Gotteserkenntnis und Menschenbild: Schriften zur jüdischen Sozialethik 9783412213572, 9783412204525


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German Pages [230] Year 2011

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Gotteserkenntnis und Menschenbild: Schriften zur jüdischen Sozialethik
 9783412213572, 9783412204525

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Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft Anthologie, Band 1 Gotteserkenntnis und Menschenbild

Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft Anthologie, Band 1

Für das Duisburger Institut für Sprach- und Sozial­f orschung sowie das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen

Herausgegeben von Michael Brocke, Jobst Paul und Siegfried Jäger

Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats: Prof. Dr. Dominique Bourel, Paris Prof. Dr. Shmuel Feiner, Ramat Gan Prof. Dr. Hans-Otto Horch, Aachen Prof. Dr. Andreas Kilcher, Zürich Prof. Dr. Birgit E. Klein, Heidelberg Prof. Dr. Salomon Korn, Frankfurt am Main Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Heidelberg Prof. Dr. Paul Mendes-Flohr, Jerusalem Prof. Dr. Michael A. Meyer, Cincinnati Prof. Dr. Céline Trautmann-Waller, Paris Prof. Dr. Christian Wiese, Sussex Prof. Dr. Irene Zwiep, Amsterdam

Gotteserkenntnis und Menschenbild Schriften zur jüdischen Sozialethik 1

Herausgegeben von Michael Brocke und Jobst Paul

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN  2011

Die Edition wird gefördert durch Evonik Industries AG, Essen (vormals RAG), durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V., Essen, und durch die Rothschild GmbH, Frankfurt am Main.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20452-5

Inhalt

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Erkenntnis Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gottesidee und die Tugend des Erkennens: Meyer Kayserling (1882) 2. Gotteserkenntnis: Salomon Cohn (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Eigenschaften Gottes: Hermann Cohen (1900) . . . . . . . . . . . . 4. Die Natur des einen Gottes: Moritz Levin (1871) . . . . . . . . . . . . . 5. Die Natur des einen Gottes: Moritz Ehrentheil (1887) . . . . . . . . . . 6. Die Einheit der Schöpfung: Adolf Kurrein (1879) . . . . . . . . . . . . 7. Schöpfung, Natur und Wissenschaft: Alexander Rosenberg (1884) . . . 8. Gotteslehre und Gewissheit: Aron Roth (1878) . . . . . . . . . . . . . . II. Wozu bedarf es einer religiösen Form der Erkenntnis? . . . . . . . . . . . 9. Religion und Theologie: Joseph Silverman (1896) . . . . . . . . . . . . 10. Religion und Atheismus: Adolph Moses (1896) . . . . . . . . . . . . . . 11. Religion und Moralität: Alexander Rosenberg (1884) . . . . . . . . . . 12. Religion und Humanität: Samuel Holdheim (1853) . . . . . . . . . . . 13. Religion und Sittlichkeit: Anonym (1842) . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Religion und Vernunft: Joseph Krauskopf (1896) . . . . . . . . . . . . III. Der Geist Gottes und die Erkenntnis des Guten . . . . . . . . . . . . . . . 15. Der Geist Gottes im Menschen: Levi Herzfeld (1842) . . . . . . . . . . . 16. Die Gottesidee und das Gute: Moses Löb Bloch (1886) . . . . . . . . . . 17. Die Gottesidee und das Gute: Sigismund Stern (1846) . . . . . . . . . . 18. Was heißt gut handeln? Morris Joseph (1892) . . . . . . . . . . . . . . 19. Was heißt gut handeln? Hirsch B. Fassel (1862) . . . . . . . . . . . . . 20. Was heißt gut handeln? Meyer Kayserling (1882) . . . . . . . . . . . . IV. Gott, das Leiden und das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Das Leiden der Gerechten: Samuel Holdheim (1852) . . . . . . . . . . . 22. Gott und das Böse: David Einhorn (1854) . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die menschliche Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23. Willensfreiheit und Kausalität: L. R. Landau (1873) . . . . . . . . . . . 24. Der freie Wille: Mendel Hirsch (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Willensfreiheit: Levi Herzfeld (1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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29 29 31 40 43 53 56 59 64 69 73 75 81 86 90 94 98 105 107 113 115 120 130 141 147 149 152 167 169 177 179

Inhalt

26. Der freie Wille: L. Brisker (1871) . . . . . . . . . . . . . 27. Einsicht und freier Wille: Samuel Holdheim (1852) . . . VI. Der Leib, die Seele und die Unsterblichkeit . . . . . . . . . 28. Seele und Unsterblichkeit: Moritz Levin (1871) . . . . . . 29. Unsterblichkeit als Hoffnung: Rudolph Grossman (1896)

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Bibliographie der von den Autoren herangezogenen Sekundärliteratur

. . . . . 217

Zitatindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Sach- und Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Zum Editionsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

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Einführung

Quelle des Judentums und der Grund für seine weltgeschichtliche Sendung, so hat Meyer Kayserling 1 die jüdische Gottesvorstellung zusammengefasst, ist der »alleinige, allein ewige Gott, der allmächtig und heilig, gnädig, barmherzig und langmütig, groß an Huld und Treue« 2 ist. Er vereint alle Eigenschaften in Vollkommenheit, ist »Schöpfer, Erhalter und Regierer der ganzen Welt« und nimmt sich seiner Werke mit Gerechtigkeit an. In der Schöpfung des einen Menschenpaars ist die ganze sittliche Weltordnung beschlossen: die Gleichheit aller Menschen vor Gott und vor dem Recht, die Pflicht zur Liebe, zum Frieden und zur Freiheit, kurz: zum willentlich Guten. Das sittliche Prinzip der Schöpfung geht von der Moral des Einzelnen über das soziale Ethos in Familie und Gemeinschaft hin zum politischen Ethos der Gesellschaft und von dort zum universellen Ethos der Menschheit. Alles zusammen soll von dieser Welt sein, während das so genannte Jenseits metaphorische Bedeutung haben mag: »Es gab bekanntlich immer, und es gibt Fromme, denen Gott vorzugsweise der Bürge des Jenseits ist, in dem alle leidigen sozialen Unterschiede Gottwohlgefällig ausgeglichen werden. Solchen Frommen ist ihr Gott der unschädliche Verleiher einer überirdischen Glückseligkeit. Und das Jenseits hat eigentlich nur diese negative Bedeutung: die Mängel des Diesseits nachträglich auszufüllen. Die Propheten interessieren sich nicht für diese Art von Jenseits. Sie entdecken dafür das Jenseits der Weltgeschichte, welches nach ihrer Lehre zum Diesseits der irdischen Welt zu werden bestimmt ist.« 3

So einfach diese ›Theologie‹ des Judentums erscheint, so hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Grundsätze des gottgefälligen Lebens noch weiter zu vereinfachen. Maimonides entwickelte unter aristotelischem Einfluss noch dreizehn zu beachtende Grundsätze 4, der Anti-Aristoteliker Chasdai Crescas forderte die Komprimierung auf sechs, während später Joseph Albo noch drei Glaubensprinzipien vertrat 5, den Glauben an die Existenz Gottes, an die Offenbarung und an die göttliche Gerechtigkeit. 1

2 3 4

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Meyer Kayserling, Das Moralgesetz des Judenthums in Beziehung auf Familie, Staat Gesellschaft. Wien 1882, S. 1; vgl. auch Seymour Siegel (ed.), God in the teachings of conservative Judaism. New York 1985; sowie Leo Baeck, Inbegriff von Sittlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit. In: Die Lehren des Judentums nach den Quellen. Hg. vom Verband der deutschen Juden. Leipzig 1930, II, S. 195–196. Das Werk wurde im Jahr 1999 neu herausgegeben von Walter Homolka. Ex 34,6: ‫ה׳ ה׳ אל רחום וחנון ארך אפים ורב חסד ואמת‬ Hermann Cohen, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1900, S. 116. Gotthold Salomon, Die dreizehn Grundlehren der Religion. In: Gotthold Salomon, Festpredigten für alle Feiertage des Herrn, gehalten im neuen israelitischen Tempel zu Hamburg. Hamburg 1829, S. 159–178. Vgl. auch David Kaufmann, Geschichte der Attributenlehre von Saadja bis Maimuni, Gotha 1877, sowie: Arthur Marmorstein, The names and attributes of God. London 1927. Vgl. Gotthold Salomon, Nichts hinzu und nichts davon, oder: Die drei Grundlehren des Judenthums.

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Einführung

Eine talmudische Geschichte (aus Schabbat 31a) bringt die Einfachheit auf den Punkt. So trat ein Heide vor den Lehrer Schammai und sprach: »Ich will Jude werden, wenn du mich die ganze Tora lehren kannst in der Frist, da ich auf einem Beine stehe.« Schammai, von dem berichtet wird, er sei leicht in Zorn zu versetzen gewesen, vertrieb ihn verärgert mit einem Stock. Nun sei der Heide vor den Lehrer Hillel gekommen, der ihn freundlich aufgenommen und zu ihm gesagt habe: »Was dir zuwider ist, das tu auch deinem Nächsten nicht an – dieses ist die ganze Tora, und alles übrige ist nur Auslegung. So mach dich auf und forsche!« Sinn dieser Geschichte ist sicher nicht der Nachweis, man habe der göttlichen Schöpfung die der Erkenntnis eigentlich verbotene Weltformel entwunden. Das genaue Gegenteil soll hervorgehoben werden, dass nämlich der Schöpfung ein dem Menschen erkennbares Sittenprinzip innewohne. Diese einfache Wahrheit ist freilich ein Konzentrat, dessen lebenspraktisches Gewicht durch die Mühe des Erkennens 6 erschlossen werden will. Am Ende sollen Wissen und Gewissheit stehen, auch das Wissen um die menschliche Begrenztheit. Es geht um Annäherung an, nicht um den Besitz der Wahrheit. Menschen sind fehlbar, und das Wissen darum soll demütig machen, auch im Urteil über andere. Eines gibt es gewiss nicht: Das Böse an sich (die Theodizee!), den teuflischen Gegengott, die Erbsünde oder gar den Sitz des Bösen im Körperlichen. Körperfeindliche Askese (zum Nachweis eines tatenlosen Gut-Seins) wird abgelehnt: »Endlich, wer die Heiligungmittel übertreibt, wer ohne Zweck entsagt, ohne Nutzen entbehrt, erlaubte Genüsse für sündlich hält, durch zwecklose Strenge das Leben sich verbittert, und auf diese Weise in der Mäßigung – unmäßig ist und ausschweift – der handelt töricht, und neigt sich mehr zum Heidentum, als zum Mosaismus. In der echt mosaischen Lehre findet ihr – ihr möget noch so lange suchen – keine Spur, dass der Bekenner derselben aus Liebe zu Gott seinen Leib quälen soll, keine Spur, dass der Bekenner derselben aus Ehrfurcht gegen Gott das gesellige Leben mit der Einsamkeit vertauschen soll, als wären die Freuden der Geselligkeit mit der Frömmigkeit nicht zu vereinigen, keine Spur, dass man durch Fasten und Kasteien, durch freiwillige Armut, durch Ehelosigkeit, durch heilige Wallfahrten – zu Gott kommen könnte.« 7

Der Mensch besteht als sittliche Person aus Geist und Körper zusammen und hat seine Gottebenbildlichkeit 8 mit freiem Willen und im Kampf mit dem ›bösen Trieb‹ von Mal zu Mal zu bewähren. Nur das große Versprechen des Bundes zwischen Gott und Mensch,

6

7 8

(1828) In: Bibliothek jüdischer Kanzelredner. Hg. von Moritz Kayserling. 1. Jg., Breslau 1885, S. 220– 231. Ebenso: Samuel S. Cohon, The Unity of God: A Study in Hellenistic and Rabbinic Theology. In: Hebrew Union College Annual 1955, p. 425–479. »It must however be distinctly understood that the word Faith, as here used, does not stand for unreasoning credulity, for blind belief in the dicta of men, it stands solely for the acceptance of the intuitive discernments of our own souls; not for what we are told by the mouth of others, but for what is revealed to us by our own intuitions.« (Joseph Krauskopf, Faith with Reason. In: Sermons by American Rabbis. Chicago 1896, p. 301) Salomon 1828, S. 227–228. Vgl. z. B. Martin Buber, Nachahmung Gottes, in: ders.: Werke. Band 2, Schriften zur Bibel, München 1964, S. 1055–1065.

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Einführung

nicht aber vermittelnde Geister, Heilige oder Gottmenschen sind dabei Hilfe und Ansporn. Das ferne Ziel der ethisch intakten Weltgesellschaft, aber auch die Vergeblichkeit aller Anläufe dazu vor Augen, entsteht eine Melancholie zwischen Aufstieg und Fall, aber angesichts des von und in der Geschichte Getragen-Seins gelegentlich auch unbändiger Optimismus. Eine solche Religiosität will erarbeitet sein, aber sie soll menschenmöglich bleiben. Und so hat sich das Judentum Traditionen mit einigen Hundert symbolischer Festhaltegriffe geschaffen, nämlich Regulatorien in Familie und Synagoge, in die die sozialen und kulturellen Träger des Judentums das Sittengesetz über die Jahrhunderte hindurch verwoben haben 9. Es könnte scheinen, als wäre die knappe Skizze schon zureichend, um in die in diesem Band zusammengetragenen Texte und in die Grundsätze der jüdischen Sozialethik einzuführen. Doch bleibt noch zu erörtern, warum wir wieder an sie anknüpfen sollten, und zuvor: was die Texte geschichtlich mit sich tragen. Denn mit Beginn der Aufklärung wurden der inhaltliche Kern des Judentums und seine gottesdienstlichen Formen zum innerjüdischen Streitpunkt. 10 Ausgehend von Hamburg und Berlin traten in Anlehnung an die innerprotestantische Religions- und Kirchenkritik jüdische Prediger und Reformer auf, die ihre Gemeinden vor einem ›Buchstabenglauben‹ warnten und der Orthodoxie vorhielten, ein erstarrter Ritus sei noch kein Judentum. Die Orthodoxie bestand dagegen auf der Unverletzlichkeit des Ritus und warnte vor einer riskanten Geschichtsvergessenheit. Für schwere Zeiten (und sie würden kommen!) bedürfe es der intakt gebliebenen rituellen und kulturellen Tradition. Es kam zu keiner Vermittlung, sondern – nach heftigen Konflikten – zu einem spannungsgeladenen Nebeneinander. Die Orthodoxie rief gar die staatlichen Obrigkeiten gegen die Reformer ins Feld. Das Reformjudentum konnte nur für das liberale Judentum der Städte sprechen, nicht aber für die Mehrheit der deutschen Gemeinden, und wurde gleichwohl bestimmend. Es waren daher auch Reformrabbiner, die sich und ihre Gemeinden trotz deutlicher Warnsignale immer wieder dazu überredeten, an das rationale Versprechen der Aufklärung, an die Fairness der christlichen Kirchen wie der (anderen) politischen Mächte zu glauben. Die geradezu herausfordernde ›Unzeitgemäßheit‹ ihrer Haltung wirkt heute aufwühlend. Sie reagierten auf die Boshaftigkeiten von Seiten der christlichen Mehrheitsgesellschaft nicht nur mit Gleich- und Großmut und scheinbar unzerstörbarem Optimismus, sondern nannten oft im selben Atemzug heraufziehende Bedrohungen beim Namen: Sie kannten den Gegner und ihr eigenes Risiko. Daran wird deutlich, dass sich der Konflikt zwischen Reform und Orthodoxie im Grunde weniger an Inhalten, sondern an der Frage nach wirksamen Strategien gegen die institutionelle Judenfeindschaft entzündete. 9 10

Vgl. Eisenberg, Ronald L., The 613 Mitzvot: A Contemporary Guide to the Commandments of Judaism. Rockville, MD 2005. Vgl. dazu v. a. Michael A. Meyer, Response to modernity: a history of the Reform Movement in Judaism. Detroit (Michigan) 1995.

9

Einführung

Der Vorwurf, die Reformer seien zu naiv gewesen 11, übersieht, dass niemand die – im Kaiserreich dann politisch organisierte – Judenfeindschaft hätte aushebeln können. Nahezu alle reformerischen Interventionen zur jüdischen Sozialethik standen während des gesamten 19. Jahrhunderts unter immensem Druck. Zu nennen ist besonders die Kälte der christlichen Kirchen und deren Apologeten, mit der diese der jüdischen Ursprungsreligion die ethische Legitimation absprachen: Das Judentum kenne noch keine Nächstenliebe (nur eine egoistische Selbstliebe), erst das Christentum habe sie für alle Menschen proklamiert. Der jüdischen Seite blieb nur die empörte Antwort, dass von dieser, von den christlichen Kirchen wie von gesellschaftlichen Interessengruppen mit schrecklicher Konsequenz betriebenen Diskreditierung das Fanal zur Verfolgung von Juden und Judentum ausging. Doch davon unabhängig und auch innerjüdisch wurden Zweifel laut, ob man sich wirklich auf eine alte Vorgeschichte berufen könne, wenn man Liberalität, Modernität und die universalen Grundrechte mit Judentum gleichsetzte. Hatte das Reformjudentum nicht eher eine ›moderne‹ Kurskorrektur vorgenommen? Fest steht, dass die im Detail ausgearbeiteten Gleichheits- und Gerechtigkeitstheoreme des Judentums sowie der Universalismus der jüdischen Sozialethik das Resultat einer langen Entwicklung sind, aber in all ihrer Stringenz zweifellos schon bereit standen, bevor sie dann zum Inhalt der nachfolgenden christlichen Mission in Europa werden konnten. Doch richtig ist auch, dass erst das Reformjudentum des 19. Jahrhunderts die jüdische Sozialethik aus ihren hebräisch-innerjüdischen Kontexten herauslöste, um sie einer nicht-jüdischen, d. h. christlichen Gesellschaft zu vermitteln, die damit etwas über ihre eigenen Wertgrundlagen erfahren konnte – oder hätte erfahren können. Es entstand etwas Neues, und auch in den nachfolgend zusammen gestellten Texten spiegeln die Zitate aus Tora und Talmud in den Details nicht immer, was ihnen ihre Interpreten abverlangen. Sie verkürzten oft die komplexe Vorgeschichte kontroverser Deutungen und beschränkten sich auf eine Quintessenz, in der sich Reform und Orthodoxie in der Regel treffen konnten. Evan M. Zuesse hat zudem angemerkt, dass die jüdischen Denker der vergangenen zwei Jahrhunderte unvermeidlich, nämlich um gehört zu werden, auf »das Beste des zeitgenössischen europäischen Denkens« zurückgriffen. Da dieses Denken aber tief geprägt war von »christlichen und anderen nicht-jüdischen Grundannahmen«, konnte es durchaus zu Missverständnissen kommen, wenn die Autoren nicht zugleich die Grenzen dieses Denkens überschritten, um die vom philosophischen mainstream Europas gerade abweichende Sicht des Judentums herauszuarbeiten. 12 Schon in der Epoche des Kaiserreichs kam es zu erheblich tieferen Prüfungen der 11 12

Vgl. Jonathan Sacks, A New Antisemitism? In: A New Antisemitism? Debating Judeophobia in 21st Century Britain, ed. by Paul Iganski and Barry Kosmin. London 2003, p. 49–50. Evan M. Zuesse, The Gate to God’s Presence in Heschel, Buber, and Soloveitchik. In: Thinkers and teachers of modern Judaism, ed. by Raphael Patai and Emanuel S. Goldsmith. New York, NY 1994, p. 121–122.

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Einführung

liberalen Positionen des Reformjudentums. Zunächst hatten die generationenlangen Akkulturationsversuche an der sozialen Exklusion von Juden nichts geändert – stattdessen radikalisierte sich die antisemitische Bewegung in bisher nicht vorstellbarer Weise. Die europaweite zionistische Bewegung suchte die Konsequenz daraus in der Sozialutopie eines jüdischen Staates, die mit der Balfour Declaration vom November 1917 konkret wurde. Die von den militärischen Führungen der europäischen Mächte vom Kartentisch aus angestiftete Barbarei des Ersten Weltkriegs traf die Idee des geschichtlichen Fortschritts in ihrem Kern. Denker wie Franz Rosenzweig, Walter Benjamin und Gershom Scholem 13 kamen zu einer neuen Sicht der Geschichte. »Für Rosenzweig handelte es sich um das Ende einer Zivilisationsidee, die im Glauben an einen Logos gründete, der imstande sei, in der Welt eine rationale Ordnung herbeizuführen. Benjamin sah darin den endgültigen Zusammenbruch einer von der Tradition, das heißt einem Kollektivgedächtnis, bestimmten Welt, das einen unermeßlichen Schatz historischer Erfahrung bewahrt und ihn von einer Generation zur andern überliefert. Im Tagebuch, das er zu jener Zeit führte, spricht der junge Scholem vom Tod Europas und seinem »Begräbnis«. Für alle drei hatte der Weltkrieg ein traditionelles Modell zerstört, das bis dahin der menschlichen Erfahrung ihren Sinn verliehen hatte. Im bürgerlichen Europa des 19. Jahrhunderts fand dieses Modell seine Verkörperung in der Ideologie des Fortschritts, die alle Sackgassen, Rückschritte und Niederlagen, die den Ablauf der Geschichte markieren, vom kollektiven Gedächtnis auszuschließen bemüht war.« 14

In ihren konzeptionellen Antworten versuchten sie, wie Scholem, an die symbolische Kraft der Kabbala anzuknüpfen, oder wie Benjamin an apokalyptische Traditionen des Judentums, um das Messianische neu zu fassen. Rosenzweig interpretierte Geschichte nun als Abfolge unerwarteter Brüche und Einbrüche, etwa der Utopie. Doch müsste es dann nicht weiterhin eine Metageschichte geben, 15 deren Annahme die Chance bot, den sinnlosen Zirkeln der Theodizee zu entkommen? 16 Die Antworten Rosenzweigs, Benjamins und Scholems sind zugleich auch Rückzugspositionen angesichts der Insistenz, mit der die deutsche Mehrheitsgesellschaft das beeindruckende Werk der sozialethischen Unterweisung aus der Feder so vieler deutsch-jüdischer Autoren ignorierte und isolierte. Aber dabei blieb es nicht. In der Shoah wurde dieses Werk zum Schweigen gebracht. Das Judentum wurde in einer unvorstellbaren Weise im Kern des Messianischen getroffen und zugleich ins Di-

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14 15 16

Gershom Scholem: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1992; Michael Brocke, Franz Rosenzweig und Gerhard Gershom Scholem. In: Juden in der Weimarer Republik. Skizzen und Portraits, hg. von Walter Grab und Julius H. Schoeps. 2. Aufl., Darmstadt 1998, S. 127–152; Mendes-Flohr, Paul (ed.), Gershom Scholem. The Man and His Work. New York 1994. Stéphane Mosès, Der Engel der Geschichte: Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem. Frankfurt am Main 1994, S. 18–19. Ebd. S. 21. Vgl. Hirsch Goitein, Der Optimismus und der Pessimismus in der jüdischen Religionsphilosophie. Eine Studie über die Behandlung der Theodicee in derselben bis auf Maimonides. Berlin 1890.

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Einführung

lemma gestürzt. 17 Würde man diesen Kern an eine sinnlos gewordene Geschichte preisgeben, gäbe man den Tätern Recht 18. An einem göttlichen Willen hinter der Geschichte festzuhalten, um so die sozialethischen Traditionen des Judentums zu bekräftigen, war ebenso undenkbar geworden. 19 Emil L. Fackenheim hat auf eine Festtagspredigt verwiesen, die Rabbi Kalonymos Schapira am 27. November 1942 im Warschauer Ghetto 20 gehalten und nachträglich niedergeschrieben hat. Darin heißt es: Nur bis Ende 1942 war es so, daß solche Leiden auch zuvor erfahren worden waren. Was jedoch die monströsen Qualen, die schrecklichen und unberechenbaren Tode, die die bösartigen Mörder gegen uns, das Haus Israel, ersonnen haben, von jenem Zeitpunkt an betrifft, so hat es nach meiner Kenntnis der rabbinischen Literatur und der jüdischen Geschichte im allgemeinen nie zuvor etwas Vergleichbares gegeben. Möge Gott gnädig sein und uns im Nu aus ihrer Hand befreien. 21

Auch wenn Rabbi Schapira, so Fackenheim, nur wenig später die Hoffnung auf diese Befreiung und damit auf Gott aufgab 22 und so in den Tod ging, habe er die Vorstellung formuliert, Gott sei »in der inneren Kammer«, um sein Weinen zu verbergen. Fackenheim erinnert an eine Midrasch-Auslegung:

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Michael Brocke; Herbert Jochum (Hg.), Der Holocaust und die Theologie. »Theologie des Holocaust«. In: Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust. München 1982, S. 238–270. 18 Vgl. Emil L. Fackenheims Diktum: »… we are, first, commanded to survive as Jews, lest the Jewish people perish. We are commanded, second, to remember in our very guts and bones the martyrs of the Holocaust, lest their memory perish. We are forbidden, thirdly, to deny or despair of God, however much we may have to contend with him or with the belief in him, lest Judaism perish. We are forbidden, finally, to despair of the world as the place which is to become the kingdom of God, lest we help make it a meaningless place in which God is dead or irrelevant and everything is permitted. To abandon any of these imperatives, in response to Hitler’s victory at Auschwitz, would be to hand him yet other, posthumous victories.« (aus: Emil Fackenheim, The 614th Commandment, zitiert nach Alan T. Levenson, Emil Fackenheim’s Post-Holocaust Theology. In: Ders., Modern Jewish Thinkers. An Introduction. Northval NJ; Jerusalem 2000, p. 293. 19 Vgl. Birte Petersen, Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort. 3. Aufl., Berlin 2004; Christoph Münz, Geschichtstheologie und jüdisches Gedächtnis nach Auschwitz. Über den Versuch, den Schrecken der Geschichte zu bannen. Frankfurt am Main 1994; The impact of the Holocaust on Jewish theology, ed. by Steven T. Katz. New York [u. a.] 2005. 20 Vgl. Nehemia Polen, Esh Kodesh. The holy fire; the teachings of Rabbi Kalonymus Kalman Shapira, the Rebbe of the Warsaw Ghetto. Northvale [u. a.] 1999. Vgl. auch: Nehemia Polen, Divine Weeping: Rabbi Kalonymos Shapiro’s Theology of Catastrophe in the Warsaw Ghetto. In: Modern Judaism, Vol. 7, No. 3 (Oct. 1987), pp. 253–269. Ebenso: Christian Wiese, Kalonymos Kalmisch Schapira. In: Kalonymos, 2. Jg., Heft 2 (1999), S. 12. 21 Zit. n. Fackenheim, Emil L., Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart. Berlin 1999, S. 248. 22 Richard Lowell Rubenstein (in: After Auschwitz, Radical Theology and Contemporary Judaism. New York 1966) sprach davon, Gott sei in Auschwitz tatsächlich gestorben, womit er – nach Yehoshua Amir – eine »Unglaubenssituation« umschreibt, in die dieser durch Auschwitz in seiner Existenz als Mensch und Jude gekommen sei (Yehoshua Amir, Jüdisch-theologische Positionen nach Auschwitz. In: Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, hg. von Günther B. Ginzel. Heidelberg 1980, S. 440–442).

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Einführung

Ein Midrasch fragt, warum der Bund Gottes mit Abraham nötig war. »Dies«, so lautet die Antwort, »ist mit einem brennenden Haus zu vergleichen. Die Leute fragen: ›Hat das Haus keinen Besitzer?‹ Durch die Kinder Abrahams antwortet Gott: ›Ich bin der Besitzer des Hauses.‹« Ein Jude von heute, der immer noch willens ist, diese Botschaft weiterzutragen, hat seine eigene Frage: Wenn das Haus einen Besitzer hat, warum löscht er dann das Feuer nicht? Vielleicht kann er es und will es noch tun. Vielleicht kann er es nicht oder will es nicht tun. Aber wenn er es nicht kann oder nicht tun will, dann muß ein Jude von heute alles tun, was er kann, um selbst das Feuer zu löschen. Ein kabbalistisches Wort lautet sinngemäß so: Die Anstrengung von unten bewirkt eine Antwort von oben.

Die »Anstrengung von unten« wird zum äußersten Punkt des Rückzugs wie zur Quintessenz des personalen Pflichtgedankens. Beispiele für diese existentialistische Neupositionierung der jüdischen Ethik finden sich insbesondere in den Werken von Joseph B. Soloveitchik 23. Bezogen auf Deutschland hatte allerdings die von Martin Buber schon viel früher vertretene dialogische, auf die Person des Gegenübers bezogene Motivation des Ethischen 24 größeren Einfluss. Auch Emmanuel Levinas 25 stellt ›den Anderen‹ in den Mittelpunkt, besteht aber auf einer einseitig vom Ich zu tragenden Pflicht. 26 Noch größeren Einfluss auf die ethische Debatte in Deutschland hatten die Werke von Hans Jonas, insbesondere im Zusammenhang der neuen Szenarien Atom, Umwelt und Gen. Jonas hatte wie Levinas in Freiburg im Breisgau Edmund Husserl, vor allem aber Martin Heidegger gehört, dem er 1924 nach Marburg folgte. Nach der Emigration nahm er Funktionen in der britischen und israelischen Armee wahr. Danach begründete Jonas als Universitätslehrer in Kanada und den USA eine von der ›Abwesenheit Gottes‹ geprägte Geschichtsteleologie 27. In seinem Werk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation 28 rekonstruiert Jonas nicht nur ein Telos der Schöpfung, sondern erklärt den Menschen allein für das Böse, und damit auch für das künftige Gute verantwortlich, in 23

Vgl. The Lonely Man of Faith, zuerst in: Tradition 17, 2 (Summer 1978), p. 25–37, und Halakhic Man, zuerst hebr. in: Talpiot (New York) 1, 3–4 (1944). Vgl. Joseph B. Soloveitchik, Halakhic man. Philadelphia 1983. 24 Vgl. Bubers Werke Ich und Du (1923); Zwiesprache (1929); Die Frage an den Einzelnen (1936) u. a., wieder abgedruckt in: Das dialogische Prinzip (1973). 25 Vgl. Siegfried Jäger, Die jüdische Vorstellung einer »gerechten Gesellschaft« zwischen religiös begründeter und profaner Ethik. Eine diskurstheoretische Spurensuche. In: Die Verneinung des Judentums. Antisemitismus als religiöse und säkulare Waffe, hg. von Klaus Holz, Heiko Kauffmann und Jobst Paul. Münster 2009, S. 81–98. 26 Vgl. Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg i. Br.; München 1983; Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere. Hamburg 1984; Emmanuel Lévinas, Humanismus des anderen Menschen. Hamburg: 1989 u. a. Zum Einfluss auf Jacques Derrida: Jacques Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. München [u. a.] 1999. 27 Hans Jonas, Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen. Göttingen 1963; Hans Jonas, Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen. Frankfurt 1970; Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt a. M. 1987. 28 Frankfurt a. M. 1979; vgl. aber auch: Hans Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen 1973.

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Stellvertretung eines Gottes, der seine Allmacht verloren hat. Dieser Gedanke setzt allerdings voraus, dass die Ethik (das Sollen) keinen Gegensatz zur Schöpfung (zum Sein) bildet und nur ein Gleichklang zwischen Materie und Geist, zwischen Leib und Seele, zwischen Wollen und Müssen denkbar ist. Damit ist auch das leitende Prinzip der Pflichtenlehre Jonas' skizziert: Er knüpft an die Vorstellung vom Menschen an, der sich mit freiem Willen im Kampf mit dem ›bösen Trieb‹ zu bewähren hat. Über die Natur des Menschen, über deren Entsprechung mit der Schöpfung, wird Gott in die Geschichte zurückgeholt – wenngleich in der deistischen Reduktion, die bereits die Philosophie der Aufklärung charakterisierte. Fasst man zusammen, so hat sich die jüdische Religionsphilosophie nach der Shoah noch weiter, als sie es schon traditionell tat, von den spekulativen Fragen um die Existenz Gottes zurückgezogen und stattdessen die Vorstellung der individuellen Pflicht zugespitzt. 29 Dies führt zum überraschenden Befund, dass sich von hier eine Linie zu den Positionen des deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts ergibt. Weitab von jeder Naivität erkannten dessen Vertreter das Doppelgesicht der europäischen Aufklärung. 30 Sie stellten sich angesichts der heraufziehenden Bedrohungen durch kollektivistische Ideologien wie ›Volk‹, und ›Nation‹ auf den einzig verbleibenden Standpunkt einer strikt individualethischen Pflichtenlehre. Die Stärke dieser Haltung erklärt die oft aufwühlende Wirkung vieler Schriften, aber nicht nur, weil ein heutiger Leser die Shoah, den Gang so vieler in den Tod, mitdenkt. Es ist auch der Gedanke, dass sich viele der dort vertretenen ethischen Grundpositionen heute durchgesetzt haben, gegen ein Verbrechen, das sich als solches für immer kenntlich gemacht hat. Abschließend soll eine Entwicklung erwähnt werden, die eine zusätzliche Ermutigung für die vorliegende Anthologie darstellt. Überlebende der Shoah, die als jüdische Gelehrte in die USA kamen 31, sorgten dort für die Rezeption der von deutschen Juden gegründeten ›Wissenschaft des Judentums‹. In den letzten Jahren knüpfen amerikanische Rabbiner verstärkt an die Aufgabe der sozialethischen Unterweisung an und stützen sich dabei auf die deutsch-jüdische Tradition des 19. Jahrhunderts, auf Moses Mendelssohn, Samuel Raphael Hirsch, Abraham Geiger und andere. 32 Bereits während des 19. Jahrhunderts gab es einen lebhaften Austausch zwischen deutschsprachigen und amerikanischen Gemeinden. U. a. erzwungen durch politische oder judenfeindliche Ereignisse in Deutschland gingen junge Rabbiner in die USA, wo sie Interesse für die Debatten des deutschen 29 So kann Alan T. Levinson einem Beitrag in seiner Einführung Modern Jewish Thinkers den Titel geben: Immanuel Kant, the Greatest Modern Jewish Thinker. Vgl. auch Walter Jacob, Die sittlichen Pflichten der Gemeinschaft. In: Die Lehren des Judentums nach den Quellen (1939), II, V-XI. 30 Vgl. Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992. 31 Vgl. Michael A. Meyer, Response to modernity (1995), p. 225–262, 363–384. 32 Beispiele sind Einführungen wie das bereits erwähnte Werk, Alan T. Levenson’s Modern Jewish Thinkers (2000), oder Raphael Patai’s und Emanuel S. Goldsmith’s Thinkers and Teachers of Modern Judaism (1994). Vgl. auch den Sammelband: Edward Feinstein (ed.) Jews and Judaism in the 21st century: human responsibility, the presence of God and the future of the covenant. Woodstock 2007, sowie: Neil Gillman, The way into encountering God in Judaism. Woodstock 2000.

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Judentums weckten. Zwischen Reform und Orthodoxie entwickelte sich dort eine produktive Verständigung. Ein Echo findet sich in den englischsprachigen Beiträgen der folgenden Textauswahl. So kommt insgesamt in den Blick, warum beginnend mit der vorliegenden Anthologie das sozialethische Werk insbesondere deutsch-jüdischer Autoren des 19. Jahrhunderts wieder in den Blick genommen wird. Es war erstmals auch an eine nicht-jüdische Öffentlichkeit gerichtet und bot eine Quintessenz der jüdischen Tradition über rabbinische Detaildebatten hinweg. So konnte sich das Judentum im Hinblick auf widersprüchliche Ergebnisse und Folgen der Französischen Revolution, in Richtung der sozialen und industriellen Umbrüche des 19. Jahrhunderts und gegen Despotie und Gewalt neu positionieren. Es entstand ein kompakter ethischer und politologischer Entwurf, der weit hinausging über andere zeitgenössische Ansätze oder sich ihnen entgegenstellte. So verstanden sich die erst vereinzelt formulierten Grundsätze einer katholischen Soziallehre als nur subsidiär zum bestehenden Staat 33, während z. B. das Kommunistische Manifest das Problem der Sozialethik fast ausschließlich als Frage der ökonomischen Macht bestimmte. Die aus jüdischer Perspektive vorgelegte sozialethische Konzeption hätte den Gang der Dinge gewiss nachhaltig beeinflusst, wäre sie überhaupt beachtet worden. Die Aufarbeitung der Gründe, warum dies nicht geschehen ist, steht zur Diskussion, wenn diese Konzeption heute neu aufgegriffen wird 34. Damit verbindet sich die Hoffnung auf eine Belebung der Debatte um Sozialethik und um die jüdische Identität der christlichen Ethik. Die nachfolgenden Beiträge können allerdings nur ein Anstoß sein, die skizzierten Möglichkeiten auch zu verwirklichen. Vorläufig bleiben sie historische Texte, die auch an einen plötzlichen Abbruch, an das Verstummen vieler jüdischer Gelehrter in Deutschland erinnern. Sie dienen als Einstieg in den großen Bogen der jüdischen Religionsphilosophie und thematisieren zunächst deren Grundlage, das Gottesverständnis, und daraus folgend die Grundzüge der menschlichen Natur und des menschlichen Erkennens von Gut und Böse. Die nachfolgenden Bände werden darauf aufbauen. * * *

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Vgl. Reinhard Marx, Das Kapital: Ein Plädoyer für den Menschen. München 2008. Marx bestimmt die katholische Sozialethik auch heute hauptsächlich im Rahmen einer subsidiären Steuerung der Marktwirtschaft. Jobst Paul, Das ›Konvergenz‹-Projekt – Humanitätsreligion und Judentum im 19. Jahrhundert. In: Macht – Religion – Politik. Zur Renaissance religiöser Praktiken und Mentalitäten, hg. von Margret Jäger und Jürgen Link. Münster 2006, S. 31–59. Ders., Das jüdische Projekt der integrativen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und das Editionsprojekt ›Jüdische Autoren zum Projekt der Moderne‹ und ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. In: Wie kritisch ist die Kritische Diskursanalyse? Ansätze zu einer Wende kritischer Wissenschaft, hg. von Siegfried Jäger. Münster 2008, S. 216– 235.

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I. Die Erkenntnis Gottes Meyer Kayserling (1) führt mit einer knappen Zusammenfassung in den ersten Themenblock des Bandes ein. Er richtet den Blick auf die spezifische Form der jüdischen Gotteserkenntnis als Grundlage der jüdischen Sozialethik. Dass diese Basis so einfach, vor allem eben nicht-hierarchisch angelegt sein kann und sich auf keine weitergehende begriffliche Spekulation einlassen muss, verdankt sie dem Schöpfungsbericht. Danach geht die Menschheit auf nur ein Menschenpaar zurück, wodurch die Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit von vorn herein unter allen Menschen, d. h. in der gesamten Menschheit letztlich die menschliche Identität ausmachen. In diesem zentralen, für alle Menschen bindenden Ethos steht das Sittengesetz im privaten wie im sozialen Bereich, aber auch das konkrete Recht als Verpflichtung für alles Politische letztlich in allen Umrissen bereits fest. Darin spiegelt sich nach jüdischer Anschauung Gott selbst, nach dessen Bild der Mensch – wenn er denn zu sich selbst kommt – geschaffen sei. Mit der These von der Gottebenbildlichkeit aber hat das Judentum, darauf weist Salomon Cohn (2) hin, in entscheidender Weise die archaischen Gottesvorstellungen und Menschenbilder der heidnischen Welt überwunden, die Götter und Menschen der Natur als unterworfen und damit letztlich als unfrei dachte. In dieser unabhängigen und freiheitlichen Auffassung des Religiösen stehe das Judentum allein da. Vor allem habe es seine kühne Konzeption in aller Konsequenz bewahrt und sei damit längst dort angekommen, wo alle Philosophie hinstrebe. Dabei kennt das Judentum das Spannungsverhältnis zwischen philosophischer und ›nur‹ religiöser Gottesbeschreibung durchaus gut. So unternimmt Hermann Cohen (3) in seinem Beitrag von der Wende zum 20. Jahrhundert eine kritische Sichtung der Art und Weise, wie die jüdische Religionsphilosophie die ›Eigenschaften Gottes‹ rekonstruiert hat. Die Tendenz, sich von metaphysischer Spekulation fernzuhalten und sich eher den ethischen Folgen der Gottebenbildlichkeit, den sogenannten ›Dreizehn Eigenschaften‹ Gottes, zuzuwenden, sieht Cohen schon bei Maimonides gegeben. Und so bleibt auch dort das Philosophische letztlich auf die Bemühung beschränkt, den einheitlichen Ausgangspunkt und das gemeinsame Ziel aller Rede von Gott, nämlich Liebe und Gerechtigkeit, zu ermitteln. In einer knappen Skizze, welche die Erfahrung der Moderne in den Mittelpunkt stellt, charakterisiert Moritz Levin (4) die jüdische Gotteslehre nicht mehr allein ethisch-inhaltlich, sondern vor allem als Form des menschlichen Erkennens schlechthin. Welche erkenntnistheoretische Dynamik das Judentum durch die Geschichte hindurch getragen hat, sieht Levin mit der Tatsache untermauert, dass Kant in seiner Lehre letztlich mit diesem Erbe übereinstimme. Der Publizist Moritz Ehrentheil (5) warnt allerdings davor, sich angesichts der ganz praktischen, gesellschaftspolitischen Konsequenzen eines streng monotheistischen Got17

Die Beiträge

tesbegriffs zu sehr auf die Frage nach dem Wesen Gottes, d. h. auf ein Feld der Reflexion einzulassen, das der menschlichen Vernunft ohnehin weitgehend verschlossen bliebe. Es genüge, an der Einheit des einen Gottes festzuhalten, um der Gefahr dualistischer Weltkonstruktionen zu entkommen, mit denen die einheitliche Verantwortung auch des Menschen für das Gute und für das Böse verwischt werde. Adolf Kurrein (6) greift den Aspekt der Einheit Gottes im Hinblick auf die gesamte Schöpfung auf und unterstreicht die markanten Folgen des jüdischen Gottesbegriffs, der nicht nur die ethische Gebrochenheit der heidnischen Naturreligionen überwunden habe, sondern auch den Gedanken der physischen und sittlichen Harmonie der Schöpfung plausibel machte. Der jüdische Schöpfungsgedanke überwindet nach Kurrein darüber hinaus die Vorstellung einer starren, ethisch indifferenten, abstrakten Ewigkeit und setzt den Gedanken an einen Anfang, an Entwicklung, Singularität und Veränderung – kurz: den der Geschichte – dagegen. So aber kommt allem Geschaffenen Einmaligkeit, damit aber auch den Anspruch auf Achtung zu. Wie aber verträgt sich eine solche Schöpfungsvorstellung mit der Naturwissenschaft und den sogenannten ›ewigen Naturgesetzen‹ ? Alexander Rosenberg (7) räumt offen den ausschließlich unterweisenden, das heißt religiös-moralischen Charakter der biblischen Schöpfungsgeschichte ein. Schon von daher könne es zu keiner Kollision mit den Erkenntnissen der modernen Astronomie oder etwa mit Darwin’s Lehre kommen. Der wirklich entscheidende Kontrast der jüdischen Schöpfungsidee ergebe sich nicht in Richtung der Naturwissenschaften, sondern in Richtung der archaischen, noch von Götterwelten beherrschten Schöpfungsgeschichten, etwa der Griechen. Demgegenüber bestehe die jüdische Bibel auf dem Schöpfungsakt des einen Gottes. Aron Roth (8) beleuchtet abschließend die überraschend praktische Frage, welche psychologischen, damit aber auch weltanschaulichen Folgen dem strengen Monotheismus des Judentums zugute zu halten sind. Roth schließt – in deutlicher Anspielung auf astrologische Praktiken – an erster Stelle die Haltung des Fatalismus aus, die aus Lehren entstehe, die den menschlichen Willen als unfrei und den Gang des menschlichen Lebens als vorherbestimmt (oder etwa durch eine ›Erbsünde‹ beschwert) erklären wollten. In gleicher Weise, in der sich die jüdische Gotteslehre gegen den Fatalismus behaupte, könne sie auch ein Mittel sein, sich gegen Materialismus, Skeptizismus und Atheismus zu wappnen.

II. Wozu bedarf es einer religiösen Form der Erkenntnis? Im zweiten Teil der Anthologie geht es um die Frage, warum die moralische Erkenntnis, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, einer religiösen Grundlage bedürfe, bzw. warum rationale Voraussetzungen der Reflexion nicht ausreichen? Was unterscheidet die verschiedenen Formen des ethischen Argumentierens, bzw. worin besteht die Besonderheit der jüdischen Religiosität? Joseph Silverman (9) beleuchtet zunächst das Verhältnis zwischen der religiösen Erkenntnis und der möglichen Aufgabe von Theologie. Er räumt ein, dass die herkömm18

Die Beiträge

liche, doktrinäre Theologie mit Recht einen schlechten Ruf habe, dass jedoch eine richtig verstandene Theologie, die wirklich das Wesen einer Religion zu erfassen suche, zur religiösen Erkenntnis gehöre. Insbesondere die jüdische Religionsphilosophie habe jederzeit den universalen Geist des Judentums in die Mitte gerückt, bzw. von ihm ausgehend die Grundsätze des Judentums entwickelt. Dabei gehe die jüdische Theologie allerdings nicht rationalistisch vor, sondern stelle die Gotteserkenntnis ins Zentrum. Dieser gehe es jedoch nicht, wie in vielen anderen Religionen, um die Beschreibung Gottes (die nicht möglich sei), sondern um die Verarbeitung der Gotteserfahrung selbst. Insofern gebe es nur die eine Theologie, im Gegensatz zu jenen vielen Theologien, die sich der Menschheit aufdrängen wollten. In der Verlängerung von Silvermans Kritik der ›Theologien‹ steuert Adolph Moses (10) die bemerkenswerte Beobachtung bei, dass viele der im Altertum und im christlichen Mittelalter bis auf die neuere Zeit als Atheisten verfolgten Persönlichkeiten monotheistische Positionen vertraten und meist nur deshalb geächtet wurden, weil sie doktrinäre Details der gerade herrschenden Theologien in Frage stellten. Ebenso wenig könne die naturwissenschaftliche, bzw. die philosophische Perspektive durch den Vorwurf des Atheismus getroffen werden, allerdings müsste man sich deren Erkenntnisgrenzen bewusst sein. Atheisten seien stattdessen jene, die andere wegen ihres Glaubens verfolgten und im Namen der Religion Hass predigten: Atheismus liege dort vor, wo das Sittengesetz ignoriert und in seiner praktischen Geltung verneint werde, wo dessen Verankerung in der göttlichen Schöpfung geleugnet werden. Gilt dann aber nicht umgekehrt, dass sich die religiöse Erkenntnis im Sittengesetz erschöpft? Wird Religion angesichts von Begriffen wie Moralität, Humanität oder Sittlichkeit dann nicht überflüssig? Ist dies dann nicht die so oft zitierte ›natürliche Religion‹ ? Alexander Rosenberg (11) antwortet zum Begriff der Moralität, dass unbeschadet der Lehre Kants, in der die Identität von Religion und Moralität postuliert wird, der bloßen Moralität (als einem ethisch-abstrakten Anspruch) die Verankerung im Menschen als einer leiblich-seelischen Einheit ebenso fehle wie die Beglaubigung, dass es sich um eine universale, die Geschichte der gesamten Menschheit betreffende Forderung handelt. Beides, mit einem über bloße Moralität weit hinausgehenden Gewicht findet Rosenberg nur bei den jüdischen Propheten, verweist aber auch auf Sokrates, dem er eine ganz entsprechende ethische Religiosität zuspricht. In ähnlicher Weise setzt Samuel Holdheim (12) den Begriff der Religion ins Verhältnis zu dem der Humanität. Holdheim bestimmt letztere – zusammengefasst – als indirekte Folge von Religion, die er insbesondere am Phänomen des Gewissens erläutert. Es sei dies lediglich ein innerlicher ›Dämmerstrahl‹ des viel umfassenderen, nach außen und nach vorn gerichteten göttlichen ›Lichts‹ (der Gerechtigkeit), das sich vollständig freilich nur dem ›Glauben‹ erschließe und bei dem eine ganzheitliche Erfahrung hinzukomme. Holdheim räumt durchaus ein, dass damit eine streng rationale Ebene, etwa die des Wissens, verlassen werde: Der Mensch könne – bei aller Gewissheit – nicht wissen, ob und auf welchem Weg die religiöse Erfahrung und Haltung zum sittlichen Ziel führe. Ein anonymer Autor (13) greift danach – insbesondere im Hinblick auf das Judentum – die Frage auf, wie Sittlichkeit und Religion korrespondierten. Er verweist zunächst auf 19

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das komplexe Geflecht der menschlichen Bedingungen und Motive, aus dem eine wirklich sittliche Haltung resultiere. Danach zeigt er, dass das Judentum diese Bedingungen und Motivationen in einer politisch zutiefst relevanten Form ausgebildet und institutionalisiert habe, so dass man sagen könne, das Judentum bewahre geradezu die menschliche Geschichte der Sittlichkeit auf. Angesichts des von ihm diagnostizierten Niedergangs von Religiosität, Glauben und sozialem Zusammenhalt in der zeitgenössischen Moderne reflektiert Joseph Krauskopf (14) abschließend über das paradoxe Verhältnis zwischen Vernunft und Religion. Statt den Glaubensverlust – und die ungläubig Gewordenen – zu verurteilen und den Verlust einseitig der technisch-naturwissenschaftlichen Rationalität zuzuweisen, solle die instrumentelle Vernunft als Chance, bzw. als notwendige Vorstufe für die ethische und danach religiöse Intuition verstanden werden: Dem technisch-rationalen Aufbruch folge notwendig die Ernüchterung angesichts der erfahrenen Grenzen und danach die Sehnsucht nach einer festeren spirituellen Basis. Krauskopf betont die Brückenfunktion der Intuition zwischen moderner Technik und religiöser Erfahrung.

III. Der Geist Gottes und die Erkenntnis des Guten Nach Auffassung von Levi Herzfeld (15) ist konkret erfahrbar, wie und durch welche Werte sich Gottes Geist im Menschen offenbart. Nur im ersten Moment meint der Mensch, der die Natur um sich herum und über sich betrachtet, er stehe in ihrem Mittelpunkt, die Natur ›wandere‹ sozusagen mit ihm. Wird man sich danach der Unendlichkeit der Natur vor und über sich bewusst, schrumpft das Ich unversehens. Es wird sich aber nicht nur seiner Winzigkeit inne, sondern auch seiner Gleichheit mit allem Geschöpften und zugleich seiner Größe: der Fähigkeit zu dieser Erkenntnis. Die Einsicht in die Unbedeutsamkeit des Einzelnen gegenüber Gott (Demut), die Achtung vor allem anderen Erschaffenen und das Wissen um die eigene Erkenntnisfähigkeit (und damit um die Pflicht zum Guten) machen demnach Gottes Geist im Menschen aus. Moses Löb Bloch (16) und Sigismund Stern (17) fassen danach die ethische Pflichtenlehre noch einmal grundsätzlich, bzw. thematisch zusammen, die unmittelbar aus dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit folgt. Bloch spricht vom Fernziel der ›Heiligkeit‹, in dem der Mensch Gott nacheifern solle, während Stern das Heiligsein in seine individualund sozialethischen wie politischen Aufgaben ausfaltet: aus der Gotteskindschaft folgen der Gleichheitsgrundsatz wie das Nächstenliebe-Postulat, die Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit ebenso wie ein staatsbürgerliches Ethos. In seiner einfühlsamen Darstellung führt Morris Joseph (18) in einige der ›menschenfreundlichen‹ Züge der ethischen Unterweisung ein, wie sie für (u. a.) Tora und Talmud typisch sind. So sollte man die dort stets feststellbare Intensität der Appelle von ihrem Motivationsvermögen her interpretieren, weniger als Urteil oder gar als Verurteilung. Die Betonung des Handelns (im Gegensatz zum praxisfernen Theoretisieren) sei für die jüdische Unterweisung ebenso typisch wie die Bereitschaft, in der Unterweisung Ästhetisches 20

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wie Emotionales in die Wagschale zu werfen, alle menschlichen Vermögen in den Dienst des Guten zu stellen und dabei nie die Grenzen des Leistbaren zu leugnen. Joseph verweist zudem auf die immer wieder geforderte Tugend der ›Milde‹ des Stärkeren dem Schwächeren gegenüber, sei es im Geschlechterverhältnis, in ökonomischem oder politischem Kontext oder gar den Tieren gegenüber, aber auch auf die universalistische Dimension der jüdischen Pflichtenlehre. Hirsch B. Fassel (19) betont dagegen die Rolle von Strenge und Konsequenz, die – bei aller Milde – der Ethik (als Lehre von Recht und Gerechtigkeit) zuwachsen soll: Den jüdischen Pflichtgedanken interpretiert er hauptsächlich als Nötigung, die – als Einsicht – von der eigenen Vernunft ausgeht. Als Grundlage verweist Fassel auf die dem Judentum eigene Lehre vom ›guten‹ bzw. ›bösen‹ Trieb, aber auch auf die den Pflichtgedanken stützende Vorstellung, dass die ethische Vervollkommnung auch in der Zukunft keineswegs ein Ende fände, nicht einmal im ›Jenseits‹. Meyer Kayserling (20) betont abschließend die zentrale Rolle, die aus jüdischer Sicht der Wahrheit, bzw. der Wahrhaftigkeit in der Pflichtenlehre zukommt. Damit ist u. a. die Einheit von Denken und Tun, die Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber gemeint, aber auch die Vermeidung unhaltbarer Versprechen und das Verbot der Verleumdung. Hinzu kommt die Institution des Eides, die aber – um die Pflicht zur Wahrhaftigkeit nicht unnötig zu gefährden – nur in extremen Notfällen in Anspruch zu nehmen ist.

IV. Gott, das Leiden und das Böse Die Frage der Theodizee, inwiefern nämlich das Leiden, bzw. das Böse an sich überhaupt möglich ist, d. h. mit dem göttlichen Willen vereinbar sein kann, hat im Judentum eine eigenständige, gewisse Antwort erfahren. Die Problematik reicht bereits in den jüdischen Pflichtgedanken hinein. Dieser – so sehr er die Dimension des ›Lohnes‹ gewiss ausschließt – läßt es andererseits zu, an eine zusätzliche ›Prüfung‹ gerade jener zu denken, die sich der Tugend verschrieben haben. Dem Leiden der Guten kommt insofern ein Sinn zu, als – wie Samuel Holdheim (21) am Beispiel Abrahams und Hiobs erörtert – damit ihre Fähigkeit zur Demut erweitert wird und die Gerechten dadurch eine weitere Auszeichnung erfahren. David Einhorn (22) richtet in einer differenzierten Abhandlung danach den Blick auf den fragwürdigen Kern der herkömmlichen Theodizee-Frage. Es geht um die Tatsache, dass aus einem Menschenbild, das von einer ›Erbsünde‹ ausgeht oder auf Schuldhaftigkeit und Unfreiheit basiert, eine ethische Dimension menschlichen Handelns gar nicht entstehen kann. Der Mosaismus habe daher die Ausgrenzung und Verdrängung des sogenannten Bösen in eine gegengöttliche Kraft überwunden. Soll die menschliche Verantwortung für Gut und Böse nicht in Frage gestellt werden, so darf das Böse nicht als eigenes Telos verstanden werden. Es gilt vielmehr als bloße Anlage im Menschen, bzw. als Funktion innerhalb des Schöpfungsplanes, deren Bewältigung Teil des sittlichen Auf-

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trags der Menschheit ist. Die Wege freilich, die diese Bewältigung jeweils geht, wann und warum sie vom Bösen immer wieder in Frage gestellt wird, sind allein Gott überlassen.

V. Die menschliche Willensfreiheit Die ›Integration‹ des Bösen in den Schöpfungsplan, wie sie – im Gegensatz zu anderen Religionsanschauungen – das Judentum vollzogen hat, schlägt sich praktisch und rechtlich vor allem im Postulat nieder, dass der Mensch – zumindest als Anlage – Willensfreiheit besitze, d. h. die Fähigkeit und danach auch die Pflicht, zwischen dem Wirken des guten und dem des bösen Triebs zu wählen. In welchem Verhältnis steht dann aber – so fragt L. R. Landau (23) – die Kausalität zur Willensfreiheit? Stößt letztere nicht zumindest hier an definitive Grenzen? Landau stellt zunächst fest, dass aus materialistischer Perspektive bereits mit der Annahme einer ›ersten‹ Ursache das Gesetz der Kausalität im betreffenden Gottesbeweis unbefriedigend bleibe. Doch unterlägen Gedanken und Ideen ohnehin keiner materiellen Kausalität, sie träten lediglich in Form von Handlungen und Handlungsfolgen in den Bereich des Kausalen ein. Landau leugnet jedoch nicht, dass die Willensfreiheit durch menschliche Motive durchaus eingeschränkt werden könne, dass sie also stets erkämpft werden müsse. Wenn die Willensfreiheit auch nicht in anderer Weise ›kausal‹, etwa durch Schuld und moralische Lasten der Vorfahren, eingeschränkt werden könne, gelte dies um so weniger – so ergänzt Mendel Hirsch (24) – für die Schuld, die der einzelne Mensch sich selbst aufbürde oder aufgebürdet habe. Es gebe keine ›Kausalität des Bösen‹ im Sinne eines Naturgesetzes. Der oft beschworene ›Kreislauf des Bösen‹ könne vielmehr durch ›Umkehr‹ und Reue jederzeit unterbrochen werden. Anschließend gehen Levi Herzfeld (25) und L. Brisker (26) auf die in der traditionellen Theodizee-Debatte gern und oft gestellte Frage ein, wie sich die menschliche Willensfreiheit mit der Vorstellung göttlicher Allwissenheit (und damit mit der Kategorie der Vorherbestimmung) vereinbaren lasse. Herzfeld führt die Leugnung der Willensfreiheit u. a. auf die menschliche Strategie zurück, sich eigener Schuld zu entledigen. Es könne allerdings auch schwerlich geleugnet werden, dass die äußeren ›Umstände‹ viel Anteil daran hätten, inwiefern Menschen schuldig würden. Brisker antwortet, dass ein freier Entschluss nicht dadurch unfrei werde, dass er mit einem anderen Willen zusammenfalle. Die eigentliche Antwort muss aber nach Brisker und Herzfeld ganz anders, d. h. erheblich defensiver lauten: Danach ist das menschliche Wissen um die göttliche Allwissenheit abstrakt. Dem Menschen sei sie inhaltlich vollständig verborgen, so dass sich nicht erst der Versuch der Antwort, sondern schon »so alberne Fragen« wie nach dem Verhältnis zwischen der menschlichen Willensfreiheit und der göttlichen Allwissenheit erübrigen. All dies aber schmälere überhaupt nicht den sittlichen Pflichtgedanken, den sich der Mensch ja selbst auferlegt. Samuel Holdheim (27) unterscheidet dagegen in kategorialer Weise ein naturgesetzliches Verständnis des Begriffs ›Gesetz‹ – in der Bedeutung von Sein, bzw. Müssen – vom 22

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entsprechenden ethischen Begriff in der Bedeutung von Sollen. Letzterer stände unter der Bedingung der vernünftigen Einsicht, die unvereinbar sei mit Mysterien und Geheimnissen, wohl aber vereinbar mit Reflexion und Nachdenken. Indem Holdheim eine gegenteilige »talmudische Grundanschauung« zurückweist, bestimmt er das Wissen, bzw. die Kategorie des ›Wissentlichen‹, als wichtige ethische Kategorie, bzw. als Basis der Willensfreiheit.

VI. Der Leib, die Seele und die Unsterblichkeit Nach der gängigen aristotelischen Definition ist es die Fähigkeit zum ›reinen‹, von allem Körperlichen befreiten Geist, die den Menschen zur Krone der Schöpfung macht. Moritz Levin (28) betont dagegen, dass sich in der Tora keine definitiven Aussagen zur Unsterblichkeit der Seele finden. Zwar sei die Vorstellung von der Seele, als zu Gott gehörig und daher unsterblich, in der Tora verbreitet. Auch die Idee vom Übergang in ein ›anderes‹ Leben nach dem Tod werde – wenn auch in uneinheitlicher Form – angedeutet. Hauptsächlich aber stehe die jüdische Vorstellung der Unsterblichkeit in innigem Bezug zur Anschauung der Gottebenbildlichkeit. Die Unerfassbarkeit des Göttlichen sowie die Verpflichtung auf ein ethisches Sollen Hier und Jetzt sprächen gegen eine spekulative Ausformung, so dass das Judentum die Vorstellung der Unsterblichkeit nicht auf ›theologische‹ Weise fixiert habe. Auch Rudolph Grossman (29) erinnert daran, dass das menschliche Erkenntnisvermögen beschränkt ist und gewisse ›tröstliche‹ Aussagen zur Unsterblichkeit der menschlichen Seele unmöglich und auch müßig sind. Dort, wo sie mit der Vorstellung auf jenseitigen Lohn verknüpft würden, seien sie sogar abzulehnen. Grossman betont, dass sich die Vorstellung in allen Kulturen finde und letztlich immer als Institution des Trostes und der Hoffnung fungiert habe. Es handele sich um ein Bedürfnis des menschlichen Herzens, aber auch um eine Idee, die sich dem Denken aufdränge, über die es aber keine Gewissheit gebe.

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Die Autoren

Bloch, Moses Löb, (1815 Ronsperg – 1909 Nagymaros bei Budapest). Talmudunterricht bei Philipp Kohner und Wolf Löw. Besuch des Gymnasiums in Pilsen. In Prag Besuch der Jeschiwa des Löb Glagau und des Gymnasiums. 1840 kurzes Studium an der Universität. 1841 Bestätigung als Rabbiner in Wotitz, ab 1852 Rabbiner in Hermanmestetz, ab 1856 in Leipnik, wo er eine Jeschiwa erhält. 1877 Berufung an die Landesrabbinerschule Budapest als Professor für Talmud. 1896 Ritterkreuz des Franz-Josefs-Ordens. Brisker, L., Gründer eines Lehr- und Erziehungs-Instituts in Wien. Darüber hinaus bekannt als Verfasser von Das »Judenthum und der Culturfortschritt unseres Jahrhunderts« (1871). Cohen, Hermann, Prof. Dr., (1842 Coswig – 1918 Berlin). Talmudstudium bei seinem Vater, Besuch des Gymnasiums in Dessau, dann des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau. 1861–1864 Studium der Philosophie an der Universität Breslau, 1864–1865 in Berlin. 1865 Promotion in Halle. 1873 Habilitation in Marburg. 1876–1912 Professor für Philosophie in Marburg. Seit 1913 Dozent an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. C. galt als Führer des liberal-religiösen Judentums, dessen Bedeutung er in seiner Ethik sah. Stand dem nationalen Gedanken ablehnend gegenüber. Verfechter der Synthese von Deutschtum und Judentum. Cohn, Salomon, Dr., (1822 Zülz – 1902 Breslau). Talmudstudium bei Oberrabbiner S. W. Sofer in Pressburg und bei Oberrabbiner Jakob Ettlinger in Altona. Ordinationen in Berlin und Kempen. Besuch des Gymnasiums in Wien und Breslau. 1844–1847 Studium an der Universität Breslau und an der Universität Marburg. Promotion 1847 in Gießen. 1847 Rabbiner in Oppeln. Mitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. 1853 limburgischer Provinzial-Rabbiner in Maastricht. 1863 mecklenburgischer Landesrabbiner in Schwerin. 1876 Rabbiner an der orthodoxen Synagoge an der Potsdamer Brücke in Berlin. Seit 1878 Dozent für Homiletik am Rabbinerseminar zu Berlin. Ehrenteil, Moritz, (1825 Szilágy-Nagyfalu – 1894 Budapest). Ungarischer Pädagoge und Publizist. Zwölf Jahre lang als Sekretär der orthodoxen Landeskanzlei in Pest tätig; als Gegner derselben ausgeschieden. Veröffentlichungen zu sprachwissenschaftlichen Themen und zum Judentum. Herausgeber von »Die jüdische Volksschule« und von »Das traditionelle Judentum«. Einhorn, David, Dr., (1809 Diespeck bei Neustadt a. d. Aisch – 1879 New York). Ab 1825 Besuch der Fürther Jeschiwa. 1827 Privatunterricht in Würzburg. 1829 ordiniert durch das Fürther Rabbinatskollegium. Ab 1830 Studium an den Universitäten in Würzburg und 24

Die Autoren

Darmstadt. 1834 Promotion in Erlangen. Anschließend erfolglose Bewerbung als Rabbiner. 1838 als Rabbiner in Welbhausen gewählt, aber der liberalen Ansichten wegen von der Regierung nicht bestätigt. 1842 Landesrabbiner in Hoppstädten. 1849 Ruf an die Reformsynagoge in Pest. Ab September 1855 Rabbiner des Reformvereins »Har Sinai« in Baltimore. Unstimmigkeiten wegen seiner Predigten gegen Sklaverei, daher Amtsniederlegung. Anschließend Tätigkeit als Rabbiner in Philadelphia und New York. Fassel, Hirsch Bär, (1802 Boskowitz – 1883 in Nagykanizsa). Absolvent der Sofer-Jeschiwa in Pressburg. 1836–1851 Rabbiner in Proßnitz, danach in Nagykanizsa. Anhänger der konservativen Theologen-Versammlung. Führte die deutsche Predigt in Mähren ein. Grossman, Rudolph, (1867 Wien 1927). Besuchte die Universität Cincinnati/Ohio und das dortige Hebrew Union College. 1889–1896 Rabbiner am Temple of Beth-El, New York, 1897–1923 an der Synagoge Rodeph Sholom in New York. Corresponding secretary der Central Conference of American Rabbis. Herzfeld, Levi, Prof. Dr., (1810 Ellrich am Harz – 1884 Braunschweig). Besuch des Gymnasiums in Nordhausen. 1833–1836 Studium an der Universität Berlin. Talmudstudium in Braunschweig und Würzburg. 1836 Promotion an der Universität Berlin. Anschließend Prediger. Ab 1841 Leiter der Religionsschule in Emden. 1843 Landesrabbiner in Braunschweig. 1860–1873 Leitung des Instituts zur Förderung der israelitischen Literatur. Gottestdienstreformer, führt Konfirmation, Orgel und deutschsprachige Liturgie in Braunschweig ein. Hirsch, Mendel, (1833 Oldenburg – 1900 Frankfurt am Main). Pädagoge und Schriftsteller. Studium der Philosophie, Psychologie, Literatur und Geschichte an den Universitäten Bonn und Berlin. Seit 1855 als Lehrer für jüdische und allgemeine Fächer an den von seinem Vater, Samson Raphael Hirsch, gegründeten jüdischen Mittel- und Volksschulen in Frankfurt am Main tätig. H. stellte sich gegen den Zionismus und trat für Assimilation ein. Holdheim, Samuel, Dr., (1806 (Kempen – 1860 Berlin). Talmudstudium in Kempen, Kurnik und in Böhmen. Nach autodidaktischen Studien der weltlichen Wissenschaften 1833 Studium der Philosophie als Gasthörer an der Universität Prag, später Berlin. 1836 Rabbiner in Frankfurt an der Oder. 1839 Promotion in Leipzig. 1840 Ernennung zum Landesrabbiner von Mecklenburg-Schwerin. Ab 1847 Prediger der Reformgemeinde in Berlin. Joseph, Morris, Rev., (1848 London – 1930). Besuch des Jews’ College in London. Ab 1868 Rabbiner an der North London Synagogue. 1874–1882 Prediger an der Old Hebrew Congregation in Liverpool. Seit 1893 Senior Minister der West London Synagogue. Kayserling, Moritz Meyer, Dr., (1829 Hannover – 1905 Budapest). Besuch des Gymnasiums in Hannover. Talmudisch-rabbinische Studien in Halberstadt, Mikulov, Prag und 25

Die Autoren

Würzburg. 1851 Studium an der Universität Würzburg, 1852 an der Universität Berlin. 1856 Promotion in Leipzig. Ab 1861 Rabbiner der Schweiz mit Sitz in Lengnau. Schwiegersohn von Ludwig Philippson, Teilnehmer an dessen liberaler Kasseler Rabbiner-Versammlung. Ab September 1870 Rabbiner und deutscher Prediger in Budapest. Schrieb zahlreiche historische, philosophische und exegetische Werke. Krauskopf, Joseph, (1858 Ostrowo – 1923 Atlantic City/New Jersey). 1872 Emigration in die USA. Dort Besuch des Hebrew Union College. Nahm nach der Ordination einen Ruf nach Kansas City/Missouri an (1883–1887) und wurde anschließend Rabbiner der Reformgemeinde Keneseth Israel in Philadelphia. 1903–1905 Präsident der Zentralkonferenz der amerikanischen Rabbinen. Gründer von Wohlfahrtsorganisationen und der Jewish Publication Society of America. Kurrein, Adolf, Dr., (1846 Trebitsch – 1919 Teplitz-Schönau). 1866 Matura in Brünn. Schüler von Adolf Jellinek am Beth-Hamidrasch in Wien. Studium der Philosophie, Geschichte und Mathematik an der Universität Wien. 1871 Promotion. 1872 Erlangung des Rabbinerdiploms. Tätigkeit als Rabbiner in St. Pölten, Linz, Bielitz und Teplitz-Schönau. Herausgeber der »Jüdischen Chronik«. Verfasser zionistischer Schriften. Landau, L. R., Rabbiner in Pest. Levin, Moritz, Dr., (1843 Wongrowitz – 1914 Berlin). 1866 – 1868 Studium in Berlin. 1868 Rabbiner in Zürich. 1874 erster Rabbiner der neu gegründeten jüdischen Gemeinde in Nürnberg. 1884 Prediger und Religionslehrer der Jüdischen Reformgemeinde in Berlin. Moses, Adolph, (1840 Kleczewo – 1902 Louisville/Kentucky). Talmudstudium unter Anleitung seines Vaters. Anschließend Immatrikulation an der Universität Breslau und am dortigen Rabbiner-Seminar. 1863 beim polnischen Januaraufstand als Offizier in der Revolutionsarmee, anschließend in russischer Gefangenschaft. Übersiedlung nach Frankfurt a. M. und Studium bei Abraham Geiger. 1870 Ruf an das Rabbinat in Montgomery/ Alabama. 1881 Rabbiner in Louisville/Kentucky. Sprecher des Reformjudentums in Amerika. Rosenberg, Alexander, (1844 Madó – 1909 Arad). Studium in Wien, Leipzig und Breslau. 1867 Dissertation in Leipzig. 1868 Rabbiner in Nagyvárad, 1876 in Kaposvár, seit 1885 Oberrabbiner in Arad. Stand dem Reformjudentum nahe. Roth, Aron, (ca. 1830 – 1897). 1858–1897 Bezirksrabbiner in Siklós, Ungarn. Publizierte u. a. in Ben Chananja und im Jüdischen Zentralblatt. Salomon, Gotthold, eigentlich Salman Liepmann, (1784 Sandersleben – 1862 Hamburg). Ab 1794 Talmudunterricht. 1802 Lehrer in der jüdischen Franzschule in Dessau. Autodidaktisches Studium der Klassiker und pädagogischer Literatur. 1818–1857 Prediger am 26

Die Autoren

Neuen Israelitischen Tempelverein in Hamburg. Gastprediger in Breslau, Berlin, Wien und London. Trat für Reform des synagogalen Gottesdienstes ein. Silverman, Joseph, (1860 Cincinnati/Ohio. – 1930 New York). Studium an der University of Cincinnati und am Hebrew Union College in Cincinnati. Ab 1884 Rabbiner in Dallas/ Texas. 1885–1888 Rabbiner in Galveston/Texas. 1888–1922 Rabbiner am Temple Emanu-El in New York. 1900–1903 Präsident der Central Conference of American Rabbis. Mitbegründer mehrere Wohltätigkeitsinstitute. Aktiv in der Federation of Jewish Philanthropies. Beratender Herausgeber der Jewish Encyclopedia. Ehrenpräsident der Association of Reform Rabbis of New York and Vicinity. Unterstützung der zionistischen Bewegung und des jüdisch-christlichen Dialogs. Stern, Sigismund, Dr., (1812 Karge – 1867 Frankfurt am Main). Nach Talmudstudium 1831 Abitur an einem Berliner Gymnasium. Immatrikulation an der Universität Berlin. Studium bei Hegel, Schelling und Schleiermacher. Leitung der Höheren Schul- und Pensionsanstalt für Knaben. 1844 als Vertreter des Berliner Reformkreises auf der Rabbinerversammlung in Frankfurt am Main. Präsident der Reformgemeinde in Berlin. 1855 Ruf als Direktor der Realschule der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Mitglied an der allgemeinen deutschen Lehrerversammlung.

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Editorische Notiz

Soweit möglich, sind alle Angaben der biblischen Fundstellen nach den Loccumer Richtlinien, die zur rabbinischen Literatur nach den Frankfurter Judaistischen Beiträgen 2 (1974) vereinheitlicht worden. Im Hinblick auf die hebräischen Zitate selbst oder auf Übersetzungen hebräischer Fundstellen wiesen die Originalbeiträge uneinheitliche oder ungenaue Zitierweisen und Quellenangaben auf. Gelegentlich kürzten die Autoren auch ihre Zitate zur Verdeutlichung des Gemeinten. Die Herausgeber haben vor diesem Hintergrund, eine weitestgehende Vereinheitlichung und Nachvollziehbarkeit angestrebt. Heutige Maßstäbe der Zitation konnten freilich nicht immer erreicht werden. Setzfehler im Hebräischen wurden stillschweigend korrigiert. Dem Band sind ein Quellenverzeichnis und ein Register der Fundstellen, ein Index sowie ein Verzeichnis der von den Autoren herangezogenen Literatur beigefügt worden. Die dortigen Seitenangaben beziehen sich auf die vorliegende Ausgabe. Zusätzlich wurde in allen Beiträgen die Originalpaginierung (in | |) kenntlich gemacht. Anmerkungen der Herausgeber zu den Beiträgen wurden in [ ] gesetzt. Die Überschriften zu den einzelnen Beiträgen, die die jeweiligen thematischen Schwerpunkte kennzeichnen und eine schnelle Orientierung ermöglichen sollen, stammen von den Herausgebern. Mit Ausnahme der Großschreibung unbestimmter, bzw. unpersönlicher Pronomina (Jeder, Alles, Eines etc.) wurde die Rechtschreibung der deutschsprachigen Beiträge in behutsamer Weise vereinheitlicht und modernisiert. Die Herausgeber bedanken sich sehr herzlich bei Frau Beata Mache und Frau Annette Sommer für ihre so sorgfältige wie unermüdliche Detailarbeit bei der Entstehung des vorliegenden Bandes.

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Texte I. Die Erkenntnis Gottes

1. Die Gottesidee und die Tugend des Erkennens: Meyer Kayserling (1882) 1

|1| Der Maßstab für die sittliche Anschauung eines Volkes ist sein Gottesbegriff. Nach der mosaischen Lehre ist Gott das ewig seiende Wesen 2, das über Zeit und Raum erhaben, ohne Stoff und ohne Form ist, nichts Körperliches an sich hat und unter keinem Bilde gedacht werden kann 3, ist Gott einig und einzig, der in seiner Vollkommenheit keines Wesens außer sich bedarf, ohne Mehrheit und ohne Gleichen 4. »Höre, Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einig, einzig« 5! Das ist die unerschütterliche Grundlehre des Judentums, auf der die weltgeschichtliche Sendung Israels beruht, das blieb das Bekenntnis und Losungswort des israelitischen Volkes durch alle Jahrtausende. Mit diesem Bekenntnis hauchten seine Märtyrer auf dem Scheiterhaufen, seine Krieger auf den Schlachtfeldern den Geist aus. Dieser alleinige, allein ewige Gott, der allmächtig und heilig, »gnädig, barmherzig und langmütig, groß an Huld und Treue« 6, |2| kein Gott der Rache ist, sondern sich aller seiner Werke mit Liebe und Erbarmen annimmt, der überhaupt alle Eigenschaften in Vollkommenheit in sich vereint, ist kein Nationalgott: er ist Schöpfer, Erhalter und Regierer der ganzen Welt. Nach der mosaischen Lehre hat Gott die Welt nach seinem allweisen Plan und Willen aus Nichts geschaffen 7, ist die Welt mit der Fülle ihrer Wesen und Kräfte der Abglanz seiner Vollkommenheit, daher Alles, das Ganze wie jedes Einzelne, vollkommen in seiner Art 8. Die Krone der irdischen Schöpfung ist der Mensch, der nach der mosaischen Lehre zwar aus »Staub der Erde«, aber im »Ebenbilde Gottes« geschaffen, von Gott mit dem »Odem des Lebens« beseelt, schuldlos und rein ins Dasein gerufen und mit der Fähigkeit ausgestattet ist, nach Wahrheit, Recht und Vervollkommnung zu streben, sich zu größerer Erhabenheit zu entfalten. »Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbilde« 9, ist nächst der Wahrheit von der Einheit Gottes der wichtigste Grundsatz des Judentums: auf ihm ruht das ganze Gebäude der religiösen Sittlichkeit sowohl der Moral der Person als der zur staatlichen Gemeinschaft sich entwickelnden und vereinigenden Gesellschaft. Für den Menschen besteht, wie einer der bedeutendsten Lehrer des Talmud sich aus1 2 3 4 5 6 7 8 9

[aus: Kayserling, Meyer, Das Moralgesetz des Judenthums in Beziehung auf Familie, Staat Gesellschaft : als Ms. gedr., Wien 1882, 1–7, 31–35] Ex 3,14: ‫אהיה אשר אהיה‬ Dtn 4,15 f. Jes 40,25: ‫ואל מי תדמיוני ואשוה יאמר קדוש‬ Dtn 6,4: ‫שמע ישראל ה׳ אלהינו ה׳ אחד‬ Ex 34,6: ‫ה׳ ה׳ אל רחום וחנון ארך אפים ורב חסד ואמת‬ Gen 1,1: ‫בראשית ברא אלהים את השמים ואת הארץ‬ Gen 1,31: ‫וירא אלהים את כל אשד עשה והנה טוב מאד‬ Gen 1,27: ‫ויברא אלהים את האדם בצלמו בצלם אלהים ברא אתו‬

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Meyer Kayserling (1882)

drückt, ein hoher Vorzug darin, sich auch bewusst zu sein, dass er im Ebenbilde Gottes geschaffen ist 10, er ist mit seinem Geiste Gott ähnlich, denn es wohnt ihm das Bewusstsein der sittlichen Kraft inne, das ihm seinen Werth gibt und seinen wahrhaften Adel begründet, in seinem Innern trägt er Göttliches, d. i. die Liebe. Nach der mosaischen Urkunde stammen alle Menschen von Einem Paare ab, und als das Menschengeschlecht durch die große Flut vernichtet worden war, entstand es wieder aus Einem Menschenpaare. Alle Menschen sind also im Ebenbilde Gottes geschaffen, in derselben Würde, mit derselben Bestimmung, derselben Verpflichtung, demselben Rechte. Vor dieser Grundlehre des Judentums schwindet jeder Gedanke an eine wesenhafte Verschiedenheit der Menschen untereinander. Daher stellt auch die mosaische Urkunde allen Unterscheidungen der Rassen und Stämme das Bewusstsein der Einheit der gesamten Menschheit in dem Satze voran: »Das |3| ist das Buch der Geschlechtsfolge oder der Zeugungen des Menschen« 11, ein Satz, welcher nach dem Ausspruche eines Lehrers des Talmud die Grundlage der Religion bildet 12: Mensch zu sein und überall den Menschen in seiner Menschenwürde zu erkennen und alle im Ebenbilde Gottes Geschaffenen als gleich und ebenbürtig. Aus der Schöpfung Eines Menschen, von dem alle andern abstammen, ergibt sich die unumstößliche Wahrheit, lehrt der Talmud, »dass, wer Einen Menschen tötet, sich gegen die gesamte Menschheit vergeht, und wer Ein Menschenleben erhält, sich um die gesamte Menschheit verdient macht«. »Es wurde nur Ein Menschenpaar geschaffen um willen der Einheit und des Friedens der Menschen untereinander, damit nicht der eine zum andern sprechen könne, mein Stammvater war vorzüglicher und von einem höhern Adel als der Deinige« 13. Wie die mosaische Lehre alle Menschen aus Einer Quelle entspringen lässt, alle Menschen als Geschöpfe des einig-einzigen Gottes, als Kinder Eines Vaters betrachtet 14, so ordnet sie auch durch diese tiefe Beziehung zu dem höchsten Wesen das Verhältnis der Menschen untereinander: alle Menschen sind Brüder, alle zu gleicher sittlicher Aufgabe berufen. Als das höchste Ideal, wonach der im Ebenbilde Gottes geschaffene Mensch zu streben hat, als das höchste Prinzip der Sittlichkeit stellt die mosaische Lehre die Heiligung auf. »Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich der Ewige, euer Gott« 15, oder wie es noch deutlicher heißt: »So heiliget euch, dass ihr heilig werdet, denn ich bin der Ewige, euer Gott« 16. Diese Heiligkeit besteht nicht in der sich peinigenden, sich selbst vernichtenden Askese, die dem Judentume fremd ist, sie basiert vielmehr in dem immer währenden Streben nach Vervollkommnung und Annäherung an Gott und gipfelt in der Liebe, wel10 11 12 13

14 15 16

mAv III,18: ‫חבה יתירה נודעת לו שנברא בצלם אלהים‬ Gen 5,1: ‫זה ספר תולדת אדם‬ Sifra Kedoschim pereq 4, BerR P. 24: ‫בן עזי אומר זה ספר תולדת אדם זה כלל גדול בתורה‬ bSan 37a: ‫לפיכך נברא אדם יחידי ללמדך שכל המאבד נפש אחת מישראל מעלה עליו הכתוב כאילו איבד עולם מלא‬ ‫וכל המקיים נפש אחת מישראל מעלה עליו הכתוב כאילו קיים עולם מלא ומפני שלום הבריות שלא יאמר אדם לחבירו‬ ‫אבא גדול מאביך‬ Mal 2,10: ‫הלוא אב אחד לכלנו הלוא אל אחד בראנו‬ Lev 19,2: ‫קדשים תהיו כי קדוש אני ה׳ אלהיכם‬ Lev 20,7: ‫והתקדשתם והייתם קדשים כי אני ה׳ אלהיכם‬

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Die Gottesidee und die Tugend des Erkennens

che die wesentliche Triebfeder unseres Fühlens und Handelns gegen alle Mitmenschen bilden soll, und in ihrer Tiefe die Gerechtigkeit nicht minder wie die Barmherzigkeit umfasst. Wie nun das kindliche Verhältnis zu Gott in der Vorschrift ausgeprägt ist: »Du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller Kraft« 17, so bildet das erhabene |4| Gesetz: »Du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst« 18, den großen umfassenden Grundsatz der mosaischen Lehre, welche in allen ihren Äußerungen von Liebe durchdrungen ist. »Was dir missfällt, das tue auch deinem Nächsten nicht«, das ist nach dem Ausspruche Hillel’s, jenes großen Lehrers, der, eine Säule des Judentums, mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Zerstörung Jerusalems gelebt hat, der Grund und die Wurzel der mosaischen Lehre; alles Übrige im Bereiche der Pflichten gegen die Gesellschaft ist nichts als Erklärung, im Grunde nur die weitere Erläuterung des Hauptgedankens 19. Nach diesem Grundsatze der allgemeinen Nächstenliebe verbietet die mosaische Lehre jede Art von Hass und Groll, jede Bedrückung und Gewalt, jede Ungerechtigkeit im Gericht, im Handel und Wandel, sie fordert vielmehr die strengste Gerechtigkeit 20 vereint mit Mitleid und Erbarmen, macht es Jedem zur Pflicht, die Wehrlosen, Witwen und Waisen zu beschützen, die Bedürftigen freudigen Herzens zu unterstützen und selbst mit Lebensgefahr Niemandem abzustehen. Sie fordert die Übung der Liebe gegen alle Menschen ohne Unterschied, selbst gegen den Feind, denn die vollkommene Menschenliebe, wie die mosaische Lehre sie lehrt, schließt auch die Feindesliebe ein; das Judentum proklamiert selbst die Solidarität der Wesen, indem es dem Menschen Pflichten sowohl gegen die Tiere, als auch gegen die Pflanzen vorschreibt 21. Aus der Einheit Gottes und der Gottebenbildlichkeit des Menschen ergibt sich ferner als natürliche Folge die Gleichheit Aller vor dem Gesetze. Diese Gleichheit Aller in allen Pflichten, welche die Gesellschaft auferlegt, und in allen Rechten, welche sie zuerteilt, ist das Fundament, auf welchem die mosaische Lehre das staatliche und gesellschaftliche Verhältnis aufbaut. »Ein Gesetz soll für den Einheimischen wie für den Fremden sein« 22, proklamierte sie als das erste Gebot nach der Befreiung des israelitischen Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft, und dieser Grundsatz, Gleiches Recht für Alle ohne Ausnahme, für den Israeliten wie für den Nichtisraeliten, zieht sich durch die ganze mosaische Lehre hindurch: »Ein Recht und Ein Gesetz soll euch sein und dem Fremdlinge, der sich bei euch aufhält« 23. Wie Einen Gott und Eine Mensch- |5| heit kennt das Judentum auch nur Ein Recht und Ein Gesetz für Alle. Ein Ausfluss der Gleichheit ist die Freiheit der Person. Die mosaische Lehre erklärt feierlich, dass die Israeliten frei und keines Menschen Knechte, sondern nur Gottes Diener 17 18 19 20 21 22 23

Dtn 6,5: ‫ואהבת את ה׳ אלהיך בכל לבבך ובכל נפשך ובכל מאדך‬ Lev 19,18: ‫ואהבת לרעך כמוך‬ bShab 31a: ‫דעלך סני לחברך לא תעביד זו היא כל התורה כולה ואידך פירושה היא זיל גמור‬ Dtn 16, 20: ‫צדק צדק תרדף‬ Dtn 22, 6,7 u. a. m. Ex 12,49: ‫תורה אחת יהיה לאזרח ולגר הגר בתוככם‬ Num 15,16: ‫תורה אחת ומשפט אחד יהיה לכם ולגר הגר אתכם‬

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Meyer Kayserling (1882)

sein sollen 24, und wie an der Spitze des Grundgesetzes, der Zehnworte, so wird die persönliche Freiheit immer wieder zum Bewusstsein geführt und daran erinnert, »dass der Ewige die Israeliten aus dem Hause der Knechtschaft geführt hat«. Demzufolge verwandelte die mosaische Gesetzgebung den Sklavendienst in ein der Zeit nach begrenztes Verdingungsverhältnis, so dass alle Israeliten, die sich zu Sklaven verkauft hatten, oder wegen Diebstahls, für den sie keinen Ersatz bieten konnten, gerichtlich verkauft worden, im Jobeljahre wieder frei wurden. Treu diesem Prinzipe der Freiheit kennt das Judentum, das mit dem Gedanken auftrat, dass jeder Mensch zur Arbeit berufen und verpflichtet sei, keine Beschränkung der Freiheit im Berufe, im Handel und Gewerbe, im Reden und Denken. Die Religion des Judentums, welche Gleichheit und Freiheit als ewige Grundgesetze aufstellt und nur Gott das Eigentumsrecht der ganzen Erde zuerkennt, ist wie eine Religion der Liebe auch die des Friedens. Das Judentum erhebt sich zu dem Gedanken, dass einst alle Völker die Leidenschaften, welche die Kriege hervorrufen, Ehrgeiz, Ländergier, Herrschsucht, verlieren und den Krieg aufgeben, dass einst allgemeiner Friede auf der ganzen Erde herrschen, »alle Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Rebemessern umschmieden«, dass »einst die ganze Erde voll der Erkenntnis Gottes und wie Gott einig-einzig, so auch sein Name, d. h. seine Anbetung einig-einzig sein werde« 25. Diese Gotteserkenntnis zu begründen, zu stärken und zu verbreiten, die Moral des Judentums im Leben zu betätigen, war der Beruf des jüdischen Stammes und ist es bis auf den heutigen Tag. |6| Nach diesen allgemeinen Grundlehren, auf welchen die Moral des Judentums beruht, halten wir es für nötig, die Hauptquellen anzugeben, aus welchen die Lehrsätze […] geschöpft sind. Die Grundquelle bildet die »Thora, welche Moses den Kindern Israels vorgelegt hat« 26, welche, einfach und verständlich, als das Erbteil des israelitischen Volkes, als das Grundbuch der Religion, seit Jahrtausenden gelehrt und gelernt, von Allen anerkannt und verehrt wird. Eine weitere Quelle sind die Schriften der Propheten. Diese begeisterten Männer wendeten sich mit ihren Reden und Verkündigungen nicht bloß an das israelitische Volk, seine Regenten und Priester, sondern auch an andere Völker; sie eifern ebensowohl gegen Götzendienst, Recht- und Sittenlosigkeit, Gewalttat und Unterdrückung, wie sie auf Heiligkeit durch innere Sittlichkeit, auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Menschenliebe, überhaupt auf die Tugenden dringen, durch welche der Einzelne wie die Gesellschaft sich erhält und vor Verderben bewahrt. Gleich wie in den Schriften der Propheten wird in den Psalmen die allgemeine Gerechtigkeit und die Liebe heilig und herrlich gelehrt, wird in den Sprüchen Salomon’s und in den übrigen Büchern der heiligen Schrift die Tugend gepriesen, das Laster mit den schwärzesten Farben geschildert. Der heiligen Schrift schließt sich als Quelle an das zu den Apokryphen gezählte, etwa 24 Lev 25,42,55: ‫כי לי בני ישראל עבדים עבדי הם אשר הוצאתי אותם מארץ מצרים אני ה׳ אלהיכם‬ 25 Sach 14,9: ‫ביום ההוא יהיה ה׳ אחד ושמו אחד‬ 26 Dtn 4,44: ‫וזאת התורה אשר שם משה לפני בני ישראל‬

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Die Gottesidee und die Tugend des Erkennens

190 Jahre vor der gewöhnlichen Zeitrechnung verfasste Buch Sirach, das allen Menschen Bescheidenheit und Arbeitsamkeit, Barmherzigkeit gegen Jedermann, Liebe zu dem Fürsten und dem Vaterlande empfiehlt, vor Stolz und Hochmut, vor Rachsucht, Zorn und Hader, vor Verleumdung und Doppelzüngigkeit eindringlich warnt. Eine fernere Quelle ist die Mischna, besonders der Traktat »Aboth«, in dem das ganze ethische Gebiet der menschlichen Gesellschaft, auf Lehre oder Studium, Gottesdienst und Wohltätigkeit 27 gegründet, eine köstliche Spruchsammlung der bedeutendsten Schulhäupter ist, welche tiefe Lebensweisheit, die zartfühlendste Menschenliebe und Mahnungen zur Gerechtigkeit enthält und welche als talmudische Ethik auch ins Volk gedrungen ist. |7| Auch der Talmud mit seinem reichen ethischen Inhalte wurde als Quelle benützt. Der Talmud, wie Mischna und Gemara zusammen genannt werden, ist das Protokoll der Debatten und Disputationen, welche die Gelehrten mit ihren Kollegen und Schülern in den verschiedenen Akademien Palästinas und Babylons über religionsgesetzliche Fragen unter Wahrung völliger Redefreiheit geführt haben. In der Geschichte des menschlichen Geistes einzig seiner Art, enthält der Talmud Gesetzesauslegungen, Erklärungen und Deutungen von Schriftstellen, in denen sich verschiedene und sich widersprechende Ansichten geltend machen, neben Sentenzen und Aussprüchen, deren Urheber in einem achtbis neunhundert jährigen Zeiträume in den verschiedensten Ländern, unter den verschiedensten staatlichen Einrichtungen und sozialen Verhältnissen gelebt haben, Aussprüchen, welche nicht wörtlich zu nehmen sind und eine subjektive Deutung zulassen. Es enthält auch Lebensregeln und Vorschriften der allgemeinen Moral, welche auf den Geist und Charakter des jüdischen Stammes einen bedeutenden Einfluss geübt haben. Nächst dem Talmud sind auch die Werke des Midrasch insoweit benutzt worden, als sich in demselben moralische und religiöse Betrachtungen, untermischt mit Sentenzen und Lebensregeln finden. Die letzte in dieser Schrift benützte Quelle ist Moses ben Maimon oder Maimonides, der nicht nur die Leistungen aller seiner Vorgänger auf dem Gebiete der Moral und Ethik zusammengefasst, sondern dieselben auch weit überragt hat, so dass seine diesbezüglichen Werke als die einer allgemein anerkannten Autorität zu betrachten sind. Es versteht sich aber von selbst, dass auch seit Maimonides die Weiterentwicklung der jüdischen Ethik niemals stille stand. Die wesentlichsten Fragen der Ethik wurden von den jüdischen Gelehrten des Mittelalters sowohl wie der neueren Zeit mehr oder weniger eingehend in vielen trefflichen Werken behandelt, von welchen mehrere sich allgemeiner Verbreitung und Wirksamkeit erfreuten, wie denn namentlich seit der Zeit Moses Mendelssohn’s die umfassende und systematische Bearbeitung der Sittenlehre außer ordentlich gefördert worden ist. |31| Die Religion des Judentums, welche keinen blinden Glauben und keine Geheimnisse kennt, sondern auf Erkennen, Forschen und Wissen basiert, fordert von Jedem ihrer Bekenner unter allen Lebensverhältnissen, als Grundlage und Ziel des sittlichen Lebens-

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mAv I,2: ‫על שלשה דברים העולם עומד על התורה ועל העבודה ועל גמילות חסדים‬

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Meyer Kayserling (1882)

wandels 28 die Entwickelung und Vervollkommnung der geistigen Kräfte, d. h. die Erkenntnis Gottes, der Welt und der Menschen, das Erwerben von Wissen und Kenntnissen durch Erforschen der Kräfte der Natur, welche von der Weisheit und Allmacht des göttlichen Schöpfers zeugt, durch Erfassen der Ereignisse der Völkergeschichte, in der sich Gott als Richter und Vergelter offenbart. Sie fordert aufs nachdrücklichste, dass jeder Israelit die Kinder in dem Gottesgesetze unterrichten lasse und Jeder sich je nach seinem Berufe mit demselben beschäftige 29. Der jüdische Stamm zeichnet sich von seinem Uranfange an durch die Liebe zu geistiger Tätigkeit aus; nichts war bei ihm mehr verpönt als Unwissenheit. Schon vor mehr denn zweitausend Jahren wurden in Palästina, in allen seinen Provinzen, Kreisen und Städten Schulen errichtet 30, in welchen die Jugend und zwar unentgeltlich 31 in Lehre und Recht unterwiesen und zur Beobachtung |32| des Gesetzes herangebildet wurden. Schulen sind, nach dem Ausspruche R. Jehuda’s, des Patriarchen, des Lehrers und Ordners der Mischna, das Höchste und Wichtigste der Gesellschaft, ihre Wohlfahrt und Zukunft wird getragen von dem reinen Hauche der kleinen Kinder in den Schulen 32, d. h. beruht auf Unterricht und allgemeiner Volksbildung, und der Zerstörung ist der Ort verfallen, der keine Jugendschule besitzt 33. Darum war es nach dem Talmud streng verboten, den Schulunterricht zu stören und die Kinder vom Schulbesuche willkürlich fern zu halten, selbst wenn man ihrer zum Tempelbau bedurft hätte 34. Entsprechend der hohen Wichtigkeit, welche die Weisen des Talmud dem Unterrichte und der Wissenschaft beilegen, ist auch das Ansehen, das sie für die Lehrer und Gelehrten fordern. Die Lehrer, welche »die Jugend auf die Bahn der Tugend führen, glänzen wie die Sterne am Firmament« 35, sie werden als die eigentlichen »Hüter und Wächter der Stadt« betrachtet 36. Ihrem Berufe, der ein hoher göttlicher ist 37, ganz zu leben, ihm mit Lust und Freudigkeit, mit Ruhe, Geduld und Sanftmut 38 gewissenhaft obzuliegen, wird ihnen zur heiligen Pflicht gemacht, denn die Zukunft ganzer Generationen ist ihrer Obhut anvertraut! Fluch trifft denjenigen, der das göttliche Werk des Unterrichts und der Erziehung vernachlässigt. 39 Wie der Schüler dem Lehrer eine dem Vater gleiche Verehrung schuldig ist, so soll der Lehrer dem Schüler stets mit Achtung

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

bQid 40b, Meg 27a: ‫הלימוד מביא לידי מעשה‬ Dtn 6,7, Dtn 11,19, Jos 1,8, Jes 59,21. bBB 21a. bNed 37a, bBekh 29a: ‫מה אני בחנם אף אתם בחנם‬ bShab 119b: ‫אין העולם מתקיים אלא בשביל הבל תינוקות של בית רבן‬ bShab 119b: ‫כל עיר שאין בה תינוקות של בית רבן מחריבין אותה‬ bShab 119b: ‫אין מבטלין תינוקות של בית רבן אפילו לבנין בית המקדש‬ bBB 8b. yHag I,7: ‫מאן אינין נטורי קרתא״ ספרייא ומתנייניא‬ bAZ 3b: ‫הקב״ה יושב ומלמד תינוקות של בית רבן‬ bEr 54b, mAv II,6: ‫לא הקפדן מלמד‬ bBB 21b.

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Die Gottesidee und die Tugend des Erkennens

begegnen, ihn lieben wie sein eigenes Kind, denn auch die Schüler werden Kinder genannt 40. Auf Achtung und Wertschätzung der Gelehrten, aller derer, welche das Reich des Geistes erweitern und die Schachten des Wissens ergründen, auch der heidnischen 41, legt die Religion des Judentums einen besonderen Werth. Die Gelehrten sind, nach dem Talmud, die Stützen und »Bauleute der Welt« 42, sind gleich den Gesalbten und Propheten 43, ja mehr als die Propheten 44; selbst »ein Heide, der in die Hallen der Wissenschaft eingedrungen, wird Weiser, Lehrer genannt 45 und gleicht«, nach dem Ausspruche des Talmud, »einem Hohenpriester« 46, ja »höher als ein unwissender Hohenpriester steht ein gelehrter Bastard« 47. Gott selbst ehrt die Gelehrten, um wie viel mehr muss der Mensch es tun! Wer |33| einen Gelehrten geringschätzt, den erklärt der Talmud für einen Gottlosen 48, er kann die Sünde nie wieder gut machen 49, und wer sich gegen einen Gelehrten, gegen eine von den Zeitgenossen anerkannte Größe, in Wort oder Schrift frech benimmt, macht sich, wie es im Talmud heißt, gleichsam eines Majestätsverbrechens schuldig 50. In dem Verhältnis zu der Verehrung, welche dem Gelehrten gezollt wird, sind auch die Ansprüche, welche die Religion des Judentums an ihn stellt. Er pflege die Wissenschaft um ihrer selbst willen, aus Liebe zur Wissenschaft, betrachte sie als seine Schwester, nicht aber als seine Magd. »Wolle nicht«, mahnt der Talmud, »kundig werden der Schrift, damit man dich einen Weisen nenne, nicht Forscher eines Ehrentitels wegen, sondern pflege die Wissenschaft aus Liebe und sei überzeugt, die Ehre wird am Ende nicht ausbleiben.« »Mache die Thora und Wissenschaft nicht zu einer Krone, um damit zu stolzieren, aber auch nicht zu einem Spaten, um damit zu graben« 51. Der Gelehrte tue sich auf sein Wissen nichts zu gute 52, achte das Anderer nicht gering, denn nur »der ist weise«, pflegte einer der bedeutendsten Lehrer des Talmud zu sagen, »der von Jedem Lehre annimmt« 53; ist doch Niemand im Besitze aller Weisheit, Jeder bietet Etwas. R. Jehuda, der mehrerwähnte Patriarch, legte offen das Geständnis ab: »Viel habe ich von meinen Lehrern, mehr von meinen Genossen, das Meiste aber von meinen Schülern ge-

40 mAv IV,15: ‫יהי כבוד תלמידך חביב עליך כשלך‬ Yalq §. 841: ‫ושננתם לבניך אלו תלמידיך … שהתלמידים קרויים בנים‬ 41 bBer 58a, bMeg 16a. 42 bShab 114a: ‫מאי בנאין״ אלו תלמידי חכמים שעוסקים בבנינו של עולם‬ 43 bGit 62a: ‫דרבנן איקרו מלכים‬ 44 bBB 12a: ‫חכם עדיף מנביא‬ 45 bMeg 16a. 46 bSan 58b. 47 bHor 13a: ‫ממזר תלמיד חכם קודם לכהן גדול עם הארץ‬ 48 bSan 99b. 49 bShab 119b: ‫כל המבזה תלמיד חכם אין לו רפואה למכתו‬ 50 MQoh 109: ‫כל המעיז בתלמיד חכם ובגדול הדור כאילו מעיז פניו במלך‬ 51 bNed 62a: ‫שלא יאמר אדם אקרא שיקראוני חכם אשנה שיקראוני רבי … אלא למד מאהבה וסוף הכבוד לבא‬ Das. 62a; mAv IV,7: ‫אל תעשה עטרה להתגדל בה ולא קרדום לחפור בה‬ 52 mAv II,9: ‫אם למדת תורה הרבה אל תחזיק טובה לעצמך כי לכך נוצרת‬ 53 mAv IV,1: ‫בן זומה אומר איזהו חכם הלומד מכל אדם‬

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Meyer Kayserling (1882)

lernt« 54. Sind Bescheidenheit und Demut die Zierden eines jeden Menschen, so ganz besonders die des Gelehrten. »Religiös-sittliche Erkenntnis« – und etwas Anderes enthält die Weisheit im Grunde nicht – »hat nur in demjenigen sichern Bestand, der sein Wissen im Verhältnis zu dem Wissenswürdigen wie ein Nichts betrachtet« 55, der bescheiden und anspruchslos ist 56. Hochmut und Anmaßung sind, nach dem Urteile des Talmud, »ein untrügliches Zeichen geistiger Armut« 57. Der Gelehrte sei vorsichtig in seinen Äußerungen, sanft in seinen Antworten, behutsam in seinem Urteile, stets friedfertig, offen und ehrlich, ohne Stolz und Eitelkeit 58. Die Liebe zur geistigen Tätigkeit beschränkte sich bei den Juden in vielen langen Zeitperioden fast ausschließlich auf die |34| religiöse Kultur, auf das Studium der Bibel und des Talmud, das sie mitten in den drückendsten Verfolgungen geistig frisch und rege erhalten hat, und in dem nicht selten auch Nichtjuden von ihnen unterrichtet wurden. Schon von einem Gelehrten des Talmud, von R. Gamaliel, wird berichtet, dass er römische Beamte ohne Bedenken in Bibel, Mischna, Talmud, Halacha und Hagada unterrichtet habe. Hillel, der Sohn des mehrerwähnten Patriarchen R. Jehuda, unterrichtete den Kirchenlehrer Origenes, und Hieronymus, den die Kirche den Heiligen nennt, eignete sich die Kenntnis des Hebräischen von jüdischen Lehrern, von Bar Chanina u. A., an. In späterer Zeit waren Juden häufig die Lehrer der Christen. Jakob Loans, der Leibarzt des Kaisers Friedrich III. von Österreich, war der Lehrer Reuchlin’s. Elias Levita hatte zahlreiche christliche Schüler und unter diesen hervorragende Männer, Kardinäle, Bischöfe, Gelehrte, so dass er als der Vater der hebräischen Wissenschaft für die ganze neuere Zeit anerkannt und verehrt wird. Scaliger, Coccejus, Alting, Buxtorf und viele andere christliche Gelehrte ersten Ranges ließen sich von Juden im Talmud unterrichten. Der gefeierte Amsterdamer Rabbiner Menasse ben Israel unterrichtete die holländischen Gelehrten Drusius, Vossius u. A. im Hebräischen, und viele Juden in Holland, Italien und Deutschland zählten christliche Gelehrte zu ihren Schülern. Das Geistesleben der Juden blieb stets lebendig, sie bearbeiteten nicht allein Bibel und Talmud in ihrem ganzen Umfange, sondern pflegten auch mit voller Hingebung die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen: Exegese, Sprachkunde, Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Ethik, Mathematik und Astronomie, Botanik und Medizin. Bis zum Aufblühen der hauptsächlich durch Juden gestifteten medizinischen Schulen von Montpellier und Salerno waren die Juden fast die einzigen Ärzte auf der ganzen damals bekannten Erde und auch später blieben sie lange Zeit die alleinigen Vertreter der medizinischen Wissenschaften, so dass die Fürsten und Päpste sich ihrer als Ärzte bedienten und die von Juden bearbeiteten medizinischen Schriften sich der größten Anerkennung erfreuten. Jedes Gebiet der Wissenschaft wurde von den Juden angebaut und fortgebildet. »Wir verdanken den Juden«, sagt ein |35| portugiesischer Akademi54 55 56 57 58

bTaan 7a, bMak 10a: ‫הרבה למדתי מרבותי ומחבירי יותר מרבותי ומתלמידי יותר מכולם‬ bSot 21b: ‫אין דברי תורה מתקיימין אלא במי שמשים עצמו כמי שאינו‬ bTaan 7a, bEr 55a. bSan 54a: ‫סימן לגסות הרוח עניות‬ mAv I,11: ‫חכמים הזהרו בדבריכם‬

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Die Gottesidee und die Tugend des Erkennens

ker, »größtenteils die ersten Kenntnisse der Philosophie, der Botanik, der Medizin, der Astronomie und Kosmographie, die Elemente der Grammatik und der heiligen Sprache, sowie fast alle Studien der biblischen Literatur« 59. Was die Juden, seitdem durch Moses Mendelssohn vor jetzt hundert Jahren die Bahn gebrochen worden, in den verschiedensten Staaten in den mannigfachen Zweigen des geistigen Schaffens als Gelehrte und Schriftsteller, als Ärzte und Künstler geleistet, wie sie an allen geistigen Bestrebungen der Nationen den lebhaftesten und erfolgreichsten Anteil genommen haben – das wird von jedem vorurteilsfreien Denker bereitwillig anerkannt und gewürdigt. Die Religion des Judentums ist die Religion der Liebe. Wie die Liebe zu Gott der Urquell des Sittengesetzes ist, so bildet der Grundsatz der Nächstenliebe das Fundamentalgesetz der mosaischen Lehre im Verhalten zu dem einzelnen Menschen wie zur Gesellschaft, welche letztere nach den Propheten 60 und dem Talmud 61 auf Gerechtigkeit und Liebe, auf Wahrheit und Frieden beruht. Die Grundlehre des Judentums, dass alle Menschen im Ebenbilde Gottes geschaffen, Alle Kinder Eines Vaters, des Einen schöpferischen, erhaltenden und vergeltenden Gottes, alle Menschen somit Brüder, zu gleichem Ziele und derselben Bestimmung, nämlich dem Streben nach Gottähnlichkeit und Vollkommenheit, berufen sind, diese hohe Wahrheit gipfelt in dem mosaischen Lehrsatze: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ich, der Ewige« 62. Wie Gott gütig und erbarmungsvoll gegen alle Menschen und Wesen, so soll auch der Mensch, Gott nachahmend, alle Menschen als Kinder Gottes lieben und ihnen wohltun 63. Die mosaische Lehre, die Propheten und Spruchdichter begreifen unter dem Worte »Nächsten« (Rea) jeden Nebenmenschen, ohne Ausnahme, erblicken in dem »Nächsten« immer nur den Menschen, ohne jeden Unterschied der Volksabstammung, des Vaterlandes und des Religionsbekenntnisses.

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Ribeyra dos Santos, Memoria de la litteratura portugueza. T. II. [Santos, Antonio Ribeiro dos, Da Litteratura Sagrada dos Judeos Portuguezes. Desde os primeiros tempos da Monarquia até os fins do Seculo XVI. / Memoria 2 ; (Lisboa) 1792] 60 Mi 6,8; Jes 56,1; Sach 8,16. 61 mAv I,18 (vgl. mAv I,2): .‫רבן שמעון בן גמליאל אומר על שלשה דברים העולם קיים על האמת ועל הדין ועל השלום‬ 62 Lev 19,18: ‫ואהבת לרעך כמוך אני ה׳‬ 63 bShab 133a: ‫מה חוא חנון ורחום אף אתה חנון ורחום‬

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2. Gotteserkenntnis: Salomon Cohn (1849) 1

|339| Als der Menschengeist über die endlichen Schranken der Wirklichkeit hinwegzuschreiten und sich in das unendliche Gebiete des Idealen zu flüchten begann, war der philosophische Gedanke in den Besitz der Menschheit gelangt. Die Geschichte kennt aber kein in der Entwickelung seines Geistes noch so zurückgebliebenes Volk des Altertums, bei welchem die ideale Welt nicht einen schwachen Dämmer in der Nacht der Anschauung hineingeworfen hätte; jener im Innersten der Seele fortwährend still wirkende Trieb aus dem Bereich des Sichtbaren in den Kreis des Unsichtbaren zu treten und hinter den bedingten, oft zufälligen Erscheinungen der Welt, eine unbedingte sich ewig gleich bleibende Ursache zu schauen hat den Menschen aus der Wiege seines Geschlechts gehoben und ihn begleitet durch alle Phasen seiner geistigen Entwicklung. Die Philosophie ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir fassen hier freilich den Begriff der Philosophie, um in der Weise, wie der Menschengeist unablässig in dem Streben begriffen ist, aus der diesseitigen Begrenzung der augenfälligen Dinge hinauszukommen, um sich in einer transzendenten Welt Befriedigung für dies treibende Verlangen und Sehnen zu verschaffen; allein es liegt in dem Gesetz der Kausalität, das die Natur durchläuft und das der ausgebildete und vollendete philosophische Gedanke zu den Kategorien der denkenden Vernunft erhob, es liegt in diesem Gesetz der Kausalität, sagen wir, der ursprüngliche, wenn auch dem Geiste fast noch unbewusst und von ihm noch nicht deutlich geschaute Ansatz zur Darstellung eines philosophischen Systems. Wir haben es ja übrigens hier bloß mit der religiösen Idee, soweit sie in das philosophische Gebiet fällt, zu tun; und diese religiös-philosophische Idee hat ihre Trageweite bis zurück in den Urzustand unseres Geschlechts. Aber weil diese Idee ihren eigenen Sitz im menschlichen Bewusstsein hatte, so musste sie eine beschränkte bleiben. Dem Unsichtbaren wurden die Formen des Sichtbaren angebracht und mit dem Maßstab des Endlichen sollte das Unbegrenzbare bemessen werden. Entweder ging Gott in die Natur auf, beide wurden hier identisch gehalten, oder der an die ihn affizierenden Außendinge gefesselte Sinn suchte sich Gott in einer ausgeprägten, gegenständlichen Form zu veranschaulichen. Dies ist der Charakter des Heidentums. Das Heidentum verwirklichte die religiöse Idee in |340| der sichtbaren Natur, und seine trancendentale Anschauung des Idealen war bloß der abstrakte Begriff der wahrgenommenen Welt. Dem gegenüber trat das Judentum. Bei ihm lag die religiöse Idee gerade umgekehrt in dem Unsichtbaren. Das Judentum hat die Außerweltlichkeit und Persönlichkeit Gottes und diese zwar als keine Gestaltung, sondern als die wesentliche Einheit der vollkommensten und höchsten Intelligenz und der vollkommensten und höchsten Kraft zur Basis 1

[aus: Cohn, Salomon, Die Bedeutung des Judentums in der Gegenwart. In: Der Treue Zionswächter 12. Oktober 1849: 321–322; 339–341; 16. November 1849: 361–363, 409–411; [1850, 49–52], hier: 339– 341]

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Gotteserkenntnis

seiner Lehre gemacht und somit dem menschlichen Bewusstsein jede Möglichkeit abgeschnitten, sich Gott durch irgend eine Form in der angeschauten Welt vorzustellen. Die göttliche Offenbarung am Sinai und die Offenbarung Gottes in den Schicksalen Israels ist der Träger und Lehrer dieses Prinzips; es tritt da wie dort die Idee der Persönlichkeit und Außerweltlichkeit Gottes klar und deutlich hervor. Der Dekalogos stellt diese Wahrheit an seine Spitze. Durch die Überwindung und resp. Beseitigung der Naturgesetze wird der Auszug aus Ägypten, jenes in alle religiösen Taten des Juden zur Erinnerung sich einspinnende Ereignis, vollbracht; Gott ist also über und außer der Natur, diese ist von ihm abhängig, nicht aber umgekehrt; dass Er persönlich ist, ist ja eben nur die natürliche Folgerung dieses vorausgegangenen Satzes. – Aber mit einer noch sehr wichtigen Lehre trat das Judentum auf, nämlich mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Das Heidentum hat dem Menschen die Freiheit des Ichs geraubt, indem es ihn der Natur unterwürfig machte, das Heidentum hat aber die Selbständigkeit des Individuums durch die eiserne Willensbeharrlichkeit des dasselbe beherrschenden Faktums aufgehoben, das Heidentum hat dem Menschen die Möglichkeit benommen zur sittlichen Höhe emporzuringen; indem es seine Gottheiten selbst mit menschlichen Schwächen und Lastern versah, und dadurch das Ideale, wonach der Menschengeist streben sollte, mit den trüben Flecken gemeiner Sinnlichkeit beschmutzte. Durch die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat das Judentum in dem Menschen eine Gottesnatur erkannt, vermöge welcher er die höchste Vollkommenheit erreichen kann, und hat ihm zu gleicher Zeit die Mittel und Wege angewiesen, wie die tierische Natur in ihm zu besiegen sei. »Ihr sollt euch heiligen, denn ich euer Gott bin heilig«, dieses dem Judentum unter allen Religionen allein zugehörige und darum es charakterisierende Gebot ist die Leiter, auf welcher der Mensch von Stufe zu Stufe bis zur höchsten Sittlichkeit emporsteigen kann, ist der Prüfstein für den Wert des Menschen. Der Mensch ist im Ebenbilde Gottes geschaffen, er ist daher frei, 2 die Natur seines Wesens ist zur Freiheit geschaffen, und Alles, was diese Natur unfrei macht, ist seiner Gottebenbildlichkeit zuwider. Die Sünde aber macht den Menschen unfrei, und muss daher schon weil sie seiner innern Natur entgegenstrebt überwunden werden. Diese Lehre ist, wie gesagt, eine höchst wichtige des Judentums; sie ist so sehr wichtig und vielumfassend und weitgreifend, dass die Bücher M. nachdem sie einmal dieses inhaltsschwere Wort ausgesprochen, nichts Ausdrückliches über die Unsterblichkeit der Seele zu sagen nötig hatten, 3 denn der Mensch im Ebenbilde Gottes kann zu sein unmöglich aufhören. Auf ihr beruhen alle Gesetze der Moral, in ihr ist die Bestimmung des Menschen gegeben, sie ist die ewig potenzierende Kraft des Guten und Wahren, durch welche es dem Menschen 2

3

Bemerkenswert ist die Stelle BerR 2,8: ‫ורדו אמר רבי יעקב דכפר חנין את שהוא בצלמינו כדמותינו ורדו את שאינו‬ ‫ בצלמינו כדמותינו ירד‬Rab. Jakob aus Kephar Chanin sagte: Wer in unserm Ebenbilde, in unserer Gestalt ist, der herrscht (d. h. ist wirklich frei). Wer aber nicht in unserem Ebenbild, in unserer Gestalt ist, der sinkt (d. h. ist unfrei). Indirekte Angaben von der Unsterblichkeit der Seele in der ‫ תורה‬sind außer der vom Talmud angegebenen Stellen (v. bSan 90b.) noch in den Worten Gen 9,5 enthalten, wo vom Selbstmord die Rede ist. Die Bestrafung desselben ist nur dann möglich, wenn mit dem Tode des Leibes das Leben der Seele nicht mit vernichtet wird.

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Salomon Cohn (1849)

immer möglich wird, die schon verlassene Bahn der Tugend wieder einzuschlagen und sich in das Kindschaftsverhältnis zu Gott wieder zu bringen. Mit diesen beiden Lehren hat sich das Judentum die Welt erobert. Zwar nur kümmerlich ist die herrliche Pflanze auf unheimischen Boden aufgegangen; zwar noch getrübt und durch seltsame Beimischungen verdunkelt sind diese reine Lehren von fremden Händen in die Welt getragen worden; allein eben darum ist die Bedeutung des Judentums in der Gegenwart noch so groß wie |341| vordem im Heidentum. Das Judentum muss die ihm allein geoffenbarten großen Wahrheiten in ihrer ganzen Durchsichtigkeit und Klarheit zum allgemeinen Besitztum der Menschheit machen, und jede Abmäkelung an ihrem genauen Inhalt mit aller Kraft abwehren; das Judentum hat noch immer die Aufgabe durch seine Gegensätzlichkeit zur übrigen Welt, das was ihm den Gegensatz gibt, trotz aller stürmischen Einrede zu behaupten und zur Geltung zu bringen. Dem Judentum gehört die Zukunft, der messianische Ruf, der die zerklüftete Menschheit einst sammelt und einigt am Berge des Herrn überschallt den tosenden Wellenschlag der Zeit; und da die Zukunft stets aus der Gegenwart sich gebiert, so muss das Judentum in dieser seine Bedeutung haben. In der Gegenwart aber stehen zwei Richtungen sich feindlich gegenüber. Die eine will die Wahrheiten der geoffenbarten Religion nicht dem Judentum verdanken, indem sie das Judentum bloß zum Vorläufer und demnach nicht zum eigentlichen Träger der Gottesidee in der Menschheit machet, die Gottesidee in ihrer Wahrhaftigkeit und Würdigkeit aber sich selbst als ureignen Besitz anrechnet. Hier hat nun das Judentum ununterbrochen darzutun, wie es allein der Verkünder und Lehrer der Wahrheit stets gewesen und noch gegenwärtig ist, wie eben die Gottesidee nur dann richtig erfasst wird, wenn sie jüdisch erfasst wird, nämlich Gott als die absolute und wesentliche Einheit in seiner Persönlichkeit und Außerweltlichkeit darzustellen. Die andere Richtung sucht jeden positiven Gedanken aufzuheben und durch Fehlschlüsse eines verirrten Geistes Gott aus dem Zusammenhange mit der Menschheit zu reißen und die Welt als Grundlage und Ursache ihrer selbst anzunehmen. Dem Judentum liegt es nun ob dieses Heidentum zu bekämpfen, und durch die Geltendmachung seiner Prinzipien das Richtige seiner Behauptung nachzuweisen. Der weltgeschichtliche Beruf des Judentums muss sich nach beiden Seiten hin erfüllen, und wie es die Aufgabe hat einen Gott zu lehren, so hat es nicht minder die Aufgabe diesen Gott nur nach dem Offenbarungsglauben der h. Schrift zu verkünden.

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3. Die Eigenschaften Gottes: Hermann Cohen (1900) 1

|75| Ein Gegenstand wird durch seine Eigenschaften erkannt; das Wesen, die Substanz durch ihre Attribute. So musste auch die Erkenntnis Gottes bedingt erscheinen durch die Erkenntnis seiner Eigenschaften oder seiner Attribute. Die Lehre von den Attributen Gottes bildet daher ein hervorragendes Problem in der Religionsphilosophie des Mittelalters. Der Unterschied zwischen dem Glauben und der Erkenntnis wurde an der Bedingung der Attribute fühlbar. Von der Liebe zur Philosophie ergriffen, hoffte man den Glauben vertiefen und fester begründen zu können. Aber die Erkenntnis der Dinge ist an die ihrer Eigenschaften, die Erkenntnis der Substanz an die ihrer Attribute gebunden. Von diesen aber ist unsere Kenntnis beschränkt; wie die Mittel unserer Erkenntnis beschränkt sind. Gottes Wesen aber soll unbeschränkt und unendlich sein. Die Forderung der unendlichen Attribute widerspricht dem Begriffe menschlicher Erkenntnis. Also scheint die Erkenntnis Gottes, sofern sie in der seiner Attribute gegründet ist, dem Begriffe menschlicher Erkenntnis zu widersprechen. Aber diese Schranke, welche sonach für die Erkenntnis gezogen wird, räumt nur eine scheinbare Erweiterung dem |76| Glauben ein. Selbst solche Denker, welche den Glaubensinhalt der Offenbarung möglichst unabhängig zu halten suchten von der philosophierenden Vernunft, wurden doch schon durch das Schriftwort in dieser Souveränität beirrt, welches ihnen vorschreibt: »Du sollst erkennen, dass der Ewige Gott ist«. Und so kann auch die Schrift, die »nach der Sprache der Menschen« redet, nicht vermeiden, Gott Eigenschaften zuzuschreiben und sein Wesen durch Attribute zu bestimmen. Also die Schrift selbst führt die Kollision zwischen Glauben und Wissen herbei. Und wenn die Erkenntnis von dem Wesen, weil von den Attributen Gottes, unzulänglich bleibt, so wird zugleich damit der Glaube in seiner Wahrheit getroffen, der nicht minder für die Pflicht der Erkenntnis Gottes unter dem Notstand der Attribute leidet. Schon im Talmud lässt sich diese Verlegenheit erkennen bei der Feststellung der Gebete. »In Gegenwart Rabbi Chanina’s betete einst Jemand die Worte: O Gott, Großer, Mächtiger, Furchtbarer, Erhabener« u. s. w. Da sprach R. Chanina zu ihm: »Hast Du nun erschöpft den Preis Deines Herrn?« Und er beschränkt das Recht, die Eigenschaften Gottes im Gebete anzurufen, auf die ausdrückliche Anführung derselben in der Schrift (BerR 33d). Die Frage dieser Beschränkung ist zwar später noch eine strittige, aber der Konflikt wird nicht überwunden. Wir besitzen ein schönes Werk, von dem der begeisterten Pflege unseres religiösen Schrifttums leider so früh entrissenen David Kaufmann über die »Geschichte der Attributenlehre von Saadja bis Maimuni« (1877) 2. Dieser Widerstreit von 1 2

[aus: Cohen, Hermann, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1900, 75–81, 109–118] [Kaufmann, 1877]

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Hermann Cohen (1900)

Glauben und Wissen ist der treibende Gedanke der gesamten Religionsphilosophie unseres Mittelalters. Und schon Saadja (933) hat nicht verfehlt, die christliche Glaubenslehre der Trinität einer scharfen Kritik von diesem Problem aus zu unterziehen. Entscheidend, und man darf wohl sagen entschieden, wird die Streitfrage bei Maimonides. Sein More Nebuchim (Führer der Verirrten) lässt nur negative Attribute von Gott zu. Bezeichnend für seinen Standpunkt ist seine Beziehung auf den Psalmvers (Ps 65,2) »Dir ist Schweigen Ruhm«. Er unterscheidet die »Attribute des Wesens« und die »Attribute der Wirkungen«, und erkennt nur die letzteren als zulässig |77| an. Die Wirkungen setzt er gleich mit den Wegen Gottes; und nur die Wege Gottes, nicht sein Wesen, zu erkennen lässt er als Pflicht der Gotteserkenntnis gelten. Die Wege Gottes sind seine Wirkungen. Diese erstrecken sich freilich auch auf die Natur. Aber nach einem tiefsinnigen Worte: »vor der Erschaffung der Welt war Gott und sein Name allein«, (Pirke Rabbi Elieser, K. 3) lässt er nur den Einen Gottesnamen gelten, der nicht erst auf die Schöpfung sich gründet und durch die Schöpfung bezeugt ist. Freilich gehört zur Natur auch die Menschenwelt. Aber da es ohnehin der Tendenz des Maimonides entspricht, so darf man vielleicht in dieser seiner Einschränkung der Gotteserkenntnis auf die Erkenntnis seiner Wege eine ähnliche Tendenz erkennen, wie sie unter soviel anderen Voraussetzungen und Bedingungen Kant verfolgt hat in seiner Kritik der Gottesbeweise. Wie nämlich das Mittelalter die Attributenlehre als hauptsächliches Problem behandelt, so ist die neuere Zeit von dem Interesse an den Beweisen für das Dasein Gottes ergriffen. Man darf vielleicht sagen, dass Kant dieses Interesse an den Beweisen erledigt hat, indem er die Gottesidee aus der allgemeinen Metaphysik herausnahm und zu einem ausschließlichen Problem der Ethik machte. Diese Tendenz der Ethisierung der Gottesidee lässt sich auch bei Maimonides erkennen. Wie Kant gegen die Beweise, so eifert Maimonides gegen die Attribute. Und wie Kant nur einen ethiko-theologischen Beweis gelten lässt, so Maimonides nur die Attribute der Wirkungen. Die Wege Gottes bezeichnen sein Verfahren mit den Menschen. Sie sind also die Normen der Sittlichkeit. Zur Bevorzugung der ethischen Attribute mochte nicht wenig auch der Umstand beitragen, dass die allgemeinen, sogenannten metaphysischen Attribute den Keim des Widerspruchs in sich trugen. Die Allwissenheit forderte von Anfang an den Widerspruch der Freiheit des Willens heraus. Im ganzen Mittelalter wurde die Freiheit durch den theologischen Konflikt mit der Allwissenheit in ähnlicher Weise als der Grundbegriff der Ethik zum Problem gemacht, wie in neuerer Zeit durch den Konflikt mit dem Naturgesetz der Kausalität. Die Allmacht wurde schon dadurch zu einem Nest von |78| Schwierigkeiten, dass sie der logischen Unmöglichkeit zu widersprechen schien. Und so sah man sich gezwungen, die Logik, wenngleich nicht über Gott, so doch über seine Eigenschaft der Allmacht zum Herrn zu setzen. Auch verwickelte die Allmacht in die verhängnisvollen Fragen des Pantheismus. Und in einem Vers des Schir ha-Jichud wird der Allvermögende (‫ )כל יכול‬als der Allbefassende besungen (‫)כוללם יחד‬. So wird das All, anstatt lediglich das Objekt des Willens und der Macht Gottes zu bleiben, mit dem Inhalt seines Wesens gleich gedacht: er macht das All, d. h. er bildet selbst das All; es macht sein Wesen aus, ohnehin steckt der Pantheismus dem strengen Begriffe der Einheit im Blute. Und nun gar das Attribut der Einheit selbst. Ist doch die Einheit eine Zahl, also ein 44

Die Eigenschaften Gottes

Attribut der Dinge, also ein Korrelat der Mehrheit. So musste also die Einheit von der Eins, von der Zahl geschieden werden, damit in der Einheit der Unterschied von den Dingen, von der Materie zur Bestimmung gelangen, und in diesem Unterschiede von der Materie das Wesen Gottes als Geist zur Entdeckung gebracht werden konnte. Aber der Geist mahnt wieder an die menschliche Erkenntnis, an ihre Quelle und ihre Bürgschaft. Und vom Geiste führt zwar kein kleiner Schritt, aber ein unaufhaltsamer Übergang zur Idee. Hat doch Maimonides das Leben selbst nicht als ein notwendiges Attribut Gottes anerkannt. So ist es nur zu sehr verständlich, dass man bei den Eigenschaften Gottes vor den metaphysischen Attributen Halt machte, und bei den ethischen stehen blieb. Diese ethisierende Tendenz in der Attributenlehre des Maimonides wird vollständig klar und einleuchtend, bei seiner Behandlung der sogenannten »dreizehn Eigenschaften« (Middoth). Sie sind in den Worten der Offenbarung bei den zweiten Gesetzestafeln enthalten: »Herr, Herr! Gott, barmherzig und gnädig, langmütig und groß an Liebe und Treue. Er bewahrt die Liebe bis ins tausendste Geschlecht. Er vergibt das Vergehen, die Missetat und die Sünde. Und lässt nicht ungestraft«. Es ist überhaupt eine interessante Frage, wie diese Formulierung im Talmud entstehen konnte. Die Eigenschaften werden als dreizehn bezeichnet. Aber, bei |79| Lichte besehen, sind sie vielmehr nur eine oder höchstens zwei. Gibt es keine anderen und keine wichtigeren, oder mindestens ebenso wichtigen? Wo bleibt die Einheit, die doch den Grund des Glaubens bildet? Und die Allmacht? Und die Allwissenheit? Von diesen allen kann man bei jenen dreizehn nur in dem doppelt wiederholten Gottesnamen eine latente Spur finden. Alle diese wichtigen Eigenschaften haben sich in den Einen Begriff der Liebe unter dreizehn Namen zusammengezogen. Die Weisheit Gottes ist der Liebe gewichen. Die theoretische Erkenntnis ist gegen die Ethik zurückgetreten. Bei der Einsetzung dieser dreizehn Eigenschaften für das Gebet, wie sie im Talmud (Rosch Haschana 17b) vorliegt, ist auch schon der ethische Grund unverkennbar: »Und der Ewige ging vorüber vor ihm und rief« (Ex 34,6). »R. Jochanan sagte: stände es nicht geschrieben, es wäre nicht auszusprechen. Der Heilige, gelobt sei er, verhüllt sich, wie der Bote der Gemeinde, und zeigt dem Mose die Ordnung des Gebetes. Solange Israel sündigt, sollen sie vor mir nach dieser Ordnung tun, und ich will ihnen vergeben. Ewiger, Ewiger: ich bin es, bevor der Mensch sündigt, und ich bin es, nachdem der Mensch gesündigt und er Buße tut«. So scheint es, als ob die Sünde von der göttlichen Liebe auf sich genommen wird; nicht nur nachher infolge der Buße, sondern vorher selbst: die Liebe will für die Sünde mit verantwortlich sein. Der Talmud fährt fort: »Gott, barmherzig und gnädig. R. Jehuda sagt: ein Bund ist geschlossen für die dreizehn Eigenschaften, dass sie nicht wirkungslos bleiben.« Und so werden nach dieser deutlichen Weisung von den Kommentatoren die dreizehn Eigenschaften zusammengerechnet, indem die beiden Gottesnamen selbst für zwei genommen werden. Die zwei Worte, welche im Deutschen in »langmütig« zusammengezogen werden, werden auch für zwei Eigenschaften genommen, weil die Langmut sich auf die Guten und auf die Bösen beziehe. Und ebenso wird die Verdoppelung der Negation in ‫ונקה לא‬ ‫» ינקה‬er lässt nicht ungestraft« als zwei Eigenschaften aufgefasst, indem das erste Wort 45

Hermann Cohen (1900)

positiv verstanden wird: als reinigend, unschuldig machend, nämlich bezogen auf die Reuigen. |80| So klärt sich aus dem Talmud selbst das Rätsel auf, wie er ausschließlich diese Offenbarung, als die der göttlichen Eigenschaften und somit des göttlichen Wesens, für das Gebet festsetzen konnte. In der Tat ist diese Offenbarung der am Sinai vergleichbar. Sie geschah, nachdem Mose die zwei neuen Gesetzestafeln geschrieben, und mit ihnen auf den Berg Sinai gestiegen war. So erscheinen die dreizehn Eigenschaften als die Erläuterung der Zehn Gebote. Und wie die Eigenschaften in der Sittlichkeit das Wesen Gottes bestimmen, so wird auch die Sittlichkeit zum Inbegriff der Zehn Gebote. Maimonides bringt daher in einer auffälligen Deutung nur diese Tendenz des Talmud zu konsequenter Durchführung, indem er ‫ ונקה לא ינקה‬nicht übersetzt: er lässt nicht ungestraft, sondern: er verwüstet nicht vollständig; indem er sich dabei auf Jesaja (Jes 3,26) beruft. Auch diese einzige Eigenschaft der Strafe beziehe sich lediglich auf den Götzendiener; denn nur dieser werde als Hasser Gottes bezeichnet. In den Zehn Geboten aber werde bei der Ahndung der Vergehen der Väter an den Kindern die Einschränkung gemacht: »wenn sie mich hassen«. Aber selbst die Nachkommen dieser eigentlichen Hasser werden nicht gänzlich vertilgt. So reiht sich diese einzige Handlung der strafenden Gerechtigkeit an die Eigenschaften an, die nur Liebe und lauter Liebe besagen. Maimonides beachtet, wie auch schon die Anderen vor ihm, dass es sich bei diesen Eigenschaften der Liebe um Affekte handelt, die auf Gott nicht angewendet werden dürfen, da sie Unvollkommenheiten der Seele und Übel bedeuten. Und es wird ihm nicht schwer, die Liebe bei Gott nicht im Affekt entspringen zu lassen, sondern in seinen sittlichen Wegen für das Heil der Menschen. Er macht somit die Eigenschaften aus Affekten zu Tugenden; und er stellt Gott in ihnen als das Vorbild auf für den irdischen Herrscher und den Staatsmann. Er bestimmt dieses Ideal nach dem Musterbild der Stoa, indem er dem Staatsmann die Freiheit von Affekten, die Affektlosigkeit zur Pflicht macht. So genau erkennt er die ethische Bedenklichkeit in den Attributen wegen ihrer Ähnlichkeit mit den Affekten. Ein tiefsinniges Wort, welches in jenen Jahrhunderten bei mehreren Denkern sich findet, also als ein skeptisches Schlagwort umgegangen zu sein scheint, |81| lautet: »Erkannte ich ihn, so wäre ich Er.« (‫ )אם ידעתיו הייתיו‬3 Ähnlich könnte man sagen: Behielten seine Eigenschaften die Spur von Affekten, so wäre Er ich. Und doch liegt die tiefste Schwierigkeit für den Begriff der Attribute nicht in der Gefahr ihrer Bedeutung als Affekte; sondern gerade in demjenigen Begriffe, der sie von den Affekten unterscheiden soll: in dem Begriffe der Tugend. […] |109| Maimonides hat […] die göttlichen Attribute auf die der Handlungen eingeschränkt, mithin auf die ethischen. Die Schwierigkeit, die er dabei noch anerkannte und auflöste, bestand lediglich darin, dass diese ethischen Attribute als Affekte verstanden werden könnten. Und die Lösung der Schwierigkeit bestand darin, dass sie nicht Affekte, sondern Tugenden seien. dass sich im Begriff der Tugenden aber, wenngleich in anderer Hinsicht als bei den Affekten, die Frage wiederholt, das scheint er nicht gesehen zu ha3

Vgl. Kaufmann 1877, 326.

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ben. Wie alle mittelalterlichen Philosophen, interessiert auch er sich vornehmlich und strenger als alle anderen für die Abwehr des Anthropomorphen von seinem geistigen Gotte. Abgesehen aber von aller menschlichen Analogie, liegt in dem ethischen, nicht nur in dem psychologischen Begriffe der Tugend eine unauflösliche Relativität. Man darf die Tugend nicht verwechseln mit der Sittlichkeit. Die Sittlichkeit ist das Gesetz, die Aufgabe, die Verfassung. Die Tugend ist der Weg, das Gesetz zu verwirklichen, die Aufgabe zu lösen. Aber die Aufgabe bleibt stets Aufgabe. Das Gesetz bedeutet die ideale Aufgabe, die ideale Verfassung. Die Verwirklichung kann daher nur in der Annäherung erfolgen. Diese angenäherte Verwirklichung vollzieht sich auf den mehrfachen Wegen, welche die Tugenden führen und darstellen. Es folgt daraus, dass keine der Tugenden im strengen Sinne sich zu einem göttlichen Attribute eignet. Denn jede ist nur ein halber Weg. Und Gottes Wege sollen vollkommen sein. Für das Wesen Gottes können auch sie daher nur als negative Attribute gedacht werden, die nur darin ihren Wert haben, dass sie der menschlichen Sittlichkeit als Vorbilder dienen, als Wegweiser zu ihren Tugendwegen. Das erste Attribut war die Tugend der Liebe. Und wir haben gesehen, welche umfassende, unerschöpfliche Bedeutung diesem Attribute Gottes und diesem Tugendbegriffe für die menschliche Sittlichkeit beiwohnt. Aber zugleich traten andeutungsweise die Gefahren hervor, die unvermeidlich mit diesem Grundbegriffe verknüpft scheinen. Es kann die An- |110| sicht entstehen, so wollen wir es jetzt einmal schroff ausdrücken, als ob die Liebe nur ein Schmeichelname für den allmächtigen Gott wäre; das Wesen des Menschen aber nur in der Schwäche und Bedürftigkeit seines Verstandes und seines Herzens berücksichtigte, dass der Mensch dagegen, wie es im Psalm heißt, nur um Weniges der Gottheit ermangele, davor zeigt die Liebe keinen Respekt. Die Liebe ist stets mit der Gnade verbunden. Das bedeutete uns, der Mensch habe sie nicht verdient. Nun könnte man meinen, das Wesen Gottes werde in dieser Überspannung seiner freien Liebe um so vollendeter beschrieben, je deutlicher die Mangelhaftigkeit des Menschen sich dabei herausstellte. Aber das ist ein grundsätzlicher Irrtum. Gottes Wesen kann nicht in und mit der Entwürdigung des Menschen bestehen. Ohne die sittliche Selbständigkeit des Menschen kann es keine Vollkommenheit Gottes geben. So werden wir auf den Gedanken geführt, dass die Liebe Gottes ihren letzten Grund doch nur in der Hilfsbedürftigkeit und Gebrechlichkeit des Menschen habe, wie ein alter Erklärer der dreizehn Eigenschaften die Treue in der Liebe so begründet, dass ohne sie die Welt keinen Bestand gehabt hätte. Nach neuerem Sprachgebrauche würde man daher sagen dürfen, die Liebe sei nicht sowohl ein sittliches, ethisches Attribut, als vielmehr ein religiöses, d. h. vorzugsweise das Verhältnis Gottes zu den Menschen bestimmendes. Diejenige Tugend, welche das Attribut der Liebe zu ergänzen hat, ist die Gerechtigkeit. Wenn die Liebe das religiöse Attribut genannt wurde, so darf die Gerechtigkeit als das ethische Attribut bezeichnet werden. In ihr vollzieht sich die Anerkennung des Menschen, als eines sittlichen Wesens, ohne Rücksicht auf seine Staubgeborenheit. Die Gerechtigkeit ist die Idee des Rechtes. Und das Recht besteht in dem Vollzug von Rechtsverhältnissen, welche Rechtspersonen zur Voraussetzung haben. Das Attribut der Gerechtigkeit bedeutet daher die Anerkennung des freien menschlichen Individuums gegenüber dem Welten47

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lenker. Die väterliche Gewalt tritt zurück, und die Kinder werden Herren in dem eigenen Hause ihrer Weltgeschichte. Auch geschichtlich ist die Gerechtigkeit Gottes früher als |111| die Liebe hervorgetreten. Der älteste Prophet, Amos, erweckt das Bewusstsein für Gerechtigkeit. »Recht quelle hervor, wie Wasser, und Gerechtigkeit, wie ein nie versiegender Strom.« Er nennt Gott zuerst den Gott Zebaoth in diesem Sinne als Gott der Gerechtigkeit. 4 Der Gottesdienst der Gerechtigkeit, den er predigt, verwirft den Gottesdienst der Opferfeste mitsamt den Liedern und dem Harfenspiel. Waren doch die ältesten Opfer hier, wie überall, nicht sowohl Anbetungen Gottes, als vielmehr Selbstversicherungen von der ungebrochenen Eintracht der Menschen mit ihren Göttern. Diese Naivität musste erst überwunden werden. Sie ist die Vorstufe der Religion. Amos hat sie weggefegt, und dadurch als Erster die prophetische Gottesidee begründet. Und von ihm ab schwindet das Attribut nicht aus dem Begriffe Gottes. Wie innig, wie schwungvoll, wie mächtig und ergreifend die späteren Propheten die Liebe Gottes gefeiert haben; ohne die Gerechtigkeit gibt es für sie keine Liebe mehr. Und die Liebe selbst muss der Gerechtigkeit sich unterordnen, oder sie muss ihr weichen. Wir können an einem illustren Beispiel die Kollision von Liebe und Gerechtigkeit verfolgen. Wir wissen, wie die dreizehn Eigenschaften entstanden waren. In der Offenbarung bei den zweiten Tafeln heißt es nach Absolvierung der dreizehn Eigenschaften – auch dies ist sehr merkwürdig, dass die Eigenschaften vor der Ahndung ihre Endschaft erreichen – »er ahndet die Schuld der Väter an den Kindern und Kindeskindern am dritten und vierten Geschlechte.« In den Zehn Geboten aber hieß es dabei: »die mich hassen, der aber Liebe erweist bis ins tausendste Geschlecht denen, die mich lieben und meine Gebote bewahren.« (Ex 20,5–6.) Man kann die Differenz verstehen. Im zweiten der Zehn Gebote war die Ahndung an das Verbot der Abgötterei geknüpft. Liebe war dabei nicht genannt. Daher musste die Ahndung, die auf das dritte und vierte Geschlecht erstreckt wurde, eingeschränkt werden durch das Wort, welches die gesamte jüdische Tradition, und zwar mit ebenso exegetischem, wie rationellem Recht auf diese Ge- |112| schlechter bezieht, »wenn auch sie mich hassen.« Der Nachsatz macht ohnehin diesen Sinn zwingend, insofern er die Liebe auf das tausendste Geschlecht ausdehnt, unter der unweigerlichen Voraussetzung, dass sie nicht Menschengeschlechter von Bösewichtern sind. Ausdrücklicher aber wird hier die Liebe nicht erwähnt. Die andere Offenbarung dagegen mit den zweiten Tafeln verkündet nur die Liebe. Alle die dreizehn Eigenschaften sind, wie wir wissen, nur Entfaltungen des Begriffs der Liebe. Daher konnte dort die Einschränkung auf die Hasser fehlen. Der Verfolg der prophetischen Geschichte aber hat diese Grundfrage nicht im Dunkel gelassen. Und wie nur jemals der Fortschritt einer sittlichen Erkenntnis im schroffen Ausdruck sich dargestellt hat, so ist es hier geschehen. Und der Talmud selbst hat nicht verfehlt, die Bestimmtheit dieses Fortschritts durch den Ausdruck oppositioneller Kritik zu kennzeichnen. »Vier Bestimmungen hat unser Lehrer Mose über Israel verhängt. Da kamen vier Propheten, und hoben sie auf. Er ahndet die Schuld der Väter an den Kindern, da kam 4

Vgl. Cornill 1894, 47.

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Jecheskel und hob es auf: »Die Seele, welche sündigt, sie soll sterben.« (Ez 18,20.) Jede Spur des mythologischen Gedankens von der Verkettung der Geschlechter in Schuld und Verhängnis ist mit einem Schlage durch diesen Satz vernichtet. Jeremia hatte die Vorbereitung zu dieser fundamentalen Korrektur getroffen. Es gibt keine Geschlechter für die Sünde. Der Begriff der Sünde fordert den Begriff des Einzelnen, des Individuums, der Person. Die Seele, die sonst auch den Leib bedeutet, hier bedeutet sie ausschließlich die Person. Und in der Sünde ist die Person entdeckt worden. Aber diesen neuen Begriff der Sünde hat die Gerechtigkeit hervorgebracht; nicht die Liebe. Und doch ist die Gerechtigkeit ein Tugendweg. So soll auch die Erkenntnis der Sünde zur besseren Tugend führen. Derselbe Ezechiel hat in demselben 18. Kapitel, in dem er die Sünde der Person entdeckt, zugleich den Weg erstellt, zu dem die neue Einsicht führte. Die neue Kraft der Seele betätigt sich in der Buße und im Gebete. So findet sich die Gerechtigkeit wieder bei der Liebe ein, ohne an ihrer Reinheit und Strenge einzu|113| büßen. Derselbe Ezechiel ist der Reformator des Opferwesens. Und er hat darin die neue, mit der Gerechtigkeit verbundene Liebe zum gottesdienstlichen Ausdruck gebracht: die Versöhnung. Der Opferdienst ist geschwunden; er wäre vielleicht auch ohne die Zerstörung des Tempels verfallen, dass er verschwinden konnte, und dass nach dem prophetischen Worte R. Jochanans ben Sakai Jerusalem in Jamnia wieder erstehen konnte: das ist im letzten Grunde der Versöhnung Ezechiels zu verdanken, und seinen neuen Grundbegriffen von der Sünde der Person und der Tugendkraft der Buße. Er hat das Wesen Gottes durch das Attribut der Gerechtigkeit bestimmt. Und der Formendienst des Opferkultus hat diesen Grundbegriff befestigt, bis er, nachdem er sein Werk getan, in Scherben gehen konnte. Maimonides hat ebenso religionsphilosophisch, wie geschichtlich, einen tiefen Blick getan, sowohl in seiner Würdigung des Opferwesens und des Zeremonialgesetzes überhaupt im göttlichen Erziehungsplan, wie in der Ersetzung des Opfers, die er vorzunehmen wagt. Er diskutiert das auffällige Wort des Jeremia: »Denn nicht redete ich mit euren Vätern, und gebot ihnen nicht zur Zeit, da ich sie ausführete aus dem Lande Ägypten in Betreff von Brandopfern und Schlachtopfern.« (Jer 7,22.) Er kann sich nicht genug tun, das Anstößige dieser Stelle hervorzuheben. Mit exegetischer Genauigkeit betont er das bezeichnete Datum: »da ich sie aus Ägypten führte.« Die ersten Verordnungen nach dem Auszuge aus Ägypten seien in Mara erteilt worden. »Dort setzte er ihnen Gesetz und Recht.« (Ex 15,25) Die Tradition hat dieses Gesetz auf den Sabbat, und das Recht auf die Rechtsverfassung bezogen. So ersetzt Maimonides im Sinne des Propheten das Opfer durch den Sabbat und die Rechtsverfassung. Gott ist nicht sowohl der Urheber der Opfergesetze, als vielmehr der Gesetzgeber des Sabbat und der Rechte. In Sabbat und Recht offenbart sich der Gott der Gerechtigkeit. Die Verbindung des Sabbat mit dem Rechte lässt deutlich den Zusammenhang des irdischen Rechts mit der göttlichen Gerechtigkeit erkennen. Keines der Zehn Gebote hat eine gewaltigere Veränderung erfahren bei der Wiederholung |114| als das Sabbatgebot. Am Sinai wird der Sabbat geheiligt, weil Gott nach dem Tagewerk der Schöpfung an ihm geruht habe. Im Deuteronomium dahingegen: »auf dass dein Knecht und deine Magd ruhe, gleich wie du selbst. Darum hat dir der Herr, dein Gott geboten, den Sabbattag 49

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einzurichten.« (Dtn 5,15) Also hat Gott geruht, damit der Sklave ruhe. Diese Ruhe ist somit das erste Werk der Gerechtigkeit. Sabbat und Recht gehören zusammen. Der Sabbat ist das Fundament und der Inbegriff des Rechts. Man weiß, wie der Sabbat das Prinzip der wirtschaftlichen Rechtsverfassung des jüdischen Ackerbau-Staates geworden ist; und wie er dies für die moderne Welt geblieben, ja wieder geworden ist. Aus dem siebenten Ruhetage wurde das siebente Erlassjahr für die Schuldverhältnisse und für das Ackerland. Und nach sieben mal sieben Jahren endlich wurde der Jubelsabbat über das Land geblasen, und alles Eigentum wurde für eitel erklärt, und zum bloßen jeweiligen Besitz herabgesetzt. So hat das Recht des Sabbat das gesamte bürgerliche Recht geregelt. Albo hat einmal die feine Bemerkung gemacht, wie sich die Stimmung der Propheten, der Politiker, unterscheide von der der lyrischen Psalmen, insbesondere der des Asaph. Die alte Frage, warum es dem Bösen gut, und dem Frommen übel gehe, regt den Psalmendichter nicht erschütternd auf. »Wer ist mir im Himmel? und mit dir verlange ich nichts auf Erden … Die Nähe Gottes ist mein Gut.« (Ps 73,25,28.) Wie anders dagegen die Propheten. Sie denken nicht an sich; nicht an die Innigkeit und Kraft und Tiefe ihres Gottesfriedens. Sie denken an die Welt, und wie es in ihr hergeht. Als die Helden der politischen Gesinnung eifern sie gegen die Gewaltigen dieser Erde; gegen die Könige und die Fürsten und die Priester und die Reichen. Sie kämpfen für die Leidenden, und sie werden für sie zu den Märtyrern des Rechts. Und als die Helden des Rechts werden sie die Verkündiger des Gottes der Gerechtigkeit. Der zweite Prophet schon, Hosea, setzt das Recht zur Liebe hinzu. (Hos 6,7) (‫ )חסד ומשפט‬Und es genügt nicht mehr, dass Gott barmherzig und gnädig ist: »und gerecht« heißt er jetzt. |115| In das Gebet zum Ausgang des Sabbat ist eine Talmud-Stelle (bMeg 31a) aufgenommen worden. »R. Jochanan sagte: überall, wo du die Größe Gottes findest, dort findest du auch seine Demut. In der Thora heißt es: »Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige und furchtbare Gott, der nicht die Person ansieht und nicht Bestechung nimmt.« Und es heißt weiter: »er schafft das Recht der Waise und der Witwe, und er liebt den Fremdling, ihm zu geben Speise und Gewand.« Zum anderen in den Propheten, wo es heißt: »denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig Thronende und Heilige ist sein Name. Hoch und Heilig throne ich, und bei dem Gedrückten und dem Demütigen, um zu beleben den Geist der Bescheidenen und zu beleben das Herz der Bedrückten.« Zum dritten in den Schriften, wo es heißt: »singet Gott, lobsinget seinem Namen, macht Bahn dem, der durch die Wüste einherfährt. Ewiger ist sein Name. Frohlockt vor ihm.« Und es heißt weiter: »Vater der Waisen und Richter der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung.« Das ist die Liebe, welche der Gott der Propheten verwaltet: die Gerechtigkeit für die Armen. Der Fremdling, der Sklave, die Witwe und die Waise sind seine Trabanten; oder in der Sprache der Kunstwissenschaft ausgedrückt: seine Attribute. So erklärt sich der Zusammenhang der Begriffe des Fremdlings und des Nächsten aus demjenigen Begriffe der Liebe, welcher die Gerechtigkeit in sich aufgenommen. Man kann diese Verwandlung und Verschwisterung von Liebe und Gerechtigkeit an dem Wandel der Bedeutung des Wortes selbst erkennen. Zedaka bedeutet ursprünglich die 50

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Gerechtigkeit; aber es wird gleichbedeutend mit der Frömmigkeit überhaupt. Und die Vermittlung bildet die Zwischenbedeutung der Wohltätigkeit. Die Gerechtigkeit für die Armen, das ist der Prüfstein der Frömmigkeit. Das gilt nicht nur für die private Moral: es ist das Wahrzeichen weltgeschichtlicher Politik. Maimonides macht drei Tugenden namhaft als die nachzuahmenden Wege Gottes: Liebe und Recht und Zedaka. Und Zedaka bestimmt er als die Tugend der Selbstvervollkommnung. Also die auf Gerechtigkeit beruhende, von der Gerechtig- |116| keit geleitete eigene Arbeit des Menschen an seiner Selbsterziehung und Besserung, diese Gerechtigkeitstugend ist der Inbegriff der Tugend. Und dieser Inbegriff der Tugend ist der Inbegriff der Frömmigkeit. Denn Gott ist nicht der Gott beschaulicher Versöhnung, sondern der Gott der Armen. Damit aber wird er zum Kriegsgott der messianischen Weltgeschichte. Auf diesen Gegensatz der Weltanschauungen geht im letzten Grunde die Verschiedenheit der religiösen Ansichten zurück. Es gab bekanntlich immer, und es gibt Fromme, denen Gott vorzugsweise der Bürge des Jenseits ist, in dem alle leidigen sozialen Unterschiede Gottwohlgefällig ausgeglichen werden. Solchen Frommen ist ihr Gott der unschädliche Verleiher einer überirdischen Glückseligkeit. Und das Jenseits hat eigentlich nur diese negative Bedeutung: die Mängel des Diesseits nachträglich auszufüllen. Die Propheten interessieren sich nicht für diese Art von Jenseits. Sie entdecken dafür das Jenseits der Weltgeschichte, welches nach ihrer Lehre zum Diesseits der irdischen Welt zu werden bestimmt ist. Ihr Jenseits soll zum sittlichen Leitbegriff des Diesseits werden. Durch das ganze rabbinische Schrifttum zieht sich der Unterschied der »künftigen Zeit« (‫ )עתיד לבוא‬und der »künftigen Welt.« (‫ )עולם הבא‬Die künftige Zeit, das ist das messianische Gottesreich auf Erden, in dem die Kriege nicht mehr die Idee der Menschheit verletzen; in dem die Schwerter zu Winzermessern umgeschmiedet werden. In diesem Gottesfrieden werden sich Gerechtigkeit und Liebe küssen. Aber um diesen Frieden muss der messianische Gottesglaube und die messianische Frömmigkeit mit den Abarten der Frömmigkeit unaufhörlich im Kampfe bleiben: die Gott nicht als den »Freund der Armen« anbeten, und nicht die Sünde gegen den Armen als die Todsünde erkennen; und die Erlösung und die Versöhnung nicht vorzugsweise als die Befreiung von diesem Hauptübel der Menschengeschichte erhoffen, über welches die Propheten zum Himmel schrieen. In dem Eifer ihrer Entrüstung gebrauchen die Propheten für die Vollstreckung der Gerechtigkeit den Ausdruck der Rache. Rache ist ihnen gleichbedeutend mit Strafe. Rache ist das ursprüngliche Wort für Strafe. Nur nach Ein- |117| setzung einer Gerichtsverfassung tritt der Unterschied von Strafe und Rache ein. Rache ist Privatstrafe. Und bevor es eine öffentliche Strafe gab, war daher die Rache die Handlung der Gerechtigkeit. Für die Propheten ist Gott der Bürge der Gerechtigkeit. Durch ihn und in ihm ist das Recht gesichert. Sie brauchen daher nicht Anstand zu nehmen, im poetischen Vollgefühl der Volkssprache, seine Strafe Rache zu nennen. Und je ernster und eifriger sie für das Recht kämpfen gegen dessen Vergewaltiger, desto erschütternder malt ihr Mahnruf die Strafe als die Rache des erzürnten Gottes aus. Der »Tag der Rache« und die »Zeit der Rache« das sind die Zeiten der Läuterung, die dem Zeitalter des messianischen Gottesreiches voraufgehen müssen. 51

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Bezeichnend ist, dass der angebliche Gott der Rache eigentlich nur einmal vorkommt, und zwar in den Kriegs-Rachelieder enthaltenden, vornehmlich aber doch gottseligen Psalmen. Indessen hat der Psalm, in welchem Gott so ungefähr als Gott der Rache angerufen wird, vor anderen den herben Charakter prophetischer Ethik. Vor Allem ist zu beachten, dass der Ausdruck falsch zitiert wird. Die Rache steht nicht im Singular hier bei Gott, sondern im Plural. Man sieht, die Rache wird nicht abstrakt gedacht, sondern als eine Mehrheit von Strafhandlungen. Man müsste übersetzen dürfen: Gott der Rachen. Nun sehe man aber den Psalm an, der selbst bei De Wette überschrieben ist: »Bitte um Rache für Israel.« »Gott der Strafgerechtigkeit erscheine. Erhebe dich, Richter der Erde, bringe Vergeltung über die Stolzen. Wie lange sollen die Bösen, o Herr, wie lange die Bösen frohlocken. Witwe und Fremdling erschlagen sie, und die Waisen ermorden sie. Und sprechen, nicht siehet es Jah, nicht merket es der Gott Jakobs. Der das Ohr gepflanzet, sollte der nicht hören, der das Auge gebildet, er nicht sehen? Der die Völker züchtigt, sollte er nicht strafen; der den Menschen lehret die Erkenntnis? Der Herr erkennet die Gedanken der Menschen.« (Ps 94,1–10.) Das ist der Gott der Rache: der den Menschen die Erkenntnis lehret. Und das ist die geschichtliche Erkenntnis, die dieser Gott der Rache offenbart: »Er hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist, und was der Herr fordert von dir, nur üben das Recht und lieben |118| die Liebe. Und das ist demütig wandeln mit deinem Gotte«. (Mi 6,8.) Diese Sittenlehre des Micha wird aber auch als eine Sentenz erteilt in einem Prozesse. »Höret, Berge, den Streit des Herrn, denn Streit ist dem Herrn mit seinem Volke.« (Mi 6,2) Recht und Liebe, sie allein sind das Gute, das Gott fordert. Dieser große Gedanke in seiner klaren Einfachheit ist der ganze Inhalt prophetischer Gottesverehrung. Und diese Offenbarung wird als Rechtsspruch in der Streitsache Gottes bezeichnet. In demselben Sinne ist der Gott der Rache, wie man ihn fälschlich und irreführend im Singular benennt, der Gott der Gerechtigkeit; der wahren weltgeschichtlichen Liebe zum Menschengeschlechte, welche die Völker in die Eine Menschheit verwandelt; und welche in der Erkenntnis Gottes, deren die Erde voll sein wird, wie die Wasser das Meer bedecken, die sozialen Gegensätze in dem irdischen Besitz der Menschen zur endlichen Ausgleichung bringt. Nur der Gott der Gerechtigkeit ist der Gott der Liebe für die Menschheit. Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Liebe für das geschichtliche Menschengeschlecht. Das messianische Gottesreich ist der Friede auf Erden. Aber zu diesem Frieden führt allein das strafende Weltgericht der Weltgeschichte.

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4. Die Natur des einen Gottes: Moritz Levin (1871) 1

|20| Die Bibel beginnt mit der Kosmogonie, um von dem Dasein eines geistigen Schöpfers auszugehen. Dieser hat die Welt in bestimmten Zeitfolgen entstehen lassen, also nach einem bestimmten Plane der Zweckmäßigkeit. Alles Materielle ist der Möglichkeit, der Veränderung unterworfen und nur das Immaterielle, wiewohl sein Wirken im Materiellen wahrgenommen wird, ist nicht immanent, sondern transzendent; ist Grund aller Dinge, demgemäß frei, bestimmend und im Wechsel in seiner Einheit beharrend. Dieses Immaterielle, den jüdischen Gottesbegriff gebend, ist auch von der Zeit unabhängig; denn wäre es von der Zeit bedingt, so enthielte es Mögliches, was aber nur auf das der Möglichkeit Unterworfene bezogen werden kann. 2 Das Wesen also, das notwendig und nicht möglich da ist, das keine Ursache hat, sondern selbst Ursache ist, von |21| dem alle Dinge abhängig sind, ist Gott. Eine Definition Gottes ist aber deshalb nicht möglich, weil die Definition aus dem Gegebenen und seiner Differenz gezogen wird. Da aber Gott nicht als gegebenes Objekt gedacht werden kann, weil er das einzig Gebende ist, so gibt es auch für ihn keine Differenz. Die materiellen Wesen bilden nicht zu Gott einen Gegensatz, sondern sie sind seine Geschöpfe. Einheit, Unkörperlichkeit, Unendlichkeit sind also die Unterscheidungsmerkmale für Gott. Gäbe es mehr als einen, so enthielte jeder zwei Eigentümlichkeiten, erstlich die Notwendigkeit des Daseins und die Unterscheidung von einander; er hätte somit Bestandteile, die Ursache seines Seins wäre eine Zusammensetzung und er nicht notwendig von selbst da. Ferner besteht jeder Körper aus Materie und Form, seine Bildung hat in der Zusammensetzung die Ursache. Ist auch der Körper an und für sich Eins und könnte somit Gott körperlich und doch als Eins betrachtet werden, so ist er jedoch endlich und hat seines Gleichen. Da endlich Gott die Ursache aller Dinge ist, so kann er nicht in der Zeit entstanden sein, sonst gäbe es etwas vor ihm und er wäre nicht der Urgrund des Alls. Wäre aber auch seine Existenz zugleich mit der Zeit ewig, so wäre er immerhin durch die Zeit bedingt und nicht von selbst notwendig da. Nur zur Bestimmung der ewigen Existenz Gottes halten wir auch die Zeit für ewig. Wenn Gott nicht ewig wäre, so wäre sein Nichtsein eine Möglichkeit, und wessen Nichtsein möglich ist, der ist nicht von selbst notwendig da.1 Die jüdische Lehre von Gott soll indes sich nicht auf die metaphysische Erkenntnis erstrecken; sie hat den Men- |22| schen im Auge und sucht ihn zu Gott nur in eine praktische Beziehung zu bringen. Aber sie schließt das Nachdenken über Gott nicht aus, das überlässt sie der Erkenntnis. Nur so viel als zu einer richtigen Auffassung des Menschen selbst und seiner Bestimmung notwendig ist, deutet sie von Gott an. Aus der ganzen 1 2

[Levin, Moritz, Gott und Seele nach jüdischer Lehre. Zürich 1871, 20–24] Vgl. Friedenthal 1843, 54.

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Moritz Levin (1871)

Anlage der offenbarten Religion ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit eine außerweltliche, selbständige, rein geistige Existenz Gottes, die über die Sinnensphäre hinausgehend von vornherein die Grenze menschlichen Denkens zieht. Insofern kommt die jüdische Lehre mit der philosophischen Doktrin Kant’s überein. Auch er muss die Möglichkeit der Erkenntnis einer unsren Erfahrungskreis überschreitenden Welt negieren, und kann nur auf praktischer, der Menschennatur adäquater Grundlage eine Theologie aufbauen. Anderseits kann auch die reinste Gottesidee erst aus der Praxis des sittlichen Lebens sich gestalten. Darum bemerkt Nahlowsky 3 mit Recht: »dass zur richtigen Construction der Gottesidee nicht bloß höchste Macht und allumfassende Intelligenz, sondern zugleich Heiligkeit, d. h. die höchste Potenz sittlicher Vollendung gehört. Die volle Ausbildung der Gottesidee fordert also unausweislich die bereits erlangte Kenntnis der sittlichen Ideen. Man muss ja offenbar erst wissen, worin das an sich Gute besteht, bevor man Gott, als den absolut (an und durch sich) Guten zu kennzeichnen unternimmt.« Aber es muss noch hinzugefügt werden, dass die Gottesidee überhaupt nicht durch sittliche Begriffe gewonnen wird. Durch diese wird sie nur reiner und geistiger gefasst. Die |23| Gottesidee selbst ist der Menschennatur immanent, ist ihre erste, ursprüngliche Anlage. »Est deus in nobis agitante calescimus illo.« 4 Die jüdische Lehre nun kann und will uns auch keine absolute Erkenntnislehre von Gottes Wesen geben, sondern uns nur die Aussicht auf seine Existenzart eröffnen und diese Offenbarung »zielt zunächst nicht auf Belehrung über die Dinge der himmlischen Welt hin, sondern auf das Heil, auf die wirkliche Verbindung des Volkes Israel mit dem offenbarten geistigen, persönlichen Gott.« 5 Um nun dieses Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen aufzustellen, sind die wichtigsten Voraussetzungen notwendig: Gott ist ein rein geistiges, ewiges Wesen, das nicht aus sich, sondern durch sich die Welt erschaffen hat. So wird in der jüdischen Lehre von Gott nicht bloß sein Verhältnis zur physischen, sondern namentlich zur sittlichen Welt gezeigt und ersteres nur insofern angedeutet oder vorausgesetzt, als es zur klaren Erfassung des göttlichen Waltens in letzterer notwendig erscheint. Einheit, Unkörperlichkeit, Unendlichkeit geben uns so zu sagen die Eigenschaften Gottes an sich; diese deuten die Unterscheidung von allem Bestehenden an. In seinem Verhältnis zur Welt und zum Menschen müssen wir ihn aber noch als das allervollkommenste Wesen betrachten und als solches ihm Allweisheit, Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit, Allliebe zuschreiben. 6 |24| Diese Offenbarung, eine für die Entwickelung der Menschheit notwendige Erscheinung führte den Menschen zu direkter Verbindung mit Gott. 3 4 5 6

Nahlowsky 1871, 33. Ovid, Fasti 6,5. [Ein Gott lebt in uns, durch seine treibende Kraft erglühen wir.] Schultz 1869, I 264. Vergl. Pfleiderer 1869, I 279–292; Philippson 1862, 2, 26 ff.; Schultz 1869, I 259–330; II 83–129; 296– 299.

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Die Natur des einen Gottes

So lange wir einen sittlich guten Wandel ohne Beziehung auf Gott beobachten, können wir nur von einer Moral im praktisch-philosophischen Sinne sprechen. Diese Moral jedoch, die nicht in der Religion ihre Wurzel hat, kann leicht ausarten und von Begierde und Eigennutz erschüttert werden. Wo wir das sittlich-gute Leben auf Gott richten, da erst beginnt die Herrschaft der Religion.

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5. Die Natur des einen Gottes: Moritz Ehrentheil (1887) 1

|5| Höre Israel, der Ewige unser Gott ist der Ewige der Eine! (Dtn 6,4.) Eines hat man dem jüdischen Volke nicht streitig gemacht. Auch seine enragiertesten Gegner und Widersacher anerkennen in Israel willig und rückhaltlos den ersten Lehrer und Verkünder der Gotteseinheit, dessen Bemühen es im Verlaufe von Jahrtausenden gelungen, den erhebenden Gedanken des reinen Monotheismus zum Gemeingut der gesamten zivilisierten Menschheit zu machen! – Abraham, der erste Erzvater des jüdischen Stammes, entfaltete bereits vor mehr als vierthalb Jahrtausenden das Banner des wahren Gottesglaubens. Mit einem erstaunlichen Mute, den nur die tiefinnigste Überzeugung einflößen kann, verkündete er einer Welt brutalster Götzendienern gegenüber kühn und feierlich den Namen Eines Gottes, des Ewigen! (Gen 12,8.) Diese beglückende, die Menschheit aus tiefer Finsternis erlösende Lehre vererbte sich auf die Erzväter Isak, Jakob und deren Nachkommen, bis die göttliche Offenbarung am Sinai erfolgte, wo Israel, im Auftrage Gottes, durch Moses eine einheitliche religiös-weltliche Verfassung erhielt, wodurch es zur Begründung und Bildung eines eigenen Staatswesens, einer Theokratie, mit Gott als Oberhaupt, befähigt wurde. Und dieser jüdische Staat war weit entfernt, der Außenwelt gegenüber eine feindliche Stellung einzunehmen. Der erhabene Glaube an die absolute Einheit Gottes, der Schöpfer und Lenker der Welt und Vater aller Menschen ist, involvierte ja auch die auch heute noch nicht ganz zum Durchbruche gelangte Lehre |6| von der »Verbrüderung der gesamten Menschheit«! Ein Prophet, der bei der Restauration des jüdischen Staates nach der Heimkehr aus dem babylonischen Exile tatkräftigst mitwirkte, verlieh der Lehre von der allgemeinen Verbrüderung aller Menschen feierlichen Ausdruck durch die denkwürdigen Worte: »Führwahr! Einen Vater haben wir alle; Ein Gott hat uns geschaffen: warum sollten wir gegen einander treulos sein, um zu entweihen der Väter Bund!« (Mal 2,10.) In diesen kurzen Worten ist der heilsame Einfluss, die notwendige Wirkung der monotheistischen Wahrheit auf die Gestaltung des sozialen Lebens der Gesamtmenschheit klar und deutlich ausgesprochen. Namentlich wird hierdurch den Juden bei Gründung ihres zweiten Staatswesens die Grundlage genau umschrieben, auf dem es, eben im Sinne des jüdischen Glaubens, unbedingt beruhen müsse. Im Staats-, wie im individuellen Leben musste der Jude die Konsequenzen der von ihm verkündeten Gotteseinheit ziehen 1

[Ehrentheil, Moritz, Der Geist des Talmud. Quellengemäße Darstellung der talmudischen Anschauung über Gott, Mensch, Staat, Justizwesen, Nächstenliebe, Wohltätigkeit, Armen-Pflege, Verhalten gegen die Heiden, Thierquälerei, Arbeit, Erziehung und Unterricht, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Beschränkung der Todesstrafe, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit etc. etc. Für die intelligenten Classen aller Confessionen. Budapest 1887, 5–10]

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und sein Verhältnis zu allen übrigen Völkern als ein herzliches, brüderliches auffassen. Ihm erschien die gesamte Menschheit gleichsam bloß administrativ geteilt, die ihrem inneren Wesen nach jedoch nur einen Organismus bilde, weshalb eine gegenseitige Bekämpfung der einzelnen Teile religiös und sittlich unstatthaft sei! Im Talmud wird die Festhaltung an dem ungetrübten Monotheismus noch schärfer pointiert. Dieser erklärt sich nämlich gegen die Erwähnung der »Eigenschaften« Gottes, obgleich solche in der Bibel faktisch vorkommen. Einerseits weil diese seitens des Volkes leicht in einem Sinne aufgefasst werden könnten, der mit dem Begriffe des reinen Monotheismus unvereinbar; anderseits aber, da diese dem oberflächlichen Denker als das Wesen Gottes erscheinen, welches ja absolut unfassbar! All’ die Bemühungen, das göttliche Wesen mit Hilfe der beschränkten menschlichen Vernunft zu erforschen, perhorreszierte der Talmud aufs entschiedenste. Wie sollte denn auch der Geschaffene den Schöpfer, der Weltliche den Überweltlichen, der Begrenzte den Unbegrenzten |7| erfassen! Ein Wesen, welches die Menschenvernunft erfasst, ist eben mehr kein göttliches, kein unbegrenztes, unendliches Wesen. Die in der Bibel verkündeten Eigenschaften Gottes: als barmherzig, gnädig, langmütig, groß an Huld etc. deuten bloß die Beziehungen Gottes zur Welt an und dürfen daher weder als sein eigentliches Wesen, noch als Bestandteile desselben gedacht werden. […] Als es dem Monotheismus nach langen Kämpfen gelungen war, der groben Götzendienerei den Boden zu entziehen, da drohte ihm die Gefahr einer Trübung durch verschiedene philosophische Systeme, von denen hier vorläufig nur zwei kurz erwähnt werden sollen. Das eine, unter der Benennung Pantheismus bekannt, dachte sich Gott als innerweltlich, als Weltgeist oder Weltseele, der, mit der Natur identisch, überhaupt keinen freien Willen besitze. – Das andere System, welches unter der Benennung Deismus eben in neuerer Zeit namhafte Vertreter |8| gefunden, gibt wohl zu das Vorhandensein eines außerweltlichen Gottes, der aber, über die Natur weit erhaben, um die Welt und die Vorgänge in derselben sich gar nicht kümmere. Es wird wohl die Unfruchtbarkeit beider Systeme, die einen Gott sich konstruieren, der keinen freien Willen besitze, resp. um die Welt sich gar nicht kümmere, Jedermann auf den ersten Augenblick leicht einsehen. Wesentlich anders lautet die Lehre des Judentums über den Begriff Gottes. Der Gott des Judentums ist ein außerweltlicher, zugleich aber nicht allein der Schöpfer, sondern auch unmittelbarer Regent und Lenker des Weltalls. Er waltet und herrscht unumschränkt und frei nach seinem erhabenen, sittlichen Willen zur Vervollkommnung seiner Schöpfung im allgemeinen und des Menschengeschlechtes insbesondere. Alles in der Welt geschieht ausschließlich nach der Fürsehung Gottes. Diese Auffassung des Talmud von der göttlichen Fürsehung findet eine unverrückbare Stütze in folgenden Worten der Bibel: Wie ein Adler sein Nest bewacht, über seine Jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet, sie nimmt und auf seinen Schwingen trägt – führt uns der Ewige allein, kein fremder Gott ist mit ihm. (Dtn 32,11–12) Minder schwierig dürfte der Kampf sich gestaltet haben gegen eine Irrlehre, die namentlich in Persien zur Herrschaft gelangt war. Diese fand es unbegreiflich, dass von demselben göttlichen Wesen, welches die Quelle des Guten ist, auch das Böse herrühren 57

Moritz Ehrentheil (1887)

sollte! Der Parsismus konstruierte sich daher zwei göttliche Prinzipe, die einander stetig bekämpfen: das Prinzip des Guten, Ormuzd, und das Prinzip des Bösen, Ahriman. Dieses unsinnige System wird im Talmud einfach durch einen gelungenen Witz ad absurdum geführt. Es wird nämlich hierüber folgendes erzählt: Ein Magier sagte einst zu dem Talmud-Gelehrten Amemar: »Die obere Hälfte des Menschen ist von Ormuzd, |9| die untere Hälfte dagegen von Ahriman!« – Dann wundert es mich wirklich, sagte der Talmudist mit fein zugespitzter Ironie, dass Ahriman dem Ormuzd gestattet, einen Kanal durch sein Gebiet zu ziehen! (bSan 39) Auch betreffs dieser Zurückweisung eines dualistischen göttlichen Prinzips konnte sich der Talmud auf einen klaren Ausspruch der Bibel stützen, der da lautet: Sehet doch jetzt, dass ich, ich es bin, und keiner bei mir ist: ich töte und belebe, verwunde und heile! (Dtn 32,39) – Tod und Leben also, Verwundung und Heilung, alles rührt unmittelbar von einem und demselben Gott her, da außer ihm ein anderer nicht existiert. In der Tat lässt sich die Begriffsstutzigkeit der Perser betreffs des Gegensatzes zwischen dem Guten und dem Bösen sehr leicht beseitigen. Man braucht sich bloß zu vergegenwärtigen, dass das Gute die natürliche Folge der moralischen, das Böse dagegen die der unmoralischen Handlungen des Menschen ist. Mit Beziehung auf den Vers: Deine Zerstörer und Verderber sind aus dir selbst hervorgegangen (Jes 49,17), wird nämlich folgende herrliche Allegorie erzählt: Als das Eisen erschaffen wurde, zitterten die Bäume aus Furcht, sie könnten nun leicht gefällt werden. Doch das Eisen sagte tröstend: Ihr habt keinen Grund zur Furcht! So lange nicht ein Baum aus eurer Mitte den Stiel zur Axt liefert, kann euch nichts geschehen! Die Bäume also, die den Stiel zur Axt liefern, sind es sonach selbst, welche zur Vernichtung der eigenen Existenz beitragen. Auch die Menschen beschwören selbst das Böse gegen sich herauf durch ihre unmoralischen Handlungen. Bibel und Talmud lehren mithin in gleicher Weise einen außerweltlichen Gott, welcher Schöpfer und Lenker des Weltalls ist und unter dessen Fürsehung Gutes und Böses in die Erscheinung treten, da außer ihm kein Gott vorhanden. Diese Lehre reicht vollkommen aus, um allen Menschen, |10| als die Kinder eines und desselben Gottes, und mithin als Brüder erscheinen zu lassen. Ein weiteres Nachdenken über das Wesen Gottes ist unzulässig. Wir schließen daher dieses Kapitel mit folgender Mahnung des Talmud: »Forsche nicht nach dem, was dir verborgen ist; was dir verhüllt, untersuche nicht; über das, was dir gestattet ist, denke nach; befasse dich jedoch nicht mit dem Geheimnisvollen!« (bHag 13a, aus Ben Sira.)

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6. Die Einheit der Schöpfung: Adolf Kurrein (1879) 1

|18| Die Schöpfung, m. a. Z., wurde in ihren Kundgebungen von der ganzen nichtjüdischen Welt des Altertums missverstanden, denn die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in der Natur, die Verschiedenheit, mit welcher die Kräfte sich äußern, rief den Glauben hervor, dass der Fülle der Geschaffenen eine ebenso große Zahl von Schöpfern gegenüberstehe. Darum erregte die Verkündigung eines einzig-einigen Gottes und die strenge Einheit des Gottesgedankens, sobald |19| sie durch Juden und Judentum bekannt wurde, den heftigsten Widerspruch der ganzen nichtjüdischen Welt. Dass nur Ein Wesen Alles geschaffen habe, Alles einheitlich regiere und erhalte, konnte der heidnische Geist nicht fassen, wollte es nicht zugeben. Merkwürdiger Weise schlossen sich diesem Widerspruche der Heiden gegen die Einheit Gottes, sogar die untreu gewordenen Söhne des Judentums an, die Minim und Epikorsim, wie sie genannt wurden, und ließen es nicht an Versuchen fehlen, ihren früheren Glaubensbrüdern eine Mehrzahl der Gottheit aus der heiligen Schrift erweisen zu wollen. Einige solcher Abtrünnigen fragten einst den berühmten Bekämpfer derselben, Rabbi Simlai 2: Wie groß war die Zahl der Gottheiten, welche die Schöpfung der Welt zu Stande brachten? Ein einziger kann’s doch Wohl nicht gewesen sein, würde ja sonst eure heilige Schrift nicht von Gott »Elohim« mit dem Zeichen der Mehrheit sprechen. Beruft ihr euch auf das Gotteswort, antwortete Rabbi Simlai, so müssen wir dieses einer näheren Prüfung unterziehen. Heißt es denn, die Götter schufen, es heißt Elohim schuf, da kann von einer Mehrzahl doch keine Rede sein 3. Nennt auch die Thora den Namen Gottes Elohim in der Form der Mehrzahl, was sie von Gott erzählt, berichtet, verkündet und lehrt, das sagt sie immer von Einem aus: Einer und nicht viele schaffen, tun, vollführen und vollbringen. Wo immer die heilige Schrift Anhaltspunkte für solche irrige Auffassung des Gottesbegriffes bieten könnte, enthält sie gleichzeitig in der Rede, in der erwähnten Begebenheit und Handlung die Widerlegung jeder Meinung, dass von mehr als Einem Gotte die Sprache sein könne. 4 Elohim bezeichnet, wie Rabbenu Bechaja lehrt, den Inbegriff aller Kräfte, die Allmacht, nicht viele Götter, |20| sondern Einen Gott, der alle Macht besitzt 5. Damit begann das Judentum die Zerstörung eines vieltausendjährigen Irrtums in der Anschauung der Schöpfung. Seht ihr, so erklärt das Judentum, so viele Kräfte in der Natur wirken und 1

2 3 4 5

[Kurrein, Adolf, Einheit und Allmacht Gottes. Zweite Rede gehalten am 29. Cheschwan 5640, 15. November 1879. Sabbath ‫ תולדות‬In: Kurrein, Adolf, Pitheche Olam, Voroffenbarungen: Reden in 2 Abtheilungen: 1. Die Offenbarungen der Schöpfung, 2. Die Menschenlehre des Judentums. Wien 1882, 18–26] .(‫שאלו המינים את רבי שמלאי כמה אלהות בראו את העולם )מ״ר פ״ח‬ .(‫בראו אלהים אין כתיב כאן אלא ברא אלהים )מ״ר פ״ח‬ .(‫בכל מקום שאתה מוצא פתחון פה למינין אתה מוצא תשובה בצדה )לעיל‬ .(‫אלהים ופירושו בעל הכחות כלם והוא אחד וכחותיו רבים )בחיי ברא׳‬

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Adolf Kurrein (1879)

schaffen, beobachtet ihr so verschiedenartige Erscheinungen, so darf nicht jedem Gegenstande ein anderer Gott zu Grunde gelegt werden, jedes Wesen einem anderen Gotte sein Dasein zu danken haben. Der Begriff Gottes lässt nichts anderes denken, als: In Gott sind Alle Kräfte enthalten, Gott ist die Summe aller Macht, ist die Allmacht; so vieles, so verschiedenes geschieht, in der Einen Macht hat Alles seinen Grund und seine Ursache 6. Nur Ein Gott, nicht eine Mehrheit hat die Welt geschaffen 7, das spricht aus der ganzen Schöpfung, aus der Natur und ihren Gesetzen zu jedem, der hören und begreifen will. Was immer als Gegenstand der Untersuchung genommen wird, von dem Größten bis zum Kleinsten, von den Himmelskörpern bis zum Sonnenstäubchen stellt Alles ein geschlossenes, in sich zusammenstimmendes widerspruchsloses Ganzes dar, nirgends ist ein Gegensatz der Ideen, ein Widerspruch des Grundgedankens und der Darstellung, ein Gegensatz des Planes und der Ausführung bemerkbar, wodurch auf eine Mehrheit der Schöpfer geschlossen werden konnte. Nichts in der Natur erinnert oder deutet auch im entferntesten zwei, drei oder noch mehr Gottheiten an, vielmehr beweist die Einheit, Geschlossenheit und Widerspruchslosigkeit eines jeden Dinges, bekunden die strengen einheitlichen Gesetze am Himmel droben und auf der Erde unten, bezeuget die höhere Einheit und das höhere Gesetz, das alle Verschiedenheiten unter einen Gesichtspunkt zusammenfasst, dass es nur Einen Gott, Einen Schöpfer gibt und geben kann, der Alles nach einem einheitlichen Plan und in einheitlichem Geiste hervorgebracht und gebildet hat. |21| Nur durch diese Anschauungslehre der Natur, m. a. Z., nicht durch philosophische Beweise, nicht durch unverständliche Lehrsätze, durch haarspaltende Schlussketten oder dunkle Glaubenslehren suchten die Propheten des Judentums die Einheit Gottes für alle Völker und Menschen zu erweisen. »Ich, der Ewige«, so lässt Jesaia Gott sprechen, »ich vollführe Alles, ich spannte die Himmel allein aus, dehnte die Erde aus meiner Macht 8.« Die Bewegung und die Erscheinungen im Himmel droben, das Leben und die Gestaltungen auf der Erde unten, die überall sich darbietende unleugbare Übereinstimmung im Einzelnen und im großen Ganzen erhärten und bekräftigen jedem die Wahrheit, dass Gott Alles allein hervorgebracht, keinen Gehilfen, keinen Genossen und keinen Verbündeten bei seinem Wirken und Schaffen besaß 9. Kein lebendes Wesen, keinen seiner Engel und der himmlischen Geisterscharen, sagen unsere Weisen, schuf Gott am ersten Tage, dass auch der Schein Niemand zu dem Irrglauben verleite: Gott hätte der Hilfe und der Unterstützung irgendeiner Macht noch bedurft 10. Wären denn zwei Wesen oder gar mehrere denkbar, welche in vollkommener Übereinstimmung ein und dasselbe dächten, wollten, beschließen und ausführten, als wäre es aus einem Geiste und einer Hand hervorgegangen? Wäre nicht dann erst die Mehrheit überflüssig und die Einheit das Wahre und das Notwendige? Würde die Mehrheit nicht, wie uns von Jacob und Esau in unserem heutigen Wochenabschnitte berichtet wird, in stetem Widerspruche, im Kampf und Ge6 7 8 9 10

.‫אלהים פירושו בעל כחות כלם‬ .‫בראו אלהים אין כתיב כאן אלא ברא אלהים‬ .‫אנכי ה׳ עשה כל נטה שמים לבדי רקע הארץ מיאתי‬ .(‫מי אתי מי היה שותף עמי בברייתו של עולם )מ׳ר פ״ג‬ .(‫הכל מודים שלא נברא ביום ראשון כלום שלא יאמרו מיכאל היה מותח בדרומו של רקיע וגבריאל בצפונו )לעיל‬

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Die Einheit der Schöpfung

gensatze sich befinden, würden nicht die Befehle und Anordnungen die Stimme Jacobs, die Tat und Ausführung die Hand Esau’s darstellen 11? müssten nicht die einzelnen Gottheiten, sollten sie nicht überflüssig erscheinen und sich selbst aufheben, um den Besitz der ausschließlichen Herrschaft rin- |22| gen, bis endlich der Sieger als Alleinherrscher sich der ganz gleichen Genossen entledigt und in seiner Allmacht regiert 12? Ein solches Ringen und Kämpfen der Urheber offenbart sich aus keinem Gegenstande; denn die scheinbaren Gegensätze von Tag und Nacht, von Wärme und Kälte, von Leben und Tod beweisen keineswegs das Vorhandensein solcher feindlichen Mächte und deren gegenseitiges Befehden, da die strenge Scheidung und Abgrenzung dieser Gegensätze eine Gebietsverletzung, ein Übergreifen des einen in den Bereich des andern unmöglich macht 13 und gerade eine gründliche Kenntnis der Schöpfung keine Widersprüche und keine Gegensätze findet, nur deren Versöhnung und Auflösung in eine höhere Einheit sieht 14. Tag und Nacht, Wärme und Kälte, Leben und Tod, worauf sich zumeist die Gegensätze der Schöpfung zurückführen lassen, zeigen ein allmähliches Übergehen ineinander, ein Fortschreiten zueinander, eine Unterordnung unter ein allgemeines Gesetz, das von Einem Herrn ihnen gegeben ist. Lassen schon die entgegengesetzten Erscheinungen in der Natur nicht den Schluss auf mehr als Einen Gott zu, so legt es ein jedes selbständiges Geschöpf offen dar 15. Das Zusammenwirken aller Teile der Lebenden vom Tiere bis zum Menschen, die Einheit in uns selbst, die Einheit unseres Körpers und unserer Seele, unseres Denkens und Handelns, des Willens und der Tat, die Einheit, die jeder in sich selber fühlt, beweist am besten die Wahrheit des jüdischen Bekenntnisses: »Gott, unser Herr, Gott ist einigeinzig«. 16 |23| Die jüdische Schöpfungsgeschichte erklärt und liest dem Menschen aus der Schöpfung nicht bloß die Einheit Gottes heraus, sie begegnet auch, m. a. Z., zwei andern Irrtümern der alten Welt. Der eine stellt die Welt unerschaffen, seit Ewigkeiten bestehend hin, der andere denkt die Welt wohl als eine gewordene, aber den Stoff, aus dem sie gebildet, seit Ewigkeiten vorhanden. Der Ewigkeit der Welt widerspricht die Schöpfung selbst. Sie gibt das Bild des Werdens, nicht des seit Ewigkeiten Gewordenen. Nichts in der ganzen Natur, in ihrem Leben bleibt unverändert, Alles ist in steter Veränderung, in stetem Wechsel begriffen, überall zeigt sich ein Übergeben aus dem einen Zustande in einen andern, ein Entstehen, Blühen und Vergehen, ein Fortschreiten vom Leben zum Tode, ein allmähliches, regelmäßiges Anderswerden. Kein Mensch ist seinem Körper nach an einem Tage des Lebens ganz derselbe wie an dem folgenden oder dem vorangegangenen: an jedem Tage, in jedem Jahre, in jeder Zeit ist er ein anderer. Ganz so verhält es sich mit den Tieren, mit den Pflanzen und sogar mit unserer großen Herberge, mit der Erde, mit den Himmelskörpern, mit dem Weltall, Alles ist in steter Umwandlung begriffen, nur Gott allein bleibt unwandelbar immer derselbe. Das große Naturgesetz, dass Alles 11 12 13 14 15 16

.‫הקול קול יעקב והידים ידי עשו‬ .‫והיה כאשר תריד ופרקת עלו מעל צוארך‬ .‫ויבדל אלהים‬ .(‫יוצר אור ובורא חשך עושה שלום משבראן עשה שלום )מ״ר פ״ג‬ .(‫ואין כל בריה חלוקה לומר שתי רשויות נתנו את התורה שתי רשויות בראו את העולם )ילקוט ג‬ .‫ה׳ אלהינו ה׳ אחד‬

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Adolf Kurrein (1879)

nur wird, nicht starr vollendet da steht, zeigt, dass Alles einen Anfang und ein Ende hat und haben muss. Die heilige Thora, das Judentum hat mit seinem ersten Worte »im Anfange« den Irrtum der Ewigkeit der Welt verworfen und verurteilt und lehrt, dass das Weltall einen Anfang bedingt. Darum, sagt ein Erklärer der Schrift, beginnt die heilige Thora mit der Schöpfungsgeschichte, um als erste Lehre des Judentums hinzustellen: die Welt steht nicht seit Ewigkeit da, ist geschaffen und hat einen Schöpfer 17. »Das ist die Entstehung des Himmels und der Erde,« heißt es in der Schrift, und was ein Entstehen |24| hat, erklären die Alten, das entwickelt sich, wird alt, vergeht, ist geschaffen und nicht Schöpfer 18. Gleich unhaltbar erweist sich auch die Behauptung von der Ewigkeit des Stoffes. Ein Philosoph, so wird erzählt, sagte einst zu Rabban Gamliel: Es mag richtig sein, dass euer Gott ein großer Künstler und Werkmeister ist, doch war es nicht allzuschwer bei den vielen trefflichen Stoffen, die er vorfand. Spricht doch eure heilige Schrift von Tohu wa Bohu und dergleichen mehr. Kannst du nicht durch deine Weisheit, deine Forschungen und Erfindungen, sondern nur aus unserer Thora die Ewigkeit des Stoffes dartun, erwiderte Gamliel, so belehrt dich die Schrift an den verschiedensten Stellen, dass das, was du Urstoff nennst, von Gott geschaffen worden ist 19. Der Ausdruck »schaffen«, den die Schöpfung anwendet, bezeichnet: etwas aus nichts hervorrufen 20. »Auf des Ewigen Wort«, ruft der Psalmist, »sind die Himmel geworden, und auf seines Mundes Hauch ihr ganzes Heer.« 21 Ohne Stoff, ohne Mittel, durch seinen Willen ward die Schöpfung. »Gott sprach: Es werde Licht und es ward.« 22 Das Schaffen Gottes war ein Wort, ein Denken, ein Sprechen, aber nicht etwa wie eines Menschen Sprechen, nur Kundgebung seines Willens, ein bestimmtes Wollen, ein beschlossener Wunsch war es. Wie der Hauch dem Munde des Menschen entströmt, so leicht war es der Macht Gottes zu schaffen und so wenig brauchte er dazu; nicht wie ein menschlicher Meister musste er sich mühen und anstrengen, 23 er brauchte nur zu wollen, und es folgte die vollendete Schöpfung! |25| Dieser Wille Gottes, der so allmächtig, der Alles aus dem Nichts erschuf, gab, wie unsere Weisen sagen, zehn Mal sich kund. 24 Zehnmal sprach Gott, zehnmal eröffnete er seinen Entschluss, um Alles, was da ist, in’s Leben zu rufen, um die Welt entstehen zu lassen, und doch hätte ein einziges Wort des allmächtigen Schöpfers dafür genügt. 25 Hat aber Gott es wert gefunden, zehn Mal zu sprechen, zu beschließen, seinen Willen darzutun, welchen großen Wert muss das Geschaffene für die Menschen haben. Will der Mensch irgend einen Gegenstand der Schöpfung, irgend ein göttliches Werk als nich17 18 19 20 21 22 23 24 25

.(‫לכך פתח בענין יצירה שאלמלא כן יאמרו קטני אמנה העולם על מנהגו הוא עומד תמיד )חזקוני בראשית א‬ .(‫אלה תולדות השמים והארץ תני כל מי שיש לו תולדות מת ובלה ונברא ואינו בורא )מ״ר יב‬ .(‫פילסופי אחד שאל את רבן גמליאל וגו׳ )מ״ר פ״א‬ .(‫ברא להוציא יש מאין )עיין א״ע‬ .‫צבאם‬-‫בדבר ה׳ שמים נעשו וברוח פיו כל‬ .‫ויאמר אלהים יהי אור ויהי אור‬ .(‫בהבראם בה׳ בראם וכו׳ לא בעמל ולא ביגיע ברא חקב״ה את עולמו )ילקוט יח‬ .(‫בעשרה מאמרות נברא העולם )אבות ה׳‬ .(‫והלא במאמר אחד היה יכול להבראות אלא ליפרע מן הרשעים וגו׳ )אבות ה׳‬

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Die Einheit der Schöpfung

tig, unbedeutend, verachtenswert zerstören, rufen die zehn Schöpfungsworte Gottes ihm zu: Das aus Nichts Geschaffene, Alles was besteht und lebt, hat einen Wert, weil Gott es durch sein Wort hervorgerufen. Es ist ein Gebot des Judentums: Zerstöre nichts, 26 verderbe nichts, vernichte nichts. Zerstöre nichts an deinem Körper und auch nicht deinen Körper, verderbe nichts an und in deinem Leben, verunstalte, verunziere nichts an der schönen Schöpfung Gottes, die durch zehn Worte in’s Dasein trat. Vielmehr verwende auf das, worauf Gott selbst zehn Worte verwendete, deine ganze Kraft, deine Macht, deinen Willen und dein Verständnis, um auf der Erde, im Leben, überall, wo du kannst, zu wirken, zu schaffen, zu erhalten und zu bestätigen das Schöpfungswerk im Sinne und Geiste Gottes, damit die ganze Schöpfung, Alles, was darin und daran ist, die Allmacht des Einen Gottes laut und deutlich und Jedermann verständlich verkünde. Alles, was da ist, erscheint und lebt, soll so zu den Menschen sprechen, und die Menschen sollen ohne Irrung, ohne Missverständnis die Wahrheit daraus vernehmen, dass Ein Gott Alles geschaffen, Alles hervorgebracht, dass nur Einer es ist, auf dessen Wort und Wink Alles geworden, der selbst nicht wie das Gewordene werden, entstehen und vergehen kann, der vielmehr war, ist und sein wird, der lebt und |26| ewig leben wird und die Menschen durch sein Werk zur Anerkennung und Verehrung seiner Majestät führen will, dass das Schema Israel’s im Munde aller Menschen sei, ihren Geist erfülle und ihr Leben durchdringe, dann ist Adonai, der einig-einzige, der König für die ganze Erde, dann ist Gott Einer und sein Name der Eine. 27 Amen.

26 ‫לא תשחית‬ 27 .‫והיה ה׳ למלך על כל הארץ ביום ההוא יהיה ה׳ אחד ושמו אחד‬

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7. Schöpfung, Natur und Wissenschaft: Alexander Rosenberg (1884) 1

|195| Bevor wir das ethische Moment in der biblischen Schöpfungsgeschichte klarlegen, müssen wir, zu ihrer richtigen Würdigung und Beurteilung, folgenden Gesichtspunkt festhalten. Die Weltschöpfungstheorie der heil. Schrift hat keinen kosmologischen Zweck; d. h. die Thora wollte keine auf wissenschaftlichen Forschungen beruhende Kosmologie darstellen, die sich mit den vor Millionen von Jahren erfolgten siderischen und tellurischen Formationen des Universums beschäftigt, sondern sie beabsichtigte – wenn ich mich bildlich so ausdrücken darf – mit nur wenigen, aber mächtigen Gedankenquadern ein festes Fundament zu legen, auf welchem sie den religiös-moralischen Bau ihrer reinen Theologie kühn und sicher begründen konnte. Und wahrlich dies vermochte sie nicht besser und nicht fasslicher für den naiven Volksgeist, an den sich die Thora vor Allem wendet, zu vollführen, als indem sie in kurzen, klaren und populär-verständigen Worten auf das religiös-ethische Ziel hinsteuert, Israel zum Bewusstsein zu bringen, dass es einen einzigen, allgewaltigen, über dem Naturleben stehenden Schöpfer gibt, der Himmel und Erde und deren Wesenfülle geschaffen, und der mit seiner Allgüte – was eben Hauptzweck der biblischen Schöpfungsurkunde ist, wie wir den Nachweis führen werden – die Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt zum »Guten«, zu ihrem Heile und Segen eingerichtet hat. Ohne diese physisch-theologische Grundlage müsste das religiös-moralische Gebäude, welches die Thora zu errichten beabsichtigte, gleichsam in der Luft schweben; und es fragt sich daher durchaus nicht, ob die mosaische Schöpfungsurkunde mit den modernen Theorien |196| der Naturwissenschaft, welche – nebstbei gesagt – noch allzu sehr auf den Krücken der Hypothese einherhinken, vollkommen harmoniert, sondern ob sie als Fundament für das mosaische Moral- und Glaubensgebäude ganz geeignet sei? Denn nicht auf ihren physikalischen Inhalt, sondern ausschließlich nur auf ihren religiös-ethischen Wert legt die biblische Lehre von der Weltschöpfung das entscheidende Gewicht. Wohl haben einige Ausleger 2 der heiligen Schrift, und das nicht ohne ziemlichen Erfolg, den Versuch gemacht, den mosaischen Schöpfungsbericht zumal mit der geologischen Entwicklungstheorie 3 in Einklang zu bringen. Allein, dieses allenfalls hochachtbare Bestreben der sogenannten »Harmonisten« kann sich bloß auf die biblische Darstellung der Menschenschöpfung eines ziemlich wissenschaftlichen Gelingens erfreuen; bei dem Berichte von der Menschenbildung jedoch, der von der Darstellungsweise der übrigen Schöpfungsakte gänzlich abweicht, muss jeder Vermittlungs- und Vereinigungsver1 2 3

[Rosenberg, Alexander, Die ethische Tendenz im geschichtlichen und gesetzlichen Teile der Bibel. In: Populär-wiss. Monatsblätter 4 (1884), 195–199] Ranke 1834–1840, I 36f.; Keil 1866, I 1ff. Vgl. auch Ersch / Gruber 1832–1843, Artikel ›Schöpfung‹. Vgl. Lyell 1830, nach dessen Vorgange die Geologen Millionen von Jahren für die tellurischen Schöpfungsprozesse annehmen.

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Schöpfung, Natur und Wissenschaft

such mit der sogenannten Darwinischen Entstehungstheorie scheitern, weil gerade aus jenem Berichte es bis zur Evidenz hervorgeht, dass die biblischen Schöpfungsurkunde nicht die Kosmologie, sondern nur die Theologie zum Zwecke hat, der sie zur festen Grundlage dienen will. Denn während die h. Schrift die mannigfaltigen Gestaltungen der Lichtkörper am Himmel, sowie der Tier- und Pflanzenwesen auf Erden bloß durch das allmächtige Schöpferwort: »Es werde« 4 entstehen lässt, dem zu Folge man mit den »Harmonisten« wohl behaupten könnte, dass in den sechs biblisch. Schöpfungstagen nicht sofort vollkommen entwickelte Tier- und Pflanzengeschöpfe, sondern nur ihre Urkeime geschaffen wurden, die dann einer tausend- und aber tausendjährigen Selbstentwicklung überlassen blieben 5, lässt sie das menschliche Wesen auf eine ganz andere Weise, nämlich von der Hand Gottes nach dessen Ebenbilde formen, und ihm einen belebenden Geistesodem 6, |197| der sich von dem einfachen Tierleben völlig unterscheidet, einhauchen, wodurch eben die Thora augenfällig tendenziös auf eine ganz aparte Entstehungsart des Menschen hinzielt, der nicht durch das schöpferische Gotteswort etwa bloß keimartig entstanden und dann einer stufenweisen Selbstentfaltung überlassen ward, sondern der körperlich und geistig vollendet aus der bildenden Gotteshand hervorging. Aus dieser absichtlich grundverschiedenen Darstellung der Menschenwerdung geht es bis zur Evidenz hervor, dass die mosaische Schöpfungsurkunde, die doch, der logischen Konsequenz gemäß, auch das Menschenwesen, wie das übrige Weltall, durch das allmächtige Gotteswort hätte erstehen lassen müssen, keine naturwissenschaftliche, sondern ausschließlich eine religiös-ethische Tendenz habe, weil sie nämlich den Menschen, von dem allein die 4 5 6

Gen 1,3. Eine Ansicht, welche, nach vielen jüdischen Schrifterklärern, schon in Gen 1,3 angedeutet wäre, indem das Wort laassot auf eine sich selber entwickelnde Tätigkeit der Wesen zeigt. Die hebräische Sprache hat für: Leben, Seele, Geist, im Gegensatze zum toten Körper, drei Ausdrükke, nämlich Nefesch, Neschama und Ruach, welche deutlich von einander zu unterscheiden sind. Ersterer bedeutet einfach »animalisches Leben«, das auch dem Tiere eigen ist und im Blute seinen Sitz hat. Es entspricht dem griechischen Worte: Psyche im erweiterten Sinne, wie es Aristotoles definiert (De Anima 3,8) und auch die Septuag. übersetzt Gen 1,21,30 gleich dem lateinischen »anima«, wovon »animal« Tier. Neschama ist die menschliche Seele, wie sie in organischer Verbindung mit dem menschlichen Körper denkt und fühlt. Das Tier hat keine Neschama, welche eben die Wesenheit des spezifisch-menschlichen Daseins ausmacht; in ihr sind, wie Rabus 1863, 4, richtig bemerkt, Bewusstsein und Wille, Erkenntnis und Darstellung, Geist und Gemüt eins. Vgl. auch Spr 20. Ihr ist verwandt, was Aristoteles (Nikomachische Ethik I, 4; 6, 12) vom griechischen Worte: Nus aussagt, entsprechend vielleicht dem lateinischen »ingenium«. Ruach endlich bedeutet: von allem Körperlichen abstrahierten Geist, göttlichen Hauch, wie die Septuag. Gen 1,2 übersetzt; pneuma theu und entspricht dem latein. Ausdrucke: spiritus. Ruach gebraucht der Hebräer immer in Verbindung mit Adonai, also dem reingeistigen Wesen, oder wenn er das abstrakt Ideale, den Genius einer Sache oder Eigenschaft im guten und im bösen Sinne bezeichnen will. Der Ruach Adonai wird, so er in Funktion mit den körperlichen Menschenorgane tritt, zur Neschama, weshalb in Ijob 32,8; so tiefsinnig gesagt wird: »Wahrlich Geist ist im Menschen und die allmächtige Seele« – zu der eben der Geist im menschlichen Organismus sich gestaltet – »macht ihn verständig«! Vgl. auch Jes 57,16, wo der abstrakte Geist Ruach neben Neschamoth »Menschenseelen« scharf betont wird.

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Alexander Rosenberg (1884)

Thora die Verehrung Gottes und die Beobachtung seiner religiös-sittlichen Gesetze fordert, in die innigste Beziehung zu dem göttlichen Schöpfer bringen wollte, und zwar dadurch, dass sie ihn zum Bewusstsein führt: er sei nicht, wie die andern Weltwesen, bloß auf des Schöpfers Geheiß entstanden, um dann einer zufälligen Selbstentwicklung überantwortet zu bleiben, sondern die Allgüte Gottes beschäftigte sich besonders liebevoll mit seiner Kreation, schuf ihn mit eigner Hand und gab ihm Geist von seinem Geiste, an den er dann die Vorschriften eines religiös-sittlichen Lebens richtete. Dieses Bewusstsein der engsten, unmittelbarsten Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer bildet den mächtigen Fels, auf dem ein göttliches Religions- und Moralgebäude sich begründen kann; wird dieser Fels gerüttelt, so muss es in sich zusammenbrechen. In diesem Punkte, was die Menschenschöpfung betrifft, gibt es keine Transaktion zwischen der modernen Theorie und der Bibel, zwischen Moses und Darwin, dessen Entstehungslehre, möge sie wahr oder falsch sein, nimmer mehr das Fundament einer reinen Theologie, einer religiös-ethischen Lehre von einem Gotte sein kann, zu dem ja der Mensch, dieser Entwicklungstheorie gemäß, in keinem engeren Verhältnisse stünde, als der blühende und verwelkende Grashalm des Feldes. Wo daher von der Religion die Rede ist oder von dem Buche, die sie in die Menschengesellschaft einführte, sollte ein solcher Ausgleich, der nur zu Sophismen führen muss, nicht einmal versucht werden; die Sphären beider Theorien liegen soweit voneinander entfernt, wie der Himmel von der Erde, und da wir es hier nur mit dem Ersteren zu tun haben, nämlich mit dem Geisteshimmel der Religion und Ethik, welchen die Thora über die Menschheit hinwölbt, so müssen wir bloß untersuchen, ob die biblische Schöpfungsgeschichte, die nicht als untersuchende und prüfende Naturlehre sich geltend machen will, jene passende und sichere Leiter ist, welche zu Gott führt auf den Sprossen ethischer Ideen, die in der biblischen Schöpfungsurkunde wie in keiner andern Kosmogonie des Altertums in reicher Fülle vorhanden sind. Diese ethischen Ideen nun strahlen uns aus dem Bilde der biblischen Schöpfungsgeschichte ganz besonders hell entgegen, wenn wir gewissermaßen als Schlagschatten derselben die Kosmogonie der alten Griechen uns stets gegenwärtig halten, welche nicht bloß einen Mangel an ethischer Tendenz bekundet, sondern einer solchen geradezu Hohn spricht. 7 Die Schöpfungsurkunde der Thora setzt eine |198| übernatürliche Gotteskraft, Elohim, von Ewigkeit her voraus, welche vor Allem Himmel und Erde schuf, und dann als schöpferischer Geist schützend und schirmend 8 über den Wassern schwebte, um zuerst das Heil- und Segen7

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Die Kosmogonien der alten orientalischen Völker, wie z. B. die der Indier in den Vedas, ja selbst in den Upanischads, die schon eine gewisse philosophische Spekulation bekunden, stehen der biblischen Schöpfungsurkunde gar ferne, Sie sind krasse Vergötterung der Natur und ihrer rohen Kräfte, die durch die ausschweifendste Phantasie zur gemein-sinnlichen Symbolisierung entarten. Auf das Ethisch-Menschliche wird gar nicht reflektiert. Von mehr ethischem Werte ist die ihr verwandte arische Anschauung. Ihr zu Folge beherrschen zwei entgegengesetzte Prinzipien kämpfend die Welt: das Licht oder das Gute, die Finsternis oder das Böse. Und dieser die ganze Welt umfassende Kampf zieht auch das menschliche Herz in seinen Bereich. Vgl. Munk 1849, I 3 f.; Creuzer 1810–1823, I 180 ff. Das hebr. Wort: rachaf deutet zumeist auf ein liebevolles Beschirmen, auf ein friedliches Umschweben hin. Vgl. Dtn 32,11.

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Schöpfung, Natur und Wissenschaft

vollste, das Licht zu schaffen. Hier also gibt es keinen wilden Kampf neidisch-feindseliger Gewalten, welcher der Weltschöpfung vorausging; Alles entstand auf Befehl und unter dem Schutze des göttlichen Werkmeisters in friedlicher Harmonie. Nicht so in der hellenischen Schöpfungsgeschichte. Sie lässt der Kosmogonie, der physischen Weltschöpfung, eine Theogonie, eine Götterschöpfung vorangehen, in welcher die grässlichsten Schandtaten, Vater-, Gatten- und Kindermord geschildert werden, und wie schließlich, indem das Göttergeschlecht der Uraniden von dem Göttergeschlechte der Kroniden, vernichtet wird, das alles Ethische verhöhnende böse Prinzip: »Gewalt geht vor Recht« zum triumphierenden Siege gelangt; 9 ein Prinzip, das dann konsequenter Weise auch auf die irdische Welt- und Menschenschöpfung ausgedehnt wird. Die biblische Schöpfungsgeschichte lässt früher den Himmel und dann die Erde entstehen, 10 gibt also dem Reinern und Heiligern die Priorität, die sie dem Lichte der Finsternis gegenüber gewiss einräumt, indem sie nur von der Erschaffung des Lichtes spricht, die Finsternis jedoch nicht positiv entstehen lässt, sondern bloß als einen Lichtmangel betrachtet. In der Schöpfung des Lichtes sieht sie nicht bloß das Ästhetisch-Schöne und Nützliche, sondern auch und ganz besonders das Ethisch-Gute auf Erden sich verbreiten, indem gewissermaßen die Lichtsphäre die erste, unerlässliche Bedingung ist, gemäß welcher nicht allein das physische, sondern auch das höhere geistige und moralische Menschenleben sich gestalten und entfalten kann. Der erste Lichtstrahl, welcher durch des Menschen Auge in sein Inneres dringt, weckt auch das schlummernde Licht in seiner Seele. 11 Darum stellt sie auch das sinnige Urteil auf: »Gott sah das Licht, dass es gut sei«, worin sie nicht so sehr die äußere Schönheit, als vielmehr die innere belebende Kraft und ethische Wirkung des Lichtes besonders hervorheben will durch den Ausdruck: Tob 12, der im Hebrä- |199| ischen, so er als Adjektiv allein steht, mehr den innern Wert, die Güte und Tüchtigkeit einer Sache kennzeichnet, als ihre äußere Erscheinung. Dieses Urteil wiederholt die biblische Schöpfungsurkunde einige Mal, um, wie schon die Alten richtig bemerkten, absichtlich hervor9 10

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Hesiod, Theogonie V. 116–452, worin das Uraniden-Geschlecht besungen wird; dann Hesiod, Theogonie V. 453–1019, wo das gewalttätige Kroniden-Geschlecht siegend vorgeführt wird. Vgl. Midr. Rabba, 1, wo die Kontroverse, ob der Himmel oder die Erde früher geschaffen wurde, damit endet, dass die Himmelsschöpfung der Erdenschöpfung voranging, Absch. 3 wird der Lichtschöpfung sogar vor der Weltschöpfung der Vorrang eingeräumt, was wohl Alles auf den ethischen Gedanken hinzielt, dem Edleren das Vorrecht zu vindizieren, Goethe im »Faust« lässt auch in der Tat durch eine sophistische Rede des Teufels, des Sohnes der Finsternis, dem Lichte das Vorrecht streitig machen, indem er, der Teufel, die Nacht als Mutter desselben verherrlicht, was natürlich recht charakteristisch eben nur der Teufel behauptet, dieser Erzfeind alles Ethischen. Neben der ethisch. Bedeutung, die in der biblischen Darstellung der Lichtschöpfung liegt, finde ich auch eine Übereinstimmung mit der Naturlehre, die gleichfalls nur das Licht für eine positive Erscheinung, die Finsternis hingegen bloß negativ als Lichtmangel erklärt. Vgl. Caspari I 1873, 12–28, I, S. 12–28, wo die Unentbehrlichkeit des Lichtes für die geistig-sittliche Kulturentwicklung des Menschengeschlechtes historisch nachgewiesen wird. Die sogenannten Troglodyten (Höhlenbewohner) waren nicht bloß körperlich, sondern auch kulturell gänzlich verkommen. Tob, so es das den Sinnen Zusagende, Schöne bedeutet, steht immer mit mareh Gen 24,16, toar 1 Kön 1,6 und raui 1 Sam 16,12 und entspricht dem griech. kalos.

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Alexander Rosenberg (1884)

zuheben, dass Gott selber gleichsam eine innige Freude, ein neidloses Wohlgefallen an dem Gelingen der Weltschöpfung bekundete. Zu alldem steht nun der hellenische Schöpfungsbericht im grellsten Gegensatz und markiert in scharfen Strichen die grundverschiedene Anschauungsweise des alten Judentums und Griechentums. Denn diesem Letztern gemäß war nicht der Himmel, sondern die allnährende Erde, Gäa, nächst dem Chaos, zuerst entstanden, und das Licht ging bloß als sekundäre Erscheinung, aus der Vermählung des Crebos mit der Nyr, des Dunkels mit der Nacht hervor, welche als das erstgeborne Kind des Chaos betrachtet wird. Die Gäa, also das Irdische, ist auch die Mutter des Uranos, des gestirnten Himmels, der dann in unzüchtiger Vereinigung mit ihr all die gewaltigen Titanen, übermütigen Zyklopen und Riesen erzeugte, welche aus der lichtraubenden Gewalt des neidischen Vaters sich nur durch dessen Ermordung befreien konnten, zu welcher die eigene Mutter Gäa sie aufstachelte. Wahrlich, eine solche von der krassesten Unsittlichkeit, von Hass und Neid, von Unzucht und Mord erfüllte religiöse Vorstellungsweise, welche die Typen des Rohen und Gemeinen, die Nacht und die Erde, zu den Urmaterien der Götter- und Heroenwelt machte, musste mit psychischer Notwendigkeit jedes Gefühl im Keime ersticken und den griechischen Volksgeist zur Vergötterung der Sinnlichkeit führen, welche, wie Heraklit gesagt haben soll, die mit Leidenschaften behafteten Götter zu unsterblichen Menschen erniedrigte, die stolzen Menschen zu sterblichen Menschen erhöhte. Wie ganz anders die biblische Schöpfungstheorie! Sie richtet vor Allem, indem sie den Bann der Sinnlichkeit durchbricht, den Blick des Menschen empor zum Himmel und zum Lichte, über denen ein wohlwollender, allgütiger Schöpfer thront, und lehrt ihn die Urheimat seines Geistes nicht auf Erden, sondern in jenen Höhen zu suchen, aus welchen ihn der Schöpfer das erste Tob, das Gute des Lichtes neidlos gesendet hat.«

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8. Gotteslehre und Gewissheit: Aron Roth (1878) 1

|65| Die reine Gotteslehre ist das vierte mosaische Schutzmittel gegen den Selbstmord. Unter den bestimmenden Verhältnissen, welche den Menschen durch das ganze Leben begleiten, also des eingreifendsten Einflusses auf das innere Wesen nicht ermangeln können und dürfen, ist eines der wichtigsten: die reine Gotteslehre. Schon dem kindlichen Gemüte muss eine ungetrübte Gotteslehre in einer bestimmten Form entgegentreten, welche seine Aufmerksamkeit erregt und die Ahnungen des Höheren in ihm erweckt. Soll die Gotteslehre ein segenspendendes Gefäß, eine Quelle des Heils werden, so muss sie fern von allen schädlichen Elementen sein, die auf das innere |66| Gemütsleben einen nachtheiligen Einfluss ausüben. Die Gotteslehre, wie sie Moses lehrte und auf dem Boden der ganzen h. Schrift zu finden ist, ist ein ewig frischer, lebendiger Quell, und darum ein ewig frischer Quell des Lebens. Moses lehrte den reinen Deismus, welcher eine feste sittliche und intellektuelle Grundlage gibt, auf welcher sich eine entwickelte Gesellschaft erheben, auf welcher Kultur und Zivilisation gedeihen können und der für die Gesamtheit wie für den Einzelnen ein ‫סם חיים‬, »ein Balsam des Lebens« sein kann. Die Auswüchse der Religion, welche sind: Fatalismus, Materialismus, Atheismus, Skeptizismus, Lehren, die uns um den Glauben an das bringen, was allein uns das Leben lebenswert erscheinen lässt und uns unaussprechlich elend machen, sehr oft die Ursachen des Selbstmordes sind, sind dem Mosaismus fremd. »Das Leben und den Tod lege ich Euch vor, den Segen und den Fluch«. Hier wird die Freiheit des Willens ausgesprochen. Den Fatalismus, welcher zur Negation der Freiheit des menschlichen Willens führt, perhorresziert der Mosaismus. Der Glaube an ein Fatum, an die blinde, unvermeidliche und unentfliehbare Vorherbestimmtheit der Ereignisse und Begebenheiten, ohne Grund und ohne Zweck, kollidiert mit dem Geiste des Mosaismus, welcher lehrt, dass Segen und Fluch, oder Leben und Tod in den Händen des Menschen gelegen ist, zur freien Wahl, wodurch er des Glückes nur auf dem Pfade der Anhänglichkeit an Gott, hingegen des Unglückes durch Abfall von Gott teilhaftig würde. Der Fatalist betrachtet den Selbstmord als eine Notwendigkeit, der von seinem freien Willen unabhängig ist. Der Fatalismus ist eine Sophisterei, wenn man dieses Philosophem mit dem wirklichen Leben zusammen hält. Wenn der Mensch wirklich in seinem Handeln nur dem Drange der Notwendigkeit folgte, wenn sein Verdienst nicht verdienstlich, wenn er an seiner Schuld unschuldig wäre: warum kann er denn das Gefühl der Verantwortlichkeit für sein Handeln nicht von sich abschütteln? Warum empfindet er nach einer schlechten Tat Reue? Warum erfüllt ihn das Bewusstsein einer guten Tat mit edlem 1

[Roth, Aron, Eine Studie über den Selbstmord. Von jüdischem Standpunkte. Budapest 1878, 65– 70]

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Aron Roth (1878)

Stolz? Warum müssen wir pflichtmäßigem Handeln selbst unserem ärgsten Feinde Achtung zollen? Warum erfüllt uns eine niederträchtige Handlung unseres besten Freundes mit Entsetzen? Was ist Freundschaft, was ist Liebe, was ist Hingebung und Aufopferung in den Augen eines konsequenten Fatalisten? Was ist also von einem Philosophem zu halten, zu dem man sich nicht bekennen kann, ohne dass man stündlich im Widerspruch mit sich selbst gesetzt wird? Die Thora, alle Prophetie, wie alles heilige Schrifttum bekräftigen es, sagt der Talmud: »Des Weges nur, den der Mensch selber gehen will, führt man ihn.« 2 »Will sich jemand verunreinigen, so wird ihm aufgetan, will er sich läutern, findet er Beistand!« 3 »Die Planeten können das Schicksal des |67| Menschen nicht bestimmen.« 4 Anlagen und Fähigkeiten werden mit uns geboren, ihre Verwendung und Übung ist uns anheimgegeben. In der ersten inneren Verwandtschaft mit dem Fatalismus steht ein anderes Philosophem: der Materialismus, jene Weltanschauung, welche ein geistiges Prinzip in der Welt leugnet, und das, was nach altem Herkommen Geist genannt wird, für einen Ausfluss, für eine bloße Eigenschaft der Materie erklärt. In den Augen der Materialisten ist der Mensch weiter nichts als organisierte Materie, sein Denken eine Funktion des Gehirnes, sein geistiges Leben vollzieht sich, wie der Stoffwechsel in seinem Leibe. Freiheit des Willens, Sittlichkeit, Tugend, Wahrheit, Liebe, Gott, Unsterblichkeit sind inhaltslose Begriffe, und daher ist der Materialismus eine oftmalige Ursache des Selbstmordes. Die Materialisten sagen: Die Seele ist gar nichts vom Körper Verschiedenes; das Denken, Fühlen, Begehren ist nur ein Spiel von Kräften, wie Verdauung, das Atmen; und diese müssen aufhören, sobald das Verdauen, das Ausscheiden der unbrauchbar gewordenen Körperteile, kurz der Stoffwechsel auch aufhört: mit dem Leben überhaupt endet auch das, was man Leben der Seele nennt. Diesem destruktiven Philosophem gegenüber lehrt die Bibel: Der Ewige bildete den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies in seine Nase Seele des Lebens. Körper und Seele sind also verschieden. Eine Grundlehre der israel. Religion ist es: dass die menschliche Seele rein und schuldlos aus der Hand des Schöpfers hervorgeht, daher kehrt der Staub zur Erde zurück, und der Geist kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben. Dieses Bewusstsein, dass unsere Seele nach dem Tode des Körpers fortlebt und jenseits Rechenschaft abzulegen habe, schreckt vom Selbstmorde ab. 5 So sagt Hamlet: Sein oder Nichtsein, dieses ist die Frage! Ists edler, im Gemüt des Schicksals Wut Und giftige Geschoss zu dulden; oder 2 3 4 5

bMak 10b. bYom 38b. bShab 156. Uriel da Costa früher Rechtsgelehrter zu Porto in Portugal, von jüdischer Abkunft, kehrte in Amsterdam zum Judentum zurück. Bald wurde er ein Skeptiker, selbst gegen den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele – den er einen Irrtum nannte, – sprach er sich öffentlich aus. Die Folge davon war, daß er, nach einer peinlichen und schimpflichen Synagogenbuße, nachdem er sein leidenschaftliches Testament vollendet hatte, zwei Pistolen lud; die eine drückte er auf einen an seinem Hause vorbeigehenden Verwandten ab, und als diese fehlte, verschloß er die Türe seines Zimmers und entleibte sich im April 1640, durch die andere. (Grätz 1897, 10. Band, 122–129.)

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Gotteslehre und Gewissheit

Sein ganzes Heer von Qualen zu bekämpfen. Und kämpfend zu vergehen – Vergehen? – Schlafen! Mehr heißt es nicht. Ein süßer Schlummer ist’s. Der uns von tausend Herzensangst befreit, |68| Doch schlafen? – Nicht auch träumen? – Ach hier liegt Der Knoten! Träume, die im Todesschlaf Uns schrecken, wenn einst dies Fleisch verwest, Sind furchtbar. Diese lehren uns geduldig Des langen Lebens schweres Joch ertragen. Wer litte sonst des Glückes Schmach und Geißel, Der Stolzen Uebermut, die Tyrannei Des Mächtigen, die Qual verschmähter Liebe, Den Missbrauch der Gesetze und jedes Schalkes Verspottung der Verdienste, mit Geduld! Könnte uns ein bloßer Dolch die Ruhe schenken, Wo ist der Tor, der unter dieser Bürde Des Lebens länger seufzte? Allein Die Furcht vor dem, was nach dem Tode folgt, Das Land, von da kein Reisender zurück Auf Erden kam, entwaffnen unseren Mut, Wir leiden lieber hier bewußte Qual, Ehe wir zu jener Ungewissheit fliehen. Wie der Materialismus und der Fatalismus traurige Verirrungen des philosophierenden Verstandes sind und nur leider zu oft den Selbstmord provozieren; so auch der Atheismus und Skeptizismus. Übrigens sind Materialismus und Atheismus Zwillingsbrüder. Denn wenn die Welt weiter nichts, als eine zufällige Gruppierung von Atomen, wozu braucht man eine Weltregierung, eine höchste Intelligenz, wozu braucht man Gott? Der Atheismus leugnet jenes Unbegreifliche, das wir Gott nennen, ganz und gar; für ihn wurden die Dinge eben so wie sie sind; er verneint, dass die Dinge aus einer Idee entsprungen, durch eine Schöpferkraft geworden. Der Atheismus setzt statt des lebendigen Gottes die tote Wüste der Materie, der Geist der Verneinung endet stets mit der Selbstvernichtung und der konsequente Skeptizismus kann nur in dem Aufhören alles Wahrnehmens und Denkens seinen Schluss finden. Die schädlichen Folgen des Atheismus bekunden sich in folgenden Sprüchen: »Es gibt keinen Geist, keine Vorsehung, keine Macht, die es besser wisse, es gebe Nichts was den Menschen leite, während er ziellos dahin treibt. Nichts was die Welt lenke, indem sie sich in der kreisenden Zeit umherwälze. Das ganze Leben habe keinen Zweck. Aus dem lebendigen Menschen wird ein toter Leichnam, das sei Alles, was Jemand von seiner Tugend habe. Der Mensch wird ein Haufen Staub, den bald anderer Staub bedeckt, der Mensch besteht aus Knochen, Blut, Eingeweiden und Gehirn, und der Geist ist nur Materie.« – Schon frühzeitig erkannte man die große Gefahr des Atheismus für die menschliche Gesellschaft, denn für den Atheisten gibt es keine Rechtsidee, |69| kein Sittengesetz, keine 71

Aron Roth (1878)

Religion, keine Ehrfurcht und Liebe. Er kennt nichts Höheres, als die Sinnenwelt, nichts Höheres, als die Befriedigung seiner Launen und Begierden. Die vollendete Selbstsucht ist Lebensprinzip. – Sehr bezeichnend sind die Worte Goethe’s: »Gäbe es keinen Gott, so müssten wir ihn erfinden.« Nur war es stets der Fehler, dass so wie Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde, so haben die Menschen ihren Gott sich nach ihrer Einbildung geschaffen. Die Völker des Altertums, selbst die, welche in Wissenschaft und Kunst eine hohe Stufe erreichten, sie alle lagen vor gegossenen und geschnitzten Bildern, vor Menschen- und Tiergestalten im Staube, ihre Gottheiten waren Personifikationen von Naturkräften, und Gott und Welt waren identische Begriffe. – Später gab sich erst bei den ältesten Religionen und Mythologien, deren Grundlage pantheistisch war, das Bestreben kund, aus der Identifizierung Gottes mit den Naturdingen herauszukommen. Die Trinität der Inder, der Dualismus der Perser und die Göttergestalten der Griechen und Römer waren zu Persönlichkeiten geworden, welche mit den Wesen und Erscheinungen in der Natur nichts mehr gemein hatten. Israel war das erste Volk, welches Gott nicht aus den Dingen, sondern die Dinge aus Gott erklärte, Gott nicht in der Welt, sondern die Welt in Gott lehrte, kurz die Welt als das Werk des göttlichen Schöpfers, von seinem Gedanken und seinem Willen erfüllt, verkündete. So war die Lehre Israels die Erfüllung dessen, wonach die Völker in ihren Religionen und Philosophemen getastet und gesucht hatten. Wohl hat der Kirchenglaube mit seinen Dogmen diese reine Gotteslehre mit Symbolen und Mysterien umgeben, und damit diesen Glauben getrübt; allein das Judentum trifft diese Schuld nicht. Denn wenn auch das Judentum seine bestimmten Dogmen wie jede positive Religion hat, so gestattet es nicht nur, sondern verlangt auch eine vernunftgemäße Erkenntnis derselben, ja die heilige Schrift fordert uns genug auf, diese Wesen zu befragen, zu diesen Himmelskörpern aufzuschauen: »wer erkennt nicht an allen diesen, dass des Ewigen Hand sie geschaffen.« Wo und wie irgend das menschliche Herz seine Tiefen erschließt, seine Quellen öffnet, seine Fühlfedern ausstreckt, da ist allein der lebendige, über die Wesen erhabene, unendliche und heilige Gott, welchen es fühlt, von welchem es erfüllt, in welchem es befriedigt: wird. – Vor dem eisigen Hauche des Atheismus und Skeptizismus gefrieren alle die rieselnden Quellen des Herzens, alle die Strömungen seiner Gefühle. »Skeptizismus und Freidenkerei, sagt Schiller, sind die Fieber-Paroxismen des menschlichen Geistes, und diese verursachen zu oft den Selbstmord«; aber der Deismus, wie er der Menschheit von Israel gelehrt wurde, ist eine Schutzmauer gegen denselben. Ob unser Auge in den Sternenhimmel der Nacht, über grüne Matten und Wälder |70| zu den schneebedeckten Höhen, oder die schäumende Brandung auf dem grünen Rücken des Ozeans schaut, oder ob es sich in die Tiefen eines liebeerfüllten Menschenherzens, in die Gefühle der Freude und Trauer, die Hingebung und Aufopferung, oder Entsagung und Resignation versenkt, überall begreift unser Herz nur Eins: den schaffenden, ordnenden, waltenden Gott, nur zu diesem erhebt es sich, nur in diesem fühlt es, durch was es gehoben und gestärkt, ermutigt und besiegt wird. Also nur die reine, geläuterte Gotteslehre, wie sie der Mosaismus lehrt, bewahrt uns vom Selbstmorde, sie wird das ‫ סם חיים‬in der edelsten Bedeutung des Wortes; denn die Lehre, die nicht rein das Herz wie Sonnenschein erfüllt, erfreuet, erhebt, sagt Fr. Rückert, kann nicht vom Himmel sein, oder wie unsere Rabbinen sagen: ‫( יראת ד’ טהרה זה הלומד בטהרה‬bYom 72) 72

II. Wozu bedarf es einer religiösen Form der Erkenntnis?

9. Religion und Theologie: Joseph Silverman (1896) 1

|259| The world is in dread of theology. To most men the sole functions of theology seem to be the enslavement of the mind and the oppression of those who refuse to submit to such mental thralldom. Theology seems to be master and persecutor, tyrant and executioner. Theology separates men into religious sects and engenders personal strife and animosity. Though we live in a more liberal age, we cannot forget the bitterness of ancient theological disputations and the dire persecutions and inquisitions to which they gave rise. Even at this day argumentation regarding ecclesiastical questions is not free from turbulence of spirit and personalities, and lacks that calmness and equanimity which should be diffused about converse and discussion in polite society. Even at this day theology is so deeply rooted that it can, with difficulty only, be amended, that it cannot be dislodged. Though theology has appeared to most people as an ogre, they still cling to it. Despite its forbidding countenance, they still warm to it. Its very repulsiveness seems to have an attraction. Its dreaded aspect, its severity is due to its intrinsic worth and to the necessity of guarding it. Theology must exist. |260| Its existence is not only imperative, it is inevitable. Theology has its raison d’etre even as much as religion; it is the very basis of the latter. No theology: no religion. Theology is not artificial, was not made and imposed altogether upon an unsuspecting world by priest or prophet. It has its natural beginning even as have chemistry, botany, etc. These sciences exist because there are facts in nature, the knowledge regarding which has been classified and systematized. There exists theology, because there is one Great Fact in the universe regarding which we have systematized our knowledge. There is theology because there is God. Theology has therefore a natural beginning, since it is the mind’s conception of God. And as the mind is not stationary, so theology must change. It is an evolution. The evil of which men complain, the ogre part of theology, lies not in the thing itself, but in the men who have misunderstood, misrepresented and deformed it. They were so thoroughly convinced of the value of theology, and of its necessity, that they gave to it a fixed form and opposed every change. They overlooked the facts or did not know, that by giving theology any particular and fixed form they in reality deformed it. Theology, being a product of the mind, must grow with it or else its form will not correspond to its parent. We are familiar with the dwarfish appearance of many a child whose growth

1

[Silverman, Joseph, Jewish Theology. In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 259–269]

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Joseph Silverman (1896)

has been stunted, while its parent developed physically and mentally. There are also social dwarfs, governmental deformities, religious and theological pigmies wherever society, government or church has not kept pace with the mental growth of the age. Every fixed creed of to-day will be a dwarf to-mor- |261| row. Every synodical edict of yesterday is to-day a deformity. Over night the mind that gave it birth has stridden far ahead. No wonder, then, that the creeds that were formulated centuries ago, and to which nothing has been added or taken away, seem like dreaded apparitions of the night, like demons of another world, like ghosts of some dead inquisitors. They are the theological scarecrows that frighten our young men away from the religious seminaries and alienate our thoughtful men and women from the churches, and torment the days and nights of conscientious ministers. Not theology, but its fixed forms, created the estrangement between itself and advanced minds. The ironclad creeds forcibly separated men into sects, and like vexed boundary lines became the cause of war and of bitter cruel persecution. In Judaism there is no room for persecution, partly because it is a religion that preaches and practices love of fellow-men, but especially because it has nothing by which to excuse persecution, nothing that is so fixed that it can form the basis for heresy trial, excommunication or anathema. A Jew is born, not made; that is, he is born, not in a physical but in a spiritual sense. He is born with a mind that can appreciate the existence of God, with a soul that realizes itself to be a part of the Universal Soul, with a spirituality that is an image of the Deity. The more this mind grows, the more is the conception of God elaborated. A Jew is not made in the sense in which I have seen converts made, that is by studying a creed by heart, reciting it before witnesses and being sprinkled with water which has been blessed with some incantations. A Jew is born spiritually and reborn each day as long as mental development is possible. |262| Creed has never been obligatory in Judaism. Our theology is a philosophy of the universe, of human and divine life which must be understood and known. Merely to assent to certain doctrines does not, in a strict sense, constitute a Jew. We have in reality no catechism except for convenience. Every man must make his own system of theology out of the knowledge which he has. Religion must come from within, and not from without. Blind faith is mere superstition. To say, I believe in God, Providence, reward and punishment, in immortality because my father, teacher, priest or prophet has believed in the same doctrines, is not religion. Such a faith does not constitute belief in God, but in another’s report about God. To believe in God one must know God, must have comprehended Him by His manifestations in the universe. That is the first desideratum of Jewish theology – knowing God. Theology means knowledge of God. The Scriptures tell us: »Thou shalt know this day and consider it in thine heart, that the Lord, He is God.« The Psalmist says: »The beginning of knowledge is the reverence or fear of God.« In the book of Isaiah (xliii, 10) we read : »Ye are my witnesses and my servants whom I have chosen, saith the Lord, in order that ye may know and believe me and understand that I am He – before me there was no God formed and after me there will be none.« In fact, man is not commanded, in the Bible, to believe. He is only enjoined to study, understand and know. The so-called ten commandments are not altogether commandments, but rather ten principles, ten words as the Scriptures call them. They do not command belief in God, but 76

Religion und Theologie

merely declare that there is God, the same God that brought Israel out of the land of Egypt and the house of bondage. |263| Jewish theology, being dependent on knowledge and being as progressive as the mind, cannot be cast into fixed moulds. Many have tried to formulate a Jewish creed, and failed. Even the notable efforts of Maimonides gave no universal satisfaction. His thirteen articles of faith have for us merely a historical value showing one particular stage in the development of Jewish theology. It is of constant interest to know that his articles of creed specified belief in God as Creator, His unity, spirituality, eternity, the worship of Him alone, the authenticity of prophecy, – the distinction of Moses from the other prophets, the law of Mosaic origin, the immutability of the law, God’s omniscience, reward and punishment, the Messiah – resurrection and future life. Some Jewish philosophers increased the number of these articles, while others reduced them to as low a number as three. But there was never agreement as to whether these three doctrines were revelation, reward and punishment or creation, omniscience and Providence or God, revelation and immortality. Some deny reward, others revelation, and still others the immutability of God’s law. There is no agreement as to a fixed creed in Judaism. All are agreed, however, that the principle »There is God« is the foundation of Jewish theology. God can not be defined in set terms and phrases. The Bible merely postulates Him, accepts Him, as an axiom. The Bible merely states »In the beginning God created heaven and earth.« »The heavens declare the glory of God and the expanse tells of the works of His hands.« There is no attempt in the Bible to demonstrate the existence of God – and no expectancy is expressed that man will ever reach a perfect knowledge of Him. The Scripture is quite plain in regard to man’s in- |264| ability to fathom God, in saying that God declares to Moses, »Thou canst see me from behind,« – that is, know Him by His manifestations – »for no man can see my face and live.« It is this very feature of Jewish theology which requires a study of God in His works and manifestations as a condition for knowing God that makes our theology distinctively Jewish. It can never be narrow and never lead to bigotry and intolerance. It is the natural enemy of ignorance and the friend of all learning. It courts wisdom and welcomes every science, philosophy and criticism. It grows as the mind expands. Just as in climbing a mountain our horizon widens in proportion as our plane of vision becomes higher, so the older we grow and the wiser we become the truer and grander becomes our conception of Deity. Every new fact of history, every new experience in life, every new revelation in the world of matter by the means of science opens up new views of God and greater glories of His infinite wisdom, love, power and justice. The more we know of God, the more we realize the incapability of the human mind to comprehend Him and the insufficiency of human language to define or describe Him. »The heaven and earth cannot contain Thee, how much less this house which I have built,« says the sage in the Bible. How much less can the finite thoughts of man and his feeble tongue, interpret Deity. We have a God whom no particular name is able to connote. Whether you call Him, God, Lord, King, Creator, Love, Wisdom, Truth, Freedom, Justice, the Infinite and the Eternal, the One, spiritual, omniscient and most holy, or all of these names together, you cannot fully express our conception of Him. The finite cannot wholly grasp the infinite, the im77

Joseph Silverman (1896)

perfect can only approximately reach |265| the perfect. It is vain to attempt to imagine God or fully represent Him in highest diction of prose or poetry. »Who is like unto the Lord our God that hath His seat on high, that humbleth himself to behold the things that are in heaven and in the earth.« (Ps cxiii.) »I dwell in the high and holy place (says God) with Him also that is of a contrite and humble spirit (Is. lvii). Not in the wind was the Lord, neither in the earthquake, nor in the fire, but in the still small voice (compare I Kings xix, 11–13). No human reason or expression can reach infinite heights and depths as does God. Jewish theology is unique in this supremely lofty conception that surpasses expression. It is an effort of the mind to fathom the mystery of this universe – of man and of his relation thereto. Here is this mysterious, intricate universe, this daily panorama of natural phenomena, in the heavens, on the earth, in the seas, and in the depths of the earth – all created and governed; though seemingly independent, yet showing harmony, design and purpose. Here is man just as wonderful and intricate, and as inexplicable. Jewish theology says there is unity in creation, and unity in man and that there is an intimate relation between man and all creation which science itself can prove. Whatever exists must have had a cause. There must have been a first cause. Whatever exists in the effect must have in some form or mode existed in the cause. The unity in all creation and in man and between the two – a unity which is manifested by design, harmony and purpose – must be the result of One supreme Creator. God is the creative unifying spirit in man and all the universe. Whatever we comprehend in man as spirituality must be the image of God. This spirituality manifested in thought, will, free- |266| dom, love, mercy, justice, must exist in infinite quality and degree in God. This Deity means life, power, intellect, freedom, love, mercy, justice, etc., infinite and eternal. Life eternal means immortality, divine love, mercy and justice, means reward and punishment; divine wisdom means revelation and inspiration. God as unity is the great bond of force that unifies creation and the bond of love that unites mankind. »This Jewish idea of God eclipses any and every conception of Deity that has ever been advanced.« Science may speak of the Unknown and Unknowable, Judaism believes in a God who has revealed something of Himself and is constantly unfolding more of His nature. It is our duty to read the revelations of God in the stars and rocks, in the earth and in the sea. We can know much of God by his manifestations – by studying His laws in the world of matter and of man as well as in the spiritual world. We can know God through our own soul, through our own likeness with Him in spirit, through our conscience and our consciousness. Modern science with its doctrines of the conservation of energy and the correlation of forces, comes very close to the unity of God, of man and of creation. This unity in terms of science means the one final element and force that will be found to underlie the universe. In aesthetics this unity is translated into blending of colors, in music, into harmony of sound, in architecture, into symmetry. In chemistry it means affinity; in ethics, the universal brotherhood; in religion, the common fatherhood of God; in statesmanship, the universal republic. In comparison to this Jewish theology, the doctrines about God that other systems have taught are vastly inferior. Zoroastrianism teaches a Ditheism, or belief in two co78

Religion und Theologie

equal gods: Ormuzd, the good, and Ahriman, the |267| evil, who are involved in a constant conflict. Brahmanism maintains that there is but one reality, the Spirit, absorption into which is the highest good. This system tended towards pantheism and led to an ascetic life. Buddhism is a reaction against this extreme and one-sided spiritualism, and became equally as extreme and one-sided an advocate of naturalism. It lost sight of the Creator in its regard for the tendency of events and the invariable laws that controlled them. Confucianism reverses the past, teaches a prudential morality, i. e., obedience to the proprieties and conventionalities of the times. It is eminently practical, but imperfect because of its atheism. The religion of the ancient Greeks consisted mainly in the deification of human nature; the creation of gods out of the human qualities. These gods were supposed to inhabit Mt. Olympus, revel in feasting, and, in the intervals between their feasts, to rule the world. The religion of Rome was similar to that of Greece, with the difference that the mythology of Greece was poetical and romantic, while that of Rome was prosaic and more identified with the ordinary affairs of life. Thus, for instance,« the Romans had a god who was charged with the care of bakers’ ovens, and another who looked after the welfare of Roman coin. In the religion of the ancient Egyptians God appears in every phenomenon of nature. He is not, as in Brahmanism, a unit, but divided and parceled out in every planet, animal and form of nature. While the Brahm represented the spirit world, the God of the Egyptian was the material world worshiped under the form of a polytheistic idolatry. Mohammedanism teaches the worship of one God as the supreme will, but surrenders man to an irrevocable fate to which he must submit. All these various theological systems emphasize only |268| one or the other side of the great questions before man. They all recognize the divine element and find it either wholly spirit as the Hindu, or wholly matter as the Egyptian, or wholly natural law as the Buddhist – or they deify man as the Greeks and Romans, or lose sight of man as the Mohammedans, or else involve us in an endless struggle as the Zoroastrian, making religion a battle instead of rest and peace, – or lead us into atheism as did Confucius. Christianity tried to remedy these defects by a medium partly God and partly man to represent what each of the religions had or omitted. As the theology of the so-called polytheistic, pantheistic or heathen religions is inadequate, so also is Christianity. We have no room in our theology for a medium between God and man. The relations between God and man are direct, and cannot, by proxy, be turned over to another. Man is responsible to God alone and God can only act upon him directly. The efficacy of prayer depends upon this direct communication with God. As our relation to the universe is direct so must also be our relation to God. This is another aspect of God’s unity, omnipotence, omniscience and immutability which has never been fully understood by the heathen or Christian world. Any medium between God and man must necessarily, by so much, weaken God’s influence and curtail His omniscience and omnipotence. God has sent no special vicar to earth, commissioned no church to enslave the world, and does not divide his powers of the dispensation of justice with any mortal. God is all-powerful and self-sufficient. Unitarians who have rejected the divinity of Jesus arrive at a monotheistic conception indirectly, through a negation of the Trinity. Judaism is based on an affirmation of the unity of God. Judaism is the first |269| and only truly 79

Joseph Silverman (1896)

monotheistic religion, minus every taint of polytheism and heathenism. To surrender one tithe of it would be untrue to a noble ancestry that fought and bled for the truth, would be unfaithful to the covenant of our fathers who, at Sinai, pledged for us that we will hear and do, i. e., that we will become the banner bearers of the One God, a kingdom of priests to teach and convert the world. Is our mission ended? Is the world converted? As long as there is a heathen altar on the face of the earth, as long as men bow down to idols, as long as children are thrown into the Ganges and men hurl themselves under the Juggernaut, as long as men worship gods of stone, wood, silver or gold, as long as the church and state are not everywhere separated, as long as men seek to impose their particular theologies on the world, by sword, fire or ballot box – so long must we remain Jews, a living protest against superstition and error, and a witness that God is our Lord, that God is one.

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10. Religion und Atheismus: Adolph Moses (1896) 1

|223| Time was – and that time does not by any means belong to a remote past – when atheism was regarded as the most heinous crime of which a human being could render himself guilty. To be accused of atheism meant to be dragged before the tribunal of the state, as was done in the days of antiquity, or before the bar of an ecclesiastical court, as was the practice during the Middle Ages and for nearly two centuries after the Reformation, there to be arraigned as the worst of criminals, compared with whom even a murderer seemed to be an angel of innocence. If convicted, and an atheist was rarely acquitted, he was condemned to die a felon’s death. The curses of the community followed him to the place of execution. No tombstone was allowed to mark his resting-place. One suspected of atheism was shunned like a leper, and hated as if he were a fiend incarnate. Yet how many glorious champions of truth, how many path-finders of humanity, how many saints of the earth, whose noble lives were the best indications of the belief in a God of holiness, have been persecuted with merciless fanaticism as atheists, as the worst enemies of the human race! The Greek philosopher, Anaxagoras, who taught the profoundest of all religious doctrines, that the universe |224| was shaped into purposeful »harmony by an All-wise and Almighty mind, being accused of atheism was thrown into prison, from which he secretly escaped and then, fled from Athens in hot haste. Even his powerful friend Pericles could not protect him against the suspicion and the hatred of the masses. Socrates, the wisest and most pious of all Greeks, whose philosophy marks an epoch in the history of the human mind, and whose life came to be to the Hellenic world, what that of Jesus is to Christendom, was condemned by an Athenian jury as an atheist, and in his 70th year compelled to drink the cup of deadly hemlock. Giordano Bruno, on the 17th of February, 1600, was burned in Rome as an enemy of God. And yet that reputed atheist taught, that God is the unity of the universe, the universal substance, the one and the only principle, the efficient and final cause of all, the beginning, middle and end, eternal and infinite. Spinoza, whom Schleiermacher called »a God-intoxicated man,« he who ascribed real existence to God alone, declaring all finite beings to be mere manifestations of the Infinite and Absolute, was not only excommunicated by his own co-religionists, but was until recent times universally regarded, with horror and hatred as the worst and most dangerous of atheists. The Jews were loathed by the Pagans as a people that believed in no God. So utterly fallible and so baneful in its effects has the world’s judgment in all times and among all nations proved to be, as regards atheists and atheism. As a rule the so-called atheists of one age become the venerated religious teachers and spiritual guides 1

[Moses, Adolph, Who is the real Atheist? In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 223–232]

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Adolph Moses (1896)

of after ages. Those that perished amid the execration of their generation came to live transfigured in the mind and heart of later generations as types of an ideal humanity. |225| The fact of the matter is, no original thinker, no genuine seeker after truth, has ever been a real atheist. The alleged atheists simply differed more or less profoundly from the theology of those who passed judgment upon them. The Greek philosophers who were indicted on a charge of atheism did not believe in the Olympian gods, holding as they did monotheistic views. The Jews were hated by the heathen world as atheists, for the reason that they denied the existence of the gods of the Gentiles. Similarly the men that were hunted down and brought to an untimely end as atheists in Christian lands, only rejected certain dogmas, held by the established churches to be essential principles of faith, without which it was believed religion would be destroyed. Again, most scientists are reproached by over-zealous theologians with being atheists and teaching atheism. »You teach an atheistic scienceissen,« they cry. »You leave God out of your astronomy, your geology, chemistry, botany, zoologyissen and physiology. No mention is ever made in any of your writings of the Maker of heaven and earth.« Only blundering stupidity, going hand in hand with blind intolerance, can speak thus. It is not within the province of science to teach religion or metaphysics, to prove the facts of experience by referring them to the highest and last cause, to trace all phenomena back to the ultimate ground of existence. There is certainly no religious mathematics, there is no room for God in a treatise on geometry. The engineer who elaborated his plan for the Brooklyn bridge was not expected to start with the premise, that all the physical laws on which he based his calculations, measurements and adjustments, were perennial manifestations of an infinite, eternal and immutable power, that we worship as God. |226| It is the sole office of the investigator of nature to ascertain by conscientious observation and careful experiments all the knowable facts within the range of his experience, to arrange them in the order of their closer or remoter relationship, to find the bond of union which binds them altogether into a systematic whole, to discover the laws, according to which they live, move and have their being. It is the function of science to drive the notion of accident and caprice from her entire territory, to show every physical event as flowing of necessity from a preceding physical event as its cause, to demonstrate that no phenomenon in nature stands apart for itself, but forms a necessary part of the whole order of the universe, to connect by a chain of cause and effect whatever is or happens in the present with the remotest possible past of the heavens above and the earth beneath or the waters under the earth. Science is neither theistic nor atheistic. It is as little religious or irreligious as cooking, building, sewing, or ploughing. It deals only with what is within the ken of the senses, and its boldest conclusions and theories in the last resort go back to what the senses bear testimony to. Science proper has nothing to do with what is supersensual or beyond the reach of the senses. It does not meddle with questions relating to the origin of things, nor does it extend its inquiry to the ultimate ground of all being. It is exactly where science ends that philosophy begins. The subject matter of philosophy is the infinite and absolute, the eternal ground of all existence, the inscrutable power behind all phenomena, the cause of all causes, the beginning, the middle and end of all 82

Religion und Atheismus

existence that which alone is, was and forever will be. The existence of the Infinite and Absolute is to all systems of philosophy the highest and most certain of all truths. |227| The idea of the Eternal is incomparably more incontrovertible than the several finite things which we may touch, taste or smell. The Infinite is to philosophy the only true reality, while the finite is regarded by it as enigmatic, doubtful. And shall we decry these supreme philosophical ideas as rank atheism, because the philosophers prefer to call the eternal source and cause of all existence the Infinite and Absolute, instead of calling it by the name of God? The Hebrew name Yahweh, he that is, was, and will be, he that causes all being, corresponds exactly to the philosophical term of Infinite and Absolute. The philosophy of Spinoza, the best hated and calumniated of all reputed atheists, ought to be called, according to Hegel, acosmism, the doctrine of the nothingness of the world, while reality is ascribed to God or the Infinite alone. What is true of Spinoza holds good of all philosophers, from Tales down to Herbert Spencer. None of them was an atheist, popular prejudice and priestly fanaticism notwithstanding. »But have not your philosophers,« some might ask, »asserted over and over again, that we cannot prove the existence of God? Has not your master Kant used the gigantic powers of his mind to demolish one after another, all the time-honored proofs of the existence of God?« It is not in wisdom that you ask thus. It is because Kant and other thinkers of equal originality stood like Moses face to face with the Eternal and Infinite, that they wished to show that all theistic arguments are either untenable or insufficient. How can we prove that which is itself the proof of everything else, upon which all other truths hang, without which all knowledge would be vanity and a striving after wind? To prove means to trace back what is uncertain and doubtful, to what is certain and beyond a |228| doubt, to explain the unknown by referring it back to what is known, by showing it to be akin to what is recognized and understood. But this process of proving must at last reach a limit. We must finally arrive at something, a proposition or cognition, which we cannot demonstrate, because there is nothing beyond it, in which it might be included or to which it might be linked. It is the supreme truth, the most certain and immediate of all cognitions, it is the foundation upon which all other verities rest, and without the recognition of which all truth vanishes. It can neither be proved nor does it require proof. »The idea of God or the Infinite is this most general truth, which cannot be reduced to a more general one. It is the deepest truth to which we can get. It cannot be explained, it is inexplicable, unaccountable.« But what of materialism, is it not atheism? Are there not philosophers who derive all life from the lowest to the highest from matter and motion, and deny the existence of mind or anything akin to mind in the universe? My answer is, no serious thinker in our days holds such views. Materialism has been refuted and exploded as a theory of the universe. It does not account for the existence of mind in man and animals. How can mind, which is absolutely different from matter and motion, be the offspring of matter or the child of motion? We can by no effort of thought conceive how matter and motion could be changed from what they are and be transformed into consciousness. It is simply unthinkable. And if all matter is believed to have an inner side to it, to be endowed with the qualities of feeling and the dim germs of thought, then it is no longer matter, but something else, 83

Adolph Moses (1896)

something higher. From whichever point of view we look at it, philosophical atheism turns out to be |229| a mere fiction, a mere delusion of theological zealots. But who are the real atheists? They whose conduct belies their belief in the existence of God, whose life forms a glaring contrast to the idea of God. The belief in a God is not simply the highest and most certain of all truths, it is also the greatest and most potent moral idea. The idea of God implies the idea of divine perfection and absolute goodness. God and goodness are synonymous, interchangeable terms. If we believed that God was not goodness, we might fear Him, but we could not adore Him. A good man would appear to us more worshipful than He. Religion and philosophy agree in holding that morality is the highest manifestation of the infinite in and through the soul of man. Whatever we may think of its origin and development, as it is, it doubtless is the most glorious incarnation of the inscrutable Power, of the Universal Self. To believe in God does not mean that we simply allow that He exists, it means that we strive to walk in the luminous footsteps of His holiness, to walk in the ways of His justice, truth and mercy. Every virtuous action is a true act of worship. To curb our passions in obedience to the laws divine engraved upon the tablet of our hearts is the grandest homage paid to the idea of God. To smite and overthrow the vaulting-instincts of selfishness in order to serve the common good of all, is the strongest proof that a God of goodness inspires the breast of man. He is an atheist who professes to believe in God but whose deeds put his faith to shame. He who declares that he considers the Ten Commandments a revelation of God and yet violates one and all, he is the real atheist. He who acknowledges that we should recognize no other God beside the Eternal, and yet worships his own poor self as the highest being and places his own interests and |230| pleasures above the highest interests and aims of humanity, he is a real atheist. He who perjures himself, who swears a false oath or utters lies to obtain profit or gain favor, he does practically deny God, he demonstrates that he does not believe in Him »that will not let him go unpunished that taketh His name in vain.« Whoever fails to honor his father and mother as the representatives of God on earth, whoever, in heartless selfishness, neglects his aged parents and refuses to surround their declining years with blessings and comforts, he is an atheist, though he daily bend his knee in adoration to Him and sound His praises in the midst of the assembly. He that makes of himself a slave of Mammon, who in his greed to amass wealth, lets the higher powers of his mind and heart run to waste, verily ho is an atheist; he does by his conduct prove that he does not believe man to be a child and image of the Most High, destined to pattern his life upon that of divine perfection. He that defrauds his neighbors in any matter great or small, who uses false weights and false measures, is an atheist, he does not believe in a God that hates deception and injustice. He is an atheist that deprives the toiler of his wages, and takes away from the needy the fruit of his labor. That man is indeed an atheist, who robs the substance of his fellow-men by violating the laws of the land, or by bribing legislatures to enact wicked laws to favor his iniquitous schemes. Whoever sacrifices duty and conscience to his passions, is a rank atheist. The priest at the altar is an atheist, the teacher of righteousness and faith, whose heart burns with the unholy fire of lust. Though he make many genuflections and lift his eyes in prayer to Heaven, he does deny God in his sinful soul. All those were real atheists, who persecuted 84

Religion und Atheismus

their fellow- |231| men on account of their faith, who tortured and murdered the children of God in the name of God. Torquemada and Arbenas were atheists, in spite of the fact that they scourged their bodies and sang many litanies in honor of their God. That ruler is an atheist and an enemy of God, who grinds the faces of the poor and needy, who oppresses men on account of race and religion, who deprives human beings of the right to earn a livelihood, who withholds from them the means of acquiring knowledge and leading the lives of human beings. The Czar of Russia is an atheist, although he is at the head of the National Church; his wicked counselors deny God, because they rebel against the laws of divine justice. He is an atheist who calls darkness light and evil good, who praises the despot, that drives mothers with their babes out of their homes in mid-winter, and causes many infants to die of cold and starvation. The irreverend Dr. … is an atheist, though Sunday after Sunday he cuts capers in his pulpit, and calls himself the servant of God. The God of truth and justice is not in his heart, else he could not call a tyrant a benefactor of his people, who causes infinite woe and misery throughout the length and breadth of his land. All those teachers of religion are atheists, the Stoeckers and the Rohlings, who on Sundays preach from their pulpits, »Love thy enemy as thyself,« but as soon as they step out of their church, preach and practice hatred and malice, spread calumnies and baneful falsehoods, and excite in the breasts of the masses vile and blood-thirsty passions. Whoever holds that a man can be religious without trying to be absolutely just, truthful and merciful toward all men, denies and blasphemes God. Whoever |232| treats his fellowmen with contempt, and deems them unworthy of associating with him on account of race or religion, is an atheist, because he practically denies that all men are children of one Heavenly Father, that loves them all and whose majesty resides in them all. It is on account of such practical atheism that the earth mourns and is full of desolation. It is on account of such practical atheism that the cries of the depressed and down-trodden are heard. Such atheism is the parent of infinite woe and misery. Such practical atheism has drenched the earth with the tears and the blood of the innocent. Alas, how many are entirely free from practical atheism? Ministers and laymen, men and women, Gentiles and Israelites, one way or another deny God in their conduct. Oh, let us not glory in the religious doctrines we hold, let us not boast of the principles of faith, which we profess. By our fruits alone let us prove that we believe in an all-just, all-wise and all-merciful God. Let us gird ourselves with strength and strive to establish the kingdom of God, the kingdom of righteousness and love on earth. Let us endeavor to make our lives symbols of the perfection of God.

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11. Religion und Moralität: Alexander Rosenberg (1884) 1

|59| Der kühnste und tiefste Denker der deutschen Philosophenwelt, Immanuel Kant, stellt folgende Definition auf. 2 »Religion ist (subjektiv betrachtet) die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote. Diejenige, in welcher ich vorher wissen muss, dass etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen, ist die geoffenbarte Religion: Dagegen Diejenige, in welchen ich zuvor wissen muss, dass etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann ist die natürliche Religion oder Moralität«. Aus dieser philosophischen Erklärung folgt mit logischer Notwendigkeit: 1. dass die Wesenheit der geoffenbarten Religion mit der Wesenheit der Moralität identisch sein muss, also das Ziel der einen auch das Ziel der andern ist; 2. dass das Kriterium der Wahrheit und Wertschätzung einer Religion in dem ethischen Gehalte liegt, den sowohl ihre Geschichte, d. h. die Lebensentwicklung und Lebensführung ihrer Träger, als auch deren Zeremonien und Satzungen bekunden. Der große erziehende und veredelnde Gedanke bildet mithin die Seele, den ewigen göttlichen Genius der Religion, 3 ohne welchen sie keine Lebensfähigkeit und keine Lebensberechtigung hätte, weil sie ohne ihn nicht zu ihrem heiligen Ziele, nicht zur Ethik gelangen könnte, welche allein die Universalität einer einzigen religiösen Lehre für die ganze Menschheit ermöglicht. Und die Erreichung der Universalität ist doch der eigentliche Beruf jeder Wahrheit, also auch der religiösen, da es zwei religiöse Wahrheiten nicht geben kann. Die mannigfaltigen Satzungen und Zeremonien hingegen bilden den Körper der Religion, die dienenden Organe der ethischen Idee, welche sie durchleuchtet, beseelt und der Weihe des Göttlichen teilhaftig macht. Wie nun der Körper ohne Seele tot, die Seele ohne körperliche Organe latent wäre, und erst die harmonische Verbindung beider das tätige Leben bewirken kann; so wäre auch die Religion ohne Ethik starr und leer, die Ethik ohne religiöse Formen, ohne Gebote und Verbote, ein unfruchtbares Ideal, eine theoretische Schwärmerei, die das praktische Tun und Treiben des pulsierenden Völkerlebens unberührt lassen müsste. Erst die innige und sinnige Verknüpfung beider, indem die Ethik zur göttlichen Religion wird in den Taten und Handlungen der Menschen, die Religion zur Ethik sich verklärt in den Gesinnungen und Motiven der Handelnden, macht die Identität der Religion mit der Moralität aus, auf welche Kant hindeutet, und drückt der Erstern das Siegel der universellen Wahrheit auf, welche allmählich, obgleich sie sich, wie die Nationalität, in ihren verschiedenartigen Formen Schranken setzt, zum Gemeingute der ganzen Menschheit werden wird. Denn wenn auch die Konfessionen ebenso, wie die Nationalitäten, die Völ1 2 3

[Rosenberg, Alexander, Die ethische Tendenz im geschichtlichen und gesetzlichen Teile der Bibel. In: Populär-wiss. Monatsblätter. 4 (1884), 59–62] Vgl. Kant 1879, 164–95. Vgl. Midr. Rabba z. Ex 30, wo diese Anschauung bildlich angedeutet wird.

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Religion und Moralität

kerverbrüderung zu einer einzigen friedlichen Menschenfamilie hemmen; so ist doch diejenige Konfession, deren innigstes Wesen, deren bestimmendes und gestaltendes Element die Ethik ist, entschieden dazu befähigt, ihren |60| partikulären Charakter des Ausund Abschließens zu überwinden und zu einer Universalreligion der Menschengesellschaft sich zu erheben: während eine Nationalität ihrem innersten Wesen, ihrer Sprache und ureignen sozial-politischen Lebensweise zu Folge niemals zur allgemeinen Anerkennung und Herrschaft gelangen könnte. Wenn wir nun auf die verschiedenen Konfessionen des Altertums unsern prüfenden Blick werfen, selbst auf das höher entwickelte Glaubensbekenntnis des altklassischen Griechentums, das von der Vergötterung der rohen Natur- und Tierkräfte, welche das ägyptisch-orientalische Heidentum kennzeichnet, zur Vergötterung des Menschlichen und Vermenschlichung des Natürlichen fortschritt; 4 so werden wir zur Überzeugung gelangen, dass ihnen mehr oder weniger jene zur Universalität führende Idee des Ethischen mangelt, sie daher ebenso einem schroffen, ja feindlichen Partikularismus huldigten wie die Nationalität, mit der sie fast untrennbar vereinigt wurden und deren Wohl und Weh sie im Entwicklungsprozesse teilen mussten. Das Ureigentümliche des Griechisch-Nationalen, z. B. die Ästhetik, d. h. die Bewunderung sinnlicher Schönheit in der Form, die in dem politisch-bürgerlichen Kultusleben des hellenischen Staates sich bekundet, bildet auch die Seele der hellenischen Religion, welche das Göttliche nur in der Anbetung des Schönen ahnt, nicht aber in der Verwirklichung des ethisch Erhabenen betätigt. Sie veredelt höchstens das nationale Griechengefühl für die sinnliche Schönheit zum Gefühle für die sittliche Schönheit des menschlichen Handelns; die »Kalokagatia«, d. h. das Ästhetisch-Gute, nicht aber das Ethisch-Reine, welches nicht in den äußern Handlungen, sondern in der Gesinnung und in dem Motive zur Tat liegt, erscheint ihr als das Ideal menschlicher Vollkommenheit, das sie jedoch nicht durch einen menschenverbrüdernden Gottesgedanken zu einem weltumfassenden Ideale erhebt, sondern engherzig und egoistisch, wie ihre Götter, bloß auf das Hellenentum beschränkt, weil das sogenannte Barbarentum keiner »Kalokagatia« würdig sei. Erst der weise und edle Sokrates, dem das Nationale vor dem Reinmenschlichen zurücktrat, der, wie kein Helene vor ihm, es laut verkündete: er sei nicht Athener, sondern ein Weltbürger, 5 setzte, aber im feindlichen Gegensatze zur griechischen Volksreligion, das EthischGute der allgemeinen Menschengesinnung weit über das Ästhetisch-Gute der äußern Handlung eines griechischen Patrioten, dem das Bewusstsein der reinen Menschlichkeit fehlt, daher er auch nicht tugendhaft sein könnte, 6 weil er jeden Nichtgriechen zu hassen und zu verachten sich für berechtigt hielt vom Standpunkte seiner Konfession. Die Philosophie des Sokrates war, wie Aristoteles bemerkt, 7 die Schöpferin der Tugendlehre, welche nicht bloß das untersuchte, was sinnlich und sittlich schön im äußeren Tun, sondern auch das, was wahr oder lügenhaft, was gerecht oder ungerecht sei in der menschlichen Gesinnung, in den Beweggründen zum Tun, auf welche der griechische Götterglaube nie4 5 6 7

Vgl. Munk 1849, I 9ff. Cicero, Tusculanae Disputationes V, 37. Xenophon, Memorabilia I. 1, 16. Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 13.

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Alexander Rosenberg (1884)

mals reflektierte, weil er eben von der ethischen Idee des Guten kaum eine Spur in sich hatte. Sokrates machte zuerst den kühnen Schritt von der griechischen Ästhetik zur menschlichen Ethik, und dieser Schritt musste für ihn zum Todessprunge werden, weil er sich dem innersten Wesen des religiösen und nationalen Griechen- |61| tums feindlich entgegenstemmte; weil er, wie Munk richtig bemerkt, 8 seine Reformen nicht an das historisch Gegebene, sondern an das Reinmenschliche knüpfte und seinen Jüngern das Aufgeben alles griechischen Partikularismus zumutete, dessen unerschütterliche Stärke gerade in der griechischen Religion wurzelte, welche mit der zähen Nationalität sich identifizierte. Darum konnte man ihn, den moralischen Weltverbesserer, den ersten Apostel der Menschheit, in welcher er das Griechentum wie jede andere Volkseigentümlichkeit aufgehen lassen wollte, vom national-hellenischen Standpunkte aus mit einer gewissen Berechtigung einen Verführer der Jugend nennen, 9 weil er sie für das Menschliche, nicht für das Hellenische begeisterte; einen Verächter der Götter, weil sein Begriff von einem geistigen Gotte der Menschheit den volkstümlichen Vorstellungen einer spezifisch-hellenischen Götterschar widersprochen hatte; einen Verdreher des Rechtes in Unrecht, weil ihm das moralische Gesetz mehr galt als das hellenische. Würde Sokrates als ein Sohn Israels geboren worden sein, so wäre sein Loos gewiss nicht der Giftbecher gewesen; sondern die jüdische Volkspietät hätte ihn in die Reihe jener denk- und redegewaltigen Männer erhoben, welche mit ihrem prophetischen Geiste gleichfalls die Schranken des jüdisch Konfessionellen und Nationalen durchbrochen haben, die aber dennoch von der ehrenden und bewundernden Volksliebe getragen wurden, weil die jüdische Religion, von ihren partikulären Sitten und Satzungen abgesehen, von vornherein die Anlage und den Beruf zur Universalität in sich barg durch den allumfassenden Gedanken des Monotheismus, und durch das aus diesem Gedanken notwendig resultierende sittliche Gesetz des göttlichen Willens, um den, wie um den einen Brenn- und Mittelpunkt, gemäß der mosaischen Lehre nicht bloß das israelitische Volk, sondern das ganze Naturund Menschenleben sich bewegt. Wenn daher – was höchst charakteristisch ist für den Unterschied zwischen dem jüdischen und hellenischen Volksgeiste – ein Sokrates darum als religiöser und politischer Verbrecher sterben musste, weil er den griechischen Zeus zum Gotte der Menschheit erhob, der nicht nur das Wohl und Heil der Griechen, sondern auch der Nichtgriechen will; 10 so wurde ein Maleachi ob der Verkündigung: 11 »fürwahr, wir Alle haben einen himmlischen Vater, ein Gott hat uns geschaffen,« als ein echt heiliger Sendbote Gottes von seinem Volke verehrt, weil gerade dieser Ausspruch den innersten Kern der jüdischen Religion bloßlegt, die altbelebende und altveredelnde Weltseele derselben, die reine Ethik, offenbart, zu welcher als zum Endzwecke der geoffenbarten Glaubenslehre, die eben dadurch sich von allen heidnischen Glaubensbekenntnissen un-

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Munk 1850, 246. Xenophon, Memorabilia I. 1,2; Xenophon, Memorabilia I. 4,1. Platon, Apologia 31–33. Mal 2,10.

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Religion und Moralität

terscheidet, 12 sowohl die Geschichte als auch die Satzungen des jüdischen Volkes hindrängen. Dies nun klar und objektiv vorerst aus dem geschichtlichen und dann aus dem gesetzlichen Teile der Bibel nachzuweisen, dass nämlich das innerste Wesen des geoffenbarten Judentums, gewissermaßen die urkräftigen Puls- |62| adern, welche seine Geschichte und Gesetze durchziehen, die ethischen Ideen des Guten und Erhabenen sind, sei der meinen bescheidenen Geistesanlagen entsprechende Versuch dieser literarischen Arbeit, die ich dem nachsichtigen Urteile der geehrten Leser in dem Bewusstsein empfehle, dass ich durch sie, wenn möglich, zum Verständnisse und zur Verherrlichung des so oft verkannten Judentums etwas beitragen möchte, was besonders in unseren Tagen der antisemitischen Seuche heiligste Pflicht eines jeden Juden ist.

12

Ich muss hier sofort bemerken, dass das Christentum, dessen Wesenheit auch unstreitig die Ethik ist, sich in Bezug auf das allgemeine Menschliche der jüdischen Religion anreiht. Denn abgesehen von seinen antimosaischen Dogmen, ist ja das Christentum, wie es Jesus wollte, nur eine Kopie des prophetischen Judentums. Nur hat dies letztere das göttliche Prinzip der Ethik, welches in der allgemeinen Menschenliebe gipfelt, niemals so grausam durch fanatische Bekehrungssucht verletzt, wie dies in manchen Kreisen der christlichen Kirche geschah.

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12. Religion und Humanität: Samuel Holdheim (1853) 1

|13| Die Religion – sagen wir – ist nicht nur eine bittere Notwendigkeit für die Bösen, sondern auch ein süßes Bedürfnis für die Guten; sie ist nicht nur eine Macht, die vor Unglück und Elend schützt und behütet, sondern auch eine Kraft, die Glück und Seligkeit schafft und wirket; sie ist nicht nur Zügel und Gebiss gegen den Aufruhr der Begierden, gegen die Empörung der wilden Leidenschaft, sondern auch Schmuck und Zier des Geistes, Wonne und Begeisterung der Seele, stiller, seliger Gottesfriede des Herzens. »Gürte das Schwert um deine Hüfte, o Held, dein Schmuck und deine Zier« (Ps 45,4). Von diesem Psalmwort – sagen die Alten – ‫בדברי תורה כתיב‬, es sei damit auch die Gotteslehre gemeint, die Religion, das Schwert des Geistes, die Waffe der Erkenntnis; die Religion, die dem Schwachen eine Stütze, dem Starken zugleich das Hochgefühl der Stärke ist, ein Kriegesschwert, das dem gewöhnlichen Streiter zur Verteidigung dient, dem Helden aber zugleich der schönste Schmuck, die ehrenvollste Zierde ist. Man redet vom Gewissen, von dem sittlichen Urteil des Guten und Bösen und meint damit Gott entbehren zu können. Für uns aber geht die Religion in dem Gewissen nicht auf, sind Religion und Gewissen nicht eins und dasselbe, sondern das Gewissen ist der Mond, der die Nacht unseres Seelenlebens erhellt, die Religion aber ist die Sonne, aus welcher er sein Licht empfängt. Der starke Donner und der zündende Blitz, die die Offenbarung des Herrn begleiten und ihr vorangehen, sie sind nicht Wirkungen des Mondes, sondern der Sonne. Das Gewissen ist uns ein göttlicher Funke, ein heiliger Dämmerstrahl des unendlichen Lichtquells, den wir Gott nennen, den wir außer uns und auch in den geheimsten Tiefen und Ahnungen unserer |14| Seele suchen und finden. Wie zur Klarheit der Sterne und des Mondes der Glanz der Sonne, wie zum Vorhof und zum Heiligtum das Allerheiligste sich verhält, wie der Buchstabe zum Geist, wie das in Stein gegrabene Gesetz zu dem in’s Herz geschriebenen, also verhält sich das Gewissen zur Religion. Darum ist uns auch das Gewissen, wie die Schrift es nennt, nur ein Bild der Religion, wie der Mensch ein Bild Gottes. Das Gewissen ist nicht nur die zitternde Angst und Furcht, der die Seele durchbebende Donner im Anblick des Bösen, sondern auch die unaussprechliche Seligkeit, der die Seele durchleuchtende Himmel im Anblick des Guten. Religion ist nicht allein die Stimme unseres Innern: das ist gut und jenes böse, und auch nicht die die Wahl des Guten oder Bösen begleitende Trauer oder Freudigkeit unserer Seele, sondern alles das und noch dazu der Glaube: es ist ein Gott außer mir und über mir, der in mir zu mir redet. Das Gewissen ist nicht die 1

[Holdheim, Samuel, Religion und Humanität. Am Wochenfeste (1853) In: Holdheim, Samuel, Predigten über die jüdische Religion. Gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Dritter Band. Dem Altmeister der jüdischen Kanzelberedtsamkeit, Herrn Dr. Gotthold Salomon, Prediger am neuen israelitischen Tempel zu Hamburg Hochehrwürden in Hochachtung und Liebe gewidmet. Berlin 1855, 13–19]

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Religion und Humanität

Stimme Gottes, sondern das Echo, das tausendfältige Echo der Stimme Gottes. Wie die Himmel die Ehre Gottes erzählen, wie die Sterne seine Weisheit verkünden, also erzählt der Himmel unseres Herzens die Heiligkeit, also verkünden die Sterne unserer Seele die Gerechtigkeit Gottes. Das Gewissen ist das in jedes Menschen Herzen unter Donner und Blitz sich offenbarende erste Wort: ‫» אנכי ה’ אלהיך‬ich bin der Ewige dein Gott«, der aus dem dunkeln Schattenreich des Nichts in’s lichte Dasein dich gezogen und die lichte Erkenntnis meines Wesens in deine Seele gepflanzt, du sollst keine fremde Götter haben neben mir, du sollst dir kein Bild und Gleichnis von mir machen um es anzubeten, sondern mit dem Lichte deiner Seele mich suchen, mit dem innersten Auge deines Geistes mich schauen. Ich bin der Ewige dein Gott und außer mir kein Gott, weder im Himmel noch auf Erden! Die Kenntnis des Guten und Bösen, die in keinem andern als in dem menschlichen Geschöpf sich findet, sie ist mein Werk; die Willensfreiheit, die allen sinnlichen Wesen versagt ist, sie kommt von mir. Du bist darum mein vorzüglich geliebtes Kind, ich dein einziger Vater; du mein köstlichstes Werk, ich dein Schöpfer und Bildner; du mein auserwähltes geliebtes Eigen- |15| tum, ich dein ausschließlicher Herr und Gebieter. Die Schöpfung ist mein Tempel, Alles was Odem hat, preiset mich den Herrn; du allein bist Hohepriester in diesem Tempel der Natur, dein Gebet ist ein lieblicher Duft auf meinem Altare, auf dein Wort verkünde ich Versöhnung! Ihr geliebten Menschenkinder, ihr sollt mir sein ein königliches Reich von Priestern, ein heiliges Volk! Das, meine Freunde, ist Religion, das ist Judentum, ein Dolmetscher der edelsten menschlich-göttlichen Gefühle; Judentum, das mit den kostbarsten heiligsten Gedanken zugleich die geläuterte Sprache und die reinsten Bilder dieser Gedanken der Menschenwelt offenbarte. Wir können, wir wollen uns nicht täuschen. Das sittliche Prinzip der Humanität wurzelt im Boden der Religion, ist die reife köstliche Frucht an dem Baume der Religion, aber es ist nicht die Religion. Religion ist das Bewusstsein, es ist ein lebendiger, heiliger Gott, der das sittliche Prinzip der Humanität gebietet, der uns befiehlt, ihr sollt heilig sein, denn ich der Ewige, euer Gott bin heilig. Ohne dieses Gottesbewusstsein kann ich vielleicht sittlich, aber nicht religiös sein; es fehlt meiner Sittlichkeit die starke Wurzel nach unten, die herrlichste Krone nach oben, es fehlt der Blüte die duftige Würze, der Frucht der süßeste Geschmack. Ohne Gott außer mir und über mir bin ich, ist mein Selbstbewusstsein der Gott, dem ich diene, der Mensch mit seinem sittlichen Prinzip der Humanität ein Gegenstand der Selbstvergötterung. Wie der zu Gott steht, welcher keinen Gott glaubt, aber das Prinzip der Sittlichkeit und Humanität zur Richtschnur seines Lebens hat, das wissen wir nicht zu sagen. Aber das wissen wir, dass er mit seinem Prinzip in der Luft schwebt und noch dazu der süßesten Wonne und der freudigsten Seligkeit entbehrt, die das Gottesbewusstsein in das menschliche Herz ausgießt. Auch wüssten wir nicht, wie einem Menschen, der ein Prinzip der Unsittlichkeit und der Inhumanität das seine nennte und dabei sich wohl und glücklich fühlte und dazu die Macht und die Klugheit hätte, sein gottloses oder unmenschliches Prinzip gegen alle Welt zu verteidigen und zu behaupten, wir wüssten nicht – sage ich – wie einem solchen |16| Menschen beizukommen wäre, da wir uns ihm gegenüber nur auf unsere innere Stimme berufen und stützen könnten, die bei ihm eine andere Sprache redete, für ihn also nicht vorhanden wäre. Man kann einwenden: es ist unmöglich, dass ein Mensch bei dem Prinzip der Un91

Samuel Holdheim (1853)

menschlichkeit sich dauernd wohl und glücklich fühle; sein lange betäubtes Gewissen wird endlich die Donnerstimme hören und erbeben und sein lange geblendetes Auge erschrecken, so die Erde unter ihm ihren Rachen öffnet, um ihn zu verschlingen. Aber woher diese Unmöglichkeit, was verbürgt sie? Ist der Mensch nur das vernünftigste Tier, warum sollte er nicht auch das klügste Tier sein können?! Uns ist freilich diese Unmöglichkeit eine Folge unseres Glaubens, dass diese Einrichtung der menschlichen Seele keine zufällige, sondern eine göttliche sei, dass der Mensch kein edleres, besser und zarter organisiertes Tier, sondern ein göttliches Geschöpf sei, dass ein Geist Gottes in dem Menschen wohne und der Odem des Allmächtigen ihn vernünftig mache. Doch, meine Freunde, ist unsere Absicht weniger, diejenigen, die unsern Gottesglauben nicht haben und mit dem sittlichen Prinzip der Humanität fertig werden zu können vermeinen, hier zu widerlegen, als vielmehr unsern religiösen Standpunkt uns selbst klar und einleuchtend zu machen, und heute am Stiftungstag unseres Religionsbundes vor Gott und der Welt Bekenntnis und Zeugnis abzulegen, dass ihre Wege und Gedanken nicht die unserigen sind, dass vielmehr, so hoch der Himmel über die Erde, wir uns von ihnen trennen und unterscheiden. Wir stehen auf dem Boden der Religion im biblischhistorischen Sinne des Wortes, auf dem Boden des jüdischen Glaubens an einen einzigen persönlichen Gott, der in uns und auch über uns waltet. Auch wir nennen das Gewissen eine göttliche Stimme, aber wir gebrauchen das Wort »göttlich« nicht als Bild, wie man die Bildersprache der heidnischen Götterlehre gebraucht, ohne einen ernsten Sinn damit zu verbinden, sondern in seiner vollsten Wahrheit. Es ist ein sich selbst bewusster Gott, der in der Stimme des Gewissens zu uns redet, es ist sein allmächtiger Ruf, dessen Widerhall wir in unserem Innern vernehmen, Fehlte uns dieser Glaube und |17| hätten wir nichts als die Aussprüche des Gewissens für uns zur Richtschnur unseres Lebens, wir könnten freilich auch dann ihnen nicht widerstreben, ohne Zwiespalt und Unfrieden in unserem Herzen hervorzurufen; aber wir müssten uns wenigstens bemühen, diese Stimme des Gewissens in uns niederzukämpfen, die uns mit ihren ewigen Vorwürfen die Freudigkeit unseres Lebens vergiftet, die fort und fort Tropfen des Wermuts in den Becher unserer Lust mischet, die unaufhörlich den Frieden unserer Seele zerstört; statt dass wir jetzt mit Freude auf ihren Zuruf lauschen. Ja, wir würden aus dem Gewirr des Zweifels und dem Gedränge des unseligen Kampfes nimmer zur Ruhe und zum Frieden mit uns selbst kommen. Ist es nicht ein Gott, der in uns zu uns redet, und ist der Mensch mit seinem Gewissen nichts anderes denn ein feineres Gewebe von Staub und Asche, ein zarteres Gebilde von Lehm und Erde, warum sollte die Klugheit nicht endlich Meisterin werden können der Torheit und Schwäche seines Herzens! Wie ganz anders, meine Freunde, beseligend und erquickend ist der Glaube, es ist ein lebendiger Gott, der die menschliche Seele geschaffen, ein ewiger Gott, der sie unsterblich geschaffen! Auch der menschliche Leib ist darum in edleren Formen und feinern Gebilden geschaffen, weil er die Bundeslade ist, die das Heiligtum einer unsterblichen Seele in sich schließt. Es ist ein Gott, der in allen seinen Schöpfungen sich enthüllt und offenbart, dass sie seine Ehre erzählen, seine Weisheit verkünden; aber nur dem Menschen hat er ein Ohr verliehen, dass er die Stimme Gottes in der sich ihrer selbst bewusstlosen Natur höre und vernehme, nur dem Menschen eine Seele gegeben, aus Licht gewo92

Religion und Humanität

ben, aus Geist gebildet, dass sie Zeugnis von ihm gebe. Es ist ein Gott, dessen Wesen Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, darum hat er der Seele, damit sie sein Bild werde, Selbstbewusstsein verliehen, freie Wahl gelassen, für das Gute oder das Böse sich zu entscheiden. Es ist ein gerechter Gott, der uns straft, wenn wir von ihm abfallen, uns belohnt, wenn wir ihm treu bleiben. Es ist ein heiliger |18| Gott, dessen Wesen Liebe, Gnade, Barmherzigkeit, Vergebung, Versöhnung. Dieser Glaube ist die Krone unseres Hauptes, der Schmuck unserer Seele, die Zierde unseres Geistes; hier die süßeste Quelle unseres Trostes, unserer Hoffnung, das heiligste Bedürfnis unseres Gemüts, die selige Befriedigung unseres Herzens! Was könnte uns frommen und nützen ein sogenanntes blasses Prinzip der Sittlichkeit und der Humanität, wenn wir einmal gegen dasselbe uns aufgelehnt und es treulos verleugnet hätten! Wer sollte die blutende Wunde unseres Herzens heilen, wer den Balsam des Trostes in das zerrissene Gemüt träufeln, wer den brennenden Durst unserer Seele nach Versöhnung stillen? Keine Macht in der Welt könnte uns vergeben und jeder der uns begegnete, müsste vor dem Kainszeichen an unserer Stirne erbeben und Schuldiger! uns entgegendonnern. Oder sollten wir uns selbst vergeben, uns selbst begnadigen? Warum aber denn nur das eine Mal, warum nicht immer so oft wir gesündigt? Hüten wir uns darum, meine Freunde, den festen Grund, in welchen die Weisheit von Jahrtausenden die starken Fundamente zu dem herrlichen Bau der Religion so tief eingesenkt, damit er dem Sturm aller Zeiten trotze, hüten wir uns, diesen Grund mit dem schlüpfrigen Boden zu vertauschen, wo ohne Gott, ohne göttliche Gnade und Barmherzigkeit, ohne Sünde und ohne Vergebung, ohne Kampf und ohne Frieden, ohne Opfer und ohne Versöhnung das sittliche Prinzip der Humanität als ein schönes, in die Formen der modernen Weisheit gegossenes und im goldenen Schimmer der Aufklärung erglänzendes Bild sich vor uns hinstellt und uns zuruft: ‫» אלה אלהיך ישראל‬Das deine Götter, Israel!« Nein, meine Freunde, auch wir halten fest an dem Prinzip der Sittlichkeit und der Humanität als an dem wesentlich praktischen Teil der Religion, oder richtiger, als an der nächsten unmittelbarsten Wirkung der Religion, und werden überall das Dasein der Religion leugnen, wo wir diese ihre Wirkung vermissen. Allein eben so wenig können wir um dieser ihrer Wirkung willen den starken Felsengrund, die Religion selbst, die Mutter und die Urheberin der Sittlichkeit und Humanität verleugnen. Auch wir wollen nur das Sittliche in der Religion, |19| aber nicht das Sittliche als Religion. Wir können und wollen nie und nimmer unsern Gottesglauben, unser Gottesbewusstsein uns rauben lassen, die bei aller Sittlichkeit und Humanität die Quelle unseres Trostes und unserer Seligkeit sind. Wir können, und wären wir rein wie die Engel Gottes, auf Gott selbst, den Urquell aller Reinheit und Heiligkeit nicht verzichten.

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13. Religion und Sittlichkeit: Anonym (1842) 1

|78| Die Hauptanlage einer Religion muss auf Sittlichkeit gehen; alle wahre Gotteserkenntnis muss zu Gottähnlichkeit führen, das liegt schon in ihrer Natur. Ein erhabenes, verehrungs- und liebenswürdiges Wesen von der Seite seiner Erhabenheit und Liebenswürdigkeit kennen lernen, und ihm ähnlich zu werden streben, ist Eins bei dem, nach Vervollkommnung strebenden und mit Nachahmungstrieb so mächtig ausgestatteten Menschen. Ginge Gotteserkenntnis nicht auf Sittlichkeit, so müsste sie entweder gar nichts auf den Menschen wirken, sich seiner Vernunft also nicht stark und tief genug eindrücken; und dann wäre sie keine wahre Erkenntnis, weil sie keine lebendige wäre, die bei dem Menschen nie ohne Wirkung bleibt. Oder sie müsste ihn Gott unähnlicher machen, und dies scheint ein Widerspruch zu sein, da der Mensch, wie gesagt, geneigt ist, einem erhabenen, liebenswürdigen Wesen sich in dem Maße zu verähnlichen, wie er dieses We- |79| sen, genauer kennt. Frei wird also die Religion dem Menschen ein reines Moralprinzip geben, damit er nicht zu leicht wähne, er sei schon ein sittlich-guter Mensch, und damit er einen Probierstein habe, woran er dem wahren Gehalt seiner Sittlichkeit erkennen kann. Ganz unentbehrlich scheint es aber doch nicht. Ist der Mensch zu einem gewissen Grad von Sittlichkeit gekommen: so hat sich das Moral-Prinzip schon in ihm entwickelt, denn woraus könnte es anders geschöpft werden, als aus dem gesunden, göttlichen Teil des Menschen, aus seiner praktischen Vernunft, oder wie man es nennen will, wenn es nicht etwas Positives sein soll? Die Grundsätze, wonach der Mensch alsdann handelt oder zu handeln strebt, brauchen nur abstrahiert und in ein allgemeines Prinzip verfasst zu werden, welches leicht geschehen kann, welches aber auch, geschähe es nicht, in praktischer Hinsicht, für einen solchen Menschen unschädlich ist. Und wäre er nicht bis auf diesen Grad der Sittlichkeit gekommen: so versteht er das Prinzip nicht, oder nimmt’s nicht an. Belebung dieses Prinzips, Darstellen seiner Anwendbarkeit auf einzelne Fälle, Hinwirken auf Alles, was den Willen des Menschen zu Befolgung desselben willig machen kann; Aufregen seines Muts und seiner Kräfte, um ihm den Gedanken möglich zu machen, dass er doch noch einmal jenem guten Prinzip zu handeln fähig sein werde; Angeben mancher Mittel, die ihm dies erleichtern könnten; das und mancherlei von der Art wäre wohl noch nötiger, als Darlegung und Entwickelung des Prinzips. Man erwartet es also von einer Religion, die hauptsächlich auf Sittlichkeit hinarbeitet, wie man weise Anwendung solcher Mittel von dem Vater erwartet, der sein Kind gut |80| haben will. Und so ergibt sich wohl von selbst, dass in einer solchen Religion sehr viel sein muss, was eben darum Sittlichkeit am Wirksamsten befördert, weil es nicht unmittelbar auf Bewirkung höherer Sittlichkeit berechnet zu sein scheint. Sie wird und muss Manches 1

[Anonym, Religion und Sittlichkeit. Ein Fragment. In: Allgemeines Archiv des Judentums. Bureau für Literatur und Kunst Berlin. Band 1/1842, 78–85, hier: 78–80; 82–84]

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Religion und Sittlichkeit

enthalten, was den Menschen bloß auf Erkenntnis seiner Unsittlichkeit leitet, was ihn auf ihren tiefen Quell aufmerksam macht, was Vertrauen und Liebe in ihm aufregt, und was diese Gesinnungen auf den würdigsten Gegenstand leitet. Alles was Licht über Gott gibt, insofern Er für uns erkennbar ist, jede Offenbarung einer Anstalt zu unserm Besten; jeder Wink auf Ausführung eines Plans, den wir nur unvollkommen sehen, muss ohnehin geneigt machen, dem sittlichen Prinzip zu folgen, wenn man es nun einmal mit dem Schöpfer unsers Wesens in Verbindung gedacht hat. Es wäre auch möglich, dass durch manche Anstalten in der Religion nur gewisse Hindernisse wahrer Sittlichkeit gehoben; nur auf Menschen auf einem niedrigen Grad von Kultur gewirkt, oder Menschen von besondern, uns eben nicht eigenen Bedürfnissen oder Berührungspunkten in Bewegung gesetzt werden sollten. Auf alle Fälle scheint es etwas voreilig, zu schnell darüber abzusprechen, dass eine gewisse religiöse Anstalt oder Offenbarung überall bei keinem Menschen auf Sittlichkeit wirke; besonders wenn nicht unglaubwürdig versichert wird, dass sie schon gewirkt habe. Auch das erwartet man von einer wahren Religion, dass sie Sittlichkeit mit Glück in Verbindung setzen, oder vielmehr diese schon existierende Verbindung nicht aufheben werde. Wahre Sittlichkeit kann nicht anders, als das wahre Glück des Menschen befördern, der offenbar zur |81| Sittlichkeit geschaffen ist. Sie ist nichts anders als Ordnung und Ruhe in dem kleinen Staat seiner Kräfte; Unterwürfigkeit unter das Gesetz, das ihm sein Gewissen diktiert; Übereinstimmung mit dem Ideal von Menschenreinheit und Menschenvollkommenheit, das der Mensch unleugbar in sich trägt. Nur der sittlich gute Mensch ist also der innerlich gesunde Mensch; und innere Gesundheit ist zum Glück so nötig wie äußere. Bei dem sittlichen Menschen hört aller innere Kampf auf; bei ihm ist alles in der zum Glück so unentbehrlichen innern Harmonie. Er allein kann ruhig in sich selbst blicken, ruhig sich selbst leben, ohne etwas in sich selbst zu betäuben, einzuschläfern oder zu töten. Nur in ihm sind die Kanäle offen, wodurch er echten Genuss empfangen, auf Andere ergießen, und sich dadurch neuen und veredelten Genuss verschaffen kann. Jede verkehrte Neigung verstopft einen Sinn für Glück. Der Neidische kann sich der Freude Anderer nicht freuen; der Wollüstling wird täglich stumpfer für geistigen, also den bessern Genuss; der Träge kennt nicht die hohe Freude der Tätigkeit; der Hartherzige liebt nicht und wird nicht geliebt. Wer das alles nicht ist, muss ja wohl glücklicher sein. Allerdings kann der Mensch unrein werden, wenn er seine Sittlichkeit dem Glückseligkeitstrieb unterordnet. Bloß um sein selbst, um Erfahrung seines Genusses willen den Grundsätzen der Sittlichkeit treu bleiben, heißt schon ihnen untreu werden; denn das Gute schließt auch den Egoismus aus, und will um sein Selbstwillen geliebt und getan sein. Bei dem Antritt des Wegs zur Sittlichkeit ist auch der Mensch noch zu kurzsichtig, um einzusehen, dass der |82| Weg zum wahren Glück nur durch das Gebiet der Sittlichkeit gehe, und dass jeder andere Weg ein Irrweg sei. Er könne sich also leicht durch den Schein verführen lassen, seinen Glückseligkeitstrieb auf einem andern näheren oder minder beschwerlichen Wege befriedigen zu wollen. Demnach müsste es Hauptangelegenheit eines wahren Sittenlehrers sein, den Menschen zu Sittlichkeit zu bewegen, ohne ihn durch sein Glück, als Folge derselben, zu spornen, oder er müsste ihm, wär’s möglich, dieses Glück von einer Seite zeigen, dass der Blick 95

Anonym (1842)

darauf, der Reinheit seiner Moralität nicht schade. Das Erstere möchte kaum angehen: bei dem Menschen, dessen Glückseligkeitstrieb noch ungeschwächt ist, wenn er von einem Trieb nach Sittlichkeit und Religiosität kaum mehr etwas empfindet, und das Letztere scheint schwer. Wenn man einem Kinde alles Lernen durch Genuss lohnt, so vergisst es leicht das Lernen über dem Genuss. Nur alsdann scheint es möglich zu werden, wenn man Mittel gefunden hätte den Menschen durch Selbstliebe zu leiten, ohne dass er wüsste, dass er dadurch geleitet werde. Ein Egoist, ohne es zu wissen, ist wohl kein rechter Egoist; wenn der Mensch glaubt, ohne Rücksicht auf sich zu handeln, so ist es für das praktische Interesse Einerlei, ob es ihm selbst Vorteil bringt oder nicht. Wenden wir diese Grundsätze auf die Religion der Israeliten an, so finden wir, dass ihre Hauptanlage auf Sittlichkeit gehe. Erwägen wir, dass die Gesetze dieser Religion alles Politische mit Religiosität verweben und dem Volke Gottesverehrung, Abscheu gegen sittenverderbliche Vielgötterei, Gerechtigkeit, Billigkeit, Reinheit, und Mensch- |83| lichkeit durch immer wiederkommende feste Anstalten predigen, dass jede Gesetzübertretung den Juden verunreinigte, dass er Gott für Alles danken, an Gott sich bei Allem und jeden Tag erinnere; jede ihm verbotene Unsittlichkeit wieder gut zu machen suchen; wie billig und menschlich er gegen Tagelöhner, Arme und selbst gegen Tiere sein musste; dass er auf die sinnlichste und eindringlichste Art an die Nähe seines Gottes erinnert ward, der Reinheit wollte; dass jene Gebote auf Liebe zu Gott und zu den Menschen gegründet wurden, worauf wohl nie ein politisches Institut gegründet ward, und auch schwerlich eines gegründet werden kann; dass die großen Männer dieses Volks so stark auf wahre Sittlichkeit, auf Reinheit des Herzens und des Wandels dringen: so wird man bald in jenen Quellen das Beförderungsmittel der Sittlichkeit erkennen. Ist man nun gar durch die Geschichte aller Zeiten und Völker aufmerksam darauf gemacht worden, in welcher genauen Verbindung Gotteserkenntnis, Gottesverehrung und Sittlichkeit von jeher gestanden haben: so leuchtet uns der Vorteil noch klarer ein, den die Sittlichkeit von den heiligen Schriften der Israeliten ziehet, in denen offenbar die Geschichte der wahren Gottesverehrung enthalten ist. Nach so manchen edlen, feinsittlichen Männern, die das Judentum gebildet hat, zu urteilen, ist auch eher ihr politischer Sinn zur Religiosität erhoben, als dass ihr religiöser Sinn zur Politik herunter gezogen worden wäre. Joseph, Moses, Samuel, David u. A. bestätigen dies. Die Quellen dieser Religion geben ein reines Grundprinzip an. Dies Grundprinzip ist: tue Alles, und unterlasse Alles, was dich Liebe zum Ewigen, |84| deinem Gotte, deinem Gesetzgeber, tun und unterlassen heißt. Wenig oder gar nicht brauchbar würde es hingegen sein, wenn uns von dem Willen, den Befehlen und Verboten Gottes nichts bekannt wäre. Der Mensch wäre dann wohl geneigt, sich einen Gott nach seinen Neigungen zu dichten, um zu wähnen, er handle aus Liebe zu Gott, wenn er auch aus der verkehrtesten Liebe zu sich selbst handelt. Aber der Wille dieses Gesetzgebers wird uns durch diese Quellen sowohl von der negativen als positiven Seite so bestimmt, dass Niemand, der sie kennt, mit Ehrlichkeit wähnen kann, er handle Gott zu Liebe, wenn er etwas Verkehrtes tut. Allem Eigennutz arbeitet dieses Prinzip offenbar entgegen; denn schon bei Liebe zwischen Menschen will man keinen Eigennutz, ob er gleich meist oder immer da ist. Jedermann würde sich dadurch gedemütigt fühlen, wenn man ihm bewiese, dass er aus bloßem Eigennutz 96

Religion und Sittlichkeit

geliebt würde, und jeder sich beschimpft halten, wenn man gegen ihn behauptete, dass er aus bloßem Eigennutz liebe. Ein Mensch von seinem sittlichen Sinn hält es gewiss für ein sicheres Kennzeichen einer tief gesunkenen Moralität, wenn sich Jemand in dem Urteil, als in einem Lobspruche gefällt, dass er auch bei Neigung zu Andern, ein eigenes Interesse habe. Wird ja darum die Liebe am allgemeinsten bewundert, die am uneigennützigsten erscheint; und ist nur eine Stimme über Jonathan, der so gern seinem David das Recht auf die Krone abtrat, und mehr als einmal sein Leben für ihn wagte. Wenn nun nach allgemeiner Menschenempfindung schon bei echter Liebe zwischen Menschen und Menschen kein Eigennutz gelten soll, so kann er noch weit weniger |85| bei der Liebe zu Gott gelten, der nur auf Reinheit der Gesinnungen steht, und sich nicht durch irgend eine Art von noch so fein verschleierter Eigenliebe täuschen lässt.

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14. Religion und Vernunft: Joseph Krauskopf (1896) 1

|292| Man is not worse than he has been, nor as bad. If we know more of evils done than our ancestors knew, it is because we have better means for knowing. A single electric wire stretching across our continent, a single cable spanning the ocean, will communicate, in one day, more news of crimes committed than could, in a year, all the carts and ships, all the riders and runners, a century or two ago. Yes, man is better than he has been, but truth also bids me to add, that he is not as good as he ought to be. That with all the progress he has made in the arts and sciences and liberties, with all the knowledge he has acquired of the curse and consequence of evil, with all the teaching that is being done on the benefits of right-living, the press must still dish up for us, at every morning and evening meal, such a revolting mass of crime, is a matter of serious concern. I am even of the opinion that it is a severer judgment on mankind of today to say, that it is not as good as it ought to be, than that it is not as bad as it was. The past had a better palliative for having been as bad as it was, than has the present for not |293| being better than it is. And the moralist has better grounds for complaint. When a farmer spends much labor and means upon the cultivation of a field, and finds that the yield from it is but slightly better than it was before he spent a wealth of work and money upon it, he feels more discouraged than he was at first. When a teacher expends much thought and patience and time upon the education of a pupil, and notes but very slight improvements, he feels disheartened over the poor result. Farmers or teachers of such experiences generally throw up their work, and direct their attention to things that promise more satisfactory returns. The wiser among them, however, persevere till they have studied out the disturbing cause, and, remedying it, obtain at last the desired result. This latter course must be that of our teachers of morality, if they would overcome the frightful amount of evil, which festers uncontrolled on the very surface of society, and which, penetrating its every artery and channel, poisons the whole system, down to its very life-giving, life-quickening centers. As one of these teachers, I have for some time past studied the question of modern evils, and traced the disturbing causes that prevent morality’s fullest growth and fruition. I have pondered on the unprecedented means at man’s command for knowing the difference between right and wrong. Never before have schools been so abundant and so well equipped. Never since the ken of man have the printing-houses and bookstores sent into 1

[Krauskopf, Joseph, Faith with Reason. In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 292–305]

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Religion und Vernunft

the homes of the people, from the highest to the lowest, from the most learned to the most simple, such vast supplies of books, magazines and papers of such an elevated moral tone, as now. Never since society exists, has man had as clear a |294| grasp of the unity of human kind, and of the obligation each individual member of it owes to himself, to his family, to his descendents, to his fellow-men, to his government, to humanity, as at present. Not even in the much-sung golden ages of the past has man had so inspiring a view of the grandeur of the universe, and of the marvelousness of the laws and forces and intelligences that pervade it, as he has now. And yet, unless my researches greatly deceive me, never before has man drawn, proportionally, as little for his stock of morality from the sources at hand as in this present era. Morally he is still diseased. He has risen from his sick-bed, only to hobble about, woefully plastered and bandaged, on crutches, with little hope of a speedy cure. I cannot ascribe ignorance as cause of his painfully slow recovery, – he knows more than ever before. I cannot attribute it to a greater sway of the lower passions, – he is further removed from the beast than ever before. I cannot assign as cause of it greater temptations to wrong-doing on account of greater poverty, – he is wealthier than ever before. I cannot account for it on the ground of greater restraint from right-doing – he is freer than ever before. I can ascribe his slow recovery to one cause only, to lesser faith in God, to a lesser belief that life is of Divine origin and has a Divine destiny, and that in the unfolding process of man’s spiritual life, every wrong will count, and every stain will taint. Had the rational faith of former times allied itself with our modern superior reason, it would long since have turned this vale of misery into a Paradise. Peace would have spread its golden pinions unto the ends of the earth. Swords would have been beaten into plowshares, and spears into pruning-hooks. Stand- |295| ing armies would have been scattered as husbandmen over the face of the earth. Wastes would have been turned into garden spots, and wildernesses into fertile fields. We would not have had the pampered rich to breed discontent, nor the starving poor to be tempted into crime. We would not have heard the weeping of the overworked, nor the lamentations of the underpaid. Arsenals would have been turned into churches, and penitentiaries into schoolhouses, and barracks into workshops. The love of God and man would have filled the earth, even as the waters fill the sea. But it is a different picture that surrounds us now. It is a picture of carnage on battlefield and in workshop. It is a picture of outrage in palace and in hovel. It is a picture of thievery in council-chamber and on the public highway. It is a picture of clubbing policemen, of law-defying lynchers, of murdering rioters. Nation stands in arms against nation. Class stands with drawn sword against class. Employers and employees have their hands on each other’s throats. Warship after warship, costing millions of dollars, is built to rot in the water, while for the eradication of the slums, in which thousands of innocent human beings are rotting away, and which menace and attack the health and lives of countless thousands of others, there is not a penny to be had. Fraud sits at the side of the magistrate, infidelity at the side of the oath-administering court-official, deception sits between friend and friend, between brother and brother, between husband and wife. Children with inbred disease point their finger of scorn at their parents. Hardy sons of toil, with 99

Joseph Krauskopf (1896)

starving wives and children at their heels, go from door to door in search of labor, only to be turned away, to have the dog set on them, till they finally land in a convict’s cell, or die a |296| suicide’s death. Women of fashion and luxury read of their sisters’ wants and miseries, near their very doors, and yet continue undisturbed their revels of extravagance. Men are so absorbed in their devotion to the God of Mammon as to have no eye, no ear for suffering humanity. A feverish thirst for money, power, fame, rank has so violently seized upon the masses, that, in their frenzied hurry to gratify it, honor, principle, integrity are trampled down as if they were so many weeds. The close student of human nature has little difficulty to trace the secret spring, which, through a thousand different fissures, makes its way, with ever-increasing force, to our life-centers, and there forms the noisome pools of our modern evils. Its name is Irreligion. Morality has lost its divine authority, duty its sanctity, sorrow and sacrifice their hope. People have thrust aside their God. To be sure, there are abundant churches, and frequent services, and large congregations. But many more attend to satisfy social requirements than real religious cravings. Often, when I see them gathered for worship, and observe their attitudes and attentions, I feel like putting the question to them which the queen put to Hamlet: »Alas! How is it with you That you do bend your eye on vacancy, And with the incorporeal air do hold discourse?« Hamlet, at least, saw a ghost; they see nothing of a supernatural kind. The brilliant light that science has suddenly turned upon them has dazzled and dazed them. The more the large end of the telescope has revealed of the marvelous handiwork of God, the more contracted has become the small end’s view of God Himself. The All-seeing Eye, of which the Psalmist |297| sang that it »slumbereth not, nor sleepeth,« is closed. »The twinkling stars no longer breathe a message of a yonder sphere. The sprouting buds of the early spring no longer kindle a hope of another sprouting in another world. The ray of divinity in the infant’s eye is no longer the fading hue of a celestial light that has preceded. The hallow light that shines upon the dying patriarch’s brow, no longer suggests that sunset here may mean sunrise elsewhere. Great, gloomy gates have been reared at the grave, and on them have been written the soul-deadening words: So far, and no farther! All there is of life is this side the grave. Beyond it there is nothing. Life is a bubble, puffed by the lips of chance into space, where it dances and glitters its brief moment, and then bursts into nothingness. Wise are they, who crowd into that brief moment the most of happiness.« And eagerly men accept this teaching. Happiness is their goal. If truth and right and honor and justice stand in the way of its attainment, why should these not be cast aside, when there is no God to see it, no God to render account to? It is the custom of many preachers, when they reach this point in their lamentations, to inflict a severe tongue-lashing on modern unbelievers, to whose doors they lay much of the responsibility for our modern evils. Ground for vexation to a godly man, I admit there is enough. But abuse is not the wisest method to rid society of godlessness. You can as little scold people into faith, as you can scold people into love. Unbelievers resent abuse. They 100

Religion und Vernunft

may listen to reason. My dealings with some of them have assured me, that most of them are more willing to have faith with reason than preachers are willing or capable of giving to them. I have enjoyed the confidences of some of |298| these decried unbelievers. I have heard them envy people of strong faith. I have heard them say : »Oh, if you could give me that trusting faith of some of the believers I know, that uplifting, strengthening, comforting belief in God, that abides the same in sunshine and in storm, in life and death, that sees Divine Love in the most cruel blow, and Divine Purpose in the most apparent accident, that sees the eye of God upon them in the light and in the darkness, and feels the guiding hand of God upon them in their every perplexity, and hears the approving or rebuking voice of God within their hearts, when they have done right or wrong; that faith, that bears the tortures of the sick-bed without a murmur, that exclaims with Job : ›Though He slay me, yet will I trust in Him‹ ; that faith that looks down into the grave without a shudder, and up into heaven without a doubt; give me that faith, make it tangible, reasonable, demonstrable to me, and you will make of me the happiest of mortals.« How wrong in preachers to censure men possessed of such yearnings after reasonable faith! Probably they have never been rent or torn by the piercing thorn of doubt or unbelief. Probably they have never sent forth from their sleepless pillow a despairing cry for the light and for the truth. I have felt that thorn, and I have cried that cry of despair. I have wrestled, like Jacob of old, through a long dark night, until at last the light dawned, until at last the cheering rays of the morning-star burst through the mists and clouds, wafting the divine message: »Thou hast wrestled, and thou hast conquered. Thy mind shall have peace!« It was a comforting message, but it was not sent until I had become clearly conscious of the limitations of human knowledge, of the duality of human nature. My faith secured a firm anchorage only after I had |299| fully grasped the truth, that knowledge is of two kinds, the demonstrable and the indemonstrable, that which can be measured and weighed, tested and dissected, and that which can only be felt, divined, that which wells up within us as inspiration, as prophetic instinct, as intuition, that which is a brain acquirement, and that which is an original soul-endowment. Man is a dual being. Part of him is material; the other and best part is spiritual. The one part is governed by the mind, the other by the soul. The one employs reason as a means of acquiring truth, the other exercises primary intuitive discernment. The reason compasses the realm of matter; intuitive discernment enters the sphere of the spirit. The one deals with the visible and the tangible, the other with that which eludes the grasp of the physical senses. The one arrives at its conclusions only after patient tests and experiments; the other reaches them by a single bound. The one studies the universe, observes therein design, harmony, law, intelligence, forethought, adaptation of means to ends, and postulates that some power different from any that are known, must have called it forth, and must hold sway over it; the other affirms, without the aid of telescope or microscope, or scalpel or reagents, that such a power exists, that it is a living, conscious being, which has created the universe, and rules it as well as the destiny of all that live and move therein. The one observes that life is not of human make, and that it is under a law of constant evolutionary progression, and, applying its canons of reasoning, concludes that man’s 101

Joseph Krauskopf (1896)

present imperfections foreshadow still higher development. The other asserts, at once and strongly, that life is a gift of God, and returns to God, to take up a higher form of existence, in another sphere. The one is perplexed by the myster- |300| ies that abound, by the happenings that are strange and unaccountable; the other declares them, without hesitation, to be the ways of Providence, to be the will and working of God, subserving divine ends. We somewhat understand how the mind obtains its knowledge, but how and when and where the soul acquires its endowments no man can tell. The soul seems to enter upon its existence dowered with these intuitions by its Divine Parent, even as the body enters life pregnated with hereditary characteristics of its human parents. It is an original endowment; and a universal one as well. The whole human family has an abiding faith in a Supreme Being governing the universe, and guiding the destiny of man, in the divine origin of life, and in its continuance after death. It is the greatest mystery and miracle of man’s psychic state. The mind cannot grasp it, much less prove it, and still less deny it. When we consider the feebleness of the human mind to grasp the origin and nature of things, the littleness of its knowledge, we begin to recognize a divine aid and purpose in the vast and bold sweep the soul takes, of the realm barred to our physical senses. God endowed the soul with faith to help the mind across the encircling ocean of mystery, which impotent reason cannot bridge. Five thousand years, at least, has the mind been at work, and in that vast stretch of time it has scarcely learned the A. B. C. of the most necessary knowledge. In that time it has scarcely learned to reason correctly, or to trust reliably to the testimony of its own senses. It has scarcely gotten beyond the elements of science. Its knowledge of the laws of life and health is still fragmentary. Of this, earth, over which it has roamed for tens of centuries, it has only a very rudimentary knowledge, and this |301| earth is but a tiniest speck in the countless systems of worlds, that spin with inconceivable speed in the infinitude of space. What progress could reason have made without the aid of faith! There is not a thing it undertakes to comprehend but that faith must yoke itself with it to help it out. One half of knowledge is faith; the other half is based upon it. Verily, God has given us faith to supplement the limitations of knowledge! To it, much more than to reason are we indebted for the advance of human kind. Man’s faith is mankind’s salvation. It must however be distinctly understood that the word Faith, as here used, does not stand for unreasoning credulity, for blind belief in the dicta of men, it stands solely for the acceptance of the intuitive discernments of our own souls; not for what we are told by the mouth of others, but for what is revealed to us by our own intuitions. Faith supplies the deficiencies of the senses. It is the complement of reason. Reason is verified observation; Faith is spiritualized intuition. Reason is the testimony of the mind; Faith is the witness of the soul. Reason is like the plodding of the talent; Faith is like the inspiration of the genius. Reason is the accumulation of the knowledge of the past; Faith is the prophecy of the knowledge of the future. Reason illumines the realm about us; Faith flashes its search-light beyond the unlit gates. Reason is like the glow worm’s cold and fitful light; Faith is like the hearthstone’s warm and cheering fire. Reason grasps the form; Faith clasps the spirit. Reason discovers the handiwork; Faith discerns the Master 102

Religion und Vernunft

behind it. Reason calculates and computes the forces and energies of things; Faith discloses the spring that moves them. Reason starts with facts and ends in belief; Faith |302| commences with belief, and, as Whittier so beautifully expresses it, »The steps of Faith Fall on the seeming void, and find The rock beneath.« »What of those who have not faith?« you ask. I am not so sure that they have it not. I believe that faith throbs in every breast. In some it is a glimmering spark; in others it is a blazing flame. In some it slumbers; in others it is actively awake. Where there is a mind to reason, there is a soul to spiritualize. It can never be so attenuated but that a thread will not remain. And as long as a thread remains there is hope. I have read, that, when the first cable of the suspension-bridge, that now spans the Niagara, was about to be laid, a thin thread was attached to a kite and both sent, on a favoring wind, to the other side of the river. By means of that thread, a heavier string was pulled across, and by it a heavier one still, and then a rope, and then a tow, and then the cable, and the other parts of that mighty bridge, that enables the people to pass in safety, from one side to the other, over the roaring cataract beneath. Let but those, who doubt or disbelieve, fasten the tiny thread of faith that lingers in them still, to the spiritual side of life, and gradually it will become stronger and stronger until it will grow into a mighty bridge, that will carry them safely, over the seething and hissing abyss of doubts and perplexities, unto the yonder peaceful shore. Oh, ye of little faith, why will you not turn the tiny thread of belief within you into a mighty cable, so that it may anchor you safely in that spiritual sea, where unbeliefs cease from troubling, and where infidelities are at rest? Do you not see, how, for the want of it, | 303| you are drifting compass-less, sail-less, rudder-less, on the turbulent waters, with a thousand gales of sin and vice and crime tearing and splitting you asunder? Do you not see how, for the want of it, society is deprived of the blessed fruitage of the best achievements of the modern mind? Have you not the proofs of the past that the ages of great faith were the ages of great achievements? What would the reformers and emancipators, the heroes and the martyrs, the discoverers and the inventors of the past have done, without a mighty living faith to steel their arms, to light their ways, to cheer their hearts, to buoy up their spirits in stress and storm? And with our mental superiority over the past, what might not our achievements be, were our faith correspondingly superior to the faith of the past, or even equal to it? Individually, too, greater faith would mean greater happiness. The divinity within us would cast a hallowed circle of divineness about us, into which sin could not set its foot, without the mind launching its eternal curse upon it. Duty would acquire the force of divine commands. Morality would stand for injunctions divinely graven on the tablets of our hearts. God would be seen and felt in the tranquil dome above and on the troubled earth beneath; in the thunder’s mighty roar, and in the mother’s peaceful lullaby; in the sun’s dazzling fire and in the spring-flower’s innocent blush, in the sigh of the oppressed, and in the groan of the oppressor; in the heroism of the martyr, and in the cowardice of 103

Joseph Krauskopf (1896)

the traitor; in the boldness of the reformer, and in the modesty of the maiden; in the ecstasy of the inspired, and in the shame of the offender. Sorrow would mean to us that the hand of God is but tightening the strings, that they might give forth sweeter music by and by. Death would mean to us only the end |304| of dying here, and the commencement of living yonder, the finish of our material preparation and the beginning of our spiritual development. It would enable us to lay our dear ones into the grave with a resignation as complete as that of that mother, who, over the coffin of the last of all her seven children dead, calmly said: »Here lies my seventh and last child. Here, too, lies the will of God. His will be done. He knows best.« It will enable us, in hours of extreme danger and alarm, when our every effort has failed, to commit our trust in Him who guides our destiny, feeling that all is not lost, as long as there is a God above us, – as that captain’s little daughter felt, when awakened in her cabin, in the dead of night, by a terrific storm, and when told that her father commanded the ship, calmly she replied: »Father is on the bridge, I am safe.« And even if the waters swallow us, it will enable us to say with the poet: »If my bark sink, ’tis to another sea.« Faith will not clear all our difficulties, nor answer all our questions. But it will clear enough, and say enough, to keep our hearts pure, our hands clean, our eyes upon our goal, and our feet upon the path leading thither. It will not shed full radiance here below, but, once within its sanctuary, through its divinely illumined windows it will admit sufficient light from without to make the daylight sweeter, and in the night it will flash out sufficient light from within to make the darkness brighter. Though reason has not yet opened our physical eyes to enable us to see what our soul divines, let us thank God for our intuitional discernment that helps us to construct a bark strong enough to sail in safety across life’s seas. What better shipbuilders than the Herres|305| hoffs, the makers of the victorious Defender? 2 What waters have not carried their boats? What country has not felt itself honored in conferring medals and prizes upon them? The head of the firm is totally blind, and has been so for forty years. And yet, though blind, he is and has been the first and final authority of every ship built by that firm. A tiny model is made of the boat about to be built, and submitted to him. He retires into seclusion, and by his marvelously developed sense of touch, obtains a complete mental picture of the ship, and passes judgment upon it. In forty years, his judgment has never failed him, though arrived at in the darkness of physical blindness. Faith is the elder Herreshoffs marvelous sense of touch. It enables us to see what eyes cannot see, and to pass judgments that do not, will not fail. Though arrived at in the darkness of physical blindness it enables us to construct a ship, which, if we equip it with reason, and steer it aright, will enable us to win the race over evil, and land us safely on the yonder shore.

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[Eines der von Nathanael Greene Herreshoff (Herreshoff Manufacturing Company) konstruierten Boote. Es gewann den America’s Cup 1895]

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III. Der Geist Gottes und die Erkenntnis des Guten

15. Der Geist Gottes im Menschen: Levi Herzfeld (1842) 1

|193| Überhören Sie es aber nicht, m. Z., dass ich reden will von dem Geiste Gottes im Menschen, nicht von dem göttlichen Geiste überhaupt, denn so ist Secharja’s Ausdruck aufzufassen; und demzufolge wird es gut sein, dass wir vorweg eine ihm entgegenstehende Richtung im Menschen betrachten. So oft wir, auf einem hohen Berge oder in einer großen Ebene, nach allen Seiten hin eine ungehemmte Aussicht haben, kommt es uns jedes Mal vor, als ständen wir im Mittelpunkte eines Kreises unter uns und einer Himmelshalbkugel, welche auf dessen Rändern ruhe; und verändern wir unseren Standort zehnmal, jedes Mal vom Neuen erblicken wir uns in der Mitte eines Erdenkreises, und die ganze Halbkugel des Himmels über uns ist anscheinend mitgewandert, um sich da am Höchsten zu wölben, wo wir jetzt stehen, so dass wir wieder im Mittelpunkte derselben sind: Sie werden wohl alle diese Erscheinung kennen. Aber geradeso ergeht es mit unserem geistigen Gesichtskreise, meine Zuhörer. Von Natur liebt jeder Mensch es, sich immer als den Mittelpunkt von Allem was um ihn ist anzusehen; auf sich bezieht er Alles, und welches Interesse es für ihn hat, danach beurteilt er es, was ihm nützt, hält er für gut, was ihm schadet, für abscheulich, das liebe Ich ist sein Abgott, und zugleich sozusagen die Rüstkammer, daraus er alle Regeln holt, nach welchen er Himmel und Erde beurteilt. Natürlich werden Sie nicht leicht einen Menschen finden, der Ihnen das eingesteht: aber wir untersuchen auch jetzt nicht, was der Mensch nach eigenem Eingeständnis ist, sondern was er ist, wenn ihm alle Hüllen der Verstellung oder des Selbstbetruges abgestreift sind. Auch gebe ich zu, dass selbst dann, wenn wir den Menschen in dieser Nacktheit seiner Seele betrachten, die Eigenliebe selten ganz so schroff hervortritt, wie ich sie eben geschildert habe: aber das straft meine Darstellung nicht Lügen, sondern beweist nur, dass es selten einen Menschen gibt, der gar |194| nichts vom Geiste Gottes in sich hätte, was in ihm manche Härten mildert und manches Scharfkantige abstumpft; aber dann tut dies eben schon der Geist Gottes in ihm, nicht der Menschengeist; diesen mussten wir erst in seiner ganzen Blöße erblicken, um zu dem gelangen zu können, was der Geist Gottes in ihm sei. Jene unbeschränkte Selbstsucht wird nämlich in ihrer ganzen Stärke in den wenigsten Menschen länger bestehen als ihre Kindheit, der größte Egoist ist das Kind, wie sehr richtig gesagt worden ist, das Kind reißt Alles an sich, das Kind hat keinen Begriff von Mein und Dein, von Pflicht und Schuldigkeit, denn seine Welt ist abgeschlossen in den Wänden der Kinderstube, und hier treten ihm nur gebende, keine fordernde Wesen entgegen. Sowie aber unser Blick sich erweitert, und die Welt für uns an Ausdehnung zunimmt, in demselben Maße erkennen wir, dass wir keineswegs der Mittelpunkt von Allem sind, sondern ein Glied nur in der unendlichen Kette alles Geschaffenen, und dass 1

[Herzfeld, Levi, Von dem Geiste Gottes im Menschen (3. 12. 1842) In: Herzfeld, Levi, Predigten, Nordhausen 1858, 193–201]

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Levi Herzfeld (1842)

nicht Alles für uns da ist, sondern das Meiste für Andere, ja in der Seele des Weisen steigt wie eine Ahnung der Gedanke auf, dass vielleicht wir selbst für Andere da sind, und wenn auch nicht für andere Menschen, doch für andere Zwecke als die unserigen, selbst für Zwecke vielleicht, die wir hienieden gar nicht begreifen oder gar nicht einmal kennen lernen werden, welchen wir aber mit gläubigem Gemüt uns unterordnen sollen, wie Koheles einmal sagt: Alles hat Gott gut gemacht für dessen Zeit, dies glaube ich, obwohl er eine unübersehliche Welt in unser Herz gelegt hat, so dass gar nicht gefunden werden kann, was Gott für Werke wirkt von Anfang bis zu Ende. Erst wenn dieser Gedanke in dem Menschen auftaucht, ist er wahrhaft wiedergeboren, denn dann hört er auf zu sein ein bloßer ‫אדם‬-‫כן‬, ein Menschensohn, und wird ein Sohn Gottes, indem er jetzt notwendig auch erkennt, dass Gott der Vater der Welt ist; und dies wieder lehret ihn, dass folglich jeder von Gott Geschaffene ebenso wie er selbst ein Kind Gottes ist, ein gleichberechtigtes, vorläufig gleich- |195| geliebtes und gleichüberwachtes Kind Gottes. Freilich selbst bloß als Herrn der Welt erkennt nur Derjenige, welcher seine Eigenliebe bemeistert, Gott an; wer sie nicht zähmt, und nach ihr seine Sphäre sich abstecken, seine Sphäre sich einrichten will, der bildet, soviel an ihm liegt, einen getrennten Staat im Staate Gottes, und wird früher oder später dem Lohne Derer verfallen, welche sich gegen Gottes Herrschaft auflehnen. Es haben Denker es versucht, sämtliche Pflichten der Menschen auf Einen allgemeinen Satz zurückzuführen. Einer sagte, die Pflicht, welche alle übrigen einschließe, sei die, durchweg bei der Wahrheit zu bleiben: und es ist Etwas an diesem Ausspruche, denn es gibt kaum eine Sünde, welche nicht mittelbar eine Unwahrheit einschlösse; Andere meinten, Gott ähnlich zu werden sei diese allumfassende Pflicht: und wer möchte leugnen, dass auch darin etwas Richtiges ist, sobald nur erst festgestellt ist, welche Eigenschaften Gottes wir uns aneignen sollen, denn es könnte sonst Jemandem beigehen, statt Gottes Güte nachzuahmen, lieber nach seinem Richteramte zu streben, oder seine Schrankenlosigkeit sich zum Muster zu nehmen. Andere haben noch Anderes hiefür aufgestellt. Wir Juden brauchen diese Grübeleien der Weisen nicht, uns ist als »großer Grundsatz der Tora« das Gebot aufgestellt: ‫ ואהבת לרעך כמוך‬Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! oder, wie Hillel dafür gesagt hat: ‫ דעלך סני לחברך לא תעביד‬Was dir unangenehm ist, tue auch keinem Anderen! mit dem herrlichen Zusatze: das sei die ganze Tora, alles Übrige die Erklärung dessen. Selbstsucht ist nicht bloß eine der größten Sünden, sie ist gewissermaßen die einzige Sünde, welche es gibt, denn kein Vergehen findest du auf, das nicht in ihr seinen Ursprung hätte; wenn ich das Eigentum Anderer nicht achte, wenn ich den Frieden Anderer, wenn ich den Ruf, wenn ich das Familienglück Anderer nicht achte u. s. w., erlaube ich mir eins hiervon aus einem anderen Grunde als weil ich meinen Gewinn, meine Befriedigung, oder welchem sonst von meinen Wünschen hierdurch gefrönt werden soll, |196| unbedenklich höher stelle als das Glück und die Ruhe der Anderen? und was ist dies anders als Selbstsucht? Nun aber näher an unser Thema herantretend, sage ich: es ist nicht genug, der Selbstsucht die wildesten Ranken auszuschneiden und die Eigenliebe zu mäßigen, in dem Sinne, wie dies gewöhnlich verstanden wird: hierbei würden wir so, wie geschehen muss, einmal tun und zehnmal nicht! wir müssen weiter gehen, wir müssen die Art an die Wurzel des Übels legen, indem wir aufrichtig streben, in unserer eigenen Meinung den 108

Der Geist Gottes im Menschen

Platz einzunehmen, der uns gebührt, und auch dies nicht in der oberflächlichen Weise, dass wir unsere Bedeutung für den kleinen Kreis, in welchem wir leben, mit etwas Bescheidenheit abschätzen, sondern indem wir hinuntersteigen auf die Stufe, welche wir im Zusammenhange der Welt einzunehmen berufen sind. »Lerne dich selbst kennen«, dieser goldene Spruch greift viel weiter, als in ihm gewöhnlich erblickt wird. Es ist also nicht genug, dass wir einsehen, was eigentlich an uns sei, sondern auch – was Andere seien? was die paar dutzend Menschen, mit denen du verkehrest? oder die Stadt, in welcher du lebst? o ja! tue das, nur bleib’ hierbei nicht stehen, sondern überdenke auch einmal ganz ruhig diese große, weite Erde mit allen ihren Millionen von Bewohnern und sonstigen Geschöpfen; überdenke die Zeiten rückwärts, und wie Viele in ihnen schon heimgegangen sind, jedes Menschenalter eine ganze Menschheit, sowie die Ewigkeit vorwärts, und wie viel Menschengeschlechter nach dir noch kommen werden, die Erde ein überall und allezeit offenes Grab, eine überall und allezeit tätige Geburtsstätte; überdenke, wie viel Glanz und Elend, wie viel Weisheit und Verkehrtheit, wie viel Tugend und Sünde dieser Erdboden schon getragen hat, erst auf sich, dann in sich, und wie viel von dem allen er noch tragen wird! Und nun blicke hinweg von dieser Erde, sie kann dir nicht sonnenstäubchengroß erscheinen, wenn du dein Auge aufhebst zu dem Heer der Sterne und bedenkst: das sind lauter und unübersehlich |197| größere Stätten der göttlichen Fürsorge! Und gleichwohl, was erblickt unser blödes Auge? ein vor Kleinheit gar nicht messbares Teilchen von den Welten, welche über ihnen, hinter ihnen liegen in unerforschlichen Fernen! Und auch diese zählen ihre grauen Jahrtausende, und werden fortfahren, Jahrtausende zu zählen, wenn schon Äonen darüber hingegangen, dass von dir keine zwei Stäubchen mehr beisammen sind! Bist du von dieser Anschauung verwirrt, betäubt, jetzt steige wieder hernieder zu dir selbst, Erdensohn, und frage dich, wie viel du einzelner, zerbrechlicher, sündiger Mensch im Zusammenhang dieses ganzen, unaussprechlich großen Wesenkreises seiest: findet deine Weisheit dann einen Maßstab für deine Kleinheit? und wird dein Stolz sich bequemen, auszusprechen, was du bedeutest der Unendlichkeit gegenüber? Und diese ganze Unendlichkeit ‫ הוא סוקר בסקירה אחת‬überschaut Er mit Einem Blick!! Vor Ihm aber könntest du dich unterfangen, auch eine Art Mittelpunkt sein zu wollen, und in deinen selbstgezogenen Kreis Alles hineinzureißen, um es dienstbar zu machen deinen selbstsüchtigen Zwecken? statt in Demut dein Haupt zu beugen und zu sagen: Vater, wenn ich mich erkühnen darf, diesen Namen dir zu geben, ich gebe meinen Eigenwillen auf, ich gebe mich dir zu eigen, dass du mich verwendest nach deiner Weisheit, und stellest, wohin ich gehöre, ich selbst weiß es ja nicht! Sehet, meine Freunde, so rein ausziehen die Eigenliebe, und unsere persönlichen Bestrebungen so ganz und gar Ihm unterordnen, wie die Mischna einmal ermahnt: ‫ בטל רצונך מפני רצונו‬brich deinen Willen vor seinem Willen – das heißt dem Geiste Gottes in uns Gehör geben; da hilft kein Feilschen und kein Markten, wir können nicht halb ihm gehören und halb uns, wir dürfen nichts von uns unterschlagen! ganz und gar wie wir sind, mit unseren Plänen und unseren Wünschen, mit unseren Neigungen und Abneigungen, mit unseren starken Seiten und Schwächen, ungeteilt und rückhaltlos ihm uns übergeben: das heißt dem Geiste Gottes in uns gehorchen. »Dem Geiste Gottes |198| in uns,« denn die Stimme, welche uns das befiehlt, wohnt in uns; gleichwie ganz ebenso, oder vielleicht gar im Zusammenhang hiermit, ziemlich 109

Levi Herzfeld (1842)

Jeder von selbst früher oder später zu der Einsicht kommt, wie wenig, und im Grunde wie gar nichts er für sich allein sei. Es gibt so Vieles im Leben, wobei wir dieses Gefühls unserer Nichtigkeit inne werden! kleide dich in die kostbarsten Stoffe, und Gott nicht bloß sieht doch, dass du Staub und Asche bist, du selbst fühlst es zu ungelegenen Zeiten; dünke dich noch so wohl beraten, es kommen Augenblicke, wo du dir eingestehen musst, deine Weisheit nutze nichts; häufe Gold um dich zu Bergen auf, keinen gesunden Atemzug kannst du dafür erkaufen! habe Dienerschaft um dich auf Schritt und Tritt, es kommen Dinge, gegen welche du selbst vor die Schranke musst, und wenn nicht früher, einmal doch musst du allein deinen letzten Gang gehen, davor schützt dich kein Flitter und keine Rangstufe und keine Weisheit, und dort musst du gleich dem Geringsten Rechenschaft ablegen, und Alles, was du hier zurücklässt, kann dann nicht fürsprechen. Was aber wohl? Etwas, das »vor dir her gehet«, deine guten Taten; und wie kommst du zu guten Taten? denn dafür gelten dort nicht so manche armselige oder vieldeutige, welche hier so genannt werden von Heuchlern und Schmeichlern, aber »der Anfang alles Wissens ist Gottesfurcht«, und zu dieser gelangst du, indem du vor Allem deine eigene Bedeutung, d. h. deine Bedeutungslosigkeit dir klar machst, denn alsdann wirst du willig und an der geziemenden Stelle dich einfügen dem Reigen, den um Ihn, den alleinigen wahren Mittelpunkt, alle geschaffenen Wesen bilden, und was jetzt die innere Stimme, Seine in dich gelegte Stimme dich tun heißt, das tue! Sie sehen aber leicht ein, meine Andächtigen, dass diese innere Stimme im Menschen, wenn sie nur vor dem Geräusche der Weltlichkeit zu Worte kommen kann und angehört wird, ganz allein es ist, welche alles Große auf Erden bewirkt, nicht jenes »Große«, das wie ein Meteor aufblitzt und wieder verlischt, dass sein Ort |199| nicht mehr gefunden wird, denn so ergeht es aller Scheingröße, allem Scheinglanze, sondern dasjenige Große, das nicht zu stolz ist, ganz unscheinbar aufzutreten, aber unter dem Bettlermantel den Diamanten birgt, welcher für offene Augen schon durch alle Risse herausleuchtet, und wenn die Zeit gekommen ist, dass von selbst die Hüllen fallen, im vollen Glanze strahlt; dasjenige Große, welches nicht den Adel empfängt von dem Orte, dahin es gestellt wird, sondern den Ort adelt, wohin es verwiesen ist; dasjenige Große, bei dessen gesundmachendem Anblicke zuweilen auch der Kleinlichgesinnte einmal seiner selbst inne wird und ausruft, wie jener Engel, der »über Dank Amen sagt«: Wahrlich, es gibt noch andere Dinge und höhere, als die mich beschäftigen mein Leben lang! Und selbst diesen Ausruf bewirkt der Geist Gottes im Menschen, dass er diene zu einer letzten Mahnung. Die aber früh auf ihn hören, mögen sie klein sein hienieden und gebeugt in den Staub, sie stehen groß da vor Gott, und werden selbst vor den Menschen einst glänzen wie die Sterne in der Nacht, und die noch nicht abgestorben aller Rettung sind, werden zu ihnen sagen: Kommet, leihet uns von eurem Lichte, dass wir nicht noch weiter straucheln in unserer Finsternis! Zugleich sehen Sie, meine Zuhörer, dass dieser Geist Gottes im Menschen auf kein Zeitalter eingeschränkt ist und keinem fehlen kann; und ich will Ihnen noch, wie ich versprochen, einige der Formen vorführen, in welchen er sich offenbart, auch in unserer Zeit. Sie werden ihn jedes Mal leicht erkennen an seinem Gegensatz: worin von Eigenliebe nichts ist, das birgt ihn in sich; wo Sie diese aber herrschen sehen, da suchen Sie nicht 110

Der Geist Gottes im Menschen

vergebens, da ist er nicht. Als ein solcher Gegensatz tritt uns entgegen die Klugheit und die Weisheit. Jene ist stets darauf gerichtet, unseren persönlichen irdischen Vorteil zu wahren oder zu fördern, die Weisheit dagegen ist die Einsicht des wahren Heiles, und hat immer auch die Gesamtheit im Auge. Willst du nun dich abfinden lassen mit der Zeitlichkeit und dafür die Ewigkeit hingeben, so folge deinem Verstande, er |200| macht dich – nicht immer, doch oft – zu einem von den Herren der Erde, aber mit Erde bist du dann abgekauft! Willst du dies nicht, willst du dein Haupt aufrichten dürfen vom Staube, und es tragen zwischen den Sternen, so lass die eitle Klugheit, werde dumm vor Menschen, damit du es nicht seiest in Gottes Augen, höre auf die Weisheit, die älter ist als die Erde, wie Salomo sie reden lässt: »ich war da, ‫לא עשה ארץ וחוצות‬-‫ עד‬ehe Gott die Erde schuf und Wege darauf«. – Einen anderen Gegensatz verwandten Gehaltes bilden Prosa und Poesie, der Gedanken meine ich, nur dass ich auf der Kanzel diesen Punkt nicht ausführen mag. Wollet Ihr einen dritten Gegensatz dieser Art, er liegt uns vor in Moral und Religion. Verstattet mir, meine Zuhörer, in einigen Sätzen auf das zurückzukommen, was ich früher einmal über den Unterschied von beiden gesagt habe. Die Moral hält die Erde zusammen, dass sie nicht aus ihren Fugen weicht, und dafür wollen wir ihr gebührende Anerkennung zollen: ach, man muss ja so oft schon zufrieden sein, wenn nur nicht die Unmoral einhertritt mit kecker Stirn! aber mehr als eben nur verhüten, dass nicht Alles auseinanderfalle, leistet die Moral nicht, wie viel Kälte und Unbarmherzigkeit wohnt oft in Menschen, welchen du Moral nicht absprechen darfst! Aber die Religion, diese Tochter des Himmels, ist ganz anderer Art, sie sagt: »wer da spricht, das Meinige ist mein, das Deinige dein! der hat die Weise von Sodom!« sie sagt: nicht bloß in ihren Fugen soll die Erde bleiben, sondern auch ein Garten Gottes sein, du sollst die Menschen nicht etwa nur gehen lassen in Frieden, sondern sie aufsuchen zum Frieden, sie aufsuchen zur Teilnahme an Allem, was dich erfreut, du müssest kein Glück dir gönnen, so lange noch Eine Träne geweint wird, welche du zu trocknen vermagst. – Wollt Ihr einen vierten solchen Gegensatz, Ihr findet ihn in den Aussprüchen der Propheten, gegenüber den Aussprüchen der Weltweisen. Diese leuchten wie Mondenlicht, bei welchem die Wasser zu Eis gefrieren, während Jene strahlen wie das Sonnenlicht, das |201| die Fesseln der Flüsse löst und laue Frühlingslüfte erzeugt, dass sich die Gärten in Blumen kleiden und die Fluren in den Segen der Ernte. Ich will diese Gegensätze nicht weiter häufen, es wird Ihnen nicht schwer sein, meine Zuhörer, selbst deren noch aufzufinden; den Kern von allen aber bildet der Eine große Gegensatz, welcher in wunderbar ähnlicher Weise auch die ganze Natur durchdringt: Alles, was der Erde angehört, drängt nach ihrem Mittelpunkte, du kannst den Stein in die Höhe werfen, er fällt auf den Boden zurück, davon er aufgegriffen wurde, eine Kraft im dunklen Schoß der Erde ziehet ihn nieder, und wie ihn alles Erdentstammte, ebenso Alles im Menschen, was der Erde entstammt ist, zu Boden will es, denn dem Staube, dem finstern, gehört es an, zu Boden drückt es, denn Alles reißt es mit sich in seinen Mittelpunkt, und lässt nichts innerhalb seiner Zugkraft aufrecht stehen: Erdensinn, Eigenliebe, Umnachtung der Seele, geistiger Tod – das sind für den höheren Sinn ziemlich gleichbedeutende Worte. Ihm gegenüber in der Natur, das Licht, die Wärme, welche nicht in ihren Kreis die Dinge hineinreißen, sondern vielmehr umgekehrt immer sich aus111

Levi Herzfeld (1842)

strömen und hingeben; in der Menschenseele entsprechen ihnen die Erleuchtung, die Wärme des Gefühls, das Hinaustreten aus sich und die Hingebung der Nächstenliebe, die Poesie, die Religion, die warme Prophetenrede – wiederum lauter ziemlich gleichbedeutende Worte für den, der verstehen will. Gott, vor dem die Engel nicht rein genug erscheinen, wir wissen und fühlen es, dass wir nur schwache, fehlerhafte Menschen sind: aber wir zählen auf deine Gnade! hilf nur, dass wir deiner Gnade nicht unwert werden durch Überhebung und Setzung der eigenen Zwecke über die deinigen; wir können und werden, ach! auch alsdann noch fehlen, vielleicht gar fallen, aber wir stehen dann wieder auf, denn dein Geist ist uns geblieben.

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16. Die Gottesidee und das Gute: Moses Löb Bloch (1886) 1

Erwägen wir aber die gewaltige Widerstandskraft der Sinnlichkeit, den schweren Kampf, den der in der Sinnenwelt lebende Mensch zu bestehen hat, um das unsittliche Begehren zu überwinden und die Schranken des Gesetzes nicht zu überschreiten, so wird uns klar, welch ein hoher Grad von Selbstverleugnung erforderlich ist, welch eine moralische Stärke uns innewohnen muss, dass wir |2| unseren Willen frei von allen unlautern, selbstsüchtigen Beweggründen erhalten und das Gute nur um des Guten willen üben. ‫» איזהו גבור הכובש את יצרו‬Nur der ist ein Held, der die moralische Macht besitzt, den Sieg über seine Neigungen zu erringen und nicht nur pflichtgemäß, sondern auch aus Pflicht zu handeln.« 2 Und die Anleitung zu diesem Kampfe, die Mittel diesen hohen Preis zu erringen reicht uns das Judentum in dem halachischen Teile seiner Lehre. Gott wird als das Vorbild der vollendeten Sittlichkeit und der höchsten Heiligkeit hingestellt und uns wird befohlen: ‫» והתקדשתם והייתם קדשים כי קדוש אני‬Ihr sollt euch heiligen, heilig sei euer Wollen und eure Tat, denn ich euer Gott bin heilig«, 3 dem ihr, soweit es dem Menschen möglich ist, ähnlich werden sollet. ‫» והלכת בדרכיו‬Du sollst wandeln in seinen Wegen«; 4 in all deinem Wollen, in deinen Entschlüssen und Taten sei Gott dein Vorbild, ihm sollst du nachstreben. Mit der Vorstellung der erhabenen Gottesidee in unserem Bewusstsein sollen nach dem psychologischen Gesetze der Ideen-Assoziation zugleich die ethischen Vorstellungen, Pflichten, Gebote und Ideen lebhaft vor unsere Seele treten und die Motive unseres Wollens und Tuns bilden. Und je öfter die erhabene Gottesidee in unserem Bewusstsein rege wird, je größer die Zahl ihrer Berührungspunkte ist, und je inniger diese mit einander verbunden werden, desto reiner, klarer und bleibender wird der Eindruck in unserer Seele und desto schneller und lebhafter erwacht in uns die Vorstellung von Tugend und Pflicht. Darum umfasst die Halacha das Leben des Menschen in allen seinen Verhältnissen und Beziehungen. Von der Wiege bis zum Grabe begleitet sie ihn; wenn er aufsteht und wenn er sich niederlegt, zu Hause und auf der Reise, an den Tagen der Arbeit und an denen der Erholung, im Überfluss und in der Dürftigkeit, im Genusse und in der Entbehrung, in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft immer und überall steht sie ihm zur Seite, erteilt sie ihm die heilsamsten Lehren, zeigt sie ihm in dem erhabenen Vorbild seine eigentliche Menschenwürde; sie ruft ihm zu ‫» בכל דרכיך דעהו והוא יישר ארחתיך‬Auf allen deinen Lebenswegen merke auf Gott und er wird |3| sie dir ebnen«, 5 auf dass du 1 2 3 4 5

[Bloch, Moses Löb, Die Ethik in der Halacha. Budapest 1886, 1–3] mAv IV,1. Lev 11,44. Dtn 28,9. Spr 3,6.

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Moses Löb Bloch (1886)

das hohe Ziel erreichest. ‫» רצה הקב״ה לזכות את ישראל לפיכך הרבה להם תורה ומצות‬Der Allerheiligste wollte, dass Israel in seinem Wollen und Thun sittlich gut sei, darum gab er ihm Lehren und Vorschriften für alle Lagen des Lebens.« 6 Heiligkeit 7 ist Vollkommenheit, die nur Gott zukommt, deren aber der Mensch in dieser Sinnenwelt unfähig ist. Er kann und soll wohl auf der Stufenleiter der Sittlichkeit immer höher steigen, in der Übung des Guten nach und nach mehr Fertigkeit gewinnen, ja er soll nach sittlicher Vervollkommnung streben, aber zur vollendeten Tugend wird er hienieden nicht gelangen. Da aber die Gotteslehre doch die Forderung an uns stellt: ‫קדשים‬ ‫תהיו‬. »Ihr sollt heilig sein«, (Lev 19,2) so kann dies nur, wie schon Kant (S. 261) sehr richtig bemerkt, in einem ins Unendliche gehenden Fortschritt zu jener völligen Angemessenheit des Willens zum Sittengesetze bestehen, was nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens, Unsterblichkeit der Seele, möglich ist. So fasst es auch der Talmud auf: (bYom 39a) ‫והתקדשתם‬ ‫והייתם קדשים אדם מקדש עצמו מעט מקדשין אותו הרבה מלמטה מקדשין אותו מלמעלה בעולם הזה מקדשין‬ .‫אותו לעולם הבא‬ »Und ihr sollt euch heiligen und heilig werden, d. h. wenn der Mensch mit seiner Heiligung ernst beginnt, so wird ihm Gelegenheit geboten, darin fortzuschreiten und es wird ihm in diesem sittlichen Streben Hilfe und Beistand von Oben, um die Hemmnisse, die ihm entgegentreten, zu überwinden; heiligt er sich hienieden, so erreicht er im Jenseits die höchste Stufe, wo er ewig fortlebt und der Seligkeit teilhaft wird.«

6 7

bMak 23b. [Bei den nachfolgenden Passagen handelt es sich um eine in den fortlaufenden Text übernommene Anmerkung des Autors.]

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17. Die Gottesidee und das Gute: Sigismund Stern (1846) 1

|138| Es erscheint demnach als die Aufgabe des Judentums: Gott zu erkennen, damit man ihn ehrfürchte und damit man ihn liebe; damit man seinem Willen folge und damit seine Erkenntnis der ganzen Menschheit zu Teil werde. – In zahlreichen Stellen der heiligen Schrift wird die Erkenntnis Gottes an die Spitze aller sittlichen Gebote gestellt, indem sie zugleich Quell und Ziel der Sittlichkeit ist. Quell der Sittlichkeit, indem wir nur durch sie die Aufgabe unseres eignen Lebens wahrhaft zu erkennen und zu erfüllen vermögen, und Ziel derselben, indem wahrhafte Gotteserkenntnis der letzte Zweck ist, dem die ganze Menschheit entgegen zu streben hat. Und so heißt es in jener Stelle, in welcher die neue und höhere Bestimmung festgestellt wird, welche dem jüdischen Volk durch seine Befreiung aus Ägypten werden soll: »Euren Vätern bin ich erschienen, aber sie haben mich nicht erkannt, euch aber habe ich mir zum Volk erwählt, damit ich euch zum Gotte sei, und damit ihr erkennet, dass ich, der Ewige, euer Gott bin.« Während also hier kund gegeben wird, dass die höhere Aufgabe des jüdischen Volkes nur durch diese Erkenntnis erfüllt werden kann, und dass die Erwählung desselben nur zu dieser Erkenntnis führen solle, wird überall, wo die Beobachtung der göttlichen Vor|139| schriften eingeschärft wird, vor Allem wieder die Erkenntnis Gottes gefordert, durch welche die Beobachtung seiner Gebote gesichert werden soll. Und so heißt es im Deuteronomium, indem das Volk nochmals aufgefordert wird, dem Gesetz treu zu bleiben, das ihm gegeben worden: »Und von heut an sollst du es erkennen, und es dir wohl einprägen in das Gemüt, dass der Ewige allein Gott ist im Himmel über dir und auf Erden drunten, und Keiner außer ihm. Dann wirst du seine Gesetze und seine Gebote beobachten, die ich dir heute vorschreibe« und ferner: »Vernimm es Israel, der Ewige unser Gott ist einig Gott. Liebe den Ewigen deinen Gott mit ganzem Gemüt, mit ganzer Seele und mit ganzem Vermögen; dann werden auch diese Gesetze, die ich dir vorschreibe, in deinem Herzen sein.« Und eben so heißt es in der Warnung vor dem Abfall von dem göttlichen Gesetz: »Hütet euch, dass ihr nicht vergesset den Ewigen euern Gott, so dass ihr seine Gebote nicht bewahrt;« denn wie die Erkenntnis Gottes sicher zur Tugend führt, so wird auch die Gottvergessenheit sicher vom Wege derselben ableiten. In welcher Weise aber erscheint im Judentum die Gotteserkenntnis als Quell der Sittlichkeit? Indem der Mensch sich seiner Gottähnlichkeit, seines Anteils |140| am göttlichen Wesen, dadurch bewusst wird, und es als seine Aufgabe erkennt, der göttlichen Vollkommenheit nachzustreben. Und so lautet das höchste Tugendgesetz der mosaischen Lehre: »Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der Ewige euer Gott;« und diese Grundlehre wird als

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[Stern, Sigismund, Vierte Vorlesung. Die Sittlichkeit des Judentums. In: Die Religion des Judentums in acht Vorlesungen. Berlin : Bernstein 1846 S. 115–157, hier: 138–148]

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Sigismund Stern (1846)

das allgemeine Gesetz denjenigen Bestimmungen vorangeschickt, in welchen die sittlichen Verhältnisse des Menschen zum Menschen festgestellt sind. Heilig und der Sünde unnahbar ist Gott; Heilig soll der Mensch zu werden streben, dass die Verlockungen der Selbstsucht keine Gewalt über ihn haben. Wenn wir uns aber durch die Erkenntnis Gottes der Vollkommenheit bewusst werden, der wir nachzustreben haben, so werden wir uns auch unsres Verhältnisses zu unsern Mitmenschen bewusst. Und so lautet die oberste Lehre auf diesem Gebiet: »Kinder seid ihr dem Ewigen eurem Gott.« Das Verhältnis der höchsten Liebe und der innigsten Einheit, das zwischen Menschen Statt findet, das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern, wird als das Bild des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen dargestellt. Daher ist die höchste Pflicht des Menschen gegen die Gottheit, die Pflicht der Ehrfurcht und der Liebe, und die Pflicht des Gehorsams muss aus beiden |141| hervorgehen. Überall wo dieser gefordert wird, stützt er sich daher auf jene, nicht aber auf die Unterwürfigkeit des Menschen gegen den göttlichen Willen, welche auf den niedrigen Stufen des sittlich religiösen Bewusstseins gefordert wird. So heißt es in der wichtigsten Stelle der heiligen Schrift, in welcher von dem Verhältnis des Menschen zu Gott die Rede ist. »Und nun Israel, was fordert der Ewige dein Gott von dir, als dass du ihn ehrfürchtest, seinen Wegen nachgehst, ihn liebst und dich ihm hingibst mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, damit du seine Gebote und seine Vorschriften beobachtest; die ich dir heut befehle zu deinem Heil.« Und aus dieser Liebe zu Gott, die das Produkt seiner Erkenntnis ist, fließt das Vertrauen gegen die Gottheit, das die heilige Schrift überall von dem Menschen fordert, das Vertrauen, das das israelitische Volk so oft verloren, wenn es ihm in der Wüste an dem Bedarf seines Lebens fehlte, das es nicht zu gewinnen vermochte, als es das Land der Verheißung in Besitz nehmen sollte, das Vertrauen endlich, das uns auch zu der Gnade Gottes nicht verlassen soll, wenn wir zu ihm flehen, und wenn wir zu ihm zurückkehren wollen, nachdem wir selbst von ihm abgefallen. Wie es einmal heißt »An jedem Orte, wo du mich anrufen wirft, werde ich dir nahe sein |142| und dich erhören;« und nachdem Verderben und Gefangenschaft dem Volke verkündet ist, wenn es von Gott und seinem Gesetz abfallen werde, fährt die Schrift fort: »Wenn du aber von dort (von der Gefangenschaft unter den Heiden) aus den Ewigen deinen Gott suchen wirst, so wirst du ihn finden, so du ihn suchest von ganzem Herzen und von ganzer Seele.« Aus dieser Erkenntnis seines eignen Verhältnisses zur Gottheit geht für den Menschen in zweifacher Weise die Erkenntnis der Pflichten hervor, die er gegen seine Nebenmenschen auszuüben hat. Denn so wie wir uns selbst als Kinder Gottes erkennen, und die Liebe eines Vaters bei ihm zu finden gewiss sind, so müssen wir uns auch der Pflicht bewusst, werden, alle unsre Mitmenschen als unsre Brüder zu lieben; und indem wir andrerseits dem Wirken Gottes nachzustreben nicht aufhören sollen, so müssen wir vor Allem die Taten der Liebe, die wir täglich von ihm empfangen, zu unserm Vorbilde nehmen, um unser eignes Thun und Wirken für unsre Nächsten danach zu messen und zu bestimmen. Das mosaische Gesetz ist unendlich reich an Vorschriften, in denen die sittliche Pflicht der Nächstenliebe auf diesem Verhältnis des Menschen zur Gottheit begründet erscheint, in denen der Mensch, teils auf das göttliche Vorbild, teils auf das Anrecht jedes |143| Einzelnen an die Liebe Gottes und endlich auf sein eigenes Gemüt hingewiesen 116

Die Gottesidee und das Gute

wird, um die Empfindungen und den Anspruch seines Nebenmenschen würdigen zu können. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich der Ewige« heißt das höchste Gebot auf diesem Gebiet der menschlichen Pflichten, und nimmer kann in erhabnerer und vollendeterer Weise die Aufgabe des Menschen, seinem einzelnen Mitmenschen gegenüber ausgedrückt werden; denn es stellt sich auf der einen Seite in diesen wenigen Worten der sittliche Quell der Menschenliebe, das Anrecht eines jeden Menschen an unsre Liebe dar, das er durch die Gleichheit aller Menschen vor Gott, durch den gleichen Anteil aller an der göttlichen Liebe gewinnt, und anderseits tritt dies Gebot aufs entschiedenste den Regungen der Selbstsucht entgegen, die, ein ewiger Feind der Nächstenliebe, in unserm Innern wohnt; denn wenn wir in Wahrheit den Nächsten lieben, wie uns selbst, so kann die Liebe zu uns selbst, kann die Selbstsucht uns nicht hemmen, sie zu äußern. In diesem einen Gebot lehrt uns die heilige Schrift alle Pflichten, die wir unsern Nebenmenschen gegenüber zu erfüllen haben, indem sie uns in demselben vernehmlich zuruft: Gedenke, und halte es wohl im Herzen, dass dein Nächster neben |144| dir fühlt und empfindet wie du, dass er tausend Bedürfnissen zu genügen hat gleich dir, dass er mit denselben Rechten, mit denselben Ansprüchen ins Leben trat wie du und dass er gleich dir ein Sohn Gottes ist, dessen Liebe dich selbst trägt und erhält. Während uns aber dies Gebot im Allgemeinen ein sicherer Führer zu Erfüllung unsrer Pflichten gegen den Nebenmenschen sein muss, kommt die heilige Schrift auch der menschlichen Schwäche zu Hülfe und warnt uns, der Liebe auch nicht zu vergessen, wo uns die Übung derselben schwerer wird, wo die Verlockung mächtiger in uns ist, den Regungen der Selbstsucht zu folgen. Und nicht nur wird das Unrecht gegen den Nächsten verboten, unter welcher Gestalt es auch auftrete, als Mord oder Raub, als Neid oder Verleumdung, als Betrug oder Täuschung, als Wucher oder falsches Maß, als Verletzung des Rechts oder als Bestechung, es wird auch die Tat der Liebe unter jedem Verhältnis geboten, auch wenn ihre Übung nicht leicht ist, und wenn wir durch ihre Unterlassung keine Pflicht zu verletzen scheinen. – Auch des fernen Bruders also sollen wir nicht vergessen, der uns nicht auffordern kann, ihm beizustehen. »Du sollst den Ochsen oder das Lamm des Bruders nicht verirrt sehen, und dich ihm entziehen, sondern sie ihm zurückführen,« und des Armen, des Hilfsbedürftigen sollen wir gedenken, auch wenn er nicht vor uns steht in seiner Not und unsre Hilfe anfleht: Du sollst die Ecken deines Feldes, den Abfall deiner Ernte und deiner Lese, du sollst die vergessene Garbe auf deinem Felde für den Armen zurücklassen –, damit er sie finde und sich nicht demütigen darf vor seinen Mitmenschen. Wir sollen vor Allem denen nicht wehe tun, die keine Macht haben, uns zu strafen und uns das Böse zu vergelten, und auch denen Liebe erweisen, von denen wir nicht einen gleichen Liebesdienst erwarten können: Den Fremdling, der in deinem Lande wohnt, die Witwen und die Waisen sollst du lieben und sie nicht drücken, du sollst sie schonen und dich ihrer erbarmen. Dies Gebot wiederholt sich vielfach, und immer neue Gründe sind es, mit denen es unterstützt wird. Schau in dein eignes Herz zurück, und denke, dass du selbst ein Fremdling warst im Lande Ägypten – sie könnten zu mir schreien und ich würde mich ihrer erbarmen und die Sünde fiele auf dein Haupt, und endlich wird Gott selbst als Vorbild 117

Sigismund Stern (1846)

gestellt; denn er der allmächtige Gott übt Recht an Witwen und Waisen, und liebt den Fremdling, dass er ihm Speise und Trank gibt. |146| In gleicher Absicht befiehlt das Gesetz dem Reichen, dass er dem Armen seinen Tagelohn nicht vorenthalte über Nacht, dass er das Pfand des Dürftigen nicht aus seinem Hause hole, sondern auf der Straße warte, bis er es ihm bringt, und dass er es nicht über Nacht bei sich behalte, wenn jener es bedarf, um sich damit zu bedecken. Auch dem Sklaven soll seine Freiheit nicht für immer entzogen sein, und nach einer Reihe von Jahren muss ihm dieselbe wieder zu Teil werden, wenn er sie begehrt. Sogar gegen das willenlose Tier befiehlt das Gesetz Schonung und Mitleid. Auch dem Pferde und dem Esel, der dir dient, soll die Ruhe des Sabbath zu Teil werden, und dem Ochsen, der das Getreide drischt, sollst du das Maul nicht verschließen, das Ziegenböcklein sollst du nicht kochen in der Muttermilch, und aus dem Nest des Vogels nicht die Mutter mit den Jungen nehmen. Ja selbst die Fruchtbäume auf dem Felde sollt ihr schonen, wenn ihr Feindesland mit Krieg überzieht, und das Land selbst soll im siebenten Jahre ruhen und brach liegen, wie ihr selbst ruhen sollt am siebenten Tage. Aber die höchste und die schwerste Pflicht, welche das mosaische Gesetz auf diesem Gebiet vorschreibt, ist die Überwindung des Hasses, der in unser Gemüt |147| eindringt, durch die Liebe, die wir selbst dem Feind erweisen sollen. »Du sollst deinem Bruder nicht Hass nachtragen in deinem Herzen, du sollst dich nicht rächen und nicht Zorn hegen.« »Und wenn du den Ochsen und den Esel deines Feindes verirrt findest, so bring ihn zurück, und wenn du den Esel deines Feindes siehst erliegen unter seiner Last, so hüte dich ihn zu verlassen, sondern verlass’ das deine um seinetwillen.« Dies sind einige der mosaischen Vorschriften, welche uns die Pflichten gegen unsre Nebenmenschen lehren. Pflichten der reinsten und erhabensten Sittlichkeit, und alle auf jener höchsten Sittlichkeitsidee ruhend, die wir aus der Erkenntnis Gottes schöpfen. Aber höher führt uns das mosaische Sittengesetz, in das Gebiet der Pflichten, die wir nicht dem Einzelnen, sondern der Gesamtheit schuldig sind, welcher wir selbst als ein Glied angehören. In dem jüdischen Staat, welchen Moses begründete, und dessen Verfassung und Verwaltung er aufs Genaueste durch sein Gesetz feststellte, eröffnet sich für den Einzelnen eine Reihe von Pflichten, die er zum Wohl des Ganzen zu erfüllen hat; und er muss nicht nur neue Pflichten dieser Gesamtheit gegenüber ausüben, sondern auch seine eigene Freiheit beschränken, indem er sie dem Gesetz derselben unterwirft. Nicht aber geht auch hier |148| wie wir es bei den Griechen und Römern gesehen haben, der Wille des Einzelnen in dem Willen des Staats, und das Wohl des Einzelnen in dem Wohl des Staats unter, sondern dieselbe sittliche Idee, von welcher das Streben und Wirken des Einzelnen getragen und geleitet wird, ist auch die Aufgabe des jüdischen Staats; denn in ihm und durch ihn soll der göttliche Wille erfüllt werden; in ihm und durch ihn soll die Gotteserkenntnis mehr und mehr zur Erscheinung kommen, und daher erfüllt der Einzelne auch im Dienste des Staats und in der Unterordnung unter die Zwecke desselben nur seine eigne Aufgabe, ja er wird vielmehr erst durch den Staat in den Stand gesetzt, dieselbe wahrhaft zu erfüllen. Der jüdische Staat ist ein Gottesstaat, das jüdische Volk ist ein Volk Gottes, und die Bekenner des Judentums sind die Söhne Gottes. Durch die richtige Würdigung dieser 118

Die Gottesidee und das Gute

Begriffe und ihres Verhältnisses zur sittlichen Aufgabe des Juden können wir allein zur vollen Erkenntnis der Sittlichkeitsidee des Judentums gelangen, und einen Vorwurf von demselben abweisen, den man bisher, ohne alles Recht, gegen dasselbe zu richten gewohnt war. – Der jüdische Staat ist ein Gottesstaat in doppeltem Sinne: der Wille Gottes ist sein Gesetz, die Erkenntnis Gottes ist seine Auf- |149| gabe. Es ist dies eine so anerkannte Tatsache, und die ganze Gesetzgebung Mosis weist so entschieden auf diese Idee des jüdischen Staats hin, dass wir nicht durch einzelne Stellen der heiligen Schrift unsre Behauptung zu unterstützen haben. Aber das jüdische Volk ist das Volk Gottes, das erwählte Volk Gottes, ganz in demselben Sinne, wie der jüdische Staat ein Staat Gottes ist, denn durch die Gotteserkenntnis sind die Nachkommen Israels zum Volke geworden, und die Erhaltung, die Befestigung und Verbreitung der Gotteserkenntnis ist die Aufgabe, für welche das jüdische Voll bestimmt und erwählt ward. Ja erwählt; ich erschrecke nicht vor diesem Ausdruck, ich weiß, was er bedeutet, ich weiß, welchen Anfeindungen, welchem Hass und welcher Verfolgung die Bekenner des Judentums länger denn ein Jahrtausend um dieses einen Wortes willen Preis gegeben waren; und ich nenne das jüdische Volk das erwählte Volk Gottes, das Volk, das er zu seinem Dienste erkoren, damit die Erkenntnis seines Wesens sich durch dasselbe mehr und mehr der Menschheit offenbare.

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18. Was heißt gut handeln? Morris Joseph (1892) 1

|698| Let us now attempt to catch a glimpse – though, owing to the vast extent of the subject it must necessarily be a very imperfect glimpse – of the nature of that moral teaching which occupies so large a place in the Jewish system. The very highest standard of conduct is laid down – the very noblest motive is appealed to. »Ye shall be holy, for I, the Lord your God, am holy.« In striving after righteousness the Israelite is to set before his eyes a Divine ideal. The ways of God to man are to be the type of what the ways of men to each other should be. God »doth execute the judgment of the fatherless and widow, and loveth the stranger, in giving him food and raiment. Love ye, therefore, the stranger.« 2 Nor is this imitation of God the sole incentive held out. The command to be holy since God is holy, includes also a warning against a moral degradation which snaps the links that bind man, who is created in the Divine image, to his Maker. Through moral impurity, as well as through physical uncleanness, the Divine Presence, which is in the midst of the camp, is banished, and God turns away from the transgressor. No more powerful expression can be found for the disturbance of the relations between man and his Creator than that which declares that God hides His face from the sinner. 3 And just as transgression estranges the guilty one from his heavenly Father, so to repent is to go back to Him – to be united with Him again – to mend the links that iniquity has broken. »Return, O Israel, unto the Lord thy God, for thou hast fallen by thine iniquity.« 4 It would be impossible to conceive a more forcible or more beautiful description of the debasement wrought by sin, or of the ennoblement which penitence is to achieve. God, then, is to be the pattern by which men are to shape their lives, estrangement from Him – a falling away from the high standard of purity He is ever setting them – the one great consequence of wrongdoing which is to act as their chief deterrent. And thus we are face to face with the motives to which Judaism appeals in its exhortations to virtue. John Stuart Mill charges Religion with pandering to men’s self-interest, to the neglect of those nobler aspirations which it should be its aim to arouse and |699| develop. 5 It is not a fair accusation. The Pentateuch promises worldly recompense to the worldly-minded – to the spiritually youthful, whom the picture of comparatively sordid delights alone can influence. But it does not forget the nobler spirits whom the admonition to love God with 1

2 3 4 5

[aus: Joseph, Morris, Jewish Ethics. In: Religious Systems of the World, Contribution to the Study of Comparative Religion. A Collection of Addresses delivered at South Place Institute, now revised and in some cases rewritten by the authors together with some others specially written for this volume. 2nd edition, with several new articles. New York 1892, p. 698–708] Dtn 10,18–19. Compare Siphre on Dtn 9,22. Ibid., Dtn 31,18, Dtn 32,20; Jes 1,15. Hos 14,1. Compare Dtn 4,30, Dtn 30,2. See his Essay on the »The Utility of Religion« [posthumous 1874].

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Was heißt gut handeln?

all their heart and with all their soul and with all their might, suffices to kindle with an enthusiasm for duty. 6 This love of God, which is at once the inspiration and the exceeding great reward of the good man, becomes, notably in the case of the Psalmist, an all-absorbing passion. It manifests itself in the rapture with which he ponders the Divine commands. »O how I love thy law,« he cries; »it is my meditation all the day long.« 7 The same single-hearted devotion is expressed again in that rejoicing in the Lord, of which the Psalms are full. »Then will I go unto the altar of God, unto God, my exceeding joy.« 8 It is a joy, too, which the storms of life cannot quench, which, because it is independent of worldly recompense, survives the most searching trials and disasters. »Although the figtree shall not blossom, neither shall fruit be in the vines; the labour of the olive shall fail, and the fields shall yield no meat; the flock shall be cut off from the fold, and there shall be no herd in the stalls: Yet I will rejoice in the Lord, I will joy in the God of my salvation.« 9 In like manner the Talmud, despite its frequent references to the bliss of Eternal Life, does not omit to warn us that the highest form of duty is that which is performed for its own sake, without thought of recompense. »Be not like servants that serve the master for wages; let your motive be only reverence for heaven.« 10 The good man, the Rabbins further teach, finds his supreme delight in the Divine commands themselves, not in thinking of the reward that obedience will bring. 11 A distinguishing characteristic of Jewish ethical teaching is its reasonableness and moderation. It is marked by no excess, no extravagance. It demands nothing that is impossible for the individual, nothing that is inconsistent with the well-being, nay, the existence, of society. Something more than mere almsgiving, which is too often self-pity masquerading in the garb of mercy, is recommended by the Pentateuch. Careful study of the condition and real needs of the poor – a rarer and more difficult task – this is expressly enjoined. The rich, according to Deuteronomy, 12 are to open their hand, not for the purpose of giving mere doles, but of lending the poor man »sufficient for his need.« And notice that lending rather than giving is here recommended. The self-respect of the deserving poor is not to be wounded in the attempt to rob poverty of its sting. Similarly the Talmud declares that loans are preferable to almsgiving, 13 and Maimonides, in distinguishing the merits of various benevolent deeds, assigns the highest place to those considerate acts which aim at destroying pauperism, and restoring to the poor their lost independence. 14 |700| But, while there is no virtue more highly appraised, or more frequently commended, than benevolence, it is the benevolence that is not exercised at the expense of any 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Dtn 6,5. Ps 119,97. Ps 43,4. Hab 3,17–18. mAv I,3. bAZ 19b. Dtn 15,8. bShab 63a. Maimonides, Hilchot Matnot Aniyim, 10,7–14.

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Morris Joseph (1892)

other virtue. If mercy ought to season justice, justice ought equally to season mercy. The cry of the oppressed, we are warned, sounds loudest in God’s ear; 15 but the judge is cautioned not to favour the poor man out of regard for his poverty. 16 »Justice, justice, shalt thou pursue;« 17 – and the command is the keystone of the entire fabric of the social ethics taught by the Bible. 18 In short, Jewish ethical teaching is singularly free from mere sentimentalism. 19 Virtues are commended, not because they are intrinsically beautiful, but because they either ennoble the character or add to the common stock of human happiness. Æstheticism as the basis of morals is a notion which the Jew left to the ancient philosophers; a maudlin, hysterical morality he leaves to some more modern folks. His is a healthy, a robust, a practical ethic. Meekness that takes the form of useless self-abasement, the »pride that apes humility,« is out of the range of his sympathies. Idleness, though it has the odour of sanctity, self-imposed suffering endured for no reason in particular, he abhors. He has no benediction for misery. His aim is to banish it from every heart, not to revel in it as a luxury if it has invaded his own. And so there is a cheerfulness running through all the ethical teaching of Judaism which is as far removed from the austerity of the cloister as it is from latter-day pessimism. It is brought to a focus in the Talmudic saying that the Spirit of God rests not on the idle or the woebegone, but on those who do their duty and are glad. 20 The whole Bible is one great picture of activity. It has no place for monks or nuns; its men and women seek amid the struggles and trials of the world for the discipline that leads to moral perfection. Think only of that exquisite description of the virtuous woman at the end of Proverbs. The beauty of the portrait lies not in any abstract loveliness, but in its reasonableness, in its telling a tale that every heart, every common-sense mind, applauds. It is the portrait, not of a saint, but of what is equally noble and far more useful – a true woman. »She spreadeth out her hand to the poor«; »the law of kindness is on her tongue«; but »strength and dignity are her clothing,« and »she looketh well to the ways of her household.« She scorns to eat the »bread of idleness.« And it is she that is deemed worthy to be called a »God-fearing woman« – one whose »works shall praise her in the gates.« |701| »Seest thou a man diligent in his work? he shall stand before Kings.« 21 The dignity of honest labour could not be more forcibly expressed. The wise man in Proverbs reserves his fiercest indignation, his most biting sarcasm, for the sluggard, with his plea

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Ex 22,23. Ibid., Ex 23,3. Dtn 16,20. A warning against excess, even in ethics, is to be discerned in the striking Talmudic passage (yHag II,1): »The Law may be likened to two roads, one of fire, the other of snow. To follow the one is to perish by the fire; to follow the other is to die of the cold. The middle path alone is safe.« Compare Aristotle’s Doctrine of the Mean. 19 Maimonides cautions us against false pity. Compassion for the evildoer is cruelty to Society. (Maimonides, More Nebuchim, iii. 39.) 20 bShab 30b. 21 Spr 22,29.

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Was heißt gut handeln?

for a little more slumber, 22 his excuses about the lion in the street. 23 And the Talmud once more is the echo of Holy Writ. The Rabbins insist upon the glory of studying the Law, with almost wearisome iteration. And yet these very men were the most enthusiastic preachers of the Gospel of Work that the world has ever seen. »The study of the Law,« they said, »that does not go hand-in-hand with active industry is doomed to failure.« 24 »Great is labour,« they also taught, »for it honours the labourer.« 25 The saying recalls Mrs. Browning’s admonition: »… Get work, get work. Be sure ’tis better than what you work to get.« 26 »Flay a carcase in the streets,« continues the Talmud, »and take thy wage, and say not I am a great man, and the occupation is beneath me.« 27 »Greater even than the God-fearing man is he who lives by his toil.« 28 »He who does not teach his son a handicraft-trade virtually teaches him to steal« 29 – the Talmud clearly anticipated the modern agitation in favour of technical teaching. The Rabbins preached, but practiced too. In the schools they were the greatest of the great; in the world many of them followed the humblest callings. They were wood-cutters, shoemakers, masons, mere day-labourers – everything but idlers. 30 Manliness – this is the dominant note of the Jewish ethic. »It is a good sign,« the Rabbins characteristically remark, »when a man walks with head erect.« 31 One is reminded of Longfellow’s »Village Blacksmith,« who »looks the whole world in the face.« The same idea is discernible in the old Levitical law which warns us against hating our brother in our heart. 32 If we have a grievance against him we are to go to him in a straightforward way, and tell him so to his face. »Thou shalt surely rebuke thy neighbour.« 33 What a host of fatal misunderstandings would be prevented if this salutary command were generally obeyed! But while so much emphasis is laid on a robust morality, it must not be supposed that the gentler virtues are overlooked. The crowning excellence of Moses, Israel’s Lawgiver and greatest prophet, is his meekness. 34 Similarly, Hillel – perhaps the most eminent of the Rabbins – is chiefly praised because of his patience and humility. Centuries before the Sermon on the Mount was preached, the Psalmist declared that »the meek shall |702| inherit the earth.« 35 Be the oppressed, says the Talmud, rather than the oppres22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Ibid., Spr. 6,10. Ibid., Spr 26,13. mAv II,2. bNed 49b. Elizabeth Barrett Browning, »Aurora Leigh,« Book iii. bBB 110a. bBer 8a. bQid 29a. The passages in the Talmud relating to Work have been collected by Meyer 1878. ARN 37. Lev 19,17. Ibid. Lev 19,17. Num 12,3.ill Ps 37,2.

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sor. 36 He that is reviled, yet answers not, attains to a glory like that of the sun at the zenith. 37 And so, too, with the virtue of forgiveness. »Thou shalt not avenge nor bear a grudge,« 38 is one of the oldest precepts of the Hebrew Scriptures. The Israelite is expressly warned against refusing to help his enemy in his hour of need – when, for example, he seeks his ass that has gone astray, or when his ox has fallen under its burden. 39 »Rejoice not,« cries the wise man, »when thy enemy falleth.« 40 »If,« he adds elsewhere, »thine enemy be hungry, give him bread to eat; and if he be thirsty, give him water to drink.« 41 As for the Talmud – to give one typical instance – it tells 42 how, stung by the incessant persecution of his neighbours, a famous Rabbi hurls an execration at his tormentors. His wife rebukes him. The Psalmist, she points out, prays not for the destruction of the sinner, but for the extinction of sin. »Let iniquity,« it is written, »cease from the earth, and then the wicked will be no more.« 43 And this story serves also to illustrate the attitude of Judaism to Woman. The Talmudic sages who could imagine and describe a Rabbi being taught his duty by his wife, could not, in spite of some of their maxims on the subject being racy of the Eastern soil, and redolent of the spirit of the age, have had a low idea of female worth. 44 Akiba, too, the master of a legion of disciples, the martyr for the cause of Judaism, owed his eminence and his fame to his wife. 45 She first inspired him with the enthusiasm which made him a teacher in Israel. She has her Biblical counterparts in a Miriam, a Deborah, a Huldah, an Esther – in the typical virtuous woman I spoke of just now. The Rabbins would not have understood the expression »single blessedness.« »He who has no wife,« they taught, »lives without happiness, without religion, without blessing.« 46 In their opinion, clearly, marriage was not a failure; but then they were old-fashioned people who were not fortunate enough to live in the nineteenth century. »The unmarried man,« they declared, »is not a complete man,« 47 an idea which Shakespeare has expressed more fully: – »He is the half-part of a blessed man, Left to be finished by such as she; And she a fair divided excellence, Whose fullness of perfection lies in him.« 48 The utmost tenderness and consideration is enjoined on the husband. »The tears of the injured wife are counted in Heaven.« 49 36 37 38 39 40 41 42 43 44

bShab 88b. Ibid. bShab 88b. Lev 19,18. Gen 23,4–5. Spr 24,17. Ibid. Spr 25,21. bBer 10a. Ps 54,35. The harsh sayings about the sex, which are occasionally to be found in the Talmud, are matched by the »fierce invectives« of the Church Fathers. See Lecky 1869, vol. ii. cap. 5. (the Church Fathers). 45 bNed 50a. 46 BerR 16. 47 Ibid. BerR 16. 48 King John, Act ii., Scene I. 49 See bYev 62b.

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I trust the sex will not think me uncomplimentary in passing direct from Woman to animals. There is a connecting link between the two in the |703| tendency of vile men to take advantage of their comparative defenselessness. The claims of the lower animals on human pity and consideration have been strangely overlooked by most ethical systems, not excluding Christianity. »In the range and circle of duties,« remarks Mr. Lecky, »inculcated by the early Fathers, those to animals had no place. This is indeed,« he continues, »the one form of humanity which appears more prominently in the Old Testament than in the New. The many beautiful traces of it in the former … gave way before an ardent philanthropy which regarded human interests as the one end, and the relations of man to his Creator as the one question, of life, and dismissed somewhat contemptuously as an idle sentimentalism, notions of duty to animals.« 50 The only religious system, I believe, besides Judaism, which has given a prominent place to this duty, is that which is attributed to Zoroaster. 51 I need hardly cite the passages in the Hebrew Bible which insist upon a humane treatment of the brute. The precepts forbidding the muzzling of the ox when threshing, 52 the slaughter of the dam and the young on the same day, 53 and the taking of the mother-bird with the nestlings; 54 the command which insists upon domesticated animals sharing with their master the rest of the Sabbath day; 55 the saying in Proverbs that the righteous man regardeth the soul of his beast 56 – these are familiar to you all. The Rabbins enforced the duty with equal emphasis. Kindness to animals becomes, in the Talmud, the basis of a whole code of laws. The Rabbinical prescriptions regulating the mode of slaughtering animals intended for food are in part due to a desire to prevent the slightest unnecessary suffering. 57 A great Rabbi is said to have been punished with long and continued physical pain because when a calf which was about to be killed ran to him bleating for protection, he roughly repulsed the animal, exclaiming, »Go; that is thy destiny.« 58 On the other hand, in a beautiful legend which the poet Coleridge has paraphrased, the Rabbins tell how Moses, while he is still Jethro’s shepherd, seeks out a stray lamb and tenderly carries the tired creature in his arms back to the fold, and how a voice from Heaven cries, »Thou art worthy to be My people’s pastor.« 59 This sympathy for the dumb animals is all the more remarkable because the Rabbins lived in an age when cruelty to both man and beast was commonly condoned. The terrible scenes in the Roman arena are only too clear an indication of the inhumanity which prevailed in the civilized world during the Talmudic period. It is true that philosophers like Plutarch condemned 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Lecky 1869, vol. ii. cap. 4. The reference is to the Vendidad. Dtn 25,4. Lev 22,28. Dtn 22,6. Ex 22,10. Spr 12,10. The Israelite is enjoined to feed his animals before sitting down to his own meal. See bGit 62a. bBM 85a. ShemR 2, where it is also declared that it was because he was a kind shepherd that David was divinely chosen King of Israel.

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the cruelties of the amphitheatre, and even |704| taught the positive duty of kindness to animals. But a doctrine tardily preached by a handful of theorists whom men generally agreed to ignore, was embodied in practical precepts and enforced by the Jewish Sages, inspired by the ancient law of the Bible. The gladiatorial shows they declared to be an abomination, they went even further, and forbade the chase. 60 Had they lived to-day, they might have founded the Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals; but they would not have sanctioned coursing or tolerated a fox-hunt. This prohibition of cruelty to animals originates as much in the desire to prevent the moral debasement of the man as in the anxiety to save his possible victim from suffering. Judaism, indeed, is as strong in its subjective as in its objective morality. It condemns evil thoughts and evil desires, because of their degrading effects upon the mind and the soul, as severely as it stigmatizes evil acts. »Give me thy heart, my son,« 61 is the constant cry of Jewish ethics. Full of significance is the warning against the mere feeling of covetousness which is embodied in the Decalogue side by side with the denunciations of the most deadly sins. A Lord Amberley 62 could contemptuously question the utility of the warning; but a keener and a juster critic like Ewald clearly discerned its necessity. 63 »Look,« says Ruskin, too, »look into the history of any civilized nations; analyze the lives and thoughts of their nobles, priests, merchants, and men of luxurious life. Every other temptation is at last concentrated in this; pride, and lust, and envy, and anger, all give up their strength to avarice.« 64 In the same way the Israelite is cautioned against nourishing hatred, even though it be unaccompanied by any overt act. 65 And the man who, according to the Psalmist, is worthy of standing in God’s holy place, is he whose hands are clean but whose heart also is pure. 66 »What the Almighty chiefly desires,« says the Talmud in its turn, »is the heart.« 67 »As soon,« it teaches elsewhere, »as the thought of sin has entered the mind, the guilt has already commenced.« 68 With evil desire, it further points out, a fierce battle must be fought until the victory is gained. 69 And, finally, to quote one of those paradoxes in which the Rabbins delighted: »Sinful thoughts are worse than sin itself.« 70 Nor is the rectitude to be aimed at simply negative; it is not to consist in the mere defeat of evil longings – in a moral vacuum. A positive striving after goodness and nobility of life is praised as the highest effort. In the ascending scale of virtue the Talmud places above the avoidance of sin and above humility that absolute purity of character which, it declares,

60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

bAZ 18b. Spr 23,26. Amberley 1876, II 246. Ewald 1843–1859, II 153. Ruskin 1866, 15. Lev 19,17. See Siphrah on the passage. Compare Sach 7,10 ; Sach 8,17. Ps 23,3–4. bSan 106b. Midrash on Num 5,6. bBer 5a. bYom 29a.

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alone merits to have the gift of the Holy Spirit. 71 Professor Sidgwick, then, is less fair or less acute than usual when he affirms, to the disparagement of Judaism, that |705| »the contrast with the righteousness of the Scribes and Pharisees’ has always served to mark the requirements of ›inwardness‹ as a distinctive feature of the Christian code – an inwardness not merely negative, tending to the repression of vicious desires as well as vicious acts, but also involving a positive rectitude of the inner state of the soul.« 72 One other characteristic of Jewish ethics remains to be noticed. The notion that Judaism teaches a narrow morality, to be practiced for the exclusive benefit of the Jew, is as erroneous as the cognate idea that the God of the Hebrew Bible is a mere tribal God. It is impossible to explain away the stubborn fact that the old Mosaic Code contains the maxim, »Thou shalt love thy neighbour as thyself«; and that, as though to prevent any misunderstanding of the words, it almost immediately repeats the command in reference to the stranger. 73 Similarly, the poor man is to be liberally and considerately helped, even though he be a stranger or a sojourner; he is the Israelite’s »brother.« 74 Even the Egyptian, Israel’s original enemy, his taskmaster, his enslaver, is not to be oppressed. 75 He is a stranger – isolated, helpless; and »ye know,« adds the Law, »the heart of a stranger, seeing ye were strangers in the land of Egypt.« 76 The ancient wrong is to be forgotten; all that is to be remembered is the Egyptian’s need, his possible suffering. But let us turn to the Rabbins. To rob a Gentile is declared to be even worse than robbing a Jew, for besides being immoral it disgraces Judaism. 77 Nor is it only positive dishonesty, but deception, too, which is denounced, whoever its victim may be. 78 The duty of kindness is made equally universal. We are bound, the Talmud teaches, to relieve the poor, to visit the sick, to bury the dead, without distinction of race or religion. 79 When, according to the Rabbinical legend, the Egyptians were engulfed in the waters of the Red Sea, the angels desired to sing praises to God. The Almighty rebuked them. »My children, the work of My Hands, are perishing; this is not the time for psalmody.« 80 A Talmudic Rabbi was accustomed after his public devotions to offer up this prayer: – »May it be Thy will, O God, that no man may be my enemy, and that no enmity towards any man may take root in my heart.« Similarly, a modern Jewish Catechism teaches that it is our duty to say every day when we rise, and before we lie down, and before we commence our prayers: »Behold I am about to obey the command, ›Thou shalt love thy neighbour as thyself.‹ Forgive, O Lord, him that injures me.« 81 As for the Rabbins of the Middle Ages, I might quote a long string of 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

bAZ 20b. Sidgwick 1886, 112. Lev 19,34. Lev 25,35–36. Dtn 23,7. Ex 23,9. tBQ 10. bHul 94a. bGit 61a. Mechilta on Ex 15. Johlson 1830, 106.

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specific injunctions of the most precise and emphatic character, inculcating the practice of justice, honesty and charity towards all men, without distinction of creed. 82 I prefer, however, to cite |706| some maxims of these teachers on other subjects as well, because they will give you an idea of what Jewish ethical doctrine generally was at a time when morality was not the world’s strong point, when, moreover, persecution was doing its best to crush out every noble aspiration from the Jewish soul. The following is from a work of the eleventh century: 83 »Speak the truth; be modest; live on the coarsest fare rather than be dependent on others. Shun evil companions; be not like the flies which swarm in foul places. Rejoice not when thine enemy falls; be not both witness and judge; avoid anger, the heritage of fools.« The following maxims are two centuries later: 84 »No crown surpasses humility, no monument a good name, no gain the performance of duty. The good man leads others in the right path, loves his neighbour, gives his charity in secret, does right from pure motives and for God’s sake; he indulges in no idle talk, he is free from the lust of the eye; he is reviled yet answers not. He shuts his heart against all envy save that excited by another’s virtues; he makes the righteous his example; he deceives no one by word or deed.« A book 85 belonging to nearly the same age contains these aphorisms: »Serve not thy Maker because thou hopest for Paradise, but from pure love of Him and His commands. Give thy life for His service, like a soldier in battle. Deceive no one, neither Jew nor Gentile; quarrel with no one, whatever his creed. If one would borrow of thee, and thou hast doubts of being repaid, do not lie, saying thou hast no money. On him that oppresses the poor or buys stolen goods, no blessing rests. If a murderer would take refuge with thee, consent not to hide him, yea, though he be a Jew. Honour the virtuous Gentile, not the irreligious Israelite. In morals Jew and Christian, as a rule, are alike. On those that clip the coin, on usurers, on such as have false weights and measures, or who are in any wise dishonest in business, there is no blessing. The worst failing is ingratitude; it must not be shown even to the brute. More guilty even than those who are cruel to animals are the employers that ill-treat their servants. Pay thy debts before thou givest alms. If one has cheated or injured thee in any way, let not revenge tempt thee to do the same to him.« Here again are a few sayings chosen almost at random from various writers: »The alms given in health are gold; in illness, silver; left by will, copper.« »Put no one to the blush in public; misuse thy power against no man.« »Beware of drunkenness, and thou wilt not have to repent of shameful behaviour.« »A man’s virtues are pearls, and the thread on which they are strung is the fear of God; break the thread, and the pearls are lost one by one. But without morality there can be no real performance of religious duty.« 86 And thus we come back to our starting-point: Moral excellence is the essence of religion. 82 83 84 85 86

The whole question of the attitude of Judaism to the Gentile is ably discussed by Grünebaum 1867. »Orchot Chayim,« by R. Elieser b. Isaac. »Rokeach,« by R. Elasar, of Worms. »Sepher Chassidim.« All the foregoing extracts are translated from Zunz 1845.

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|707| That Judaism should so persistently have taught this grand truth becomes all the more remarkable when it is remembered that the history of the Jew is an almost unbroken record of suffering. The world seems, to have conspired to thrust him back by relentless persecution into the arms of formalism, to restrict the field for the play of his higher instincts to the external rites of religion. Shut out for many a weary century from intercourse with all men save the members of his own race, imprisoned in Ghettos, hunted down, hated, and reviled, it would have been no marvel if he had fixed his thoughts exclusively on the ceremonialism of the »Scribes and the Pharisees,« if he had shown no feeling whatever for a lofty ethical ideal, nay, if he had nursed in his heart and practiced in his life, sentiments of positive malevolence towards the world that so deeply wronged him. Well, indeed, might he have pleaded human nature as his justification. »Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? Fed with the same food, hurt with the same weapons, subject to the same diseases, healed by the same means, warmed and cooled by the same winter and summer, as a Christian is? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge?« 87 But Shylock is »the Jew that Shakespeare drew.« He is not the Jew of real life, even in the Middle Ages, stained as their story is with the hot tears, nay, the very heart’s blood, of the martyred race. The mediæval Jew did not take vengeance on his cruel foes. Nay, more than this, with a sublime magnanimity which rivals in grandeur, and far surpasses in duration, the noble patience ascribed to Jesus on the Cross, he could actually preach and practice the widest benevolence towards his oppressors. Throughout the Middle Ages, when Jews were daily plundered and tortured and done to death »for the glory of God,« not a word was breathed against the morality of the victims. They suffered because they were heretics, because they would not juggle with their conscience, and profess a belief that did not live in their souls. The venerable Dr. Döllinger, a critic whose fairness is beyond cavil, has pointed this out. 88 But Jewish ethics soared to still nobler heights. The Jew preserved his integrity in spite of his suffering; but more than this, he forgave – ay, even blessed – its authors. The Jews hunted out of Spain in 1492, were in turn cruelly expelled from Portugal. Some took refuge on the African coast. Eighty years later the descendants of the men who had committed or allowed these enormities were defeated in Africa, whither they had been led by their king, Don Sebastian. Those who were not slain were offered as slaves at Fez to the descendants of the Jewish exiles from Portugal. »The humbled Portuguese nobles,« the historian narrates, »were comforted when their purchasers proved to be Jews, for they knew that they had |708| humane hearts.« 89 It is in such incidents that the climax of Jewish morality is reached. If the lifelong anguish of Israel excites the most profound pity, only admiration can be yielded to that greatness of soul, which is the fairest gem in his crown of martyrdom.

87 Shakespeare: Merchant of Venice, act iii., scene 1. 88 Döllinger 1881. 89 Graetz 1897, VIII 379.

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19. Was heißt gut handeln? Hirsch B. Fassel (1862) 1

|28| Das Tugendgesetz ist kein empirischer, sondern ein reiner Grundsatz, d. h. nicht weil die Glückseligkeit durch Tugend erworben wird, soll der Mensch tugendhaft sein, sondern weil Gott dieselbe gebietet.

Erläuterung. »Seid nicht wie Knechte, die den Herrn dienen, in der Absicht ihren Lohn zu erhalten, sondern seid Diener des Herrn ohne Absicht auf Lohn« (mAv I,3.). Der Eudämonismus wird zwar von vielen Philosophen in Schutz genommen, so z. B. sagt ein französischer Moralist: »Les hommes n’ont qu’un penchant décidé, c’est l’intérêt.« Ferner: »L’amour propre bien entendu – dies scheint sagen zu wollen, so die Eigenliebe nicht in gemeines Interesse ausartet – est la source des vertus, morales et le premier bien de la sociteé.« (Duclos); und auch die Talmudisten verwerfen ihn nicht ganz. »Wer da gibt den Armen in der Absicht, sich dadurch die Seligkeit zu erwerben, oder damit sein Sohn leben bleibe – d. h. von Gott erhalten werde – der heißt dennoch ein Frommer« (bPes 8a.). Dem Einwurf der Philosophen gegen den Eudämonismus, dass dann die Sittlichkeit in das Gebiet der Sinnlichkeit gezogen, |29| und Klugheit die einzige Tugend einer solchen Moral wäre, man hätte nur dann klug zu berechnen alle Umstände und ihre Folgen, welche Vor- und welche Nachteile aus den Handlungen entstehen, und man wäre tugendhaft, oder wie ein anderer französischer Philosoph sehr treffend sagt: »Un intérêt quelconque, est un motif et non pas une sanction. Une sanction est invariable et imprescriptible, la même en tout temps une pour tous; au lieu qu’n intérêt et un motif varient a l’infini suivant les charactéres, les affections, les circomstances, les lumières etc.« (La Harpe); begegnet der Talmud 1. dadurch, dass er scheidet zwischen edlem und unedlem Interesse. So heißt es: »Der Mensch soll das Gute tun, wenn es auch aus Interesse geschehen sollte; denn durch das Thun aus nicht reiner Absicht, wird er gelangen zu einem Thun aus reiner Absicht« (bPes 50b. u. a. O.), während an einer andern Stelle gesagt ist: »Der das Gute bloß tut aus Interesse, für den wäre besser er wäre gar nicht geboren« (bBer 17a), und die Kommentare des Talmuds erläutern diesen Widerspruch: dass eine gute Handlung nur aus edlem Interesse anempfohlen, aber aus unedlem Interesse verworfen wird. (Siehe Tossaphoth ds.) 2. Ist dem Talmud dieser Einwurf noch dadurch beseitigt, als ihm die Tugendlehre, nicht wie der Philosophie, ein Produkt der Vernunft, sondern Gebot 1

[aus: Fassel, Hirsch B., Die mosaisch-rabbinische Tugend- und Rechtslehre bearbeitet nach der philosophischen Tugend- und Rechtslehre des seeligen Krug, und erläutert mit Angabe der Quellen. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Groß-Kanizsa 1862, 28–46. Die Einteilung des Originaltextes in Paragraphen und Unterkapitel ist in der vorliegenden Textwiedergabe aufgehoben.]

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Gottes ist. Dem Talmud ist Alles schon ein Gegebenes, nicht ein erst zu Resultierendes; nicht weil die Vernunft, sondern weil Gott es gebietet, musst du tugendhaft sein; das Interesse kann also anspornen zur Tugend, aber niemals verleiten zu Handlungen, die das Tugendgesetz verbietet. Der ganze Unterschied bestehet nur darin, ob man die Handlungen, welche Gott gebietet, aus dieser oder jener Absicht tut; und darum ist, wie gesagt, dem Talmud der Eudämonismus nicht ganz verwerflich. Aber doch erkennt er (…) den Grundsatz der Tugend als einen reinen, und eine Tugend sowohl aus positiver – Erwartung der Belohnung – als auch aus negativer Absicht – Furcht vor Bestrafung – bildet ihm nur einen untergeordneten Grad der Tugend. »Aus den begangenen Sünden werden Tugenden, wenn die Buße aus Liebe zur Tugend geschieht, aus den Sünden werden Irrtümer, wenn die Buße aus Furcht vor Strafe geschieht« (bYom 86b). »Es soll der Mensch nicht tugendhaft sein, um die Segnungen zu er- |30| halten, welche Gott den Tugendhaften verheißen, sondern aus reiner Liebe für Gott, der die Tugend geboten« (Maimonides, Hilchot Teschuba 10,1 ff.). Charakteristisch ist folgende Stelle: »Eine Stunde der Buße und der guten Werke in dieser Welt, ist mehr wert als das ganze Leben in der künftigen Welt, und eine Stunde der Seelenfreude in der künftigen Welt ist mehr wert als das ganze Leben in dieser Welt« (mAv IV,17). Der Talmud erkennt hier, dass eine Stunde jenseitiger Freuden das ganze irdische Leben aufwiegt; aber da nicht die Freude, sondern das Thun des Guten, um Willen des Guten, der Zweck des Menschen ist, so ist doch wieder eine Stunde der guten Werke mehr wert, als alle Freuden des Jenseits. Das Tugendgesetz ist ein apodiktischer Grundsatz, d. h. ein unbedingtes Gebot, weil Gott, vermag desselben, eine gewisse Handlungsweise als schlechthin notwendig fordert. Diese Notwendigkeit aber ist kein physischer Zwang, sondern eine psychologische Nötigung.

Erläuterung. Es ist schon (…) bemerkt, dass das, was den heutigen Philosophen die Vernunft mit ihrem kategorischen Imperativ ist, das ist dem Talmud Gott mit seinem Gebote, und dieses Gebot nötigt den Menschen so und nicht anders zu handeln. Diese Nötigung aber ist keine mechanische, keine Entziehung des freien Willens, sondern eine psychologische. »Alles ist vorhergesehen, dem Menschen aber ist der freie Wille belassen« (mAv III,15). Es ist aber auch keine psychologische Nötigung vermög der natürlichen Beschaffenheit des Menschen, wie z. B. das Nichtgenießen des Giftes, auch hier ist der Mensch zu diesem Nichtgenusse nicht mechanisch, nicht durch Druck, Stoss, Fesseln u. dgl. gezwungen, sondern bloß psychologisch, weil er erkannt hat, dass das Gift den Menschen töte. Dieser psychologische Zwang beruht aber auf der natürlichen Beschaffenheit des Subjekts. Aber die psychologische Nötigung zur Befolgung der Tugendlehre, beruht auf der moralischen Beschaffenheit des Subjektes, dem in sich haben- |31| den Gefühle, Gottes Willen zu erfüllen (§. 1); es ist daher gewissermaßen ein Sollen, aber kein Müssen. Weil aber jede Nötigung eine Art von Zwang involviert, pflegt sich die heilige Schrift bei manchen Verboten des Ausdruckes zu bedienen: »Du kannst dieses und jenes nicht tun (Lo tuchal. Ex 33,20. Dtn 12,17. – Dtn 16,5 – Dtn 17,15. – Dtn 22,3), worauf aber immer der Talmud bemerkt: »Du kannst wohl, aber du darfst nicht;« d. h. es ist dir der freie Wille nicht benommen, es zwingt dich auch nicht deine natürliche Beschaffenheit: »Der Lohn für die Tugendgebote, und die Strafe für die Tugendverbote erfolgt nicht auf dieser Welt« 131

Hirsch B. Fassel (1862)

– nicht in deiner gegenwärtigen Beschaffenheit – (bQid 39b), sondern dich nötigt die Erkenntnis, die dir gebietet Gottes Gebote zu beobachten. Diese psychologische Nötigung unterscheidet sich von der ersten Art, dass diese nicht absolut, d. h. wohl allgemein, aber doch gewissermaßen beschränkt ist; es lässt sich z. B. ein höherer Zweck denken, um dessentwillen man das Leben aufgeben, also den Giftbecher trinken soll. Dagegen gibt es keinen höhern Zweck als das Tugendgesetz, und die moralische Nötigung zur Befolgung desselben ist eine absolute: es lässt sich keine Zeit und kein Verhältnis denken, wo die sittliche Würde des Menschen, oder, wie es der Talmud nennt, »die Regierung des Himmels über den Menschen« aufgegeben werden dürfte. »Ich gehorche Niemanden, auch nur für einen Augenblick die Regierung des Himmels über mich, außer acht zu lassen« (bBer 16a). »Nur im Tode wird der Mensch befreiet von der Beobachtung der göttlichen Gebote« (bShab 30a, u. a. O.). Jesus von Nazareth, der aus der talmudischen Schule hervorging, sprach daher: »Bis dass der Himmel zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch Ein Titel vom Gesetze« (Mt 5,18), ein Spruch, der im Talmud eine bedeutende Rolle spielt. Der sinnliche Wille muss der Vernunft, als der Erkennerin des Willen Gottes, welcher das autonomisch Verpflichtende ist, untergeordnet werden.

|32| Erläuterung. »Wer ist ein Held? Wer sich beherrscht« – d. h. den eigenen Willen zu bezwingen weiß – »denn es stehet geschrieben: »Langmut ist besser denn Stärke; seinen Willen beherrschen mehr, als Städte erobern«« (mAv IV,1). Jede Verpflichtung setzt voraus ein gesetzgebendes und ein untergeordnetes Vermögen. Dieses ist der Wille, jenes ist nach der talmudischen Auffassung Gott, oder der Wille Gottes; und es sollte daher (…) heißen: der Wille des Menschen muss dem Willen Gottes untergeordnet werden. »Lass deinen Willen weichen vor dem Willen Gottes« (mAv II,4.). Ich habe aber absichtlich hier die Kraft, welche verpflichtet, Vernunft genannt; weil, wie Krug sehr richtig bemerkt, »die Vernunft es ist, welche den Willen Gottes erkennt, wenn man auch annehmen mag, Gott habe seinen Willen dem Menschen bekannt gemacht«. Beide Ansichten, die moralische und die religiöse, laufen also im Grunde auf Eins hinaus. Ferner auch, weil zur Beherrschung des Willens, es nach talmudischen Grundsätzen nicht genügt, nur das zu befolgen, was der Wille Gottes ist, d. h. was das göttliche Gesetz gebietet, sondern man muss oft mehr tun als die Pflicht gebietet, und mehr unterlassen, als sie verbietet. »Ich erleichtere es Andern, erschwere es aber mir selbst« (bBer 22a); »Dem Erlaubten freie Zügel gelassen, kann zum Unerlaubten führen« (Orach Chajim 240,1) u. a. m. Besonders ist ein Sprichwort im Talmud sehr häufig: »Hinweg! Hinweg! spreche man zum Nasiräer, Du sollst dem Weinberge nicht einmal nahe kommen«. – (Hier sind nicht gemeint die rabbinischen »Umzäunungen,« denn diese haben ihre Unterlage in der heil. Schrift, also auch in dem ausgesprochenen Willen Gottes; sondern die Entsagungen, die der Mensch, wenn auch nicht immer, doch zu Zeiten, sich selbst, vermöge Eingabe seiner Vernunft auflegen soll); und so muss der sinnliche Wille nicht nur dem Willen Gottes, sondern auch der eigenen Vernunft untertan sein. Ein Subjekt der Verpflichtung kann nicht sein ein unvernünftig Wesen, denn bei diesem kann bloß Zwang, nicht aber moralische Nötigung gedacht werden; aber auch 132

Was heißt gut handeln?

nicht ein rein vernünftig Wesen, weil dieses schon von selbst auf das absolut Gute gerichtet ist, und keinen andern Willen haben |33| kann: sondern nur ein Wesen, wie der Mensch es ist, mit Vernunft und sinnlicher Begierde; daher die Parabel: »Moses führte einen Beweis vor dem Throne Gottes, dass die Engel, als reinvernünftige und nicht sinnliche Wesen, nicht geeignet sind, das Gesetz zu empfangen« (bShab 88b ff.). Das Tugendgesetz ist für den Menschen der objektive Bestimmungsgrund seiner Handlungen. Soll aber die Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetze nicht eine bloß äußere, sondern auch eine innere sein; so muss auch ein subjektiver Bestimmungsgrund, eine innere Triebfeder da sein, und das ist: der gute Trieb.

Erläuterung. Des Lohnes und des Nutzens wegen soll das Tugendgesetz nicht befolgt werden (…), es muss also eine andere Triebfeder im Menschen sein; diese nennen die Philosophen: »die innere Achtung gegen das Gesetz«, der Talmud nennt sie: »der gute Trieb.« (Jezer Hatob.) Der Mensch hat, nach dem Talmud, einen bösen (Jezer Harah), und einen guten Trieb; jener ist der Naturtrieb, welcher seinen eigentümlichen Wirkungskreis hat, und nicht fragt nach dem, was recht und unrecht, gut und böse, sondern nur nach dem, was angenehm und unangenehm, nützlich und schädlich ist; und lässt sich daher nicht von ethischen, sondern von physischen Gesetzen bestimmen. Der gute Trieb ist das innere Ergötzen an dem Werte der Tugend, wie Kant (Kritik der praktischen Vernunft) sagt: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt, der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« »Die Tugend«, sagt Kant ferner, »findet selbst wider Willen Eingang im Gemüte, und erwirbt sich – auch beim Bösen – Verehrung, wenn auch nicht immer Befolgung.« Und auch der Talmud sagt dieses: »Die Schlechten sind selbst bei denen, die von ihrer Schlechtigkeit Nutzen ziehen, verächtlich« (bSan 29a). Der böse und der gute Trieb sind immerwährend im Kampfe; es wird dem Tugend- |34| haften der Sieg immer leichter, er findet am Guten immer mehr Geschmack und Lust und Freude. »Ein gutes Werk ziehet das andere herbei« (mAv IV,2), weil man immer mehr gewöhnt wird das Gute zu tun und dann der Kampf weniger Mühe kostet: aber gänzlich hört der Kampf zwischen dem guten und dem bösen Triebe im ganzen Leben nicht auf. »Traue dir nicht bis an deinem Sterbetage« (mAv II,4.). So sagt auch Krug: »Zur reinen Liebe kann es der Mensch nicht bringen, so lange er ein sinnliches Wesen ist. – Behauptet dennoch Jemand das Gegentheil, so hat er entweder das blosse Ideal vor Augen und denkt es durch Selbsttäuschung als wirklich erreichbar, oder er ist ein prahlerischer Tugendheld.« Auf diesen Kampf sind anzuwenden die schönen Worte Youngs (Night Thoughts) »Body and soul, like peevisch man and wife; united jar, and yet are loth to part.« Sehr sinnig lässt der Talmud den bösen Trieb gleich bei der Geburt, den guten Trieb aber erst bei der religiösen Mündigkeit kommen, denn sinnliche Begier hat auch das Kind, innere Achtung aber gegen das Tugendgesetz, erst der vernünftige Mensch. Der Mensch ist ein endliches Wesen, daher kann seine sittliche Vollkommenheit auch bloß endlich, d. h. beschränkt sein, und ist stets noch eines Wachstums fähig: daher kann der Mensch niemals genug tugendhaft sein, sondern muss immer streben noch tugendhafter zu werden.

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Erläuterung. »Seid heilig, denn heilig bin ich, Gott euer Herr« (Lev 19,2). Diese Stelle gebietet zu streben heilig zu werden, wie Gott heilig ist. Die Heiligkeit, aber kann nur in Gott gedacht werden, weil seine sittliche Vollkommenheit keines Wachstums mehr fähig ist, der Mensch hingegen kann nur immer heiliger, d. h. vollkommener werden, aber niemals die Heiligkeit, d. h. die absolute Vollkommenheit erreichen. Genügsamkeit in der Tugend ist daher ein großes Laster; wer nicht vorwärts schreitet, schreitet zurück, ein Stillstand in der mensch- |35| lichen Vollkommenheit ist nicht möglich. »Dir ist es nicht gegeben, das Werk ganz zu vollenden, daher kannst du niemals frei sein, dich ihm zu entziehen« (mAv II,16). Selbst die Zukunft denkt sich der Talmud nicht als ein ruhendes beschauliches, sondern auch als ein fortschreitendes Leben. »Die Frommen haben keine Ruhe – d. h. bleiben nicht auf einer Stufe stehen – nicht in dieser und nicht in jener Welt« (bBer 64a). Das Streben nach Vollkommenheit ist die Aufgabe des Menschen selbst, die Einwirkung einer göttlichen Macht in dieser Beziehung, d. h. eine Vorherbestimmung über die menschlichen Handlungen wird vom Talmud mit aller Strenge verworfen. »Glaube nicht was jene Völker sagen, dass Gott einwirkt; dass der Mensch fromm werde oder schlecht bleibe; jeder Mensch kann so fromm werden wie Mose und so schlecht wie Jerobeam. Es zwingt ihn Niemand, es hat Niemand in dieser Beziehung etwas voraus bestimmt, sondern der Mensch hat einen unbeschränkten freien Willen, und ist dieses ein hoher Grundsatz und die Säule der Tugendlehre; so stehet auch geschrieben: »Siehe ich habe dir vorgelegt das Leben und den Tod« (Maimonides, Hilchot Teschuba 5,2–3 entnommen aus bNid 16b, u. a. O.). – Wenn es wieder heißt: »So Gott den Menschen nicht beistehen möchte, würde er dem bösen Triebe unterliegen« (bSuk 52b, u. a. O.), so ist darunter nichts anders zu verstehen, als wenn keine geoffenbarte Religion wäre, so könnte der Mensch, mit der Vernunft allein nicht Sieger bleiben, in dem Kampfe des Lebens. Und da die Religion von Gott uns gegeben ist, so leistet Gott Beistand, der bösen Begierde zu widerstehen und rein zu bleiben. – Hillel, der zu einer Zeit gelebt, wo manche Theologen zu lehren anfingen: der Mensch könne durch sich selbst gar nicht tugendhaft werden, sondern die Tugend im Menschen bewirke Gott, und welche Gnade zu erlangen, der Mensch die dargebotenen Gnadenmittel anwenden müsse u. s. w., wonach es keine natürliche, sondern nur eine übernatürliche Tugend gäbe, sprach darum als Gegensatz: »Wenn ich selbst nichts tue für mich, wer kann weiter für mich tun?« (mAv I,14). |36| Die Tugend an sich ist ein Vollendetes und Absolutes, aber die Tugend der Menschen ist einer Gradbestimmung fähig; da aber die größere oder kleinere Größe derselben intensiv ist, so bleibt die genaue Bestimmung und Beurteilung derselben ungewiss.

Erläuterung. »Richte deinen Nächsten nicht, wenn du nicht in seiner Stellung warst« (mAv II,4). Es ist aber eine Unmöglichkeit ganz in der Stellung des Andern zu sein, oder je dahin zu kommen; und um genau den Grad der erlangten Tugendgröße zu bestimmen, müssen in Erwägung gezogen werden: a) der Umfang der Handlung. – Es heißt zwar: »Viel tun oder wenig tun ist Gott gleich, nur soll die Absicht eine himmlische sein« (bMen 110a); damit aber ist bloß gemeint, wenn der, der wenig tut, nicht mehr tun kann, 134

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wie das Beispiel daselbst von dem Opfer des Armen zeigt. Wenn ihm aber mehr zu tun möglich ist, so kann gewiss nicht das Wenige dem Vielen gleich geachtet werden. (Siehe auch Magen Abraham zu Orach Chajim 1 Scholie 6). – b) Die Hindernisse, die zu bekämpfen waren. – Die Tugend, die Gott selbst lobend verkündet, ist, wenn der Tugendhafte große Versuche und Hindernisse zu bekämpfen hat. (Siehe bPes 113a und b) – c) Die Gesinnungen, d. h. die innern Motive, welche mitgewirkt haben. – Über die Wichtigkeit der Gesinnung zur Grundbestimmung der Tugend siehe [oben]. – Die Dauer des tugendhaften Verhaltens, welche die Philosophen mit als Gradbestimmung angeben, hat wenig Vertretung im Talmud: nach diesem »kann der Mensch sich seine Welt erkaufen in einer einzigen Stunde« (siehe besonders Rosch Haschanah 17b). Und welcher Mensch kann alle diese Umstände nun wissen und bemessen? Ein völlig gewisses Urteil über den Höhegrad der menschlichen Tugend kann daher nur das allwissende Wesen fällen. »Es gibt nur Einen, der richten kann« (mAv IV,8). Das Tugendgesetz hat keine Kleinigkeiten, keine s. g. Sündchen, sondern wo von Pflicht die Rede ist, ist alles von Bedeutung. |37| Es gibt aber wieder kein absolut großes Laster, sondern der Besserung und der Reue widerstehet gar nichts.

Erläuterung. »Sei achtsam auf das geringfügigste Gebot, wie auf das wichtigste« (mAv II,1). »Selbst die kleinsten Gebote, die du glaubst mit der Ferse treten zu können, sollst du beobachten« (Midrasch Jalkuth Ekeb.). Die talmudische Tugendlehre unterscheidet sich in dieser Beziehung noch von der philosophischen, dass sie auch die irrtümlichen Handlungen, die wohl gesetzwidrig, aber nicht unsittlich sind, d. h. wo die Handlungen objektiv gegen das Gesetz geschehen, aber doch kein Mangel an Achtung gegen das Gesetz Statt gefunden hat, als Sünden erklärt, die der Vergebung benötigen; und wenn einer und derselbe Irrtum sich mehrere Mal wiederholt, als Mutwille betrachtet (bBes 16b). Dagegen gibt es wieder kein Laster, welches nicht durch Reue und Busse gesühnt werden kann. »Wer sein ganzes Leben hindurch tugendhaft war, und zu Ende desselben lasterhaft wird, verliert sein ganzes Verdienst und heißt ein Bösewicht. Wer lasterhaft war sein ganzes Leben hindurch, und zuletzt tugendhaft wird, dessen Sünden werden nicht mehr gedacht, er heißt ein Tugendhafter« (bQid 40b). »Keine Sünde widerstehet der Reue und Busse« (Maimonides, Hilchot Teschuba 3,14 und 6,2, aus bAZ 7b.), d. h. es ist keine Sünde so groß und so nachhaltig, dass sich der Täter nicht mehr bessern, und die nicht durch aufrichtige Reue gesühnt werden könnte. Sehr richtig bemerkt Krug: »Wenn der Lasterhafte ein Sklave der Sünde und des Lasters genannt wird, weil ihn das Böse gleichsam so beherrscht, dass es scheint, als hätte er seine Willensfreiheit gänzlich verloren: so ist dieses doch nur eine bildliche Redensart; weil die Willensfreiheit, zu den ursprünglichen Bedingungen eines vernünftigen Wesens gehörend, nie ganz aufgehoben werden kann. Die Sklaverei des Lasterhaften ist eine freiwillige; er könnte jeden Augenblick seine Ketten zerbrechen, wenn er nur ernstlich wollte.« Manche Stellen der heiligen Schrift haben zwar den Schein, als ob sie besagten, es gäbe Sünder, die unwiederbringlich verloren sind, aber es ist bekannt, dass die heilige Schrift eben so bildlich spricht wie Menschen sprechen. (Siehe bHul |38| 90b). Es ist daher sehr voreilig von Maimonides, 135

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(H. Teschuba 6,3) aus solchen Stellen zu schließen, dass Gott manchen großen Sünder verhindere sich zu bessern, damit er eben in seinen Sünden zu Grunde gehe. – Also Reue und Besserung sühnt alle Sünden, nur verhindere Gott die Besserung, das ist eine Hypothese – nicht aus dem Talmud geschöpft – welche dem Geiste des Judentums ganz widerspricht. »Wir stimmten beide darin überein, dass keine ewige Höllenstrafe zu fürchten sei, denn Gott kann keines seiner Geschöpfe unaufhörlich elend sein lassen. So kann auch kein Geschöpf durch seine Handlungen die Strafe verdienen ewig elend zu sein.« – »Was ich zu fürchten habe ist die Sünde selbst. Habe ich sie begangen, so ist die göttliche Strafe eine Wohltat für mich – und sobald sie aufhört Wohlthat für mich zu sein, so bin ich versichert, sie wird mir erlassen« (Worte Mendelssohns in Jerusalem). Wenn doch der Talmud sagt: »Wer die Gesamtheit zur Sünde anhält und verleitet – d. i. wer eine falsche Sekte bildet, wie Jerobeam, der daselbst als Muster angeführt wird – dem wird es nicht gelingen sich zu sühnen« (mAv V,18), so ist dieses einerseits eine psychologische Wahrheit, die falsche Scham hält gewöhnlich einen Sektenstifter zurück seinen Irrtum einzugestehen: anderseits ist es eine Konsequenz des Frevels selbst, er lässt sich seiner Natur nach sehr schwer verbessern; denn wohl kann der Mensch selbst sich ändern und bereuen, wie will er aber alle die bessern, die er verleitet hat? Bildlich sagt der Talmud: »der gebesserte Sektenstifter wäre dann im Garten Eden, und seine von ihm verführten Jünger im Gehinom.« (bYom 87a. Und da eben nur hier die Rede von einem Sektenstifter ist, so fällt die Frage vom Tossaphoth Jebamoth 109b weg). Bemerkt muss noch werden, dass es zwar in Aboth lautet: »Es wird ihm nicht gelingen sich zu bessern«, während es in Joma heißt: »Es wird ihm kaum gelingen u. s. w.« Übrigens gilt hinsichtlich der Gradbestimmung des Lasters ganz dasselbe wie bei der Gradbestimmung der Tugend (…), und hinsichtlich des Kampfes mit dem bösen Triebe, ganz das Entgegengesetzte, was (§. 6) von dem Tugendhaften gesagt wird, nämlich das Laster macht den Sieg der guten über die böse Begierde (das Übergewicht der Aktivität im Moralischen |39| über die Passivität) immer mühevoller und schwieriger. »Eine Sünde ziehet die andere nach sich« (mAv IV,2). »Wehe! Sie ziehen die Sünde an schwachen Fäden, aber bald wird das Laster stark und fest wie Wagenseil« (Jes 5,18). Unsittliche Handlungen können aus Vorsatz oder auch aus Nachlässigkeit begangen werden; es können ferner sein: Begehungs- oder Unterlassungssünden. Der höchste Grad der Unsittlichkeit ist, sündigen aus Liebe zum Bösen. In dem Urtheile über Handlungen eines Andern soll die mildernde Ansicht genommen werden.

Erläuterung. Irrtümliche Handlungen können nicht unsittliche heißen (…); aber selbst beim Bewusstsein der Gesetzwidrigkeit kann die Handlung mit kaltem Blute, oder aus Unachtsamkeit, Unbesonnenheit oder Übereilung begangen werden. Nachlässigkeitssünde heißt im Talmud »Sodon«, vorsätzliche Sünde »Peschah.« Über Unsittlichkeit aus Liebe zum Bösen, sagt Kant: »Die Bosheit gedacht als höchster Grad, ist eine unmittelbare Neigung, die ohne alle Lockung, am Bösen Gefallen hat und es ohne alle Rücksicht auf Gewinn, Vorteil und Genuss, bloß weil es böse ist, ausübt.« Jedoch sowohl Kant als auch Krug bezweifeln – und wahrlich mit Recht – ob irgendein Mensch solcher Bosheit fähig sei. Der Talmud nennt einen solchen Schlechten: »Einen Abtrünnigen aus Trotz« – um zu kränken 136

Was heißt gut handeln?

(Mummar lehachiss); als Gegensatz von einem Sünder aus Sinnlichkeit (Mummar letheübon.). – Es scheint aber, dass die Ursache zu finden ist in dem Umstande, weil der Talmud das Zeremonialgesetz mit dem Moralgesetz identifiziert (…), und bei jenem ist allerdings ein solcher Grad denkbar. Gibt es nicht vielleicht noch jetzt Menschen, die Zeremonialgesetze übertreten, bloss nur um die Religionsgenossenschaft dadurch zu kränken? Was die Beurteilung Anderer anbelangt, so heißt es: »Beurteile jeden Menschen nach der mildern Seite.« (mAv I,6). Dieses aber ist nur ein Moral-, aber kein Rechtsprinzip; der Richter kann und soll oft diese Regel nicht befolgen: »So lange |40| die streitenden Parteien vor dir stehen, betrachte sie als Schuldige, und wenn sie entlassen sind, – wo du nun aufhörst zu sein Richter gegen Partei, sondern bist wieder Mensch gegen Mensch, – betrachte sie, als wäre keiner der Schuldige« (mAv I,8). Siehe auch Schabbat 127b manche Geschichten, wie sehr der äußere Schein trügt, und wie man daher in der Beurteilung Anderer die mildere Seite nehmen müsse. Da die sittliche Vollkommenheit einer Steigerung immer fähig ist (§. 7), so ist die menschliche Tugend stets als nicht vollkommen anzusehen, und der Mensch ist daher niemals ohne Schuld. Je ernster und aufrichtiger der Mensch nach sittlicher Vollkommenheit strebt, desto stärker und lebendiger muss er sich seiner Unvollkommenheit bewusst werden, und kann sich daher niemals seines Verdienstes überheben.

Erläuterung. »So gerecht ist kein Mensch auf Erden, dass er nur Gutes tue, ohne zu fehlen« (Koh 7,20). Was der Talmud von vier biblischen Personen erzählt, die nie gefehlt haben sollen (bShab 55b), ist vielleicht bloß eine Mythe, jedenfalls aber eine Ausnahme von der Regel, und gehört nicht hieher. Daraus folgt ganz natürlich, dass sich der Mensch seiner Verdienste wegen nicht überheben kann. »Ein freundlicher Blick, ein bescheidenes Gemüt und ein demütiger Sinn, sind die Eigenschaften der Jünger Abrahams« (mAv V,19). »Stets sei sehr demütig« (Ds. IV,4). Es lässt sich dies (…) auch umkehren: Es ist kein Mensch ohne irgend ein Verdienst. »Verachte daher gar keinen Menschen« (Ds. IV,3). »Und halte auch dich niemals für einen Verworfenen« (Ds. II,13), damit dir niemals die moralische Kraft zur Besserung erlahme (…). Ein vernünftiges Wesen ohne alles Verdienst ist das Ideal des Bösen, der Teufel, und nicht Mensch. Es muss hier bemerkt werden, dass die Talmudisten von dem Glauben an Satan und Dämonen nicht frei waren; aber |41| so prägnant, nämlich als vernünftige Wesen von absolut bösem Willen, sind sie im Talmud nicht dargestellt. Krug sagt: »Wenn man nicht nach dem manichäischen Dualismus zwei unendliche im ewigen Widerstreite des Guten und Bösen begriffene Wesen annehmen wollte, so müssen auch die Teufel als endliche (sterbliche) Wesen gedacht werden.« Und wirklich heißt es im Talmud: »Die Schedim essen wie Menschen, vermehren sich wie Menschen und sterben wie Menschen«. (bHag 16a). Es wird sogar von einem recht gutmütigen Dämon dieser Gattung, »Josef Scheda« genannt, im Talmud erzählt. Der König der Schedim ist nicht Satan, sondern Aschmodai, welcher als ein recht gemütliches Wesen geschildert wird. Übrigens influiert der talmudische Teufelsglaube weder auf irgend eine Glaubensmeinung, noch auf irgend einen Glaubenssatz, er ist ein einfaches Phantasienspiel. – Der einzige Satan, als angenommener 137

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Ankläger, hat durch die Kabbala Eingang gefunden in das Gebiet der Gebete, und der Synagogal-Gebräuche, als z. B. das Nicht-Schoferblasen am Rüsttage des Rosch Haschana, um dadurch Satan zu verwirren, – und dient zu nichts als zu beweisen, dass die damalige Anschauungsweise auch auf die Talmudisten eingewirkt hat. Krug zitiert den Hamb. Corresp. vom 4. November 1817, wo berichtet wird: »Am 14. October 1817 ist in England der Teufel, in Gestalt eines schwarzen Schweins, förmlich todtgeschlagen, aufgehängt und verbrannt werden.« (Vergleiche bYom 69b einen ähnlichen Bericht, welcher aber wenigstens eine poetische Parabel bildet, dass ohne Leidenschaft die Welt nicht bestehen würde. Und der Hang zum Götzendienst wird dort als ein Löwe aus Feuer, mit einem flammensprühenden Rachen geschildert, ein echt dichterisches Bild, was treffend die Unduldsamkeit des eifrigen Götzendienstes porträtirt, welcher alle Andersdenkende mit Feuer und Flammen vertilgen möchte, wie z. B. der Maccabäerkrieg zeigt). Ist es dann noch zu verwundern, dass die Talmudisten vor achtzehnhundert Jahren an Schedim geglaubt haben? Aber dieser Glaube war so unschuldig, dass sie sogar Teufelbeschwörung – nicht um sie von Besessenen auszutreiben, denn von diesem weiß der Talmud gar nichts, sondern um sich mit ihnen zu besprechen u. dgl. – erlauben |42| (Siehe Jore Deah 189,16), weil ihr Teufel etwas ganz andres war, als der Teufel der spätern Zeit, und sogar ihr Satan konnte bei seinen Handlungen gute Absichten für Israel haben (Siehe bBB 16a). R. Lakisch (daselbst) spricht aber die richtige Ansicht aus: »die böse (sinnliche) Begier ist der Satan und zugleich der Todesengel.« Sonach ist kein Satan außer, sondern in uns, welcher auch zugleich – bei Übermaß der Sinnlichkeit – den Menschen tötet. – R. Lakisch scheint überhaupt erleuchtete Ansichten gehabt zu haben; so sagt er (bAZ 3b): »Es gibt für die Zukunft kein Gehinom, sondern Gott wird hervorziehen die Sonne aus ihrer Hülle« – die Sonne der Erleuchtung, welche in diesem Leben durch die Hülle des Körpers verdunkelt ist – »die Frommen werden durch sie geheilt sein« – selig leben in dem frohen Bewusstsein des getanen Guten – »und die Frevler werden durch sie gerichtet sein« – Unruhe fühlen, durch das vollständig erlangte Bewusstsein habender Schuld. – Verdienst und Schuld in moralischer Beziehung lassen sich nicht übertragen, daher kann weder fremdes Verdienst noch fremde Schuld als zurechnungsfähig betrachtet werden.

Erläuterung. »Eltern sollen nicht getötet werden, ob der Kinder, und Kinder sollen nicht getötet werden, ob der Eltern; Jedweder soll bloß für seine Sünde getötet werden« (Dtn 24,16). Juridisch genommen ist dieses sich von selbst verstehend, die Tat kann doch nur dem imputiert werden, der sie begangen hat. Doch im praktischen Leben geniessen die Kinder tugendhafter Eltern, da bei ihnen eine bessere Erziehung und gute Beispiele, die sie im Elternhause vor Augen hatten, vorausgesetzt wird, Bevorzugung, Zutrauen u. s. w., welche zum Teil ihnen als Anerkennung des elterlichen Verdienstes gewährt werden; und umgekehrt werden Kinder schlechter Eltern, wegen eines gewissen Misstrauens in Betreff ihrer Erziehung und des bösen Beispiels, das sie im Elternhause gehabt haben dürften, zurückgesetzt, und oft sogar gemieden; darum spricht die heil. Schrift: »Gott sucht heim das Vergehen der Eltern an den Kin- |43| dern« (Ex 20,5). Weil aber dieses im gewöhnlichen Leben allerdings sich so verhält, aber den Gesetzen der Tugendlehre widerspricht, 138

Was heißt gut handeln?

indem was die Rechtslehre über Zurechnung festsetzt, auch die Tugendlehre anerkennt, so scheint dieser mosaische Ausspruch nicht moralisch begründet; und an einer Stelle sagt darum der Talmud – mit bemerkenswerter Kühnheit: – »Vier Aussprüche tat Mose, welche von andern Propheten aufgehoben wurden. Mose sagte: »Gott sucht heim die Sünden der Eltern an den Kindern«, Jecheskel (Ez 18,20) aber hat ihm widersprochen. »Die Person, die gesündigt hat, die stirbt! Der Sohn büsst nicht für den Vater und der Vater büsst nicht für die Sünde des Sohnes. Die Gerechtigkeit des Gerechten kommt ihm anheim und der Frevel des Frevlers kommt über ihn« (bMak 24a). An einer andern Stelle aber sagt der Talmud: »Moses meint, wenn die Kinder dieselben Sünden begehen, welche die Eltern begangen haben« (Sanhedrin 27b.), d. h. die Kinder böser Eltern büssen nur die eignen Frevel; aber weil sie schwerlich diese Frevel begangen hätten, wenn sie dieselben nicht hätten von den Eltern begehen sehen, so leiden sie doch für die Sünden der Eltern. Eine Parabel des Midrasch (Jalkut p. Beracha) besagt, »dass Sebulun mit Isaschar einen Vertrag geschlossen habe, dieser soll lehren, jener den Lebenserwerb besorgen und den Gewinn mit ihm teilen, dagegen soll dem Sebulun wieder die Hälfte des göttlichen Lohnes für das Verdienst Isaschar zu Teil werden.« Ferner lautet eine Erzählung des Talmuds (bSot 21a): »Hillel war arm, und trotz seiner Armut bildete er sich zum großen Lehrer; sein Bruder Schebna aber machte Geschäfte und wurde reich; da sprach dieser: Ich gebe dir die Hälfte meines erworbenen Reichtums, gib du mir dafür die Hälfte deines erworbenen Lohnes. Da rief eine himmlische Stimme: Gäbe der Mensch sein ganzes Vermögen her, so kann er die Liebe doch nicht erkaufen.« Diese beiden Stellen geben zu folgendem Schlusse Veranlassung: »Man kann einen Vertrag machen, sich von Jemanden unterstützen zu lassen, um ohne Sorgen der Gelehrsamkeit sich widmen zu können, und diesem dafür die Hälfte des göttlichen Lohnes zuweisen; hat man aber bereits mit der Gelehrsamkeit sich beschäftigt, so kann man den bereits erworbenen Lohn nicht mehr verkaufen« (Jora Deah 246,1). Setzt man statt »göttlichen Lohn« |44| »moralisches Verdienst«, welches im Grunde identisch ist, so wird dieser Schluss ganz folgerichtig. Der Andre verhilft ihm zur Ausübung der guten Tat, ohne dessen Mitwirkung hätte er sie entweder gar nicht, oder wenigstens nicht so vollziehen können – ganz natürlich, dass dem Andern die Hälfte des moralischen Verdienstes zukommt. Ist aber die gute Tat einmal realisiert, und der andre will dann das moralische Verdienst kaufen, so gilt der Grundsatz: »Weder moralisches Verdienst, noch moralische Schuld lassen sich übertragen.« Die sittliche Urteilskraft, die der Mensch besitzt, soll oft angewendet werden, die eignen Handlungen zu richten. Bei allen Handlungen soll der Mensch das Bewusstsein haben, dass auch ein höherer Richter sie sieht: doch können beide Moralmittel nicht als untrüglich angesehen werden.

Erläuterung. »Es wäre wohl für den Menschen besser nicht geboren zu sein, da er aber einmal auf der Welt ist, so soll er oft seine Handlungen untersuchen« (bEr 13b). »Jede Nacht soll der Mensch seine, während des verflossenen Tages verübten Handlungen untersuchen« (Magen Abraham zu Orach Chajim 239, Scholie 7). Je öfter man sein Gewissen hört, d. h. von seiner Urteilskraft Gebrauch macht, eine desto größere Fertigkeit erlangt man im Sich-selbst-Richten, und folglich auch in der 139

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Ausübung des Guten und der Vermeidung des Bösen. Auch dient die oftmalige Selbstbeurteilung dazu, dass man zu jeder Zeit vorbereitet bleibt, vor seinen himmlischen Richter zu erscheinen.« Die Schüler fragten R. Elieser: »Was soll das heißen: Tue Busse einen Tag, bevor du stirbst,« wie kann denn der Mensch seinen Todestag vorauswissen? »Um so mehr, sprach der Rabbi, muss er alle Tage Busse tun, denn vielleicht stirbt er morgen« (bShab 153a), daher sagt Maim.: »Zu jeder Zeit soll der Mensch sich ansehen, als wäre seine Todesstunde schon da, und darum zu jeder Zeit Busse tun« (H. Teschuba 7,2). |45| Doch welches ist das Gesetz, unter welches die sittliche Urteilskraft alle vom Willen abhängenden Handlungen subsumieren soll, um zu bestimmen, ob sie diesem entsprechen oder nicht? Die Philosophen sagen: Das Gesetz, welches die praktische Vernunft aufstellt. Dem Talmud aber ist nur Gott Gesetzgeber, und zugleich äußerer Richter; und dieser Richter soll dem Menschen stets gegenwärtig sein. »Fürchtet Gott, wie ihr Menschen fürchtet, sprach R. Jochanan zu seinen Jüngern. Wie, sagten diese, nicht mehr? Da antwortete der Rabbi: Scheuet ihr euch nicht Böses zu tun in Gegenwart anderer Menschen? Habt daher auch vor der Gegenwart Gottes immer Scheu« (bBer 28b). Die spätern Rabbiner sagen: Es stehet geschrieben: »Ich stelle Gott mir gegenwärtig immerdar« (Ps 16,8); das ist ein stark zu beherzigender Grundsatz. Des Menschen Verhalten, Bewegungen, Verrichtungen, wenn er allein zu Hause ist, sind nicht gleich seinen Bewegungen und Verrichtungen in Gegenwart eines großen Königs; sein Sprechen mit seinen Hausleuten und Verwandten, ist nicht gleich als es sein würde, wenn ein großer König gegenwärtig wäre; überlegt nun der Mensch, dass der allerhöchste König, der Heilige, gelobt sei er, dessen Herrlichkeit die ganze Erde füllt, über ihm stehe und seine Taten schaue, so muss Ehrfurcht und Demut bewirken, dass er sich zu sündigen schäme« (Orach Chajim 1,1). »Beherzige drei Dinge, und du fällst nie der Sünde heim. Erkenne, was über dir ist. Ein allsehendes Auge, ein allhörendes Ohr, und ein genaues Verzeichnis deiner Handlungen« (mAv II,1). Aber untrüglich sind beide Mittel nicht (…); es kann sich Mancher das zum Verdienst anrechnen, was ein Verschulden ist, z. B. um Gott gefällig zu sein, andersdenkende Menschen verfolgen, oder mit Gewalt zu bekehren suchen. Um richtig zu urteilen, ob die Handlungen dem Gesetze gemäß sind, oder besser, um richtig nach dem Gesetze zu handeln, muss man das Gesetz genau kennen: und darum legt der Talmud einen so hohen, ja den höchsten Werth, auf die genaue Erforschung des Gesetzes. »Das Lernen des Gesetzes hat einen höhern Werth als alle früher angeführten Gebote« (mPea I,1). Der Talmud gestehet zwar, dass das Lernen des Gesetzes nur Mittel; aber nicht Zweck ist; »das Lernen ist nicht die Haupt- |46| sache, sondern die Ausübung« (mAv I,17), »aber doch ist das Lernen wichtiger, weil nur dieses zur Ausübung – d. h. zur rechten Ausübung – führen kann« (bQid 40b). Auch die Philosophen müssen gestehen, wenn der Mensch das Gesetz, welches die praktische Vernunft aufstellt, nicht verstehet, sein Gewissen kein richtiges Urteil abgeben kann. Und wer seine Vernunft unbeschäftigt lässt, d. h. sie nicht vervollkommnet, dem wird sie entweder gar kein, oder wenigstens nicht das rechte Gesetz aufstellen.

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20. Was heißt gut handeln? Meyer Kayserling (1882) 1

|48| Wahrheit, Recht und Liebe und als letztes Ziel der allgemeinen Wohlfahrt der Friede, das sind die Säulen und Grundfesten, worauf, nach der Religion des Judentums, die sittliche Weltordnung und das Heil der Gesellschaft beruhen 2. Die Wahrheit und die daraus fließende Wahrhaftigkeit wird in den biblischen und talmudischen Schriften in ihrer ganzen Bedeutung und Heiligkeit erfasst. Gott selbst ist die Wahrheit 3, durch sie hat er die Welt geschaffen, sie hat er zu seinem Siegel und Abbild gemacht 4. Jede Lüge ist daher eine Entheiligung vor Gott, eine Entwürdigung des Menschen; die Lüge unterwühlt den Grund eines jeden Bestandes in der Gesellschaft wie in der Familie. Wehe! rufen die Weisen des Talmud über das Geschlecht aus, das der Wahrheit feind und der Lüge ergeben ist; die Plagen des Krieges und der inneren Zerrüttung bleiben für dasselbe nicht aus 5. Die erste und unerlässliche Bedingung eines gesunden Volkslebens ist, »dass Wahrheit redet einer mit dem |49| andern, dass nach Wahrheit gerichtet wird, nicht einer gegen den andern Unheil im Herzen sinnt und falscher Schwur verpönt ist, denn alles dieses hasst der Ewige«. 6 In der feierlichsten Weise befiehlt daher die mosaische Lehre: »Ihr sollt nicht belügen einer den andern« 7! »Von jeder Lüge halte dich fern« 8! »Was deine Lippen ausgesprochen, das musst du erfüllen« 9. Unaufhörlich mahnen die Propheten und Spruchdichter, der Wahrheit die Ehre zu geben, die Lüge aber zu hassen, denn »wahrhafte Lippe hat Bestand auf immer, nur einen Augenblick die Lügenlippe« 10; »dem Ewigen ein Gräuel sind Lügenlippen, die Wahrheit üben, sein Wohlgefallen« 11. Gestützt auf solche Lehren und Aussprüche fordert der Talmud mit dem größten Nachdruck als hohe und heilige Pflicht die lauterste Wahrheit, unbedingte Wahrhaftigkeit von Jedem gegen Jeden, welchem Stamme und Bekenntnisse er auch angehört.

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[aus: Kayserling, Meyer, Das Moralgesetz des Judentums in Beziehung auf Familie, Staat Gesellschaft : als Ms. gedr., Wien 1882, 48–53] mAv I,18: ‫שלשה דברים העולם קיים על האמת ועל הדין ועל השלום‬-‫רבן שמעון בן גמליאל אומר על‬ mAv I,2. Jer 10,10; Ps 31,5. bShab 55a, bSan 64a: ‫חותמו של הקב״ה אמת‬ RutR I: ‫אם ראית דור שמדותיו של שקרים מלכות באה ומתגרה באותו הדור‬ Sach 8,16 ff. Lev 19,11: ‫תשקרו איש בעמיתו‬-‫ולא‬ Ex 23,7: ‫שקר תרחק‬-‫מדבר‬ Dtn 23,24: ‫מוצא שפתיך תשמר‬ Spr 12,19: ‫ארגיעח לשון שקר‬-‫אמת תכון לעד ועד‬-‫שפת‬ Vgl. dazu bShab 104a: ‫» קושטא קאי שיקרא לא קאי‬Wahrheit besteht, Lüge vergeht«. Spr 12,22: ‫שקר ועשי אמונה רצונו‬-‫תועבת ה׳ שפתי‬

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Meyer Kayserling (1882)

Der Mensch soll »Wahrheit aus seinem Herzen reden« 12, das erläutert der Talmud, er soll mit dem Munde nicht anders sprechen und im Herzen anders denken, denn solche Zweideutigkeit ist dem Ewigen verhasst 13. Als Beispiel für eine solche Wahrheitstreue führt der Talmud den gelehrten R. Safra an; derselbe wies einen hohen Preis, der ihm für eine Ware angeboten wurde, zurück, weil er in seinem Herzen beschlossen hatte, sie um eine geringere Summe zu verkaufen 14. »Dein Ja sei ja, dein Nein sei nein« 15, das eine so bindend und verpflichtend wie das andere, das ist der Grundsatz, den der Talmud aufstellt. Wer dem gegebenen Worte nicht Treue hält, sagt der Talmud, von dem wird Gott einst Rechenschaft fordern, denn er begeht gleichsam Götzendienst 16. Groß ist der Lohn der Wahrhaftigkeit, denn sie erwirbt die Achtung und das unerschütterliche Vertrauen der Nebenmenschen, groß, ja noch größer aber ist die Strafe für die Lüge. »Dem Lügner glaubt man nicht«, heißt es im Talmud, »wenn er auch die Wahrheit spricht« 17. Lügner dürfen vor Gott nicht treten; so wenig wie die Spötter, Schmeichler und Verleumder dürfen sie die Gottheit schauen 18. Damit der Mensch jede Lüge verhüte, empfiehlt der Talmud: »Gewöhne dich stets zu antworten, ich weiß nicht! damit du nicht als Lügner ertappt werdest« 19, und um die Kinder |50| nicht an Unwahrheit zu gewöhnen, verbietet der Talmud, selbst einem kleinen Kinde Etwas zu versprechen, ohne es ihm auch zu geben 20. Ist die Wahrheit und Wahrhaftigkeit schon an und für sich eine so heilige Pflicht, so wird sie es noch in weit höherem Grade, sobald es sich um einen Schwur oder eine Zeugenaussage handelt. Der Eid oder Schwur ist die feierliche Versicherung der Wahrheit einer Behauptung oder eines Versprechens unter Anrufung Gottes, des allwissenden, allgerechten Richters, welcher der Urquell der Wahrheit. Nach der Religion des Judentums darf der Eid, gleichviel gegen wen, vor wem und von wem derselbe auferlegt oder abgelegt wird 21, nur unter der Ehrfurcht Gottes, ohne Gunst oder Ungunst, Freundschaft oder Feindschaft für oder gegen eine Person, nur nach sorgfältigster und gewissenhaftester Prüfung der Sachlage, ohne jeden heimlichen Vorbehalt, streng nach dem Sinne, welchen Gott und der Richter mit dem Eide verbinden 22, streng nach der Wahrheit, in welcher Sprache immer er abgePs 15,2: ‫ודבר אמת בלבבו‬ bBM 49a: ‫שלא ידבר אחד בפה ואחד בלב‬ bPes 113b: ‫שלשה שונאן הקב״ה המדבר אחד בפה‬ 14 bMak 24a, bBB 88a. 15 bBM 49a: ‫שיהא הן שלך צדק ולאו שלך צדק‬ 16 bSan 92a: ‫כל המחליף בדבורו כאילו עובד ע״ז‬ bBM 48a: ‫הוא עתיד ליפרע ממי שאינו עומד בדיבורו‬ 17 bSan 89b: ‫כך עונשו של בדאי שאפילו אמר אמת אין שומעין לו‬ 18 Ps 101,7: ‫יכון לנגד עיני‬-‫דבר שקרים לא‬ bSot 42a, bSan 103a: ‫ כת מספרי לשון הרע‬,‫ כת שקרנים‬,‫ כת חנפים‬,‫ כת לצים‬,‫ארבע כתות אין מקבלין פני שכינה‬ 19 bBer 4a: ‫למד לשונך לומר איני יודע שמא תתבדה ותאחז‬ 20 bSuk 46b: ‫לא לימא איניש לינוקא דיהיבנא לך מידי ולא יהיב ליה משום דאתי לאגמוריה שיקרא‬ 21 Maimun. H. Shewuoth II 1,2,6. 22 bShevu 39a: ‫ ;הוי יודע שלא על דעתך אנו משביעין אותך אלא על דעת המקום ועל דעת ב״ד‬bYalq 2,947: ‫נשבע בפיו‬ ‫ תלמוד לומר לא ינקה רע‬,‫ומבטל בלבו תאמר שהוא מנוקה‬ 12 13

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Was heißt gut handeln?

legt wird 23, geleistet werden; selbst wenn er dem Schwörenden zum Nachteil oder Schaden gereicht 24, immer muss er heilig und unverbrüchlich sein. Nach der mosaischen Lehre und dem Talmud darf der Eid nicht leichtfertig und vergeblich, sondern nur bei dringender Notwendigkeit verlangt und geleistet werden: »Gewöhne deinen Mund nicht ans Schwören, denn wer häufig schwört, der sündigt häufig«, der Schwur scheint ihm bald etwas Geringfügiges 25; hingegen soll bei aller Scheu vor dem Eide der gerechte, wahrhafte Eid, wenn er durch die Umstände geboten oder von der Obrigkeit verlangt wird, geleistet werden, da er das Bekenntnis und die Heiligung des einig-einzigen Gottes in sich schließt und die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft verhindert 26. Als eine Entweihung des göttlichen Namens, als ein nicht zu sühnendes Verbrechen, warnt die mosaische Lehre und der Talmud vor dem falschen Schwure oder dem Meineide. »Du sollst den Namen des Ewigen, deines Gottes, nicht zum Falschen aussprechen, denn nicht ungestraft wird lassen der Ewige den, der seinen Namen zum Falschen ausspricht« 27. »Und ihr sollt nicht schwören bei meinem Namen zu einer Lüge, dass du entweihest |51| den Namen deines Gottes. Ich bin der Ewige« 28. »Die ganze Welt erzitterte«, heißt es im Talmud 29, »als der Heilige, gelobt sei er, den Ausspruch tat: »Du sollst den Namen des Ewigen, deines Gottes, nicht zum Falschen aussprechen««. Wenn es von allen übrigen Sünden heißt: »Gott vergibt sie«, so heißt es vom Meineide: »Gott lässt ihn nicht ungestraft«. Alle übrigen Sünden werden an dem Verbrecher allein, der Meineid aber an ihm, an seiner Familie, an der ganzen Menschheit heimgesucht, und schnell trifft die Strafe ein, welche der Prophet androht: »Ich lasse los den Fluch, spricht der Herr der Heerscharen, dass er komme in das Haus des Diebes und in das Haus des Meineidigen und sich einniste in seinem Hause und es zu Grunde richte mit seinem Gebälke und seinen Steinen« 30. »Was Feuer und Wasser nicht zerstören, der Meineid zerstört es« 31! Da also die Religion des Judentums den Meineid als allgemeine Versündigung, als die Gesamtheit mit in dieselbe ziehende tiefste Entweihung Gottes und als ein nie zu sühnendes Verbrechen betrachtet, so hatten die Juden von jeher vor dem Eide überhaupt Scheu 23 24

bSot 32a, Maimonides, Hilchot Schewuot IX,12 u. a. m. Ps 15,1–4: ‫יגור באהלך … נשבע להרע ולא ימר‬-‫מי‬ Maimonides, Hilchot Schewuot V,17. 25 Sir 23,9,11. Midrasch Assereth Hadibroth (Bet haMidrasch I,72): ‫כשמרגיל לשונו לישבע נשבע היום נשבע למחר ונעשית‬ ‫שבועה שגורה בפיו וקלה בעיניו‬ 26 Dtn 10,20: ‫ה׳ אלהיך תירא אתו תעבד ובו תדבק ובשמו תשבע‬-‫את‬ Maimonides, Hilchot Schewuot XI,1: ‫כשם ששבועת שוא ושקר בלא תעשה כך מצות עשה שישבע מי שנתחייב‬ ‫ והדור וקדוש‬,‫ שהשבועה בשמו הגדול והקדוש מדרכי העבודה היא‬,‫ תשבע זו מצות עשה‬,‫שבועה בב״ד בשם שנאמר בשמו‬ ‫גדול הוא להשבע בשמו‬ 27 Ex 20,7; Dtn 5,11: ‫ישא את שמו לשוא‬-‫ה׳ אלהיך לשוא כי לא ינקה ה׳ את אשר‬-‫שם‬-‫לא תשא את‬ 28 Lev 19,12: ‫ולא תשבעו בשמי לשקר וחללת את שם אלהיך אני ה׳‬ 29 bShevu 38a. 30 Sach 5,4: ‫עציו‬-‫בית הנשבע בשמי לשקר ולנה בתוך ביתו וכלתו ואת‬-‫בית הגנב ואל‬-‫הוצאתיה נאם ה׳ צבאות ובאה אל‬ ‫אבניו‬-‫ואת‬ 31 bShevu 39a.

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und Angst, und diese ungemeine Wertschätzung desselben findet sich bei ihnen nach dem Zeugnisse der Rechtsgelehrten und Richter noch heute. Wie vor Meineid warnt die mosaische Lehre vor falschem Zeugnis: »Du sollst nicht zeugen wider deinen Nächsten als falscher Zeuge« 32. Wer Lügenhaftes gegen den Nächsten aussagte, dem sollte man tun, wie er den bösen Willen hatte, seinem Bruder zu tun, »auf dass das Böse getilgt werde«. »Wer als falscher Zeuge auftritt, der bleibt nicht ungestraft«, »wer Lüge schnaubt, wird nicht gerettet und geht seinem Untergange entgegen« 33. Wer falsches Zeugnis ablegt, der leugnet den Weltenschöpfer und verdient, nach dem Ausspruche des Talmud, »den Hunden vorgeworfen zu werden« 34; aber auch derjenige, der falsche Zeugen dingt, macht sich eines eben so großen Verbrechens schuldig wie der falsche Zeuge selbst und wie der, welcher die Zeugenaussage für seinen Nächsten verweigert 35. Jede falsche Anschuldigung, Verleumdung und Angeberei ist der mosaischen Lehre verhasst; aufs nachdrücklichste warnt |52| sie: »Gehe nicht als Verleumder einher unter deinem Volke« 36. Die Verleumdung ist wie ein scharf gespitzter Pfeil, der Verderben und Tod bereitet; »ihre Worte sind Schläge, welche das Herz durchdringen« 37. Noch mehr als die Propheten und Spruchdichter verabscheuen die Lehrer des Talmud Angeberei und Verleumdung, diese Sünden sind nach dem Talmud »größer als Götzendienst, als Blutschande und Mord« 38, denn der Verleumder ist Gottesleugner 39 und tötet mit seiner Zunge Gewalt nicht allein denjenigen, gegen den die Beschuldigung gerichtet, sondern auch den, der dieselbe aufnimmt und verbreitet, und sich selbst 40. Darum wird die Verleumdung als der Sünde größte hienieden und im Jenseits bestraft und trifft noch mehr den, welcher die üble Nachrede annimmt und weiter trägt 41, denn er sündigt gegen das Gebot: »nimm nicht auf falsches Gerücht« 42. Damit der Mensch sich von Verleumdung gänzlich fern halte, verbietet der Talmud, Jemanden übermäßig zu loben oder seiner in einer Gesellschaft zu erwähnen, wenn man weiß, dass unter den Anwesenden sich einer findet, der etwas Liebloses von ihm sprechen könnte 43. Ein der Verleumdung entgegengesetztes, aber nicht minder sündhaftes Vergehen gegen die Wahrhaftigkeit ist die Schmeichelei, welche in selbstsüchtiger, eigennütziger Absicht das Lobenswerte am Nächsten übertreibt, und die Heuchelei, welche die Fehler und 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Ex 20,16; Dtn 5,20: ‫תענה ברעך עד שקר‬-‫לא‬ Spr 19,5,9: (‫עד שקרים לא ינקה ויפיח כזבים לא ימלט )יאבד‬ yBer I,5 (S. 6b): ‫אם היעדת לחבירך עדות שקר מעלה אני עליך כאילו היעדת עלי שלא בראתי שמים וארץ‬ bPes 118a. bBQ 55b. Lev 19,16: ‫תלך רכיל בעמיך‬-‫לא‬ Jer 9,7, Ps 52,4, Spr 26,22. bAr 15b: ‫כל המספר לשון הרע מגדיל עונות כנגד שלש עבירות ע״ז וגילוי עריות ושפיכות דמים‬ bAr 15b: ‫כל המספר לשון הרע כאילו כפר בעיקר‬ bAr 15b: ‫לשון תליתאי קטיל תליתאי הורג למספרו ולמקבלו ולאומרו‬ bAr 15b, Maimon. Hilchot Deot VII,3. Ex 23,1: ‫לא תשא שמע שוא‬ bAr 16a, bBB 164b: (‫לעולם אל יספר אדם בטובתו של חבירו שמתוך טובתו בא לידי רעתו )גנותו‬ Maimon. Hilchot Deot VII,4–5.

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Was heißt gut handeln?

Laster Anderer verdeckt oder gegen die eigene Überzeugung wohl gar als Tugend preist. Wehe! ruft der Prophet über alle diejenigen aus, »die das Böse gut und das Gute bös nennen« 44. »Der Schmeichler stürzt seinen Nächsten mit dem Munde 45, spannt aber Netze seinen eigenen Schritten« 46, seine Freude dauert nur einen Augenblick, seine Hoffnung geht unter, sein Los ist die allgemeine Verachtung 47. In ihrer ganzen Verwerflichkeit wird Heuchelei und Schmeichelei von den Lehrern des Talmud erfasst. Der Schmeichler gleicht dem Gottesleugner, selbst das Kind im Mutterleibe verflucht ihn 48, er darf nicht vor Gott kommen und hat keinen Anteil an der Seligkeit des Jenseits 49. »Eine Gemeinde, in der die Heuchelei heimisch ist, stößt Abscheu ein und geht der Auflösung entgegen« 50. Weil die |53| Heuchler und Schmeichler den Namen Gottes entweihen, die Menschheit entwürdigen und Unheil über die Gesellschaft bringen, sollen sie, nach der Forderung des Talmud, zur öffentlichen Kenntnis gebracht und entlarvt werden. 51

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Jes 5,20: ‫הוי האמרים לרע טוב ולטוב רע‬ Spr 11,9: ‫בפה חנף ישחת רעהו‬ Spr 29,5: ‫פעמיו‬-‫רעהו רשת פורש על‬-‫גבר מחליק על‬ Ijob 20,5; Ijob 8,13; bSot 41b. bSot 41b: ‫כל אדם שיש בו חנופה אפילו עוברין שבמעי אמן מקללין אותו‬ IJob 13,16: ‫לא לפניו חנף יבוא‬-‫כי‬ bSot 42b, bSan 103a, bPes 113b. bSot 41b: ‫כל אדם שיש בו חנופה נופל בגיהנם‬ bSot 42a: ‫כל עדה שיש בה חנופה מאוסה כנידה … לסוף גולה‬ bYom 86b: ‫מפרסמין את החניפין מפני חילול השם‬

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IV. Gott, das Leiden und das Böse

21. Das Leiden der Gerechten: Samuel Holdheim (1852) 1

|106| Eine Seelenkraft, die noch nicht durch Leiden geprüft, ist zwar schon vorhanden, muss vorhanden sein, denn wie könnte sie sonst geprüft werden; aber sie ist wie die körperliche Kraft eines Tieres, das sich seiner Kraft nicht bewusst ist. Insofern kann man sagen, dass die Seelenkraft erst durch das Leiden geboren wird, als die Seele ihrer sich bewusst wird und weiß, was sie zu tragen befähigt ist. Und nicht nur kommt die leidende Seele zum Bewusstsein ihrer Kraft, sondern fühlt auch zugleich, wie diese Kraft wächst und zunimmt und an Stärke gewinnt. Treffend ist das Gleichnis der Alten, welches die Seele unter dem Bilde eines Baumes betrachtet, dessen innere Triebkraft bedeutend erhöht wird durch das Beschneiden seiner Zweige. Die Schrift bedient sich eines ähnlichen Bildes, indem sie sagt: ‫ומלתם את ערלת‬ ‫ לבבכם‬ihr sollt beschneiden die üppigen Auswüchse eures Herzens. Wie das Messer in des Baumes Zweige, so schneidet das Leiden in das menschliche Herz ein. Der Mensch empfindet die Schmerzen, aber er fühlt auch zugleich seine Seele gesunden und an innerer Triebkraft erstarken und er ruft mit dem Psalmisten: ‫עניתי למען אלמד חקיך‬-‫לי כי‬-‫» טוב‬es ist gut für mich, dass ich gelitten, damit ich aus dem Leiden dein Gesetz kennen lerne« (Ps 119,71). Ja, meine Freunde, es gilt dasselbe Gottesgesetz in der Geisterwelt, dem wir in der irdischen Natur begegnen, ‫ כי האדם עץ השדה‬Ein Bild des Menschen ist der Baum. Schön ist folgende Gleich- |107| nisrede der Alten: ‫» למה צדיקים דומים בעה״ז‬womit sind die Frommen zu vergleichen in dieser Welt?« ‫ וקצץ גופו‬,‫לאילן שכולו עומד במקום טומאה ונופו נוטה למקום טהרה‬ ‫» ומצא כלו עומד במקום טומאה‬mit einem Baum, der mit allen feinen Wurzeln gepflanzt ist in einem reinen gesunden Boden, dessen üppige Zweige aber hinausreichen über einen unreinen Ort, werden diese allzu großen Zweige beschnitten, so stehet der ganze Baum auf reiner Erde«. ‫» כך הקב״ה מביא יסורין על הצדיקים בעוה״ז כדי שיירשו הע״הב‬So schickt Gott Leiden über die Frommen in dieser Welt, damit sie geprüft und gereinigt erben die Seligkeit der zukünftigen Welt 2.« Und dieses Gleichnis, meine Freunde, ist in der Tat treffend: Der Stamm des Menschen ist gesund, denn Gottes Hand hat ihn gepflanzt »wie Gärten am Strom, wie Zedern am Wasser«, die Wurzeln schlagen in reines Erdreich. Der Mensch, ‫» יציר כפיו של הקב״ה‬ein Gebilde aus Gottes Hand,« ist rein und unschuldig geschaffen, seine Triebe und Neigungen innerhalb der Grenzen, die Gott ihrer Befriedigung gezogen, sind göttlicher Natur. Nur die üppigen leidenschaftlichen Auswüchse, das maßlose Wünschen, das grenzenlose 1

2

[aus: Holdheim, Samuel, Das Leiden der Frommen (1852) In: Holdheim, Samuel, Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin 1853, 101–110] bQid 40b.

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Samuel Holdheim (1852)

Begehren, das Hinausreichen der Zweige über das reine Gebiet ihrer Wurzel, das muss durch Leiden beschnitten werden, damit der ganze Baum auf reinem Boden stehe und gedeihe. Als Gott mit der Erschaffung des Menschen das Schöpfungswerk vollendet hatte, sagt die Schrift: und Gott sah alles, was er gemacht, und siehe, es war sehr gut. Hierauf sagt ein alter Lehrer: das sehr gute, das sind die menschlichen Leiden ‫זו מדת יסורין‬, aber wie können Leiden also genannt werden? ‫ אלא שעל ידיה הבריות באים לחיי העולם הבא‬weil nur durch Leiden die Menschen der zukünftigen Seligkeit würdig und empfänglich gemacht werden können. Ohne die Leiden würden die Zweige in’s Unendliche sich verlängern und alle Säfte und Kräfte des Baumes nach den unreinen Genußplätzen hinstreben, so dass der Baum eines frühzeitigen Todes sterben müsste. Durch die Leiden, die des Baumes Zweige beschneiden, gesundet der Baum, seine innere Kraft wächst und erhält |108| junges frisches Leben aus seinen starken Wurzeln. So pries David seinen Herrn: Ich will nicht sterben, sondern leben und verkünden die Werke Gottes. Gezüchtigt hat Gott mich, aber dem Tode nicht hingegeben (Ps 118,17–18). Das Leiden erhöht die Kraft und läutert die Tugend, Wir haben schon bei einer andern Gelegenheit auf den bedeutsamen Unterschied aufmerksam gemacht, der zwischen Strafe und Prüfung stattfindet. Gestraft wird der Mangel an Tugend, geprüft die mangelhafte, unvollkommene Tugend. Gestraft wird das Laster, geprüft die Tugend, die schon vorhanden und nur der Festigung und Läuterung bedarf. Gestraft wird der Knecht, geprüft das Kind. Der bestrafte Knecht kann den Zornblick seines Herrn nicht ertragen und schlägt das Auge zu Boden nieder, das geprüfte Kind sieht mit unbeschreiblicher Rührung zu seinem Vater empor und kann nicht begreifen, wie diese liebevolle Hand, die nur zum Guten und Wohltun sich öffnet, ihm auch weh tun könne. Als Bilder für solche läuternde Prüfung stellt das Judentum das Leben Abrahams und besonders Hiob’s auf. Abraham hatte nicht gesündigt, war tugendhaft von Hause aus, deshalb hat der Herr aus Tausenden ihn ausersehen, als den Einzigen ihn berufen. Allein, ehe er ein so reines Werkzeug in Gottes Hand werden konnte zur Ausgießung des Segens über alle Geschlechter der Erde, musste seine Tugend und Frömmigkeit einer läuternden Prüfung unterworfen werden. Dem Hiob gibt die Schrift das Zeugnis, er war fromm und bieder, gottesfürchtig und sündenscheu. Aber so lange er nicht durch das »Tal des Trübsals« hindurch gegangen war, waren die »Pforten der Hoffnung« auf Verdienst und Seligkeit bei Gott ihm verschlossen, und es musste seine Tugend durch schreckliche Leiden geprüft und geläutert werden, damit er ein Musterbild der Frömmigkeit für alle Sterblichen werden sollte. Diese Art von Leiden der Frommen, die Gott zu dem Zwecke sendet, um – wie die Alten sich ausdrücken – ‫| לטובתו לאשרו וללבנו ולחכמו יותד ממה שהיה‬109| um den Menschen besser, glücklicher, geläuterter, gerechter und weiser zu machen, als er zuvor war, nennt das Judentum sehr bezeichnend: ‫ יסורין של אהבה‬Leiden, die Gott seinen Kindern aus Liebe auferlegt, damit sie durch sie zur Selbstkenntnis ihrer eigenen Seelengröße gelangen, ‫וגם להוציא מה‬ ‫ שבכח שכלו אל הפועל‬und dasjenige, was in ihnen nur als Anlage und Fähigkeit schlummerte, zur lebendigen Tatkräftigkeit zu entfalten und auch durch ihr Beispiel die Menschheit zu belehren und zu erziehen. Das Merkmal, worin diese Art Leiden sich zu erkennen geben, sagen sie sehr schön: ‫ איזהו יסורין של אהבה כל שאין בהם בטול תורה‬das sind Leiden, die aus 150

Das Leiden der Gerechten

Liebe Gottes entsprungen, die nicht eine Störung der Erkenntnis bewirken, nicht zu Zweifeln an Gottes Gerechtigkeit führen, sondern in ihren Wirkungen eine Quelle der Belehrung für unsern Geist werden. So sprach David: ‫ ה’ צדיק יבחן‬Gott prüft den Gerechten. Wie der Töpfer – sagen die Alten bildlich – wenn er seine Werke untersucht, nur an den Topf prüfend hart anschlägt, dessen gesunden und festen Ton er kennt, an den schwachen Topf dagegen leise anklopft, damit er nicht zerbreche, so prüft Gott den Frommen, dessen Tugend er kennt und durch prüfende Leiden er läutern will, der Schwache aber muss mit Prüfungen verschont werden, weil er sie nicht ertragen würde. Das, meine Freunde, in Kürze die Ansichten der alten Weisen über die Wirkung und den Zweck der Leiden, und insbesondere über die Leiden der Frommen. Sie stehen und wurzeln mit ihren Sprüchen und Lehren in dem heiligen Boden der Schrift, und was sie aus diesem Boden zu Tage gefördert, ist von der spätern Weisheit und Bildung nicht übertroffen worden. Darum lasset ihre Worte nicht ohne innere, tiefe Beherzigung an unserer Seele vorüberstreifen, lasset sie uns vielmehr nach ihrem tiefen Gehalt würdigen, auf dass, wenn Gott uns mit Leiden prüft und heimsucht, wir aus ihnen Kraft und Beruhigung schöpfen und Gott loben und preisen als den gerechten Richter, als den liebenden Vater, von dem der Psalmist sagt: »So hoch der Himmel |110| über der Erde, so stark ist seine Gnade über seine Frommen. So weit der Aufgang von dem Untergang, so weit entfernt er von uns unsere Sünden. Wie ein Vater seiner Kinder sich erbarmt, so erbarmt sich der Herr Derer die ihn fürchten. Denn er kennt unsern Trieb, ist eingedenk, dass wir Staub sind.« (Ps 103,11–14)

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22. Gott und das Böse: David Einhorn (1854) 1

|40| In keinem Punkte tritt die ethische Beschaffenheit eines Religionssystems schärfer hervor, als in der Art und Weise, wie dasselbe die Frage über Natur und Ursprung des moralischen Übels beantwortet. Diese Antwort ist der getreueste Spiegel der sittlichen Kulturstufe, die ein solches System einnimmt; in ihr liegt das Urteil, welches der Mensch über Gott und sich selbst fällt, der Maßstab, den er an das göttliche Walten und sein eigenes legt. Je düsterer das Gepräge, welches dieselbe trägt, um so trostloser wird der Zustand des armen Menschenherzens, das vor der Gottheit, wie vor sich selbst zurückbebt und gerade darum nicht selten damit endet, in den wilden Orgien derselben finstern höllischen Macht, deren leiseste Zuckungen ihm grauenvoll schienen, Berauschung und Selbstvergessenheit, wo nicht gar sein Heiligtum, seinen Himmel zu suchen. Es wird von mancher Seite her der angeborenen Verfälschung und Entartung des menschlichen Wesens, wie es ursprünglich aus Gottes Hand hervorgegangen, das Wort geredet und zu diesem Behufe ein nicht geringes Gewicht auf das tiefe Schuldbewusstsein gelegt, das schon die heidnische Welt durchzog; allein es scheint hierbei vergessen, dass in jenem Schuldbewusstsein ebensowenig eine prophetische Stimme lag, wie im Bewusstsein der empfangenen Sühne, womit die Diener des Baal und Moloch ihre, der Unzucht und dem Kindermorde geweihten Stätten verließen, und dass ferner das tiefe Schuldbewusstsein beim unnatürlichen Wesen des Heidentums kein Zeugnis für die natürliche Verderbtheit der Menschennatur abgeben kann, sondern umgekehrt als eine klagende Stimme über deren Misshandlung, als Zeuge für die angeborene Güte |41| und gegen die freventliche Selbstverfälschung der menschlichen Natürlichkeit erscheint. Die Lehre Mosis erkannte es daher als ihre einzige Aufgabe, durch Wiederherstellung der gewaltsam verrenkten Menschennatur in ihrer Integrität die Menschheit vom furchtbaren Drucke der Schuld und des Schuldbewusstseins zu erlösen; sie wollte als ‫ משיבת נפש‬den Menschen sich selbst zurückgeben und eben dadurch auch seinem Gotte; sie wollte ihn tragen und nicht von ihm getragen werden, ihm als Lebenselement im Herzen wohnen, und nicht wie ein drückendes Joch auf der Schulter lasten, und Nichts verrät mehr den Mangel ihres Verständnisses, als das Reden von der Pflicht, das Joch der Thora auf sich zunehmen. Dieser eigentümliche Charakter des Mosaismus bewährt sich in der hervorstechendsten Weise bei seiner Vergleichung mit den heidnischen Religionen in Hinsicht auf die Lehre von Natur und Ursprung des Bösen. Die indische Anschauung vindiziert dem ewigen absoluten Wesen zwei einander entgegengesetzte Kräfte, eine in Brahma personifizierte Zentrifugalkraft, welche 1

[aus: Einhorn, David, Das Prinzip des Mosaismus und dessen Verhältnis zum Heidentum und rabbinischen Judentum, Leipzig 1854, 40–65. Die umfangreichen zusätzlichen Kommentare zum Text, die der Autor in einem Anhang zusammenstellte, sind in die vorliegende Wiedergabe nicht aufgenommen worden.]

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Gott und das Böse

die Selbstentäußerung Gottes, d. h. die Weltschöpfung zur Folge hat, und eine in Wischnu hypostasierte Zentripetalkraft, vermöge welcher die Gottheit alles von ihr Emanierte wieder an sich zu ziehen, das heißt dessen Selbstständigkeit wieder aufzuheben trachtet 2; ihr ist das Selbstische, das Fürsichbestehen sowohl dem Leibe wie dem Geiste nach das Prinzip des Bösen, und die Abtötung seiner selbst, das mit Aufopferung der Individualität verbundene Versinken oder Untergehen in das allgemeine, absolute Leben die höchste Aufgabe des Menschen 3. Die ihrem ethischen Charakter nach dem Mosaismus am Meisten sich nähernde Zendlehre lässt den ursprünglich guten Ahriman erst durch Neid gegen Ormuzd, analog dem Verhältnisse zwischen Kajin und Hebel, von Gott abfallen, den Abfall nicht von und nicht aus |42| Gott, der Zeruane Akerene, sondern aus und durch Ahriman selbst kommen 4 und erkennt sonach das Böse nicht in der Selbstheit, nicht in der Individualität als solcher, sondern in der Selbstsucht, im Hinausstreben des Individuums über die ihm von Gott gesetzten Naturgrenzen oder eigentlich in der Störung der kosmischen Harmonie, welche Stolz und Selbstsucht bloß repräsentieren. Ahriman fällt nicht nach einer göttlichen Anordnung, nicht vermöge eines ihm innewohnenden Naturgesetzes, sondern aus freier Wahl und im Widerspruche mit dem Naturgesetze. Aber sein Fall beschränkt sich nicht auf ihn allein. Er hat gleichen Anteil mit Ormuzd an der Gesamtschöpfung und so trägt alles Geschaffene ohne Ausnahme eine zwitterhafte, von Licht und Finsternis gemischte Natur. Der Mensch fühlt nun diesen Pesthauch, die unheilvolle Erbschaft der Sünde, und seine Losung ist: Kampf gegen Ahriman, aber ein Kampf ohne Siegeshoffnung für die gegenwärtige Ordnung der Dinge; denn unerbittlich zieht Ahriman Alles in den Abgrund, bis einst nach Äonen von Jahren Ormuzd als glorreicher Sieger hervortreten und eine ganz neue Welt, eine Lichtwelt, aus seinem Schoße allein erzeugen wird. Auch der ägyptische Typhon empört sich nach Creuzer Symb. II. 20 aus Neid und Scheelsucht gegen Osiris, dessen Thron er besteigen möchte, und so erscheint auch hier nicht die Selbstheit, sondern die Störung der kosmischen Harmonie als Prinzip des Bösen. Wie verschieden aber auch diese Systeme unter sich sein mögen, so treffen sie dennoch in zwei Punkten zusammen; sie lassen nämlich zunächst den Menschen unter dem Fluche der Sünde geboren werden, der Natur desselben einen an sich bösen Stoff innewohnen und machen so Gott selber zum mittelbaren oder unmittelbaren Urheber der Sünde, wie sie ferner die Gottheit, gleichviel ob Eins mit der Welt oder nach der Anschauung des idealen Pantheismus als das absolute, durch den Schöpfungsakt aus sich selbst herausgetretene Sein |43| gedacht, in den Kreis des Bösen hereinziehen und unter dem Einflusse desselben verletzt darstellen, indem der Naturgott durch jede kosmische Störung leidet und der absolute Gott schon durch seine schöpferischen Ausstrahlungen sein eigenes Wesen verkümmert sieht. Dass endlich nach dem Allen der Mensch die Gewalt besitzt, mit der ihm innewohnenden Macht des Bösen störend in den Gang des allgemeinen Lebens einzugreifen, bedarf keiner weitern Erwähnung. Dem Allen tritt nun aber der 2 3 4

S. Creuzer 1810–1823, I. 435. S. ibid. I. 215. 437. S. ibid. I. 194. 195.

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David Einhorn (1854)

Mosaismus entschieden entgegen. Gott ist Jehova-Elohim, kein Naturgott und kein schwebendes Nebelgebilde, sondern die höchste Realität, das allein unabhängige Wesen, die eigentliche Persönlichkeit, unendlich erhaben über alle seine Werke und dennoch der Inbegriff derselben. Er schuf die Welt durch sein Wort, überschaute sein Werk und sah, dass es sehr gut sei. Die Schöpfung ist weder eine Emanation seines Wesens, eine ihn verkümmernde Selbstentäußerung, noch das Werk eines abgefallenen oder nicht abgefallenen Untergottes. Alles ging aus freiem göttlichen Ratschlusse gut und rein, ein Zeuge der Herrlichkeit seines Schöpfers, hervor. Der Mensch ist im göttlichen Ebenbilde geschaffen, nicht bloß Mikrokosmos, sondern gottähnlich. Gott ist heilig, ein Hasser und Rächer des Bösen, und du sollst heilig sein, wie Er! Die Sünde lauert vor der Türe; sie gelüstet nach dir und du sollst sie beherrschen. Wo sollte in einer solchen Schöpfung, in einem solchen Menschen und unter einem solchen Gotte noch Raum für das angeborene Böse, für die Erbschaft der Sünde übrig bleiben? Jede einzelne dieser Lehren liefert schon ein unwiderlegliches Zeugnis für die ungeheure Kluft zwischen dem Glauben an die Angeborenheit der Sünde und der Lehre Mosis, und es ist in der Tat zu verwundern, wie Bähr (Symb. II. 209) solchen Zeugnissen gegenüber von seiner gewöhnlichen Vorliebe sich verleiten lassen konnte, die unreine πιθυμία in den mosaischen ‫ נפש‬zu verpflanzen, um dann durch eine weitere leichte Wendung diesen Nephesch |44| zur unreinen Wurzel des Unreinen, zum Prinzipe der Selbstheit und eo ipso – des Bösen zu stempeln, und so dem Mosaismus unter der Hand und in aller Schnelle ein rein heidnisches Prinzip des Bösen unterzuschieben. Für eine so folgenschwere Behauptung, die den innersten Kern der geoffenbarten Lehre betrifft, und worauf Bähr den ganzen künstlichen Bau seiner Opfertheorie errichtet, sollte man doch wenigstens irgend einen Haltpunkt erwarten dürfen, während derselben nichts weiter zur Stütze dient, als die völlig aus der Luft gegriffene Vermutung, dass ‫ נפש‬das Pronomen selbst bezeichnet, eine Worterklärung, die auch dann, wenn sie zugegeben werden könnte, für die Hauptsache, für die Übersiedelung der sündigen Selbstheit vom heidnischen auf mosaischen Boden nicht das Geringste beweisen würde. Allerdings entspringt die Sünde dem Nephesch, dem animalischen Leben und nicht dem gottentflossenen Geiste; aber dieser Nephesch befindet sich darum noch keineswegs in einem angeborenen unreinen Zustande. Der Trieb nach dem Bösen, die Fähigkeit zu sündigen ist sein angeborenes Erbe, nicht aber der böse Trieb, die unreine und im Dekalog mit dem Verbote ‫לא תחמד‬ als eine freiwillige sündige Tat im Innern des Menschen bezeichnete πιθυμία, die Sünde selber. Das ist eben der schneidendste Kontrast, der in dieser Hinsicht zwischen dem Mosaismus in notwendiger Folge seiner ganzen Lehre von Gott und Menschen und allen übrigen Religionssystemen stattfindet. Nach seiner Anschauung kann die Natur als ein reines und vortreffliches Erzeugnis Gottes überhaupt und insbesondere in ihrem Glanzund Gipfelpunkte, dem Menschen, unmöglich gleich von vorneherein einen bösen, unreinen Trieb mit sich führen, der, gleichviel ob zur konkreten Materie verdichtet, oder zum luftigen Hauche verfeinert, nach einem unerbittlichen logischen Schlusse Gott selber zum Urheber des Bösen stempelt. Sünde und Tugend sind Produkte der freien menschlichen Selbstbestimmung, innere oder äußere Taten der Willensfreiheit, niemals aber Naturtriebe, und der dem Nephesch |45| innewohnende Trieb nach dem Bösen ist ebensowenig Sünde, als der demselben Nephesch eingepflanzte Trieb nach dem Guten – Tugend. Jener 154

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wie dieser kann wie jeder andere tierische Trieb weder heilig, noch unrein genannt werden, sondern bloß auf Reinheit und Güte, das heißt Zweckmäßigkeit Anspruch machen; aber die Verbindung mit dem freien Willen, der im Geiste wohnt, vermag Ersteren zum Quell des Unreinen, der bösen Lust, wie Beide zum Quell der Heiligkeit werden zu lassen. Gott ist nimmermehr Urheber der Sünde, aber er hat den Menschen so ausgestattet, dass dieser selbst Urheber der Sünde zu werden vermag, und er musste ihn so ausstatten, weil die Fähigkeit zu sündigen zugleich die Fähigkeit zur Tugendübung, die Möglichkeit der Lebensheiligung bedingt, weil den der Sünde unfähigen Menschen die bloße Natur schon zum Vollzuge des göttlichen Willens treibt, der Trieb allein aber keine Heiligkeit, keine Tugendhaftigkeit gewährt. Noch klarer stellt sich der Unterschied zwischen der heidnischen und mosaischen Lehre durch folgendes Moment heraus. Das Heidentum betrachtet nämlich das physische und moralische Übel im Grunde als ein und dasselbe; denn es fehlt ihm der eigentliche Begriff des Moralisch-Bösen, welcher den der vollkommenen moralischen Willensfreiheit voraussetzt. Der Mensch kann nur insofern im vollständigen Sinne des Wortes moralisch gut oder böse handeln, als ihm vollkommen freie Wahl zukommt, eine solche Handlung zu üben oder zu unterlassen. Befindet er sich aber ohne sein Verschulden und schon von Geburt an in einem sündenhaften Zustande, so ist dieser Zustand selbst als ein natürliches Gebrechen, das mit jedem andern unglücklichen Verhängnisse ein und denselben Ursprung hat und ebenso an der Seele haftet, wie ein anderes Gebrechen am Leibe. Allerdings verhält es sich anders mit der Sünde, das heißt mit der sündigen Tat, mit der Äußerung des sündenhaften Zustandes. In Bezug auf diese kann freilich auch das Heidentum nicht umhin, die menschliche Willensfreiheit anzuerkennen, aber doch nur bis auf einen gewissen |46| Grad, indem der Zustand innerer Gebundenheit unmöglich ohne allen schmälernden und hemmenden Einfluss auf die Freiheit des Handelns gedacht werden kann. Das volle Bewusstsein der natürlichen Sündenhaftigkeit musste im Heidentum das Bewusstsein der Sünde in hohem Grade verkümmern, dieses mehr oder weniger in jenes aufgehen und mit jenem wie ein natürliches Übel erscheinen lassen. Nach einer notwendigen Konsequenz dieser ganzen Anschauung musste dasselbe ferner jede innere Unordnung, jede noch so sträfliche Lust dem Kreise der natürlichen Sündenhaftigkeit ganz und gar anschließen und erst die äußerliche Tat dem Kreise der Sünde zurechnen. Ist nämlich die innere Verfassung von Natur aus Herd und Heimat des Bösen, so lässt sich in keinem Falle dort – auf seinem eigenen Gebiete – die Gewalt desselben fesseln und eine Grenze zwischen sündenhaftem Naturzustande und Sündentat ziehen. Der Mosaismus dagegen, welcher die natürliche Sündenhaftigkeit durchaus zurückweist, bloß eine natürliche Sündenfähigkeit zugesteht und dem menschlichen Willen in moralischer Hinsicht vollkommene Freiheit beimisst, konnte und musste das physische Übel vom moralischen auf das Schärfste unterscheiden, Gott den Urheber des Ersteren, den Menschen den Urheber des Letzteren nennen 5 und endlich auch die innere Lust nach dem Verbotenen, die Hingabe der Gesinnung an die Sünde als eine freie innere Sündentat streng verpönen, und wenn – wie Ibn Esra erwähnt – Viele über das mosaische Verbot der bloßen Lust nach fremdem Gute sich verwunderten, weil nach ihrer Meinung das Gelüste sich nicht 5

Jes 45,7. Am 3,6. Klgl 3,38.

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verbieten lasse, so beruht diese Verwunderung auf einem großen, von Ibn Esra selbst geteilten Missverständnisse, nämlich entweder auf der falschen Voraussetzung, dass die Schrift schon den Trieb nach dem Bösen verbieten wollte und ihn auch ohne Herrschaft über die Gesinnung als verwerflich betrachtet, oder auf der ebenso falschen |47| Annahme, dass der Mensch vermöge seiner moralischen Willensfreiheit nicht ebensowohl die Gesinnung, wie die Handlung selbstständig und ohne allen Zwang produziere, dass die Herrschaft der animalischen Lebenskraft über das Wollen des Geistes eine natürliche Notwendigkeit, eine Gottesordnung wäre. Diese scharfe Gegeneinanderstellung der Sünde und der Natürlichkeit löst uns auch das Geheimnis des mosaischen Prinzips der Sünde. Es wurde nämlich schon im vorigen Kapitel nachgewiesen, wie der Mosaismus alle Fäden des animalischen und geistigen Menschen in ein und demselben Mittelpunkte zusammenlaufen lässt, und eben von der hier zwischen den verschiedenen Potenzen herrschenden Harmonie alle menschliche Frömmigkeit und Glückseligkeit abhängig macht. Das Prinzip des Bösen ist sonach nichts Anderes als Unnatürlichkeit, Verletzung der von Gott festgestellten Naturordnung, mit anderen Worten: Störung des Einklanges zwischen der animalischen und geistigen Lebenskraft. Und in der Tat leuchtet der Strahl dieser großen und folgenschweren Wahrheit, wenn auch nicht zum vollen Bewusstsein gebracht und darum auch nicht konsequent verfolgt, hell genug, aus jener dunkeln Mischna, hervor (mAv V,1): ‫בעשרה מאמרות נברא העולם ומה תלמוד לומר והלא במאמר א’ יכול להבראות אלא להפרע מן הרשעים‬ ‫שמאבדין את העולם שנברא בעשרה מאמרות וליתן שכר טוב לצדיקים שמקימין את העולם שנברא בעשרה‬ .‫מאמרות‬ Die Wurzel aller Sünde ist ein Akt der Naturverletzung im Innern des sündigenden Menschen. ‫ חטא‬heißt ursprünglich: der Fehlerhafte, Verletzte 6 und erst in abgeleiteter Bedeutung: der das Ziel Verfehlende, so erst den |48| wahren Gegensatz zu ‫( חם‬dem Ganzen, Lückenlosen) bildend. Wie aber? Sollte der Mosaismus ein und dasselbe Prinzip des Bösen mit dem Naturalismus wenigstens in so fern teilen, als dasselbe hier wie dort in kosmischer Störung besteht? In gewisser Hinsicht – allerdings! Und doch – welche ungeheure Kluft zwischen Beiden! Dem heidnischen Naturalismus ist die kosmische Störung, wie dem heidnischen Idealismus der Kosmos selber, eine Störung Gottes, und darum bezieht sich die heidnische Sühne auf die Gottheit; dem Mosaismus ist die kosmische Störung eine Störung des von Gott ausgegangenen und vollkommenen Werkes, und daher die Sühne eine solche, welche nicht Gott, den ewig vollkommenen und weder durch eine menschliche noch sonstige Gewalt verletzbaren, sondern den Opfernden selbst, den allein durch die Sünde verletzten, zum Objekte hat. Dies führt uns zugleich auf eine andere höchst bedeutsame Eigentümlichkeit des Mosaismus. Selbst dann, wenn die Sünde am Nächsten begangen worden, bezieht sich die Sühne niemals auf diesen, sondern immer nur auf den Sünder. Daraus folgt unzweifelhaft, dass nach der biblischen Lehre der Sünder die Naturordnung nur in und an sich 6

Vergl. Raschi zu Gen 31,39: ‫ אנכי‬.‫אנבי אחטנה לשון קולע באבן אל השערה ולא יחטיא אני ובני שלמה חטאים חסרים‬ ‫אחסרנה … תרגומו דהות שגיא ממנינא שהיתה נפרידת ומחוסרת כמו ולא נפקד ממנו איש תרגומו ולא שגא‬. Ebenso Thossaphoth zu bShevu 8a s. v. ‫הקפר‬.

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selber stören kann, außerhalb der eigenen Lebenssphäre aber eine solche Störung wohl in sträflicher Weise beabsichtigen, dagegen nimmer tatsächlich zu vollführen vermag. Der Mensch kann Gottesordnung ebensowenig, wie das göttliche Leben selbst, stören. Gottes Vorsehung duldet nimmer, dass irgend Jemanden auch nur das geringste Leid durch menschliche Willkür zugefügt werde, ohne dass eine solche Zufügung seine eigene Fügung und von ewig her bestimmte Ordnung wäre. Nur die eigene Naturordnung kann der Mensch freventlich ebensowohl durch die Sünde selbst, wie durch ihre, für ihn schädlichen Folgen ändern; diese Gewalt wurde ihm teils als wesentliche Bedingung seiner moralischen Willensfreiheit, teils zu seiner Bestrafung von Gott |49| verliehen. Will er aber diese Grenze überschreiten, so wird sein Arm entweder der Vollstrecker einer göttlichen Fügung, oder von der Allmacht trotz der drohendsten Übermacht über den zum Opfer Ausersehenen aufgehalten und gelähmt. Die Sünde mag dieses oder jenes Ziel haben – immer beginnt sie mit dem innern, dem Triebe nach dem Bösen entspringenden freiwilligen Akt der Entzweiung zwischen dem Geiste und der animalischen Lebenskraft. Diese erste innere Tat, die sich selber keineswegs Endzweck sein kann und vielmehr immer erst durch irgend einen Antrieb hervorgerufen wird, will und muss sich, diesem Antriebe angemessen, auch äußern und tendiert daher stets entweder innerlich durch die Gesinnung, oder auch äußerlich durch die Handlung nach einem bestimmten Objekte, das ebensowohl der Träger des gestörten Lebens selber, als ein außer ihm Vorhandenes, Schöpfer oder Geschöpf, sein kann. Mit dieser Äußerung, das heißt zweiten Tat, die man gemeinhin die eigentliche Sünde nennt, fängt der Sünder an, außer der bereits vollzogenen Störung der innern Harmonie noch ein Objekt, und zwar entweder sein eigenes oder ein fremdes Leben mit in den Kreis der Zerstörung ziehen zu wollen, ein Wollen, das in Bezug auf ihn selbst durch Abwendung von Gott, dem Urquell seines Daseins, durch übermäßige Hingabe an den Sinnengenuss oder durch Abtötung des Fleisches u. s. w., in Bezug auf Andere durch List, Bosheit, Verlangen nach fremdem Gute und dergleichen, in Hinsicht auf Gott endlich durch Undankbarkeit, Auflehnung gegen die höchsten Fügungen, Gottesleugnung und Ähnliches sich ausspricht. Allein eine solche Tendenz nach Verletzung des erwählten Objektes kann, wie schon erwähnt, lediglich in Absicht auf das sündige Individuum als eine Störung der von Gott festgestellten Naturordnung wirklich vollführt werden, in Absicht auf ein fremdes Individuum aber tritt eine wirkliche Störung der Naturordnung ebensowenig ein, als das göttliche Wesen selbst durch irgend eine sündige Gewalt jemals in irgend einer Weise verkümmert werden |50| kann. In diesem Falle wird der Frevler, wenn ihm die Ausführung der Absicht gelingt, vielmehr bloß ein Werkzeug in der Hand Gottes, strafbar wegen der Absicht, die natürlich durch die tatsächliche Ausführung eine um so größere intensive Gewalt beurkundet, daher auch an Verwerflichkeit zunimmt und bis zum lebenverwirkenden Verbrechen gesteigert werden kann, nicht aber wegen einer Verletzung der Naturordnung, die in der Tat gar nicht stattgefunden. Der Mörder z. B. kann Niemandem auch nur um eine Sekunde früher das Leben nehmen, als Gott schon von ewig her die Grenzen des mit freventlichem Vorsatze getöteten Lebens feststellte; er besitzt über das Schicksal dessen, dem er das Dasein verkürzen will, durchaus keine andere Gewalt als das blinde Mordwerkzeug in seiner 157

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Hand oder ein reißendes Tier über seine Beute, und so wenig als Letzterem oder einem niederstürzenden Felsen ohne göttliche Lenkung die Vernichtung eines lebendigen Wesens gestattet sein kann, ebensowenig dürfen wir der menschlichen Bosheit eine solche schaudervolle Gewalt einräumen, wenn der Gedanke an ein Alles überwachendes Vaterauge nicht in der erbärmlichsten Weise eingeschränkt werden und fast zur gänzlichen Bedeutungslosigkeit herabsinken soll. Das Hinausgreifen der Sünde über die Sphäre ihres eigenen Trägers stiftet keine Unordnung, sondern wird Gottesordnung, wird ein ergänzendes Glied in der Kette göttlicher Verhängnisse, eine von Gott gewollte und nicht bloß geduldete Fügung, die aber darum die Freiheit der sündigen Tat ebensowenig beeinträchtigt, als die göttliche Allwissenheit, welche alle menschlichen Schritte schon zum Voraus kennt. Dies Alles findet sich klar und deutlich ausgesprochen ebensowohl Gen 15,13–14: ‫ידע תדע כי גר יהיה זרעך בארץ לא להם ועבדום וענו אתם ארבע מאות שנה וגם את הגוי אשר יעבדו דן אנכי‬ ‫ואחרי כן יצאו ברכוש גדול‬, wobei offenbar der Druck Israels als selbstständiger göttlicher Plan in vollkommener Unabhängigkeit von dem Frevel der bloß zum vollführenden Werkzeuge dienenden Dränger erscheint, wie Gen 50,20: ‫אתם חשבתם עלי רעה אלהים חשבה לטבה למען‬ .‫עשה כיום הזה להחיות עם רב‬ |51| Die beabsichtigte Tilgung ihres Opfers konnten, als dem göttlichen Plane widerstrebend, die Brüder Josephs und Pharao nicht erzielen; sie durften demselben in qualitativer und in quantitativer Beziehung einzig und allein das von der Vorsehung zur Verfolgung ihrer Ratschlüsse angeordnete Leid zufügen. Es herrscht weder blinder Fatalismus noch zügellose Willkür. Über sich selbst hat der Mensch vollkommene Gewalt, Anderen gegenüber wird sein freies Tun und Lassen von Gott gelenkt und geleitet. Das talmudische Judentum dagegen widerspricht dieser im Mosaismus so tief begründeten Wahrheit. Es zugesteht der menschlichen Willkür – wie das Heidentum – auch über fremde Lebenskreise die Macht der Zerstörung. Die oben angeführte Mischna aus Aboth lässt den Bösewicht die Welt zu Grunde richten. In Abodath Elilim (=bAZ) 54b wird ferner gelehrt: 7 ‫הרי שגזל סאה של חטים וזרעה בקרקע דין הוא שלא תצמח אלא עולם כמנהגו נוהג‬ ‫ הרי שבא על אשת חבירו דין הוא שלא תתעבר אלא עולם כמוהגו‬.‫והולך ושוטים שקלקלו עתידין ליתן את הדין‬ ‫נוהג והולך ושוטים שקלקלו עתידין ליתן את הדין והיינו דאמר ר״ל אמר הקב״ה לא דיין לרשעים שעושין סלע‬ .‫שלי פומבי אלא שמטריחין אותי ומחת ימין אותי בעל כרחי‬ Auf den ersten Anblick scheint diese Geltendmachung des starren und unabänderlichen Naturganges, die den Schöpfer gleichsam außer Stand setzt, der sündigen Macht Abbruch zu tun, dem Vermögen der bösen Willkür, störend in die Naturordnung einzugreifen, zu widersprechen. Im Grunde aber entfließen beide Ansichten vielmehr ein und demselben Geiste, der Voraussetzung, dass Gott der Macht der Sünde gegenüber ein passives Verhalten beobachte. In Folge dieser Passivität, welche das Böse nach Außen hin sogar wider die Naturordnung nach Belieben schalten und walten lässt, kann Gott die satanische Kraft noch viel weniger im Widerspruche mit dem natürlichen Gange der 7

[»Wenn jemand eine Seá Weizen raubt und ihn in den Boden aussäet, so sollte er von rechtswegen nicht hervorsprossen, dennoch behält die Welt ihren natürlichen Lauf, und die Toren, die (ihre Handlungen) verderbt haben, werden dereinst Rechenschaft ablegen …« Und siehe weiter bei L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Aboda Zara 54b]

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Dinge schmälern wollen. Alles, was der Sünde zu statten kommt, die Natürlichkeit, wie die Unnatürlichkeit, wird von ihm geduldet. |52| Gegen seinen Willen lässt er ebensowohl Menschenblut durch Menschenhand vergießen, wie das gestohlene Saatkorn zur Frucht heranreifen. Der Grund dieser Duldung ist auch in letzterem Falle keineswegs die auf talmudischem Standpunkte ohnehin nicht feststehende Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze, sondern eben bloß die untätige Rolle, welche Gott der Entfaltung des Bösen gegenüber ein für alle Mal in dieser Welt zu übernehmen für gut findet, um dasselbe in der jenseitigen Welt um so strenger zu züchtigen ‫עתידין‬ ‫ליתן את הדין‬. Am Entschiedensten aber tritt die talmudische Ansicht in Chulin 11b und Sanhedrin 78a hervor, wonach die absichtliche Tötung eines Menschen, welcher an einem lebensverkürzenden organischen Fehler leidet, gar nicht als ein der Todesstrafe würdiges Verbrechen betrachtet wird – … ‫ אתי’ מהורג את הנפש‬.‫ שהוא פטור‬8 ‫הכל מודים בהורג את הטריפה‬ ‫וליחוש דלמא טריפה הוא‬. Diese an sich gewiss höchst überraschende Halacha (…) ist bloß eine notwendige Konsequenz der ganzen rabbinischen Anschauung über das Verhältnis der göttlichen Providenz zur Macht des Bösen. Den Rabbinen ist bei der Ausführung einer verbrecherischen Absicht nicht die Absicht, sondern die zerstörende äußere Tat, die wirklich erfolgte Verwirrung der Naturordnung das Hauptmoment, und so richtet sich denn in Bezug auf den Mörder das Strafmaß natürlich nach dem größern oder geringern Maße von Lebensfähigkeit, die der Gemordete besessen. Die Absicht des Mörders kommt hierbei durchaus nicht in Betracht. Dieser ahnt nicht das Geringste vom Vorhandensein eines organischen Fehlers an seinem Opfer; er hat nach seiner Meinung ein vollkommenes Leben zerstört. Nichts desto weniger befreiet ihn die tatsächliche mangelhafte Beschaffenheit des zerstörten Organismus von der Todesstrafe, weil das, was diese Strafe nachzieht, nicht in der mit Ausführung verbundenen Absicht, sondern in der mit Absicht |53| verbundenen Ausführung, in der Aufhebung der Naturordnung besteht und sonach der Grad des angerichteten Schadens nicht ohne Einfluss auf die Strafwürdigkeit bleiben kann. Indes hat diese Differenz zwischen dem biblischen und rabbinischen Judentum ihre tiefere Begründung in einer andern Differenz zwischen Beiden in Hinsicht auf den Grund der physischen Übel, deren Darlegung jedoch erfordert, zuerst die eiserne Konsequenz nachzuweisen, womit der bisher auseinandergesetzte biblische Gedanke in der Beurteilung aller mit dem Bösen zusammenhängenden Erscheinungen sich geltend macht. Den schicklichsten Anknüpfungspunkt bietet die ebenso oft besprochene als missverstandene Stelle im Dekalog Ex 20,5, wo von Gott gesagt wird, er gedenke der Schuld der Väter über die Kinder. Dass hier von den natürlichen Folgen der Sünde, von dem Unglücke, das Eltern durch die Sünde über ihre Nachkommen bringen, die Rede sei, wird fast allgemein zugestanden. Nur fand man es in hohem Grade auffallend, dass dasselbe Gottesgesetz, welches Dtn 24,16 gebietet, Kinder nicht wegen des Vergehens der Eltern zu bestrafen, doch wieder andererseits strafbaren Eltern eine solche unheilvolle Macht über ihre schuldlosen Nachkommen einräumt. In Wahrheit denkt aber die Bibel an eine solche Macht-Einräumung ebensowenig bei den nichtbeabsichtigten, wie bei den beabsichtigten schädlichen 8

[trefah meint nicht nur den organischen Fehler, sondern auch totverletzt; siehe die Übersetzung bei L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud s. v.]

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Folgen, welche die Sünde für Andere nachzieht. Die physischen Übel, woran die Kinder lasterhafter Eltern oft leiden, sind an sich durchaus keine Störung der von Gott festgestellten Ordnung, sondern ein für diese Kinder von der Vorsehung bestimmtes Verhängnis, das wir freilich ebensowenig, als Gottes Werke und Wege überhaupt zu ergründen vermögen. Der sündige Vater erzeugt wohl das Unglück des schuldlosen Kindes, aber nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern in der Eigenschaft eines göttlichen Werkzeuges. Man glaubt den scheinbaren Widerspruch zwischen der Tatsache der Fortpflanzung der üblen Folgen der Sünde auf Kinder und Kindeskinder und der |54| göttlichen Gerechtigkeit ohne Erfassung des mosaischen Gedankens schon dadurch gelöst zu haben, dass man jene Übel eben als natürliche Folgen der Sünde hingestellt. 9 Dies ist aber nichts weiter, als eine leere Täuschung. Messen wir das Walten der göttlichen Gerechtigkeit einmal nach unsern Vorstellungen, so taugt die Natürlichkeit durchaus nicht zur Rechtfertigung der Weltregierung; denn diese Natürlichkeit ist ja eben ein Gesetz Gottes und wäre also im vorliegenden Falle ein ungerechtes Gesetz Gottes, zu dessen Aufhebung die menschliche Gerechtigkeit, stünde es in ihrer Macht, sich gedrungen fühlen würde. Der Talmud, welcher Gott gleichfalls gezwungener Weise das gestohlene Saatkorn aufblühen und die ehebrecherische Vermischung Frucht tragen lässt, hat wenigstens das Verdienst, sein System konsequent durchzuführen; er pocht nämlich bei dem Allen nicht auf die Natürlichkeit, sondern vindiziert der Sünde selbst der Natürlichkeit gegenüber freien Spielraum und stempelt Gott in diesem wie in jenem Falle zum ruhigen Zuschauer, der sich den Tag der Vergeltung vorbehält. Gottes Gerechtigkeit aber mit der ungerechten Natürlichkeit verteidigen zu wollen, ist Inkonsequenz und Unsinn zugleich. Und selbst hiervon abgesehen – wie will man andere natürliche Übel, deren Entstehung sich nicht von einem sündigen Vorgange ableiten lässt, mit Gottes Gerechtigkeit in Einklang bringen? Es ist nutzlos, eine neue Art von Erbsünde zu erfinden, wenn die auf dieselbe zurückgeführten Erscheinungen auch ohne die hässliche Erbschaft zu Tage kommen. Die einzige Lösung solcher Erscheinungen bleibt ewig jenes vom Buche Job dramatisch dargestellte prophetische Wort: Nicht meine Gedanken sind eure Gedanken, nicht euere Wege meine Wege, spricht der Herr! denn hoch, wie der Himmel über der Erde, sind meine Wege über eueren Wegen, meine Gedanken über eueren Gedanken (Jes 55,8–9) Freilich mahnt und warnt die Schrift, Gott werde der Sünde der Eltern über die Kinder gedenken, |55| allein sie stellt damit bloß eine Tatsache hin, welche die Eltern von der Sünde abhalten soll, ohne darum diese Tatsache irgendwie als eine durch das Böse verursachte Störung der göttlichen Ordnung bezeichnen zu wollen, und der Ausdruck ‫פקד עון אבות על בנים‬ bedeutet ebenso, wie ‫( ופקדתם עליהם במשמרת את כל משאם‬Num 4,27) keineswegs, er bestraft, sondern: er bestimmt (denkt zu) die Sünde der Eltern den Kindern, das heißt dem Schicksale der Kinder, dessen unglückliche Beschaffenheit gottlose Ahnen allerdings erzeugen. Es ist derselbe Gedanke, den der Sänger (Klagel. 5,7) klagend über Israels unglückseliges Geschick ausspricht: »unsere Väter sündigten und sind nicht mehr; wir müssen ihre Sünden tragen!« Am schlagendsten bestätigt dies Alles Jecheskels Ausspruch (Ez 18,20): ‫הנפש‬ .‫החוטאת היא תמות בן לא ישא בעון האב ואב לא ישא בעון הבן צדקת הצדיק עליו תהי’ ורשעת רשע עליו תהיה‬ 9

S. Michaelis 1774, §. 229.

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Trotz jener talmudischen Ansicht 10, welche eine dogmatische Verschiedenheit zwischen Moses und Jecheskel in dieser Hinsicht annimmt, herrscht zwischen diesem Ausspruche und der betreffenden Stelle im Dekalog ebensowenig, als zwischen dieser und dem Gesetze, dass Kinder nicht wegen der Eltern sterben sollen, irgend ein Widerspruch. Letzteres handelt ohnehin bloß von gerichtlicher Tötung 11, und der Prophet, der allerdings, wie aus dem ganzen Zusammenhange hervorgeht, von frühzeitigem natürlichen Tode redet, will in inniger Übereinstimmung mit der Lehre Mosis den Wahn widerlegen, als ob der Sohn für die Vergehen des Vaters, oder der Vater für die des Sohnes eine Strafe zu erleiden hätte. Eine andere von Onkelos und dem Talmud (bSan 27b) vertretene Ansicht, der auch Neuere folgen 12, |56| will unsere Stelle so gedeutet wissen, dass die Kinder nur dann gestraft würden, wenn sie dem Beispiele der Eltern folgen ‫כשאוחזין מעשה אבותיהן‬. Diese Deutung bedarf aber kaum der Widerlegung, indem sie nicht bloß gerade den wichtigsten Bestandteil in den Text erst hineinträgt, sondern dem Inhalte desselben geradezu widerspricht. Wird nämlich für die Nachkommen die Strafe erst durch ihre eigene Sünde bedingt, so tragen sie ja eben nur die Strafe der eigenen – nicht aber der väterlichen Sünde. Soll aber sündigen Kindern die Strafe wegen der väterlichen Schuld etwa vermehrt werden, so bleibt dieser Überschuss nicht weniger unerklärlich als die Bestrafung schuldloser Nachkommen und ist demzufolge für die Lösung des Problems bei allem, dem Texte angetanen Zwange nicht das Geringste gewonnen. Von hoher Wichtigkeit erscheint indes die betreffende Deutung für das Verständnis des talmudischen Judentums nach einer anderen Richtung hin, und jetzt sind wir an dem Punkte anlangt, wo die oben erwähnte Differenz zwischen Mosaismus und Rabbinismus in Betreff des Ursprunges physischer Übel in aller Schärfe hervortritt. Auf den ersten Anblick muss es nämlich sehr auffallend erscheinen, dass die Rabbinen, welche doch der Sünde eine über ihren Träger weit hinausreichende Zerstörungsmacht überall zugestehen, an der Fortpflanzung der natürlichen schädlichen Folgen der Sünde Anstoß nehmen und dieselben im vorliegenden Falle von der Fortpflanzung der Sünde selbst abhängig machen. Im Grunde aber beruht dies auf einer andern im Talmud vorherrschenden Anschauung, wonach alle physischen Übel als göttliche Strafe für begangene Sünden gelten 13. Und so verliert auch die Zerstörungsmacht, welche das rabbinische Judentum dem Sünder auch in unmittelbarer Weise einräumt, wenigstens ihren monströsen Charakter. Gott lässt es geschehen, dass das Blut eines Menschen durch menschliche Willkür, das heißt nicht in |57| Folge einer selbstständigen Fügung vergossen werde, wenn und weil der Betroffene verschuldet ist und so durch die eigene Willenskraft die Möglichkeit störender Eingriffe fremder Hände in seine Naturordnung erzeugte. Der Mörder bleibt darum immer noch ein Verbrecher; denn Gott hat ihm in diesem Falle wohl das Ver10 11 12 13

bMak 24a. Vergl. Ibn Esra zu Dtn 24,16 : ‫ותועי רוח שאלו איך אמר הכתוב לא יומתו אבות ובמקום אחר אומר פוקד עון אבות‬ ‫ושאלתם תהו כי לא יומתו … מצוה על ישראל ופוקד עון אבות על בנים הוא הפוקד‬. Vergl. Hengstenberg 1839, 549. S. bBer 5b und Albo Ikkarim Abschn. 5.

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mögen, nimmer aber die Befugnis zur Übernahme seines Richteramtes verliehen; er brachte ferner eine tatsächliche Störung zu Wege und handelt keineswegs als Werkzeug der Ausführung einer göttlichen Fügung; allein er besitzt dieses Vermögen nicht etwa aus eigener Machtvollkommenheit, sondern in Folge jener Zerstörungsmacht, die der sündige Mensch über sich selbst besitzt und auch Andern in Bezug auf seine Person zur Verfügung stellt, während Gott keineswegs aus der Passivität heraustritt, die Tat bloß duldet, aber lediglich darum duldet, weil er den Sünder, das menschliche Objekt des Mordes, sein unglückliches Schicksal mit eigener Hand schaffen lassen will und den schädlichen Folgen seines freien Tuns anheimgibt. Auf talmudischem Boden steht sonach in Hinsicht auf Zerstörungsmacht in einem ganz andern Sinne, als nach der mosaischen Lehre, der mordende Mensch und das reißende Tier auf ein und derselben Linie. Beide handeln weder aus eigener Machtvollkommenheit, noch in göttlichem Auftrage, sondern einzig und allein vermöge der sündigen Gewalt ihres Opfers, und so entströmt der Sünde eine in der Tat entsetzliche Gewalt, welche die ganze Naturordnung umkehrt, den Menschen ebensowohl dem blinden Triebe ihm untergeordneter Wesen, wie der zügellosen Willkür des Mitmenschen als Beute überliefert, kurz eine Gewalt, welche gleichsam die ganze Schöpfung aus den Fugen reißt (‫)שמאבדין את העולם‬, während nach der biblischen Lehre mit ihrer unvergleichlichen ethischen Majestät weder das blinde Naturelement, das ausdrücklich ein Bote Gottes, ein ‫ מלאך‬genannt wird 14, noch das Raubtier, noch |58| die menschliche Willkür gegen irgend Jemanden – selbst gegen den Sünder – irgend Etwas ohne göttliche Fügung, ohne göttlichen Auftrag auszurichten vermögen, und die Macht der Zerstörung im eigentlichen Sinne des Wortes bloß dem freiwollenden Menschen über sich selbst verliehen worden. Dieser sittlichen Höhe angemessen, ist der Mosaismus weit davon entfernt, den Leidenden ein für alle Mal noch obendrein mit dem tiefen brennenden Schmerze des Schuldbewusstseins zu beladen. Er lehrt wohl, dass der Sünder zu seiner Strafe oft leiden müsse, stellt aber entschieden in Abrede, dass der Leidende auch immer gesündigt haben müsse. Das unglückliche Schicksal gilt ihm, inwiefern sich der Mensch dasselbe nicht durch eigene und für ihn wohl erkennbare Schuld zugezogen, an und für sich selbst als eine unergründliche Fügung Gottes und seinem Endzwecke nach als Prüfung, als Mittel zur Lebensheiligung; denn das physische Übel steigert den Trieb nach dem Bösen, führt leicht zum moralischen Übel, macht den Menschen geneigt, sich gegen Gott und Menschen zu vergehen, und wer aus diesem Kampfe glorreich hervorgeht – der trägt die Krone der Lebensheiligung, die Krone, welche das zerstreute Israel ziert und die ihm das talmudische Judentum vom Haupte gerissen, um seiner schwer beladenen Schulter noch obendrein das erdrückende Joch einer durch Jahrtausende ungesühnten Schuld aufzubürden. Der Talmudismus betrachtet das physische Übel durchaus als Strafe und eben darum zugleich auch als Mittel zur Tilgung der Sünde; der Mosaismus sieht in demselben ein Mittel zum Kampfe gegen die Sünde, zur Heiligung. Die scharfe Scheidung des Letztern zwischen dem Ursprünge des moralischen und dem des zeitlichen Übels ist Jenem abhanden gekommen, indem er Beide nicht von Gott, sondern von Menschen kommen lässt. 14

Ps 104,4.

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Die biblische Lehre von der Natur und dem Zwecke der natürlichen Übel tritt an zahllosen Stellen hervor. Gott |59| lässt Israel in der Wüste umherirren und allerlei Entbehrungen erdulden, um seinen Gehorsam gegen das Gesetz zu prüfen (Dtn 5,2). Israel soll nicht sprechen: mein Weg ist dem Herrn verborgen, mein Recht geht an meinem Gotte vorüber; es soll die Unergründlichkeit der göttlichen Ratschlüsse erkennen; nur Knaben straucheln, die auf Gott Hoffenden aber erheben die Schwingen wie der Adler, gehen und ermüden nicht (Jes 40,27)! Jener Mann des Schmerzes, ein glorreiches Bild der Heiligkeit, verachtet, geschlagen und verwundet, aber durch seine Wunden Anderen Segen spendend – er soll Samen schauen 15, lange leben und das Gottgewollte glücklich vollführen (Jes 53). Das ganze Buch Job endlich hat gar keine andere Tendenz, als die Darstellung der reinen Gotteslehre über das natürliche Übel. Dasselbe stellt 1) das Leiden der Frommen als Gottes unergründliche Fügung hin und lässt den erhabenen Schicksalslenker die Freunde Job’s, die diesem mit aller Gewalt eine Schuld als Grund seines trüben Schicksals aufbürden wollten, auf das Schärfste tadeln (Ijob 42,8), wodurch sich aber der Talmud, der eben die Ansicht der Freunde Job’s teilt, gleichwohl nicht hindern ließ, das Leiden Job’s ein verschuldetes zu nennen (bSot 11a). Und wie die Frage, warum Gott den Frommen Leiden sendet, wobei hauptsächlich die Wahl der Person, die Verschiedenheit irdischer Lose in Betracht kommt, mit der Unergründlichkeit Gottes beantwortet wird, so ist ferner 2) der ganze Inhalt des Buches eine Antwort auf die Frage: wozu der Mensch diese Leiden benützen soll – nämlich zum heldenmütigen Kampfe gegen das moralische Übel, das ihn dann zu bewältigen droht; zur Entfaltung frommen Gehorsams gegen die göttlichen Fügungen und der unerschütterlichen Anerkennung der göttlichen Gerechtigkeit, kurz zur Lebensheiligung. Der Satan ist ein Engel Gottes und sitzt im Rate des Allerhöchsten. Eine stärkere Negation jenes Satans, der das moralische Übel personifiziert und als ein von Gott Abgefallener das Menschengeschlecht mit unerbittlicher Gewalt beherrscht, lässt sich gar |60| nicht denken. Er erscheint als Bote Gottes, als Repräsentant des natürlichen Übels, welcher Job, den bisher von Gott so reich Gesegneten, insofern prüfen soll, ob seine Frömmigkeit auch im Unglücke nicht wanken werde (Ijob 1,9–11). Wo aber eine Prüfung stattfindet, muss auch das glückliche Bestehen der Prüfung für möglich gehalten werden. Der Mensch kann also den Satan, der als natürliches Übel zugleich den Trieb nach dem moralischen Übel darstellt, bewältigen, um vom bewältigten Satan sich heiligen zu lassen. Das ist der biblische Satan! Eine andere Physiognomie trägt allerdings der Satan in Sachariah 3,1–2. Hier zeigen sich schon bedeutende Spuren einer ausländischen Atmosphäre; allein nach Kimchi’s Erklärung bezeichnet er bloß das Haupt der Feinde des Tempelbaues, die diesen um jeden Preis zu verhindern suchen, und selbst nach der andern Deutung des T. Jonathan erscheint derselbe nur als Symbol der vom Hohenpriester begangenen Sünde, die dessen Erwählung hindernd in den Weg treten will, als ein Satan, der auf den Ruf Gottes zu Gunsten des Bußfertigen auf immer schwindet und den reuigen Hohenpriester, der seine unreinen Gewänder ablegt, zuletzt gerade zum Lichtsohne an der Seite des Weltenherrn verklärt. Also auch hier keine Rede von jenem persischen Dualismus, gegen welchen viel15

[haben]

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David Einhorn (1854)

mehr die zwei Lichtsöhne eine unverkennbare Anspielung enthalten. An anderen Orten vollstreckt der Satan die göttlichen Strafgerichte oder reizt zur sündigen Handlung, in welchem letztern Falle er wie in Job als Trieb nach dem Bösen – nur ohne Vermittlung des natürlichen Übels – erscheint, nicht an sich böse, sondern das Böse vermöge der menschlichen Willensfreiheit erzeugend 16. Er prüft und straft im Namen Gottes, erzeugt Sünde durch die freie menschliche Selbstbestimmung und unter Gottes Lenkung, ist endlich selbst Sünde und weicht durch die |61| menschliche Kraft der Wiedererhebung und durch die vergebende Gnade Gottes. Nach dem Allen ist der althebräische Satan entweder ein reiner Engel Gottes oder ein unreines Geschöpf des Menschen und in beiden Fällen Gottes Allmacht und der moralischen Kraft des göttlichen Ebenbildes untertan; er ist im schlimmsten Falle jener bildliche ‫חטאת‬, »der an der Türe lagert, nach dem Menschen gelüstet und von ihm bezwungen werden kann.« Diesem, das ganze biblische Judentum durchdringenden Geiste entspricht endlich auch die jehovistische Erzählung von der Schlange, deren Hauptmomente man völlig ignorieren muss, um ihr den furchtbaren moralischen Würger, die Erbsünde, oder auch nur überhaupt den Sündenfall zu vindizieren. Ist nämlich die Schlange das böse Prinzip, der fluchbeladene Satan, so hätte der Mensch nach Gen 3,23 seine Gottähnlichkeit gerade diesem Satan zu verdanken 17 und also in ihm seinen höchsten Wohltäter zu erkennen, wie überhaupt die Auffassung der Schlange als eines Symbols für das böse Prinzip ebensowenig mit dem mosaischen Grundgedanken der Reinheit aller von Gott geschaffenen Wesen, als besonders mit dem heilbringenden Anblicke der kupfernen Schlange Num 21,9 sich verträgt. Hat Gott ferner im buchstäblichen Sinne des Wortes dem Adam den Genuss von den Früchten des Erkenntnisbaumes verboten, und ist durch die Übertretung dieses Gebotes der Sündenfall entstanden, so muss Folgendes in hohem Grade auffallen: dass nämlich in der ganzen Erzählung der Genuss der verbotenen Früchte niemals als Sünde bezeichnet wird, dass Chava das Gebot auch auf sich bezieht (Gen 3,3) und sogar die Hauptstrafe erleidet, während der göttliche Befehl lediglich an Adam erging, ja der Existenz Chava’s voranging, und dass endlich die dem Befehle angefügte Drohung: am Tage deines Essens von demselben wirst du sterben, |62| bekanntlich sich nicht erfüllte, dass also die Bibel weder von einem Satan, noch von einer Erbsünde, noch von einem Sündenfalle überhaupt redet, liegt klar zu Tage. Wovon sie denn redet? Von der Genesis des Triebes nach dem Bösen, der den Menschen erst zu einem moralisch handelnden Wesen umschuf, dann von der Genesis der menschlichen Gottähnlichkeit, die in der Erkenntnis des Guten und Bösen besteht, von einer großen Revolution innerhalb der menschlichen Natur, womit diese aus dem faktischen Zustande der tierischen Gebundenheit an den göttlichen Willen, das heißt an den selbsterhaltenden Naturtrieb in Folge einer freiwilligen, aber moralisch indifferenten Verletzung des Naturtriebes heraustrat, dadurch Gutes und Böses von einander unterscheiden, auch nach Letzterem gelüsten und zwischen Beiden mit moralischer Freiheit wählen lernte. Der Jehovist betrachtet, wie die Natur überhaupt, so auch den Menschen im Lichte der allmählichen Entfaltung seiner Anlagen und lässt ihn daher 16 17

Vergl. 2 Sam 24,16. 1 Chr 21,1. Vergl. Bohlen 1835, 38.

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Gott und das Böse

nicht schon aus Gottes Hand mit dem Elohisten in voller Gottähnlichkeit hervorgehen, sondern diese Gottähnlichkeit bloß in potentia gleich von vorn herein schon besitzen, in actu aber erst durch die eigene Tatkraft erringen, und diese Gottähnlichkeit besteht für ihn nicht im Geiste mit seinen Attributen und namentlich dem freien Willen überhaupt, sondern in der moralischen Willensfreiheit, im Erkennen des Guten und Bösen und in der durch solche Erkenntnis bedingten Fähigkeit, das Gute als Gutes zu wählen und das Böse als Böses und nicht schon vermöge des innern Triebes zu meiden. Die faktische Losgebundenheit vom Naturtriebe, vermöge welcher der Mensch das in der Naturordnung sich ihm offenbarende Gesetz Gottes nicht aus innerer Gedrungenheit, sondern als Gottesgesetz ehrt und befolgt, gilt dem Jehovisten für das wesentlichste Stück der menschlichen Würde und den schärfsten Kontrast zwischen dieser und der tierischen Gebundenheit, die dem göttlichen Willen, ohne ihn als solchen zu erkennen, Gehorsam leistet. Ganz der |63| biblischen Grundanschauung angemessen, wonach jede Sünde ohne Ausnahme die Störung der eigenen Naturordnung zum Ausgangspunkte hat, erwählt sich nun unsere Erzählung das Verhalten des Menschen gegen die eigene Naturordnung zum Objekte, um jenen Riesenschritt, den das erste Menschenpaar für sich und all seine Nachkommen tat, zu schildern. Ursprünglich, das heißt im Naturzustande, besaß der Mensch wohl schon freien Willen, aber ausschließlich das Verlangen nach dem seiner Natur Angemessenen. Er vollzog den göttlichen Befehl tierähnlich, instinktmäßig. Das ihm Unangemessene stieß ihn von selbst zurück und der Trieb nach demselben lag noch in tiefem Schlummer, so dass er sich gar nicht versucht fühlte, nach dem Schädlichen zu greifen, obgleich dies in seiner Macht stand. Mitten in Eden standen zwei Bäume, der Baum des Lebens, dessen heilsame Frucht das Leben verlängerte und ihn eben darum instinktartig anzog, und ein anderer Baum, dessen schädliche Frucht das Leben verkürzte und ihn daher in Folge desselben sichern Instinktes trotz der einladenden Lieblichkeit (welch’ eine kunstvolle Zeichnung!) abstieß. Er erkannte wohl in diesem Abgestoßenwerden insofern eine Stimme Gottes, als er sich als ein Geschöpf Gottes erkannte, aber diese göttliche Stimme galt ihm noch keineswegs als ein göttliches Gesetz; er wusste, dass seine natürliche Einrichtung und somit auch dieser mächtige Zug der Natürlichkeit von Gott stamme, wusste aber nicht, dass Gott auch Gehorsam gegen diesen Zug, gegen seine Stimme im Menschen fordere, und glaubte vielmehr, man dürfte Alles tun, was man nur immer tun könnte. Der Begriff eines moralischen Dürfens, Nichtdürfens oder Müssens war für ihn gar nicht vorhanden, und er hielt es auf diesem Standpunkte ebensowenig für seine Pflicht, von den ihn anziehenden Früchten des Gartens ja zu genießen, als der ihn zurückstoßenden Früchte sich zu enthalten. Um zu diesem Begriffe zu gelangen, musste er zuvor den Grund der Zurückstoßung und der Anziehung, nämlich die Schädlichkeit der einen und |64| die Heilsamkeit der andern Frucht als verpflichtend kennen lernen, musste sich die Stimme Gottes zum Gesetze erheben, der Ruf: »iß von dieser und nicht von jener Frucht!« – in das Gebot verwandeln: du sollst! Eine solche Erkenntnis des Guten und Bösen war aber einzig und allein auf dem Wege der Erfahrung, durch den faktischen Genuss der schädlichen Frucht zu erlangen. Er vollzog nun in der Tat seine erhabene Bestimmung; er aß von der schädlichen Frucht – und hiermit war die ungeheuere Metamorphose vollendet. Er empfand die Schädlichkeit und die Reue entstand, die Gewissens165

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flamme und mit ihr die Offenbarung des Gottesgesetzes. Dieselbe Vernunft, die vor der verhängnisvollen Tat die Stimme Gottes, die Stimme des Instinktes durch die Schädlichkeit der Frucht und mit den Worten ‫ כי ביום אכלך ממנו מות תמות‬erklärte, ohne aber hierin noch ein Verbot zu erblicken, sie sprach jetzt: du hättest nicht essen sollen, nicht sollen, und damit war der bis dahin verschlossene moralische Begriff erschlossen, ganz dem Entwicklungsgang der menschlichen Natur im Allgemeinen angemessen, wonach heute noch dem Kinde der erste Strahl der ethischen Erkenntnis aus der Reue aufdämmert. Die nachteiligen Folgen des Genusses lehrten ihn, was gut und böse sei, das Vorhandensein eines Ja- und Nichtsollens, einer moralischen Sphäre neben der physischen des Ja- und Nichtkönnens, und nun erst wurde in der begangenen Tat eine bewusstlose Übertretung des Gottesgesetzes von ihm erkannt. Mit dem Genuss der wohlschmeckenden bösen Frucht war aber zugleich auch der bis dahin schlummernde Trieb nach dem Bösen erwacht und so gesellte sich zu der Erkenntnis des Guten und Bösen auch noch die Fähigkeit, der moralischen Erwählung zwischen Gutem und Bösem, die Fähigkeit, zu sündigen, resp. sich zu heiligen. Die Stufe der Gottähnlichkeit ist errungen, der Naturzustand verlassen, und nun kommen alle Attribute der Kultur zum Vorschein, die geschlechtliche Schamhaftigkeit, die Verweich- |65| lichung, die Beschwerlichkeit der Arbeit, das Verlangen nach dem Übermaße, die Schmerzhaftigkeit des Kindergebährens, und endlich der lebensverkürzende Kampf (Gen 3,7, Gen 3,16–22, Gen 6,3). Des Kampfes müde, sehnt sich der Mensch wieder zurück nach dem verlassenen Eden, aber die Cherubim Gottes versperren ihm den Weg auf immer; er soll den Frieden durch den Kampf sich erringen und so das Verlorene in verklärter Gestalt wiedererobern. Als Stifter dieser, die ganze menschliche Natur umwandelnden Erschütterung wird das Symbol des Heils im alten Ägypten und bei verschiedenen alten Völkern – die schlaue (nicht die unreine) Schlange redend aufgeführt, die dem Weibe vorspiegelt, Gottesstimme sei für den Menschen noch kein Gottesgesetz, diesen zur bewusstlosen Übertretung des Gesetzes verleitet und darum trotz der gespendeten Wohltat zum Kriechen auf dem Bauche und zum Essen des Staubes verurteilt wird. In Wahrheit war aber die schlaue Schlange kein anderer, als der frei wollende, die Schranken des Instinkts durchbrechende Menschengeist, der mit gewaltigem Flügelschlag das enge Gehäuse eines tierischen Friedens zerbrach, um fortan ungehindert den Aufschwung zum heißen Kampfe um Heiligung nehmen zu können. Das ganze herrliche Gemälde durchdringt ein Zug der Wehmut, ja fast der Trauer – wie er eben das sich zurücksehnende, ruhelose Menschenherz durchdringt. Der Elohist würde anders gezeichnet haben, weniger glühend, einfacher, ohne allen Anstrich von Sentimentalität und mit zyklopischer Urkraft. Der Jehovist malt mit dem Gemüte und darum das Eden der Kindheit mit reizenderen Farben als das hochliegende Nest, worin der Geistesadler horstet; aber er selbst steht auf dem Gipfel der Anhöhe, hört dort Gottes Stimme rufen: der Mensch ist wie Unser-Einer geworden, zu erkennen Gutes und Böses, und trauert nur darüber, dass das Lieblichere nicht auch das Bessere!

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V. Die menschliche Willensfreiheit

23. Willensfreiheit und Kausalität: L. R. Landau (1873) 1

|63| Die Kausalität in Bezug auf das Dasein Gottes und die moralische Freiheit. Bei dem innigen Zusammenhange und der Solidarität der religiösen Ideen ist die Kausalität, oder das Prinzip, dass jede Wirkung ihre Ursache haben muss, mit denselben nicht leicht in Einklang zu bringen. Ist sie ein Denkgesetz, ein Begriff a priori, so kann allerdings das Dasein Gottes als erste Ursache der Welt davon streng abgeleitet werden; dann kann sie aber auch gegen die Willensfreiheit geltend gemacht werden, da ein Denkgesetz keine Ausnahme duldet; ist sie aber ein Begriff a posteriori, d. i. aus der Erfahrung geschöpft, so ist sie zwar der Willensfreiheit nicht entgegen, doch kann sie dann als Beweismittel für das Dasein Gottes mit einem Schein von Recht beanstandet werden. Von diesen beiden extremen Ansichten gleich weit entfernt, glauben wir nachweisen zu können, dass die Kausalität zwar kein Denkgesetz, doch die notwendige, logische Konsequenz des höchsten Denkgesetzes, des Satzes der Identität und des Widerspruches ist, mithin so weit sich erstreckt, dass das Dasein Gottes aus derselben notwendig folgt, doch nicht dahin reicht, der Freiheit des menschlichen Willens entgegengesetzt zu werden. Niemand kann an seinem eigenen Dasein zweifeln. – Nun bin ich wie jedes Ding das existiert, entweder entstanden oder nicht. Ein drittes gibt es nicht. Sonst müsste es ein Etwas sein, das weder entstanden, noch nicht entstanden sei, was eben gegen den Satz der Identität und des Widerspruchs wäre, wonach jedes Ding das Selbige und nichts Anderes, d. h. nicht A und zugleich Nicht-A sein kann. – Was aber entstanden ist, muss auch eine Ursache seiner Entstehung haben, sonst würde es ebenfalls gegen dieses Denkgesetz sein, indem das, was einen Augenblick zuvor Nichts war, auf einmal ein Etwas geworden wäre, ohne dass inzwischen |64| das Geringste geschehen sei, diese plötzliche Verwandlung herbeizuführen. – Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die Natur keinen Sprung macht, und alle Veränderungen in der Welt nach und nach in fortlaufender Reihe ununterbrochen und so unmerklich vor sich gehen, dass zwischen einer Stufe zur anderen noch immer ein Mittelzustand angenommen werden kann. Dieses kommt daher, dass die materiellen Veränderungen im Raume und in der Zeit erfolgen, welche ebenfalls stetig fortlaufen, und unendlich teilbar sind. Dagegen kann der Übergang von Nichts zu Etwas nur auf einmal, gleichsam sprungweise gedacht werden. Denn wäre eine Mittelstufe zwischen beiden Zuständen vorhanden, so müsste es einen Augenblick geben, wo das Ding weder entstanden, noch nicht entstanden wäre, was nach dem eben erwähnten Satze der Identität und des Widerspruchs undenkbar ist. Insoweit können daher auch die Materialisten, welche die Schöpfung leugnen, mit einigem Grund behaupten, aus Nichts 1

[aus: Landau, L. R., Die Kausalität in Bezug auf das Dasein Gottes und die moralische Freiheit. In: Landau, L. R., Das Dasein Gottes und der Materialismus. In zwei Gesprächen und acht Erläuterungen. Wien 1873, 63–73]

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wird Nichts. Demgemäß ist denn auch ein Nichtsein und Sein nach einander nicht denkbar, wenn keine Ursache dazwischentrat, diesen Übergang zu bewirken. Dieser Vernunftbeweis, der nicht angefochten werden kann, wird auch von der Erfahrung bestätigt, auf deren Gebiete doch jedenfalls und tatsächlich das Gesetz der Kausalität waltet. – Denn hat nach demselben eine jede Wirkung ihre Ursache, um wie vielmehr muss dieses von einer Entstehung aus Nichts gelten, und wäre es denkbar, dass durch die bloße Einwirkung der Zeit, ohne dass inzwischen Etwas erfolgt sei, was als Ursache des Entstehens angenommen werden könnte, ein Ding aus Nichts entspringen sollte, so würden dergleichen Schöpfungen gar keine Grenzen finden, und die Zeit allein wäre dann im Stande, die Welt aus Nichts zu erschaffen. Zum Überfluss kann noch hinzugefügt werden, dass, wenn auch nur die geringste Abänderung der Dinge durch die Zeit ohne Weiteres bewirkt werden könnte, Nichts stabil in der Natur wäre, und die Geschlechter der Tiere und Pflanzen sich nicht erhalten, sondern nach den verschiedensten Richtungen aus der Art schlagen würden; ganz abgesehen davon, dass, wenn nichts geschieht, die Zeit ohnehin nur ein leerer Namen ist, zwischen dem Nichtsein und Sein aber auch nicht das geringste Minimum von Zeit als abgelaufen betrachtet werden kann. Jedes Entstehen muss also seine Ursache haben. – Die Ursache der Entstehung eines Dinges muss aber aus denselben Gründen ebenfalls entstanden sein, oder nicht, und so auch die Ursache dieser Ursache, und so fort, bis wir zu einer ersten Ursache gelangen müssen, die nicht entstanden, sondern ewig |65| und notwendig ist. Diese notwendige, unbedingte Ursache nennen wir Gott. Umsonst hat man es versucht, die Kette von Ursachen und Wirkungen als eine unendliche Reihe von Veränderungen, die gar keinen Anfang genommen haben, darzustellen. Denn jedes Glied dieser Kette ist bedingt durch ein anderes Glied, welches ihm voranging und ohne eine Ursache nicht existieren konnte. – Die ganze Reihe hätte demnach ohne eine unbedingte Ursache nicht existiert, und beweist durch ihr Dasein, dass eine erste Ursache vorhanden sein musste. Schon im Begriff einer Wirkung liegt es, dass etwas vorhanden sei, das sie bewirkt hat, sowie in dem Begriff einer Ursache, dass etwas durch sie verursacht wurde. Nimmt man aber eine Reihe ohne Anfang an, so gäbe es lauter Bewirktes ohne Etwas, was bewirkt und nicht auch selbst ein Bewirktes sei; lauter Wirkungen ohne Ursache. Man mag die Reihe noch so weit zurückverlängern, so hebt man doch die Notwendigkeit nicht auf, eine unbedingte Ursache derselben vorauszusetzen. Durch ihre Ausdehnung ins Unendliche wird die Untersuchung nicht zum Abschluss gebracht, sondern bloß abgebrochen und für erfolglos erklärt. Doch damit, dass man die Antwort ablehnt, wird die Frage noch nicht erledigt, und aus der Welt geschafft. Die Vernunft fordert einen genügenden Aufschluss, und wendet sich von dieser Erklärung ab, und einer andern zu, die unserm Forschungsgeist die gewünschte Befriedigung gewährt. Es folgt nun auch daraus, dass der Kausalbegriff nicht bloß von der Erfahrung abgeleitet, wie Hume behauptete, noch eine leere Form unseres Verstandes sei, die sich nur auf die Erscheinungswelt beziehe, wie Kant annehmen zu können glaubte, sondern auf dem untrüglichen Satz der Identität und des Widerspruchs beruht, und daher auf diesem Gebiete eine unbedingte Geltung beanspruchen kann. 170

Willensfreiheit und Kausalität

Wäre aber auch eine Reihe von Veränderungen ohne Anfang möglich, so wäre doch eine solche Reihe mit fortschreitender Entwickelung vollends undenkbar, indem sie, rückwärts verfolgt, immer mehr abnimmt, und schwächer wird. Man mag diese Abnahme noch so gering veranschlagen, so kann sie doch nicht ewig fortdauern, ohne dass sie zuletzt an einen Punkt gelange, wo in eben dem Maße weiter abnehmend, von ihr gar nichts mehr zurückbleibt, und sie bei einem weitern Schritt in Nichts aufgeht. Denn sowohl der Höhepunkt der Entwicklung, auf welchem die Dinge in der Welt jetzt stehen, als auch jede Stufe, die sie in einer bestimmten Zeit ersteigt, sind beide messbar, und in Zahlen auszudrücken. Nehmen wir also: die jetzige Höhe der Entwickelung wird mit E, jede Stufe, die sie in einem Tag, einem Monat oder Jahr erreicht, |66| mit S bezeichnet, so ist E/S x X, wo X die Zahl der Tage, Monate und dergleichen ausdrückt, die dazu erforderlich sind, um die Entwickelung auf die jetzige Höhe zu bringen. – Dann aber ist X – X = 0, d. h. wenn man die ganze Zahl um dieselbe vermindert, bleibt Null zurück. Da in der Natur nichts zufällig geschieht, sondern Alles nach allgemeinen Gesetzen erfolgt, so könnte man zwar annehmen, dass der Keim der Entwickelung als latente Kraft in der Materie von jeher vorhanden war. Allein dann müsste sie wenigstens durch die schöpferische Allmacht in einer bestimmten Zeit geweckt und in Tätigkeit gesetzt worden sein; überdies weiset auch die Materie selbst nach dem Gesetz der Kausalität auf eine unbedingte Ursache ihrer beständigen gesetzlichen Veränderungen hin. Mit Unrecht würde man aber daraus schließen wollen, dass auch der menschliche Wille dem Kausalitätsgesetz unterworfen, demnach die Freiheit unserer Entschließungen der materialistischen Behauptung gemäß bloß eine Illusion sei, indem zwischen der Körperwelt und dem Reiche der Ideen ein wesentlicher Unterschied obwaltet, der bereits in anderer Beziehung erwähnt wurde, hier aber von besonderer und entscheidender Wichtigkeit ist. Während die Materie sich nur stetig und allmählich ändert, und in einer ununterbrochenen Entwicklung begriffen ist, ein Entstehen aus Nichts aber einen jähen, unvermittelten Übergang erfordert, folgen die Ideen rasch aufeinander, entstehen oder lösen sich ab, ohne dass eine gewisse Zeit oder Mittelstufen dazu nötig sind. Ein Gedanke ringt sich nicht mühsam in einer fortlaufenden Reihe von Veränderungen aus dem frühern Zustande los, wie ein körperliches Wesen, sondern springt gleichsam wie Minerva in voller Rüstung aus dem Haupte Jupiters hervor. Selbst beim Meditieren und Überlegen ist es immer ein plötzlicher Einfall, eine Eingebung des Augenblicks, der den Abschluss herbeiführt (…). Es erfordert demnach kein Wunder, sondern geht ganz natürlich zu, dass ein neuer Gedanke auftaucht, und ich jetzt dies denke, während ich einen Augenblick zuvor etwas Anderes gedacht habe. Wider das Gesetz der Identität wäre es nur in Bezug auf die Gedankenwelt, dass ich zu gleicher Zeit so und anders dächte, nicht aber, dass dieses nacheinander geschehe, wie man bei den Umgestaltungen in der Körperwelt annehmen muss, wenn keine Ursache vorhanden ist. Es fällt somit auch jeder Grund hinweg, das Prinzip der Kausalität auch auf das Seelenleben anzuwenden, und dem menschlichen Willen die Selbstbestimmung abzusprechen. Ein wichtiger ebenso entscheidender Umstand ist auch der, |67| dass die Kausalität bloß eine unmittelbar wirkende Ursache dessen verlangt, was in der Welt geschieht. Bei 171

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den menschlichen Handlungen fehlt aber die wirkende Ursache keineswegs, denn diese ist der Mensch selbst, oder sein Wille, und damit auch dem Gesetz der Kausalität vollkommen Genüge geleistet. Wenn ich schreibe, ist das Geschriebene die Wirkung, und ich die unmittelbare Ursache davon. Habe ich aber zu schreiben aufgehört, und gehe spazieren, um mich von der Arbeit zu erholen, dann bin ich auch die Ursache des Spazierengehens, das Motiv hingegen: das Schreiben zu unterbrechen, um von der Arbeit auszuruhen, ist eine bloße Anregung zur Tätigkeit des Willens, doch keine unmittelbare Ursache der Handlung, wie sie das Kausalitätsprinzip fordert. Dieser Unterschied zwischen Ursachen und Motiven wurde zwar nicht völlig übersehen, aber nicht genug gewürdigt und berücksichtigt. Eine Ursache ist ein tätiges Prinzip, und der Gegenstand auf den sie wirkt, kann sich ihrer Wirksamkeit nicht entziehen. Ein Motiv hingegen fordert nur zu einer gewissen Tätigkeit auf, und es steht uns frei, dieser Aufforderung zu folgen, oder untätig zu bleiben. Daraus erhellt zur Genüge, dass die Kausalität einerseits auf die Gedankenwelt, in welcher die Entschließungen des Willens stattfinden, sich gar nicht erstreckt, andererseits nur auf die unmittelbare Ursache der Geschehnisse sich bezieht, woran es bei allen menschlichen Handlungen nicht gebricht; zudem aber auch die Motive, die den Willen bestimmen, mit den unmittelbaren wirkenden Ursachen nicht identifiziert werden dürfen; demnach die Kausalität mit der moralischen Freiheit keineswegs in irgend einen Konflikt gerät. Damit ist zwar noch nicht die moralische Freiheit des Menschen erwiesen, doch der Haupteinwand gegen die Gründe beseitigt, welche dafür sprechen, und in der nachstehenden Erläuterung weiter ausgeführt werden. 2 |68| Die Freiheit des menschlichen Willens. In der moralischen Freiheit, wie in allen religiösen Ideen, ist die Frage über ihre Realität, d. i. ob sie zu bejahen oder zu verneinen sei, von wesentlicher Bedeutung, wogegen 2

Man kann sich nicht genug verwundern, daß Ulrici, der eifrige und scharfsinnige Verfechter der religiösen Wahrheiten behaupten konnte, das Kausalitätsprinzip setze die Idee eines unbedingten Wesens schon voraus »und man könne sie daher nicht von demselben ableiten.« Denn fährt er fort, das »Gesetz besagt nur, daß, wenn wir etwas als Geschehenes, Gewordenes, Entstandenes fassen, wir auch eine Ursache seiner Entstehung annehmen müssen. Das Gesetz setzt mithin die Vorstellung eines Entstandenen, Geschehenen, voraus, und wäre unausführbar, unbefolgbar, wenn wir außer Stande wären zu einer solchen Vorstellung zu gelangen.« Ulrici schließt daraus, daß die »Idee der Gottheit, wenn auch nur als Gefühlsperzeption bereits vorhanden sei, und nicht erst durch das Kausalitätsgesetz erwiesen wird.« (Ulrici 1866, 761.) Es ist natürlich, daß, wenn nichts Entstandenes vorhanden wäre, und wenn wir nicht jedes Ding entweder als ein Entstandenes oder als Notwendiges und Unbedingtes annehmen müßten, wir auch keine Ursache desselben daraus herleiten könnten. Diese beiden Wenn sind aber keine bloßen Voraussetzungen, sondern unbestreitbare Tatsachen, die keinem Wenn und Aber unterliegen, und unbedingt anerkannt werden müssen, wenn wir überhaupt nach Vernunftsgründen zu urteilen und zu schließen berechtigt sind. Diese Äußerung Ulrici’s ist um so auffallender, da er ausdrücklich und unmittelbar vorher die Kausalität für ein angeborenes Denkgesetz erklärt. Gesetzt also, daß wir nach seinem System, das er damit zu unterstützen sucht, die Idee Gottes ohnehin in uns tragen, so ist doch klar, daß wir die Realität derselben von der Kausalität ohne Weiteres ableiten können, und mit logischer Konsequenz ableiten müssen, wodurch dieses unbestimmte Gefühl, wenn es vorhanden, eine Denknotwendigkeit wird. –

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Willensfreiheit und Kausalität

die näheren Angaben über ihre Beschaffenheit und Wirkungsweise von untergeordnetem Werte ist. Doch muss man erst wissen, was unter moralischer Freiheit zu verstehen sei, bevor man die Gründe für und wider gehörig beurteilen, und eine Entscheidung treffen kann. Über die Natur und den Umfang der Willensfreiheit sind die Meinungen sehr geteilt und schwankend. Doch so viel steht fest, und wird jetzt ohne Unterschied der Partei fast allgemein anerkannt, dass der Mensch nicht ohne Motive sich entschließt und handelt. – Diese Motive mögen von seinen Lebensverhältnissen, seiner äußern Umgebung, oder anderen Einflüssen dieser Art eingegeben sein, so üben sie jedenfalls keine solche Gewalt über seinen Willen aus, dass er absolut an sie gebunden wäre, und ihnen ohne Weiteres Folge leisten müsste, wie es bei den Tieren den Naturforderungen gegenüber der Fall ist. Um sich ihrem Einfluss zu entziehen, gehört aber unserem Begriffe nach nichts weiter als die Gabe der Überlegung, die den Menschen von den anderen lebenden Wesen auszeichnet, und ihm von keiner Seele abgesprochen wird. – Er wird dadurch in den Stand gesetzt seine Aufmerksamkeit dahin zu richten, wohin er will, von einem Gegenstand abzuwenden, und auf einen andern hinzulenken, sich missliebiger Gedanken zu entschlagen, und andere aus dem Gedächtnis ins Bewusstsein zu rufen: was aber auch vollkommen hinreicht, seine Freiheit des Willens zu erklären. – Wir wollen dieses durch ein alltägliches Beispiel veranschaulichen. Wir gehen ins Gasthaus um unsern Hunger zu stillen, und nehmen die Speisekarte zur Hand. – Der Eine wird die schmackhafteste, der Andere die nahrhafteste, der Dritte die ihm zuträglichste, der Vierte vielleicht die billigste Speise wählen. Manche mögen sich sogleich entschließen, ohne weiter zu überlegen, Manche aber |69| doch erst nachdem sie jene Speisen, die ihnen aus dem einen oder andern Grunde nicht zusagten, verworfen haben, in der Hoffnung, etwas Besseres zu finden. Diese Erwägungen finden aber auch statt, wenn gar keine Speisekarte vorliegt, und durch das Gedächtnis vertreten wird. – Jedenfalls bewährt sich hierbei die Willensfreiheit dadurch, dass der Esslust nicht sogleich Gehör gegeben, sondern zuerst noch untersucht und überlegt wird, welche von den Gegenständen des Begehrens nach dem Maßstab der Beurteilung, den wir vor Allem anlegen, ohne die anderen Rücksichten ganz außer Acht zu lassen, uns am Meisten entspricht. Um dem Triebe, dem das Tier unmittelbar gehorcht, gehörigen Widerstand leisten zu können, trägt der Umstand wesentlich bei, dass die menschlichen Begierden, die anfangs mit Heftigkeit auftreten, und auf sofortige Befriedigung dringen, bei längerer Überlegung, wie bei sonstiger Verhinderung sich nach und nach abkühlen und von ihrer Vehemenz nachlassen; wodurch sich ihre Kraft abschwächt, somit die Vernunft immer mehr Gehör findet, und unsern Willen immer fähiger macht, ihrem Andringen zu widerstehen. – Am deutlichsten zeigt sich dies beim Sittlichen, wo sich nicht einmal behaupten lässt, dass wir nur schwanken, wie Manche behaupten, bis wir herausgebracht haben, wo im Allgemeinen der größte Vorteil für uns zu finden sei, indem hier bloß von einer Seite das eigene Interesse, von der andern hingegen die moralische Pflicht, d. i. das allgemeine Wohl in Betracht kommt. 3 Es kommt also hauptsächlich 3

In unserer mehrerwähnten Ethik wird diese Betrachtung ausführlich entwickelt, und zur Begründung der zweiten Formel des Moralprinzips nachgewiesen, daß in sittlicher Hinsicht die Entschei-

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darauf an, Zeit zum Überlegen zu gewinnen, bis die Leidenschaft sich abgeschwächt hat, und es hängt sodann von der Stärke unseres Willens ab, in wie weit er im Stande ist, den Anforderungen der Sinnlichkeit Trotz zu bieten. Diese Willensstärke entspricht jener Kardinaltugend der Alten, welche sie mit dem Namen Tap- |70| ferkeit bezeichneten, da sie richtig aufgefasst, nur diesen Sinn haben kann. Sie gehört auch nach unserem System zu den Haupttugenden, welche den von uns aufgestellten drei Formen des Moralprinzips entsprechend, die sittliche Richtung des Willens fördern, und uns durch Übung und Selbsterziehung anzueignen sind. Wir nennen sie aber Tatkraft, weil es nicht genug ist, das Gute zu wollen, sondern es muss auch Alles angewendet werden, es zu vollbringen, und die gute Gesinnung zu betätigen. – Unstreitig ist auch die sittliche Tat um so lobenswerter und verdienstlicher, je mehr Überwindung es uns kostet, sie zu verwirklichen. In eben dem Maße, als wir fähig sind, den edlen Regungen des Herzens zu folgen, die unedlen und selbstsüchtigen Antriebe abzuwehren, steigt auch unser moralischer Wert. Die Freiheit und Unabhängigkeit des Willens von den Naturforderungen zu behaupten, auszuüben, und durch die Übung in uns zu befestigen, ist daher die Aufgabe und das Verdienst des Sittlichen. Aus dieser Betrachtung ergibt sich schon die Notwendigkeit, die Freiheit des Willens anzunehmen, da die Ableitung derselben aus der menschlichen Fähigkeit zu überlegen, sowie diese selbst nicht in Abrede gestellt werden können, und dadurch werden auch die anderen Beweise dafür, die im Texte angeführt sind, wesentlich unterstützt. Einerseits wird sie in Verbindung mit den anderen religiösen Ideen als Postulat der Vernunft streng gefordert, um sowohl die scheinbare Unordnung in der moralischen Welt mit der bewundernswerten Ordnung und Zweckmäßigkeit in der physischen Welt, als auch die Sorgfalt der Natur für das Wohl der lebenden Wesen mit ihrer scheinbaren Ungerechtigkeit und Inkonsequenz in der Behandlung der Menschen auszugleichen, d. i. die Natur mit sich selbst in Einklang zu bringen; andererseits wurde ausführlich dargetan, dass der menschliche Geist ein selbsttätiges, von der Materie unabhängiges Wesen, also weder leidend, noch unfrei sein kann. Außerdem spricht auch die innere Erfahrung, d. i. unser unmittelbares Bewusstsein laut dafür, dass wir unsere Entschließungen aus eigener Initiative fassen, und die Handlungen, die sie hervorriefen, eben so leicht hätten unterlassen können. Wir empfinden eine innere Befriedigung, wenn sie gut sind, und aus einem edlen Antriebe erfolgen, und machen uns Vorwürfe und fühlen Reue, wenn sie von bösen Absichten eingegeben waren. Ebenso beurteilen wir die fremden Handlungen, loben oder tadung davon abhängt, ob wir die Anregung, d. i. den Gegenstand des Begehrens nach der subjektiven, oder nach der objektiven Wertschätzung der Dinge beurteilen, d. i. ob wir dabei bloß unser eigenes, oder das allgemeine Wohl berücksichtigen, in welchem auch das Unserige mitbegriffen ist. Von einem Übergewicht des Guten – wie wir es dort nennen, kann zwischen diesen beiden Auffassungen nicht die Rede sein. – »Wenn es sich, heißt es an einer anderen Stelle, um eine Wahl zwischen ganz entgegengesetzten Kategorien des Guten handelt, ob wir z. B. das Angenehme oder das Gemeinnützige, das Nützliche oder das Wohltätige vorziehen sollen, wo ist da die Wage der Vernunft, um Vorteile so verschiedener Art gegen einander abzuwägen, und den Vorzug zu bestimmen? Wie sollen so ganz ungleiche Größen mit einander verglichen, und das Ergebnis in einem Übergewicht des Guten ermittelt werden?«

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Willensfreiheit und Kausalität

deln und verdammen sie, ohne dass es uns einfällt, sie einer inneren Nötigung zuzuschreiben. Die Naturforscher, welche sich bloß an die Erfahrung halten, die sie durch eigene Anschauung gewinnen, und deren Realität Allen |71| zugänglich und nachweisbar ist, sind in ihrem Rechte, wenn sie Alles, was dieser Anforderung nicht entspricht, und daher die geistigen Vorgänge und inneren Erfahrungen, da sie außerhalb dieses eng begrenzten Kreises ihrer Untersuchungen liegen, außer Acht lassen. Gilt es aber, das Gebiet der Erfahrung selbst festzustellen, ihre Grenzen abzustecken, und Schlüsse daraus zu ziehen, so darf ihrem Umfange nicht willkürliche Schranken gesetzt, und ihr Bereich nicht auf ein geringeres Maß eingeengt und verkürzt werden, als ihr gebührt. Die inneren Erfahrungen und Beobachtungen können zwar nicht auch Anderen vorgezeigt, und von ihnen kontrolliert werden; doch das, was in unserer Seele vorgeht, kann der Andere auch in der Seinigen wahrnehmen und bestätigt finden, und diese unmittelbaren Anschauungen geben an Verlässlichkeit den Wahrnehmungen der äußeren Sinne nichts nach. Vielmehr haben sie noch eher Anspruch für wahr und richtig zu gelten, als diese, die uns nur mittelbar zum Bewusstsein kommen, indem wir von den äußeren Gegenständen, die unsere Sinne affizieren, erst durch die Empfindungen, die ihre Eindrücke in unserem Innern erregen, Kunde erhalten. Es ist daher eine bloße Willkür und Anmaßung, diese innere Stimme für Wahn und Selbsttäuschung zu erklären, ohne diese leere Behauptung durch triftige, unanfechtbare Gründe zu rechtfertigen. Wie sind aber diese Gründe beschaffen? Den Haupteinwand, den man gegen die Willensfreiheit geltend macht, dass sie nämlich dem Gesetz der Kausalität widerstreite, glauben wir, in der voranstehenden Erläuterung gründlich abgetan zu haben, indem es für die Gedankenwelt gar keine Anwendung findet, außerdem aber auch in der Tat die menschlichen Handlungen demselben entsprechen, indem es außer den Motiven, die sie beeinflusst, an einer wirkenden Ursache derselben durchaus nicht gebricht, die eben in dem Willen des Menschen besteht. Nichtdestoweniger behauptet man mit Bezug auf das Kausalitätsgesetz, dass der Kausalzusammenhang der ganzen Natur zerrissen und aufgehoben würde, wenn dem Menschen die Freiheit verliehen wäre, in den natürlichen Lauf der Dinge eigenmächtig einzugreifen, und die gesetzliche Ordnung derselben zu stören; dass allen unseren auf Erfahrung gegründeten Ansichten der feste Boden entzogen würde, wenn die Geschehnisse nicht nach bestimmten Gesetzen erfolgten, sondern der Willkür der Menschen unterworfen wären. Diese Bedenken könnten aber nur dann auf Berücksichtigung Anspruch machen, wenn die Freiheit des Menschen, oder vielmehr seine Macht so weit reichte, in den regelmäßigen Fortgang der Natur störend einzuwirken, und deren Vorkehrungen zu verrücken. Dem ist aber nicht so. Der menschliche Wille hat einen sehr engen und beschränkten Wirkungskreis, und |72| dieser erstreckt sich zumeist nur auf Entschließungen, deren Vollführung nicht immer in unserer Gewalt steht, sondern von den äußeren Umständen abhängt. Wir können zwar die Naturkräfte uns dienstbar machen und zu unseren Zwecken verwerten, doch ihre Wirkungen hemmen oder ändern können wir nicht. Aber in Betreff des Menschen sagt man, wäre die ganze Weltordnung ohne Halt, jede Absicht, auf seine Erziehung und sein sittliches Verhalten einen Einfluss auszuüben, eitel und erfolglos; man könnte gar kein Vertrauen in den Charakter der Menschen setzen, da auf 175

L. R. Landau (1873)

die Beständigkeit ihres Willens nicht zu rechnen wäre; die Lehren der Geschichte gingen verloren, da alle Geschehnisse bloß zufällig und unberechenbar sein würden. Allein, erstens, ist denn in der Tat die Erziehung der Jugend so wirksam und erfolgreich, das Vertrauen auf die Treue der Menschen so gegründet, dass sie als Motiv dienen könnten, die Willensfreiheit zu verwerfen? Eher könnte man diese als Grund angeben, dass die Erziehung so oft misslingt, das Vertrauen so oft gemissbraucht wird. Was die Lehren der Geschichte betrifft, so hängen die großen, historischen Ereignisse sehr selten von dem Wollen der Menschen ab. Auch sind die Umstände zumeist entscheidend, die mit der Willensfreiheit gar nichts zu schaffen haben. Aber selbst die persönlichen Interessen und Leidenschaften, die oft den Impuls dazu geben, sind so wetterwenderisch und wandelbar, und durch unvorherzusehende Zwischenfälle, durch Launen und Gemütsstimmung beeinflusst, dass sie sich ohnehin aller Berechnung entziehen; die Lehren der Geschichte also auch jetzt keine positive Anhaltspunkte bieten, um mit Sicherheit benutzt zu werden. – Eine ähnliche Bewandtnis hat es auch mit dem Einwurf, der auf die Statistik hinweist, dass das Tun und Handeln der Menschen im Großen und Ganzen zu allen Zeiten eine gewisse Übereinstimmung darbiete, also nicht von ihrer Willkür abhängen könne. Man vergisst aber dabei, dass selbst, wenn man den Menschen die moralische Freiheit zugestehen muss, sie doch so selten davon Gebrauch machen, dass diese Ausnahmen in den statistischen Erhebungen zu verschiedenen Epochen keinen merklichen Unterschied ergeben können; besonders da die Angaben sich hauptsächlich auf solche äußere Willensakte beziehen, die aus den sinnlichen Leidenschaften und egoistischen Triebfedern entspringen, welchen die Menschen nur selten zu widerstehen vermögen. Manche sprechen dem göttlichen Wesen die Willensfreiheit ab, indem es notwendig das tut und zu Stande bringt, was es für gut und gerecht erkennt. Indessen ist doch die Freiheit nur ein negativer Begriff, die Ausschließung einer zwingenden Gewalt über den Willen. Da nun Gott nicht das Gute tut, weil er muss, weil er einem äußern |73| Impulse folgt, sondern aus eigenem Antrieb, weil er will, so hat man allen Grund, ihm solche zuzuerkennen. – Man hat ferner von theologischer Seite die moralische Freiheit des Menschen mit der Allwissenheit Gottes in Konflikt bringen wollen. Doch außerdem, dass über Gott als Grenzbegriff das Fragen Wie und Wieso ohnehin keine Berechtigung hat, lässt sich auch als bloße Hypothese annehmen, dass die Gottheit, indem sie es für angemessen erachtete, dem Menschen die Willensfreiheit zu verleihen, darauf verzichtete, den Entschluss vorauszuwissen, da er doch jedenfalls keine Störung in dem Lauf der Natur zu verursachen im Stande ist, und selbst der moralische Wert mehr in der Entschließung und dem Streben sie zu verwirklichen, als in der faktischen Ausführung liegt. Eine solche Selbstbeschränkung ist nicht undenkbar, da sie auch sonst z. B. keine Ungerechtigkeit zu begehen und dergleichen vorausgesetzt werden muss.

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24. Der freie Wille: Mendel Hirsch (1891) 1

|315| Die sittliche Freiheit ist nach jüdischer Auffassung das allererste und fundamentalste Vermögen, das den Menschen erst zum Menschen macht. Und was so als tatsächliche Wirklichkeit ohnehin die stillschweigende Voraussetzung eines jeden Bibelwortes bildet, wird außerdem Dtn 30,19 noch ausdrücklich ausgesprochen: »Himmel und Erde habe ich heute als Zeugen wider euch bestellt, ich habe das Leben und den Tod vor dich hingegeben, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebest, du und deine Nachkommen, Gott, deinen Gott zu lieben, auf Seine Stimme zu hören und fest an Ihm zu hangen!« Dass übrigens der Mensch ebensowenig wie durch die Sünden seiner ersten Stammeltern, so auch durch seine eigene Sünde die sittliche Freiheit nicht einbüße und nicht etwa aus einem sündigenden nun zu einem »sündigen« Menschen werde, diese trostreiche Wahrheit strahlt uns von jedem Blatte der Bibel entgegen, auf welchem von der Rückkehr des Sünders gesprochen wird. Da bedarf es keiner Fürsprache, keiner priesterlichen oder irgendwelcher anderen Vermittlung. Da steht das Kind unmittelbar vor seinem himmlischen Vater, und es bedarf nur der Reue, der Selbsterkenntnis und des Selbstbekenntnisses, des Wiedergutmachens, wo gegen einen Menschen gefehlt ist, und des festen Entschlusses, fortan nicht zu sündigen – und der Vater öffnet seinem fehlenden Kinde die Arme und aus Himmelshöhen tönt nach alttestamentarischer Lehre noch heute den fehlenden, reuigen Menschen das alttestamentarische Gnaden- und Erlösungswort entgegen: »Gott bleibt stets derselbe barmherzige Gott, Kraft spendend, sein Kind liebend, stets bereit zu neuer Gewährung, lange geduldend, unendlich reich an Liebe, wie an Wahrheit!« – (Ex 34,6.) Dass aber diese Gottesworte, die in Wahrheit die ewigen Sterne sind am Nachthimmel des sündigenden Menschen, die ihn zur Rückkehr mahnen und zur Aufkehr geleiten, nach der Lehre des Alten Testamentes das Verhältnis Gottes als Vaters der Menschheit nicht etwa bloß zu seinen jüdischen, sondern zu allen seinen Menschenkindern aussprechen, dafür verweisen wir statt alles anderen auf einen weltgeschichtlichen Moment, der in der ganzen Tiefe seiner mindestens doch symptomatischen Bedeutung vielleicht noch nicht hinreichend gewürdigt worden ist, in welchem gerade diese selbigen Worte im Munde eines jüdischen Propheten auf einen großen nichtjüdischen, ja positiv heidnischen Menschenkreis ange- |316| wandt werden. Und zwar erfolgt diese Anwendung 1

[aus: Hirsch, Mendel, Das Judentum und die Neige des 19. Jahrhunderts. In: Der Israelit 1891 Heft 3 vom 8. 1. 1891 S. 33–34; Heft 5 vom 15. 1. 1891 S. 69–71; Heft 7 vom 22. 1. 1891 S. 109–111; Heft 9 vom 29. 1. 1891 S. 145–147; Heft 11 vom 5. 2. 1891 S. 190–191; Heft 13 vom 12. 2. 1891 S. 240–242; Heft 15 vom 19. 2. 1891 S. 283–284; Heft 17 vom 26. 2. 1891 S. 315–316; Heft 19 vom 5.3. 1891 S. 351–353; Heft 23 vom 19.3. 1891 S. 431, hier: 315–316]

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Mendel Hirsch (1891)

nicht als eine neue Lehre, sondern es wird von ihr als einer selbstverständlichen Voraussetzung ausgegangen. Es ist die Sendung des Propheten Jona an Ninive und ihr Erfolg, die wir im Auge haben. Wiederum ist es ein Frühlingsmoment in der Geschichte der Menschheit, der uns hier müht und einen Einblick in die trotz Allem und Allem doch lichte Tiefe des menschlichen Herzens uns erschließt. Er hatte der entarteten üppigen Metropole des gewaltigen assyrischen Weltreiches den Untergang verkündet. Und siehe da, das für moderne Vorstellungen geradezu Unglaubliche geschieht. Er, der Fremde, der Jude, der in der Götterstadt, in gänzlicher Ignorierung der Staatsreligion, im Namen des Einen Einzigen die Menschen aufrief, er wird nicht von einer wütenden Volksmenge zerrissen, nicht von fanatischen Priestern gelyncht, nicht wegen Erregung von Ärgernis denunziert, ja nicht einmal wegen groben Unfugs belangt. – Die Männer von Ninive glauben seinen Worten, die Worte des Gottespropheten hatten ihr Herz getroffen. Und ein Umschwung sondergleichen erfolgt, eine mächtige Bewegung ergreift die Geister und erfasst das ganze Volk. Und die Bewegung, die vom Volke ausgegangen war, erreicht auch den Thron, und auch der König steigt herab von seinem Throne, legt den Königspurpur ab, hüllt sich in Sack und sitzt nieder in Asche. Und Gott erhört sie und ändert seinen Entschluss und lässt den gedrohten Untergang nicht eintreten. Wodurch aber hatten sie sich dieser Erhörung würdig gemacht? Hatten sich der König und die Bewohner der Residenz bekehrt? Waren sie Juden geworden? Oder sah Gott ihren Sack und ihr Fasten, an dem sie in echt heidnischer Anschauung auch ihre armen Tiere hatten teilnehmen lassen? »Da sah Gott«, so lehren die jüdischen Rabbinen, »nicht ihren Sack und nicht ihr Fasten, sondern: dass sie zurückgekehrt waren von ihrem schlechten Wege« – und da hielt Er die Guttat der »Unbeschnittenen« nicht etwa für »gleißende Laster«, – sondern: »da änderte er seinen Entschluss hinsichtlich des Unglücks, das er über sie ausgesprochen hatte und führte es nicht aus.« Jona aber sprach: Ich habe dies ja voraus gewusst, »denn Du, Gott, bist ja Kraft spendend, stets bereit zu neuer Gewährung, dein Kind liebend, lange geduldend, unendlich reich an Liebe!« – (Jona 4,2)

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25. Willensfreiheit: Levi Herzfeld (1843) 1

|22| Andächtige Versammlung! Den Gegenstand unserer heutigen Betrachtung nehme ich aus den ersten Versen des vorgelesenen Bibelabschnittes, in welchen, im 5. Buche Mosis Kap. 11. Vers 26 [Dtn 11,26] und weiter, in einer seiner Abschiedsreden der Mann Gottes sagt: ‫ ’ראה אנכי נותן לפניכם ברכה וקללה וכ‬Siehe, ich lege euch heute vor Segen und Fluch, den Segen, so ihr gehorchet den Geboten des Ewigen eures Gottes, den Fluch aber, wenn ihr darauf nicht höret, und abweichet von dem Wege, den ich euch heute befehle. Dieser Text enthält in wenigen Worten zwei Lehren, die zwar verwandt unter sich sind, aber doch auseinander gehalten werden müssen, wenn unsere jetzige Betrachtung klar und übersichtlich werden soll. Was Moscheh nämlich zunächst im Sinne hatte, als er die mitgeteilten Worte aussprach, war dies, dass von der Befolgung oder Nichtbefolgung der göttlichen Gebote des Menschen Segen wie Fluch abhänge, beide in äußerlichen, sichtbaren Erscheinungen: dem Gehorsamen gegen Gott werde sein Werk gelingen und Überfluss zuströmen, dem Ungehorsamen werde es misslingen und vielerlei Unheil ihn treffen. Unseren Text in diesem Sinne durchzusprechen, namentlich wie sehr die Natur im Einklange stehe mit dem moralischen Gesetz, und also ganz von selbst das Gute den Segen, das Böse den Fluch nach sich ziehe, auch sichtbarlich, das ist ein wichtiges Thema, sehr wert eines religiösen Vortrages, jedoch nicht dasjenige, für welches ich heute Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen will; entweder nehmen Sie für dieses Mal unbe|23| wiesen die Versicherung an, dass dem so sei, oder, wenn Erfahrungen von anscheinend entgegengesetzter Art Ihnen das nicht gestatten wollten, so sehen Sie einstweilen ab von den äußerlichen Folgen der Tugend und des Lasters, das bleibt doch unbestritten, dass den inneren Menschen das Gute glücklich, das Böse unglücklich macht, und diese Überzeugung genügt für die Erwägung einer zweiten Lehre Moschehs, die wie gesagt in unserem Texte liegt. Indem er nämlich sprach: Siehe, ich lege euch heute vor Segen und Fluch u. s. w., oder indem er im 30. Kapitel auf denselben Gedanken zurückkam, in den Worten: »Ich rufe heute zu Zeugen wider euch Himmel und Erde auf, Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch, ‫ ובחרת בחיים‬o wähle das Leben, damit du lebest und deine Kinder«: liegt stillschweigend seinen Worten die Überzeugung zu Grunde, dass wir wählen können den Segen oder den Fluch, dass wir Menschen Freiheit des Willens haben, gut oder böse zu sein, und kein längst vorhergegangener Beschluss Gottes oder sonst ein unabänderliches Schicksal uns die freie Wahl benehme. Das nun, meine andächtigen Zuhörer, sei unser diesmaliges Thema, ob eine ruhige Betrachtung Dasselbe finde, dass wir die Freiheit besitzen, tugend- oder lasterhaft zu sein, oder ob unser Willen derart gebunden ist, dass wir hierin nur das werden können, was ein höherer Willen über uns beschlossen 1

[aus: Herzfeld, Levi, Über Willensfreiheit (26. 8. 1843) In: Herzfeld, Levi, Predigten, Nordhausen: Büchting 1858, 22–33]

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Levi Herzfeld (1843)

hätte. Kaum gibt es für den Menschen etwas Wichtigeres, als hierüber im Klaren zu sein; aber dieser Gegenstand fordert Auseinandersetzungen, die leicht missverstanden werden können, weshalb ich Sie bitte, meine Zuhörer, mir dieses Mal eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, welche bloß ihres eigenen Vorteils wegen die Freiheit des Willens dem menschlichen Geschlechte absprachen. Sie fühlten sich schuldig, und dieses Gefühl ist sehr peinlich, daher suchten sie es los zu werden; oder ein Freund verurteilte sie wegen einer Nichtswürdigkeit, die sie nicht ableugnen konnten und doch nicht auf sich haften lassen mochten: |24| auf welche Weise konnte das leichter geschehen, als indem sie sich oder dem Freunde vorredeten: ich bin gar nicht schuldig, an meinem Vergehen haben andere Menschen Schuld, oder Begebenheiten Schuld, oder ein höheres Wesen hat mich verstrickt, dass ich nicht anders tun konnte. Und nun boten sie ihren Scharfsinn auf, dieses zu beweisen, wann aber jemals wäre es nicht dem Scharfsinn gelungen, durch echte Gründe oder durch Scheingründe Alles zu beweisen, was er wollte? Wir müssen gegen die Reden solcher Menschen auf unserer Hut sein, ihre Selbstliebe ist zu sehr bei der Lösung dieser Frage beteiligt, als dass wir ohne sorgfältigste Prüfung ihre Worte hinnehmen dürften; sie machen es wie Die, welche wegen ihrer Lebensweise nicht viel Tröstliches in einem zweiten Leben zu erwarten haben, und es daher am bequemsten finden, lieber ganz und gar das zweite Leben zu leugnen. Doch wollen wir ihre Gründe für die Unfreiheit des menschlichen Willens hören und prüfen, da auch Solche, die diese Selbsttäuschung nicht nötig hätten, zu Zeiten auf die nämlichen Gedanken geführt werden, durch Andere oder von selbst, und von ihnen betört werden könnten. Vor Allem weist man uns auf die Verkettungen der menschlichen Handlungen hin. Wenn wir von einem Verbrechen hörten, das verübt worden ist, da sollten wir, sagt man, doch einmal allen Veranlassungen dazu nachspüren, und wir würden finden, dass es in den Umständen begründet gewesen sei, und nichts Anderes habe erfolgen können. Leider, leider ist viel Richtiges in diesem Ausspruche, und ich selbst will Ihnen das ausführen, durch Vertuschen wird der Wahrheit kein Dienst geleistet. Wir wollen gleich einmal das größte aller menschlichen Verbrechen betrachten, einen Mord. Wenn wir bei der einfachen Tatsache stehen bleiben, dass z. B. ein Räuber mit kaltem Blute ihn beging wegen einer Handvoll Geldes, so wendet sich von diesem bloßen Gedanken unsere Seele mit wilder Empörung ab. Nun aber betrachten wir den grässlichen Verbrecher näher, wir verfolgen seinen Lebenslauf von Anfang an, wie er |25| vielleicht geboren ist von lasterhaften Eltern, die sein Herzblut vergifteten und den heißesten Begierden anheimgaben, noch ehe er das Licht der Welt erblickte; wie er dann von seiner zartesten, empfänglichen Kindheit an nur Schlechtigkeiten vor sich sah und nur von Schlechtigkeiten hörte, oder wie er als Knabe nicht gebändigt wurde in seinem Trotz, nicht geheilt wurde von fehlerhaften Neigungen, vielleicht gar schon angeleitet wurde zu Vergehen über sein Alter; wie er nun heranwuchs als zügelloser Jüngling, neue, mächtige Leidenschaften drangen in seine Brust, das verworfene Haus der Eltern brachte ihn in böse Gesellschaft, die vollends den letzten Keim zu etwas Gutem in ihm ertötete, er hat nichts Edles kennen gelernt, das ihm zum Muster diene, ihm wurde kein nützlicher Beruf angewiesen, der ihn ehrlich nähre, er hat keine schöne Zukunft vor sich, deren Erwartung so manchen Jüngling in 180

Willensfreiheit

Schranken hält, sein eigenes Leben kann von keinem Werte in seinen Augen sein, wie sollte ein fremdes Leben ihm heilig erscheinen? so gerät er denn auf blutige Bahn, kaum dass er selbst weiß wie, und den vor einigen Augenblicken unsere empörte Seele nicht betrachten mochte, jetzt stehet er vor uns ein Gegenstand des Abscheues noch immer, aber auch des tiefsten, unaussprechlichsten Mitleides! was hat er dafür gekonnt, dass er also wurde? Ein Anderer, der einfach sich vergreift an des Nächsten Gut, wir wenden das Auge ab von dem gemeinen Wichte und, wie? brechen eben so einfach den Stab über ihn? aber nichts ist wahrscheinlicher, als dass ihm von Hause aus keine Achtung eingeflößt worden ist vor fremdem Eigentum, oder wissen wir immer, ob nicht sein Weib und Kind schmachteten, und er mit Bewusstsein lieber die Seele verkaufen, als ihre Hungertränen fließen sehen wollte? Wäre er erzogen wie wir, im Überflusse wie wir, er würde vielleicht auch rein geblieben sein, und dass er es nicht blieb, trägt er die Schuld davon oder sein Schicksal? Oder Jemand ist das Opfer jener mächtigsten Leidenschaft geworden, Ehre und Sitte wurden mit Füßen getreten, und alle Fischblütigen im |26| Chor mit Allen, die nie in Gefahr kamen, sprechen tugendsam das Verdammungsurteil über ihn aus, nur der Besonnene und der Menschenkenner sagen sich, dass manche Natur der Sünde näher stehet als andere Naturen, und denken an die böse Gelegenheit oder wägen das Gewicht seiner Versuchung. Und so oder in ähnlicher Weise treibt uns das Schicksal auf abschüssigen Pfad in tausend, tausend Fällen. Wahr ist es, dass Mancher von Natur sich mehr zu dieser oder jener Sünde hinneigt, und dafür kann er nichts; wahr ist es, dass manches elterliche Haus ein Brutofen der Sünde ist; wahr ist es, dass mangelhafte religiöse Belehrung viel verschuldet, wahr nicht minder, dass es böse Gesellschaften, böse Zufälle, böse Gelegenheiten, böse Augenblicke gibt, für die Niemand kann: und darum wollen Manche überhaupt die Freiheit des Willens dem Menschen absprechen. Ehe ich hierauf antworte, meine Zuhörer, will ich einen zweiten Einwurf gegen unsere Willensfreiheit Ihnen vortragen; die ihn erheben, verlassen den Boden der Erfahrung, und wollen aus bloßem Nachdenken ihn ableiten, sie sagen: Wir nehmen an, dass Gott Alles vorausweiß, folglich, wenn ich morgen sündigen werde, muss er das gestern schon gewusst haben; wie wäre es nun möglich, dass ich morgen noch freie Wahl haben kann, die Sünde zu begehen oder zu unterlassen? Unterließe ich sie, so hätte ja Gott gestern nicht richtig vorausgesehen; Gott aber siehet richtig voraus, folglich muss morgen jene Sünde geschehen, und ich beginge sie nicht mit voller Freiheit, sondern weil ich eben musste. Meine Lieben, es empfiehlt sich mir, an die Widerlegung dieses zweiten Einwurfes zuerst zu gehen. Die Aufstellung des soeben dargestellten Widerspruches zwischen Gottes Voraussehen und der menschlichen Freiheit ist nicht neu, aber dem ungeachtet und so gelehrt er auch klingen mag, hat er doch gar nichts auf sich. Zunächst frage ich entgegen: wenn Gottes Vorauswissen und die menschliche Freiheit völlig unvereinbar sind, warum lässt man willkürlich |27| unsere Freiheit fallen und nicht Gottes Vorauswissen unserer Handlungen? Sodann aber steht’s um diesen Widerspruch ganz anders als um so viele andere Widersprüche, von welchen wir bald das eine, bald das andere Glied, bald auch beide fallen lassen können, je nachdem die Gesetze des Denkens es verstatten oder fordern. Ist es etwa Übermut oder Leichtfertigkeit oder müßiges Spiel, dass wir Menschen 181

Levi Herzfeld (1843)

einerseits ein Vorauswissen Gottes, andererseits unsere Willensfreiheit annehmen? wir können nicht anders, gerade unsere Denkgesetze nötigen uns zu Beidem, sobald wir zwingende moralische Notwendigkeiten so gut anerkennen wie jede andere Notwendigkeit, die wir an unseren Schlüssen mitgestalten lassen. Sobald wir aber Beides anzunehmen uns gezwungen fühlen, Gottes Vorauswissen und unsere Willensfreiheit: was gehet uns da am Ende ihre anscheinende Unvereinbarkeit an? ist etwa das, was die bisherigen Menschen nicht vereinigen konnten, notwendig unvereinbar für alle Ewigkeit? wer sagt uns, dass nicht morgen oder in tausend Jahren ein klarerer Denker kommt, dem’s gelingt, sie mit einander auszugleichen, durch etwas abweichende Auffassung des göttlichen Voraussehens oder unserer Freiheit oder beider zugleich? Und sollte kein Erdgeborener jemals das vermögen, kann nicht trotzdem Beides im Einklange sein von einem höheren Standpunkte, vollends von dem göttlichen Standpunkte aus? zumal da der in Frage stehende Widerspruch schon dem menschlichen Auge nicht vollkommen bündig erscheinen kann. Könnte nämlich ein Mensch Etwas fest vorauswissen, dann möchte es freilich unzweifelhaft sein, dass hierneben unsere Freiheit, es doch noch zu unterlassen, nicht bestehen könnte. Welcher ungeheuere Sprung liegt aber nicht in dem Schlusse von dem menschlichen Wissen auf Gottes Wissen? Kennen wir denn dieses göttliche Wissen so genau, kennen wir sein Wesen, seinen Umfang, seine Schranken? ‫ כי לא מחשבותי מחשבותיכם‬meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, sagt der Herr durch Jeschaja. Kennen wir nur irgendeine andere göttliche |28| Eigenschaft genau? wissen wir etwa, was das heißt: Gott ist ewig? haben wir einen Begriff von Niemalsaufhören, einen Begriff von Niemalsanfangen? Auch brauchen wir hiefür gar nicht einmal bis zu Gott selbst aufzusteigen, bleiben wir nur bei seiner Schöpfung: über den Sternen sind wieder Sterne in unendlichen Fernen, und über diesen wieder andere, und wo alle Sterne aufhören, da sei bloß Äther, wollen wir annehmen, und wo der Äther aufhöre, da sei ein leerer Raum, und was ist hinter diesem? und was folgt dann wieder? vermesse sich doch nicht der Mensch, der nicht die Schöpfung umspannen kann mit seinen Gedanken, an Ihn selbst, den Schöpfer, das Maß legen zu wollen, recht eigentlich: vermesse er sich nicht! Was aber von Allem, was es gibt, ist feiner und geistiger als das Wissen? die Natur und die Schranken unseres menschlichen Wissens kann Niemand genau angeben, Niemand, und wir wollten bestimmen, wie Gottes Wissen beschaffen sei oder wie weit es reiche? wer sagt uns denn, dass das göttliche Wissen nicht derart ist, dass unsere menschliche Freiheit wohl daneben bestehen kann? Diesen Einwurf gegen die Freiheit unseres Willens weisen wir darum vollständig zurück, er beruht auf schrankenloser Anmaßung. Aber den ersten Einwurf, von der Verkettung der Umstände hergenommen, wollen wir jetzt näher betrachten. Geht denn aus irgendeiner Verkettung der Umstände hervor, dass der Sünder sündigen musste? um alles Heiligen willen, sagen Sie das nicht, meine Zuhörer! Wir wollen die gegebenen Beispiele noch einmal betrachten. Hat den Mörder, dessen schauderhafte Jugendgeschichte wir uns vorhielten, diese etwa unausweichlich in den Rachen der Sünde hineingetrieben? aus ähnlichen elterlichen Häusern sind schon Heroen der Menschheit hervorgegangen! Der Dieb, dessen widerwärtiges Vergehen wir dann betrachteten, und zur Verringerung von dessen Schuld wir sogar die Möglichkeit ersannen, dass die Not seiner Familie ihn dazu verleitet habe: war er aber darum gezwungen, war sein Vergehen 182

Willensfreiheit

etwa eine Notwen- |29| digkeit? Tausende von Menschen hungern jeden Tag mit den Ihrigen, und vergreifen sich nicht an dem Gute des Nächsten, sondern arbeiten für ihre Lieben, oder betteln für ihre Lieben, wenn sie arbeiten nicht können, Bettelbrot ist bitter, aber doch unendlich vorzuziehen dem gestohlenen. Oder wer, von Verführung umgarnt und von lockender Gelegenheit fortgerissen, sich der Sünde in die Arme warf, musste er dahin gelangen? warum widerstand Joseph der Versuchung? Und so mit allen sonstigen Arten der Sünde, schiebe doch Niemand die Schuld derselben auf die Umstände allein. Etwas Anderes lehrt eine Betrachtung der tausendfältigen Anlässe zum Bösen, sie lehrt uns milde sein in unseren Urteilen, vorsichtig sein in der Verdammung des Nächsten, denn das gebe ich zu, viel Mitschuld an den mannigfachen Sünden der Menschen haben die Umstände, und ich glaube, die Hölle ist nicht so stark bevölkert sowie häufig mit ganz Anderen bevölkert, als wir vermuten: Gott, der die Umstände wiegt, der in die geheimsten Falten des Herzens schauet, und alle Federn kennet, die uns vorwärtsschnellen, wie alle Gewichte, die uns zurückhalten, Gott findet gewiss, dass oft mehr Bosheit in einer verleumderischen Zunge liegt als in dem Dolchstoße eines eigentlichen Mörders, er findet gewiss nicht selten den Dieb ehrlicher als Manchen, der nicht so heißt, er siehet, wie wiederum Mancher, ehe er dem Verbrechen anheim fiel, länger dagegen gerungen hat und ernstlicher, als Andere getan hätten, die nicht fielen, wie denn Solchen oft nichts zu ihrem Falle fehlte als die Versuchung; und nachdem er es findet, der Alles schauende Richter, danach wird er richten. Also Nachsicht, Milde, Zurückhaltung in unseren Urteilen über sündige Nebenmenschen, das ist es, was die erwähnte, nur zum kleineren Teile übersehliche Verkettung der Umstände uns, die Zuschauer, lehret. Aber der Sünder selbst wird durch sie nicht schuldfrei. Leichter mögen ihm die Umstände sein Vergehen gemacht haben, sie mögen lockend, sie mögen selbst drängend gewesen sein, und Gott ist gerecht, er wird dies mit in die Schale legen, aber |30| dass der Sünder sündigen musste, ist nicht wahr, ‫בו‬-‫ ואתה תמשל‬du kannst herrschen über sie, sagt die Schrift mit vollstem Rechte, noch hart an der Schwelle des Verbrechens konnte er umkehren, es gibt keine Macht, die uns hinüberstößt, als unser eigener Sinn. Ein mutiger Riss, und er wäre los gewesen von der schmählichen Schlinge, aber er ließ sich fortziehen, weil er den Schmerz des Risses scheute, er hat freiwillig gehandelt. Und betören wir uns nur nicht selbst, wir wissen alle recht gut, dass wir frei sind. Wir fehlen alle, Kohelet sagt: Es gibt Keinen auf Erden, der immer nur Gutes täte und niemals sündigte: so berufe ich mich denn auf Ihre eigene innere Erfahrung, wir alle standen wohl einmal am Scheidewege von irgend einem Recht und Unrecht, wer aber von uns behaupten wollte, dass er nicht da noch im letzten, entscheidenden Augenblicke gefühlt hätte, er könne zurücktreten, wer leugnen wollte, dass nicht noch im letzten Augenblicke eine Stimme in ihm gerufen hätte: zurück, denn du bist frei! der leugne immerhin, der belüge sich und belüge die Menschen, Gott belügt er nicht, Gott selbst war es in ihm, der ihm dies zurief, den Zeugen widerlegt er nicht. Betrachten wir aber diese innere Stimme etwas näher, da sich aus ihr die Freiheit unseres Willens noch klarer beweisen lässt. Ernstlich kann Niemand bestreiten, dass eine Stimme in uns ist, die wir Gewissen nennen, und uns hierzu anspornt, hiervon abmahnt, sowie heiter und fröhlich uns stimmt nach einer guten Tat, und uns trübe macht, ängstigt, peinigt, wenn wir nicht recht gehandelt haben, 183

Levi Herzfeld (1843)

eine Stimme, die immer lauter wird, je ärger wir es treiben, die zuletzt am Tage jede aufgesuchte Zerstreuung übertönt, in stiller Nacht den Schlaf verscheucht oder mit Schreckbildern erfüllt, und manchen Verbrecher schon dahin getrieben hat, selbst sich dem Arme der Gerechtigkeit zu überliefern. Woher stammt diese oft so lästige, oft so fürchterliche Stimme? hätten unsere Eltern, unsere Lehrer sie uns eingepflanzt: wie kommt sie in die Brust von Söhnen der schlechtesten Eltern, und von |31| Menschen, die niemals Lehrer gehabt haben? wie kommt sie in die Brust der wildesten, rohesten Völker? man hat Völkerschaften gefunden, die keine Ahnung von Gott hatten, aber noch kein Volk völlig ohne Gewissen! Woher also käme diese allgemein in der Menschheit befindliche Stimme, wenn nicht Gott selbst sie in uns hineingelegt hätte, sogar in jene Herzen, die ihn noch nicht erkennen, damit sie sein Vorläufer sei und den Weg bahne zu seiner einstigen Erkenntnis. Wie aber stände es um diese von Gott gegebene Stimme in uns, wenn wir nicht frei wären? was spiegelst du uns vor, innerliche Schmeichlerin, wir hätten gut gehandelt? wir können ja nicht gut handeln, denn wir mussten so tun, wir sind unfrei, wir sind durchaus willenlose Werkzeuge in einer höheren Hand! oder was peinigst du uns, innerlicher Plagegeist, wenn wir gefrevelt haben? wir haben ja nicht gefrevelt, wir konnten gar nicht freveln, wir mussten so tun, wie ein ewiger Beschluss es festgestellt hat! Diese Stimme in uns wäre also nur Lug und Trug, Gott hätte eine Lügenstimme in die Brust aller Menschen gelegt, sie, die ermahnend wie warnend, lobend wie strafend in Übereinstimmung mit Dem ist, was alle Edelsten gedacht, gefühlt, gesprochen haben, wäre nichts als eine täuschende Gleißnerin! das wäre sie, wenn wir nicht Freiheit des Willens haben. Und was rede ich gar von Edelsten, wie wäre dann noch Edelsinn gedenkbar? du kannst ja nicht edel sein ohne Freiheit des Willens, ohne die Freiheit, auch unedel zu sein; oder welch ein Possenspiel wäre es mit unserem Abscheu vor Gräueltaten, wenn wir nicht frei wären, und Gott die angeordnet hätte – Gott angeordnet das, was jeden heiligen Sinn empören muss! So stürzt denn zusammen der Glaube an einen heiligen Gott, der Unterschied von Gutem und Bösem zusammen, es wird gleichgültig, ob ich einen Bruder vom Tode rette oder hinabstoße in den Tod. Und mehr als das stürzte zusammen, mit der moralischen Weltordnung wäre der ganze Zweck unseres Daseins vernichtet, denn wozu wohl sind wir auf |32| Erden? doch nicht, um zu essen und zu trinken und unseren Begierden zu frönen, wie das Tier, sowie mühselig das zu erwerben, wodurch wir dies können, was das Tier nicht braucht, das glücklichere in diesem Falle! sondern offenbar um vollkommener zu werden, um uns im Guten zu üben und zu stärken, um Kraft gegen das Böse zu gewinnen, um uns reif zu machen für eine höhere Weltordnung, in der Alles heiliger ist und näher dem Heiligen, gelobt sei er! Wie aber könnten wir uns vervollkommnen, wenn wir nicht besser werden können, und nicht besser darum, weil wir ja gezwungen wären zu Allem, was wir tun und lassen? unser ganzes Dasein wäre zwecklos oder verfehlt, das Meisterstück der irdischen Schöpfung umsonst geschaffen, viel Lärmen um nichts, wie der Dichter sagt. Aber nein, meine Lieben, wir sind nicht umsonst auf der Welt, wir haben ein Ziel und ein überaus würdiges, unser seliges Gefühl bei einer Edeltat beruhet nicht auf Lug und Trug, die Schauder einer Schandtat sind kein Hirngespinst, kein Schreckbild von Kindern an Geist, wir können gut sein, und darum sollen wir gut sein, wir sind frei, darum sollen wir uns frei erhalten von Knechtschaft, 184

Willensfreiheit

von welcher Knechtschaft? der Tugendhafte ist niemals Knecht, bloß der Sklave ungebändigter Körpertriebe, ungebändigter Seelenrichtungen ist es. Mild sollen wir über den Bruder richten, denn bei alledem wissen wir nicht, wie nahe ihm die Sünde gelegt war, aber gegen uns selbst sollen wir strenge sein, denn wir wissen, jetzt noch entschiedener, dass wir die Sünde lassen können und um sie zur Rechenschaft stehen werden vor dem Richtstuhl des Allsehenden. »Siehe, ich lege euch heute vor Segen und Fluch«, »Leben und Tod lege ich dir vor, ‫ ובחרת בחיים‬o wähle das Leben (du kannst es), damit du lebest und deine Kinder«, hier das Leben der Redlichen, dort das Leben der Seligen, beides unter den Augen des Vaters. Unter deinen Augen, Vater im Himmel, sind wir hier und dort, aus deiner Hand kam unsere Seele, da du sie einschlossest in |33| den Staub, nicht um zu haften am Staube, sondern um zu ringen mit ihm im Aufschauen zu dir; und siegt sie in diesem Kampfe, so kehret sie zu dir zurück, ihre Krone zu empfangen und in deinem Glanze sich zu sonnen: ja, Herr, ‫ ואחר‬nachdem – nachdem wir hienieden »von deinem Rath uns haben leiten lassen« – ‫ כבוד תקחני‬nimmst du uns zu Ehren auf.

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26. Der freie Wille: L. Brisker (1871) 1 Wie (…) verträgt sich die Weltleitung Gottes, und wie Einige besonders hervorheben – die Allwissenheit, mit der Freiheit des Willens im Menschen? Bevor wir darauf antworten, wollen wir zuerst die Frage selbst determinieren. Vor allem müssen wir bemerken, dass die autonomische Anerkennung der höchsten Ideen und deren Forderungen, insbesondere des Sittengesetzes, mit der Freiheit unseres Willens in gar keinem Widerspruche steht, und nicht ohne Grund haben wir oben darauf hingewiesen, wie wir genötigt sind, das Wesen der Gottheit vom Bande der Ideen umschlungen uns zu denken. Ferner hat auch der Einwurf gegen die Willensfreiheit, hergenommen von der Allwissenheit Gottes, unter den übrigen Einwürfen in der Religionsphilosophie überhaupt, und es scheint mit Recht, stets die geringste Beachtung erhalten, was besonders im Sinne des jüdischen Philosophems auf eine doppelte Weise zu rechtfertigen ist. Denn einerseits erleidet unser eigener freier Wille keinen Abzug dadurch, dass ein Wesen außer uns unsere endliche |41| Willensrichtung kennt; es reicht dazu hin, dass wir selbst dieselbe Richtung vor unserer eigenen Entscheidung nicht kennen, und diese, als von unserem Entschlusse abhängig voraussetzen. – Ganz andere Schwierigkeiten böte die Auffassung einer Freiheit des Willens, wenn im materialistischen Sinne die Willensäußerung, so wie alle geistige Tätigkeit, als Resultat des Spieles bloß körperlicher Kräfte, wie die Tätigkeit einer Maschine aufgefasst würde, und dennoch gibt es Philosophen, die selbst in solchem Sinne eine Freiheit des Willens durch die eigene Hinzutat des Geistes zu vindizieren versuchen. – Andererseits spricht man von dem Attribute der Allwissenheit, als wenn wir diese in ihrer genauen Determination, nach ihrem eigentlichen Umfange kennten, und wohl verstünden, in allgemeinen Sätzen anzugeben, was in die Begriffssphäre gehört, und was davon ausgeschlossen bleibt, als wenn wir das Wesen der Gottheit auch begrifflich erfassen könnten. Wir vergessen nur gar zu oft, und ich möchte sagen, bei unseren philosophischen Meditationen am meisten, dass die höchsten Ideen für unsere begriffliche Vorstellung gar nicht gemacht sind. Die unzähligen Augenblicke eines ganzen Lebens stellen mit geringer Unterbrechung eine fortwährende Reihe geistiger Tätigkeiten, des Denkens, des Anschauens, des Handelns dar, und mit völliger Gewissheit erkennen wir in den Einzelfällen, was wahr, was schön, und was gut ist, so wie die Gegensätze davon; und doch ist es nicht möglich, Wahrheit, Schönheit und Tugend in abstracto begrifflich und so zu bestimmen, dass wir die Summe der Merkmale in eine Realdefinition zusammenfassen könnten. – Wir erkennen ferner die Unendlichkeit an, wir erkennen sie auch als notwendig, weil absolut weg1

[aus: Brisker, L., Das Judentum und der Culturfortschritt unseres Jahrhunderts. Der Erlös dieses Werkes ist für den Verein Beth Hamidrasch in Wien bestimmt. Wien 1871, 40–43]

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Der freie Wille

zudenken nicht möglich, an; ja, wir nehmen sie sogar in unsere wissenschaftlichen Berechnungen auf und gelangen damit, als Elementen der Rechnung, zu den überraschendsten und zugleich höchst richtigen Resultaten, ohne jedoch hoffen zu können, zu einer begrifflichen Vorstellung des Unendlichen je zu gelangen. Wir haben seit Leibniz und Newton in den Wissenschaften, die das Räumliche, das Zeitliche und alles durch die Zahl Bestimmbare behandeln, das Unendliche, als Grösse, handhaben gelernt; aber wir sind auch in allem dem, was über Raum, Zeit und Zahl hinausgeht, wenn wir nicht sehr auf uns selbst Acht geben, der Gefahr ausgesetzt, Ideen, mit denen wir in allerlei konkreten Fällen umgehen, mit unseren anderen begrifflichen und |42| begrenzten Vorstellungen zu vertauschen; wir setzen, so zu sagen, eine wertvolle, uns fremde Münze gerne in die unter uns gangbare Papiermünze um, und wundern uns zuletzt, wenn wir bei dem Abschlusse für unseren Besitzstand die Rechnung nicht ganz finden können. Durch ein solches Umgehen mit dem Ideellen ist bei Manchem, freilich nicht dem wahren Philosophen, die Philosophie zu einem oft kindischen Spiele herabgesunken, und wir stellen dann Fragen auf, die den albernen Fragen eines Kindes sehr ähnlich sehen. Eine derselben ist beinahe die Frage über die Allwissenheit Gottes in Beziehung zur Freiheit unseres Willens. – Auch die Allmacht haben wir als Attribut der Gottheit nicht objektiv erkannt, und nur als eine nicht begrenzte Macht, also gewiss nicht nach Ihrem Umfange, aufgefasst. Sind nicht beide, die Allwissenheit, wie die Allmacht für uns nur ideelle Vorstellungen, welche in der uns inwohnenden Gottesidee sich auch bloß ideell, d. i. dem Umfange nach indeterminiert ankündigen, und wir erkennen die Macht nur darum als eine unbegrenzte an, und bezeichnen sie mit dem Worte Allmacht, weil die Hervorbringung des geringsten Etwas aus dem absoluten Nichts, als das Unmöglichste der Unmöglichkeiten erscheint, und auf der andern Seite die Ewigkeit des Bestehens entweder der Gottheit allein, oder außer ihr auch des Stoffes uns gleichfalls unbegreiflich, d. h. in Begriffe zu fassen, nicht möglich ist, während wir doch die Allmacht Gottes uns nicht so zu denken vermögen, dass er auch z. B. das Geschehene wirklich ungeschehen machen könnte, was seiner Zeit eben so alberne Fragen veranlasst hat. Es bleibt uns nichts Anderes übrig, als ideelle Wahrheit nach Kant, erfasst durch die Vernunft, von objektiver, erfasst mit dem Verstande, zu unterscheiden, der letzteren den Vorzug der Deutlichkeit bei eng gezogenen Grenzen in der Erkenntnis, der ersteren aber unbegrenzten Umfang bei geringerem Deutlichkeitsgrade zuzuschreiben, und die Allmacht, Allgüte und Allwissenheit für uns, als durch die Vernunft erfassbare, und nur zu bewundernde, nicht aber zu begreifende, definierbare Attribute des göttlichen Wesens zu erkennen, eines Wesens, wofür der Psalmist den geeignetsten Namen in dem Ausdrucke ‫ ישב בסתר‬gefunden hat. |43| Nach allem Diesem könnten wir auch obige Hauptfrage über das Verhältnis unserer Willensfreiheit zur Weltleitung Gottes, als nicht eigentlich vor unser Forum gehörig, von der Hand weisen; aber wieder einmal hoffen wir, dass im Verlaufe der weiteren Verhandlung jene Hauptfrage gerade in der jüdischen Auffassungsweise und in der Bedeutung von Bestimmung oder Vokation, sowohl der Individuen, als der Völker eine positiv befriedigende Erledigung erhalten werde. 187

27. Einsicht und freier Wille: Samuel Holdheim (1852) 1

|303| Für uns sind Naturgesetze und Gottesgebote ganz und gar von einander verschieden; jene gelten für unsern willenlosen Leib, diese für unsern willensfreien Geist. Indem Gott unsern Geist in einen irdischen Leib, Staub aus der Erde, eingehüllt, hat er diesen den Einwirkungen der Naturkräfte hingegeben; der Geist, den er göttlich im Ebenbilde mit sich selbst geschaffen, empfängt sein Gesetz nicht aus der Natur und aus dem Bereich der Naturkräfte, sondern aus dem Schöpfer und Erhalter derselben, aus Gott. Auch die Naturgesetze sind Gottesgesetze, aber die sie befolgen, erkennen sie nicht, prüfen sie nicht, sondern gehorchen ihnen mit blinder Knechtschaft und Notwendigkeit. Das Gesetz Gottes für den Menschengeist ist ein Gesetz der Freiheit. Das Gebot lautet nicht: du musst, sondern du sollst! Der Menschengeist |304| besitzt Erkenntnisvermögen, das göttliche Gebot zu prüfen, er besitzt Willensfreiheit, es anzuerkennen, oder sich gegen dasselbe aufzulehnen, es zu wählen oder zu verwerfen. Der Gehorsam wie der Ungehorsam ist die Frucht freier Prüfung, freier Wahl, freier Übereinstimmung und freien Widerspruchs. Darum ist der Mensch ein sittlich freies, der Tugend wie der Sünde fähiges Wesen. Gott verlangt vom Menschen freien Gehorsam gegen seinen Willen, freie Unterwerfung gegen sein Machtgebot, aber nur erst dann, nachdem der Mensch geprüft und erkannt, dass es Gottes Wille, dass es sein Gebot ist. Dann soll der Widerspruch, den die sinnlichen Triebe und Leidenschaften gegen die Ausführung des göttlichen Gebotes, gegen die Erfüllung des göttlichen Willens erheben, aus freiem Gehorsam, aus freier Unterwerfung und aus freier sittlicher Kraft überwunden werden. Aber nicht kann Gott vom Menschen verlangen, dass er irgend einen Willen ohne Prüfung und Erkenntnis, dass es ein göttlicher Wille sei, dass er irgendein Gebot, ohne innere Überzeugung, dass es ein göttliches Gebot sei, dennoch beide im blinden Glauben als göttliche hinnehmen und sich ihnen mit knechtischer Unterwerfung beugen solle. Eine solche blinde Unterwerfung unter ein Machtgebot wäre eher eine Vernichtung der sittlichen Kraft als eine Förderung derselben, eher ein sittlicher Selbstmord als eine Belebung des sittlichen Gefühls zu nennen. Mit gleichem Recht könnte ein Priester des Molochdienstes zu uns herantreten und im Namen Gottes uns auffordern, glaubet, dass das, was ich euch im Namen Gottes gebiete, ihm euer Kind im Feuer zu opfern, Gottes Gebot sei, lasst in diesem Glauben, dass Gott euch es gebietet, seine göttliche Kraft auf euch einwirken, wie die Natur mit ihren geheimen Kräften auf euch einwirkt, und wir müssten gleichfalls ihm gehorchen. – Dann, 1

[aus: Holdheim, Samuel, Die Symbolik des mosaischen Gesetzes (1852) In: Holdheim, Samuel, Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin 1853, 303–309]

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Einsicht und freier Wille

meine Freunde, wäre es aus mit dem Judentum, mit der Religion der Erkenntnis und der freien Tat, dann müssten wir dem gröbsten Aberglauben und dem rohesten Götzendienst Tür und Tor öffnen. Gott gibt dem Menschengeist keine willkürlichen Gebote, keine für ihn undurchdringliche Geheimnisse, die er im blinden Glauben an ihre göttliche Abkunft knechtisch befolgen müsste, dass er durch |305| sie selig würde. Wenn aber Gebote Gottes uns Menschen als solche willkürliche erscheinen, so müssen sie diesen Charakter erst später für uns angenommen haben, können unmöglich von Haus aus solche gewesen sein. Gott kann dem Menschen solche Gesetze nicht geben, weil er von ihm sittliche Kraftäußerung fordert, die nur im Lichte freier Überzeugung, aber nicht in der Finsternis blinden Glaubens, nur in der Selbsterhebung freien Gehorsams, nicht in der Selbstvernichtung knechtischer Unterwerfung möglich ist. Wir müssen daher jener Grundansicht des talmudischen Zeitalters von willkürlichen Satzungen, von unergründlichen Mysterien, die wir lediglich im Glauben an ihren göttlichen Ursprung zu üben hätten, um selig zu werden, mit aller Kraft und Entschiedenheit unserer sittlichen Überzeugung entgegentreten. Was mit unserem sittlichen Gefühl gar keine Berührungspunkte hat, was mit unserer frommen Empfindung in gar keiner innern Lebensgemeinschaft steht, das kann für uns kein göttliches Gebot sein, kann uns kein Joch der Verbindlichkeit auferlegen. Es genügt nicht die fromme Empfindung, die erst aus dem Glauben, dass es ein göttliches Gebot sei, in uns entstehen soll, denn diese Empfindung und das Recht und die Macht sie zu erwecken und zu erzeugen, nimmt auch der roheste Aberglaube für sich in Anspruch. Es genügt auch nicht, was einige erleuchtete Schrifterklärer, Ebn Esra u. A., wollen, dass das Gebot mit der menschlichen Vernunft nicht im Widerspruch sei, denn |306| nur aus der Übereinstimmung kann die Entfaltung der sittlichen Kraft geboren worden. [Ich will die Worte E. E’s, ihrer dogmatischen Wichtigkeit halber, hersetzen und zugleich das Übereinstimmende wie das Widersprechende derselben mit unserer Ansicht andeuten. Sie lauten im Zusammenhange: 2 »Wisse, dass sämtliche Gebote in zwei Klassen geteilt werden müssen. Zur erstern gehören solche Gebote, die von Gott selbst in das Herz eines jeden vernünftigen Menschen eingepflanzt worden sind. Es sind ihrer viele, und unter den Zehngeboten ist nur eines, nämlich das der Sabbathfeier, welches nicht zu den Vernunftgesetzen gehört. Deshalb werden sie auch von jedem vernünftigen Menschen aller Völker und Zungen anerkannt, weil sie in der menschlichen Vernunft, im allgemeinen Sittengesetz, ihren Ursprung haben. Sie sind weder zu vermehren noch zu vermindern. Diese Gebote sind auch von Abraham (nebst den andern hinzugefügten) 2

‫דע כי כל המצות הם על שני דרכים והדרך הראשון מצות שהם נטועות מהשם בלב כל אנשי דעת והם רבים ואין בעשרת‬ ‫הדברים רק השבת לבדה שאינה בכלל שקול הדעת על כן כל משכיל בכל עם ולשון מודים בהם כי הם נטועים בשקול‬ ‫הדעת ועליהם אין להוסיף ואין לגרוע והם ששמר אברהם עם מצות האחרות נוספות והשם לא נתן התורה רק לאנשי דעת‬ ‫ והדרך השנית מצות הנעלמות ואינן מפורשות למה צון וחלילה חלילה שתהיה מצוה אחת‬.‫ומי שאין לו דעת אין לו תורה‬ ‫ ואם מצאנו אחת‬.‫מהן מכחשת שקול הדעת רק אנחנו חייבים לשמור כל אשר צונו השם בין שנגלה לנו הסוד כין שלא נגלה‬ ‫מהם מכחשת שקול הדעת איננו נכון שנאמין בו כי הוא כמשמעו רק בספרי חכ״זל נבקש מה טעמו אם היא על דרך משל‬ ‫ואם לא מצאנו זה כתוב נבקש אנחנו ונחפש בכל יכלתנו אולי נוכל לתקן אותה ואם לא יכולנו נניחנה כאשר היא ונודה שלא‬ ‫ידענו מה היה כמו ומלתם את ערלת לבבכם וכי הוא צונו שנרצחנו כאכזרי וידענו דעת ברורה כי כל המצות שאינם חייבים‬ ‫משקול הדעת סוד אחד יש לכל אחד מהן ואם נעלם ממנו והעד על זה כי כתוב המקצתם למה צוו כמו השבת שהוא זכר‬ .‫למעשה בראשית וחג המצות וכו‬

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Samuel Holdheim (1852)

befolgt worden. Gott hat die Lehre nur vernünftigen Wesen gegeben; für den Vernunftlosen ist keine Lehre und Erkenntnis möglich. Die zweite Klasse umfasst solche Gebote, deren Sinn und Bedeutung verborgen, und bei welchen der Grund nicht angegeben, weshalb sie geboten worden. Wir dürfen aber ja nicht glauben, dass irgendein göttliches Gebot mit der menschlichen Vernunft in Widerspruch sein konnte, wir müssen vielmehr jedes Gebot, das Gott uns gegeben, befolgen, gleichviel ob der Grund desselben uns einleuchtend oder ein geheimnisvolles Rätsel sei. Und finden wir ein Gebot, das uns der menschlichen Vernunft zu widersprechen scheint, so dürfen wir es nicht in solchem Sinne auffassen, sondern müssen in den Schriften der Weisen den Grund suchen, ob nicht etwa das Gebot nur einen bildlichen Sinn habe. Finden wir bei den Weisen nichts darüber geschrieben, so müssen wir selbst suchen und forschen mit unserer ganzen Kraft, ob wir nicht das Gebot mit der vernünftigen Erkenntnis in Übereinstimmung bringen können. Vermögen wir es nicht, nun, so müssen wir es freilich unerklärt lassen und unser Unvermögen, das Göttliche zu ergründen, bekennen. Ein Beispiel des notwendigen bildlichen Sinnes mancher Gebote ist das Gebot: »ihr sollt beschneiden die Vorhaut eures Herzens« (Dtn 10,16), da Gott unmöglich uns gebieten kann, dass wir grausam gegen uns selbst uns das sündige Herz aus dem Leibe schneiden sollen. Das wissen wir aber ganz gewiss, dass jedes der Gebote, welches nicht durch die menschliche Vernunft begründet ist, einen wenn auch uns unerreichbaren geheimen Sinn habe. Ein Zeugnis dessen ist, dass die Schrift selbst bei manchen Geboten ausdrücklich den Grund angibt, weshalb sie geboten seien, wie z. B. beim Sabbath als Erinnerungszeichen der Weltenschöpfung, beim Pessachfest u. s. w. Auf solche Weise« – schließt E. E’s. diese interessante Abhandlung ‫א״כ יוכל‬ ‫» המשכיל שהשם פקח עיניו לדעת מדברי התורה סוד כל המצות‬kann jeder Vernünftige, dem Gott die Augen geöffnet, den geheimen Sinn aller Gebote ergründen.« Darin stimmt E. E’s also gegen die talmudische Ansicht mit uns vollkommen überein, dass Gott von Hause aus keine willkürliche Satzungen, keine unergründliche Mysterien den Menschen gegeben haben könne. Wenn er aber vor den heiligen unerforschlichen Gesetzen in gläubiger Demut das Knie zu beugen empfiehlt, so haben wir nur dagegen zu bemerken, dass auch diese Kategorie von Gesetzen einst mit dem sittlichen Erkenntnis und Willensvermögen in psychologischem Zusammenhange gestanden habe, und dass derjenige allwaltende Geist in den Geschicken der Menschheit, welcher diesen Zusammenhang gelöst, auch unsern Schuldbrief zerrissen, da Gott eben so wenig einen knechtischen Dienst verlangen als er Unvernünftiges gebieten kann.] 3 Das Judentum hat keine Mysterien, keine geheimen Zauberkräfte, und wir lassen uns keine aufdrängen. Das Gottesgebot soll und kann nicht in der menschlichen Seele wie die Arznei im menschlichen Körper wirken. Der Mensch kennt freilich die Wirkung der Arznei nicht, die ihn gesund macht, er kennt aber eben so wenig die Wirkung dessen, was ihn krank |307| macht. Wie nun die Krankheit unabhängig von seinem freien Bewusstsein in ihm entstanden, so wird sie ihn auch verlassen. Nicht also der Menschengeist. Wie er nicht sündigen kann, ohne zu wissen, dass er gesündigt und wodurch er gesündigt,

3

[Es handelt sich um eine in den Haupttext übernommene Anmerkung Holdheims.]

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Einsicht und freier Wille

so kann er auch nicht ohne Erkenntnis des Heilmittels und ohne Bewusstsein von dessen Wirkung in seiner Seele wieder gebessert und gesühnt werden 4. [Das außerordentliche Gnadenverhältnis, das Gott zwischen sich und dem auserwählten Volke seines Eigentums aufgerichtet, bedingt eine Kategorie von Sünden, die im sittlichen Reich der Dinge eigentlich nicht existiert, ich meine, die aus Versehen ‫בשגגה‬, also nicht mit Willensfreiheit begangenen Sünden, für welche besonders das mosaische Gesetz die Sühne durch Opfer vorschreibt. Dieses besondere Gnadenverhältnis war von so zarter und empfindlicher Organisation, dass es auch durch unwissentlich begangene Fehler verletzt wurde und darum eine Sühne erforderlich machte. In der christlichen Theologie wird diese eigentümliche Gattung von Sünden mit einem besondern Namen, »die theokratische Sünde« bezeichnet. Von den ältern jüdischen Autoren hat sich nur Mose ben Nachman in dessen Bibelkommentar (Lev 4,2) zu einer mystischen Erklärung hierüber veranlasst gefühlt. Diese lautet: ‫וטעם הקרבנות על הנפש השוגגת מפני שכל העונות יולידו גנאי בנפש‬ ‫והם מום כה ולא תזכה להקביל פני יוצרה רק בהיותה טהורה מכל חטא ולולא זה היו טפשי העולם זוכים לבוא‬ ‫לפניו ולכן הנפש השוגגת תקריב קרבן שתזכה לקרבה אל אלהים‬. »Der Grund, weshalb die Seele auch wegen einer aus Versehen begangenen Sünde durch ein Opfer gesühnt werden müsse, ruhet darin, weil jede Sünde (er meint nämlich das Materielle der Sünde, das Tun des Verbotenen oder Unterlassen des Gebotenen) die Seele beschmutzt und befleckt und der innigen Gemeinschaft mit Gott unfähig macht, für welche sie nur im Stande der vollkommenen Reinheit empfänglich ist. Wäre das nicht, so würden ja auch die sündigen Toren der Verbindung mit Gott fähig sein. Deshalb muss die Seele, die irrtümlich gefehlt, erst durch ein Opfer gesühnt und gereinigt werden, um sich Gott wieder nähern zu können.« Die petitio principii dieser Erklärungsweise braucht erst nicht hervorgehoben zu werden. Tatsache ist es, dass auf dem Boden des mosaischen Gesetzes auch eine nicht beabsichtigte Sünde immer Sünde genannt wird und der Sühnung durch Opfer bedarf. Wir brauchen den Grund nicht weitläufig zu suchen, wenn wir bedenken, dass wir auch in unserem Verhältnis gegen Menschen uns der Schuld nicht ganz freisprechen, wenn wir einen aus Versehen und ohne Absicht schwer verletzt haben, dass es uns leid tut, und dass wir Schmerzen darüber fühlen und wünschen, es wäre nicht geschehen. Diese Gewissenhaftigkeit gegen Gott bedingt das Bedürfnis der Sühne. Ähnliches findet man im Talmud: ‫ אע״פ שאין אדם נתפס על צערו אעפ״כ מחיצה עושה בינו לבין אביו שבשמים‬obgleich der Mensch nicht für das verantwortlich ist, was er im Schmerz, im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit getan, so bildet es doch eine Scheidewand zwischen ihm und seinem himmlischen Vater. Aber vor Allem ist nötig, dass der, welcher aus Versehen gesündigt, seines Irrtums gewahr werde und wisse, dass er etwas von Gott Verbotenes übertreten habe. Unser Satz ist daher auch auf dem Boden des mosaischen Gesetzes vollkommen richtig, »dass Niemand sündigen kann, ohne zu wissen, dass er gesündigt und wodurch er gesündigt etc.«] 5 4 5

S. Ausführlicheres hierüber in unserem Aufsatz über die biblischen und rabbinischen Kultusprinzipien. Erster Artikel, im Literaturblatt zum Israel. des 19. Jahrhunderts, Jahrg. 1846, Nr. 8. [Es handelt sich um eine in den Haupttext übernommene Anmerkung Holdheims.]

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Samuel Holdheim (1852)

|308| Haben wir nun, meine Freunde, die talmudische Grundanschauung als eine irrige, ja höchst gefährliche erkannt, sprechen wir lieber mit dem heiligen Sänger Israels: »das Gebot Gottes ist klar und lauter, erleuchtet die Augen, die Befehle des Herrn sind grade, erfreuen das Herz, die Lehre des Herrn ist vollkommen, erquickt die Seele, die Zeugnisse des Herrn sind treu bewährt, machen die Einfalt weise,« halten wir daran fest: »das Gebot ist die Leuchte, die Lehre, das Licht,« so werden wir auch die sogenannten willkürlichen Satzungen der heiligen Schrift dem Lichte einer vernünftigen Erklärung nicht entziehen dürfen, auch in den angeblich undurchdringlichen Geheimnissen einen klaren Sinn und Zusammenhang mit unserem freien Sittlichkeitsgefühl aufsuchen und finden müssen. Sei es darum, dass wir dann das offene Bekenntnis werden ablegen müssen, dass der religiöse Sinn, den das Gebot einst hatte, und der innere Zusammenhang mit unserer |309| freien Sittlichkeit, der ihm einst als dessen Seele zu Grunde lag, bei dem völligen Umschwung, den die menschliche Geistes- und Herzensbildung seitdem genommen, aus ihm entflohen und ihm verloren gegangen sei, sei es darum, dass wir dann den Sinn und den Gedanken, die ursprünglich in dem Gebote lebten, als den kostbaren Inhalt auch ferner festhalten, das Symbol aber, oder das Gefäß als unbrauchbar bei Seite liegen lassen, dass wir den Kern wählen, die Schale wegwerfen, diese Prüfung anzustellen muss uns unser religiöses Gewissen antreiben.

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VI. Der Leib, die Seele und die Unsterblichkeit

28. Seele und Unsterblichkeit: Moritz Levin (1871) 1

|62| Der einzige Ausgangspunkt für eine richtige Auffassung der jüdischen Unsterblichkeitslehre ist das Verhältnis des Menschen zu Gott. In ihm hat er seinen Ursprung, ihm ist er nach der geistigen Seite hin ebenbildlich und durch Herausbildung der göttlichen Natur erlangt er eine Vollkommenheit, durch die er sich einerseits nicht bloß über die ganze Schöpfung erhebt, sondern auch andrerseits zu Gott zurückkehrt. In ihm findet er dann wieder die Harmonie seiner selbst, in ihm fühlt er sich frei und ewig. Wenn nun der Mensch nur in der Rückkehr aus der Natur zu Gott seine ewige Existenz finden kann, so ist der Boden für die Unsterblichkeitslehre gewonnen. Und wirklich ist die jüdische Lebensvorschrift derart, dass sie den Menschen fortwährend auf Gott weist, in ihm ihn leben, ihn jederzeit so handeln lässt, dass er sich der Nähe Gottes würdig erweise; aber sie verlangt nicht von ihm, dass er sein Erdenbürgertum verleugne, so lange er auf Erden wandelt. Er soll in dem Kreise seiner augen- |63| blicklichen Existenz das Höchste erreichen und sein Handeln danach bemessen, ob es in einer höhern, anders gestalteten Welt nur fortgesetzt zu werden würdig wäre. Gott ist ihm nicht ein Erzeugnis spekulativer Forschung, auch wurde er ihm nicht als Wesen in seiner Eigentümlichkeit gezeigt, sondern er erkannte ihn aus seiner praktischen Beziehung zum Menschen und zur Welt. Wiewohl Gott außer der Welt ist, so wirkt er doch unmittelbar in der Welt. Nur in seinen Wirkungen kann er vom Menschen, so lange eben dieser in sinnlichen Banden ist, bemerkt werden; das absolute Sein Gottes erschließt sich ihm hier nicht. 2 Das Volk Israel hat von Gott nicht bloß eine Idee empfangen, sondern hat ihn wirken sehen. In seinen Wirkungen lernte das Volk Gott fürchten und lieben, und aus diesen erkannte es zugleich die Vollkommenheit, die höchste Macht, und so ward Gott ihm zum Ideal. 3 Abfall von Gott war Abfall von der Sittlichkeit. 4 Wenn man nun von dem Menschen, als im Ebenbild Gottes geschaffen, spricht, so kann man da nicht an Gott in seiner absoluten Wesenheit denken, da diese dem Menschen unerfassbar, sondern diese Ähnlichkeit 5 bezieht sich nur auf die im Leben des Menschen wie in der Welt sich äußernde Gottesmacht. Die Welt ist der Boden, auf dem Gottes Geist sich kund tut, aber dieser Geist ist nicht zu erfassen; in gleicher Weise ist der Körper die Stätte, in welcher die Seele regiert, ohne dass diese erkannt werden könnte. Die harmonische Verbindung von Geist und Materie, |64| ohne dass diese zur Einheit werden, ist 1 2 3 4 5

[aus: Levin, Moritz, Gott und Seele nach jüdischer Lehre. Zürich 1871, 62–78] Ex 33,2. Lev 11,45. Mal 2,10. S. Hamburger 1870ff., Artikel Gottähnlichkeit.

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Moritz Levin (1871)

das Medium, durch das die Ähnlichkeit zwischen Gott und dem Menschen sich ergibt: ersterer als außerweltliches, geistiges Sein, aber in der Welt durch Wirkungen sichtbar werdend; dieser durch die im Körper sich kundgebende, aber über den Sinnenkreis hinausweisende Seele. 6 Welt und Körper, die zur Bezeichnung Gottes und des Menschen notwendigen Faktoren, sind demgemäß nicht unheilige Erscheinungen, sondern gerade durch Gott und Seele geweihte Stätten, wo ihre Wirkungen sich entfalten; aber sie werden auch nicht dem Geiste gleichgestellt oder als ewig daseiend gehalten. Und weil eine Ewigkeit der Materie der jüdischen Lehre widerspricht, darum finden wir auch in der Bibel nicht geradezu eine Lehre von der Ewigkeit des Menschen, die in jener Zeit immerhin sehr materiell ausgesprochen werden müsste. Die Unsterblichkeitslehre ist jedenfalls nicht Eigentum späterer Geschlechter; sie tritt bei diesen nur in voller Entwicklung auf. Im Keime lag sie, abgesehen von den heidnischen Völkern, im Volke Israel, und nur das zeitweilige Verschweigen, wie überhaupt die Eigentümlichkeit, die Fassungskraft übersteigende Dinge ruhen zu lassen, brachte zu der Meinung, Israel kenne keine Unsterblichkeitslehre. Ein Volk, das mit Gott einen so nahen, innigen Verkehr hatte, konnte sicher nicht hinter den übrigen Menschen zurückbleiben. Wie kann man annehmen, dass Gott sich einem Volke offenbaren und ihm nicht Lehren mitteilen würde, die, nur ein Eigentum der Heiden, diesen einen Vorzug gewähren sollten. |65| Die Vorstellung der Bibel von Gott als einem Geist und Schöpfer, die Anschauung vom Geiste als Leben gebendes Prinzip, die Art der Menschbildung, das Gebot, nach Gottähnlichkeit zu streben sind unverrückbare Pfeiler einer Unsterblichkeitslehre. Wie Gott als Vorsehung nicht bloß das gesamte All im Auge hat, sondern auch über den Einzelnen wacht und waltet, so ist wohl die dem ganzen Menschengeschlechte gemeinsame Vernunft unsterblich; aber die Unsterblichkeit des Individuum, welches das Besondere, wie jenes das Allgemeine vertritt, ist kein Aufgehen in die allgemeine, weltordnende, göttliche Intelligenz. Gott ist nicht mit der menschlichen Vernunft identisch, diese ist nur eine von Gott dem Menschen verliehene Kraft, sein Dasein zu deduzieren und sich selbst zu erkennen. Gott steht über der menschlichen Vernunft und ist ohne sie vollkommen. Das Scheiden der individuellen Seele von dieser Welt ist kein Auflösen ihrer Individualität, sondern die Rückkehr, das Sichfinden in der göttlichen Heimat. In der jüdischen Lebensanschauung steht man auf realem Boden. Hier entfaltet sich unser Leben, hier haben wir somit die Verpflichtung, das Höchste zu erreichen und diese so lange, als uns die Zeit dazu bestimmt ist. Was nach dieser Zeit erfolgt, das kann der im Sinnenkreis beschränkte Mensch umso weniger ermessen, als er nicht einmal die ewigen Fragen, die ihm die Erscheinungswelt aufwirft, beantworten kann. Wohl kann er sich mit der Folgerung trösten, dass das, was ihm als das Höchste erscheint, was einzig und allein die Vollkommenheit gewähren kann, die er aber trotz sehnlichsten Wunsches nicht zu erreichen vermag, nicht hier seinen Abschluss findet 6

bBer 10a.

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Seele und Unsterblichkeit

und dass endlich der Drang, jene |66| Vollkommenheit zu erlangen, nach der Weisheit und Liebe Gottes zu schließen, befriedigt werden müsse. So kommt der Mensch zu dem Vorsatze, vorerst die Ewigkeit als absolute Gegenwart zu betrachten, ihr ganz und gar gerecht zu werden, in ihr die Dimensionen der Vergangenheit und Zukunft zu finden, sie als den abstrakten Begriff der Gegenwart zu erklären, die einen ewigen Inhalt im Wechsel und in der Flucht der Erscheinungen bewahrt. Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, wie es dem Mosaismus um ein vollkommenes Diesseits zu tun ist; wie ihm ein von der Religion durchheiligtes Leben Selbstzweck und Bestimmung des Menschen auf dieser Erde war. Um es zu einer Vollkommenheit des Daseins zu bringen, musste ihm Selbstbestimmung und freier Wille und die Möglichkeit zugestanden werden, mit Hilfe der geoffenbarten Religion jene zu erreichen. Die Idee des Messiasreiches war eine notwendige Folge dieser Bestimmung und nicht bloß durch den reinen Monotheismus, sondern namentlich durch die Idee von einem vollkommenen Zustande des Menschengeschlechts in der Zukunft der Tage, für die wir zu wirken haben, unterscheidet sich die jüdische Religionslehre von der anderer Glaubensrichtungen. Ist nun mit der Anweisung, ein Gottesreich auf Erden herbeizuführen, die Tat nur aus Liebe zum Guten selbst bestimmt, so entsteht die Frage: kannte der Mosaismus außer dieser das ganze Menschengeschlecht beglückenden relativen Vollkommenheit, keine ewige Glückseligkeit für die individuelle Seele? Nicht mit dürren Worten finden wir eine solche ausgesprochen, aber um so tiefer gehört sie dem mosaischen Geiste an und sollte nicht Beweggrund, sondern Voraussetzung der strebenden Menschen sein. |67| Erst wenn die geläuterten Begriffe von Gott feste Wurzeln geschlagen haben, kann sich auch die Auffassung einer ewigen Fortdauer klar gestalten und so stehen die alten Hebräer hierin bei allem Stillschweigen über die Unsterblichkeit der Seele höher als alle gleichzeitigen Völker, die in ihren dunklen und beschränkten Begriffen von der Gottheit und dem absolut Wahren nur verworrene und dumpfe Anschauungen über ein Jenseits haben konnten. Das Verlangen nach geistiger Unsterblichkeit entsteht erst auf dem Boden gereifter Selbsttätigkeit und moralischer Vollkommenheit. Ich will den Ausspruch Montesquieu’s, 7 dass eine Religion, die weder Himmel noch Hölle verkündigt, nicht gefallen könne, auf das Volk Israel nicht anwenden, der nur für dasselbe reden dürfte; aber das ist gewiss, dass die Idee der Unsterblichkeit sich nach der Vorstellung gestaltet, die man von der Seele hat und da die Bibel die Seele als ein Gott ähnliches Wesen bezeichnet, so musste wohl auch die Idee von der Unsterblichkeit in der größten Reinheit sich bilden können. Ohne den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele fallen die Grundsäulen der mosaischen Religion: das Dasein Gottes, die Offenbarung, die Vergeltung. Wenn die Unsterblichkeit geleugnet wird, wo sollte die volle Vergeltung stattfinden, die wir auf dieser Erde doch nicht wahrnehmen? Wenn aber keine volle Vergeltung ge7

Montesquieu 1749, III, cap. 2, 4: »Les hommes sont extrêmement portés à espérer et à craindre, et une Religion qui n’aurait ni Enfer ni Paradis ne saurait guère leur plaire etc.«

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übt wird und wir das göttliche Walten vermissen, so ist das Dasein Gottes in Frage gestellt. Wie könnte dann noch nach Leugnung beider die Offenbarung von Gott hergeleitet |68| werden und wozu sollte man sich der schweren Gesetzesübung befleißigen? 8 Moses hatte es mit dem ganzen Volke zu tun; ihm lag es ob, ein Gott geweihtes Priesterreich zu bilden. Da musste auch nur die Wohlfahrt eines solchen Volkes auf dieser Erde hervorgehoben werden, in welchem der Einzelne, auf den sich die Unsterblichkeit der Seele bezieht, für jetzt zurücktrat. 9 Wie sollte auch nur von einer geistigen Belohnung der Seele gesprochen werden, da der reine Begriff von Gott und Seele den Massen noch fern lag? Würden die Handlungen von der jenseitigen Belohnung abhängig gemacht, wie leicht konnten sie das Pflichtgebot verwerfen und nur irdischen Zielen nachstreben? Wenn de Wette meint, 10 die politische Tendenz seiner Religion, womit sich die Lehre von ewiger Belohnung nicht wohl vertrug, oder wobei sie doch leicht entbehrt wurde, habe Mose abgehalten, die Lehre von der Unsterblichkeit einzuführen, so muss ergänzend bemerkt werden, dass Moses nur deshalb die irdische Wohlfahrt betonte, um das Volk für die ewige, geistige zu erziehen. Die Hebräer sollten zuerst eine irdische Vergeltung erfahren, die an sich übernatürlich sein musste, woraus sie leicht zur Auffassung der geistigen Belohnung in einem Jenseits geführt werden konnten. Wir sehen ja, wie oft noch der Götzendienst einriss und das allein ist ein Zeichen, wie sie für die Auffassung einer rein geistigen Fortdauer noch nicht fähig, sich erst durch Übung des Gottesgesetzes die implizite enthaltene Lehre von einer Ewigkeit der Seele zum Bewusstsein bringen sollten. |69| In einer Zeit, wo man über den Unterschied zwischen Seele und Körper noch kaum tiefer nachdachte, konnte man unmöglich eine geistige Unsterblichkeit direkt lehren. Wenn alle alten Völker eine Fortdauer kannten, 11 so ist das Stillschweigen darüber von den Israeliten, die grade die reinsten Ideen von Gott empfangen hatten, um so merkwürdiger; und wenn Moses, der gewiss von der Unsterblichkeitslehre Kenntnis hatte, – sollte er sie auch, wie man annehmen will, nur von den Ägyptern erlangt haben, – sie nicht offen als Lehre vortrug, so hatte ihn nur die Gefahr ihrer Verunstaltung sie zur Zeit verschweigen lassen können. Auf die Erfahrung, dass im Pentateuch die Unsterblichkeit nie ganz deutlich gelehrt wird, dürfen wir nicht eine negative Folgerung für das Volk aufstellen. Das Volk sah in der Wechselwirkung mit Gott sein wahres Leben und musste so für etwas Höheres als das bloße Erdendasein Sinn und Verlangen haben. Richtig bemerkt daher Brecher 12: »Die mosaische Gesetzgebung ließ den Unterbau, der sich in Bezug auf die ewigen Wahrheiten, als über das Dasein eines Gottes und die Fortdauer des Menschen nach dem Tode im Volke vorfand, gewissermaßen unberührt und vertraute der Entwicklungsfähigkeit der menschlichen Vernunft im Allgemeinen, dass diese an der leitenden Hand des Gottesgesetzes dahin gelangen werde, wohin sie zu bringen der ewige Führer beabsichtigt.« 8 9 10 11 12

Vergl. Manasse b. Israel, Nischm. chaj. IV,4. S. 66. Vergl. Albo, Ikkar. IV,40; Pfleiderer 1869, II 306. Wette 1831, 86. S. Meiners 1806, 291 ff.; Creuzer 1837–1844, die betreff. Stellen; Wuttke 1852–1853, I. § 165. 308; Meyer 1870, Cap. 10. Brecher 1857, Einleitung.

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»Moses fand die Vorstellungen des Volkes von der Fortdauer der Seele und ihrer ferneren Bestimmung genügend, um dasjenige gottgefällige Leben zu erzielen, wie es bei Erfüllung seiner Lebensvorschriften zu |70| erreichen sei.« »Er erwartete von der Entwicklung des Volkes die weitere Fortbildung der transzendentalen Ideen und es ist der Ruhm der mosaischen Religion, dass sie dem Geiste ihrer Bekenner keine Zwangsjacke der beschränkenden Dogmen anlegt und der freien Entwicklung der Vernunft den weitesten Spielraum gestattet.« Ebenso sagt Schäfer 13 sehr treffend: »Religion ist ohne Unsterblichkeitsglauben gar nicht denkbar. Die Israeliten wussten, dass die Seele ein von Gott ausgegangener Hauch und als solcher unvergänglich ist, während der Leib als Staubgebilde der Auflösung anheim fallen muss. Zur Gottebenbildlichkeit muss die Unsterblichkeit von vornherein gezählt werden, was dadurch auch noch verbürgt wird, dass der Tod erst als Strafe für etwaige Übertretung angedroht wird. Damit ist im Fall der Nichtübertretung auch ein Nichtsterben involviert.« Die meisten Forscher, die fast erschöpfend diesen Gegenstand behandelt haben, erkennen: dass die Unsterblichkeitslehre in den biblischen Büchern wenigstens implizite enthalten sei. 14 |71| Zuerst mögen sich bei den Massen der alten Hebräer, als sie die rein geistige Fortdauer noch nicht erfasst hatten, aber schon über Unsterblichkeit nachzudenken begannen, die Anschauungen von dem scheol 15 gebildet haben; doch |72| musste bald der Glaube an eine Fortdauer nur in einem finsteren Schattenreiche als mit dem Streben nach immer größerer Vervollkommnung unvereinbar und dem mosaischen Geiste fremd, zurückgewiesen werden. 13 14

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Schäfer 1870, 101. Albo, Ikkarim IV,40,41 ff.; Kusari I,115; Menasse ben Israel, Nischmat Chajim I,10. S. 11,b. ff. 13,a. ff.; Wessely 1819, 26, 27; Heman 1773, 36 ff.; Meyer 1724, II. Kap. 6. führt 58 Beweise dafür an, dass Mose die Unsterblichkeit gelehrt habe. Michaelis 1752; Ammon 1792, und in: Paulus, Memorabilien 1792, Stk. 4, 192, 207. Conz (War die Unsterblichkeitslehre den alten Ebräern bekannt und wie?) in Paulus, Memorabilien 1792, Stk. 3. 141ff.; Kleuker 1778; Thym 1795 (im 2. Teil findet man eine Prüfung der hierher gehörigen Meinungen und Untersuchungen jüdischer und christlicher Schriftsteller); Zobel, Magazin für biblische Interpretation, I (1805/1806), 1. Stk.; Flügge 1794–1800 IV, 75; VIII, 339 -390; Bunsen 1858ff, V, I, 42; Philippson 1861–1862, III 231ff.; Hamburger 1870ff. Artikel: Unsterblichkeit; Schultz 1869, I 392–401, II 161–170, 316–321; Schultz 1860; Menzel 1870, I 238; Kahle 1870, I. Abt.; Schäfer 1870, 99 ff.; vergl. Eichhorn 1787–1801, I 367; Stickel 1842, 155 (zu Hiob XIX, 25); König 1855; Starke 1747, Teil III, 1012 ff.; Heinrich Ewald, Jahrbücher der biblischen Wissenschaft 1860 (LXXIII) 45, 218; Wolfsohn, das Buch Hiob, Einleitung; Philippson 1861–1862, III; Delitzsch 1864, 216; Dillmann 1869, 182 ff. S. Zobel, Magazin für biblische Interpretation, I (1805/1806), 1. Stk. (über die Etymologie von ‫שאול‬ S. 27 ff., dessen Synonyma und Epitheta, S. 32 ff., über die verschiedenen Dichtungsarten von ‫שאול‬, die bei den früheren Juden aufzufinden sind und ihre Vergleichung mit dem griechischen und römischen ᾅδης und orcus. S. 39–75. S. 39–75; Flügge 1794–1800, Abschn. V 164–188; Bährens 1786; Starke 1747, Teil V (z. V. 9. Jes 14) 265/266 (Anm.); Conz (War die Unsterblichkeitslehre den alten Ebräern bekannt und wie?) in: Paulus, Memorabilien 1792, Stk. 3, 165ff.; Ammon, in: Paulus, Memorabilien 1792, Stk. 4, 193 ff.; Herder 1783, Teil II, 1, 104; Herder 1794, 8 ff.; Redslob 1838; Menasse ben Israel 1862, I, 12, S. 14 ff.; Brecher 1857, 15ff.; Kahle 1870, 33ff. und das. die betreffenden Stellen.

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Ahron und Moses gehen mit einer Ruhe und geistigen Gehobenheit ihrem Tode entgegen, die nur eine durchaus gewisse Überzeugung von einem ewigen Leben geben kann. Begeistert ruft Moses aus: der Hort, untadlig ist sein Werk, denn alle seine Wege sind recht; ein Gott der Treue, sonder Trug, gerecht und gerad ist er. 16 Bileam, der die Erwartung und Hoffnung Israels im Jenseits kennen musste, hegt den sehnlichsten Wunsch: sterbe meine Seele den Tod der Geraden und sei mein Ende dem ihrigen gleich. 17 Der Baum des Lebens, 18 die Verantwortung des Selbstmörders, 19 der Glaube an die Totenbeschwörung 20 weisen auf den Begriff einer Fortdauer deutlich hin. Aus dem Gebote, wegen eines Toten nicht zu sehr zu klagen, 21 als Kinder des Ewigen, ihres Gottes, sollten die Israeliten den Glauben schöpfen, dass der Verstorbene weiter lebt in seines Vaters Welt, in der göttlichen Heimat der Seele. Vollständig ausgesprochen finden wir die Fortdauer jedoch erst in den Apokryphen. |73| Um diese Zeit namentlich tritt neben der reinen Auffassung der geistigen Fortdauer auch noch eine materielle auf, nämlich die der Wiedervereinigung des Körpers mit der Seele. 22 Josephus sagt, 23 dass die Guten nach dem Umlauf von Äonen 24 wieder heilige Leiber bewohnen werden. Die an Plato sich anschließenden alexandrinischen Juden nehmen die Lehre von der physischen Auferstehung nicht an. 25 Im Buche der Weisheit finden wir nur die geistige Fortdauer ausgesprochen wie auch bei Philo. Ein psychologischer Materialismus, wie die Auferstehung einen solchen annehmen musste, erfordert, wie Ziegler be-

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Dtn 32,4. Num 23,10.; S. Literaturblatt des Orients 1842, Nr. 7, 97–103 [Kaempf, Isidor, Über die Vorstellungen der alten Hebräer von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele]. 18 Gen 3,22. 19 Gen 9,5 ff. Eine treffende Erklärung dieses Verses gibt Wessely 1819, 32ff.; Vergl. Kahle 1870, 5. 20 Lev 19,31; 1 Sam 28; 2 Kön 21,6; Jes 8,19. Vergl. Kahle 1870, 43ff., 64ff., 88ff. und die betreff. Stellen. 21 Dtn 14,1. 22 2 Makk 7,9; 2 Makk 12,43–45; Vergl. bSan 90a. ff.; Kusari I,115; Saadia, Emunot we Deot VII.; Albo, Joseph, Sefer ha-Ikkarim IV,35 ff.; Hai Gaon im Taam Sekenim, S. 60 ff.; Herder 1794; Flügge 1794– 1800, Abschn. VI 192–320, VII 303–326; de Wette 1831, I 58; Ziegler, Werner Carl Ludwig, Kurze Geschichtsentwickelung der Lehre von der Auferstehung unter den Hebräern. In: Henke’s Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte V (1796) 27; ‫ אבקת רוכל‬Amsterd. 1712, 35–38; über die persische s. Avesta v. Spiegel 1852, Stk. 32–35; Kleuker 1776ff., I 24ff.; Menzel 1870, 239ff.; Brecher 1857, 28ff.; Kahle 1870 zu den betreffenden Stellen der biblischen Bücher; Schultz 1869; Hamburger 1870ff. die betreffenden Artikel. 23 Josephus, De Bello Judaico VIII,5. 24 Ziegler meint [In: Henke’s Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte V (1796)], dass unter αἰών wohl nichts anderes als die obere Welt zu verstehen sei, wenngleich oft Zeitalter Welt bedeutet. Vergleicht man das lat. Wort aevum, so ergibt sich nur der Begriff eines langen Zeitraums. 25 Vergl. Plotin, Enn. III,6. Was der Sinnlichkeit angehört, ist der schlummernden Seele, denn so viel von der Seele im Körper ist, so viel schläft. Die wahre Erweckung ist die wahre Auferstehung der Seele vom Körper, nicht mit dem Körper.

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merkt, einen kosmologischen Materialismus. Demgemäß wird nach dem Tal- |74| mud nicht allein an der Seele Vergeltung geübt, sondern der Mensch wird auch am letzten Tage in seine frühere Erdengestalt restituiert und das letzte Weltgericht wird über die Auferstandenen gehalten. 26 Den Leugnern dieses Glaubens, wie den Sadducäern, 27 suchten die Rabbinen die Möglichkeit einer Wiedervereinigung der Seele mit dem frühern Körper darzutun und ihre Lehre aus der Bibel 28 zu deduzieren. 29 Die Ansichten über die spätere Bestimmung der Auferstandenen nach ihrer Aburteilung sind verschieden. 30 Da die Seele mit dem Körper gesündigt hat, so soll unter denselben Bedingungen an beiden die Vergeltung geübt werden. Die Belohnung soll der Körper mit empfinden, denn er verhalf ja auch der Seele zu ihrem göttlichen Dienste und selbst, wo er der Seele hinderlich war, konnte diese eine sittliche Erhebung und einen Sieg erlangen. Der Genuss des in seine Erdengestalt restituierten Menschen wird demnach ein geistiger sein; der böse, körperliche Trieb ist aus der Welt geschwunden 31 und da die Seele mit diesem |75| fortan keinen Kampf zu bestehen hat, so wird sie sich dann für einen noch hohem Genuss, den sie nach ihrem zweiten Scheiden vom Körper im Jenseits erlangen soll, vorbereiten können. Maimonides lässt die auferstandenen Menschen wieder sterben und die Seele ihr früheres Leben fortsetzen. 32 Die Anschauung, dass diese Welt nur eine Vorbereitungsstätte für das zukünftige Leben ist, gestattet eine Auferstehungslehre um so eher, als sie darauf die Seele eine größere Fähigkeit, Gottes Macht zu erkennen, erlangen lässt; denn nur von der Ausbildung der seelischen Kraft und der Moral des Lebens hängt die Stufe ab, die ihr im Jenseits zu Teil wird. Die Auferstehung kann sich daher nur auf die Tugendhaften, die eine Vervoll-

26 bSan 91b (die Parabel vom Blinden und Lahmen). S. auch Jalcut 123a. In Yaçna (Kleuker 1776ff., II 166) heisst es: »Dem, der vom Bösen stammt, vergilt er nicht bis zum letzten Auflösen der Welt«, was Spiegel so kommentiert: »Die Bösen erhalten ihre Strafe nicht eher vollkommen, als wenn die Zeit des letzten Gerichtes gekommen ist.« Vergl. Kleuker 1776ff., III 75 (Einl. Cap, 3). 27 bSan 90b. 28 Ex 6,4–8. Dtn 1,8.; Dtn 32,39; Dtn 33,6. 1 Sam 2,6, Jes 26,14–19. Ez 37,5–10. Hos 6,1–2; Hos 13,14; Hos 37,5–10. Mal 3,23. Dan 12,2. 29 bSan 91a ff. 30 bAZ 3b; bAZ 4a. bSan 92a ff. MTeh 31. Albo, Joseph, Sefer Ha-Ikkarim IV, 30.31,33–35. Taam Sekenim, S. 96 ff. (Rabbi Meyer, der Levit). 31 bSuk 52a. ‫לעתיד לבא מביאו הקב״ה ליצר הרע ושחטו‬ 32 Maimonides, Kommentar zu mSan X. Vergl. Albo, Joseph, Sefer ha-Ikkarim IV,30. Nach Rabd und mehreren Anderen soll Maimonides in Teschuba VIII, 2. die Auferstehung der Toten nur geistig auffassen und dadurch bKet 111b widersprechen. In dem Buche Chemda Genusah, Königsb. 1856, worin Handschriften aus der Oxforder Bibliothek zum ersten Male veröffentlicht sind, findet man einen Brief von Maimonides an Joseph Gabir in Bagdad, in welchem es Abschn. II S. 4 heißt: ‫אבל‬ ‫מה ששמעת אותם אומרים שאנחנו הרחקנו תחיית המתים ר׳ל חזרת הנפש לגוף – זה שם רע גדול עלינו – והאומר זה עלינו‬ ‫או שהוא איש רשע ערום מוציא מדברינו מה שלא אמרנו או איש סכל נתקשה עליו להבין מדברינו העולם הבא וחשב שהוא‬ ‫תחיית המתים‬. Maimonides versteht nämlich unter ‫ עולם הבא‬nur das rein geistige Fortleben der Seele, verschieden von ‫תחיית המתים‬, die eine Wiedervereinigung mit dem Körper ist. S. auch ‫ כסף משנה‬und ‫ לחם משנה‬a. a. O., den ‫ מאמר ת׳ ה‬von Maimonides und Taam Sekenim a. a. O. S. 49, 69.

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kommnung erstreben, beziehen; 33 die Gottlosen sind jedoch schon tot während ihres Lebens. 34 |76| Kommen wir nun auf die Lehre von der rein geistigen Fortdauer zurück. Von den drei Sekten, den Pharisäern, Sadducäern und Essäern bildeten die Ersteren die Auferstehungslehre aus. 35 Die nur die Bibel anerkennenden Sadducäer sollen 36 eine Fortdauer geleugnet haben, doch lässt sich das, als von einer im Judentum wurzelnden Sekte nicht ganz annehmen und nur auf die Auferstehung beziehen. 37 Die Essäer waren Spiritualisten, welche die Seele als von Gott kommend zu ihm zurückkehren lassen. Sie dachten sich eine Vergeltung noch materiell, ähnlich wie die Griechen. 38 Im Übrigen überlassen sie Alles Gott. (θεῶ χαταλιπεῖν φιλεῖ τὰ πάντα) 39 Das apokryphische Buch der Weisheit, auf eine rein geistige Auffassung der Fortdauer dringend, setzt die Erkenntnis als das Endziel der Seele. 40 Der Gnostiker Philo, auf den freien Standpunkt des Philosophen sich hebend, versteht den im Mosaismus ausgedrückten Gedanken, dass man schon in diesem Leben der Gottheit zuzustreben habe und ihr näher kommen könne. (τὸ ἕπεσθαι θεῷ μιμεῖσθαι θεόν – πέρας εὐθαιμονίας τὸ ἀχλινῶς χαὶ ἀῤῥεπῶἐς ὲν μόνῳ θεῷ στῆναι). 41 Das jenseitige Leben bietet nur eine Fortsetzung dieses geistigen, auf Gott bezogenen Lebens. Der Talmud beweist zuerst die Notwendigkeit einer Fortdauer und zeigt uns, dass unsere beschränkte Natur |77| bloß das rein geistige Jenseits nicht zu fassen vermag. 42 Diese Welt gleicht nur einer Herberge auf der Pilgerreise, jene Welt ist die wahre Heimat. 43 Einen scheol kennt der Talmud nicht: Die Guten gelangen in’s Eden, die Frevler in’s Gehinnom. 44 Wie die Lehre vom Eden und Gehinnom sich als Vergeltung an das diesseitige Leben anknüpft, so findet man auch Aussprüche über die absolute Bestimmung der Seele vermöge ihrer ursprünglichen Anlage. Das Leben der Seele im Jenseits ist ein Fortschreiten in der Erkenntnis zu immer weiterer Vervollkommnung. 45 Maimonides erkennt als die einzig wahre und würdige Bestimmung der Seele das geistige Fortstreben bis zur Stufe der Engel. Deren Kreise anzugehören ist das Endziel 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Vergl. Spiegel 1851, 161, 169. Hai Gaon im Taam Sekenim, S. 60. Maimonides, Kommentar zur Mischna, Sanhedrin 10. S. Josephus, Antiquitates Judaicae XVIII. 1. § 3. Josephus, Antiquitates Judaicae XVIII. 1. § 4; Jost 1857, 224. Vergl. Brecher 1857, 32; Grätz 1856, 93, 510. S. Josephus, De bello Judaico II,8. § 11. Josephus, Antiquitates Judaicae XVIII, 1. § 5. Josephus, Antiquitates Judaicae XVIII, 2. Philo, De virtutibus II,404 (De caritate) und Philo, De somniis I,23. bQid 39, mAv IV,29. bBB 10b. bTaan 11a. Philo in Grossmann 1829, I, 47; Vergl. Albo, Ikkar. I,9, der die Vergeltung auf dieser Welt mit der in der zukünftigen zusammen erst für vollständig, vollkommen und ausgleichend hält. In diesem Sinne erklärt er Ps. 19,10: die Gerichte des Ewigen zusammengenommen sind gerecht. BerR 34b. bSan 99a. .‫לעולם הבא עין לא ראתח‬ 43 bMQ 9b. 44 bBer 28b. Vergl. Taam Sekenim VI. S. 47. 45 bBer 64a. ‫תלמידי הכמים אין להם מנוחה לא בעולם הזה ולא בעולם הבא שנאמר ילכו מחיל אל חיל‬.

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der Seele, wodurch der ewige Bestand der Seele in Gott gesichert ist, welche nach Anleitung der wahren Philosophie Gott begreifen gelernt hat. Das ist das höchste Gut, mit Nichts zu vergleichen. Das größte Übel dagegen ist die Vernichtung der Seele, die in Sinnlichkeit versunken, Wahrheit verschmähend, zum sinnlosen Wesen wird. 46 |78| Die Strafe der Seele besteht nach Albo darin, dass die Seele, die im Erdenleben nur den Gelüsten des Körpers folgte und sich vom Göttlichen entfernte, auch im Jenseits nach jenen sinnlichen Genüssen strebt. Indem ihr nun die sinnlichen Werkzeuge fehlen, um sie zu genießen, andererseits aber sie vermöge ihrer göttlichen Natur nach dem Göttlichen Sehnsucht empfindet, die sie ebenfalls nicht befriedigen kann, weil ihr die geistige Ausbildung mangelt; so schwebt sie zwischen Irdischem und Göttlichem, ohne eines zu erreichen. Das ist die größte Strafe für die Seele, aber kein physischer Schmerz ist dabei zu verstehen, der bei einem rein geistigen Wesen undenkbar ist. 47

46 Mischna-Comment. San.10. In dieser Stelle, wie in Tract. Hilchot Teschubah VIII, 1, wollten Einige eine völlige Vernichtung der Seele ausgesprochen finden. Da aber die Seele als einfache Substanz nicht vernichtet werden kann, in dem andern Falle aber, da die Vernichtung ein Auflösen in die Elemente ist, die Seele zu Gott zurückkehren müsste, was wieder als keine Bestrafung angesehen werden kann, so hält Maimonides diejenige Seele, die der ewigen geistigen Seligkeit nicht würdig ist, für tot, denn in ihrem Frevel paralysiert sie sich selbst, schneidet sich selbst die Bedingung einer geistigen Seligkeit ab. Selbst die größten Frevler werden nicht vernichtet, sondern erhalten erst nach Maßgabe ihrer Schuld die Strafe, worauf sie der Seligkeit teilhaftig werden. (bRHSh 16b). Hilchot Teschub, III, 5: ‫כל הרשעים שעוונותיהן מרובין דנין אותן חטאיהם ויש להן חלק לעולם הבא‬. Dass Maimonides durchaus keine völlige Vernichtung annimmt, darüber s. auch ‫ כסף משנה‬und ‫פירוש‬ beiden angeführten Stellen. Abravanel (Comment. z. Pentat. Abschn. ‫ שלח‬S. 240) erläutert richtig das Wort ‫ כרת‬dahin, dass die Seele vom »Glanze der Schechinah« und von dem »Baume des Lebens« abgeschnitten ist, wie der morsche Ast vom Baume. (Vergl. Witribu in Taam Sekenim VI, S. 48 ff. Wessely 1819, 39.) 47 Ikkar. IV,33. .‫ולא מצד שישלוט בה האש כי אין האש שולט בדבר רוחני‬

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29. Unsterblichkeit als Hoffnung: Rudolph Grossman (1896) 1

(306) To the bedside of a dying man let me bid your attendance. The old patriarch Jacob, who in life had vanquished many a bitter opponent, has at last succumbed to his most formidable foe, death. Children and children’s children are gathered about the hallowed couch. A peace as of heaven fills the chamber in which death kisses the lips of life. Forgotten is the animosity between Joseph and his brethren, and the heart of brother is knit to the heart of brother, as the last farewell of the cherished father falls on their ears. Calmly, fearlessly, without sorrow, the old patriarch awaits the inevitable end. Words of counsel and of blessing flow from his blanched lips. Before his fading sight there arises the vision of the future. With a prophet’s eye, he describes the coming career of each of his sons, when suddenly his strength tails him; his voice seems to grow almost inaudible; death stands impatient at his side; his moments are numbered, and gathering together all his feeble strength, the expiring patriarch bursts out in that one cry, that voices his faith that death is not the end, that passing hence means living yonder, ‫» ’לישועתך ה׳‬In Thy salvation do I trust, O God 2.« (307) From that distant day to this, wherever a sigh has been heaved, wherever a tear has been shed as the last scene of life has touched the heart with its awful solemnity, the one hope that has buoyed up the drooping spirit and deprived the fatal cup that every mortal must drain of its poison, has been the faith that found expression in the words of Jacob, »In Thy salvation do I trust, O God.« It is with considerable hesitancy that I venture to speak on this question of immortality that has so long and so deeply touched the heart of man. Baffled by the grandeur of the theme, I feel my utter helplessness in dealing with a subject that so far transcends human knowledge. And yet, whether we will or not, the question confronts us on every side, and the feeling heart insists upon an answer: must we abandon this great hope of mankind, this tower of strength in the hour of trial, this fountain of inspiration in the midst of life’s conflicts? The very first fact that strikes our attention as we look out over the world’s history, is the absolute universality of the belief in immortality. You may find nations so rude, that they live houseless, in dark caverns of the earth, you may find tribes so savage, that they have neither raiment, weapon or fire, but nowhere will you find a nation without a belief in immortal life. It is the common creed of the human race. It is written in the nature of man, and written so large that the rudest nations have not failed to find and to know it. It 1

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[aus: Grossman, Rudolph, The Hope of Immortality. In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 306–315] Gen 49,18.

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Unsterblichkeit als Hoffnung

thrilled the heart of the ignorant savage as he beheld his tribesman lying cold and silent at his feet, struck by the flinty arrow. It awakened a response in the soul of the Egyptian forty centuries ago. It gave new hope to the Buddhist as he bewailed the misery of life. It lived in (308) the mind of the Chaldee and the Persian. It attended the footsteps of the Greek and the Roman. From the lips of all the human race, whether standing in the lowlands of barbarism or on the summit of civilization, whether gathered in heathen shrine, or synagogue or cathedral or mosque, the one cry has ever resounded, »In Thy salvation do I trust, O God,« whether the God invoked be Jehovah or Jupiter or Osiris or the lowest idol or fetish. Whence originated this universal belief? Not in revelation or reason, not from argument or observation. The human race did not sit down and think it out; did not wait till logic or metaphysics would prove it; did not delay its belief till a divine revelation came to confirm it. It is an instinct inborn in man. It awoke in the heart as awoke the belief in God, the love of man, the sentiment of justice, by the spontaneous action of the spirit within. Immortality is the writing of God on the soul of man; it is a desire that is part of his nature, deep as the foundation of his being. Shall we believe that this universal desire, constitutionally and ineradicably planted in all men, has no corresponding gratification, is but a cheating delusion? Shall we not rather regard it as the silent prophecy of endless life? What is thus in man is writ there by God, who writes no lies. Strange, indeed, were it that universal man had conceived the thought, the expectation of a life beyond the grave, if the grave ends all. Look throughout all the domain of nature, and for every want you will find ample provision; for every instinct there is some reality corresponding thereto. The plant seeks moisture, and behold, moisture is. The blade of grass yearns for sunlight and air, and air and sunshine exist. The wants of every fish that swims, of every bird that (309) flies, of every beast that roams, find ample provision in nature. And for man’s material needs there is sufficient supply. He is hungry, and the earth teems with abundance. He is thirsty, and a spring bubbles at his feet. He yearns for love, and love answers his desire. Everywhere the natural desire in plant or animal or man may somewhere find its natural gratification. Shall, in the higher realms of man, in the domain of the mind, the heart, the soul, the universal law break, and there be no provision for his most essential, most ardent longing? As well say that the stars and planets spin and shine, drawn onward by attraction and light, but that there is no central orb about which they revolve and which is the source of their light and attraction, as to declare that there is this burning hunger for immortality in man, but there is for him no such experience as an immortal life. But hold! cries the materialist and skeptic of our day. The night of blind belief is ended; the day of clear reason has come. A time there was when authority was all-powerful; today, thought is the only court of authority. What I cannot understand, I will not believe. Only that which my mind can compass will I accept; all else is fiction, dream, imagination. This modern cry, »Explain all, or we will not believe,« may sound scientific, but it is related to true science as the smoking street lantern is to the sun. Explain all! What science explains all in the department with which it deals? Does Darwin leave no mysteries unsolved? Can we account for every fact in our daily experience, the truth of 205

Rudolph Grossman (1896)

which none would presume to question? Can we explain the wondrous force in the plant that drives leaves and blossoms to their fruition? Can even the most profound student lay his finger on (310) that mysterious something we call life, and explain thought, will, feeling? One-half of knowledge is based on faith, and every science is pillared on unsolvable mystery. And you – you would presume to deny, to repudiate the belief in immortality – a belief that has been the shrine before which all religions bow in common – a belief that has been the staff and support of all peoples, ages and climes – because your reason cannot grasp it? What avails the flat denial of unripe minds over against the firm belief of profound thinkers like a Mendelssohn, a Lessing or an Emerson, who clung to immortality? The very first requirement in a consideration of a theme so perplexing, so mysterious as this, is modesty, humility, the recognition of the frailty and the impotence of human reason over against the marvels of the Infinite. It is reported that when a certain well-known atheist and skeptic, whose best powers have been devoted to demolishing the bulwarks of religion and to scoffing at God, stood before the open grave into which was to be deposited all that was mortal of a brother dearer to him than all else, it is reported that, in the anguish of his soul, he cried aloud, »My God, this is not the end.« Strange irony this! Bitter inconsistency! It was the cry of his heart, mightier than the frail voice of his mind, yearning for immortality. It was sentiment, more powerful than thought, that had burst the bars of reason, and insisted on a life larger than this little span of years. Who is there who has shrouded in darkness and silence one beloved, who has not shrunk back in horror from the awful thought of annihilation, and every chord of whose heart has not thrilled with the conviction: No, no, a thousand times no. Life is not to end in »a Stygian cave forlorn, where brooding darkness spreads its sable wings« 3; life (311) is more than pain and pleasure, alternating as the rise and fall of the waves on an agitated ocean; life is more than a fleeting shadow ending in the darkness of the tomb? Who is there who has stood before the grave, looking his last on the marble face of a dear one, to whom hope has not whispered its blessed message, to whom love has not spoken in accents sublime: »Nay, nay, this is not all, the soul is more than dust, it is a breath from the heights, it is a spark of the celestial lire, in Thy salvation do I trust, O God. But can we say no more for this grand belief than that affection sustains it, and that hope yearns for it? Will it not bear being looked at in the dryest and sharpest light of logic? Truth never flinches before reason. There are arguments that are fair, logical and just, which must satisfy the mind and afford a basis for the sentiment that disposes the heart in its favor. The first of these is drawn from the world of matter around about us. One of the laws that science has most positively established is, that in the material world nothing is ever destroyed. There is no such thing as annihilation. Things are changed, transformations abound, but essence does not cease to be, even when nature has manipulated it in all her laboratories for a billion years. Take a quantity of matter, divide and subdivide it in ten thousand ways by mechanical violence, by chemical solvents, still does it exist as the same 3

[aus: John Milton, L’Allegro (1645)]

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quantity of matter, with unchanged qualities as to its essence, and will exist even unto the end of time. Shall matter live and spirit perish? Shall the lower outlast the higher? Shall the frame survive, the husk continue, and the soul, thought, affection, will, be crushed, annihilated? But look further, and other proofs for immortality (312) come crowding to our minds. Here on earth, every plant and flower in its place and time matures. The acorn ripens every year. The rose reaches in every season its complete maturity. All earthly things reach their highest development, all attain that for which the Creator destined them. Man alone never reaches his complete maturity. Even in the best and highest, all their qualities are not fully grown. Man is never complete in the qualities of a man. What human soul does not feel the full force of the poet’s words: »’Tis life whereof our nerves are scant, Oh life, not death, for which we pant, More life and fuller than we want.« 4 Often are we like plants that live in an inhospitable clime, bearing leaves and blossoms, but no fruit. We are cut off, just when we grow strong enough to do something. We are driven by a universal truth-hunger, which no earthly acquisition can satisfy. We have wings that are eager for flight to the very summit, eyes that long for fuller vision; but fell circumstances, adverse conditions restrain our flight and darkness and misery blind our eyes. Through ages and millenniums myriads and myriads have lived in hunger of mind, and heart and soul, and have died questioning and unsatisfied. Shall we believe that this fervent yearning that thrills our very soul for life, for light, for truth, is all a hollow mockery, a chimera that lures us to deception? Shall man have no superiority over the brute save the mocking knowledge that the deepening shadows are to end in night, and the brilliant hopes to culminate in annihilation? Are we to regard the Creator’s work, to use the words of John Fiske, »as like that of children why build houses out of bricks, merely for the pleasure of knocking them down?« (313) I need no better proof that I am more than cold clay, than the voice of my own heart that whispers to me the assurance, not in vain »Do I trust in Thy salvation, O God.« I believe in the existence of a God, I believe that there is divine justice in the world. Justice cannot be without immortality. Every star whispers the message of divine love. Every flower speaks of infinite goodness. The whole creation thrills with the one refrain, God is just. Shall that love, that justice, that is, the universal paean of praise to the Creator, bursting from the lips of all His handiwork, be denied to man alone? As surely as the rising walls of yonder building suggest the finished structure, so surely do the wrongs and the sufferings of earth, undeserved, point to another life where what is incomplete here will be completed, and what is dark here will be illumined. Shall we believe that they who have gone out of life in childhood, in manhood, before the natural measure of their days was full, have been forever hurled into the darkness 4

[aus: Tennyson, Alfred Lord, The two Voices (1842)]

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of oblivion, no morning to follow the long night? Shall we believe that the great, the wise, the generous, gifted with the noblest talents, aglow with sublimest aspirations, who have been summoned hence long before their qualities could even in a measure be unfolded, have utterly perished, their early demise being no prophecy of yet another spring and summer and harvests, too? Shall we believe that the millions made wretched by adverse circumstances, or dying the death of martyrs for truth, or living in want and anguish, enduring the pangs of persecution, have suffered with no divine voice to whisper to them the assurance, »fear not in your trial, lose not courage; battle on, there is a celestial love above you?« »What a piece of work is man. How noble in reason. How infinite in faculties. In form and movement, how express and admirable. In (314) action how like an angel. In apprehension how like a God.« 5 Has the Creator fashioned so masterly a work as man, that only like a piece of worthless clay he might be demolished? To believe this, it is not profane to say it were to believe that God is a cruel tyrant, and not a God of Justice. To believe this were to believe that virtue is a deception, and truth a lie, and self-sacrifice a mockery, if all they lead to is darkness and annihilation. To believe this were to affix the seal of approval to the words of a Robespierre, who in his dying moment is reported to have exclaimed, »let the candle be snuffed. Let life, the great cheat, be ended.« Without immortality, life is indeed a delusion, and not to be is happiness. Without immortality the world is a moral chaos, and man a blind machine. Without immortality injustice sways the scepter and falsehood sits on the throne. With immortality the tomb is the gateway to a nobler realm and death the messenger from celestial heights. With immortality earth is the pathway to a brighter sunshine and man the child of Him whose days are without end. I confess that, in the discussion of this theme, I have been led by the promptings of my heart. I put forth no claims to any rigorous demonstration. I have uttered an aspiration, nothing more. But who will say that an aspiration is at times not worth as much as an argument, if not more? Who will say that the promptings of our hearts are not as valuable and as true as the voices of our reason? You who have never suffered, no tear has furrowed your cheeks, no thorn has lacerated your flesh, to you, too, will come the night of crisis. Then, and then surely, you will realize how weak, how impotent, how helpless a thing is human reason. Then, and then surely, you will feel the full force of the words, »In Thy salvation do I trust, O God.« (315) I know full well that nothing that I can say can make real and tangible for you this belief in immortality. I see full well the clouds of mystery that surround it. But I appeal to your sentiments, to your desire for happiness, cling to this child-like trust. The hope of the poor, the hope of the desolate, the hope of refinement, the hope of everything that is noblest in civilization, rests on the belief in immortality. It may be that it is only a dream, only a vision of our own hearts, but even so, let us dream on. There is happiness, there is comfort, there is inspiration in that dream. Even a vision, if it bring hope and peace, is better than reality that only wounds and pains.

5

[aus: William Shakespeare, The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark (II,2 285–300)]

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»Learners are we all at school, Eager youth and weary age, Governed by the self-same rule, Poring o’er the self-same page. Life the lesson that we learn, As the days and years go by. Wondrous are the leaves we turn On the earth and in the sky. Oft our eyes with tears are dimmed, As we seek in vain to tell What may mean some harder word Than our wisdom yet can spell; But we read enough to trust That our grand hopes are not lies, That our hearts are more than dust, That our home is in the skies.«

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Quellennachweise

Anonym, Religion und Sittlichkeit. Ein Fragment. In: Allgemeines Archiv des Judentums. Bureau für Literatur und Kunst Berlin. Band 1/1842, 78–85, hier: 78–80; 82–84 (Text 13). Bloch, Moses Löb, Die Ethik in der Halacha. Budapest 1886, 1–3 (Text 16). Brisker, L., Das Judentum und der Culturfortschritt unseres Jahrhunderts. Wien 1871, 40– 43 (Text 26). Cohen, Hermann, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 1900, 75–81, 109–118 (Text 3). Cohn, Salomon, Die Bedeutung des Judentums in der Gegenwart. In: Der Treue Zionswächter 12. Oktober 1849: S. 321–322; 339–341; 16. November 1849: S. 361–363, 409–411; [1850, S. 49–52], hier: 339–341 (Text 2). Ehrentheil, Moritz, Der Geist des Talmud. Quellengemäße Darstellung der talmudischen Anschauung über Gott, Mensch, Staat, Justizwesen, Nächstenliebe, Wohltätigkeit, Armen-Pflege, Verhalten gegen die Heiden, Thierquälerei, Arbeit, Erziehung und Unterricht, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Beschränkung der Todesstrafe, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit etc. etc. Für die intelligenten Classen aller Confessionen. Budapest 1887, 5–10 (Text 5). Einhorn, David, Das Prinzip des Mosaismus und dessen Verhältnis zum Heidentum und rabbinischen Judentum, Leipzig 1854, 40–65 (Text 22). Fassel, Hirsch B., Die mosaisch-rabbinische Tugend- und Rechtslehre bearbeitet nach der philosophischen Tugend- und Rechtslehre des seeligen Krug, und erläutert mit Angabe der Quellen. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Groß-Kanizsa 1862, 28– 46 (Text 19). Grossman, Rudolph, The Hope of Immortality. In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 306–315 (Text 29). Herzfeld, Levi, Über Willensfreiheit (26. 8. 1843) In: Herzfeld, Levi, Predigten, Nordhausen 1858, 22–33 (Text 25). Herzfeld, Levi, Von dem Geiste Gottes im Menschen (3. 12. 1842) In: Herzfeld, Levi, Predigten, Nordhausen 1858, 193–201 (Text 15). Hirsch, Mendel, Das Judentum und die Neige des 19. Jahrhunderts. In: Der Israelit 1891 Heft 3 vom 8. 1. 1891 S. 33–34; Heft 5 vom 15. 1. 1891 S. 69–71; Heft 7 vom 22. 1. 1891 S. 109–111; Heft 9 vom 29. 1. 1891 S. 145–147; Heft 11 vom 5. 2. 1891 S. 190–191; Heft 13 vom 12. 2. 1891 S. 240–242; Heft 15 vom 19. 2. 1891 S. 283–284; Heft 17 vom 26. 2. 1891 S. 315–316; Heft 19 vom 5.3. 1891 S. 351–353; Heft 23 vom 19.3. 1891 S. 431, hier: 315–316] (Text 24). Holdheim, Samuel, Das Leiden der Frommen (1852) In: Holdheim, Samuel, Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter 213

Anhang

Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin 1853, 101–110 (Text 21). Holdheim, Samuel, Die Symbolik des mosaischen Gesetzes (1852) In: Holdheim, Samuel, Predigten über die jüdische Religion. Ein Buch der religiösen Belehrung und Erbauung für’s jüdische Haus gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Zweiter Band. Dem um die Läuterung des Gottesdienstes und die Förderung der Religiosität in Israel hochverdienten Vorstande der jüdischen Reformgemeinde in Berlin hochachtungsvoll gewidmet. Berlin 1853, 303–309 (Text 27). Holdheim, Samuel, Religion und Humanität. Am Wochenfeste (1853) In: Holdheim, Samuel, Predigten über die jüdische Religion. Gehalten im Gotteshause der jüdischen Reform-Gemeinde zu Berlin. Dritter Band. Dem Altmeister der jüdischen Kanzelberedtsamkeit, Herrn Dr. Gotthold Salomon, Prediger am neuen israelitischen Tempel zu Hamburg Hochehrwürden in Hochachtung und Liebe gewidmet. Berlin 1855, 13–19 (Text 12). Joseph, Morris, Jewish Ethics. In: Religious Systems of the World, Contribution to the Study of Comparative Religion. A Collection of Addresses delivered at South Place Institute, now revised and in some cases rewritten by the authors together with some others specially written for this volume. 2nd edition, with several new articles. New York 1892, p. 698–708 (Text 18). Kayserling, Meyer, Das Moralgesetz des Judenthums in Beziehung auf Familie, Staat Gesellschaft : als Ms. gedr., Wien 1882, 1–7 (Text 1). Kayserling, Meyer, Das Moralgesetz des Judentums in Beziehung auf Familie, Staat Gesellschaft : als Ms. gedr., Wien 1882, 48–53 (Text 20). Krauskopf, Joseph, Faith with Reason. In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 292–305 (Text 14). Kurrein, Adolf, Einheit und Allmacht Gottes. Zweite Rede gehalten am 29. Cheschwan 5640, 15. November 1879. Sabbath ‫ תולדות‬In: Kurrein, Adolf, Pitheche Olam, Voroffenbarungen: Reden in 2 Abtheilungen: 1. Die Offenbarungen der Schöpfung, 2. Die Menschenlehre des Judentums. Wien 1882, 18–26 (Text 6). Landau, L. R., Die Kausalität in Bezug auf das Dasein Gottes und die moralische Freiheit. In: Landau, L. R., Das Dasein Gottes und der Materialismus. In zwei Gesprächen und acht Erläuterungen. Wien 1873, 63–73 (Text 23). Levin, Moritz, Gott und Seele nach jüdischer Lehre. Zürich 1871, 20–24 (Text 4). Levin, Moritz, Gott und Seele nach jüdischer Lehre. Zürich 1871, 62–78 (Text 28). Moses, Adolph, Who is the real Atheist? In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 223–232 (Text 10). Rosenberg, Alexander, Die ethische Tendenz im geschichtlichen und gesetzlichen Teile der Bibel. In: Populär-wiss. Monatsblätter 4 (1884) 195–199 (Text 7). Rosenberg, Alexander, Die ethische Tendenz im geschichtlichen und gesetzlichen Teile der Bibel. In: Populär-wiss. Monatsblätter. 4 (1884) 59–62 (Text 11). 214

Quellennachweise

Roth, Aron, Eine Studie über den Selbstmord: Von jüdischem Standpunkte. Budapest 1878, 65–70 (Text 8). Silverman, Joseph, Jewish Theology. In: Sermons by American Rabbis. Edited and Published under the Auspices of the Central Conference of American Rabbis, by The Central Conference Publication Committee, Chicago 1896, 259–269 (Text 9). Stern, Sigismund, Vierte Vorlesung. Die Sittlichkeit des Judentums. In: Die Religion des Judentums in acht Vorlesungen. Berlin : Bernstein 1846 S. 115–157, hier: 138–148 (Text 17).

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Bibliographie der von den Autoren herangezogenen Sekundärliteratur Nahlowsky, Joseph Wilhelm 1871: Allgemeine praktische Philosophie ›(Ethik)‹ / pragmatisch bearb. Leipzig. Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 1.1791 – 8.1796; Memorabilien, eine philosophisch-theologische Zeitschrift der Geschichte und Philosophie der Religionen, dem Bibelstudium und der morgenländischen Literatur gewidmet. Leipzig. Pfleiderer, Otto 1869: Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, auf Grund der gegenwärtigen Standes des philosophischen und der historischen Wissenschaft. Leipzig. Philippson, Ludwig 1861–1862: Die israelitische Religionslehre. II/III: Die Lehre von Gott. Die Gottesverehrung. Leipzig. Redslob, Gustav Moritz 1838: Der Grundcharakter der Idee vom Scheol bei den Hebräern, aus der Etymologie des Wortes entwickelt. In: Zeitschrift für die historische Theologie (Illgen) 1838, 1–11. Ranke, Friedrich Heinrich 1834–1840: Untersuchungen über den Pentateuch, aus dem Gebiete der höheren Kritik. Erlangen. Ruskin, John 1866: The Ethics of the Dust, 10 Lectures to little housewives on the elements of crystallisation. London. Santos, Antonio Ribeiro dos 1792: Da Litteratura Sagrada dos Judeos Portuguezes. Desde os primeiros tempos da Monarquia até os fins do Seculo XVI. / Memoria 2. Lisboa. Schäfer, Bernhard 1870: Neue Untersuchungen über das Buch Koheleth : Ein Beitrag zur Erkärung des alten Testaments. Freiburg. Schultz, Ernst Andreas Heinrich Hermann 1860, Veteris testamenti de hominis immortalitate sententia illustra : dissertatio inauguralis theologico-biblica, … Göttingen. Schultz, Hermann 1869: Alttestamentliche Theologie : die Offenbarungsreligion auf ihrer vorchristlichen Entwickelungsstufe. Frankfurt am Main. Sidgwick, Henry 1886: Outlines of the history of ethics for English readers. Macmillan’s manuals for students. London; New York. Spiegel, Friedrich von 1851: Grammatik der Pârsisprache nebst Sprachproben. Leipzig. Spiegel, Friedrich von 1852: Avesta, die heiligen Schriften der Parsen. 1. Der Vendidad. Leipzig. Star(c)ke, Johann George 1747: Die vier grosse und zwölf kleine Propheten, Ausgefertiget Mit Beyhülfe einiger Gelehrten. Leipzig. Stickel, Johann Gustav 1842: Das Buch Hiob: rhythmisch gegliedert und übersetzt, mit exegetischen und kritischen Bemerkungen. Leipzig. Thym, Johann Friedrich Wilhelm 1795: Versuch einer historisch-kritischen Darstellung der jüdischen Lehre von einer Fortdauer nach dem Tode: so weit sich die Spuren davon im alten Testamente finden. Berlin. Ulrici, Hermann 1866: Gott und die Natur. Leipzig. Wessely, Naphtali Herz 1818: Maamar hikur din. Vilna Wette, Wilhelm Martin Leberecht 1831: Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments: oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums; zum Gebrauch akademischer Vorlesungen. Berlin. Wuttke, Karl Friedrich Adolf 1852–1853: Geschichte des Heidenthums in Beziehung auf Religion, Wissen, Kunst, Sittlichkeit und Staatsleben. 2 Teile. Breslau Zunz, Leopold 1845: Zur Geschichte und Literatur. Berlin.

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Zitatindex Hebräische Bibel Tora / Pentateuch

43,10 76; 45,7 155; 49,17 58; 53 163; 55,8–9 160; 56,1 39; 57,15 78; 57,16 65; 59,21 36; 60.

Genesis 1,1 31; 1,2 65; 1,3 62, 65; 1,4 61; 1,21,30 65; 1,27 31; 1,31 31; 3,16–22 166; 3,22 200; 3,23 164; 3,3 164; 3,7 166; 5,1 32; 6,3 166; 9,5 200; 12,8 56; 15,13– 14 158; 23,4–5 124; 24,16 67; 27,22 61; 27,40 61; 49,18 204; 50,20 158.

Jeremiah 7,22 49; 9,7 144; 10,10 141. Josua 1,8 36.

Exodus 3,14 31; 6,4–8 201; 12,49 33; 15,25 49; 20,5 138, 159; 20,5–6 48; 20,7 143; 20,16 144; 22,10 125; 22,23 122; 23,1 144; 23,3 122; 23,7 141; 23,9 127; 30 86; 33,2 195; 33,20 131; 34,6 31, 45, 177.

Ezekiel 18,20 49, 139, 160; 37,5–10 201.

Levitikus 4,2 191; 11,44 113; 11,45 195; 19,11 141; 19,12 143; 19,16 144; 19,17 123, 126; 19,18 33, 39, 124; 19,2 32, 114, 134; 19,31 200; 19,34 127; 20,7 32; 22,28 125; 25,35–36 127; 25,42,55 34.

Amos 3,6 155.

Numeri 4,27 160; 12,3 123; 15,16 33; 21,9 164; 23,10 200.

Micha 6,2 52; 6,8 39, 52.

Deuteronomium 1,8 201; 4,15 31; 4,30 120; 4,44 34; 5,11 143; 5,15 50; 5,2 163; 5,20 144; 6,4 31, 56, 61; 6,5 33, 121; 6,7 36; 10,16 190; 10,18–19 120; 10,20 143; 11,19 36; 11,26 179; 12,17 131; 14,1 200; 15,8 121; 16,20 33, 122; 16,5 131; 17,15 131; 20,19 63; 22,3 131; 22,6 125; 22,6–7 33; 23,24 141; 23,7 127; 24,16 138, 159, 161; 25,4 125; 28,9 113; 30,19 177; 30,2 120; 31,18 120; 32,11 66; 32,11–12 57; 32,20 120; 32,39 58, 201; 32,4 200; 33,6 201.

Habakuk 3,17–18 121.

Hosea 6,1–2 201; 6,7 50; 13,14 201; 14,1 120; 37,5–10 201.

Jona 4,2 178.

Sacharja 3,1–2 163; 5,4 143; 7,10 126; 8,16 39, 141; 8,17 126; 14,9 34, 63. Maleachi 2,10 32, 56, 88, 195; 3,23 201. Schriftwerke Psalmen 15,1–4 143; 15,2 142; 16,8 140; 19,10 202; 23,3–4 126; 31,5 141; 33,6 62; 37,2 123; 43,4 121; 45,4 90; 52,4 144; 54,35 124; 65,2 44; 73,25,28 50; 94,1– 10 52; 101,7 142; 103,11–14 151; 104,4 162; 113 78; 118,17–18 150; 119,71 149; 119,97 121.

Propheten Samuel 1 Samuel 2,6 201; 16,12 67; 28 200. 2 Samuel 24,16 164. Könige 1 Könige 1,6 67; 19,11–13 78. 2 Könige 21,6 200.

Sprüche 3,6 113; 6,10 123; 11,9 145; 12,10 125; 12,19 141; 12,22 141; 19,5,9 144; 20 65; 22,29 122; 23,26 126; 24,17 124; 25,21 124; 26,13 123; 26,22 144; 29,5 145.

Jesaia 1,15 120; 3,26 46; 5,18 136; 5,20 145; 8,19 200; 14 199; 26,14–19 201; 40,25 31; 40,27 163;

221

Anhang Ijob 1,9–11 163; 8,13 145; 13,16 145; 20,5 145; 32,8 65; 42,8 163.

Chronik 1 Chr 21,1 164. Apokryphen Makkabäer 2 Makk 7,9 200; 2 Makk 12,43–45 200.

Klagelieder 3,38 155; 5,7 160. Kohelet 7,20 137. Daniel 12,2 201.

Sirach 23,9,11 143.

Neues Testament Matthäus 5,18 132.

Talmud Mischna mAv I,2 35, 39, 141; I,3 121, 130; I,6 137; I,8 137; I,11 38; I,14 134; I,17 140; I,18 39, 141; II,1 135, 140; II,2 123; II,4 132, 133, 134; II,6 36; II,9 37; II,13 137; II,16 134; III,15 131; III,18 32; IV,1 37, 113, 132; IV,2 133, 136; IV,3 137; IV,4 137; IV,7 37; IV,8 135; IV,15 37; IV,17 131; IV,29 202; V,1 156; V,18 136; V,19 137; V 62. mPea I,1 140

bHag 13a 58; 16a 137. BHM I,72 143. bHor 13a 37. bHul 11b 159; 90b 135; 94a 127. bKet 111b 201 bMak 10a 38; 10b 70; 23b 114; 24a 139, 142, 160. bMeg 16a 37; 31a 50. bMen 110a 134. bMQ 9b 202. bNed 37a 36; 49b 123; 50a 124; 62a 37. bNid 16b 134 bPes 8a 130; 50b 130; 113a–b 135; 113b 142, 145; 118a 144. bQid 29a 123; 39 202; 39b 132; 40 36; 40b 135, 140, 149. bRHSh 16b 203; 17b 45, 135. bSan 27b 139, 161; 29a 133; 37 32; 39 58; 54a 38; 58b 37; 64a 141; 78a 159; 89b 142; 90a 200; 90b 41, 201; 91a 201; 91b 201; 92a 142, 201; 99a 202; 99b 37; 103a 142, 145; 106b 126. bShab 30a 132; 30b 122; 31a 33; 55a 141; 55b 137; 63a 121; 88b 124, 133; 104a 141; 114a 37; 119b 36, 37; 127b 137; 133a 39; 153a 140; 156 70. bShevu 39a 142, 143. bSot 11a 163; 21a 139; 21b 38; 32a 143; 41b 145; 42a 142, 145; 42b 145. bSuk 52a 201; 52b 134. bTaan 7a 38; 11a 202. bYev 62b 124. bYom 29a 126; 38b 70; 39a 114; 69b 138; 72 72; 86b 131, 145; 87a 136.

Tosefta tBQ 10 127 Palästinische Gemara yBer I,5 144 yHag I,7 36; II,1 122. Babylonische Gemara bAr 15b 144; 16a 144. bAZ 3b 201; 3b 36, 138; 4a 201; 7b 135; 18b 126; 19b 121; 20b 127; 54b 158. bBB 8b 36; 10b 202; 12a 37; 16a 138; 21a 36; 21b 36; 88a 142; 110a 123; 164b 144. bBekh 29a 36. bBer 4a 142; 5b 161; 8a 123; 10a 124, 196; 16a 132; 17a 130; 22a 132; 28b 140, 202; 58a 37; 64a 134, 202. bBes 16b 135. bBM 48a 142; 49a 142; 85a 125. bBQ 55b 144. bEr 54b 36; 55a 38. bGit 61a 127; 62a 37, 125.

222

Zitatindex

Midrasch Avot de-Rabbi Nathan 37 123. Bereshit Rabba zu Gen 1 60, 62; zu Gen 1,1 60; zu Gen 3 60, 61; zu Gen 12 62; zu Gen 28 59; zu Gen 67; 16 124; 24 32; 33d 43; 34b 202. Shemot Rabba 2 125; zu Ex 30 86. Midrasch Assereth Hadibroth (Bet haMidrasch I,72) 143 Midrasch Tehillim 31 201. MQohelet 109 37. Pesiqta Rabbati 33 60. Pirke R. Elieser, 3 44.

Rut Rabba I 141. Sifra Ked 4 32. Sifra zu Dtn 9,22 120. Yalkut 3 61 Yalkut 18 62 Yalq 123a 201 Yalq 2,947 142 Yalq 841 37 Yalq Beracha 139 Yalq Ekeb 135

Autoren bis 18. Jahrhundert Nicht-jüdische Autoren Aristoteles, Nikomachische Ethik I,4 65; VI,13 87. Aristoteles, De Anima 3,8 65. Cicero, Tusculanae Disputationes V,37 87. Hesiod, Theogonie V,116–452 67; V,453–1019 67. Ovid, Fasti 6,5 54. Platon, Apologia 31–33 88. Plotin, Enneaden III,6 200. Xenophon, Memorabilia I,1,16 87; I,1,2 88; I,4,1 88.

Maimonides zu mSan X 201, 202, 203. Maimonides, Bachya zu Gen 1,1 59. Maimonides, Hilchot Deoth VII,3 144; VII,4–5 144. Maimonides, Hilchot Matnot Aniyim, 10,7–14 121. Maimonides, Hilchot Schewuot II,1,2,6 142; V,17 143; IX,12 143; XI,1 143. Maimonides, Hilchot Teschuba III,5 203; V,14 135; V,2–3 134; VI,2 135; VI,3 136; VII,2 140; VIII,1 203; VIII,2 201; X,1 131. Maimonides, More Nebuchim 3,39 122. Menasse ben Israel, Nischmat Chajim I,10 199; IV,4 198. Schulchan Aruch, Jore Deah 189,16 138; 246,1 139. Schulchan Aruch, Orach Chajim 1,1 140; 1,6 135; 239,7 139; 240,1 132. Philo, De somniis I,23 202. Philo, De virtutibus II,404 202. Raschi zu Gen 31,39 156. Tossafot zu bShevu 8a 156. Tossafot zu bYev 109b 136. Saadia, Emunot we Deot VII 200. Salomo Ibn Gabirol, Schir ha-Jichud 44.

Jüdische Autoren Amemar 58 Albo, Joseph, Sefer ha-Ikkarim I,9 202; IV,30 201; IV,30,31,33–35 201; IV,33 203; IV,35 200; IV,40 198; IV,40,41 199; V 161. Heskuni, Kommentar zu Gen 1 62. Ibn Esra zu Gen 1,1 62; 189–190. Jehuda Hallewi, Kusari I,115 199, 200. Josephus, Antiquitates Judaicae XVIII,1,3 202; XVIII,1,5 202; XVIII,2 202; XVIII.,1,4 202. Josephus, De Bello Judaico II,8,11 202; VIII,5 200.

223

Sach- und Personenindex

Aberglauben 76, 80, 189 Abraham 56, 137, 139, 150, 189 Adam 164 Adonai 63, 65 Ägypter 49, 79, 127, 166, 198, 205 ägyptische Gefangenschaft 33, 34, 41, 49, 115, 117, 127 Ahriman 58, 79, 153 Ahron 200 Akiba 124 Albo, Joseph 50, 161, 198, 199, 200, 201, 202, 203 Almosen 121, 128 Altertum 40, 59, 66, 72, 81, 87 Alting, Jakob 38 Anaxagoras 81 Antisemitismus 89 Apokryphen 34, 200, 202 Arbeit 34, 35, 51, 56, 89, 113, 121, 122, 123, 166, 172 Aristoteles 65, 87, 121 Armut 85, 98, 99, 117, 118, 121, 122, 127, 128, 130, 183, 208 Asaph 50 Askese 32, 122 Ästhetik 87, 88, 122 Atheismus 69, 71, 72, 79, 81, 82, 83, 84, 85, 101, 206 Athen 81 Attribute Gottes 43, 44, 45, 46, 47, 50, 53, 54, 57, 108, 187 – Allgegenwart 54 – Allgüte 64, 66, 84, 187 – Allliebe 54, 77, 78, 116 – Allmacht 36, 44, 45, 54, 59, 60, 61, 63, 157, 164, 171, 187 – Allwissenheit 44, 45, 54, 158, 176, 186, 187 – Einheit 31, 32, 33, 40, 42, 44, 45, 53, 54, 56, 59, 60, 61, 77, 78, 79, 81, 195 – ewige Existenz 53, 77 – Geist 54 – Langmut 45, 132 – Unendlichkeit 53, 54, 109, 186 – Unkörperlichkeit 53, 54 – Vollkommenheit 47, 54, 114, 115, 134 Auferstehung 200, 201, 202 Aufklärung 93 Auserwähltheit 115, 119, 163, 166

Bescheidenheit 35, 38, 56, 109 Bestechung 117 Betrug 117 Bibel 38, 53, 57, 58, 64, 66, 70, 86, 89, 159, 164, 177, 196, 197, 201, 202 Bildung 31, 35, 36, 37, 38, 39, 41, 42, 48, 56, 58, 98, 123, 138, 139, 175, 176, 184 Bileam 200 Billigkeit 96 Brahmanismus 79, 152, 153 Browning, Elizabeth Barrett 123 Bruno, Giordano 81 Buddhismus 79, 205 Buße 45, 49, 131 Chaldäer 205 Chava 164 Christentum 79, 81, 82, 89, 125, 127, 128, 129 Coccejus, Johannes 38 Coleridge, Samuel Taylor 125 Dämonen 137 Darwin 65, 66, 205 David 43, 96, 97, 125, 150, 151, 152 Debattenkultur 35 Debora 124 Deismus 57, 69, 72 Demut 38, 50, 109, 122, 123, 126, 128, 140, 190, 206 Diesseits 50, 51, 52, 65, 67, 68, 91, 108, 110, 113, 114, 115, 131, 137, 138, 144, 149, 159, 183, 195, 197, 198, 201, 202 Ditheismus 78 Dogmen 72, 82, 89, 199 Döllinger, Johann Joseph Ignaz von 129 Drusius, Johannes 38 Dualismus 58, 72, 137, 152, 163, 171 Duclos, Charles Pinot – Considérations sur les murs de ce siècle 130 Eden 136, 165, 166, 202 Egoismus 55, 72, 95, 96, 97, 107, 108, 109, 110, 111, 116, 117, 120, 126, 130, 153, 176 Ehe 99, 124 Ehrfurcht 116, 133, 140, 142 Eid 84, 99, 141, 142, 143, 144 Elasar 128 Elias 38 Elieser 128, 140 Elohim 59, 66, 154

Bar Chanina 38, 43 Barmherzigkeit 33, 35, 93 Bechaja 59 Bergpredigt 123

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Anhang Emerson, Ralph Waldo 206 Empirie 36, 66, 77, 82, 95, 165, 169, 170, 174, 175, 181, 183, 205 Engel 60, 93, 110, 112, 133, 163, 164, 202 Epikorsim 59 Erbarmen 31, 33 Erbsünde 160, 164 Esau 60, 61 Essäer 202 Esther 124 Ethik 35, 38, 44, 45, 46, 47, 52, 64, 65, 66, 67, 86, 87, 88, 89, 113, 133, 153, 162, 166, 173 – das Böse 45, 50, 52, 57, 58, 66, 75, 79, 85, 90, 91, 93, 98, 100, 104, 117, 126, 127, 128, 133, 134, 135, 136, 137, 140, 144, 145, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 162, 163, 164, 165, 166, 179, 183, 184, 201 – das Gute 41, 45, 52, 54, 57, 58, 64, 66, 67, 68, 79, 83, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 91, 93, 95, 98, 113, 114, 115, 121, 123, 126, 130, 131, 133, 137, 138, 140, 145, 150, 154, 155, 164, 165, 166, 174, 176, 179, 183, 184, 197, 200, 202, 207 – Ethisierung 44, 45 – Sittengesetz 39, 71, 114, 118, 186, 189 – Sittenlehre 35, 52, 118, 119 – talmudische 35 – Tugenden 31, 34, 36, 42, 46, 47, 49, 51, 70, 71, 87, 109, 113, 114, 115, 116, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 128, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 145, 150, 151, 154, 155, 179, 186, 188, 208 Eudämonismus 130, 131 Ewigkeit 61, 62, 66, 109, 111, 182, 187, 196, 197, 198 Exil 56 Ezechiel 49 Familie 31, 35, 113, 141, 182 Fatalismus 69, 70, 71, 158 Feindesliebe 33, 77, 81, 85, 124, 127, 128 Fiske, John 207 Forschen 35, 36, 195 Fortschritt 114 Frauen 124, 125 Freiheit 33, 34, 41, 44, 46, 56, 118, 155, 158, 164, 169, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 179, 181, 182, 183, 184, 186, 187, 188 Fremdenliebe 33, 50, 52, 117, 118, 120, 127 Friedensethos 34, 39, 51, 52, 92, 93, 99, 108, 111, 141 – Schwerter zu Pflugscharen 34 Friedrich III., österreichischer Kaiser 38 Frömmigkeit 51, 150, 156, 163 Gamaliel 38 Gamliel 62 Gehinnom 202 Geist 32, 35, 40, 45, 50, 56, 60, 63, 65, 66, 69, 70, 71, 88,

90, 92, 93, 107, 109, 110, 112, 136, 151, 153, 154, 155, 157, 158, 164, 174, 184, 188, 190, 195, 196, 197, 199 Geiz 126 Gemara 35 Gemeinwohl 118, 173, 174 Gerechtigkeit 33, 34, 35, 39, 43, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 77, 78, 79, 84, 85, 91, 96, 100, 120, 122, 127, 128, 139, 151, 160, 163, 184, 205, 207 Gesellschaft 31, 33, 34, 35, 36, 39, 69, 71, 75, 76, 98, 99, 100, 103, 113, 121, 141, 143, 145, 180 Gesetz der Kausalität 40, 42, 44, 53, 60, 76, 78, 81, 82, 83, 99, 137, 169, 170, 171, 172, 175 Gewalt 33, 34, 67, 68, 140, 153, 155, 156, 157, 158, 162, 163, 173, 175, 176 Gewissen 78, 84, 90, 91, 92, 95, 129, 139, 140, 165, 183, 184, 192 Glauben (im Judentum) 35, 43, 44, 45, 56, 59, 69, 70, 72, 76, 77, 78, 81, 84, 85, 90, 92, 93, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 128, 129, 137, 154, 184, 188, 189, 197, 199, 200, 201, 204, 205, 206, 208 Gleichheit 32, 33, 34, 56, 117 Glückseligkeit 51, 130, 156, 197 Gnade 47, 78, 84, 93, 112, 116, 121, 122, 134, 151, 164 Gnostizismus 202 Goethe 67, 72 Gottebenbildlichkeit 31, 32, 33, 39, 41, 65, 94, 115, 120, 154, 164, 166, 188, 195, 196, 199 Gottesbeweise 44, 76, 77, 83, 84, 170 Gotteserkenntnis 34, 36, 40, 43, 44, 52, 76, 77, 94, 96, 115, 116, 118, 119 Gottesidee 31, 42, 44, 48, 54, 75, 76, 113, 115, 187 Götzendienst 34, 46, 48, 56, 57, 80, 138, 142, 144, 188, 189, 198 Griechen 66, 72, 79, 81, 82, 88, 118, 202, 205 Grundlehren des Judentums 34, 45–48, 77, 108, 115 Hagada 38 Halacha 38, 113, 159 Handel und Gewerbe 34 Hass 33, 68, 81, 85, 118, 119, 123, 126 Hebräisch 38 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 83 Heidentum 37, 40, 41, 42, 56, 59, 79, 80, 81, 82, 87, 88, 92, 116, 152, 154, 155, 156, 158, 177, 196, 205 Heiligkeit 32, 34, 54, 77, 78, 91, 93, 113, 114, 120, 126, 134, 141, 155, 163 Heiligung 32, 114, 143, 162, 166 Hellenismus 67, 68, 79, 81, 82, 87, 88 Hieronymus 38 Hillel 33, 38, 108, 123, 134, 139 Hinduismus 79 Hiob 101, 150, 160, 163, 199 Hochmut 35, 38 Hölle 183, 197

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Sach- und Personenindex Höre, Israel 31, 56 Hulda 124 Humanität 90, 91, 92, 93 Hume, David 170 Ibn Esra 155, 156, 161, 189 Idealismus 156 Inder 66, 72 Isak 56 Islam 79 Jakob 38, 41, 56, 60, 61, 101, 204 Jamnia 49 Jehuda 36, 37, 45 Jenseits 51, 70, 114, 131, 134, 144, 145, 159, 197, 198, 200, 201, 202, 203 Jeremia 49 Jerobeam 134, 136 Jerusalem 33, 49, 136 Jeschaja 182 Jesus 79, 81, 89, 129, 132 Jethro 125 Jobeljahr 34, 50 Jochanan 45, 50, 140 Jochanan ben Sakai 49 Jona 178 Jonathan 97, 163 Joseph 75, 96, 98, 120, 158, 183, 200, 201, 204 Josephus 200, 202 Judentum 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 50, 53, 54, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 63, 65, 68, 70, 72, 76, 78, 79, 80, 81, 82, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 96, 113, 115, 118, 119, 120, 122, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 136, 141, 142, 143, 149, 150, 152, 158, 164, 177, 178, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 196, 202 Judentum-Christentum 129, 132, 134, 138, 177 Jupiter 205 Kabbala 138 Kant, Immanuel 44, 54, 83, 86, 114, 133, 136, 170, 187 – Kategorischer Imperativ 131 Kaufmann, David 43 – Geschichte der Attributenlehre von Saadja bis Maimuni 43 Kimchi 163 Klugheit 91, 92, 111, 130 Kohelet 183 Konfuzianismus 79 Kosmogonie vgl. Schöpfung 53, 66, 67 Kosmologie 64, 65 Kosmos 61, 62, 65, 153, 156 Krieg 34, 51, 99, 118, 141 Kritizismus 133 Krug, Wilhelm Traugott 132, 135, 136, 137, 138

La Harpe, Jean-François de – Lycée ou Cours de littérature 130 Lecky, William Edward Hartpole 124, 125 Lehre vom Staat 46 Leibniz 187 Leiden 149, 150, 151, 163 Lessing, Gotthold Ephraim 206 Levita, Elias (auch Elijahu ben Ascher ha-Levi) 38 Liebe 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 43, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 70, 71, 72, 90, 93, 95, 96, 97, 108, 115, 116, 117, 118, 131, 133, 136, 139, 141, 150, 151, 177, 178, 197 Loans, Jacob Ben Jechiel 38 Longfellow, Henry Wadsworth 123 Lüge 108, 141, 142, 143, 144 Maimonides 35, 44, 45, 46, 49, 51, 77, 121, 122, 131, 134, 135, 143, 201, 202, 203 – More Nebuchim 44 Manichäer 137 Märtyrer 31, 50 Materialismus 69, 70, 71, 83, 169, 186, 200, 201, 205 Materie 45, 53, 70, 71, 154, 171, 174, 195, 196 Menasse ben Israel 38, 199 Mendelssohn, Moses 35, 39, 206 – Jerusalem 136 Menschenwürde 32, 113, 132, 165 Menschheit 32, 33, 40, 42, 51, 52, 54, 56, 57, 66, 72, 78, 81, 82, 84, 86, 88, 98, 99, 100, 102, 109, 115, 119, 125, 143, 145, 150, 152, 163, 177, 178, 182, 184, 190, 196, 197, 204 – Geschichte 36, 51 Messianismus 42, 51, 52, 77, 197 Midrasch 35, 135, 139, 143 Mill, John Stuart 120 Minim 59 Miriam 124 Mischna 35, 36, 38, 109, 156, 158, 202, 203 Mitleid 33, 118 Monismus 61, 156 Monotheismus 33, 56, 57, 59, 60, 61, 79, 80, 82, 88, 197 Montpellier 38 Moral 31, 34, 35, 41, 51, 55, 64, 79, 84, 86, 94, 96, 97, 98, 99, 100, 103, 111, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 130, 137, 201 Mord 81, 117, 128, 144, 157, 159, 161, 180, 182, 184 Mosaismus 69, 72, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 161, 162, 197, 202 Mose ben Nachman 191 Moses 34, 35, 39, 45, 46, 48, 56, 66, 69, 77, 81, 83, 96, 113, 118, 119, 123, 125, 133, 134, 139, 152, 154, 160, 161, 179, 198, 199, 200 Moses ben Maimon vgl. Maimonides 35 Nachsicht 183 Nächstenliebe 33, 34, 35, 39, 50, 56, 76, 78, 85, 89, 99,

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Anhang 100, 108, 112, 116, 117, 118, 121, 127, 134, 142, 144, 145, 183, 205, 206, 207 – Rea 39 Natur 36, 40, 41, 44, 53, 56, 57, 59, 60, 61, 64, 66, 72, 78, 87, 88, 91, 92, 94, 111, 136, 149, 152, 153, 154, 155, 162, 164, 165, 166, 169, 170, 171, 173, 174, 175, 176, 179, 181, 182, 188, 195, 202, 203 Naturalismus 79, 156 Naturwissenschaft 41, 64, 78, 82, 100, 101, 153, 159, 188 Naturzustand 155, 165, 166 Nefesch 65 Neid 101, 117, 126, 128, 153 Nephesch 154 Neschama 65 Newton 187 Nichtisraeliten 33, 38, 178 Nichtwissen 58, 77, 78, 83, 102, 182, 186, 187, 190, 195, 196, 204 Ninive 178 Offenbarung 41, 42, 43, 45, 46, 48, 52, 54, 56, 77, 78, 84, 86, 88, 89, 90, 95, 102, 134, 154, 165, 197, 198, 205 Offenbarung am Sinai 41, 46, 49, 56, 80 Olymp 79 Opfer 49, 158, 162 Optimismus 122 Origenes 38 Ormuzd 58, 79, 153 Osiris 153, 205 Ovid 54 Palästina 36 Pantheismus 44, 57, 79, 153 Parsismus 58 Patriotismus 35 Persien 57, 58, 72, 205 Pessimismus 122 Pflanzen 33, 61, 64, 65, 170 Pflichten 33, 78, 84, 86, 89, 100, 107, 108, 113, 116, 117, 118, 121, 122, 124, 125, 126, 127, 128, 132, 135, 141, 142, 152, 165, 173 Pharisäer 127, 129, 202 Philippson, Ludwig 54, 199 Philo 200, 202 Philosophie 38, 39, 40, 43, 76, 77, 81, 82, 83, 84, 87, 122, 125, 130, 187, 203 – Attributenlehre 43, 44, 45 – Metaphysik 44, 53, 82, 205 – Stoff/Materie 31, 61, 62, 77, 78, 79, 82, 83, 84, 101, 153, 187, 206, 207 – Substanz 43, 203 Platon 200 Plutarch 125

Polytheismus 79, 80 Portugal 70, 129 Propheten 34, 37, 39, 48, 49, 50, 51, 60, 111, 139, 141, 144, 177, 178 – Amos 48 – Hosea 50 – Jecheskel 49, 139, 160 Psalmen 34, 50, 52, 76, 100, 121, 123, 124, 126, 149, 151, 187 Rabbinismus 159, 161 Rache 31, 35, 51, 52, 129 Raschi 156 Raub 117, 181 Raum und Zeit 31, 34, 35, 38, 41, 42, 44, 49, 51, 53, 57, 61, 71, 81, 108, 110, 169, 170, 171, 187, 196, 198, 201 Recht 31, 32, 33, 34, 36, 43, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 54, 67, 97, 117, 118, 130, 136, 137, 139, 140, 141, 162, 175, 183, 186, 189 Redefreiheit 35 Reichtum 99, 118, 121 Reinheit 120, 126 Reuchlin, Johannes 38 Reue 69, 135, 136, 165, 166, 174, 177 Rohling, August 85 Römer 72, 79, 81, 118, 125, 205 Rosch Haschana 138 Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals 126 Ruach 65 Ruskin, John 126 Russell, John, Viscount Amberley 126 Russland 85 Saadja 43, 44 Sabbat 49, 50, 59, 118, 125, 189, 190 Sadducäer 201, 202 Safra 142 Salerno 38 Samuel 96, 149, 188 Satan 67, 137, 138, 158, 163, 164 Scaliger, Joseph Justus 38 scheol 199, 202 Schlange 164, 166 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 81 Schofarblasen 138 Schöpfung 31, 32, 44, 49, 53, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 68, 77, 78, 79, 82, 91, 95, 120, 125, 154, 157, 158, 162, 169, 182, 184, 188, 195, 196, 207, 208 – Erhaltung 63 – Zweckmäßigkeit 53, 155, 174 Secharja 107 Seele 33, 40, 41, 46, 49, 53, 65, 67, 70, 86, 87, 90, 91, 92, 93, 107, 108, 111, 113, 115, 116, 149, 151, 155, 173, 175, 180,

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Sach- und Personenindex 181, 190, 191, 192, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203 Selbstmord 41, 69, 70, 71, 72, 100 Seligkeit 90, 91, 93, 114, 145, 149, 150, 203 Shakespeare 124, 129 – Shylock 129 Sidgwick, Henry 127 Simlai 59 Sinnlichkeit 41, 68, 113, 130, 137, 138, 174, 200, 203 Sirach 35 Sittlichkeit 31, 32, 34, 41, 44, 46, 47, 70, 91, 93, 94, 95, 96, 113, 114, 115, 118, 130, 192, 195 Skeptizismus 69, 70, 71, 72, 205, 206 Sklaverei 34, 50, 118, 135 Sokrates 81, 87, 88 Solidarität 33, 169 Spanien 129 Spencer, Herbert 83 Spinoza 81, 83 Staat 95, 108, 118, 119, 141 Stoa 46 Stoecker, Adolf 85 Stolz 122, 126 Strafe 46, 51, 76, 77, 78, 131, 136, 142, 143, 150, 159, 161, 162, 199, 201, 203 Sünde 37, 41, 45, 49, 51, 93, 103, 108, 109, 116, 117, 120, 124, 126, 135, 136, 138, 139, 140, 144, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 177, 181, 182, 183, 185, 188, 191 Sündenfall 164 Talmud 31, 32, 35, 36, 37, 38, 39, 41, 43, 45, 46, 48, 50, 56, 57, 58, 70, 114, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 190, 191, 192, 202 Talmudismus 161, 162 Theismus 82, 83 Theogonie 67 Theokratie 56, 118, 119 Theologie 54, 64, 65, 66, 75, 76, 77, 78, 79, 82, 191 Thora 34, 37, 50, 59, 62, 64, 65, 66, 70, 120, 121, 152, 198 Tiere 33, 61, 64, 65, 83, 92, 96, 117, 118, 124, 125, 126, 128, 158, 162, 170, 173, 178, 184 Tob 67, 68 Tod 41, 58, 61, 65, 69, 70, 71, 76, 104, 111, 127, 132, 134, 140, 144, 150, 161, 177, 179, 184, 185, 198, 199, 200, 201 Torquemada, Tomás de 85 Trinität 44, 72, 79 Universalismus 31, 32, 39, 56, 58, 76, 78, 86, 87, 88, 99, 102, 116, 177

Universalreligion 87 Unrecht 88, 117, 183, 199 Unsterblichkeit der Seele 41, 70, 76, 77, 78, 114, 121, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 204, 205, 206, 207, 208 Verantwortung 69 Vergebung 93, 124, 135 Verleumdung 35, 117, 142, 144, 183 Vernunft 40, 43, 57, 94, 98, 130, 131, 132, 133, 134, 140, 165, 170, 173, 174, 187, 189, 190, 196, 198, 199 Versöhnung 49, 51, 61, 91, 93 Verstand 47, 71, 78, 82, 99, 101, 102, 103, 104, 122, 170, 205, 206, 208 Vossius, Gerhard Johannes 38 Wahrhaftigkeit 42, 56, 141, 142, 144 Wahrheit 31, 32, 34, 39, 41, 42, 43, 56, 60, 61, 63, 70, 86, 92, 108, 117, 136, 141, 142, 156, 158, 159, 166, 177, 180, 186, 187, 203 Waisen 117, 118 Weisheit 36, 37, 38, 45, 62, 91, 92, 93, 109, 110, 111, 151, 197, 200, 202 Willensfreiheit 44, 47, 57, 69, 70, 91, 93, 113, 131, 134, 135, 154, 155, 156, 157, 164, 165, 169, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 179, 180, 181, 182, 184, 186, 187, 188, 191, 197 Wirtschaft 50, 117, 128 Wissen 35, 36, 37, 38, 43, 44, 110, 182 Wissenschaft 36, 37, 38, 64, 72, 77, 78, 82, 100, 102, 199, 205, 206 Wissenschaften 38, 98 – Astronomie 38, 39 – Botanik 38, 39 – Juden in den 38 – Kosmographie 39 – Mathematik 38 – Medizin 38, 39 – Sprachkunde 38 Witwen 117, 118, 120 Wohlfahrt 36, 141, 198 Wohltätigkeit 35, 51, 56, 121, 128, 129 Wucher 117, 128 Young, Edward – Night Thoughts 133 Zedaka 50, 51 Zehnworte 34, 41, 46, 48, 49, 76, 84, 126, 154, 159, 160, 189 Zeremonialgesetz 49, 137 Zeus 88 Zoroaster 78, 79, 125

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Zum Editionsprojekt Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts: Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft

Die Begriffe Staat, Nation, Gesellschaft bezeichnen zentrale Themenfelder, zu denen sich deutsch-jüdische Autoren – als Juden – seit der Aufklärung und während des gesamten 19. Jahrhunderts schriftstellerisch äußerten. An die deutsche Mehrheitsgesellschaft gewandt, skizzierten sie zutiefst engagiert und in beispielloser Breite und Vielfalt die sozialethischen Grundlagen, auf denen ein demokratisches Deutschland erstehen sollte, als Beispiel für Europa und die Welt. Sie bekräftigten damit mit großem Nachdruck das Jahrtausende gewachsene, ethische Erbe des Judentums selbst, das in diesem Deutschland endlich anerkannt und zu neuem Leben erweckt werden sollte. Adressat waren die christlichen Hierarchien und die zumeist repressiv eingestellten bürgerlichen Eliten und Obrigkeiten in Deutschland. Nicht zuletzt mit dem Schlagwort vom ‚christlichen Staat’ sperrten diese sich gegen die politische und soziale Gleichberechtigung der Juden bis weit ins wilhelminische Kaiserreich. Damit aber wurde der ursprünglich theologische Antijudaismus säkularisiert und institutionalisiert. Viele deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts haben dagegen die christliche Seite an die Übernahme der jüdischen Ethik schon durch das frühe Christentum erinnert und bestimmten in der jüdischen Vision der gerechten Gesellschaft das Projekt der Moderne. Vor dem Hintergrund der Debatte um Differenz und Konvergenz zwischen Judentum und Christentum plädierten sie für das Zusammenrücken von Judentum und Christentum um das Zentrum der gemeinsamen Ethik, für die gemeinsame Arbeit an der neuen Gesellschaft und für die universalistische Vollendung der ethischen Mission der monotheistischen Schwesterreligionen. In diesem Zusammenhang unternahmen es viele deutschjüdische Autoren des 19. Jahrhunderts, insbesondere die ethischen und sozialethischen Anschauungen des Judentums zu erläutern. Dabei stellten sie die Jahrtausende gewachsene ethische Tradition des Judentums in unmittelbare Beziehung zur modernen Wertedebatte, insbesondere zur Vereinbarkeit von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Schon vor 1871 und erst recht danach ignorierte die deutsche Mehrheitskultur, insbesondere aber auch die deutsche akademische Geschichtsschreibung, diese visionären Beiträge. Gershom Scholem prangerte 1962 die in Deutschland über viele Generationen wirksame Dialogverweigerung der jüdischen Minderheit gegenüber an und bezeichnete den gesellschaftspolitischen Diskurs deutscher Juden als „bedeutendes Phänomen“, dessen Analyse er anmahnte. Daran anknüpfend hat ein interdisziplinäres Team des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung und des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen eine solche Analyse im Rahmen eines diskurshistorischen Forschungsprojekts (2005–2006) unternommen, wobei zwischen 1848 und

1871 publizierte Schriften untersucht wurden. Die Ergebnisse wurden im folgenden Band veröffentlicht: Michael Brocke, Margarete Jäger, Siegfried Jäger, Jobst Paul, Iris Tonks: Visionen der gerechten Gesellschaft. Der Diskurs der deutsch-jüdischen Publizistik im 19. Jahrhunderts. Böhlau Verlag, Köln 2009 Die vorliegende Edition Deutsch-Jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts. Schriften zu Staat, Nation, Gesellschaft basiert konzeptionell und hinsichtlich der Textauswahl auf dem erwähnten Forschungsprojekt. Die Herausgeber wollen wichtige deutsch-jüdische Autoren des 19. Jahrhunderts zu Wort kommen lassen, in der Hoffnung auf eine heutige kulturelle und gesellschaftliche Rezeption, die ihnen in Deutschland so lange verwehrt war. Der gemeinsame Online-Dokumentenserver Deutsch-Jüdische Publizistik des Salomon L. Steinheim-Instituts in Duisburg und des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung entsteht parallel unter der permanenten Internet-Adresse: http://www. deutsch-juedische-publizistik.de