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German Pages 316 Year 2012
Medialität und Menschenbild
Media Convergence/ Medienkonvergenz
Edited on behalf of the Research Unit Media Convergence of Johannes Gutenberg-University Mainz (JGU) by Stefan Aufenanger, Dieter Dörr, Stephan Füssel, Oliver Quiring and Karl Renner
Herausgegeben im Auftrag des Forschungsschwerpunkts Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) von Stefan Aufenanger, Dieter Dörr, Stephan Füssel, Oliver Quiring und Karl Renner
Volume/Band 4
Medialität und Menschenbild Herausgegeben von Jens Eder, Joseph Imorde und Maike Sarah Reinerth
ISBN 978-3-11-027596-4 e-ISBN 978-3-11-027617-6 ISSN 2194-0150 Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston. Typesetting: Medien Profis GmbH, Leipzig Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die Idee zum vorliegenden Band entstand im Rahmen des Workshops „Medium Menschenbild“, den wir 2011 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ausrichten konnten. Die Veranstaltung bildete damals nach längeren Vorarbeiten den Auftakt für den interdisziplinären Forschungszusammenhang „Menschenbilder in Medien, Künsten und Wissenschaften“, der sich mit mehreren Tagungen, einer Website (http://www.menschenbild.org) und einem wachsenden Netzwerk aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern seitdem kontinuierlich weiterentwickelt hat. Wir freuen uns, das Projekt mit dem Buch Medialität und Menschenbild um einen weiteren Baustein ergänzen zu können. Am Zustandekommen dieses Vorhabens war eine Reihe von Menschen und Institutionen beteiligt, denen wir an dieser Stelle unseren Dank aussprechen möchten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops „Medialität und Menschenbild“ sowie der beiden 2012 in Wien und Siegen abgehaltenen Folgeveranstaltung „Menschenbilder in der Populärkultur“ haben die Diskussion durch inspirierende Vorträge und Gespräche bereichert. Dem Forschungsschwerpunkt „Medienkonvergenz“ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz danken wir für die großzügige Unterstützung unseres Projekts und die Aufnahme des Bandes in die Reihe. Bettina Neuhoff vom Verlag De Gruyter hat uns mit Expertise und viel Geduld betreut, auch dafür ein herzliches Dankeschön. Darüber hinaus haben Freunde und Kollegen unsere Arbeit als kritische Leser durch Kommentare und Korrekturen vorangebracht. Ein ganz besonderer Dank geht an Daniel Bund und Felix Kirschbacher – ihre sorgfältigen Überarbeitungen und klugen Anmerkungen waren für das Gelingen dieses Buches von großem Wert. In der Endphase wurden sie vorbildlich unterstützt von Nadine Strauß und David Becker, Katharina Orthey hat die englischsprachigen Abstracts redigiert. Ihnen allen gilt unser uneingeschränkter Dank. Jens Eder, Joseph Imorde und Maike Sarah Reinerth
Inhalt Jens Eder, Joseph Imorde und Maike Sarah Reinerth Zur Einleitung: Medialität und Menschenbild 1
Teil 1: Geist und Körper Maike Sarah Reinerth It’s Human Nature Zur Darstellung der Psyche im Kino am Beispiel der Filme Michel Gondrys 45 David Keller Sich selbst verraten im Bild des Anderen Zur medialen Modellierung von Menschenbildern in ‚projektiven‘ Testverfahren 67 Franziska Bork Petersen „Do you really feel like the outside matches the inside?“ Der authentische Körper im Wandel der Zeit 85
Teil 2: Medialität und Transmedialität Sebastian Armbrust Serielle Perspektiven auf Patienten und Ärzte Körper, Psyche und Sozialität in Dr. House 103 Felix Schröter und Jan-Noël Thon Simulierte Spielfiguren und/oder/als mediale Menschenbilder Zur Medialität von Figurendarstellungen am Beispiel der Computerspielfigur 119 Andreas Rauscher Deconstructing Darth Transmediale Unmenschenbilder in der Star Wars-Saga
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Inhalt
Teil 3: Menschenbilder und kulturelle Kontexte Daniel Hornuff Der Spektakelfötus Zur Bildgeburt des Ungeborenen
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Clea Catharina Laade Positionen zum Menschenbild im ersten Darmstädter Gespräch und in der Ausstellung Das Menschenbild in unserer Zeit 183 Ivo Ritzer Barbaren|Bilder Mythische Repräsentationen des prähistorischen Menschen im Film Jörg Scheller Philanthrokapitalheroismus Der Unternehmer im Superheldenfilm
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Teil 4: Neue Menschen Helen Barr „Das Gesicht unserer Zeit!“ Anmerkungen zum Menschenbild in der Reklame illustrierter Zeitschriften der 1920er Jahre 237 Uta Bittner Das Menschenbild im Zeitalter des biotechnischen Enhancement Philosophische Reflexionen 252 Julia Inthorn Die Debatte um ästhetische Chirurgie als Ort konkurrierender Menschenbilder 271 Sven Stollfuß Menschmaschinen und die Ränder des Monströsen Entwürfe postbiologischer Körper in Wissenschaft, Medienkunst und Populärkultur 283 Autorinnen und Autoren Sachwortregister
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Jens Eder, Joseph Imorde und Maike Sarah Reinerth
Zur Einleitung: Medialität und Menschenbild Abstract: This introduction situates the contributions to the anthology in a more general theoretical framework. It starts from an interdisciplinary survey of research on the relations between media, images, and ideas about human nature. The assumption is that ideas about the human are of crucial importance for selfunderstanding and social behavior, and that media and their images constantly shape, influence and change those ideas on individual as well as collective levels. Drawing on research from psychology and other disciplines, 'Menschenbilder' (images/conceptions of human nature) are described as complex, changing, cultural, historical, and often contradictory systems of ideas about allegedly essential properties of the human. The media are related to those ideas, propositions, or mental images of the human in various ways: (1) the specific mediality, form or use of a certain medium may suggest a Menschenbild; (2) Menschenbilder of media producers may be expressed; (3) the single media text or textual genres may convey Menschenbilder on several levels of aesthetics and meaning, e.g. by way of aesthetic forms, verbal expression, characters and their constellation, narrative/rhetoric/interactive structure, motifs, symbols, more abstract themes or messages; (4) and all of this interacts with the Menschenbilder of media users and their meta-discourses. Based on those conceptual clarifications, the essay turns to different kinds of impact that media images of human nature may have in culture and society.
Medien formen, verbreiten und verändern Menschenbilder. Von der steinzeitlichen Löwenmensch-Skulptur bis zum transhumanistischen YouTube-Video drücken sich in Medien wechselnde, nicht selten wertende und konflikthafte Vorstellungen über ‚das Wesen des Menschen‘ aus, über dessen Körper, Geist, Sozialität und Transzendenz, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, seine Verhältnisse zu Gottheiten, Tieren und Dingen. Der Mensch erscheint als Mängelwesen oder Krone der Schöpfung, Gotteskind oder Zufallsgeschöpf, als gut oder böse, formbar oder unverbesserlich. Dabei reagieren Medienproduktionen nicht nur auf Alltagskontexte und Forschungsergebnisse, sondern beeinflussen beides – durch Geschichten, die sie erzählen, Bilder, die sie verbreiten, und Emotionen, die sie auslösen. Ihre spezifischen Eigenschaften, ihre charakteristische Medialität, prägen individuelle und kollektive Vorstellungen darüber, was den Menschen ausmacht.
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Angesichts dessen sind wir aufgefordert, uns die Kontingenzen und die mediale Bedingtheit von Menschenbildern – nicht zuletzt unserer eigenen – bewusst zu machen. Denn Menschenbilder sind ihrerseits Grundlagen des Denkens, Handelns und Kommunizierens. Sie beeinflussen Entscheidungen und Pläne, Werte und Normen, Gefühle und Gesetze. Immer wieder führen sie zu Konflikten zwischen einzelnen Personen oder sozialen Gruppen, die medial ausgefochten werden. In Zeitung, Fernsehen und Internet prallen Menschenbilder verschiedener Kulturen und Subkulturen, Parteien und Religionen aufeinander: Gläubige gegen Atheisten, Biologisten gegen Kulturalisten, Rechte gegen Linke, Emos gegen Metalheads. In der Fachliteratur streiten Juristen über Menschenrechte, Philosophen über das Leib-Seele-Problem und Neurowissenschaftler über die Willensfreiheit. Architekten nehmen Maß am menschlichen Körper, Werbespots und Illustriertencover entwerfen Schönheitsideale, die von Aktivisten kritisiert werden, und Science Fiction-Filme stellen Technik-Euphorikern düstere Visionen einer posthumanen Zukunft voller Mutanten und Androiden entgegen. Dass Medien Menschenbilder nicht nur vermitteln, sondern auch konstruieren, zeigen prägnant die bildgebenden Verfahren der Medizintechnik, die Unsichtbares sichtbar machen und neuartige Mikro- und Innenbilder des Körpers hervorbringen, vom Röntgen bis zum Brainscan. Nicht selten ist mit dem Wandel von Medien auch ein Wandel von Menschenbildern verbunden. All dies bedeutet: Um Menschenbilder zu verstehen, muss man Medien verstehen – die spezifischen Dispositive, Formen und Potenziale unterschiedlicher Einzelmedien, aber auch deren Zusammenwirken in Mediensystemen und transmedialen Konstellationen. Die Beiträge dieses Bandes untersuchen die Zusammenhänge von Medialität und Menschenbild aus der Perspektive mehrerer geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Anhand aussagekräftiger Beispiele veranschaulichen sie die medienspezifische Konstruktion und Vermittlung von Menschenbildern. Sie beschäftigen sich unter anderem mit Körperbildern und Subjektivitätsdarstellungen in Film und Computerspiel, mit Krankheit in Fernsehserien, mit bildbasierten Tests der Psychologie, mit Idealen und Ängsten der Illustrierten-Werbung, mit Mediendebatten über Malerei und ästhetische Chirurgie, mit Föten, Barbaren, Superhelden, Superschurken und Cyborgs. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass Menschenbilder einerseits transmediale, mehrere Einzelmedien übergreifende Konstrukte sind: Sie werden nicht durch ein Medium allein geformt, sondern durch das Zusammenwirken vieler Medien. Andererseits aber sind die konkreten Manifestationen von Menschenbildern durch die Besonderheiten einzelner Medien geprägt, und die Eigendynamiken von Mediensystemen tragen zur Veränderung von Menschenbildern wesentlich bei. Der vorliegende Band konkretisiert und präzisiert diese grundsätzlichen Annahmen. Er liefert nicht zuletzt Argumente und Anschauungsmaterial dafür,
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dass explizite sprachliche Aussagen, etwa in Wissenschaft oder Journalismus, nur einen Teil der medialen Vermittlung von Menschenbildern ausmachen, und vielleicht nicht den größten. Denn Menschenbilder gelangen wesentlich auch durch Bilder im engeren Sinn, durch visuelle nicht-sprachliche Zeichen, zum Ausdruck, zur Aushandlung und zur Auswirkung. Dabei müssen diese Bilder keineswegs getrennt sein von gesprochener oder geschriebener Sprache, sind sogar meist eng mit ihr verflochten, ob in Film oder Fernsehen, Printmedien oder Internet. Bilder und ihre Kombinationen mit anderen semiotischen und sinnlichen Formen – darunter auch Geräusch, Musik, direkte oder virtuelle Interaktion, schauspielerische Aufführung oder skulpturale Darstellung – sind aber erheblich schwerer zu fassen als rein sprachliche Ausdrucksformen. Zu ihrem Verständnis bedarf es der Beschreibung, Übersetzung und Versprachlichung. Dazu beizutragen, ist ein Ziel des Buchs. Was den vorliegenden Band in seiner Zielsetzung mit früheren Publikationen¹ verbindet, ist der Versuch, das Forschungsfeld vorläufig abzustecken, Wissensinseln zu schaffen, einzelne Mosaikteile zu einem größeren Gesamtbild zu verbinden und damit den Diskurskosmos der medialen Menschenbilder etwas weiter zu erschließen. Im Mittelpunkt stehen dabei Bildmedien der modernen Populärkultur und der Alltagskultur (einschließlich medizinischer Praktiken) von etwa 1900 bis zur Gegenwart. Um die ästhetische und inhaltliche Bandbreite medialer Menschenbilder anzudeuten, entfaltet das Buch eine thematisch gegliederte Auswahl anschaulicher, möglichst unterschiedlicher Fallbeispiele. Dabei widmen sich die Beiträge zum einen diversen inhaltlichen Aspekten von Menschenbildern: Sie untersuchen die kultur-, zeit- und medienspezifische Darstellung von Körper, Psyche und Sozialität ‚des Menschen‘ sowie die Entwürfe verschiedener Phasen, Typen und Ideale menschlicher Existenz. Zugleich fächern sie ein breites Spektrum von Medien- und Bildformen auf: Gegenstände der Untersuchung sind Zeitungen, Illustrierte, Gemälde, Grafiken, Sonografien, Fotografien, Filme, Fernsehserien, Computerspiele, Websites, Performances und transmediale Franchises. Diese Bandbreite medialer Formen und Inhalte lädt die Leserinnen und Leser auch zu weiterführenden Vergleichen ein, die im beschränkten Raum dieser Publikation nicht geleistet werden können.
1 Vor allem Van Dülmen, Richard (Hrsg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Wien u. a.: Böhlau 1998; Barsch, Achim u. Peter M. Hejl (Hrsg.): Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellungen von der menschlichen Natur (1850–1914). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000; sowie Keck, Annette u. Nicolas Pethes (Hrsg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: Transcript 2001; siehe auch den folgenden Forschungsüberblick in dieser Einleitung.
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Im Folgenden versuchen wir, das Themenspektrum der Beiträge in einer allgemeineren Grundlage zu verankern und Verbindungen zwischen ihnen aufzuzeigen. (1) Zunächst gilt es, den Menschenbild-Begriff zu klären und einen vorläufigen Überblick über die Forschung zu Menschenbildern zu gewinnen. (2) In einem zweiten Schritt wird das Verhältnis zwischen Menschenbildern und Medien, ihre Medialität und Transmedialität, genauer betrachtet. Nach einem Blick auf (3) die soziokulturellen Kontexte medialer Menschenbilder stellen wir (4) die Beiträge und ihre thematischen Schwerpunkte kurz vor.
1 „Menschenbilder“: Begriff und Forschungsstand Wer von Menschenbildern spricht, legt seiner Rede unweigerlich bestimmte Annahmen zugrunde – in unserem Fall etwa die, dass Bilder des Menschen Konstruktionen sind, die auf ihre Konstituenten hin befragt werden können. Wenn dies zutrifft, lassen sich Menschenbilder in ihrer spezifischen Welthaltigkeit erforschen: als Produkte kultureller Setzungen und „ihrer Übersetzungen in diskursive und mediale Repräsentationen“², die wiederum Funktionen in religiösen und politischen, ethischen und juristischen, kollektiven und persönlichen Kontexten erfüllen. In ihrer medialen Manifestation legen solche Repräsentationen dann nicht nur Ansichten über die Verfasstheit des Menschen offen, sondern bringen zugleich die sich wandelnden Dispositive seiner Darstellbarkeit zur Anschauung. Anders gesagt: Indem man Medien und ihre Inhalte oder Texte³ untersucht, kann man nicht nur Rückschlüsse auf die Menschenbilder von Mediennutzern, Autoren und Adressaten ziehen, sondern auch darüber reflektieren, welchen Einfluss Medien und die mit ihnen jeweils verbundenen Praktiken, Techniken, Funktionen, Konventionen, Darstellungsmuster, ästhetischen Formen, strukturellen und ökonomischen Eigendynamiken auf die Gestaltung von Menschenbildern ausüben.
2 Keck, Annette u. Nicolas Pethes: Das Bild des Menschen in den Medien. Einleitende Bemerkungen zu einer Medienanthropologie. In: Keck/Pethes: Mediale Anatomien. S. 9–32, hier S. 10. 3 Mit „Texten“ sind hier im semiotischen Sinn „komplexe, aber formal begrenzte, kohärente und (als Ganze) kommunikative, kulturell kodierte Zeichenäußerungen“ jeder Art gemeint, also nicht nur sprachliche Texte, sondern beispielsweise auch Bilder oder Filme (Mosbach, Doris: Bildermenschen – Menschenbilder. Exotische Menschen als Zeichen in der neueren deutschen Printwerbung. Berlin: Berlin Verlag 1999. S. 73).
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„Menschenbild“ ist allerdings ein problematischer und umstrittener Begriff. Schon seine fremdsprachigen Äquivalente sind nicht einfach zu bestimmen. Im Englischen und Französischen werden beispielsweise verschiedene komplexere Ausdrücke verwendet, unter anderem die Wendungen „image of human nature“ beziehungsweise „image de l’être humain“, aber auch eine Reihe weiterer Konstruktionen, die sich semantisch nie völlig decken.⁴ Das mag dazu beitragen, dass die Forschung zu Menschenbildern in anderen Sprachräumen noch stärker zersplittert ist als im deutschsprachigen Raum. Vor allem aber begibt man sich mit dem Begriff des Menschenbildes ganz grundsätzlich in einen epistemologischen, im besten Fall hermeneutischen Zirkel: Man kann sich dem Gegenstand nicht nähern, ohne selbst Menschenbilder vorauszusetzen oder zu produzieren, also selbst zu vereinfachenden Bildern für einen komplexen Phänomenbereich zu greifen. Die Erforschung medialer Menschenbilder setzt daher die Fähigkeit zu methodischer Offenheit, interdisziplinärer Perspektivenübernahme und heuristischer Geschmeidigkeit voraus. Das hat mit der Vielgestaltigkeit der kursierenden Bilder zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass sich Menschenbilder in den Medien nicht als Konstanten beschreiben lassen. Wie die Medien selbst unterliegen sie einer permanenten Veränderung, sind zeitgebunden und wandelbar, tauchen auf, verschwinden wieder, sind volatil, modisch oder epidemisch. Zwar konfrontieren Medien auch mit vorgeblich unwandelbaren Menschenbildern in ihrer Darstellung und Darreichung wissenschaftlicher Axiome, religiöser Dogmen, politischer Verfassungen oder juristischer Gesetze. Den meisten dieser Regelwerke liegen scheinbar unverrückbare Bilder des Menschen zu Grunde, Definitionen der menschlichen Natur oder menschlicher Handlungsspielräume, die sie in gesellschaftlichen Feldern oder globalen Kontexten durchzusetzen suchen. Die Festschreibung solcher scheinbar selbstverständlichen Menschenbilder kommt dabei nicht ohne Abgrenzungen und Antagonismen aus, sie wird durch Darstellungen des Nicht-, Un-, Unter- oder Übermenschlichen, des Animalischen, Monströsen, Außerirdischen, Technischen oder Maschinellen konturiert. Doch haben solche Bestimmungen ihre eigene Historizität; Vorstellungen vom Menschen wie Bilder des Nichtmenschlichen unterliegen dem geschichtlichen Wandel. Einige Beiträge dieses Bandes⁵ untersuchen die damit angesprochene
4 Die Rede ist im Englischen neben „images“ auch von „assumptions“, „ideas“, „theories“, „concepts“ oder „models“ und neben „human nature“ auch von „humanity“, „human condition“, „human race“, „human“ oder „man“. Im Französischen finden sich Varianten wie „conception de l’homme“, „de la nature humaine“ oder „théorie de l’homme“. 5 Insbesondere die Texte von Franziska Bork Petersen, Helen Barr oder Sven Stollfuß.
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Dialektik von ideologischer Setzung und medialer Übersetzung, von idealer Konstanz und realer Varianz. Die methodologische Herausforderung solcher Untersuchungen ist bereits am Wort selbst ablesbar, dem Kompositum „Menschenbild“. Der Wortbestandteil „Mensch“ scheint auf Ganzheit, Wesen und Sinn gerichtet zu sein, also eine umfassende Bedeutung und Erklärung einzufordern, um die sich unter anderem die philosophische Anthropologie bemüht. Dagegen wird mit dem Wort „Bild“ in all seinen Bedeutungen eine Reduktion beschrieben, eine Vermitteltheit und Differenz aufgerufen, die sowohl äußere, materielle Bilder (pictures) als auch innere, perzeptuelle oder mentale Bilder (images) betrifft, sowohl grafische, optische als auch sprachliche Bilder.⁶ In all diesen Sinnen deutet „Bild“ auf eine Konstruktion hin, die dem komplexen Ganzen, das im Wort „Mensch“ anklingt, mit Vereinfachungen beizukommen sucht. Bilder sind, wie alle Zeichenkomplexe, in ihrer Medialität per se reduktiv und perspektivisch. Im Bild geben sich das Gemachte, die Ansicht, das mit dem Abgebildeten zwangsläufig Nicht-Identische eine Form, die für eine komplexere Wirklichkeit einstehen und sie modellieren soll. Zudem sind Bilder in Handlungszusammenhänge eingebunden und werden in ihnen wirksam – in Analogie zu „Sprechakten“ (im Sinne Austins und Searles⁷) wird von „Bildakten“⁸ gesprochen, von Bild-Handlungen. So wirkt das Reduktive des Bildes auf dessen Benutzer zurück, etwa als moralische Weisung, Verzichtsaufforderung, religiösidealistische Selbstverneinung oder Norm kontinuierlicher Selbstverbesserung im Streben nach Schönheit oder anderen Idealen. Begriff und Bild des Menschen tragen zwar den Anspruch auf die Summe aller menschlichen Möglichkeiten mit sich, doch ist dem Bild zugleich das Momentane, Einseitige, Oberflächliche, Forcierte, Ideale, das vermeintlich Authentische oder Artifizielle, das Malerische, Filmische oder Televisuelle, das Simulierte oder Ludische, das Medizinische oder Biotechnische, das Religiöse oder Politische – kurz und buchstäblich: das Ikonologische und Ideo-logische – stets eigen und eingeschrieben. Dabei sind Bilder gebunden an Medien, die sie hervorbringen, darstellen, formen, verbreiten, verändern oder speichern.
6 Vgl. zu diesen Unterscheidungen Mitchell, William J. Thomas: What Is an Image? In: New Literary History, Bd. 15, Nr. 3, Image/Imago/Imagination (1984). S. 503–537. 7 Austin, John L.: How to Do Things With Words. Oxford: Oxford University Press 1962; Searle, John: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge: Cambridge University Press 1969. 8 Vgl. die Arbeiten der Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“. Website: http:// bildakt-verkoerperung.de/ (19.06.2012).
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Diese Verhältnisse offen zu legen, zu erkennen und zu erklären, erfordert umfassende medien-, kunst- und kulturwissenschaftliche Kontextualisierungen. Zu untersuchen ist, wie die oft rhetorisch organisierten Reduktionen des Menschen in seinen Bildern medial und ideologisch verfasst sind. Das heuristische Problem des Begriffs eröffnet sich aber erst vollständig, wenn verstanden wird, dass Menschenbilder sich ohne Reduktionen gar nicht verfertigen, denken und ausdrücken lassen. Die Rede über den Menschen braucht Vereinfachungen, Abstraktionen; auch die wissenschaftliche Annäherung kommt nicht ohne Dualismen aus und kann nicht von Synthesen lassen, braucht, um überhaupt zu Aussagen zu finden, Bilder, die unfassbarer Komplexität das Greif- und Verstehbare entgegensetzen und ein menschliches Sprechen und Bilden erst erlauben. Der Begriff „Menschenbild“ mag also problematisch und begründungsbedürftig erscheinen, auch in weiteren Hinsichten. Ist er nicht altmodisch, metaphorisch und ungenau? Beruht er nicht auf fragwürdigen Voraussetzungen, einem überkommenen Humanismus, Speziesismus, Ethno- oder Anthropozentrismus? Widerspricht er nicht der Komplexität von Wirklichkeit und Wissenschaft? Suggeriert er nicht eine Einheitlichkeit ‚des Menschen‘, wo es angesichts kultureller Differenzen⁹ keine geben kann? Ist das, was naiv für den Menschen gehalten wurde, nicht längst im Übergang zum Posthumanen begriffen oder wurde schon immer nur fälschlich von Tieren und Dingen abgegrenzt?¹⁰ Kann man nicht mit Michel Foucault „wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand?“¹¹ Sollte man es also vielleicht lieber halten mit Niklas Luhmann: „Menschenbilder, sowas Grausliches. Also der Mensch interessiert mich nicht“?¹² Solche Positionen haben ihre bedenkenswerten Gründe, doch wir möchten uns hier mit Entschiedenheit für den Menschenbild-Begriff einsetzen. Denn zum
9 Vgl. z. B. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, mit einem Nachwort von Michael Kauppert. Frankfurt: Suhrkamp 2011 (Originalausgabe: Par-delà nature et culture. Paris: Gallimard 2005). 10 Man denke etwa an die Ausweitung des Aktantenstatus auf Dinge in der Actor-NetworkTheorie oder an Donna Haraways Beiträge zur Problematisierung der Grenzen zwischen Menschen, Tieren und Maschinen (eine gute Auswahl einschlägiger Aufsätze bietet: Haraway, Donna: The Haraway Reader. New York/London: Routledge 2004). 11 So der letzte Satz in: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980 (Originalausgabe: Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966). 12 Huber, Hans Dieter: Interview mit Niklas Luhmann am 13.12.90 in Bielefeld. In: Texte zur Kunst 1/4 (1991). S. 121–133. Online verfügbar unter: http://www.hgb-leipzig.de/artnine/ huber/aufsaetze/luhmann.html (15.05.2012).
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einen kommen auch seine Gegner nicht ohne implizite Menschenbilder aus. Ist Foucaults Entwurf des Menschen als „Gesicht im Sand“ etwa kein Bild?¹³ Basiert Luhmanns Konzept der „kognitiven Systeme“ nicht auf einer Vorstellung vom Menschen als kybernetischer Maschine (geht es doch letztlich um die kognitiven Systeme von Menschen, nicht Mäusen)? Und sind nicht gerade kulturwissenschaftliche Forschungsrichtungen wie die Animal Studies oder die Actor Network Theory, die einem Anthropozentrismus kritisch gegenüberstehen und sich ausdrücklich Tieren oder Dingen als Forschungsgegenständen zuwenden, besonders zu einer Auseinandersetzung mit möglicherweise problematischen Vorstellungen vom Menschen aufgefordert? Zudem entkommen Versuche, den Begriff des Menschenbildes durch alternative Fachtermini zu ersetzen, keineswegs den angedeuteten Problemen. Diese Termini klingen vielleicht präziser als „Menschenbild“, sind es bei genauerer Betrachtung jedoch nicht. So ist der oft verwendete Ausdruck „anthropologisches Wissen“¹⁴ nicht nur mit notorischen Problemen des Wissensbegriffs verbunden¹⁵, sondern darüber hinaus rekursiv und reduktiv: Schließlich impliziert das Beiwort „anthropologisch“ einen Rückbezug auf „den Menschen“ („Anthropos“) und enthält zudem die fragwürdige Konnotation, das betreffende „Wissen“ sei im Wesentlichen durch Wissenschaft („Logos“, „Anthropologie“) entstanden. Aus solchen Gründen gehen wir erstens davon aus, dass der Begriff „Menschenbild“ beibehalten werden sollte, da er sich auf sinnvolle Weise explizieren lässt, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Zweitens halten wir ihn für besonders gut geeignet, um die wissenschaftliche Forschung pragmatisch an die Alltagssprache und an gesellschaftliche und politische Debatten anzuschließen. Journalisten, Politikerinnen oder Kirchenvertreter sprechen eben nicht von „anthropologischem Wissen“, sondern von „Menschenbildern“. Und drittens sehen wir – mit Annette Keck und Nicolas Pethes – den Vorzug, dass der Begriff
13 Mehr noch: Selbst von Foucault geprägte Forscher gestehen inzwischen ein, dass seine Prophezeiung, der Mensch werde (als epistemische Einheit) verschwinden, in absehbarer Zeit wohl nicht eintreffen wird; vgl. Rabinow, Paul: Anthropos Today. Reflections on Modern Equipment. Princeton: Princeton University Press 2003. S. 14. 14 Etwa bei der Bochumer Mercator Research Group „Räume anthropologischen Wissens“, http://www.ruhr-uni-bochum.de/mrg/knowledge/index.html.de (19.06.2012). 15 Zwar verstehen manche wissenssoziologischen Ansätze unter „Wissen“ oder „Episteme“ beliebige Meinungssysteme, doch klingt stets die in Philosophie und Alltagssprache tief verankerte Konnotation des „justified true belief“, der gerechtfertigten wahren Meinung, durch. Vgl. dazu etwa Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK 2007, darin insbesondere Anacker, Michael: Das Erkenntnisproblem und der Wissensbegriff in der philosophischen Tradition. S. 353–374.
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„Menschenbild“ „sowohl das ikonische wie das symbolische Selbstverständnis des Menschen umfasst und zudem andeutet, wie auf beiden Seiten besonders der metaphorische Gehalt von anthropologischen Mediendiskursen zu Buche schlägt“.¹⁶ Das heißt, mediale Menschenbilder sind nicht nur „Bilder“ im Sinn ikonischer wie symbolischer Zeichen, sie sind häufig auch bildhaft verfasst im Sinn rhetorischer Tropen, etwa Allegorien, Metaphern oder Metonymien. Wer beim Begriff des Menschenbildes bleiben möchte, ist allerdings aufgefordert, die zuvor genannten Probleme zu berücksichtigen, also zu klären, was denn unter Menschenbildern genau zu verstehen ist und welche allgemeinen Strukturen sie aufweisen. Erstaunlicherweise trägt die Philosophie, traditionell zuständig für Begriffsklärungen, zur Bestimmung des Menschenbild-Begriffs und seiner Äquivalente bisher nur wenig bei. Die Philosophische Anthropologie und andere Ansätze fragen direkt nach dem Menschen (und produzieren damit selbst eine Fülle inhaltlich differenzierter Menschenbilder¹⁷), der Begriff „Menschenbild“ wird dabei aber nicht expliziert und kaum reflektiert. Manche philosophische Schriften, etwa die Foucaults, unterziehen zwar die Episteme, das „Wissen“ und die „Diskurse“ der Humanwissenschaften und des Humanismus einer radikalen Kritik¹⁸, allerdings kommt auch dabei der Terminus „Menschenbild“ nicht zur Sprache. In den meisten anderen Disziplinen bleibt er ebenfalls unterbelichtet. So konzentrieren sich etwa Wissenschaftshistoriker wie Roger Smith auf die geschichtliche Konstruktion wissenschaftlicher Annahmen über den Menschen, klammern jedoch eine systematische Reflexion über Form und Strukturen dieses „Wissens“ sowie über dessen Verbindungen zur Alltagspraxis weitgehend aus.¹⁹ Alltagsannahmen über den Menschen scheinen sich in dieser Perspektive oft mehr oder weniger direkt aus der wissenschaftlichen Forschung zu ergeben – eine durchaus zweifelhafte Voraussetzung, die den Einfluss von populären Mediendiskursen, Alltagserfahrungen oder direkter Eigen- und Fremdwahrnehmung auf die Konstruktion von Menschenbildern vernachlässigt. Innerhalb anderer Disziplinen bildet sich hingegen langsam ein Konsens über die Verwendung des Terminus „Menschenbild“ heraus, der uns plausibel erscheint, weil er einerseits strukturelle Aussagen über Menschenbilder enthält, andererseits aber spezifische inhaltliche Festlegungen soweit wie möglich zu ver-
16 Keck/Pethes: Bild, S. 21. 17 Vgl. etwa Grawe, Christian, Ralf Konersmann et al.: Mensch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hrsg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 5. Basel: Schwabe 1980. S. 1094–1105. 18 Vgl. Foucault: Ordnung. 19 Smith, Roger: Being Human. Historical Knowledge and the Creation of Human Nature. New York: Columbia University Press 2007.
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meiden sucht. Geklärt wird vor allem der Wortbestandteil „Bild“, während der Bestandteil „Mensch“ relativ offen bleibt und nur durch Cluster möglicher oder alternativer Eigenschaftsfelder vorsichtig umrissen wird. Die überzeugendsten dieser tentativen Definitionen stammen bisher aus der Literaturwissenschaft und der Psychologie. Aus einer konstruktivistischen Sicht bestimmen die Literaturwissenschaftler Achim Barsch und Peter M. Hejl Menschenbilder als mentale Gebilde einer bestimmten Art: als weitgehend implizite „Vorstellungssysteme“ oder „konzeptuelle Netzwerke aus Annahmen über menschliche Merkmale“²⁰. Diese Netzwerke bilden eine „Grundlage unseres Selbstverständnisses und jeder bewussten Gestaltung unseres Soziallebens“²¹, entwickeln sich als „Ergebnis sozialer Wirklichkeitskonstruktionen und ihrer Viabilisierung in verschiedenen Praxen“²², sie sind daher soziokulturell kontingent und veränderlich. Beispielsweise kam es Barsch und Hejl zufolge im 19. Jahrhundert aufgrund gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Umbrüche zu einer „Pluralisierung des Menschenbildes“, der Mensch erschien nun unter anderem als evolutionär entstandenes Lebewesen und physikochemisches System.²³ Die Arbeiten von Psychologen wie Jochen Fahrenberg oder Rolf Oerter stimmen mit einer solchen Begriffsbestimmung weitgehend überein und liefern Material zu ihrer Vertiefung. Fahrenberg fasst seine konzeptuellen Überlegungen folgendermaßen zusammen: Das Menschenbild ist ein individuelles Muster von grundsätzlichen Überzeugungen, was der Mensch ist, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele sein Leben haben sollte. […] Diese Annahmen über den Menschen gehören zur Alltagspsychologie. Das Menschenbild kann als adaptive Konstruktion von Wissen über sich und andere Menschen verstanden und empirisch untersucht werden.²⁴
Menschenbilder haben also nicht nur deskriptive, sondern auch normative Aspekte, sie betreffen nicht nur den Menschen, wie er war, ist oder sein wird, sondern auch, wie er sein sollte. Dabei bleibt in formaler Hinsicht offen, wie die betreffenden Vorstellungen, Annahmen, Überzeugungen mental repräsentiert sind – ob sie etwa sinnlich-konkreter („bildhafter“), modellförmiger oder propositional-abstrakter Art sind. Es wird auch nichts darüber gesagt, wie eng
20 Barsch, Achim u. Peter M. Hejl: Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Einleitung. In: Dies.: Menschenbilder, S. 7–90, hier S. 11. 21 Ebd., S. 7. 22 Ebd., S. 14. 23 Ebd., S. 64ff. 24 Fahrenberg, Jochen: Annahmen über den Menschen. Menschenbilder aus psychologischer, biologischer, religiöser und interkultureller Sicht. 2. Auflage. Kröning: Asanger 2008. S. 11.
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und konsistent der Zusammenhang der Vorstellungen ist (wir würden eher von einem losen, in sich teils selbstwidersprüchlichen Gebilde ausgehen). In inhaltlicher Hinsicht bleibt weitgehend offen, durch welche Merkmale Menschen sich auszeichnen. Zwar setzen selbst derart weite und formale Begriffsbestimmungen schon erste Vorannahmen über Menschen voraus: dass es sie gibt, dass sie Vorstellungen von sich selbst haben usw. Diese Vorannahmen scheinen uns aber so allgemein und so wenig strittig, dass man sie im wissenschaftlichen Diskurs gut rechtfertigen kann. Sie zwingen auch keineswegs dazu, den MenschenbildBegriff durch Theorien des Humanismus einzuengen, auf Konzepte wie „anthropologisches Wissen“ zu verzichten oder kritische Überlegungen zu den Humanwissenschaften, etwa im Anschluss an Foucault, auszuschließen.²⁵ Ganz im Gegenteil: Auf der Grundlage eines solchen Verständnisses von Menschenbildern als Vorstellungssystemen – historisch und kulturell variablen Geweben aus abstrakten oder anschaulichen Vorstellungen über ‚allgemein menschliche‘ Eigenschaften – lassen sich genauere Aussagen über deren Entstehung und über das Spektrum ihrer möglichen Inhalte treffen. Fahrenberg zählt zu diesen Inhaltsaspekten von Menschenbildern unter anderem Abgrenzungen zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt (etwa Natur, Gottheiten, Tiere oder Dinge) sowie Annahmen über die psychophysische Konstitution des Menschen (z. B. Leib-Seele-Problem, Gesundheit, Lebenszyklen), über charakteristische Grundeigenschaften (z. B. Vernunft, Empathiefähigkeit oder Aggressivität), über das Sozialleben (z. B. Beziehungen, Gruppenzugehörigkeiten), über Werte und Moral, über den Sinn des Lebens, über Religion und Metaphysik (z. B. Jenseitsvorstellungen).²⁶ Derartige ‚Inventare‘ menschlicher Eigenschaftsfelder – über die sich durchaus diskutieren lässt – erleichtern es, Forschungsarbeiten zu den einzelnen Feldern miteinander in Verbindung zu bringen. Inhaltliche Aspekte von Menschenbildern haben auch andere Psychologen wie Lawrence Wrightsman²⁷ oder Rolf Oerter²⁸ theoretisch konzeptualisiert und empirisch untersucht. So entwickelte Wrightsman eine „Philosophies of Human Nature Scale“ als faktorenanalytisches Instrument für die Befragung von Pro-
25 Anknüpfen ließe sich hier etwa an theoretische Arbeiten von Paul Rabinow (z. B. Rabinow: Anthropos.) 26 Fahrenberg: Annahmen, insbesondere S. 281. 27 Wrightsman, Lawrence S.: Assumptions about Human Nature. Implications for Researchers and Practitioners. 2. Aufl. London: Sage 1992. 28 Oerter, Rolf: Menschenbilder im Kulturvergleich. In: Kulturvergleichende Psychologie Bd. 1: Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie. Enzyklopädie der Psychologie. Hrsg. von Gisela Trommsdorff u. Hans-Joachim Kornadt. Göttingen: Hogrefe 2007. S. 487–530.
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banden, um herauszufinden, für wie vertrauenswürdig, willensstark, rational, altruistisch, unabhängig, komplex und wandelbar sie Menschen halten.²⁹ Oerter zufolge umfassen Menschenbilder implizite Alltagstheorien der Persönlichkeit, der Sozialität sowie grundlegender Handlungs- und Denkformen. Im Vergleich zu Wrightsman und Fahrenberg konzentriert sich der Entwicklungspsychologe jedoch stärker auf die individuelle Entstehung von Menschenbildern. Die Alltagstheorien, aus denen Menschenbilder sich zusammensetzen, bilden sich demzufolge in der individuellen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen über drei Stufen heraus: Zunächst werden Menschen vor allem als Akteure in der konkreten Interaktion wahrgenommen, dann als Träger psychischer Eigenschaften und auf weiteren Ebenen als Inhaber individueller, kollektiver und soziokultureller Identitäten.³⁰ In Anlehnung an Gerhard Schulzes „Modell der abgestuften Kollektivitätsgrade“ kann man davon ausgehen, dass dieses individuell erworbene „Wissen“ einerseits „einen vollkommen singulären Bereich“ enthält, andererseits aber auch „kollektive Komponenten“ „auf unterschiedlichen Niveaus der Allgemeinheit: Weltwissen, Kulturwissen, Milieuwissen, Gruppenwissen, bis hin zu dyadischem Wissen“.³¹ So widmet sich Fahrenberg ausführlicher der Tatsache, dass Menschenbilder nicht nur in Alltagspraktiken, sondern auch in wissenschaftlichen Disziplinen, also mit dem Anspruch kollektiver Verbindlichkeit, konstruiert, reflektiert und diskutiert werden. Über die von Foucault genannten „Humanwissenschaften“³² hinausgehend, versteht er „Anthropologie“ als „Oberbegriff für alle vom Menschen handelnden Disziplinen mit den Teilgebieten der Philosophischen Anthropologie und der Theologischen Anthropologie sowie allen empirischen Disziplinen der Anthropologie.“³³ Zu diesen empirischen Disziplinen rechnet er die Naturgeschichte des Menschen, die Biologische Anthropologie, die Physiologische und Medizinische Anthropologie, die Ethnologie, die Kulturanthropologie, die Sozialanthropologie, die Historische Anthropologie, die Psychologische
29 Im Original: Trustworthiness, Strength of Will and Rationality, Altruism, Independence, Complexity und Variability (Wrightsman: Assumptions, S. 80–111). Selbstverständlich steht auch hinter solchen Befragungsinstrumenten wiederum ein bestimmtes Menschenbild. 30 Oerter: Menschenbilder. 31 Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 7. Auflage. Frankfurt a. M./New York: Campus 1997. S. 224. 32 Foucault behandelt in Die Ordnung der Dinge zum einen Biologie, Sprachwissenschaft und Ökonomie als allgemeine Wissenschaften vom Menschen, zum anderen Soziologie, Psychologie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Ethnologie und Psychoanalyse als empirische Humanwissenschaften (Foucault: Ordnung). 33 Fahrenberg: Annahmen, S. 267.
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Anthropologie sowie die Anthropologien der Literatur- und Kunstwissenschaften. All diese Wissenschaften (die Medienwissenschaft berücksichtigt er noch nicht) streben danach, Wissen über den Menschen hervorzubringen. Den genannten Definitionen zufolge sind Menschenbilder nicht zu verwechseln mit spezifischeren Vorstellungen über bestimmte Arten von Menschen, die etwa durch Zugehörigkeit zu bestimmten Kulturen, Ethnien, Geschlechtern, Identitäten, Persönlichkeitstypen, Klassen oder sozialen Gruppen näher gekennzeichnet wären. Menschenbilder sind demgegenüber allgemeiner, abstrakter und umfassender. Ihr stillschweigender, universalistischer Anspruch besteht darin, für alle Arten von Menschen zu gelten. So stehen Menschenbilder zwar in enger Verbindung mit spezifischeren Annahmen: Zum Menschenbild bestimmter Zeiten, Kulturen und Medien mag die Vorstellung gehören, dass Menschen immer genau zwei Geschlechtern oder bestimmten „Rassen“ zuzuordnen seien; es mag Annahmen über die Beziehungen von „Herrenmenschen“ zu „Untermenschen“ enthalten, die entrechtet, misshandelt und ermordet werden dürfen. Die Grenzen, Einengungen und Binnengliederungen von Menschenbildern und ihre Verhältnisse zu bestimmten Menschengruppen sind daher äußerst wichtige Untersuchungsgegenstände. Gerade deshalb sollten Vorstellungen über „den Menschen im Allgemeinen“ aber nicht mit Vorstellungen über bestimmte Arten und Gruppen von Menschen verwechselt werden. Letztere haben sich in den Kultur- und Medienwissenschaften bereits vollkommen zu Recht als wesentlicher Forschungsgegenstand etabliert, etwa in Arbeiten über soziale Stereotypisierung, in der feministischen Theorie, in den Cultural, Postcolonial, Queer oder Gender Studies. Systematische Forschungsansätze zu allgemeinen Menschenbildern in den Medien fehlen dagegen bisher noch weitgehend, obwohl diese ebenfalls konkrete Konsequenzen ideologischer und politischer Art mit sich bringen. Wenn es gelänge, dieses vernachlässigte Gebiet konsequent zu erschließen, eröffneten sich neue Möglichkeiten der Erkenntnis. Beispielsweise könnte man latente Spannungen zwischen den allgemeinen Menschenbildern einer Kultur und deren Bildern bestimmter Menschengruppen (etwa Frauen- und Männerbildern) sichtbar machen. Auf der Grundlage eines allgemeinen Wissens über Menschenbilder ließen sich auch die Vielfalt von Arbeiten, welche die Medialität einzelner Aspekte der menschlichen Existenz tiefenschärfer untersuchen, etwa Gesichter³⁴ oder ‚das Böse‘³⁵, leichter zueinander in Bezug setzen. Und schließlich ist die Untersuchung allgemeiner Menschenbilder auch ein Feld, auf dem
34 Vgl. etwa Weigel, Sigrid (Hrsg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen. München: Fink 2012. 35 Vgl. etwa Faulstich, Werner (Hrsg.): Das Böse heute. München: Fink 2008.
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bisher unverbundene Forschungsrichtungen sich begegnen müssen, weil sie aufeinander angewiesen sind. Wenn man die vorhandene Forschung zu Menschenbildern mit etwas mehr Abstand aus einer interdisziplinären Perspektive betrachtet, fallen die Chancen und Desiderate noch deutlicher ins Auge. Der Diskurs zerfällt zunächst in zwei große Stränge. Vertreter des ersten Stranges – insbesondere Psychologen – verstehen Menschenbilder in erster Linie als mentale oder soziale Entitäten und reflektieren deren Verbindung mit Medien, ihre mediale Verfasstheit und Bedingtheit, nur selten und oberflächlich. Die am zweiten Diskursstrang Beteiligten, vorwiegend Medien- und Kulturwissenschaftler, konzentrieren sich dagegen auf mediale Menschendarstellungen, allerdings fehlen hier oft grundlegende anthropologische Konzepte, und es liegen bisher nur relativ wenige, weit verstreute Arbeiten zu allgemeinen Menschenbildern vor. Unserer Meinung nach wäre es sinnvoll, die beiden Diskursstränge und ihre Forschungsansätze zu medialen Menschenbildern stärker miteinander in Verbindung zu bringen. Im Folgenden bieten wir deshalb – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine knappe Synopse ausgewählter Forschungsbeiträge an. Dadurch soll zugleich das diffizile Verhältnis der ‚Inhalte‘ und ‚Formen‘ von Menschenbildern besser erkennbar werden. Wer sich für die veränderlichen und oft kontroversen Inhalte mentaler wie medialer Menschenbilder interessiert, findet innerhalb des ersten Diskursstrangs mittlerweile ein reichhaltiges Forschungsangebot. Ergebnisse vieler anthropologischer Disziplinen sind inzwischen in Handbüchern zusammengestellt worden. Den bisher wohl konzisesten Überblick bietet das Handbuch Anthropologie, das Positionen einiger ‚Klassiker‘ (von Kant bis Foucault) und neuere Ansätze (vom Behaviorismus bis zur Verhaltensgenetik) mit einer Diskussion von Grundbegriffen (von „Aggression“ bis „Zoon politikon“) zusammenbringt.³⁶ Hundert Überblicksartikel vor allem zur biologischen und historischen Anthropologie umfasst das Handbook of 21st Century Anthropology.³⁷ Ein etwas älteres Handbuch der historischen Anthropologie mit dem Titel Vom Menschen behandelt eine Vielfalt anthropologischer Konzepte innerhalb von übergreifenden Themenfeldern: Kosmologie, Welt und Dinge, Genealogie und Geschlecht, Körper, Medien und Bildung, Zufall und Geschick sowie Kultur.³⁸ Wissenschaftshistorische Arbeiten rekonstruieren die Entwicklung verschiedener Anthropologien und ihrer
36 Bohlken, Eike u. Christian Thies (Hrsg.): Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. Stuttgart/Weimar: Metzler 2009. 37 Birx, H. James: Handbook of 21st Century Anthropology. 2 Bände. New York u. a. 2010. 38 Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/ Basel: Beltz 1997.
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Forschungsthemen, etwa Körper und Charakter, Fortpflanzung und Vererbung, Gesundheit und Krankheit.³⁹ Die Philosophen Leslie Stephenson und David L. Haberman vergleichen Ten Theories of Human Nature, nämlich jene des Konfuzianismus, des Hinduismus, des Christentums sowie der Denker Platon, Aristoteles, Kant, Marx, Freud, Sartre und Darwin.⁴⁰ Nina Rosenstand geht dagegen von systematischen Fragen aus, die in Philosophie, Literatur und Film behandelt werden: Fragen nach der Abstammung des Menschen, nach Merkmalen wie Aggressivität, Egoismus, Werkzeuggebrauch, nach dem freien Willen, nach der Einteilung des Menschen in „Rassen“ und Geschlechter, nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist, nach Diesseits und Jenseits, Gut und Böse, Sozialität und Personalität.⁴¹ Zahlreiche Arbeiten vergleichen nicht gesamte Menschenbilder, sondern verschiedene ihrer Teilaspekte, etwa Bilder des Geistes⁴². Mehrere Einzeldisziplinen haben zudem Reflexionen über das Spektrum der eigenen, disziplinären Menschenbilder hervorgebracht. Vertreter der neueren Philosophischen Anthropologie und der Kognitionswissenschaften geben in einem Sammelband Auskunft über ihre Antworten auf die Kantische Frage: Was ist der Mensch?⁴³ In der Psychologie skizziert Fahrenberg die „Menschenbilder bekannter Psychologen und Psychotherapeuten“ wie Freud, Jung, Fromm oder Skinner⁴⁴, und Norbert Groeben und Egon Erb untersuchen die „Menschenbildannahmen in psychologischen Forschungsprogrammen“⁴⁵. Gerhard Schmied schließlich stellt soziologische Menschenbilder vor, die jeweils unterschiedliche Merkmale in den Vordergrund rücken, etwa Rationalität, Gefühl, Sozialität, Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit, Kultur oder Natur.⁴⁶
39 Z. B. Vienne, Florence u. Christina Brandt (Hrsg.): Wissensobjekt Mensch Humanwissenschaftliche Praktiken im 20. Jahrhundert. Berlin: Kadmos 2008. 40 Stevenson, Leslie u. David L. Haberman: Ten Theories of Human Nature. 4. Aufl. Oxford: Oxford University Press 2004. 41 Rosenstand, Nina: The Human Condition. An Introduction to Philosophy of Human Nature. Boston u. a.: McGraw-Hill 2002. 42 Exemplarisch genannt sei hier nur Hampden-Turner, Charles: Maps of the Mind. Charts and Concepts of the Mind and Its Labyrinths. London: Mitchell Beazley 1981. 43 Ganten, Detlev, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger u. Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Was ist der Mensch? Berlin: de Gruyter 2008. 44 Fahrenberg: Annahmen, S. 13–118. 45 Groeben, Norbert u. Egon Erb: Reduktiv-implikative versus elaborativ-prospektive Menschenbildannahmen in psychologischen Forschungsprogrammen. Problemskizze einer theoretischpsychologischen Anthropologie. Heidelberg: Universität, Psychologisches Institut 1991. 46 Schmied, Gerhard: Das Rätsel Mensch – Antworten der Soziologie. Opladen: B. Budrich 2007.
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Die genannten Forschungsansätze gehen allerdings auf die mediale Form und Vermittlung mentaler Menschenbilder kaum ein. Wer sich für die Zusammenhänge zwischen Medialität und Menschenbild tiefergehend interessiert, wird vor allem im Bereich der Medien-, Kunst-, Bild- und Literaturwissenschaften, der Wissenschafts- und der Kulturgeschichte fündig. Leider beschränken sich die verschiedenen Disziplinen dieses Bereichs bisher meist auf einzelne Medien oder semiotische Formen, es mangelt an medienkomparatistischen Perspektiven, die vorhandenen Forschungsansätze sind weit verstreut und überaus heterogen, ein Austausch zwischen ihnen steht noch aus. Ein kurzer Blick auf ausgewählte Arbeiten mag dies verdeutlichen. So hat sich innerhalb der Literaturwissenschaft ein Forschungsstrang zur „Literarischen Anthropologie“ herausgebildet, der bis in die 50er Jahre zurückreicht.⁴⁷ Hier betrachten Wissenschaftler beispielsweise die Literatur der Aufklärung als eine Form der Menschenkunde, die mit den Humanwissenschaften in Wechselwirkung steht⁴⁸; sie untersuchen literarische Zeugnisse einer „Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur“ im 19. Jahrhundert⁴⁹; oder sie wenden sich mit größerer Detailschärfe bestimmten Einzelaspekten literarischer Menschenbilder zu, etwa dem Einfluss der Psychoanalyse auf die Literatur des 20. Jahrhunderts⁵⁰. Während die Literaturwissenschaft sich mit sprachlichen Menschendarstellungen beschäftigt, werden innerhalb der Theaterwissenschaft Formen performativer, durch Schauspieler verkörperter Menschenbilder im historischen Wandel thematisiert, von der Conditio humana in antiken Tragödien bis zum ‚neuen Menschen‘ der Moderne und darüber hinaus.⁵¹ Im Fokus der Kunstgeschichte und Bildwissenschaft stehen dagegen Bilder im engeren Sinn. Neben zahlreichen Einzelstudien, etwa zu symbolischen Men-
47 Für einen Überblick vgl. Neumeyer, Harald: Literarische Anthropologie. In: Bohlken/Thies: Handbuch, S. 177–182. Eine Diskussion und diskursive Kontextualisierung verschiedener Publikationen bietet Anz, Thomas: Historische Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. In: literaturkritik.de Nr. 7 (2001), http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=3911 (21.06.2012). Die früheste Studie ist wohl Löwenthal, Leo: Literature and the Image of Man: Sociological Studies of the European Drama and Novel 1600–1900. Boston: Beacon Press 1957. 48 Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin: Akademie Verlag 2008. 49 Barsch/Hejl: Menschenbilder. 50 Anz, Thomas: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Ein Forschungsbericht und Projektentwurf. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Hrsg. von Karl Richter, Jörg Schönert u. Michael Titzmann. Stuttgart: Metzler und Poeschel 1997. S. 377–413. 51 Z. B. im Rahmen historiografischer Arbeiten wie Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. 2 Bände. Stuttgart: UTB 1990.
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schendarstellungen der christlichen und jüdischen Kunst⁵², fand hier vor allem Hans Beltings Entwurf einer „Bild-Anthropologie“ besondere Aufmerksamkeit.⁵³ Belting wendet sich einerseits den anthropologischen Grundlagen des Umgangs mit Bildern und dem Verhältnis zwischen Bild und Medium zu, andererseits der Rolle, die Bilder für die Formung und den Ausdruck von Vorstellungen über den Menschen spielen. Beides hält er für notwendigerweise gebunden an Darstellungen des menschlichen Körpers, „in denen sich der Mensch verkörpert und sein Rollenspiel betreibt“⁵⁴. Die Bildgeschichte des Körpers – von christlichen Ikonen über anatomische Modelle der Renaissance bis zu heutigen Digitalbildern – versteht Belting als eine „Beispielsammlung für die historische Dynamik des Menschenbilds, die dessen Instabilität beweist“⁵⁵. Innerhalb der Medienwissenschaft schließlich haben sich diverse Ansätze herausgebildet, die den Blick über einzelne Medien und Zeichenformen hinaus zu erweitern suchen, um Verallgemeinerungen, Zusammenhänge und Vergleiche zwischen Medien zu ermöglichen. Manchmal werden sie unter dem Begriff der „Medienanthropologie“ zusammengefasst. Annette Keck und Nicolas Pethes klären diesen mehrdeutigen Terminus⁵⁶ auf instruktive Weise, indem sie ihre eigene Verwendungsweise zunächst von anderen möglichen Bedeutungen abgrenzen: ‚Medienanthropologie‘ meint nicht die ethnologische Frage nach dem Umgang mit Medien im weiteren Rahmen der cultural studies. Ebenso wenig geht es um die Möglichkeiten der Anthropologie, sich der Massenmedien zur Verbreitung ihres Wissens zu bedienen. Und schließlich steht auch nicht die Frage nach der anthropologischen Formation von Medien zur Debatte, etwa hinsichtlich ihrer – zumeist ästhetischen – Inszenierungs- und Rezeptionsweisen.⁵⁷
In der Verwendungsweise von Keck und Pethes, der wir uns hier anschließen, untersucht die Medienanthropologie hingegen die „Rolle der Medien bei der Ausbildung von anthropologischen Modellen und anthropologischem Wissen“⁵⁸ – also Menschenbildern.
52 Vgl. z. B. Barasch, Moshe: Imago Hominis. Studies in the Language of Art. Wien: Irsa 1991. 53 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Fink 2001. 54 Ebd., S. 88. 55 Ebd., S. 94. 56 Das Changieren der Bedeutungen von „Medienanthropologie“ zeigt sich etwa in verschiedenen Beiträgen zu Sammelbänden wie Pirner, Manfred L. u. Matthias Rath (Hrsg.): Homo medialis. Perspektiven und Probleme einer Anthropologie der Medien. München: kopaed 2003. 57 Keck/Pethes: Bild, S. 17. 58 Ebd.
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Das Feld medienwissenschaftlicher Positionen, die sich dieser Frage der medialen Konstruktion und Vermittlung von Menschenbildern widmen, ist immer noch so weitläufig, dass nur beispielhaft eine Auswahl umfangreicherer Forschungsarbeiten genannt werden kann. Auf der einen Seite stehen Arbeiten, die vor allem der genauen Analyse, Interpretation und Kritik konkreter Medienangebote in ihren soziokulturellen Kontexten verpflichtet sind. Oft ist die Themensetzung bewusst auf einzelne Medien wie den Film oder auf bestimmte Bereiche der menschlichen Existenz eingeschränkt, etwa Schwangerschaft, psychische Krankheit, Klonierung, Tod oder Glück.⁵⁹ Dabei können detaillierte Einzelanalysen aber auch zu größeren Panoramen und Entwicklungsbögen zusammengefügt werden, beispielsweise entwerfen die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes Erfindung des Menschen gemeinsam einen historisch wie thematisch umfassenden Bogen der „Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000“.⁶⁰ Eine besondere Rolle bei der Analyse von Menschenbildern in Medientexten spielt die Darstellung von Figuren und anderen Akteuren. Menschenbilder manifestieren sich oft in Medienfiguren und werden durch sie verkörpert⁶¹; so versinnbildlicht etwa Alex in Kubricks A Clockwork Orange (1971) die Anlagen des Menschen in ihrer Spannung zwischen triebhafter Gewalt und ästhetischem Feinsinn, Willensfreiheit und Sozialkontrolle. Um die Strukturen, Entstehungs- und Funktionsweisen solcher exemplarisch vermittelter Menschenbilder zu verstehen, können unter anderem semiotische, strukturalistische oder kognitive Modelle der Figurenanalyse hilfreich sein.⁶² Sie machen darüber hinaus sichtbar, inwie-
59 Eine Vielzahl einschlägiger Arbeiten hat der Filmwissenschaftler Hans Jürgen Wulff auf seiner Website DerWulff.de veröffentlicht: http://derwulff.de/index. php?action=veroeffentlichungen (29.06.2012). Zur medialen Todesdarstellung siehe Missomelius, Petra (Hrsg.): ENDE – Mediale Inszenierungen von Tod und Sterben. Marburg: Schüren 2008 (=AUGENBLICK, Bd. 43); zur Glücksdarstellung siehe Thomä, Dieter, Christoph Henning u. Olivia Mitscherlich-Schönherr (Hrsg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2011. 60 Van Dülmen: Erfindung. 61 In unserem Band finden sich Studien exemplarischer Charaktere und ihrer medialen Formen beispielsweise in den Beiträgen von Sebastian Armbrust (Dr. House), Felix Schröter und Jan-Noël Thon (Computerspielfiguren), Andreas Rauscher (Darth Vader), Ivo Ritzer (Barbaren) oder Jörg Scheller (Superhelden). 62 Z. B. Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008; Eder, Jens, Fotis Jannidis u. Ralf Schneider (Hrsg.): Characters in Fictional Worlds. Berlin: de Gruyter 2010. Reinerth, Maike Sarah: Intersubjective Subjectivity? Transdisciplinary Challenges in Analysing Cinematic Representations of Character Interiority. In: Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology 6 (Autumn 2010/2011), http://cf.hum.uva.nl/ narratology/a11_reinert.htm (20.03.2012).
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fern der Konstellation von Figuren bestimmte Menschenbilder zu Grunde liegen oder welche Menschenbilder die rekurrenten Figurenkonzeptionen bestimmter Erzählformen, etwa des populären Mainstreamfilms, implizieren.⁶³ Als Mittel der konkret materialbezogenen Analyse helfen sie dabei, die Menschenbilder einzelner Medienproduktionen, Genres und Gattungen in ihren Details sichtbar zu machen und ihre Innovationskraft und Wirkungsmacht einzuschätzen. Sie lenken zudem die Aufmerksamkeit auf die Medienspezifik von Menschendarstellungen, etwa auf die Unterschiede zwischen Literatur, Film, Fernsehen und Computermedien.⁶⁴ Solche methodologischen, analytischen und medienästhetischen Arbeiten konzentrieren sich in der Regel auf konkrete Medieninhalte und bewegen sich meist im Bereich der Fiktion, Kunst oder Unterhaltung. Im Gegensatz dazu richten Studien im Bereich der Medienepistemologie oder Medienarchäologie ihren Blick in erster Linie auf die Medien selbst, deren historische Entwicklungen, Wissens- und Wahrnehmungsformen, und bevorzugen dabei die Untersuchung von Medien der Wissenschaft, Dokumentation oder Information. So versteht Stefan Rieger Medien als Werkzeuge des Sichtbarmachens, mit deren Hilfe menschliche Eigenschaften, beispielsweise Körpervorgänge, gemessen und konzeptualisiert werden, zugleich aber auch als Modelle des Menschen und Möglichkeitsbedingung „anthropologischen Wissens“: „es sind Medien, nach deren Kriterien die Rede über den Menschen erfolgt“.⁶⁵ Die konstruktive und modellierende Rolle der Medien betonen auch Ramón Reichert, der die Medialisierung anthropologischen Wissens „im Kino der Humanwissenschaften“ herausarbeitet⁶⁶, Petra Löffler, die Zusammenhänge zwischen Medien, Mimik und Affekt analysiert⁶⁷, oder Manfred Faßler, der sich der Veränderung von Menschenbildern – und der Menschen selbst – durch mediale Information und digitale Medien zuwendet.⁶⁸ Die Bochumer Mercator Research Group „Räume anthropologischen Wissens“ hinterfragt unter anderem die „Entwicklung moderner Affektkonzepte im fotografischen Zeitalter“ im Vergleich zu Affektdarstellungen in der heuti-
63 Vgl. Eder: Figur, S. 194–198, 281–322, 399–415. 64 Vgl. etwa Leschke, Rainer u. Henriette Heidbrink (Hrsg.): Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien. Konstanz: UVK 2010. 65 Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 473. 66 Reichert, Ramón: Im Kino der Humanwissenschaften. Zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Bielefeld: Transcript 2007. 67 Löffler, Petra: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik. Bielefeld: Transcript 2004. 68 Faßler, Manfred: Der infogene Mensch. Entwurf einer Anthropologie. München: Fink 2008.
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gen Neurowissenschaft.⁶⁹ Im Themenheft „Menschen & Andere“ der Zeitschrift für Medienwissenschaft versammeln Marie-Luise Angerer und Karin Harasser Aufsätze, die Grenzziehungen zwischen Mensch und Umwelt, insbesondere zu Tieren und Dingen, problematisieren.⁷⁰ Fragen der Grenzziehung und Normativität beschäftigen auch Beate Ochsner, die sich mit Repräsentationen des „Monströsen“ und – zusammen mit Anna Grebe – mit der fotografischen Konstruktion von Behinderung auseinandersetzt.⁷¹ Nicht zu vergessen sind Arbeiten, die aus der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte stammen, aber sich den Zusammenhang von Medien mit dem Wissensobjekt Mensch⁷² im transdisziplinären Zugriff und durchaus auch in Einzelanalysen erschließen, indem sie etwa visuelle Körperdarstellungen der Naturwissenschaften vergleichen⁷³, die Konstruktion eines „zerebralen Subjekts“ in „Hirnfilmen“ beobachten⁷⁴, den wissenschaftlich beeinflussten Wandel der Mordmotive in Kriminalromanen rekonstruieren⁷⁵ oder das imaginierte Verhältnis von „Menschenaffen und Affenmenschen“ in Wissenschaft und Fiktion untersuchen⁷⁶. Wie kaum anders zu erwarten, ist die Forschung zu Menschenbildern also äußerst vielgestaltig: Zum einen befassen sich zahlreiche Disziplinen mit Menschenbildern, ohne deren Medialität zu berücksichtigen. Zum anderen befassen sich die Medien-, Literatur- und Kunstwissenschaften mit Menschenbildern aus sehr verschiedenen Perspektiven. Was bisher weitgehend fehlt, sind Versuche der Verständigung; unser Band versucht einen kleinen Schritt in diese Richtung zu gehen. Diese Einleitung soll zumindest andeuten, auf welche Weisen Brücken zwischen den genannten Diskursen und Disziplinen geschlagen werden könnten
69 Mercator Research Group „Räume anthropologischen Wissens“. Website: http://www.ruhruni-bochum.de/mrg/knowledge/units/media/research/index.html.de (19.6.2012). 70 Angerer, Marie-Luise u. Karin Harasser (Red.): Menschen und Andere. Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/2011. 71 Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie. München: Synchron 2009; Ochsner, Beate u. Anna Grebe (Hrsg.): Andere Bilder. Zur visuellen Produktion von Behinderung. Bielefeld: Transcript (in Vorbereitung). 72 Vienne/Brandt: Wissensobjekt. 73 Vgl. z. B. Van Dijck, José: The Transparent Body. A Cultural Analysis of Medical Imaging. Seattle, London: University of Washington Press 2005; sowie die Beiträge in Smelik, Anneke (Hrsg.): The Scientific Imaginary in Visual Culture. Göttingen: V&R unipress 2010. 74 Vidal, Fernando: Ectobrains in the Movies. In: The Fragment. An Incomplete History. Hrsg. von William Tronzo. Los Angeles: Getty Research Institute 2009. S. 193–211. 75 Kern, Stephen: A Cultural History of Causality. Science, Murder Novels, and Systems of Thought. Princeton: Princeton University Press 2004. 76 Krüger, Gesine, Ruth Mayer u. Marianne Sommer (Hrsg.): „Ich Tarzan.“ Affenmenschen und Menschenaffen zwischen Science und Fiction. Bielefeld: Transcript 2008.
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und wie ihre Erkenntnisse sich ergänzen: Grundlegende Menschenbild-Begriffe der Psychologie lassen sich auf produktive Weise mit inhaltsbezogenen Anthropologien und der Wissenschaftsgeschichte in Verbindung bringen, diese wiederum mit Forschungsergebnissen zu visuellen Medien (Filmwissenschaft, Bild-Anthropologie), zu Sprachmedien (Literarische Anthropologie), zu Theatralität und Performativität (Theaterwissenschaft) oder zu Medien und Medialität im Allgemeinen (Medienwissenschaft, Medienanthropologie). In der Absicht, den Dialog zwischen so verschiedenen Ansätzen zu fördern, knüpfen wir unter anderem an den 2001 erschienenen Sammelband Mediale Anatomien von Annette Keck und Nicolas Pethes an, aus dem wir bereits mehrfach zitiert haben und der einen instruktiven Überblick über verschiedene Positionen bietet. In einigen Hinsichten folgen wir den Vorarbeiten allerdings nur ein Stück weit und streben eine Präzisierung und Erweiterung an. Dazu gehören die Fragen, was unter den ‚Medien‘ und der ‚Medialität‘ von Menschenbildern zu verstehen ist.
2 Zur Medialität und Transmedialität von Menschenbildern Die Beiträge unseres Bandes stellen Anschauungsmaterial und exemplarische Beispiele für die Diskussion grundsätzlicher Fragen zur Verfügung: Wie hängen Menschenbilder mit Medien und deren je unterschiedlicher Medialität zusammen? Inwiefern sind sie medial oder auch transmedial geformt? Und wie können Medien, ihre Bilder, Töne und Texte, Aufschluss über Menschenbilder geben? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, müssen zunächst die Begriffe ‚Medium‘ und ‚Medialität‘ geklärt sein, und sei es in vorläufiger Weise. Pethes und Keck machen hier den Vorschlag, Medien als Elemente „eines Ensembles von Technik, Diskurs und Praxis – als Dispositiv also“ zu verstehen. Der Vorteil bestehe darin, dass man mithilfe des Dispositivbegriffs „‚den Menschen‘ an allen Positionen zu beobachten vermag: als den, den die Medien zeigen; als den, der die Medien nutzt; und als den, der den Blick der Medien steuert“, kurz: als „Kameramann, Darsteller und Zuschauer“: „Medien wären dann technische und kommunikative Anordnungen, die auf allen drei Zeitebenen des Operierens anthropologisch relevant sind, insofern ihr Einsatz die Etablierung eines jeweils anschlussfähigen Menschenbildes voraussetzt, generiert und kommentiert“.⁷⁷
77 Keck/Pethes: Bild, S. 19.
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Diesen Grundgedanken möchten wir hier aufgreifen, den Medienbegriff jedoch etwas enger fassen. Keck und Pethes zählen zu ‚Medien‘ unter anderem „technische Prothesen, Institutionen zu ihrer Verwaltung und die Strukturen gesellschaftlicher Kommunikation als Ganze“.⁷⁸ Anhänger von Fritz Heider oder Marshall McLuhan fassen den Medienbegriff noch weiter: Jegliches Ding, das als Erweiterung menschlicher Möglichkeiten fungiert,⁷⁹ wie etwa das Auto, oder als Wahrnehmungsgrundlage,⁸⁰ wie etwa die Luft, wäre demzufolge ein Medium. Unter so weiten Medienbegriffen gelten auch Versuchstiere⁸¹ oder Möbel⁸² als Medien: An Fröschen lassen sich schließlich bioelektrische Phänomene demonstrieren, und Stühle sagen etwas über die Form des menschlichen Körpers aus. Eine solche Ausweitung des Medienbegriffs eröffnet zwar neue Untersuchungsfelder, geht allerdings auf Kosten der Präzision und Alltagsnähe des Begriffs. Wir möchten die Ausweitung deshalb hier nicht mitvollziehen, sondern eine enger gefasste Begriffsbestimmung wählen: Medien sind Dispositive, die primär der Kommunikation dienen und Formen des Zeichengebrauchs involvieren.⁸³ Als Dispositive umfassen Medien verschiedene Arten von Elementen – Artefakte, Apparate, Zeichensysteme, Techniken, Praktiken, Konventionen und Institutionen.⁸⁴ Da diese Elemente ihrerseits auch oft ‚Medien‘ genannt werden, sollte die jeweilige Verwendungsweise aus dem Kontext oder durch entsprechende
78 Ebd., S. 19. 79 Vgl. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. New York: McGrawHill 1964. 80 Vgl. Heider, Fritz: Ding und Medium. Hrsg. von Dirk Baecker. Berlin: Kadmos 2005 [Originalausgabe 1926]. 81 Rieger, Stefan: Der Frosch – ein Medium? In: Was ist ein Medium? Hrsg. von Stefan Münker u. Alexander Roesler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. S. 285–303. 82 Seitter, Walter: Möbel als Medien. Prothesen, Paßformen, Menschenbildner. Zur theoretischen Relevanz Alter Medien. In Keck/Pethes: Mediale Anatomien. S. 177–192. 83 Verwandte Bestimmungen von Medien als „Zeichenmaschinen“ (Winkler), als „Mittel der Individuierung von Gedanken“ (Vogel) oder als „Artefakte […], deren Zweck es ist, Kommunikation zu ermöglichen“ (Crivellari/Sandl) finden sich beispielsweise bei Winkler, Hartmut: Zeichenmaschinen. In: Münker/Roesler: Medium. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. S. 211–221; Vogel, Matthias: Medien der Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001; oder Crivellari, Fabio u. Marcus Sandl: Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften. In: Historische Zeitschrift 277/2003. S. 619–654, hier: 633. „Kommunikation“ könnte näherungsweise verstanden werden als intentionale Vermittlung von Zeichen mit dem Ziel, bestimmte mentale Vorgänge hervorzurufen. 84 Zu den Komponenten von Medien vgl. Siegfried J. Schmidt: Der Medienkompaktbegriff. In: Münker/Roesler: Medium. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. S. 144–157. Vgl. auch exemplarisch Hickethier, Knut: Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells. In: Montage/AV 4/1/1995. S. 63–83.
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Hinweise deutlich werden. Das Feld ist damit einerseits weiter gefasst als das der Massenkommunikationsmittel, es umfasst auch die klassischen Künste und bestimmte wissenschaftliche Untersuchungsinstrumente⁸⁵, andererseits ist es nicht vollständig entgrenzt. Wenn man Medien in diesem Sinn als Kommunikationsmittel versteht, kann ihre Untersuchung in verschiedener Hinsicht Aufschluss über Menschenbilder geben. Am nächsten liegt vielleicht die Beobachtung, dass Medientexte auf verschiedenen Bedeutungsebenen Menschenbilder vermitteln können: etwa durch sprachliche Allgemeinaussagen von Autoren, Erzählinstanzen oder Figuren (z. B. Lexikoneinträge, Dialoge, Voice Over im Film); durch exemplarische Einzelfiguren, sinnlich wahrnehmbare Körperbilder oder Innenwelt-Darstellungen (mindscreen); durch Akteurskonstellationen, die auf eine bestimmte Bandbreite menschlicher Merkmale schließen lassen oder das Menschliche mit dem Nichtmenschlichen, mit Göttern, Tieren, Robotern kontrastieren; durch die Anordnung von Formen, Ereignissen und Handlungen im Zeitverlauf; durch Allegorien, Symbole und Metaphern; durch Möglichkeiten und Spielräume der Interaktion und Mitgestaltung (z. B. im Videospiel); sowie durch übergeordnete Themen oder Botschaften, die aus der Gesamtheit von Geschichten, Argumenten, Strukturen und Gestaltungselementen erschlossen werden.⁸⁶ Dabei können die entsprechenden Menschenbilder nicht nur explizit, sondern auch implizit vermittelt werden – etwa durch suggestive ästhetische Formen –, und sie werden oft mit Emotionen aufgeladen. Das Ergebnis solcher Bedeutungskonstruktionen wären mediale Menschenbilder, die analog zum mentalen Menschenbild bestimmt werden können: als Systeme medialer Darstellungen menschlicher Eigenschaften, also nicht interner mentaler Repräsentationen, sondern externer semiotischer Repräsentationen beziehungsweise intersubjektiver Bedeutungen. Diese Darstellungssysteme lassen sich nicht nur auf der Ebene einzelner Medientexte, sondern durch Verallgemeinerung auch auf der Ebene übergreifender Texttypen oder Strukturen erkennen: So legen Genres wie Horror und Komödie, Standardsituationen wie die Liebeserklärung oder dramaturgische Muster wie die Entwicklung zum Happy End bestimmte Menschenbilder nahe.⁸⁷
85 Ein Beispiel sind die Bildmaterialien psychodiagnostischer Testverfahren, die David Keller in seinem Beitrag untersucht. 86 Zu den verschiedenen Wahrnehmungs- und Bedeutungsebenen von Medientexten (am Beispiel der Filmfigur) vergl. Eder: Figur, S. 95–130, bes. S. 127. 87 Vgl. beispielsweise zum Menschenbild der Science Fiction: Telotte, J.P.: Replications: A Robotic History of the Science Fiction Film. Urbana: University of Illinois Press, 1995, oder Fritsch, Matthias, Martin Lindwedel u. Thomas Schärtl: Wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist. Science-Fiction-Filme: Angewandte Philosophie und Theologie. Regensburg: Friedrich
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Damit ist der Bezug von Medien zu Menschenbildern jedoch keineswegs ausgeschöpft. Medientexte können zweitens Hinweise auf die Menschenbilder ihrer Produzenten und Entstehungskontexte geben.⁸⁸ Dass diese mit den Menschenbildern des Medientextes nicht identisch sein müssen, mag das hypothetische Beispiel eines Fernsehfilms verdeutlichen: Der Film feiert die romantische Liebe als Ideal menschlicher Selbstverwirklichung und betont das Gute im Menschen; aus Produktionsnotizen wird dagegen deutlich, dass die Fernsehproduzenten das Liebesideal und den Glauben an das Gute keineswegs teilen, sondern nur zynische Strategien zur Quotenmaximierung verfolgen. Das dadurch entworfene Zielpublikum und die tatsächlichen Rezipienten mögen dann – drittens – wieder über ein anderes Menschenbild verfügen, das durch den Medientext entweder verändert werden oder mit ihm in Konflikt geraten kann und den Verlauf von Metadiskursen über das Medienangebot mitbestimmt. In einer vierten, allgemeineren Hinsicht sind schließlich Menschenbilder der Form und dem Potenzial des jeweiligen Mediums insgesamt eingeschrieben (also nicht nur seinen Einzeltexten). Vereinfacht gesagt, entwirft beispielsweise die Malerei einen Menschen, der durch individuelle Kreativität, Sensibilität und Kontemplation bestimmt ist; das Internet dagegen einen sozial vernetzten, endlos neugierigen und kommunikativen Menschen. Man kann die Verhältnisse zwischen Medien und Menschenbildern also folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Tabelle 1): (1) Die Form und Ästhetik eines Mediums insgesamt, seine charakteristischen Strukturen und Nutzungspotenziale, implizieren ein bestimmtes Bild des Menschen. Beim Gebrauch des Mediums stellen (2) Produzenten mit einem bestimmten Menschenbild (3) konkrete Medientexte her, die auf verschiedenen Ebenen Menschenbild-Elemente enthalten, (3a) größere Gruppen oder Formzusammenhänge bilden und (4) auf Rezipienten oder Mediennutzer mit wiederum spezifischen Menschenbildern treffen. Wenn man die Beziehung zwischen Medien und Menschenbildern in dieser Weise versteht, was ist dann ‚Medialität‘? Auch dieser Begriff ist mehrdeutig. In einer ersten Bedeutung kann mit ‚Medialität‘ die grundsätzliche Vermitteltheit, Zeichenhaftigkeit oder Repräsentationalität jedweder mentaler oder kognitiver Vorgänge gemeint sein. In diesem Sinn wäre jedes Denken und Fühlen ‚medial‘, da durch Zeichen vermittelt, etwa durch innere Bilder und Modelle, ‚Filme im
Pustet 2003. Die Beiträge von Ivo Ritzer und Jörg Scheller in diesem Band setzen sich mit den Menschenbildern zweier weiterer Subgenres des fantastischen Films auseinander: Barbarenfilm und Superheldenfilm. 88 Ein Beispiel für die Schwierigkeiten solcher Interpretationen und Zeitdiagnosen bietet etwa das „Darmstädter Gespräch“, von dem Clea Catharina Laades Beitrag berichtet.
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Kopf‘ oder sprachliche Propositionen. Ein zweiter Begriff wäre eingeschränkt auf externe Repräsentationen: Ihm zufolge wären alle Kommunikationsprozesse (also nicht das was „im Kopf“ geschieht, sondern was „zwischen Menschen“ geschieht) vermittelt, zeichenhaft, repräsentational, durch Codes wie die der Sprache oder Gestik vermittelt. (1)
Menschenbild des Mediums
(2)
Menschenbild der Produzenten und Entstehungskontexte
(3)
Menschenbild einzelner Medientexte, vermittelt durch verschiedene Aspekte: – sprachliche Aussagen – exemplarische Einzelfiguren, Körperbilder, Innenwelt-Darstellungen – Figuren- und Konfliktkonstellationen – narrative oder rhetorische Strukturen – ästhetische Formen – Interaktionsmöglichkeiten – indirekte Bedeutungen, Allegorien, Symbole, Metaphern – übergeordnete Themen, Fragen oder Botschaften
(3a)
Menschenbild größerer Gruppen und Muster von Medientexten: – Standardsituationen – ästhetische, narrative und andere Schemata – Genres und Gattungen
(4)
Menschenbild der Mediennutzer (und der Meta-Diskurse über Medien)
Tab. 1: Die Verhältnisse zwischen Medien und Menschenbildern.
Wir gehen hier jedoch von einer dritten Bedeutung von „Medialität“ aus: jener der Medienspezifik. Knut Hickethier versteht in diesem Sinn unter Medialität „das als typisch genommene Set von Eigenschaften, das für einzelne Medien als konstitutiv gesehen wird“ und das „historisch an eine kulturelle Situation gebunden ist“.⁸⁹ In einem vergleichbaren Sinn stellt der Wissenschaftsrat fest, dass die „Medialitätsforschung […] auf die ästhetischen Dimensionen von Medien (Formseite), ihren technisch-materiellen Aspekt (Technikseite) sowie ihre sozialen Funktionen (Kommunikationsseite)“ fokussiert und „nach dem konstitutiven Anteil der Medien an der Generierung, Speicherung und Übermittlung von Information und Wissen“⁹⁰ fragt, also danach, „wie Medien dazu beitragen, das mit
89 Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2003. S. 26. 90 Es ist bezeichnend, dass Emotionen und andere Komponenten medialen Erlebens hier unerwähnt bleiben.
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zu schaffen, was sie bloß zu vermitteln scheinen“⁹¹ – in unserem Zusammenhang eben Menschenbilder. Diese Bestimmungen bringen uns einen Schritt weiter, werfen allerdings die schwierige Frage auf, woraus die charakteristischen, für Menschenbilder konstitutiven Sets von Medien-Eigenschaften denn jeweils bestehen mögen.⁹² Anhaltspunkte bietet Marie-Laure Ryans Unterscheidung zwischen verschiedenen Bereichen von Medien-Merkmalen.⁹³ Ryan zufolge unterscheiden sich Medien hinsichtlich (1) ihrer Zeichensysteme (Bild, Sprache, Geräusch usw.), (2) ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit (etwa die Zweidimensionalität und Linearität des Films im Gegensatz zur Skulptur), (3) ihrer Kinetik oder Statik (Filme sind bewegt, Fotos statisch), (4) ihrer technischen Möglichkeiten (Echtzeit-Kommunikation, Interaktivität etc.) sowie (5) der mit ihnen verbundenen Praktiken, Konventionen und Institutionen der Produktion, Distribution und Rezeption (in Studios, Verlagen, Theatern usw.). Der Zusammenhang solcher Merkmale bestimmt die spezifische Medialität und das charakteristische Profil eines Mediums, macht es für bestimmte Funktionen besonders geeignet, etwa für das Speichern oder Spielen, das Vervielfältigen oder Verbreiten.⁹⁴ Eine Möglichkeit zur genaueren Bestimmung medienspezifischer Eigenschaften ist die Orientierung an der Abfolge Produktion–Text–Rezeption. (1) So kommen bei der Produktion von Medientexten jeweils medienspezifische Werkzeuge, Techniken, Praktiken, Konventionen und Organisationen zum Einsatz, die das Ergebnis und die medialen Menschenbilder prägen – beim Film beispielsweise Kameras, Produktionsfirmen, dramaturgische Regeln usw. (2) Zweitens weisen Medientexte spezifische Eigenschaften auf der Ebene der Zeichensysteme und Darstellungsstrukturen auf, die bereits von Ryan angedeutet werden. So zeichnen Filme sich unter anderem durch eine Kombination von bewegten Bildern und Tönen aus, durch das Fehlen direkter Interaktivität, durch typische Konventionen der Figurengestaltung usw. Dadurch ergeben sich auf dieser textu-
91 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland (Drs. 7901-07). Oldenburg, 25. Mai 2007. S. 76. Volltext online verfügbar unter: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/7901-07.pdf (11.06.2012). 92 In diesem Band widmen sich mehrere Beiträge explizit dieser Frage, vor allem bezogen auf die audiovisuellen Medien Film (Maike Sarah Reinerth), Fernsehserie (Sebastian Armbrust) und Computerspiel (Felix Schröter und Jan-Noël Thon). 93 Am knappsten und prägnantesten in: Ryan, Marie-Laure: Media and Narrative. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London. Hrsg. von David Herman, Manfred Jahn u. Marie-Laure Ryan. New York: Routledge. 2005. S. 288–292. 94 Vgl. auch Kerlen, Dietrich: Einführung in die Medienkunde. Stuttgart: Reclam 2003.
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ellen Ebene medienspezifische Potenziale, Formen und Inhalte der Menschendarstellung. (3) Der Bereich der Distribution, Rezeption und Mediennutzung ist wiederum gekennzeichnet durch medienspezifische Nutzungssituationen und Gebrauchsformen: Kinos sind abgedunkelte, öffentlich zugängliche Räume mit einer großen Leinwand, man muss für ihre Nutzung bezahlen und sieht den Film relativ konzentriert – vor dem heimischen Fernseher oder im Labor ist die Situation eine andere. So kann ein Film im Kino und auf dem Tablet-Computer strukturell dieselben Menschenbilder vermitteln, doch die mediale Rezeptionssituation ist mit anderen Annahmen über den Menschen verbunden, etwa mit dem Bedürfnis nach Gemeinschaft und Überwältigtsein im Kino im Gegensatz zur individuellen Mobilität und Kontrollierbarkeit der Tablet-Nutzung. Derartige Zusammenhänge von Medialität und Menschenbild können aus mehreren Perspektiven untersucht werden: medienanalytisch durch eine Auseinandersetzung mit Einzeltexten, Einzelmedien, Mediensystemen und ihren jeweiligen Strukturen; medienhistorisch durch eine Reflexion der Medienentwicklung und ihrer historischen Kontexte; sowie medientheoretisch durch den Versuch, allgemeine Aussagen, Modelle und Kategorien für die zuvor genannten Aspekte zu entwickeln. Bei der Analyse stellt sich die Frage: Welche Menschenbilder werden durch welche Strukturen bestimmter Medien oder Texte auf welche Art und Weise vermittelt? Im Bereich der Geschichte könnte man fragen: Wie sind Medien und ihre Menschenbilder in historische und soziokulturelle Kontexte eingebettet, und welche inhaltlichen und formalen Entwicklungen lassen sich im Zeitverlauf beobachten? Und im Bereich der Theorie könnte man die Frage stellen, was sich text- und zeitübergreifend über den Zusammenhang von Medien und Menschenbildern sagen lässt. Solche Perspektiven weiterführend wäre nicht nur zu diskutieren, welche Rolle einzelne Medien für die Konstruktion und Vermittlung von Menschenbildern spielen und inwiefern sie dabei bestimmte semiotische Grundformen und deren spezifische Ausdruckspotenziale nutzen, etwa sprachliche Abstraktionen oder bildliche Konkretisierungen des Körpers. Es wäre auch zu fragen, wie sich mehrere Einzelmedien innerhalb kulturell etablierter Mediensysteme funktionsteilig zueinander verhalten und wie sich über mehrere Medien hinweg bestimmte Motive und Diskurse entwickeln, die für Menschenbilder relevant sind. Dabei sind konventionell getrennte Bereiche des Mediengebrauchs, etwa Wissenschaft und Journalismus, Information und Unterhaltung, Fiktion und Nichtfiktion, ‚Hochkultur‘ und ‚Populärkultur‘, keineswegs voneinander getrennt, sondern gehen ineinander über und nehmen aufeinander Einfluss. Der systemtheoretische Gedanke von autonom organisierten Feldern, die jeweils eigengesetzlich funktionieren und nur durch strukturelle Kopplungen verbunden sind, wäre zu reduktiv.
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Sehr deutlich wird dies an Entwicklungen, die gegenwärtig, etwa innerhalb des Mainzer Forschungsschwerpunktes „Medienkonvergenz“⁹⁵, unter Begriffen wie ‚Konvergenz‘, ‚Transmedialität‘ oder ‚Crossmedialität‘ diskutiert werden. Zunehmend verbreiten sich in der gegenwärtigen Medienlandschaft transmediale (medienübergreifende) Angebotskonstellationen, die miteinander verknüpfte Einzelwerke in mehreren konventionell distinkten Medien und Kommunikationsbereichen umfassen.⁹⁶ Die Einzelelemente einer transmedialen Konstellation (beispielsweise ein Film und dazugehörige Poster, Fernsehtrailer, Videospiele, Bücher und Websites) können auf verschiedene Weise miteinander verbunden sein: durch Leitideen, Aussagen, Geschichten, Figuren oder Motive; durch Darstellungsformen und Stile; durch Autorschaft, Rechte, Produktions- und Rezeptionspraktiken; durch Wirkungsstrategien sowie durch konkrete Verbindungen der Einzeltexte. Solche Angebotsnetze bestehen in der Mediengeschichte seit langem, haben sich aber durch die Bildung vertikal integrierter Medienkonglomerate, durch die Etablierung der Netzmedien, durch Prozesse der Digitalisierung und Globalisierung in sämtlichen Medien rasant ausgedehnt und vervielfältigt. Solche Entwicklungen wirken sich in vielfältiger, näher zu untersuchender Weise auf Menschenbilder aus. So entstehen beispielsweise durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten der Körperdarstellung, etwa in der Computeranimation, die in Videospielen ebenso eingesetzt wird wie in Kinofilmen, Fernsehdokumentationen, Werbung, wissenschaftlicher Forschung oder medizinischer Praxis. Das Web begünstigt wiederum das virtuelle, transkulturelle Zusammentreffen von Menschenbildern unterschiedlicher Kulturen oder Sozialgruppen. Die transmedialen Franchises großer Konzerne entwickeln eine geballte Macht der Definition oder Normalisierung bestimmter Menschenbilder, steigern zugleich aber auch das Risiko interner Brüche und Widersprüche, was etwa durch die vielfachen Wandlungen transmedialer Figuren wie Darth Vader deutlich wird.⁹⁷ Nicht nur Angebotskonstellationen sind transmedial angelegt, auch Stilformen, Gattungen, Genres, Erzählungen, Motive oder Figuren überschreiten Mediengrenzen, prägen sich in den Einzelmedien auf je spezifische Art aus und tragen dadurch zur Konstruktion von Menschenbildern bei. So erscheint es plau-
95 Vgl. Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Website: http://www.medienkonvergenz.uni-mainz.de/ (22.06.2012). 96 Der Literaturwissenschaftlerin Irina Rajewsky zufolge bezeichnet das Wort „transmedial“ „medienunspezifische Phänomene, die in verschiedenen Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne dass hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist“. Rajewsky, Irina: Intermedialität. Tübingen: Francke 2002. S. 206. 97 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Rauscher in diesem Band.
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sibel, dass jeweils charakteristische Menschenbild-Tendenzen begünstigt werden durch Wahrheitsansprüche (Fiktion/Nichtfiktion), Darstellungsmodi (Realismus/ Fantastik), Funktionen (Information/Persuasion), Gattungen (Drama, Animation etc.) oder Genres (Science Fiction, Horror, Komödie usw.). Transmediale Figuren wie Prometheus können Möglichkeiten des Menschen repräsentieren, und die medienübergreifende Verbreitung bestimmter Figurentypen kann kultur- und zeitspezifische Tendenzen von Menschenbildern zum Ausdruck bringen: Wann und in welchen Medien häufen sich beispielsweise Maschinenmenschen⁹⁸, Tiermenschen⁹⁹, Monster¹⁰⁰, Mutanten, Untote¹⁰¹, übermenschliche Superhelden¹⁰² oder fehlerbehaftete Antihelden? Wie werden in narrativen Konstellationen verschiedene Figuren so miteinander konfrontiert, dass sich aus ihrem Vergleich ein Spektrum menschlicher Möglichkeiten ergibt¹⁰³? Enthalten wiederkehrende Erzählmuster und Dramaturgien implizite Menschenbilder¹⁰⁴, wenn sich etwa am Ende der Geschichte stets alles zum Guten wendet und moralische Ideale bestätigt werden? Oder wenn immer wieder, ob in den Formaten des „Makeover TV“¹⁰⁵, in der Illustrierten-Reklame¹⁰⁶, auf den Websites schönheitschirurgischer Kliniken¹⁰⁷, in posthumanistischen Performances¹⁰⁸ oder in Selbsthilfe-Büchern, die Wandelbarkeit des Menschen beschworen wird?
98 Vgl. z. B. Aurich, Rolf, Wolfgang Jacobsen u. Gabriele Jatho: Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Kontrollierte Körper. Berlin: Deutsche Kinemathek/Jovis 2000. 99 Vgl. z. B. Krüger/Mayer/Sommer: Tarzan. 100 Vgl. z. B. Ochsner: Demonstration; Gebhard, Gunther, Oliver Geisler u. Steffen Schröter (Hrsg.): Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Bielefeld: Transcript 2009. 101 Vgl. z. B. Kulturstiftung des Bundes (Hrsg.): Die Untoten. Life Sciences and Pulp Fiction. Kongress-, Film- und Text-Archiv. Website: http://www.untot.info/160-0-Kongressarchiv.html (21.06.2012). 102 Vgl. z. B. Imorde, Joseph u. Jörg Scheller (Hrsg.): Superhelden. Kritische Berichte Nr. 1/2011. 103 Vgl. z. B. Eder: Figur, S. 464–520. 104 Vgl. z. B. Eder, Jens: Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie. Hamburg: Lit 1999. 105 Vgl. Weber, Brenda R.: Makeover TV. Selfhood, Citizenship and Celebrity. Durham/London: Duke University Press 2009, und den Beitrag von Franziska Bork Petersen in diesem Band. 106 Vgl. den Beitrag von Helen Barr in diesem Band. 107 Vgl. den Beitrag von Julia Inthorn in diesem Band. 108 Vgl. den Beitrag von Sven Stollfuß in diesem Band.
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3 Mediale Menschenbilder, Kultur und Gesellschaft Solche Fragen deuten zugleich die vielfältigen Beziehungen zwischen medialen Menschenbildern, Kultur und Gesellschaft an, ihre soziokulturelle Relevanz, ihre Zusammenhänge mit kultur- und zeitspezifischen Kontexten, Normen, Verhaltensweisen und Ideologien.¹⁰⁹ Diese Beziehungen gehen über eine Verwendung medialer Menschenbilder als normativer Vorbilder¹¹⁰ weit hinaus. Die mediale Kommunikation von Menschenbildern ist Werkzeug und zugleich Grundbedingung alltäglicher Praktiken, wissenschaftlicher Erkenntnisse, religiöser Glaubensformen, kollektiver Imaginationswelten, der Organisation sozialer Systeme und Institutionen (z. B. des Gesundheits- oder Wirtschaftssystems), der Aushandlung politischer und ökonomischer Interessen.¹¹¹ Wir haben es hier mit schwer greifbaren Wechselbeziehungen zu tun, die sämtlich in Medienkommunikation fundiert sind: Menschenbilder werden durch bestimmte Praktiken konstituiert und verändert (z. B. durch wissenschaftliche und ästhetische Innovation); zugleich liegen Wissenschaft und Alltagspraxis aber auch bestimmte Menschenbilder zugrunde, die als oft unreflektierte Basis des Denkens und Handelns in sozialen und politischen Kontexten fungieren. Besonders deutlich werden diese Zusammenhänge am Beispiel der Politik. Politische Entscheidungen und staatliche Regelwerke setzen Annahmen über den Menschen voraus¹¹²: über Menschenrechte und Menschenwürde, über menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten, über Eigenschaften wie Egoismus und Altruismus, Verletzlichkeit und Gewaltneigung, Machtlust, Einsichtsfähigkeit und Willensstärke. So sind Menschenbilder mit sozialen Machtverhältnissen und weitreichenden Konsequenzen verbunden.¹¹³ Die Trennung zwischen „Herrenmenschen“ und „Untermenschen“
109 Die dritte Sektion dieses Bandes mit den Beiträgen von Daniel Hornuff, Clea Catharina Laade, Ivo Ritzer und Jörg Scheller ist vor allem solchen Zusammenhängen zwischen medialen Menschenbildern und ihren kulturellen Kontexten gewidmet. 110 Vgl. Grimm, Petra u. Rafael Capurro: Menschenbilder in den Medien – ethische Vorbilder? Stuttgart: Franz Steiner 2002; Macho, Thomas: Vorbilder. München: Wilhelm Fink 2011. 111 Vgl. Schultz, Friederike u. Bodo Rollka: Kommunikationsinstrument Menschenbild. Zur Verwendung von Menschenbildern in gesellschaftlichen Diskursen. Wiesbaden: VS Verlag 2011. 112 Vgl. Meyer, Thomas u. Udo Vorholt (Hrsg.): Menschenbild und Politik. Bochum/Freiburg: Projektverlag 2004. Zum Folgenden vgl. darin vor allem Birnbacher, Dieter: Was kann die Anthropologie zur Politik und ihrer theoretischen Fundierung beitragen? Eine Problemskizze mit Rückblick auf Leonard Nelson. S. 11–31. 113 Offensichtlich werden solche Machtverhältnisse und Konsequenzen beispielsweise in der psychologischen „Triebdiagnostik“, die David Kellers Beitrag in diesem Band kritisch betrachtet.
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soll Kolonialismus, Krieg und Mord begründen. Die Vorstellung, die Spezies „Mensch“ zerfalle in zwei unterschiedlich begabte Geschlechter, soll patriarchalische Machtverhältnisse legitimieren. Das Menschenbild des Homo oeconomicus und die Unterschätzung menschlicher Irrationalität und Gier hat die gegenwärtige Finanzkrise mitverursacht. Im Jahr 2010 forderten SPD-Politiker in Zeitungsartikeln, Thilo Sarrazin wegen seines biologistischen Menschenbildes aus der Partei auszuschließen, und Kanzlerin Angela Merkel erregte bei Bloggern Anstoß mit ihrer Aussage, wer das christliche Menschenbild nicht akzeptiere, sei „bei uns fehl am Platz“.¹¹⁴ Da Medien auf Politik reagieren und oft im Interesse mächtiger Sozialgruppen instrumentalisiert werden, findet in den Medien ein ständiger Kampf um Menschenbilder und mit ihnen verbundene Normalitätsdefinitionen, Bewertungen, Rechte und Pflichten statt, in dem sich hegemoniale und andere Menschen-Vorstellungen gegenüber stehen. Die prägende Kraft medialer Menschenbilder ist allerdings nicht immer offensichtlich, oft wirkt sie unbemerkt und scheinbar selbstverständlich, wie Foucault mit seinen Arbeiten zu Biomacht und Gouvernementalität aufgezeigt hat¹¹⁵: Im Verbund mit institutionellen Machtstrukturen beeinflussen mediale Diskurse und Menschenbilder den Umgang mit Körper, Sexualität, Moral, Selbsttechnologien und Identitätsentwürfen. Darüber hinaus unterliegen die mit Alltag und Wissenschaft verwobenen Menschenbilder der Medien oft signifikanten Umbrüchen, wie schon ein flüchtiger historischer Blick auf die mediale Popularisierung der fundamentalen „Kränkungen des Menschen“ durch Kopernikus, Darwin und Freud zeigt. Gerade heutzutage befinden wir uns in einer Phase besonders signifikanter Umbrüche im Bereich medialer Menschenbilder. Der Poststrukturalismus greift frühere Gewissheiten und die „großen Erzählungen“ der Religion und Gesellschaftstheorie an. Kybernetik, Konstruktivismus und Künstliche Intelligenz übertragen Netz- und Computermetaphern auf den Menschen als kognitives System. Die Neurowissenschaften zeichnen ein materialistisches Bild des Menschen als Hirnwesen und stellen seine Willensfreiheit in Frage.¹¹⁶ Primatenforschung und Animal Studies verschieben die imaginären und moralischen Grenzen zwischen Mensch und Tier. Atheismus und religiöse Fundamentalismen, Kreationismus und Evolutionstheorie ringen miteinander um die Deutungshoheit über Vorgeschichte und Trans-
114 „Siehe beispielsweise Jok/itz/APD/dpa: Seehofer und Merkel befeuern Leitkultur-Debatte. In: Spiegel Online. 15. Oktober 2010. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/integrationseehofer-und-merkel-befeuern-leitkultur-debatte-a-723466.html (21.8.2012).“ 115 Z. B. in seinen Werken zu „Sexualität und Wahrheit“, v.a. in Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 (Originalausgabe: Histoire de la sexualité. Bd. 1: La volonté de savoir. Paris: Gallimard 1976). 116 Vgl. dazu die Beiträge von Uta Bittner und Maike Sarah Reinerth in diesem Band.
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zendenz des Menschen. Die Globalisierung der Kommunikation führt zu einem nie dagewesenen Pluralismus der Menschenbilder. Lebenswissenschaften und Biotechnologie schließlich lassen eine neue, posthumane Zukunft des Menschen aufscheinen, der nun genetisch und mechanisch manipuliert werden kann.¹¹⁷ All diese Wandlungsphänomene sind verbunden mit einem Wandel der Medien, der durch Stichworte wie Digitalisierung, Multimedialität, Transmedialität, Vernetzung, Interaktivität, Mobilisierung und Konvergenz angedeutet werden mag. Angesichts des Zusammentreffens solcher Umbrüche scheint die Beschäftigung mit medialen Menschenbildern so relevant wie nie zuvor.
4 Aufbau des Bandes Die Beiträge dieses Bandes stammen aus diversen Disziplinen: aus Medien- und Filmwissenschaft, Kunst- und Bildwissenschaft, Tanzwissenschaft, Kulturwissenschaft, Philosophie und Medizinethik. Durch diese Bandbreite soll der interdisziplinäre Austausch gefördert werden, an dem es bisher mangelt, wie der Forschungsüberblick gezeigt hat. Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser auf diese Weise Theorieansätze, Forschungsergebnisse, Perspektiven, Begriffe und Analyseinstrumente verschiedener Wissenschaften kennenlernen und miteinander in Verbindung bringen können. Die Beiträge untersuchen Menschenbilder als mediale Vorstellungs- und Darstellungskomplexe, ihr Fokus liegt dabei auf Bildmedien der Moderne und deren spezifischer Vermittlung ‚allgemein menschlicher‘ Eigenschaften und Ideale. Im Mittelpunkt stehen konkrete Fallbeispiele, die wesentliche Zusammenhänge zwischen Medialität und Menschenbild veranschaulichen. Dadurch wird unter anderem deutlich, dass Medien (im Gegensatz zur berühmten These McLuhans) keineswegs allein die message sind und dass Medialität keineswegs auf Medientechnik zu reduzieren ist. Die Beispiele zeigen vielmehr, dass es auf den konkreten Gebrauch von Medien in soziokulturellen Situationen und Prakti-
117 Vgl. die vierte Sektion dieses Bandes, insbesondere die Beiträge von Uta Bittner, Julia Inthorn und Sven Stollfuß. Zu diesen Fragen sind mittlerweile sehr lebendige Forschungsdiskussionen und zahlreiche Publikationen entstanden, etwa Frühwald, Wolfgang et al. (Hrsg.): Das Design des Menschen. Vom Wandel des Menschenbildes unter dem Einfluss der modernen Naturwissenschaft. Köln: Dumont 2004; Dinello, Daniel: Technophobia! Science Fiction Visions of Posthuman Technology. Austin: University of Texas Press 2005; oder die Arbeit der koreanischen Forschergruppe „Post-Humanism and the Human“ am Ewha Institute for the Humanities, Seoul.
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ken ankommt, auf die durch vielfältige Faktoren bedingte Produktion, Distribution und Rezeption medialer Bilder und Texte. Medien und ihre Medialität geben dem Entwurf von Menschenbildern einen Rahmen vor, lassen jedoch Spielräume und Alternativen offen. Sie wirken nicht im Sinne einer Determination, sondern durch das Ermöglichen oder Nahelegen bestimmter Wahrnehmungs-, Denk-, Handlungs- und Darstellungsoptionen, die dann je nach Kontext und Interessenlage genutzt werden und unterschiedliche Dynamiken entfalten.¹¹⁸ Bei der Analyse medialer Menschenbilder gilt es, diese komplexen Zusammenhänge zwischen Medien und Mediengebrauch, Texten und kulturellen Kontexten zu erschließen. Der Band gliedert sich in vier übergreifende Themenfelder, die jeweils einen Aspekt dieses komplexen Gefüges in den Mittelpunkt stellen, ohne deshalb die anderen Aspekte auszuschließen. Die erste Sektion konzentriert sich auf „Geist und Körper“ als zentrale Inhalte medialer Menschenbilder, die zweite auf deren spezifische „Medialität und Transmedialität“. In der dritten Sektion „Menschenbilder und kulturelle Kontexte“ tritt die Zeit- und Kulturspezifik des Mediengebrauchs in den Vordergrund, ein Ansatz, der in der letzten Sektion „Neue Menschen“ weitergeführt, aber auf Medienentwürfe einer Umgestaltung des Menschen fokussiert wird. Die Zuordnung der Beiträge zu den Themenfeldern folgt den Schwerpunkten der Aufsätze, die jedoch nie auf eines der vier Themen begrenzt sind, sondern jeweils vielfache Berührungspunkte zu weiteren Themen enthalten. Eine These des Bandes besteht ja gerade darin, dass etwa die Darstellung von Körper oder Geist durch die Potenziale und Konventionen bestimmter Medien mitbedingt ist, die wiederum in bestimmten Kontexten zur Anwendung kommen. Mit Geist und Körper sind im ersten Teil des Bandes zwei der wichtigsten Inhaltsbereiche von Menschenbildern benannt. Die Unterscheidung ist dabei nicht als ontologische Festschreibung eines cartesianischen Dualismus zu verstehen, die den Menschen in einen physischen und einen psychischen Bereich spalten würde. Sie benennt zunächst einmal nur ein Diskursphänomen. Eine Differenzierung zwischen Geist und Körper, physischen und mentalen Eigenschaften des Menschen zeigt sich unter anderem in der Alltagssprache, in Rekonstruktionen der gegenwärtigen (westlichen) Alltagspsychologie oder in der Jahrhunderte alten Diskussion über das philosophische Leib-Seele-Problem.¹¹⁹ Auf der Grundlage dieser diskursiven Differenzierung bauen auch neuere Publikati-
118 Vgl. dazu auch Winston, Brian: Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet. London: Routledge 1998. 119 Vgl. zu Körperlichkeit, Psyche und Sozialität als Bereiche der Figurenanalyse Eder: Figur, S. 173–179.
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onen auf, die sich allerdings weitaus häufiger mit medialen Darstellungen des menschlichen Körpers befassen¹²⁰ als mit solchen des Geistes¹²¹. Aus diesem Grund widmen sich die Beiträge der ersten Sektion vor allem drei Fragen, die Konzepte des Geistes (und seiner Verhältnisse zum Körper) betreffen: Welche Formen der Geistes-Darstellung finden sich in bewegten Bildern? Inwiefern setzen Medien der Wissenschaft Annahmen über die menschliche Psyche voraus? Und welche imaginierten Zusammenhänge zwischen Körper und Geist werden durch die Medienanalyse sichtbar? Maike Sarah Reinerth widmet sich der ersten Frage und untersucht in ihrem Beitrag Strategien der audiovisuellen Sichtbarmachung des Geistes. Anhand von Filmbeispielen zeigt sie, dass nicht nur Körperbilder, sondern gerade auch Repräsentationen psychischer Vorgänge konkreten, oft normativen Vorstellungen über den Menschen Ausdruck verleihen; so lassen Filme des Regisseurs Michel Gondry die menschliche Psyche mit großer Formenvielfalt als kreativen Imaginationsraum erscheinen. David Keller weist in seinem Beitrag nach, dass das Bildmaterial „projektiver Testverfahren“ der Psychodiagnostik Menschenbilder unreflektiert voraussetzt, die aus Fachdiskursen der 1930er Jahre stammen und noch die heutige Diagnostik beeinflussen. In der retrospektiven Betrachtung enthüllen die Tests weniger die Psyche von Patienten als jene der Diagnostiker. Nach Imaginationen einer Verbindung zwischen Geist und Körper, genauer: nach der Repräsentation des ‚inneren Menschen‘ in Körperbild und Körperausdruck fragt Franziska Bork Petersen. Sie vergleicht Rhetoriken des Authentischen in der französischen Aufklärung mit Inszenierungen des Authentischen in aktuellen Fernsehshows und arbeitet Verhältnisse zwischen Selbstmodellierungsprozessen und performativen Repräsentationsakten heraus. Die im ersten Teil bereits deutlich anklingende Medialität und Transmedialität von Menschenbildern tritt in den Mittelpunkt der zweiten Sektion des Buchs: Einerseits sind Menschenbilder durch die spezifischen Möglichkeiten einzelner Medien und Angebotsformen geprägt, andererseits werden sie seit
120 Aus der Vielzahl neuerer Publikationen seien hier nur beispielhaft die folgenden Arbeiten genannt: Belting: Bild-Anthropologie; Smelik: Scientific Imaginary; van Dijck: Transparent Body; van Dülmen: Erfindung; Hoffmann, Dagmar (Hrsg.): Körperästhetiken. Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit. Bielefeld: Transcript 2010; Ritzer, Ivo u. Marcus Stiglegger (Hrsg.): Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers. Berlin: Bertz & Fischer 2012, sowie Angerer, Marie-Luise, Kathrin Peters u. Zoë Sofoulis (Hrsg.): Future Bodies. Zur Visualisierung von Körpern in Science and Fiction. Wien/New York: Springer 2002. 121 Einer der wenigen Übersichtsversuche ist hier Schmitz, Colleen M. u. Ladislav Kesner (Hrsg.): Images of the Mind. Bildwelten des Geistes aus Kunst und Wissenschaften. Göttingen: Wallstein Verlag 2011 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Hygienemuseums Dresden 2011).
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jeher über mehrere Medien hinweg verbreitet, eine Entwicklung, die sich durch Digitalisierung und Medienkonvergenz gegenwärtig noch verstärkt. Die Fragen dieser Sektion lauten also, worin die Spezifik einzelner Medien besteht und wie sich Medienwechsel auf Menschenbilder auswirken. Die ersten beiden Beiträge konzentrieren sich auf die Medienspezifik. Sebastian Armbrust behandelt die Besonderheiten langfristig laufender Fernsehserien. Am Beispiel des US-amerikanischen Primetime-Formats Dr. House untersucht er, wie Serien durch die Charakterisierung und Konstellierung von Haupt- und Nebenfiguren verschiedene Menschenbilder zueinander in Beziehung setzen und wie daraus ein komplexes Gesamtbild entsteht, das zudem durch Genrekonventionen und die Spezifik seriellen Erzählens geprägt ist. Felix Schröter und Jan-Noël Thon nehmen in ihrem Beitrag die medialen Bedingungen von Computerspielen in den Blick. Deren Figuren sind nicht nur Grenzen des technisch Machbaren unterworfen, sondern erfüllen im Spiel auch multiple Funktionen als Spielfiguren, fiktive Wesen und Repräsentationen der Spieler/innen. Diese Multifunktionalität beeinflusst die Gestaltung und Rezeption der Figuren und wirkt sich auf die vermittelten Menschenbilder aus. Der Beitrag von Andreas Rauscher überschreitet die Grenzen einzelner Medien, indem er in das fiktionale Star Wars-Franchise einführt und die transmediale Verbreitung des „Superschurken“ Darth Vader schildert. Die unterschiedlichen Ausformungen dieser populären Verkörperung des Bösen zeigen, dass die Transmedialität von Figuren zu inneren Widersprüchen der durch sie verkörperten Menschenbilder tendiert. Während die ersten beiden Teile des Bandes veranschaulichen, wie Inhalte von Menschenbildern, etwa Vorstellungen über Geist und Körper, durch Bildmedien konstruiert werden und welche formende Rolle dabei deren Medialität oder Transmedialität spielen, wendet sich der dritte Teil zu Menschenbildern und kulturellen Kontexten vor allem der zeitlichen und gesellschaftlichen Situierung von Menschenbildern und Medienpraktiken zu. Eine grundlegende Fragestellung besteht hier darin, in welchen Verbindungen mediale Menschenbilder zu ihrer sozialen Umgebung stehen, wie sie durch diese Umgebung beeinflusst werden oder sie beeinflussen, sich mit ihr wandeln oder auch konstant bleiben. So skizziert der Beitrag von Daniel Hornuff eine Bild- und Mediengeschichte ungeborenen menschlichen Lebens von der Antike bis zu aktuellen Praktiken der Sonografie. Seine Untersuchung zeigt, dass die Individualisierung und Personifizierung des Fötus als fertig ausgebildeter Mensch eine lange ikonografische Tradition aufweist, die unter anderem in ethischen, moralischen und juristischen Diskussionen über die Rechte und den Schutz des Ungeborenen wirkungsmächtig herangezogen wird. Im Zentrum des Beitrages von Clea Catharina Laade steht das Darmstädter Gespräch, eine hitzige Debatte über Menschenbilder in der Malerei, die sich anlässlich der Ausstellung Das Menschenbild in unserer Zeit
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im Jahr 1950 entwickelte. Laade konfrontiert Positionen dieser Debatte, die das Menschenbild der Gegenwartskunst zeitdiagnostisch zu deuten suchen, mit Bildanalysen zweier Gemälde von Willi Baumeister und Max Beckmann, die in der Ausstellung zu sehen waren. Die letzten beiden Beiträge der Sektion beschäftigen sich mit Heldenbildern populärkultureller Spielfilm-Genres, die jeweils bestimmte Ideale des Menschlichen propagieren. Ivo Ritzer erschließt das Produktionsfeld eines Fantasy-Subgenres: des Barbarenfilms. Die raumzeitlichen Strukturen dieser Filme fördern, so Ritzer, eine charakteristische Mythisierung des Prähistorischen, die Zuschaustellung athletischer Körper und letztlich das Heldenideal permanenter Bewährung in einer gefährlichen Welt, der nur durch legitime Gewalt begegnet werden kann. Während diese Helden-Imagination auf eine fantastische menschliche Vergangenheit bezogen ist, stellt Jörg Scheller in seinem Beitrag einen Superhelden-Typus der neoliberalen Gegenwart vor: den Superhelden als Unternehmer. Anhand ökonomischer Theorien und aktueller Comicverfilmungen wie Iron Man (2008) arbeitet Scheller den Symptomcharakter des superheldischen Unternehmers für die Gegenwart heraus. Menschenbilder wandeln sich mit ihren Kontexten, und die Medien tragen dazu entscheidend bei. Gegenwärtig findet ein besonders auffälliger Wandlungsprozess statt, hin zu Vorstellungen über die Gestaltbarkeit des Menschen durch Technologien der Bio-, Nano- und Informationswissenschaften¹²², doch ein Nachdenken über Neue Menschen hat es auch in der Vergangenheit gegeben. Der letzte Teil des Buches fokussiert auf solche prospektiven Entwürfe des Menschen, die sich in Idealbildern oder Dystopien niederschlagen, als Strategien künstlicher oder künstlerischer Verbesserung des zeitgenössischen Menschen äußern oder dessen nächsten Schritt auf der post-evolutionären Leiter in den Blick nehmen. Den Anfang macht Helen Barr, die Entwürfe des Menschen in der Illustrierten-Werbung der Weimarer Republik untersucht. Dabei stellt sie fest, dass Werbeanzeigen neben der Vermittlung eines Idealbilds vom erneuerbaren modernen Menschen auch die existenzielle Angst vor einem defizitären Dasein ausdrücken und ausnutzen. Der Beitrag von Uta Bittner entwickelt ein bioethisches Fundament für die Reflexion aktueller Medienbilder des Posthumanen. In philosophischer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Technik und menschlicher Natur geht Bittner der Frage nach, welche Menschenbilder die neuen Neurotechniken des Enhancement und der Modellierung mentaler Funktionen zum Vorschein bringen und wie diese Techniken und Menschenbil-
122 Zum philosophischen und bioethischen Diskurs über dieses Thema vgl. etwa Heilinger, Jan: Enhancement. Anthropologie und Ethik. Berlin/New York: de Gruyter 2010; Gesang, Bernward: Perfektionierung des Menschen. Berlin/New York: de Gruyter 2007.
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der einzuschätzen sind. In direkter Verbindung dazu untersucht Julia Inthorn im folgenden Beitrag „die Debatte um ästhetische Chirurgie als Ort konkurrierender Menschenbilder“. Durch die vergleichende Analyse von Zeitungsartikeln, Websites schönheitschirurgischer Kliniken sowie medizinethischer Fachpublikationen zeigt sie, auf welche grundlegenden Annahmen über den Menschen die moralische Bewertung der ästhetischen Chirurgie sich stützt. Sven Stollfuß widmet sich im letzten Beitrag des Bandes einer weiteren Frage nach der Selbsttransformation des Menschen, genauer: der Verschmelzung von Mensch und Maschine. Seine Analyse von wissenschaftlichen, künstlerischen und massenmedialen Imaginationen postbiologischer Körper öffnet den Blick auf unterschiedliche Vorstellungen zu den Grenzen menschlicher Natur. Dieser Band kann nicht mehr sein als eine Anregung, ein kleiner Schritt bei der Beschäftigung mit dem großen Thema „Medialität und Menschenbild“. Viele wichtige Aspekte konnten wir nur oberflächlich streifen oder mussten sie ganz auslassen, darunter nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit Medien und Menschenbildern weiterer Zeiten und anderer Kulturen, das Verhältnis allgemeiner Menschenbilder zu Bildern bestimmter Arten von Menschen, den direkten Vergleich unterschiedlicher Medien oder die Einflüsse von Globalisierung und Medienkonvergenz. Die Menge der Menschenbilder und Medienformen ist unerschöpflich und wächst unablässig weiter. Umso wichtiger scheint es uns, den Prozess des Nachdenkens über sie fortzusetzen. Auf der Website „Menschenbilder in Medien, Künsten und Wissenschaften“ (http://www.menschenbild.org) können interessierte Leserinnen und Leser weitere Informationen finden und sich vielleicht auch selbst an dieser Diskussion beteiligen.
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Teil 1: Geist und Körper
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It’s Human Nature Zur Darstellung der Psyche im Kino am Beispiel der Filme Michel Gondrys Abstract: Media images of human nature are not exclusively concerned with the human body – especially recent popular culture equally puts the human psyche on display. Reflecting, discussing, pursuing, and contradicting ideas from the sciences as well as from religious or philosophical contexts and ‘folk psychology,’ media culture and the arts are of importance to ‘imag(in)ing’ how our mind works. In cinema, this is most evident when films show what a character thinks, dreams, remembers or hallucinates and thus inevitably implicate certain ideas about our mental functioning. These pieces of discursive ‘anthropological’ knowledge in turn also serve as reference points for the audience to make sense of the psyche on screen and might resonate to shape their own ideas and attitudes. Combining approaches from cognitive and semio-pragmatic film theory as well as the study of conceptual metaphors, the essay focuses on the question how and to what effect films incorporate ideas of human nature when representing character interiority. Starting with a general investigation of the mutual relations between popular media and real-world concepts of the mind, I will set out to demonstrate how cinema’s formal aesthetics may implicate specific, often normative ideas about the human psyche with an analysis of several films by French director Michel Gondry.
1 Einleitung Die Fähigkeit zur Imagination¹ gilt als Merkmal, das den Menschen vom Tier einerseits und von der Maschine und künstlicher Intelligenz andererseits abhebt. Erinnerungen, Träume und Fantasien bilden eine wichtige Grundlage menschlichen
1 ‚Imagination‘ wird hier als Sammelbegriff für verschiedene Arten subjektiver, introspektiver Wahrnehmung verwendet, die sich in Anlehnung an Hans J. Wulff insbesondere hinsichtlich ihres Zeitbezugs, des Bezugs zur Wirklichkeit, der Kontrolle und der affektiven Steuerung unterscheiden und prinzipiell auditiv, visuell und sprachlich, sowie olfaktorisch oder taktil erlebt werden können. Vgl. Wulff, Hans J.: Intentionalität, Modalität, Subjektivität.
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Handelns. Als ‚Trainingsprogramm‘, das verschiedene Handlungsalternativen prospektiv und fiktiv durchspielen und durch die Möglichkeit zur retrospektiven Reflexion z. B. der Verarbeitung von Erfahrungen und künftiger Fehlervermeidung dienen kann, wirkt die menschliche Vorstellungskraft hochgradig identitätsbildend und identitätsstiftend. Der Alltagspsychologie, unterschiedlichen Philosophien und Religionen sowie vielen Ansätzen der wissenschaftlichen Psychologie gelten imaginierte Innenwelten als ‚Schlüssel zur Seele‘, zum eigentlichen Ich. Das inhaltliche und formale Repertoire individueller Erinnerungen, Träume und Fantasien wird dabei immer wieder auch als Kriterium geistiger Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit herangezogen und ist insofern in historisch wandelbare Prozesse normativer Grenzziehung zwischen ‚normal‘ und ‚abnormal‘, ‚richtig‘ und ‚falsch‘ eingebunden. Trotz der großen Bedeutung, die unsere Kultur dem subjektiven Vorstellungsvermögen zuschreibt, und obwohl jeder Einzelne täglich träumt, erinnert oder fantasiert, entzieht sich die Frage nach der tatsächlichen Erscheinung und Erlebensqualität solcher Bewusstseinsvorgänge dem direkten empirischen Nachweis. Jenseits naturwissenschaftlich verifizierbarer Daten über die Beschaffenheit unserer mentalen Repräsentationen existiert jedoch eine Vielzahl sich z. T. widersprechender Vorstellungen darüber, wie unsere Psyche eigentlich ‚tickt‘: Denken wir in Sprache, in Bildern oder in Räumen? Können wir überhaupt einen realistischen, quasi-objektiven Zugang zur Realität haben – oder ist schon unsere Wahrnehmung immer individuell eingefärbt, subjektiv konstruiert, von fremden Mächten erfunden? Entsprechen einer Stunde Lebenszeit in der Realität Tage, ja sogar Wochen, Monate, Jahre an Erlebenszeit in einer geträumten Welt, wie es der Dream-Action-Film Inception (2010) suggeriert? Läuft bei unserem Tod das vergangene Leben als Film vor dem inneren Auge ab? Und wenn ja – dann im Zeitraffer oder in Slow-motion, als Best-of oder in umgekehrter Reihenfolge? Solche Fragen sind im Hinblick auf die größere Frage ‚Was ist der Mensch?‘ von hoher Relevanz. Vorstellungen über Materialität, Struktur und Funktion mentaler Repräsentationen trennen geistig Gesunde von psychisch Kranken und göttlich Auserwählten. Sie bewerten unsere Kreativität und Intelligenz, unsere Persönlichkeit und ihre Störungen. Sie entwerfen Bilder von einer Welt in uns, zugleich
In: Träumungen. Traumerzählungen in Film und Literatur. Hrsg. von Bernard Dieterle. 2. Auflage, St. Augustin: Gardez! 2002. S. 53–69.
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aber auch von uns in der Welt und zeichnen den Menschen dabei bisweilen als „wahngeplagtes“², aber auch als fantasiebegabtes Wesen. Künste und Medien spielen bei der Frage nach der Beschaffenheit und dem ‚Aussehen‘ unserer Innenwelten seit jeher eine große Rolle. Ohne die Verwendung von Zeichensystemen wie der Sprache oder visuellen Ausdrucksmitteln wäre eine intersubjektive Verständigung über das, was in unserem Bewusstsein vorgeht, bereits auf Ebene der Alltagskommunikation kaum möglich. Als individuell-subjektiv ganz unterschiedlich erlebbares und wissenschaftlich nur abstrakt beschreibbares Phänomen, das sich dem objektiven Zugang ebenso wie der gemeinsamen Teilhabe verschließt, ist die menschliche Fantasie mindestens seit der Antike nicht nur die Quelle, sondern auch das Thema unzähliger Kunstwerke gewesen. So schreibt der Neurowissenschaftler Daniel Schacter: „Scientific research is the most powerful way to find out how memory works, but artists can best illuminate the impact of memory on our day-to-day lives.“³ Dabei haben stets auch die medialen und künstlerischen Darstellungsmöglichkeiten wissenschaftliche und alltägliche Konzeptionen des Mentalen beeinflusst: Mittelalterliche Darstellungen des Geistes nach aristotelischer Auffassung, die das Herz ins Zentrum rückten, und die exakteren anatomischen Zeichnungen des Gehirns, des Schädels und des Nervensystems, die Leonardo da Vinci (1452–1519) schuf, markieren die Anfänge des wissenschaftlichen Strebens nach einer Visualisierung der komplexen Geistesfunktionen.⁴
Dank der rasanten Entwicklung modernster bildgebender Verfahren werden mediale Darstellungen von Gehirnfunktionen oder ‚Gedankeninhalten‘ in der Presse, in audiovisuellen und interaktiven Medien inzwischen breit rezipiert – und dienen Künstlern und Medienschaffenden wiederum als Inspiration für ihre Werke (Abb. 1 und 2).
2 Gottschling, Jürgen: Haben wir einen freien Willen? – Singer in Heidelberg. In: Neue Rundschau Heidelberg (19.03.2010). http://www.rundschau-hd.de/archives/4443/ (03.11.2011). 3 Schacter, Daniel L.: Searching for Memory. The Brain, the Mind, and the Past. New York: Basic Books 1996. S. 11. 4 Schmitz, Colleen M. u. Ladislav Kesner: Vorwort. In: Images of the Mind. Bildwelten des Geistes aus Kunst und Wissenschaft. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Hygienemuseum Dresden, 2011 und der Mährischen Galerie Brünn, 2012. Hrsg. von Colleen M. Schmitz u. Ladislav Kesner. Göttingen: Wallstein 2011. S. 10–12, hier S. 10.
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A Presented movies
highest posterior movies (MAP)
3rd highest
B
C
1 sec
D Reconstruction Accuracy
48
0,3
0,2
0,1
0 S1
S2
S3
Subject
5rd highest MAP reconstruction Reconstructed movies (AHP)
AHP reconstruction Chance level (p = 0,01)
Abb. 1: Schlüssel zum Ich I: So rekonstruieren Forscher der University of California unsere inneren Bilderwelten.⁵ Spiegel Online (2010) titelte: „Gedanken werden zu Filmen“⁶.
Die Affinität alltäglicher, psychologischer und anderer Konzeptionen der Imagination zu medialen Darstellungsformen drückt sich darüber hinaus in einer Vielzahl von Metaphern und Denkfiguren aus⁷: So sprechen wir z. B. davon, Träume und Gedanken wie Bücher ‚lesen‘ zu können, während das so genannte ‚fotografische Gedächtnis‘ auf ein für Erinnerungen und Fotografie gleichermaßen angenommenes realistisches Abbildungsvermögen rekurriert oder der ‚traumatische Flashback‘ eine filmwissenschaftliche Vokabel aufruft. Die kognitive oder
5 „Figure 4. Reconstructions of Natural Movies from BOLD Signals“, aus: Nishimoto, Shinji, An T. Vu, Thomas Naselaris, Yuval Benjamini, Bin Yu u. Jack L. Gallant: Reconstructing Visual Experiences from Brain Activity Evoked by Natural Movies. In: Current Biology 21.19 (2011). S. 1641–1646, hier S. 1644. 6 Hirnforschung: Gedanken werden zu Filmen. Video. In: Spiegel Online (23.09.2010). http://spon.de/veZE8 (11.01.2012). 7 Zu Metaphern des mind vgl. exemplarisch: Lakoff, George u. Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought. New York: Basic Books 1999. S. 235–266; zu Metaphern des Gedächtnisses vgl. exemplarisch: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 1999; Birk, Hanne: „Das Problem des Gedächtnisses […] dringt in die Bilder“: Metaphern des Gedächtnisses. In: Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hrsg. von Astrid Erll, Marion Gymnich u. Ansgar Nünning. Trier: WVT 2003. S. 79–101; Reinerth, Maike Sarah: A Telescope Pointed at Time... The Concept of the Image-Memory in Feature Films and Memory Discourse. In: Memory in/of English-Speaking Cinema (Arbeitstitel). Hrsg. von Zeenat Saleh u. Melvyn Stokes. Paris: Michel Houdiard 2012 (im Erscheinen); zu Metaphern des Traums vgl. exemplarisch: Brütsch, Matthias: Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv. Marburg: Schüren 2011; Schneider, Irmela: Filmwahrnehmung und Traum. Ein theoriegeschichtlicher Streifzug. In: Dieterle: Träumungen. S. 23–46.
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Abb. 2: Schlüssel zum Ich II: Susan Aldworth ergänzt MRI-Aufnahmen um das, was dem Tomografen entgeht: Cogito ergo sum I (2001). © Courtesy of the artist / GV Art, London.
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konzeptuelle Metapherntheorie geht davon aus, dass „die Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln.“⁸ Metaphern gelten „als das entscheidende kognitive Werkzeug, das es uns überhaupt erst ermöglicht, über abstrakte Dinge nachzudenken.“⁹ Dieser Idee folgend deuten die zahlreichen, z. T. hochgradig konventionalisierten medialen Metaphern des Denkens und Imaginierens auf einen intersubjektiven, wenngleich historisch wandelbaren ‚Konsens‘ über bestimmte strukturelle oder ontologische Analogien beider Bereiche hin. Solche Metaphern sind ein Weg, sich in der Wissenschaft und im Alltag, in Künsten und Medien über die sonst nur schwer zugängliche Sphäre des Mentalen zu verständigen.¹⁰ Gleichzeitig vermitteln sie einen wortwörtlich ‚anschaulichen‘ Eindruck von den ihnen zugrunde liegenden Konzeptualisierungen des Menschen. Mein Beitrag untersucht, auf welche Weise und mit welchem Effekt das filmische Medium mentale Inhalte darstellt und dabei auf verbreitete Konzeptionen der menschlichen Psyche rekurriert, d. h. auf ‚Menschenbilder‘ im Sinne von „historisch und kulturell variablen Geweben aus abstrakten oder anschaulichen Vorstellungen über ‚allgemein menschliche‘ Eigenschaften“¹¹. Dabei wird es zunächst darum gehen, den wechselseitigen Bezug zwischen medialer Darstellung und realweltlicher Vorstellung ebenso wie seine Funktion innerhalb der medialen Kommunikation näher zu beschreiben. Anschließend werde ich anhand einer exemplarischen Analyse mehrerer Filme des französischen Regisseurs Michel Gondry demonstrieren, inwiefern mediale, und dabei insbesondere formalästhetische Strategien zur Darstellung des Mentalen auf spezifische Vorstellungen über die menschliche Natur schließen lassen können, die sich aus zeitgenössischen wissenschaftlichen und medialen Diskursen speisen, dabei aber gleichzeitig universell anschlussfähig bleiben.
8 Lakoff, George u. Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 3. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 2003. S. 11. 9 Goschler, Juliana: Metaphern für Gehirn und Geist. In: Schmitz/Kesner: Images. S. 67–74, hier S. 74. 10 Vgl. dazu Fahlenbrach, Kathrin: Audiovisuelle Metaphern. Zur Körper- und Affektästhetik in Film und Fernsehen. Marburg: Schüren 2010; Goschler: Metaphern; Lakoff/Johnson: Leben; Philosophy. 11 Vgl. die Einleitung in diesem Band.
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2 Kopfkino und Traumfabrik: Medialität und mediale Darstellung von Imaginationen Das Kino wurde schon früh und seither immer wieder mit den Mechanismen des Bewusstseins und der imaginativen Vorstellungskraft analog gesetzt.¹² Dabei erschöpfte sich dieser Transfer nicht in der Hervorhebung kinematografischer Möglichkeiten, der Vorstellungskraft gleich jedes erdenkliche fantastische Szenario darzustellen, sondern bezog sich häufig auch auf strukturelle und formalästhetische Übereinstimmungen zwischen Formen des Innenlebens und Formen der Filmkunst: Regisseure wie Federico Fellini (8 ½, 1963; La città delle donne, 1980) oder Robert Altman (3 Women, 1977) nutzten ihre eigenen Träume als Drehbuchvorlagen; Essayfilmer wie Chris Marker (Sans soleil, 1983) oder JeanLuc Godard (Éloge de l’amour, 2001) bildeten mit ihren mäandernden Werken Denk- und Erinnerungsprozesse nach; Cineasten wie François Truffaut (La nuit américaine, 1973; L’amour en fuite, 1979) oder Steven Soderbergh (The Limey, 1999) erkannten im Archivcharakter des Films Ähnlichkeiten zum menschlichen Gedächtnis. Darüber hinaus waren neben Film- und Kulturtheoretikern wie Alexandre Astruc¹³ oder Gilles Deleuze¹⁴ auch Ärzte und Psychologen wie Sigmund Freud, Fritz Kahn oder Hugo Münsterberg von den Parallelen zwischen Kino und Geist fasziniert und arbeiteten diese z. T. explizit in ihre Theorieansätze oder Behandlungsmethoden ein.¹⁵ So beschäftigten den Psychologen und Pionier der Filmtheorie Hugo Münsterberg Fragen nach dem Bewusstsein, Wahrnehmungsprozessen und individuell-subjektiven Gedächtnisinhalten zunächst auf Ebene der experimentellen Psychologie: In seinen empirischen Studien untersuchte er mithilfe kinematografischer Apparaturen Prozesse der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses, der Assoziation und der Emotion, bevor er sich mit The Photoplay¹⁶ der Filmästhetik zuwandte. Für den Psychologen war das Kino ein ‚Medium des Bewusstseins‘: „Das Lichtspiel erzählt uns die Geschichte vom Menschen, indem es die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität überwindet und das Gesche-
12 Vgl. dazu Brütsch: Traumbühne. Klippel, Heike: Gedächtnis und Kino. Basel/Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Nexus 1997; Schneider: Filmwahrnehmung. 13 Astruc, Alexandre: Naissance d’une nouvelle avant-garde: la caméra-stylo. In: L‘Écran français 144 (30.03.1948). S. 98–99. 14 Deleuze, Gilles: Cinéma 2: L‘Image-temps. Paris: Éditions de Minuit 1985. 15 Vgl. z. B. Brütsch: Traumbühne; Klippel: Gedächtnis; Schneider: Filmwahrnehmung. 16 Münsterberg, Hugo: The Photoplay. A Psychological Study. London/New York: D. Appleton 1916.
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hen den Formen der Innenwelt, nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion anpaßt.“¹⁷ Er verwies damit bereits 1916 implizit auf drei Berührungspunkte zwischen Film und Psyche: Einerseits bezeichnete Münsterberg das Lichtspiel als Medium, welches das Bewusstsein der Zuschauer während der Rezeption aktiviert und anspricht. Andererseits schien ihm der Film besonders geeignet, den menschlichen Geist zu simulieren und zu imitieren. Unter dieser Ähnlichkeitsbeziehung von Medium und mind verstand er jedoch zweierlei: erstens eine allgemeine Strukturanalogie zwischen den Erzähl- und Darstellungsformen des Kinos und den Prozessen der menschlichen Wahrnehmung; und zweitens die Möglichkeit des Films, mentale Prozesse gemäß der Logik des Bewusstseins medial zu repräsentieren. Münsterbergs Überlegungen können damit sowohl als Vorbereitung filmphilosophischer (oder ‚filmosophischer‘¹⁸) Ansätze gelten, die den Film selbst als bewusstseinsfähiges Subjekt betrachten, als auch als Versuch bezeichnet werden, signifikante formal-ästhetische Strategien zur Darstellung von Imaginationen systematisch mit Ideen über die Funktionsweise des Geistes in Verbindung zu bringen. Während der seit dem Erscheinen von The Photoplay nahezu 100-jährigen Entwicklung der Filmgeschichte hat sich die Darstellung von Imaginationssequenzen im Kino weiter ausdifferenziert: Die Einführung von Ton- und Farbfilm oder der digitalen Animation eröffneten neue technische Möglichkeiten; das filmische Erzählen orientierte sich – mal mehr, mal weniger – an anderen, ebenfalls historisch wandelbaren medialen Erzähltraditionen wie der des Romans oder der Fernsehserie; wissenschaftliche Entwicklungen wie die psychotraumatologische Diagnostik¹⁹ oder die bereits angesprochenen ‚bildgebenden Verfahren‘²⁰ – Röntgen, Sonografie, PET, MRI usw. – führten jeweils zu neuen Erkenntnissen oder Vorstellungen über den psychischen Apparat. Gleichzeitig haben sich einige markante Strategien der Markierung und Repräsentation von Imaginationen mit der Zeit konventionalisiert, die inzwischen fast universell von ganz unterschiedlichen Publika verstanden, von Filmemachern aber auch parodiert oder bewusst irreführend eingesetzt werden, z. B. um Spannung zu erzeugen. Diese Bewegun-
17 Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino. Hrsg. von Jörg Schweinitz. Wien: SYNEMA 1996. S. 84. 18 Frampton, Daniel: Filmosophy. A Manifesto for a Radically New Way of Understanding Cinema. London/New York: Wallflower Press 2006. 19 Vgl. z. B. Fischer, Gottfried u. Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. 3. Aufl. München/Basel: Ernst Reinhardt 2003. 20 Vgl. z. B. Stollfuß, Sven u. Philipp Blum: Logik des Filmischen. Wissen in bewegten Bildern. In: MEDIENwissenschaft 3 (2011). S. 294–310.
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gen der Konventionalisierung und Innovation greifen ineinander und zeugen von der Persistenz und Lebendigkeit der Idee vom imaginationsaffinen Medium Kino. Als Ausdrucksformen einer sich stets wandelnden Kultur geben sie Aufschluss über die in ihr bestehenden Konzepte vom Menschen und seinen psychischen Fähigkeiten. Anders als beispielsweise die Literatur basiert die Filmerzählung dabei nicht auf dem Prinzip arbiträrer Zeichen-Sinn-Zusammenhänge oder auf einem grammatikalischen System zur Vermittlung personaler Perspektivierung. Anstatt also von einer der Sprache vergleichbaren ‚Grammatik des Films‘ auszugehen, schlage ich einen an kognitiven und semiopragmatischen Herangehensweisen orientierten Ansatz vor, dem zufolge audiovisuelle Medien die in einer Gesellschaft als kognitive und kulturelle Schemata vorhandenen Annahmen über die Beschaffenheit der Psyche und des Mentalen auf die mediale Darstellungsebene transportieren, um Phänomene wie das Erinnern, Träumen oder Fantasieren darzustellen. Diese können wiederum von Rezipienten aufgrund kultureller und gesellschaftlicher Prägung, körperlicher und mentaler Erfahrung und möglicherweise auch angeborener Fähigkeiten verstanden werden. Dabei werden das kulturelle Wissen und der kollektive Erfahrungsschatz einer Gesellschaft über objektiv und kommunikativ nur schwer fassbare, subjektiv jedoch universell erfahrbare Aktivitäten des Geistes in mediale Formen gegossen und gerinnen so zum intersubjektiv verständlichen audiovisuellen Ausdruck. Darstellungen der Psyche geben also Menschenbilder in einem ersten Sinn als Vorstellungen über den Menschen und seine mentalen Fähigkeiten wieder und werden, indem sie den menschlichen Geist und seine ‚Zustände‘ zu simulieren und (audio-)visuell zu repräsentieren suchen, selbst zu Menschenbildern in einem zweiten, konkreteren Sinn. Seine Imaginationsaffinität kommt dem Kino dabei besonders zupass, da es die psychischen Prozesse und somit einen essentiellen Teil menschlichen Seins als ‚Medium des Bewusstseins‘ scheinbar unvermittelt darzustellen vermag. Indem sie mit der subjektiven Imagination jedoch etwas völlig Unsichtbares in einer spezifischen Weise intersubjektiv sicht- und hörbar werden lassen, verraten uns Filme letztlich viel mehr darüber, wie ‚man‘ sich in einer bestimmten historisch und kulturell situierten Gesellschaft Imaginationen vorstellt und erklärt als wie sie ‚wirklich‘ sind.
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3 Re-Mastering the Mind: Michel Gondry Der Franzose Michel Gondry, Regisseur und Autor mehrerer Kinospielfilme sowie einer Vielzahl von Musikvideos und Werbeclips, gilt als einer der innovativsten Filmemacher unserer Zeit, der „seine eigensinnige Handschrift auch in die Erzählkonventionen Hollywoods [hat] einschreiben können.“²¹ Damit zählt Gondry zu den Vertretern eines „Newest Hollywood“²², das seit den 1990er Jahren experimentelle Sujets, Erzähl- und Produktionsformen in den filmischen Mainstream trägt. Zentral für sein Werk ist die Beschäftigung mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Liebe, der zugleich konstruktiven wie destruktiven Kraft der Fantasie und den Herausforderungen unserer medialisierten, technisierten Welt, die er thematisch mit Fragen nach der Identität des Menschen – als liebendes, leidendes, denkendes, träumendes, schöpferisches und zerstörerisches Wesen – verknüpft. Gondry, der für zwei seiner bislang fünf abendfüllenden Spielfilme mit Drehbuchautor Charlie Kaufman zusammenarbeitete, jagt seine Figuren dabei durch surrealistische Fantasiewelten, die jedoch ihren materiellen wie auch ideellen Ursprung stets in einer sehr realen Wirklichkeit zu nehmen scheinen. Die Handlung verläuft meist mehr assoziativ denn linear und transzendiert so „die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität“²³. Seine „bizarre[n] Kinofilme über Träumer, Verrückte, Verliebte, Ausgeschlossene und deren abstrakte Innenwelten“²⁴ bleiben dabei jedoch aller visueller Surrealität und Spektakularität zum Trotz stets „grounded in the timeless questions and yearnings of human relationships.“²⁵ Neben der im gegenständlichen Film fast unvermeidlichen körperlichen Darstellung anthropomorpher Figuren – eine Form von Menschenbildern, die ich hier nicht ausführlich diskutieren kann –, zeigt Gondry den Menschen also insbesondere als geistig-emotional aktives Wesen, dessen psychische Fähigkeiten und Beschränkungen sein Selbstkonzept und seine Sozialität maßgeblich mitbestimmen.²⁶ Er realisiert diese psychischen Menschenbilder einerseits in einem ganz
21 Altmeyer, Markus: Die Filme und Musikvideos von Michel Gondry. Zwischen Surrealismus, Pop und Psychoanalyse. Marburg: Tectum 2008. S. 7. 22 Bordwell, David: The Way Hollywood Tells It. Story and Style in Modern Movies. Berkely/ Los Angeles: University of California Press 2006. S. 74. 23 Münsterberg: Lichtspiel, S. 84. 24 Altmeyer: Gondry, S. 7. 25 Hirschberg, Lynn: Le Romantique. In: The New York Times Magazine (17.09.2006). http:// www.nytimes.com/2006/09/17/magazine/17gondry.html?pagewanted=1&_r=1 (06.12.2011). 26 Bei dieser Dreiteilung (fiktiver) Wesen orientiere ich mich an der von Jens Eder für die Medienanalyse ausdifferenzierten Unterscheidung von Körper, Psyche und Sozialität, die er
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buchstäblichen und oben bereits beschriebenen Sinn, indem er filmisch in die Imaginationswelten seiner Protagonisten eintaucht und somit deren real nicht darstellbare Funktionsweise zur Anschauung bringt. Doch auch wo sie Bewusstseinsphänomene nicht direkt zu repräsentieren suchen, fokussieren seine Filme andererseits auf inhaltlicher Ebene die Rolle und Bedeutung menschlicher Kreativität und Imagination, geistiger und emotionaler Prozesse, die uns z. B. die Fähigkeit, etwas zu wünschen, zu planen oder zu erkennen verleihen und uns anscheinend von Tieren oder Maschinen trennen. Um beide Phänomene soll es in den folgenden Filmanalysen gehen, die zu klären versuchen, welche impliziten und expliziten Annahmen und Bewertungen der menschlichen Psyche Gondrys Filme kennzeichnen.
4 Human Nature (2001) Für eine Beschäftigung mit dem menschlichen Geist scheint Gondrys erster Kinospielfilm Human Nature zunächst eine ungewöhnliche Wahl. Zwar behandelt der Film, wie bereits der Titel andeutet, ganz unmittelbar Fragen nach dem Wesen des Menschen, beschäftigt sich dabei jedoch vordergründig eher mit Aspekten des Körperlichen und des Sozialen. Lila Jute steckt offensichtlich in der falschen Haut. Die attraktive junge Frau leidet hormonell bedingt an Ganzkörperbehaarung, die sie in ihrer eigenen Wahrnehmung zum Freak macht. „By the time I was 20“, erzählt die Jugendliche Lila in einem Flashback, „I looked like an ape.“ Nach Jahren selbstauferlegter Isolation fernab jeden zivilisatorischen Komforts ist es das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung und zwischenmenschlicher Nähe, das Lila schließlich zurück in den Schoß ihrer Mitmenschen treibt und sie veranlasst, ihr animalisches Äußeres mithilfe einer schmerzhaften Enthaarungsprozedur ‚menschlicher‘ werden zu lassen. Ihr Plan geht auf und schon bald lernt Lila den Verhaltensforscher Nathan kennen, einen notorischen Benimm-Experten, vor dem sie ihr dunkles, buschiges Geheimnis unter allen Umständen geheim halten muss. „Do you know what truly separates us? Civilization.“ hatte der Vater dem kleinen Nathan vor dem Affengehege im Zoo einst erklärt. Triebkontrolle und Tischmanieren sind es, so die verkürzte Variante, welche bei dem Jungen hängenbleibt,
sowohl aus der philosophischen Anthropologie als auch aus der Drehbuchpraxis herleitet. Vgl. Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008, insbes. S. 173–185.
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die den Menschen vom Tier unterscheiden. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wird Nathan später diese Dichotomie zu überbrücken versuchen, indem er Mäuse im behavioristischen Experiment (erfolgreich!) konditioniert, mit Tafelsilber zu essen. Beide Protagonisten werden samt der durch sie repräsentierten normativen Unterscheidungskriterien von Mensch und Tier – eine spezifische Körperlichkeit auf der einen und eine bestimmte Sozialität auf der anderen Seite – auf die Probe gestellt, als der vom Vater wie ein Affe aufgezogene Puff in ihr gemeinsames Leben tritt. Während Nathan in der Transformation Puffs zum kultivierten Menschen die Chance auf sein wissenschaftliches Meisterstück wittert, fühlt sich Lila zu dem ‚edlen Wilden‘ hingezogen, der sie auch ihre eigene Animalität wiederentdecken lässt. Indem Gondrys Film also von der Evolutionsbiologie über die klassische Konditionierungslehre, sozialdarwinistische Thesen und idealistische Positionen der Aufklärung bis hin zu aktuellen Schönheitsdebatten explizit eine Vielzahl von Diskursen zur körperlichen und sozialen Differenz von Mensch und Tier aufgreift, bleibt die menschliche Psyche jedoch nur scheinbar unterbelichtet. Eingebettet in Flashbackerzählungen, die zwar als Erinnerungen der Protagonisten etabliert werden, sich aber großteils kaum von einer äußeren, nicht figurengebundenen Darstellung unterscheiden, nutzt Gondry auch explizitere Formen des mindscreen²⁷: Sequenzen, die wie die beschriebenen Kindheitserinnerungen retrospektiv oder prospektiv als Wünsche und Albtraumfantasien durch die individuelle Perspektive der Figuren repräsentiert werden, sind stilistisch vom Rest des Films abgesetzt. Nicht nur das in diesen Sequenzen inhaltlich Erzählte, sondern auch die Art und Weise der Darstellung ist dabei „determined by […] the present-tense consciousness of [the] characters“²⁸ und gerinnt zum Ausdruck spezifischer Möglichkeiten, die unsichtbare Funktionalität des Geistes zu veranschaulichen. Durch die Simulation grobkörniger Super-8-Amateuraufnahmen ruft Human Nature die Metapher vom Gedächtnis als (filmischem) Speichermedium ab und verweist gleichzeitig auf den privaten Charakter individueller biografischer Erinnerung. Doch hat dieses ‚fotografische Gedächtnis‘ keineswegs bloßen Abbildcharakter – selbstreferenziell und vorausschauend spricht die höchstens 15-jährige Lila in der Vergangenheitsform über ihr zu diesem Zeitpunkt zukünftiges, 20-jähriges Selbst und scheint ihre Feststellung durch einen offenen Blick in die Kamera auch weniger an die sie umgebenden Figuren als direkt an die Zuschauer zu richten. Das menschliche Gedächtnis wird hier zwar als Auf-
27 Kawin, Bruce: Mindscreen. Bergman, Godard, and First-Person Film. Rochester/McLean/ London: Dalkey Archive Press 2006. 28 Ebd., S. 79.
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zeichnungs- und Speichermedium entworfen, dessen Zuverlässigkeit allerdings durch imaginative und kommunikative Strategien korrumpiert ist. Schon Human Nature konzipiert Bewusstseinsinhalte somit als höchst flexible und gestaltbare Gebilde – eine Idee, die in Gondrys späterem Werk noch ausdifferenziert wird.
5 Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004) Stilbildend ist dafür insbesondere sein zweiter Kinofilm, Eternal Sunshine of the Spotless Mind. Der Film beginnt kurz nach dem Ende der Beziehung zwischen dem zurückhaltenden Joel und der flippigen Clementine, genannt Clem. In der Praxis von Dr. Mierzwiak hat Clem nach der Trennung mithilfe einer neuartigen Computertechnologie alle Erinnerungen an Joel und ihre gemeinsame Zeit löschen lassen. Als Joel dies herausfindet, beschließt er nachzuziehen. Während der Behandlung erlebt er – und mit ihm die Zuschauer – die Erinnerungen an Clem ein letztes Mal. Die Löschung beginnt mit den aktuellsten, schmerzhaftesten Erinnerungen und arbeitet sich in Sequenzen rückwärts bis zur ersten Begegnung durch. Als Joel klar wird, dass er sich eines wesentlichen Teils seiner Identität entledigt, versucht er, während er äußerlich schläft, sich kraft seiner Imagination der Behandlung zu entziehen und seine Erinnerung an Clem vor dem Löschprogramm zu verbergen. Dieser Rettungsversuch ist als wilde Flucht des Paares durch Joels Bewusstseinsräume inszeniert, in denen sich Erinnerungen, Vorstellungen und aktuelle Eindrücke überlagern. Eternal Sunshine bedient sich dabei virtuos zahlreicher kanonisierter Gestaltungsmerkmale zur Kennzeichnung imaginierter Einschübe²⁹: Voice Over, verknüpfende Montage und simultane Bild-/Tonüberlagerungen, ergänzt um Rückprojektionseffekte, Zeitraffer und Rückwärtslauf. Auffälliger als die mentalen Sequenzen selbst ist jedoch ihre Zerstörung durch das fortschreitende Vergessen. Im Vordergrund stehen hier Mechanismen der Verundeutlichung und Auflösung, die auf der visuellen wie auf der akustischen Darstellungsebene in verschiedensten Formen aufgegriffen werden: Konturen von Objekten und Figuren werden unscharf, Räume und Gebäude stürzen ein oder werden ausradiert, Nebel verschleiert Handlungsorte, pointierte Lichtsetzungen tauchen ganze Bewusstseinsbereiche ins Dunkel, Gesichter sind verzerrt, verdeckt oder verschwinden voll-
29 Vgl. Reinerth, Maike Sarah: Spulen, Speichern, Überspielen. Zur Darstellung von Erinnerung im Spielfilm. In: Probleme filmischen Erzählens. Hrsg. von Hannah Birr, Maike Sarah Reinerth u. Jan-Noël Thon. Münster: Lit 2009. S. 33–58.
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ständig von der Bildfläche. Akustisch wird das Vergessen zudem durch verzerrte und hallende Stimmen sowie ein technisch-artifizielles Soundmotiv umgesetzt.³⁰ Kennzeichnend ist dabei die Darstellung von Erinnerungen als Gedächtnisräume, die von dem erinnernden Protagonisten während des Erinnerns betreten werden, die aber auch – so Eternal Sunshine – labyrinthisch, brüchig und instabil erscheinen. Der Film verweist damit auf eine interdisziplinär verbreitete Metapher des Gedächtnisses als Raum, die vermutlich auf den antiken Rhetoriker Simonides zurückgeht.³¹ Die Idee von der räumlichen Erinnerung ist seit dem Mittelalter von verschiedenen Theoretikern aufgegriffen und in medialen Darstellungen des Geistes als Bühne, Museum oder Haus sowie im Science-Fiction-Genre mit der Verräumlichung von Zeit immer wieder veranschaulicht worden. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Konzept insbesondere innerhalb der Psychologie und Neurowissenschaft diskutiert, als sich durch experimentelle Verfahren nachweisen ließ, dass imaginative Leistungen des Gehirns dieselben Hirnareale beanspruchen wie die räumliche Orientierung.³² Damit wurde eine andere nach wie vor verbreitete Idee, nämlich die von Geist und Imagination als Bild³³, zumindest teilweise abgelöst. Neben dieser von Subjektivität und intensivem Erleben gekennzeichneten Darstellung zeigt Eternal Sunshine Erinnerungen aber auch als physiologische Phänomene, die in der Gedächtnisbehandlung durch einen operativen Eingriff entfernt werden können. Das individuell Einzigartige der biografischen Erfahrung und der subjektiv erlebten Erinnerung wird durch die Betrachtung des hirnphysiologischen Vorgangs in den Hintergrund gedrängt. Durch fiktive fMRI- und EEG-Aufzeichnungen integriert der Film eine medizinisch-naturwissenschaftliche Darstellung von Erinnerung als Gehirnaktivität und nimmt dabei explizit Bezug auf aktuelle wissenschaftliche Diskurse. Dabei scheint vordergründig eine Entsprechung zwischen dem topografisch konzipierten Gehirn und der räumli-
30 Zur Darstellung von Erinnerung in Eternal Sunshine vgl. ebd. sowie Reinerth, Maike Sarah: Formen der Erinnerung im Spielfilm. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Hamburg: Universität Hamburg 2009, insbes. S. 101–129; Vernallis, Carol: Music Video, Songs, Sound: Experience, Technique and Emotion in Eternal Sunshine of the Spotless Mind. In: Screen 49/3 (2008). S. 277–297; Vidal, Fernando: Eternal Sunshine of the Spotless Mind and the Cultural History of the Self. In: WerkstattGeschichte 45 (2007). S. 96–109; Volland, Kathrin: Innenschau des Vergessens: Eternal Sunshine of the Spotless Mind. In: Mediale Ansichten. Dokumentation des 18. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums Universität Mannheim 2005. Hrsg. von Nicole Kallwies u. Mariella Schütz. Marburg: Schüren 2006. S. 163–170. 31 Der Legende nach memorierte er seine Reden, indem er Inhalte zu realen Räumen in Bezug setzte, die er mental während der Ansprache abschritt. 32 Vgl. Städtler, Thomas: Lexikon der Psychologie. Stuttgart: Kröner 2003. S. 1185–1187. 33 Vgl. ebd. sowie Reinerth: Telescope.
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chen Repräsentation der Imaginationssequenzen zu bestehen: Wiederholt wird von der Kartografierung des Hirns gesprochen, in dem die Erinnerungen als physische Entitäten präzise lokalisiert werden können. Indem der Geist und in einer metonymischen Verkürzung das Gedächtnis als abgeschlossener Raum bezeichnet werden, der Erinnerungen ‚ent‘- oder ‚behält‘, wirkt es geradezu, als würde Joel sich physisch durch seine Hirnwindungen bewegen. Anders jedoch als bei den im fMRI isoliert für sich stehenden Erinnerungsflecken, die funktionale, nicht aber räumliche Verbindungen aufweisen, existiert in Joels mentaler Welt eine praktische physische Kontinuität zwischen raumzeitlich weit auseinander liegenden Erinnerungen, die anscheinend emotional und assoziativ – und eben nicht hirnphysiologisch – begründet ist. Obwohl beide topografisch entworfen werden, bestehen auch zwischen biologischem Gehirn und immateriellem Geist allem Anschein nach also enge funktionale Beziehungen, aber keine räumliche Deckungsgleichheit. Indem Eternal Sunshine die medizinischen Möglichkeiten der Gedächtnisbehandlung als existenzielle Bedrohung für die Identität und das subjektive, emotionale Erinnerungserleben darstellt, bezieht der Film deutlich Stellung gegen eine Sichtweise, welche die komplexen Bedeutungen von Erinnerungen für das Subjekt ausklammert: Sich zu erinnern bedeutet in Eternal Sunshine mehr als das Schalten der Synapsen im Gehirn. Als biografische Rekonstruktionsleistung sind Erinnerungen Bausteine von Identität und Selbsterfahrung.³⁴ Als mentale Konstruktionen sind alle Formen der Imagination darüber hinaus ein „spezifischer Typ von Bewußtseinsphänomenen“³⁵, die für den ‚Erinnerer‘³⁶ zu einem Teil seines Empfindungs- und Erfahrungsschatzes werden. Erinnerungen und Vorstellungen werden zu wertvollen Kreationen einer schöpferischen Psyche. Joel kreiert selbst, bewusst und selbstbewusst seine eigene utopische Parallelwelt, in der sich die Vorstellungen von der Vergangenheit verändern lassen. Durch die filmische Darstellung wird er so zu einer Art grand image maker, der mit dem Material subjektiver Erfahrung Geschichte(n) erzählt und variiert. Dies
34 Insbesondere die als Zeitreisen realisierten Kindheitserinnerungen rufen dabei psychoanalytische Deutungsmuster Freud’scher Prägung auf, bleiben jedoch gleichzeitig auch anschlussfähig für Konzepte der aktuellen Identitätsforschung. Vgl. Reinerth: Formen, S. 101–129; vgl. auch: Altmeyer: Gondry. 35 Rusch, Gebhard: Erinnerungen aus der Gegenwart. In: Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hrsg. von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. S. 267–292, hier S. 284. 36 Den Begriff des „rememberer“ hat der Neurowissenschaftler Endel Tulving in der Diskussion des autonoetischen (Selbst-)Bewusstseins beim Erinnern geprägt. Vgl. Schacter: Searching, S. 17.
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zeigt sich auch, wenn Erinnerungen im fortschreitenden Prozess des Vergessens ihre materielle Beschaffenheit offen legen: Erinnerungsräume erweisen sich als instabil, Erinnerungsobjekte als Bildflächen, die ausradiert werden können, Erinnerungssequenzen als Filmmaterial, das zurückgespult, mehrfach belichtet oder verfremdet werden kann. Hier werden nicht einfach Metaphern vom Gedächtnis als Raum oder Speichermedium abgespult. Die Darstellung der Erinnerungen ist darüber hinaus einer Ästhetik des Selbstgemachten verpflichtet und deutet so auf den ihr zugrunde liegenden kreativen Schöpfungsprozess ebenso wie auf die Flüchtigkeit und Instabilität medialer Aufzeichnungen und mentaler Gebilde hin.
6 La science des rêves (2006) Auch in Gondrys drittem Kinospielfilm La science des rêves kommt der Aspekt mentaler Kreativität deutlich zum Ausdruck. Nach dem Tod des Vaters zieht der introvertierte Stéphane von Mexiko nach Frankreich. Entgegen seiner künstlerischen Begabung muss er in seinem neuen Job für eine Pariser Kalenderfirma stupide Reproduktionsaufgaben erledigen. Auch im Privatleben läuft nicht alles nach Plan: Stéphane verliebt sich in seine Nachbarin Stéphanie, kann sich aber nicht auf eine ernsthafte Beziehung einlassen. Überfordert von der nicht beherrschbaren Wirklichkeit weist er die Zuneigung seiner Freunde ab und flüchtet in eine Fantasiewelt, wo er alles unter Kontrolle zu haben scheint. Für Stéphane verwischen die Grenzen zwischen Realität und Traum zunehmend, bis er beide kaum noch auseinander halten und auch die Konsequenzen seines Handelns nicht mehr absehen kann. La science des rêves konzipiert das Mentale seines Protagonisten als imaginäre TV-Show „Stéphane TV“, die er selbst in seinem – einem Fernsehstudio gleichenden – Kopf inszeniert. Dort werden Träume in einem Kochtopf nach Rezept aus Lebensmitteln fabriziert und in Form psychedelischer Bewegtbild-installationen ausgestrahlt, Erinnerungen durch ‚Archivmaterial‘ eingespielt und von kurzen Moderationstexten kommentiert oder Fantasievorstellungen mithilfe der Stop-Motion-Technik zum Leben erweckt (Abb. 3). Das Imaginative wird also auch in La science des rêves zumindest teilweise als Raum konstruiert, der allerdings, anders als in Eternal Sunshine, eher als Schaltzentrale denn als labyrinthischverzweigter Irrgarten fungiert und gemäß der Logik des „cerebral subjects“³⁷
37 Vidal: Eternal Sunshine, S. 103; vgl. auch: ebd., S. 103–107; Vidal, Fernando: Von unserem eigenen Gehirn überlebt. In: Schmitz/Kesner: Images. S. 41–48.
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eindeutig innerhalb des als Haus oder Behältnis gedachten Gehirns angesiedelt ist. La science des rêves entwirft die mentale Vorstellungskraft darüber hinaus, wie schon Human Nature und Eternal Sunshine, als medienähnlichen Imaginationsapparat, der Münsterbergs Idee vom bewusstseinsaffinen Medium Film aufgreift und nun die multimodal und dispers operierende Fernsehübertragung zum Austragungsort von Identitätskonflikten macht. Dabei kommt neben den auf den Archivcharakter des Gedächtnisses verweisenden ‚Erinnerungseinspielungen‘ – deren Sinn durch den Kommentar jedoch bemerkenswerterweise als interpretationsabhängig charakterisiert wird – oder der durch die ‚Talkshows‘ implizierten polyphonen, multiplen Identitätskonzeption der Postmoderne vor allem den Animationssequenzen besondere Bedeutung zu: Mit seinen Stop-Motion-Sequenzen gehört La science des rêves zu einer Gruppe von Filmen, die den illusionistischen Charakter der animierten Gattung nicht nur nutzen, um Imaginationssequenzen zu markieren, sondern dabei auf ganz spezifische, nämlich normabweichende, ‚unrealistische‘ Formen der Vorstellung zu verweisen.³⁸ Indem Animation als adäquater Darstellungsmodus für derart gestörte und verzerrte Wahrnehmungen immer wieder eingesetzt wird, geriert die häufig angenommene – wenngleich umstrittene – Opposition von Animation und Realfilm zum rezeptionsleitenden Stilmittel. Animation wird zur Metapher, d. h. zu einer salienten Form der Kennzeichnung subjektiver Sequenzen, die gestörte Wahrnehmung und indirekten Realitätszugriff repräsentieren und deren Andersartigkeit medial gespiegelt für den Zuschauer erlebbar gemacht werden soll. La science des rêves rekurriert damit auf eine stark normative Vorstellung über die Funktionalität unseres psychischen Apparats, der uns anscheinend einen ‚objektiven‘, d. h. ungefilterten Realitätseindruck vermitteln soll und Abweichungen von dieser Norm für psycho-sozial dysfunktional erklärt. Der Film markiert die dabei aufgerufenen Dichotomien ‚realistisch/illusorisch‘ bzw. ‚normerfüllend/normabweichend‘ auch über den Einsatz verschiedener Mediengattungen und differenziert so das Vokabular der Medium-mind-Metaphorik weiter aus: Dem (fotorealistischen) ‚fotografischen Gedächtnis‘ wird die ‚lebhafte Fantasie‘ animierter und nicht-gegenständlicher Bilder gegenübergestellt – wer, wie Stéphane, beides nicht auseinander halten kann, gilt als geistig abnormal.³⁹ Gondry
38 Vgl. Reinerth, Maike Sarah: Überall und nirgends. Animationsfilmforschung in Deutschland. Vortrag auf dem Workshop Animierte Theorien. Universität und Hochschule für angewandte Kunst Wien (02.–03.12.2011). Video. http://passagen.univie.ac.at/video/ueberallund-nirgends-animationsforschung-in-deutschland (19.03.2012). 39 Wie realwirksam das dabei implizierte normative Menschenbild ist, zeigt z. B. die Tatsache, dass sich der im Gericht zur Urteilsfindung zugelassene Zeugenbeweis auf die ‚Objektivität‘, d. h. auf eine bestimmte Form der Verlässlichkeit des Gedächtnisses stützt, die aber auch
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Abb. 3: Selbstgemachte Träume: Stéphane kocht einen Traum, der im mentalen TV-Studio als psychedelische ‚Spin Art‘ visualisiert wird: La science des rêves, a film by Michel Gondry. © 2006 GAUMONT/PARTIZAN FILMS/FRANCE 3 CINEMA (France), BIANCA FILM (Italy).
jedoch stellt diese normative Grenzziehung in Frage: Stéphanes immersive Fantasiewelten erscheinen zwar als Symptom und Faktor seiner Unzurechnungsfähigkeit, sind jedoch andererseits Ausdruck ausgeprägter Kreativität. Die Imaginationssequenzen, die ihn einerseits sozial disqualifizieren, charakterisieren ihn andererseits als Figur mit nachvollziehbaren Wünschen, Ängsten, Gefühlen und einer fast genialischen Begabung, für die sich Sympathie und Bewunderung empfinden lassen. Schließlich ließe sich trotz der offensichtlichen Entfernung von bestimmten Realitätsnormen auch von einer Darstellung sinnlich-konkreter, emotionaler ‚Wahrheiten‘ sprechen, die auf eigene Weise ‚realistisch‘ und ‚zuverlässig‘ sind. Als fantasievoll inszeniertes, visuell spektakuläres Kopfkino besitzen die Szenen zudem für sich schon positiv konnotierten Schauwert und lassen eine liebevolle Verbundenheit zwischen der fiktiven Figur und ihrem realen Schöpfer Gondry erkennen, die die ‚Unbrauchbarkeit‘ Stéphanes ebenfalls eher in Frage stellt.
angezweifelt werden kann. Nach deutschem Recht ist es zudem möglich, eine Person aufgrund „krankhafter Störung der Geistesfähigkeit“ für geschäftsunfähig (§ 104 Nr. 2 BGB) oder „wegen seelischer Störungen“ für schuldunfähig (§ 20 StGB) zu erklären. In beiden Fällen kann ein prinzipiell rechtsfähiges Subjekt aufgrund psychischer Merkmale als rechtsstaatlich und sozial unbrauchbar klassifiziert werden.
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Wie Eternal Sunshine zeigt also letztlich auch La science des rêves, dass sich die Leistungsfähigkeit unseres psychischen Apparats nicht in der Erfassung der Wirklichkeit erschöpft, sondern – ganz im Gegenteil – erst der kreative mentale Umgang mit dem, was uns die Realität zu bieten hat, uns nicht nur zu denkenden, sondern auch zu fühlenden, träumenden und schöpferischen Subjekten macht – zum homo imaginans, dem imaginierenden Menschen. Indem beide Filme normativen Vorstellungen über die (wissenschaftlich oder sozial ausgehandelte) Zuverlässigkeit und Objektivierbarkeit und die (wissenschaftlich oder sozial ausgehandelte) ‚Gesundheit‘ menschlicher Geistestätigkeit offensiv das subjektive, kreative und geltende Normen auf den Kopf stellende Potenzial menschlicher Imaginationsfähigkeit gegenüberstellen, plädieren sie implizit dafür, den Menschen als Wesen zu denken, das sich vor allem durch sein Talent zur freien, unberechenbaren Imagination auszeichnet. Im Rekurs auf aktuelle wissenschaftliche Diskurse und populäre Theorien erscheint die menschliche Psyche zwar physiologisch und sozial geprägt, jedoch nicht determiniert und ist insofern auch kaum nach ihrem rein biologischen oder sozialen ‚Wert‘ zu beurteilen.⁴⁰ Vielmehr wird der homunkulisch gedachte Geist bei Gondry selbst zum eigenwilligen, genialen aber auch streitbaren (Medien-)Künstler, der sein Umfeld und die Gesellschaft mit ihren geltenden Regeln und Werten rezipiert, kommentiert und bisweilen sogar revolutionieren kann – Fantasie(begabung) und Wahn(plage) liegen dabei dicht beieinander.
7 Resümee Imaginationen – so legen es Gondrys Filme nahe – sind, egal ob es sich um topografisch strukturierte ‚Gedankenräume‘ oder um visuell spektakuläre ‚mentale Bilder‘ handelt, als mediale Gebilde zu denken – den Künsten und Medien unserer postmodernen Kultur in Produktion, Ästhetik und Funktion nicht unähnlich. Dabei wird – und auch das ist ein Zeichen unserer Zeit – das denkende, träumende, erinnernde Selbst zum kreativen Schöpfer, der im Atelier des Geistes mit jeder mentalen Repräsentation an seinem Lebenswerk, der Konstruktion seiner Identität zeichnet, dreht und schneidet. Alle besprochenen Filme greifen damit insbesondere durch die mise-en-scène und auf der formalästhetischen Darstellungsebene die etablierte Medium-mind-Metaphorik sowie die Vorstellung vom kleinen Mann im Kopf auf, passen sie jedoch kontextsensitiv der jeweiligen
40 Für einen Gegenentwurf vgl. Sebastian Armbrusts Beitrag in diesem Band.
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Erzählung und Figurenkonstellation sowie den Bedingungen unserer zeitgenössischen Medienkultur an. Der dramaturgische Aufbau und die zentralen Handlungskonflikte betten diese Konzeption des Menschen wiederum in ein Geflecht weiterer, teils tradierter und verfestigter, teils von aktuellen Entwicklungen geprägter normativer Menschenbilder ein, mit denen nicht nur die Figuren selbst sondern auch die verallgemeinerbaren Vorstellungen über ihre geistige Funktionsweise in Konflikt geraten. Wie die Analysen gezeigt haben, stellt Gondrys self-made homo imaginans in Eternal Sunshine und La science des rêves dabei in erster Linie solche Menschenbilder infrage, welche die menschliche Psyche als physiologisch determiniert und manipulierbar beschreiben oder sie anhand von Konventionen des Sozialverhaltens bewerten. Entgegen den Vorstellungen ihrer Umwelt sind seine Protagonisten jedoch ‚Kopf-und-Herz-Menschen‘, deren Psyche ihr Handeln bestimmt, nicht umgekehrt. Und die Imaginationsfähigkeit, die den Menschen als einziges bekanntes Lebewesen selbst zum kreativen und reflexionsfähigen Schöpfer macht, ist letztlich auch, was ihn in Human Nature vom Tier unterscheidet: Lilas wechselnde Lebensentwürfe, Nathans ambitioniertes Forschungsprojekt und Puffs schlussendliche Emanzipation von seinem Pygmalion werden nur möglich durch ihre Fähigkeit, imaginative Szenarien zu entwerfen und sich selbst in ihnen zu verorten. „You fall in love with a man’s mind“ heißt es an einer Stelle des Films, als Lila mit ihrer Kosmetikerin über die Rolle von Äußerlichkeiten spricht. Der Mensch ist sein mind scheint Human Nature damit augenzwinkernd zu sagen, sein Geist erst macht ihn menschlich, individuell und liebenswert. Es sind also doch die inneren Werte, die den Menschen auszeichnen – zumindest ab und zu im Kino.
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Sich selbst verraten im Bild des Anderen Zur medialen Modellierung von Menschenbildern in ‚projektiven‘ Testverfahren Abstract: The article surveys how psychological tests, which are commonly subsumed in the category of ‘projective psychodiagnostics,’ are implicitly and explicitly infused with concepts of man, i. e., assumptions concerning the nature of man and the structure of his psychological composition. It is not only the assumptions embedded in the theoretical framework of the tests which allude to specific concepts of man, the article argues, but also the carefully selected or constructed pictorial stimuli which test takers are exposed to. The article starts with a brief introduction describing the main characteristics of ‘projective psychodiagnostics’ – a heterogeneous category of psychological tests which in most instances employ pictorial stimuli to provide access to unconscious motives and drives. Based on two examples, the Experimentelle Triebdiagnostik (Szondi-Test) and the Thematic Apperception Test (TAT), the article analyzes the images employed in the tests in terms of their iconic strategies and sheds light on their visual culture by reconstructing their primary context of appearance. Originally devised to reveal hidden psychological truths of the test takers, the tests ultimately speak to specific concepts of man prevalent in psychological and psychiatric discourse of the late 1930s, which again find their visual equivalence in the pictorial stimuli.
1 ‚Projektive‘ Tests als Medien des Psychischen Moderne Humanwissenschaften wie die Psychologie und Psychiatrie sind im Allgemeinen auf Medien angewiesen, um ihren Gegenstand – das psychische Erleben und Verhalten des Menschen in seinen als ‚normal‘ beziehungsweise ‚pathologisch‘ bewerteten Ausprägungen – untersuchen zu können.¹ Die im
1 Der Begriff ‚Humanwissenschaften‘ wird hier in Anlehnung an Foucault zur Kennzeichnung solcher Disziplinen verwendet, die einen Korpus von Theorien entwickelt haben, die sich auf den Menschen „in seinen empirischen Teilen“ beziehen. Foucault, Michel: Die Ordnung der
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Kontext der Forschung und der praktisch-diagnostischen Tätigkeit verwendeten Medien sollen jene Prozesse sinnlich erfahrbar machen, die einem medial nicht aufgerüsteten Expertenblick verwehrt bleiben, weil sie sich vornehmlich im Inneren des Menschen abspielen.² Im Falle ‚projektiver‘ Testverfahren – einer heterogenen Klasse psychodiagnostischer Instrumente, die vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden – kommt diese Aufgabe eigens konstruierten, piktorialen Stimuli zu, die als Medien Zugang zu den psychischen Prozessen einer Testperson verschaffen sollen. Je nach gewähltem Testverfahren unterscheiden sich die dabei verwendeten Bildmedien deutlich voneinander. Doch unabhängig davon, ob eine Testperson mit abstrakten Farbformationen, Zeichnungen, Malereien oder Fotografien konfrontiert wird, ist den Stimuli in der Regel ein geringes Maß an Strukturierung und Eindeutigkeit gemein. Gerade das in seinem Aussagegehalt mehrdeutig bleibende Testmaterial soll Reaktionen auf Seiten der Probandinnen und Probanden evozieren, zum Beispiel in Form von Deutungen, Assoziationen oder Wahlhandlungen, in denen sich ihre jeweilige psychische Disposition zu erkennen gibt. ‚Projektive‘ Tests sollen nicht nur die Persönlichkeit in ihrer Vielschichtigkeit abbilden, Verfechter dieser Instrumente sprechen ihnen auch das Potenzial zu, Ebenen der menschlichen Psyche zu erreichen, zu denen herkömmliche Tests keinen Zugang verschaffen können.³ Zugleich ist dieser Klasse von Tests die Annahme eingeschrieben, dass eine Person, die mit einem ‚projektiven‘ Test konfrontiert wird, angesichts der vermeintlich banalen Bildmedien, die als Stimuli Verwendung finden, gar nicht auf die Idee kommen könne, dass diese ihre innersten psychischen Vorgänge sichtbar machten. Mittels des Einsatzes scheinbar unbedeutsamer Bilder, die der Versuchsperson präsentiert werden, soll der Experte somit einen fast ungehinderten und privilegierten Zugang zu dem psychischen Apparat seines Gegenübers erhalten. In einigen Tests kommen zudem Bildmedien zum Einsatz, auf denen Menschen alleine oder in Interaktionssituationen dargestellt sind. Vorstellungen über das Wesen und die psychische Beschaffenheit des Menschen, die in psychiatrischen und psycho-
Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. S. 413. 2 In dieser Funktionsbeschreibung deutet sich eine Vorstellung von Medien als künstlichen Hilfsmitteln an, wie sie von McLuhan formuliert wurde. Die vom Menschen geschaffenen Werkzeuge repräsentieren hier exteriorisierte körperliche Funktionen. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. New York: McGraw-Hill 1964. S. 23–24. 3 Für eine Beschreibung der Vorzüge und Potenziale derartiger Tests siehe Lindzey, Gardner: Projective Techniques and Cross-Cultural Research. New York: Appleton-Century-Crofts 1961. S. 41–45.
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logischen Fachdiskursen artikuliert werden, finden in diesen Fällen ihre visuelle Entsprechung auf der Ebene der Bilder, die von den Testautoren konzipiert oder ausgewählt wurden. Zugleich referieren die Bilder auf spezifische Bildkulturen⁴, die in den Teststimuli ihre Spuren hinterlassen haben und Aufschluss über den ursprünglichen Verwendungszusammenhang geben können. Der Prozess einer solchen medialen Modellierung von Menschenbildern in ‚projektiven‘ Testverfahren steht daher auch im Zentrum dieses Artikels. Er wird am Beispiel der experimentellen Triebdiagnostik und des Thematic Apperception Tests – zwei Verfahren, deren Konzeption und Erprobung in der Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erfolgte –, untersucht. Obgleich bereits in den Jahren unmittelbar vor der Wende zum 20. Jahrhundert verschiedene Autoren im deutsch- und englischsprachigen Raum an psychologischen Testverfahren arbeiteten, die auf ambigen Stimuli basierten, wurde erst Ende der 1930er Jahre durch einen Aufsatz Lawrence K. Franks mit dem programmatischen Titel Projective Methods for the Study of Personality der Versuch unternommen, entsprechende Instrumente unter einem eigenständigen Begriff zusammenzufassen.⁵ Die Darbietung eines relativ unstrukturierten Feldes in Form von Objekten, Materialien oder Erfahrungen, kombiniert mit der Aufforderung an eine Person, darauf zu reagieren, führe, so Frank, zur Projektion der privaten, individuellen Persönlichkeit der Testperson in das dargebotene Feld.⁶ Der Psychologe erhalte auf diese Weise Informationen über die Testperson, die
4 Mersmann, Birgit u. Martin Schulz: Kulturen des Bildes – zur Einleitung. In: Kulturen des Bildes. Hrsg. von Birgit Mersmann u. Martin Schulz. München: Wilhelm Fink 2006. S. 9–20. 5 Frank, Lawrence K.: Projective Methods for the Study of Personality. In: The Journal of Psychology 8 (1939). S. 389–413. Die Bezeichnung der Tests als ‚projektiv‘ ist aufgrund ihrer theoretischen Implikationen vielfach kritisiert worden. Auch wenn Franks Auffassung von ‚Projektion‘ durch tiefenpsychologische Konzepte inspiriert worden sein mag, entspricht sie beispielsweise nicht den Konzepten von ‚Projektion‘, die von Sigmund Freud oder Carl Gustav Jung im Verlauf ihres Schaffens formuliert wurden. Für eine prägnante Darstellung tiefenpsychologischer Projektionsbegriffe siehe Bühlmann, Rudolf: Zur Entwicklung des tiefenpsychologischen Begriffs der Projektion. Zürich: Juris 1971. Ende der fünfziger Jahre plädierten einige Autoren für eine neue Bezeichnung der Tests, zum Beispiel als „Deutungsverfahren“ (Heckhausen, S. 63) oder „misperception tests“ (Cattell, S. 474). Derartige Vorschläge blieben jedoch ohne größere Resonanz. Siehe hierzu Cattell, Raymond B.: Personality and Motivation. Structure and Measurement. New York: World Book Company 1957; sowie Heckhausen, Heinz: Die Problematik des Projektionsbegriffs und die Grundlagen und Grundannahmen des thematischen Auffassungstests. In: Psychologische Beiträge 5 (1960). S. 53–80. 6 Frank: Projective Methods, S. 403.
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diese nicht mitteilen könne oder aber nicht kommunizieren wolle.⁷ ‚Projektive‘ Verfahren werden dieser Konzeptualisierung zufolge als potente Techniken der Exposition verstanden, die einerseits die vom psychischen Apparat gezogenen Schranken zwischen den einzelnen Bewusstseinsebenen, andererseits auch individuell errichtete Barrieren der Testperson zu durchbrechen vermögen, die vor der Intrusion des Psychiaters oder Psychologen in allzu private Sphären schützen. Gab es bis zum Ende der 1920er Jahre nur wenige derartiger Tests – zu nennen wäre hier beispielsweise das auf Tintenklecksen basierende wahrnehmungsdiagnostische Experiment von Hermann Rorschach⁸ –, entstand in den folgenden Jahrzehnten in Europa und Nordamerika eine Vielzahl ‚projektiver‘ Instrumente.⁹ Allerdings mussten sich die Tests schnell einer rigorosen Prüfung hinsichtlich ihrer theoretischen Annahmen, diagnostischen Relevanz und Praktikabilität im klinischen Kontext von Seiten der universitären Psychologie stellen. An den Maximen der Klassischen Testtheorie¹⁰ ausgerichtet, forderte sie von ‚projektiven‘ Verfahren den Nachweis, die Gütekriterien der ‚Validität‘, ‚Reliabilität‘ und ‚Objektivität‘ zu erfüllen – Kriterien, die ursprünglich für den Bereich der psychometrischen Persönlichkeitstests entwickelt wurden. Da diese Belege jedoch meist nicht oder nur unbefriedigend erbracht werden konnten, gerieten die Verfahren vor allem zwischen 1965 und 1980 in die Kritik naturwissenschaftlich ausgerichteter Persönlichkeitspsychologen.¹¹ Bis dahin die wichtigste Verfahrensklasse in der psychologischen Diagnostik, verloren ‚projektive‘ Tests nach den sechziger Jahren ihren Vorrang gegenüber Persönlichkeitstestsystemen, die auf neuesten statistischen Verfahren gründeten und ein breites Spektrum individueller Unterschiede abbilden konnten.¹² Bereits in der Mitte der siebziger Jahre konstatierten zahlreiche Autoren ein deutlich geringeres Interesse der psychologischen
7 Ebd., S. 404. 8 Rorschach, Hermann: Psychodiagnostik. Methodik und Ergebnisse eines wahrnehmungsdiagnostischen Experiments [Deutenlassen von Zufallsformen], mit den zugehörigen Tests bestehend aus zehn teils farbigen Tafeln. Hrsg. von Walter Morgenthaler. Bern: Ernst Bircher 1921. 9 Schaipp, Christian u. Ernst Plaum: „Projektive Techniken“: Unseriöse „Tests“ oder wertvolle qualitative Methoden? Bonn: Deutscher Psychologen Verlag 1995. S. 11. 10 Für eine Beschreibung der fundamentalen Annahmen dieser Theorie siehe Amelang, Manfred u. Lothar Schmidt-Atzert: Psychologische Diagnostik und Intervention. Heidelberg: Springer 2006. S. 33–65. 11 Schaipp, Plaum: Projektive Techniken, S. 12. 12 Wie zum Beispiel das insbesondere zur Identifikation psychischer Störungen konzipierte MMPI. Siehe Hathaway, Starke R. u. John Charnley McKinley: The Minnesota Multiphasic Personality Inventory. Minneapolis: University of Minnesota Press 1943.
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Forschung an ‚projektiven‘ Verfahren wie auch eine Abnahme ihres Einsatzes im Kontext der Behandlung.¹³ Heute kommt ‚projektiven‘ Techniken in der universitären Ausbildung von Psychologen in Europa und Nordamerika zwar nur noch eine geringe Bedeutung zu, in der tiefenpsychologisch orientierten Praxis gehören sie jedoch immer noch zum Standardrepertoire.
2 Sympathiewahlen. Die experimentelle Triebdiagnostik Von außen betrachtet handelt es sich nur um eine mit blauem Leinen überzogene Schachtel aus Pappkarton. Öffnet man ihren Deckel, fällt der Blick auf sechs Kompartimente, bestückt mit scheckkartengroßen Pappkarten, auf deren glatten Vorderseiten die Fotografien unbekannter männlicher und weiblicher Personen abgedruckt sind. Alle Pappkarten zeichnen sich durch ein identisches Gestaltungsprinzip aus: Von einem dunkelgrauen Rahmen eingefasst, ist die 4,7 × 7,4 cm messende Vorderseite weiß gehalten. Mittig auf dieser angeordnet befinden sich die Reproduktionen schwarz-weißer Porträtaufnahmen, die im Brustbereich konvex zulaufen. Ergeben die Karten formal ein homogenes Ganzes, treten jedoch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Fotografien hervor. Es dominieren En-face-Aufnahmen, bei denen die Porträtierten direkt in die Kamera und somit auf den Rezipienten blicken, doch enthält die Schachtel auch mehrere Dreiviertelporträts und einzelne Profilaufnahmen. Während die Mimik einiger Personen ausdruckslos wirkt, manche den Blick gesenkt oder die Augen geschlossen halten, lächeln andere in die Kamera, reißen ihre Augen weit auf oder runzeln die Stirn. Alle diese Pappkarten sind Stimuli der zwischen 1937 und 1940 von Leopold Szondi, einem ungarischen Mediziner, entwickelten experimentellen Triebdiagnostik (Szondi-Test).¹⁴ Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Szondi vor
13 Siehe Klopfer, Walter G. u. Earl S. Taulbee: Projective Techniques. In: Annual Review of Psychology 27 (1976). S. 543–567 sowie Pruitt, Julie A., Marcia C. Smith, Mark H. Thelen u. Bernard Lubin: Attitudes of Academic Clinical Psychologists Toward Projective Techniques: 1968–1983. In: Professional Psychology: Research and Practice 16 (1985). S. 781–788. 14 Szondi, Leopold: Experimentelle Triebdiagnostik. Zweites Buch der Schicksalsanalyse. Band I (Testband). Bern: Hans Huber 1947; sowie Szondi, Leopold: Experimentelle Triebdiagnostik. Tiefenpsychologische Diagnostik im Dienste der Psychopathologie, Kriminalund Berufspsychologie, Charakterologie und Pädagogik. Band II (Textband). Bern: Hans Huber 1947.
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allem in den Gebieten der Endokrinologie und Konstitutionsbiologie, bevor er 1934 mit einer umfassenden Selbstanalyse begann, die er über zwei Jahre fortführte.¹⁵ Die dabei gewonnenen Erkenntnisse bildeten den Grundstein für die Entwicklung der „Schicksalsanalyse“¹⁶ – eines theoretischen und methodischen Zugangs zur Psyche des Menschen, der gleichermaßen psychoanalytische wie erbbiologische Konzepte berücksichtigen sollte. Anders als die Psychoanalyse, die das individuelle Unbewusste in ihren Mittelpunkt rückt, und die Analytische Psychologie, die dem kollektiven Unbewussten eine Schlüsselposition einräumt, fokussiert die Schicksalsanalyse das familiäre Unbewusste und die darin angeblich verborgenen, genetisch fundierten Triebe. In dieser Schicht des Unbewussten sollen verdrängte, familiäre Triebkräfte lokalisiert sein, die das Schicksal eines Menschen lenken, indem sie die Wahlhandlungen in diversen Lebensbereichen, beispielsweise in der Liebe, der Freundschaft, dem Beruf und der Krankheit, steuern. Ob eine Person psychisch krank wird, hängt dieser Auffassung zufolge von der quantitativen Ausprägung ihrer Triebgene ab. Die durch eine hohe Dosis von Triebgenen bedingte psychische Störung soll sich in spezifischen Bedürfnissen bemerkbar machen und den Einsatz charakteristischer Triebventile zur Folge haben. Aufgabe der experimentellen Triebdiagnostik ist es nun, Auskunft über die im Inneren eines Menschen waltenden „Triebmechanismen“¹⁷ zu geben. Hierfür hält der Test sechs Bildserien mit acht Porträtfotografien bereit, die jeweils einen Menschen zeigen, der mit einer spezifischen Triebkrankheit im Sinne damals gängiger Psychopathologiekonzepte diagnostiziert wurde. In jeder Serie ist das Porträt eines Hermaphroditen, eines Sadisten sowie je einer an Epilepsie, katatoner Schizophrenie, Paranoia, Depression und Manie leidenden Person zu sehen. Für die Diagnose breitet der Testleiter die acht Bilder einer jeden Serie in zwei Reihen auf dem Tisch aus. Die Testperson soll sich die Bilder genau ansehen und zwei auswählen, die ihr am sympathischsten beziehungsweise zweitsympathischsten erscheinen. Anschließend gilt es, die unsympathischste und zweitunsympathischste Fotografie zu bestimmen. Nach diesem Prinzip wird auch bei den übrigen sieben Bildserien verfahren. Im Anschluss an die Bilderdarbietung
15 Für eine prägnante Darstellung des Werdegangs und der zentralen Schriften Szondis siehe Bürgi-Meyer, Karl: Zur Schicksalsanalyse Leopold Szondis. In: Schweizer Monatshefte 07/08 (2007). S. 36–39. 16 Szondi: Textband, S. XIII–XV. 17 Ebd., S. 23.
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Abb. 1: Beispiele für Szondi-Test-Karten (I 2.s., VI. 4.s., I. 1.k.). Entnommen aus: Szondi, Leopold: Experimentelle Triebdiagnostik. Zweites Buch der Schicksalsanalyse. Band I (Testband). Bern: Hans Huber © 1947. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hans Huber.
sieht der Test die Herstellung eines Triebprofils in tabellarischer Form vor, das die Grundlage einer komplexen psychodiagnostischen Auswertung bildet.¹⁸ Den Großteil der Fotografien, die in dem Test zum Einsatz kommen, hat Szondi psychiatrischen Atlanten und Lehrbüchern entnommen, die zwischen 1892 und 1922 publiziert wurden. Einige stammen beispielsweise aus Magnus Hirschfelds Sexualpathologie¹⁹ oder Otto Binswangers Die Hysterie²⁰, quantitativ dominieren jedoch Aufnahmen aus dem Lehrbuch für Psychiatrie des KraepelinSchülers Wilhelm Weygandt.²¹ Die in diesen Büchern präsentierten Fotografien wurden von den Medizinern selbst oder aber dem Klinikpersonal angefertigt, stammen also meist aus den lokalen Bildarchiven einzelner Psychiatrien. Der Bildausschnitt auf den Testkarten mag zwar eine Kontextualisierung der Porträts erschweren, doch eine Reihe von bildimmanenten Zeichen deutet immerhin den Ort und die Herstellungsbedingungen an. So fällt unmittelbar auf, dass einige der männlichen Porträtierten keine Oberbekleidung tragen, also vermutlich vollkommen nackt vor der Kamera ausharren mussten (Abb. 1). Ihrer Kleidung beraubt, die immer auch mit einer identitätsstiftenden, individualisierenden Funktion
18 Ebd., S. 38–39. 19 Hirschfeld, Magnus: Sexualpathologie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Studierende. Zweiter Teil. Sexuelle Zwischenstufen. Das männliche Weib und der weibliche Mann. Bonn: A. Marcus & E. Webers Verlag 1918. 20 Binswanger, Otto: Die Hysterie. Wien: Alfred Hödler 1904. 21 Weygandt, Wilhelm: Atlas und Grundriss der Psychiatrie. München: J. F. Lehmann’s Verlag 1902.
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behaftet ist, werden die Personen vollständig auf ihren Körper reduziert, den es mit einem medizinisch-anthropologischen Blick genau zu registrieren gilt. Zahlreiche der weiblichen Porträtierten tragen eine mit groben Mustern versehene Einheitskleidung, die wie ein Kittel am Halsbereich abschließt, oder aber dicke weiße Tücher, die um den Hals geknotet wurden. Diese Art der Kleidung scheint nicht für die Partizipation am gesellschaftlichen Leben gedacht zu sein, sondern als Uniform die Zugehörigkeit zu einer ‚totalen Institution‘²² zu markieren, in der die Patienten untergebracht wurden. Was sich bei einer Betrachtung der Testkarten bereits andeutet, wird bei einer systematischen Auswertung der Bildquellen erst recht deutlich: Im Regelfall entbehren die Porträts all jener personenbezogenen und räumlichen Attribute (zum Beispiel Schmuck, Hüte, edles Mobiliar oder Bücher), die im Rahmen der damaligen Atelierfotografie gezielt zur Inszenierung einer bürgerlichen Identität eingesetzt wurden (Abb. 2).²³ Elegant gekleidet und mit Prestige symbolisierenden Attributen umgeben, werden die Klienten professioneller Atelierfotografen als selbstbewusste Bürger gezeigt, die sich in der Öffentlichkeit angemessen zu präsentieren wissen. Eine geschickte Lichtmodulation und der gezielte Einsatz von Retusche leisten schließlich ihr Übriges, um den Kunden möglichst attraktiv zu präsentieren und als körperlich wie geistig gesund auszuweisen.²⁴ Die Psychiatriepatienten jedoch werden durch den Verzicht auf solche Insignien und Inszenierungsformeln zu Repräsentanten einer anderen, das heißt ‚pathologischen‘ Kategorie.²⁵ Unvorteilhaft aufgenommen, stehen ihre verhärmten und vom Leben gezeichneten Gesichter für eine psychische Abnormität, die sich in extremen Affekten, einem kranken Willen und dem Verlust des Verstandes ausdrücken soll. Als Negativ zu dem Ideal bürgerlicher Identitätskonzepte verkörpern sie das Bild eines schwachen, unmündigen Menschen, der nicht in der Lage ist, selbstverantwortlich zu agieren, also professioneller und institutioneller Hilfe bedarf. Zugleich aber erinnern Form und Material der Testkarten an eben jene in bürgerlichen Kreisen so geschätzte Carte-de-visite-Fotografie, deren Verbreitung um die Jahrhundertwende ihren Zenit erreichte.²⁶ Auf exemplarische Weise veranschaulicht die experimentelle Triebdiagnostik somit zwei dialekti-
22 Vgl. Goffman, Erving: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. New York: Anchor Books 1961. S. xiii. 23 Siehe hierzu vor allem Regener, Susanne: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: Transcript 2010. S. 131. 24 Zur Ästhetik bürgerlicher Porträtfotografie siehe Starl, Timm: Im Prisma des Fortschritts. Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts. Marburg: Jonas-Verlag 1991. S. 45–48. 25 Ebd., S. 79. 26 Starl, Timm: Bildbestimmung. Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839 bis 1945. Marburg: Jonas-Verlag 2009. S. 28.
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Abb. 2: Martin Hirsch, Carlsbad. Herr vor Bibliothekskulisse, um 1875, Cabinetformat. Entnommen aus: Starl, Timm: Im Prisma des Fortschritts. Zur Fotografie des 19. Jahrhunderts. Marburg: Jonas Verlag 1991. S. 32.
sche Funktionen, die den sozialen Gebrauch der Fotografie bestimmen: Spielen Format und Bildträger auf ihre Repräsentations- und (Selbst-)Stilisierungsfunktion an, verweist die Verwendung von unter Zwangsbedingungen erzeugten Fotografien entmündigter Patienten auf ihre Repressions- und Normierungsfunktion.²⁷ Eine systematische Betrachtung der Quellen liefert darüber hinaus Anhaltspunkte zu der von Szondi nur recht vage beschriebenen Testkonstruktion. Sie zeigt auf, dass Szondi die Porträts nicht allein nach damals in der Psychiatrie verhandelten diagnostischen Kriterien auswählte. Zum Zuge kamen demnach
27 Siehe zu diesem Sachverhalt Sekula, Allan: The Body and the Archive. In: October 39 (1986). S. 3–64, hier S. 6; sowie Regener: Visuelle Gewalt.
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insbesondere Aufnahmen, die unter dem Einsatz bildnerischer Mittel stereotypkonsistente Merkmale akzentuierten, also Aspekte betonten, die für einen Störungsvektor seiner Theorie charakteristisch sein sollten.
3 Bildgeschichten. Der Thematic Apperception Test Die 31 Papptafeln, von denen 30 mit einem schwarz-weißen Bild bedruckt sind, entsprechen dem amerikanischen Letter-Format. Nahezu alle Motive, die immer einen großzügig bemessenen, weißen Rand lassen, rücken Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts in den Mittelpunkt:²⁸ Mal sind die Szenen reich an Kontextinformation, platzieren die Protagonisten beispielsweise in ein häusliches Interieur oder zeigen sie in freier Natur, mal ist es nur die Person oder ihre Interaktion mit einer anderen, ohne dass Ort oder Situation konkretisiert werden. Hinsichtlich ihrer formalen und künstlerisch-technischen Charakteristika unterscheiden sich die Tafeln deutlich: Einige sind im Hochformat, andere im Querformat gehalten. Viele geben sich aufgrund ihrer Strichführung als Zeichnungen zu erkennen, andere als Malereien oder Illustrationen. Bei wieder anderen handelt es sich um Fotografien oder um Holzschnitte, die für die Tafeln reproduziert wurden. Auch die Entwicklung des Thematic Apperception Test (TAT) fällt in die späten 1930er Jahre. Konzipiert wurde das Verfahren an der Harvard Psychological Clinic unter der Leitung von Henry A. Murray, einem amerikanischen Arzt, Biochemiker und Psychoanalytiker.²⁹ Einer Röntgenaufnahme vergleichbar soll das auch heute noch eingesetzte Verfahren Auskunft über die im Inneren waltenden Triebe, Emotionen, Komplexe und Konflikte einer Person geben, sich aber auch für die Analyse von Verhaltensstörungen, Neurosen und Psychosen eignen.³⁰ In
28 Die Harvard UP vergibt keine Abdruckgenehmigung für die Testtafeln „due to the stringent ethical guidelines governing the confidentiality of psychological testing materials, the need for interpretation to be limited to those with the requisite level of training, and copyright provisions [...]“ (persönliche Mitteilung an den Verfasser). Einsehbar ist der Test jedoch im Allgemeinen in Testbibliotheken psychologischer Universitätsinstitute. Einen ersten Überblick über den Stil der Motive verschafft auch eine Suche im Internet. 29 Der Werdegang von Murray wird ausführlich dargestellt von Robinson, G. Forrest: Love’s Story Told. A Life of Henry A. Murray. Cambridge: Harvard University Press 1992. 30 Murray, Henry A. u. the Staff of the Harvard Psychological Clinic: Thematic Apperception Test. Cambridge: Harvard University Press 1943. S. 1
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zwei aufeinander folgenden Sitzungen wird der Proband mit jeweils zehn Karten nach einer festgelegten Abfolge konfrontiert. Dabei soll er dem Versuchsleiter möglichst den Rücken zuwenden. Bevor die erste Tafel überreicht wird, ist die folgende Instruktion vorzulesen: „Your task will be to make up as dramatic a story as you can for each. Tell what has led up to the event shown in the picture, describe what is happening at the moment, what the characters are feeling and thinking; and then give the outcome. Speak your thoughts as they come to your mind.“³¹ Um keinen Verdacht bei der Testperson zu schüren, dass der Inhalt der Assoziationen später interpretiert werden könnte, warnen die Autoren davor, gegenüber dem Probanden von einer „Entfaltung der Phantasie“³² zu sprechen. Vielmehr sei der Eindruck zu vermitteln, dass man allein an der literarischen oder kreativen Fähigkeit der Testperson interessiert sei. Nach Abschluss der Bilddarbietung müssen die schriftlich notierten Aussagen des Probanden in ein komplexes Kategoriensystem überführt werden, das die Grundlage für die psychologische Diagnose bildet.³³ Auch für den Großteil dieser auf sehr unterschiedlichen Gattungen und Techniken basierenden Bilder lässt sich die Herkunft rekonstruieren.³⁴ Die meisten Tafeln zeigen schwarz-weiße Reproduktionen von Illustrationen, Gemälden oder Fotografien, deren Ausschnitt, Format oder Hell-Dunkel-Gradient für den Abdruck mitunter modifiziert wurde. Prominent vertreten sind auch Zeichnungen, die – zum Teil nach Vorlagen – von Christiana Morgan, einer Mitarbeiterin der Klinik und Co-Autorin des Tests, oder Samuel Thal, einem in Boston lebenden Künstler, angefertigt wurden. Primär operiert der Test mit Bildern, die sich durch einen ‚realistischen‘ Darstellungsmodus auszeichnen. Mögen einige Motive Anklänge an eine abstrakte Bildsprache zeigen, können die Bilder jedoch weder inhaltlich noch formal als avantgardistische künstlerische Arbeiten bezeichnet werden. Vielmehr verraten sie einen bürgerlichen, narrative Darstellungen schätzenden Bild- und Kunstgeschmack. Bei den aus Galerien oder Museen stammenden Bildern wird eine Präferenz für Künstler deutlich, die stilistisch dem Amerikanischen Realismus nahe stehen. Ein solcher Realismus lässt sich auch für die Bilder feststellen, die von Klinikmitarbeitern in amerikanischen Zeitschriften wie der Saturday Evening Post oder dem Wochenmagazin Collier’s entdeckt wurden. Beide sind einem Segment von Druckerzeugnissen zuzuordnen, das sich mit
31 Ebd., S. 3. 32 Ebd., S. 4 (Übersetzung des Verfassers). 33 Ebd., S. 6–12 34 Eine Übersicht liefert Morgan, Wesley G.: Origin and History of the Thematic Apperception Test Images. Journal of Personality Assessment 65 (1995). S. 237–254.
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Illustrationen, Kurzgeschichten und Reportagen vor allem an eine amerikanische Mittelschicht wendet, die eine dem eigenen kulturellen Kapital entsprechende Unterhaltung schätzt.³⁵ Die Stimuli des Tests speisen sich folglich aus einer Bildkultur, die den Mitarbeitern der Klinik aus eigener Lektüre oder persönlicher Wahrnehmungserfahrung vertraut war. Sie machen die ästhetischen Prämissen der Zeitschriften anschaulich, in denen sie veröffentlicht wurden, lassen dadurch aber auch auf die Geschmacksdisposition der amerikanischen Mittelschicht in den ausgehenden 1930er Jahren schließen. Nicht nur geben Form und Inhalt der Szenen auf den ersten Blick zu erkennen, dass es sich um Produkte eines westlichen Kulturkreises handelt, die diesen selbst wiederum in ein Bild fassen. Weit darüber hinausgehend verraten zahlreiche Bilddetails, die den Habitus der abgebildeten Protagonisten betreffen, dass hier an ein spezifisches soziales Milieu appelliert wird. Auch kommen kulturell tradierte Modelle zwischenmenschlicher Beziehungen zur Anschauung. Sie betreffen das Verhältnis zwischen den Geschlechtern genauso wie Umgangsformen zwischen Geschlechtsgenossen oder Personen unterschiedlichen Alters. Dies wird in der Reservierung von Bildern für bestimmte Alters- und Geschlechtsgruppen explizit, deren Sujets kurrente Geschlechts- und Verhaltensstereotype geradezu paradigmatisch in eine visuelle Form überführen. Als Stimuli eines psychologischen Tests übersetzen die Motive somit nicht nur eine kontingente bürgerliche Kultur in ein Bild. Diese wird zugleich als Norm konstituiert, an der sich die Testpersonen messen lassen müssen.
4 Die Medialität von Menschenbildern in ‚projektiven‘ Testverfahren Aus der Darstellung der beiden Tests und der Analyse der visuellen Strategien, die in ihren Bildmedien zur Anwendung kommen, wird deutlich, dass ‚projektive‘ Verfahren auf zwei verschiedenen Ebenen mit Menschenbildern operieren. Wie jedes psychologische Instrument ist auch die ‚projektive‘ Psychodiagnostik an Theorien über ihre Funktionsweise gekoppelt, die mit expliziten Aussagen über die psychische Konstitution des Menschen aufwarten. Derartige Postulate schließen an spezifische Denktraditionen und Konzeptualisierungen der menschlichen
35 Für einen Bericht über die Bedeutung von Magazinen wie der Saturday Evening Post und die Beschreibung ihrer Leserschaft siehe Wood, James P.: Magazines in the United States. Their Social and Economic Influence. New York: The Ronald Press Company 1949.
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Psyche an, sind in erster Linie also disziplinär verfasst, zugleich aber auch durch historische und kulturelle Faktoren allgemeinerer Art geprägt. Der Begriff des Menschenbildes kommt hier in seiner nicht-visuellen und rein metaphorischen Funktion im Sinne von Annahmen über das vermeintliche Wesen des Menschen zur Geltung.³⁶ Zugleich nehmen ‚projektive‘ Tests aufgrund ihrer Implementierung von Bildern als Medien des Psychischen eine Sonderstellung unter den psychologischen Verfahren ein. Bei ihnen ist daher zusätzlich zu untersuchen, inwiefern auf der Ebene der Stimuli Vorstellungen vom Wesen des Menschen mit genuin bildnerischen Mitteln implizit und explizit modelliert werden. Durch die Schriften der Psychoanalyse, aber auch das Paradigma der Erbpsychiatrie geprägt, konzeptualisiert Szondi den Menschen als durch seine inneren, genetisch verankerten Triebstrebungen determiniert. Diese triebhaften Impulse sollen sich in den Handlungen und Entscheidungen eines Menschen, insbesondere aber auch in der Manifestation einer bestimmten psychischen Störung zu erkennen geben. Die auf „Fotografien-Wider-Willen“³⁷ basierenden Porträts können hierbei als visuelles Äquivalent dieser Postulate, gleichsam als ‚bildgewordenes Menschenbild‘ des Testautors bezeichnet werden. Im Sinne der Annahme, im Gesicht des Anderen Zeichen für Störungen des Geistes und abnorme Triebkonstellationen erkennen zu können, scheint sich die extreme Dosis pathologischer Triebbedürfnisse in die Physiognomie der Porträtierten eingeschrieben zu haben.³⁸ Szondi findet in den Inszenierungsstrategien psychi-
36 Siehe Oerter, Rolf: Menschenbilder als sinnstiftende Konstruktionen und geheime Agenten. In: Menschenbilder in der modernen Gesellschaft. Konzeptionen des Menschen in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Politik. Hrsg. von Rolf Oerter. Stuttgart: Enke 1999. S. 1–2; sowie Kaplow, Ian: Über Faktizität und Geltung von Menschenbildern. In: Mensch – Bild – Menschenbild. Anthropologie und Ethik in Ost-West-Perspektive. Hrsg. von Ian Kaplow. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2009. S. 11–20, hier S. 12–13. 37 Der Begriff wurde von Susanne Regener mit Blick auf die Polizeifotografie eingeführt und auf das Feld der psychiatrischen Porträtfotografie übertragen. Siehe Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München: Fink 1999. S. 16; und Regener: Visuelle Gewalt, S. 24. 38 Mit der Fokussierung auf den fazialen Ausdruck der abgebildeten Personen schreibt Szondi die lange Tradition physiognomischer Diskurse fort, die von der visuellen Evidenz der Geisteskrankheit im Gesicht des Patienten überzeugt waren. Die Kulturgeschichte physiognomischer Lehren wird behandelt von Schmölders, Claudia: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik. Berlin: Akademie Verlag 1995. Physiognomische Implikationen des Szondi-Tests werden auch thematisiert von Macho, Thomas: 48 Köpfe, 48 tote Gesichter / 48 Heads, 48 Dead Faces, übersetzt von Gerrit Jackson. In: Anna Artaker. Katalog zur Ausstellung in der Secession Wien [30. April – 20. Juni 2010]. Wien: Revolver Verlag 2010. S. 9–16 und S. 81–88.
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atrischer Patientenporträts folglich eine kongeniale Veranschaulichung seiner anthropologischen Annahmen, die er gezielt für die Konstruktion seines Instruments zu nutzen weiß. Da es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges üblich war, Lehrbücher für Psychiatrie mit Patientenporträts auszustatten, standen ihm zudem umfassende Bildersammlungen zur Verfügung, aus denen er solche Porträts auswählen konnte, die seiner Auffassung zufolge die Triebstörung besonders markant zum Ausdruck brachten. Auch das Menschenbild der Autoren des TAT ist psychoanalytisch fundiert, rekurriert aber zusätzlich auf damals in der amerikanischen Psychologie verbreitete antriebstheoretische Konzepte.³⁹ Murray und seine Kollegen begreifen den Menschen als komplexes, vor allem durch unbewusste Bedürfnisse, Phantasien und Motive angetriebenes Wesen, dessen Erleben und Verhalten sich nicht über die Analyse einfacher Reiz-Reaktions-Kopplungen ergründen lässt. Alle Selbstäußerungen der Person sind dieser Logik zufolge nur die Manifestationen latenter Prozesse, deren Sinn es zu entschlüsseln gilt. Genau hier setzt der TAT an: Über die durch Bildvorlagen evozierten Phantasien, die vonseiten der Testperson in eine narrative Form überführt werden, soll die Explikation des verborgenen Inneren gelingen. Mag die Heterogenität der Stimuli die Identifikation eines expliziten, alle Testkarten durchdringenden Menschenbildes erschweren, finden die Postulate zur psychischen Architektur gleichwohl hier ihre mediale Entsprechung. In diesem Sinne zeigt sich die Betonung der latenten Sinnebene menschlichen Erlebens und Verhaltens in der wohl kalkulierten Ambiguität der Motive, mit der die Testpersonen konfrontiert sind. Mal fehlen Informationen, die den Kontext einer Handlung festlegen, mal sind es einzelne Objekte, die nicht eindeutig bestimmt werden können. So besteht beispielsweise Interpretationsspielraum, ob es sich auf Karte 3BM bei dem Gegenstand, der neben einer zusammengekauerten Person auf dem Boden liegt, um eine Waffe oder einen Schlüsselbund handelt. In anderen Fällen wird die Ambiguität durch den körperlichen Ausdruck der Protagonisten – zum Beispiel eine seltsame Bewegung, die man als Angriff werten könnte, ein Gesichtsausdruck des Erstaunens oder Entsetzens – hervorgerufen. Der in den Motiven explizit angelegte Raum für negative Deutungen lässt zudem ein Menschenbild erkennen, das dezidiert auch destruktive und aggressive Momente integriert und diesen entscheidende Bedeutung verleiht. Die zahlreich vertretenen Interaktionssituationen, die in der Summe wie eine Typologie kulturell tradierter Beziehungsformen wirken, charakterisieren den ins Bild gesetz-
39 Für eine Skizze der theoretischen Strömungen, die Murray in seiner Theorie der „Personology“ integriert, siehe Murray, Henry A.: Basic Concepts for a Psychology of Personality. In: Journal of General Psychology 15 (1936). S. 241–268.
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ten Menschen vor allem als soziales, nach zwischenmenschlichen Beziehungen und kommunikativem Austausch strebendes Wesen. Dieses Bindungsverhalten jedoch ist zugleich Fokalpunkt möglicher Konflikte, also ebenfalls stets von einer ambivalenten Qualität. Ähnlich verhält es sich mit den Tafeln, auf denen nur eine Person dargestellt ist: Die den Kopf gesenkt haltenden oder verträumt in die Ferne blickenden Protagonisten können als Projektionsfläche für bislang nicht oder nur unzureichend befriedigte Bedürfnisse und Sehnsüchte verstanden werden, verweisen also wiederum auf eine Konzeption vom Menschen, die seinen impliziten Motiven besonderes Gewicht verleiht. Obgleich der Test mit durchaus düsteren Szenen und zwiespältigen Protagonisten aufwartet, werden die dargestellten Personen jedoch nicht als in zentralen Parametern von der Mehrheitsgesellschaft abweichende inszeniert. Vielmehr scheinen sie der ‚Mitte der Gesellschaft‘ zu entspringen. Genau dieser Eindruck ist auch Resultat der Strategie, Illustrationen aus populären Magazinen zu verwenden, gegenständliche Malereien aus Museen und Galerien zu berücksichtigen oder die Zeichnung anschaulicher Szenen in Auftrag zu geben. Der Szondi-Test und der TAT zeigen auf exemplarische Weise, dass psychologische Verfahren – vor allem dann, wenn diese mit Bildmedien arbeiten, deren Sujets Menschen zeigen – immer auch mit einer medialen Modellierung von Menschenbildern einhergehen. Den Ausgangspunkt für diese Modellierungen bilden – mal mehr, mal weniger explizit – die von den Autoren vertretenen theoretischen Vorstellungen zur Struktur und Prozessualität der Psyche. In diesem Sinne geschieht die Selektion von Bildern, die spezifischen Bildkulturen zuzuordnen sind, nicht akzidentell, sondern ist als logische Konsequenz dieser Vorstellungen anzusehen. Über die Wahl einer Bildgattung, eines Bildinhalts und einer bestimmten künstlerischen Technik nutzen die Autoren die ihnen verfügbaren materiellen und medialen Möglichkeitsräume aus, um gerade solche Stimuli zu setzen, die zu ihren theoretischen Postulaten kongruent sind. Die beiden zu einem Dispositiv verkoppelten Ebenen von ‚projektiven‘ Testverfahren sind daher hochgradig kulturell und historisch verfasst, sodass es nicht verwundert, dass viele Patienten und Patientinnen, die heute mit dem TAT konfrontiert werden, das Bildgeschehen und die sozialen Beziehungen zwischen den Protagonisten anders als von den Testautoren intendiert auslegen. Die stellenweise über hundert Jahre alten Fotografien des heute allenfalls historisch bedeutsamen Szondi-Tests wirken aufgrund ihres Inszenierungsstils und der Attribute der Porträtierten auf heutige Betrachter äußerst befremdlich, divergieren sie doch deutlich von den Wahrnehmungserfahrungen und den Bildpraktiken, mit denen sie vertraut sind. Das von allen psychologischen Instrumenten angestrebte Ideal, unabhängig des konkret vorliegenden räumlich-zeitlichen Kontextes verlässliche und valide Aussagen über die menschliche Psyche treffen zu können, wird von ‚projektiven‘ Tests –
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insbesondere, wenn diese mit konkreten Sujets als Stimuli arbeiten – somit auf besonders anschauliche und unmittelbar evidente Weise verfehlt.⁴⁰ Aus Sicht der Testautoren macht die Allianz aus psychodynamischen Vorstellungen und ambigen Bildvorlagen ‚projektive‘ Verfahren zu einer mächtigen Maschine der Sichtbarmachung verborgener Wahrheiten, die für den privilegierten Blick des Diagnostikers bestimmt sind. Bei einer genauen Betrachtung des Testdispositivs stellt sich jedoch unweigerlich die Frage, ob es wirklich die Testperson ist, die sich selbst in diesen Bildern anderer Menschen preisgibt. Vielleicht verraten die eingesetzten Stimuli stattdessen viel mehr über die Menschenbilder ihrer Autoren und den soziokulturellen Kontext, in dem sie geschaffen wurden?
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40 Den Einfluss historischer Prozesse auf die Erscheinungsform der Humanwissenschaften, ihre Definition von Untersuchungsobjekten und ihre Entwicklung von Methoden hat Foucault pointiert beschrieben. Siehe Foucault: Ordnung, S. 444.
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Szondi, Leopold: Experimentelle Triebdiagnostik. Tiefenpsychologische Diagnostik im Dienste der Psychopathologie, Kriminal- und Berufspsychologie, Charakterologie und Pädagogik. Band II (Textband). Bern: Hans Huber 1947. Szondi, Leopold: Experimentelle Triebdiagnostik. Zweites Buch der Schicksalsanalyse. Band I (Testband). Bern: Hans Huber 1947. Weygandt, Wilhelm: Atlas und Grundriss der Psychiatrie. München: J. F. Lehmann’s Verlag 1902. Wood, James P.: Magazines in the United States. Their Social and Economic Influence. New York: The Ronald Press Company 1949.
Franziska Bork Petersen
„Do you really feel like the outside matches the inside?“ Der authentische Körper im Wandel der Zeit Abstract: The concept of an authentic person who makes his/her ‘true inner’ visible on the body’s surface reappears as an ideal throughout history. What has undergone significant changes, however, is what exactly constitutes authentic bodily appearance. What ‘inner’ is represented and how exactly is it made visible on the body? My article focuses on two instances in which stagings of the authentic body represent an important issue: First in the French Enlightenment and subsequently in contemporary makeover culture (which originated in the Western world, but is no longer limited to it). Images of bodies revealing their ‘true inner’ took on particular importance in the Enlightenment when writers such as Rousseau used them as counterpoints to what they rejected as the ancien régime’s affected bodies. One might assume today – in the aftermath of late 20th century poststructuralism, postmodernism and feminism – that any notion of bodily ‘authenticity’ or for that matter ‘essential selfhood’ would be curtly dismissed. Yet, the image of an authentic body that reveals a ‘deserving’ inner self is exactly what is staged in most popular media today. 18th century acting theories suggested that ‘naturally expressive’ gestures could be conveyed – indeed reveal feelings – without any mediation. What has changed since then, I will argue, is that the ideal authentic body in makeover-culture has to be thoroughly and visibly worked for.
In der Bild am Sonntag gibt Sarah Knappik (24) sich nach einem Aufenthalt im Dschungel Camp soweit selbstzufrieden: „Ich bin mir treu geblieben und war authentisch.“¹ Ähnlich wird die Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2010, Lena Meyer-Landrut, in der Presse regelmäßig für ihre Authentizität gelobt. Das ZDF-Gesellschaftsmagazin Mona Lisa beschreibt Meyer-Landrut als „jung, selbst-
1 Wir sind doch nicht bei einer Hexenverbrennung. In: Bild am Sonntag 30.1.2011. S. 23.
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Franziska Bork Petersen
bewusst und authentisch“ und deklariert ihre unverblümte Art zur potentiellen Inspirationsquelle für eine ganze Generation junger Frauen.² Persönlichkeitstrainerin Regina Först erläutert in einem Interview in der Brigitte: „Ausstrahlung lässt sich nicht spielen, nicht künstlich antrainieren, denn Ausstrahlung ist mehr als Fassade. Ausstrahlung entsteht aus dem Zusammenspiel von Innen und Außen. Menschen mit einer positiven Ausstrahlung präsentieren eine vollständige und einzigartige Kombination ihrer inneren und äußeren Person.“³ In der 2004 gesendeten amerikanischen Reality-TV-Show The Swan erhielten Teilnehmerinnen, die ‚durchschnittlich‘ aussahen, ein Total-Makeover. Das Ziel: Äußerlich so schön zu werden wie im Inneren. Bezogen auf das Menschenbild wird in den genannten Zitaten davon ausgegangen, dass ein ‚echtes‘ Inneres in unverfälschter Weise an die vermeintlich diskrepante Körperoberfläche gekehrt werden kann. Verstanden als ‚Externalisierung‘ von eigentlichem Sein hat körperliche Authentizität in der zeitgenössischen Alltagskultur offenbar einen Stellenwert, der nach den Auswirkungen der Postmoderne vielleicht verwundert. Was hat es auf sich mit diesen Beschwörungen eines wahren Selbst und seiner Sichtbarmachung? Und wie ist die Wertschätzung des authentischen Körpers in einer Zeit zu verstehen, in der ästhetische Chirurgie, Cyborgs und biotechnisches Enhancement zur Alltagskultur gehören, und in der Lyotard, Jameson und andere ein Ende von ‚großen Erzählungen‘ diagnostiziert haben, die manifeste Erscheinungen an latente Bedeutungen knüpfen?⁴ Ich möchte in meinem Beitrag die Annäherung an ein Menschenbild versuchen, das vom Körper als einer Sichtbarmachung des Selbst ausgeht. Die Tendenz, körperliche Erscheinung mit einem ‚wahreren, essentiellen Inneren‘ aufzuladen, hat eine lange Geschichte. Das 18. Jahrhundert ist in diesem Zusammenhang ein Wendepunkt. Mit dem Gedankengut der Aufklärung und der beginnenden bourgeoisen Vormachtstellung in Frankreich änderte sich auch der Blick auf den Körper und seine Funktion. Kleidung und körperliches Betragen sollten nun nicht mehr wie während des Ancien Régime Status, sondern Innerlichkeit sichtbar machen. Exemplarisch drückte sich das veränderte Menschenbild in Inszenierungen des Körpers in den performativen Künsten und in
2 Die ‚Generation Lena‘. Mona Lisa, ZDF, Sendung vom 06.06.2010. http://monalisa.zdf.de/ ZDFde/inhalt/29/0,1872,8077309,00.html (31.05.2011). 3 Sevriens, Lesley: Stilberatung: So gewinnen Sie an Ausstrahlung! http://www.brigitte.de/ mode/trends/stilberatung-foerst-2009-1020632/ (1.10.2011). 4 Lyotard, Jean-François: The Postmodern Condition – A Report on Knowledge. Manchester: Manchester University Press 1984; Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press 1991.
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der Mode aus; sowohl praktisch als auch in der historischen Mode-, Tanz- und Aufführungstheorie.⁵ Wenn die Inszenierung eines authentischen Körpers heute auch andere Techniken erfordert, als im 18. Jahrhundert, so scheint der Einklang des Körpers mit dem Inneren doch ein Ideal zu sein, das auch Zeitgenossen anstreben. Um Konstanten und Veränderungen dieses Ideals herauszuarbeiten, vergleiche ich im Folgenden die Hervorbringung von körperlicher Authentizität zu der Zeit, in der sie als Wert signifikant wurde, mit Techniken der Inszenierung eines authentischen Körpers heute. Nach einer definitorischen Einführung werde ich zunächst in einem historischen Teil auf körperliche Inszenierungen von Innerlichkeit in der Aufklärung eingehen. Danach behandele ich dann ein Beispiel von KörperSelbst-Beziehung in der zeitgenössischen Fernsehshow The Swan (2004). Die medialen Unterschiede der herangezogenen Beispiele sind dabei eklatant. Während der Tänzerkörper auf der Pariser Opernbühne im späten 18. Jahrhundert eine fiktionale Rollenfigur darstellt, spielen die Teilnehmer von Makeover-Sendungen im Fernsehen sich selbst. Bezüglich ihrer Möglichkeiten, Körper in Erscheinung treten zu lassen, sind die Medien Fernsehen und Tanz zudem so unterschiedlich, dass ein Vergleich eigene Untersuchungen erfordert.⁶ Um solche Unterschiede geht es im Folgenden zwar immer wieder implizit, hauptsächlich betrachte ich meine Beispiele aber als von einer bestimmten Kultur hervorgebrachte, idealisierte Bilder vom Menschen. Sie geben jeweils Aufschluss über ein für ihre Zeit wesentliches Menschenbild, durch ihre Popularität und ihre Sichtbarkeit auf richtungsweisenden Bühnen produzieren sie es aber auch mit. Speziell interessiert mich an den historischen wie zeitgenössischen Beispielen also, wie sie einflussreichen Idealen vom und Annahmen über den Menschen in populären Inszenierungen zu ihrer Sichtbarkeit und Spezifik verhelfen. Allerdings lässt sich gerade ein Menschenbild, in dem körperliches Erscheinen an die Sichtbarmachung von Innerlichkeit gekoppelt ist, nicht mit ausschließlicher Bezugnahme auf visuelle Medien untersuchen. Authentizität hängt immer grundlegend von ihren Zuschreibungen durch relevante Instanzen ab. Wo der Moment der Aufführung unwiederbringlich verloren ist, geben histori-
5 Umgekehrt prägten die auf Tanz- und Theaterbühnen sowie mit Kleidung inszenierten Körper auch Mode und Menschenbild. Dies traf im 18. Jahrhundert insbesondere auf die französischen Beispiele zu, derer ich mich hier bediene. Zur Wechselbeziehung zwischen Körper-Inszenierungen des Theaters und der gesellschaftlichen Elite siehe Fischer-Lichte, Erika: Theater im Prozess der Zivilisation. Tübingen/Basel: Francke Verlag 2000. S. 19–20. 6 Studien zum Tanzfilm beschäftigen sich typischerweise mit den medialen Unterschieden von Live- und Fernseh-Körper. Siehe z. B. Dodds, Sherril: Dance on Screen. Genres and Media from Hollywood to Experimental Art. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2001.
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sche Abbildungen, Kostüme, aber auch choreografische Schriften und andere Anleitungen zum körperlichen Betragen Auskunft über diese Inszenierungstechniken und ihre Authentifizierung. Im Falle meines zeitgenössischen Beispiels (The Swan) analysiere ich die Inszenierung von körperlicher Authentizität mit Techniken wie kosmetischen Eingriffen, Fitnesstraining sowie die Bewertung der Teilnehmerinnen durch sich selbst und die ‚Experten‘ in der Sendung. Das Fernsehmedium stellt eine weitere Instanz der Inszenierung dar.
1 Inszenierung Im gesamten Aufsatz werde ich von ‚Inszenierungen‘ des Körpers als authentisch sprechen. Inszenierungen zielen nach der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte auf die Erzeugung einer bestimmten Sichtbarkeit ab.⁷ Auf dem Theater legt die Inszenierung fest, „wie die performative Hervorbringung von Materialität sich vollziehen soll“.⁸ Auch im Falle von Kulturtechniken und Praktiken, die außerhalb des Theaters etwas bewusst in bestimmter Weise zur Erscheinung bringen, lässt sich von Inszenierungen sprechen.⁹ Den Körper zu kleiden stellt beispielsweise eine solche Inszenierung auf den Bühnen des öffentlichen Lebens dar: einen geplanten Entwurf des Körpers, den wir, wie die Modewissenschaftlerin Joanne Entwistle anmerkt, täglich vollziehen.¹⁰ Werden diese Inszenierungen des Körpers auch nicht täglich reflektiert, so kann die Fähigkeit sich ‚passend‘ zu kleiden doch als eine Kernkompetenz der Alltagsbewältigung gelten. Wie wir im Kindesalter lernen, uns überhaupt zu kleiden und Fertigkeiten wie das Binden von Schnürsenkeln oder das Zuknöpfen eines Hemds erwerben und mit der Zeit automatisieren, werden eine Reihe von Techniken der Körperinszenierung verinnerlicht. Zu solchen Inszenierungen gehören auch Körperhaltung, Gestik und Sprechweisen. Meine Betrachtungen konzentrieren sich allerdings auf Praktiken, die den Körper durch Kleidung, in einem bestimmten Kunst-Kontext oder mit Schönheitschirurgie – und jeweils begleitet von den entsprechenden
7 Siehe Fischer-Lichte, Erika: Theatralität und Inszenierung. In: Inszenierung von Authentizität. Hrsg. von dies. u. Isabel Pflug. Tübingen/Basel: Francke Verlag 2000. S. 11–27. Sowie dies.: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004. S. 318–332. 8 Ebd., S. 325. 9 Zu Theatralität und Inszenierung in ihren Doppelfunktionen als ästhetische und anthropologische Kategorien siehe Fischer-Lichte: Theatralität. 10 Entwistle, Joanne: The Fashioned Body: Fashion, Dress and Modern Social Theory. Cambridge: Polity Press 2000. S. 7.
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verbalen Zuschreibungen – als authentisch inszenieren.¹¹ Bei meinen Beispielen handelt es sich zudem um weniger alltägliche Inszenierungen von Körpern, sondern um Körper, die auf Tanz- und Theaterbühnen und in Fernsehshows als Bilder inszeniert werden und den Aspekt einer reflektierten Sichtbarmachung so noch unterstreichen. In meiner Annäherung an diese Menschenbilder geht es also um Techniken ihrer Herstellung und nicht um eine Besprechung konkreter öffentlicher Aufführungen gehen, wie die Aufführungs- oder Performanceanalyse sie durchführt.
2 Körperliche Authentizität im 18. Jahrhundert Dem Menschenbild der Aufklärung lag ein Ideal zugrunde, das von der Erscheinung einer Person als äußerlicher Sichtbarmachung ihrer Innerlichkeit ausging. Je nach Verständnis kam dieser körperliche Ausdruck vom ‚Inneren‘, der ‚Natur ‘ oder der ‚Seele‘ mehr oder weniger automatisch zustande. Rousseau und andere Philosophen der Aufklärung nahmen beispielsweise an, dass das ‚natürliche‘ Innere immer an die Oberfläche drängt. Allerdings wird es dort von unmoralischen Individuen (das sind bei Rousseau vor allem: weibliche oder höfische Personen) mit opulenten Kleidern, Schminke und Schmuck verbrämt. Moralische Verwerfungen von Körperkonstruktionen, die als solche deutlich sind (auffälliges Makeup und ‚affektierte‘ Mode), gab es seit Mode als Zeichen von Charakter – von Innerlichkeit – gelesen wurde, und nicht mehr als Zeichen von sozialem Stand wie noch im früheren 18. Jahrhundert.¹² Als die Bourgeoisie nach der Französischen Revolution erste Modetrends initiierte, zeichneten sich diese durch eine Vorliebe für das vermeintlich Ungekünstelte aus. So erfuhr im späten 18. Jahrhundert besonders die Frauenmode eine drastische Veränderung. Hatten im Ancien Régime noch Krinolinen, Unterröcke, Korsetts, meterweise bestickter Samt, Seide und Spitze sowie gewaltige Frisuren die modische Inszenierung des Frauenkörpers beherrscht, wurden nun transparenter weißer Musselin und ein-
11 In der Frage, wie ein offenbar nach wie vor existentes Authentizitätsideal auf Körperoberflächen projiziert wird, widme ich mich hier also nur einem kleinen Aspekt dessen, was Goffman als ‚personal front‘ kategorisiert. Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Anchor Books 1959. 12 Siehe z. B. Sennett, Richard: The Fall of Public Man. London/Boston: Faber and Faber 1976. Insbesondere S. 65–72; sowie Ribeiro, Aileen: Dress and Undress. Costume and Morality in the 18th Century. In: Country Life 11.9.1986. S. 744–746.
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fache Baumwollstoffe bevorzugt.¹³ Die neuen Chemisenkleider waren schlicht geschnitten, mit hoher Taille und langen, fließenden Röcken.¹⁴ Die Einfachheit von Material und Schnitt stand einerseits für bourgeoise Bescheidenheit, andererseits wurde die ‚natürliche‘ Erscheinung des Frauenkörpers in den Kleidern (die Arme und Brust nicht immer vollständig verdeckten) von Kritikern als moralisch anstößig verurteilt.¹⁵ Die Mode leitete sich von Kleidern ab, die im früheren 18. Jahrhundert nur im privaten Heim getragen wurden. Während, nach Sennett, im öffentlichen Leben überall Gefahren lauerten, hatte sich das heimische Wohnzimmer im Laufe des 18. Jahrhunderts zum geschützten Ort entwickelt, in dem man sich unverstellt und frei entfalten konnte: „while man made himself in public“, schreibt Sennett, „he realized his nature in the private realm, above all in his experiences within the family“¹⁶. Die Adaption der Hauskleider für Straßenmode deutet darauf hin, dass Natürlichkeit und Unverstelltheit im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als erstrebenswerte Charakteristika der Körperinszenierung auch in der Begegnung mit Fremden angesehen wurden. In den performativen Künsten machte sich im Zuge der Aufklärung ebenfalls eine Umbesetzung des Körpers bemerkbar. Der Tänzerkörper wurde seiner vorherigen ornamentalen Funktion entledigt und stattdessen zum Zeichen für Innerlichkeit. Auch das Theater der Aufklärung stellte der Künstlichkeit des Barocktheaters den subjektiven Ausdruck von Empfindungen gegenüber. „Die Vorstellung
13 Die Herrenmode orientierte sich weitgehend an praktischerer Kleidung des englischen Landadels. Für die bemerkenswerten Abweichungen von dieser Tendenz und die Figur des incroyable siehe Ribeiro, Aileen: The Art of Dress. Fashion in England and France 1750 to 1820. New Haven/London: Yale University Press 1995. S. 93–95; sowie Lajer-Burcharth, Ewa: Necklines. The Art of Jaques-Louis David after the Terror. New Haven/London: Yale University Press 1999. S. 181–189. 14 Eine beliebte Variante dieser Mode wurde als à la grecque bezeichnet: ein Schnitt und eine Art des Drapierens, in der man sich auf antike Statuen bezog, und den steinernen Faltenwurf durch Befeuchten der Kleider zu imitieren versuchte. Bezugnahmen auf die Antike waren im Gedankengut der Aufklärung und dem sich daraus ableitenden Selbstbild der Bourgeoisie durchaus keine Seltenheit. 15 Bell merkt die Austauschbarkeit der moralischen Bewertung von Kleidern bzw. ihren Trägern an: „So strong is the impulse of sartorial morality that it is difficult, in praising clothes, not to use adjectives such as ‚right‘, ‚good‘, ‚correct‘, ‚unimpeachable‘, or ‚faultless‘, which belong properly to the discussion of conduct while, in discussing moral shortcomings, we tend very naturally to fall into the language of dress and speak of a person’s behaviour as being ‚shabby‘, ‚shoddy‘, ‚threadbare‘, ‚down at heel‘, ‚botched‘, or ‚slipshod‘.“ Als deutsche Entsprechungen könnte man ‚anständige‘, ‚ordentliche‘ und ‚korrekte‘ Kleidung bzw. ‚schäbig‘ oder ‚fadenscheinig‘ für Verhaltensweisen anführen. Bell, Quentin: On Human Finery [1947]. London: The Hogarth Press 1976. S. 20. 16 Sennett: Fall, S. 18–19.
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einer Restitution einfacher und natürlicher Kommunikationsverhältnisse wird“, so Ursula Geitner, „eine der zentralen aufklärerischen Utopien.“¹⁷ Dabei meint ‚Ausdruck‘ eine von Unmittelbarkeit bestimmte Übersetzung des ‚Inneren‘ – der Gedanken, Meinungen, Motive und Absichten, Gefühle und Empfindungen – ins ‚Außen‘ der Zeichen, Wörter und Gesten. Das in den Schauspieltheorien von Dubos, Sainte-Albine und dem frühen Diderot vermittelte ideale Bild vom Menschen ist eine authentische Abbildung seines Inneren. Während dieses Innere in Rousseaus Schriften als ein stabiles Sein gedacht ist, sollen im Theater der Aufklärung vorübergehende Seelenzustände zum authentischen Ausdruck gebracht werden.¹⁸ Geitner schreibt weiter: „Einem so begriffenen Ausdruck wird ein Verstehen an die Seite gestellt, welches mit Hilfe von Intuition und Gefühl – unter Ausblendung des Sachverhaltes, daß Zeichenverwendung immer Opazität impliziert – erfaßt, was im Gegenüber sich ereignet.“¹⁹ Im Fokus der Körper-Inszenierung steht ihre eigene Verleugnung und das vermeintlich unmittelbare Abbilden von etwas im Inneren des Schauspielers schon Vorhandenem: „Als Zeichen, das, seinen Zeichencharakter leugnend, ihn im ‚reinen Ausdruck‘ gleichsam überspringen will, bleibt es ein Wunschbild des ‚Unmittelbaren‘, das doch aus einer Mischung heterogener Zeichen hervorgegangen ist.“²⁰ In diesem Streben nach Unverstelltheit kam dem Körper des Tänzers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine besondere Rolle zu: Zum einen wurde Tanz als ‚ursprünglich menschlich‘ veranschlagt und deshalb als dazu in der Lage gesehen, Innerlichkeit unmittelbar auszudrücken.²¹ Zum anderen genießt Tanz das (im Kontext des wissenschaftlichen Diskurses der Aufklärung nicht zu unterschätzende) mediale Privileg, auf ‚Bewegung‘ zu beruhen;²² wie keine
17 Zitiert nach Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld Verlag 2000. S. 126. 18 Allerdings weist Fischer-Lichte darauf hin, dass gerade deutsche Schriften zur Schauspielkunst von einer ganzheitlicheren Vorstellung vom ‚Inneren‘ zeugen. So beruft sich Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie auf den Ausdruck der ‚Beschaffenheit der Seele‘ im Theater. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters Bd. 2. Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen – Theater des Barock und der Aufklärung. 4. Aufl. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999. S. 133. 19 Ebd., S. 126–127. Sehr bald setzt sich in Schauspieltheorien allerdings die Ansicht durch, ‚natürlicher Ausdruck‘ müsse künstlich verfertigt werden. 20 Ebd., S. 38. 21 Foster, Susan Leigh: Choreography and Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1996. S. 19. 22 Zu Empfindsamkeit und der Rolle der Bewegung im Diskurs der Aufklärung siehe Riskin, Jessica: Science in the Age of Sensibility. The Sentimental Empiricists of the French Enlightenment. Chicago/London: The University of Chicago Press 2002. Zum Begriff des ‚movere‘ siehe außerdem Thurner, Christina: Beredte Körper – Bewegte Seelen. Bielefeld: Transcript Verlag 2009.
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andere Kunstform vermochte er nach dieser Auffassung ‚Seelenbewegungen‘ nachzuzeichnen – er hatte „the power to convey […] with uncanny accuracy the individual’s true feelings“.²³ Der Forderung nach ästhetischen Reformen im Ballett wurde 1760 zum Durchbruch verholfen, als Jean-Georges Noverre sie in seinen Lettres sur la danse, et sur les ballets formulierte.²⁴ Wie andere Tanzmeister strebte Noverre unter dem Einfluss der Aufklärung nach einer neuen Ballettästhetik, die sich von der ‚leeren‘ Virtuosität des Hoftanzes abheben sollte. Statt auf geometrischen Bewegungsfiguren zu beruhen, erzählte das neue ballet d’action mit Bewegung eine Handlung. War der Tänzerkörper im Hofballett noch Quelle spektakulärer Virtuosität, stellte er nun psychologisch motivierte Figuren dar. Der Fokus verschob sich von kunstvollen Bewegungsformationen der Tänzer hin zu ihrem körperlichen Ausdruck. Im Gegenzug sollte der Zuschauer sich nicht mehr in der Virtuosität der Tänzer verlieren, sondern sich von ihnen ‚bewegen‘ lassen. So heißt es in Noverres Lettres: „Die Aktion beym Tanze ist die Kunst, durch den wahren Ausdruck unsrer Bewegungen, unsrer Gestus und der Physiognomie, dem Zuschauer unsre Empfindungen und Leidenschaften mitzutheilen.“²⁵ Ballett hatte vor der Reform als aristokratische Kunstform gegolten; seine manierierten Bewegungen leiteten sich direkt vom Leben am Hof ab. Die Ballettreform war Teil eines ästhetischen und anthropologischen Paradigmenwechsels, wobei das Prestige der Aufklärung dem neuen ballet d’action künstlerische und moralische Autorität verlieh. Die Ablehnung der oberflächlichen Zurschaustellung am Hof war Teil des moralischen und ästhetischen Wertesystems der Bourgeoisie und korrespondierte, wie oben angedeutet, mit ähnlichen Tendenzen in der Mode. In der Ballettästhetik, wie in anderen Bereichen, ging mit den neuen Idealen eine Hinwendung zur Authentizität einher; eine Inszenierung des Körpers als genuinem Ausdruck von Innerlichkeit. Skepsis, ob ein unmittelbarer Ausdruck von Seelenzuständen durch den Körper möglich und – erst recht auf der Bühne – überhaupt erstrebenswert sei, kam bereits in Theatertheorien des 18. Jahrhundert auf.²⁶ Und doch ist es auch
23 Foster: Choreography, S. 15. 24 John Weaver, Marie Sallé, Franz Anton Christoph von Hilverding und Gaspare Angliolini hatten ähnliche Reformvorschläge in London und Wien bereits im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert artikuliert. Siehe Foster: Choreography. 25 Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Hamburg/ Bremen: Cramer 1769. S. 197. 26 Siehe Diderot, Denis: Das Paradox über den Schauspieler. In: Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin: Verlag das europäische Buch 1984. S. 481–539. Auch Noverre deutet an, dass Inszenierung unvermeidlich ist, aber versteckt
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bei zeitgenössischen Körperinszenierungen die Sichtbarmachung des Inneren, die immer wieder beschworen wird. Diese Beschwörungen begegnen uns auffällig häufig in Fernsehsendungen, in denen wir sie so vielleicht nicht erwartet hätten: in Makeover-Shows, in denen Teilnehmerinnen sich kosmetisch-chirurgischen Eingriffen unterziehen. Auch im hier vermittelten Menschenbild gilt ‚das Innere‘ eines Menschen als besonders wertvoll; das angestrebte Ziel ist, körperliche Erscheinung mit diesem ‚Inneren‘ in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings haben sich sowohl die Konstitution des ‚Inneren‘ als auch die Techniken, mit denen körperliche Authentizität hervorgebracht wird, radikal verändert.
3 Körperliche Authentizität heute Die Möglichkeiten, den Körper durch physisches Training und kosmetische Eingriffe optisch zu verändern, haben in den letzten Jahren radikal zugenommen ebenso wie die Verbreitung und Akzeptanz ihrer Nutzung.²⁷ Bei den zeitgenössischen Körperinszenierungen in Makeover-Sendungen macht sich eine Anbindung dieser Technologien an die Rede vom ‚Selbst‘ bemerkbar.²⁸ Unter deutlich veränderten ‚Produktionsbedingungen‘ zeichnet sich hier eine Renaissance des authentischen Körpers ab. In einem Kontext, in dem das Selbst zunehmend als performativ verstanden und von der postmodernen Theorie als mannigfaltig, fragmentiert und flexibel
werden sollte: „Ich predige nicht Unordnung und Verwirrung; ich will vielmehr, daß auch in der Unordnung noch Ordnung herrschen soll; ich verlange sinnreiche Gruppen, kräftige Stellungen, nur daß sie auch natürlich sind; sie müssen so angeordnet seyn, daß man nirgend die Mühe des Anordners merkt.“ Noverre: Briefe, S. 13. 27 „No longer a bizarre indulgence for the rich, famous or narcissistic, cosmetic surgery has become an every day practice that popular media tell us we ‚deserve‘.“ Jones, Meredith: Skintight. An Anatomy of Cosmetic Surgery. Oxford/New York: Berg 2008. S. 1. 28 Mit dem Begriff ‚Makeover-Show‘ verweise ich auf Fernsehsendungen, in deren Fokus Transformationen stehen. Während ich mich mit The Swan auf eine Sendung beziehe, in der Körper durch kosmetische Chirurgie, Diät und Fitness-Training ‚überarbeitet‘ werden, argumentiert Brenda R. Weber, dass in anderen Shows das eigene Haus, Kind, Auto, der Hund oder der Garten symbolisch dieselbe Funktion annehmen können. In Makeover-Shows ist das Ziel immer den Körper, Hund, Garten oder das Haus in ein authentisch-abbildendes Verhältnis mit dem idealen Selbst zu bringen. Siehe Weber, Brenda R.: Makeover TV. Selfhood, Citizenship and Celebrity. Durham/London: Duke University Press 2009. Jones sieht unsere Kultur als erheblich von dem Streben nach solchen Transformationen geprägt. In unserer ‚MakeoverKultur‘ gilt: „the process of becoming something better is more important than achieving a static point of completion.“ Jones: Skintight, S. 1.
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veranschlagt wird, erscheint das von Makeover-Shows vermittelte Menschenbild bemerkenswert. So legt Brenda Weber dar: „One of the makeover’s more critical premises is that it does not construct, it reveals. That is to say, the makeover does not create selfhood but rather it locates and salvages that which is already present, but weak. Though a ‚you‘ may exist, these stories suggest the ‚better you‘ can only be achieved through the makeover.“²⁹ Die Logik der Makeover-Shows leitet sich ab aus dem vermeintlichen Mangel an visueller Intelligibilität der Teilnehmer. Dieser Mangel erklärt sich aus der Uneinheitlichkeit von Schein, der sich dem Betrachter beim Anblick des Makeover-Teilnehmers vermittelt, und dessen wirklichem Sein. Wie bei Rousseau ist ‚das Innere‘ ausschließlich positiv besetzt, und so wird Authentizität als die sichtbare Übereinstimmung von menschlichem Innen und Außen synonym mit ‚authentischer Schönheit‘.³⁰ Das ‚Makeover-Selbst‘ ist zudem dadurch charakterisiert, dass das Individuum keinen direkten Zugang dazu hat: Nur ‚Experten‘ können die Probleme der Teilnehmer wirklich verstehen und können zu deren ‚wahren Selbst‘ vordringen.³¹
4 The Swan Die Makeover-Show The Swan wurde 2004 in zwei Staffeln bei Fox ausgestrahlt.³² Eine dem amerikanischen Original folgende deutsche Version lief unter dem Titel The Swan – Endlich schön ebenfalls 2004 auf Pro 7 und wurde von Verona Pooth moderiert.³³
29 Weber: Makeover, S. 7. 30 Posch, Waltraud: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2009. S. 135. 31 Seier, Andrea u. Hanna Surma: Schnitt-Stellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in The Swan. In: Schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Hrsg. von Paula Irene Villa. Bielefeld: Transcript 2008. S. 173–198. 32 The Swan wurde von Nely Galán produziert und von Amanda Byram moderiert. 33 In der Forschung wird The Swan oft zusammen mit den Makeover-Formaten Extreme Makeover (2002–2007) und I Want a Famous Face (2004–2005) genannt. In Deutschland strahlte Vox 2008 die Sendung Spieglein, Spieglein... aus, die wie die anderen Formate vordergründig kosmetisch-chirurgische Eingriffe dokumentiert. Aufgrund des Wettbewerbcharakters von The Swan (einige der Teilnehmerinnen ‚dürfen‘ am Ende einer Staffel in einem Schönheitswettbewerb gegeneinander antreten) lässt sich die Serie aber auch mit Casting-Shows vergleichen.
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Die transformationswilligen Teilnehmerinnen von The Swan gaben als Grund für ihre Unzufriedenheit oft eine gestörte Beziehung zwischen ihrem inneren Selbst und ihrer äußeren Erscheinung an; das Gefühl, ihr schönes, junges Selbst sei in einem hässlichen, alten Körper gefangen. Nach ihrem Makeover in der ersten Staffel nickte Teilnehmerin Beth eifrig als die Moderatorin sie fragte: „Can I ask you now, do you really feel like the outside finally matches the inside?“³⁴ Ich habe darauf hingewiesen, dass eine Übereinstimmung von Aussehen und innerem Selbst für Zuschreibungen von Authentizität nach wie vor ausschlaggebend ist. Im Folgenden werde ich eine Technik beschreiben, mit der diese Übereinstimmung in der Makeover-Show The Swan inszeniert wird.
5 Harte Arbeit In The Swan sind die Teilnehmerinnen aktiv an ihren Körpermodifikationen beteiligt. Meine These ist, dass diese aktive Rolle in ihrer Verwandlung erheblich zur Authentifizierung der Teilnehmerinnen beiträgt.³⁵ Die ‚harte Arbeit‘, die jede von ihnen in die Transformation ihres Körpers steckt, ist eine der notwendigen Techniken, um am Sendungsende von der Moderatorin, dem ‚Expertenteam‘, und von sich selbst nicht nur als ‚schön‘, sondern als mit dem Inneren in Einklang – als authentisch – bewertet zu werden. Nach einer tränenreichen Videopräsentation, in der jede Teilnehmerin der Expertenrunde sich und ihre vermeintlichen körperlichen Defizite zu Beginn der Sendung vorstellt, erscheint der Teilnehmerinnenkörper auf dem Fernsehbildschirm als dreidimensionales Modell in einem Raster. Im Off-Kommentar wird genannt und im Diagramm visualisiert, welchen Eingriffen der Körper unterzogen werden soll. Jede Teilnehmerin tritt dem Zuschauer so zunächst als Rohmaterial in Erscheinung, zur Bearbeitung bereit. Obwohl es die ‚Experten‘ sind, die darüber entscheiden, welche Eingriffe ‚nötig‘ sind („This nose has gotta go“, „This nose is a problem“³⁶), sieht der Zuschauer die Teilnehmerinnen im Fitnessstudio trainieren, sich umfassenden chirurgischen Eingriffen unterziehen und während der insgesamt dreimonatigen Dauer ihres Makeovers mehr oder weniger moti-
34 The Swan 1.4. 35 Vgl. die Begriffsbestimmung von ‚authentisch ‘ als bezogen auf „jemand, der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch Urheber“. Röttgers, Kurt u. Fabian Reinhard: Authentisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Hrsg. von Joachim Ritter. Basel: Schwabe Verlag 1971. S. 691. 36 Kosmetischer Chirurg und Mitglied des Expertenteams in The Swan 1.1.
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viert bleiben. Diese Verwandlungs- und Durchhaltearbeit wird als anspruchsvoll und anstrengend präsentiert. Die Vorgänge im Operationssaal sind blutig, die Teilnehmerinnen sehen nach den Eingriffen arg mitgenommen aus und klagen oft über Schmerzen. Sequenzen aus dem Fitnessstudio zeigen, wie sie hart an ihrer Transformation arbeiten. So zeigt die dritte Episode der zweiten Staffel die harte Arbeit von Teilnehmerin Erica an drei verschiedenen Fitnessgeräten. Erica ist jeweils in halbnahen Einstellungen oder Großaufnahmen zu sehen. Der Zuschauer kann auf diese Weise nicht nur die Verbände von den chirurgischen Eingriffen in Ericas Gesicht genau erkennen, sondern auch ihren konzentrierten Blick und wie sich ihr Mund immer wieder nach Luft ringend öffnet. Aus dem Off erklärt eine Stimme mit dramatischer Emphase: „Erica’s hardest work still lies ahead“. Das Fernsehmedium ist also entscheidender Faktor in der Herstellung eines Bildes der harten Arbeit. Es inszeniert die Körper der Teilnehmerinnen als Produkte ihrer Autorschaft und hat somit Anteil an ihren Inszenierungen als authentisch. Fast immer haben die Teilnehmerinnen außerdem mit emotionalen Belastungen zu kämpfen, die ihre Partner ihnen am Telefon auferlegen, indem sie die Transformation nicht uneingeschränkt unterstützen. Am Ende ihrer Verwandlung sind die Körper der Teilnehmerinnen zum Ausdruck ihrer individuellen Entschlossenheit geworden. Danken die Frauen am Ende der Sendung auch gern den ‚Experten‘ – als ‚Urhebern‘ ihrer verwandelten Körper – weist die Moderatorin in diesen Fällen auf die aktive Rolle der Teilnehmerinnen selbst hin („You’ve got yourself to thank“³⁷). „Ob aus eigener Kraft oder mit der Unterstützung von Expert/innen, das Selbst erscheint umso individueller, je mehr es als das Ergebnis der eigenen Herstellungsleistung und aktiven Selbstkontrolle reklamiert werden kann. Individualität wird somit nicht mehr nur zu einer Frage von Ergebnissen, sondern vor allem von Produktionsmodalitäten.“³⁸ Mit der Zurschaustellung der ‚harten Arbeit‘, mit der die Teilnehmerinnen ihr inneres Selbst enthüllen, erlangen sie aber nicht nur Individualität, sondern auch körperliche Authentizität. Ihre Transformation wird in The Swan nicht als bloße Überarbeitung der Oberfläche inszeniert, sondern als eine Verwandlung aus dem verdienstvollen Inneren der Teilnehmerinnen heraus.
37 Z. B. in The Swan 1.6. 38 Seier/Surma: Schnitt-Stellen, S. 178.
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6 Fazit Weber beschreibt die implizite Logik von Sendungen wie The Swan: „In order for the transforming magic of the makeover to work, then, the self must simultaneously be represented as the most important manifestation of existence and as not fully attainable without the aid the makeover provides.“³⁹ Während die Teilnehmerinnen schon vor Beginn der Aufzeichnungen innerlich schön sind, kann sich ihr verdienstvolles Selbst erst durch die Teilnahme an The Swan voll entfalten – und vor allem: äußerlich sichtbar werden. Die harte Arbeit, die in der Makeover-Sendung zu sichtbaren Resultaten führt, wird abschließend von den ‚Experten‘ und der Moderatorin gerühmt. Der Zusammenhang von harter Arbeit der innerlich schönen Teilnehmerinnen und sichtbar schönem Arbeitsresultat bildet die Basis von körperlicher Authentizität⁴⁰ – einer erarbeiteten Authentizität, die in der Logik von Makeover-Shows einer semiotischen ‚Richtigstellung‘ gleichkommt. Hinzu kommt, dass das Innere in der zeitgenössischen Makeover-Kultur nicht, wie bei Rousseau, als stabil betrachtet wird, sondern vielmehr als Potenzial. Wenn Gunter Gebauer vom Körper als dem Objekt zeitgenössischer Verbesserungsanstrengungen schreibt, heißt das nicht, dass zwischen Körper und Selbst eine Kluft entstünde.⁴¹ Vielmehr wird das Verhältnis beibehalten, in dem der Körper sein ebenfalls in ständiger Verbesserung begriffenes Inneres abbildet. Es verwundert deshalb nicht, dass als Mitglied des Expertenteams ein ‚Personal Trainer‘ die Transformationen in The Swan mit regelmäßigen ‚Coaching‘-Sitzungen unterstützt. Die Inszenierung des Makeover-Körpers in The Swan zeigt, dass körperliche Authentizität kein unveränderliches Ideal ist, sondern auf kulturell spezifischen Praktiken der Herstellung und Zuschreibung beruht. Im Menschenbild der Aufklärung gewann die Vorstellung vom Körper als Abbild des Inneren Bedeutung, die auch in der Makeover-Kultur sanktioniert wird. Allerdings sollen heute auf populären Bühnen nicht nur innere Zustände, sondern inneres Sein zum Ausdruck kommen. Zudem wird die Repräsentation des Inneren auf der Körperoberfläche nicht als unmittelbar inszeniert, sondern als ein harter Arbeitsprozess.
39 Weber: Makeover, S. 14. 40 Dies ist besonders in Makeover-Shows der Fall. Aber auch in anderen Bereichen der Makeover-Kultur ist die kulturell adäquate ‚Sorge um sich‘ (Foucault) durchaus mit sichtbarer Arbeit am Körper verbunden. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit Bd. 3. Die Sorge um sich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1986. 41 Gebauer, Gunter: Körper-Utopien. Neue Mythen des Alltags. In: Zukunft denken. Nach den Utopien, Sonderheft Merkur 9/10 (2001). S. 885–896.
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Zur erfolgreichen Inszenierung von authentischer Körperlichkeit in The Swan ist – im Gegensatz zu Körperinszenierungen im späten 18. Jahrhundert – die offene Ausstellung seiner arbeitsintensiven Inszenierung und damit die Möglichkeit zum Nachvollzug der Transformationsprozesse entscheidend.
Literaturverzeichnis Bell, Quentin: On Human Finery [1947]. London: The Hogarth Press 1976. Diderot, Denis: Das Paradox über den Schauspieler. In: Diderot. Ästhetische Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Berlin: Verlag das europäische Buch 1984. Dodds, Sherril: Dance on Screen. Genres and Media from Hollywood to Experimental Art. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2001. Entwistle, Joanne: The Fashioned Body: Fashion, Dress and Modern Social Theory. Cambridge: Polity Press 2000. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters Bd. 2. Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen – Theater des Barock und der Aufklärung. 4 Aufl. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1999. Fischer-Lichte, Erika: Theater im Prozess der Zivilisation. Tübingen/Basel: Francke Verlag 2000. Fischer-Lichte, Erika: Theatralität und Inszenierung. In: Inszenierung von Authentizität. Hrsg. von dies. u. Isabel Pflug. Tübingen/Basel: Francke Verlag 2000. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004. Foster, Susan Leigh: Choreography and Narrative. Ballet’s Staging of Story and Desire. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1996. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit Bd. 3. Die Sorge um sich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1986. Gebauer, Gunter: Körper-Utopien. Neue Mythen des Alltags. In: Zukunft denken. Nach den Utopien, Sonderheft Merkur 9/10 (2001). S. 885–896. Die ‚Generation Lena‘. Mona Lisa, ZDF, Sendung vom 06.06.2010. http://monalisa.zdf.de/ ZDFde/inhalt/29/0,1872,8077309,00.html (31.05.2011). Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Anchor Books 1959. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M./Basel: Stroemfeld Verlag 2000. Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press 1991. Jones, Meredith: Skintight. An Anatomy of Cosmetic Surgery. Oxford/New York: Berg 2008. Lajer-Burcharth, Ewa: Necklines. The Art of Jaques-Louis David after the Terror. New Haven/ London: Yale University Press 1999. Lyotard, Jean-François: The Postmodern Condition – A Report on Knowledge. Manchester: Manchester University Press 1984. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Hamburg/Bremen: Cramer 1769. Posch, Waltraud: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2009.
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Teil 2: Medialität und Transmedialität
Sebastian Armbrust
Serielle Perspektiven auf Patienten und Ärzte Körper, Psyche und Sozialität in Dr. House Abstract: “Humanity is overrated,” states the eponymous hero of the successful television drama House M.D. right in its initial episode. A sociopath from the outset, House avoids dealing with his patients directly, preferring to view them as catalogs of symptoms that present themselves to a detached, scientific type of diagnostic scrutiny. When interacting with other characters, he is cynical, insulting, and manipulative. However, his bedside manner is compensated by his ability to solve even the most mysterious medical cases, time and again saving his patients from their seemingly inevitable death. At the same time, House himself is the most dramatic ‘case’ of the medical drama: Due to a leg injury, he suffers from chronic pain, walks with a cane, and is addicted to the painkiller Vicodin. This essay explores how the show combines genre elements of medical and criminal television drama to create mysteries around body, psyche, and social behavior of its leading character as well as his patients. It appears that the specific image of human nature, drawn by the show as a web of interrelations between these three aspects, is a result of both the deterministic view implied by the scientific procedures employed by the doctors, and the dramatic imperative to create compelling mysteries about human characters for the viewer to indulge in.
1 Einleitung „Humanity is overrated“ – Menschlichkeit wird überbewertet – erklärt Fernseharzt Dr. House gleich in der Pilotfolge der gleichnamigen US-Serie.¹ Die menschliche Begegnung mit seinen Patienten vermeidet er, betrachtet sie lieber als Kataloge von Symptomen, aus denen er seine Diagnosen ableiten kann.² Wenn
1 House M.D. USA 2004–2012, FOX. Idee: David Shore. Deutsche Ausstrahlung: Dr. House. 2006 –noch nicht abgeschlossen, RTL. Auf einzelne Episoden der Serie wird im Fließtext mit dem Episodentitel und der Angabe von Staffel und Episodennummer innerhalb der Staffel verwiesen. 2 Vgl. Rich, Leigh E., Jack Simmons, David Adams, Scott Thorp u. Michael Mink: The Afterbirth of the Clinic: A Foucauldian Perspective on „House M.D.“ and American Medicine
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er sich doch mit Menschen – Patienten wie Kollegen – arrangieren muss, gibt er sich zynisch, beleidigend, und manipuliert rücksichtslos, um seine Interessen durchzusetzen. Als regelmäßiger Dienstverweigerer ist er für sein Krankenhaus nur haltbar, weil er sich Woche um Woche als diagnostisches Genie beweist, das sich für die kompliziertesten Krankheiten dann doch begeistern, sie entschlüsseln und behandeln kann. Der komplexeste Fall ist er dabei selbst: Durch eine Beinverletzung abhängig von Stock und Schmerztabletten, entwickeln sich an seiner Figur als Leitmotiv der Serie Fragen nach Zusammenhängen zwischen Genie, Verbitterung, sozialer Isolierung und körperlichem Leiden. Menschenbilder stehen seit jeher im Mittelpunkt von Krankenhaus- und Arztserien: Der menschliche Körper wird explizit diskutiert; der Umgang mit Krankheit, Abnormität und Sterben wird als individuelles Schicksal und professionelle Herausforderung in sozialen und institutionellen Kontexten verhandelt.³ In Figur und Serie Dr. House verdichten sich diese Aspekte auf ungewöhnliche Weise. Implizite und explizite Menschenbilder treffen auf ganz unterschiedlichen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven aufeinander: Körper- und Krankheitsbilder treffen auf psychische Nebenwirkungen und Bewältigungsstrategien sowie ethische Problemstellungen. Dabei wird das empathisch-holistische Menschenbild, dem klassische Fernsehärzte anhängen, durch die naturwissenschaftliche Perspektive und Methodik des Diagnostikers House auf eine Art und Weise dekonstruiert, die häufig provokant und zynisch erscheint. Dieser Beitrag nähert sich der Serie Dr. House und ihren seriellen Menschenbildern, um an diesem Beispiel erste Antworten auf eine allgemeinere Frage zu finden: Wie wird in Fernsehserien auf Vorstellungen des Menschlichen verwiesen? Und wie hängen ihre Bezüge zu Menschenbildern mit den erzählerischen Rahmenbedingungen der seriellen Erzählform und bestimmter Genres zusammen? Ein thematischer Schwerpunkt liegt dabei auf den Zusammenhängen zwischen den körperlichen, psychischen und sozialen Merkmalen der dargestellten Ärzte und Patienten.⁴ Um diesen Aspekten näher zu kommen, sollen zunächst einige grundsätzliche Vorüberlegungen zur seriellen Repräsentation von Menschenbildern angestellt werden. Der darauffolgende Abschnitt geht auf die Erzähl-
in the 21st Century. In: Perspectives in Biology and Medicine 51.2 (2008). S. 220–237. http:// dx.doi.org/10.1353/pbm.0.0007 (25.01.2012). 3 Einen umfassenden Überblick über die Geschichte US-amerikanischer Arzt- und Krankenhausserien geben Turow, Joseph: Playing Doctor. Television, Storytelling, and Medical Power. New York: Oxford UP 1989; und Jacobs, Jason: Body Trauma TV. The New Hospital Dramas. London: BFI 2003. 4 Zu dieser Dreiteilung der menschlichen Eigenschaften vgl. Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008. S. 173–179.
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traditionen der Arzt- und Krankenhausserie ein, an die Dr. House anschließt und die durch die Kombination mit anderen Genremerkmalen zu einer neuen Formel transformiert werden. Auf dieser Grundlage sollen dann die in der Serie repräsentierten Vorstellungen von Menschlichkeit als Wechselverhältnis von Körper, Psyche und Sozialität näher untersucht werden.
2 Serielle Menschenbilder: Vorüberlegungen Serien bieten aufgrund ihrer umfangreichen Gesamtdauer einen idealen Raum für die ausführliche Charakterisierung von Menschen. Ihre Figuren erscheinen oft als individuelle Charaktere und können als positive oder negative Vorbilder unser Menschenbild prägen. Da viele Serien auf langfristige Fortsetzbarkeit angewiesen sind und sich dabei bemühen, bestimmte inhaltliche Prämissen beizubehalten, gestatten sie ihren Figuren eher selten oder nur langsam nachhaltige charakterliche Entwicklungen, wie sie etwa im Spielfilm oft stattfinden.⁵ Dies gilt insbesondere für die sogenannten procedurals, also Polizei-, Anwalt- oder Arztserien wie Dr. House, die in jeder Episode erneut an einem Fall die Prozeduren einer bestimmten Profession durchspielen.⁶ Dafür bieten Serien umso mehr Raum, in die Tiefe ihrer Figuren vorzudringen und ihr Verhalten in unterschiedlichsten Problemlagen und sozialen Kontexten zu beobachten.⁷ Dieses Verhalten repräsentiert bestimmte Vorstellungen über Menschen und ihre Bedürfnisse und
5 Die Serienlandschaft ist in Bezug auf diese Merkmale durchaus heterogen – so ließen sich auch Miniserien oder Telenovelas anführen, die als abgeschlossene Erzählungen angelegt sind. Manche quality serials setzen stark auf Charakterentwicklung, während sitcoms und procedurals oft mit Stereotypen arbeiten. Die hier hervorgehobenen Merkmale gelten vor allem für die US-amerikanische Primetime-Serie, der Dr. House zuzuordnen ist. Zur weiteren Diskussion und Kategorisierung serieller Formate vgl. Weber, Tanja u. Christian Junklewitz: Das Gesetz der Serie. Ansätze zur Definition und Analyse. In: MEDIENwissenschaft 1 (2008). S. 13–31. Zur Primetime-Serie vgl. Douglas, Pamela: Writing the TV Drama Series. How to Succeed as a Professional Writer in TV. Studio City: Michael Wiese 2007; Newman, Michael Z.: From Beats to Arcs. Toward a Poetics of Television Narrative. In: The Velvet Light Trap 58.1 (2006). S. 16–28. 6 Im Englischen unterscheidet man serials, also „Fortsetzungsserien“ mit offener Dramaturgie, von series, „Episodenserien“ mit in sich geschlossenen Episoden. Procedurals gelten als Unterform der Episodenserie. Zeitgenössische Serien wie Dr. House vermischen beide Prinzipien, die Übergänge zwischen den Kategorien sind also fließend. Weber/ Junklewitz: Gesetz, S. 19–21. 7 Vgl. Douglas: Writing, S. 8; und Ellis, John: Visible Fictions. Cinema, Television, Video. London: Routledge 1985. S. 145–159.
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kann durch die Dramaturgie der Serie belohnt oder bestraft, als vorbildlich, mangelhaft oder tragisch bewertet werden: Tugendhafte Figuren, die in schwierigen Situationen an Idealen festhalten, können dafür durch ein Happy End belohnt werden; andererseits mögen Figuren, die an äußeren oder inneren Schwierigkeiten scheitern, gerade dadurch besonders menschlich erscheinen und anteilnehmend rezipiert werden. Figuren exemplifizieren jedoch nicht nur Menschenbilder, sie haben auch Vorstellungen über die Natur des Menschen, sind in ihrem Denken und Handeln also von kulturellen wie auch individuellen Normen und Wertvorstellungen geleitet, die sie in Dialogen manchmal explizit vertreten. Dem Menschenbild oder den Komplexen von Menschenbildern, die eine Serie insgesamt repräsentiert, kann man sich daher über folgende Fragen nähern: Welche Themen werden in der Produktion überhaupt verhandelt (z. B. menschliche Tugenden, Laster oder Problemlösungsstrategien)? Welche unterschiedlichen Positionen werden zu diesen Themen geäußert (z. B. Allgemeinplätze, Relativierungen oder radikale Ansichten)? Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich bestimmte Auflösungsmuster über den Verlauf einer Serie wiederholen: Nicht nur, dass in einer Krimiserie der Täter in der Regel überführt oder in der Arztserie der Patient in der Regel geheilt wird; auch die Methoden, die zu diesem Ziel führen, werden insbesondere in procedurals immer wieder durchgespielt und an der diegetischen Realität verifiziert. Diese Verifikation muss nicht immer auf den realistischen Wert der gewählten Problemlösungsstrategien verweisen, sondern ist auch durch erzählökonomische Faktoren bedingt, die die Handlung interessant und unterhaltsam machen. Die meisten zeitgenössischen Serien vermischen dabei Aspekte geschlossener und offener Dramaturgie: Sie behandeln pro Episode einen abgeschlossenen Haupthandlungsbogen, die Hauptfiguren werden jedoch zusätzlich auch in langfristige Handlungsbögen eingebunden, die von Episode zu Episode nur langsam fortschreiten und im Gegensatz zu den oft dienstlichen Fällen der Woche eher ihre privaten Lebenskontexte betreffen.⁸ In Hinblick auf diese Hybridstruktur lässt sich zwischen zwei Klassen von Serienfiguren unterscheiden: Erstens dem langfristigen Figurenensemble der Serie, dessen Mitglieder in der Tiefe ihrer Persönlichkeit erforscht werden, bestimmte menschliche Eigenschaften und Konflikte
8 Vgl. Newman: Beats. Zur historischen Entwicklung dieser Erzählstruktur: Dunleavy, Trisha: Television Drama: Form, Agency, Innovation. London: Palgrave Macmillan 2009; Kozloff, Sarah: Narrative Theory and Television. In: Channels of Discourse, Ressembled. Televison and Contemporary Criticism. Hrsg. von Robert Allen. London: Routledge 1992. S. 67–100.
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repräsentieren, und um die episodenübergreifende Entwicklungen gesponnen werden. Dem stabilen Ensemble gegenüber stehen wechselnde Nebenfiguren, die nur in einer oder in wenigen Episoden auftreten. Sie können im Gegensatz zu den Hauptfiguren Einblick in verschiedenste Lebenskontexte geben und tiefgreifende Veränderungen durchlaufen, die insbesondere in der Arztserie nicht nur psychologischer, sondern auch physiologischer Natur sein können. Allerdings bleiben diese Einblicke in menschliche Schicksale meist sehr ausschnitthaft und laufen Gefahr, gängige Stereotypen zu repräsentieren, da ein größerer Fokus auf den Hauptfiguren liegt. Da die Nebenfiguren als Patienten (oder Zeugen, Verbrecher etc.) zudem durch das Serienkonzept determinierte Funktionen erfüllen müssen, mag eine Serie darüber auch wieder ihre eigenen Stereotypen ausbilden, die einerseits ein bestimmtes Menschenbild nahelegen, andererseits stark durch die Erzählformel der Produktion geprägt sind. So wimmelt es zum Beispiel in der US-Polizeiserie The Shield (2002–2008) von Sexualstraftätern, was man als Aussage über eine grundsätzliche Perversität des Menschen interpretieren kann – oder auch nur als Tabubruch, den die Serie wiederholt, um brisant zu wirken und starke Reaktionen der Hauptfiguren zu provozieren. Im Menschenbild von Dr. House spielt das Mantra „everybody lies“ eine große Rolle und bewahrheitet sich wiederholt, das liegt aber auch daran, dass House ohne lügende Patienten keine rätselhaften Fälle zu lösen hätte.
3 Themen, Genre und Erzählschema Die Krankenhausserie ist seit jeher ein Verhandlungsort von Menschen- und Arztbildern. In Dr. House werden diese auf verschiedenen Ebenen verhandelt: So geht es um medizinethische Fragestellungen wie Patientenautonomie oder experimentelle Behandlungsmethoden, in denen House sich regelmäßig provokativ gegen die etablierten Normen stellt. Neben lebensbedrohlichen Krankheiten werden in den medizinischen Fällen auch normative Vorstellungen des Körperlichen behandelt und versteckte Abnormitäten unter der körperlichen Oberfläche der Patienten aufgedeckt. Dazu zählen tief verborgene Zustände, wie zum Beispiel der männliche Pseudohermaphroditismus in der Episode „Skin Deep“ (2.13): Hier erfährt eine attraktive, jugendliche Patientin erst infolge ihrer Erkrankung, dass sie genetisch eigentlich ein Mann ist – und Hodenkrebs hat. Diese Erkenntnis erlaubt als Diagnose die Heilung der körperlichen Krankheit, gleichzeitig führt sie zu einer Sinnkrise, da das Selbstbild des Teenagers infrage gestellt wird. Außerdem ist dieser Fall ein gutes Beispiel dafür, wie Weiblichkeit in
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Dr. House vor allem als Attraktivität definiert wird, die den sozialen Erfolg prädeterminiert.⁹ In anderen Episoden werden seltene Erbkrankheiten zutage gefördert, die den Ärzten zunächst auch deshalb verborgen bleiben, weil die Verwandtschaftsverhältnisse der Patienten nicht bekannt sind und sich plötzlich herausstellt, dass ihre Eltern nicht ihre biologischen Eltern sind (1.02), der Ausbilder eines Jugendlichen auch der leibliche Vater (7.10) oder die eigene Ehepartnerin eine Halbschwester ist (3.05). Immer wieder sind die körperlichen Krankheitsbilder also mit Geheimnissen verbunden, die im eigenen Körper oder im sozialen Umfeld begraben liegen und bei der Diagnosestellung ans Licht gelangen. Da die Entdeckung und Behandlung dieser verborgenen körperlichen Merkmale in Dr. House stets überlebenswichtig sind, entsteht der Eindruck, dass die biologische und hereditäre Determination des Menschen schwerer wiegt als innere Überzeugungen, sein Selbstbild, oder die soziale Identität.¹⁰ Sowohl die Rätselzentriertheit als auch das von House gelebte Arztbild stehen im Kontrast zur klassischen Arztserie und dem klassischen Film- und Fernseharzt. Begründet wird das Genre durch die Filmreihe über Dr. Kildare, die 1937 mit Internes Can’t Take Money beginnt. Daran schließt die Fernsehserie Dr. Kildare (1961–1966) an, die als Vorbild für weitere Arztserien dient. Das Arztideal dieser Produktionen zeichnet sich durch unerschütterliche Kompetenz nicht nur im Medizinischen, sondern auch in allgemeinen Lebensfragen aus, mit der der (fast immer männliche) Arzt seinen Patienten als gütig-väterlicher Berater zur Seite steht. Dabei transformiert er die Schicksale der Episodenrollen und setzt als Katalysator die Moralvorstellungen seiner Gesellschaft um, ohne durch eigene persönliche Tiefe in Erscheinung zu treten.¹¹ Aus diesem vertrauenerweckenden Paternalismus entwickelt sich in den 1970er und 1980er Jahren (vor allem in St. Elsewhere, 1982–1988) eine konfliktbetonte und gesellschaftskritische Grundstimmung. Zunehmend werden provokante und aktuelle Gesundheitsthemen wie Abtreibung, AIDS, Homosexualität, Vergewaltigungsfolgen, Drogenabhängigkeit, künstliche Befruchtung oder Nervenerkrankungen behandelt. Außerdem rückt dabei die Bewältigung der hohen Anforderungen des Arztberufs in den Vordergrund: Ärzte erscheinen nun auch als fehlbare und verunsicherte Individuen, die
9 Dies wird auch an Dr. Cameron deutlich, die sich bewusst fragt, ob House sie aufgrund ihrer Attraktivität oder ihrer medizinischen Kompetenz eingestellt hat (1.01). 10 Eine ganz gegensätzliche Haltung, die die Integrität und Prävalenz des geistigen Selbst betont, wird u. a. in den Filmen von Michel Gondry vertreten. Vgl. Maike Sarah Reinerth in diesem Band. 11 Vgl. Turow: Playing, S. 3–24.
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unter schwierigen institutionellen Rahmenbedingungen agieren müssen. In der anschließenden ‚apokalyptischen‘ Phase, die Jacobs in den 1990er Jahren verortet und an Serien wie Emergency Room (1994–2009) und Chicago Hope (1994–2000) diskutiert, verschärft sich der Ton weiter: Das konfliktreiche Arbeitsumfeld der Ärzte wird vom Katastrophenschauplatz der Notaufnahmen und Operationssäle abgelöst, in denen in Anlehnung an die Action- und Horrorfilmästhetik spektakuläre körperliche Verletzungen und Eingriffe in den Mittelpunkt der Darstellung rücken.¹² Damit werden existenzielle Ängste um die Verletzlichkeit des Körpers angesprochen, die sich besonders bedrohlich im Kontrollverlust des Menschen über seinen krampfhaft zuckenden, entstellten Körper manifestieren.¹³ Im Vergleich mit seinen Genre-Urvätern erscheint House zunächst als deren krasse Antithese, da er sich für die menschlichen Dimensionen seines Handelns nicht zu interessieren scheint. Betrachtet man die Ärzte späterer Produktionen selbst als Opfer katastrophaler Arbeitsbedingungen, scheint House dieses Verhältnis umzukehren, wenn er im Verlauf der Serie wiederholt seinen Dienst verweigert und sich mit der Krankenhausverwaltung anlegt. Gleichzeitig geht House einen Schritt zurück in den unerschütterlichen Paternalismus der ersten Fernsehärzte, auch wenn dieser bei ihm nicht mehr gütig, sondern launisch und autoritär erscheint. Außerdem verweist seine diagnostische Perspektive zurück auf Medizinvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts, auf erste Forderungen nach einem naturwissenschaftlichen Blick, der von individuellen Menschen und Körpern abstrahiert, um durch sie hindurch direkt mit der Krankheit zu kommunizieren.¹⁴ In Konflikt gerät House hingegen mit neueren medizinethischen Forderungen, die den respektvollen Umgang mit einem autonomen Patienten fordern.¹⁵ Diese ungewöhnliche Haltung erklärt sich maßgeblich aus der Erzählformel der Serie, die Genremerkmale der Krankenhausserie mit der dramatischen Struktur der Krimiserie kombiniert. Die diagnostischen Rätsel, die House von Woche zu Woche lösen muss, werden in der Episodendramaturgie wie die Suche nach einem Mörder aufgelöst: Zu Beginn wird anstelle eines Mords ein spektakulärer körperlicher Zusammenbruch inszeniert, der in der Folge die behandelnden Ärzte wie Detektive vor ein Rätsel stellt. Der Lösungsweg führt erst über falsche Fährten und tatsächliche Detektivarbeit zur richtigen Diagnose; auf der Suche
12 Jacobs: Body, v.a. S. 7–10 und 29–37. 13 Ebd., S. 54–75. 14 Rich et al. sprechen in Anlehnung an Foucault von einer „Nachgeburt der Klinik“ („the afterbirth of the clinic“), vgl. dies.: Afterbirth. 15 Vgl. Bittner, Uta, Sebastian Armbrust u. Franziska Krause: „Doctor knows best“? – Eine Analyse der Arzt-Patient-Beziehung in der TV-Krankenhausserie Dr. House. In: Ethik in der Medizin (17.01.2012). http://dx.doi.org/10.1007/s00481-012-0179-7 (25.01.2012).
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nach Giften und Krankheitserregern lässt House seine Assistenten sogar regelmäßig in die Wohnungen seiner Patienten einbrechen.¹⁶ Mehr als seinen ärztlichen Genrevorläufern wird House dadurch seiner literarischen Vorlage, dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes gerecht: Mit diesem teilt er sich Eigenschaften wie seinen rauen Egozentrismus, seine Drogenabhängigkeit, seine übermenschliche Beobachtungs- und Kombinationsgabe und vor allem die Verbissenheit, jedes ihm dargebotene Rätsel zu lösen.¹⁷
4 Körper, Psyche und Sozialität Während die Symptome der Patienten von House und Kollegen auf medizinische Ursachen hin befragt werden und dabei oft tief in den Körpern verborgene Geheimnisse aufgedeckt werden, wird der Zuschauer dazu eingeladen, aus dem äußeren Verhalten der Figuren auf ihre sozialen Beziehungen und psychischen Verfassungen zu schließen und darüber die Aspekte ihrer Menschlichkeit zu entschlüsseln.¹⁸ Das Erzählschema der Serie wirft also auf verschiedenen Ebenen Rätsel auf: Der medizinische Hauptfall liefert einerseits das dramatische Grundgerüst jeder Episode und unterteilt sie in vier Akte, in denen wiederholt neue Hypothesen aufgestellt und von spektakulären Komplikationen begleitet falsifiziert werden.¹⁹ Andererseits wird diese Formel schnell durchschaubar und zu einer Routine, während sie auf fachlicher Ebene ohnehin kaum nachvollziehbar ist. Vielmehr bestätigt sich der Hinweis von Sarah Kozloff, dass Spannung in Fernsehserien nicht durch den konkreten Ablauf der Ereignisse, sondern über die allmähliche charakterliche Ausgestaltung der Figuren geschaffen wird.²⁰ Dieser Abschnitt wendet sich daher vertiefend den Figuren der Serie zu, um aufzuzeigen, wie an ihnen Fragen über das Zusammenspiel von Körper, Psyche und Sozialität entstehen, welche Antworten die Serie auf diese Fragen anbietet und welche Menschenbilder sie durch diese Aushandlung nahelegt. Die Auf-
16 Ausführlicher diskutiere ich diese Hybridstruktur in Armbrust, Sebastian: Analyzing Storytelling Strategies in Serial Television Drama. Hybrid Structure and Functional Polyvalence in House M.D. In: Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology 6 (I. Working with Stories. Selected papers from the 2nd ENN Conference 2011). http://cf.hum.uva.nl/narratology/a11_sebastian_armbrust.htm (16.2.2012). 17 Vgl. Jackman, Ian: House. The Official Guide to the Hit Medical Drama. New York: It Books 2010. S. 3–4. 18 Genauer wird diese Rezeptionsaktivität beschrieben in Eder: Figur, insbes. Kapitel 5. 19 Vgl. Armbrust: Analyzing. 20 Kozloff: Narrative, S. 74–77.
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merksamkeit liegt dabei auf House, der als besonderes Individuum auffällt, aber auch explizit sein eigenes Menschenbild zum Ausdruck bringt. An seinen Ansichten und Erwartungen lässt sich das Verhalten der anderen Figuren wiederum spiegeln. Dieser Abgleich von Menschenbildern ist für die Dramaturgie der Serie prägend, wird allerdings auch durch viele weitere Aspekte ergänzt, die hier nicht behandelt werden können: So ließen sich auch die Schicksale von Nebenfiguren stärker in den Blick nehmen, oder die ästhetische und epistemologische Perspektive auf den menschlichen Körper, die auffällig von naturwissenschaftlichen Methoden und Technologien geprägt ist.
5 Der Mensch Dr. Gregory House House fällt auf allen drei hier betrachteten Ebenen durch außergewöhnliche Eigenschaften auf. Die Beinverletzung ist ein augenscheinlicher körperlicher Makel. Durch die chronischen Schmerzen wird die Verletzung auch ein psychisches Problem. Aus ihrer Behandlung mit Schmerzmitteln entsteht sogar eine krankhafte Abhängigkeit, die gegen Ende der fünften Staffel zu Wahnvorstellungen führt. Im zwischenmenschlichen Umgang mag House zuerst verbittert wirken und den Eindruck nahelegen, dass aus körperlicher und psychischer Dysfunktion auch die soziale entstanden ist. Gleichzeitig sticht die Psyche von Dr. House jedoch auch auf ganz positive Weise hervor, da sie ihn erst zum brillanten Diagnostiker macht. Dadurch mag er zuerst als einseitig begabter Mensch verstanden werden. Ein genauerer Blick auf das Zusammenspiel seiner verschiedenen Eigenschaften stellt solche Trennungen und monokausalen Verknüpfungen jedoch in Frage und untermauert, dass House überhaupt nur in dieser spezifischen Konfiguration von Eigenschaften denkbar ist: So ist er nicht nur im menschlichen Umgang, sondern auch in seiner Funktion als Diagnostiker äußerst unangepasst. Er löst die medizinischen Rätselfälle nicht allein durch unerschöpfliches Fachwissen, sondern auch durch seine Fähigkeit, überraschende Zusammenhänge zwischen scheinbar unverwandten Sachverhalten herzustellen. Durch seine Eskapaden erscheint House desinteressiert und unseriös – man mag sein Verhalten jedoch auch als modus operandi eines Genies interpretieren, das sich ablenkt, um vom Unterbewusstsein und mit Hilfe des Zufalls auf die Lösung des Rätsels gestoßen zu werden.²¹ Ob Methode
21 Vgl. Huskinson, Lucy: Anatomy of a Genius. Inspiration through Banality and Boring People. In: House. The Wounded Healer on Television. Jungian and Post-Jungian Reflections.
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oder Charakterfehler – dieses laterale Denken erweist sich in fast jedem Fall als zielführend.²² Die Eigenwilligkeit von Dr. House steht damit auf den ersten Blick in einem Kontrast zu seiner Brillanz und Professionalität, erweist sich aber zunehmend als Vorbedingung oder Begleiterscheinung seiner Genialität. Auch seine Rolle als unangenehmer Zeitgenosse speist sich direkt aus seinen besonderen geistigen Fähigkeiten: Nicht nur die Körper, sondern auch die Psyche seiner Mitmenschen diagnostiziert und dekonstruiert er unerbittlich. House fällt also zunächst durch ein Nebeneinander außergewöhnlicher Eigenschaften auf, die sich im Verlauf der Serie zu einem untrennbaren Miteinander fügen. Das wird auch aus seinen Veränderungsversuchen deutlich: Eine alternative Behandlung seiner Schmerzen mit dem Heroin-Substitut Methadon zum Beispiel scheitert für House nicht etwa daran, dass die Behandlung lebensgefährlich ist, sondern weil sie ihn so freundlich und ‚menschlich‘ macht, dass er wichtige Symptome übersieht („The Softer Side“, 5.16). Auch seine Kompromisslosigkeit im zwischenmenschlichen Umgang erweist sich also als Grundlage seines Erfolgs als Arzt. Durch die langfristige Entwicklung ihrer Hauptfigur legt die Serie Dr. House zwei Aussagen über die menschliche Natur nahe: Erstens verneint sie ein Nebeneinander von brillantem Intellekt und sozialer Kompetenz. Sie betont vielmehr den sprichwörtlichen Zusammenhang von Genie und Wahnsinn und setzt das Prinzip eines öffentlichen Helden um, der dem Privaten entsagen muss, um seine besondere Rolle in der Gesellschaft auszufüllen.²³ Auch Motive eines Superhelden sind zu erkennen, wenn House aufgrund seiner übermenschlichen geistigen Fähigkeiten der Bruch mit den gesellschaftlichen Regeln verziehen wird.²⁴ Damit wird eine klare Grenze zwischen ‚normalen‘ Menschen und Menschen mit besonderen Fähigkeiten gezogen, die deshalb auch nach anderen Maßstäben beurteilt werden (eine Botschaft mit bedenklichen ideologischen Implikationen). Zweitens verneint die Serie die langfristige Wandelbarkeit des menschlichen Charakters: Obwohl House sein Problem erkennt und Wandlungen durchläuft, erweisen sich
Hrsg. von Luke Hockley u. Leslie Gardner. London: Routledge 2011. S. 75–100. 22 Auch in „Skin Deep“ kommt House erst durch andere Patienten darauf, seiner äußerlich weiblichen Patientin Hodenkrebs zu diagnostizieren: weil der Ehemann einer schwangeren Frau sympathische Schwangerschaftssymptome entwickelt und ihm dadurch ‚weiblicher‘ erscheint als die Schwangere selbst. 23 Vgl. Wulff, Hans J.: Held und Antiheld, Prot- und Antagonist. Zur Kommunikations- und Texttheorie eines komplizierten Begriffsfeldes. Ein Enzyklopädischer Aufriß. http://www. derwulff.de/2-107 (20.01.2012). 24 Vgl. DuBose, Mike S.: Morality, Complexity, Experts, and Systems of Authority in House, M.D., or „My Big Brain Is My Superpower“. In: Television & New Media 11.1 (2010). S. 20–36. http://dx.doi.org/10.1177/1527476409343800 (25.01.2012).
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diese nicht als nachhaltig. Ganz im Gegenteil: Seine Persönlichkeit definiert sich durch einen unveränderlichen Kern von Charaktereigenschaften. Dies bestätigt sich umso deutlicher, wenn House nach den positiven Entwicklungen der sechsten und siebten Staffeln sein Glück wieder zerstört – und die achte als Gefängnisinsasse beginnt, der mit seinen Mithäftlingen um Vicodin-Rationen schachert.
6 Everybody Lies Ein zentrales Charaktermerkmal von House ist sein eigenes Menschenbild, das sich aus seiner Beobachtungsgabe und seiner naturwissenschaftlichen Grundhaltung speist. Es liegt sowohl seinem sozialen Verhalten als auch dem Umgang mit seinen eigenen Problemen zugrunde: So legitimiert sich sein beruflicher und privater Egoismus aus einem ergebnisorientierten Utilitarismus und einer sozialdarwinistischen Weltsicht, nach der alle Menschen stets lügen und auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. In besonders freundlichen, altruistischen Zügen sieht House folgerichtig psychische Krankheitssymptome. Häufig ist in seinem provokanten Auftreten das Bemühen zu erkennen, anderen Menschen zur gleichen Einsicht zu verhelfen, sich also ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche schonungslos einzugestehen und sie konsequent umzusetzen. Ganz utilitaristisch geht er auch mit seinen zwischenmenschlichen Bedürfnissen, seinem Körper und seinem sozialen Umfeld um: Da er sich in erster Linie über seine Fähigkeit definiert, Rätsel zu lösen und damit Leben zu retten, verfolgt er diese Tätigkeit auch kompromisslos – sowohl sich selbst und anderen, als auch der Institution Krankenhaus gegenüber. Dadurch unterscheidet er sich von vielen seiner Mitarbeiter und Patienten, deren Bedürfnisse und Handlungen stärker auf allgemeine soziale Kontexte ausgerichtet sind: auf gesellschaftliche Normen (sowohl in Form von allgemeinen Umgangsformen und Rollenbildern, als auch in der Ausübung des Arztberufs) und auf kollegiale, freundschaftliche und familiäre Beziehungen. Ganz explizit wird dieser Gegensatz in „The Social Contract“ (5.17) zugespitzt: Ein Patient verliert durch neurologische Komplikationen die Fähigkeit zu lügen und brüskiert seine engsten Bezugspersonen mit seinen wahren Ansichten. Anders als House, der einen solchen Umgang geradezu zelebriert (und für seine Direktheit nur von den engsten Freunden geschätzt wird), verzweifelt dieser Patient am Wahrheitszwang und bittet um eine riskante Hirnoperation, um den Ausgangszustand wiederherzustellen. Sein Abwägen der Risiken gegen den Wert eines sozial unerfüllten Lebens spiegelt den rationalen Utilitarismus von House wieder, anders
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als House gibt er aber seinen zwischenmenschlichen Bedürfnissen die höchste Priorität. Mit dem Mantra „everybody lies“ spielt die Serie wie hier immer wieder, indem sie Situationen konstruiert, an denen es überprüft werden kann. Erstens fallen dabei Fälle auf, an denen es sich auf spektakuläre und zynische Weise bestätigt: Zum Beispiel wenn in „Sleeping Dogs Lie“ (2.18) eine Patientin ihrer Lebenspartnerin eine halbe Leber spendet, obwohl diese insgeheim plant, sie zu verlassen. House verbietet der mitfühlenden Dr. Cameron, ihr diese Erkenntnis mitzuteilen – am Ende stellt sich zu ihrem Entsetzen jedoch heraus, dass die Spenderin von den Plänen bereits wusste und der Spende berechnend zugestimmt hat, um ihre Partnerin an sich zu binden. In „Paternity“ (1.02) werden Wetten darüber abgeschlossen, ob ein jugendlicher Patient wirklich der Sohn seines Vaters ist und ein geheimer Vaterschaftstest durchgeführt. Wo House ein uneheliches Kind und eine Lüge der Mutter wittert, stellt sich allerdings heraus, dass der Sohn adoptiert wurde, dies bereits ahnte und trotzdem ein intaktes Verhältnis zu seiner Familie behält. „Everybody lies“ kann also unterschiedlich aufgelöst werden, ist aber immer an die Frage gebunden, ob sich die Erwartungen von House auf skandalöse Weise bestätigen. Diese Frage wird häufig dramaturgisch in mehrere Einzelschritte aufgeteilt, an deren Ende durch eine überraschende Wendung das Menschenbild von House oder ein ihm entgegengesetzter, naiver Optimismus bloßgestellt wird. Da House häufig Recht behält, bestätigt die Serie tendenziell seine sozialdarwinistische Perspektive – zeigt aber auch, dass nicht jede Not- und Lebenslüge eine tragische Dimension in sich trägt, dass darauf stabile soziale Beziehungen aufbauen können, oder dass vermeintliche Geheimnisse nur unausgesprochene Wahrheiten sind. Es fällt auf, dass beim Verhandeln dieser Frage noch ganz andere Vorstellungen implizit mittransportiert werden, die den Erwartungshaltungen der verschiedenen Figuren wie selbstverständlich zugrunde liegen: In Opposition zu House treten vor allem weibliche Figuren wie Cameron, deren optimistisches und mitfühlendes Menschenbild am Ende oft naiv erscheint. Die ‚männliche‘ Perspektive, die den Menschen analytisch dekonstruiert, erweist sich der empathischen ‚weiblichen‘ Perspektive gegenüber also häufig als überlegen – auch in „The Social Contract“, wo insbesondere die Ehefrau des Patienten unter dessen Wahrheitszwang leidet. Trotz der sehr stereotypen Geschlechterbilder, die die Serie hier manifestiert, baut sie um solche Situationen immer wieder spannungsvolle Erwartungshaltungen auf, die unterschiedlich aufgelöst werden können. Damit zeigt sie, dass Not- und Lebenslügen individuell und vor allem situationsbedingt unterschiedlich zu bewerten sind – betont sie aber prinzipiell als fundamentalen Aspekt der menschlichen Sozialität.
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7 Every Body Lies „Everybody lies“ heißt in Dr. House schließlich aber auch, dass jeder Körper lügen kann – und diese ‚Lügen‘ sind fast immer folgenschwer: In „Skin Deep“ kaschiert das weibliche Äußere die männlichen Gene und das vom Krebs befallene Organ. In „Paternity“ erweist sich die unmoralische Wette von House als zielführend, denn die Erkrankung des Patienten ist auf eine fehlende Impfung seiner leiblichen Mutter zum Zeitpunkt der Geburt zurückzuführen. Während sich Geheimnisse auf die sozialen Beziehungen und Identitäten der Patienten unterschiedlich auswirken können, gefährden sie fast immer die Diagnosestellung und damit ihr Leben. Besonders wirkungsmächtig bleiben jene Fälle, in denen Lügen und Unwissen auf mehreren Ebenen gleichzeitig von größter Tragweite sind. Dies ist etwa in „Skin Deep“ der Fall, wenn das (männliche) Innere des Körpers das perfekte (weibliche) Äußere zur Abnormität umdefiniert und damit die soziale Identität und der Selbstentwurf eines Teenagers zum Irrtum erklärt werden. Besonders eindrucksvoll sind in dieser Hinsicht auch Fälle, in denen positive Charaktereigenschaften der Patienten als neurologische Symptome in Frage gestellt werden – und sich daran das zynische Menschenbild von House bestätigt.²⁵ Wenn Jacobs die Krankenhausserien der 1990er Jahre mit dem Horrorfilm vergleicht,²⁶ treibt Dr. House den Horror mit solchen Fällen auf die Spitze: Die existenzielle Bedrohung betrifft nicht mehr nur den Körper, auch Psyche und soziale Identität erscheinen zunehmend biologisch determiniert und dem Wirken unsichtbarer Einflüssen ausgesetzt. Das existenzielle Risiko kommt dabei nicht mehr nur von außen, sondern kann über ein ganzes Leben unerkannt im Inneren jedes Menschen schlummern. Gleichzeitig wird dieses Prinzip jedoch auch so zugespitzt, dass die Fälle fantastisch erscheinen und als spektakuläre „narrative Spezialeffekte“²⁷ durchschaubar werden – der Bruch mit Erwartungen und Tabus kann in diesem Sinne bewusst als Fiktion und Unterhaltung rezipiert werden und ist ein Merkmal vieler US-amerikanischer Serien. Zuletzt sind diese Grenzfälle in Dr. House auch immer epistemologische Rätsel, deren Lösungsprozess sich mit distanzierter Faszina-
25 So schließt House aus der frohen Natur eines Patienten, an dem selbst seine gröbsten Anfeindungen abprallen, auf eine durch Syphilis verursachte Persönlichkeitsveränderung. Die Syphilis-Hypothese wird zwar nicht bestätigt, sehr wohl aber die Grundannahme, dass eine Krankheit sich auf die Persönlichkeit des Patienten auswirkt („No More Mr. Nice Guy“, 4.13). 26 Jacobs: Body, S. 54–75. 27 „narrative special effects“: Mittell, Jason: Narrative Complexity in Contemporary American Television. In: The Velvet Light Trap 58.1 (2006). S. 29–40, hier S. 35.
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tion verfolgen lässt. Das Menschenbild der Serie entzieht sich also einer allzu eindimensionalen Bewertung. Der naturwissenschaftlich-objektivierende medizinische Blick der Ärzte auf den Körper lädt aber prinzipiell dazu ein, die menschliche Psyche auf ähnliche Weise zu mechanisieren und betont immer wieder Fragen nach der materiellen Determination des Menschen.
8 Fazit Die Analyse zeigt, dass Serien wiederholt bestimmte Aspekte des Menschlichen aufgreifen und verhandeln und sich dabei bemühen, die wechselseitigen Beziehungen zwischen den hervorgehobenen Parametern zu variieren. Dabei entstehen Hauptfiguren, deren Persönlichkeiten durch komplexe, aber oft relativ starre Merkmalsbündel definiert werden und bereits dadurch ein deterministisches Menschenbild nahelegen. Nebenfiguren weisen teils weniger statische, aber auch weniger tiefe Konfigurationen menschlicher Merkmale auf. An House zeigt sich besonders deutlich, dass (Haupt-)Figuren auch ihre eigenen Menschenbilder formulieren können und ein Spannungsmoment von Serien darin bestehen mag, diese am Verhalten anderer Figuren zu überprüfen. Zusammenfassend sind zum Menschenbild der Serie Dr. House drei zentrale Aspekte hervorzuheben: Erstens erscheint der Mensch als Untersuchungsgegenstand des Arztberufs, an dem durch die Figur House vor allem die naturwissenschaftliche Methodik hervorgekehrt wird. Da psychische Symptome und daraus resultierendes Sozialverhalten in diese Perspektive eingeschlossen werden, scheint sie einen materialistischen Determinismus zu bekräftigen. Zweitens fällt das zynische Menschenbild von House auf, das sich aus diesem Determinismus speist und häufig im Grundverdacht bestätigt wird. Drittens wird House auf allen Ebenen als ungewöhnliches Individuum gezeichnet, das sowohl Züge eines Antihelden als auch eines Superhelden in sich vereint. Ähnlich provokante, mit gängigen Normen spielende Figurenkonzeptionen sind in US-Serien seit den 1990er Jahren gehäuft zu beobachten, wie zuletzt auch im sympathischen Serienkiller Dexter (2006–) oder in Breaking Bad (2008–), wo ein anständiger Chemielehrer nach einer Krebsdiagnose ins Drogengeschäft einsteigt. Ethisch bedenkliches oder dezidiert unmoralisches Verhalten wird in solchen Serien häufig als erfolgreich inszeniert, was zu immer neuen „narrativen Spezialeffekten“²⁸ führt. Ein potenzieller Vorbildcharakter solcher Helden
28 Ebd.
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wird allerdings dadurch ausgeglichen, dass die Grenzüberschreiter sich sozial isolieren, darunter leiden, und mitfühlend als tragische Figuren rezipiert werden können. Im Ergebnis wirken solche Serien durchaus ambivalent – auch weil sie sich darum bemühen, ihre ethischen Spannungsfelder offen zu halten, um sie als thematische Leitfragen wiederholt aufgreifen und abwägen zu können. Wie am Frauenbild der Serie Dr. House deutlich wird, können dabei dennoch sehr konservative und stereotype Menschenbilder mitschwingen. Zuletzt mag das wiederholte Durchspielen und Einüben bestimmter Leitfragen trotz der scheinbaren Interpretationsoffenheit nahelegen, den Menschen in ganz bestimmte Eigenschaftskomplexe auszudifferenzieren und ihn auf diese zu reduzieren. Ambivalent ist Dr. House also nur innerhalb eines wohl definierten, dezidiert naturwissenschaftlich orientierten Paradigmas, das Körper, Psyche und Sozialität zu Parametern macht, die in ihrem Wechselwirken mehr oder weniger gesetzmäßig funktionieren. Alternative Vorstellungsräume über das Menschliche werden dadurch tendenziell ausgeblendet.²⁹ Mit einer Rätseldramaturgie, die stets um das funktionale und dysfunktionale Wechselwirken von Körper, Psyche und Sozialität kreist, bekräftigt Dr. House schließlich die in zeitgenössischen Diskursen verbreitete Tendenz, den Menschen als wissenschaftlich und technisch berechenbar, manipulierbar und gestaltbar zu begreifen.³⁰
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29 Wie zum Beispiel die Bedeutung der Imagination als identitätsstiftende Geistesaktivität, die Maike Sarah Reinerth in diesem Band ausarbeitet. In Dr. House werden imaginative Vorgänge zwar bisweilen dargestellt, aber vor allem als psychische Störungen, wie etwa in House‘ eigenen Wahnvorstellungen zum Ende der fünften Staffel (5.22–5.24). 30 Vgl. z. B. die Beiträge von Uta Bittner, Julia Inthorn und Sven Stollfuß in diesem Band.
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Felix Schröter und Jan-Noël Thon
Simulierte Spielfiguren und/oder/als mediale Menschenbilder Zur Medialität von Figurendarstellungen am Beispiel der Computerspielfigur Abstract: The present essay focuses on characters in contemporary computer games, arguing that they should be understood as symptoms not only of certain notions of what it means to ‘be human’ in this day and age but also of the specific limitations and affordances of the medium in which they are represented. In order to get a clearer picture of computer game characters’ specific mediality, we propose to distinguish, firstly, between narration, simulation, and communication as three modes of representation particularly salient for contemporary computer games, and, secondly, between fictional entities, game tokens, and representatives of the player as three functional aspects of computer game characters. Having established these basic distinctions, we proceed to analyze their realization and interrelation by reference of the character of Lara Croft from Tomb Raider (1996), the character of Prince Arthas from Warcraft III (2002), and the highly customizable player character from World of Warcraft (2004–2012). Thus, it becomes evident that characters in contemporary computer games are often constituted by inconsistencies as well as similarities between the aspects of fictional entity, game token, and representative of the player. Furthermore, our case studies show that mediated notions of what it means to ‘be human’ cannot be analyzed appropriately without taking the specific mediality of the concerning medium into account.
In politischen und wissenschaftlichen Diskursen über Computerspiele kommt den ihnen zugeschriebenen Menschenbildern – und d. h. vor allem Vorstellungen von Körper, Psyche und Sozialität ‚des Menschen‘ – nicht selten eine zentrale Rolle als Gegenstand der Bewertung und Regulierung oder der kritischen Analyse zu.¹ Dabei ist allerdings insbesondere im Kontext von Regulierungsdiskussionen
1 Vgl. etwa die Beiträge in Zimmermann, Olaf u. Theo Geißler (Hrsg.): Streitfall Computerspiele. Computerspiele zwischen kultureller Bildung, Kunstfreiheit und Jugendschutz. 2., erw. Aufl. Berlin: Deutscher Kulturrat 2008; sowie Riedel, Peter (Hrsg.): ‚Killerspiele‘. Beiträge zur Ästhetik virtueller Gewalt. Marburg: Schüren 2010 (AugenBlick 46).
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kein differenziertes Grundverständnis des Gegenstandes und seiner spezifischen Medialität vorhanden.² Der vorliegende Beitrag versucht vor diesem Hintergrund am Beispiel verschiedener Computerspielfiguren zu zeigen, inwiefern die Gestaltung konkreter ‚Darstellungen des Menschen‘ zum einen auf bestimmte ‚Menschenbilder‘ verweist, zum anderen aber auch durch die Spezifik des jeweiligen Mediums und dessen Möglichkeiten zur Darstellung anthropomorpher Figuren geprägt wird.³ Im Hinblick auf Figurendarstellungen im Computerspiel unterscheiden wir dabei zwischen drei Darstellungsmodi: dem Modus der Narration, dem Modus der Simulation und dem Modus der Kommunikation.⁴ Ersterer umfasst die Darstellung im engeren Sinne narrativer Ereignisse, die zur Vermittlung einer Geschichte oder Ausgestaltung der fiktiven Welt des Spiels beitragen.⁵ Verbreitete narrative
2 Vgl. etwa die Spielanalysen bei Lachlan, Kenneth, Stacy Smith u. Ron Tamborini: Models for Aggressive Behavior: The Attributes of Violent Characters in Popular Video Games. In: Communication Studies 4 (2005). S. 313–329; und Jansz, Jereon u. Raynel Martis: The Representation of Gender and Ethnicity in Digital Interactive Games. In: Level up: Digital Games Research Conference. Utrecht: Utrecht University 2003. S. 260–269. Zur deutschen Regulierungsdiskussion vgl. etwa Höynck, Theresia, Thomas Mößle, Matthias Kleimann, Christian Pfeiffer u. Florian Rehbein: Jugendmedienschutz bei gewalthaltigen Computerspielen. Eine Analyse der USK-Alterseinstufungen. Hannover: KFN 2010. 3 Für einen Überblick aktueller Forschungen zu medialen Figuren vgl. etwa Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008; sowie die Beiträge in Eder, Jens, Fotis Jannidis u. Ralf Schneider (Hrsg.): Characters in Fictional Worlds. Understanding Imaginary Beings in Literature, Film, and Other Media. Berlin: de Gruyter 2010; und Leschke, Rainer u. Henriette Heidbrink (Hrsg.): Formen der Figur. Figurenkonzepte in Künsten und Medien. Konstanz: UVK 2010. Für medienspezifische Überlegungen zu Computerspielfiguren vgl. etwa Eder, Jens u. Jan-Noël Thon: Digitale Figuren in Kinofilm und Computerspiel. In: Film im Zeitalter neuer Medien II: Digitalität und Kino. Hrsg. von Harro Segeberg. München: Fink 2012/in Vorbereitung; Schröter, Felix: Entwicklung eines nutzerorientierten Analysemodells für Computerspielfiguren. M.A. Arbeit, Universität Hamburg 2010; Sorg, Jürgen: Figurenkonzepte im Computerspiel. In: Leschke/Heidbrink: Formen. S. 341–371. 4 Dabei schließen wir an bereits an anderer Stelle ausführlicher entwickelte Überlegungen zur Medialität des Computerspiels an. Vgl. etwa Thon, Jan-Noël: Unendliche Weiten? Schauplätze, fiktionale Welten und soziale Räume heutiger Computerspiele. In: Computer/ Spiel/Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies. Hrsg. von Klaus Bartels u. Jan-Noël Thon. Hamburg: IMK 2007. S. 29–60. 5 Die Narrativität von Computerspielen (und die Frage, ob es sich bei der genaueren Bestimmung selbiger überhaupt um ein relevantes Problem handelt) ist innerhalb der Game Studies nach wie vor umstritten, aber inzwischen würde wohl niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass neuere Computerspiele häufig genuin narrative Elemente beinhalten und dass diese narrativen Elemente nicht unwesentlich zur jeweiligen Spielerfahrung beitragen. Vgl.
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Darstellungsformen sind etwa Cut-Scenes oder geskriptete Ereignisse.⁶ Hiervon zu unterscheiden sind ludische Ereignisse, die im Modus der Simulation dargestellt werden: Sie ergeben sich erst aus der Interaktion der Spieler/innen mit dem Spiel und werden nur indirekt durch Spielregeln, Interaktionsmöglichkeiten und Spielziele von den Designern des Spiels vorstrukturiert.⁷ In Multiplayer-Spielen schließlich kommt es auch zu Figurendarstellungen im Modus der Kommunikation: Hierzu zählen wir alle Formen von Kommunikation und sozialer Interaktion zwischen Spieler/innen, die diese mit spielinternen Mitteln oder außerhalb des eigentlichen Spiels realisieren. Narration, Simulation und Kommunikation sind
zur einschlägigen Diskussion neben Jenkins, Henry: Game Design as Narrative Architecture. In: FirstPerson. New Media as Story, Performance, and Game. Hrsg. von Noah Wardrip-Fruin u. Pat Harrigan. Cambridge: MIT Press 2004. S. 118–130; und Eskelinen, Markku: Towards Computer Game Studies. In: Wardrip-Fruin/Harrigan: FirstPerson. S. 36–44; auch die Überblicksdarstellung in Ryan, Marie-Laure: Avatars of Story. Minneapolis: University of Minnesota Press 2006. S. 181–203. 6 Als Cut-Scene lässt sich zunächst jedes nicht-interaktive Element in Computerspielen bezeichnen, das zur Vermittlung einer Geschichte oder zur Ausgestaltung der fiktionalen Welt beiträgt. Da neuere Computerspiele technisch in der Lage sind, viele der etablierten narrativen Medien digital zu reproduzieren, finden sich inzwischen nicht mehr nur filmische, sondern auch zahlreiche andere Formen der Cut-Scene. Darüber hinaus werden narrative Ereignisse in neueren Computerspielen aber auch innerhalb der jeweiligen Schauplätze und parallel zum Spielgeschehen vermittelt. Ein typisches Beispiel für derartige geskriptete Ereignisse wären etwa Dialoge zwischen computergesteuerten Figuren, die von den Spieler/ innen beobachtet werden können, ohne dass deren Bewegungs- und Handlungsoptionen währenddessen eingeschränkt würden. Vgl. auch Thon, Jan-Noël: Zu Formen und Funktionen narrativer Elemente in neueren Computerspielen. In: Erzählformen des Computerspiels. Zur Medienmorphologie digitaler Spiele. Hrsg. v. Jürgen Sorg u. Jochen Venus. Bielefeld: Transcript 2012/im Druck. 7 Simulation meint nach Gonzalo Frasca die Modellierung eines Ursprungssystems durch ein anderes System, wobei letzteres zumindest teilweise das Verhalten des Ursprungssystems beibehält (vgl. Frasca, Gonzalo: Simulation versus Narrative. Introduction to Ludology. In: The Video Game Theory Reader. Hrsg. von Mark J. P. Wolf u. Bernard Perron. New York: Routledge 2003. S. 221–235). Computerspiele simulieren in diesem Sinne fiktive Welten, wobei die Modellierung vor allem darin besteht, Eigenschaften der fiktiven Welt in Interaktionsregeln, Spielmechaniken und andere ‚ludische‘ Parameter zu überführen. Der hier verwendete Simulationsbegriffs unterscheidet sich also deutlich von anderen Verwendungen, etwa vom Konzept der ‚mentalen Simulation‘ (vgl. etwa Grodal, Torben: Stories for Eye, Ear, and Muscles. Video Games as Embodied Experience. In: Wolf/Perron: The Video Game Theory Reader.; Gordon, Robert M.: Folk Psychology as Mental Simulation. In: Mind and Language 1.2 (1986). S. 158–171) oder von Baudrillards Überlegungen zur Hyperrealität von Simulakren (vgl. etwa Baudrillard, Jean: Die Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978; Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes & Seitz 1982).
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dabei nicht ausschließlich als Darstellungsmodi zu denken, sondern strukturieren darüber hinaus auch die Rezeption des Spiels und seiner Figuren.⁸ Menschenbilder als ‚Darstellungen des Menschen‘ können also im Computerspiel in ganz unterschiedlichen Darstellungsmodi realisiert werden. Das führt auch dazu, dass für ihre Analyse Eigenschaftsbereiche von Computerspielfiguren relevant werden, die sie von anderen medialen Menschenbildern unterscheiden. Im Modus der Narration etwa werden Figuren vor allem als fiktive Wesen dargestellt, denen eine bestimmte Körperlichkeit, Psyche und Sozialität zugeschrieben werden kann.⁹ Im Modus der Simulation (d. h. im eigentlichen Spielgeschehen) stehen dagegen die Eigenschaften der Figuren als Spielfiguren im Mittelpunkt: Sie erscheinen hier vor allem als spielmechanische Konstrukte, die mit bestimmten ludischen Fähigkeiten (z. B. ‚Laufen‘, ‚Schießen‘, ‚Handeln‘) und Eigenschaften (z. B. ‚Gesundheit‘, ‚Geschwindigkeit‘, ‚Stärke‘) ausgestattet und zudem mit gewissen Interaktionsmöglichkeiten und Spielzielen verbunden sind. Schließlich verweisen die (Selbst-)Darstellungen im Modus der Kommunikation auf die Rolle von Figuren als Repräsentationen der Spieler/innen im sozialen Raum des Spiels: So müssen z. B. rassistische, sexistische oder homophobe Beschimpfungen im spielinternen Chat nicht notwendigerweise Ausdruck im Spiel angelegter Menschenbilder sein, sondern können auch in erster Linie auf individuelle Menschenbilder einzelner Spieler/innen zurückzuführen sein. Die drei Dimensionen der Computerspielfigur als fiktives Wesen, als Spielfigur und als Repräsentation von Spieler/innen sind freilich eng miteinander-
8 Vgl. etwa Fine, Gary Alan: Shared Fantasy. Role-Playing Games as Social Worlds. 2. Aufl. Chicago: The University of Chicago Press 2002; Salen, Katie u. Eric Zimmerman: Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambridge: MIT Press 2004; Linderoth, Jonas: Animated Game Pieces. Avatars as Roles, Tools and Props. In: Aesthetics of Play Online Proceedings. Bergen, 14.–15. November 2005. http://www.aestheticsofplay.org/linderoth.php (30.8.2011). Zur durch Computerspiele ermöglichten Rezeptionserfahrung vgl. auch allgemeiner Frome, Jonathan: Representation, Reality, and Emotions Across Media. In: Film Studies 8 (2006). S. 12–25; Klimmt, Christoph: Computerspielen als Handlung. Dimensionen und Determinanten des Erlebens interaktiver Unterhaltungsangebote. Köln: von Halem 2006; Thon, Jan-Noël: Immersion Revisited. On the Value of a Contested Concept. In: Extending Experiences. Structure, Analysis and Design of Computer Game Player Experience. Hrsg. von Amyris Fernandez, Olli Leino u. Hanna Wirman. Rovaniemi: Lapland University Press 2008. S. 29–43; vgl. auch die Beiträge in Vorderer, Peter u. Jennings Bryant (Hrsg.): Playing Video Games. Motives, Responses, and Consequences. Mahwah: Lawrence Erlbaum Associates 2006. 9 Vgl. dazu auch Eder: Figur. S. 168–179. Die Unterscheidung von Körperlichkeit, Psyche und Sozialität geht zurück auf Egri, Lajos: The Art of Dramatic Writing. Rockville: Wildside Press 1946.
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verwoben¹⁰: Wenn Spieler/innen beispielsweise stellvertretend für ihre Figuren kommunizieren (also ‚Rollenspiel‘ in engerem Sinne betreiben), sind die drei Aspekte von Figuren in der Rezeption kaum noch voneinander zu trennen: Spieler/innen nutzen spielmechanische Fähigkeiten (Spielfigur) zur Interaktion mit Mitspieler/innen (soziale Repräsentation) und agieren dabei die Geschichte oder Persönlichkeit ihrer Figuren aus (fiktives Wesen). Wie zu zeigen sein wird, kann es aber auch zu Widersprüchen zwischen den verschiedenen Dimensionen der Figur kommen, was für die Untersuchung medialer Menschenbilder gleichermaßen von Bedeutung ist. Im Folgenden soll nun anhand dreier schlaglichtartiger Fallanalysen die Spezifik medialer Menschenbilder im Computerspiel etwas detaillierter betrachtet werden. Hierbei drängen sich mindestens drei Fragestellungen unterschiedlicher Richtung auf. Erstens: Wie sind bestimmte Menschenbilder – im Sinne von kollektiven Vorstellungen von Körper, Psyche und Sozialität ‚des Menschen‘ – in die Figurendarstellungen eines Spiels eingeschrieben? Zweitens: Wie werden ‚Darstellungen des Menschen‘ als Figurendarstellungen durch die spezifische Medialität des Computerspiels und durch die damit zusammenhängenden medialen Möglichkeiten, Grenzen und Konventionen beeinflusst? Und drittens: Wie werden bestimmte Menschenbilder durch das Computerspiel geprägt und welche Rolle spielen dabei die spezifischen Bedingungen des Umgangs mit Computerspielfiguren?¹¹
10 Im Modus der Simulation werden Figuren auch als fiktive Wesen dargestellt. Umgekehrt können auch in Cut-Scenes oder anderen prädeterminierten Formen Informationen über die Figur als Spielfigur vermittelt werden. In der Spielfigur wiederum sind bestimmte Aspekte der Figur als fiktives Wesen in spielmechanische Fähigkeiten und Eigenschaften ‚übersetzt‘ (z. B. in Formen der Bewegung, Angriffs- und Trefferpunkte etc.) und umgekehrt werden spielbezogene Zuschreibungen wie ‚Stärke‘ oder ‚Gesundheit‘ auch der Figur als fiktivem Wesen zugeschrieben. Zudem sind Spielziele wie ‚Besiege alle Gegner‘ zwar zunächst auf der Ebene des Spiels verortet, werden aber häufig mit den Zielen der spielergesteuerten Figur als fiktives Wesen in Deckung gebracht. Auch im Hinblick auf die soziale Dimension von Computerspielfiguren kommt es zu Überschneidungen mit den anderen beiden Dimensionen: So erfüllt die Kommunikation zwischen Spieler/innen nicht nur soziale, sondern auch ludische Funktionen, etwa die Absprache einer gemeinsamen Spielstrategie. Überhaupt ist die Herausbildung sozialer Beziehungen zwischen den Spieler/innen häufig (wenigstens teilweise) an der ludischen Struktur des Spiels ausgerichtet bzw. durch sie motiviert. Vgl. dazu ausführlicher Thon: Unendliche Weiten. 11 Zwar hängen alle drei Fragestellungen eng zusammen, eine detaillierte Auseinandersetzung mit der dritten Fragestellung erfordert letztlich aber ein empirisches Vorgehen, das sich einem medienwissenschaftlichen Zugang kulturwissenschaftlicher Prägung weitestgehend entzieht, weshalb wir hier vor allem die ersten beiden Fragestellungen verfolgen.
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Wie sich die ersten beiden Fragestellungen zueinander verhalten, illustrieren zwei Zitate zur später noch detaillierter zu analysierenden Figur Lara Croft aus der Tomb Raider-Reihe. Der Philosoph Ferdinand Rohrhirsch beschreibt, wie sich bestimmte (ideale) Menschenbilder in die Darstellung des fiktiven Wesens ,Lara Croft‘ einschreiben: [Lara Croft] repräsentiert wesentliche Ideale des heutigen Menschen: jung, clever, attraktiv, durchsetzungsstark, mobil und erfolgreich. Lara wird nicht älter und wird nicht krank, stets heilen ihre Verletzungen bei genügendem Erfolg [...]; sie stellt keine Sinnfragen, aber Erfolgsfragen; sie braucht die anderen nicht notwendig, sie ist sich selbst genug.¹²
Der Ludologe Espen Aarseth dagegen nimmt die Position des gewohnheitsmäßigen Spielers ein und stellt die Eigenschaften des fiktiven Wesens ,Lara Croft‘ hinter jenen der Spielfigur zurück: „[T]he dimensions of Lara Croft‘s body, already analyzed to death by film theorists, are irrelevant to me as a player, because a different-looking body would not make me play differently. When I play, I don‘t even see her body, but see through it and past it”¹³. Man könnte hinzufügen: When I play, I play to win. Die Aufmerksamkeit der Spieler/innen ist während des Spielens jedenfalls in der Regel nicht primär auf den Körper des Avatars gerichtet.¹⁴ Die Entstehung und Wirkung von Menschenbildern in den Tomb RaiderSpielen lässt sich also nicht auf die körperlichen, psychischen und sozialen Eigenschaften der Protagonistin beschränken, sondern wird auch durch ihre ludischen, d. h. auf das Spiel bezogenen Eigenschaften beeinflusst. Dabei ist ebenfalls zu beachten, dass Figurendarstellungen im Computerspiel immer auch an technische Möglichkeiten und Grenzen der grafischen Darstellung und Simulation gebunden sind. Betrachten wir vor diesem Hintergrund die Medialität von Figurendarstellungen und Menschenbildern im Computerspiel etwas detaillierter am Beispiel von Lara Croft.
12 Rohrhirsch, Ferdinand: Führen durch Persönlichkeit: Abschied von der Führungstechnik. 2. Aufl. Wiesbaden: Gabler 2011. S. 71. 13 Aarseth, Espen: Genre Trouble. Narrativism and the Art of Simulation. In: Wardrip-Fruin/ Harrigan: FirstPerson. S. 45–55, hier S. 48. 14 Als ‚Avatar‘ werden in der Regel diejenigen Computerspielfiguren bezeichnet, deren Kontrolle die Spielerin weitgehend exklusiv und über weite Teile des Spiels übernimmt.
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1 Beispiel I: Lara Croft Das frühe 3D-Spiel Tomb Raider (1996) begründete seinerzeit nicht nur das Genre des Action-Adventures, sondern führte mit Lara Croft auch eine der populärsten Figuren der Computerspielgeschichte ein. Im ersten Spiel der Reihe ist die Archäologin und Abenteurerin Croft auf der Suche nach den Fragmenten eines mystischen Artefaktes, die sie an unterschiedliche Schauplätze in Peru, Griechenland und Ägypten führt. Die Spielerin muss die Figur Lara Croft dabei in verfallenen Tempeln und anderen labyrinthischen Innenräumen sicher durch die Spielwelt steuern, Objekte sammeln, Rätsel lösen und dabei Angriffe von Tieren, Dämonen und anderen Widersachern abwehren. Das Spiel verbindet so Elemente mehrerer Computerspiel-Genres, z. B. des Jump ’n’ Run, des Adventures und des 3D-Shooters. In der kritischen Rezeption des Spiels steht allerdings vor allem die Figurendarstellung im Mittelpunkt. Die Kritik entzündet sich üblicherweise an den körperlichen Eigenschaften der Protagonistin, die – so beschreibt es der Redakteur einer Spiele-Zeitschrift – „im Testosteronrausch entwickelt worden zu sein“¹⁵ scheint. Demgegenüber erfahren die Spieler/innen, zumindest in den frühen Titeln der Spiele-Reihe, recht wenig über Lara Crofts Psyche und Sozialität. Das fiktive Wesen Lara ist durch ein überschaubares Set an Eigenschaften gekennzeichnet: Lara Croft ist eine attraktive und agile junge Frau, willensstark und mit klaren Zielen. Sie ist eine Einzelgängerin, deren Sozialbeziehungen sich vor allem in der Opposition zu ihren Widersachern (feindliche Umgebung, Tiere, Menschen) definieren. Erst in Tomb Raider: The Last Revelation (1999), dem vierten Titel der Reihe, werden ihre Hintergrundgeschichte und damit auch ihre Beweggründe und Motive näher beleuchtet. Betrachtet man nur diese Dimension Laras (als ein fiktives Wesen), so bieten sich bereits zahlreiche Menschenbild-Aspekte zur Analyse an: sei es das hypersexualisierte Körperbild, das durch Laras fast pornographisch wirkendes Stöhnen bei Stürzen ergänzt wird; sei es die Präsentation von Gewalt als dem einzigen Mittel der Konfliktlösung – die Spielerin kann Lara nicht sprechen lassen; oder sei es die Darstellung einer psychologisch eindeutig gezeichneten Protagonistin mit klaren Zielen, der (fast) alles gelingt.¹⁶ Solche Beobachtungen sind zwar
15 PC Games: Lara Croft. Schulmädchen, Sexsymbol und Action-Star. Die Facetten der Tomb-Raider-Heldin. http://www.videogameszone.de/Retrospektive-Thema-214694/Specials/ Lara-Croft-Schulmaedchen-Sexsymbol-und-Action-Star-Die-Facetten-der-Tomb-RaiderHeldin-745911/ (30.8.2011). 16 Vgl. zu diesen und weiteren Fragestellungen etwa Deuber-Mankowsky, Astrid: Lara Croft.
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zutreffend (und für actionlastige Computerspiele auch durchaus typisch), greifen aber insofern zu kurz, als dass sie die Medialität des Computerspiels nicht angemessen berücksichtigen. Um zu veranschaulichen, wie eine medienspezifische Analyse der Menschenbilder in Computerspielen aussehen könnte, sollen im Folgenden zwei weitere Aspekte in den Blick genommen werden: zum einen die Frage, wie die technischen Voraussetzungen des Mediums die Eigenschaften von Lara als fiktivem Wesen mit bedingen und andererseits die Dimension von Lara als Spielfigur, d. h. als ein Element der Spielmechanik. Obwohl bereits der erste Tomb Raider-Teil eine für die damalige Zeit fortschrittliche 3D-Grafik besaß, lassen sich die Eigenschaften des fiktiven Wesens Lara Croft teilweise auf die Bedingungen der damaligen Grafik-Engines zurückführen: Sie machten, ähnlich wie bei frühen Computer-animierten Filmen, bei der Darstellung menschlicher Figuren eine Konzentration auf wenige charakteristische Eigenschaften notwendig. Detailreiche Körpertexturen waren (jedenfalls außerhalb kinematografischer Cut-Scenes) genauso wenig realisierbar wie etwa eine elaborierte Mimik – ein wichtiges Darstellungsmittel der Figurenpsyche im Bereich des Films.¹⁷ Dass sich die Darstellung von Laras psychischen Dispositionen und mentalen Prozessen in der Tomb Raider-Serie vor allem auf den starken Willen und die klaren Ziele der Hauptfigur konzentriert, steht dagegen in direktem Zusammenhang mit den Merkmalen der Spielfigur Lara Croft: Ihre Ziele korrespondieren mit denen der Spielerin – zumindest, wenn letztere erfolgreich sein möchte. Eine Vermittlung dieser Ziele ist also Voraussetzung für den Spielerfolg und geschieht teilweise explizit durch Übungseinheiten zu Spielbeginn, oder – in späteren Teilen der Spielereihe – durch Laras in einem PDA festgehaltene ,Geistesblitze‘ wie „Ich muss im Landesinneren weitere Ruinen suchen“ (vgl. Abbildung 1). Doch die Spielfigur Lara ist nicht allein über die mit ihr verbundenen Spielziele definiert, sondern auch über ihre ludischen Eigenschaften und Fähigkeiten: So hat sie ein bestimmtes Repertoire an Bewegungen zur Verfügung, kann Objekte in der Spielwelt manipulieren (z. B. Türen öffnen) und darüber hinaus eine Reihe von Kampf-Handlungen ausführen. Dass sich Laras Eigenschaften als Spielfigur und als fiktives Wesen nicht vollständig decken, zeigt sich etwa daran, dass im Spiel keine Kommunikationsmöglichkeiten mit computergesteuerten
Modell, Medium, Cyberheldin. Das virtuelle Geschlecht und seine metaphysischen Tücken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001; Kennedy, Helen W.: Lara Croft: Feminist Icon or Cyberbimbo? On the Limits of Textual Analysis. In: Game Studies 2.2 (2002). http://www.gamestudies. org/0202/kennedy/ (30.8.2011); Richard, Birgit: Sheroes. Genderspiele im virtuellen Raum. Bielefeld: Transcript 2004. 17 Vgl. hierzu auch Eder/Thon: Digitale Figuren.
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Abb. 1: Laras PDA in Tomb Raider: Underworld (Crystal Dynamics/Eidas Interactive 2008).
Figuren vorgesehen sind, während das fiktive Wesen Lara Croft nachweislich sprachbegabt ist – ein Widerspruch, der auch bei der Analyse der Menschenbilder in Tomb Raider eine Rolle spielen kann. So kann die Tatsache, dass Diplomatie innerhalb der Logik des Spiels keine gültige Problemlösestrategie darstellt, als Ausdruck eines ‚darwinistischen‘ Menschenbildes gelesen werden, das auf dem Recht des Stärkeren beruht. Laras spielmechanische Fähigkeiten stellen also keine direkte ‚Übersetzung‘ ihrer Eigenschaften als fiktives Wesen dar, sondern orientieren sich auch an Genrekonventionen und Erfordernissen des Game Designs. So wird deutlich, dass sich ihre Fähigkeiten lückenlos in die Schauplätze der Spielwelt einfügen: „The game-world of Tomb Raider is constructed in ‚Lara Units‘, gaps between platforms are either standing jump or running jump distances, or otherwise impassable“¹⁸ (vgl. Abbildung 2). Ebenso wird Lara keinem Gegner begegnen, dem sie nicht entweder widerstehen oder ausweichen kann. All dies verstärkt einerseits das Bild von Lara als athletischer, mutiger und tougher Archäologin, das bereits durch narrative Elemente wie Cut-Scenes vorgezeichnet wird. Andererseits ist auf der
18 Bayliss, Peter: Beings in the Game-World. Characters, Avatars, and Players. In: Proceedings of the Forth Australasian Conference on Interactive Entertainment. Melbourne: RMIT University 2007. Art. 4.
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Abb. 2: Laras Fähigkeiten fügen sich lückenlos in die Schauplätze der Spielwelt ein (aus Tomb Raider: Anniversary, Crystal Dynamics/ Eidas Interactive 2007).
Ebene einzelner Spieldurchläufe auch dieses Bild nicht widerspruchsfrei: Damit Laras akrobatische Manöver gelingen, sind sehr präzise, zeitkritische Eingaben durch die Spielerin nötig, viele Hindernisse oder Gegner werden daher erst nach zahlreichen Versuchen überwunden. Dies ließe die Protagonistin als unbeholfen und ungeschickt erscheinen – würden die Spieler/innen Laras Scheitern nicht zu Recht ihrer eigenen ungenügenden Performance zuschreiben¹⁹. Diese noch recht kursorischen Überlegungen sollten bereits gezeigt haben, dass Aspekte von Computerspielfiguren, die durch narrative Elemente dargestellt werden, nicht widerspruchsfrei durch Figurendarstellungen im Modus der Simulation aufgegriffen werden müssen. Gleiches gilt für das Verhältnis von fiktivem Wesen zur Spielfigur. Deren Eigenschaften werden überdies durch die technischen Bedingungen des Computerspiels sowie durch seine spezifische Medialität als Spiel wesentlich mitbestimmt. Relevant für die Frage nach Menschenbildern sind darüber hinaus die kommunikativen Kontexte der Figurendarstellungen.²⁰ Bei Tomb Raider betreffen diese nicht nur den Bezug auf andere populäre transmediale Figuren, insbeson-
19 Vgl. ähnlich Lankoski, Petri: Character-Driven Game Design. A Design Approach and Its Foundations in Character Engagement. Dissertation, Universität Aalto 2010. https://www. taik.fi/kirjakauppa/images/05b242aa4f26a8e03f8499599462f5f2.pdf (30.8.2011). S. 167. Es handelt sich hierbei um eine medienspezifische Variante des Prinzips, dass Kendall L. Walton als principle of charity beschreibt (vgl. Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge: Harvard University Press 1990. S. 183). 20 Vgl. dazu die Analysekategorie der Figur als ‚Symptom‘ bei Eder: Figur. S. 541–553.
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dere auf Indiana Jones.²¹ Lara Croft fungiert überdies selbst als seit 15 Jahren erfolgreiche Marke, die nicht nur in Computer- und Videospielen, sondern auch als Actionfigur, Filmstar oder in Look-Alike-Wettbewerben medial reproduziert wird und in entsprechend zahlreichen Versionen in der gegenwärtigen Medienkultur ‚kursiert‘. Dass die Figur auch (medien-)historisch durchaus wandelbar ist, zeigt das anstehende Relaunch des Franchise im neunten Teil der Serie, der Lara als verletzliche junge Frau mit verhältnismäßig unauffälligem Körperbau zeigt, die nach einem Schiffbruch ums Überleben kämpft und sich zusätzlich mit Gedächtnisverlust und inneren Konflikten konfrontiert sieht.²² Bemerkenswert ist hier zudem, dass das Spiel möglicherweise mit einem Mehrspieler-Modus ausgestattet sein soll.²³ Die Möglichkeit des Multiplayer-Spiels wirft für die Figurenanalyse weitere Fragen auf, die die Rolle von Figuren als Repräsentation von Spieler/innen betreffen und auf die später am Beispiel von Blizzard Entertainments außerordentlich erfolgreichem Online-Rollenspiel World of Warcraft (2004–2012) noch zurückzukommen sein wird.
2 Beispiel II: Warcraft III Zunächst wollen wir aber an einem weiteren Beispiel, dem ebenfalls im WarcraftUniversum angesiedelten und bei seiner Veröffentlichung 2002 nicht weniger erfolgreichen Echtzeit-Strategiespiel Warcraft III: Reign of Chaos, noch einmal etwas detaillierter auf das für Computerspiele zentrale Verhältnis von simulierter Spielfigur und fiktivem Wesen eingehen. Das im Fantasy-Setting des WarcraftUniversums verortete Echtzeit-Strategiespiel erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Prinzen Arthas von Lordaeron, der auf seiner Suche nach einer Möglichkeit, das Königreich seines Vaters vor den plündernden Horden der Orcs und den Untoten der ‚Geißel‘ zu beschützen, zunächst vom seelenfressenden Schwert Frostmourne korrumpiert wird, um anschließend seinen Vater zu ermorden und mit einem Heer von Untoten und Dämonen den Baum der Ewigkeit anzugreifen, der von einem Bündnis aus Nachtelfen, Orks und Menschen verteidigt wird. Als
21 Vgl. etwa Deuber-Mankowsky: Lara Croft. 22 Vgl. Gamestar: Lara Croft 2.0. http://www.gamestar.de/spiele/tomb-raider/artikel/ tomb_raider,45190,2323437.html (30.8.2011). 23 Vgl. PC Games: Tomb Raider. Multiplayer-Modus nun offiziell bestätigt? http://www. pcgames.de/Tomb-Raider-PC-232630/News/Tomb-Raider-Multiplayer-Modus-nun-offiziellbestaetigt-805533/ (30.8.2011).
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ein modernes, in vielerlei Hinsicht Genre-prägendes Echtzeit-Strategiespiel²⁴ eignet sich Warcraft III für eine Diskussion des Verhältnisses zwischen Spielfigur und fiktivem Wesen nicht zuletzt deshalb besonders gut, da innerhalb des Echtzeit-Strategiespiel-Genres der Zusammenhang zwischen der Darstellung und Funktion von Figuren im Rahmen des simulierten Spielgeschehens und der narrativen, in erster Linie kinematographischen Cut-Scenes traditionellerweise weniger stark gegeben ist als in Avatar-basierten Genres wie etwa dem FirstPerson Shooter, dem Third-Person Shooter oder bestimmten Formen des Rollenspiels. So übernimmt die Spielerin in der Singleplayer-Kampagne zwar über weite Strecken die Steuerung der für das Warcraft-Universum zentralen Figur des Prinzen Arthas, aber dessen wesentliche Charakterisierung erfolgt gerade nicht im Rahmen des simulierten Spielgeschehens, sondern durch narrative Elemente und hier insbesondere durch sowohl aufwendig gerenderte kinematographische als auch machinima-artige Cut-Scenes – also Zwischensequenzen, die im Rahmen der ,normalen‘ Spielgrafik dargestellt werden (Abbildungen 3 und 4). Beispiele für zentrale narrative Ereignisse der Singleplayer-Kampagne wären etwa die Entscheidung Prinz Arthas’, die von einer Seuche der Untoten befallenen Bewohner der Stadt Stratholme kaltblütig niederzumetzeln, oder die Ermordung seines eigenen Vaters, des Königs. Dabei kann nicht nur aufgrund des Genre-typischen, im Anschluss an Britta Neitzel jeweils als ,objektiv‘ beschreibbaren, Point of View und Point of Action²⁵ von einer eher hohen Distanz zwischen dem vor allem im Modus der Narration dargestellten fiktiven Wesen Arthas und der simulierten Spielfigur Arthas mit ihren spezifischen ludischen Funktionen ausgegangen werden. Vielmehr lässt sich diese Distanz mit Jesper Juul vor allem anhand von ‚Inkonsistenzen‘ zwischen der Narration und dem Spielgeschehen
24 Tatsächlich lässt sich hier wohl angemessener von einer Erweiterung etablierter GenreKonventionen sprechen. So kann Warcraft IIIs Einsatz von Heldenfiguren, deren Fähigkeiten sich mit zunehmender Erfahrung verbessern, als ein wesentlicher Katalysator für den zunehmend in den Mainstream gerückten Einsatz von Elementen des Rollenspiel-Genres in neueren Echtzeit-Strategiespielen verstanden werden. 25 Während der ,Point of View‘ sich vor allem als die räumliche Position bestimmen lässt, von der aus der jeweilige Schauplatz dargestellt wird, handelt es sich beim ,Point of Action‘ um die durch das Spiel vorgegebene und von der Spielerin im Rahmen der Interaktion mit den Schauplätzen zu übernehmende Handlungsposition. Vgl. dazu ausführlicher Neitzel, Britta: Point of View und Point of Action. Eine Perspektive auf die Perspektive in Computerspielen. In: Bartels/Thon: Computer/Spiel/Räume. S. 8–28; vgl. auch die Modifikationen insbesondere mit Blick auf einen ,objektiven‘ Point of Action in Thon, Jan-Noël: Perspective in Contemporary Computer Games. In: Point of View, Perspective, Focalization. Modeling Mediation in Narration. Hrsg. von Peter Hühn, Wolf Schmid u. Jörg Schönert. Berlin: de Gruyter 2009. S. 279–299.
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zeigen²⁶: So kann die Spielfigur Arthas zwar ‚sterben‘ (vgl. Abbildung 5) – da das fiktive Wesen Arthas allerdings zentral für den Fortgang der Designer-Geschichte des Spiels ist,²⁷ besteht im Rahmen der Spielmechanik die durch die Narration nicht weiter plausibilisierte Möglichkeit, die Spielfigur an einem sogenannten ‚Altar der Könige‘ wiederzubeleben. Mehr noch: Der Prinz tritt in einigen CutScenes auch dann auf, wenn er unmittelbar davor während des simulierten Spielgeschehens noch tot war, ohne dass eine Erklärung für diese wundersame Wiederbelebung auch nur angedeutet würde (vgl. Abbildung 6). Während nun diese Art der Inkonsistenz zwischen den im Modus der Simulation und den im Modus der Narration vermittelten Geschehenselementen vor allem auf die Medialität des Computerspiels als Spiel zurückzuführen ist und insofern nicht allzu bemerkenswert erscheint, wird hier zumindest noch einmal die Unterscheidbarkeit von fiktivem Wesen und Spielfigur bestätigt.²⁸ Das bedeutet allerdings keineswegs, dass die narrative oder doch zumindest fiktionale Rahmung des Spielgeschehens für selbiges keine Relevanz besäße. Vielmehr lässt sich etwa mit Rune Klevjer feststellen, dass es eine zentrale Funktion narrativer Elemente in Computerspielen ist, den Handlungen der Spieler/ innen und Spielfiguren zusätzliche ,Bedeutung zu verleihen‘. Klevjer unterscheidet dabei zwischen drei Ebenen der ,Signifikation‘ ludischer Ereignisse. Erstens werden narrative Elemente benutzt, um Spielhandlungen mit ,basaler‘ Bedeutung aufzuladen. So bemerkt er in Bezug auf den First-Person Shooter Perfect Dark: „it is important for me that the objects I ,shoot‘, are ,bad guys‘ with ,guns‘ who ,fight‘ back, and who can be ,killed‘“.²⁹ Dies ist allerdings zunächst kein moralisch-ethisches Problem, sondern eine Frage effektiver Spielhandlungen. Die Logik eines Echtzeit-Strategiespiels wie Warcraft III macht es für dessen Spieler/innen erforderlich, ihre Verbündeten von ihren Gegnern unterscheiden zu können: Letztere müssen zum Erfüllen der Spielziele bekämpft werden, erstere nicht. Klevjer weist
26 Vgl. Juul, Jesper: Half-Real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge: MIT Press 2005. 27 Vgl. die Unterscheidung zwischen einer prädeterminierten Designer-Geschichte und einer erst durch den jeweiligen Spieldurchlauf aktualisierten Spieler-Geschichte bei Rouse, Richard: Game Design. Theory and Practice. Plano: Wordware 2005. S. 203–206. 28 Hier greift einmal mehr eine medienspezifische Version des principle of charity. Vgl. dazu auch ausführlicher Thon, Jan-Noël: Computer Games, Fictional Worlds, and Transmedia Storytelling. A Narratological Perspective. In: Proceedings of the Philosophy of Computer Games Conference 2009. Hrsg. von John R. Sageng. Oslo: University of Oslo 2009. 29 Klevjer, Rune: Computer Game Aesthetics and Media Studies. Paper presented at the 15th Nordic Conference on Media and Communication Research, Reykjavik, Aug. 2001. http://uib. no/people/smkrk/docs/klevjerpaper_2001.htm (30.8.2011).
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Abb. 3: Prägerenderte Cut-Scene aus Warcraft III (Blizzard Entertainment 2002).
Abb. 4: ‚Machinima‘-Cut-Scene aus Warcraft III (Blizzard Entertainment 2002).
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Abb. 5: Arthas Tod im simulierten Spielgeschehen von Warcraft III (Blizzard Entertainment 2002).
Abb. 6: Arthas wundersame Wiederbelebung in einer Cut-Scene aus Warcraft III (Blizzard Entertainment 2002).
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aber auch darauf hin, dass – zweitens – die meisten Computerspiele narrative Elemente nutzen, um den Spieler/innen auch über das Erfüllen abstrakter Spielziele hinaus „some kind of motivation for performing the specific actions that the game requires“³⁰ zu vermitteln. In der Singleplayer-Kampagne von Warcraft III wird besonders deutlich, dass es sich dabei in der Regel um – für Geschichten in ganz unterschiedlichen Medien zentrale – Motive, Wünsche und Ziele der von der Spielerin gesteuerten Figuren handelt, die sich im Spielverlauf wandeln können. So übernimmt die Spielerin im Verlauf der Kampagne nicht nur die Kontrolle über unterschiedliche ,Helden‘, sondern auch Prinz Arthas’ Ziele verändern sich nachhaltig, wenn er im weiteren Spielverlauf zum Untoten mutiert. Wenn Spiele – drittens – narrative Elemente nutzen, um eine Geschichte zu erzählen, so wird letztere in der Regel auch zur Kommunikation von Spielzielen und Spielmechanik des Spiels eingesetzt. Entsprechend ist bereits die Ausgestaltung der durch die Spielerin gesteuerten Figuren und ihrer computergesteuerten Gegenüber als fiktive Wesen nicht unabhängig von ihrer Gestaltung als Spielfiguren mit bestimmten ludischen Funktionen zu denken. Daraus folgt nun nicht nur, dass das, was man im Anschluss an Wolf Schmid, Jens Eder und andere als ideologische oder evaluative Perspektive von fiktiven Wesen wie Prinz Arthas, dem Orc-Anführer Thrall oder der Nachtelfen-Priesterin Tyrande beschreiben könnte, insbesondere zur Orientierung der Spieler/innen innerhalb der ludischen Struktur des Spiels dient.³¹ Vielmehr bestätigt der Befund, dass die ideologische Perspektivenstruktur von Computerspielen in engem Zusammenhang mit ihren Spielzielen steht, auch noch einmal die eingangs angerissene These: dass nämlich die sich in Computerspielfiguren scheinbar manifestierenden, häufig moralischethisch fragwürdig wirkenden Menschenbilder auf nicht zu vernachlässigende Weise durch die Medialität des Computerspiels geprägt sind (wobei davon auszugehen ist, dass viele Spieler/innen sich dieses Umstands durchaus bewusst sind und die Figuren entsprechend kritisch-distanziert einordnen können).³²
30 Ebd. 31 Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin: de Gruyter 2005. S. 127–129; Eder: Figur. S. 565–646; Thon: Perspective. S. 293–297. Vgl. auch den innerhalb der Game Studies zunehmend diskutierten Begriff der procedural rhetoric bei Bogost, Ian: Persuasive Games. The Expressive Power of Video Games. Cambridge: MIT Press 2007. S. 1–65; in verkürzter Form bei Brookey, Robert A.: Hollywood Gamers. Digital Convergence in the Film and Video Game Industries. Bloomington: Indiana University Press 2010. S. 24–27 sowie die grundlegende Kritik bei Sicart, Miguel: Against Procedurality. In: Game Studies 11.3 (2011). http://gamestudies. org/1103/articles/sicart_ap (30.08.2011). 32 Vgl. wiederum ausführlicher Thon: Perspective.
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3 Beispiel III: World of Warcraft Der damit aufgeworfenen Frage des mehr oder weniger reflektierten Umgangs mit den durch Computerspiele vermittelten Menschenbildern soll im Folgenden noch einmal etwas detaillierter mit Blick auf die Funktion von Computerspielfiguren als Repräsentationen von Spieler/innen im sozialen Raum von Multiplayer-Spielen nachgegangen werden. Während Figurendarstellungen im Modus der Narration vor allem durch Cut-Scenes und geskriptete Ereignisse vermittelt werden und sich Figurendarstellungen im Modus der Simulation aus der Aktualisierung der Designer-Geschichte im eigentlichen Spielgeschehen ergeben, kommt es im Modus der Kommunikation (im Sinne kommunikativer Handlungen von Spieler/innen) ebenfalls zu spezifischen Formen der Darstellung von Computerspielfiguren und der Bezugnahme auf sie. Auch auf dieser Ebene können Menschenbilder implizit oder explizit verhandelt und dadurch auf den anderen Ebenen zu verortende Menschenbilder in Frage gestellt oder bestätigt werden. Dies soll am Beispiel des Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (MMORPG) World of Warcraft (2004–2012) illustriert werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf Aspekte der Repräsentation von Alter, Geschlecht und Ethnie zu legen ist. Das von Blizzard Entertainment entwickelte Online-Rollenspiel ist in der Ausgestaltung der fiktiven Welt an das Warcraft-Universum angelehnt: Wie in Warcraft III steht der Konflikt verschiedener fantastischer Völker (Elfen, Menschen, Orcs usw.) im Mittelpunkt. Anders als im Echtzeit-Strategiespiel findet das Spielgeschehen jedoch innerhalb einer persistenten Spielwelt statt, in der hunderte Spieler/innen auf einem gemeinsamen Server interagieren. World of Warcraft’s Spielmechanik ist auf das Absolvieren mehr oder weniger umfangreicher Missionen (sog. ‚Quests‘) und die Weiterentwicklung der Eigenschaften und Fähigkeiten des player character fokussiert. Da dies im späteren Verlauf des Spiels nur durch die Zusammenarbeit mehrerer Spieler/innen sinnvoll möglich ist, kommt der sozialen Dimension der Computerspielfigur, d. h. ihrer Rolle als Repräsentation von Spieler/innen, eine besondere Bedeutung zu. In World of Warcraft wählen die Spieler/innen einen Avatar, der ein je nach Figurenklasse und -volk unterschiedliches äußeres Erscheinungsbild besitzt (vgl. Abbildungen 7 und 8). Darüber hinaus gibt es begrenzte Möglichkeiten zur Anpassung dieser Eigenschaften, etwa durch Wahl der Hautfarbe, der Physiognomie oder der Frisur. Das Geschlecht kann – jedenfalls im Rahmen der hegemonialen binären Matrix ‚männlich/weiblich‘ – frei gewählt werden und resultiert z. B. in Unterschieden hinsichtlich der Gestaltung der Kleidung (bei weiblichen Avataren tendenziell knapper und mit Blick auf die Konfliktorientiertheit des Spielgeschehens weniger funktional als bei männlichen Avataren) und des Körperbaus (bei weiblichen Avataren durch die Betonung der Brüste, geringere Körpergröße und
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Abb. 7: Erstellung einer Zwergen-Schurkin in World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004–2012).
eine schlanke Taille; bei männlichen Avataren durch die Betonung der Schultern und der Muskulatur). Ähnlich wie bei den Tomb Raider-Spielen werden also auch hier hypersexualisierte Körperbilder präsentiert. Dabei sind unter den computergesteuerten Figuren, die die Spielwelt bevölkern, weibliche Figuren unterrepräsentiert (zwei von drei sind im Durchschnitt männlich).³³ Die Ausnahmen bilden bezeichnenderweise gerade jene Völker mit den am stärksten sexualisierten weiblichen Avataren (z. B. Blutelfen, bei denen das Verhältnis fast ausgeglichen ist).³⁴ Die zwölf spielbaren Völker, von denen je sechs den beiden verfeindeten Fraktionen der ‚Allianz‘ und der ‚Horde‘ zugeordnet sind, werden zum Teil recht deutlich als ‚abweichend‘ charakterisiert und sind in manchen Fällen bestimmten realweltlichen Volksgruppen und Kulturen nachempfunden.³⁵ Obwohl dabei
33 Vgl. Corneliussen, Hilde: World of Warcraft as a Playground for Feminism. In: Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Hrsg. von Hilde Corneliussen u. Jill Rettberg. Cambridge: MIT Press 2008. S. 63–86, hier S. 75. 34 Ebd., S. 76. 35 Vgl. Langer, Jessica: The Familiar and the Foreign: Playing (Post)Colonialism in World of Warcraft. In: Corneliussen/Rettberg: Digital Culture. Cambridge: MIT Press 2008. S. 87–108.
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Abb. 8: Erstellung einer Blutelfen-Schurkin in World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004–2012).
in der audiovisuellen Gestaltung durchaus problematische, teilweise rassistische Stereotype bedient oder zumindest aufgerufen werden, wird doch kein Volk als ‚ausschließlich böse‘ dargestellt. Stattdessen finden sich jeweils verschiedene Gruppierungen und Hintergrundgeschichten, die Eigenschaften und Ziele der Figuren bzw. Figurengruppen erklären. Während also durchaus volks- oder geschlechtsspezifische Unterschiede in der Darstellung der Figuren als fiktive Wesen gemacht werden, gibt es hinsichtlich der ludischen Eigenschaften und Fähigkeiten der Spielfiguren fast keine Unterschiede: Männliche Avatare verfügen über exakt dieselben Eigenschaften wie weibliche Avatare, mit ihnen sind dieselben Spielziele verbunden. Auch die zwölf Völker unterscheiden sich in dieser Dimension lediglich in wenigen volkspezifischen Fähigkeiten. Allerdings greift in Bezug auf die Spielziele auch das zuvor am Beispiel Warcraft III beschriebene System der ideologischen Perspektivenübernahme: Die aggressiven Spielhandlungen gegenüber Mitgliedern der anderen Fraktion werden nicht nur durch die jeweilige narrative Rahmung, sondern auch durch die Gestaltung einer Reihe unterschiedlicher Spielziele als angemessen gerechtfertigt.
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Abb. 9: Teilnehmerin eines ‚Naked Gnome Race‘ in World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2004–2012).
Fragt man nun nach dem kommunikativen Umgang der Spieler/innen mit geschlechts-, alters- und ethnienbezogenen Menschenbildern, so lässt sich diese Frage zunächst auf die Avatare, dann aber auch auf die Spielenden selbst beziehen. Wenngleich hier empirische Untersuchungen nötig wären, weisen bestehende Forschung und eigene Spielerfahrung darauf hin, dass mit den stereotypen Körperbildern der Avatare durchaus distanziert umgegangen wird.³⁶ So gibt es eine Reihe von Spiel-Praktiken, die derartige Körperbilder ironisch brechen, wie etwa das beliebte ‚Naked Gnome Race‘, bei dem unbekleidete Vertreter eines nach gängigen westlichen Schönheitsidealen eher ‚unattraktiven‘ Volkes einen Wettlauf durch feindliches Gelände veranstalten (vgl. Abbildung 9). Auch scheint – außerhalb von Rollenspiel-Servern³⁷ – das Geschlecht des Avatars nur bedingt Auswirkungen auf die Kommunikation zwischen Spieler/innen zu haben. Dies mag auch daran liegen, dass Gender-Swapping, also das Spielen eines Avatars
36 Vgl. Redig, T. J.: Animosity Amongst World of Warcraft Players: An Analysis of The Instance Podcast. In: MNSU GRC-Conference Journal 2 (2010). http://grad.mnsu.edu/research/ grc/2010journal/Redig%20GRC%20Journal%20Submission.pdf (30.8.2011). S. 26. 37 Vgl. zu den Besonderheiten von Rollenspiel-Servern auch Thon: Unendliche Weiten.
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mit anderem Geschlecht als dem eigenen, im Spiel von Beginn an recht verbreitet war.³⁸ Ähnlich verhält es sich mit den Völkern der Avatare, hier spielt vor allem die Zugehörigkeit zu einer der beiden verfeindeten Fraktionen eine Rolle.³⁹ Diesem eher reflektierten Umgang mit Avataren steht der teilweise deutlich problematischere Umgang mit Geschlecht, Alter und Nationalität der Spieler/ innen selbst gegenüber. Ein Beispiel für diskriminierende Haltungen, die hier durch kommunikatives Handeln im Multiplayer-Spiel reproduziert werden, stellen etwa die Vorbehalte gegenüber bestimmten Altersgruppen dar. Dies kann sich sowohl auf ,zu junge‘ als auch auf ,zu alte‘ Spieler/innen beziehen und hat sich mit der Rede von „Noobs“ oder „Kiddies“ bereits ins Vokabular der Community eingeschrieben.⁴⁰ T.L. Taylor berichtet außerdem von sexistischen Kommentaren, denen (vermeintliche) Spielerinnen überdurchschnittlich oft ausgesetzt seien – hierbei könne ein hypersexualisierter Avatar wiederum verstärkend wirken.⁴¹ Und auch Vorurteile gegenüber bestimmten Nationalitäten werden in der Community gepflegt: So wird französischen Spieler/innen auf manchen Länder-übergreifenden Servern ein aggressives und unstrategisches Spielverhalten nachgesagt, während asiatische Spieler/innen pauschal durch den Begriff des ‚China-Farmers‘ diskreditiert werden.⁴²
4 Fazit Fassen wir auf der Grundlage der skizzierten Beispiele unsere Überlegungen zur Medialität von Menschenbildern zusammen, so führt uns die Beobachtung, dass Figurendarstellungen in Computerspielen nicht nur im Modus der Narration erfolgen, sondern immer auch an technische und spielmechanische Aspekte der Simulation gebunden sind und (im Falle von Multiplayer-Spielen) durch kommunikatives Handeln der Spieler/innen erweitert werden können, zunächst noch einmal zu zwei aus unserer Sicht grundlegenden Feststellungen. Erstens
38 Vgl. Yee, Nick: WoW Gender-Bending. http://www.nickyee.com/daedalus/ archives/001369.php (30.8.2011). 39 Vgl. Redig: Animosity. S. 26. 40 Vgl. dazu den Blog-Eintrag „What‘s It Like to Be an Older World of Warcraft Player“ unter http://borderhouseblog.com/?p=2765#more-2765 (30.8.2011). 41 Taylor bezieht sich auf das MMORPG Everquest, vgl. Taylor, T. L.: Play Between Worlds. Exploring Online Game Culture. Cambridge: MIT Press 2006. S. 14. 42 Mackay, Mark: Discrimination Surfaces in World of Warcraft. http://www.pressbox.co.uk/ detailed/Internet/Discrimination_Surfaces_in_World_of_Warcraft_49114.html (30.8.2011).
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hat die Medialität, die spezifische Konstellation von Merkmalen und Möglichkeiten eines Mediums, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die im betreffenden Medium verhandelten Menschenbilder. Zweitens dürften im Kontext des Computerspiels jene Menschenbilder die größte Wirkung entfalten, die mehr oder weniger widerspruchsfrei auf allen drei skizzierten Ebenen der Computerspielfigur vermittelt werden. Wie wir anhand der vorgestellten Fallstudien zu zeigen versucht haben, sind die Beziehungen zwischen der Figur als fiktivem Wesen, Spielfigur und Repräsentation von Spieler/innen aber in ebenso starkem Maße durch Inkonsistenzen wie durch wechselseitige Bezüge geprägt: Der narrative Rahmen eines Spiels dient immer auch der Signifikation ludischer Ereignisse, er schafft eine Motivationsstruktur für die Spielerin und vermittelt Spielziele. Viele stereotype Menschenbilder, die in die Eigenschaften der Computerspielfigur als fiktives Wesen eingeschrieben sind, können somit von den Spieler/innen in Bezug zu den spezifischen Anforderungen, den technischen Bedingungen und den (z. T. Genre-typischen) Konventionen des Computerspiels gesetzt und entsprechend eingeordnet werden. Die spezifische Medialität des Computerspiels hat aber auch zur Folge, dass Menschenbildern, die in die Spielmechanik des Spiels – und damit in die Eigenschaften der Figur als Spielfigur – eingeschrieben sind, ein besonderes Gewicht verliehen wird: Voraussetzung für erfolgreiches Spielen ist eben gerade die Internalisierung von Spielzielen, Interaktionsmöglichkeiten und ludischen Eigenschaften von Figuren – und damit auch der durch sie vermittelten Menschenbilder. Noch komplexer gestaltet sich das Verhältnis narrativer und simulierter Figurendarstellungen in Multiplayer-Spielen, in denen diese durch Selbstdarstellungen von Spieler/innen ergänzt oder überlagert werden können, die jeweils auch mit individuell geprägten Menschenbildern zusammenhängen. Auch hier wird also noch einmal deutlich, dass medial vermittelte Menschenbilder nicht unabhängig von der Medialität der sie vermittelnden Medien zu denken sind. Der Blick einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft auf durch Computerspiele vermittelte Menschenbilder kann also zu interessanten (und letztlich auch für sozialwissenschaftliche Positionen relevanten) Ergebnissen führen. Er setzt jedoch eine Beachtung der jeweiligen Kontexte und der Medialität dieser Menschenbilder voraus.
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Deconstructing Darth Transmediale Unmenschenbilder in der Star Wars-Saga Abstract: The essay considers different meanings and associated ideas of (in-) humanness, contributed to the character Darth Vader in regard to several points of entry to the fictional Star Wars universe, from the diegesis of the two Star Warstrilogies to the YouTube spoof Chad Vader. Intergalactic super-villain Darth Vader is one of the icons of recent film history. In expanding his background story by prequels, video games, and other related transmedia products, as well as applying controversial changes to the original films, part-time-auteur George Lucas reconfigured the mysterious Dark Lord of the Sith until he became his own parody.
Kaum ein Filmschurke verfügt über eine ähnlich ausgeprägte mediale Präsenz wie der dunkle Sith-Lord Darth Vader aus Star Wars. Die Kulturwissenschaftlerin Mary Henderson nennt Vader „eine perfekte Schattengestalt… – mächtig und skrupellos, repräsentiert er in seiner tiefschwarzen Maske, Rüstung und Robe die Kräfte des Bösen.“¹ Diese ikonische Verkörperung des Bösen treibt auch außerhalb des Kinos ihr Unwesen: Im Juli 2010 geriet Vader unter Verdacht, eine New Yorker Bank ausgeraubt zu haben². Im November 2011 beantragte er ein Grundstück bei der Stadtverwaltung von Odessa³. In Werbespots des US-Senders Spike TV spielte er Golf (unter Einsatz seiner dunklen Macht) und wurde später vom gleichen Sender als „Ultimate Screen Villain“ ausgezeichnet. Auf den ersten Blick erscheint das mit Darth Vader assoziierte Menschenbild relativ eindeutig: Er personifiziert die Möglichkeit des ungebrochen Bösartigen im Menschen. Als Allzweck-Bösewicht lässt er sich wie in Odessa für politische Proteste⁴, als ausgefallene Verkleidung für Bankräuber oder als Science-Fiction-
1 Henderson, Mary: Star Wars. Magie und Mythos. Köln: VGS Verlagsgesellschaft 1998. S. 53. 2 Vgl.: Darth Vader überfällt US-Bank. In: B.Z. (23.07.2010). http://www.bz-berlin.de/ aktuell/welt/darth-vader-ueberfaellt-us-bank-article929709.html (09.01.2012). 3 Vgl.: Darth Vader beantragt einen Raumschiff-Parkplatz. In: Spiegel Online (18.11.2011). http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,798727,00.html (09.01.2012). 4 Kurze Zeit nachdem Vader in die Liste potentieller Interessenten für die zu vergebenden Grundstücke aufgenommen wurde, reagierte die Stadtverwaltung von Odessa zur
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Ikone für Preisverleihungen verwenden. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse bereits hinsichtlich Vaders filmischer Ursprünge nicht so eindeutig verlaufen wie allgemein angenommen. Schließlich war er ursprünglich einmal der heldenhafte Jedi-Ritter Anakin Skywalker, bis er dem Bösen verfiel. Und spätestens wenn Chad Vader, Protagonist einer erfolgreichen YouTube-Serie (USA seit 2006), per Video-Erklärung bekannt gibt⁵, dass er Raubüberfälle verurteile und man Banken, wenn man ihn schon imitiere, gefälligst mit einem Lichtschwert überfallen solle, erscheint es fragwürdig, ob man es im Fall der transmedialen Figur Vader überhaupt noch mit einem holistischen (Un-)Menschenbild zu tun hat. Dieser Beitrag untersucht, welche konträren Menschenbilder mit der Figur Darth Vaders in unterschiedlichen medialen Kontexten assoziiert werden. In einem ersten Schritt wird die ursprüngliche Charakterisierung des dunklen Lords als ikonografischem Leinwandschurken behandelt. Der zweite Abschnitt widmet sich George Lucas’ Versuch, das anfangs eindeutige Bild des Bösen durch eine Vorgeschichte in den Star Wars-Prequels nachträglich mit Ambivalenzen zu versehen. In einem abschließenden Ausblick wird thematisiert, inwiefern die widersprüchlichen Menschenbilder, die mit der Figur Vader assoziiert sind, auch als Ergebnisse transmedialer Eigendynamiken innerhalb der Popkultur verstanden werden können.
1 A Walk on the Dark Side – Die erste Trilogie Die von Regisseur und Produzent George Lucas initiierte Star Wars-Saga zählt zu den populärsten Reihen der neueren Filmgeschichte. Ausgehend von der Trilogie Star Wars – A New Hope (1977), The Empire Strikes Back (1980) und Return of the Jedi (1983) entstand ein fiktionales Universum, das seit 35 Jahren kontinuierlich in Romanen, Videospielen, Comics und Rollenspielen zu einer imaginären Kosmografie ausgebaut wird. Mit der zwischen 1999 und 2005 realisierten Vorgeschichte versuchte George Lucas in den drei Film-Prequels The Phantom Menace (1999), Attack of the Clones (2002) und Revenge of the Sith (2005) den zuvor als bedrohlichen Schurken und dämonische Vaterfigur inszenierten Vader im Nachhinein zum tragischen Antihelden umzudeuten: Der von Zweifeln und inneren Widersprüchen geplagte Jedi-Ritter Anakin Skywalker (Hayden Christensen)
nachträglichen Imagekorrektur mit dem Statement, dass sie der Rebellen-Heldin Prinzessin Leia näher als dem galaktischen Imperium stünde. 5 http://www.youtube.com/watch?v=i7or-QM22rM (16.02.2012).
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Abb. 1: Darth Vader als mysteriöser Schurke in Star Wars IV – A New Hope (1977).
erliegt der Versuchung durch die dunkle Seite der kosmischen Macht. Er verrät seine Freunde und Verbündeten und verhilft dem intriganten Imperator Palpatine alias Darth Sidious zur „Machtergreifung“⁶. Diese Vorgeschichte ließ sich bei Vaders erstem, ausgesprochen effektvoll inszenierten Auftritt zu Beginn des ersten Films A New Hope noch nicht erahnen. Das Imperiale Enterkommando, das in der Eröffnungssequenz des Films das Raumschiff der Rebellen-Kommandantin Leia Organa (Carrie Fisher) abfängt, positioniert sich seitlich in einem engen Korridor. Vader betritt das Geschehen exponiert in der Bildmitte, sein schwarzes Outfit hebt sich deutlich von den weißen Uniformen seiner Truppen und der hellen Verkleidung des Rebellentransporters ab. Das mechanische Atmen verstärkt als Sound-Effekt zusätzlich die bedrohliche Präsenz des schwarzen Ritters. Die sonore, kontrollierte Stimme des Theaterschauspielers James Earl Jones⁷ signalisiert hingegen, dass sich Vader als Verkörperung der instrumentalisierten Vernunft stets im Besitz seiner diabo-
6 Die Assoziationen an die nationalsozialistische „Machtergreifung“ untersucht ein Artikel der Historikerin Christiane Kuller. Vgl.: Kuller, Christiane: Der Führer in fremden Welten: Das Star-Wars-Imperium als historisches Lehrstück?. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), H. 1. http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Kuller-1-2006 (14.02.2012). 7 James Earl Jones wurde als Sprecher Darth Vaders engagiert, nachdem sich der ländliche Dialekt des Vader verkörpernden britischen Bodybuilders David Prowse bei den ersten Testaufnahmen als zu harmlos erwies.
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lischen geistigen Kräfte befindet. Die kaltblütige Strangulation eines Gefangenen und das spätere Verhör Leias unter Einsatz von Folter demonstrieren die skrupellose Brutalität Vaders. Er tritt jedoch an dieser Stelle nicht als Personifikation des unerklärlichen Bösen in Erscheinung, sondern vielmehr als dessen kaltblütiger Vollstrecker – als Schurken-Sidekick. Falls Zuschauer überhaupt nach einer Motivation für Vaders Pakt mit dem Bösen suchen, finden sie in A New Hope lediglich Hinweise auf Geltungssucht und Machtgier. Wenn er sich mit seinem ehemaligen Lehrmeister Obi-Wan (Alec Guinness) duelliert, erklärt er, dass er jetzt nicht mehr ein Schüler, sondern selbst ein Meister sei.⁸ Das mit Vader assoziierte Menschenbild wirkt in A New Hope vergleichsweise schlicht. Er repräsentiert ohne jegliche Ambivalenz Eigenschaften wie Grausamkeit, Kaltblütigkeit, Größenwahn und Selbstüberschätzung. Auch die Vorliebe, Untergebene, die seinen unmenschlichen Leistungsanforderungen nicht entsprechen, mit einem telekinetischen Machtgriff zu erwürgen, lässt Vader als comichaften Larger-than-life-Schurken erscheinen. Seine Unterwürfigkeit gegenüber dem Imperator (Ian McDiarmid), vor dem Vader demonstrativ niederkniet, vervollständigt das Bild einer autoritären Persönlichkeit. Der Hang zur schwarzen Pädagogik, den er seinem Nachwuchs Leia und Luke (Mark Hamill) gegenüber an den Tag legt, verstärkt diesen Eindruck. Dabei hängt die Wirkung der Figur in der ersten Trilogie sehr von der geschickten Inszenierung ab. Diese Inszenierung setzt neben seiner bedrohlichen Stimme ganz auf die kinästhetische Wirkung der Figur. Sein Charakter definiert sich neben seinem Aussehen auch über sein Handeln. Im Unterschied zu den in ihrer Selbstherrlichkeit erstarrten, bürokratische Überheblichkeit ausstrahlenden imperialen Funktionären des Todessterns, einer Raumstation, die ganze Planeten vernichten kann, bleibt der dunkle Lord stets in Bewegung. Beim Kampf um den Todesstern fliegt er einen eigenen Tie-Fighter und entkommt dadurch als einziger der Vernichtung der Kampfstation. Im zweiten Film, The Empire Strikes Back, wird die Figur ausgebaut; Vader avanciert zum stilisierten Superschurken. Er bekommt sein eigenes martialischmusikalisches Leitmotiv, kommandiert eine ganze Flotte und erscheint weitaus mysteriöser und unberechenbarer, als es die Sidekick-Funktion in A New Hope erlaubte. Sein überraschendes Auftauchen in der Zuflucht versprechenden Wolkenstadt Bespin und das anschließende, sorgfältig vorbereitete Duell mit Luke
8 Dieser Dialog erscheint retrospektiv angesichts des im jüngsten Sequel erzählten Umstands, dass Vader von seinem ehemals besten Freund bei ihrer letzten Begegnung flambiert und mit abgetrennten Gliedmaßen auf einem Vulkanplaneten zurück gelassen wurde, nicht sonderlich stimmig.
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Skywalker weisen ihn als geschickten Taktiker und hinterhältigen Manipulator aus. Vader lässt Lukes Freunde Leia und Han Solo (Harrison Ford) nicht mehr wie in A New Hope zum reinen Selbstzweck, sondern aus strategischen Gründen foltern. Luke spürt durch die Macht, jenes kosmische Energiefeld, das Star Wars in die Nähe der Fantasy rückt, die drohende Gefahr. Wie von Vader beabsichtigt bricht er seine Ausbildung bei dem kauzigen Jedi-Meister Yoda ab, um zu einem ungeplanten Familientreffen aufzubrechen. Das von der Classical Hollywood-Autorin Leigh Brackett und dem Nachwuchs-Regisseur Lawrence Kasdan verfasste Drehbuch zu The Empire Strikes Back arbeitet der Tendenz des Larger-than-life-Villains zur unfreiwilligen Komik geschickt entgegen, indem sich seine Hintergrundgeschichte als Familiendrama entpuppt. Vader wird nicht nur durch die raffinierte Mise-en-scène des Regisseurs Irvin Kershner und die Lichtsetzung des auf eine düstere Ausleuchtung spezialisierten Kameramannes Peter Suschitzky⁹ zum ikonographischen Superschurken überhöht. Der mythologisierenden Inszenierung entsprechend wird ihm eine tragische Hintergrundgeschichte verliehen. Der im ersten Film als eindimensionaler Vollstrecker finsterer Mächte eingeführte schwarze Ritter erweist sich nun als bösartiger Vater der Helden Luke und Leia. Vader hatte also nicht, wie von Obi-Wan in A New Hope behauptet, Lukes Vater ermordet, sondern war selbst dieser Vater, der unter seinem alten Namen Anakin Skywalker den schnellen und leichten Weg der dunklen Seite gewählt hatte. Dieser Aspekt zählt zwar schon zur (pop-)kulturellen Allgemeinbildung, die Auswirkungen der Hintergrundgeschichte auf das mit Vader assoziierte Menschenbild sind jedoch gravierend und erfordern eine genauere Betrachtung. Die Versuchung durch die dunkle Seite erhält erstmals eine verführerische Komponente, die sich nicht auf reines Machtstreben beschränkt, sondern sich aus menschlichen Schwächen ergibt. Insbesondere die durch den Regisseur Kershner an buddhistische Vorstellungen angelehnten Lektionen Yodas deuten an, dass ungebremster Tatendrang sowie aus Verunsicherung und Angst erwachsener Zorn Vader auf die dunkle Seite geführt haben. Zudem wird Vaders Charakterisierung in The Empire Strikes Back um eine implizierte backstory wound, eine traumatische Erfahrung in seiner Vorgeschichte erweitert.¹⁰ Der flüchtige Blick auf den durch Narben entstellten,
9 Peter Suschitzky wurde insbesondere durch seine langjährige Zusammenarbeit mit dem kanadischen Horror- und Neo-Noir-Auteur David Cronenberg bekannt. 10 Dieses dramaturgische Konzept definiert die Filmwissenschaftlerin Michaela Krützen als „eine narrative Funktion, die [auf Grund ihrer konstruierten dramaturgischen Kausalität – Anm. A.R.] ausdrücklich nicht mit lebensweltlichen Maßstäben gemessen werden darf. Sie
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bleichen Hinterkopf Vaders verweist darauf, dass sich hinter seiner Panzerung ein stark lädierter Körper verbirgt. Auf die mit diesen körperlichen Verletzungen verbundene psychologische Wunde, die Anakin Skywalker zu Darth Vader werden ließ, wird in der ersten Trilogie lediglich hingewiesen. Der Reiz der Figur besteht gerade darin, dass sie auf ausgesprochen suggestive Weise unvollständig erscheint und somit auf Grundlage der kryptischen Andeutungen über Vaders Vergangenheit zu Spekulationen einlädt. Zudem wird in The Empire Strikes Back die im ersten Film nur flüchtig angedeutete Cyborg-Thematik zum elementaren Bestandteil der Figurenzeichnung. Die Zwischenstellung zwischen Mensch und Maschine macht einen Gutteil der Faszination von Vaders Hintergrundgeschichte aus. Janice Hocker Rushing und Thomas S. Frentz erläutern in ihrer Studie The Cyborg Hero in American Film die kulturellen und symbolischen Bezüge der Figur: Darth Vader updates the fire-eating dragons, monsters, and Satans that animate the heroic battles in the myths of the world. But Vader is not just any foe, for beneath his mysterious black robe, hood, and mask, he is ultimately revealed as a cyborg – part human and part machine. Like Milton’s Satan, Vader has a noble beginning as a Jedi warrior... But, tempted by the promise of power, he sold his soul to the dark side of the Force and joined the evil Empire […] In American mythology, he is the uninitiated hero who is seduced by power and the tools that extend it – so much he becomes a tool himself. If his hubris remains unchecked, his kind gives rise to the ‚ghost in the machine‘ that terrifies us, the Frankenstein’s monster that actually does rise from the laboratory table and turn on his inventor.¹¹
Christian Feichtinger merkt in seiner religionswissenschaftlichen Untersuchung Gegenkörper über die moralischen Implikationen von Vaders Hintergrundgeschichte an: In Episode IV wird Vader dem Publikum noch als rätselhafte, dunkle Gestalt präsentiert, am Ende der sechs Filme war es dazu angehalten, mit genau dieser Figur mitfühlen zu können. Exakt diese Geschichtlichkeit ist es, die Lucas am Ende die Erlösung des Bösen erlaubt. Während Darth Sidious [der zukünftige Imperator – A.R.] wie der christliche Satan zur Reue unfähig ist, ist es die gute Vergangenheit des Gefallenen, die ihm Aussicht auf Restauration eröffnet.¹²
betrifft Filmfiguren, die durch eine in der Vorgeschichte liegende Verletzung in ihrem Verhalten motiviert werden.“ Siehe Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2004. S. 35. 11 Rushing, Janice Hocker u. Thomas S. Frentz: Projecting the Shadow. The Cyborg Hero in American Film. Chicago: University of Chicago Press 1995. S. 3. 12 Feichtinger, Christian: Gegenkörper. Körper als Symbolsysteme des Guten und Bösen in Star Wars. Marburg: Schüren Verlag 2010. S. 126.
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Die Cyborg-Ikonographie deutet nicht nur an, dass sich Anakin Sykwalker in eine gewissenlose Maschine verwandelt hat. Sie legt auch den Umkehrschluss nahe, dass sich in ihm noch Spuren seiner früheren menschlichen Identität finden, wie es die von Padmé (Natalie Portman) in Revenge of the Sith und später von Luke in Return of the Jedi geäußerte Dialogzeile „there is still good in him“ andeutet. Die Erlösung Vaders in Return of the Jedi erfolgt schließlich über Lukes Appell an seinen inneren Konflikt. Im körperlichen Erscheinungsbild spiegeln sich die seelischen Konflikte der Skywalkers wider. Wenn Luke bei einer von Yodas Prüfungen ein Trugbild in der Gestalt Vaders köpft und unter dem Helm lediglich sein eigenes Antlitz erblickt, deutet dieses schauerromantische Motiv ebenso wie seine in der letzten Szene des Films in Betrieb genommene künstliche Hand an, dass auch er zum Cyborg werden könnte. Im Gegensatz zum traditionell humanistischen, häufig als Gegenentwurf zum Star Wars-Kosmos gedeuteten Star Trek-Universum, in dem selbst die biomechanischen Borg zu mündigen Bürgern der galaktischen Gemeinschaft werden, begibt sich die Star Wars-Saga immer wieder gerne in die Nähe zur Fantasy. Vaders Bündnis mit dem wie ein Hexenmeister in wallende, dunkle Roben gehüllten Imperator resultiert in seiner Transformation zu einem künstlich am Leben gehaltenen Schwarzen Ritter, der sich im Unterschied zu den Star TrekProtagonisten erst gar nicht auf längere Diskussionen einlässt.
2 Die Anti-Heldenreise des Anakin Skywalker – Die zweite Trilogie Die zentrale offene Frage in der Geschichte Vaders blieb nach Abschluss der ersten Trilogie, unter welchen Umständen er sich auf die dunkle Seite der Macht begab. Mit den Prequels wollte Lucas Darth Vader psychologisch vertiefen. Diese vermeintliche Abrundung der Figur resultierte jedoch, wie sich zeigen wird, in einer widersprüchlichen Charakterzeichnung. Die dramaturgische Herausforderung der Prequels bestand darin, plausibel zu machen, wie aus dem potentiellen Sympathieträger Anakin Skywalker der Superschurke Darth Vader wurde. Lucas entschied sich in der Struktur für einen negativ verlaufenden Entwicklungsroman: The Phantom Menace schildert die Kindheit des idealistischen Helden Anakin (hier gespielt von Jake Lloyd). In Attack of the Clones beginnt er eine gegen die Gesetze des Jedi-Ordens verstoßende Liebesbeziehung mit der Senatorin Padmé Amidala. Der Wechsel auf die dunkle Seite erfolgt dann in Revenge of the Sith aus sehr unterschiedlichen Gründen, die in ihrer Gesamtheit nicht motiviert, sondern paradox erscheinen.
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Einerseits erliegt Anakin seinem Streben nach Macht, obwohl diese Eigenschaft im Unterschied zu Antihelden wie Michael Corleone aus Francis Ford Coppolas The Godfather-Saga (1971, 1974, 1991) in den Star Wars-Prequels mehr behauptet als tatsächlich ausgearbeitet wird. In einer tragischen Wendung, die beim Publikum trotz aller Verfehlungen noch einen letzten Funken Sympathie für ihn bewahren soll, lässt er sich von Imperator Palpatine zum Seitenwechsel verleiten, um Padmé vor ihrem in einer Vision vorausgesehenen Tod zu retten. Wie in einer selffulfilling prophecy löst Anakin die Katastrophe, die zum Tod der Geliebten führt, erst selbst aus. Nach einem folgenschweren Duell mit Obi-Wan (in der zweiten Trilogie gespielt von Ewan McGregor) wird er am Ende des Films zur künstlichen Existenz als Darth Vader verdammt. Anakin soll zugleich als Opfer der Umstände und als gewissenloser Machtmensch wahrgenommen werden. Aus dieser Konstellation ergibt sich jedoch nicht die von Lucas erhoffte Ambivalenz, sondern lediglich ein psychologisch nicht nachvollziehbarer Charakter.¹³ Dennoch entsteht dieses Scheitern aus einer interessanten Motivation der Filmemacher heraus, die ursprünglich eine Ausdifferenzierung der in der ersten Trilogie größtenteils comichaft einfach gestalteten Figuren und der mit ihnen verbundenen Menschenbilder beabsichtigten. Dabei spielte der historische Kontext der Produktion eine entscheidende Rolle. Laurent Jullier benennt in Star Wars – Anatomie einer Saga treffend einen der zentralen Unterschiede zwischen den beiden Trilogien: „Das politische Universum der ersten Trilogie ähnelte demjenigen, das noch bis zurück zum Zweiten Weltkrieg auch das unsere war. Es gab klar abgrenzbare Antagonismen und Parteien, erklärte und sichtbare Feinde und die Freiheit als unauslöschliche Fackel. Das Universum der zweiten Trilogie ähnelt unserem heutigen.“¹⁴ Entsprechend folgt das Menschenbild der Prequels nicht mehr einer manichäischen Unterteilung in Gut gegen Böse, sondern diese weicht einer neuen Ambivalenz und Verunsicherung. Lucas scheint in den paranoiden Intrigennetzen der Prequels den nachträglichen Anschluss an die ambivalenten Antihelden des New Hollywood und seine eigene Vergangenheit als Auteur im amerikanischen Kino der 1970er Jahre zu suchen. Die durchaus raffinierte dramaturgische Volte der Prequels besteht darin, dass der Imperator seine Machtübernahme mit einem inszenierten Konflikt rechtfertigt. Die Protagonisten um
13 Ähnlich widersprüchlich fallen die mit Anakin und Vader in den Filmen assoziierten Figurentypen und Ikonographien aus: Sie reichen vom sensiblen rebel hero in der Tradition eines James Dean in Attack of the Clones, einem verblendeten Ideologen und kaltblütigen Erfüllungsgehilfen in Revenge of the Sith bis hin zum traditionellen Schwarzen Ritter in der ersten Trilogie. 14 Jullier, Laurent: Star Wars. Anatomie einer Saga. Konstanz: UVK 2007 (Original: Paris 2005). S. 31.
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Anakin, Obi-Wan und Yoda müssen feststellen, dass sich der mysteriöse Gegenspieler schon längst an der Spitze der eigenen Regierung befindet. Als politischer Subtext lassen sich durchaus Parallelen zur Watergate-Affäre der 1970er Jahre und zum Irakkrieg der 2000er Jahre ziehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob in dieser Parabel tatsächlich Vader die zentrale Figur bildet und ob Lucas seine Autorenrolle in Anwendung auf ein kollektiv produziertes Pop-Mythen-Patchwork nicht überstrapaziert. François Truffaut, einer der Urheber der politique des auteurs, notierte 1978 über die Star Wars-Filme: George Lucas. Wenn man diesem jungen Mann begegnet, […] bescheiden und extrem zurückhaltend, fällt es einem schwer zu glauben, es mit dem Autor von Star Wars zu tun zu haben, dem größten Kassenerfolg der Filmgeschichte, ein Film, der nicht nur ein oder zwei Sequels nach sich ziehen wird wie andere Hollywood-Erfolge, sondern wie James Bond gleich ein eigenständiges Genre definiert. In der Tat werden innerhalb der nächsten zwanzig Jahre ein Dutzend Star Wars entstehen.¹⁵
Statt sich auf die von Truffaut prognostizierte Spielfreude und den Variantenreichtum eines aus Versatzstücken und Ersatzteilen des klassischen Genrekinos gebastelten popkulturellen Patchworks einzulassen, zielt Lucas mit seinen späteren Filmen offenbar darauf ab, sich als Künstler und ‚Auteur with a capital A‘ zu rehabilitieren. In den Prequels versucht er die gesellschaftlichen und kulturellen Implikationen, die sich durch die Rezeptionsgeschichte der ersten Trilogie ergaben, in die Handlung selbst einzubeziehen. Anakin Skywalker wird zur Verkörperung der Symptome, die kulturell mit Darth Vader verknüpft waren. In seiner Studie Die Figur im Film bemerkt Jens Eder über Filmfiguren als Symptome: „Figuren bilden als Elemente soziokultureller, insbesondere kommunikativer Zusammenhänge eine Verbindung zwischen Produktion und Rezeption.“¹⁶ Lucas setzt an die Stelle des polyphonen Diskurses, den die zahlreichen Autorinnen und Autoren der als ‚Expanded Universe‘ bezeichneten Comics, Romane und Videospiele in die Star Wars-Mythologie einbrachten, den bedeutungsvollen Monolog des Filmemachers als Autor. In Abgrenzung gegenüber der Instrumentalisierung der Star Wars-Filme durch die Reagan-Administration und deren SDIRaketensystem lässt er in den Prequels keinen Zweifel mehr daran, dass nicht die Sowjetunion das ‚Evil Empire‘ war, sondern dass die USA selbst damit gemeint sind.
15 Truffaut, François: Die Lust am Sehen. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1999. S. 48–49. 16 Eder, Jens: Die Figur im Film. Marburg: Schüren Verlag 2008. S. 541.
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Auf Grund seiner labilen Verfassung lässt sich Anakin von Imperator Palpatine für dessen Pläne einspannen. Die eindeutig als gut oder böse gekennzeichneten Menschenbilder der ersten Trilogie weichen in dieser Konstellation umfassenden Selbstzweifeln, wie sie für die Antihelden der 1970er Jahre typisch waren. Die potentiellen Parallelen Vaders zu den Antihelden des ursprünglichen New Hollywood betont der Filmkritiker Fritz Göttler in seiner Rezension zu Attack of the Clones: „Der Anakin dieses Films ist ein Zwischengänger, der Psychopath, zu dem er mutieren mag, hat seine Wurzeln in den Siebzigern. – Star Wars ist eindeutig ein Produkt dieser Zeit, als das New Yorker movie bratpack Hollywood übernahm.“¹⁷ Die Ergänzung der filmischen Erzählung um die Prequels relativiert den Optimismus der ersten Trilogie. In der Reihenfolge ihrer Produktionsgeschichte enden die Filme mit der Entstehung des Imperiums und entsprechen damit dem ambivalenten und skeptischen Blick des New Hollywood, der 1977 im deutlichen Kontrast zum naiven Pulp-Charme des ersten Star Wars-Films A New Hope stand. Die Ambition, an die Traditionen des New Hollywood anzuknüpfen, resultierte jedoch nicht in dem beabsichtigten Charakterdrama, sondern in einer visuell eindrucksvollen, brillant montierten und orchestrierten Variante des High Camp, jenes stilisiert schlechten Geschmacks, der gerade auf Grund seines Scheiterns fasziniert. Lucas versucht Vader zu psychologisieren und bleibt auf halbem Weg zwischen Douglas Sirk-Melodram und Flash Gordon-Space-Opera stecken. Die Dialoge erscheinen zu übertrieben, um emotional glaubhaft zu sein. Anakins Wandel zur dunklen Seite vollzieht sich nicht stringent genug, er will anscheinend sowohl ganz eigennützig gemeinsam mit Imperator Palpatine die Galaxis unterwerfen als auch altruistisch seine Geliebte retten. Das in Mary Hendersons Untersuchung Star Wars – Magie und Mythos oder in Christopher Voglers Drehbuchratgeber The Writer’s Journey¹⁸ auf Star Wars angewandte Modell der Heldenreise wird in den Prequels zum widersprüchlichen filmischen Entwicklungsroman ausgebaut. Die auf den Theorien des amerikanischen Kulturforschers Joseph Campbell¹⁹ basierende Struktur der Aufbruch, Prüfungen und Rückkehr umfassenden Heldenreise nannte Lucas als eine der wesentlichen Inspirationsquellen für Star Wars. Sie lässt sich auch aufschluss-
17 Göttler, Fritz: Die kleine Garage am Rande der Galaxis – Attack of the Clones. In: Süddeutsche Zeitung (13.05.2002) . 18 Vgl. Vogler, Christopher: The Writer’s Journey – Mythic Structure for Writers. 3. Aufl. Studio City: Michael Wiese Productions 2007. 19 Vgl. Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1999.
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reich auf Lukes Entwicklung in der ersten Trilogie vom einfachen Farmerjungen zum Jedi-Ritter anwenden, doch übertragen auf Darth Vader als geheimem Helden der Saga erscheint sie inkonsistent, wenn nicht sogar absurd. Die letzten, aus subjektiver Sicht gefilmten Einstellungen von Revenge of the Sith zeigen die Verwandlung von Anakin zu Darth Vader mit deutlichen Anspielungen auf die Erschaffung der Kreatur durch Baron Frankenstein. Sowohl die ruckartigen Bewegungen Vaders, als auch die um das Labor tosenden Gewitterstürme wecken Erinnerungen an James Whales Horror-Klassiker Frankenstein von 1931. Nach dem Modell der Heldenreise müsste diese Situation der am Wendepunkt der Prüfungen erfahrenen langen dunklen Nacht der Seele entsprechen. Diesen Prozess wird das Publikum jedoch lediglich in Comics wie Darth Vader and the Lost Command (2010) nachvollziehen können: Hier wird der in seine biomechanischen Einzelteile zerlegte Vader in einem medizinischen Tank in seinen Träumen von Schuldgefühlen heimgesucht. Die durch Vader in den Filmen transportierten Menschenbilder ergeben jedoch kein schlüssiges Gesamtbild. Auf die Hybris von Anakin Skywalker, den symbolischen Sturz in die Hölle und die Verwandlung in eine unbeholfene Cyborg-Kreatur folgt in der Chronologie der Geschichte zu Beginn von A New Hope der undurchsichtige und bedrohliche Darth Vader. Noch heterogener und widersprüchlicher sind allerdings die Merkmale, die der Figur durch andere Medien und Produkte innerhalb des transmedialen Franchise, im komplexen Gefüge des ‚Expanded Universe‘ angeheftet werden.
3 Darth Vader Transmedial – Das Expanded Universe Im ‚Expanded Universe‘ vermischen sich die diegetischen und extradiegetischen Ebenen der Star Wars-Saga. Anakins in Spin-Offs wie TV-Serien, Romanen und Comics kinderfreundlich ausgestaltete Vorgeschichte resultiert in einer Neubewertung des einst bedrohlichen Darth Vader. Diese Umgestaltung wirkt sich nicht nur auf der Ebene des Plots selbst aus, sondern beeinflusst auch die Mythologie der Figur und ihre Hintergrundgeschichte. Ein anschauliches Beispiel für den Wandel vom unmenschlichen Repräsentanten böser Mächte zum KuschelCyborg bietet die Produktbeschreibung zu einem 2008 erschienen Plüsch-Darth Vader. Im Unterschied zum ebenfalls als Plüschtier erhältlichen ‚Chestburster‘ aus Ridley Scotts Alien (1979) handelt es sich jedoch nicht um ein ironisches NerdSammlerstück. Der Begleittext fordert gezielt zur Empathie gegenüber dem vom Schicksal gebeutelten ‚Sith-Lord-zum-Liebhaben‘ auf:
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Abb. 2: ‚I’m a Cyborg, but that’s okay‘ – Superschurke zum Knuddeln (Play-by-Play, 2008).
Darth Vader war ein Lord der Sith und von daher ein Anhänger der dunklen Seite der Macht. Seitdem er, nach dem Kampf mit seinem ehemaligen Meister Obi-Wan Kenobi auf Mustafar, durch einen Lavastrom in Brand geriet und sehr schwere Verletzungen davontrug, musste er eine schwarze Rüstung und einen Helm aus Durastahl tragen. Diese Rüstung erhielt ihn am Leben. Durch seine Maske entstand beim Atmen ein unverwechselbares Geräusch, das beim Dreh mit einem Lungenautomaten eines Tauchers erzeugt wurde. Nachdem Vader den größten Teil seiner Glieder eingebüßt hatte, musste er nicht nur seinen bevorzugten Lichtschwert-Stil ändern, sondern er litt auch jeden Tag unter starken Schmerzen.²⁰
20 Produktbeschreibung des Amazon-Kuscheltiershop: http://www.amazon.de/Star-DarthVader-Pl%C3%BCsch-Stofffgur/dp/B001GHNOX6/ref=sr_1_2?s=toys&ie=UTF8&qid=13278971 38&sr=1-2 (14.02.2012).
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Die Umsetzung Vaders als Plüschfigur, einem Format, das in den frühen 1980er Jahren noch Yoda und E.T. vorbehalten war, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen mit der Figur verbundenen popkulturellen Assoziationen. Einerseits soll er als Plüschfigur oder in dem Lego-Animationsfilm The Padawan Menace (USA 2011) als ‚lustiger Halunke‘ mit kleinen Charakterschwächen, vergleichbar dem asozialen, aber doch liebenswerten Anarcho-Roboter Bender aus der Zeichentrickserie Futurama (seit 1999) wahrgenommen werden. Andererseits schreckt Anakin nach dem Wechsel auf die dunkle Seite in Revenge of the Sith in einer allzu forcierten Szene nicht davor zurück, unschuldige Kinder zu massakrieren und lädt Schuld auf sich, die ein episches Drama erfordern würde. Das mit ersterer Variante verknüpfte Menschenbild geht davon aus, dass es sich bei bösartigen Charakteren lediglich um fehlgeleitete oder missverstandene Existenzen handelt. Wie die ewigen Verlierer in den Cartoons, etwa der gegenüber der Maus Jerry stets den Kürzeren ziehende Kater Tom, handelt es sich auch bei Vader um einen nicht ganz unsympathischen Loser, dessen Pläne, das Universum zu unterwerfen, kontinuierlich entweder vom Imperator oder der Rebellen-Allianz durchkreuzt werden. Die in den ersten Filmen ursprünglich noch unheimliche Maske und Panzerung wird wie im Fall der Plüschfigur so weit anthropomorphisiert, dass der ehemalige Superschurke eher anrührend als bedrohlich wirkt. Das mit der gesteigerten Fallhöhe Anakins in den Prequel-Kinofilmen verbundene zweite Menschenbild verfügt hingegen über eine besonders schicksalhafte und dramatische Komponente. Die Existenz als Darth Vader erscheint als biomechanisches Fegefeuer, aus dem Anakin erst durch sein Selbstopfer im Finale von Return of the Jedi erlöst wird. Der zwischen Comic-Bösewicht und tragischer Figur changierende Darth Vader aus der ersten Trilogie scheint angesichts dieser beiden konträren Pole ausgedient zu haben. In den nach Abschluss der Prequels erschienenen Comics, Videospielen und Romanen erweist er sich entweder als tollpatschiger Möchtegern-Usurpator oder sein zerrissenes Innenleben wird in den Mittelpunkt der Handlung gerückt. Ein holistisches Menschenbild lässt sich aus diesen beiden Tendenzen nicht mehr ableiten. Die erste Variante erscheint entweder zu ironisch gebrochen oder zu niedlich, und die zweite erfordert einen Bedeutungsüberschuss, der dem verspielten Charme der ersten Star Wars-Trilogie zuwiderläuft. Der Widerstreit dieser beiden Menschenbilder kann im Expanded Universe zu produktiven Ergebnissen führen: In dem Videospiel The Force Unleashed (2008) löst Vader unabsichtlich jene Rebellion aus, die schließlich das Imperium und ihn selbst zu Fall bringen wird. Auf seiner Suche nach einem Junior-Partner zum Sturz des Imperators erhält er sowohl im Comic Vector (2008) von einer aus dem Kälteschlaf befreiten Jedi-Ritterin als auch von seinem geheim gehaltenen Adoptivsohn in The Force Unleashed deutliche Absagen. Vergleichbare Angebote
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an Luke und Padmé, die in The Empire Strikes Back verstörend und in Revenge of the Sith zumindest noch dramatisch wirkten, erscheinen in ihrer redundanten Form eher unfreiwillig komisch und lassen die dunkle Seite der Macht nicht mehr dämonisch, sondern lächerlich erscheinen. (Bezeichnenderweise wird Vader im Videospiel The Force Unleashed vom vielseitigen Chad Vader-Darsteller Matt Sloan gesprochen.) Der Anakins innere Konflikte aufgreifende Roman Rise of the Dark Lord (2005), in dem Vader nach seiner Verwandlung unter Minderwertigkeitskomplexen leidet und sich als ausgenutzter Handlanger des Imperators wähnt, verfolgt zwar als Vertiefung des zweiten mit der Figur assoziierten tragischen Menschenbildes eine interessante Prämisse. Nach einigen weiteren Variationen dieses Themas erscheint Vaders Innenleben jedoch zunehmend berechenbar und erinnert stärker an die redundanten Konflikte einer Soap Opera als an eine berührende Tragödie. In geschickter Weise nutzt die YouTube-Satire Chad Vader die impliziten Spannungen der Figur für komische Zwecke aus: Sie versetzt den Sith-Lord als Day-Shift-Manager in einen Provinz-Supermarkt in Wisconsin. In diesem alltäglichen Kontext erscheinen die Manierismen eines Superschurken nicht mehr dämonisch, sondern muten sehr schnell absurd an. Der anspielungsreiche Humor der Serie basiert nicht zuletzt auf der Inkongruenz zwischen dem aus The Empire Strikes Back übernommenen Verhalten und dem verschlafenen, um eine angenehme Arbeitsatmosphäre bemühten Umfeld des Empire Markets. Weder kann der Filialleiter des Ladens verstehen, weshalb ihn Vader mit „my master“ anspricht, noch erscheint es besonders angemessen, im Schulungsvideo für neue Angestellte einem Spion der Konkurrenz mit dem Laserschwert die Hand abzutrennen oder einen lästigen Kollegen in den Würgegriff zu nehmen. Dem Milieuwechsel entsprechend erscheint Vader, gerade weil er die vertrauten großspurigen Gesten beibehält, nicht mehr bedrohlich, sondern auf nahezu anrührende Weise manieriert und verkorkst. Kurz: Die fiktive Figur Darth Vader liegt in mehreren widersprüchlichen Varianten vor, ihre Darstellungen ergeben kein in sich geschlossenes Bild. So verdeutlicht schon Lucas‘ nachträglich hinzugefügte Hintergrundgeschichte, dass der dunkle Lord und Podrennen-Experte wie eine serielle Comicfigur immer wieder neu modifiziert werden kann, obwohl das Franchise scheinbar eine kontinuierliche Entwicklung der Figuren vorgibt. Seine mit dem Auteur-Siegel versehene Auslegung steht neben zahlreichen anderen Varianten. Auf der diegetischen Ebene bietet der Charakter seit Abschluss der Prequels in erster Linie Variationen dreier konträrer Menschenbilder, dreier Erklärungen des ‚Bösen‘ im Menschen: das des launischen Superschurken, der in A New Hope als ebenso imposanter wie comichafter Handlanger des unerklärlichen Bösen eingeführt wurde, das des tragischen Helden, dessen letzte Reste von Menschlichkeit in der biomechanischen
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Panzerung des Sith-Lords gefangen sind, und das des Bösewichts als lächerlichem Loser. Eine stringente dramaturgische Verbindungslinie zwischen diesen drei Varianten Vaders gibt es (noch) nicht. Auf der extradiegetischen popkulturellen Ebene hat sich der dunkle Lord als ikonografisches Zeichen für das zu theatralischen Gesten neigende Böse längst verselbstständigt. Wenn er in Werbespots auftritt, sich auf einem im Internet kursierenden Bild unter eine Gruppe Priester mischt oder auf einem Fahrrad in Chad Vader, das eigene Thema summend, durch den Tiefschnee zur Arbeit im Empire Supermarket fährt, spielt der Konflikt um Anakin Skywalkers in der Maschine begrabenen Seele keine Rolle mehr. Umgekehrt kann die auf ein jüngeres Zielpublikum ausgerichtete, bisher vier Staffeln umfassende Animationsserie Star Wars – Clone Wars (seit 2008) unbegrenzt die Abenteuer des heldenhaften Anakin weiter ausbauen, ohne seinen späteren Wechsel auf die dunkle Seite einbeziehen zu müssen. An der Entwicklung Vaders zeigt sich ein zentraler Aspekt transmedialer Figuren: Die mit ihnen verbundenen Menschenbilder reflektieren den jeweiligen popkulturellen und gesellschaftlichen Zeitkontext und erweisen sich als ähnlich flexibel wie die mit ihnen verknüpften Erzählungen. Lucas schuf mit dem neurotischen Antihelden der Prequels eine Auslegung der Figur, die in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild als Superschurke nicht angelegt war, sondern sich erst aus den kulturellen Diskursen um die erste Trilogie ergab. Welche Variante Vaders jeweils Gültigkeit besitzt, bleibt, wie Obi-Wan Kenobi über die mehrfach verdrehte Wahrheit über Lukes Vater in Return of the Jedi anmerkt, eine Frage des Standpunkts. Die widersprüchliche Charakterisierung Vaders bemüht sich, wie die Analyse gezeigt hat, einerseits um einen Exzess klassischer Assoziationen: Der dämonische Schurke der ersten Trilogie wurde mit dem Satan aus Miltons Paradise Lost verglichen. Die Auslegung als Campbellscher Archetyp betrachtet ihn als ‚Schatten‘ des Protagonisten Luke. Mit den Prequels soll Vader schließlich sogar selbst zum tragischen Helden werden: Revenge of the Sith bringt den Faustschen Pakt mit dem Teufel, aus Selbstsucht oder aus Angst vor dem Verlust geliebter Menschen, ins Spiel. Zugleich integriert Lucas Bezüge auf die verunsicherten und neurotischen Antihelden des New Hollywood. Das forcierte Bemühen um Ernsthaftigkeit in den Prequels fällt dem eigenen Pulp-Erbe jedoch spätestens zum Opfer, wenn der wie Frankensteins Monster aus organischen und künstlichen Teilen zusammengebaute Vader in den letzten Einstellungen von Revenge of the Sith zum ersten Mal ein melodramatisches „Noooooooo!“²¹ ausruft. Hier siegt der Camp, der stilisierte Spaß am schlechten Geschmack aus Sympathie für die gescheiterten Ambitionen.
21 George Lucas fügte 2011 in der Blu-ray-Fassung von Return of the Jedi, als sich Vader gegen
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Vaders ikonographische Maske wird in verschiedenen medialen, narrativen und ästhetischen Kontexten also zum jeweils variablen Zeichen für sehr unterschiedliche assoziierte Menschenbilder, von der ursprünglichen Verkörperung des in der Figur des Cyborg eingeschriebenen technokratischen Bösen und dem tragischen, der Versuchung erlegenen Helden bis hin zum unfreiwillig komischen, auf Grund seiner permanenten Fehlschläge vielleicht sogar bedauernswerten Schurken, der zwar nicht als Jedi-Ritter, doch zumindest als Plüschfigur rehabilitiert wird.
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den Imperator wendet, noch ein weiteres „Noooooo!“ hinzu, durch das sich der ehemalige Superschurke endgültig in eine tragikomische Witzfigur verwandelte.
Teil 3: Menschenbilder und kulturelle Kontexte
Daniel Hornuff
Der Spektakelfötus Zur Bildgeburt des Ungeborenen Abstract: Sonograms belong to the most persuasive images in our culture. Since the development of 3D and 4D ultrasonic methods – for medical purposes entirely redundant, but visually spectacular – the fetus is identified almost automatically as a human being. Therefore it is not by chance that the acceptance of the unborn as an autonomous legal person coincides with the appearance of new methods of visualization and that anti-abortionists worldwide support their claims mainly with sonographic visual material. The article analyzes the image- and media history of the unborn from early embryological studies in ancient times to early modern midwife books and finally to digitally generated fetus simulations which even appear in scientific magazines and in fact are exclusively born for the image. The iconography of the unborn intends almost continuously subjectivication, individualization and personalization of what is in fact invisible. With the fetus in the image it does not just conceive one image of a human being but a human being as image.
Eine Analyse der medialen Repräsentation des Ungeborenen scheint angehalten, zunächst die theoretischen Bedingungen zu klären, unter denen über das Ungeborene zu sprechen ist. Immerhin hat man es mit einem Gegenstand zu tun, der den allerwenigsten jemals als Körper, als physisches Gegenüber sichtbar wird. Sowohl Embryo als auch Fötus teilen sich in der Regel einzig über eine bildmediale Vermittlung mit. Folglich gibt es für gewöhnlich keine Möglichkeit, den Gegenstand des Bildes mit seinem abgebildeten Ursprungsobjekt zu vergleichen. Aus semiotischer Perspektive erscheint das Ungeborene als referenzlose Visualisierung. Sie verweist auf nichts außerhalb ihr Liegendes, da das Außen, der Körper des Ungeborenen, direkten Zugriffen entzogen bleibt. Das Ausscheren des bildgewordenen Ungeborenen aus dem System von Signifikant und Signifikat gehört zu seinen konstitutiven Merkmalen, ein Umstand, der nicht zuletzt durch den enormen medialen Konstruktionsaufwand sonografischer Geräte bestimmt wird. Und dennoch: In der Alltagserfahrung tritt das Bild des Ungeborenen gerade nicht als referenzloses Objekt auf, fasst es doch vor allem die Laienrezeption reflexartig als Spur eines Unsichtbaren, aber unleugbar Vorhandenen. Luc Boltanski zitiert in seiner Soziologie der Abtreibung einen Auszug aus einer Studie
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über Schwangerschaftsdiagnosen. Die Soziologin Bénédicte Rousseau hatte über dreihundert Pränatalberatungen beobachtet und einige Routine-Ultraschallaufnahmen teilweise wörtlich dokumentiert: Der Arzt (legt die Sonde auf den Bauch der Frau und blickt auf den Bildschirm vor ihm): ‚Also, das Baby liegt quer, da ist der Kopf, der Rücken quer / Die Patientin: ‚Ja, das sieht man gut!‘ (auf dem Bildschirm sieht man ein kleines Etwas, das sich bewegt, sich ausweitet und sich dann schnell wieder zusammenzieht.) […] Der Arzt: ‚Das ist das Blut, das durch sein Herz fließt‘. / Die Patientin (zu ihrem Mann, der neben ihr sitzt): ‚Schau, da ist der Mund, siehst Du?‘ […] Der Arzt: ‚Möchten Sie das Geschlecht wissen?‘ / Die Patientin: ‚Ja‘ / Der Arzt (bewegt die Sonde): ‚Es ist ein Mädchen.‘ / Die Patientin: ‚Ah!‘ / Der Arzt: ‚Gut, das ist in Ordnung, bestens‘.¹
Man mag diese Szene für ein banales Beispiel aus der alltäglichen Praxis halten. Und doch veranschaulicht sie, dass weniger das Bild als vielmehr dessen Einbettung in Situation und Kontext die Beziehung zu ihm bestimmt. Der Arzt tritt als eine Art Kryptologe des Bildes auf. Er entschlüsselt das scheinbar Unentwirrbare – das „kleine Etwas“ –, indem er einzelne Schattenverläufe als die körperlichen Merkmale des Ungeborenen identifiziert. Erst so scheint sich aus den abstrakten Einzelelementen – wohl „kaum mehr als ein harter zerfranster Schatten“², wie Barbara Duden einmal schrieb – ein konkretes Gesamtbild zu ergeben, an dessen Vollkommenheit keine Zweifel bestehen: Wie selbstverständlich bezeichnet der Arzt die Darstellung als „Baby“, bestimmt also den aktuellen Zustand, indem er ihn in ein zukünftiges Entwicklungsstadium projiziert. Damit hat sich für die werdenden Eltern ihr Kind gezeigt. Aus dem Bild eines Irgendetwas wird das Bild eines Menschen. Beschlossen wird die Diagnose durch den Hinweis, wonach kein positiver Befund festzustellen sei: „Gut, das ist Ordnung, bestens“ ist die ärztliche Signatur, mit der heute intrauterine Normalzustände zertifiziert werden. Solange Abweichungen ausbleiben, ist das innere Wunschbild der werdenden Eltern mühelos in Übereinstimmung mit dem äußeren Diagnosebild zu bringen. Es kommt zu einer Vermählung zwischen der geschürten guten Hoffnung und einer vermeintlich objektiven Einsicht. Das Gefühl einer tatsächlichen Einlösung des Erwarteten führt zur Aneignung des Bildes. Fortan herrscht eine Form der Gewissheit, für die es nicht mehr nur das „kleine Etwas“, sondern ein personales Zentrum gibt.
1 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens. Frankfurt: Suhrkamp 2007. S. 314. 2 Duden, Barbara: Die Gene im Kopf – der Fötus im Bauch. Historisches zum Frauenkörper. Hannover: Offizin 2002. S. 105.
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Vor diesem Hintergrund scheint nachvollziehbar, warum das Ungeborene – sowohl in den USA als auch in Deutschland – just zu jener Zeit als eigenständiges Rechtssubjekt installiert wurde, als die ersten Sonogramme auch dem Laienblick ‚ein Kind‘ ohne Mutter zu offenbaren schienen. Feministische Positionen, wie etwa Barbara Duden oder auch Verena Krieger, monieren daher die innere Kausalbeziehung zwischen dem „Sehen auf Befehl“³, einer „Elimination der Frau“⁴ und der Instandsetzung des Ungeborenen als ein mit sämtlichen Grundrechten, insbesondere dem Recht auf Leben, ausgestattetem Subjekt. Ihr Einspruch richtet sich gegen die angenommene Überdominanz des Visuellen, die als Grundübel einer zunehmenden Medialisierung der Schwangerschaft gewichtet wird. Wenn das Werden im Bauch zur Person im Bauch stilisiert werde, komme es unweigerlich zur Auslagerung der Gravidität aus dem Körper, es entstünden „fetuses without mothers“⁵, so die Kritik. Damit bedinge der Aufstieg der technisierten Visualisierung den Niedergang der natürlichen Körperlichkeit, und die Wertsteigerung der Innensicht führe zur Abwertung der reinen Fühl- und Tastbarkeit. Als These soll angedacht werden, dass die Bildgeschichte des Fötus in wesentlichen Ausprägungen tatsächlich von der inszenatorischen Strategie gekennzeichnet ist, einen Menschen im Sinne eines postnatalen Subjekts zur Sichtbarkeit zu bringen. Als Subjekt wird dabei ein sich selbst unterstelltes, das heißt weitestgehend unabhängiges, aus sich selbst heraus existierendes Wesen verstanden, dessen Bild körperliche Autonomiestellung suggeriert. Seit den ersten überlieferten Darstellungen aus der Spätantike bis hinein in aktuelle Werbekampagnen, in denen das Ungeborene als kindhafter Sympathieträger – als Spektakelfötus – Verwendung findet, lassen sich Hinweise auf mediale Individualisierungs-, Subjektivierungs- und damit Personalisierungsstrategien finden.⁶
3 Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. Hamburg: Luchterhand 1994. S. 23–35. 4 Krieger, Verena: Der Kosmos-Fötus. Neue Schwangerschaftsästhetik und die Elimination der Frau. In: Feministische Studien 2 (1995). S. 8–24, hier S. 9. 5 Duden, Barbara: The Fetus on the ,Farther Store‘. Toward a History of the Unborn. In: Fetal Subjects, Feminist Positions. Hrsg. von Lynn M. Morgan und Meredith W. Michaels. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1999. S. 13–25, hier S. 18. 6 Die nachfolgenden Darstellungen skizzieren die Komplexität einer Bildgeschichte des Ungeborenen nur in stark selektierter und damit verknappter Form. Derzeit bereitet der Autor eine größere Studie zum Thema vor. Wichtige Bezugspunkte für die hier vorgelegten Darstellungen sind: Newman, Karen: Fetal Positions. Individualism, Science, Visuality. Stanford: Stanford University Press 1996 sowie Duden, Barbara, Jürgen Schlumbohm u. Patrice Veit (Hrsg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002.
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Abb. 1: Soranus von Ephesos: Erste Darstellung der Kindslagen, übertragen von Mustio (im 6. Jh. n. Chr.).
Die ersten Zeugnisse einer Kindslagendarstellung sind aus der spätgriechischen Antike überliefert. In seinem Lehrbuch für Hebammen widerspricht Soranos von Ephesos, ein überwiegend in Rom praktizierender Arzt und Medizinschriftsteller, zunächst einer weit verbreiteten Meinung. Denn bisher – und noch bis in die frühe Neuzeit hinein – wurde der Uterus wiederholt als wildgewordenes Tier beschrieben. Es gehörte zum wissenschaftlichen Allgemeingut davon auszugehen, dass die Gebärmutter geradezu zerstörerische Triebkräfte freisetze, die sich nicht wesenhaft von animalischen Genitalen unterscheide. Obwohl sich Soranus gegen die vorherrschenden mystizistischen Deutungen aussprach und für vergleichsweise empirische Zugänge votierte, legt eine Bilderserie nahe, dass er sich nicht vollständig tradierten Vorstellungen verschloss. In einem kleinen Lehrbuch für Hebammen, dessen soranisches Original zwar verschollen, aber durch eine lateinische Übersetzung⁷ sehr wahrscheinlich erhal-
7 Es wird davon ausgegangen, dass Soranos’ Studie und seine Zeichenblätter durch einen gewissen Mustio im 6. Jh. n. Chr. übersetzt und – wenn auch sicher nicht in vollständiger Abbildungstreue – kopiert wurden. „Die Bearbeitung der Schrift des Mustios ist nun glücklicherweise samt der Bebilderung im Codex Bruxellensis 3714 (um 900 n. Chr.)
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ten ist, finden sich Gebärmutter-Darstellungen, die, mit Spitzohren oder hörnerähnlichen Wölbungen bestückt, an Tierköpfe erinnern. Zudem ist – wie später auch bei Leonardo – vom Mutterkörper nichts zu sehen, vielmehr suggerieren die Zeichnungen frei schwebende Uteri, die wie Gasluftballons ihre Bahnen ziehen. Folglich offenbart die emblematische Grafik keine übernatürlich gewalttätigen Gebärmütter, bestätigt aber dennoch deren autonome Stellung. Die illustrierende und damit didaktisch-typisierende Absicht der Blätter lag in der Veranschaulichung verschiedener, nicht zuletzt problematischer Lagemöglichkeiten der Ungeborenen. So sollten den Hebammen konkrete Eingriffs- und Behandlungsmöglichkeiten gegeben werden. In diesen Darstellungen bekamen die Hebammen alles andere als einen Fötus im heutigen Sinne – schon gar nicht ein ‚kleines Etwas‘ – präsentiert. Stattdessen vollführen adult-maskuline Körper mit geschlossenen Augen bemerkenswert akrobatische Übungen. Ganz offenbar ging der heutigen Rede vom ‚pränatalen Klassenzimmer‘, in dem Ungeborene mit vorwiegend klassischer Musik neuronal vorgebildet werden sollen, ein antiker ‚pränataler Gymnastikraum‘ voraus. Die von Mustio gestalteten Exemplare sehen aus wie ein Altherrenverein der Nudistenbewegung, der sich in regelmäßiger Körperertüchtigung gemeinschaftlich stählt. Selbst die banalste Steißlage erscheint noch als choreografierte Ausdrucksbewegung, und die Andeutung einer Massenkopfgeburt wird harmonisch gerahmt von zwei Salti schlagenden Randföten. Den evolutionstheoretischen Hintergrund zu den Darstellungen lieferte die Lehre der Präformation. Soranus beschrieb sie, indem er darauf verwies, wie bereits unmittelbar nach der Empfängnis, „wo der Zeugungssaft noch formlos ist“, sämtliche Bestandteile des kommenden Menschen im „Samen“ enthalten seien. Dieser durchlaufe, nachdem er sich an der Gebärmutter erst „festgehalten“ und dann „versteckt, verborgen“ habe, eine Art Transformationsprozess, in dem sich das bereits Angelegte zu einem ganzheitlichen Wesen ausbilde: „Denn der Same verwandelt sich in ein Geschöpf, endlich auch Seele und hört als Samen ganz auf“. Menschwerdung und Beseelung des Heranreifenden vollzögen sich in einer äußerst heiklen Phase, in der bereits kleinste emotionale Beeinträchtigungen einen vorzeitigen Abbruch der „Conception“ einleiten könnten. Schon Soranus empfahl daher „jede übermässige Erregung und Bewegung des Körpers und der Seele“ zu vermeiden, da vor allem „Furcht, Trauer, plötzliche Freude und
überliefert“. Dierichs, Angelika: Von der Götter Geburt und der Frauen Niederkunft. Mainz: Zabern 2002. S. 121.
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Abb. 2: Jakob Rueff: Föten als Putti in misslicher Situation (1554).
überhaupt jede starke Gemüthserregung“ die Hauptgefahren einer gesunden Menschenreifung seien.⁸ Die hier dargestellte Entkopplung des Uterus vom Mutterkörper und die Figuration der Fötenmänner wurden also nicht als bloßes Phantasiegebilde konzipiert, um fehlende anatomische Kenntnisse auszugleichen. Vielmehr demonstrieren sie Soranus’ Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Urzeugungslehre, nach der Leben gewissermaßen ‚spontan‘ aus unbelebter Materie entstand. In den Zeichnungen verschränkt sich eine schematische Demonstrationsabsicht mit der präformistischen Evolutionstheorie, an deren empirischer Richtigkeit über viele Jahrhunderte kein Zweifel bestehen sollte. Dem Fötus wurden Subjektqualitäten verstärkt zuerkannt, als das anatomisch-medizinische Interesse im modernen Sinne entstand, als es also darum ging, die Faktizität des Körpers zu begreifen. Umso überraschender ist, dass
8 Ebd., S. 28–29.
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Abb. 3: Eucharius Rösslin: Die Wiederkehr des Homunkulus (1513).
gerade die zur Mitte des 16. Jahrhunderts massiv florierende pränatale Bilderwelt keine empirisch-physischen Tatsachen aufwies. Vielmehr bildete sich bereits hier eine bildmediale Rhetorik aus, die eine postnatale Entwicklungsstufe in den Uterus imaginierte, um einen gewordenen an die Stelle des werdenden Menschen zu setzen. Besonders anschaulich belegen das die Illustrationen in Jakob Rueffs 1554 erschienenem Trostbüchlein. Dort zeigt der Züricher Arzt unter anderem Zwillinge im Uterus, die an stattlich ausgebildete Knaben erinnern und mehr Ähnlichkeit mit barocken Putti als mit fötalen Formen aufweisen. Noch heute drängt sich der Eindruck auf, die Gestalten seien sich ihrer offenkundig verfahrenen Situation bewusst, zweifelten an der Möglichkeit, jemals durch den schmalen Schlund in das Licht der Öffentlichkeit treten zu können.⁹ Die bewusste Ausgestaltung physiognomischer Konturen und die gleichzeitige Ausblendung anatomischer Details suggerieren eine
9 Vgl. dazu: Krieger: Kosmos-Fötus, S. 20–21.
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sowohl körperlich gereifte als auch wesenhaft-charakterlich vergleichsweise ausdifferenzierte Entwicklungsstufe. Rueff, der mit höchster Wahrscheinlichkeit nie einen geöffneten schwangeren Körper gesehen hat, zeigt ganz offensichtlich nicht das Werden zweier Wesen. Der Prozess der Herausbildung wird überlagert durch die Ästhetik zweier figuraler Fertiggebilde. Rueffs Illustrationen geben somit nicht objektive Einsichtnahme, sondern die praktisch gewonnenen Beobachtungen der Hebammen und Geburtsheilkundler wieder. In einer stärker kennzeichnenden Form stattete erstmals der deutsche Arzt Eucharius Rösslin die Black Box Uterus mit einem anthropomorphisierten Körper aus. Die reduzierte, gleichsam typologisierte und deutlich schematisierte Darstellung spekulierte verstärkt auf eine visuelle Evidenzkraft, die begleitende, allzu detailgenaue Erläuterungen überflüssig machen wollte. Rösslin hatte mit seinem Ratgeber demnach auch nicht das gebildete Publikum im Blick, sodass seinen Bildern die Aufgabe einer Popularisierung durch die Mittel der ikonischen Simplifizierung zukam. Nicht nur sein persönlicher Rat, auch sein Fachbuch im Ganzen sollte nicht zuletzt durch besonders signifikante Bildbeispiele so aufbereitet werden, „das es den frawen verstendig sy / Sollent se zuflucht haben zu den doctores vnnd apoteckern“¹⁰. Ich meine, dass es sich bei solchen, die ikonographische Tradition des Homunkulus zitierenden Darstellungen noch nicht um den Versuch handelt, den Beleg einer explizit eigenmächtigen fötalen Existenz zu erbringen. Vielmehr scheint es überhaupt keinen etablierten Stilkanon, ja noch nicht einmal eine eigenständige Gestaltungsform des Fötus gegeben zu haben. Offenkundig bestimmte das Wissen um die körperlichen Merkmale eines geborenen (männlichen) Menschen¹¹ die Deutung über das Aussehen des Ungeborenen hinreichend. Es gab in den frühen Darstellungsversuchen schlicht kein intentionales Bedürfnis, die Form des faktischen Körpers zu fixieren, ebenso wenig wie es Zweifel an der Abbildgenauigkeit der Darstellungen gegeben haben dürfte. Die Bilder der Ungeborenen wurden nicht in Kategorien der Verifizierbarkeit, sondern unter der Prämisse einer intuitiven Analogisierungsleistung vom Post- zurück in den Pränatalzustand verhandelt. Zudem, so zeigt etwa die Körperhistorikerin Eva Labouvie, galt noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Schwangerschaft als nicht eindeutig diagnostizierbarer Zustand. Schwangerschaft war keine Sache
10 Rösslin, Eucharius: Der Swangeren Frauwen vnd hebamen Roßegarten. Faksimile-Druck nach dem Original (Straßburg 1513). Wutöschingen: Antiqua-Verlag 1994. O. S. 11 Der erste weibliche Fötus wurde 1799 durch Samuel Thomas Soemmerrings Zeichner Christian Koeck visualisiert, vgl. dazu weiter unten.
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Abb. 4: Leonardo da Vinci: Der hockende Knabe im Uterus der Kuh (1510–1513).
körperlicher Gewissheit, sondern eine Phase phantasievoller Empfindungen und gelebter – guter – Hoffnungen. Tatsächlich war es Frauen möglich, lediglich ein bisschen schwanger zu sein. So, wie man mit einer Idee über einen gewissen Zeitraum schwanger ging, um diese entweder praktisch handelnd zu realisieren oder wieder zu verwerfen, so ließ sich eben auch ein Kind in den eigenen Körper einund wieder ausdenken.¹² Das ‚gestockte Blut‘, in dem sich das leichte Schwangergehen als physische Vorstellung manifestiert hatte, konnte – bewusst herbeigeführt oder aber durch Zufall bedingt – wieder verflüssigt werden. So ließ sich einer konkreteren Indizienlage vorbeugen, und der ‚Anflug von Schwangerschaft‘ weitete sich nicht zur Frucht im eigenen Körper aus. Es blieb bei einem weitestgehend „ungewissen Zustand“¹³.
12 Vgl. dazu: Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln/ Wien/Weimar: Böhlau 2000. 13 Duden: Frauenleib, S. 22.
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Abb. 5: Andreas Vesalius: Das Wickelkind (1543).
Selbst ein scheinbar vorwiegend an physischer Präzision interessierter Anatom wie Leonardo da Vinci koalierte das, was er sah, mit dem, wie er es sich dachte. Auch bei ihm scheint sich der Fötus in einem Innenraum eingerichtet zu haben. Eine beigefügte Notiz erhärtet den Verdacht, dass das Ungeborene nun explizit als Subjekt vorgestellt werden sollte. Leonardo vermerkte, dass seine Arbeit an der Gebärmutter herausstellen solle, „wie das Kind (!) sie bewohnt, und in welchen Stadien es dort haust“¹⁴. In Hockerstellung und auf seiner Nabelschnur
14 Zitiert nach: Duden, Barbara: Zwischen ‚wahrem Wissen‘ und Prophetie: Konzeptionen des Ungeborenen. In: dies./Schlumbohm/Veit: Geschichte des Ungeborenen. S. 11–48, hier S. 21.
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sitzend wird der Fötus nicht als abhängiger Teil des ihn umgebenden Körpers, sondern als ein von ihm gelöstes, geradezu autonomes Ganzes ausgeführt. Die Verdrängung des Mutterkörpers und die Betonung einer Distanzierungsleistung werden eingeschärft durch die Tatsache, dass es sich bei den Umwandungen nicht um die inwendigen Glieder eines Menschen, sondern um den Uterus einer Kuh handelt. Demnach geht es, wie Leonardo an anderer Stelle bemerkt, um das „Dasein des Kindes“¹⁵ in seinem vorgeburtlichen Stadium. Es wirkt, als wollte Leonardo eine Aussage über den Zeitpunkt des Lebensbeginns treffen. Die emblematische Struktur des Blattes scheint veranschaulichen zu wollen, dass das Mensch-Sein nicht notwendig an ein äußeres In-der-Welt-Sein gekoppelt sein muss. Schon in der Pränatalphase umschließt ihn ein Mikrokosmos, und die Geburt markiert folglich lediglich den Übertritt vom maternalen Weltinnenraum in den sozialen Weltaußenraum. Obwohl Leonardos Fötus-Tafeln heute zu den wahrscheinlich bekanntesten frühmodernen Darstellungen des Ungeborenen gehören, kam lange Zeit nicht ihnen, sondern den Holzschnitten des flämischen Anatomen Andreas Vesalius eine Vorbildfunktion zu. Im Gegensatz zu Leonardo verfolgte Vesalius nicht in erster Linie die Sichtbarmachung des fötalen „Daseins“. Ihm war vielmehr an der zunächst effektvollen Entblätterung des Ungeborenen aus den Organen der Mutter gelegen. Folglich handelt das betreffende Kapitel in der Fabrica Corporis Humani vom „Foetus und besonders von seinen ihn einhüllenden Decken“¹⁶. In einer anderen Passage werden die umschließenden Organe sogar ausdrücklich als „Windeln“ bezeichnet, was den Schluss nahe legt, dass die inszenierte Befreiung des Fötus aus dem Bauchinneren als direkte Geburt in ein Kindesstadium gedeutet wird. Die Mutter wird hier zwar nicht zugunsten eines Kuhuterus invisibilisiert, aber doch soweit reduziert, dass ihr offensichtlich nunmehr die Funktion eines Urin und Fäkalien auffangenden Stück Stoffes zukommt. Am Ende der kurzen Sequenz erscheint das Ungeborene als idealtypisch vollausgebildetes, dennoch etwas fettleibiges, zudem aber erstaunlich akkurat frisiertes Männlein. Es dürfte gerade beschäftigt sein, die Nabelschnur zu durchtrennen, um so seinen Willen zur Autonomisierung effektvoll finalisieren zu können.
15 Zitiert nach ebd., S. 23; im Original wird das Ungeborene sogar als „il putto“ bezeichnet – mit einer Zuschreibung also, die das körperästhetische Moment der postnatalen Kindhaftigkeit hervorhebt. 16 Zitiert nach ebd., S. 24.
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Deutlich wiederholt sich in der vorgeburtlichen Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts der präformistische Evolutionsbegriff. So sehr die Prämisse der Epigenese, also die schrittweise Entfaltung des Lebens, zur allmählich anerkannten Entwicklungstheorie ausgebaut wurde, so sehr bezeugen die Bilder der Ungeborenen das Gegenteil: Bereits unsichtbar im Ei, so will man symbolisch verdichten, muss der zwar winzige, aber vollkommene Mensch vorausgesetzt werden. In Prägnanz fasst die Historikerin Nadia Maria Filippini das wissenschaftstheoretische Programm der präformistischen Ästhetik: „Der Blick des Forschers erkannte genau das, was die Präformationstheorie suggerierte. Der Forscher ‚sah‘ das, was er zu sehen erwartete, bekräftigte in der graphischen Umsetzung dieses Bild und gab ihm eine definitive Form“¹⁷. Die Unsichtbarkeit des Menschen war also kein Beleg für seine Absenz oder gar Inexistenz, im Gegenteil: Was pränatal uneinsehbar blieb, war lediglich dem unterentwickelten Gesichtssinn des Anatomen anzulasten. Wie entschieden die Präformationsannahme die Sichtbarkeit von der physischen Existenz entzweite, belegt ein Blick in das Werk des Anatomen Giovanni Battista Bianchi. Bianchi wandte sich nun ausdrücklich an das medizinische Fachpublikum. Doch selbst den Spezialisten wurde keine Abbildgenauigkeit geliefert. Vielmehr schuf der italienische Gelehrte ein visuelles Paradebeispiel präformistischer Annahmen. Obwohl Bianchi „über Jahre hinweg […] abgegangene Embryonen und Föten unterschiedlicher Wachstumsstadien gesammelt“, archiviert und miteinander verglichen und so „ein stattliches Museum aus toten Früchten aufgebaut“ hatte, gab er im Bild weitestgehend das wieder, was er im Lichte seiner favorisierten Entwicklungstheorie erwartet hatte. Entsprechend notierte er im Begleittext: „An dem Punkt, der vorher allen Augen unzugänglich war, waren in Wahrheit die einzelnen und unterschiedlichen Teile des Embryos erhalten. Doch dann entfalten sich diese weiter, werden sichtbar und können sich zu einer Masse vergrößern“¹⁸. Dass die Vorstellung und nicht die Beobachtung die Deutung des Forschers lenkte, legen auch Bianchis Anmerkungen zu den ersten drei Abbildungen nahe. Dort beschreibt er das Ei, wie es vor der Befruchtung erscheint, wie es von der Unreife zur Reife gelangt und welche Gestalt es schließlich unter dem mikroskopischen Blick nach der Befruchtung aufweist.¹⁹
17 Filippini, Nadia Maria: Die ‚erste Geburt‘: Eine neue Vorstellung vom Fötus und vom Mutterleib (Italien, 18. Jahrhundert). In: Duden/Schlumbohm/Veit: Geschichte des Ungeborenen. S. 99–128, hier S. 100. 18 Ebd., S. 101. 19 Vgl. hierzu die Figuren I bis III.
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Abb. 6: Giovanni Battista Bianchi: Ergebnis der Präformationslehre (1741).
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Bianchi spart keinesfalls aus, dass vom Ungeborenen noch nicht einmal kleinste Merkmale sichtbar sind. Doch was andere an der körperlichen Präsenz des Ungeborenen zweifeln ließe, ist für Bianchi Anlass für eine lapidare Erklärung, wonach „‚der Embryo‘ in dieser Phase ‚nicht sichtbar ist‘, obgleich er anwesend ist“²⁰. Nur wenige Tage später könne selbst der Laie mit bloßem Auge die Züge eines fötalen Antlitzes erkennen. Und so schwingt, als die finale Wachstumsphase erreicht wird, das frei stehende Ungeborene mit seinem NabelschnurLasso die Plazenta umher, um sich dann kauernd auf seinen Auftritt ins Rampenlicht des äußeren Lebens vorzubereiten. Den eigentlichen Parasiten wandelte Bianchi zu einer Art Pränatal-Unternehmer, der selbstständig tätig ist und somit bereits vor seiner Geburt fest mit beiden Beinen im Leben steht. Das Ungeborene galt spätestens zur Mitte des 17. Jahrhunderts als etabliertes und wissenschaftlich hinlänglich legitimiertes Bildvokabular. Es war folglich nur ein kleiner Schritt zur Spektakelmaximierung der Ungeborenen-Ikonographie. Der deutsche Anatom Samuel Thomas Soemmerring legte im Jahr 1799 den Bildund Textband Icones embryonum humanorum vor. Erstmalig stellte, wie Ulrike Enke eindrucksvoll gezeigt hat, eine Tafel die Entwicklungsgeschichte vom Embryo zum Fötus dar, ohne auf umliegendes Gekröse achten zu müssen. Gemeinsam mit dem Mainzer Zeichner und ehemaligen Modellierer Christian Koeck sollte eine siebzehnstufige serielle Reihung geschaffen werden, aus welcher man, so Soemmerring, mühelos „Wachstum und Entwicklung“²¹ des Ungeborenen nachverfolgen könne. Soemmerring spricht bewusst von einer metamorphosis, um eine Abkehr von sowohl präformistischen als auch epigenetischen Theorien zu betonen. Ihn interessierten die Gestaltänderung, die Formen der Umbildung. Zudem bekannte er sich im Begleittext der Icones ganz eindeutig zu seinen ästhetischen Ambitionen: „Ein jedes Lebensalter“, so schrieb er, „erfreut sich seiner ihm eigenen Wohlgestalt und Schönheit, die von jener Schönheit, die wir im vorausgehenden oder folgenden Alter bewundern, sehr verschieden ist“²². Soemmerring begann die künstlerische Veredelung bereits bei der Auswahl der Exemplare. Als Vorteil konnte auch er die Möglichkeit verbuchen, auf eine aus mehreren Instituten zusammengetragene Sammlung abgegangener Körper zurückzugreifen. Die in Weingeist konservierten Totgeburten stellten demnach das Material, aus dem die ersten Schritte menschlichen Lebens geformt wurden.
20 Filippini: ‚Erste Geburt‘, S. 105. 21 Enke, Ulrike (Hrsg.): Samuel Thomas Soemmerring. Schriften zur Embryologie und Teratologie. Basel: Schwabe 2000. S. 173. 22 Ebd.
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Abb. 7: Samuel Thomas Soemmerring: Die Idealschönen (1799).
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Soemmerring achtete mit peniblem Auge darauf, nur solche ‚Vorbilder‘ aufzunehmen, an denen er keine Deformationen entdecken konnte. Ausdrücklich formulierte er einen ästhetischen und normativ verbindlichen Regelkanon: „Dann wählte ich […] nur diejenigen aus, [die] nicht nur ohne jede schwere Entstellung waren, sondern die sich auch durch rechte Harmonie der Glieder und, unter Berücksichtigung des Alters, durch Schönheit auszeichneten und bei der Behandlung keinerlei Schaden genommen hatten“²³. Damit war die bildnerische Leitformel ausgegeben, die Anatom und Zeichner zu einem höchst konstruktivistischen Produktionsverfahren motivierten: Schließlich hatten sie „bloß das zu sehen, was eigentlich ausgedruckt werden soll, und Kleinigkeiten, die nicht zur Sache gehören, oder wohl gar bloße Zufälligkeiten wegzulassen“²⁴. Die Tafel und die an sie gerichteten Hoffnungen auf eine Bildgeburt des Ungeborenen offenbaren ein klassizistisches Harmoniebedürfnis; und auch die zeitgenössischen Kommentare belegen massenweise, dass Soemmerrings Föten – wie in einen tiefen Zufriedenheitsschlaf gesunken – ihren toten Ursprung tatsächlich vergessen ließen und an vorgeburtliche Vitalkräfte erinnerten. In die pränatale Bebilderung war nicht nur die Grammatik des Guten und Schönen, der harmonischen Ausgewogenheit und wohlgeformten Proportion, sondern auch die Syntax menschlichen Lebens eingeschrieben. Die bis heute wohl populärste Subjektivierungsleistung auf dem Feld der pränatalen Bildkultur schuf der schwedische Fotograf Lennart Nilsson. Sven Stollfuß spricht mit Blick auf Nilssons berühmte Fötus-Serie im amerikanischen Life Magazine aus dem Jahr 1965 von einem „Konzept der ‚induzierten Sichtbarkeit‘“²⁵, mit der den visuell zwar spektakulären, jedoch kaum erkenntnisfördernden Darstellungen epistemische Qualitäten zugesprochen werden sollten. Und tatsächlich schien die gewünschte – und zeitgeschichtlich offenkundige – Kongruenz zwischen dem „Kosmos-Fötus“²⁶ auf dem Titelblatt und dem menschlichen Traum eines kosmonautischen Ausflugs kein Zufall gewesen zu sein. Das pränatalintrauterine und das postnatal-extraterrestrische Dasein werden zum Idealzustand einer ästhetisch und anthropologisch vollkommenen Lebensform stilisiert. Nilssons Bildkultur beansprucht die Autorität einer neuartigen Wissenskultur
23 Ebd., S. 173. 24 Ebd., S. 177. 25 Stollfuß, Sven: Inside the Mother’s Body. Lennart Nilssons ‚induzierte Sichtbarkeiten‘. In: Blickwechsel. Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur. Hrsg. von Kathrin Friedrich u. Sven Stollfuß. Marburg: Schüren 2011. S. 97–111, hier S. 99–100. 26 Krieger: Kosmos-Fötus, S. 8–24.
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Abb. 8: Lennart Nilsson: Extraterrestrische Föten (1965).
und bedient sich hierzu Mitteln, die nahtlos der Fiktionskultur der UngeborenenBilder entnommen wurden.²⁷ Seine Bilderserie endet bereits in der 28. Schwangerschaftswoche, und gezeigt wird ein Fötus, der von der Fruchtblase – gleich einem Leichensack – umschlossen wird. Von seiner Nabelschnur erdrosselt, arretiert die Todesstarre das Ungeborene in eine groteske Haltung, die keine Vitalität mehr sprühen will. Mit den Lebenskräften schwand die Farbintensität seines Körpers, dessen Blässe und Flecken an die eines Verblichenen erinnern. Gleichwohl gewinnt die Serie damit einen gesteigerten Plädoyer-Charakter: Gerade weil das Bild einen tragischen Ausgang der Pränatalphase aufruft, mahnt es in verschärfter Weise zum Schutz des Lebens. Nilssons Bilderwelten, so ließe sich andenken, zeigen die Geburt des Spektakelfötus aus dem Geist des Lebensschutzes. Nach wie vor gehören Organisationen der Abtreibungsgegner weltweit zu den Großabnehmern seiner Bilderwelten. Dass sich vor allem Kampagnen zum Lebensschutz ganz eindeutig in die Tradition der symbolischen Personalisierung einreihen, belegen etwa – wie jüngst geschehen – Aktionen, die dem Unsichtbaren einen greifbaren, aus Hartplastik modellierten Körper geben. Als überraschender Briefkastenwurf und moralisch
27 Vgl. dazu: Stabile, Carol A.: Täuschungsmanöver „Fötus“. In: Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Hrsg. von Christian Kravagna. Berlin: Edition ID – Archiv 1997. S. 125–153.
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Abb. 9: Der Alfa-Fötus (2009).
kodiertes ‚Geschenk‘ soll er die Unleugbarkeit des in die Pränatalphase eindatierten Lebensbeginns anmahnen. Man solle, so fordern es die mitgeschickten Flyer, einmal in Händen halten, was andere in ihrem Bauch töteten.²⁸ Als Peter Sloterdijk vor einigen Jahren das Automobil als „rollenden Uterus“ bezeichnete, „der sich von seinem biologischen Vorbild dadurch vorteilhaft unterscheidet, daß er mit Selbstbeweglichkeit und Autonomiegefühlen verbunden ist“²⁹, hatte er den Alfa-Fötus noch nicht vor Augen. In ihm scheint sich jedoch zu vollenden, was die frühmodernen Anatomen und Hebammenlehrer bereits perspektivierten: dass die Abspaltung des Fötus-Körpers vom MutterKörper und dessen visuelle Ausschaltung die Voraussetzungen stellen, um das Ungeborene pränatal vitalisieren, individualisieren und folglich personalisieren
28 So heißt es auf einem Flyer des Lebensschutz-Vereins Durchblick e.V., der vor einigen Jahren im südwestdeutschen Raum kleine Plastikföten verteilt hatte, in einem etwas holprigen Propaganda-Duktus: „Was Sie jetzt in Händen halten, ist das Modell eines Babys. Zugegeben, es ist ein sehr kleines Baby. Außerhalb des Mutterleibes könnte es noch nicht überleben. Und doch hat es schon Arme und Beine“. 29 Sloterdijk, Peter: „Rollender Uterus“. Der Philosoph Peter Sloterdijk über Menschen und Autos (Interview). In: Der Spiegel 8 (1995). S. 130.
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zu können. Bereits vor seiner Geburt wechselt es auf die Überholspur des Lebens. In ihm verschmilzt eine hypermoderne Siegermentalität mit der Suggestion eines prinzipiellen Selbstermächtigungstriebs. Das Nabelschnur-Lenkrad ist das zeitgenössische Update des Nabelschnur-Lassos, das der Anatom Bianchi ehemals seinem Exemplar in die Hand gegeben hatte. In beiden Fällen dient das Andockkabel an die Plazenta nicht als lebenserhaltendes Bindungsglied, sondern als Attribut gelebter Männlichkeit. Dass die Bildgeburt des Ungeborenen längst mehr ist als eine flotte Metapher, belegen die Bildergebnisse einer Software wie die der Firma Volume Graphics. Das Programm des Heidelberger Unternehmens wird mit den Messdaten einer herkömmlichen Sonografie-Untersuchung gespeist. Aus ihnen errechnet der Computer den zukünftigen Wachstumsverlauf des Fötus und übersetzt den gewonnenen Algorithmus in eine antizipierende Darstellung. Erste Pränatalzentren verkaufen bereits diesen scheinbaren Blick in den Uterus als Blick in die Zukunft. So wie heute der Entwicklung eines Automobils zunächst seine komplette Simulation vorausgeht, so hat auch das Ungeborene seinem eigenen Bildentwurf nachzukommen. Die Kindhaftigkeit der Darstellungen gliedert sich zudem nahtlos in die Mediengeschichte der Ungeborenenvisualisierung ein. Die inszenatorische Vitalisierung des ‚kleinen Etwas‘ führt demnach bis in aktuellste Entwicklungen zur medialen Instandsetzung eines Menschenwesens.
Literaturverzeichnis Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Dierichs, Angelika: Von der Götter Geburt und der Frauen Niederkunft. Mainz: Zabern 2002. Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. Hamburg: Luchterhand 1994. Duden, Barbara: The Fetus on the ,Farther Store‘. Toward a History of the Unborn. In: Morgan, Lynn M. u. Michaels Meredith W.: Fetal Subjects, Feminist Positions. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1999. S. 13–25. Duden, Barbara: Die Gene im Kopf – der Fötus im Bauch. Historisches zum Frauenkörper. Hannover: Offizin 2002. Duden, Barbara, Jürgen Schlumbohm u. Patrice Veit (Hrsg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.–20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. Enke, Ulrike (Hrsg.): Samuel Thomas Soemmerring. Schriften zur Embryologie und Teratologie. Basel: Schwabe 2000. Friedrich, Kathrin u. Sven Stollfuß (Hrsg.): Blickwechsel. Bildpraxen zwischen Wissenschaftsund Populärkultur. Marburg: Schüren 2011.
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Krieger, Verena: Der Kosmos-Fötus. Neue Schwangerschaftsästhetik und die Elimination der Frau. In: Feministische Studien 2 (1995). S. 8–24. Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln/Wien/Weimar: Böhlau 2000. Newman, Karen: Fetal Positions. Individualism, Science, Visuality. Stanford: Stanford University Press 1996. Rösslin, Eucharius: Der Swangeren Frauwen vnd hebamen Roßegarten. Faksimile-Druck nach dem Original (Straßburg 1513). Wutöschingen: Antiqua-Verlag 1994. Sloterdijk, Peter: „Rollender Uterus“. Der Philosoph Peter Sloterdijk über Menschen und Autos (Interview). In: Der Spiegel 8 (1995). S. 130. Stabile, Carol A.: Täuschungsmanöver „Fötus“. In: Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Hrsg. von Christian Kravagna. Berlin: Edition ID – Archiv 1997. S. 125–153. Stollfuß, Sven: Inside the Mother’s Body. Lennart Nilssons ‚induzierte Sichtbarkeiten‘. In: Blickwechsel. Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur. Hrsg. von Kathrin Friedrich u. Sven Stollfuß. Marburg: Schüren 2011. S. 97–111.
Clea Catharina Laade
Positionen zum Menschenbild im ersten Darmstädter Gespräch und in der Ausstellung Das Menschenbild in unserer Zeit Abstract: The exhibition The Human Image in Our Time (15/7/1950 to 3/9/1950) took place in 1950 at the Mathildenhöhe in Darmstadt. It was organized by the Neue Darmstädter Sezession and included 205 works of modern art by 90 German artists. The Darmstadt Dialogue (15/7/1950 to 17/7/1950) was planned as an accompanying event in order to offer an interdisciplinary conversation about the image of the human as represented in the art works of the show. For this reason artists and art historians were invited, as well as scholars from other sciences. But this primary intention was not achieved and the Darmstadt Dialogue turned into a dispute between proponents and opponents of modern abstract art instead. Nevertheless, the talks held by the participants and the ensuing public discussion which were both published in 1951 reveal different ideas about images of the human. The following essay describes and examines two talks, one by the art historian Hans Sedlmayr and the other by the sociologist Alfred Weber, followed by an analysis of two works of art by Willi Baumeister and Max Beckmann. The aim is to identify the respective ideas about images of the human in modern art.
1 Einleitung Die Ausstellung Das Menschenbild in unserer Zeit wurde vom 15. Juli bis zum 3. September 1950 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt gezeigt. Die Neue Darmstädter Sezession, Veranstalterin der Ausstellung, wollte mit der Wahl des Themas einen Überblick über die Menschendarstellungen der modernen und zeitgenössischen Kunst präsentieren. Zu sehen waren 205 Werke von 90 zeitgenössischen deutschen Künstlern, deren stilistische Bandbreite von nachimpressionistischen bis zu rein abstrakten Darstellungen reichte. Kurator war der deutsche Kunsthistoriker J.A. Schmoll gen. Eisenwerth, der auch eine parallel stattfindende Diskussionsveranstaltung initiierte. Resultat war das erste Darmstädter Gespräch (15.7.1950–17.7.1950), dessen Leitung der Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers übernahm, der auch das Protokoll der Diskussion unter dem Titel Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit 1951 publizierte. Um eine inter-
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disziplinäre Diskussion zu ermöglichen, wurden neben Kunsthistorikern und Künstlern auch Wissenschaftler aus den Bereichen der Theologie, Soziologie, Biologie, Medizin und Philosophie eingeladen.¹ Die ursprüngliche Intention des Gesprächs, die Erörterung der Menschenbildfrage in der Kunst, konnte jedoch nicht in dem gewünschten Ausmaß realisiert werden. Vielmehr entwickelte sich die Diskussion zu einem Streitgespräch zwischen Anhängern und Gegnern der abstrakten Kunst. Ausgelöst wurde die Debatte durch den Vortrag des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr, der insbesondere von Willi Baumeister, einem der bedeutendsten abstrakten Maler der Nachkriegszeit, vehement kritisiert wurde.² Der vorliegende Aufsatz thematisiert jedoch nicht die Debatte um Abstraktion und den Diskurs der Kunstkritik der damaligen Zeit. Vielmehr liegt der Fokus zum einen auf der Herausarbeitung sprachlich vermittelter Menschenbilder in den Vorträgen von Hans Sedlmayr und des Soziologen Alfred Weber. Es soll zudem aufgezeigt werden, welche zeitspezifischen, ideologischen und wissenschaftlichen Annahmen diesen Menschenbildformulierungen zugrunde liegen. Zum anderen folgt eine Bildanalyse von ausgestellten Werken der Künstler Max Beckmann und Willi Baumeister. Unter Berücksichtigung der formalen Darstellung des Menschen, des Entstehungskontextes und kunsttheoretischen Quellenmaterials wird der Versuch unternommen, Erkenntnisse über ein künstlerisches Menschenbild zu gewinnen, um diese abschließend den sprachlich formulierten Menschenbildern von Sedlmayr und Weber gegenüberzustellen. Diese vier Positionen wurden ausgewählt, da sie einerseits Menschenbildaspekte im Gespräch und in der Ausstellung berücksichtigen und andererseits heterogene Ausgangspunkte markieren, sei es in Bezug auf eine persönliche Wertung und Stellungnahme (Sedlmayr, Baumeister, Weber) oder aber in Bezug auf eine stilistische Grundhaltung (Beckmann, Baumeister).
1 Vgl. Schott, Olivia: Das erste „Darmstädter Gespräch“ 1950. Die Debatte um Abstraktion verso Figuration. In: Die Darmstädter Sezession 1919–1997. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Spiegel einer Künstlervereinigung. Hrsg. von Sabine Welsch u. Klaus Wolbert. Darmstadt 1997. S. 345–347. 2 Vgl. Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Zum „Darmstädter Gespräch“ 1950. Erinnerungen eines Mitinitiators und ein Fazit nach 46 Jahren. In: Welsch/Wolbert: Sezession. S. 331–344, hier S. 331.
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2 Hans Sedlmayr: Über die Gefahren der modernen Kunst Sedlmayrs Vortrag paraphrasiert Gedanken aus dem 1948 erstmals erschienenen Buch Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit. Darin wird die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als „ein empfindliches Diagnostikon“³ verstanden, das Aufschluss über den Zustand des Menschen geben kann. Dieser zentrale Gedanke Sedlmayrs ist ebenfalls Ausgangspunkt seines Vortrags. Es folgt eine Auflistung einzelner Aspekte innerhalb der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, die er als „Symptom und Symbol der Gefährdung des Menschen“⁴ interpretiert. Er kritisiert all jene Motive, die den Menschen als zerrissenes, chaotisches und destruktives Wesen spiegeln. Eine Ursache für die zunehmende Darstellung dieser Motive sieht er in der Auseinandersetzung und dem Eindringen in den „Bereich des Toten, der toten Dinge, der toten Materie, des Entseelten, des Amorphen, des noch unterhalb der mineralischen Natur Liegenden, und zugleich in einen Bereich des Chaotischen, des von widerstrebenden Kräften Zersetzten, Desintegrierten und Zerfallenden“⁵. Unter Hinweis auf C.G. Jungs Tiefenpsychologie stellt Sedlmayr die Vermutung auf, dass sich Bilder und Vorstellungen aus den Tiefenschichten des Menschen entwickelt haben, die die Selbstbetrachtung des Menschen reflektieren. Als Beispiel nennt er das im 19. Jahrhundert immer wieder auftauchende Sujet des durchgehenden Pferdes, das seinen Reiter abgeworfen hat, „ein Thema von ungewollter und deshalb um so tieferer Symbolik, welches davon berichtet, dass der Mensch die Herrschaft über die Triebsphäre verloren hat“⁶. Als weitere symbolhafte Bildschöpfungen erwähnt Sedlmayr in diesem Zusammenhang die Motive der Auswanderer, Flüchtlinge, Harlekine und des Zirkusvolks, die auf einer metaphorischen Ebene den Menschen in seiner Fragwürdigkeit und als Auswanderer aus der Wirklichkeit versinnbildlichen.⁷ Sowohl die ausgewählten Beispiele als auch die Wortwahl verweisen auf Sedlmayrs psychologische Betrachtung des Menschen in der Kunst. Das vermittelte Menschenbild empfindet er aus diesem perspektivischen Blickwinkel als
3 Sedlmayr, Hans: Über die Gefahren der modernen Kunst. In: Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit. Hrsg. von Hans Gerhard Evers. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951. S. 48–62, hier S. 48. 4 Ebd., S. 51. 5 Ebd., S. 50. 6 Ebd., S. 51. 7 Vgl. ebd.
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krank. Es handelt sich hier jedoch nicht um ein spezifisches Menschenbild der Nachkriegszeit, sondern um ein Menschenbild, das für Sedlmayr in der Epoche der Moderne wurzelt und 1950 weiterhin sichtbar ist. Die zwei Weltkriege und den Nationalsozialismus an sich thematisiert er nicht. Eine Ursache für die Herausbildung dieses Menschenbildes sieht er in dem Säkularisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts, der seinen künstlerischen Niederschlag in der Darstellung des Unnatürlichen findet, die er in Anlehnung an Ortega y Gasset als infra-realistische Kunst bezeichnet. Er betont dabei, dass es schon immer infra-realistische Tendenzen innerhalb der Kunst gegeben habe wie beispielsweise die Höllendarstellungen des Spätmittelalters. Diese Kunst sei jedoch in einen christlichen Kontext eingebunden – „ein Flügel im Triptychon des Weltbildes, das beherrscht wird von der überrealistischen Kunst, und das Überirdisches, Menschliches und Untermenschliches umfasst und miteinander verbindet“⁸. In der Kunst der Gegenwart, insbesondere im Surrealismus, habe sich diese infra-realistische Tendenz ohne Gegengewicht durchgesetzt und bestimme das Gesamtwerk. Dies sehe man etwa auch bei Künstlern wie James Ensor, Alfred Kubin, Egon Schiele und Edvard Munch. Für Sedlmayr spiegelt die Kunst den gesellschaftlichen Bruch mit der christlichen Religion, da hier der Mensch als dekadentes Wesen ohne religiöse Rückbindung in Erscheinung tritt. Es wird zudem deutlich, dass es Sedlmayr nicht nur um eine negative Auslegung des künstlerischen Menschenbildes geht, sondern er durch eine christlich-humanistische Weltanschauung motiviert einen kulturpessimistischen Standpunkt in Bezug auf die Moderne und Gegenwart vertritt. Sedlmayrs Verlust der Mitte kann demnach der Krisenliteratur zugeordnet werden, die sich nach 1945 herausbildete und deren kritische Betrachtung der Moderne von einer christlichen Position erfolgte. Als Beispiel seien an dieser Stelle der katholische Nationalökonom und Kultursoziologe Alfred Müller-Armack und dessen 1948 erschienene Publikation Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit genannt.⁹ Ebenfalls von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Schriften des Theologen Romano Guardini, der, wie Sedlmayr, auf die Gefahr eines autonomen Selbstbewusstseins des modernen Menschen verweist, welcher aufgrund der Abkehr vom christlichen Glauben die Leistungen der Wissenschaften im technischen Zeitalter nicht verarbeiten könne. Für Guardini tritt der Fortschrittsglaube an die Stelle der Religion, sodass ein falsches Menschenbild ent-
8 Ebd., S. 59. 9 Vgl. Held, Jutta: Hans Sedlmayr in München. In: Kunstgeschichte an den Universitäten der Nachkriegszeit. Hrsg. von Martin Papenbrock. Göttingen: V&R unipress GmbH 2006 (Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Bd. 8). S. 132–133.
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stehe, in dem die Balance des ambivalenten menschlichen Wesens (gut-böse, Vernunft-Unvernunft) aufgehoben werde.¹⁰ Sedlmayrs Argumentation und Menschenbilddiagnose ist durch kultursoziologische und theologische Vorstellungen geprägt. Es geht ihm nicht um eine qualitative künstlerische Bewertung der modernen Kunst, sondern vielmehr um die Kritik an der Verbreitung eines gesellschaftlich versehrten Menschenbildes, das einen allgemeinen Werteverfall impliziert.
3 Alfred Weber: Das Menschenbild in unserer Zeit in der Sicht der Soziologie Weber vertritt eine ähnliche Meinung wie Sedlmayr, denn auch er sieht die Kunst als empfindliches Diagnostikon seiner Zeit. Im Gegensatz zu Sedlmayr deutet er die an der Kunst ablesbaren Symptome allerdings nicht als „Erkrankung in medizinischer Diktion“¹¹. Er erkennt in ihnen vielmehr ein „optisch sichtbares Symptom einer allgemein historisch-soziologischen Situation“¹², die als eine Krisen-, Umbruchs- und Übergangszeit verstanden werden kann und somit einen Abschied von einer jahrtausendlangen Geschichte bedeutet. Weber geht der Frage nach, inwieweit die Kunstproduktion Interpretationen über das Menschenbild der Zeit zulässt, ohne jedoch dabei ein Werturteil über das künstlerische Schaffen zu fällen, zu dem er sich aus soziologischer Sicht nicht berufen fühlt. Durch die Absage an die traditionelle Formensprache hätten die Künstler ab Cézanne neue Menschenbilder entworfen. Der Bruch mit der Tradition sei Ausdruck einer inneren Haltung gewesen, die für eine Neuinterpretation des inneren und äußeren Seins notwendig gewesen sei.¹³ Weber vertritt zudem die Ansicht, dass der um 1900 einsetzende und alle Lebensbereiche umfassende Wandel von den Künstlern antizipiert wurde und somit die Analyse der künstlerischen Intention in Bezug auf gesellschaftliche Menschenbilder aufschlussreich
10 Vgl. Kreiml, Josef: Die Selbstoffenbarung Gottes und der Glaube des Menschen. Eine Studie zum Werk Romano Guardinis. St. Otillien: Eos Verlag 2002. S. 160; Mercker, Hans: Christliche Weltanschauung bei Romano Guardini. In: Romano Guardini. Christliche Weltanschauung und menschliche Existenz. Hrsg. von Franz Henrich. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 1999. S. 45–68. 11 Weber, Alfred: Das Menschenbild in unserer Zeit in der Sicht der Soziologie. In: Evers: Darmstädter Gespräch. S. 64–70, hier S.64. 12 Ebd. 13 Vgl. ebd., S. 66.
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sein kann. Ab 1909 entwickelte Weber eine kultursoziologische Theorie, die den seismographischen Charakter von Kunst, Literatur und Philosophie miteinbezog. 1935 erschien sein Hauptwerk Kulturgeschichte als Kultursoziologie. Ausgangspunkt seiner Kultursoziologie ist die Unterteilung des Daseins in die Sphären der Zivilisation, der Gesellschaft und Kultur. Zivilisation und Gesellschaft beinhalten Prozesse der intellektuellen Welterfassung, Verwissenschaftlichung, Technisierung und die gesellschaftlichen Organisationsformen einschließlich Staat und Wirtschaft. Die Sphäre der Kultur beschreibt er als einen Bereich übervitaler Lebensäußerungen religiöser, philosophischer und ästhetischer Art, die als seelisches Ausdrucksstreben oder Sinndeutung zu verstehen sind. Alle drei Sphären durchdringen sich, sind jedoch getrennt zu analysieren.¹⁴ Somit stellt die Interpretation von Kunstwerken für Weber eine soziologische Methode dar, die ein Verstehen historischer, gegenwärtiger und zukünftiger Gesellschaftsstrukturen ermöglicht. Anhand seiner Beschreibung und Analyse neuer Menschenbilder in der Malerei des 20. Jahrhunderts wird diese Methode offensichtlich. Weber beschreibt zunächst die künstlerische Auflösung der menschlichen Figur und den daraus resultierenden Verlust an Individualität als eine kontinuierliche Entwicklung vom Kubismus an bis hin zur Abstraktion. Weber sieht darin ein Symptom für den Beginn des technischen Zeitalters und die damit einhergehende Versehrtheit der menschlichen Persönlichkeit. Er verweist jedoch ebenfalls auf die Perspektive des Künstlers, bei dem es sich zum einen um eine realistische Konstatierung handeln kann, zum anderen um eine positive Betrachtung, im Sinne einer „Projizierung des Menschlichen in die durchtechnisierte Welt“.¹⁵ Die Kunst von Georg Grosz, Ernst Ludwig Kirchner und Max Beckmann sei nicht nur eine Spiegelung der Zeit, sondern ebenfalls eine Anklage, die in Anbetracht der Unmenschlichkeit und des Leids von zwei Weltkriegen berechtigt sei. Abschließend verweist Weber auf Menschenbilder in der Kunst, die eine allgemein-menschliche Empfindung und Situation zum Ausdruck bringen und somit das Wesenhafte des Menschen widerspiegeln, wie beispielsweise die Sorge, das Nachdenken und das Leid. Er nennt in diesem Zusammenhang Künstler wie Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Gerhard Marcks und Carl Hofer und erkennt in dieser Typisierung einen symbolischen Wert, ein Suchen „nach dem Ausdruck des seelisch Wesenhaften des Menschen und der menschlichen
14 Vgl. Kruse, Volker: Warum scheiterte Alfred Webers Kultursoziologie? Ein Interpretationsversuch. In: Soziologie, Politik und Kultur. Von Alfred Weber zur Frankfurter Schule. Hrsg. von Eberhard Demm. Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag 2003. S. 214. 15 Weber: Menschenbild, S. 68.
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Daseinssituation“¹⁶. Für Weber offenbart sich dieses Streben ebenfalls in der abstrakten Kunst, da hier „an die Stelle des gegebenen Gegenstands die SeelischMenschliches ausdrückende, konstruktiv inkarnierte Farbensituation“¹⁷ trete. Webers Ausführungen beschreiben kein hermetisches Menschenbild von 1950, sondern vielmehr Menschenbilder der Moderne, die durch die Interaktion von Kunst, Gesellschaft und Zeitgeschehen einem stetigen Wandel unterliegen. Er zeigt auf, dass die Kunst Menschenbilder widerspiegelt, „die entweder latent in der Gesellschaft vorhanden sind oder der gesellschaftlichen-kulturellen Entwicklung vorauseilen“¹⁸. Weber galt bis Anfang der fünfziger Jahre als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Soziologie. Seine Kultursoziologie und der spezifische methodische Ansatz Kunst und Literatur als Quellen soziologischer Deutung zu verwenden wurde jedoch ab der Mitte der 1950er Jahre zunehmend als intuitiv und metaphysisch überhöht kritisiert und als methodologisch unzulänglich erklärt.¹⁹
4 Max Beckmann: Tanz in Baden-Baden (1923) Beckmanns Bild Tanz in Baden-Baden zeigt eine elegant gekleidete Abendgesellschaft, die sich aus einzelnen, überwiegend tanzenden Paaren formiert. Die Parallelität der nach unten langgestreckten Arme der zwei Paare im Vordergrund und die abfallende Staffelung der Figuren im hinteren Bildraum verweisen auf die Grundkomposition des Bildes, die durch einen diagonalen Aufbau gekennzeichnet ist. Auffallend an der Darstellung ist die Mimik und Gestik der Figuren. Durch die Abwendung des Kopfes und die geschlossenen Augen vermittelt die Frau am linken Bildrand einen distanzierten Eindruck, der sich durch den fixierenden Blick des Mannes und die enge Körperhaltung verstärkt. Das rechte Paar bewegt sich einvernehmlich in Tanzrichtung zum Bildrand hin, erweckt dabei jedoch einen Anschein von Teilnahmslosigkeit, der aus den starren Blicken und dem
16 Ebd., S. 69. 17 Ebd. 18 Oerter, Rolf: Einleitung: Menschenbilder als sinnstiftende Konstruktionen und als geheime Agenten. In: Menschenbilder in der modernen Gesellschaft. Konzeptionen des Menschen in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Politik. Hrsg. von Rolf Oerter. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1999 (Der Mensch als soziales und personales Wesen 15). S. 2–3, hier S.2. 19 Vgl. Kruse: Alfred Weber, S. 213.
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Verzicht auf jegliche emotionale Mimik resultiert. Zudem suggerieren die weit aufgerissenen Augen der Frauen im Hintergrund ein Gefühl der Beklemmung. Die enge Körperhaltung und die Figurenfülle bilden einen Kontrast zu Mimik und Gestik der Tänzer, die sowohl Distanz und Gleichgültigkeit als auch Unruhe vermitteln. Durch dieses Zusammenspiel paradoxer Empfindungen haftet dem Szenarium etwas Beunruhigendes und subtil Negatives an, das durch die diagonal abfallende Staffelung der Tänzer noch verstärkt wird.²⁰ Der Titel des Bildes und die Bezeichnung Baden-Baden/23, die Beckmann am unteren rechten Bildrand notiert hat, beziehen sich auf den Aufenthalt des Künstlers in Baden-Baden im August 1923. Titel und Darstellung verweisen auf die Beschreibung eines Eindrucks, den Beckmann während dieser Zeit gewonnen hat. Baden-Baden galt als mondäner Kurort, als Vergnügungstreffpunkt für Großbürgertum und Aristokratie und in Folge des Ersten Weltkrieges als Treffpunkt aller sozialen Schichten. Der Tanz diente zu dieser Zeit als geeignetes Mittel um die Schrecken der Nachkriegszeit und das daraus resultierende alltägliche Elend der Inflationsjahre zu verdrängen. Das Tanzen implizierte ein Lebensgefühl, das Rausch, Ablenkung und Vergessen versprach.²¹ Die elegante Kleidung sowie Haartracht und Schmuck der Bildfiguren entsprechen der Mode der zwanziger Jahre. Die gezeigten Tanzbewegungen, die enge Körpernähe und die längs ausgestreckten Arme erinnern an Tango, sind jedoch ebenfalls Merkmale anderer damals zeitgenössischer Tänze wie Boston, Two Step oder One Step.²² Folglich spiegelt Beckmanns Darstellung das Erscheinungsbild einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort wider und weist demnach Merkmale eines Gesellschaftsportraits auf. Die Mimik, Gestik und fehlende Kommunikation der Figuren untereinander offenbart jedoch den sozialkritischen Blick des Künstlers, der den Tanz als eine Art Versuchsmittel vorführt, das darauf abzielt die alltägliche Realität zu verdrängen und zu überspielen.²³ Dieser Versuch misslingt jedoch und die eigentlichen Beweggründe wie „großbürgerliche Gleichgültigkeit, stillschweigender Unwille und angespannte Wirklichkeitsflucht“²⁴ werden offensichtlich. Die formale Darstellung der Figuren erinnert an eine Art Bühne, auf der die Tanzenden als Protagonisten agieren und sich selbst demaskieren. Aus
20 Vgl. Becker, Astrid: Max Beckmann. Selbst- und Weltbild in den Themen „Caféhaus“ und „Tanz“. Marburg: Tectum Verlag 2010. S. 258. 21 Vgl. Harter, Ursula: Tanz in Baden-Baden. In: Max Beckmann. Gemälde 1905–1950. Ausst. Kat. Museum der Bildenden Künste Leipzig. Hrsg. von Klaus Gallwitz. Stuttgart: Hatje-Cantz Verlag 1990. S. 96. 22 Vgl. Becker: Max Beckmann, S. 259. 23 Vgl. ebd., S. 255–263. 24 Ebd., S. 263.
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Abb. 1: Max Beckmann: Tanz in Baden-Baden (1923). © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
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diesem Blickwinkel erscheint das Paar am linken unteren Bildrand als Publikum und Vermittler, das den Betrachter auf die Bühnensituation hinweist. Der Mensch fungiert hier als „Ausdrucksträger mentaler und künstlerischer Positionen“²⁵. Wie auch Otto Dix’ Triptychon Großstadt (1927/28) offenbart Beckmanns Werk ein Menschenbild, das den ‚großbürgerlichen Menschen‘ der Weimarer Republik in seiner inneren Zerrissenheit widerspiegelt und die Zwänge seiner gesellschaftlichen Realität aufzeigt. Es ist dem veristischen Flügel der Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen, der insbesondere durch „das sozialkritische Engagement der Künstler und die daraus resultierende Zuspitzung der Darstellungsform“ gekennzeichnet ist.²⁶
5 Willi Baumeister: Sieg der blauen Mitte (1950) Willi Baumeisters Werk zeigt blau-schwarze Linien- und Farbkompositionen, die vor einem monochromen ockerfarbigen Hintergrund angeordnet und gleichmäßig verteilt sind. Da es sich bei diesem Werk um ein rein abstraktes Bild handelt, das keine anthropomorphen Merkmale aufweist, kann aus einer formalen Perspektive keine Aussage über ein Menschenbild formuliert werden. Sowohl Baumeisters improvisierter Vortrag während des ersten Darmstädter Gesprächs als auch das vorbereitete Manuskript verweisen jedoch auf eine künstlerische Vorgehensweise, die auf einer Menschenbildvorstellung des Künstlers fußt.²⁷ Baumeisters Thesen und Ansichten basieren vorwiegend auf seiner kunsttheoretischen Schrift Das Unbekannte in der Kunst, die 1947 erstmals publiziert wurde. Relevante Aspekte, die Aufschluss über Baumeisters Menschenbild geben, werden im Folgenden zusammengefasst. Der Begriff des Unbekannten steht im engen Zusammenhang mit der richtigen Betrachtung eines Kunstwerkes. Baumeister unterscheidet hierbei zwischen Sehen und Schauen. Das Sehen als zweckorientierte und nutzbringende Tätigkeit ist für die Erfassung eines abstrakten Bildes nicht geeignet, da Farbformen nicht
25 Ebd., S. 10. 26 Michalski, Sergiusz: Neue Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919–1933. Köln: Benedikt Taschen Verlag 1994. S. 20. 27 Das Protokoll des ersten Darmstädter Gesprächs enthält sowohl die improvisierte Rede Baumeisters als auch sein vorbereitetes Vortragsmanuskript, das als Entgegnung auf die Veröffentlichungen von Wilhelm Hausenstein (Was bedeutet die moderne Kunst, 1949) und Hans Sedlmayr (Verlust der Mitte, 1948) konzipiert war. Da weder Sedlmayr noch Hausenstein bei seinem Vortrag anwesend waren, entschied er sich für eine improvisierte Rede.
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Abb. 2: Willi Baumeister: Sieg der blauen Mitte (1950). © VG Bild-Kunst, Bonn 2011
in ihrer elementaren Erscheinung erfasst, vielmehr unmittelbar in Beziehung zu Gegenständen oder räumlichen Strukturen gesetzt werden.²⁸ Das Schauen hingegen ermöglicht ein „Erleben der Elementarwerte der Farben und Formen“²⁹. Die Voraussetzung für das Schauen ist ein Stadium des Müßigseins, in dem sich der Betrachter befinden muss, um dem Kunstwerk neutral gegenüberzustehen, ohne eine Erwartungshaltung einzunehmen. In Anlehnung an Meister Eckhart beschreibt Baumeister diesen Zustand als einen mystischen Moment, bei dem die Gegenüberstellung und die Differenz zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben sind.³⁰ Durch diese Betrachtungsweise ist der Bildrezipient in der Lage, menschliche Empfindungen zu erfahren, die ohne gegenständliche Bezüge, allein durch
28 Vgl. Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst. Hrsg. von René Hirner. 4. Aufl. Köln: DuMont Verlag 1988. S. 28. 29 Ebd., S. 34. 30 Vgl. ebd., S. 12f.
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die Modellierung und Rhythmisierung von Farbe, Form- und Flächenkompositionen hervorgerufen werden. Das Schauen ist jedoch nicht nur Ausgangspunkt der Bildbetrachtung, sondern ebenfalls Ausgangspunkt der künstlerischen Produktion. Baumeister versteht den Zustand der Neutralität als Mitte des Künstlers, aus der heraus eine Vision entsteht.³¹ Der Künstler versucht nun, diese Vision als eine Art Scheinziel zu realisieren. Dabei wird unbewusst, aufgrund schöpferischer Kräfte, die den Künstler aus seiner Mitte heraus leiten, eine andere Richtung eingeschlagen, die zu etwas Neuem, bisher Unbekannten führt.³² Die Abweichung vom Ziel nennt Baumeister den „schöpferischen Winkel“³³. Das künstlerische Endresultat entspricht demnach dem Unbekannten in der Kunst. Für Baumeister gleicht die intuitive Erfassung dieses künstlerischen Wertes einer Art metaphysischen Erlebens, das eine stärkere Wahrnehmung der Welt und des Seins ermögliche.³⁴ Er vertritt zudem die Auffassung, dass diese transzendente Empfindung allein durch die abstrakte Kunst vermittelbar sei, da nur das rein Visuelle, das sich in der Modulation und Metamorphose von Formen, Flächen und Farben niederschlägt, die elementaren Kräfte offenbare.³⁵ Die abstrakte Kunst bilde folglich nicht nach der Natur, sondern wie die Natur.³⁶ In seinem vorbereiteten Manuskript für das erste Darmstädter Gespräch nimmt Baumeister Stellung zu dem Vorwurf, die abstrakte Kunst habe keine „ethischen Werte“³⁷. Er verweist dabei auf die naturalistische und realistische Kunst, deren Ausgangspunkt in der Nachahmung der Natur bestehe, und die sich „in einer nicht metaphysischen Weltanschauung“³⁸ befinde. Weiterhin erklärt er: „Die Idee einer obersten, nicht fassbaren Energie ist stärker als ein persönlicher Gott. Der persönliche Gott ist vom Menschen aus geformt. Es tritt eine naturalistisch-imitative Vorstellung in die Idee ein, die Universalität besaß“³⁹. Sowohl diese Ausführungen als auch die bereits beschriebenen Aspekte seiner kunsttheoretischen Schrift verweisen demnach auf eine Kunstauffassung, die im engen Zusammenhang mit einer metaphysischen Weltanschauung steht, die
31 Vgl. ebd., S. 30f. 32 Vgl. ebd., S. 142f. 33 Ebd., S. 143. 34 Vgl. ebd., S. 30. 35 Vgl. ebd., S. 34. 36 Vgl. ebd., S. 98. 37 Baumeister, Willi: Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und Hausenstein. In: Evers: Darmstädter Gespräch. S. 146–154, hier S. 150. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 153.
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alles umfasst, eben auch den Menschen.⁴⁰ Er formuliert dies noch einmal konkret während seiner improvisierten Rede: „Die moderne Kunst schafft nicht nach der Natur, sondern wie die Natur. Der Mensch ist in der abstrakten Malerei vorhanden wie in jeder anderen Malerei. Er ist doch drin. Der Mensch ist auch in Landschaften, in denen keine Menschen sind. Der Maler ist im Bild, wie der Mensch in der Natur enthalten ist“.⁴¹ Obwohl das Bild Sieg der blauen Mitte keine formale Darstellung des Menschen zeigt, wird aufgrund der ausgewählten kunsttheoretischen Thesen eine Menschenbildvorstellung des Künstlers offensichtlich, die auf einer metaphysischen Weltanschauung basiert. Baumeisters kunsttheoretische Aussagen stehen in der Tradition moderner Abstraktionstheorien, als deren wichtigste Vertreter Wassily Kandinsky und Paul Klee gelten. Das Unbekannte in der Kunst war zudem eine wichtige theoretische Quelle für die programmatische Zielsetzung der 1949 in München gegründete Gruppe Zen 49, eine Vereinigung abstrakter Maler und Bildhauer, zu deren Gründungsmitgliedern Baumeister gehörte. Die Anhänger der Abstraktion sahen in der metaphysischen Weltanschauung das Resultat eines gewandelten Welt- und Menschenbildes im 20. Jahrhundert. Sie verwiesen auf das veränderte Bewusstsein des Menschen, ausgelöst durch zwei Weltkriege, den technischen Fortschritt, Vermassung und Zerstörung und rechtfertigten somit die Auflösung der menschlichen Figur und die Abkehr von der Natur imitierenden Darstellung.⁴²
6 Fazit Die Vorträge von Sedlmayr und Weber zeigen auf, dass durch die Kunst vermittelte Menschenbilder nicht aus einer individuellen künstlerischen Intention resultieren, sondern bereits als vorhandene gesellschaftliche Konstrukte existieren. Sie
40 Vgl. Gutbrod, Philipp: Baumeister versus Sedlmayr – Die Kontroverse um Kunst und Religion im ersten Darmstädter Gespräch (1950). In: Kritische Wege zur Moderne. Festschrift für Dietrich Schubert. Hrsg. von Kirsten Fitzke u. Zita Ágota Pataki. Stuttgart: Ibidem Verlag 2006. S.43–67, hier S. 56; Ohnesorge, Birk: Bildhauerei zwischen Tradition und Erneuerung: Die Menschenbilddarstellung in der deutschen Skulptur und Plastik nach 1945 im Spiegel repräsentativer Ausstellungen. Münster: Lit Verlag 2001. S. 91. 41 Baumeister, Willi: Improvisierte Abendansprache. In: Evers: Darmstädter Gespräch. S. 135–145, hier S. 144. 42 Vgl. Frosch, Beate: Die Künstlergruppe Zen 49 und ihr Beitrag zur Entwicklung der gegenstandslosen Kunst in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1957. Dissertation. Regensburg 1992. S. 39.
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identifizieren kein spezifisches Menschenbild von 1950, sondern skizzieren den Menschen im Zeitalter der Moderne vor dem Hintergrund der historischen, gesellschaftlichen und industriellen Entwicklung dieser Zeit. Sowohl Beckmanns Tanz in Baden-Baden als auch Baumeisters Sieg der blauen Mitte vermitteln auf stilistisch unterschiedliche Weise ein explizites und implizites Menschenbild, das auf den jeweiligen zeit- und kulturspezifischen Kontext zurückgeführt werden kann. Trotz verschiedener Schlussfolgerungen diagnostizieren Sedlmayr und Weber ein versehrtes und in sich zerrissenes Menschenbild, das in Beckmanns Werk thematisiert wird. Weber beschreibt zudem die Auflösung der menschlichen Figur als eine konsequente Entwicklung in die Abstraktion und nennt als Ursache den Verlust an Individualität als Resultat des technischen Fortschritts. Wie aufgezeigt, ist diese Begründung ebenfalls von den Vertretern der abstrakten Malerei als Argument verwendet worden. Demnach stimmen wesentliche Aspekte der sprachlich formulierten Menschenbilder von Sedlmayr und Weber mit den künstlerisch dargestellten Menschenbildern überein. Sedlmayrs Argumentation und Schlussfolgerung basieren jedoch auf einer christlichen Weltanschauung, die er als explizites Leitbild dem versehrten Menschenbild in Kunst und Gesellschaft gegenüberstellt. Baumeisters Menschenbild ist eine Ableitung seiner metaphysischen Weltanschauung, die eine spirituelle Religiosität impliziert. Webers Darlegung hingegen erfolgt aus einer wissenschaftlich-soziologischen Sicht. Beckmanns formaler Kompositionsaufbau, die Wiedergabe der Figuren und der explizite Orts- und Zeitbezug verweisen auf die sozialkritische Haltung des Künstlers. Trotz der Parallelen besteht somit ein entscheidender Unterschied in der persönlichen Motivation, Beurteilung und Akzeptanz dieser Menschenbilder.
Literaturverzeichnis Baumeister, Willi: Das Unbekannte in der Kunst. Hrsg. von René Hirner. 4. Aufl. Köln: DuMont Verlag 1988. Baumeister, Willi: Improvisierte Abendansprache. In: Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit. Hrsg. von Hans Gerhard Evers. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951. S. 135–145. Baumeister, Willi: Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und Hausenstein. In: Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit. Hrsg. von Hans Gerhard Evers. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951. S. 146–154. Becker, Astrid: Max Beckmann. Selbst- und Weltbild in den Themen „Caféhaus“ und „Tanz“. Marburg: Tectum Verlag 2010. Frosch, Beate: Die Künstlergruppe Zen 49 und ihr Beitrag zur Entwicklung der gegenstandslosen Kunst in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1957. Dissertation. Regensburg 1992.
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Gutbrod, Philipp: Baumeister versus Sedlmayr – Die Kontroverse um Kunst und Religion im ersten Darmstädter Gespräch (1950). In: Kritische Wege zur Moderne. Festschrift für Dietrich Schubert. Hrsg. von Kirsten Fitzke u. Zita Ágota Pataki. Stuttgart: Ibidem Verlag 2006. S. 43–67. Harter, Ursula: Tanz in Baden-Baden. In: Max Beckmann. Gemälde 1905-1950. Ausst. Kat. Museum der Bildenden Künste Leipzig. Hrsg. von Klaus Gallwitz. Stuttgart: Hatje-Cantz Verlag 1990. S. 96. Held, Jutta: Hans Sedlmayr in München. In: Kunstgeschichte an den Universitäten der Nachkriegszeit. Hrsg. von Martin Papenbrock. Göttingen: V&R unipress GmbH 2006 (Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Bd. 8). S. 121–170. Kreiml, Josef: Die Selbstoffenbarung Gottes und der Glaube des Menschen. Eine Studie zum Werk Romano Guardinis. St. Otillien: Eos Verlag 2002. Kruse, Volker: Warum scheiterte Alfred Webers Kultursoziologie? Ein Interpretationsversuch. In: Soziologie, Politik und Kultur. Von Alfred Weber zur Frankfurter Schule. Hrsg. von Eberhard Demm. Frankfurt a. M.: Peter Lang Verlag 2003. S. 207–233. Mercker, Hans: Christliche Weltanschauung bei Romano Guardini. In: Romano Guardini. Christliche Weltanschauung und menschliche Existenz. Hrsg. von Franz Henrich. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 1999. S. 45–68. Michalski, Sergiusz: Neue Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919–1933. Köln: Benedikt Taschen Verlag 1994. Oerter, Rolf: Einleitung: Menschenbilder als sinnstiftende Konstruktionen und als geheime Agenten. In: Menschenbilder in der modernen Gesellschaft. Konzeptionen des Menschen in Wissenschaft, Bildung, Kunst, Wirtschaft und Politik. Hrsg. von Rolf Oerter. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1999 (Der Mensch als soziales und personales Wesen 15). S. 2–3. Ohnesorge, Birk: Bildhauerei zwischen Tradition und Erneuerung: Die Menschenbilddarstellung in der deutschen Skulptur und Plastik nach 1945 im Spiegel repräsentativer Ausstellungen. Münster: Lit Verlag 2001. Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Zum „Darmstädter Gespräch“ 1950. Erinnerungen eines Mitinitiators und ein Fazit nach 46 Jahren. In: Die Darmstädter Sezession 1919–1997. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Spiegel einer Künstlervereinigung. Hrsg. von Sabine Welsch u. Klaus Wolbert. Darmstadt 1997. S. 331–344. Schott, Olivia: Das erste „Darmstädter Gespräch“ 1950. Die Debatte um Abstraktion verso Figuration. In: Die Darmstädter Sezession 1919-1997. Die Kunst des 20. Jahrhunderts im Spiegel einer Künstlervereinigung. Hrsg. von Sabine Welsch u. Klaus Wolbert. Darmstadt 1997. S. 345–364. Sedlmayr, Hans: Über die Gefahren der modernen Kunst. In: Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit. Hrsg. von Hans Gerhard Evers. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951. S. 48–62. Weber, Alfred: Das Menschenbild in unserer Zeit in der Sicht der Soziologie. In: Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit. Hrsg. von Hans Gerhard Evers. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt 1951. S. 64–70.
Ivo Ritzer
Barbaren|Bilder Mythische Repräsentationen des prähistorischen Menschen im Film Abstract: This essay deals with representations of prehistoric human beings – ‘barbarians’ – in adventure and fantasy movies. Concentrating on narrative space, the author draws attention to spatio-temporal structures which influence the depiction of so-called barbarian protagonists. Referring to Mikhail Bakhtin’s concept of the chronotope, he points out that adventure and fantasy movies situate the barbarian in vaguely defined environments which serve as ideal contexts for mechanisms of the creation of myths as well as for spectacular representations of athletic bodies in permanent fight. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück … Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? ,Ich weiß nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiß’ – seufzt der moderne Mensch … An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein.¹ Friedrich Nietzsche
1 Zu Filmkorpus und Forschungsgegenstand Es war die Rückkehr eines Königs. Als im Sommer 2011 Marcus Nispels Conan the Barbarian (2011) in den Kinos startete, kam Robert E. Howards legendäre PulpFigur zwar nicht – wie lange geplant – als King Conan² auf die Leinwand zurück, der Film aber sorgte in 3D für die medial modernisierte Wiederaufnahme eines generischen Zyklus, den John Milius’ Conan the Barbarian (1982) zwei Dekaden zuvor initiiert hatte.³
1 Nietzsche, Friedrich: Antichrist. Das Hauptwerk in 4 Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Jost Perfahl. München: Nymphenburger 1990. S. 365. 2 Das Drehbuch von John Milius mit dem Titel King Conan: Crown of Iron kursiert online unter: http://www.mypdfscripts.com/unproduced/king-conan-crown-of-iron. 3 Zu John Milius siehe: Ritzer, Ivo: Nicht versöhnt. Der Regisseur John Milius – ein progressiver Reaktionär? In: testcard #18: Regress. Hrsg. von Martin Büsser, Athens Atlanta,
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Abb. 1: Initiation des Barbarenfilms mit Conan the Barbarian (1982) (DVD: Universal).
Der große Kassenerfolg von Milius’ sehr freier Howard-Verfilmung zog bis Ende der 1980er Jahre zahlreiche andere Barbarenfilme nach sich, die sich retrospektiv als spezifisches Subgenre des Abenteuer- und Fantasyfilms klassifizieren lassen.⁴ Einerseits gehören dazu neben Richard Fleischers Sequel Conan the Destroyer (1984) zahlreiche weitere US-amerikanische Produktionen wie Don Coscarellis The Beastmaster (1982) oder Matt Cimbers Hundra (1983)⁵. Bei fast all diesen US-amerikanischen Titeln⁶ handelt es sich um kostengünstige, ab Mitte der 1980er Jahre nahezu ausschließlich exklusiv für den Heimvideomarkt hergestellte Exploitation-Produktionen. Zum anderen hat auch das italienische
Roger Behrens, Jonas Engelmann und Johannes Ullmaier. Mainz: Ventil 2009. S. 164–168. 4 Der aus den Distributionsformen resultierende Mangel an symbolischem Kapital scheint mir der entscheidende Grund für die völlige Nicht-Existenz von Forschungsliteratur zu diesem Subgenre, dem Barbarenfilm, zu sein. 5 Weiter zählen dazu James Sbardellatis Deathstalker (1983), Ralph Bakshis Fire & Ice (1983), John C. Brodericks The Warrior and the Sorceress (1984), Héctor Oliveras Wizards of the Lost Kingdom (1985) und Barbarian Queen (1985), Richard Fleischers Red Sonja (1985), Alejandro Sessas Amazons (1986) und Stormquest (1987), Jim Wynorskis Deathstalker II (1987), Fritz Kierschs Gor (1987), Alfonso Coronas Deathstalker III: Deathstalker and the Warriors from Hell (1988), Charles B. Griffiths Wizards of the Lost Kingdom II (1988), Joe Finlays Barbarian Queen II – The Empress Strikes Back (1989), John Cardos Outlaw of Gor (1989), Howard R. Cohens Deathstalker IV: Match of Titans (1990), Joseph John Barmettlers Time Barbarians (1990) oder Sylvio Tabets Beastmaster 2: Through the Portal of Time (1991). Späte Nachfolger des eigentlichen Zyklus sind schließlich Fred Olen Rays Wizards of the Demon Sword (1991), Gabrielle Beaumonts Beastmaster – The Eye of Braxus (1996), John Nicolellas Kull the Conqueror (1997) und Henry Krums Barbarian (2003). 6 Mit Ausnahme der beiden Arbeiten von Richard Fleischer und Ralph Bakshis Animationsfilm.
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Populärkino bereits zu Beginn der 1980er Jahre zahlreiche Barbarenfilme hervorgebracht. Hierzu gehören etwa Umberto Lenzis La guerra del ferro – Ironmaster (1982), Antonio Margheritis Il mondo di yor (Einer gegen das Imperium; 1983) oder Lucio Fulcis La conquista (Conquest; 1983)⁷. Trotz der mitunter erheblichen Differenzen der einzelnen Produktionen im Detail – dazu mehr im folgenden Kapitel – lassen sich doch evidente Merkmale bestimmen, durch die der Barbarenfilm sich als spezifisches Subgenre des Abenteuer- und Fantasyfilms konstituiert. So situiert der Barbarenfilm seine Erzählungen in einer mythischen Urzeit, die Referenzen auf historisch verbürgte Fakten zugunsten einer konsequenten Fiktionalisierung vermeidet. Das Setting des Barbarenfilms ist ein diffuser, augenscheinlich weit zurück in der Vergangenheit liegender entwicklungsgeschichtlicher Zeitraum irgendwo zwischen dem Beginn der Stammeshistorie des Menschen und dem der Antike. In diesem Zeitraum tritt mit dem Barbaren ein fast immer männlicher Protagonist auf⁸, der zwar unzivilisiert und ungebildet agiert, nicht aber notwendigerweise einer selbst gesteuerten Affektkontrolle entbehrt. Vielmehr ist der Barbar des Abenteuer- und Fantasyfilms ein prähistorischer Mensch, dessen noble Gesinnung ihn zum archetypischen Heros mythischer Geschichten prädestiniert. Es existiert dabei kein variables Spektrum an Barbarentypen, das Bild des Barbaren zeichnet sich stattdessen durch ein hohes Maß an Konstanz aus. Inspiriert von John Milius’ in Conan the Barbarian entworfener Mythologie eines Nietzscheanischen Übermenschen, der in einer von Aberglauben geprägten Prähistorie durch seinen „Willen zur Macht“⁹ zum Herrscher heranwächst und keiner Autorität jenseits seiner Physis mehr bedarf, entwirft das Genre mit dem Barbaren einen Figurentypus, der mittels bloßer Körperkraft jede ihm auferlegte Prüfung meistert und die ihn umgebende, von omnipräsenter Aggression bestimmte Welt befriedet.
7 Weitere italienische Produktionen sind Joe D’Amatos Ator l’invincible (1983), Ator 2 – l’invincibile orion (1984) und Quest for the Mighty Sword (1990), Franco Prosperis Gunan il guerriero (Gunan – König der Barbaren; 1983), Michele Massimo Tarantinis Sangraal, la spada di fuoco (Das Schwert des Barbaren; 1983), Tonino Riccis Thor il conqustatore (Thor der unbesiegbare Barbar; 1983), Franco Prosperis Il trono di fuoco (The Throne of Fire; 1983), Ruggero Deodatos I fratelli barbari (Die Barbaren; 1987) oder Alfonso Brescias Iron Warrior (1987). 8 Über die komplexe genderpolitische Dimension einiger Barbarenfilme, insbesondere Cimbers Hundra um eine männerhassende Amazone, die im Verlauf des Films zur Mutter, dadurch aber keineswegs in eine patriarchale Ordnung eingegliedert wird, wäre an anderer Stelle ein ausführlicher Diskurs zu führen. 9 Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht: Versuch einer Umwertung aller Werte. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1964.
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Im Folgenden möchte ich diese einleitenden Gedanken entlang zweier diskursiver Knotenpunkte konkretisieren. Erstens soll näher eingegangen werden auf den narrativen Raum des Barbarenfilms. Hier liegt der Fokus auf der dargestellten Welt, die den prähistorischen Menschen als Figur beheimatet und deren Struktur die Repräsentation des Barbaren in entscheidender Weise prägt. Als theoretischer Referenzpunkt eignet sich Michail Bachtins Konzept des Chronotopos, das zur Analyse spatial-temporaler Figurationen der vorliegenden Filme dient. Zweitens kommt Kenneth Duva Burkes poetologische Mythentheorie für eine filmanalytische Betrachtung zur Geltung. Sie hilft, den Barbarenfilm in seiner Struktur als symbolische Form zu begreifen, durch die aus konkreten Narrationen abstrakte Menschenbilder ablesbar sind. Duva Burkes Modell wird dann mit Tom Gunnings Konzept eines ‚Kinos der Attraktionen‘ in Verbindung gebracht, das den Barbarenfilm auf seine spektakulären Schauwerte hin befragt. Ich schließe mit einigen Gedanken zum Menschen- bzw. Körperbild der Figuren im Barbarenfilm, das heißt, ich betrachte die Figuren als Symptome und frage danach, „aus welchen Gründen sie bestimmte Eigenschaften als fiktives Wesen“¹⁰ besitzen. Kulturtheoretischer Horizont ist dabei die Frage nach dem Körper und seiner Signifikanz innerhalb der postindustriellen Gesellschaft.
2 Der Chronotopos des Barbarenfilms Mit dem Begriff des Chronotopos bezeichnet Michail Bachtin eine künstlerische Durchdringung und Verschränkung von Raum und Zeit auf narrativer Ebene. Bachtin entnimmt sein Konzept einem naturwissenschaftlich-physikalischen Zusammenhang, der durch ein vierdimensionales Raum-Zeit-Integral bestimmten Relativitätstheorie nach Albert Einstein, münzt sie jedoch zur narratologischen Schlüsselkategorie um. Dabei ist der Chronotopos eine Verbindung von spatialen und temporalen Parametern, die dialektisch zwischen Form und Inhalt vermittelt und der Geschichte semantisches Potential einschreibt. Im Chronotopos sind nach Bachtin „räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen“ amalgamiert: „Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt an Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineinge-
10 Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008. S. 373.
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zogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“¹¹. Wenn Bachtin vom künstlerischen Chronotopos spricht, dann adressiert er Form-Inhalt-Relationen des Romans, seine Überlegungen lassen sich aber auch für Texte audiovisueller Medien fruchtbar machen.¹² Jede Erzählung bildet einen spezifischen Chronotopos aus, verschränkt Zeit und Raum auf eine bestimmte Weise und sorgt für Verdichtungsprozesse, wobei die Zeit im Raum zur Geltung gebracht wird und die Eigenheiten des Raums in der Zeit sich manifestieren. Räumliche und zeitliche Organisation sind wechselseitig aufeinander bezogen und fungieren in ihrem das latente Geschehen manifest machenden Zusammenspiel als Prädisposition jeder bildhaften Präsentation narrativer Ereignisse. „Der Chronotopos“, so Bachtin, liefert die entscheidende Grundlage, auf der sich die Ereignisse zeigen und darstellen lassen. Und das eben dank der besonderen Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit – der Zeit des menschlichen Lebens, der historischen Zeit – auf bestimmten Abschnitten des Raumes. Dadurch wird es auch möglich, die Darstellung der Ereignisse im Chronotopos (um den Chronotopos herum) aufzubauen. Der Chronotopos dient als Angelpunkt für die Entfaltung der ‚Szenen‘ [...]. Der Chronotopos bildet als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung.¹³
Kurzum, als systematisierendes Ordnungs- und Orientierungsmuster bestimmt er jene spezifische Relation zwischen Handlungsraum und Handlungszeit, die das Handlungspotential einer Narration und ihrer Figuren absteckt. In diesem Sinne besitzt der Barbarenfilm einen genrekonstitutiven Chronotopos, der bei aller Variation im Einzelfall doch für zentrale Konstanten sorgt. So ist der Barbarenfilm durch eine abstrakte Topografie definiert, deren binäre Oppositionsstruktur als narrative Basis fungiert. Stets kontrastiert er Räume von polarer Qualität: Der Barbar bewegt sich permanent zwischen ihm freundlich und feindlich gesinnten Milieus. An diese spatiale Organisation ist eine lose Stationenfolge sukzessiver Dislokationen gekoppelt, deren temporale Struktur
11 Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Aus dem Russischen von Michael Dewey, hrsg. von Edward Kowalski und Michael Degner. Frankfurt a. M.: Fischer 1989. S. 8. 12 Auch wenn Bachtin selbst weder auf stilistische Parameter noch analytische Kategorien eingeht. Siehe auch: Stam, Robert: Subversive Pleasures: Bakhtin, Cultural Criticism, and Film. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1989; Sierek, Karl: Chronotopenanalyse und Dialogizität. Prolegomena zu einer anderen Art der Laufbildbetrachtung. In: montage av 2 (1996). S. 23–49. 13 Bachtin: Formen, S. 200.
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Abb. 2: Felsiger Chronotopos in The Beastmaster (1982) (DVD: Anchor Bay).
eine Wellendramaturgie von Ruhe – Kampf – Ruhe – Kampf – Ruhe ausbildet. Nach einer Vielzahl gewaltsamer Konfrontationen betritt der Barbar schließlich das bedrohlichste Milieu und triumphiert dort über den Antagonisten, bevor die Geschichte zu ihrem Ende kommt. Dabei wird an die Zeitachse stets der Gegensatz zwischen differenten Räumen gebunden, die dem Barbaren mal Schutz, mal Gefahr versprechen. Nach einem Prinzip von zentripetaler Kontraktion und zentrifugaler Expansion wechseln freundliche und feindliche Orte entlang des Chronotopos. Schauplätze können nebeldurchzogene Seenlandschaften sein (wie etwa in Fulcis La conquista), grüne Waldareale (wie etwa in Tarantinis Sangraal, la spada di fuoco), ausgedörrte Hügelketten (wie etwa in Cimbers Hundra), tiefe Felskluften (wie in Coscarellis The Beastmaster) oder karge Steppen zu Fuße eines Vulkans (wie etwa in Lenzis La guerra del ferro – Ironmaster). Der Chronotopos des Barbarenfilms erinnert an Bachtins Modell der „Abenteuerzeit“, wo die „Handlung des Sujets […] sich auf einem sehr breiten und geographisch wechselnden Hintergrund [entfaltet]“¹⁴, Raum und Zeit allerdings zu keinem Zeitpunkt konkret spezifiziert sind. „Once upon a time … a time of demons, darkness and sorcery“ heißt es in einer Voice-over zu Beginn von Deodatos I fratelli barbari paradigmatisch. Auch divergieren die einzelnen Chronotopoi von Film zu Film durchaus. Milius’ und Nispels Conan the Barbarian sowie Conan the Destroyer lokalisieren ihre Handlung in einem imaginären Eurasien zwi-
14 Ebd., S. 11.
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Abb. 3: Prähistorischer Chronotopos in Nispels Conan the Barbarian (2011) (DVD: Warner).
Abb. 4: Ikonografie des Ritterfilms in Barbarian Queen II – The Empress Strikes Back (1992) (DVD: New Concorde).
schen schneebedeckten Winterlandschaften im Norden, ausgedörrten Wüsten im Süden und gräserwehenden Steppen im Osten, das Geschehen ereignet sich wohl zu Beginn der Eisenzeit, da bereits eiserne Waffen geschmiedet werden. Diesem Paradigma folgen etwa Hundra, Thor il conquistatore, oder Stormquest¹⁵. Andere Filme konstituieren einen eklektischeren Chronotopos und evozieren Reminiszenzen nicht nur an Milius’ Conan the Barbarian, sondern bedienen sich auch der Ikonografie des Ritterfilms, durch die ihre barbarischen Helden
15 Auch: Fire & Ice, Red Sonja, Ator l’invincible, Ator 2 – l’invincibile orion, Gunan il guerriero, Sangraal, La spada di fuoco, La conquista, Amazons, Iron Warrior, I fratelli barbari oder Barbarian.
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sich bewegen. Sie nutzen Burgen und Festungen mit Katakomben und Kellergewölben als Setting, ohne aber einen dezidiert mittelalterlichen Chronotopos zu entwerfen. Hierunter fallen einige sich bisweilen an John Boormans Sword & Sorcery-Spektakel Excalibur (1981) orientierende Titel wie The Beastmaster, The Warrior and the Sorceress oder Kull the Conqueror¹⁶. Ein Film wie Barbarian Queen wiederum bezieht sich im Dialog auf das Römische Imperium, lehnt sich ikonographisch allerdings mitnichten an den Antikfilm an. Der Film bleibt ganz dem prähistorischen Ambiente von Conan the Barbarian verpflichtet, inszeniert seine Schaukämpfe in einer Gladiatorenarena, die keinerlei römische Attribute besitzt. Wie das Vorbild gibt Barbarian Queen niemals konkrete Hinweise auf einen eindeutig bestimmbaren historischen Kontext. Besonders extravagante Paradigmen des Barbarenfilms finden sich mit den Chronotopoi von Gor, Outlaw of Gor und Il mondo di yor. In Gor und Outlaw of Gor wird nach John Normans Fantasy-Romanen von einem Geschichtsprofessor aus New Hampshire erzählt, der zahlreiche Abenteuer auf dem staubigen Steinwüstenplaneten Gor bestreiten muss. Gor ist eine unentdeckte Gegenerde, die sich mit der Erde ihre Umlaufbahn teilt, aber ihr gegenüber situiert ist und daher durch die dazwischen liegende Sonne nicht gesehen werden kann. Dort trifft der Historiker auf eine archaische Kultur, die der prähistorischen Evolutionsperiode des Menschen entspricht und sich durch eine besonders rigide Herr-Knecht-Dialektik auszeichnet. Er entwickelt sich zum austrainierten Streiter gegen Tyrannen und Sklavenhändler, der mit Schwert und Bogen gegen dunkle Mächte kämpft. Der Chronotopos von Gor und Outlaw of Gor assoziiert die räumliche Entfernung zwischen der Erde und Gor also mit einer temporalen Distanz zwischen urzeitlicher und moderner Menschheitsgeschichte. Die Reise nach Gor impliziert für den vermeintlich schwächlichen Intellektuellen aus der postindustriellen Zivilisation eine Rückkehr zu elementaren Erfahrungen, durch die er eine Initiation zum barbarischen Krieger erlebt. Gor und Outlaw of Gor artikulieren die Sehnsucht nach einer von physischen Prüfungen bestimmten Welt, in der das Individuum sich nur durch Gewalt behaupten kann. Mit Bachtin ließe sich so von einem Chronotopos der invertierten „historischen Inversion“¹⁷ sprechen. Es
16 Auch: Beastmaster 2: Through the Portal of Time und Beastmaster – The Eye of Braxus, Il trono di fuoco, Deathstalker, Deathstalker II, Deathstalker III: Deathstalker and the Warriors from Hell und Deathstalker IV: Match of Titans, Sorceress, Wizards of the Lost Kingdom und Wizards of the Lost Kingdom II, Barbarian Queen II – The Empress Strikes Back, Time Barbarians, Quest for the Mighty Sword oder Wizards of the Demon Sword. 17 Bachtin: Formen, S. 79.
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werden nicht Bilder der Gegenwart in eine Vergangenheit projiziert, Bilder der Vergangenheit erscheinen vielmehr als präsente Gegenwart. Il mondo di yor spitzt den phantastischen Chronotopos des Gor-Diptychons noch zu, indem der Film eine noch unwahrscheinlichere Diegese möglich macht. Er entwirft eine steinzeitähnliche Welt, wo die Menschen sich mit Tierfellen bekleiden, in Höhlen hausen und sich mit Äxten, Holzkeulen oder Knochen gegen Riesenechsen und feindliche Stammeskrieger verteidigen. Ein Jäger aus den Bergen verlässt seine Heimat, um hinter das Geheimnis seiner Herkunft zu kommen, wandert durch Wüste und Flussauen – um schließlich auf einer benachbarten Insel zu landen, die sich im letzten Drittel des Films als Hort einer hochtechnologisierten Kultur entpuppt. Auf ihr herrscht ein megalomaner Wissenschaftler, der sich als Experte in genetischer Biologie erweist und nach der Weltherrschaft strebt. Er verfügt über riesige Rechen- und Kontrollzentren, eine Armee von Androiden mit Laser-Waffen sowie raumschiffartige Flugkörper. Il mondo di yor hybridisiert so den Barbarenfilm deutlich mit primär von George Lucas’ Star Wars (1978) inspirierten Science-Fiction-Motiven. Als Gegenpol zu den eher die Pseudo-Authentizität von Jean-Jacques Annauds La guerre du feu (1981) simulierenden Barbarenfilmen wie La guerra del ferro – Ironmaster gibt sich Il mondo di yor als offenes Genrespiel, das seine synkretistische Disparität niemals verbirgt oder leugnet, sondern sie ostentativ ausstellt. So entsteht ein Chronotopos als Amalgam von Motiven – eine Mischung, welche die einzelnen Partikel zu einer neuen Ganzheit verbindet: Hier wird […] eine Diegese geschaffen, die zusammengefügt ist aus verschiedenen narrativen resp. visuellen Stereotypen, welche unverhohlen bruchstückartig angeordnet werden. Der Film vertuscht das Fragmentarische nicht, sondern betont die Inkohärenz seiner Elemente mit allem Nachdruck. Er sucht nicht in eine homogene ‚mögliche Welt‘ der Imagination einzutauchen, sondern führt uns eine entblößte Konstruktion aus heterogenen Zeichen vor. Man könnte sagen: er schafft eine offen unmögliche Welt.¹⁸
Drehbuchautor und Regisseur Antonio Margheriti arbeitet betont eklektisch, er ist ein ‚Bastler‘ des Kinos, dessen Gestaltungsprinzip die Bricolage darstellt. Marg-
18 Schweinitz, Jörg: Von Filmgenres, Hybridformen und goldenen Nägeln. In: Film und Psychologie – nach der kognitiven Phase? Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft, Bd. 10. Hrsg. von Jan Sellmer und Hans J. Wulff. Marburg: Schüren 2002. S. 79–92, hier S. 89. Bei Bachtin findet sich bereits angedacht, dass manche Erzählungen multiple aufeinander bezogene Chronotopoi ausbilden: „Die Chronotopoi können sich aneinander anschließen, miteinander koexistieren, sich miteinander verflechten, einander ablösen, vergleichend oder kontrastiv einander gegenübergestellt sein oder in komplizierten Wechselbeziehungen zueinander stehen“ (Bachtin: Formen, S. 202).
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Abb. 5: Chronotopos der Bastelei in Il mondo di yor (1983) (DVD: e-m-s).
heritis Bastelei figuriert als ein Vorgang, der etablierte Codes aus ihrem Sinnzusammenhang reißt und in einen anderen Kontext hineinzitiert, so dass ein neuer Sinnzusammenhang konstituiert wird. „Der Bastler“, so die berühmte Passage bei Claude Lévi-Strauss, „ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen: […] die Regel seines Spiels besteht immer darin, […] den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen“¹⁹. Margheritis ‚wilde‘ Bastelei artikuliert eine Abkehr von der modernen „Metaerzählung“²⁰, ohne aber auf postmoderne Ironie zu setzen. Er versieht seine Anleihen und Zitate nicht mit Anführungszeichen, sondern legt sie maximal funktional für die Erzählung zurecht. Der gebastelte Chronotopos von Il mondo di yor zeugt deshalb von einem Traum davon, das Kino zurück in eine vorklassische Naivität zu führen. Er verdeutlicht auf diese Weise eine zentrale Tendenz aller Barbarenfilme. Sie spielen in einem schwer definierbaren wasteland zwischen Prähistorie und Mythos, in
19 Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968. S. 30. 20 Lyotard, Jean-François: Randbemerkungen zu den Erzählungen. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 1990. S. 49–53, hier S. 51.
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einer Nicht-Zeit und an einem Nicht-Ort. So ungezwungen wie der Barbarenfilm generische Strukturen von Abenteuer-, Fantasy-, Horror- und gar Science-FictionKino hybridisiert, so frei geht er auch um mit den Dimensionen Raum und Zeit. Einen physischen Referenzraum der Bilder gibt es nicht, damit korreliert die atemporale Lokalisierung der Aktion. Im Barbarenfilm begegnen dem Publikum durch und durch mythische Welten.
3 Der Barbarenfilm zwischen Mythos und Attraktion Als paradigmatischer Generator von Mythen tritt das neue Medium Film in der Moderne an die Seite der alten Medien Sprache und Schrift. Es führt mit seinen audiovisuellen Chronotopoi die vorgeschichtliche, antike und mittelalterliche Tradition epischen Erzählens fort. Der Film entwirft nun seinerseits Mythologien, das heißt genealogische, mehr oder weniger systematisierte Fiktionen nicht-rationaler Ursprungsgeschichten der Menschheit und ihrer frühen Helden. Durch Spatialisierung, Temporalisierung und Personalisierung bildet auch er mythische Narrative aus. Dabei rekurriert der Film keineswegs nur auf tradierte Stoffe und Erzählungen, vielmehr arbeitet er selbst an der Konstitution moderner Mythen. Kenneth Duva Burkes bekannte These von einer mythischen Tätigkeit des Menschen, die nicht nur anthropologische Kontexte berührt, sondern in ihrer narrativen Qualität als Stiftung „progressiver Formen mit Beginn, Mitte und Ende“²¹ auch die Produktion von Literatur bedingt, lässt sich deshalb zweifelsohne auf das Medium Film übertragen. Begreift man den Barbarenfilm als modernen Mythos, so drängt sich neben der volkskundlichen Perspektive auch ein poetologischer Fokus auf. Es geht damit im Folgenden weniger darum, der historischen Herkunft und sukzessiven Verbreitung von Mythen nachzugehen, vielmehr soll der Barbarenfilm in seiner ästhetischen Verfasstheit zum Objekt der Mythenanalyse werden. Diese wiederum lässt auch jenseits der poetischen Textgrenzen extrinsische Rückschlüsse auf die basalen Determinanten der einzelnen Strukturelemente zu. Duva Burkes Mythentheorie ist hier auch für die konkrete Detailanalyse nützlich, adressiert sie doch einen Kampf-Mythos, der für den Barbarenfilm elementare Bedeutung
21 Duva Burke, Kenneth: Mythos, Dichtung und Philosophie. In: Texte zur modernen Mythentheorie. Hrsg. von Wilfried Barner, Anke Detken und Jörg Wesche. Stuttgart: Reclam 2003. S. 139–159, hier S. 142.
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besitzt. Dieser Kampf-Mythos handelt von der Auseinandersetzung zwischen einer alten und einer neuen Gottheit, die mit dem Sieg der neuen Gottheit und deren eigener Kultstiftung endet. Für Duva Burke verfügt der Kampf-Mythos über zehn zentrale Funktionen, die seine narrative Struktur bedingen: Der FEIND war göttlichen Ursprungs. Der FEIND hatte eine besondere Wohnstätte. Der FEIND hatte eine außergewöhnliche Erscheinung und ebensolche Eigenschaften. Der FEIND war bösartig und gierig. Der FEIND verschwor sich gegen den Himmel. Ein göttlicher STREITER [champion] erschien und stellte sich ihm entgegen. Der STREITER bekämpfte den FEIND. Der STREITER verlor beinahe den Kampf. Der FEIND wurde zuletzt vernichtet, nachdem er überlistet, betrogen oder verzaubert worden war. Der STREITER entledigte sich des FEINDES und feierte seinen Sieg. (Im Zusammenhang mit dieser letzten Phase begründete der STREITER, nachdem er ‚von der Befleckung mit Blut gereinigt‘ wurde, ‚einen Kult, ein Ritual, ein Fest, und errichtete einen Tempel für sich selbst.‘)²²
Betrachtet man Duva Burkes durch dialektische Negationen definierten Katalog, so ergeben sich erstaunliche Parallelen zur Erzählstruktur des Barbarenfilms. Als Stifter, ästhetischer Prototyp und bis heute sicherlich komplexester Vertreter des Genres nimmt John Milius’ Conan the Barbarian gar alle zehn Funktionen auf. Milius’ „FEIND“ ist der von James Earl Jones gespielte Antagonist Thulsa Doom. Bei diesem handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Menschen, er ist vielmehr zugleich Hohepriester als auch Gottheit eines kannibalistischen Schlangenkultes (Funktion 1). Als solcher bewohnt er eine voluminöse Tempelanlage, in der blutige Rituale gefeiert werden (Funktion 2). Doom unterscheidet sich nicht nur durch seinen massiven dunkelhäutigen Körper von den hellhäutigen Protagonisten des Films²³, besitzt nicht nur extraordinäre Hypnosekräfte, er kann sich auch in ein riesiges Reptil transformieren (Funktion 3).
22 Ebd., S. 143. 23 Hier besitzt der Film deutlich rassistische Implikationen. Zur Frage des Rassismus bei
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Abb. 6: Der hypnotische Blick des Thulsa Doom in John Milius’ Conan the Barbarian (1982) (DVD: Universal).
Abb. 7: Der gekreuzigte Protagonist am Punkt der Peripetie von Milius’ Conan the Barbarian (1982) (DVD: Universal).
Alle an eine Schlange gekoppelten negativen Konnotationen scheinen auf ihn zuzutreffen: Er agiert verschlagen und hinterlistig, sucht nie den direkten Kampf, tötet aber ebenso gnadenlos wie grausam (Funktion 4). Zweifellos zählt er „zu der Sorte von bösartigen, lüsternen und gierigen Charakteren, [… so] dass man glücklich wäre ihn los zu sein“²⁴. Sowohl dadurch, dass Doom sich selbst zum Gott auf Erden erklärt (wobei Milius schon zu Beginn dezidiert für einen Nietzscheanischen Materialismus eintritt: „That which does not kill us makes us stronger“, heißt das Motto noch vor den Credits) als auch durch seine megalomanen Raubzüge und seinen dekadenten Lebensstil besitzt er Züge einer Hybris, die sich antithetisch zur barbarischen „discipline of steel“ verhält, wie sie der Film propagiert (Funktion 5).²⁵ Mit dem von Arnold Schwarzenegger verkörperten Titel-
Robert E. Howard siehe Finn, Mark: Blood & Thunder: The Life & Art of Robert E. Howard. Austin: Monkeybrain Books 2006. S. 80ff. 24 Duva Burke: Mythos, S. 146. 25 „You killed my mother! You killed my father, you killed my people! You took my father’s sword“, wird ihm Conan zurufen, und Doom antwortet: „It must have been when I was younger. There was a time, boy, when I searched for steel, when steel meant more to me than gold or jewels“. Conan schlägt daraufhin einen Konnex zur Anfangsrede seines Vaters: „The riddle ... of steel“. Doom wiederum hat sich vom Stahl zugunsten der Leibesfreuden abgewandt: „You know what it is, don’t you boy? Shall I tell you? It‘s the least I can do. Steel isn’t strong, boy, flesh is strong“.
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helden Conan tritt Duva Burkes „STREITER“ auf. Sein Ziel ist es, den von Doom begangenen Mord an seinen Eltern zu vergelten und den Schlangengott zu töten (Funktion 6). Conan dringt in Dooms Tempelanlage ein, um sich an ihm zu rächen (Funktion 7). Er wird aber gefasst und von Doom an einem Baum gekreuzigt. Dort stirbt er beinahe und kann nur in letzter Sekunde von seinen Gefährten gerettet werden. Es ist die Peripetie als dramatischer Wert einer „durch Umschlagen verkomplizierten Handlung“²⁶ abermals erreicht, wenn ein Kampf gegen Dooms Armee Conan später noch einmal fast das Leben kostet und ihn eine Geistererscheinung seiner toten Geliebten beschützt (Funktion 8). Doom selbst entkommt, Conan aber verfolgt ihn unbemerkt zurück zur Kultstätte. Hier wird der Kampf-Mythos zum „Siegesmythos“²⁷ im Sinne von Duva Burke: Conan lauert Doom auf und enthauptet ihn während eines Massenrituals vor seinen Jüngern (Funktion 9). Nach dem Tod Dooms verlassen letztere die Szenerie, Conan steckt den leeren Tempel in Brand. Der Epilog des Films zeigt dann einen gealterten Conan, zum König der Cimmerier gekrönt, auf seinem Thron sitzen (Funktion 10). Somit sind alle – selbst von Duva Burke nur virtuell spezifizierten – Funktionen bei Milius aktualisiert. Mit mal mehr, mal weniger Detailakribie verfolgt der Barbarenfilm das Narrationsmodell des Kampf-Mythos bzw. Sieges-Mythos bis hin zu Marcus Nispels rezentem Remake von Conan the Barbarian. Doch auch schon in Milius’ das gesamte Genre präfigurierendem Film formt die mythische Erzählung nur eine von mehreren divergierenden Stimmen im Textgefüge. Von Beginn an zeigt der Barbarenfilm neben seiner Neo-Mythisierung zugleich eine differente zweite Ökonomie, die als autonomes System zur narrativen Entwicklung quer steht und von ihr unabhängig ist. Schon bei Milius geht die mythisierende Reduktion des Dialogs einher mit der Apostrophierung selbstgenügsamer Schauwerte. Minutenlange Kampfsequenzen, drastische Splatter-Effekte, aufwändige Breitwandkompositionen, rhythmische Montage, ein monumentaler Orchestersoundtrack und nicht zuletzt Arnold Schwarzeneggers spektakulärer Hard Body fungieren als Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Barbarenfilm scheint daher weniger dem ‚klassischen‘ Hollywoodstil als einem „Kino der Attraktionen“ nahe zu stehen, wie es Tom Gunning für die frühen Filme bis 1906 diagnostiziert:
26 Duva Burke: Mythos, S. 148. 27 Ebd.
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Abb. 8: Der spektakuläre Körper als Fokus der Aufmerksamkeit in Milius’ Conan the Barbarian (1982) (DVD: Universal). Der dramatischen Zur-Schau-Stellung wird der Vorrang gegeben vor dem Narrativen, dem direkten Auslösen von Schocks oder Überraschungen vor dem Ausbreiten einer Geschichte oder dem Erschaffen eines diegetischen Universums. Das Kino der Attraktionen verwendet nur wenige Energie darauf, Figuren mit psychologischer oder individueller Persönlichkeit auszustatten. Indem es sich […] Attraktionen bedient, wendet es seine Energie eher nach außen in Richtung Zuschauer, der als solcher akzeptiert wird, statt nach innen, auf Situationen, die auf (fiktiven) Figuren basieren und essentiell für das klassische erzählerische Moment wären.²⁸
Anstatt den Zuschauer in eine voyeuristische Position gegenüber der Narration zu versetzen, gibt das Kino der Attraktionen sich exhibitionistisch. Es lässt den Zuschauer weniger in die vom Film dargestellte Welt eintauchen, sondern offeriert ihm eher das Potential, sich an audiovisuellen Attraktionen zu delektieren. Statt des Erzählens dominiert das Zeigen. In seinen Überlegungen zur Ästhetik hat Martin Seel versucht, Gunnings Thesen zum frühen Kino zu generalisieren, sie von einer filmhistorischen in eine filmtheoretische Position zu überführen. Er entwickelt, in Abgrenzung sowohl zur realistischen (Siegfried Kracauer, André Bazin) als auch illusionistischen Filmtheorie (Christian Metz, Richard Allen), einen anti-realistischen Zugang: „Filme erzeugen ein Klangbildgeschehen, das nicht – jedenfalls nicht primär und nicht generell – dazu geschaffen ist, als Darbietung eines wirklichen Geschehens
28 Gunning, Tom: Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde. In: Meteor. Texte zum Laufbild 4 (1996). S. 25–34, hier S. 29f. Den Begriff der Attraktion entnimmt Gunning den frühen Schriften von Sergej M. Eisenstein. Dort ist eine Attraktion verstanden als „jeder zu demonstrierende Fakt (jede Handlung, jeder Gegenstand, jede Erscheinung, jede bewußte Kombination), der durch Druckausübung eines bestimmten Effekts auf die Aufmerksamkeit und Emotion des Zuschauers überprüft und bekannt wurde und der, kombiniert mit anderen, dazu geeignet ist, die Emotion des Zuschauers in diese eine oder in eine andere, vom Ziel der Aufführung diktierte Richtung hin zu verdichten“ (Eisenstein, Sergej M.: Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. S. 16).
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oder wie eine solche Darbietung wahrgenommen zu werden; es will und kann – zugleich oder allein – um seiner Attraktionen willen wahrgenommen werden.“²⁹ Eine solche potentielle Simultaneität von Mythos und Attraktion zeichnet mit Sicherheit den Film von John Milius aus. Es existiert eine Dominanz des Spektakels, ohne dass der narrative Zusammenhang aufgehoben wäre. Attraktionen suspendieren den Fortgang der Narration nicht, sie treiben ihn an, besitzen ihre eigene Struktur mit Konflikt, Kampf und Lösung. Die Narration wiederum verleiht den Attraktionen erst mythischen Sinn, durch Figuren und Geschichte. Milius, der Schüler von John Ford und Sergej M. Eisenstein – sein Conan the Barbarian steckt voller Verweise auf The Searchers (1956) und Alexander Nevsky (1938) – strebt nach einer paritätischen Balance von Narration und Attraktion. So entsteht eine ganz eigene filmische Arithmetik, die ebenso auf narrative Prinzipien der Kausalität und Kontinuität setzt wie auf faszinierende Schauwerte von illusionärer Kraft. Milius’ Conan the Barbarian bildet damit eine ästhetische Kontur aus, die allerdings nicht alle Barbarenfilme erreichen. In den späteren Genrebeiträgen werden die kohärente Narration und ihr integrativer Illusionismus sukzessive, schließlich bis zur Auflösung reduziert. Sie spalten den Kern der mythischen Geschichten, um affektive Energie freizusetzen. Durch sein Insistieren auf der Ausstellung von Effekten, aber auch durch die figurenseitige Typisierung zu Lasten jeder Charakterisierung und durch die Emphase der Performanz muskulöser Körper vor einfühlendem Schauspiel erinnert der Barbarenfilm überdeutlich und immer stärker an die Wurzeln des Kinos: Zirkus, Varieté und Jahrmarktkultur. Die Effekte gehen nicht mehr auf in einer diegetischen Funktion, fördern kaum noch das Erzählte. Permanent changierende audiovisuelle Reize subvertieren Mechanismen von Einfühlung und Identifikation. Ein italienischer Genrebeitrag wie Lucio Fulcis La conquista etwa treibt den Fokus auf Attraktionen so weit, wie es im institutionalisierten Spielfilm nur möglich scheint. Fulci verzichtet völlig auf eine ‚klassische‘ Heldenreise respektive Dramaturgie mit „setup“, „complicating action“, „development“, „climax“ und „epilogue“³⁰. Stattdessen werden Szenen lose aneinander gereiht: Kämpfe gegen Werwölfe, Zombies, eine maskierte Sonnenpriesterin und einen gestaltwandlerischen Geist.³¹ Sein völliges Desinter-
29 Seel, Martin: Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. S. 161. 30 Vgl. Thompson, Kristin: Storytelling in the New Hollywood. Understanding Classical Narrative Technique. Cambridge: Harvard University Press 1999. S. 29ff. 31 Der Kreativität am Ersinnen von Feinden für den barbarischen Helden scheinen auch in anderen Filmen keine Grenzen gesetzt: Es wird gekämpft gegen Zwerge (in Cimbers Hundra), Affenmenschen (in Tarantinis Sangraal, la spada di fuoco), Lindwürmer (in Deodatos I fratelli barbari), marodierende Bisons (in Lenzis La guerra del ferro – Ironmaster), gegen
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Abb. 9: Surreale Atmosphäre in Fulcis La conquista (1983) (DVD: Blue Underground).
esse an Dialog und Dramaturgie kompensiert Fulci nicht nur durch die für ihn charakteristische Konzentration auf explizite Gewaltdarstellungen, er setzt auch inszenatorisch-technische Strategien ein, die La conquista dem nicht-figurativen Experimentalfilm annähern. Die durchgängige Arbeit mit Weichzeichnern, Blendenflecken, Doppelbelichtungen, langen Brennweiten oder abrupten Schnitten trägt ebenso wie der Einsatz von Echoeffekten auf der Tonspur dazu bei, eine delirierend-traumartige, surreal-halluzinogene Atmosphäre zu kultivieren. In La conquista bleiben die Attraktionen ästhetischer Surplus, unproduktive, irrationale Energie; die Erfahrung geht nicht auf im Dekodieren der Zeichen. Ein präreflexiver Mehrwert jenseits von Motivation und Zeichencharakter dominiert, der auf somatische Rezeptionen im Unterbewusstsein abzielt, noch bevor Verstand und Kognition zu arbeiten beginnen. Die Aktivierung von Vorstellung und Gedächtnis, entlang der begrifflichen Sprache, scheint Fulci zu suspendieren durch evasive Affektexpression und eine sinnlich-onirische Wahrnehmung. Es ist, als wolle er durch seine extreme Abstraktion den Barbaren weniger als mythische Figur zeichnen, sondern mit vorkommunikativer Emphase vielmehr einen präödipalen „Genotext“³² beschreiben.
4 Conclusio Die Akzentuierung der Attraktion im Barbarenfilm betont ihre Protagonisten als Geschöpfe der Fantasie. Barbarenfilme handeln nicht von einem historischen Menschen, sie entwerfen vielmehr abstrakte Menschenbilder, die aus konkre-
Schattenwesen (in D’Amatos Ator l’invincible) oder sogar gegen Fledermausmumien (in Coscarellis The Beastmaster). 32 Vgl. Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978. S. 95ff.
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ten Repräsentationen resultieren. History ist story, so lautet die Gleichung in ihren Bewegungsbildern. Das Kollektive ergibt sich aus dem Individuellen, die Situation aus der Aktion. Das Ganze wiederholt sich im Einzelnen, das Einzelne spiegelt sich im Ganzen. Der Barbar trägt die Menschheitsgeschichte, und die Menschheitsgeschichte stützt den Barbaren. Er muss sich jedoch in einer Welt zurechtfinden, die von ihm ständig Erprobung einfordert, durch physische Gewalt. Es ist ein Universum, das sich definiert über Primitivität, eine prä-zivilisatorische Wildheit. Der Barbar zieht aus in die Fremde, und diese Fremde stellt sich wieder und wieder gegen ihn. Was sie bereithält, sind vor allem Bedrohung und Gefahr. Jeder für sich gegen alle, das ist die Devise. Töten, um nicht getötet zu werden. Der Barbarenfilm macht den permanenten Kampf zum Naturzustand des Menschen, im Sinne von Thomas Hobbes, der das von tödlicher Konkurrenz bestimmte Leben charakterisiert als „solitary, poor, nasty, brutish, and short“³³. Diese unwirtliche Welt sich untertan zu machen im heroischen Akt, das erscheint als die Bestimmung des Barbaren. Heroen, so die geläufige Definition von G.W.F. Hegel, sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist. Diese unmittelbare Einheit aber von Substantiellem und Individualität der Neigung, der Triebe, des Wollens liegt in der […] Tugend, so daß die Individualität sich selbst das Gesetz ist, ohne einem für sich bestehenden Gesetz, Urteil und Gericht unterworfen zu sein.³⁴
In diesem Sinne entwirft der Barbarenfilm eine Heroenzeit, die ihre Helden permanent in Grenzsituationen versetzt, sie Stärke, Courage und Tapferkeit beweisen lässt. Unabhängigkeit, Souveränität, Härte, Mut, Individualismus oder Determination, das sind Eigenschaften, durch die der Barbar sich auszeichnet im Kino. Als Heros ist sein Auftritt eine Erscheinung. Was immer sofort auffällt: dass die Barbaren auffallen. Der Barbarenfilm zeigt außergewöhnliche Menschen, die außergewöhnliche Dinge tun, das aber als die gewöhnlichste Sache der Welt. Sie verfügen über ein idealisiertes Ethos, das ihren Akten der Gewalt eine moralische Größe einschreibt. Sittliche Haltung entspringt nicht schon aus der Einsicht des Geistes, sondern muss sich bewähren, in der Praxis, im konkreten Handeln: in der integren Gewalt, die durch Moral legitimiert ist.
33 Hobbes, Thomas: Leviathan. Hrsg. von C.B. MacPherson. London: Penguin 1985. S. 186. 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 1–3. Stuttgart: Reclam 1983. S. 272.
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Abb. 10: Apostrophierung des Körpers in Nispels Conan the Barbarian (2011) (DVD: Warner).
Das filmische Universum, in dem der Barbar sich bewegt, ist ein existentialistisches, eines, wo „der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert“³⁵. Wenn der Barbar so als Krieger charakterisiert wird, dann verkörpert er eine Idee archaischer Gewalt, die stets konstruktiv wirkt. Sie schafft ein gutes Neues auf den Gräbern eines bösen Alten. Dabei fungiert der athletische, muskulöse, durch knappe Kleidung bisweilen hyperbolisch ausgestellte Körper des Barbaren als äußeres Zeichen seiner inneren Tugendhaftigkeit. Diese ethische Qualität hebt ihn ab von den Antagonisten seiner Umwelt, deren Gewalt destruktiven Charakter besitzt. Auch sie sind barbarische Individuen, agieren aber offen bösartig und aus niederen Handlungsmotiven. Befriedigung des Geschlechtstriebes, Habgier, Machtwahn oder schlichte Mordlust leiten ihre Taten, die sich nicht selten durch besondere Heimtücke und Grausamkeit auszeichnen. Die Diegese des Barbarenfilms ist damit charakterisiert durch eine Omnipräsenz von Gefahr und Gewalt. Barbarenfiguren leben in einer Welt permanenter Aggression, in der nur das Gesetz des Stärkeren zählt, und haben dieser Aggression nur ihre Integrität und Körperkraft entgegenzusetzen. Begreift man Figuren nun symptomatisch als „Kulturphänomen, Einflussfaktor oder Anzeichen für […] soziokulturelle Sachverhalte“³⁶, dann ließe sich der Barbarenfilm aus dieser Perspektive (mit seiner jüngsten Renaissance durch Nispels Conan the Barbarian) ver-
35 Sartre, Jean-Paul: Drei Essays. Ist der Existentialismus ein Humanismus? Materialismus und Revolution. Betrachtungen zur Judenfrage. Frankfurt a. M./Berlin: Ullstein 1969. S. 11. 36 Eder: Figur, S. 137.
Barbaren|Bilder
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stehen als Artikulation einer Abwehrhaltung gegenüber dem Wandel des warenproduzierenden hin zu einem zeichenproduzierenden Kapitalismus. Konträr zur Industriegesellschaft, die den Körper in alltäglichen Arbeits- und Ausbeutungsprozessen ständig trainiert hat, ist ihm in der postfordistischen Kommunikationsgesellschaft seine zentrale Bedeutung abhanden gekommen. Wo digitale Medien eine analogische Repräsentation suspendieren und Körperreferenzen instabil machen, wo korporale Interaktion mit der Umwelt zu einer Funktion immaterieller Datenströme wird, da verschwindet auch das Individuum: „Körper als letzte Bezugspunkte der Wahrnehmung und Reflexion lösen sich in fraktale Bilder auf; das Schicksal der Subjekte folgt diesem Prozeß.“³⁷ In diesem Szenario fungiert der menschliche Körper nur noch als störendes Beiwerk einer postbiologischen Utopie, ist eine „unwillkommene Erinnerung an die Natur, die wir in uns tragen“³⁸. Zur Utopie scheint dagegen ein „Sprung aus den Fesseln des Fleisches“ geworden zu sein, hinein „in die reine Welt der Matrix, der grenzenlosen Informationsströme“³⁹. Der Barbarenfilm kann auf diesem Hintergrund als Symptom eines Paradigmenwechsels vom Primat des Körpers zur Dominanz der Medien verstanden werden: Er stellt dem Publikum projektive Körper- und Menschenbilder als symbolische Modelle zur Verfügung. Er wäre demnach ein Zeichensystem, das mit seinen Sehnsuchtsbildern nach physischer Grenzerfahrung der nostalgischen Weltsicht des entkörperlichten Menschen entgegenkommt und diese Sehnsuchtsbilder in der Spannung zwischen Mythos und Attraktion wirkungsvoll in Szene setzt.
37 Kamper, Dietmar und Christoph Wulf: Lektüre einer Narbenschrift. In: Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Hrsg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Berlin: Reimer 1989. S. 1–7, hier S. 4. 38 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Fink 2001. S. 109. 39 List, Elisabeth: Vom Enigma des Leibes zum Simulacrum der Maschine. Das Verschwinden des Lebendigen aus der telematischen Kultur. In: Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne. Hrsg. von Elisabeth List und Erwin Fiala. Wien: Passagen 1997. S. 121–137, hier S. 126.
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Philanthrokapitalheroismus Der Unternehmer im Superheldenfilm Abstract: This text discusses the role of entrepreneurs-as-superheroes in blockbuster movies. Proceeding from the diagnosis that until today the economic aspects of superheroism have been rarely explored, initially, the historic links between entrepreneurship, capitalism, (super)heroism and the corresponding ideas of mankind are outlined by the example of, amongst others, Joseph Schumpeter’s idea of modern entrepreneurship/capitalism as forces of creative destruction, and the quasi-Nietzschean ideological traits of today’s neoliberalism. Secondly, three recent superhero-blockbusters (Iron Man, 2008; The Dark Knight, 2008; Watchmen, 2009) with entrepreneurs as central protagonists are discussed with regard to the specific kinds of entrepreneurship they embody. Thirdly, it is argued that the superhero blockbusters in question present a rather old-fashioned and patriarchic understanding of entrepreneurship as opposed to the more recent wave of ‘philanthrocapitalism’, an economically rooted civil religion, tending to encourage individuals to become self-empowered. This anachronism or belatedness, it could be argued, reflects the state of the medium cinema in general and the mythological nature of blockbusters in particular.
1 Einleitung Im neuen Jahrtausend haben die leicht angestaubten Superhelden der ComicKultur eine verblüffende Renaissance auf der Kinoleinwand erlebt.¹ Bemerkenswert ist, dass immerhin drei der Superhelden-Blockbuster einen Unternehmer und Großkapitalisten als Protagonisten haben: Christopher Nolans Batman-Ver-
1 Vgl. hierzu u. a. Friedrich, Andreas u. Andreas Rauscher (Hrsg.): Superhelden zwischen Comic und Film (Film Konzepte 6). München: edition text + kritik 2007; Horst, Sabine: Lasst doch einfach alles raus! Einsam, trostlos und ohne Kreditkarte: Die Superhelden dieses Kinosommers wissen auch keinen Ausweg aus den Katastrophen unserer Welt. Aber sie lernen allmählich, mit ihnen zu leben. http://www.zeit.de/2008/29/Kino-Superhelden (11.11.2011); Füchtjohann, Jan: „Captain America – The First Avenger“ im Kino. Superheld für Nerds. http:// www.sueddeutsche.de/kultur/captain-america-the-first-avenger-im-kino-superheld-fuernerds-1.1131805 (11.11.2011).
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filmung The Dark Knight (2008), Jon Favreaus Iron Man (2008) und Zack Snyders Watchmen (2009)², wobei im Falle des letzteren, wie ich später zeigen werde, Superheld und Superschurke identisch sind. Alle drei nutzen nicht zuletzt ihre finanzielle Macht, um Gutes zu tun. Der ‚Vater‘ aller wohltätigen Superhelden, Superman, daran sei erinnert, war kein Großkapitalist, sondern ein Alien vom Planet Krypton, der eher bescheiden als Zeitungsreporter arbeitete. Auch SpiderMan verfügte nach einem Spinnenbiss nur über Superkräfte, nicht aber über Superkapital. Hingegen sind Kapital und Produktionsmittel wie zum Beispiel Forschungslabors oder Fabriken für die hier behandelten Superhelden/Unternehmer Bedingung ihrer Möglichkeiten auf den jeweiligen Missionen. Die Allianz zwischen Unternehmer- und Heldentum entbehrt dabei nicht einer gewissen Logik, verbindet Unternehmer und Superhelden doch im Allgemeinen das aktivische Element des ‚Unter-Nehmens‘. Ohne den Willen zur Tat ist der Held kein Held und der Unternehmer nur ein Nehmer. Auch der Link zum Großkapital ist naheliegend, zeichnen sich Superhelden doch durch philanthropische Projekte aus, die das gewöhnliche Maß übersteigen – und dementsprechend auch höhere Kosten verursachen. Superheldentum ist nicht discounterfähig. In medienwissenschaftlicher Hinsicht ist vorab festzuhalten, dass die komplexe und fragmentierte Comic-Welt der Superhelden im Blockbusterkino tendenziell auf ihre mythologischen Essenzen reduziert wird. Während die Comichefte in schneller Frequenz gedruckt werden und mittlerweile einen unüberschaubaren, ewigen Metamorphosen unterliegenden Kosmos der Panels, Plots, Charaktere, sidekicks und origin stories bilden, sind Blockbuster trotz einer wachsenden Zahl von prequels und sequels ein eher träges Medium, das, im Idealfall, ein globales Publikum mit Schlagbildern unmittelbar überwältigt: „Im Gegensatz zu den Filmen, die sich auf die zentralen Elemente einiger ausgewählter Plots beschränken müssen, können die Comics aufgrund ihres seriellen Formats flexibel auf aktuelle Pop-Phänomene reagieren.“³ Insofern steht zu erwarten, dass sich in den eingangs aufgeführten Superhelden-Blockbustern vornehmlich solche Typologien des Unternehmertums kristallisieren, die zwar vordergründig gegenwartsbezogen erscheinen mögen, im Kern aber ältere, mythologisierende Chiffren aufrufen. Diese These möchte ich im Folgenden verifizieren und abschließend der
2 Watchmen, die Verfilmung von Alan Moores anspruchsvoller Graphic Novel, ist eine der bislang kommerziell erfolgreichsten Comic- bzw. Graphic Novel-Adaptionen jenseits des DCund Marvel-Universums. Deshalb ist es gerechtfertigt, den Film hier auf einer Augenhöhe mit Iron Man und The Dark Knight zu verhandeln. 3 Rauscher, Andreas: Stadtneurotiker, Outlaws und Mutanten. Das Marvel Universum im Film. In: Friedrich/Rauscher: Superhelden, S. 51–71, hier S. 52.
Der Unternehmer im Superheldenfilm
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Frage nachgehen, ob die Figur des Unternehmers im Superheldenfilm kompatibel mit der vielstimmig ausgerufenen Wende hin zum ‚Philanthrokapitalismus‘⁴ ist oder deren Prämissen widerspricht.
2 Der Kapitalist als Stiefkind. Zum Forschungsstand Reflexionen über den Unternehmer spielen im Superheldendiskurs bislang eine marginale Rolle. Umberto Eco zeichnete in seinem Essay Der Mythos von Superman (1964) das Prinzip der Mythisierung als unbewusste Symbolisierung nach, Karin Kukkonen beschäftigte sich in ihrem Buch Neue Perspektiven auf die Superhelden (2008) mit Polyphonie und Heteroglossie in Alan Moores Graphic Novel Watchmen (1986/1987), Tom Morris und Matt Morris widmeten sich unter moralistischen Vorzeichen dem Nexus von Superheroes and Philosophy (2005), der Physiker James Kakalios rechnete in seiner Studie Physik der Superhelden (2008) minutiös nach, welche von Supermans Supersprüngen realistisch sind und welche nicht. Wie die oftmals mit enormem Reichtum gesegneten Superhelden ihr Geld verdienen, wie sie es investieren, wie sie ihre Unternehmen führen – diese Nebensächlichkeiten werden beiseite gelassen. Auf Wikipedia, um nur ein Beispiel zu nennen, werden als Gründe für Batmans Überlegenheit „Intelligenz, Willenskraft, harte[s] Training und seine technischen Hilfsmittel“ erwähnt.⁵ Von seinem Geld ist keine Rede. Unternehmer, Kapitalisten, CEOs, Investoren und Spekulanten sind somit die Stiefkinder des Superheldendiskurses⁶, obwohl sie im Marvel- und DC-Universum durchaus ihren Platz haben. Das verwundert umso mehr, als der Unternehmer sowohl eine paradigmatische Heldengestalt als auch eine paradigmatische Hassfigur der Moderne ist. Er hat vielleicht nachhaltiger als alle anderen Leitfiguren das ‚Menschenbild‘ des ehemaligen Westens und des ehemaligen Ostens geprägt, mal im positiven, mal im negativen Sinne. So analysiert Ulrich
4 Zu den unterschiedlichen Facetten und Protagonisten des Diskurses vgl. Bishop, Matthew u. Michael Green: Philanthrocapitalism: How Giving Can Safe the World. London: A & C Black Publishers 2010. 5 Div. Autoren: Batman. http://de.wikipedia.org/wiki/Batman (11.12.2011). 6 Ausnahmen bestätigen die Regel – in seinem Buch Unleashing the Superhero in Us All (2008) beschäftigt sich T. James Musler auch mit der Bedeutung des Geldes für Batmans Mission.
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Bröckling in seinem Buch Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform (2007) die gegenwärtige (Angst)Blüte unternehmerischer Tugenden im Treibhaus des Neoliberalismus und ruft dabei den Begriff ‚Menschenbild‘ unmittelbar auf: Das unternehmerische Selbst ist ein Abkömmling des Homo oeconomicus, jenes anthropologischen Konstrukts, auf dem die Wirtschaftswissenschaften ihre Modellierungen des menschlichen Verhaltens aufbauen. Insofern fällt die Beschreibung dieser Gestalt auch in das Gebiet einer sozialwissenschaftlichen Anthropologie, die implizite wie explizite Menschenbilder und ihre verhaltensmodifizierenden Effekte analysiert.⁷
Das unternehmerische Menschenbild, so könnte man fortfahren, basiert nicht nur auf dem Mythos des rationalen Homo oeconomicus, sondern ist zugleich das moderne Derivat eines älteren, aristokratisch gefärbten Mythos der Selbstsetzung und Selbstregierung. Dieser Mythos geht heute in Gestalt einer McKinseyKarikatur Nietzsches um, die den ‚Übermenschen‘ (engl. superman) durch den Übermanager ersetzt und, wie Bröckling nachgewiesen hat, in Regierungsprogrammen, Ertüchtigungsseminaren und Ratgeberbüchern zunehmend eine Leitbildfunktion erhält.⁸ Es ist also bezeichnend, dass Robert Reich von der Genese des „Supercapitalism“ spricht und damit, bewusst oder unbewusst, eine Brücke zum Superheroischen und Übermenschlichen schlägt.⁹ Schon der marxistische Historiker Franz Mehring erblickte 1891 in Nietzsche, dessen durch die Nationalsozialisten vereinnahmter ‚Übermensch‘ bei der Geburt des US-amerikanischen Superman im Jahr 1938 Pate ex negativo stand, einen „Sozialphilosophen des Kapitalismus“¹⁰, also die Blaupause für die mutmaßlich vitale, dynamische, stolze und freie Unternehmer-Natur. Nietzsche selbst hätte sich natürlich – mit einigem Recht – gegen diese Parallelisierung verwehrt, beklagte er doch, „die gebildeten Stände und Staaten“¹¹ würden „von einer gross-
7 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. S. 12. 8 Womit noch nichts darüber gesagt ist, inwiefern dieses Leitbild faktisch angenommen wird und wie es bei der sozialen Diffusion modifiziert wird. 9 Vgl. Reich, Robert: Supercapitalism: The Transformation of Business, Democracy, and Everyday Life. New York: Alfred A. Knopf 2007. 10 Mehring, Franz: Zur Philosophie und Poesie des Kapitalismus. In: ders.: Philosophische Aufsätze. Berlin: Dietz Verlag 1977. S. 156. 11 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: de Gruyter/Deutscher Taschenbuch Verlag 1999. S. 366.
Der Unternehmer im Superheldenfilm
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artig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen“¹². Ungeachtet dessen zeigt Mehrings Polemik, wie früh Unternehmer, Kapitalisten und Helden, respektive Übermenschen, aufeinander bezogen werden konnten. Am unmissverständlichsten hat wohl der Ökonom Joseph Schumpeter den Unternehmer im Reich des Heroismus verortet, das allerdings auf bejahende Weise. Ähnlich wie der Held im Hegel’schen Sinne agierte für Schumpeter der moderne Unternehmer, im Gegensatz zum eher passiven Fabrikanten der Neuzeit, als Pionier, der durch „schöpferische Zerstörung“¹³ Wachstum und Fortschritt ermögliche. Schumpeter fasste die schöpferische Zerstörung nicht nur als Motor des Wohlstands auf, sondern wendete sie darüber hinaus ins UtopischPazifistische, nämlich, ähnlich wie heute der Konsumapologet Norbert Bolz, als ein Antidot gegen reale Kriege: Energieüberschuß, der sich als Kriegs- und Eroberungslust äußern könnte, ist da [in der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft, J. S.] viel weniger vorhanden, als in jeder der vorkapitalistischen Welten. Der Energieüberschuß strömt größtenteils ebenfalls in die Wirtschaft, macht deren glänzendste Erscheinung aus – den Typus des Industriekapitäns –, und im übrigen in Kunst, Wissenschaft, sozialen Kampf.¹⁴
Peter Sloterdijk schreibt zutreffend: „Schumpeter hatte recht, wenn er in dem plus ultra das Kennwort des neuzeitlichen Unternehmertums erkennen wollte.“¹⁵ Ein so verstandener Unternehmer ist nicht nur ein Selbst, wie es bei Bröckling heißt, sondern ein Subjekt sui generis, insofern das Wesen der Subjektivität darin besteht, „von der Theorie zur Praxis überzugehen“¹⁶. Ohne Zweifel handelt es sich dahingehend auch beim Superhelden nicht nur um ein ‚unternehmerisches Selbst‘ im übertragenen Sinne, sondern mehr noch um ein ‚unternehmerisches Subjekt‘. ‚Plus ultra‘ und ‚Wille zur Tat‘ sind dessen zentrale Konstituenten, ohne dass es noch im engeren Sinne Krieg führte. Eher hat es sich dem ‚sozialen Kampf‘ verschrieben, wovon auch die so genannten real life superheroes zeugen, denen man vor allem in den USA begegnet. Man versteht darunter Menschen, die
12 Ebd. 13 Vgl. das siebte Kapitel aus Schumpeter, Joseph: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Bern: Francke 1946. 14 Schumpeter, Joseph: Die Soziologie der Imperialismen. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 46 (1918/19). S. 286–287. 15 Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. S. 86. Anm.: Der Begriff „neuzeitlich“ ist hier unscharf, differenziert Schumpeter doch gerade zwischen neuzeitlichem (statischem) und modernem (dynamischem) Unternehmertum. 16 Ebd., S. 95.
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in Superhelden-Kostümen und unter Pseudonymen wie ‚Mr. Extreme‘ karitative Projekte oder Bürgerwehren organisieren. Der Superheld kann als popkultureller Kristallisationspunkt des heroischunternehmerischen Menschenbildes angesehen werden, wofür auch spricht, dass er eben im Kernland des Kapitalismus und Individualismus, den USA, das Licht der Welt erblickt hat. Dort wurde der den unternehmerischen Wert Eigeninitiative verkörpernde Individualist und Einwanderer Superman dem das völkische Kollektiv und den nostalgischen Mythos verkörpernden Übermenschen alteuropäischer Prägung entgegengestellt, den der bereits postmodern denkende Nietzsche so nicht gemeint hatte.¹⁷ Ist es also möglich, dass der Boom der Superheldenfilme, wenn nicht monokausal, wenn nicht im Sinne einer simplen marxistischen Reflexion der ökonomischen Zustände, so doch immerhin zeitlich mit dem Boom der unternehmerischen, die individuelle Initiative betonenden Selbstregierungsideale des angloamerikanisch geprägten Neoliberalismus koinzidiert? Es sei vorausgeschickt, dass dieser Boom bei real existierenden Schutzzöllen, Subventionen, Staatsquoten um die fünfzig Prozent, globalen Rettungsschirmen und in Zeiten des, wie verschiedentlich bemerkt wurde, ‚Sozialismus der Reichen‘ natürlich grotesk wirkt.¹⁸ Allein, das veränderte Diskursklima in den gegenwärtigen neu-, hoch- und spätkapitalistischen Gesellschaften ist doch evident, und sei es nur als Reaktion auf einen faktischen oder gefühlten Zustand, den der polnische Philosoph Leszek Kołakowski in den 1970er Jahren wie folgt beschrieben hat: „Die rational eingerichtete oder eine rationale Einrichtung anstrebende Gesellschaft befreit mich schrittweise ebenso wie jeden Einzelnen von der Verantwortung für das eigene Leben, für das fremde Leben, für die Gesellschaft selbst.“¹⁹ Die Situation in den konsolidierten Industrie- und Wohlstandsgesellschaften, so der liberale Marxist weiter, zeichne sich durch einen „Verfall des sogenannten ‚Unternehmungsgeistes‘“²⁰ aus. Die Konjunktur des Superheroischen in Comic und Kino einerseits, und die Konjunktur unternehmerischer Ideale als soziale Leitbilder andererseits, könnten folglich, wenngleich nur spekulativ, als dialektische Entgegnungen auf eine vermeintlich entmündigende Gesellschaftsordnung verstanden werden,
17 Zu Nietzsche als Vordenker der Postmoderne vgl. Vattimo, Gianni: Das Ende der Moderne. Stuttgart: Reclam 1990. 18 Eine Google-Anfrage zu „socialism of the rich“ ergibt ca. 96.000 Ergebnisse (11.11.2011). 19 Kołakowski, Leszek: Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München: R. Piper & Co. 1973. S. 110. 20 Ebd., S. 115.
Der Unternehmer im Superheldenfilm
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wobei ergänzt werden müsste, dass Unternehmer wie auch Superhelden in ihren Anfängen eher die Aufgabe hatten, eine solche Ordnung überhaupt erst zu schaffen und anschließend zu bewahren. Das zeigt, wie labil diese Figuren ungeachtet ihrer außergewöhnlichen Kräfte sind, vergleichbar mit Herkules, dessen Mythos im Lauf der Jahrhunderte immer wieder von seiner vorgängigen Funktion gelöst und dergestalt zu einer „allgemeinen Chiffre für menschliche Bewährung, Leiden und Erlösung“²¹ überformt wurde. Ist Herakles bei Sophokles ein selbstverliebter Rüpel, so erscheint er bei Seneca als Verkörperung „standhafter und siegreicher virtus“²². Wir erleben dasselbe Prinzip bei den Superhelden, die heute alle möglichen Rollen zwischen edlem Retter (etwa Superman), liebenswertem Trottel (etwa Hancock) oder demiurgischem Zyniker (etwa Ozymandias) spielen können. Immer aber sind sie in irgendeine Form des ‚sozialen Kampfes‘ verstrickt, dem sich auch zunehmend Super-Unternehmer wie Bill Gates oder Super-Investoren wie Warren Buffett widmen. Dazu später mehr. Zunächst soll es darum gehen, wie Iron Man, Batman und Ozymandias ihre ‚sozialen Kämpfe‘ denn eigentlich konkret führen.
3 Superhelden als Unternehmer – Unternehmer als Superhelden²³ 3.1 Ein Industriekapitän im Casino: Iron Man Iron Man alias Anthony Edward ‚Tony‘ Stark reüssiert in Jon Favreaus gleichnamigem Film von 2008 als ein so genialischer wie ostentativ cooler Ingenieur und Erfinder, der das operative Geschäft seines vom ebenfalls genialischen Erfindervater geerbten Rüstungskonzerns Stark Industries nicht selbst ausübt, sondern sich darauf beschränkt, in seinem futuristischen Labor Wunderbomben zu erfinden, als charismatischer Vorstandsvorsitzender durch die Medien zu wandern und ansonsten einfach nur Spaß zu haben, sprich, möglichst viele Models abzuschleppen, im Casino zu zocken und in Luxuslimousinen über Highways zu bret-
21 Kloft, Hans: Herakles als Vorbild. Zur politischen Funktion eines griechischen Mythos in Rom. In: Herakles, Herkules. Hrsg. von Ralph Kray u. Stephan Oettermann. Basel/Frankfurt a. M.: Stroemfeld Verlag 1994. S. 25–46, hier S. 34. 22 Ebd., S. 21. 23 Ich zeichne hier nicht die vielfach gebrochenen und widersprüchlichen Entwicklungslinien der jeweiligen Figuren nach, sondern beschränke mich bei meiner Darstellung einzig auf die genannten Kinofilme.
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tern. Im Laufe des Plots wandelt sich Stark in einer typischen epistrophé-Situation vom chauvinistisch-egoistischen Saulus zum moralisch-altruistischen Paulus, der als standesgemäß kostümierter Iron Man Jagd auf seine eigenen Waffen und deren Missbrauch macht – ironischerweise mit einer neuen Superwaffe, einem eigens entwickelten Prothesenkörper in Form eines stahlstrotzenden mechanischen Kampfanzugs. Wollte man den Unternehmertypus charakterisieren, den Stark vertritt, so wäre dieser ein Hybrid aus Leonardo da Vinci, der spielerisch revolutionäre Waffen entwarf, ohne sich um die Folgen ihres Einsatzes zu kümmern, einem self-made man und Industriekapitän des 19. Jahrhunderts, der noch persönlich für die Produkte seines Unternehmens verantwortlich zeichnet, und einem nachgerade klischeehaft übersteigerten Vertreter des Neoliberalismus, der sich zwar als Patriot und Schutzpatron amerikanischer Werte und Interessen ausgibt, für den Moral aber zunächst einmal nichts weiter als ein Kollateralnutzen technologischer, wirtschaftlicher und militärischer Stärke ist: „Sobald keine Waffen mehr gebraucht werden, um den Frieden zu sichern, werde ich mich um den Aufbau von Kinderspitälern kümmern. [...] Mein Alter Herr hatte folgendes Motto: Frieden bedeutet, dass man einen größeren Stock hat als der Andere.“²⁴ Der Film ist insofern implizit reaktionär und sexistisch, als er keine Zweifel daran aufkommen lässt, dass Stark zunächst seine Macho-Phase durchlaufen muss, um seine genialischen Energien im freien Fluss und so für die darauffolgende moralische Entwicklungsstufe verfügbar zu halten. Dieses patriarchalische Prinzip, demzufolge ein Mann sich nun mal ‚die Hörner abstoßen muss‘, bevor er sein Leben in die ruhigeren Gewässer der sozialen Verantwortung steuern kann, findet seine Entsprechung in einem überkommenen Verständnis des Unternehmertums: Zu Beginn einer Unternehmerkarriere sind Rücksichtnahme und Nächstenliebe eher hinderlich. Wenn aber die ersten Millionen auf dem Konto eingegangen und die Besitzverhältnisse konsolidiert sind, kann und muss der Übergang von der ästhetischen (lust- und stolzbetonten) Existenz hin zur moralischen Existenz erfolgen. Erst in der jüngeren Vergangenheit mehren sich Produkte, Institutionen und Projekte, die Konsum und Profit einerseits, Moral und Nachhaltigkeit andererseits, dezidiert als die zwei – simultan zu prägenden – Seiten einer Medaille verstehen, darunter etwa die GLS Gemeinschaftsbank.²⁵
24 Favreau, Jon: Iron Man. 2008. 25 Vgl. Ullrich, Wolfgang: Gewissen ist geil – Konsumkultur und Moral. http://utopiablog. files.wordpress.com/2008/12/moralkonsum.pdf (05.01.2012).
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3.2 Die Fledermaus des Liberalismus: Batman In Christopher Nolans Batman-Verfilmung The Dark Knight hingegen ist nie wirklich klar, was Batman alias Bruce Wayne beruflich eigentlich treibt. In früheren Filmen fungierte er noch selbst als CEO von Wayne Enterprises, nun nutzt er die Technologieabteilung des Konzerns nur mehr für seine privaten Vigilanten-Abenteuer, während sein Freund Lucius Fox die Funktion des CEO übernommen hat. Ansonsten scheint Wayne nicht mehr direkt ins operative Geschäft involviert zu sein und verbringt die Vorstandssitzungen mitunter sogar schlafend. Mithin kann er als post-entrepreneur bezeichnet werden, der vom bereits Erreichten zehrt und allenfalls den Konzern in der Öffentlichkeit und in den Medien repräsentiert. Im Gegensatz zum verschwitzten, körperlich aktiven Tüftler Tony Stark ist er gleichsam der platonische Faktor im Wayne-Universum, eine geistig-auratische Präsenz, während er seinen Körper dem nächtlichen Einsatz gegen das Verbrechen widmet. Bei diesem riskanten Einsatz, für welchen ihm ein umfangreiches Arsenal technologischer Innovationen zur Verfügung steht, ist sein Reichtum, ist das Großkapital die Grundlage. Mit Blick auf seine superheroischen Umtriebe ist interessant, dass Batmans eigentliche Motivation nicht etwa darin besteht, die Ordnung in Gotham City wiederherzustellen, sondern die eigenen Rachegelüste zu befriedigen – seine Eltern wurden ermordet, als er ein Kind war. Trotzdem oder gerade deshalb, daran lässt der Film ungeachtet aller Problematisierungen des Charakters gerade in der Schlusssequenz wenig Zweifel, kommt sein manisches Vigilantentum der Allgemeinheit zugute: „Während die Gemeinschaft von Batmans Taten selbst dann profitiert, wenn er primär aus persönlichem Antrieb handelt, verweigern sich seine Gegner konsequent jedem sozialen Dienst.“²⁶ Hinter der Fledermausmaske Batmans verbergen sich somit die verzerrten Züge des liberalen Menschenbildes. Das Streben des Einzelnen nach seiner Erfüllung nützt der Gesellschaft, und sei es nur indirekt und vermittelt, letztlich am meisten. Die individuelle Nutzenmaximierung (Rache) bedeutet hier zugleich eine Maximierung des Gesamtnutzens (Sicherheit, Vorbildfunktion). Es ist sogar besser, wenn sich der Einzelne dabei nicht einem starren ethischen oder juristischen Code unterordnet, da dieser sein subjektives Engagement, eben sein unternehmerisch-heroisches Selbst, hemmen würde. So war beispielsweise der liberale Ökonom und Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften Milton
26 Friedrich, Andreas: Der Amerikanische Traum und sein Schatten. Superman, Batman und ihre filmischen Metamorphosen. In: Friedrich/Rauscher: Superhelden, S. 23–50, hier S. 42.
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Friedman überzeugt, man solle „die ethischen Probleme dem Individuum selbst […] überlassen, damit es mit diesen Problemen allein fertig werden kann“²⁷. Die Moral, so könnte man Batmans Wirken in Gotham City paraphrasieren, ist ein Epiphänomen subjektiver Freiheit und immer gefährdet durch die nay sayers, jene etatistischen Krämerseelen der öffentlichen Ordnung, die Batman – unter formaljuristischen Gesichtspunkten absolut zutreffend – für einen Verbrecher halten und seinem Treiben ein Ende bereiten wollen. Der Moloch Gotham City aber zeigt, dass der Staat eben nicht in der Lage ist, für Ordnung zu sorgen. Die Polizisten sind selbst korrupt.²⁸ Der große Einzelne Bruce Wayne muss etwas unter-nehmen, muss zum Unter-Nehmer aber auch zum Über-Nehmer werden, also unterhalb der Ordnung im metaphorischen Sinne einerseits, und oberhalb der Ordnung im wörtlichen Sinne andererseits agieren, nämlich als auf den Dächern lauernde Fledermaus. Der Superheld Batman, der sich, anders als Nietzsches Schreckensvision des „letzten Menschen“²⁹, nicht durch das positive Recht binden lässt, ist Unter-Nehmer und Über-Nehmer in einer Person. Die Fledermaus als Totemtier, das sei noch angemerkt, passt eigentlich nicht zu ihm, sind Fledermäuse als Schwarmtiere doch eher sozialistisch veranlagt. Eng aneinander gekuschelt nächtigen sie in so genannten ‚Fledermauspulken‘, um einander zu wärmen und Energie zu sparen.
3.3 Nachhaltigkeit heiligt die Mittel: Ozymandias Ozymandias aus Watchmen, Zack Snyders kommerziell erfolgreicher Verfilmung von Alan Moores gleichnamiger Graphic Novel, ist sicherlich die interessanteste Unternehmerfigur im Superheldenkosmos. Der frühere Vigilant hat seine glorreiche Vergangenheit und sein Saubermann-Image als Verbrechensbekämpfer in eine globale Marke transformiert, die er als CEO seines Konzerns persönlich kontrolliert. Er lässt Action-Figuren von sich anfertigen und gilt unter seinen Zeitgenossen nicht nur als intelligentester Mensch der Erde, sondern auch als überzeugter Philanthrop und engagierter Umweltschützer, der unter anderem die
27 Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit. München: Piper 2009. S. 35. 28 Vgl. Frank Miller über Batmans Wirken in Gotham City: „Wo der dunkle Ritter auftritt, ist die Moderne schon schiefgegangen, nämlich das Vertrauen darauf verschwunden, daß so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag, schriftliche und für alle verbindliche strafrechtliche Bestimmungen, Gewaltenteilung und aus alledem folgende sogenannte Rechtssicherheit möglich sind. Batman verhängt den Ausnahmezustand nicht, er verkörpert ihn.“ Zitiert nach: Friedrich: Der Amerikanische Traum, S. 37. 29 Vgl. Nietzsche, Friedrich. Also sprach Zarathustra. Stuttgart: Reclam 1994. S. 7–16.
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Abhängigkeit der Menschheit von Erdöl beenden und saubere Energie für alle ermöglichen will. Als sich jedoch ein Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion anbahnt – Moores Geschichte spielt in den 1980er Jahren – beschließt Ozymandias, dass die Menschheit nicht – wie er selbst – vernunftbefähigt sei und löst einen Präventiv-Atomschlag aus, der, worauf ich hier nicht näher eingehen kann, einer dritten Partei zugeschrieben wird, so dass sich die USA und die Sowjetunion verbünden und fortan Frieden herrscht.³⁰ Anders als der dezidiert amoralische Niccolò Machiavelli, auf dessen Machtphilosophie man hier als historisches Vorbild verweisen könnte, verpflichtet sich Ozymandias einer dem teleologischen Menschenbild des Utilitarismus nahestehenden Moralphilosophie, nur um am Ende dann doch bei der Machiavelli zugeschriebenen – und häufig fehlinterpretierten – Maxime zu landen: „Der Zweck heiligt die Mittel.“³¹ Ozymandias ist der einzige prominente Unternehmer im Superheldenkosmos mit einer ausformulierten philanthropischen Agenda, die zwar voll auf der Linie des heutigen Trends zu sustainability und social responsibility zu liegen scheint, aber in der Konsequenz nichts als das Grauen eines Denkens in assessment plans offenbart. Er ist ein von der Gesellschaft entkoppelter Wirtschaftsoligarch mit IQ, aber ohne EQ, eine Art verkorkster Hegelianer, der sich selbst aus der Geschichte ausklinkt, um diese neu zu schreiben. So nutzt Ozymandias bei seinem Atomexperiment ähnliche Strategien wie jene aus dem sozialen Off agierenden Börsenspekulanten, die Machiavelli nicht gelesen haben müssen, um ihn misszuverstehen: Durch die gezielte Erzeugung
30 Für eine detailliertere Charakterisierung von Ozymandias vgl. Backe, Hans-Joachim: Von der Superhelden-Fiktion zur Meta-Helden-Fiktion. Watchmen und die Dekonstruktion des Heldentums. In: Kritische Berichte 1/2011. S. 5–19, hier S. 11: „Ozymandias hat zwar keine Superkräfte, ist aber intelligent, ambitioniert und entschlossen, und er liebäugelt offen mit der Göttlichkeit seines Handelns. Er stilisiert sich selbst als Demiurg und Übermensch, indem er Leben schafft – sein Haustier ist ein gentechnisch erschaffener Luchs – und sich und anderen immer wieder zu beweisen versucht, dass er intelligenter und agiler ist als gewöhnliche Menschen. Er wählt eine kontrollierte, begrenzte Katastrophe, die zur Vermeidung eines Armageddon die Illusion eines anderen erzeugt, und erzwingt so eine Utopie, da er zu wissen glaubt, dass die Menschheit sich aus eigener Kraft nicht merklich verbessern kann.“ 31 Vgl. Pfetsch, Frank R.: Theoretiker der Politik. Paderborn: Fink 2003. S. 119–120: „In die politische Theoriegeschichte ist Machiavelli in einseitiger Interpretation eingegangen, und zwar als ein Verkünder einer zynischen Macht- und skrupellosen Gewaltlehre. Ihm wird nachgesagt, er sei der Vater des Satzes ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘. […] Adäquater wäre […] eine Machiavelli-Interpretation, die der Frage ‚Wie und mit welchen Mitteln kann das Gewaltmonopol des Staates gesichert werden?‘ das Primat einräumt.“
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von Ängsten oder das gezielte Schüren von Konflikten wird Einfluss auf das Weltund damit auf das Marktgeschehen genommen. Wäre Angst ein Börsentitel, so müsste man sie zu den blue chips, den großen und stabilen Werten, zählen.³² Man erinnere sich nur an das freimütige Zitat des Investors Mark Mobius im Dokumentarfilm Let’s Make Money (2008): Es gab einen berühmten Ausspruch, dass die beste Zeit zu kaufen ist, wenn das Blut auf den Straßen klebt. Ich füge hinzu: Auch wenn es dein eigenes ist. Denn wenn es Krieg, Revolution, politische Probleme und Wirtschaftsprobleme gibt, dann fallen die Preise von Aktien und jene Leute, die an diesem Tiefpunkt kauften, haben jede Menge Geld gemacht.³³
Ozymandias wendet genau dieses Prinzip ins Moralische und Eudämonische. Er spekuliert und investiert durch sein (vordergründig) philanthropisch motiviertes, nüchtern kalkuliertes, utilitaristisch begründetes, aber letztlich einzig durch seine Kapitalressourcen und seinen Unternehmergeist mögliches Superverbrechen in das Glück der Menschheit, indem er mittels der nun wörtlich genommenen ‚schöpferischen Zerstörung‘ Blut durch die Straßen fließen lässt und durch eben diesen Blutstrom, wie Herkules bei Augias, den Stall der Menschheit zu säubern beabsichtigt. Sein Schöpfer Alan Moore bricht mit der Figur Ozymandias eine Lanze für das postmoderne, posthumanistische Menschenbild, demzufolge sich hehre Ideale bislang immer in ihr Gegenteil verkehrt haben. Mit Watchmen legen Moore und Snyder nahe, dass dies auch für die neuen Ideale des philanthropischen Unternehmertums gelten könnte.
4 Conclusio Dass in den hier vorgestellten Blockbustern heroische und unternehmerische Menschenbilder miteinander verflochten werden, dürfte offensichtlich sein. Ebenso offensichtlich ist, dass Kapital, Strategie und Erfindergeist in den beschriebenen Zusammenhängen an Stelle jener Superkräfte treten, die bei anderen Superhelden außerirdischen (etwa Superman), göttlichen (etwa Hancock) oder zufälligen (etwa Spider-Man) Ursprungs sind. Ja, der technologische, wissenschaftliche und materielle Großaufwand, den Iron Man, Batman und Ozymandias betreiben, ist ohne Großkapital schlicht unmöglich. Das Kapital ist gleichsam der Spinnenbiss
32 Vgl. hierzu aus der Belletristik: Harris, Robert: Angst. München: Heyne 2011. 33 Wagenhofer, Erwin: Let’s Make Money. 2008.
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für den unternehmerischen Self-made-Superhelden des 21. Jahrhunderts, den Ozymandias in der reinsten Form vertritt, während Iron Man und Batman bereits durch ihre jeweiligen Erbschaften privilegiert sind. Jenes Menschenbild hingegen, welches die jüngere Ökonomik verficht, wird man im mythophilen Superheldenkino bislang – erwartungsgemäß, wie in der Einleitung vermutet wurde – vergebens suchen. Die Rede ist von den Diskursen rund um den so genannten ‚Philanthrokapitalismus‘. Darunter verstehen Matthew Bishop und Michael Green in ihrem gleichnamigen Buch den Aufstieg eines neuen Typus des social entrepreneur: As well as evoking innovation and change [das ist das Erbe Schumpeters, Anm. J. S.] the term ‚social entrepreneur‘ resonates with two core beliefs of many philantrocapitalists: first, that the social sector badly needs a dose of business rigour; second, that traditional funders of the social sector, whether government or philanthropists, have failed to challenge the sector’s often lacklustre performance by getting non-profits to hire top talent and insisting on management best practice.³⁴
Was den Philantrokapitalismus von der guten alten Barmherzigkeit à la Mutter Teresa unterscheidet, ist, dass er auf die Kultivierung eigenständiger unternehmerischer Selbste und Subjekte abzielt, und zwar durchaus mit Profitvorgaben. Ein philanthrokapitalistischer Unternehmer ist nicht nur für sein eigenes Unternehmen verantwortlich, sondern auch für die Stimulierung des Unternehmertums als Lebensstil durch ökonomische Anreize jenseits von Almosen. So beschreibt Pierre Omidyar, Gründer von Ebay und überzeugter Pro-Profit-Philantrop, sich und seine Mission als „pro-market, anti-big-government, sceptical of traditional philanthropy“³⁵. Er und sein gemeinnütziges Omidyar Network fokussierten stattdessen auf „individual self-empowerment – economic, social, political. Our approach to making the world a better place is to encourage individuals to be involved, empowered.“³⁶ Diesem Ideal von „individual self-empowerment“ und der Abkehr vom Glauben an staatliche Fürsorge begegnen wir zwar überdurchschnittlich häufig auch bei den Superhelden, jüngst etwa in der Kinokomödie Kick-Ass (2010). Das gilt jedoch nicht für den Superhelden als Unternehmer – und schon gar nicht im Blockbuster. Als praktizierender Vigilant mag er Eigeninitiative und Selbstermächtigung vorleben, auf sein Unternehmertum als Grundlage seines Superheldentums färbt dies bislang nicht ab. Mit dem oben skizzierten Philanthrokapita-
34 Bishop/Green: Philanthrocapitalism, S. 126. 35 Ebd., S. 119–120. 36 Ebd.
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lismus als einer ökonomisch begründeten Zivilreligion, die alle Menschen durch aktive Anreize zu Unternehmern ihrer selbst machen möchte, also auf involvement und empowerment setzt, haben Iron Man, Batman und Ozymandias nichts gemein. Im Gegensatz zu Philanthrokapitalisten wie Bill Gates, Pierre Omidyar oder Muhammad Yunus, den real life superheroes des gegenwärtigen Kapitalismus, schaffen sie keine neuen Produktionsverhältnisse, gewähren sie keine Mikrokredite, gründen sie keine Netzwerke, transferieren sie ihre Vermögen nicht in Stiftungen, kratzen sie nicht am Status quo des Corporate America, wo zehn Prozent der Bevölkerung fast die Hälfte des Gesamteinkommens erzielt.³⁷ Stattdessen vertreten sie ein überwiegend noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert beheimatetes, hoffnungslos anachronistisches und patriarchalisches Unternehmerbild. Sie agieren top down und repräsentieren den monolithisch-solitären, genialischen Industriekapitän und Konzernmagnaten à la John D. Rockefeller, der zwar philanthropischen Projekten nachgeht, doch ohne kritische Anbindung an seine konkrete ökonomische Praxis, stets im Alleingang und mit einem gewaltigen Vermögen im Rücken. Zwei einander widersprechende Menschenbilder sind in diesen Figuren verkörpert: auf der einen Seite der Superheld, der gerade in den USA als Vorbild für self-empowerment auch der Normalsterblichen dient (real life superheroes), auf der anderen Seite der Unternehmer als Großkapitalist, der self-empowerment Anderer dadurch verhindert, dass er, mit Adorno gesprochen, ein richtiges Leben im falschen führt. Vielleicht korreliert dieser Anachronismus ja mit dem Status des Mediums Kino im Allgemeinen und mit dem Medium des Blockbusters im Speziellen – neue Helden werden in offenen Netzwerken, nicht auf Großleinwänden geboren, vor denen das Publikum im Dunklen hockt.
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37 Vgl. Rötzer, Florian: USA: Einkommensungleichheit größer denn je. www.heise.de/tp/ artikel/30/30934/1.html (11.12.2011).
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Teil 4: Neue Menschen
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„Das Gesicht unserer Zeit!“ Anmerkungen zum Menschenbild in der Reklame illustrierter Zeitschriften der 1920er Jahre Abstract: During the Weimar Republic, advertisement has become a constant as well as versatile element of the every day environment. The following text seeks to analyze printed advertisements, published in illustrated magazines between 1924 and 1929 and mainly targeting a social group, best defined as those of “the salaried masses” (Siegfried Kracauer). To some extent, these printed advertisements are characterized by an elaborated system of combining text and images, and nearly all of them come across in a vividly drastic and direct manner. The main characteristic feature is the ongoing reference to underlying collective codes, defining both individual and social behavior. Concerning the ways of arguing within the here focused advertisements, two dominant and strikingly different strategies have to be determined. It is hardly surprising to reveal the positive propaganda to be one of the basic elements; more precisely: the image of a person is that of a confident, successful, sociable and elegant figure. The here mentioned characteristics are valid both for men and women, they are just slightly shifted and different according to the sex they refer to. More remarkable though is the fact that advertisement in the 1920s in many cases adopts the strategy of determent. Oftentimes, the advertising copy evokes a situation of faintness and deficiency up to the point of a complete personal failure. Hence, advertisement likewise has to be read as a concealed but clear indicator revealing the state of permanent existential fear during the later 1920s in Germany.
„Schneller, schneller – heult es durch die Straßen, schrillt es durch die Fernsprecher, knattern die Schreibmaschinen, schneller, schneller jazzt und trommelt es durch die Nacht, stöhnen es die morgendlich überfüllten Straßenbahnen. 100 % Leistungssteigerung, Rekorde, laufendes Band – das sind die Zeichen unserer Zeit.“ Was hier so rasant wie eine spätexpressionistische oder dadaistische Wortkaskade, wie ein „unheimlich schnell rotierender Roman“¹ anhebt, ist ein Rekla-
1 So lautet der Untertitel von Melchior Vischers 1920 publiziertem Roman Sekunde durch Hirn.
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Abb. 1: Das Gesicht unserer Zeit! – Anzeige der Firma Mouson (1929).²
metext, mit dem 1929 eine Frankfurter Firma für eines ihrer meist verkauften Produkte wirbt. Flankiert wird der Text von einer kaleidoskopartig zusammengesetzten Collage verschiedener Motive, die eine Großstadtszenerie imaginieren: Abendlich-elegant gekleidete Damen, eine Sekretärin an der Schreibmaschine, ein farbiger Musiker geben das Personal, ein Auto, eine Lokomotive, ein Tramwagen durchschneiden diagonal das Bild, dazwischen erscheinen versprengt und in unterschiedlichen Größendimensionen eine Uhr, ein Flugzeug, ein Telegrafenmast, ein Räderwerk, der Kopf eines Fliegers und der eines Schutzmannes. Wofür wirbt diese Anzeige – für ein neues Automobil, für ein Variété, für einen Film? „Wer kann da noch mitmachen“, heißt es weiter im Text, „ohne frühzeitig zu altern, ohne daß Erschlaffung und Abspannung sich gar bald in seine Gesichtszüge eingraben? Gift fand sein Gegengift: Gegen abgespannte, erschlaffte Haut wurde Creme Mouson geschaffen […].“
(Vischer, Melchior: Sekunde durch Hirn/Der Hase. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Engel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988.) 2 Trotz intensiver Recherchen konnten die Urheberrechte nicht bei allen Abbildungen zweifelsfrei geklärt werden. Bei berechtigten Ansprüchen bitte ich um Mitteilung.
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Eine überraschende Wendung, fast ein Sturz ins Banale – und doch auch wieder folgerichtig und von einer eigenen Logik. Der atemlose Stakkatoton des Textes gibt einer Zeit den Klang, die als sich stetig beschleunigend erlebt wird, die den Menschen berauscht und zugleich ermattet, die ihn verzehrt und vergiftet. Diesem Tempo kann sich der Mensch nicht entziehen, es bestimmt sein Leben – aber er kann lernen, in dieser Situation zu bestehen, sagt ihm die Reklame, er kann die Spuren der Zeit tilgen, kann mit dem „Gesicht unserer Zeit“ leben.³ Mit dieser herausragenden Anzeige der Firma Mouson ist ein Eck- und Extrempunkt der Reklameinserate des frühen 20. Jahrhunderts benannt. Tatsächlich stellt sie in ihrer Kombination von anspruchsvollem, beinahe literarischem Text und avantgardistischer Grafik eher einen Einzel- als den Regelfall in der Werbewelt der 1920er Jahre dar, und auch aus der Gesamtschau der Anzeigen, die von der Firma Mouson⁴ geschaltet wurden, hebt sie sich in ihrer kunstvoll arrangierten Spannung hervor. Eine völlige Ausnahme ist sie gleichwohl nicht, denn vergleichbare Strategien – enge Verzahnung von Text und Bild sowie pointierte Szenendramaturgie – und eine anspruchsvolle Gestaltung finden sich auch in anderen Anzeigen und Werbekampagnen der Zeit. Die künstlerische Reklame kann in den 1920er Jahren bereits auf eine längere Tradition zurückschauen; ihre Anfänge hängen maßgeblich mit der Aufhebung einer entschiedenen Distinktion von freier und angewandter Kunst im ausgehenden 19. Jahrhundert und der Forderung nach kunstvoller Produktgestaltung auch im Bereich der industriellen Produktion zusammen.⁵ In den 20er Jahren des ver-
3 Auch wenn diese Anzeige sich an Frauen richtet (im Reklametext wird dies allerdings nur an einer Stelle explizit benannt), habe ich mich hier und im Folgenden bei der Bezeichnung der Werbeadressaten für den Mann und Frau einschließenden Begriff „Mensch“ entschieden. Eine differenziertere Betrachtung wäre an dieser Stelle sicher angebracht, wie auch insgesamt eine Untersuchung der Reklamebilder im Sinne der Gender Studies sehr aufschlussreich scheint, entspricht aber nicht meiner hier gewählten Fragestellung. 4 Für die Firma Mouson war in dem Zeitraum zwischen 1920 und 1930 eine Vielzahl von Grafikern tätig, denen – so lässt die Varianz der Anzeigen vermuten – kaum Vorschriften im Sinne einer auf Firmenidentität abzielenden, einheitlichen Gestaltung gemacht wurden. Die hier zitierte Anzeige ist mit einem Logo signiert, das aus zwei mit einem Pfeil verschlungenen Initialen in einem Kreis geformt ist (die Buchstaben ‚R‘ und ‚S‘, eventuell ein Verweis auf Rudolf Schlichter). Reproduziert wurde die Anzeige in der Klischeeanstalt Hofmann und Braunau, die ebenfalls signiert. Der Mouson-Firmennachlass befindet sich heute im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M. (Firmennachlass W1/17), enthält allerdings keinerlei Schriftverkehr, Verträge oder andere Dokumente, die eine konkrete Rekonstruktion der Geschäftsabläufe gestatten würden. 5 Siehe dazu Doering, Birgit: Frühe Warenwerbung im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz. In: Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame. Ausstellungskatalog. Hrsg.
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gangenen Jahrhunderts hat sich die Werbebranche nicht nur professionell etabliert und organisiert⁶, sie tritt auch mit zahlreichen Publikationen an die (Fach-) Öffentlichkeit⁷, macht mit Veranstaltungen, Messen und Ausstellungen auf sich aufmerksam⁸ und nutzt die Erkenntnisse anderer fachlicher Bereiche, vor allem die der Psychologie⁹. Reklame ist inzwischen zu einem selbstverständlichen Element des Stadtbildes geworden, hat in Radio und Film Einzug gehalten, füllt Zeitungen und Magazine und bietet gestalterisch eine extrem große Bandbreite – künstlerische Reklame ist nur noch eine Darstellungsform von vielen geworden. Durch ihre hohen Auflagenzahlen¹⁰ und druckgrafischen Möglichkeiten (Foto- und Bildreproduktionen) sind illustrierte Zeitschriften für Reklame das
von Susanne Bäumler (Münchener Stadtmuseum, 15. März–30. Juni 1996; Altonaer Museum in Hamburg, 18. September 1996–12. Januar 1997). Köln: Dumont 1996. S. 190–197; Buddensieg, Tilmann: Werbekunst und Warenästhetik. Zum Dialog zwischen entwerfenden Künstlern, ausführenden Handwerkern, produzierenden Unternehmern und werbenden Produzenten. In: Ebd. S. 216–227. 6 Neue Berufszweige entstehen, über deren Ausbildungswege, Aufgaben und Perspektiven in den entsprechenden Fachblättern diskutiert wird (vgl. beispielsweise die Beiträge in Die Gebrauchsgraphik. 6/1926. S. 48 und in Seidels Reklame. Das Blatt für Werbewesen und Verkaufstechnik. Mai 1928. S. 228). 1922 gründete sich in Frankfurt a. M. die (Deutsche) StädteReklame GmbH, die seitdem eine überregional organisierte Verbreitung der Außenreklame betreibt. 7 Eine Bibliografie aus dem Jahre 1928 führt 900 Publikationen zum Thema Reklametechnik und -organisation an; siehe Kaindl, J. J. (Hrsg.): Bücher und Schriften über Reklame, Plakatkunst, Zeitungswesen, Geschäfts-Organisation. Wien: Verlag J. J. Kaindl 1928. Hans Domizlaff, Werbegestalter und -berater, eine ebenso schillernde wie einflussreiche Gestalt der Branche, veröffentlicht 1929 erstmals seine Schrift Typische Denkfehler der Reklamekritik, die bis in die 1960er Jahre als Standardwerk galt. 8 1929 findet in Berlin der Weltreklamekongress statt und wird mit einer regen Berichterstattung und Publikationstätigkeit begleitet. Der Ullstein-Verlag veröffentlicht aus diesem Anlass eine umfangreiche und dreisprachig – Deutsch, Englisch, Französisch – aufgelegte Schrift, die Berlin, das deutsche Pressewesen, vor allem aber das eigene Verlagshaus vorstellt (Der Verlag Ullstein zum Weltreklamekongress Berlin 1929. Berlin: Ullstein 1929). 9 So erscheint 1926 in bereits dritter und überarbeiteter Auflage ein entsprechendes Handbuch von Theodor König (König, Theodor: Reklame-Psychologie, ihr gegenwärtiger Stand – ihre praktische Bedeutung. 3. Aufl. München/Berlin: R. Oldenbourg Verlag 1926). 10 Um die Dimensionen zu verdeutlichen, hier einige Zahlen: Die Berliner Illustrirte Zeitung erscheint 1923 in einer Auflagenzahl von 450 000, 1929 hat sich diese nahezu verfünffacht (Auflage: 1 844 130); Das Illustrierte Blatt aus Frankfurt wird 1926 mit 250 000 Stück aufgelegt (zum Vergleich: Frankfurt hat zu dem Zeitpunkt etwa 470 000 Einwohner), und diese Zahl verdoppelt sich bis 1939; die Münchener Illustrierte Presse steigert ihre Auflage von 50 000 (1925) auf 280 000 (1927) und schließlich 700 000 (1931); alle Angaben aus: Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Fotografie in deutschen Zeitschriften 1883–1923. Stuttgart: Cantz 1991. Passim.
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wichtigste Medium im Pressebereich; Anzeigen erreichen hier ein großes Publikum.¹¹ Der Erscheinungsrhythmus ist in der Regel wöchentlich, die Berichterstattung reicht von Ereignissen des aktuellen Weltgeschehens über populärwissenschaftliche Themen bis zu Personengeschichten – die illustrierten Blätter richten sich ebenso an eine weibliche wie männliche Leserschaft. Entsprechend ist auch das Spektrum der beworbenen Produkte in illustrierten Blättern sehr breit, es reicht von Körperpflege- über Genuss- und Lebensmittel bis hin zu Nervenelixieren und anderen Stärkungsmitteln, Kleidung, elektronischen Produkten, Haushaltswaren, Automobilen, Literaturempfehlungen und Heilsversprechungen. Die Reklame wendet sich hier gezielt an den einzelnen Menschen oder an Personengruppen, nicht an Institutionen oder Firmen (entsprechende Anzeigen finden ihren Platz in Fachzeitschriften), oft wird im Text die direkte Anrede gewählt und den im Bild gezeigten Figuren das Wort damit geradezu in den Mund gelegt. Der appellative Charakter der Reklame ist sehr stark, der Text operiert oft mit Fragen, noch häufiger mit Exklamationen. Aber auch wenn Bedürfnisse, Wünsche, Vorstellungen evoziert werden, wenn der potentielle Kunde über die Empfindungsebene affiziert werden soll, folgt der Anzeigentext einer inhärenten Logik. Die Anzeigentexte sind nicht subtil oder zurückhaltend, sie argumentieren rational, manchmal fast wissenschaftlich. Hinter ihren Versprechungen scheint das Bild von einem heilen Menschen auf, vordergründig versprechen sie vor allem den sicheren Weg zu seiner Erfüllung, zum Erreichen von Erfolg und Schönheit. Die die Bilder bevölkernden Idealtypen – der gepflegte Mann, die elegante Frau – werden als Beweismittel angeführt, sie bezeugen die Funktionsgarantie des beworbenen Produkts. Fast ebenso oft jedoch agiert die Reklame in ihrer Argumentation ex negativo, mit einer Strategie der Abschreckung: Drastisch werden Szenarien einer möglichen Bedrohung, ja sogar der Katastrophe ausgemalt, deren potenzielles
11 Der Ullstein-Verlag preist die in seinem Haus erscheinende Berliner Illustrirte Zeitung als „anerkannt führendes Insertionsorgan im ganzen Reich“ an: „Für jede Werbung, die zur Erfassung der Gesamtbevölkerung unternommen wird, ist die Berliner Illustrirte Zeitung unentbehrlich; sie ist das bevorzugte Ankündigungsorgan der Markenartikelindustrie.“ (Verlag Ullstein zum Weltreklamekongress. 1929. o. S./S. 149). Irmgard Keun greift diesen Werbeeffekt in Das kunstseidene Mädchen (1932) auf und treibt ihn in der dem Roman eigenen Weise auf die Spitze, wenn sie die Protagonistin von einem Verehrer erzählen lässt: „Die Schachtel ist von […] Armin […] – eigentlich hasse ich diesen Namen, weil er in der Illustrierten mal als Reklame für ein Abführmittel gebraucht wurde. Und immer, wenn er mal vom Tisch aufstand, mußte ich denken: Armin, hast du heute morgen auch Laxin genommen? und mußte idiotisch lachen, und er fragte: ‚Was lachst du so silbern, du süßes Geschöpf?‘“ (Keun, Irmgard: Das kunstseidene Mädchen. 10. Aufl. Berlin: List 2011. S. 15).
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Abb. 2: „Was soll ich rauchen?“ – Anzeige für die Zigarettenmarke Nestor Queen (1927).
Sich-Ereignen das Empfinden der Menschen in den 1920er Jahren massiv dominiert zu haben scheint. Aus der Reklame lässt sich somit auch ein Subtext herauslesen, der von einer als latent präsent erlebten Gefahr des individuellen Fehlverhaltens, des Misslingens, des Scheiterns erzählt.¹² Doch ob es um das Abwenden einer Bedrohung oder das Erreichen eines Idealbildes geht, in beiden Situationen nimmt die Reklame eine spezifische Rolle für sich in Anspruch: Sie macht sich zum Ratgeber für den verunsicherten Menschen.
12 Friedemann W. Nerdinger zitiert in seinem Beitrag Strategien der Werbung. Vom Auftrag über die Gestaltung zur Entscheidung (in: Die Kunst zu werben. S. 297– 307, hier besonders S. 300) eine Statistik, die amerikanische Werbung aus dem Zeitraum zwischen 1910 und 1980 in Hinblick auf unterschiedliche Formen des Werbeappells erfasst. Grundlegend werden vier Appellformen unterschieden: der rationale und der sensuale Appell, der sogenannte testimonial-Appell (d. h. eine Figur – auch eine reale Person – legt Zeugnis ab für das Produkt) und die Strategie der Verunsicherung. Für die letzten beiden Appellformen verzeichnet die Statistik in den Jahren zwischen 1910 und 1930 einen massiven Anstieg, danach einen ebenso starken Abfall; die Verlaufskurven, die rationale und sensuale Appelle erfassen, verlaufen genau gegensätzlich.
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Das durch die und in der Reklame verbreitete Menschenbild, um das es hier nachfolgend in einigen Episoden gehen soll, reiht sich vorderhand sehr schnell in die gängigen Vorstellungen von der modernen und zugleich brüchigen Gesellschaft der Weimarer Republik ein. In ihrer enormen Spannbreite verweist die Reklame auf eine Gesellschaft im Umbruch, deren rasante Entwicklung weniger Freiheit als vielmehr permanente Unsicherheit zu bedeuten scheint. In Anbetracht der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Weimarer Republik mag diese Beobachtung nicht überraschen, ebenso wenig die Feststellung der daraus resultierenden Strategie der Reklame, mit eben diesen Befindlichkeiten zu kalkulieren. Aus heutiger Sicht erstaunen aber die Unverstelltheit, die Naivität und vor allem die Drastik, mit der die Reklame in den 1920ern den spürbaren Subtext – das Gefühl tiefgreifender Bedrohung – in ihre eigene, simulierte Welt transportiert. Indem die Reklame das Moment der Unsicherheit in konkrete Szenen und Details des Alltags übersetzt, wird das jeweils beworbene Produkt zur einzig valablen Antwort auf eine nahezu verzweifelte Suche nach Normen und Verhaltenscodices. Der Wahl einer bestimmten, nämlich der richtigen Zigarettenmarke (vgl. Abb. 2) werden in der Werbung existenzielle Dimensionen zugesprochen; deutlicher kann die Dimension des selbstgewählten Auftrages, der über eine singuläre Produktwerbung weit hinausgeht, nicht formuliert werden: Die Reklame will nichts weniger als eine Bedienungsanleitung für das richtige Leben liefern.
1 „Das Gesellschaftssujet in lebensvoller Eleganz fesselt breiteste Käuferkreise.“ ¹³ Die hier untersuchten Reklamebilder zeigen den Menschen überwiegend als eine Figur, die in Relation zu anderen Menschen und zu einem gesellschaftlichen Umfeld steht. Der Bezug wird entweder über eine explizite Darstellung im Bild hervorgerufen oder mittels spezifischer Stichworte generiert, die das Bild um einen imaginierten Kontext erweitern. Im ersten Fall gibt die Reklame vor, eine belebte Szene abzubilden, etwa eine Abendgesellschaft oder eine Situation im Büro, sie agiert pseudo-dokumentarisch und scheint eine Momentaufnahme zu transportieren. Im zweiten Falle entsteht die Verbindung erst durch den Zusammenschluss von Wort und Bild, indem der Betrachter diese in ein (imaginiertes)
13 Zitiert aus: Die Gebrauchsgraphik. Monatsschrift zur Förderung künstlerischer Reklame. 12/1924. o. S.
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Abb. 3: Es war einmal ein junger Mann – Anzeige der Firma Mouson (1927); Quelle: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M.
lebendiges Szenario umsetzt. Beide Funktionsweisen referieren explizit oder implizit auf gesellschaftliche Normen und Verhaltenscodices, deren Einhaltung und Erfüllung den Erfolg oder Misserfolg des Einzelnen bestimmen. Die Bildwelt der Reklame zitiert dabei auffallend häufig Szenen, in denen Menschen als aktive Teilhaber ihrer Lebenswelt auftreten – etwa beim Sport oder auf Reisen. Werden die Stichworte durch den Reklametext vorgegeben, sind es Begriffe wie ‚Bewunderung‘, ‚Erfolg‘ und ‚Glück‘, die besonders häufig fallen. Signifikant ist das Verständnis von ‚Glück‘, das in den hier betrachteten Anzeigen zum Ausdruck kommt und weit entfernt ist von einem schicksalhaft determinierten Konzept. Das Gegenteil ist der Fall – zu seiner Erlangung fordert ‚Glück‘ einen aktiven Anteil, der allerdings nicht aus einer inneren Einstellung, sondern der Erfüllung äußerer Erwartungen besteht. In ihrer positiv konnotierten Variante vermittelt die Reklame somit einen bestimmten ‚Lifestyle‘ und propagiert die dafür erforderlichen Verhaltensweisen. Die oben zitierte Feststellung von der Wirkkraft des „Gesellschaftssujet[s] in lebensvoller Eleganz“ benennt die zentralen Faktoren dieses Lebensmodells – Soziabilität und Stil –, sie zeigt darüber hinaus aber auch, dass die Reklame der 1920er Jahre sich ihrer eigenen Funktionsmechanismen sehr bewusst war: Der
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Abb. 4: Ein guter Witz – Anzeige der Firma Mouson (1927); Quelle: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M.
Satz stammt aus einer Anzeige, mit der die Reklamegestalterin Marga Garnich 1924 ihre eigene Arbeit bewirbt.¹⁴
2 „Das Gesicht unserer Zeit!“ Ein zweiter Fokus der Reklame in den 1920er Jahren ist die Körperlichkeit des einzelnen Menschen, oder vielmehr: der Blick auf die Schwachstellen des menschlichen Körpers. Makel und Defekte werden explizit benannt und unbarmherzig in Szene gesetzt (vgl. Abb. 3). Der Schrecken steckt dabei im Text: „Ein guter Witz
14 Weiter heißt es in der Anzeige: „Der M.-G. [i. e. Marta-Garnich] Text führt den Käuferwunsch zum Entschluss.“ Eine fast ganzseitig gestaltete Grafik, die eine dem Motto entsprechende Szene darstellt – nonchalante Dame und distinguierter Herr bei einer Kaffeerunde im Gespräch –, illustriert anschaulich das Konzept. Die Anzeige ist Teil einer insgesamt fünfseitigen, stilistisch sehr abwechslungsreichen Kampagne, mit der Marta Garnich auf virtuose Weise die Vielseitigkeit ihres Ateliers demonstriert.
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kann zur Katastrophe werden! Ein herzliches Lachen ist reizvoll, wenn eine Reihe perlenweißer Zähne sichtbar wird. Wie abschreckend dagegen wirkt ein ungepflegter Mund.“ (Abb. 4) Auf der Liste der Schreckensszenarien rangiert ein ungepflegtes Aussehen an erster Stelle, gefolgt von den Dramen, die Nervenschwäche, Übergewicht und Alter bedeuten. Dass gerade diese vier genannten Aspekte in der Reklame so prononciert aufgegriffen und drastisch ausgemalt werden, ist natürlich nicht als eine sachliche Reaktion auf deren statistische Verbreitung zu verstehen, sondern macht deutlich, welche Eigenschaften als Makel und somit entscheidende Hemmnisse für Erfolg und Glück definiert werden. Die Werbung für Produkte verschiedenster Art – Haut- und Haarpflegemittel, Nervenelixiere, Korsetts, Rasiercreme, Schlankheitspillen und Duftwasser – spielt mit der Unsicherheit der Menschen, mit der Sorge, dass ihre Schwächen sie um ein sicheres und richtiges Leben bringen. Männer wie Frauen unterliegen diesem Diktat und leiden an der Angst, dass sie nicht die Normen erfüllen, die dem Subtext der Gesellschaft eingeschrieben sind und deren Szenarien die Reklame beständig neu kreiert. Besonders die Gruppe der Angestellten sieht sich genötigt, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, wie Siegfried Kracauer in seinen 1929 erstmals publizierten Reportagen über diese Gesellschaftsgruppe beschreibt: Die Angestellten müssen mittun, ob sie wollen oder nicht. Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch gezogen zu werden, färben sich Damen und [Hervorhebung im Text] Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten. „Wie werde ich schön?“ lautet der Titel eines jüngst auf den Markt geworfenen Heftes, dem die Zeitungsreklame nachsagt, daß es Mittel zeige, „durch die man für den Augenblick und für die Dauer jung und schön aussieht“.¹⁵
Schön, schlank, jung sein – diese Messwerte verweisen nicht nur auf ihre unmittelbaren Gegensätze, sondern auch auf eine Menschengestalt, die in der Reklame ganz und gar abwesend ist und doch die reale Welt der Weimarer Republik scharenweise bevölkert: die Gestalt des Kriegsinvaliden, dessen Verstümmelungen eine beständige Erinnerung an die wirkliche Verletzbarkeit des menschlichen Körpers bedeuten.¹⁶
15 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. S. 25. Als Buch erschienen die zuvor in der Frankfurter Zeitung publizierten Texte erstmals 1930. 16 An der Figur des Kriegsinvaliden beziehungsweise an seiner Aussparung zeigt sich auch die Begrenztheit der hier untersuchten Reklamewelt. In der Gesamtschau erweist sich das Personal der Reklame als ausgesprochen homogen: Den weitaus größten Teil machen Männer
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3 „Eine Sekunde Gedankenlosigkeit“ ¹⁷ Der erfolgreiche gesellschaftliche Umgang und der gepflegte menschliche Körper verlangen bereits viel Aufwand von seinem Akteur und Träger, doch damit ist es nicht genug – es drohen auch die Gefahren des Alltags. Der eingangs zitierte Text aus einer Anzeige für Creme Mouson gibt eine Idee davon, wie in den späten 1920er Jahren die städtische Lebenswelt empfunden und in der Reklame dargestellt wird. Gefahren lauern in der modernen Welt scheinbar überall, und gelingt es dem Menschen nicht, sie mit seinen natürlichen Kräften zu bewältigen, versprechen nervenstärkende Mittel Abhilfe. Eine über viele Jahre laufende Kampagne der Firma Dallmann & Co, mit der sie ihr Hausprodukt, eine kolahaltige Pastille, bewirbt, zielt auf diese Kundengruppe. Die Reklame funktioniert nach dem immer gleichen Schema: Das Bild zeigt eine fiktive Momentaufnahme des Alltags, der Text hebt in der Typografie einzelne, markante Stichwörter hervor, und als verlässlich wiederkehrendes Motiv erscheinen der Schriftzug von Kola Dallmann und die gezackte Doppellinie, die einen Rahmen um Text und Bild schafft. (Abb. 5) Unterschiedliche Stile in der Grafik und beim Einsatz von Typografien lassen verschiedene Gestalterhandschriften erkennen, doch sind die Varianten im Vergleich zu anderen Werbekampagnen minimal. Einheitlichkeit und zuverlässige Wiederkehr bestimmen die Anzeigen und generieren so ein prägnantes Markenzeichen, das dem beworbenen Produkt einen sicheren Platz im Bewusstsein der Konsumenten schafft. Im Einzelnen betrachtet, erweist sich jede Anzeige als ein Drama im Miniaturformat: So verschläft in einer Geschäftsbesprechung ein Herr die wichtigsten Momente, weil er versäumte, zuvor Kola Dallman zu nehmen („Eine einzige Tablette ist oft bestimmend und entscheidend für den Erfolg“), im Zug droht gar „Gefahr im Schlaf“, denn: „Ständig sind Verbrecher auf der Lauer, um in gelegenen Augenblicken ihr Gewerbe auszuüben“, und „ermüdete Menschen“ sollen gar, „ehe sie sich in die Gefahren des Verkehrsbetriebes begeben, 1–2 Tabletten Kola Dallmann nehmen“, um schlimme Unfälle zu vermeiden. Als unausgesprochener Konsens aller Anzeigen für Kola Dallmann erweist sich die Vorstellung, dass das Leben einem unerschöpflichen Gefahrenreservoir gleicht und die Ansprüche der modernen Welt an seine Bewohner ohne ein Stärkungsmittel gar nicht zu bewältigen sind.
und Frauen jungen und mittleren Alters aus, zumeist berufstätig, immer in einen städtischen und gesellschaftlichen Kontext eingebunden. 17 Aus der Reklame für Kola-Dallmann, siehe Abb. 5.
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Abb. 5: Eine Sekunde Gedankenlosigkeit – Anzeige der Firma Dallmann & Co (1929).
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4 „Herrin meiner Zeit“ In der Argumentation der bislang angeführten Reklame wird wiederholt und verschiedenartig auf den Faktor Zeit rekurriert. Eine Formulierung wie „Das Gesicht unserer Zeit“ spielt sowohl auf die aktuelle Lebenswelt als auch auf ihr rasantes Tempo an. Der Verlauf der Zeit – so legt die Reklame nahe – wird von einer fortwährenden Beschleunigung und permanenten Eile bestimmt. Der Ermessensspielraum des Einzelnen scheint klein, allein durch zeitsparende Mittel oder stärkende Produkte kann er dem ‚Tempo der Zeit‘ ein wenig trotzen. In den gängigen illustrierten Zeitschriften stellt Produktwerbung dieser Art den weitaus größten Teil, eine logische Folge der Koinzidenz von (Produkt-)Zielgruppe und Lesepublikum.¹⁸ Umso ungewöhnlicher nimmt sich daher eine Anzeigenserie aus, die unter anderem im Frankfurter Illustrierten Blatt erschien und sich dezidiert auf eine handverlesene Zahl von Individuen bezieht, denen es ihre soziale Position gestattet, die Kontrolle über ihre Zeit und damit ihre Souveränität selbst auszuhandeln. Mit dieser Ausnahmestellung wirbt ausgerechnet – und doch wieder passenderweise – die Alpina-Uhrenfabrik und wählt als glaubwürdige Repräsentanten „Persönlichkeiten, die im öffentlichen Leben an führender Stelle stehen“¹⁹. Neben Vicky Baum²⁰ und Mary Wigman treten in einer Kampagne aus dem Jahr 1929 unter anderem Hugo Eckener, Ernst Udet und Carl-Friedrich Freiherr von Langen als Markenbotschafter auf. Das vielgestaltige Personenpanorama versammelt also weibliche wie männliche Heldenfiguren: eine erfolgreiche Schriftstellerin, eine selbstbestimmte Ausdruckstänzerin, ein bekannter Luftschiff-Kapitän, ein Fliegerass des 1. Weltkriegs und ein Olympiagewinner im Dressurreiten.
18 Die hier untersuchten illustrierten Zeitschriften bedienen zwar einen quantitativ erheblichen Teil der Leserschaft (vgl. dazu Fußnote 10), stellen jedoch innerhalb der gesamten Pressewelt der Weimarer Republik nur ein Segment dar. Das Lesepublikum lässt sich am ehesten mit der sehr heterogenen Gruppe der Angestellten umreißen. 19 Mit diesen Worten charakterisieren die Alpina-Gruen Gilde Uhrenfabriken in einem der Anzeigentexte die für die Kampagne ausgewählte Personengruppe. 20 Aus der Anzeige mit Vicky Baum als Werbeträgerin stammt das den Abschnitt einleitende Zitat. Die Reklame ist überschrieben mit dem Satz: „Immer Zeit zu haben hilft mir meine Alpina Uhr“, im weiteren Text heißt es „Bei intensiver Gedankenarbeit am Schreibtisch – wie leicht vergißt man Zeit und Stunden! Und doch ist genaueste Einteilung der Zeit – um immer Zeit zu haben – gerade in meinem Beruf so wichtig. Darum liebe ich meine Alpina-Uhr so sehr – denn sie hilft mir trotz aller Arbeit, immer Herrin meiner Zeit zu bleiben. Wenn es gilt, berufliche und gesellschaftliche Pflichten zu erfüllen, ist meine Uhr ein unbeirrbarer Mahner, oft unerbittlich, doch stets zuverlässig.“
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Die Texte zu den Anzeigen mit den männlichen Werbeträgern greifen ausschließlich traditionelle Werte auf, die eine unbedingte Autonomie und Dominanz der einzelnen Person selbstverständlich voraussetzen. Als grundlegende Faktoren für den individuellen Erfolg, den das beworbene Produkt bezeugen soll, werden „Kontrolle“, „Zuverlässigkeit“ und „Sicherheit“ benannt, und in dieser singulären Position wird die Uhr dem legendären Kampfpiloten Ernst Udet sogar zum „treuesten Kamerad“²¹. Auch in den Texten der Anzeigen mit Vicky Baum und Mary Wigman als Markenbotschafterinnen wird mit der Vorstellung von einer potentiellen Beherrschbarkeit der Zeit geworben, doch stellt sich das Verhältnis weitaus komplexer dar. Die Uhr wird hier zu einem Hilfsmittel, das der Trägerin gestattet, „immer Zeit zu haben“ und so „Herrin [ihrer] Zeit zu bleiben“²². Die erlebte Beschleunigung der äußeren Welt wird nicht geleugnet, doch wird der Zeitmesser zum Begleiter und nimmt mit seiner „Zuverlässigkeit […] der Schnelligkeit des Lebenstempos die Atemlosigkeit“²³. Die personalisierten Alpina-Anzeigen müssen im Kontext der hier untersuchten Werbewelt als ebenso singulär eingestuft werden wie die eingangs vorgestellte Reklame der Firma Mouson aus dem gleichen Jahr. In der künstlerischen Ausgestaltung unterscheiden sich diese Produktwerbungen zwar grundlegend, doch verbindet sie das ihnen inhärente Welt- und Menschenbild: Das Leben in der atemlosen Zeit gleicht einem Kampf, in dem der moderne Mensch nur noch mit adäquaten Hilfsmitteln bestehen kann.
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21 „Auch hoch in der Luft mein treuester Kamerad“ lautet die Titelzeile in der Anzeige mit Ernst Udet als Markenbotschafter. 22 Vgl. den Anzeigetext in Fußnote 20. 23 Die Formulierung findet sich in der Anzeige, in der Alpina mit Mary Wigman wirbt.
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Bäumler (Münchener Stadtmuseum, 15. März–30. Juni 1996; Altonaer Museum in Hamburg, 18. September 1996–12. Januar 1997). Köln: Dumont 1996. S. 190–197. Domizlaff, Hans: Typische Denkfehler der Reklamekritik. Ohne Ort: Verlag für Industriekultur 1929 (Reprint der Zeitschrift HÖRZU 1981). Die Gebrauchsgraphik. Monatsschrift zur Förderung künstlerischer Reklame. Berlin: Phönix Ilustrationsdruck u. Verlag G.m.b.H. Heft 12/1924 und Heft 6/1926. Institut für Auslandsbeziehungen Stuttgart (Hrsg.): Fotografie in deutschen Zeitschriften 1883–1923. Stuttgart: Cantz 1991. Kaindl, J. J. (Hrsg.): Bücher und Schriften über Reklame, Plakatkunst, Zeitungswesen, Geschäfts-Organisation. Wien: Verlag J. J. Kaindl 1928. Keun, Irmgard: Das kunstseidene Mädchen. 10. Aufl. Berlin: List 2011. König, Theodor: Reklame-Psychologie, ihr gegenwärtiger Stand – ihre praktische Bedeutung. 3. Aufl. München/Berlin: R. Oldenbourg Verlag 1926. Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. Nerdinger, Friedemann W.: Strategien der Werbung. Vom Auftrag über die Gestaltung zur Entscheidung. In: Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Susanne Bäumler (Münchner Stadtmuseum, 15. März–20. Juni 1996; Altonaer Museum in Hamburg, 18. September 1996–12. Januar 1997). Köln: Dumont 1996. S. 297–307. Seidels Reklame. Das Blatt für Werbewesen und Verkaufstechnik. Berlin: Industrieverlag Spaeth & Linde. Heft Mai 1928. Der Verlag Ullstein zum Weltreklamekongress Berlin 1929. Berlin: Ullstein 1929. Vischer, Melchior: Sekunde durch Hirn/Der Hase. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Engel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988.
Uta Bittner
Das Menschenbild im Zeitalter des biotechnischen Enhancement Philosophische Reflexionen Abstract: This article analyzes the relationship between human beings and technology against the backdrop of modern biomedical enhancement possibilities. Recent developments in neuroscience show the enormous potential of brainmachine-interfaces as well as pharmacological intervention into the human central nervous system on human lifestyle and human self-concept. Cognitive, emotional, sensual and motoric functions of human life can be manipulated and controlled by neurotechnologies in different, very efficient ways. Although the impact of such neurotechnological interventions is not yet explored in detail, several assumptions about human nature are already at work. The article explores such underlying assumptions, e.g. deterministic views on technology versus constructivist positions. Especially the question of what humans are and what human life should be in future is analyzed against the backdrop of different ideas of man. It is argued that any (reductionist) approach will lead to blind spots, which need to be considered while thinking about enhancement technologies and their impact on human life.
1 Einführung Der Mensch gilt als Technikwesen, das sich Werkzeuge erstellt und sich ihrer bedient, um seine Umwelt so zu gestalten, dass sein Leben und Überleben gelingt.¹ Doch nicht nur die Einflussnahme auf die Umwelt stellt ein wesentliches Merkmal menschlicher Lebensführung dar, auch auf seinen eigenen Körper greift der Mensch zunehmend – und zwar mehr oder weniger invasiv – zu und gestaltet sein Äußeres und Inneres nach eigenen Vorstellungen und Präferenzen. Der Mensch ist somit sowohl Subjekt als auch Objekt seiner gestalterisch-formen-
1 Vgl. Rapp, Friedrich: Analytische Technikphilosophie. 1. Aufl. Freiburg/München: Verlag Karl Alber 1978. S. 33.
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den Aktivitäten.² Dabei stellt sich die Frage, an welchen Orientierungspunkten und Idealen er sich in seinem Streben nach Selbstformung, Verfügbarkeit und Optimierung ausrichtet. Dass es solcher Orientierungsmarken bedarf, liegt allein schon in der Steigerungslogik verortet: So werden die Grenzen von heute stets zu den Mitten von morgen – so dass sich die Frage der Verortung und Ausrichtung stellt.³ Besonderen Einfluss, so eine These, üben hier die versteckt enthaltenen oder auch offen antizipierten und verhandelten Menschenbilder aus. Sie beschreiben zum einen den Menschen und seine Lebensführungspraxis, nehmen aber auch zugleich Einfluss auf das Selbstverständnis, das der Mensch von sich hat, und beeinflussen mehr oder weniger stark normative Fragen und konkrete Handlungsnormen. Der Mensch ist „offen und bildsam“, wie Landmann schreibt, und drängt gleichsam „nach Abschluß und Verfestigung“⁴. Innerhalb dieses Drangs gewinnt die Idee, die er sich von sich macht, die bestimmende Kraft eines Ideals. Die Selbstdeutungen, die er sich angedeihen läßt, werden zu Zielbildern und Direktiven, denen gemäß sich die Selbstgestaltung vollzieht [....]: Der Mensch ist in zweifacher Weise causa sui, er schafft sich selbst und bestimmt auch noch das, wozu er sich schaffen will [...].⁵
Daher ist die Analyse der menschlichen Bestrebungen – die Art und Weise der Techniknutzung, die Entwicklung immer neuer technischer Apparate sowie das Schaffen neuer technisch vermittelter Weltzugänge – immer zugleich auch an die Frage nach den (dominanten) Menschenbildern gebunden. So lässt sich in Bezug auf das biotechnische Enhancement beispielsweise fragen, inwiefern sich Beschreibungen des Menschen und Menschenbilder in den Technikstrebungen widerspiegeln und welche argumentative Funktion die Annahmen, die in Menschenbildern enthalten sind, in normativen Diskursen einnehmen können. Beiden Fragekomplexen widmet sich dieser Beitrag.
2 Vgl. List, Elisabeth: Grenzen der Verfügbarkeit. Die Technik, das Subjekt und das Lebendige. Wien: Passagen Verlag 2001. S. 110. 3 Vgl. Körner, Swen u. Uta Bittner: Gendoping im Spitzensport – Zeichen eines neuen Menschenbildes? In: Zeitschrift für medizinische Ethik 57/4 (2011). S. 293–303. 4 Für dieses und das voranstehende Zitat: Landmann, Michael: Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart. 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. Berlin: Walter de Gruyter 1969. S. 9. 5 Landmann: Philosophische Anthropologie, S. 9.
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2 Medizintechniken als Mittel zur Selbstgestaltung Neben physiologischen Anpassungs- und Steigerungsversuchen – etwa der Verfeinerung der Motorik oder der Sinne (Hören oder Sehen) – finden sich auch Formungsversuche von mentalen Fähigkeiten wie beispielsweise der Gedächtnisleistung, von Emotion und Motivation sowie der Aufmerksamkeit. Dies kann mittels diverser Techniken – etwa der Mnemotechnik oder der Hypnose, des Trinkens einer anregenden Tasse Kaffee oder der Einnahme von Psychopharmaka – erzielt werden. Der Gedanke der Selbstformung ist dabei nichts per se Neues: Schon bei Descartes und Bacon galt der menschliche Körper als Maschine, auf die prinzipiell ein vollständiger Zugriff besteht und deren Funktionen als beeinfluss- und steuerbar betrachtet wurden.⁶ Neu im 21. Jahrhundert sind jedoch der Grad und die Intensität der Einflussnahme⁷: Aufgrund der beachtlichen Entwicklungen im Bereich der sogenannten Converging NBIC-Technologien⁸ sind nun de facto Möglichkeiten und Wege geschaffen, diverse und zuvor (noch) nicht umsetzbare Visionen der Selbstformung weitgehend in die Realität umzusetzen. Überschriften in Medienberichten wie „Der Computer wird zum Körperteil“⁹ oder „Leben 2.0“¹⁰ (erschienen zur erstmaligen Herstellung eines fortpflanzungsfähigen Bakteriums) sind offensichtliche Zeugen dieser Entwicklung. Speziell die aus der Medizin stammenden Techniken, die originär zur Krankheitsdiagnose und -behandlung eingesetzt wurden, lassen sich prinzipiell auch auf gesunde Körper anwenden, so
6 Vgl. Engel, Thomas u. Ulrike Henckel: Menschenbilder in Philosophie und Technik. In: Menschenbilder und Metaphern im Informationszeitalter. Hrsg. von Michael Bölker, Mathias Gutmann u. Wolfgang Hesse. Münster: Lit 2010. S. 237–261, hier bes. S. 248. 7 Vgl. beispielsweise Bittner, Uta, Boris Eßmann u. Oliver Müller: Vom Umgang mit Unzulänglichkeitserfahrungen. Die Enhancementproblematik im Horizont des Weisheitsbegriffs. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 15 (2010). S. 101–119. 8 NBIC steht für Technologien der Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften. Vgl. Schaper-Rinkel, Petra: Neuro-Enhancement Politiken. Die Konvergenz von NanoBio-Info-Cogno zur Optimierung des Menschen. In: Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen. Hrsg. von Bettina Schöne-Seifert, Davinia Talbot, Uwe Opolka u. Johann S. Ach. Paderborn: Mentis 2009. S. 295–319, hier S. 295; Gordijn, Bert: Converging NBIC Technologies for Improving Human Performance. In: Medical Enhancement and Posthumanity. Hrsg. von Bert Gordijn u. Ruth Chadwick. New York: Springer 2008. S. 225–235, hier S. 225. 9 Marsiske, Hans-Arthur: Der Computer wird zum Körperteil. In: Die Welt, 01.02.2008. S. 31. 10 Assheuer, Thomas: Leben 2.0. In: Die Zeit, 02.06.2010. S. 56.
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dass sukzessive Steigerungen weit über das bisher Mögliche hinaus in Aussicht gestellt werden.¹¹ Schon seit langem kann zur Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes neben Bemalungs- und Schminktechniken aus verschiedenen Tätowierungsmöglichkeiten ausgewählt werden. Doch heutzutage gehören auch invasivere Verfahren wie etwa die Angebote der Ästhetisch-Plastischen Chirurgie zum etablierten und gesellschaftlich (weitgehend) akzeptierten Spektrum potenzieller Gestaltungswerkzeuge, derer sich der Einzelne bedienen kann, um so sein Äußeres den eigenen Vorstellungen entsprechend nachzubilden. Von der Nasenkorrektur über diverse Fettabsaugungstechniken bis hin zu Lidstraffungen oder Brustimplantaten bietet die Ästhetische Chirurgie mittlerweile eine bunte Vielfalt invasiv-chirurgischer Eingriffsmöglichkeiten, die als Dienstleistungsangebote käuflich im In- und Ausland zu erwerben sind.¹² Neben den Techniken zur Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes gibt es Verfahren und Substanzen, die auf das Zentrale Nervensystem (ZNS) einwirken und so Veränderungen auf mentaler Ebene vornehmen. Solche technischen Interventionsmöglichkeiten werden unter den Begriff der Neurotechniken zusammengefasst. Darunter sind „technische und pharmakologische Mittel, die auf Erkenntnis oder die Beeinflussung des zentralen Nervensystems ausgerichtet sind“¹³, zu verstehen. Interessanterweise entstammen fast alle neurotechnischen Mittel und Substanzen dem therapeutischen Kontext. Sie wurden entwickelt, um Krankheiten oder deren Symptome zu behandeln. So wird etwa Modafinil eingesetzt, um die „Schlafkrankheit“ (Narkolepsie) zu therapieren, Donepezil entstammt originär aus dem Behandlungskontext bei Alzheimer-Demenz.¹⁴ Hör-Implantate (sogenannte Cochlea-Implantate) oder auch Seh-Chips (Retina-Implantate) bilden eine medizintechnische Möglichkeit, Gehörlosen und Blinden ihre Sinnesfähigkeiten
11 Daher verwundert es nicht, dass trans- und posthumanistische Szenarien in diesem Kontext offen ausgesprochen und verhandelt werden. Vgl. Bostrom, Nick: Why I Want to be a Posthuman When I Grow Up. In: Gordijn/Chadwick: Medical Enhancement. S. 107–136. 12 Vgl. dazu den Beitrag von Julia Inthorn in diesem Band. 13 Talbot, Davinia u. Julia Wolf: Dem Gehirn auf die Sprünge helfen. Eine ethische Betrachtung zur Steigerung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten durch Neuro-Enhancement. In: No Body Is Perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse. Hrsg. von Johann S. Ach u. Arnd Pollmann. Bielefeld: Transcript 2006. S. 253–278. 14 Vgl. Lieb, Klaus: Hirndoping. Warum wir nicht alles schlucken sollten. Mannheim: Artemis & Winkler 2010.
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zurückzugeben.¹⁵ Und auch die Stimulation von Nervenzellen im Gehirn mittels implantierter Elektroden (die sogenannte ‚Tiefe Hirnstimulation‘) wurde entwickelt, um Patienten mit Morbus Parkinson oder starkem Tremor zu behandeln. Mittlerweile wird diese invasive Neurotechnik auch bei psychiatrischen Erkrankungen, die medikamentös austherapiert sind, eingesetzt, wie zum Beispiel bei starken Zwangserkrankungen, Depressionen oder Suchterkrankungen.¹⁶ Zunehmend wird untersucht, ob Substanzen oder technische Verfahren, die zur Behandlung von Krankheiten und der Behebung geistig-mentaler Defizite eingesetzt werden, auch bei Gesunden zur Steigerung des Normalzustandes eingesetzt werden könnten. Diese Tendenz zur Übersteigerung des bisher Menschenmöglichen wird im medizinethischen Kontext seit einigen Jahren unter dem Begriff des „Enhancement“ verhandelt.¹⁷ Enhancement kann allgemein als ein „korrigierender Eingriff in den menschlichen Körper, durch den nicht eine Krankheit behandelt wird bzw. der nicht medizinisch indiziert ist“¹⁸, definiert werden. Dies beinhaltet die Überbietung des bisher für normal und möglich Erachteten. So können Personen mittlerweile allein durch Gedankenkraft, indem ihre Gehirnströme gemessen werden, den Cursor eines Computers bewegen.¹⁹ So wird die Vermittlung über körperliche Bewegung obsolet, und die ‚Gedankensteuerung‘ ein Stück Realität. Werden Neurotechniken eingesetzt mit dem Ziel des Enhancement, so spricht man vom Neuro-Enhancement. Häufig wird Enhancement auch als ‚Optimierung‘ beziehungsweise ‚Verbesserung‘ übersetzt, wodurch jedoch schon eine positive Konnotation in die Definition einfließt, die es noch zu validieren gilt. Bei der Rede von Enhancement ist also zu zeigen, inwiefern eine Verbesserung – und nicht bloß eine Veränderung – durch das Enhancement erfolgt. Denn nicht jede Veränderung muss eine Entwicklung hin zu einem besseren, positiv bewerteten Zustand implizieren. Interessanterweise gibt es jedoch Positionen, die genau diese Korrelation begrifflich aufnehmen: Sie bezeichnen jede Verän-
15 Vgl. Bittner, Uta: Wie Hören und Sehen wiederkommen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2009. S. 16. 16 Vgl. Krug, Henriette, Oliver Müller u. Uta Bittner: Technisierung des Ich? Überlegungen zu einer ethischen Beurteilung der tiefen Hirnstimulation unter Verwendung von PatientenNarrationen. In: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 78/11 (2010). S. 644–651. 17 Vgl. Eßmann, Boris, Uta Bittner u. Dominik Baltes: Die biotechnische Selbstgestaltung des Menschen. Neuere Beiträge zur ethischen Debatte über das Enhancement. In: Philosophische Rundschau 58/1 (2011). S. 1–21. 18 Fuchs, Michael: Artikel: Enhancement. In: Lexikon der Bioethik. Hrsg. von Wilhelm Korff, Lutwin Beck u. Paul Mikat. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998. S. 604–605, hier S. 604. 19 Vgl. Mock, Wolfgang: Hightech „verbessert“ den Menschen. In: VDI Nachrichten, 30.10.2009. S. 3.
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derung, die den Wohlstand und das Wohlbefinden des Menschen optimiert, als Enhancement.²⁰ Somit müssten Veränderungen, die keine Verbesserungen, wohl aber Überbietungen darstellen, anders bezeichnet werden – und nicht als Enhancement-Maßnahme. Doch genau diese begriffliche Engziehung soll hier nicht vertreten werden. Im Folgenden wird vielmehr jede Maßnahme, die das menschliche Fähigkeiten- und Eigenschaftsspektrum zu steigern beziehungsweise zu überbieten vermag, als Enhancement verstanden. Enhancement kann zum Guten oder zum Schlechten beitragen. Erst in dieser Perspektive lässt sich fragen, ob solchermaßen induzierte Enhancement-Veränderungen aus ethischer Perspektive zu befürworten oder abzulehnen sind.²¹
3 Ziele des Neuro-Enhancement Welches sind nun die dem Enhancement-Streben zugrundeliegenden Mechanismen und Ziele? Auf welche Grunderfahrungen reagiert der Wunsch nach Enhancement? Es scheint, dass vor allem die Kompensation oder Beseitigung von als Mängel empfundenen Zuständen, Fähigkeiten oder Eigenschaften angestrebt wird – wobei es zu bedenken gilt, dass das, was als Mangel erfahren wird, Wandlungen unterliegt. Gethmann nennt aus anthropologischer Perspektive vier Grundkontingenzen des Menschseins: – „Erfahrungen der Bedürftigkeit, z. B. auf Nahrung, Schlaf, Erholung, soziale Einbindung […] angewiesen zu sein;
20 So setzt beispielsweise John Harris Enhancement mit wünschenswertem und das Leben verbesserndem „improvement“ gleich und kann daher nur zu der Schlussfolgerung gelangen, dass Enhancement-Maßnahmen zu befürworten sind. Er geht sogar so weit, ein solchermaßen verstandenes Enhancement als moralische Pflicht zu postulieren. Vgl. Harris, John: Enhancements Are a Moral Obligation. In: Human Enhancement. Hrsg. von Julian Savulescu u. Nick Bostrom. Oxford: Oxford University Press 2009. S. 131–154, hier S. 131. 21 Natürlich sind, um von einem Beitrag zum Guten oder Schlechten reden zu können, konzeptionelle Vorannahmen zur Idee des „guten Lebens“ mitzudenken, beispielsweise eine Verständigung zu unverfügbaren und verfügbaren, das heißt verhandelbaren Werten wie etwa Gerechtigkeit, Würde, Solidarität oder Tugendhaftigkeit. Interessanterweise werden diese Grundlagen einer Theorie des guten Lebens in vielen Texten zur Enhancement-Thematik gar nicht oder nur unzureichend explizit gemacht – was womöglich auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen ist, dass die heutigen Gesellschaften einen Wertepluralismus aufweisen, der eine grundsätzliche Einigung auf ein Verständnis vom ‚guten Leben‘ erschwert. Vgl. Eßmann/ Bittner/Baltes: Biotechnische Selbstgestaltung.
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Erfahrungen der Störanfälligkeit, z. B. […] durch Unfälle verletzbar […] zu sein; die Erfahrungen der […] Sterblichkeit […]; Erfahrungen der Phasenhaftigkeit des Lebens […].“²²
Galt etwa das Altern als ‚natürliche‘ und unvermeidliche – und damit ‚wohl oder übel‘ zu akzeptierende – Lebensphase, so haben einige Vertreter der Anti-AgingMedizin mittlerweile dem Alter(n) den Kampf angesagt und zielen mit ihren Bemühungen darauf ab, Alterungsprozesse in Gänze abzuschaffen. Dabei stellt die Suche nach Strategien zur Vermeidung beziehungsweise Eingrenzung dieser menschlichen Grundkontingenzen kein allein für das Enhancement zutreffendes Charakteristikum dar. Vor allem die Entwicklung und Professionalisierung der Medizin mit ihren diagnostischen und therapeutischen Verfahren kann hier als Beispiel für das Bemühen angeführt werden, die Störanfälligkeit der menschlichen Physis und Psyche zu minimieren und kontrollierbar zu machen. In dieser Tendenz ist auch die Prävention als medizinische Maßnahme zu verorten. Nicht nur medizinische Therapie, Diagnose und Prävention reagieren auf die prinzipielle Störanfälligkeit und Mangelhaftigkeit des Menschen, sondern auch das Neuro-Enhancement ist darauf ausgerichtet, als belastend empfundene Grunderfahrungen einzugrenzen oder gar zu beheben. So zeigt der im Jahr 2009 vorgestellte DAK-Bericht Doping am Arbeitsplatz, der auf einer Mitgliederbefragung beruht, dass nicht nur Interesse am Thema Enhancement besteht, sondern auch die Bereitschaft zur Nutzung von Enhancement-Präparaten gegeben ist.²³ Als Begründung wird angeführt, dass die Arbeitnehmer in den westlichen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaften mit vielen neuen Anforderungen konfrontiert seien: von ihnen würde eine „schnelle Auffassungsgabe, gutes Erinnerungsvermögen, lebhafte Kreativität und fokussierte Aufmerksamkeit“ neben „Ausdauer und Stressresistenz“²⁴ gefordert. Diese Anforderungen werden als
22 Gethmann, Carl Friedrich: Wunscherfüllende Medizin: Kontingenzbewältigung oder Kontingenzbeseitigung? In: Das Verhältnis von Arzt und Patient. Hrsg. von Martin Momburg u. Dietmar Schulte. München: Wilhelm Fink 2010. S. 233–255, hier S. 236. Hervorhebungen im Original wurden nicht übernommen. 23 Vgl. Deutsche Angestellten-Krankenkasse: Gesundheitsreport 2009. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. http://www.dak.de/content/filesopen/Gesundheitsreport_2009.pdf (14.08.2011). 24 Für dieses und das vorhergehende Zitat: ebd. Allerdings ist einschränkend anzumerken, dass das antizipierte Ideal der Effizienz, Kontrolle und der Leistungssteigerung, das dem Neuro-Enhancement zugeschrieben wird, durchaus auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts
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Überforderungs- und Unzulänglichkeitserfahrungen wahrgenommen, denen der Einzelne bestmöglich zu begegnen bemüht zu sein scheint, indem er auf wirkeffiziente Neuro-Enhancement-Substanzen zurückzugreifen bereit ist. Über diese Zielsetzungen hinaus (die als Reaktion auf defizitär empfundene Zustände gedeutet werden) sind auch noch weitere Motivationsquellen für den Wunsch nach Enhancement denkbar: Individuelle, bisher nicht realisierbare Erfahrungen und Lebensziele könnten durch die neuen technischen Möglichkeiten, die das Neuro-Enhancement in Aussicht stellt, in greifbare Nähe rücken.²⁵ Mittels Augenchip infrarot sehen zu können, Ultraschallwellen über Implantate hören oder enorme Laufgeschwindigkeiten über High-Tech-Beinprothesen erreichen zu können, sind nur einige wenige Anwendungsbereiche, die im Kontext der Erforschung von Neurotechniken debattiert werden. Mittlerweile werden beispielsweise EEG-Kappen (Elektroenzephalogramm-Kappen) entwickelt, die Computerspiele noch intensiver erlebbar machen sollen, indem die Spieler auch per Gedankenkraft ins Spielgeschehen eingreifen können und so mehrfach interaktiv ins Spiel eingebunden werden.²⁶ Auch andere Formen der Gehirn-ComputerSchnittstellen, die eigentlich Querschnittsgelähmten oder Locked-In-Patienten ermöglichen sollen, mit der Außenwelt zu kommunizieren, bieten sich zum Test auf Alltagstauglichkeit und Überbietung an.²⁷ Und auch an der Steigerung der physischen Kräfte wird geforscht: So existieren bereits sogenannte ‚Exo-Skelette‘, die zwar nicht direkt und invasiv in den menschlichen Körper einwirken, aber durch die Unterstützung des kompletten Skeletts dazu führen, dass die Träger solcher Exo-Skelette in der Lage sind, extrem schwere Lasten über einen sehr langen Zeitraum ohne Ermüdungserscheinungen zu tragen – ähnlich humanoiden Robotern.²⁸ Es verwundert wohl kaum, dass derlei Enhancement-Technik vor allem auch im militärischen Bereich auf Interesse stößt.
vorherrschte. Vgl. Stoff, Heiko: Das „Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten“. Die Verbesserung und Verjüngung des Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? Hrsg. von Willy Viehöver u. Peter Wehling, Bielefeld: Transcript 2011. S. 89–118, hier S. 113ff. 25 Vgl. dazu den Beitrag von Sven Stollfuß in diesem Band. 26 Vgl. Bittner, Uta: Ökonomische Aspekte von Neurotechnologien. In: Das technisierte Gehirn. Verändern die aktuellen Neurotechnologien das menschliche Selbstverständnis? Hrsg. von Oliver Müller, Jens Clausen u. Giovanni Maio. Paderborn: Mentis 2009. S. 105–119. 27 Vgl. Kerneck, Barbara: Hirnströme steuern Flipperautomaten. In: Die Tageszeitung, 21.08.2009. S. 18. 28 Vgl. Mock: Hightech „verbessert“ den Menschen.
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Zudem finden sich – neben diesen sinnlichen beziehungsweise motorischen Übersteigerungsvisionen – Vorstellungen von der (grenzenlosen) Ausweitung mentaler Phänomene. Hier wird über das Erleben neuer Emotionen und neuer Gefühle oder über die Fähigkeit eines lückenlosen Erinnern-Könnens von einmal Gehörtem oder Erlebtem sinniert. So soll ein „Google-Chip das Weltwissen sofort greifbar machen und ein lexikalischer Gedächtnis-Chip den Wortschatz fremder Sprachen bereitstellen, ohne dass man stupide Vokabeln pauken muss.“²⁹ Und auch die Möglichkeit der gezielten Auslöschung von unerwünschten Gedächtnisinhalten, wie es exemplarisch im Science-Fiction-Film Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004)³⁰ dargestellt wurde, in dem die Hauptfigur Joel mittels technischer Intervention im Gehirn versucht, Gedanken an seine Geliebte und die Liebesbeziehung auszulöschen, um sich so von seinem quälenden Liebesschmerz zu befreien, wird gleichfalls verhandelt. Gestützt werden derlei Szenarien durch Tierexperimente, in denen gezeigt wurde, dass sich Gedächtnisinhalte mittels spezieller Substanzengabe ausradieren lassen.³¹ Unklar ist, ob diese neuen Fähigkeiten und (Sinnes-)Eigenschaften zu einem wesentlich besseren, glücklicheren Leben beitragen. Sowohl skeptische als auch befürwortende Positionen stecken hier in einer Begründungsfalle: So weist Bert Gordijn darauf hin, wie schwierig eine genaue Beschreibung eines zu antizipierenden (womöglich posthumanen) Zustandes vorzunehmen ist, und dass gegenwärtig solch ausdifferenzierte Ansätze noch nicht zu finden seien.³² Auf einen weiteren Aspekt ist gleichfalls hinzuweisen: So ist es denkbar, dass Enhancement nicht nur in der Selbstanwendung praktiziert wird, sondern vielmehr als Manipulationsmechanismus zur Steuerung Dritter herangezogen werden könnte. Daraus resultiert die Befürchtung, Enhancement führe im Extremfall zu (neuen) Formen der Gewalt- und Machtausübung sowie zu subtilen sozialen Zwangsmechanismen, denen sich der Einzelne nicht entziehen könnte und die womöglich auch als solche gar nicht mehr erkennbar wären. Dass solche Manipulationen möglich sind, zeigen Experimente an Tieren: So lassen sich beispielsweise Käfer über winzige Mikrochips fernsteuern und fliegen dann in die Richtung, die ihnen über Computer ‚befohlen‘ wird.³³ Ähnliches wurde auch
29 Vaas, Rüdiger: Aufrüstung fürs Gehirn. In: Bild der Wissenschaft Nr. 9, 2008. S. 30. 30 Vgl. dazu den Beitrag von Maike Sarah Reinerth in diesem Band. 31 Vgl. Weber, Christian: Reset-Taste für das Gehirn. In: sueddeutsche.de, http://www. sueddeutsche.de/wissen/gedaechtnis-manipulation-reset-taste-fuer-das-gehirn-1.166459 (24.01.2012). 32 Vgl. Gordijn, Bert: Medizinische Utopien. Eine ethische Betrachtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. S. 238f. 33 Vgl. Schröder, Tim: Lebendige Marionetten. In: Neue Zürcher Zeitung, 10.06.2009. S. 9.
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schon an Ratten getestet. Ein älteres Experiment stellt in diesem Zusammenhang die Manipulation eines Stiers mittels implantierter Elektroden im Gehirn dar: Der spanische Neurophysiologe José Delgado versetzte im Jahr 1965 nach Belieben per Knopfdruck einen Stier über die Elektrodenstimulation in Aggression, so dass das Tier in der Stierkampf-Arena wild losstürmte. Genauso schnell aber konnte Delgado die Aggression auch wieder abschalten – und der Stier stoppte sofort sein wildes Verhalten und war schlagartig ruhig.³⁴
4 Mögliche Technik-Logiken und Vereinseitigungstendenzen Welche Technik der Mensch auch entwickelt und anwendet, ihre Verortung und die Bestimmung des Wechselverhältnisses ist komplex und kann kaum eindeutig und pauschal geklärt werden. Zum einen gilt: Technik macht den Menschen und seine Umwelt veränderbar. Die Tatsache, dass ein Zustand veränderbar ist, kann dann dazu führen, dass besagter Zustand auch als veränderungswürdig aufgefasst wird. Das heißt: Aus der Feststellung ‚Defizite können beseitigt werden‘ wird die normative Haltung ‚Defizite sollen beseitigt werden‘ abgeleitet.³⁵ Galert und Kollegen umschreiben diesen Denkmechanismus, indem sie die potenziellen Implikationen der Existenz von pharmakologischen Enhancement-Präparaten wie folgt analysieren: „Schon die bloße Überlegung, ein Neuro-EnhancementPräparat zu nutzen, mag dazu führen, dass jemand ein Persönlichkeitsmerkmal, das er zuvor als ‚gegeben‘ hingenommen hat, plötzlich als defizitär betrachtet.“³⁶ Aus diesem möglichen Zusammenhang leiten Galert et al. jedoch keinesfalls
34 Vgl. Schröder: Lebendige Marionetten. Ähnliche Szenarien der Manipulation und Selektion finden sich auch oft im Kontext der Debatte um das gentechnologische Enhancement. Aus Platzgründen kann hier kein vertiefender Bezug auf dieses große Feld erfolgen. 35 Wie problematisch ein derartiger normativer Schluss aus deskriptiven Prämissen ist, zeigt die Auseinandersetzung um den naturalistischen Fehlschluss, wonach allein aus rein deskriptiven Elementen nicht ein normativer Schluss gezogen werden darf. Diese Debatte kann hier jedoch aus Platzgründen nicht näher vorgestellt werden. 36 Galert, Thorsten, Christoph Bublitz, Isabella Heuser, Reinhard Merkel, Dimitris Repantis, Bettina Schöne-Seifert u. Davinia Talbot: Das optimierte Gehirn. In: Gehirn und Geist (2009), http://www.gehirn-und-geist.de/memorandum (14.08.2011). Den neuen Möglichkeiten des pharmakologischen Enhancements stehen damit korrelierende Erwartungshaltungen zur Seite, wobei dabei noch nicht die Frage beantwortet ist, warum und in welchem Maße Techniken Potenzialerwartungen wecken. Vgl. zu dieser Thematik Kaminski, Andreas: Technik als Erwartung. Grundzüge einer allgemeinen Technikphilosophie. Bielefeld: Transcript 2010. S. 31.
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eine restriktive Haltung gegenüber Neuro-Enhancement ab, sondern plädieren in ihrem Memorandum für eine liberale Praxis des pharmakologischen NeuroEnhancement. In dieser kurzen Skizze scheint eine Haltung auf, die Eric Parens als Grundhaltung des kreativen Schaffens von Neuem (Parens spricht vom creativity framework) umschreibt.³⁷ Doch auch die gegenteilige Position sei in ethischen Debatten vorzufinden, so Parens: die Befürwortung des Erhaltens und Bewahrens des Gegebenen, die sich in einer Einstellung der gratitude manifestiert. In dieser gratitude-Haltung folgt aus der Feststellung der Veränderbarkeit nämlich gerade nicht automatisch die Veränderungswürdigkeit. Interessant sind hier Parens’ weitere Beobachtungen: In bioethischen Diskussionen fänden sich stets beide Grundhaltungen – die auf Bewahrung zielende gratitude und die auf Gestaltung, Veränderung und Weiterentwicklung zielende creativity –, und zu verschiedenen Fragestellungen können nach Ansicht von Parens die Positionen zwischen beiden Polen sowohl inter-personal – als auch intra-personal – durchaus changieren. Parens erklärt diese Pendelbewegung mit Rekurs auf die im Menschen manifeste Ambivalenz von Natur- und Kulturwesen, die Helmuth Plessner mit der Formel der „natürlichen Künstlichkeit“³⁸ des Menschen beschrieben hat. Der Mensch wird weder einseitig als nur bewahrend noch einseitig als nur kreativ-(er)schaffend gezeichnet. Ein solcher Verweis auf zugrundeliegende Annahmen über den Menschen scheint in normativer Hinsicht noch weitgehend neutral, da es Parens in erster Linie um Transparenz geht und nicht darum, mit Verweis auf anthropologische Konstanten konkrete normative Haltungen zu begründen. Weit stärker normativ aufgeladen sind manche technikphilosophische Lesarten: Wenn Technik verstanden wird als nicht-neutrales Hilfsmittel, das immer auch auf den Menschen, seine Lebensführung, Wertvorstellungen und Entscheidungen zurückwirkt, weil, wie der Technikphilosoph Friedrich Rapp schreibt, Technik „ein bestimmtes Verhalten ‚erfordert‘ und durch ihre Allgegenwart eine ganz bestimmte Einstellung ‚erzeugt‘“³⁹, dann wird hier eine technikdeterministische Grundhaltung deutlich. Gemäß dieser Sichtweise entwickelt Technik ein autonomes Eigenleben, das sich sukzessive auf alle Bereiche menschlicher
37 Vgl. Parens, Erik: Toward a More Fruitful Debate About Enhancement. In: Savulescu/ Bostrom: Human Enhancement. S. 181–197, hier S. 189. 38 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3. unveränderte Aufl. Berlin: De Gruyter 1975. S. 309. 39 Rapp, Friedrich: Die technologische Entfremdung von der Natur. In: Technikphilosophie im Aufbruch. Hrsg. von Nicole C. Karafyllis u. Tilmann Haar. Edition Berlin: Sigma 2004. S. 55–71.
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Lebensführung ausdehnt, diese fast vollständig prägt und steuert. Aus dieser deskriptiven Analyse werden dann oft auch normative Schlüsse gezogen, etwa der Art, dass die Technik das Soziale bestimmt und determiniert – und dass dies nicht sein sollte. Ähnliche Argumentationsgänge finden sich beispielsweise auch in der Verhandlung des Neuro-Enhancement der Liebe: So wird in neurowissenschaftlichen Experimenten u. a. über bildgebende Verfahren versucht, das „Rätsel Liebe“ zu entziffern. In Experimenten mit Berg- und Präriewühlmäusen ermittelten Forscher beispielsweise, dass Präriewühlmäuse mit einem hohen Oxytocin-Anteil eine treue Partnerschaftlichkeit entwickeln.⁴⁰ Wurden ihnen Oxytocin-Blocker verabreicht, wechselten diese Mäuse ihr Verhalten und waren nicht mehr monogam. Hieraus lassen sich unterschiedliche Analysen ziehen. Eine mögliche Variante wäre, zu konstatieren, dass Liebe anhand dieser Forschungsergebnisse nur noch als „Gemisch von Hormonen und Neurotransmittern“⁴¹ interpretiert wird und damit eine Übertragung des Ideals des Technischen auf andere Lebensbereiche stattfinden würde – mit der Konsequenz, dass Liebe als technisch herstellbar und steuerbar konzipiert wird. ‚Fehlfunktionen‘ wie etwa Liebeskummer oder Beziehungsstress werden in einer solchen Sichtweise dann als unerwünschte Zustände definiert, die es mit den passenden technisch-pharmakologischen Mitteln zu beheben gilt. Der dahinterliegende Denkmechanismus ist schnell skizziert: ein soziales, interpersonales Phänomen soll mit (Medizin-) Technik beherrschbar gemacht und gelöst werden. Dass hier technische Imperative in einen zuvor nicht-technisierten Bereich vordringen, wird in einer technikdeterministischen Position sodann als problematisch identifiziert. Gelingt es nicht, sich einem solchen Technik-Einfluss zu entziehen, dann mag dies aus der Position eines technikskeptischen Menschenbildes dazu führen, dass am Ende der Mensch die Standards und Maßstäbe des Technischen für sich adaptiert, wie Günther Anders es formuliert hat. Vor dieser Menschenbild-Hintergrundfolie bleibt dem Menschen dann nichts anderes mehr übrig, als seine Unzulänglichkeit und Mangelhaftigkeit zu konstatieren.⁴² Allerdings birgt diese Sichtweise auch eine reduktionistische Haltung, indem sie Technik und
40 Vgl. Young, Larry J., Zuoxin Wang u. Thomas R. Insel: Neuroendocrine bases of monogamy. In: Trends in Neuroscience 21/2 (1998). S. 71–75. 41 Vgl. Bittner, Uta: Neuro-Enhancement der Liebe: Wird die Liebe zu einem medizinisch kontrollierbaren Phänomen? Philosophisch-ethische Reflexionen zu den jüngsten neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 57/1 (2011). S. 53–61, hier S. 54. 42 Vgl. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Band 1. 2. Aufl. München: C.H. Beck 2002. S. 32.
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die Wirkung der Technik deterministisch deutet und damit eine direkte Ableitung normativer Haltungen nahelegt – was an sich zu hinterfragen ist. Denn der Rekurs auf Menschenbild-Beschreibungen allein erfüllt noch nicht hinreichend die gesamte Begründungslast. Aber auch der Gegenentwurf zum Technikdeterminismus – die sozialkonstruktivistische Position – ist gleichfalls vereinseitigend normativ aufgeladen. So wird in dieser Variante die These vertreten, dass Technik vielmehr (und einzig) Ausdruck sozialer Bedingtheiten und Machtverhältnisse sei.⁴³ Soziale Machtgefälle werden, so die Grundannahme, mittels technischer Faktoren verfestigt. Technische Entwicklungen entstehen dann aufgrund sozialer Strukturen und Dynamiken. Beide Positionen – die technikdeterministische sowie die sozialkonstruktivistische – werden in ihrer starken, pauschalisierenden Fassung dem Phänomen des Technischen und seiner Wechselwirkung mit dem Sozialen nicht gerecht. Sie erzeugen dann einen blinden Fleck, da ihre jeweilige Haltung andere Perspektivierungen unmöglich macht.⁴⁴ Von einem mittleren Standpunkt aus betrachtet ist die Idee der „systematischen Koproduktion“⁴⁵, das heißt der wechselseitigen Bedingtheit von Technik und Sozialem (Gesellschaft, Individuum) nicht nur attraktiv, sondern essenziell wichtig, da jede Vereinseitigung dem menschlichen Leben in seiner Pluralität nicht gerecht werden kann. Denn die Technik mit ihren Ausprägungen und Wirkungsweisen variiert je nach Zeit- und Kulturepoche. Und in Abhängigkeit von den Dynamiken und Wechselbeziehungen, die vorliegen, kann entweder die Technik oder das Soziale mehr oder weniger Einfluss ausüben.⁴⁶ Zudem fordert eine solche Perspektive der Koproduktion eine genauere Betrachtung und Begründung der normativen Implikationen und unterbindet möglicherweise eine vorschnelle Schlussfolgerung von Normativem aus rein Deskriptivem.
43 Vgl. Degele, Nina: Einführung in die Techniksoziologie. München: Wilhelm Fink 2000. 44 Solche blinden Flecken sind – aus entscheidungstheoretischer Sicht betrachtet – unüberwindbar. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. S. 115. 45 Lemke, Thomas u. Regine Kollek: Hintergründe, Dynamiken und Folgen der prädiktiven Diagnostik. In: Viehöver/Wehling: Entgrenzung. S. 163–194, hier S. 165. 46 Weder determiniert das Soziale einseitig das Technische, noch kann alleinig eine Übermacht der Technik gegenüber dem Sozialen postuliert werden. Vgl. Singer, Mona: Wir sind mittendrin: Technik und Gesellschaft als Koproduktion. In: Verkörperte Technik – Entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht. Hrsg. von Sigrid Graumann u. Ingrid Schneider. Frankfurt a. M.: Campus 2003. S. 110–124.
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5 Zur Aussagekraft von Menschenbildern Das Nachdenken über Menschenbilder, die in technikphilosophischen Haltungen enthalten sind, hat hier verdeutlicht, dass beispielsweise aus den Annahmen zur Technikdominanz durchaus normative Haltungen (und zwar recht divergente) abgeleitet werden. Es ist dann wichtig zu fragen, inwiefern solche Ableitungen gerechtfertigt und fundiert sind und welche argumentative Funktion die enthaltenen Bilder vom Menschen wahrnehmen. Exemplarisch wurde anhand des technikdeterministischen Menschenbildes angedeutet, inwiefern deskriptive Annahmen (zum Beispiel: „Technik bestimmt unser Leben und Denken“) zu normativen Aussagen und damit zu Handlungsnormen (zum Beispiel: „Technik sollte nicht alle Lebensbereiche dominieren“) transformiert werden. So ist hervorzuheben: Mit der Wahl des Menschenbildes ergeben sich Implikationen, die mitunter stark normativ aufgeladen sein können. Als weiteres Beispiel sei auf die im Kontext des Neuro-Enhancement verhandelte Bedeutungszuschreibung in Bezug auf das Gehirn hingewiesen: So wird im Diskursfeld bisweilen angemerkt, dass die Fokussiertheit auf das Gehirn in einer bestimmten Dimension problematisch sei: Wenn sowohl die Forschungsbemühungen als auch die bereits existenten Enhancement-Anwendungen allein das Gehirn als Zielgebiet und Schlüsseldomäne anvisieren, werde dem Gehirn eine derart besondere, herausgehobene Stellung im Kontext der Lebensführung und des menschlichen Selbstverständnisses zugeschrieben, dass für diese Beschreibung des Menschen der Begriff des Zerebrozentrismus geeignet erscheint, wie Thomas Fuchs dies herausgearbeitet hat.⁴⁷ Darunter ist ein Reduktionismus zu verstehen, der das Gehirn über andere Aspekte menschlicher Körper- und Leiblichkeit setzt, indem andere Organe, Extremitäten oder Leiberfahrungen zugunsten des Gehirns ausgeblendet werden. Eine solche Verkürzung kann dann in die implizite Botschaft münden: ‚Der Mensch ist einzig sein Gehirn‘. Ein sehr verkürztes Bild vom Menschen wird hier offensichtlich – das wiederum zum Anlass genommen wird, sich argumentativ über den Status des Gehirns zu verständigen. So ist es Aufgabe einer (Medizin-)Ethik, diese Verkürzungs- und Ableitungstendenzen offenzulegen und zu thematisieren. Menschenbilder sind nicht nur Abbilder und damit von rein deskriptiver Form, sondern bergen auch präskriptiv-
47 Vgl. Fuchs, Thomas: Kosmos im Kopf? Neurowissenschaften und Menschenbild. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006). S. 3–14; sowie Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer 2009.
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evaluative Strukturen und Wirkeffekte, die dann in Diskurse einfließen.⁴⁸ Dabei gilt das eingangs erwähnte Abhängigkeitsverhältnis, wonach jede Selbstdeutung und Selbstverortung Einfluss nimmt auf die Entscheidungen und Handlungsrichtungen des Menschen – und umgekehrt. Die durch die Enhancement-Mittel neu gewonnenen Gestaltungsmöglichkeiten von Physis und Psyche können beispielsweise ein naturalistisch-maschinistisches Bild vom Menschen prägen, das von einer Logik des Überbietens und Übersteigerns beherrscht wird. Die virulent werdende Frage lautet dann nicht nur, ob hier reduktionistische Tendenzen vorliegen, sondern auch, ob dieses Bild vom Menschen dasjenige ist, welches wir als Ideal von uns selbst entwerfen wollen. Diese Arbeit am Vorbild-Entwurf des Menschenbildes ist es, die es zu tätigen gilt, um transparent zu machen, welche Hintergrundannahmen in den Diskursen um die Legitimität von Neuro-Enhancement mitschwingen. Es sind die zugrundeliegenden Vorstellungen und Annahmen über den Menschen – die Menschenbilder – aufzudecken und hinsichtlich ihres (normativen) Einsatzes zu untersuchen. Das systematische Nachdenken über Menschenbilder kann damit eine heuristische Funktion einnehmen. So wäre erstens zu fragen, welche Charakteristika und Eigenschaften des Menschen im untersuchten, zugrundeliegenden Menschenbild dominant sind. Zweitens wäre dann zu eruieren, inwiefern das untersuchte Menschenbild Verkürzungstendenzen aufweist und drittens, ob und inwiefern normative Schlussfolgerungen aus den deskriptiven Annahmen gezogen werden und dabei Begründungslücken entstehen.⁴⁹ Denn, so wäre anzumerken, zur Begründung normativer Haltungen (wie zum Beispiel in der Definition von Normen, Verboten, Geboten, usw.) gegenüber Neuro-Enhancement auf Basis von Menschenbild-Verweisen genügt der alleinige Verweis auf (ein) Menschenbild(er) nicht – er bedarf immer einer Einbettung in normative Reflexionen, Analysen und Verständigungsprozesse. Das Problem eines Rekurses auf Menschenbilder liegt aber nicht nur in der Gefahr einer einseitigen Hervorhebung von menschlichen Aspekten bei ihrer gleichzeitigen normativen (und nicht explizit begründeten) Aufladung, sondern auch in einem Vergessen oder Verdrängen der Tatsache, dass damit einhergehende Differenzierungen immer aus einer bestimmten Position heraus erfolgen
48 Zur Annahme, dass Bilder sowohl Abbild als auch Vorbild sein können, vgl. exemplarisch Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. S. 177ff. 49 So schreibt Düwell zur Begründungslücke: „Die Rede vom ‚Menschenbild‘ scheint zu suggerieren, dass, wenn man weiß, wer der Mensch ist, man auch weiß, wie man mit ihm umgehen solle.“ (Hervorhebungen im Original) Düwell, Marcus: Menschenbilder und Anthropologie in der Bioethik. In: Ethik in der Medizin 23 (2011). S. 25–33, hier S. 28.
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– und somit andere Positionen verdecken. Jede getroffene Distinktion bedingt eine bestimmte Richtung: „man sieht, was man sieht, weil man so sieht – und nicht anders.“⁵⁰ Das heißt, hinter jedem Menschenbild stehen Prämissen und beobachterabhängige Entscheidungen, die Aufschluss darüber geben, was das jeweilige Bild vom Menschen umfasst – und was unberücksichtigt bleibt. Eine solche Ebene der Meta-Analyse kann helfen, das Nachdenken über Menschenbilder zu differenzieren und danach zu fragen, welche Prädispositionen bereits in der Rede von einem bestimmten Menschenbild wirken, welche Vorannahmen schon irreversibel getroffen wurden und welche alternativen Betrachtungswinkel verdeckt werden. Diese Fragen stellen sich jenseits des Problems einer eigentlichen Begründetheit des vorliegenden Menschenbildes.
6 Resümee Die Analyse von Menschenbildern erlaubt Rückschlüsse auf dahinterliegende, mitunter nicht transparent gemachte, normative Annahmen. Unter dem skizzierten heuristischen Blickwinkel sagen Menschenbilder und ihre Kritiken viel über die normativen Argumentationsmuster aus. So ist bei der Analyse von Menschenbild-Verweisen zweierlei zu bedenken: Erstens, und mit den Worten Düwells: Die „Herausarbeitung der anthropologischen Bedeutsamkeit bestimmter Fähigkeiten begründet noch nicht, dass es eine allgemeine moralische Verpflichtung gibt, die Realisierung dieser Fähigkeiten moralisch zu schützen.“⁵¹ Dies sollte mit bedacht werden, wenn Menschenbilder im Kontext der Enhancement-Debatte herangezogen und verhandelt werden. Zweitens beinhaltet das Nachdenken über Menschenbilder aber auch einen erheblichen analytischen Nutzen, und zwar genau dann, wenn es bei der Bestimmung des Menschen darum geht, ein möglichst „umfassendes Verständnis des Zusammenhangs aller Dimensionen“⁵² des menschlichen Daseins zu erlangen. Denn dann kann das Nachdenken über verhandelte Menschenbilder zu einem solch umfassenden Verständnis beitragen – ohne dass dabei (problematische) normative Implikationen abgeleitet werden. Unter diesem Blickwinkel können
50 Körner, Swen: Beobachterperspektive: Reflexion von Kontingenz und Kontingenz der Reflexion. In: Sportunterricht reflektieren. Ein Arbeitsbuch zur theoriegeleiteten Unterrichtsauswertung. Hrsg. von Ilka Lüsebrink, Claus Krieger u. Petra Wolters. Köln: Sportverlag Strauß 2009. S. 141–172, hier S. 143. 51 Düwell: Menschenbilder und Anthropologie, S. 30. 52 Ebd., S. 31.
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Menschenbilder eine wichtige heuristische Figur darstellen, um sich einer vollumfänglichen Thematisierung des Menschen anzunähern. Dann würde auch folgendes Problem umgangen, auf das Düwell hinweist, nämlich: dass der „Begriff des Menschenbildes suggeriert, dass diese umfassende Vermittlung im Verständnis des Menschen bereits vorhanden wäre und nicht mehr eine Aufgabe für den Menschen darstellt.“⁵³ Eine solche Fehlinterpretation würde vielmehr verhindert werden, indem ein offener Austausch über den Gehalt und die argumentative Funktion der verwendeten Menschenbilder vorzeitig initiiert und durchgeführt würde. So kann die Rede von Menschenbildern den Initialpunkt bilden für eine intensive, systematische Analyse dessen, was den Menschen ausmacht. Dies gilt dann auch und insbesondere für die Verständigungsprozesse in der Diskussion um Neurotechniken und ihre Implikationen für die menschliche Existenz.
Literaturverzeichnis Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Band 1. 2. Aufl. München: C.H. Beck 2002. Assheuer, Thomas: Leben 2.0. In: Die Zeit, 02.06.2010. S. 56. Bittner, Uta: Wie Hören und Sehen wiederkommen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2009. S. 16. Bittner, Uta: Ökonomische Aspekte von Neurotechnologien. In: Das technisierte Gehirn. Verändern die aktuellen Neurotechnologien das menschliche Selbstverständnis? Hrsg. von Oliver Müller, Jens Clausen u. Giovanni Maio. Paderborn: Mentis 2009. S. 105–119. Bittner, Uta, Boris Eßmann u. Oliver Müller: Vom Umgang mit Unzulänglichkeitserfahrungen. Die Enhancementproblematik im Horizont des Weisheitsbegriffs. In: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 15 (2010). S. 101–119. Bittner, Uta: Neuro-Enhancement der Liebe: Wird die Liebe zu einem medizinisch kontrollierbaren Phänomen? Philosophisch-ethische Reflexionen zu den jüngsten neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 57/1 (2011). S. 53–61. Bostrom, Nick: Why I Want to be a Posthuman When I Grow Up. In: Medical Enhancement and Posthumanity. Hrsg. von Bert Gordijn u. Ruth Chadwick. New York: Springer 2008. S. 107–136. Degele, Nina: Einführung in die Techniksoziologie. München: Wilhelm Fink 2000. Deutsche Angestellten-Krankenkasse: Gesundheitsreport 2009. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. http://www.dak.de/content/filesopen/Gesundheitsreport_2009.pdf (14.08.2011). Düwell, Marcus: Menschenbilder und Anthropologie in der Bioethik. In: Ethik in der Medizin 23 (2011). S. 25–33.
53 Ebd., S. 32.
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Julia Inthorn
Die Debatte um ästhetische Chirurgie als Ort konkurrierender Menschenbilder Abstract: Aesthetic and plastic surgery has become a widely accepted phenomenon with growing numbers of patients. At the same time, there is also an ongoing debate about the aims of plastic surgery, the enhancement of one’s appearance. This article analyzes three discourses on plastic surgery: the discourse in German newspapers, the presentation of plastic surgery on websites of beauty-clinics, and German articles in journals for medical ethics, in order to gain insights into the social negotiation of this form of enhancement. The results show that within all three discourses the aims of plastic surgery are negotiated with regard to anthropological ideas that are used as normative references. Thus, the debate on plastic surgery can be interpreted as a debate about our understanding of what it means to be human with different actors emphasizing different aspects within the analyzed discourses.
1 Spannungsfelder der Debatte um die ästhetische Chirurgie Plastische und ästhetische Chirurgie ermöglichen es dem Menschen heute, sein Äußeres zu ändern und den eigenen Wünschen oder der Vorstellung vom eigenen Selbst anzupassen. Durch die medizinischen Möglichkeiten der ästhetischen Chirurgie wandelt sich die Frage danach, was der Mensch ist, in die, was der Mensch auch hinsichtlich seines Äußeren sein will. Das eigene Erscheinungsbild muss nicht mehr einfach hingenommen, es kann mit Hilfe von medizinischen Experten verändert, verbessert und dem eigenen Idealbild angeglichen werden. Die mit diesem Wandel gegebenen Möglichkeiten, dem Schicksal der eigenen Erscheinung entkommen zu können, stehen in der Diskussion und werden nicht nur positiv, sondern auch sehr kritisch bewertet. So erscheint der Wunsch nach ‚Schönheit‘ auf der einen Seite nachvollziehbar, wird auf der anderen aber auch hinterfragt, da mit dem Wunsch nach Verbesserung des Äußeren oft weiterreichende Ziele verbunden sind, wie etwa das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Damit steht die gesellschaftliche Bedeutung von Schönheit zur Debatte. Zwar wird diese ‚Schönheit‘ grundsätzlich als etwas Positives gesehen, aber gleichzeitig eine übermäßige Betonung des Äußeren gegenüber anderen Eigenschaften eines Menschen kritisiert. Das betrifft den Wunsch der Patient/innen
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beziehungsweise der Kund/innen nach körperlicher Veränderung, aber auch die Rolle von Ärzt/innen als Anbieter/innen solcher Leistungen. Unzweifelhaft wirkt sich die Erweiterung des ärztlichen Handlungsfeldes auf nicht-kurative, dem Wunsch der Patient/innen folgende Eingriffe auch auf das Arzt-Patienten-Verhältnis aus. In der Diskussion stehen Behandlungen, die nicht mehr nur durch medizinische Indikation bedingt sind, sondern dem Wunsch der Patient/innen und auch dem finanziellen Interesse der Ärzt/innen folgen. Die Debatte um die ästhetische Chirurgie spiegelt diese Problematiken wider und macht deutlich, wie unterschiedlich die Perspektiven sind und mit welchen divergierenden Interessen die Thematik aufgegriffen werden kann. Dabei zeigt sich diese Debatte auch, so die zentrale These der folgenden Ausführungen, als ein Ort konkurrierender Menschenbilder. Denn in den verschiedenen Diskursen, die von den Printmedien, der plastischen Chirurgie und der Medizinethik geführt werden, wird immer auch die Frage nach dem Menschenbild implizit mitverhandelt. Zwei zentrale Aspekte dieser Menschenbilder sind das Ideal der (natürlichen) Schönheit und das Ideal der individuellen Gestaltungsfähigkeit des Menschen. Teilweise wird diese Gestaltbarkeit des Menschen auch als eine (technische) Manipulierbarkeit konzeptualisiert. Eine Analyse ausgewählter Diskurse über die ästhetische Chirurgie kann diese impliziten Debatten über Menschenbilder zur Sprache bringen. Dies ist das Ziel des vorliegenden Beitrages.
2 Drei exemplarische Diskursfelder Für eine genauere Analyse der Auseinandersetzung mit ästhetischer Chirurgie werden im Folgenden drei Diskursfelder innerhalb der Debatte um ästhetische Chirurgie näher beleuchtet: Zunächst wird eine Auswahl deutschsprachiger Printmedien in den Blick genommen, genauer die Artikel zum Thema ästhetische Chirurgie, die zwischen 2006–2010 in den Zeitungen Die Welt (inkl. Welt am Sonntag), Süddeutsche Zeitung (inkl. Süddeutsche Magazin), Frankfurter Allgemeine Zeitung, TZ (München), B.Z. (Berlin) und Märkische Allgemeine erschienen sind (und auf deren Online-Portalen zu recherchieren waren). 206 Artikel aus so unterschiedlichen Ressorts wie Wirtschaft, Reisen, Politik, Gesundheit oder Boulevard konnten so zusammengetragen werden. Die einzelnen Texte wurden in einem diskursanalytischen Verfahren hinsichtlich der Frage ausgewertet, welches Menschenbild dieser medialen Auseinandersetzung mit ästhetischer Chirurgie zugrunde liegt. In einem zweiten Schritt wurden die Online-Präsentationen von Anbietern ästhetischer Chirurgie untersucht. Das Sample hierbei umfasst die ersten 20 Treffer
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einer Google-Suche nach Anbietern in Deutschland. Das methodische Vorgehen der Auswertung dieses Teildiskurses ebenso wie der Zeitungsartikel orientiert sich an der strukturalen Analyse nach Diaz-Bone.¹ Als dritter und letzter Diskursstrang wird die Debatte in der deutschsprachigen Medizinethik über ästhetische Chirurgie betrachtet und die Artikel zu dieser Thematik in den zwei großen deutschsprachigen Fachzeitschriften Ethik in der Medizin und Zeitschrift für medizinische Ethik den ersten beiden Diskurssträngen gegenübergestellt. Folgende Fragen werden an die zu untersuchenden Felder gerichtet: Welches Bild wird in den Debatten von den Patient/innen entworfen? Welches Verhältnis von Körper und Geist liegt diesem Bild zu Grunde? Wie wird das Verhältnis von gegebenem und gestaltetem Äußeren konzeptualisiert?
3 Die Ergebnisse der Zeitungsanalyse: Der Mensch zwischen Statik und Dynamik In den untersuchten Artikeln aus deutschsprachigen Printmedien steht das Thema der Rechtfertigung von Schönheitsoperationen im Mittelpunkt. Auf der einen Seite wird die Vorstellung des natürlich gegebenen Äußeren, das man für sich selbst akzeptieren muss, als bislang gültige Norm dargestellt, auf der anderen wird die Fähigkeit, sich selbst zu gestalten, als genuin menschliche Eigenschaft betont. So schreibt die Süddeutsche Zeitung: „Es gehört zu unserem menschlichen Selbst- und Freiheitsverständnis, dass wir uns nach unserem eigenen Bild erschaffen, so wie es uns passt, so wie wir uns wohlfühlen“². Der Mensch wird demnach als Naturwesen verstanden, in dessen Natur es angelegt ist, sich selbst zu gestalten und sich Ziele zu setzen. Um diese These zu stärken, werden in den Artikeln anthropologische Überlegungen wie auch biologische Argumente herangezogen. Durch die Referenz auf die Praktiken zur Veränderung des Körpers bei sogenannten „Naturvölkern“ oder auch auf die Dynamik, die den Selektionsmechanismen der Evolution zugrunde liegt, wird ein zugleich statisches und dynamisches Bild vom Menschen gezeichnet: Der Mensch bleibt an seine natür-
1 Diaz-Bone, Rainer: Zur Methodologisierung der Foucaultschen Diskursanlyse. In: Forum Qualitative Sozialforschung 1 (2006), Art. 6., http://www.qualitative-research.net/index.php/ fqs/article/view/71/145 (27.09.2011). 2 Rühle, Alex: Neue Nase, neues Glück. Süddeutsche Zeitung 21.04.2009, http://www. sueddeutsche.de/leben/serie-koerperbilder-neue-nase-neues-glueck-1.412550 (27.09.2011).
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lichen Gegebenheiten gebunden, greift aber auch gestaltend in diese ein. Die scheinbare Eindeutigkeit der Referenz auf den Menschen als Naturwesen wird in den untersuchten Artikeln bewusst aufgebrochen. Das dadurch gezeichnete Menschenbild soll zwischen den natürlichen Gegebenheiten und der kulturbedingten Gestaltung des menschlichen Äußeren vermitteln und die neuen medizinischen Möglichkeiten in Hinblick auf das Selbstverständnis des modernen Menschen einordnen. In Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen äußeren Erscheinungsbildes wird damit die Frage nach den Grenzen der Legitimität des Wunsches nach Schönheit zu einem zentralen Punkt der Auseinandersetzung. Dies verdeutlicht ein Zitat aus der Welt am Sonntag: „Ein gutes Aussehen gehört heute mehr denn je zum gesellschaftlichen Ansehen. Und wem es die Natur nicht gegeben hat, der nimmt es sich einfach.“³ Das ‚natürlich‘ gegebene Äußere, das mitunter auch als von Gott gegeben bezeichnet wird, bleibt dabei ein wesentlicher Referenzpunkt. Das mag an einem weiteren Zitat deutlich werden, das auf äußerliche Merkmale wie Hasenscharten und abstehende Ohren Bezug nimmt: „Auch Gott gelingt nicht alles.“⁴ Die natürlich gegebenen Merkmale sind also nicht automatisch als gut anzusehen, erst im Kontext menschlichen Miteinanders zeigt sich ihr ästhetischer oder funktionaler Wert. Entsprechend betonen die Autoren die gesellschaftliche Bedeutung von Schönheit. Ihre besondere Wertigkeit reicht dabei über den rein optischen Effekt hinaus. Der Einfluss des Äußeren auf beruflichen und privaten Erfolg wird vielfach hervorgehoben und soll mit Verweis auf verschiedene Studien belegt werden. Hier gilt es für den Einzelnen abzuwägen, wie viel er (oder sie) in die eigene Schönheit investieren will, wobei vorausgesetzt wird, dass kleinere Anstrengungen wie das Achten auf Kleidung und Frisur, Schminken oder Sporttreiben für die Figur bereits zu den allgemein üblichen Methoden zählen, das eigene Äußere zu verbessern. Schönheitschirurgische Eingriffe erweitern die Palette der Möglichkeiten. Für Schönheit als Ziel dieser Bestrebungen wird in den Artikeln eine Art Wechselseitigkeit angenommen: Glückliche Menschen wirken oder sind automatisch schöner als unglückliche. Umgekehrt gilt: Schönheit „macht Menschen glücklich“⁵. Schönheit wird damit zu einem Investitionsgut neben vielen anderen, das als Mittel
3 Hoffmanns, Christiane: Operation Schönheit. Welt am Sonntag 27.07.2008, http://www.welt.de/ wams_print/article2255645/Operation-Schoenheit.html (27.09.2011). 4 Thomann, Jörg: Auch Gott gelingt nicht alles. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.09.2004, http://www.faz.net/artikel/C30703/wellenreiter-auch-gott-gelingt-nicht-alles-30162820.html (27.09.2011). 5 Losensky, Anne: Arzt warnt vor Folgen von Billig-Botox. B.Z. 27.03.2010, http://www.bzberlin.de/aktuell/berlin/arzt-warnt-vor-folgen-von-billig-botox-article786150.html (27.09.2011).
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zur Erreichung anderer individueller Lebensziele eingesetzt werden kann. In den hier untersuchten Artikeln wird dabei deutlich, dass die besondere Bedeutung von Schönheit und das Verständnis von Schönheit als herstellbar, als ein Trend verstanden werden, der nicht unkritisch übernommen werden darf. In einem „Mikrokosmos aus Jugendwahn und Schönheitsstreben“⁶ ist der Einzelne dafür verantwortlich, reflektiert damit umzugehen, welche Rolle er innerhalb dieses gesellschaftlichen Trends spielen will. Die Authentizität der eigenen Schönheit oder auch des Wunsches nach Veränderung hängt damit davon ab, welche Bedeutung das Projekt der eigenen Schönheit haben soll und wie sich der Einzelne zum gewussten gesellschaftlichen Druck verhält. Das Wechselverhältnis von ‚natürlich‘ und ‚gemacht‘ bestimmt damit nicht nur das Verhältnis zur ästhetischen Chirurgie, sondern wird zur Basis der Auseinandersetzung um ein Menschenbild, das vor dem Hintergrund der Möglichkeiten der ästhetischen Chirurgie neu verhandelt wird.
4 Die Anbieterseite: Schönheit zwischen individualisiertem Projekt und Technik Einen ganz anderen Schwerpunkt hinsichtlich der Möglichkeiten ästhetischer Chirurgie setzen die Anbieter/innen auf ihren Online-Portalen, die sich an interessierte Kunden/Kundinnen richten. Auf ihnen werden die Räumlichkeiten der Schönheitskliniken vorgestellt, die verschiedenen Leistungen angeboten, und vor allem sind dort Informationen über Eingriffe und deren Kosten zu finden. Die Bilder von Operationssälen und die detaillierte Beschreibung von Operationstechniken oder den neuesten Verfahren bei chirurgischen Eingriffen werden in der Regel sehr technisch dargestellt. Gleichzeitig geben sich die Anbieter/innen als Expert/innen sowohl für medizinische als auch ästhetische Fragen, die darin ausgewiesen sind, durch „ein ausgeprägtes ästhetisches Empfinden und das operative Geschick, die individuelle Schönheit einer jeden Frau hervorzuheben“⁷. Die medizinischen Möglichkeiten werden als Korrekturtechnik für den menschlichen Körper angeboten. Der Mensch wird als Kunde/Kundin verstanden, der/die
6 Layes, Tina: BR-Tatort: Der Tod im Schoko-Bad. TZ 20.11.2010, http://www.tz-online.de/ nachrichten/stars/tatort-das-erste-sonntag-muenchen-vorschau-leitmayr-batic-1014327.html (27.09.2011). 7 Kremer, Dirk: Philosophie. http://www.dr-dirk-kremer.de/site/muenchen/philosophie. html (27.09.2011).
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die eigenen Bedürfnisse und Wünsche ernst nimmt und dafür die entsprechenden Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Eine Brustvergrößerung, eine Fettabsaugung, ein Facelift, eine Lidstraffung – es gibt viele Möglichkeiten, ästhetisch wirksame Korrekturen vorzunehmen. So können die eigenen, individuellen Vorstellungen von Körperästhetik, Schönheit und Persönlichkeit – beginnend bei schlichter Akzentuierung bis hin zur eindrucksvollen Veränderung – erfolgreich verwirklicht werden.⁸
Hierfür stellen die Webseiten Information und Aufklärungsmaterial bereit. Das hierbei vorherrschende Schönheitsideal wird mit Schlagworten wie Individualität, Natürlichkeit, Stimmigkeit, Ganzheitlichkeit und der Rekonstruktion des Ich beschrieben. „Es liegt in unserer Verantwortung, dass Ihre Individualität gewahrt bleibt und ein natürliches Ergebnis erzielt wird. Sinn der ästhetischen Chirurgie ist nicht die Verwandlung, sondern die Wiederherstellung und Verschönerung.“⁹ Die Kund/innen werden mit Unterstützung des Arztes oder der Ärztin zu Gestalter/innen des eigenen Äußeren, das dem inneren Selbst angeglichen wird. Maßgeblich für einen geplanten Eingriff sind eine individuelle ‚innere Ausstrahlung‘ und die Selbstwahrnehmung, die durch den Eingriff auch äußerlich sichtbar gemacht werden sollen. Die Darstellung von Anbieterseite distanziert sich damit rhetorisch von einem einheitlichen Schönheitsideal und stellt vor allem individuelle Schönheit und individuelle Bedürfnisse sowie das Vertrauensverhältnis zum Arzt/zur Ärztin in den Vordergrund.¹⁰ Dagegen sprechen die auf den Portalen eingestellten Bilder eine andere Sprache: In den Bildern ist vor allem ein relativ durchgängiges und einheitliches Schönheitsideal der jungen, schlanken, vollbusigen, meist blonden, langhaarigen Frau prägend. Die auch in der medialen Debatte präsente Verbindung von äußerem Erscheinungsbild mit Glück und Erfolg wird von einzelnen Anbieter/innen konkret hergestellt¹¹, während andere Fragen wie etwa die nach innerer Zufriedenheit als
8 Meyer-Walters, Oliver: Aktuelle Informationen zur Schönheitschirurgie. http://www. kosmetischer-chirurg-hamburg.de/ (27.09.2011). 9 Vogt, Stephan: Sicherheit – Natürlichkeit. http://www.klinikamopernplatz.de/ (27.09.2011). 10 „Für uns zählt zuerst der Mensch, denn er steht im Mittelpunkt unseres Handelns. Jeder Mensch ist eine individuelle Persönlichkeit, deren Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Nöte es zu verstehen gilt. Hierfür nehmen wir uns viel Zeit, denn eine vertrauensvolle Arzt-PatientenBeziehung ist die Basis jeder erfolgreichen Behandlung.“ Meyer-Gattermann, Werner: Philosophie. http://www.meyer-gattermann.de/profil/philosophie/ (27.09.2011). 11 „Schönheit war und ist ein Synonym für Liebe und Glück, Zufriedenheit und Erfolg.“ Pohl, Gabriele: Die Klinik. http://www.dr-gabriele-pohl.de/philosophie.htm (27.09.2011). Vgl. auch
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genuin nicht-medizinisch und somit als persönliche Aufgabe der Kund/innen angesehen werden.¹² Die Anbieter/innen adressieren Patient/innen als kompetente Nutzer/innen, die den Wert der Schönheit für das eigene Leben erkannt haben. Die in der medialen Debatte gegenwärtige Ambivalenz der steigenden gesellschaftlichen Bedeutung von Schönheit wird nicht reflektiert, sondern das Faktum der steigenden Bedeutung rhetorisch genutzt, sodass die Wünsche nach einem veränderten Aussehen innerhalb dieses Diskurses als verständlich und notwendig erscheinen. Schönheit wird eng mit dem Ausdruck von Individualität verknüpft, die mit Hilfe von ästhetischer Chirurgie erst vollständig sichtbar gemacht werden kann. Der einzelne Eingriff wird damit weniger zum Ausdruck individuellen Gestaltungswillens als vielmehr zur Hilfestellung, durch die das äußere Erscheinungsbild der bereits angelegten inneren Persönlichkeit angeglichen werden kann. Die ästhetische Chirurgie stellt hierfür nur die notwendigen technischen Mittel bereit.
5 Die Medizinethik: Bedenken in der Öffentlichkeit artikulieren Innerhalb der beispielhaft analysierten Publikationen aus dem Bereich der Medizinethik ist der Schwerpunkt der Debatte leicht verschoben. Schönheitschirurgische Eingriffe werden vor allem unter zwei Perspektiven thematisiert: der Autonomie des Patienten sowie der Veränderung der Arzt-Patienten-Beziehung.¹³ Die Beiträge decken dabei eine große Bandbreite von Positionen ab. Matthias Kettner beispielsweise analysiert in seinem 2006 erschienenen Beitrag die Entwicklung von der rein kurativ ausgerichteten Medizin hin zur wunscherfüllenden Medizin
Hoffmann, Janken u. Peter Hoffmann: Philosophie. http://www.medaesthetic.de/praxis/ portrait/philosophie/ (27.09.2011). 12 „Ich als Plastischer Chirurg habe nur die Möglichkeit, diese äußere Harmonie und Symmetrie durch meine immer neuesten Operationstechniken herauszumodellieren. Für die innere Harmonie und Ausstrahlung, die sicher wesentlich die Schönheit eines jeden Menschen ausmacht, sind meine Patienten selber verantwortlich.“ Kremer, Dirk: Schönheitsoperation warum? Interview mit Dr. Dirk Kremer als Experte für Schönheitschirurgie. http://www.dr-dirkkremer.de/site/schoenheitsoperation.html (27.09.2011). 13 Vgl. zum Arzt-Patienten-Verhältnis auch Raspe, Heiner: Individuelle Gesundheitsleistungen in der vertragsärztlichen Versorgung. Eine medizinethische Diskussion. In: Ethik in der Medizin 19 (2007). S. 24–38. Neben den genannten Themen ist auch die Finanzierung vielfach Thema, die aber für die hier bearbeitete Frage keine weitere Relevanz hat.
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und dekonstruiert verschiedene Argumentationsversuche, die die Begrenzung derselben zu untermauern suchen.¹⁴ Ähnlich argumentiert Urban Wiesing, der den individuellen Patientenwunsch und damit die Patientenautonomie als zentral ansieht und daher Verbote von ästhetisch-chirurgischen Eingriffen für nicht gerechtfertigt hält.¹⁵ Andere Autor/innen legen hingegen den Schwerpunkt ihrer Argumentation auf die Analyse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Beispielsweise betont der als Facharzt für plastische Chirurgie tätige Autor G. Björn Stark die gesellschaftliche Wirkung von Schönheit, die er in direkten Zusammenhang mit der psychologischen Wirkung schönheitschirurgischer Eingriffe bringt.¹⁶ Den Boom der ästhetischen Chirurgie sieht er als Folge eines gesellschaftlichen Trends von Körper- und Jugendkult.¹⁷ Die Patient/innen nutzten damit die medizinischen Möglichkeiten, um sich einen vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verständlichen Wunsch zu erfüllen. Sein Beitrag spiegelt das Menschenbild der Anbieterseite wider. Der gesellschaftliche Trend wird dabei als Rahmenbedingung konstatiert, auf die Patient/innen in sinnvoller Weise reagieren, wofür wiederum die ästhetische Chirurgie die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellt. Kritischer sieht Klaus Bergdolt die Beweggründe der Nutzer/innen. „Vieles spricht dafür, dass die meisten Patienten in Wirklichkeit Opfer äußerer Beeinflussung sind.“¹⁸ Er warnt davor, dass von außen vorgegebene Ideale vor allem Frauen dazu verführten, sich einem Trend zu unterwerfen, der wenig mit den eigenen Vorstellungen eines gelungenen Lebens zu tun hat.¹⁹ In ähnlicher Weise stellt auch Beate Herrmann in ihrem Beitrag vor allem die Autonomie solcher Entscheidungen in Frage.²⁰ Sie macht ebenfalls den Einfluss gesellschaftlicher Normierungsprozesse stark, die die Selbstbestimmung des Einzelnen beschränken. Monika Dorfmüller beschäftigt sich aus Sicht der Psychologie mit dem Wunsch
14 Vgl. Kettner, Matthias: „Wunscherfüllende Medizin“ zwischen Kommerz und Patientendienlichkeit. In: Ethik in der Medizin 18 (2006). S. 81–91. 15 Vgl. Wiesing, Urban: Die ästhetische Chirurgie. Eine Skizze der ethischen Probleme. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006). S. 139–154, hier S. 143. 16 Vgl. Stark, G. Björn: Ästhetische Chirurgie. Ethische Aspekte aus Sicht des Facharztes für Plastische Chirurgie. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006). S. 103–114, hier S. 108–109. 17 Ebd., S. 112. 18 Bergdolt, Klaus: Ästhetik und Schönheit. Historische und aktuelle Aspekte des Schönheitswahns. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006). S. 115–126, hier S. 124. 19 Ebd. 20 Vgl. Herrmann, Beate: Schönheitsideal und medizinische Manipulation. Invasive Selbstgestaltung als Ausdruck autonomer Entscheidung oder „sozialer Unterwerfung“?. In: Ethik in der Medizin 18 (2006). S. 71–80.
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nach schönheitschirurgischen Eingriffen.²¹ Sie äußert vor allem Bedenken in Fällen, in denen die Authentizität und Identität einer Person durch einen Eingriff verletzt statt rekonstruiert werden.²² Für die medizinethische Fachdebatte zu ästhetischer Chirurgie ist hauptsächlich die Frage nach der Autonomie prägend. Hierzu gehört auch die Möglichkeit Fehlentscheidungen zu treffen oder einem Trend zu folgen. Da der Wunsch nach einem schönheitschirurgischen Eingriff selbst nicht schon als problematisch angesehen werden kann, werden von den Autor/innen weitere Kriterien für die Beurteilung des Umgangs mit den medizinischen Möglichkeiten genannt. Das Erlangen eines authentischen Selbst, das durch die Einheit von äußerem Erscheinungsbild, Selbstwahrnehmung und eigenem Lebensentwurf gekennzeichnet ist, wird in den Beiträgen zum zentralen Kriterium der Bewertung von ästhetischer Chirurgie. Hierbei werden gesellschaftliche Normierungstendenzen ebenso berücksichtigt wie die Frage nach der individuellen Kohärenz von Wünschen hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes und des eigenen Lebensentwurfs. Das Wissen um die gesellschaftliche Bedeutung von Schönheit wird dabei ambivalent beurteilt. Vor dem Hintergrund des hohen Stellenwerts von Autonomie wird die Option des Scheiterns oder von Fehlentscheidungen gegen ungerechtfertigte Beschränkungen individueller Wünsche abgewogen. Hierzu werden verschiedene Expertenperspektiven in ethische Überlegungen integriert. Zentral für alle Überlegungen ist die Fähigkeit des Menschen, sein eigenes Leben autonom zu gestalten. Der Einfluss von gesellschaftlich geprägten Schönheitsidealen auf die Entscheidung jedes und jeder Einzelnen changiert damit zwischen Rahmenbedingung und Verführung, zu denen sich jede Entscheidung neu verhalten muss. Hierin – wie auch in der Möglichkeit der Fehlentscheidung – wird die Autonomie des Einzelnen gesehen. Entsprechend lässt sich von Seiten der Medizinethik mit Karl-Heinz Leven resümieren: Als eine mit der äußeren Erscheinungsform des Körpers, besonders mit dem Gesicht befasste Disziplin ist die plastische Chirurgie wie kaum ein anderes medizinisches Fach mit anthropologischen Fragestellungen konfrontiert. Die Deutungsangebote der ästhetischen Chirurgie antworten epochen- und kulturspezifisch auf individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse.²³
21 Vgl. Dorfmüller, Monika: Plastische Chirurgie. Grundlagenbeitrag aus der Sicht der Psychologie. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006). S. 155–167. 22 Vgl. ebd., S. 165. 23 Leven, Karl-Heinz: „Eine höchst Wohlthätige Bereicherung unserer Kunst“ – Plastische Chirurgie in medizinhistorischer Perspektive. In: Zeitschrift für medizinische Ethik 52 (2006). S. 127–137, hier S. 136.
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Damit wird die sich auf universale Prinzipien berufende Medizinethik auf den jeweiligen Kontext verwiesen, innerhalb dessen sie zentrale Vorstellungen vom Menschen und menschlichem Handeln, insbesondere der Autonomie des Menschen, jeweils situationsspezifisch bestimmen muss.
6 Fazit: Konkurrierende Menschenbilder in den Diskursen über ästhetische Chirurgie Die Analyse der drei unterschiedlichen Diskurse zu ästhetischer Chirurgie zeigt, dass in der Debatte in verschiedener Weise auf Vorstellungen vom Menschen rekurriert wird. Die Menschenbilder dienen dabei als normativer Ausgangspunkt, um die jeweiligen Positionen zu stärken. Die dabei herangezogenen Vorstellungen vom Menschen sind nicht diametral entgegengesetzt, akzentuieren aber verschiedene Aspekte des jeweiligen Menschenbildes, zwischen denen sich die Diskurse bewegen. Innerhalb der medialen Debatte wird das Wechselverhältnis zwischen natürlich Gegebenem und durch den Menschen Gestaltetem besonders hervorgehoben. Der Mensch plant sein Leben im Spannungsverhältnis dieser beiden Pole, in dem durch die ästhetische Chirurgie neue Optionen der Gestaltung hinzugekommen sind. Als willentlich Handelnder entscheidet der Mensch, wie viel er in das Gut Schönheit investieren will, und orientiert sich dabei am aktuellen Ideal der Schönheit und dem Wissen um dessen Wirkung. Das äußere Erscheinungsbild wird dabei als etwas Gestaltbares interpretiert, das aber immer auf das ursprünglich natürlich Gegebene als normativem Referenzpunkt verwiesen bleibt. Die Gestaltbarkeit bleibt ambivalent, da die Spannung zwischen Anpassung an ein äußeres Ideal und Individualität unauflösbar bleibt. Von Anbieterseite wird vor allem die Zielsetzung ästhetischer Chirurgie betont, die Harmonie zwischen innerem und äußerem Selbst herstellen zu können. Darüber hinaus birgt die Gestaltbarkeit des Körpers die Option, das eigene Erscheinungsbild als Mittel für andere Lebensziele einzusetzen und wird also zu einem zentralen Moment des Menschenbildes. Gleichzeitig wird diese Gestaltbarkeit funktional auf ein individualisiertes Ziel hin ausgelegt, und zwar vor allem auf die Sichtbarmachung des individuellen Wesens einer Person, die verkoppelt wird mit Vorstellungen von beruflichem wie privatem Erfolg. Diese teleologisch-funktionale Sichtweise von Individualität bei gleichzeitig vorgetragener Entkoppelung von einem allgemeinen Schönheitsideal prägt das Menschenbild in diesem Diskurs.
Die Debatte um ästhetische Chirurgie als Ort konkurrierender Menschenbilder
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In der Medizinethik wird die Entscheidungsfreiheit des Menschen betont. Autonome Entscheidungen, auch Fehlentscheidungen gehören zum Lebensvollzug. Die ästhetische Chirurgie bietet ein neues Feld von Entscheidungen, die zwischen gesellschaftlichen Normierungstendenzen und individueller Kohärenz verantwortlich getroffen werden müssen. Damit steht in der Medizinethik das Menschenbild des autonomen und gleichzeitig zu verantwortlicher Entscheidung aufgerufenen Menschen im Vordergrund, das auf die ästhetische Chirurgie mit ihren neuen medizinischen Möglichkeiten neu übertragen werden muss. Gesellschaftlichen, insbesondere medial unterstützten Formen der Manipulation hinsichtlich eines Schönheitsideals, denen der Mensch ausgesetzt ist, kann der Mensch durch Vernunft in Autonomie begegnen. Die drei Debatten zeigen, dass die Möglichkeiten der Medizin als zunehmend selbstverständlicher Teil der individuellen Lebensplanung wahrgenommen werden. Die Gestaltbarkeit und Gestaltung des eigenen Äußeren wird als Aufgabe begriffen, die in den drei Diskursen unterschiedlich akzentuiert wird, je nachdem welchen Stellenwert man dem Streben nach Schönheit zuschreibt. In den Debatten wird darum gerungen, die medizinisch-technischen Möglichkeiten der Körpergestaltung in bisherige Menschenbilder zu integrieren. Dabei haben diese Menschenbilder, trotz ihrer Pluralität, normierende Funktion. Damit wird die normative Auseinandersetzung mit der ästhetischen Chirurgie auch zu einer Auseinandersetzung mit Menschenbildern an sich. Als geteilte Norm in allen drei Diskursfeldern kann dabei die Referenz auf rein formale Vorstellungen von Ganzheitlichkeit und individueller Stimmigkeit gesehen werden. Damit verweist die Auseinandersetzung mit ästhetischer Chirurgie auf die Frage nach dem guten Leben und verknüpft ethische Fragen eng mit der Vorstellung vom Menschen und seiner Lebensgestaltung. Dabei wird ein Abwägen der eigenen Möglichkeiten vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensziele intendiert. Es gilt, das eigene Leben nach dem selbst ausgerichteten telos stimmig zu gestalten. Mit der Betonung der beiden Aspekte von Ganzheitlichkeit und Stimmigkeit werden also die Menschenbilder in normativer Hinsicht an die Idee des gelungenen Lebens des einzelnen Menschen rückgebunden und die Verantwortung dafür an das Individuum zurückgespielt. Die verschiedenen in diesem Feld tätigen Expert/innen – Ärzt/innen, Psycholog/innen, Ethiker/innen – bieten aus der je eigenen Perspektive unterschiedliche Rahmungen der Entscheidungen an und bringen selbst unterschiedliche Menschenbilder in die Debatten ein.
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Menschmaschinen und die Ränder des Monströsen Entwürfe postbiologischer Körper in Wissenschaft, Medienkunst und Populärkultur Abstract: This essay investigates the relationship between humans and machines. By analyzing scientific, artistic, and mass media visions of post biological bodies, the evolution of a technological culture comes into view. Herein, the image of man relies on the image of machines. The aim is to combine theories of the cyborg as well as concepts of monstrosity to circumscribe the interconnection of humans and machines against the background of the process of ‘naturalization’. As opposed to the assumption of a so-called ‘obsolete or disappeared body’, the purpose is to discuss the draft of the ‘human machine’ as a reissue of man – a ‘full version’ as an amalgamation of ‘wetware’ and ‘hardware’. Does (the) human (as) system keep on running?
1 Einleitung Technologische Eingriffe in biologische Prozesse markieren ein umstrittenes Feld der modernen, (computer-)technischen Welt. Dabei geraten vor allem Fantasien der Überwindung biologischer Barrieren in den Fokus ambitionierter wissenschaftlicher sowie künstlerischer und populärkultureller Projekte. Die anvisierten ‚Neuordnungen‘ des Humanen konvergieren dabei nicht selten mit (Hypo-) Thesen um ein Verschwinden des Körpers oder ein Erodieren der Grenzen zum Nicht-Menschlichen – zur Technik oder auch zum Tier.¹ Das Entwerfen solcher Theoriemodelle lässt sich produktiv jedoch nur in wechselseitigen Prozessen vornehmen, wodurch der Körper als Kategorie oder diskursiver Effekt wieder eingeschlossen wird. Gerade Medientechnologien „definieren sich stark über die Wechselwirkungen mit dem menschlichen Körper und hierdurch mit den Körper-
1 Vgl. hierzu jüngst die von Marie-Luise Angerer und Karin Harrasser redaktionell betreute Schwerpunktausgabe „Menschen & Andere“ der ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 4 (2011).
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konzepten, die in diesen zum Ausdruck kommen“². Wissenschaftsphilosophische, anthropologische und medientechnische Diskurse lassen in ihrer Synthese futuristische Hybridwesen entstehen: Cyborgs, Maschinenmenschen oder Menschmaschinen, postbiologische Körper. Die Frage nach dem Menschenbild stellt sich hierbei stets in Abhängigkeit zum Maschinenbild, und dieses verspricht nicht selten unheildrohende Visionen künftiger gesellschaftlicher Bedingungen. „Immer wenn symbolische Ordnung und gesellschaftliche Praxis krisenhaft auseinanderklaffen“, so Randi Gunzenhäuser, „entstehen Bilder von Maschinenmenschen, die Grenzziehungen bedrohen oder sogar durchbrechen und so hysterische Körper- und Mediendiskurse aufrufen.“³ Innerhalb solch hysterischer Diskurse sieht sich der Mensch – oder die Wetware, wie es computersprachlich auch heißen darf – mit Entwicklungen konfrontiert, die durch den weitreichenden Einsatz von etwa Gentechnik, Robotik und Nanotechnologie eine Machtübernahme durch Maschinen und Technologien unabwendbar erscheinen lassen. „Why the future doesn’t need us“, klärt der US-amerikanische Computerwissenschaftler Bill Joy auf und erklärt den Mensch vor dem Hintergrund der verschiedenen Technikevolutionen nun zur gefährdeten Spezies.⁴ Das realistische und drohende Szenario intelligenter Roboter im beginnenden 21. Jahrhundert beschwört aber nicht nur er. Der Terminator, so scheint es, steht schon bereit. Die ‚Durchformung‘⁵ von Mensch und Medientechnik, von Wetware und Hardware, wie sie für die moderne Naturwissenschaft und Medizin gerade in Hinblick auf eine epistemische Erschließung des Menschen zentral ist, verliert in diesem Zusammenhang augenscheinlich ihre gesellschaftliche Legitimation. Der Mensch, der nach Foucault vor 1800 gar nicht existiert haben kann⁶, und der in der Moderne als epistemische Einheit überhaupt erst durch Medientechnik auf den Plan treten konnte – hierin also nur noch in Relation zur Medientechnik wis-
2 Missomelius, Petra: Mediale Visionen des postbiologischen Körpers. In: Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Hrsg. von Anke Abraham u. Beatrice Müller. Bielefeld: Transcript 2010. S. 67–87, hier S. 67. 3 Gunzenhäuser, Randi: Automaten – Roboter – Cyborgs. Körperkonzepte im Wandel. Trier: WVT 2006. S. 256. 4 Joy, Bill: Why the Future Doesn’t Need Us. Our Most Powerful 21st-Century Technologies – Robotics, Genetic Engineering, and Nanotech – Are Threatening to Make Humans an Endangered Species. http://www.wired.com/wired/archive/8.04/joy_pr.html (10.10.2011). 5 Vgl. zum Problem generell Rieger, Stefan: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. 6 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971. S. 373.
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senschaftstheoretisch gegenwärtig ist –, hat so gesehen eine erstaunlich kurze Haltbarkeit. Wenn alles, „was man vom Menschen wissen und was man von ihm sagen kann, […] in einem nicht-trivialen Sinn, Medien geschuldet“ ist und „das, was so oft kulturkritisch als Deformation, Überformung beklagt wird, […] sowohl die Bedingung des Menschen als auch eines Wissens von ihm“⁷ ist, dann rückt gerade Medientechnik an die Stelle zentraler Reflexionsprozesse. Dem Gesagten entspricht Friedrich Kittlers provokante These, wonach das, was „Mensch heißt […] keine Attribute [bestimmen], die Philosophen den Leuten zur Selbstverständigung bei- oder nahelegen, sondern technische Standards“⁸. Die ‚Menschmaschine‘, wie sie nachstehend noch näher konturiert wird, avanciert somit zur Vollversion des Menschen als Wetware, der nur dann Vollversion sein kann, wenn er Hardware nicht nur zur Erschließung seiner selbst nutzt respektive zulässt, sondern auch implementiert. Im Folgenden werden ausgewählte wissenschaftliche, medienkünstlerische und filmische Beispiele vorgestellt, die in Hinblick auf das jeweils verhandelte Verhältnis von Mensch, Körper und Technologie zu diskutieren sind. Das Spannungsgefüge von Destruktion und Zukunftsfähigkeit des Menschen vor dem Hintergrund technischer Eingriffe im Umfeld transhumaner Körperkonzepte bildet dabei die Basis für einen medien- und kulturtheoretischen Entwurf der Menschmaschine. In der Verbindung von Theoremen aus dem Cyborg-Diskurs und Konzepten um das Monströse stellt die Menschmaschine eine Reflexionsfigur dar, über die die Gleichzeitigkeit von Mensch (Wetware) und Maschine (Hardware) verhandelbar wird. Statt von einem anthropologischen oder medientechnischen Determinismus auszugehen, wodurch entweder der Mensch oder die Medientechnik zur Bestimmungsgröße avanciert (die das jeweils Andere supprimiert), geht es hier um Prozesse produktiver Wechselseitigkeit. Dabei ist es gerade der Körper, über den innerhalb der verschiedenen Disziplinen und Diskurse Konzepte von Transhumanität ausgehandelt und sichtbar gemacht werden. Menschenbild und Maschinenbild verschmelzen miteinander. Fragen nach einer Symbolpolitik technologischer Eingriffe und Transformationen werden somit neuerlich zur Diskussion gestellt.
7 Rieger: Individualität, S. 42. 8 Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993. S. 61.
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2 Die Menschmaschine Menschmaschinen sind nicht notwendig Ausgeburten Gibson’scher oder Asimov’scher Prosa, obschon diese klare Referenzen auf Computerwissenschaft und Robotikforschung enthält, sondern können z. B. in Cambridge, Massachusetts bei der Arbeit beobachtet werden. Rodney Brooks, Robotikforscher und bis 2007 Direktor des Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory am Massachusetts Institute of Technology (MIT), gibt diesbezüglich in seinem 2005 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen einen bemerkenswerten Einblick. Für Brooks besteht kein Zweifel, dass „es in naher Zukunft zu einer Verschmelzung von menschlichen Körpern und Maschinen“ kommt. Dabei jedoch wird Wetware das Beste haben, „was Maschinen bieten können“, „wir“ aber werden „zugleich über unser biologisches Erbe verfügen, um den jeweiligen Stand der Maschinentechnologie zu steigern. Daher werden wir (die Roboter-Menschen) ihnen (den reinen Robotern) einen Schritt voraus sein.“⁹ Der ‚Roboter-Mensch‘-Kollege Hugh bildet hierfür nur ein Beispiel. Denn Hugh, dem nach einem Unfall beide Beine amputiert werden mussten, war von „den Oberschenkeln aufwärts“ noch immer „ganz Mensch, von Oberschenkeln abwärts dagegen ganz Roboter – und kein eleganter. Er war ein Roboterprototyp. Statt Knochen hatte er Metallschäfte, Computerplatinen befanden sich dort, wo normalerweise die Muskeln gewesen wären, Batterien waren mit schwarzem Klebeband angeheftet und Drähte hingen überall herunter.“ Hugh war ein „wirklicher Cyborg!“¹⁰ Die Transformation des Humanen zeugt hier von einer ‚Naturalisierung‘ des artifiziellen Ineinandergreifens von Biomasse und Metall. Das zunächst noch irritierend wirkende Auftreten des Roboter-Mensch-Kollegen markiert die Referenz für einen gesellschaftlichen Entwurf, in welchem die Irritation in Normalität übergeht. Der Roboter-Mensch, der mit einem kollektiven ‚wir‘ entmystifiziert und dem alles Unheilvolle entzogen wird, avanciert zu einem Hybridkörper, der sich allen Postulaten um eine Entgrenzung von Wetware und Environment entzieht. Die Allianz von „biologische[m] Erbe“¹¹ und Technik macht die Menschmaschine nicht nur wissenschaftlich denkbar oder populär fantasierbar, sondern unumwunden lebbar.¹² Und
9 Brooks, Rodney: Menschmaschinen. Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen. Frankfurt a. M.: Fischer 2005. S. 10. 10 Ebd., S. 234. 11 Ebd., S. 10. 12 Siehe hierzu auch Mainzer, Klaus: Leben als Maschine? Von der Systembiologie zur Robotik und Künstlichen Intelligenz. Paderborn: mentis 2010.
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wenn die ‚Roboter-Menschen‘ den ‚reinen Robotern‘ immer ‚einen Schritt voraus‘ sind, ist eine Herrschaftsübernahme durch Technik – naiv oder nicht – im besten Sinne computerwissenschaftlicher Logik schlicht antinomisch. Die Menschmaschine verkörpert gewissermaßen die „kybernetische Erweiterung der neuzeitlichen Technik“, eine „Erweiterung unter die Haut der Welt“ wie es einst Max Bense auf den Punkt zu bringen versuchte.¹³ „Das Ergebnis ist die technische Intelligenz, die uns sukzessive in einer technischen Welt etabliert. Beide, Intelligenz und Welt, bedingen einander; und das ist ebenso ein kybernetischer wie auch ein anthropologischer Satz.“¹⁴ Im Prozess einer solchen ‚Naturalisierung‘ „schafft sich der Mensch eine Umwelt, die seiner Doppelrolle als naturhaftes und geistiges Wesen angemessen ist. Die technische Welt ist eine Umwelt, eine seinsmäßige Sphäre, aus der das, was wir technische Existenz und technische Intelligenz nennen, wenigstens im Idealfall lückenlos expliziert werden kann.“¹⁵ Der wesentliche Vorzug einer technischen gegenüber der naturhaften Umwelt ist dabei dann auch einer, der sich nicht im Geringsten gegen den Menschen richtet, ist er doch gerade in der technischen Umwelt „das stärkere Geschöpf.“¹⁶ Die Implementierung von Technik in alle Bereiche zur Erschließung einer „Feinstruktur von Welt“¹⁷, wie sie die kybernetische Vision Benses vorgab, lässt sich heute mit den Cyberphysical Systems auf ein Update bringen, die sodann die „Symbiose von Mensch und Maschine“ (tatsächlich?) „realisieren“¹⁸. Während Alan Turing es noch für wenig sinnvoll erachtete, ‚denkende Maschinen‘ mit „such artificial flesh“¹⁹ zu verkleiden, ist die ‚kybernetische Erweiterung‘ mit der ‚Menschmaschine‘ nun wohl sprichwörtlich auf den Leib gekommen. So war es dann auch ein Kybernetiker, der Worten Taten folgen ließ. „This is the extraordinary story of my adventure as the first human entering into a Cyber World; a world which will, most likely, become the next evolutionary step for humankind“²⁰, schreibt der Brite Kevin Warwick, Professor an der University of
13 Bense, Max: Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine [1951]. In: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Hrsg. von Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell, Oliver Fahle u. Britta Neitzel. 2. Aufl. Stuttgart: DVA 2000. S. 472–483, hier S. 476. 14 Ebd., S. 482. 15 Ebd., S. 483. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 476. 18 Mainzer: Leben, S. 221. 19 Turing, Alan: Computing Machinery and Intelligence. In: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy 59/236 (1950). S. 433–460, hier S. 434. 20 Warwick, Kevin: I, Cyborg. Urbana: University of Illinois Press 2004. S. 1.
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Reading. Er ließ sich mehrfach Mikrochips implantieren, um sein Nervensystem mit einem Computer zu verbinden. Wetware ohne integrierte Hardware ist nach Warwick alles andere als das Beste, was Evolution dem Menschen bieten kann. Im Cyborg sieht er den nächsten, wesentlichen Schritt human-technologischer Evolution und meint mit seinem Projekt darauf hingewiesen zu haben, dass kybernetische Implantate nicht nur funktionieren, sondern gleichsam mit ihm als Cyborg in lebensfähiger Form bewiesen wäre, dass Mensch und Maschine miteinander verschaltet keinen düsteren Pakt schließen, sondern sich schlicht als betriebsfähig zeigen, „im Reellen also implementiert sind“²¹. Wetware sieht sich demnach mit einer Situation konfrontiert, in der die Verschmelzung mit Hardware schon längst begonnen hat. Prothesen aus Metall, gentechnische Manipulationen und künstliche Retinaimplantate mit Mikrochips haben allesamt dazu beigetragen. Die ernsthaften Anstrengungen, den Menschen hierdurch aus seiner biologischen Mangelhaftigkeit, aus seinem Zustand als ,Mängelwesen‘²² zu befreien, führen direkt zu einer durch die Kybernetik reformulierten Ontologie und Epistemologie des Menschen in einer ,technologischen Umwelt‘, die auf seine Bedürfnisse hin ausgerichtet ist und nach deren Prämissen sich seine ,technische Existenz‘, vor allem aber ,Intelligenz‘ bemisst. Auf diese Weise kann die der biologischen Mangelhaftigkeit anhaftende narzisstische Kränkung des Menschen durch die Indienstnahme der Maschine vor dem Hintergrund eines techno-evolutionären Paradigmas gleich mit verabschiedet werden. Die Steigerung von Hardware obliegt doch eindeutig den Anlagen der Wetware, wie Brooks konstatiert, wodurch der ,Mensch-Roboter‘ dem ,reinen Roboter‘ stets überlegen ist (während der ,reine Mensch‘ bereits ausgedient hat). Auch die futuristischen Visionen populär werdender Diskurse zur Nanotechnologie haben einem solchen Verständnis in die Hände gespielt. Speziell innerhalb der Nanomedizin wurden Visionen etwa von „Nanomaschinen, Verbesserungen der menschlichen Konstitution, molekulartechnischer Neugestaltung der Welt oder sich selbst replizierenden Assemblern“²³ entworfen, die stark an Hollywood erinnern. Doch gerade diese lassen sich in besonderer Weise als Vermittler zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Massenmedien nutzbar machen. „You are going where no man or camera has ventured before“, wie es Richard Fleischer
21 Kittler: Draculas Vermächtnis, S. 61. 22 Zum Menschen als Mängelwesen vgl. auch Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 4., verb. Aufl. Bonn: Athenäum 1950. 23 Lösch, Andreas: Antizipationen nanotechnischer Zukünfte. Visionäre Bilder als Kommunikationsmedien. In: Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Alfred Nordmann, Joachim Schummer u. Astrid Schwarz. Berlin: Akademie 2006. S. 223–242, hier S. 228.
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Abb. 1: Nanobot in einer Arterie.
1966 mit dem Science-Fiction-Film Fantastic Voyage auf die Leinwand brachte. Das war ebenso plastisch wie folgenreich.²⁴ In der Nanomedizin wird der Körper hiernach auf molekularer Ebene aufgerüstet mit Mini-U-Booten, die menschliche Arterien reinigen (Abb. 1) oder wie ausschwärmende Drohnen, bewaffnet mit Injektionsnadeln, gegen Killerviren und dergleichen ins Felde ziehen. So stellte man sich im Allgemeinen Nanotechnologie vor. Solche Visualisierungen, die, wie Nanoforscher vielfach betonen, nie einen epistemischen Wert für die eigentliche Forschung hatten, sind zwar mittlerweile aus dem ,Bildkanon‘ der Nanowissenschaften verschwunden, doch selbst wenn man sich nun um Defuturisierung und Ökonomisierung bemüht, „konstituiert sich“, wie Andreas Lösch schreibt, „die ‚Zukunft der Nanotechnologie‘ im Kontext dieser Visionen“²⁵. Faszination für das scheinbare Potenzial der Technik und mögliche Erlösungsfantasien vom Schrecken des biologischen Zerfalls gehen mit Angstbildern von unkontrollierten Maschinen und Herrschaftsverlusten gegenüber Technik Hand in Hand. Imaginationen des postbiologischen Neuanfangs liegen unmittelbar neben denen metallener Kriegsschauplätze, wie sie die Regisseure James Cameron, Jonathan Mostow oder Joseph McGinty Nichol nicht hätten besser in Szene setzen können. Das Monströse erfährt hierin eine Neuauflage.
24 Die Darstellung eines miniaturisierten U-Boots im Körperinnen des Menschen, wie es Fantastic Voyage präsentiert, hat sowohl die Forschungen im Umfeld der Nanowissenschaften wie auch der virtuellen Endoskopie beeinflusst. Siehe hierzu Lösch, Andreas: Visionäre Bilder und die Konstitution der Zukunft der Nanotechnologie. In: Technologisierung gesellschaftlicher Zukünfte. Nanotechnologie in wissenschaftlicher, politischer und öffentlicher Praxis. Hrsg. von Petra Lucht, Martina Erlemann u. Esther Ruiz Ben. Freiburg: Centaurus 2010. S. 129–146; sowie Gugerli, David: Der fliegende Chirurg. Kontexte, Problemlagen und Vorbilder der virtuellen Endoskopie. In: Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Hrsg. von ders. u. Barbara Orland. Zürich: Chronos 2002. S. 251–270. 25 Lösch: Visionäre Bilder, S. 129.
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3 Zum Konzept des Monströsen Die Verschmelzung von Mensch und Technologie, die ich bislang mit dem auch in anderen Kontexten gebräuchlichen Phänomen des Cyborgs beschrieben habe, soll nachstehend als monströse Formation konzipiert werden. Dabei geht es im Besonderen um die Ambivalenz sowohl medialer wie wissenschaftstheoretischer und -philosophischer Verhandlungen der Dichotomie von Natur versus Künstlichkeit, Mensch versus Nicht-Mensch sowie Körper versus Technik. Hinsichtlich einer solchen Dichotomisierung gilt es jedoch immer auch zu beachten, dass Natur bzw. ihr Natürliches selbst als Entwurf zu begreifen ist, welcher sich nachträglich aus der Kultur heraus entwickelt hat und dem eine Kategorisierung vorausgeht.²⁶ Das Artifizielle, Hybride oder Monströse erfährt in diesem Kategoriensystem zunächst eine Ausgrenzung, um es dann aber im Zuge einer taxonomischen Naturalisierung als Teil des Systems festzusetzen, wobei die Stigmatisierung des Monströsen als etwas Abnormales eine vollständige Integration in der Regel unmöglich macht.²⁷ Die Komplexität dieser reziproken Beziehung manifestiert sich im Besonderen angesichts der Fixierung normierter Körperbilder und der Konfrontation des Normalen mit dem Monströsen. Im Monströsen spiegeln sich Qualitäten und Sinndimensionen des (Nicht-)Menschlichen, auf die Ängste wie auch Erlösungshoffnungen projiziert werden – nicht selten zur selben Zeit.²⁸ Das Monströse stellt sowohl in geistes- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung wie auch als Gegenstand medialer Körperinszenierungen ein komplexes Phänomen dar. Es gilt einerseits als Grundlage zur Abgrenzung des Nichtmonströsen und wertet somit das Normale auf, andererseits dient das Monströse innerhalb eines solchen Wertesystems als utopische Figuration dazu, die Überwindung des Normalen unterschiedlich zu konnotieren und zu mobilisieren. In Kombination mit technologischen Transformationen avanciert das Monströse in Gestalt der Menschmaschine hierin zu einer analytischen Kategorie, mit der Fragen nach einer Medienund Kulturtheorie technisch veränderter Körper- wie auch Gesellschaftsentwürfe der Moderne (respektive Postmoderne) bearbeitet werden können.²⁹
26 Vgl. Gunzenhäuser: Automaten, S. 11. Siehe auch den Beitrag von Franziska Bork Petersen in diesem Band. 27 Vgl. Ochsner, Beate: Zwischen Intermedialität und Hybridisierung oder: kalkulierte Freiheit. In: MEDIENwissenschaft 4 (2008). S. 378–387, hier S. 379. 28 Vgl. Gebhard, Gunther, Oliver Geisler u. Steffen Schröter: Einleitung. In: Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. von dies. Bielefeld: Transcript 2009. S. 9–30. 29 Vgl. auch den Ansatz in Geisenhanslüke, Achim u. Georg Mein (Hrsg.): Monströse
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Über die möglichen Auswirkungen einer in dieser Hinsicht veränderten Evolutionsdynamik herrscht in theoretischen Konzepten wie auch in künstlerischen und massenmedialen Interpretationen noch Uneinigkeit. Es überwiegen noch negative Implikationen, wie Theoreme nach dem Vorbild Paul Virilios, der ein Verschwinden des Körpers vor dem Hintergrund technologisch determinierter Gesellschaftsformen postuliert.³⁰ Die letzte medientechnische Revolution bedeutet hier gleichzeitig das Ende der menschlichen Herrschaft über sich selbst – „why the future doesn’t need us“. Der Mensch, bei Norbert Bolz in Computerromantizismus (v)erklärt, „zerfällt in Physiologie und Datenverarbeitung“³¹ und ist in der „technischen Wirklichkeit der neuen Medien […] nicht mehr Souverän der Daten, sondern wird selbst in Feedback-Schleifen eingebaut“³². Ist er erst einmal ‚Material der Technik‘, mache ihn – so an anderer Stelle Friedrich Kittler – das militärische Mediensystem als philosophische Einheit buchstäblich „historisch überflüssig“³³. Den US-amerikanischen Computerwissenschaftler (und Kollegen von Bill Joys) Ray Kurzweil indes beschäftigen Visionen deutlich gegensätzlicher Art. Für ihn sind die komplexen human-technologischen Transformationen ebenfalls evolutionärer ‚Natur‘; genauso notwendig wie nicht schauderhaft. „Wenn eine Maschine die Komplexität des Menschen erreicht oder sogar übertrifft und auch noch seine Werte teilt“, so Kurzweil, „werden wir anders denken. Ich betrachte das als eine Expansion unserer Zivilisation. Zwischen Maschine und Mensch wird es keine klaren Unterschiede mehr geben. Die Maschinen werden uns davon überzeugen, dass sie ein Bewusstsein haben.“³⁴ Dabei ist auch abzusehen, dass sich eine Fusion von Gehirn und Netzwerk als Spekulation auf sehr wohl plausibler informationstechnologischer Grundlage erweist. Das Moravec’sche Phantasma eines Mind Uploading findet sich dabei aufgegriffen.³⁵ Dass sich daraus auch destruktive Kräfte mobilisieren lassen, weist Kurzweil erst gar nicht von der Hand. Allerdings
Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009. 30 Vgl. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Berlin: Merve 1986. 31 Bolz, Norbert: Computer als Medium. In: Computer als Medium. Hrsg. von ders., Friedrich Kittler u. Georg Christoph Tholen. München: Fink 1994. S. 9–16, hier S. 9. 32 Ebd., S. 13. 33 Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 122. Siehe auch Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. 3. Aufl. München: Fink 1995. 34 Kurzweil, Ray: Verschmelzen von Mensch und Maschine. In: Texte zur Medientheorie. Hrsg. von Günter Helmes u. Werner Köster. Stuttgart: Reclam 2002. S. 338–346, hier S. 343. 35 Vgl. Moravec, Hans: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Hamburg: Hoffmann und Campe 1990; Moravec, Hans: Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der künstlichen Intelligenz. Hamburg: Hoffmann und Campe 1999.
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sind es nicht die Maschinen, vor denen sich zu fürchten es notwendig sein könnte, sondern der Mensch, der „Technologie gegen den Menschen einsetzt“³⁶. Einen Gegenentwurf gerade zum negativen Maschinendiskurs formuliert vor allem Donna Haraway mit ihrem Cyborg-Konzept. Sie erklärt den Körper in der Beziehung von Mensch und u. a. Technologie zu einem sich neu darstellenden Hybrid in der (post-)modernen Gesellschaft. Organisches und Anorganisches konvergieren in einem gesellschaftlich akzeptierten System technologisch veränderter Natürlichkeit. Die Beziehung von Mensch, Natur sowie Kultur befindet sich in Aufbruch und Transformation begriffen und die (post-)moderne Welt weist sich als hybrides Gewebe aus, in dem die genetischen Nachkommen als Cyborgs heranwachsen.³⁷ Der Cyborg ist hierin nicht in Hinblick auf eine restlose Körperüberwindung zu sehen, sondern als mensch-maschinelle Mischform, deren Einbettung in eine angepasste Gesellschaft zudem angesichts artifiziell-natürlicher, kultureller Umwälzungsprozesse buchstäblich naturalisiert wird. Der/die Cyborg ist bei Haraway also in erster Linie einer politischen Idee von Körper, Mensch und Technologie im Sinne einer gesellschaftlichen ,Neuausrichtung‘ verpflichtet: „The cyborg is our ontology; it gives us our politics. The cyborg is a condensed image of both imagination and material reality, the two joined centres structuring any possibility of historical transformation.“³⁸ Interessanterweise rekurrieren solcherart Cyborg-Visionen im Kern auf klassische Körperkonzepte, wie sie etwa von Michail Bachtin formuliert wurden. Der russische Literaturtheoretiker entwickelt sein Konzept einer Ästhetik des grotesken Leibes in der Literatur anhand von Motiven, die er in Auseinandersetzung mit dem französischen Romanzyklus Gargantua und Pantagruel (1532–1564) von François Rabelais bestimmt. Ihm geht es dabei um eine besondere Vorstellung der Grenzen zwischen Leib und Welt. Der groteske Körper konzentriert sich dabei auf offene und hervorstehende Körperteile, die den einzelnen Körper mit dem Gesamtkörper (dem Volksleib) verbinden. „Der groteske Leib ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen.“³⁹
36 Kurzweil: Verschmelzen, S. 340. 37 Vgl. u. a. Haraway, Donna: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Berlin: Argument 1995; Haraway, Donna: Anspruchsloser Zeuge @ Zweites Jahrtausend. FrauMann© trifft OncoMouseTM. Leviathan und die vier Jots: Die Tatsachen verdrehen. In: Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie. Hrsg. von Elvira Scheich. Hamburg: Hamburger Edition HIS 1996. S. 347–389. 38 Haraway, Donna: A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. http://www.stanford.edu/dept/HPS/Haraway/CyborgManifesto.html (10.10.2011). 39 Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M.:
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Die Verschmelzung von Leib und Welt, von Subjekt und Peripherie, findet sich in Cyborg-Diskursen als Symbiose von Mensch, Maschine und Environment wieder. Besonders die Netzwerkmetaphern machen das Erodieren der Grenzen zwischen Körper, Medientechnik und System deutlich. Das Prozessuale, das Bachtin für den grotesken Leib konstatiert, ist charakteristisch für den CyborgDiskurs, in dem der Körper als eine dynamische Hybridform entwickelt wird, die stets zwischen den Polen zirkuliert; sowohl Angst und Furcht auf der einen Seite, aber auch klare Erlösungsfantasien auf der anderen auf sich zieht, und darüber hinaus hierarchisch determinierte Strukturen und Positionen aufzulösen vermag. „Liberation rests on the construction of the consciousness, the imaginative apprehension, of oppression, and so of possibility.“⁴⁰ Besonders angesichts der Dichotomie männlich versus weiblich hat der/die Cyborg als Vorlage für Überwindungspostulate zeitgenössischer Genderproblematiken gedient. Haraway sieht im Cyborg das un/an/geeignete Andere, das weder Männliche noch Weibliche und feiert es als Erlösungsfigur, in dem das Ausschöpfen u. a. technologischer Potenziale ein Befreien aus den Zwängen der Gender-Welt versprechen kann. Der/die Cyborg mobilisiert hierin Potenzial, gesellschaftliche Veränderungen nicht nur als destruktiv zu skizzieren, sondern auch als Möglichkeit zu begreifen, um Konzepte jenseits des scheinbar Normalen als Ausweg zu formulieren.⁴¹ Hierin synthetisieren Körperdiskurse um den Cyborg und das Monströse, deren kulturelle Sprengkraft gerade in künstlerischen und massenmedialen Interpretationen produktive Energien freilegt. Wenngleich diese nicht immer eindeutig sichtbar erscheinen.
4 Menschmaschinen in Medienkunst und Audiovision Der als ‚Galionsfigur‘ des posthumanistischen Cyborg-Diskurses gehandelte australische Medien- und Performancekünstler Stelarc etwa inszeniert seinen Körper auf monströse und dabei hochgradig ambige Weise. Zwischen 1976 und 1989 beeindruckte er mit seiner Performance Suspension, in der er sich Stahlha-
Ullstein 1985. S. 16. 40 Haraway: Cyborg. 41 Vgl. auch Harrasser, Karin: Erzählpolitik jenseits des Bildersturms, diesseits einer PostGender-Welt. In: (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte. Hrsg. von Walburga Hülk, Gregor Schuhen u. Tanja Schwan. Bielefeld: Transcript 2006. S. 15–31, hier S. 21ff.
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ken durch die Haut treiben und an Seilen aufhängen ließ. Auf diese Weise visualisierte er sein Empfinden über den ‚Obsoleten Körper‘, der in der Netzwerkgesellschaft an Materialität verliert. Die Denkfigur des ‚Obsoleten Körpers‘ lässt Stelarc unterschiedliche Experimente initiieren. Auch er expliziert ein Konzept des defizitären Körpers, des Menschen als ,Mängelwesen‘. Mit Extra Ear (1999) führt er jenes Thema der Prothese fort, welches er mit Third Hand (1981–1994) und Exoskeleton (1998) aufnahm. Während bei Third Hand und Exoskeleton noch Maschinen als Erweiterung des menschlichen Körpers propagiert wurden, sollte bei Extra Ear chirurgisch ein drittes Ohr hinzugefügt werden. Dazu sollten jedoch keine Maschinenteile verwendet werden, sondern organisches Gewebematerial sowie flexibler Knorpel. Das Extra Ear hätte somit aus dem eigenen Körpermaterial in vitro hergestellt und dauerhaft genutzt werden können (siehe auch das Projekt 1/4 Scale Ear [2003]). Da jedoch die Gefahr bestand, bei der Operation Gesichtsnerven zu verletzen und nachdem der Stammzellenversuch im Labor an technischen Problemen gescheitert war, entschied sich Stelarc für die Transplantation eines synthetischen Ohrs, welches durch Zellexperimente noch optimiert wurde, unter der Haut seines linken Arms (einige Jahre später umgesetzt mit dem Projekt Ear on Arm [Abb. 2]). Dieses wurde zudem mit einem Mikrofon ausgestattet, welches jedoch aufgrund einer Infektion wieder entfernt werden musste. Die Re-Implantation eines neuen Miniaturmikrofons, das kabellos mit dem Internet verbunden werden soll, ist angedacht. Ebenfalls ist geplant, zusätzlich ein Empfangs- und Sendegerät im Mund des Künstlers einzusetzen.⁴² „Menschlich zu sein“, so Stelarc, „bedeutet nicht mehr, in ein genetisches Gedächtnis eingetaucht zu sein, sondern in einem elektromagnetischen Feld von maschinellen Netzwerken rekonfiguriert zu werden: Im Reich des Bildes.“⁴³ Stelarcs Arbeiten sind dabei allerdings nur vorderseitig einer düsteren Rhetorik des sich der Technik ergebenden Menschen anheimgefallen. Rückseitig – und dort medientheoretisch eindeutig brisanter – lassen sich vielmehr Kommentare auf eine kybernetische Kultur entziffern, die zwar einer radikalen Durchformung von Wetware und Hardware verschrieben sind, dabei aber den Körper, nicht jedoch den Menschen hinter sich lassen. „Wenn der Mensch, der sich als organisches Wesen durch eine Reihe von unwillkürlichen Körperfunktionen
42 Vgl. Brunner, Markus: „Es gibt keinen Vorteil, noch länger menschlich zu sein“ – Stelarc und die Dialektik der Techno-Evolution. In: Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. von Gunther Gebhard, Oliver Geisler u. Steffen Schröter. Bielefeld: Transcript 2009. S. 187–203, hier S. 192. Siehe auch Stelarc: Ear on Arm. Engineering Internet Organ. http://stelarc.org/?catID=20242 (10.10.11). 43 Stelarc: Von Psycho- zu Cyberstrategien. Prothetik, Robotik und Tele-Existenz. In: Kunstforum International 132 (1995–1996). S. 73–81, hier S. 81.
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Abb. 2: Stelarc: Ear on Arm (2006–2007).
auszeichnet, zu Teilen schon immer ein ‚Zombie‘ gewesen ist und andererseits seit je ‚Artefakte, Instrumente und Maschinen‘ geschaffen hat, die seine zunehmende ‚Cyborgisierung‘ auszeichnen,“ insistiert Verena Kuni, „dann gilt es, diese ‚Cyborgisierung‘ weiter voranzutreiben und den ‚Obsoleten Körper‘ (Stelarc) neu zu bestimmen.“⁴⁴ Stelarc negiert den Menschen also gerade nicht, sondern denkt ihn schlichtweg neu von der Perspektive eines durch Technologie transformierten Humanen. Und im „Reich des Bildes“ ist die „Machtlosigkeit des materiellen Körpers offensichtlich“⁴⁵, die Implementierung von Technologie jedoch zerstreut sie und aktiviert eine den Körper übersteigende, technische Macht, die sich über Biologie, Rasse, Geschlecht, Raum und Zeit hinwegsetzt. Das Geheimnis des Menschen, so Stelarc, „liegt im System als Ganzem, nicht im Individuum“ und was „uns einzigartig macht, ist die Technologie“⁴⁶. Die Symbolpolitik des ‚Obsoleten
44 Kuni, Verena: Mythische Körper II. Cyborg_Configurationen als Formationen der (Selbst-) Schöpfung im Imaginationsraum technologischer Kreation (II): Monströse Versprechen und posthumane Anthropomorphismen. http://www.medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies/ mythische-koerper_II/print/ (10.10.2011). 45 Stelarc: Cyberstrategien, S. 81. 46 Vgl. auch Landwehr, Dominik: Technologie als Weiterführung des Körpers. Ein Gespräch mit dem australischen Medienkünstler Stelarc. http://www.heise.de/tp/artikel/2/2336/1.html (10.10.2011).
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Abb. 3: Still aus Terminator Salvation (2009): Wright wird als Cyborg ‚enttarnt‘.
Abb. 4: Still aus Terminator Salvation (2009): Wright in der Zentrale der Skynet-Basis.
Körpers‘ ist somit gleichzeitig eine der Transzendenz des Menschen im Regelkreis ewiger Computation. Because the future always needs us? Rekonfigurationen des Menschen im Feld des Technischen finden sich auch in audiovisuellen Erzählungen. Die Terminator-Reihe (1984, 1991, 2003 und 2009) etwa bietet Körperbilder einer Mensch-Maschine-Verbindung an (Abb. 3–4), die stets zwischen Furcht und Abscheu einerseits sowie Erlösungshoffnung andererseits zirkulieren. Der Terminator vereint Qualitäten der Zerstörer- wie auch Retterfigur auf sich: Terminator Salvation eben – resistance is futile! Im vierten und aktuell letzten Teil der Reihe zeigt sich mit dem Hybriden Marcus Wright demgemäß eine doppelt besetzte Figurenkonstellation eines ,Menschen‘, der sich später wider besseres Wissen als Maschine entpuppt (jedoch ausgestattet mit organischem Herz und Gehirn), seine ,menschliche Seite‘ allerdings als die wesentliche ,empfindet‘ und schließlich sein Herz spendet, um das Leben des Revolutionsführers John Connor zu retten – während er selbst stirbt. Hier ist der Entwurf eines Vexierbildes monströser Menschmaschinen insofern evident, als dass Angst und zerstörerische Bedrohung, aber auch die Hoffnung auf Erlösung im Cyborg kulminieren. Die Bedrohung einer technologischen Übermacht der Terminator, die in bester terroristischer Manier einen Schläfer in die Widerstandszelle einschleusen, kehrt sich gegen das militärische Technikheer, indem der Cyborg die Anlagen der militanten Technik zum Schutze des Humanen einsetzt und schließlich den letzten Rest Menschlichkeit verschenkt – zum Wohle der Revolution, to be continued.
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Abb. 5: Still aus Terminator Salvation (2009): Digital modellierter Terminator nach ‚Schwarzenegger’schem Vorbild‘.
Den „human-machine nexus“⁴⁷, den J. M. van der Laan für den zweiten und dritten Teil auf der symbolischen Ebene der Interaktion zwischen dem Terminator-Modell ‚der ersten Generation‘ und den Connors beschreibt, verschiebt sich im vierten Sequel auf jene des ‚Bauplans‘ Marcus Wrights. Aus dem diabolischen Imitationsspiel technologischer Militärpolitik entwickelt sich eine Bewusststeinsrückkopplung des im doppelten Sinne unterrepräsentierten Humanen, womit der Durchformung von Mensch und Maschine performativ der Geist wieder eingetrieben wird. Die Regelsysteme militanter Terrortechnik zeigen sich sodann auch buchstäblich kreativlos gegenüber transhumaner Ratio und Emotio. Selbst die stahlkalte ‚Hau-Drauf-Taktik‘ des digital remasterten Terminators ‚der ersten Generation‘ (Abb. 5) simuliert im Showdown vor dem Showdown ebenfalls nur im Leerlauf bis zur vernichtenden Niederlage. Diese Filme, so konstatiert van der Laan, „integrate us into and adjust us to a certain desired pattern, specifically, the pattern of technological culture. This propaganda serves to maintain and promote the culture of technology.“⁴⁸ Eine „technological culture“ entfaltet sich hiernach also gerade nicht als eine durch Medientechnik regierte, sondern im Prozess symbolischer Gleichzeitigkeit von Mensch und Maschine. Cyborg – oder besser Menschmaschine – heißt hierin nicht weniger als die transhumane Vollversion von Wetware und integrierter Hardware im Dienste der Dauerhaftigkeit. Die vermeintliche ‚Krise‘ einer Symbolpolitik des Körpers im Modus des Technomorphen bedeutet auch eine Re-Strukturierung des Organischen im Anorganischen; im Dispositiv kybernetischer Kultur und des Transhumanen. Human (as) system keeps on running – bei Haraway wie bei Bachtin, bei Stelarc wie bei Kurzweil, in (Computer-)Wissenschaft wie in (Populär-)Kultur.
47 van der Laan, J. M.: Machines and Human Beings in the Movies. In: Bulletin of Science, Technology & Society 26/1 (2006). S. 31–37, hier S. 33. 48 Ebd., S. 31.
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5 Fazit Die in diesem Aufsatz vorgestellten Beispiele aus Wissenschaft, Medienkunst und Populärkultur zeigen, dass das Verhältnis von Mensch, Körper und Medientechnik zwar aus jeweils unterschiedlichen Richtungen taxiert werden kann, es im Kern aber stets um die virulente Frage nach einer transhumanen Evolutionsdynamik in der modernen, (computer-)technischen Welt geht. Die Menschmaschine, wie ich sie unter Berücksichtigung der verschiedenen Diskurse um den Cyborg und insbesondere das Monströse zu modellieren versucht habe, versteht sich dabei als ein medien- und kulturtheoretisches Konzept, mit dem technisch veränderte Körper- und Gesellschaftsentwürfe unter der Prämisse produktiver Wechselseitigkeit von Wetware und Hardware bearbeitet werden können. Dabei gilt es, die positiven wie negativen Elemente in einem Konzept zu beachten, die sich nicht gegenseitig zersetzen, sondern stabilisieren. Diese komplexen Verstrickungen und Doppelbödigkeiten, wie sie für das ,Monströse‘ sinnfällig sind, sollen über die Menschmaschine für die theoretische und analytische Betrachtung technischer Transformationen des Humanen in Anschlag gebracht werden. Die Symbolpolitik der Menschmaschine, wie sie in den vorgestellten Beispielen von Wissenschaft über Medienkunst bis Populärkultur thematisiert wurde, verweist dabei auf einen Prozess der Gleichzeitigkeit von Mensch und Maschine. In der Verkopplung von Wetware und Hardware wird gerade die Dauerhaftigkeit des Humanen im Dispositiv kybernetischer Kultur verhandelt. Dabei ist der Körper die wesentliche Funktionsstelle. Für das Menschenbild heißt dies allerdings, dass es nun nur noch um den Preis einer unwiderruflichen Fusion mit dem Maschinenbild zu haben ist.
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Autorinnen und Autoren Sebastian Armbrust studierte Medienkultur und Amerikanistik an der Universität Hamburg und schloss 2010 mit einer Magisterarbeit über visuelle Metaphern im Film ab. Er sammelte praktische Erfahrungen bei Film- und Fernsehproduktionen und war als Übersetzer für Computerspiele tätig. Seit 2010 promoviert er als Stipendiat der Graduate School Media and Communication am Research Center for Media and Communication (RCMC) der Universität Hamburg zu dramaturgischen Strukturen in US-amerikanischen Fernsehserien der Gegenwart. Helen Barr hat ihr Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Romanistik in Kiel, Lyon und Heidelberg mit Studien- und Forschungsaufenthalte in Venedig und Florenz absolviert. 2007 schloss sie ihre Dissertation mit einem Thema zur Florentiner Malerei des späten 16. Jahrhunderts ab. Von 1995 bis 1999 war sie Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der Universität Heidelberg. Danach arbeitete sie als freiberufliche Kunsthistorikerin in Frankfurt a. M. und Florenz. Seit Oktober 2011 ist Helen Barr wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Sie führt Forschungen zur Architekturgeschichte und -theorie der klassischen Moderne, zur Gebrauchsgrafik, zum Neuen Frankfurt und zur Florentiner Malerei des Cinquecento durch. Zudem ist sie Mitglied im Deutschen Werkbund Hessen. Uta Bittner ist seit Mai 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm und promoviert derzeit am Institut für Philosophie der Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Neuroethik, Philosophie der Liebe, Willensfreiheitstheorien und Autonomiekonzepte, Enhancement des Menschen und die Rolle der Medizin. Von 2008 bis 2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zudem ist Uta Bittner seit 2006 Redakteurin der Wirtschaftsredaktion bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Franziska Bork Petersen promoviert seit 2008 im Rahmen des interdisziplinären Graduiertenkollegs für Ästhetik am Department of Musicology and Performance Studies an der Universität Stockholm und am theaterwissenschaftlichen Institut der FU Berlin. Ihre Dissertation behandelt Inszenierungen von körperlicher Authentizität, sowie Strategien der Herausforderung dieses Körperideals in der zeitgenössischen Mode, Performance und im Tanz. Bork Petersen lehrt in den Bereichen Tanzanalyse, Tanzfilm und zeitgenössische Choreografie an der Universität Stockholm und der Stockholmer Akademie für Tanz, sowie im Rahmen eines Masterprogramms für Kuratoren am kunstgeschichtlichen Institut. Jens Eder arbeitet als Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Theorie und Analyse audiovisueller Medien; transmediale Medienangebote; Fiktion, Narration, Figuren, Motive, Emotionen; aktuelle Entwicklungen der audiovisuellen Medienproduktion in Deutschland und den USA. Neben Aufsätzen zu diesen und weiteren Themen hat er u.a. folgende Bücher verfasst oder herausgegeben (Auswahl): Characters in Fictional Worlds. Hrsg. mit Fotis Jannidis und Ralf Schneider. Berlin: Walter de Gruyter 2010; Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008; Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Hrsg. mit Anne Bartsch und Kathrin Fahlenbrach. Köln: von Halem 2007; Dramaturgie des populären Films. Drehbuchpraxis und Filmtheorie. Münster: LIT 1999; Mitherausgeber der Website Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte und Papiere (http://www.rrz. uni-hamburg.de/Medien/berichte/).
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Autorinnen und Autoren
Daniel Hornuff studierte Theaterwissenschaft, Germanistik, Komparatistik, Kunstwissenschaft und Philosophie an der Universität Leipzig und der HfG Karlsruhe. Ausgezeichnet mit dem Stipendium der ZKM-Fördergesellschaft hat er 2007 den Magister erhalten. 2009 promovierte er mit der Dissertation: Im Tribunal der Bilder. Politische Interventionen durch Theater und Musikvideo. München: Wilhelm Fink Verlag 2011 und wurde dabei von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Von 2009 bis 2010 war er als Marketingberater tätig und ist seither akademischer Mitarbeiter an der HfG Karlsruhe und Forschungsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung. Momentan arbeitet er an seinem Habilitationsprojekt zum Thema Visualisierungen des Unsichtbaren. Die Inszenierung des Ungeborenen im Kontext bildgebender Verfahren. Joseph Imorde arbeitet als Professor für Neuere und Neuste Kunstgeschichte an der Universität Siegen. Seine Arbeitsfelder sind Barocke Kunst, Kunsthistoriografie, Architekturgeschichte bzw. Architekturtheorie, historische Emotionsforschung, Medientheorie etc. Neben zahlreichen Aufsätzen hat er folgende Bücher verfasst und herausgegeben: Präsenz und Repräsentanz. Oder: Die Kunst, den Leib Christi auszustellen. Das Vierzigstündige Gebet von Anfängen bis in das Pontifikat Innocenz X. Emsdetten/Berlin: Edition Imorde 1997; Barocke Inszenierung. Hrsg. mit Fritz Neumeyer und Tristan Weddigen. Emsdetten/ Zürich: Edition Imorde 1999; Plätze des Lebens. Mit Photographien von May Galli. Köln: DuMont Kalenderverlag 2002; Affektübertragung. Berlin: Gebr. Mann Verlag 2004; Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne. Hrsg. mit Jan Pieper. Tübingen: May Niemeyer Verlag 2008; Michelangelo Deutsch!. Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009 und Dreckige Laken! Die Kehrseite der Grand Tour. Hrsg. mit Erik Wegerhoff. Berlin: Wagenbach Klaus GmbH 2012. Julia Inthorn ist Medizinethikerin und gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen. Nach dem Studium der Mathematik und Statistik sowie Philosophie und Erwachsenenbildung promovierte sie 2010 in Philosophie mit einer Arbeit im Bereich Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen interkulturelle Bioethik, Ethik und Empirie, sowie Biopolitik und Bioethik. Aktuelle Buchpublikationen: Gesundheit und Gerechtigkeit. Ein interkultureller Vergleich zwischen Österreich und den Philippinen. Zusammen mit Lukas Kaelin und Michael Reder. Wien/New York: Springer 2010; Richtlinien, Ethikstandards und kritisches Korrektiv: eine Topografie ethischen Nachdenkens im Kontext von Medizin (Hrsg.). Göttingen: Edition Ruprecht 2010. David Keller studierte Psychologie an der Universität Potsdam (Abschluss als DiplomPsychologe 2009) sowie Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of British Columbia Vancouver (Abschluss als Magister Artium 2011). Seit 2012 ist er Doktorand am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Dissertationsprojekt zur Medien- und Wissensgeschichte der Humanwissenschaften, assoziiert am Zentrum für Kulturwissenschaftkiche Forschung. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Seit 2009 ist er zudem in sozialpsychologischen Forschungsprojekten des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen freiberuflich tätig.
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Clea Catharina Laade promoviert derzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zum Thema Das Menschenbild in unserer Zeit. Erstes Darmstädter Gespräch und zugehörige Ausstellung. Ihr Interessengebiet umfasst insbesondere die Konzeptionen und Darstellungen von Menschenbildern in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts aus interdisziplinärer Sicht. Von 1999 bis 2007 absolvierte sie ihr Studium der Kunstgeschichte, Galloromanistik und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Stuttgart. Sie sammelte von 2007 bis 2009 praktische Erfahrungen im Kunstmuseum Stuttgart. Andreas Rauscher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft und Mediendramaturgie der Johannes-Gutenberg Universität Mainz und freier Journalist. Promotion über: Das Phänomen Star Trek. Mainz: Ventil Verlag 2003. Er schreibt regelmäßige Beiträge für die Magazine Testcard und Splatting Image und ist Mitbegründer und Redakteur der Filmzeitschrift Screenshot – Texte zum Film (http://www.screenshotonline.com). Seine Habilitationsschrift handelt über das Thema: Spielerische Fiktionen – Transmediale Genrekonzepte in Videospielen (Marburg: Schüren Verlag 2011). Zudem hat er zahlreiche Artikel über Film, Videospiele, Comics, Politik und Popkultur verfasst und war Mitherausgeber folgender Bücher: Subversion zur Prime Time – Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft. Zusammen mit Michael Gruteser und Thomas Klein. 2. Aufl. Marburg: Schüren Verlag 2002; Mythos 007 – Die James Bond-Filme im Zeichen der Popkultur. Zusammen mit Bernd Zywietz, Cord Krüger und Georg Mannsberger. Mainz: Bender Verlag 2007 und Superhelden zwischen Comic und Film. Zusammen mit Andreas Friedrich. München: Edition Text + Kritik 2007. Maike Sarah Reinerth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg, wo sie 2010 ihr Studium der Medienkultur mit Auszeichnung beendete. Derzeit arbeitet sie an einem Promotionsprojekt zu Figurationen des Subjektiven. Zur Darstellung des Mentalen im Film. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die mediale Darstellung von Bewusstsein, Animationsfilm und das (europäische) Autorenkino. Mit Jens Eder und Joseph Imorde hat sie den Forschungszusammenhang Menschenbilder in Medien, Künsten und Wissenschaften initiiert (http://www. menschenbild.org). Seit 2010 koordiniert sie zudem die AG Animation der Gesellschaft für Medienwissenschaft e.V.. Wichtigste Publikation: Probleme filmischen Erzählens. Hrsg. mit Hannah Birr und Jan-Noël Thon. Münster: LIT 2009. Ivo Ritzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Mediendramaturgie und Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er promovierte zur Dialektik von Genre- und Autorentheorie am Beispiel der Filme von Walter Hill. Seine aktuellen Forschungsinteressen sind Genre-Hybridisierung und kulturelle Globalisierung, interkulturelle Perspektiven auf asiatisches Kino sowie neue Ansätze zur Analyse der Mise-en-scène in Film und Fernsehen. Er hat zahlreiche Aufsätze zu Filmgeschichte und Filmästhetik, Medien- und Kulturtheorie veröffentlicht. Seine letzten Publikationen umfassen Buchveröffentlichungen zu den Themen Tabubruch und Transgression in Fernsehserien (2011), zum französischen Kriminalfilm (2012) und zur medialen Repräsentation des Körpers (2012).
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Autorinnen und Autoren
Jörg Scheller lebt als Kunstwissenschaftler, Journalist und Musiker in Bern. Von 2007 bis 2009 war er Promotionsstipendiat des Graduiertenkollegs Bild-Körper-Medium, Karlsruhe, wo er über Arnold Schwarzenegger promovierte. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich und seit 2011 ist er parallel als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Universität Siegen tätig. 2012 wurde er auf die Dozentur für Kunsttheorie und Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste berufen. Seine Essays und Rezensionen erscheinen u.a. in Die Zeit, FAZ, Süddeutsche Zeitung, artnet, frieze d/e. Als Musiker ist er seit 1999 an diversen Projekten beteiligt, derzeit am Heavy-Metal-Lieferservice des Metal-Duos Malmzeit. Felix Schröter arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg. Dort ist er zudem Mitglied der Graduate School Media and Communication des Research Center for Media and Communication (RCMC) und beschäftigt sich im Rahmen seines Promotionsprojektes mit der Rezeption und Analyse von Computerspielfiguren. Zu seinen weiteren Forschungsinteressen zählen die Ästhetik und Narrativität digitaler Spiele sowie transmediale Figurentheorie und historische Rezeptionsforschung. Sven Stollfuß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Er studierte Medienwissenschaft, Europäische Ethnologie sowie Neuere deutsche Literatur und promoviert derzeit zu digitalen endoskopischen Simulationsmodellen in Wissenschaft und Massenmedien. Seine Interessensfelder sind medizinische Bildgebungstechniken in Wissenschaft und Massenmedien, Bild- und Techniktheorie, Theorie digitaler Medien sowie Serienforschung und Populärkultur. Letzte Veröffentlichung: Cyborg Visuality, Popularized. Überlegungen zu einer populären Wissenspraxis des Körperinnen. In: Methoden der Populärkulturforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Film, Fernsehen, Musik, Internet und Computerspiele. Hrsg. von Marcus S. Kleiner und Michael Rappe. Münster: LIT 2012. S. 385–416. Jan-Noël Thon ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören transmediale Narratologie, transmediale Figurentheorie, Comic Studies, Filmtheorie, Computer Game Studies und konvergente Medienkultur. Seine letzten Buchveröffentlichungen sind: Probleme filmischen Erzählens. Hrsg. mit Hannah Birr und Maike Reinerth. Münster: LIT 2009 und Poetik der Oberfläche. Zur deutschsprachigen Popliteratur der 1990er Jahre. Hrsg. mit Olaf Grabienski und Till Huber. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011.
Sachwortregister Animation 28, 29, 52, 61, 303 Anthropologie, siehe auch Bild-Anthropologie, Medienanthropologie 8, 12-15, 17, 19, 21, 30, 36, 38-40, 79, 83, 222, 266-268 Historische 12, 14, 16, 37, 41 Literarische 16, 21, 39, 40 Philosophische 6, 9, 12, 15, 55, 253, 262, 269, 270 Antiheld 29, 112, 116, 118, 145, 151, 153, 158 Ästhetik VII, 2-4, 17, 18, 23-25, 30, 37, 60, 63, 74, 78, 86, 88, 92, 98, 111, 119, 143, 159, 170, 174, 176, 178, 188, 208, 209, 212-215, 218, 226, 255, 270-282, 291, 292, 299, 300, 301, 304 Authentizität VI, 6, 34, 85-89, 91-99, 275, 279, 301 Autonomie 250, 277-281 Avatar 121, 122, 124, 127, 130, 135-139, 141-143
Chirurgie, ästhetische VII, 2, 37, 86, 255, 271-273, 275-282 Chronotopos 201-207 Comic 145, 152, 154, 156, 219-221, 224, 228, 233, 303, 304 Computer 120, 130, 142, 143, 181, 254, 256, 260, 270, 288, 291, 298, 300 Computerspiel 2, 3, 26, 35, 119, 120-124, 126, 128-131, 134, 135, 139-143, 259, 301, 304 Cyborg VII, 2, 29, 86, 149, 150, 154, 155, 159, 283-288, 290, 292, 293, 296-300, 304
Barbar VII, 2, 18, 198, 200-203, 214-216 Bewusstsein, siehe auch mind 47, 51-53, 59, 195, 247, 291, 303 Bild, äußeres 6 Bild, inneres 6, 24, 63 Bild, sprachliches 6 Bildakt 6, 39 Bild-Anthropologie, siehe auch Anthropologie, Medienanthropologie 17, 21, 34, 38, 217, 218 Bildgebung, bildgebende Verfahren 2, 47, 52, 263, 302 Bildwissenschaft 16, 17, 32, 38, 217, 218 Biomacht 31 Biotechnologie VII, 6, 32, 86, 252, 253, 256, 257 Böse, das 13, 15, 35, 38, 144, 145, 147, 149, 151, 157-159
Enhancement VII, 36, 39, 86, 252-262, 268-270, 301 Erzählung, siehe auch Narration 28, 31, 64, 86, 105, 153, 158, 200, 202, 206-208, 211, 218, 296
Determinismus 116, 264, 285 Diagnostik 34, 52, 70, 71, 75, 82, 84, 104, 109, 111, 258, 264, 269 Digitalisierung 28, 32, 35 Dramaturgie 29, 38, 91, 105, 106, 111, 149, 159, 213, 214, 301 Dystopie 36
Fantasy 122, 141, 148, 150, 198 Fernsehen 2, 3, 19, 22, 39, 50, 65, 87, 303, 304 Fernsehserie 2, 3, 26, 35, 52, 104, 108, 110, 301, 303 Fernsehshow 34, 87, 89 Figur 18, 19, 23, 28, 29, 33, 35, 38, 40, 54-57, 62, 64, 65, 90, 92, 104-106, 110, 111, 114, 116-118, 120-130, 134, 136, 137, 140-143, 145, 147, 149-152, 154, 156-159, 174, 188-190, 195, 196, 198, 201, 202, 212-214, 216, 218, 221, 225, 230, 232, 241-243, 246, 268, 274, 301 Figurenanalyse 18, 33, 38, 55, 65, 104, 118, 120, 129 Figurenkonstellation 64, 106, 296
306
Sachwortverzeichnis
Film VI, VII, 2-4, 15, 18, 19, 23, 24, 26-29, 34, 36, 38, 41, 45, 46, 48, 50-59, 61-66, 104, 108, 118, 120, 122, 124, 126, 134, 141, 144, 146-154, 156, 159, 198, 200-206, 208-213, 218-220, 225-227, 233, 238, 240, 291, 297, 299, 301, 303, 304 Fotografie 3, 20, 40, 48, 68, 71-77, 81, 83, 240, 251 Fötus 2, 35, 163-165, 167, 168, 170, 172-174, 176, 178, 179, 181 Franchise, transmediales 3, 28, 154 Gehirn 47, 50, 58-61, 65, 66, 255, 256, 259-261, 265, 268-270, 291, 296 Geist, siehe auch mind VI, 1, 15, 33-35, 41, 43, 47, 50-53, 55, 56, 58, 59, 63-66, 79, 179, 213, 215, 261, 269, 273, 297 Genre 1, 19, 23-25, 28, 29, 87, 98, 103, 104, 107, 108, 124, 125, 130, 141, 152, 159, 199, 200, 209, 211 Geschlecht 13-15, 31, 76, 78, 117, 120, 126, 135, 138, 139, 141, 142, 164, 239, 264, 270, 293, 295, 299 Gesellschaft 30, 53, 63, 79, 81, 83, 108, 112, 188, 189, 196, 197, 201, 206, 218, 224, 227, 229, 243, 246, 257, 264, 270, 292, 303 Gestaltbarkeit, siehe auch Enhancement 36, 272, 180, 181 Glück 18, 41, 113, 198, 230, 244, 246, 273, 276, 282 Gott, Gottheit 1, 11, 23, 167, 181, 186, 187, 194, 197, 209, 210, 274, 282 Grafik 3, 167, 239, 245, 247 Grundkontingenzen, menschliche 258 Held 112, 116, 118, 134, 148, 150, 154, 157-159, 204, 208, 213, 215, 220, 223, 232 Humanwissenschaften 7, 9, 11, 12, 16, 19, 38, 40, 67, 68, 82, 284, 299, 302 Ideal 2, 3, 6, 24, 29, 32, 36, 74, 81, 85, 87, 89, 92, 93, 97, 106, 124, 224, 230, 231, 253, 258, 263, 266, 271, 272, 278, 280
Identität 12, 13, 48, 54, 57, 59, 63, 64, 74, 108, 115, 150, 279 Ikonografie 35, 145, 158, 204 Ikonologie 6 Illustrierte 3, 241 Image 1, 5, 6, 16, 34, 40, 41, 45, 47, 50, 59, 60, 65-67, 77, 83, 85, 103, 128, 142, 163, 183, 237, 283, 292, 303 Imagination 6, 34, 37, 40, 45, 48, 51-53, 55, 57-60, 63, 64, 117, 206, 289, 292, 293 Inszenierung 17, 18, 34, 39, 40, 74, 86-89, 92, 96-98, 147, 148, 301, 302 Internet, siehe auch Website 2, 3, 24, 33, 42, 76, 139, 142, 158, 294, 303, 304 Kino, siehe auch Film VI, 19, 27, 40, 45, 48, 51-53, 64, 65, 120, 141, 144, 151, 159, 198, 201, 206-208, 211-213, 215, 218, 219, 224, 232, 233, 303 Kommunikation 4, 21, 22, 24, 30, 32, 50, 53, 57, 81, 120-123, 128, 134, 135, 138, 139, 152, 190, 303, 304 Kontext, kultureller VII, 4, 18, 27, 30, 33, 35, 82 Körper VI, VII, 1-3, 14, 15, 17, 22, 27, 29, 31, 33, 34, 36-38, 41, 54, 74, 85-99, 103-105, 108-113, 115-117, 119, 123, 124, 149, 159, 163, 165, 167, 168, 170, 171, 173, 176, 179, 180, 201, 209, 212, 213, 216-218, 227, 245-247, 252, 254-256, 259, 270, 273, 275, 279, 280, 283-286, 289-300, 303 Körperbild 2, 3, 18, 23, 25, 34, 41, 125, 136, 138, 201, 290, 296 Krankheit 2, 15, 18, 72, 104, 107, 109, 115, 255, 256 Kultur 2, 7, 13-15, 28, 30, 37, 38, 40, 46, 53, 63, 69, 78, 83, 87, 93, 136, 179, 182, 188, 197, 205, 206, 217-219, 290, 292, 294, 297, 298 Kulturwissenschaft 13, 14, 32, 144, 302 Kunst V, 7, 17, 19, 23, 34, 37, 39-41, 47, 50, 61, 63, 65, 66, 79, 83, 86, 90, 92, 120, 142, 143, 183-190, 192-197, 223, 239, 242, 250, 251, 279, 282, 302-304
Sachwortverzeichnis
Kunstgeschichte 13, 16, 20, 32, 186, 197, 301-304 Kybernetik 8, 31, 287, 288, 294, 297, 298 Leib-Seele-Problem 2, 11, 33 Literaturwissenschaft 10, 12, 13, 16, 20, 28 Ludisch, siehe auch Computerspiel 6, 121-124, 126, 130, 131, 134, 137, 140 Makeover 29, 41, 85, 94, 95, 97, 99 Malerei 2, 3, 24, 35, 36, 68, 76, 77, 81, 188, 190, 192, 195-197, 301 Maschine 7, 8, 29, 37, 38, 45, 55, 82, 149, 150, 158, 217, 218, 254, 284-289, 291-300 Medialität, Definition 24-26 Medienanthropologie, siehe auch Anthropologie, Bild-Anthropologie 4, 17, 21, 39 Medienepistemologie 19 Medienkonvergenz V, 28, 35, 37, 38 Medien, Begriff 22 Medien, Merkmale 26 Medienspezifik 2, 3, 19, 25-27, 35, 120, 126, 128, 131 Medientechnik 32, 284, 285, 291, 293, 297, 298 Medienwissenschaft 7, 13, 14, 16, 17, 20-22, 25, 26, 32, 37-39, 42, 140, 206, 218, 283, 298, 301-304 Medium V, 1, 2, 17, 21, 22, 24-26, 28, 39-42, 50-53, 61, 119, 120, 126, 140, 141, 208, 219, 220, 232, 241, 291, 298 Menschen, Arten 13, 37 Menschenbild, Definition 9-11 Menschenbild, Inhalte 11-13 Menschenbild, mediales 23 Menschendarstellung 14, 16, 19, 27, 183 Menschenrechte 2, 30 Menschenwürde 30 Mensch, Neuer 33, 36, 235 Mind, siehe auch Geist 15, 34, 39, 41, 45, 47, 48, 52, 54, 57, 58, 61, 63-66, 77, 121, 141, 260, 291, 300 Mode 87, 89, 90, 92, 190, 301
307
Moderne 16, 32, 37, 186, 189, 195, 196, 208, 217, 218, 221, 224, 228, 233, 290, 301 Monster 5, 20, 29, 39, 40, 158, 283, 285, 289, 290, 292-296, 298, 299 Moral 6, 11, 29, 31, 35, 37, 89, 90, 92, 131, 134, 149, 179, 215, 226, 228, 230, 233, 257, 267 Mythos 97, 98, 144, 152, 153, 159, 198, 200, 207-211, 213, 214, 217, 218, 221, 222, 224, 225, 233, 295, 299, 303 Nanotechnologie 284, 288, 289, 300 Narration, siehe auch Erzählung 1, 25, 26, 29, 41, 48, 65, 77, 80, 91, 98, 105, 106, 110, 115, 116, 118-122, 127, 128, 130, 131, 134, 135, 137, 139-143, 148, 159, 198, 201, 202, 206, 208, 209, 211-213, 218, 256, 269, 301 Natur, menschliche 1, 3, 5, 9, 11, 15, 16, 38, 41, 45, 50, 55-57, 61, 64, 103, 106, 112, 252 Neoliberalismus 33, 222, 224, 226 Neurotechnik 36, 255, 256, 259, 268 Neurowissenschaft 2, 20, 31, 47, 48, 59, 263, 265, 268, 269 Norm 2, 6, 10, 30, 34, 46, 56, 61-64, 78, 106, 107, 113, 116, 178, 243, 244, 246, 253, 261- 267, 273, 280, 281 Online-Portal 272, 275 Performance, Performanz 3, 29, 121, 128, 141, 142, 213, 293, 301 Philosophie 8, 9, 12, 15, 23, 32, 33, 36, 38, 39, 46, 55, 95, 99, 184, 188, 208, 218, 222, 233, 252-256, 262, 263, 268-270, 275-277, 282, 288, 291, 300-302 Printmedien, siehe auch Zeitung, Zeitschrift 3, 272, 273 Psyche 3, 12, 18, 33, 34, 45, 46, 50, 52-56, 59, 61, 64, 67, 68, 70, 72, 74, 78-81, 103-105, 110-113, 115-117, 119, 122-126, 258, 266 Psychiatrie 67, 68, 73-75, 79, 80, 83, 84, 256, 259
308
Sachwortverzeichnis
Psychoanalyse 12, 16, 37, 54, 59, 64, 72, 79, 80 Psychologie 2, 10-12, 15, 21, 30, 38-40, 46, 48, 51, 52, 58, 65-67, 69, 70, 72, 76-82, 92, 107, 125, 149-151, 153, 185, 206, 212, 218, 240, 278, 279, 282, 302 Religion 2, 4-6, 10, 11, 30, 31, 38, 46, 186, 188, 195, 197 Roboter 23, 156, 259, 284, 286-288, 299 Schönheit 6, 94, 98, 176, 178, 241, 271, 272, 274-282 Schönheitschirurgie 29, 37, 88, 274, 276-279, 282 Seele 46, 89, 91, 99, 154, 158, 167, 263, 268 Simulation 56, 120-124, 128, 131, 135, 139, 141, 181 Sonografie 3, 35, 52, 163, 165, 181 Sozialität 1, 3, 12, 15, 33, 54, 56, 103, 105, 110, 114, 117, 119, 122, 123, 125 Subjektivität 45, 58, 66, 223 Superheld, siehe auch Held 2, 18, 29, 36, 39, 112, 116, 219-221, 223-225, 227, 228, 230-233, 303 Tanz 87, 91, 189-191, 196, 197, 301 Technik 2, 14, 21, 22, 26, 36, 38, 40, 60, 70, 71, 77, 81, 83, 87-89, 93, 95, 252, 254, 255, 259, 261-265, 269, 270, 275, 283, 286, 287, 289-291, 294, 296
Testverfahren, projektive 34, 67-69, 78, 81 Theaterwissenschaft 16, 21, 88, 301, 302 Tier 1, 7, 8, 11, 20, 23, 31, 45, 55, 56, 64, 125, 166, 260, 261, 283 Tod 18, 40, 46, 60, 104, 121, 131, 133, 141, 151, 198, 211, 275 Transhumanismus 1 Transmedialität 2-4, 21, 28, 29, 32, 34, 35, 101, 128, 144, 145, 154, 158, 301, 303, 304 Transzendenz 1, 31, 194, 296 Übermensch, siehe auch Superheld 5, 29, 110, 112, 200, 222-224, 229 Utopie 59, 91, 97, 98, 217, 223, 229, 260, 269, 290 Vorbild 30, 39, 40, 105, 108, 178, 180, 205, 225, 229, 232, 239, 266, 289, 291, 297, 299 Website V, 3, 28, 29, 37, 301 Werbung 2, 28, 29, 36, 239-247, 249-251 Willensfreiheit 2, 18, 31, 301 Wissen, anthropologisches 8, 11, 17, 19, 20, 40 Wissenschaftsgeschichte 20, 21, 165, 181 Zeitschrift 20, 77, 78, 125, 237, 240, 241, 249, 273 Zeitung 2, 3, 240, 272, 273