Zentren der Aufklärung. I Halle: Aufklärung und Pietismus [Reprint 2012 ed.] 9783110931303, 9783484175150


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German Pages 299 [304] Year 1993

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Table of contents :
Vorbemerkungen
Johann Heinrich Michaelis und seine »Biblia Hebraica« von 1720
Abbildungen 1–5
Abbildungen 6–11
Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten
Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre
Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff
G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung
Abbildungen 12–16
Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietismus
»Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«
Jurisprudenz und Historie in Halle
Die Medizin im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Pietismus: Das unbequeme Werk Georg Ernst Stahls und dessen kulturelle Bedeutung
Abbildungen 17–20
Namenregister
Anschriften der Mitarbeiter
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Zentren der Aufklärung. I Halle: Aufklärung und Pietismus [Reprint 2012 ed.]
 9783110931303, 9783484175150

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WOLFENBÜTTELER STUDIEN ZUR AUFKLÄRUNG HERAUSGEGEBEN VON

B A N D 15

ZENTREN DER AUFKLÄRUNG I

HALLE Aufklärung und Pietismus HERAUSGEGEBEN VON NORBERT HINSKE

é VERLAG LAMBERT S C H N E I D E R · HEIDELBERG

REDAKTION: CLAUS RITTERHOFF · LESSING-AKADEMIE Mit 20 Abbildungen

Erste Auflage 1989 © 1989 · Verlag Lambert Schneider GmbH · Heidelberg Alle Rechte vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Printed in Germany. Texterfassung und -bearbeitung: Lessing-Akademie, Wolfenbüttel. Gesamtherstellung: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten

INHALTSVERZEICHNIS

NORBERT HINSKE:

Vorbemerkungen

KARL HEINRICH RENGSTORF:

9

J o h a n n Heinrich Michaelis

und seine »Biblia Hebraica« von 1720 Abbildungen 1 — 5 Abbildungen 6 - 1 1

15 Nach

WALTER SPARN: Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten

WERNER SCHNEIDERS:

71

T h o m a s i u s politicus.

Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre

BRUNO BIANCO:

50 65

91

Freiheit gegen Fatalismus.

Zu Joachim Langes Kritik an Wolff

GÜNTER GAWLICK:

G . F . Meiers Stellung

in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung Abbildungen 12 — 16

111

157 177 7

WOLFGANG MARTENS:

Officina Diaboli.

Das Theater im Visier des halleschen Pietismus

183

THEODOR VERWEYEN: »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Uber das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis« NOTKER HAMMERSTEIN:

Jurisprudenz und Historie in Halle . . . .

JOHANNA GEYER-KORDESCH:

209 239

D i e Medizin im Spannungsfeld

zwischen Aufklärung und Pietismus: Das unbequeme Werk Georg Ernst Stahls und dessen kulturelle Bedeutung

255

Abbildungen 17—20

275

Namenregister

281

Anschriften der Mitarbeiter

291

8

NORBERT

HINSKE

Vorbemerkungen

Auf seiner Sitzung vom 16. / 1 7 . September 1982 hat der Wissenschaftliche Senat der Lessing-Akademie, einen Vorschlag Karl Heinrich Rengstorfs aufgreifend, beschlossen, eine Sequenz von wissenschaftlichen Symposien unter dem Rahmenthema »Zentren der Aufklärung« durchzuführen. Mittlerweile haben im Rahmen dieser Reihe die folgenden Internationalen Symposien stattgefunden: »Halle und die deutsche Aufklärung« (25. bis 27. O k tober 1984), »Königsberg und Riga« (14. bis 16. November 1985), »Leipzig« (20. bis 22. N o v e m b e r 1986) und »Dänisch-deutscher Gesamtstaat« (7. bis 9. Oktober 1987). D e r vorliegende Symposienband enthält die Referate des ersten Symposions, in die die Erträge der intensiven Diskussionen während der Tagung in vielfältiger Weise mit eingeflossen sind. Auf einen eigenen Bericht über den Verlauf des Symposions kann daher verzichtet werden. Die erste Tagung dieser Reihe galt nicht von ungefähr der Stadt Halle. Insbesondere aus zwei Gründen nimmt sie in der vielfarbigen Landschaft der deutschen Aufklärung eine führende Stellung ein: als Zentrum der Philosophie und als Zentrum des Pietismus. Fast alles, was in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts Rang und Namen hat, ist mittelbar oder unmittelbar mit dieser einen Stadt und ihrer Universität, »bis 1740 die bedeutendste Ausbildungsstätte des Kontinents«, 1 verbunden. Mit Christian Thomasius und Christian Wolff wird sie zum Mittelpunkt der deutschen Früh- und Hochaufklärung. 2 V o n hier aus breiten sich die Impulse dieser beiden in vielem so konträren philosophischen Bewegungen über ganz Deutschland aus. A b e r nicht nur das. Christian Wolff wird hier 1723 mit seiner Vertreibung zum Märtyrer der deutschen Aufklärung und 1740 mit seiner demonstrativen Rückberufung bei Regierungsantritt Friedrichs des Großen zum Symbol ihres Sieges. 3 A b e r auch die zweite Phase der deutschen Hochaufklärung, die zwar an den inhaltlichen Grundpositionen Wolffs im großen und ganzen unverwandt festhält, die universelle Geltung der mathematischen, synthetischen, demonstrativen Methode aber bis zu einem gewissen Grade infragestellt, hat in dieser Stadt mit Georg Friedrich Meier, der in Halle großgeworden ist 9

und dort 1748 eine ordentliche Professur erhielt,4 einen ihrer eindrucksvollsten Vertreter. Gegen Ende der sechziger Jahre gewinnt Berlin gegenüber Halle insbesondere durch Moses Mendelssohn und Johann Heinrich Lambert zunehmend an philosophischem Gewicht. 1783 wird es dann mit der Berlinischen Monatsschrift und der Mittwochsgesellschaft, der »Gesellschaft von Freunden der Aufklärung«, fast schon zur Schaltstelle der deutschen Spätaufklärung in Preußen. Wäre Kant jedoch im Frühjahr 1778 nach dem Tode Meiers dem Drängen des preußischen Kultusministers Karl Abraham Freiherrn v. Zedlitz, der selber in Halle studiert hatte, gefolgt und hätte den Ruf an die Universität Halle angenommen — den ehrenvollsten Ruf, der zu diesem Zeitpunkt im Felde der Philosophie zu vergeben war —, so wäre Halle auch zum Zentrum der kritischen Philosophie geworden. Statt dessen wird es mit Johann August Eberhard, der anstelle Kants den Ruf erhält, zum Zentrum der Kantkritik. Die hohe Bedeutung, die Eberhards Kampf gegen die kritische Philosophie für die weitere philosophische Entwicklung in Deutschland zukommt, ist noch weithin unerforscht.5 Becks folgenreiche Schrift z.B. über den Einzig-möglichen Standpunct, aus welchem die critische Philosophie beurtheilt werden muß,6 ist ohne die Einwände Eberhards und seiner Anhänger kaum denkbar. Zugleich aber gerät Halle durch diesen Kampf in eine Defensivposition. Halle, das ist nun nicht mehr die Speerspitze der deutschen Philosophie, sondern der Schutzschild des Wolffianismus. Die philosophische Initiative geht damit auf Jena über. Die unvergangenen Leistungen Preußens und seiner Kultur sind ohne Halle nicht denkbar. Aus seiner Universität rekrutierte sich ein großer Teil der preußischen Beamtenschaft. Von hier aus erhielt das preußische Reformwerk weittragende Impulse. Naturrecht, Klarheit der Begriffe, Eigenständigkeit des Urteils, Streben nach Selbstvervollkommnung, Bemühung um Unparteilichkeit, um ein möglichst hohes Maß an Vorurteilslosigkeit, Respekt vor dem unbedingten Wert des Einzelnen, Verantwortungsbereitschaft und Pflichtbewußtsein — das etwa waren die Eigenschaften, die hier eingeübt wurden. Es war keine schlechte Philosophie, die den Adler Preußens beflügelte. Anton Friedrich Büsching z.B., Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin, hat diese Funktion der Universität Halle aufs nachdrücklichste betont; Georg Ludwig Spalding berichtet aus eigener Erinnerung: Büsching »flößte uns einen heilsamen Nationalstolz ein, indem er sie [Leibniz, Thomasius, Wolff und »ihre näheren Schüler«] uns [als] Unterthanen des Preußischen Staats gewissermaaßen als enge mit uns verbundene Landsleute schilderte; und den Einfluß der ihm so werthen Universität Halle, für Moralität und Aufklärung erhob«.7 Aber das Halle des 18. Jahrhunderts ist nicht nur Zentrum der Philosophie der Aufklärung. Es ist zugleich der Platz, an dem der Pietismus Auge in Auge mit der Aufklärung seine ganze theologische und praktische 10

W i r k s a m k e i t entfaltet. W a s die theologische Seite angeht, so hat Wilhelm A b r a h a m Teller, selbst einer der entschiedensten Verfechter der A u f k l ä r u n g im Felde der T h e o l o g i e , dazu 1794 in einem Beitrag anläßlich der ersten Jahrhundertfeier der Universität Halle bemerkt: D e r kirchlichen Streitigkeiten müde, welche seit der Reformazion unter den Evangelischen gewütet hatten [...], sehnten sie sich nach Ruhe und nach einer nahrhaftem Speise: fanden jene in einer unsektirischen, alles auf fromme Thätigkeit zurückführenden Religion, und diese in einem herzlichen, kunstlosen, allgemeinverständlichen Vortrage der Religion in Predigten. In dem G e n u ß dieser Ruhe und dieser kräftigern N a h r u n g für Geist und H e r z banden sie sich an keine menschliche Auktorität, so wie sie dieselbe nicht fürchteten; achteten nicht das wilde tobende Geschrei über A b w e i chung von den symbolischen Büchern, von der reinen Lehre der seligmachenden Lutherischen Religion. [...] [ . . . ] Mit männlichem Schritt gingen sie ihren Gang fort, beschwerten sich nur über die Unbilligkeit, mit allen Schwärmern der damaligen Zeit in eine Klasse geworfen zu werden [...]; verwiesen es ihren Gegnern, wenn sie den guten Namen eines Pietisten in einen Schimpfnamen verwandelten, ohne doch sie deswegen Orthodoxisten

zu

schelten. 8

W a s dagegen die praktische Seite betrifft, so sei hier nur an die Franckeschen Stiftungen erinnert, deren Anstalten in Halle schließlich z w e i lange Straßen bildeten. Z u ihnen gehörten neben der Waisenanstalt eine Freischule, fünf höhere und Mittelschulen, z w e i Internate sowie zahlreiche weitere Einrichtungen: Fräuleinstift, W i t w e n h a u s , A p o t h e k e , Krankenhaus, Brauerei, B u c h h a n d l u n g und Buchdruckerei, K u n s t - und Naturalienkabinett usw. usw. E b e n dieses Streben nach praktischer Wirksamkeit bildet einen W e s e n s z u g , der A u f k l ä r u n g und Pietismus über alles Trennende h i n w e g verbindet. D a s wechselvolle, in vielfacher F o r m durch A n z i e h u n g und A b s t o ß u n g bestimmte Verhältnis v o n A u f k l ä r u n g und Pietismus ist in der Forschung häufig diskutiert w o r d e n . D e n n o c h wird diese Diskussion in einigen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes u m wichtige neue A s p e k t e bereichert und weitergeführt. A n dieser Stelle sei nur am Rande noch eine generelle B e m e r k u n g h i n z u g e f ü g t . A u f k l ä r u n g und Pietismus stimmen auch in einem weiteren charakteristischen M o m e n t überein: Bei beiden B e w e g u n g e n handelt es sich u m F o r m e n einer Subjektivierung, die die Sphäre des O b j e k t i ven unangetastet läßt. A h n l i c h w i e die philosophische Erkenntnis für W o l f f nur durch die subjektive Einsicht in den objektiven Begründungszusammenhang, also durch Selbstdenken, wirkliche cognitio philosophica, wirkliche Vernunfteinsicht ist und nicht das bloße Surrogat einer cognitio historico-philosophica, steht und fällt die christliche Existenz für den Pietismus mit der subjektiven Ergriffenheit durch das unverkürzte W o r t Gottes. D i e B e d e u t u n g Halles im 18. Jahrhundert ist mit diesen beiden großen G e i s t e s b e w e g u n g e n freilich keinesfalls vollständig beschrieben. D a n e b e n II

wäre insbesondere eine große Zahl von bedeutenden Gelehrten zu nennen, die sich teilweise nur schwer einer allgemeinen Richtung zuordnen lassen. Deshalb sei abschließend, als ein Beleg unter vielen, der Brief zitiert, mit dem der preußische Kultusminister v. Zedlitz Kant doch noch zur A n n a h me des Rufes zu bewegen sucht. Zahlreiche andere Faktoren, die das Bild Halles mitbestimmt haben, kommen in dieser W e r b u n g aufs anschaulichste zur Sprache. A m 28. M ä r z 1 7 7 8 schreibt v. Zedlitz an K a n t : 9 [Ich] bitte Sie zu erwägen, daß ich jezt mit nicht ungegründeter Hofnung eines guten Erfolgs daran arbeite Halle so empor zu bringen als es jemals gewesen ist. ich habe jezt den H E . Karsten aus Butzow' 0 dahin bekommen. Er u. der alte Eberhardt" sind in Physic u. Mathem. ein paar sehr gute Lehrer, (ihre übrigen Talente bedürfen meiner Erwehnung nicht) in der Medicinischen Facultaet ist [recte: sind] H E . Goldhagen 12 (auch in der Chymie H E . Niezky' 3 ) u. in der Anatomie etc. H E . Maeckel 14 vortrefliche vorzügliche Männer. H E . Thunman'' hat den einzigen Fehler der Kränklichkeit, u. ich denke nächstens einen sehr großen Historiquer dahin zu ziehn, bey dem man sich blos wundern soll, daß ich ihn bekomme. 16 Die Theologische Facultaet ist beßer besezt als irgendwo in Europa, u. sollte mir einer der Alltagsmänner abgehn, so hole ich mir den H E . Griesbach' 7 wieder. Sehn Sie ein mal wie viel gute Leute, und dann das Centrum vom gelehrten Deutschland, das beßere Clima als dort an der OstSee. Ein Mann der so denkt wie Sie, darfs sich auch wohl vorsagen laßen, daß es Pflicht für ihn ist, in einem weitern Zirkel gemeinnützige Kentniße u. Licht auszubreiten, darf sich erinnern laßen daß er einen solchen Ort wählen muß wo er seine Gaben mehrern mitteilen, wo er mehr Nutzen stiften kann. [...] ich wollte aber daß Sie auch die Pflicht nicht verkennten, so viel Nutzen zu stiften als Sie bey den Ihnen angebotenen Gelegenheiten stiften können, u. daß Sie erwägen, daß die in Halle studirende 1000 bis 1200 Studenten ein Recht haben von Ihnen Unterweisung zu fordern, deren Unterlaßung ich nicht verantworten möchte. E s versteht sich von selbst, daß im Rahmen eines dreitägigen Symposions auch bei intensiver Arbeit nur ein kleiner Teil der genannten Themen erörtert werden konnte. D i e T a g u n g fand in den Räumen der Werner-Reimers-Stiftung in Bad H o m b u r g statt. O h n e ihre Unterstützung wäre die Durchführung des S y m posions nicht möglich gewesen. Ihr hat daher der D a n k des Herausgebers an erster Stelle zu gelten. Sein D a n k gilt des weiteren Herrn Claus Ritterh o f f , der den Band gewissenhaft betreut und neben den Korrekturarbeiten die mühevolle A u f g a b e auf sich genommen hat, die Anmerkungsapparate der verschiedenen Beiträge so weit wie möglich zu vereinheitlichen. F ü r alles das sei ihm auch an dieser Stelle noch einmal auf das herzlichste gedankt.

12

ANMERKUNGEN

ι. K U R T KLUXEN: »Politischer Auftrag aus dem Naturrecht, Die deutsche Geschichte zwischen 1 7 1 3 und 1790«. In: Die Welt Nr. 170, 25. Juli 1985, S. 8. 2. Zur Etappeneinteilung der deutschen Aufklärung vgl. N O R B E R T H I N S K E : »Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung«. In: Christian Wolff ι6γ« cf. ο ί η , ί , 14. · Re*·

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VBERIORVM ADNOT ATIONVM PH] LOLOGICO - EXEGET1CARVM

HAGIOGRAPHOS VOLVMEN TERTIVM» VET. T E S T A M E N T I

LIBROS,

CONTINENS

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DANIELIS, ET IN L I Β R O S

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Accedimi in (¡nguios libios PRAEFATIONES, quibus de Scriptorc, fuuh» libri, »iilKjac««cium·amaró, U. 4íi,iu».

hin nur den Sinn, deutlich zu machen, wie weit Johann Heinrich Michaelis in seiner Grundkonzeption seiner Zeit vorausgewesen ist und daß im Grunde er es war, der gerade deshalb selbst da die weitere Entwicklung bestimmte, w o er längst der Vergessenheit anheimgefallen war bzw. nicht in seiner tatsächlichen Bedeutung gesehen, geschweige denn gewürdigt wurde. Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß unsere Gegenwart wie die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts Ubergangscharakter anzunehmen begonnen hat, dies wie damals mit Einschluß der Kirchen und nicht zuletzt auch der Theologie. U m so wichtiger ist es natürlich, wenn dies richtig ist, die Zeichen der Zeit rechtzeitig zur Kenntnis zu nehmen und sie nach Möglichkeit auch zu begreifen, um sich auf Kommendes einstellen zu können. Johann Heinrich Michaelis hat es nicht an einem gewissen G e f ü h l f ü r sich erst gerade andeutende weitreichende Veränderungen, darunter solche im Selbstverständnis der Menschen, gefehlt. Sollte er deshalb, wenn man ihm G e h ö r schenkt, vielleicht sogar behilflich sein können, das Verhältnis zur Gegenwart so zu ordnen, daß sich wenigstens die Christenheit nicht eines Tages der Z u k u n f t völlig hilflos ausgeliefert vorfindet? 1 2 1

ANMERKUNGEN Vorbemerkung: Das Manuskript des am 26. Oktober 1984 gehaltenen Vortrags ist für den Druck gründlich überarbeitet und da und dort ergänzt sowie mit Anmerkungen versehen worden. ι. Z u ihm vgl. aus der älteren Literatur vor allem LUDWIG D I E S T E L : Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche. Jena 1868, S. 4 1 5 f f . ; R U D O L F »Michaelis, Johann Heinrich«. In: Realencyklopädie Kirche. 3. Aufl. 24 Bde. Leipzig 1896— 1 9 1 3 {RE3),

KITTEL:

für protestantische Theologie

und

Bd. 13, 1903, S. 53; aus neuerer Zeit

O T T O P O D C Z E C K : »Die Arbeit am Alten Testament in Halle zur Zeit des Pietismus — Das Collegium Orientale theologicum A . H . Franckes«. In: Wissenschaftliche Zs. der Martin-Luther-Universität

Halle-Wittenberg,

Gesellschafts-

und

Sprachwissenschaften

V I I / 5 (1958), S. 1 0 5 9 - 1078. 2. Er ist auch literarisch tätig gewesen. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen sei hier nur die folgende genannt: Der Juden Glaube und Aberglaube, [...] sonderlich dessen, was anitzo noch würcklich unter den Jiiden gelehret, geglaubet, und an ihren Sabbaten, Fest- und Fast-Tagen,

in ihren Häusern und Schulen, an ihrer Kleidung etc. [...]

observi-

ret und gehandelt wird. [...] Mit gestochenem Frontispiz und 8 Kupfertafeln. Leipzig: F. Lanckisch 1705. Uber ihn vgl. J U L I U S FÜRST: Bibliotheca Judaica. Erster Thl. Leipzig 1 8 4 9 , S . 1 7 8 ; J O H A N N F R I E D R I C H A L E X A N D E R D E L E R O I : Die evangelische

Chri-

51

stenheit und die Juden unter dem Gesichtspunkte der Mission geschichtlich betrachtet. Bd. ι . Karlsruhe und Leipzig 1884, S. 134. Es heißt, er habe eines Tages Leipzig heimlich verlassen und sei später zum Judentum zurückgekehrt. 3. Vgl. zu ihm J O H A N N F L E M M I N G : »Hiob Ludolf. Ein Beitrag zur Geschichte der orientalischen Philologie«. In: Beiträge zur Assyriologie und vergleichenden semitischen Sprachwissenschaft 1 (1890), S. 537— 58z; 2 (1891), S. 63 — 1 1 0 ; K O N R A D F R I E D R I C H B A U E R : Hiob Ludolf. Der Begründer der äthiopischen Sprachwissenschaft und des äthiopischen Buchdruckes. Frankfurt a . M . 1937; ERNST HAMMERSCHMIDT: Äthiopistik an deutschen Universitäten. Wiesbaden 1968, S. 7 f f . ; S I E G B E R T U H L I G (Hrsg.): Hiob Ludolfs »Theologia Aethiopica«. Wiesbaden 1983 (Athiopistische Forschungen. Bd. 14). Ludolf hat sich in einem im Archiv der Francke'schen Stiftungen erhaltenen Briefwechsel mit August Hermann Francke, den Otto Podczeck in seiner in A n m . 1 genannten Arbeit dankenswerterweise an das Licht gebracht und in seiner Bedeutung gewürdigt hat (ebd., S. ι ο 6 ζ ΐ ί . ) , 1703, also ein Jahr vor seinem Tod, mehrfach zu dem ihm von Francke zur Begutachtung vorgelegten vierten Projekt bezüglich des Collegium orientale theologicum ausführlich geäußert. Seine Stellungnahme ist recht bedeutsam und wird, wenn von diesem Collegium die Rede sein wird, in die dann anzustellenden Überlegungen einbezogen werden. Schon hier mag aber darauf hingewiesen werden, daß sein Votum eine enge Verbundenheit zwischen ihm und Johann Heinrich Michaelis zur Voraussetzung hat, die auch Ubereinstimmung in sachlichen Fragen einschließt. 4. Z u ihm und seinen Beziehungen zu Halle und speziell zu Johann Heinrich Michaelis vgl. weiter unten. 5. Z u ihm vgl. K I T T E L in RE3,

Bd. 13 (Anm.i), S. 53f. — Z u m verwandtschaftlichen

Verhältnis vgl. weiter unten S. 29 mit A n m . 46. 6. Z u Johann David Michaelis vgl. etwa D I E S T E L , Geschichte (Anm. 1), s. 583ff., 683ff., 7 4 5 f f . ; K I T T E L , Realencyklopädie, Bd. 13 (Anm. 1), S. 54ff.; E M A N U E L H I R S C H : Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 4. Gütersloh 1952, S. 3 2 f f . 7. Darüber wird weiterhin noch kurz die Rede sein. 8. Z u August Hermann Francke und seinem Verhältnis zu Johann Heinrich Michaelis vgl. schon oben S. 16. 9. Johann Heinrich Michaelis hat von Anfang an die intensiven und weitreichenden Bemühungen Callenbergs um die Bekehrung von Juden zum Christentum, w o immer diese in der damaligen Welt erreichbar und ansprechbar waren, ebenso wie sein Institutum Judaicum in Halle als das geistliche und organisatorische Zentrum der pietistischen Judenmission im 18. Jahrhundert in jeder Hinsicht, auch finanziell, mitgetragen; ein Beleg: J o . H E I N R I C H C A L L Ε Ν Β E R G s / Phil. Prof. Ρ ./Bericht/an einige Christliche Freunde /von einem Versuch/ Das arme Jüdische Volck/zur Erkäntniß und Annehmung / der Christlichen Wahrheit/anzuleiten. Halle 1728, andere A u f l . Halle 1730, S. 8 bzw. S. 10 (Zeile 2 1 : J . Η . M. in einem Verzeichnis von Spendern unter Abkürzung ihrer Namen). 10. Z u Titel und Erscheinungsjahr seiner Arbeit vgl. A n m . 1. — Im Folgenden wird die Darstellung von Otto Podczeck insofern etwas ergänzt, aber auch ein wenig modifiziert, als im Blick auf die Entstehung und die Sinnbestimmung des Collegium orientale theologicum Johann Heinrich Michaelis mehr Gewicht zuerkannt wird, als er ihm zubilligt. Das schließt natürlich von Anfang an auch die Möglichkeit von Dissonanzen zwi5

2

sehen August Hermann Francke und Johann Heinrich Michaelis im Blick auf die eigentliche Aufgabe des Collegium ein. Es wird später gezeigt werden können, daß es vor allem an solchen Spannungen gelegen hat, wenn das Collegium als solches etwa 1 7 1 3 , also rund sechs Jahre vor dem Abschluß der Arbeiten an der Biblia Hebraica, praktisch der Auflösung anheimfiel (s. Anm. 57), wenn es auch erst mit dem Erscheinen der Biblia Hebraica im Jahr 1720 offiziell seine Tätigkeit eingestellt haben mag. Podczeck selbst rechnet im übrigen damit, daß die Tätigkeit des Collegium im Grunde bereits 1704 geendet hat, nachdem sich die Arbeit an der Biblia Hebraica gewissermaßen verselbständigt hatte (»Arbeit am Alten Testament in Halle« [Anm. 1], S. 1066). 1 1 . Vgl. dazu Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hrsg. von PETER SCHICKETANZ. Berlin 1972 (Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. 3, Bd. 1). 12. Vgl. hierzu PETER SCHICKETANZ: Carl Hildebrand von Cansteins Beziehungen zu Philipp Jakob Spener. Witten 1967 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. 1), sowie GUSTAV K R A M E R : Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes, enthaltend den Briefwechsel Franckes und Speners. Halle 1861. — In diesem Zusammenhang hat natürlich auch die Tatsache Gewicht, daß Francke zweimal in für ihn kritischen Perioden seines Lebens jeweils für mehrere Wochen großzügige Gastfreundschaft im Hause Speners genossen hat, erstmals, als dieser als Oberhofprediger in Dresden tätig war (1686— 1691), dann aber auch und vor allem nach dessen Ubersiedlung nach Berlin (1691). In beiden Fällen· ist ihm weiterhelfender Rat, im zweiten Fall auch entscheidende Hilfe hinsichtlich seines weiteren Lebenswegs, nämlich durch die Öffnung des Zugangs zu der in der Gründung begriffenen Universität Halle, zuteil geworden. 13. Vgl. hierzu schon oben S. 18. 14. Vgl. dazu oben S. 16. 15. Zu diesem Briefwechsel s. Anm. 3. 16. Hierzu und zum Folgenden vgl. PODCZECK, »Arbeit am Alten Testament in Halle« (Anm. 1), S. 1063 ff. 17. Was nun unterblieb, hat nach dem Tod von August Hermann Francke (1727) der Begründer des Institutum Judaicum in Halle, Johann Heinrich Callenberg, aufgenommen, indem er der von ihm ins Leben gerufenen Judenmission die Mohammedanermission hinzufügte und es so zu einem Miteinander beider kommen ließ, bei dem es dann auch nach seinem eigenen Ableben (1760) geblieben ist. Aber darauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. 18. In Verbindung hiermit darf ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß in allen Mitteilungen August Hermann Franckes über Stand und Entwicklung des Lebens wie der Arbeit in seinen verschiedenen Anstalten der Verweis auf die »Göttliche Providentz«, in aller Form so benannt oder lediglich angedeutet, seinen festen Platz hat. Er ist nicht müde geworden, sie durch »Exempel« zu belegen, in denen er »Segens-voile Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes« sehen zu dürfen gewiß war. 19. EXKURS I: Wenigstens anmerkungsweise bedarf es hier eines Eingehens auf die Frage, wie es zu der im Vorausgehenden besprochenen Konzeption des Collegium orientale theologicum in Halle gekommen ist. Stammt sie von August Hermann Francke, der ohne jede Frage als der eigentliche Begründer dieser akademischen Einrichtung anzuseÍ3

hen ist, auch wenn sie weniger als Bestandteil der Universität Halle zu gelten hat denn als eine ihr durch das sie leitende Mitglied ihres Lehrkörpers verbundene freie Lehr- und Forschungsstätte? Oder war es Franckes Freund und Mäzen Carl Hildebrand Freiherr von Canstein, der Francke veranlaßte, einen Gedanken von ihm in die Tat umzusetzen, und ihm dafür auch Mittel zur Verfügung stellte? Oder kam der entscheidende Anstoß sogar von Johann Heinrich Michaelis? Merkwürdig berührt, daß verhältnismäßig bald nach der Begründung des Collegium diesem durch Francke selbst der Charakter einer Art Ausbildungsstätte für künftige kirchliche und theologisch-wissenschaftliche Führungskräfte zugesprochen worden ist. Dies ist zu entnehmen der zweiten Fortsetzung der Wahrhaften und umständlichen Nachricht vom Waysen-Hause und übrigen Anstalten [...] von dem Frhrn. von Canitz aus dem Jahr 1706 (Halle 1709, S. 6). Angesichts dessen möchte es lohnend sein, einmal zu untersuchen, ob der entscheidende Anstoß zur Begründung des Collegium orientale theologicum nicht letztlich von Hugo Grotius (1583 - 1645) und seiner Schrift De ventate religionis Christianae ausgegangen ist, die 1627 erschien, und durch die er die Apologetik als theologische Disziplin begründete. Vermutungen in dieser Hinsicht lassen sich begründen. Dafür könnte geltend gemacht werden, daß Canstein auf einer Bildungsreise, die ihn nach Beendigung seines Studiums auch nach Holland führte, dort mit Sicherheit auf Hugo Grotius aufmerksam und zumindest mit seinen wichtigsten Veröffentlichungen bekannt gemacht worden ist. Auf die damit ins Auge gefaßte Möglichkeit wird später näher einzugehen sein (s. S. 38ff.). Das genannte Werk von Grotius hat eine längere Vorgeschichte. Es ist erwachsen aus dem Anliegen seines Verfassers, eine Handreichung für Landsleute, vor allem Seeleute, zu schaffen, die sie anleitet, bei Begegnungen mit Andersgläubigen, vor allem Mohammedanern, in etwa entstehenden religiösen Auseinandersetzungen die eigene religiöse Uberzeugung nicht allein sachgemäß, sondern auch einleuchtend zu vertreten. Ursprünglich ein Lehrgedicht, das bereits während der Gefängnishaft seines Verfassers in Loevestein in den Jahren 1618 — 1621 in niederländischer Sprache entstand, ist diese Arbeit von Grotius erst über seine Umsetzung in lateinische Prosa unter einem neuen Titel zu ihrer endgültigen Fassung gekommen. Von ihrer Urform liegt eine in persönlichem Umgang mit dem Verfasser entstandene deutsche Ubersetzung in Alexandrinern durch den Barockdichter Martin Opitz unter dem Titel »Von der Warheit der Christlichen Religion« vor, die bereits 1631 in Breslau erschienen ist. Zu größerer Wirkung in Deutschland dürfte das Buch von Grotius erst über die kommentierten Ausgaben (Jena 1726; Halle 1734) von Johann Christoph Koecher (1699—1772) gekommen sein. Ihr Erscheinen setzt indes mit Sicherheit Interesse am Lebenswerk von Grotius voraus, dies natürlich gerade auch dort, wo sie gedruckt und verlegt wurden. Halle als Verlagsort dürfte deshalb Beachtung verdienen. Ganz unabhängig hiervon wird aber zu fragen sein, ob die Ubersetzung von Martin Opitz in Halle und in Berlin überhaupt unbekannt bleiben konnte. Was endlich die unmittelbare Bekanntschaft von Johann Heinrich Michaelis mit dem Gesamtwerk von Hugo Grotius betrifft, so gibt es Anhaltspunkte besonderer Art, die sie zu sichern scheinen. Sie werden im Folgenden noch zur Sprache kommen. Vgl. dazu wie zu dem hier Dargelegten K A R L H E I N R I C H R E N G S T O R F : »Hugo Grotius als Theologe und seine Rezeption in Deutschland«. In: Schriftenreihe der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Η. 9 (Theologische, juristische und philologische Beiträge zur frühen Neuzeit). Münster 1986, S. 71 ff. mit Anm. 10. 20. Director war die offizielle Dienstbezeichnung für Johann Heinrich Michaelis in seinem Verhältnis zum Collegium orientale theologicum. 54

21. Da allein der genaue Wortlaut des Titelblattes umfassende Auskunft über die Grundlagen und die Zielsetzung der Ausgabe zu geben vermag, ist der Abhandlung eine Abbildung von ihm beigegeben (S. 65). So vermag der Leser selbst festzustellen, daß Johann Heinrich Michaelis — gewiß aufgrund genauer Überlegung — den traditionellen hebräischen Titel der jüdischen Handschriften und Drucke der Heiligen Schrift des Judentums zum Generaltitel seiner Ausgabe der Biblia Hebraica gemacht hat. Zugleich wird darauf hingewiesen, daß es, offensichtlich durch große Nachfrage bedingt, eine Anzahl von häuslichen Nachdrucken der Biblia Hebraica Halensis von 1720 gibt. Sie sind, da sie mit dem Originaldruck dessen Angaben über den Erscheinungsort (Halle) und das Erscheinungsjahr (1720) teilen, nur an gewissen Eigentümlichkeiten von Titelblatt und Vorrede in der Druckgestaltung zu erkennen. Indes bedarf es eines näheren Eingehens hierauf im Rahmen dieser Abhandlung nicht. 22. Originaltext der Widmung: »[...] Tibi enim, Rex Serenissime, hic labor [...] consecrandus erat, [...] quod [...] mihi benignissime concesso respirandi spatio, et hunc laborem ab interitu, et me sub adversa valetudine fatiscentem, ab obitu per Dei gratiam conservasti [...].« 23. So nach der Vorrede, Cap. I § 9 mit Anm. p. Johann Jakob Rambach wurde nach mehrjähriger weiterer Fortbildung und gleichzeitiger Mithilfe im theologischen Unterricht in Jena 172} von dort in die Philosophische Fakultät in Halle berufen und erhielt hier 1729 nach dem Tod von August Hermann Francke dessen theologisches Ordinariat, folgte aber schon 1731 einem Ruf an die Universität in Gießen und in die dortige Superintendentur. Seit 1724 war er in erster Ehe mit der ältesten Tochter des Hallenser Professors der Theologie Joachim Lange (über ihn siehe weiter unten mit Anm. 71; dort auch mehr über Rambach selbst) verheiratet gewesen, die bereits 1730 gestorben war. Er selbst starb auch bereits 1735. Zu seinen Kirchenliedern gehört »Mein Schöpfer, steh mir bei [...]«, ein Lied, das an die 200 Jahre lang seinen festen Platz im Konfirmationsgottesdienst gehabt hat, im Stammteil des Evangelischen Kirchengesangbuchs aber nicht mehr enthalten ist — leider, so wird gesagt werden dürfen. 24. Er starb am 19. August 1719, nachdem er noch im Jahr zuvor das Ergebnis vieljähriger intensiver Studien in seinem Werk Harmonie und Auslegung der heiligen vier Evangelisten in einem Folioband (Halle 1718) hatte veröffentlichen können. 25. Vgl. Biblia Hebraica, Cap. I § 8 mit Anm. η. 26. Die 848 Blätter mit Text usw. sind übrigens mit hebräischen Zahlzeichen durchgezählt, was nicht ganz ohne Druckfehler abgegangen ist. 27. = »Loca Scripturae parallela«. 28. Diese Einteilung des ersten Teils der christlichen Bibel ist ein Stück Erbe des vorchristlichen Judentums. Sie drückt sich in seiner traditionellen jüdischen Bezeichnung als T E N A C H aus, sofern dies Wort aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Benennungen der drei Abteilungen der Bibel des Judentums gebildet ist: Tora/Pentateuch, TVewiim/Propheten und Äetuwim/Hagiographen (k nach Vokal als ch gesprochen). 29. Vgl. Biblia Hebraica, Cap. V § 9: » [ . . . ] C H R I S T U M , totius Scripturae centrum et nucleum [...]« resp. » C H R I S T U S Scripturae scopus generalis«. 30. Biblia Hebraica, p. 693 b: »Davidi a Spiritu S. dictitatus psalmus [...] Prophetia de eiusque victoria adversus hostem.«

CHRISTO,

55

31. Ebd., p. 665 b: »Psalmus Davidis propheticus de CHRISTO, ubi I. Christi parentis querelae et passiones v. 2 — 19, preces pro liberatione v. 20 — 22, grati animi promissio v.

23-32.«

32. Vgl. Biblia Hebraica, 33·

Vgl. ebd., p.

649

p. 650 ζ. St.

b zu Ps. 2,1.

34. Ganz bewußt wird nicht auf die Auslegung von Jes. 5 3 eingegangen, weil sie durch die christliche Exegese sozusagen vorprogrammiert ist. 35. Von diesen Erfurter Handschriften sind die Kodizes 1 — 3 später in die Preußische Staatsbibliothek in Berlin gelangt. Als wichtigster von ihnen hat sich inzwischen der dritte erwiesen (Alter: vor 1 1 0 0 ) . Vgl. dazu E R N S T W Ü R T H W E I N : Der Text des Alten Testaments. Eine Einführung in die Biblia Hebraica von Rudolf Kittel. Stuttgart 1952, S. 3 2 ; P A U L K A H L E : Die Kairoer Genisa. Berlin/DDR 1 9 6 2 , S. 1 4 4 mit Anm. 2 6 6 . 36. Vgl. darüber oben S. 24. 37. Zu ihm vgl. schon oben S. i^f. 38. JOHANN DAVID MICHAELIS: »Einige Anmerkungen über die Hallische Bibel Johann Heinrich Michaelis, und die darin ausgelassenen merkwürdigen Lesearten Erfurtischer Handschriften«. In: Orientalische und Exegetische Bibliothek. Erster Theil. Frankfurt a.M. 1771, S. i42f. sowie S. 207 — 222; DERS.: »Von einer jetzt angestelleten neuen Vergleichung der Erfurtischen Handschriften«. Ebd., Dritter Theil. Frankfurt a.M. 1 7 7 2 , S. 2 0 8 — 2 1 5 . 39. Orientalische

und Exegetische

Bibliothek,

Erster Theil, S. 212.

40. Ebd., Erster Theil, S. 212; Dritter Theil, S. 209ff. 41. Ebd., Erster Theil, S. 207. In dieser Äußerung von Johann David Michaelis wird erkennbar, in welchem Maß sich in bezug auf die Erarbeitung kritischer Textausgaben die Situation gegenüber der Zeit um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert verändert hat. Die systematische Erschließung der Handschriftenbestände in den großen Bibliotheken Europas hat begonnen, und die Gelehrten haben angefangen, daraus die Folgerungen zu ziehen, wenn überlieferte und im Gebrauch befindliche Texte neu und allen kritischen Ansprüchen entsprechend herauszugeben sind. Zu denen, die in dieser Hinsicht bahnbrechend gewirkt haben, gehört anerkanntermaßen auch Johann David Michaelis selbst. 42. Biblia Hebraica, 43. J .

D.

Vorrede, Cap. I § 4.

MICHAELIS,

Orientalische

und Exegetische

Bibliothek

(Anm.

38),

Erster

T h e i l , S. 2 i 6 f f .

44. Biblia Hebraica, 45· Vgl. J . D . ι. Theil, S. 212f.

Vorrede, Cap. I § 4.

MICHAELIS,

Orientalische

und Exegetische

Bibliothek

(Anm.

38),

46. Es handelt sich um eine ganze Reihe von prophetischen Texten (Jeremía, Amos, Obadja, Micha, Sacharja), die Klagelieder und das Buch Daniel (vgl. Biblia Hebraica, Vorrede, Cap. V § 12). An der Erklärung des Propheten Ezechiel war nach der Vorrede, Cap. I § 2 Anm. d, der bereits früher (siehe oben S. 19) genannte, zum ursprünglichen Kreis der Helfer aus dem Collegium orientale theologicum gehörige Magister Abraham Kall weitgehend beteiligt. Dieser hat übrigens bereits 1706 in Halle unter dem Vorsitz von Johann Heinrich Michaelis De Codicibus MSS Biblico-Hebraicis, maxime Erfurtensi-

56

bus disputiert und damit seinen Magistergrad erworben (so: 3. Fortsetzung der Nachricht [Anm. 19], S. 8; J . D . MICHAELIS, Orientalische und Exegetische Bibliothek, Dritter Theil, S. 210). 47. Biblia Hebraica,

Vorrede, Cap. V § 12, vgl. aber schon ebd., Cap. I § 7.

48. Vgl. dazu den in Anm. 19 zit. Bericht, S. 5 ff. 49. 5. Fortsetzung der Nachricht (Anm. 19), S. 59. 50. Das heißt: die sog. historischen Schriften von Josua bis 2. Könige. $1. Das heißt: die eigentlichen prophetischen Schriften von Jesaja bis Maleachi. 52. Zu beiden vgl. zuletzt Anm. 46. 53. Vgl. zu diesem ganzen Komplex oben S. 24 und vor allem S. 27Í. 54. Vgl. oben S. 28. 55. Vgl. Biblia Hebraica,

Vorrede, Cap. I § 8: »portum inveni«.

56. Vgl. dazu oben S. 24. 57. Ein weiterer Hinweis auf eine Krise dieser Art mag darin liegen, daß, wenn ich richtig sehe, im gleichen Zeitraum das Collegium orientale theologicum aufgehört hat, die ihm bei der Begründung beigelegte Funktion auszuüben, und deshalb etwa 1 7 1 3 der Auflösung anheimgefallen ist. An seine Stelle im System der Francke'schen Stiftungen ist, sicher nicht zufällig, bereits ein Jahr nach dem Tod August Hermann Franckes ( 1727) das von Johann Heinrich Callenberg (1694—1760) 1728 begründete Institutum Judaicum getreten, das zur Basis für weltweite Bemühungen in der Judenmission wurde und bis 1792 tätig gewesen ist. 58. Vgl. das oben S. 25 f. zur Exegese von Johann Heinrich Michaelis Gesagte. 59. Das belegen die zahlreichen Amter, die er in der Selbstverwaltung seiner Universität bekleidet hat (vgl. oben S. 23^). 60. Biblia Hebraica,

Vorrede, Cap. V § 14.

61. P H I L I P P MELANCHTHON: De offido concionatoris dissertatio. Straßburg 1537. Vgl. HANS ENGELLAND: Melanchthon, Glauben und Handeln. München 1931, S. 187 und passim; OTTO K I R N : »Melanchthon, Philipp«. In: RE1 12, 1903, S. 5 1 3 - 5 4 8 , hier: S. 538 f. 62. Vgl. Biblia Hebraica,

Vorrede, Cap. II § 7.

63. = »Scriptura non potest intelligi theologice, nisi intelligatur grammatice.« 64. = »Commentatoris officium est, non quid ipse velit, sed quid sentiat ille, quem interpretatur, exponere.« 65. So T H . KOLDE (Hrsg.): Die Loci communes Philipp Melanchthons in ihrer Urgestalt. 3. Aufl. Leipzig 1910, S. 10. 66. So WILHELM MAURER über Melanchthon in: Die Religion in Geschichte Gegenwart. 3. Aufl. (künftig RGG3) Bd. 4. Tübingen i960, Sp. 838.

und

67. Um so nachdrücklicher wird auf den glänzenden, bereits in Anm. 66 angeführten Art. von WILHELM MAURER über Melanchthon hingewiesen: RGG! 4, i960, Sp. 834— 841. 57

68. Melanchthon hat zwar neben seinen bedeutenden neutestamentlichen auch alttestamentliche Vorlesungen gehalten und sie in Kommentare umgesetzt. Dies geschah allerdings nicht in der ihm sonst zur Verfügung stehenden Souveränität. Den Grund dafür hat er ehrlich, wie er zu sein pflegte, selbst darin erkannt und auch zugegeben, daß er die Sprache der Propheten nur mäßig (mediocriter) beherrsche (vgl. K I R N , »Melanchthon« [Anm. éi], S. 540). 69. Als Beleg genügt der Verweis auf einschlägige Äußerungen in der Vorrede zur Biblia Hebraica. jo. Vgl. zu ihm schon oben in Anm. 23. 71. EXKURS / / : Zur Klärung der Sachlage mag hilfreich sein, was zusätzlich berichtet werden kann. In Jena war Johann Jakob Rambach, als er den Ruf nach Halle erhielt, mehrere Jahre der Hausgenosse und Schützling des Professors der Theologie Johann Franz Buddeus gewesen, der ihm schon aus seiner Tätigkeit als Moralphilosoph in Halle (1693 — 1705) bekannt war, und zwar als ein Mann, der bei unbestreitbarer orthodoxer Frömmigkeit nicht zu den (modernen) Pietisten gehörte. Durch den Tod dieses seines Wohltäters im Jahr 1729 verlor er somit seine Existenzgrundlage in Jena. Insofern erreichte ihn der Ruf nach Halle im rechten Augenblick. In Halle war er aber schon vor seiner Abwanderung nach Jena in eine Auseinandersetzung innerhalb der Theologischen Fakultät über Verständnis und Praxis der Buße hineingezogen gewesen, in der er sich gegen August Hermann Francke, der den nicht lange zuvor zur Regierung gekommenen preußischen König Friedrich Wilhelm I. hinter sich hatte, auf die Seite von Johann Heinrich Michaelis gestellt hatte. Das Wiederaufflammen dieses Konflikts nach dem Tod Franckes (1727) unter dessen Sohn Gotthilf August in der Auswirkung neuer königlicher Anordnungen im Jahr 1729, die 1736 sogar noch einmal und mit Nachdruck wiederholt worden sind, mag Rambach bestimmt haben, mit Halle auch Preußen zu verlassen (vgl. hierzu A L BRECHT R I T S C H L : Geschichte des Pietismus. Bd. 2: »Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts«. Erste Abtheilung. Bonn 1884, S. 292f.). E r wahrte so seine innere wie auch seine äußere Freiheit, wie er sie verstand. Leider ist Ritsehl nicht auch auf die Frage eingegangen, welche Rolle Michaelis' N e f f e Christian Benedikt (zu ihm siehe oben S. 19) in den angesprochenen Streitigkeiten gespielt hat. Als weiteren Partner von Johann Heinrich Michaelis nennt er nur seinen »streitbaren« (so D I E S T E L , Geschichte des Alten Testaments [Anm. 1], S. 418) Fakultätskollegen (seit 1709) Joachim Lange (1670—1744); Näheres über ihn bei G E O R G M Ü L L E R i n der RE1 1 1 , 1902,S. 261 — 264). Er war Johann Heinrich Michaelis nicht nur durch gemeinsame Beziehungen zu dem Freiherrn C . H. von Canstein verbunden, sondern auch durch das Prinzip strenger Wissenschaftlichkeit in der Auslegung der Bibel unter Wahrung des pietistischen Verhältnisses zu ihr, erreichte ihn aber bei weitem nicht an Bedeutung. Wenn sich Christian Benedikt Michaelis, anders als sein Kollege Lange, in dem vorliegenden Fall zurückhielt, so paßt das zu einer gewissen Farblosigkeit seines Wesens, die ihn sowohl von seinem Onkel Johann Heinrich wie auch von seinem Sohn Johann David unterscheidet und vor allem zeitbedingt gewesen sein dürfte. Sie mag indes einen zusätzlichen Grund darin gehabt haben, daß er an einem konfessionellen Luthertum nicht eigentlich interessiert war. Zur bibelwissenschaftlichen Zusammenarbeit von Joachim Lange mit Johann Heinrich Michaelis vgl. noch die Bemerkung über ihn im vorletzten Abschnitt S. 48 sowie Anm. 1 1 3 . 72. Vgl. zu ihm schon oben S. 19f.

58

73· Auf sie hat R I T S C H L , Pietismus, Bd. 2 (Anm. 71), S. 567, hingewiesen. 74. EXKURS III: Zu vermuten ist, daß im Hintergrund der Kritik des jungen Johann David Michaelis derselbe Konflikt über Verständnis und Praxis der Buße zwischen Francke und einer Minderheit der anderen Angehörigen der Theologischen Fakultät steht, zu dem in Anm. 71 = Exkurs II bereits einiges gesagt ist. Zu ihm ist es mit Sicherheit gekommen, längst bevor Johann David Michaelis herangewachsen war; er hat aber bis in seine Studienzeit und noch darüber hinaus gedauert. Was im jetzigen Zusammenhang von Interesse ist, ist nur, daß durch Joachim Lange (über ihn siehe schon Anm. 71 = Exkurs II) als einen der Opponenten gegen Francke bzw. durch die von ihm vertretene Ansicht die lutherischen Bekenntnisschriften zur Geltung gebracht sein dürften. Es ist bekannt, daß er so auch sonst — Beispiele bei RITSCHL, Pietismus (Anm. 71), S. 448, sowie ebd., Bd. 3: »Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts«. Zweite Abtheilung. Bonn 1886, S. 54 - verfahren ist. In diesem Fall tat er es allerdings vergeblich. Das lag letztlich aber weniger an August Hermann Francke, der bereits 1727 gestorben war, als vielmehr an seinem Sohn und Erben Gotthilf August Francke. Als einem unfreien frömmelnden Mann fehlte ihm jedes Verständnis für theologische Probleme; dagegen war er erbbewußt und herrschsüchtig (so nach dem Urteil von RITSCHL, ebd., Bd. 2, S. 560, der sich dafür sogar auf August Tholuck berufen kann) und hat es zudem wie sein Vater verstanden, sich das Wohlwollen und die weitgehende Unterstützung seines Landesherrn, des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I., der kein Freund des Luthertums war, zu sichern, dies mit allen Folgen, die das damals haben konnte, wenn nicht sogar haben mußte. So dürfte nicht auszuschließen sein, daß auch Johann David Michaelis seinen Teil an den Folgen seiner wie auch immer begründeten oder auch nicht begründeten Absage an Halle und Preußen zu tragen gehabt hat: Als bei zunehmendem Alter aus Gründen, die hier auf sich beruhen können, sein lange Zeit sehr großes Ansehen in Göttingen dahinzuschwinden begann und dementsprechend auch sein Einfluß geringer wurde, blieb ein von ihm erhoffter Ruf an eine der preußischen Universitäten aus. 75. Vgl. dazu die letzten Sätze von Anm. 74 = Exkurs

III.

76. Es mag doch hier einmal darauf hingewiesen werden, daß noch fast 200 Jahre nach dem Erscheinen von Johann Heinrich Michaelis' Biblia Hebraica der bedeutende deutsche Alttestamentier Bernhard Stade (1848 — 1906, zuletzt in Gießen) ihren Text dem zusammen mit seinem Fachkollegen Carl Siegfried ( 1 8 3 0 - 1903, zuletzt in Jena) verfaßten Wörterbuch zum Alten Testament zugrunde gelegt hat: Hebräisches Wörterbuch zum Alten Testament. Bearb. von C . SIEGRIED und B . STADE. Mit zwei Anhängen. Leipzig 1893. 77. Bezeichnenderweise ist es dem englischen Bibelforscher Benjamin Kennicott (1718— 1783) mit seinem in zwei Bänden vorgelegten Vetus Testamentum Hebraicum cum variis lectionibus. Oxford 1776— 1780, dessen Entstehung Johann David Michaelis mit besonderer Sympathie und mit großen Hoffnungen begleitet hat, nicht anders als Johann Heinrich Michaelis ergangen: Auch er hat sich mit Mitarbeitern abfinden müssen, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren, und es trotz einer Riesenarbeit in Gestalt von umfangreichen Handschriftenkollationen nur zu einer Variantensammlung von relativ geringem Wert für die Arbeit am Text gebracht (vgl. dazu WÜRTHWEIN, Text des Alten Testaments [Anm. 35], S. 34Í.). Man tut gut, sich das zu merken. Es hat eben sehr lange gedauert, bis es möglich wurde, im kritischen Umgang mit dem Text des Alten Testaments mit Hilfe gut vorgebildeter und urteilsfähiger Mitarbeiter und aufgrund umfassen59

der Materialsammlungen zu erkennbaren und auch begründeten Fortschritten zu kommen. Im Grunde ist das von beiden, Johann Heinrich Michaelis und Benjamin Kennicott, angestrebte Ziel auch heute noch nicht ganz erreicht, wie die zur Zeit laufenden verschiedenen Projekte beweisen. 78. In diesem Werk hat Johann Heinrich Michaelis selbst die Psalmen, Hiob, das Hohelied, Esra und das 1. Buch der Chronik bearbeitet, während er die Bearbeitung der Sprüche, der Klagelieder und Daniels seinem Neffen Christian Benedikt Michaelis und die Bearbeitung von Ruth, Prediger, Esther und Nehemia sowie des 2. Buchs der Chronik seinem bewährten jüngeren Mitarbeiter an der Biblia Johann Jakob Rambach überlassen hat. Leider habe ich keine Gelegenheit gehabt, selbst Einblick in dies Werk zu nehmen, und muß mich, was es betrifft, auf die Mitteilungen anderer, vor allem natürlich solche von LUDWIG D I E S T E L (siehe oben Anm. 1) verlassen, der sich intensiv mit ihm befaßt hat (vgl. Geschichte des Alten Testaments, S. 4 1 7 f.). Danach zeigt sich hier in den eigenen Beiträgen von Johann Heinrich Michaelis erneut die für ihn charakteristische Verbindung zwischen der Uberzeugung, in allen Teilen des Alten Testaments sei bestimmend der Vorhinweis des Geistes Gottes auf den kommenden Christus, und strenger wissenschaftlicher Besonnenheit, wie er sie verstand. Diese recht allgemein gehaltene Bemerkung muß hier genügen; auf eine Äußerung in der Hiob-Auslegung ist ohnehin noch zurückzukommen (vgl. unten S. 39). — Um einen ersten Eindruck von dem Umfang des Werks, aber auch von seinem Charakter zu ermöglichen, sind dieser Arbeit Abbildungen der Titelblätter der drei umfangreichen Bände beigegeben. Auf ihren Inhalt im allgemeinen wie im einzelnen noch weiter einzugehen, ist hier nicht der Ort, weil es den Rahmen unserer Darstellung überschreiten würde. Die Abb. s. S. 65 ff. 79. Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist seine Bestimmung der geistlichen Absicht des Chronisten: »ad novam de venturo Messia spem concipiendam erigere« (Zitat nach D I E STEL, Geschichte des Alten Testaments [Anm. 1], S. 418). 80. Es genügt hier, auf die jahrelangen Streitigkeiten zwischen August Hermann Francke und dem Philosophen Christian Wolff (1679—1754), der seit 1706 in Halle lehrte, hinzuweisen (vgl. dazu GÜNTHER PATZIG: In: RGG3 6, 1962, Sp. i 8 o i f . ) . 81. Vgl. zu ihm schon oben Anm. 19 = Exkurs

1.

82. Vgl. zu ihnen oben S. 39f. 83. Nach D I E S T E L , Geschichte des Alten Testaments (Anm. 1), S. 4 1 7 f . 84. S o D I E S T E L , e b d . , S. 4 1 8 . 85. S o D I E S T E L ,

ebd.

86. Man beachte in diesem Zusammenhang etwa die anspruchsvolle und selbstbewußte Formulierung des Titels einer von ihm verfaßten Einführung in den neutestamentlichen Brief des Jakobus: Introductio Historico-Theologica in S. Jacobi Minoris, cognati et Apostoli Domini nostri, epistolam Catholicam diligenter scripta et edita. Halle 1722. 87. Zu ihm vgl. unter allgemeinen Gesichtspunkten GERTRUD S C H U B A R T - F I KENTSCHER: Christian Thomasius: Seine Bedeutung als Hochschullehrer am Beginn der deutschen Aufklärung (mit Bibliographie und Literaturverzeichnis). B e r l i n / D D R 1977 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse. Bd. 1 1 9 , H . 4), in theologischer Sicht den ausgezeichneten Artikel von HANS HOHLWEIN über Thomasius in: RGG1 6, 1962, Sp. 866f., neben dem

60

älteren, aber immer noch informativen Artikel von H E I N R I C H H O F F M A N N in:

RE!

19, 1907, S. 7 3 3 - 7 3 9 · 88. Des näheren Eingehens auf ihn bedarf es hier nicht, da es zu den hier besprochenen Vorgängen erst nach seinem T o d gekommen ist. 89. So gab es z . B . einmal Streit, weil Francke die Gattin von Thomasius »wegen auffallender Kleiderpracht« vom Abendmahl zurückgewiesen hatte (so nach RE1

19,

S- 737)· 90. Vgl. dazu die 1688 erschienene Schrift von T H O M A S I U S : Institutions dentiae divinae.

iurispru-

9 1 . Grundlegend f ü r die Folgezeit mit den nunmehr anzusprechenden Auseinandersetzungen ist eine von H U G O G R O T I U S hinterlassene Schrift geworden, die allerdings erst zwei Jahre nach seinem T o d veröffentlicht worden ist: De imperio Summarum potestatum circa sacra. Commentarius posthumus. Paris 1647. Als Thomasius seinerseits 1688 zur Sache das Wort nahm, lag ihm außer dieser Arbeit von Grotius, die ihn stark beeinflußte, auch schon das einschlägige Votum SAMUEL PUFENDORFS vor, das 1687 erschienen w a r und keineswegs in allem mit Grotius übereinstimmte, vielmehr weit radikaler verfuhr: De habitu religionis Christianae ad vitam civilem. Liber primus. Z u Thomasius' Verhältnis zu Pufendorf siehe weiter unten. Was in diesem Absatz noch folgt, beruht wesentlich auf den Ausführungen von H O F F M A N N über Thomasius (Anm. 87), S . 738. 92. So wörtlich H O F F M A N N , ebd. 93. Siehe oben S. 37. 94. Vgl. dazu D I E S T E L , Geschichte des Alten Testaments (Anm.I), S. 471 f., mit Verweis auf L A N G E S Schrift Mysterium Christiac Christianisme in fasáis typicis. Halle 1 7 1 7 . H . H o f f m a n n ist in seinem Artikel über Christian Thomasius in der RE1 (Anm. 87) auf diesen Komplex ebensowenig eingegangen wie H . Hohlwein in seinem entsprechenden Artikel in AGG·» (s. ebd.). 95. Näheres über sie vgl. oben S. 38 mit A n m . 78. 96. Vgl. oben S. 39. 97. Vgl. darüber schon oben S. 40 f. 98. EXKURS IV: Mit dem gegen H u g o Grotius erhobenen V o r w u r f , er sei zumindest ein Sympathisant der sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem in Polen konsolidierenden antitrinitarischen sozinianischen Bewegung (vgl. dazu RGG3 6, 1962, Sp. 207 — 2 1 0 unter »Sozinianismus« nach dem großen Artikel von O T T O Z Ö C K LER: »Socin und der Socinianismus«. In: RE3 18, 1906, S. 4 5 9 - 4 8 0 ) gewesen, wenn nicht sogar ein Sozinianer oder wenigstens ein Kryptosozinianer, hat der Erlanger Professor der Theologie und Schwiegersohn des Göttinger Theologen und Universitätskanzlers Lorenz von Mosheim ( 1 6 9 4 - 1 7 5 5 ) C H R I S T I A N E R N S T VON W I N D H E I M ( 1 7 2 2 — 1766) in der ausführlichen Vorrede zu seiner Neuausgabe von G R O T I U S ' Annotationes in Novum Testamentum. 2 Bde. Leipzig 1755 —1757, aufgeräumt (vgl. nur Praefatio § V I I I unter Verweis auf Grotius' eigene Auslegung von 2. Petr. 2,1 sowie auf seine Bemerkungen z u j o h . 1 , 1 unter Hinweis a u f j o h . 17,5). Grotius hat zwar während seines Pariser Exils über den aus Holstein stammenden, während seines Theologiestudiums zum Unitarismus bekehrten Martin Ruarus (1589 — 1657) unmittelbaren Kontakt mit der sozinianischen Bewegung gehabt, dies aber, wie es scheint, nicht, weil er ihn gesucht, 61

sonders weil die andere Seite ihn für sich zu gewinnen versucht hat. Er selbst hat sich nie, auch nicht vorübergehend, zum Sozinianismus bekannt, sich vielmehr deutlich von ihm abgesetzt, wie seine Schrift Defensio fidei catbolicae de satisfactione Christi advenus F. Socinum (Leiden 1617) ausweist. Er hat so die Sozinianer sogar gegen sich auf den Plan gerufen. Das geht u.a. daraus hervor, daß der führende Sozinianer J O H A N N C R E L L (1590 — 1631) es sich hat angelegen sein lassen, die grundlegende antitrinitarische Schrift von F A U S T O S O Z Z I N I (1539 — 1604) aus dessen Zeit in Basel (1574— 1578) De Jesu Christo Servatore in einer Neuausgabe in aller Form gegen ihn zu verteidigen: »Responsio ad H. Grotti librum de satisfactione Christi«. Racoviae 1623 (s. VON WINDHEIM, Praefatio § VI = p. b j / b Anm. und vgl. Z Ö C K L E R , »Socinianismus«, S. 464). Es darf wohl angenommen werden, daß das, was hier aus den Quellen dargelegt ist, zur Klarstellung der Position von Grotius hinsichtlich des zentralen Problems der Christologie genügt. Das Gesagte soll aber nicht abgeschlossen werden, ohne daß die warme Selbstverständlichkeit hervorgehoben wird, die den Lutheraner C. E. von Windheim in § IV seiner Praefatio von dem reformierten Hugo Grotius als GROTIUS noster sprechen läßt. 99. Siehe

VON W I N D H E I M ,

Praefatio (Anm. 98) § VIII = p. c/b Anm.

100. Es verwundert daher nicht, wenn in dem in verschiedener Hinsicht sehr aufschlußreichen Verzeichnis der Subskribenten zu der von dem Altdorfer Bibelwissenschaftler Georg Johannes Ludwig Vogel (1742— 1776) besorgten und nach seinem Tod durch seinen Kollegen Johann Christoph Döderlein (1745 —1792) zu Ende geführten Ausgabe der Annotationes in Vetus Testamentum von H U G O G R O T I U S , die 1775 /76 in Halle (allerdings nicht im Verlag des Waisenhauses) erschienen ist, auch der einzige Sohn Rambachs, Jakob Theodor Franz Rambach (1733 — 1808), zuletzt Konrektor in Frankfurt a. M., erscheint. Einiges in diesem Verzeichnis, das von allgemeinerem Interesse ist, habe ich in meinem in Anm. 19 genannten Aufsatz auf S. 8of. zusammengestellt. 101. Zu diesen vgl. oben S. 38. 102. Dazu vgl. oben Anm. 86. 103. Vgl. dazu

RITSCHL,

Pietismus (Anm. 71), S. 392Í.

104. Könnte es sich etwa um einen Privatdruck handeln? In den von A. H. F R A N CKE in seinen Segens-voile Fußstapfen [...] Gottes als Nachricht von dem Waysen-Hause [ . . . ] (s. oben Anm. 19) und deren sechs Fortsetzungen (1701 — 1709) mitgeteilten Listen der Veröffentlichungen der seit 1701 tätigen Druckerei des Waisenhauses und der von dessen Verlag bzw. »Buchladen« übernommenen und vertriebenen Schriften erscheint Licht und Recht nicht. 105. Der Titel Licht und Recht könnte auch an Joachim Lange (zu ihm siehe zuletzt oben S. 42) als Verfasser denken lassen, da er i729ff. sein umfassendes Bibelwerk in sieben Foliobänden unter diesem Titel veröffentlicht hat. Lange trat allerdings erst 1709 durch seine Berufung in die Theologische Fakultät in ein offizielles Verhältnis zu Halle und war hier später besonders mit Johann Heinrich Michaelis verbunden (siehe oben S. 42ff.). So liegt es auch näher anzunehmen, daß Lange im Titel seines Bibelwerks den Titel der Zeitschrift Licht und Recht mit der Zustimmung ihres Begründers hat Wiederaufleben lassen, als etwa ernstlich mit der Möglichkeit zu rechnen, daß er selbst den Titel seines Bibelwerks schon rund 25 Jahre vor dessen Erscheinen geprägt und erstmals verwendet habe, um ihn dann zu erweitern und erneut von ihm Gebrauch zu machen. 106. A. H. Francke selbst hat ihn in seinem früher zitierten Bericht der zweiten Fortsetzung seiner Nachricht (s. Anm. 19), S. 6 über das Collegium orientale theologi62

cum geschildert als »mit Edirung einer Hebräischen Bibel beschäftiget [...], dergleichen etwa noch zur Zeit nicht wird ans Licht gebracht worden seyn [...]«. 107. Von möglichen Erwartungen ist früher (S. 20 ff. bzw. 33 ff.) ausführlich die Rede gewesen. 108. Vgl. dazu oben S. 24 sowie S. 3off. 109. Vgl. PODCZECK, »Arbeit am Alten Testament in Halle« (Anm. 1), S. 1066. 1 1 0 . Vgl. darüber oben S. 27. i n . Vgl. oben S. 2 i f .

1 1 2 . Vgl. oben S. 16, 18, 22, 4¿f.

1 1 3 . Wenigstens hingewiesen sei auf das mehr als 800 Seiten umfassende Werk von JOACHIM LANGE: CLAVIS EBRAEI CODI CIS, qua Secundum Seriem Librorum, Cap. ac Vers. Vocum Ebraeorum LATINA TRANSLATIO ac ANALYSIS una cum RADICIBUS exhibentur: in gratiam eorum, qui atra difficultatem ac morant, vel suo Marte feliciter, vel sub viva institutione felicius in ipsius sacri Codicis lectione ac repetitione, progredì solunt. Accedit triplex Memoriae subsidium una cum Nucleo Grammaticae. Halle (Buchhandlung des Waisenhauses) 1707. Es handelt sich um eine fortlaufende Hilfe bei der Ubersetzung des Alten Testaments. Der Verfasser war, als es erschien, noch der hochangesehene-Rektor des Friedrichwerderschen Gymnasiums in Berlin. Zu ihm vgl. zuletzt S. 45 mit Anm. 105. 1 1 4 . Vgl. oben S. 42.

1 1 5 . Vgl. etwa oben S. 42Í.

1 1 6 . Erfreulicherweise stand mir wenigstens von ihr ein vollständiges Exemplar des Erstdrucks zeitweise zur Verfügung. 1 1 7 . Seine speziellen grammatikalischen Untersuchungen etwa wie diejenige über die hebräischen Akzente gelten allerdings als weitgehend überholt und bedürften deshalb wahrscheinlich einer intensiven Beschäftigung mit ihnen nicht. 1 1 8 . Näheres über sie ist in Anm. 98 = Exkurs IV mitgeteilt. 1 1 9 . Näheres darüber vgl. in Anm. 100. 120. Uber Ernesti vgl. den allerdings ziemlich weit zurückliegenden, dafür aber sehr g r ü n d l i c h e n A r t i k e l v o n G E O R G H E I N R I C I in d e r RE3

5, 1 8 9 8 , S. 469 — 474.

1 2 1 . NACHWORT: Diese Arbeit widme ich in Dankbarkeit der Erinnerung an die einstige Theologische Fakultät der Universität in Halle. Als sie 1935 eines Nachfolgers für ihr am 8 . 1 1 . 1 9 3 5 verstorbenes Mitglied Hans Windisch (1881 - 1935) auf dem einen ihrer beiden Lehrstühle für Neues Testament bedurfte, fiel ihre Wahl auf mich, den damaligen Tübinger Privatdozenten für neutestamentliche Exegese und Zeitgeschichte. Bis heute bewegt mich die Erinnerung an meinen dadurch bedingten Besuch in Halle und an das Vertrauen und die Wärme, mit denen ich aufgenommen wurde und in denen die notwendigen Verhandlungen geführt wurden. Wie zu erwarten, lehnte der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung es ab, mir die gewünschte Berufung nach Halle zuteil werden zu lassen, weil ich mich während des Kirchenkampfs in Württemberg, vor allem während der Haushaft des Landesbischofs D. Wurm, als Glied der Bekenntnisbewegung erheblich exponiert hatte und so in den Augen der damaligen Machthaber mit gutem Grund in den Verdacht der politischen Unzuverlässigkeit geraten war. Dies wurde mir anläßlich einer Verhandlung in Berlin in der damals üblichen Weise mündlich eröffnet: »Solange wir [...], [...] Sie nicht [...]!« Wie auch immer die Sache damals auslief — es bleibt bei meiner Dankbarkeit vor allem

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gegenüber dem damaligen Dekan der Fakultät, Friedrich Karl Schumann (1886— i960), und Otto Eißfeldt (1887— 1973), dem Inhaber des einen Lehrstuhls für Altes Testament. Dieser, der nach dem Zusammenbruch des sog. Dritten Reichs nochmals das damals besonders verantwortungsvolle Amt des Rektors der Universität zu führen hatte, hat mir dann zusammen mit dem Missionswissenschaftler, Religionshistoriker und Drawidologen Arno Lehmann (1901 — 1984) als langjährigem Dekan und dem mir seit Jahrzehnten befreundeten Neutestamentier Gerhard Delling (1905 — 1986) ein gutes persönliches und wissenschaftliches Verhältnis auch zu der jetzigen Sektion Theologie der Martin-LutherUniversität vermittelt. So ist es mir eine Freude, die Erinnerung an einst damit abzuschließen, daß ich auch den nunmehrigen Hallischen Kollegen als den Nachfahren und Erben von August Hermann Francke und Johann Heinrich Michaelis meine Verbundenheit bezeige und ihnen meine aufrichtigen Wünsche für ihr eigenes Wirken wie für die Arbeit ihrer Sektion in Gegenwart und Zukunft übermittele.

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6. Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg 11688171}). Sctt ¡701 Kòmg Friedrich F in Preußen. Begründer der Universität Halle. Geschenk des Medizmprojessors Friedrich Hoffmann • i6bc — 1742 ., der fünfmal zum Rektor geuahlt wurde und die Statuten der Medizinischen Fakultät entwarf. Gemälde eines unbekannten Künstlers, 174c. {Zentrale Kustodte der Martin-Futher-Universität Halle-Wittenberg I.

7- Friedrich Wilhelm /., König von Preußen (i/ij ~ 1/40). Als Kronprinz erster Rector Magnificentissimus Academiae Halensis. Gemälde eines unbekannten Meisters. (Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).

Christian Thomasius (i6}¡ — 1728). Als Senior der Akademie und ersternannter Professor geistiger Begründer der Universität Halle. Konzilsaalbild. Johann Christian Heinrich Sporleder (geb. 17191, L'nuersitatsmaler. (Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg/.

9· Christian Wolff (1679 — 1754). Philosoph und Mathematiker. Er erhielt auf Empfehlung von Gottfried Wilhelm Leibniz 1707 eine Professur für Mathematik an der »Fridericiana« in Halle und wurde zum bedeutendsten Philosophen des Rationalismus seiner Zeit. Konzilsaalbild. Johann Christian Heinrich Sporleder (geb. 1719), Universitätsmaler. (Zentrale Kustodie der M artin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). 10, und Ii. Theologen (rechte Seite) und Juristen (übernächste Seite) der Universität Halle. »Sieben Platten mit Portraits gelehrter Leute«, Tab. XXXI und XXXII in: Johann Christoph von Dreyhaupt: Pagvs Neletici et Nvdzici, Oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und ErtzStifft, nunmehr [...] Herzogthum Magdeburg gehörigen Saal-Kreyses, [.. ñJ Insonderheit der Städte Halle, Neumarckt, Glaucha, [...]. 2 Tie. Halle, in Verlegung des Waysenhauses 1755 (' 1749/50), Tl. 2, nach S. 756 (diese Chronik wird im folgenden zitiert; Dreyhaupt, Halle). (Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel).

¡Tal· XXXI

TOH WILHELM BAIElI ¿^IhS). xJrofasfvr Orckn,. ac Jrun us Jhorec i.Jlcaètm Srider. JCallerifu:

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ÏOACHIMUS LANGE SM.3). Ore!in. in Jlcàè. t Haäenji.

! G OTTJJ:. WC. FHAN CK Ε,SIGISi1 lACOBBAWGARTEv,ΓΟΗ. JAC RAMB/l ( ΊΙ SSM3. ψ-çtf. Ordin: ar Sg.07i .3). wW- Srrtmar LHalloww) Titea ac Orphanofr. 3)iratcrAerr\tnairJheoto(f. in urft Super(nííAr), zu _ (fressen,. (/(auch.. ¿Director. • Acad zXaUerix.

lOHANNGEOHG SMON. CHRISTIAN.THOMASIUS ID» etS'rafeSforSubl.OrY): mJlmèem&rêeric Xallensi KT. I c t V e ^ m ^ a C c n / i h i i p i i Aaiócm,X\uüm[(j

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WALTER

SPARN

Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten

Den Beitrag der protestantischen Theologie zur werdenden Aufklärung pflegt man hauptsächlich in der religiösen Bewegung des Pietismus zu suchen, einer Bewegung, deren subjektiver Ausgangspunkt und deren praktische Absicht sie zweifellos zum natürlichen Verbündeten der aufklärerischen Kritik an den traditionalen Autoritäten und ihren Institutionen machte. Ein wichtiges Zeugnis dafür stellt die 1694 eröffnete Universität Halle dar, die von einer neuen Jurisprudenz — Christian Thomasius — und von einer neuen Theologie — August Hermann Francke — gleichermaßen getragen und gefördert worden ist. 1 Freilich war dieses Bündnis von A n fang an nicht eindeutig; schon Thomasius und Francke verfolgten keineswegs nur gemeinsame Interessen. Gewiß konnte sich auch die pietistische Frömmigkeit, insbesondere in ihren pädagogischen Zielen, dem sich modernisierenden preußischen Staat zuordnen, wie in der Unterredung Frankkes mit Friedrich Wilhelm I. sogleich 1 7 1 3 auch ausdrücklich geschehen; 2 aber sie mußte mit dem sich weiter entwickelnden philosophischen Rationalismus der Aufklärung in Widerstreit geraten, wie spätestens anläßlich der von Joachim Lange angestoßenen, von den Hallenser Theologen insgesamt begrüßten Vertreibung Christian Wolffs aus Halle im Jahr 1723 klar zutage trat. Doch hat auch dieser Bruch das ursprüngliche Bündnis der pietistischen Theologie mit aufklärerischer Wissenschaftlichkeit nicht beendet, das Bündnis freilich mit deren früher, vorwolffischen Gestalt: mit der Eklektik. Den eklektischen Umgang der Theologie mit ihrer Tradition ausgebildet und durchgeführt zu haben, stellt den Beitrag der protestantischen Theologie zur frühen Aufklärung dar. Diesen Beitrag lieferte, noch vor Göttingen, eben Halle; der wichtigste N a m e ist hier Johann Franz Budde. V o m selben Halle nimmt dann, in den vierziger Jahren, auch die theologische Aufklärung im engeren Sinne ihren Ausgang; von einer überraschenden (übrigens noch vor der Rückkehr Wolffs geknüpften) Verbindung pietistischer und wolffianischer Motive — einer Verbindung, die dann allerdings zugleich das Ende der hallisch-pietistischen Theologie und der von ihr begünstigten Eklektik einleitete; der hier vor allem zu nennende Theologe ist Siegmund J a k o b Baumgarten. Die

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Namen Buddes und Baumgartens markieren den Anfang und das Ende einer Phase des Ubergangs von der altprotestantischen zur neuprotestantischen Theologie, zur theologischen Aufklärung im engeren Sinne. Für diesen Zeitraum hat Johann Gottfried Eichhorn 1793 die bis heute gebräuchliche, in mancher Hinsicht allerdings nicht sehr glückliche Bezeichnung »Ubergangstheologie« eingeführt. 3 Man könnte ihn ebenso gut die Phase der »eklektischen Theologie« nennen.

/. Pietismus und

Eklektik

Unter »Eklektik« versteht man gewöhnlich ein philosophisches Phänomen der werdenden Aufklärung: philosophia eclettica, im Unterschied zu jeglicher philosophia sectaria. Das ist gewiß auch im Blick darauf richtig, daß Eklektik eine nicht durch die »Vorurteile« einer »Schulmeinung«, sondern durch das eigene Urteil bestimmte Art und Weise darstellte, sich auf die philosophische Tradition zu beziehen, sich mithin auch von ihr zu unterscheiden, daß Eklektik also der Ausdruck eines philosophischen Selbstverständnisses, einer neuen libertas philosophica war; sie ist ja verbunden mit Namen wie Gerhard Johann Vossius, Johann Christoph Sturm oder Daniel Georg Morhoff, schließlich und entscheidend mit dem Christian Thomasius'. 4 Aber auch in der protestantischen Theologie des ausgehenden 17. Jahrhunderts erhielt das eklektische Verhältnis zur Tradition eine tragende Rolle, und dies in Verstärkung und Verschiebung einer schon gebrauchten Distinktion zwischen »Historie« und »Dogma«; verschoben wurde diese Unterscheidung jetzt zugunsten eines größeren Bereiches bloß historischer Überlieferung, und verstärkt wurde sie zugunsten der größeren Freiheit von dogmatischen, d.h. autoritativen Ansprüchen an ihre Untersuchung und Bewertung. Der hallische Theologe, der sich hier entschieden und folgenreich engagiert hat, eben Johann Franz Budde, verkörpert dabei dreierlei: erstens das Bündnis von Theologie und Philosophie in Sachen eklektischer Geschichtsschreibung; zweitens den Zusammenhang der Eklektik überhaupt mit der Theologie des 17. Jahrhunderts, nämlich mit der traditionellen theologischen Einschätzung der möglichen Autorität von Historie; drittens das klare Bewußtsein einer neuen methodischen Situation der Theologie. 5 ι . Budde wurde 1693 v o n Coburg, wo er Griechisch und Latein lehrte, als Moralphilosoph nach Halle berufen, und er blieb dies bis zur Übernahme einer theologischen Professur im Jahr 1704; Theologe war er dann nach 1705 in Jena, wo er schon zwischen 1689 und 1692, nach einer Wittenberger Zeit, als philosophischer Adjunkt gelehrt hatte, besonders interessiert übrigens an orientalischen und überhaupt historischen Studien. Schon als Philo72

soph hat Budde auch theologisch gearbeitet; 1695 wurde er Lizentiat der Theologie und hielt theologische Vorlesungen: E r verkörpert noch einmal (wie nach ihm nur noch wenige bedeutende Zeitgenossen, etwa Christian August Crusius) jene typisch protestantische Personalunion zweier prinzipiell verschiedener, aber methodisch und final einander zugeordneter Disziplinen, wie sie die Universitätsreform Melanchthons etabliert hatte. Freilich blieben Buddes theologische Äußerungen von den zünftigen Theologen Halles nicht unangefochten; die Fakultät, unter dem maßgeblichen Einfluß Philipp J a k o b Speners organisiert, war von Parteigängern Α . H . Franckes besetzt: Joachim Justus Breithaupt (schon seit 1691 Direktor des neu gegründeten Predigerseminars), Paul Anton, der 1695 den am ehesten noch mit Budde übereinstimmenden, wie dieser aus der Jenenser Schule kommenden Johann Wilhelm Baier ersetzte, und seit 1698, vom Predigerseminar übernommen, auch Α . H . Francke selbst. Freilich gab es auch hinreichend deutliche theologische Gemeinsamkeiten zwischen Budde und diesen Kollegen, insbesondere hinsichtlich der Einschätzung der religiösen Situation und des Verständnisses der theologischen Aufgabe. Sie erlaubten ihm nicht zuletzt, die hier interessierende methodische Neuerung sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie einzuführen: den eklektischen U m gang mit der Historie. In seinen Elementa pbilosophiae Instrumentalis (1703), dem ersten, wenn auch nicht zuerst erschienenen Band seiner Institutiones pbilosophiae eclecticae (1697— 1706), beschreibt Budde, an das (selbstverständlich) biblische Argument 1 Thess. 5 , 2 1 : »alles prüfet, das Gute behaltet« anknüpfend, das Verhältnis des Philosophen zu seinen historischen Traditionen nicht anders, als er wenig später das Verhältnis des Theologen zu seiner historischen Tradition beschreibt und vollzieht. 6 Freilich geht die eklektische Freiheit in der Philosophie weiter als in der Theologie, denn die historische Partikularisierung etwaiger Geltungsansprüche hat in der Theologie an der kanonischen und symbolischen Autorisierung bestimmter Uberlieferungsbestände ihre unüberschreitbare Grenze. So kann sogar der Inbegriff autoritativer Philosophie, die schularistotelische Metaphysik, um ihren Wirklichkeitsanspruch gekürzt, zu einem Begriffsfundus gleichsam entzaubert werden. 7 Dagegen steht die Autorität der Bibel und der geltenden Bekenntnisse selbstverständlich nicht zur Disposition. Nichtsdestoweniger hat auch der Theologe mit menschlicher Geschichte zu tun, und Historie in diesem Sinn ist alles, was nicht »Theologie selbst«, d.h. Dogma, Glaubensartikel oder, gut protestantisch, »Auslegung der Heiligen Schrift« darstellt, was darum mit weltlichen Gegenständen zusammen in ein historisches Lexikon eingestellt oder als Philosophiehistorie dargestellt werden kann. 8 Dieses, auch w o dogmatisch motiviert, doch methodisch neutrale, vom Interesse am Dogmatischen sich unterscheidende Interesse an der Historie belegen Buddes zahlreiche Einzeluntersuchungen; für die Folgezeit maßstäblich wurden 73

dann seine Arbeiten zur Geschichte des Alten und des Neuen Testaments, Historia ecclesiastica veteris testamenti (1715 /19); Ecclesia apostolica sive de statu ecclesiae Christianae sub apostolis commentarius historico-dogmaticus (1729) und seine Historische und theologische Einleitung in die vornehmsten Religions Streitigkeiten (1724), letzteres eine Vorlesung, die Buddes Schüler und Schwiegersohn Johann Georg Walch herausgegeben und in insgesamt zehn Bänden fortgeführt hat. Speziell auf diesem, bislang allein kontroverstheologisch, d.h.: unter dogmatischer Perspektive bearbeiteten Feld zeigt sich sehr deutlich, was eklektische Historiographie in der Theologie, und sogar in der polemischen Theologie!, bedeutete: die Unterscheidung der dogmatischen Position des Geschichtsschreibers von seinen quellenmäßig darzustellenden Gegenständen, auch wenn diese selbst dogmatische Positionen waren; also die unparteiische Geschichtsschreibung. 9 Die entsprechende Unterscheidung der dogmatischen und der historischen Theologie hat Budde dann in seiner theologischen Enzyklopädie, Isagoge historicotheologica ad theologiam universam singulasque eius partes (1727) methodologisch fixiert. 1 0 2. In seiner tatsächlichen Handhabung der Eklektik in der Theologie unterschied sich Budde allerdings von seinen pietistischen Kollegen, insofern diese die hier vorausgesetzte Unterscheidung des Dogma von der Historie kritisch gegen die traditionelle Historiographie wandten, den Fortschritt des Reiches Gottes auf Erden also wiederum in Gestalt von Geschichtsschreibung nachweisen wollten, die dann alles andere als unparteiisch war, wie zumal Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie (1699/1700). Im Vergleich hierzu steht Buddes Geschichtsschreibung der traditionellen Auffassung von der möglichen Bedeutung der Historie näher, im Blick sowohl auf die Philosophie als auch auf die Theologie. Im Unterschied zur pietistischen Skepsis gegenüber einer angeblich »gesunden Vernunft« hatte sich die orthodox-lutherische Theologie bekanntlich eine philosophia sobria zugeordnet, nicht nur als Instrumental-, sondern auch als Realdisziplin, und hatte sie mit libertas philosophica ausgestattet. Selbstverständlich war das eine Freiheit, die auch Knechtschaft bedeutete, da sie an den Ansprüchen der Theologie ihren Grund und ihre Grenze hatte; aber eben diese theologische Abhängigkeit verlangte gegenüber der philosophischen Tradition — Eklektik. Nicht nur Justus Lipsius also zitierte für seine Ablehnung der »Sekten« und des Jochs der »Schule« den Seneca, sondern auch die zeitgenössischen Schulphilosophen, wenn sie Aristoteles korrigierten oder gar mit dem Ramismus kombinierten: Philosophiae est rationes afferre, non authoritates congerere. Verba enim rebus, non personis aestimanda sunt. Seneca.11 Diese philosophisch-theologische Konstellation findet noch in der historischen Selbstsituierung der eklektischen Philosophie des beginnenden 18. Jahrhunderts einen Widerhall, wo der Auf74

schwung der neueren Zeit immer als religiöser und wissenschaftlicher zugleich dargestellt wird; so bei Budde, bei Walch oder bei dessen Schüler, Jakob Brucker. 1 2 Auch die theologische Geschichtsschreibung Buddes steht in der Tradition der lutherischen Orthodoxie, die das Feld der Geschichte (abgesehen natürlich von der »Offenbarung«) nur moralisch, nicht aber religiös beansprucht, ja die fides histórica gegenüber der Offenbarung Gottes als unzureichend, sogar verderblich ansieht, wenn sie nicht zur fides dogmatica sive salvifica wird. ' 3 Buddes dogmatische Position als solche ist des näheren der Jenenser Ausprägung der lutherischen Theologie verpflichtet, speziell der Johann Musaeus', dessen Schüler etwa J. W. Baier war, der durch Buddes Vermittlung nach Halle berufen wurde. Diese jenensische Tradition ist in wesentlichen Punkten orthodox-lutherisch, nicht nur in der theologischen Thematik, sondern auch in der Methode, der sogenannten analytischen, die vom praktischen Zweck der Theologie ausgeht und daher mit dem theologischen Handlungsziel, d.h. der Eschatologie einsetzt. Dennoch galt Musaeus etwa den Wittenbergern als »Neuerer«; es scheint, daß, neben konfessionspolitischen Differenzen, eine veränderte Auffassung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie dafür die Ursache war — eine Auffassung, die jedenfalls den historischen Kontext der Dogmatik noch weiter zurückstellte und statt dessen ihren rationalen Kontext um so deutlicher ausarbeitete, wie auch in Musaeus' Auseinandersetzung mit R. Descartes und B. Spinoza zutage tritt. 14 Insofern hatte Budde es leicht, mit dem bloß Historischen der Tradition eklektisch umzugehen, während er im Blick auf den biblischen Kanon und auf die geltenden Symbole ganz konservativ blieb, so daß er beispielsweise auch energisch gegen eine Union der Protestanten sprach. Auch die in seiner Theologie auffällig breite und bedeutende Rolle der natürlichen Religion bzw. Vernunft ist in seiner jenensischen Herkunft vorgebildet. Buddes eigene Dogmatik, die Institutiones theologiae dogmaticae (1723), schließt sich denn auch an das Compendium theologiaepositivae (1686 u.ö.) von Baier an; freilich reduziert er es um dessen, in der Nachfolge Musaeus' verständliche »scholastische« und »metaphysische« Elemente. Im Tadel an ihnen gibt sich nun auch ein Bewußtsein der historischen Differenz zur Tradition zu erkennen. 15 j . Bei aller Nähe zur Theologie des 17. Jahrhunderts hat Budde eine unzweideutige Meinung darüber, daß philosophisch und theologisch gesehen eine neue Zeit begonnen habe. In der Philosophie ist dafür das Zeugnis seine Rezeption des Naturrechts, hier die quasi-dogmatische Basis der Eklektik, in vielen, zum Teil mit Chr. Thomasius zusammen herausgegebenen Einzeluntersuchungen, vor allem aber seine philosophische Ethik Elementa philosophiae practicae (1697). Letztere bildet die Struktur auch seiner theologischen Ethik, der Institutiones theologiae moralis ( 1 7 1 1 ) vor, insbe75

sondere in der Methode (in Analogie zur Arzneikunst bzw. in Anlehnung an Samuel Pufendorfs Naturrecht) und im Handlungssubjekt (der »gesunde« bzw. der »wiedergeborene« Mensch). 16 In der Theologie selbst äußert sich das neue Zeitbewußtsein sogar in einer historischen Periodisierung der dogmatischen (!) Theologie seit der Reformation. Budde rechnet zur ersten Zeit, den einfachen, von scholastischen Korruptelen und Quisquillen gereinigten Ursprüngen, die reformatorischen Theologen des 16. Jahrhunderts bis zu Johann Gerhard; die Zeit seit dem Regensburger Religionsgespräch (1601) zur scholastischen, von den Jesuiten beeinflußten Periode (eine Einschätzung, die sich auch bis fast in die neueste Philosophiegeschichtsschreibung gehalten hat), die Entwicklung seit R. Descartes und S. Pufendorf bzw. seit Ph. J . Spener schließlich zu einer neuen Zeit, als deren Vertreter Budde neben Spener auch seinen Hallenser Kollegen J. J . Breithaupt oder seinen Tübinger Gesinnungsfreund Christoph Matthäus Pfaff nennt. Auf das 17. Jahrhundert bezieht sich Buddes Selbstbild also genauso wie das gewöhnliche pietistische: negativ, mit der Ausnahme von »frommen«, die praxis pietatis der jesuitischen Scholastik vorziehenden Theologen wie Johann Gerhard oder Johann Arndt. 1 7 Zweifelsfrei verstand Budde sich als Zeitgenossen des reformerischen Pietismus, und er war wie dieser der Meinung, daß die Reformation des 16. Jahrhunderts ein Anfang war, der allerdings jetzt fortgeführt, eine Lehre, die jetzt ins Leben gebracht werden müsse. Ob er auch selbst Pietist war, ist nicht einfach im Sinne der Zugehörigkeit zur »Waisenhauspartei«, wie das bald heißen sollte, zu beantworten. Denn einerseits pflegte er etwa mit Ph. J. Spener oder mit Cyriakus Spangenberg, aber auch mit Nikolaus Graf Zinzendorf persönliche Bekanntschaft, was ihm die orthodoxen (im letzteren Fall auch die hallischen) Theologen verargten; andererseits ließ er auch mit jenen Orthodoxen, vor allem mit Salomon Ernst Cyprian und Valentin Ernst Löscher, dem bedeutendsten Gegner des Pietismus, die Verbindung nie abreißen. 18 Nicht zufällig sorgte er für die Berufung J. W. Baiers nach Halle, nicht zufällig aber auch wurde er selbst etwa ins pietistische Gießen gerufen, was er freilich nicht annahm; nach Gießen kam aber 1731 sein Schüler in Jena, seit 1727 Nachfolger A. H. Franckes in Halle: Johann Jakob Rambach, zu dessen bedeutendstem Werk, den Institutiones hermeneuticae sacrae (1725) Budde sechs Jahre vor seinem Tod noch eine Vorrede beigesteuert hat. 19 In seinen dogmatischen Werken und in seiner so betont eigenständigen theologischen Ethik läßt sich immerhin eine deutliche Verschiebung zugunsten pietistischer Positionen beobachten. Neben einer Reihe von Akzenten auf überlieferten Meinungen, vor allem im Bereich der Christologie, der Soteriologie und der Eschatologie, wäre hier negativ zu nennen die Ersetzung des Locus »Wort Gottes« durch den Locus »Religion«, was die Umkehrung der bisherigen Unterordnung der natürlichen Religion unter die

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Kategorie des »Gesetzes« und damit eine beträchtliche Verkleinerung des kritischen Potentials der Offenbarung gegenüber der religiösen Erfahrung bedeutet. Positiv wäre zu nennen die Verschiebung der traditionellen Orientierung der Theologie, die auf den usus der Lehre in einer praxis fidei ging, auf die praxis vitae, d.h. die Unterordnung des christlichen Glaubens, der sonst »gegen alle Erfahrung« stehen konnte, unter die vorausgesetzte Forderung religiöser und moralischer Selbsterfahrung. Dafür war Budde wiederum durch die jenensische Tradition disponiert, in der das theologische Thema nicht mehr auf die Rechtfertigung des Sünders als solche, sondern auf die unio cum Deo konzentriert war; 2 0 diese Vereinigung des Menschen mit Gott aber selber unter die Erfahrungsforderung zu stellen, dementsprechend auch die »Lehre« an dem Kriterium möglichen Gebrauchs im »Leben« zu messen und zu verändern, und sei es nur durch Betonung oder Kürzung — das gehört in einen pietistischen Kontext.

2. Historisierung

des Dogmas und theologische

Aufklärung

In der Nachfolge Buddes hat die von dogmatischen Interessen unterschiedene und insofern freie historische Erforschung von Quellen und Altertümern in der Theologie einen gewaltigen Aufschwung genommen; freilich weniger in Halle als in Jena, Leipzig, Tübingen und dann vor allem in Göttingen. Insgesamt aber wurde diese eklektische Historiographie zum bestimmenden Kennzeichen der protestantischen Theologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Gleichwohl war die Entwicklungsfähigkeit der theologischen Ekkktik aus inneren Gründen begrenzt, und zwar genau durch die sie selbst allererst ermöglichende und rechtfertigende Unterscheidung von Historie und Dogma. Denn in dem Augenblick, in dem nicht nur das »Historische«, sondern auch das »Dogmatische« der Tradition zum Gegenstand der nun ausgebildeten historischen Methoden wurde, in dem m. a.W. »Dogmenhistorie« betrieben werden sollte, mußte der eklektische, allenfalls indirekt kritische Umgang mit der dogmatisch besetzten Tradition in einen direkt kritischen, in Dogmenkritik und Kanonskritik, umschlagen. Dieser Zeitpunkt, der Ubergang also in die theologische Aufklärung im engeren Sinn, war gekommen, als eine neue dogmatische Position die historische Kritik der dogmatischen Tradition sowohl nötig als auch möglich machte: die einer sich bewußt als aufgeklärt verstehenden Frömmigkeit. Unter den theologischen Fakultäten war es wiederum die zu Halle, die, geführt von S. J. Baumgarten, den Übergang von der eklektischen in eine dogmenkritische Theologie einleitete und die in Baumgartens Schüler Johann Salomo Semler den konsequenten Vollstrecker des Programms der theologischen Aufklärung hervorbrachte. 77

ι. Mit dem Weggang J. F. Buddes im Jahr 1705 erlahmte das aufklärerische Bündnis zwischen Pietismus und Eklektik in Halle. Zwar wurde eine theologia eclettica nicht überhaupt abgelehnt, wenn sie nicht »in der. Theologie selbst« zu beliebigem Auswählen führe; die theologische Bedeutung der Eklektik aber blieb auf das Verschweigen widersprechender und vor allem auf das Sammeln »nützlicher«, d. h. für die eigene dogmatische Position sprechender Sätze der Uberlieferung und, wenn möglich, der dogmatischen Gegner beschränkt — ein völlig traditionelles Verfahren, wie die Hallenser natürlich wissen und auch sagen. 21 Das aktive historische Interesse beschränkte sich bei ihnen zunehmend auf die Philologie des biblischen Kanons, wofür nach A . H. Franckes Observationes biblicae (1695) vor allem Johann Heinrich Michaelis ( χ 699 Orientalist, seit 1709 Theologe) und seine Biblia Hebraica Critica ( 1720) und J . Langes Biblisches Licht und Recht (1729/38) stehen; sowie auf die neuere Kirchengeschichte, die freilich, in deutlichem Unterschied etwa zu Buddes Darstellung (Eines vornehmen Theologi Wahrhafftige und gründliche Historische Erzehlung alles dessen / was zwischen denen heute zu Tage so genannten Pietisten geschehen und vorgegangen ist, 1713), höchst parteiisch der dogmatischen Rechtfertigung des Pietismus bzw. der Verdammung aller diesen Fortschritt des Reiches Gottes nicht bedingungslos Akzeptierenden diente, wie wiederum J. Langes Auseinandersetzung mit dem durchaus verständigungbereiten Sprecher der Orthodoxen, dem Dresdener Oberhofprediger V. E. Löscher, vor Augen führt (Die Gestalt des Kreuzreiches Christi in seiner Unschuld, 1 7 1 3 ; Erläuterung der neuesten Historie beider evangelischen Kirche 1698—1/19, 1719). 2 2 Die eklektische Historiographie wanderte mit Budde nach Jena aus, das dann in dessen Schüler J . G . Walch auf Jahre hinaus einen ihrer produktivsten Vertreter hatte; neben den schon genannten Religions-Streitigkeiten (1724/ 30/ 39) sind hier dessen annotierte Quellensammlungen zur Symbolik und zur Patristik, seine vierundzwanzigbändige Luther-Ausgabe (1740/ 53) sowie seine Bibliotheca theologica selecta (1754/65) zu nennen. Walch hatte zunächst, seit 1710, in Leipzig studiert, wo ja Gottfried Olearius das eklektische Philosophieren im Unterschied zur neuplatonischen »eklektischen Sekte« verteidigte {De philosophia eclectica, 1 7 1 1 ) . Diese Spezifikation ist über Walch in J . Bruckers Darstellung der Eklektik eingegangen; übrigens auch als theologisches Argument im Gefolge Melanchthons, dem die neuplatonischen Eklektiker als Verderber des ursprünglichen, nämlich metaphysikfreien Christentums galten — ein Beispiel dafür, wie sich der kritische Impetus einer Eklektik, die »das Iudicium brauchet« (wie Walchs gegenüber dem »Sectirischen« und dem »Syncretistischen« Philosophieren sich abgrenzende Definition hervorhebt), noch diesseits wesentlicher dogmatischer Neuerungen gegenüber der theologischen Tradition auswirken konnte. 23 In Leipzig wirkte seit 1 7 3 1 , seit 1759 dann als Theologe Johann August Ernesti, dessen Unterscheidung zwischen dem Dogmatischen und

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Historischen sich allmählich so weit entwickelte, daß er, dogmatisch im wesentlichen noch konservativ, doch grundsätzlich die Notwendigkeit einer historia dogmatum aussprach und die philologisch-kritische Methode auch innerhalb des biblischen Kanon, wenngleich nur in seinen »historischen« Daten, d.h. diesseits der »Offenbarung«, anwandte; darin war Ernesti neben S. J. Baumgarten der wichtigste Lehrer J. S. Semlers. 24 Die bedeutendste Pflegestätte der Eklektik in der Theologie wurde aber die 1 7 3 4 / 3 7 im Hallenser Geist gegründete Universität Göttingen (für die Philosophie gilt das ohnehin). Schon vor ihrer Gründung hatte Gerlach Adolf Freiherr von Münchhausen, ihr Kurator, von den künftigen Theologen ganz im Sinne des Buddeschen Programms verlangt, sie müßten die Mitte zwischen Atheismus und Papsttum halten, müßten die aufs Wesentliche, auf die fundamentalen Glaubensartikel beschränkte, also »gemäßigte Lehrart« unberührt lassen und sich im übrigen der vorurteilsfreien historischen Forschung widmen; es wundert nicht, daß Chr. M. Pfaff, J. J . Rambach und Lorenz von Mosheim berufen werden sollten. Der letztere schrieb der theologischen Fakultät dann in die Statuten, was über die Halleschen Verhältnisse hinausging: die Verpflichtung zur Toleranz und den Verzicht auf die Zensur der anderen, von konfessionellen Verpflichtungen also freien Fakultäten. 2 s In Christoph August Heumann (seit 1745), Christian Wilhelm Franz Walch (seit 1754), vor allem aber in Johann David Michaelis (Orientalist seit 1745) und in L. v. Mosheim (seit 1747) hat Göttingen zweifellos die glänzendsten theologischen Historiker aufzuweisen: Theologen, aber mit der Historie befaßte, nicht mit der »Dogmatik«, wie »die Theologie selbst« nunmehr genannt wird. Was diese Historiographie leistet, läßt sich an Mosheims weitausgreifenden kirchengeschichtlichen Arbeiten, im besonderen an seiner Korrektur der dogmatisierenden Geschichtsschreibung G . Arnolds, dem Versuch einer unpartheiischen und gründlichen Ketzergeschichte (1746/48) ablesen. Man könnte sie schon, ohne daß sie m. W. dieses Wort gebraucht hätte, eine pragmatische Geschichtsschreibung nennen, denn sie verzichtet entschlossen auf den apokalyptischen Doppelblick auf Gottesreich und Weltreich, Orthodoxie und Häresie, und beschränkt sich auf den Zusammenhang menschlicher Absichten und Taten; auch wenn dieser Zusammenhang erst ein von der göttlichen Vorsehung im ganzen verknüpftes »Aggregat«, noch kein »System der Begebenheiten« darstellt, wie dies die im engeren Sinne pragmatischen Geschichtsschreiber, etwa Johann Christoph Gatterer, August Ludwig Schlözer, oder, unter den Theologen, Ludwig Timotheus Spittler im Göttingen der siebziger Jahre verlangen werden. 26 2. Die eklektische Historiographie in der Theologie, dieses frühe Bündnis von Aufklärung und Theologie, stieß freilich bald auf ihre innere Grenze, die Scheidelinie zwischen Historie und Dogma. Eine zeitlang konnte die 79

historische Arbeit ihr Feld erweitern, solange nämlich, als das im 17. Jahrhundert so große Terrain des Dogmatischen verkleinert werden konnte, und dies war mit Hilfe der Formeln des »Fundamentalen« und »Praktischen« ohne tiefgreifende oder doch ohne das »Wesen des Christentums« 2 7 berührende Verluste möglich. A b e r in dem Augenblick, in dem die philologische und historische Kritik dieses Wesentliche erreichte, mußte sie sich selbst ein Arbeits-, mindestens ein Redeverbot auferlegen: Spätestens angesichts der historischen Problematik der geltenden christlichen Bekenntnisse und vollends des überlieferten biblischen Kanon zeigte sich, daß die eklektische Historiographie als solche nicht sagen konnte, was eine geoffenbarte Wahrheit denn sei, sondern immer nur deren historische Qualität, eine Meinung, Äußerung und Setzung von Menschen zu sein, aufweisen konnte. Die Eklektik in der Theologie konnte die theologisch unverzichtbare U n terscheidung von Offenbarung und Geschichte, von Dogma und Historie daher als solche nicht einholen und verantworten; die auf Dokumente und Texte gegründete Gelehrsamkeit konnte sich innerhalb der theologischen Fakultät zwar als philologische und historische Fachwissenschaft etablieren, aber sie durfte und konnte als solche auch gar nicht aus ihren Erkenntnissen substantielle dogmatische Konsequenzen ziehen. Die dogmatische Position der eklektisch arbeitenden Theologen blieb, anders gesagt, methodisch exemt, und sie war beliebig, wenn sie nur die »fundamentalen Glaubensartikel« nicht infragestellte und sich als »moderierte Lehr-Art« gab, wie etwa in Göttingen gefordert — der Anschluß an die konfessionelle Uberlieferung wurde, methodisch gesehen, ein ebenso positivistischer wie der an die individuelle Uberzeugung, die allmählich und wenigstens heimlich ihre Entfernung vom einst Geltenden sich eingestand. Daß die theologische Leistungsfähigkeit, das hieß auch: Gefährlichkeit, der Eklektik als begrenzt erkannt wurde, läßt sich eindeutig damit belegen, daß gegenüber den seit Ende der zwanziger Jahre aufkommenden Tendenzen, die dogmatischen Prinzipien zu revidieren, d.h. dem theologischen Wolffianismus gegenüber, sogar die orthodoxen Theologen ihre überlieferte Koalition mit dem metaphysischen Aristotelismus aufgaben und eine »Eclectische Philosophie« als theologische Propädeutik forderten. 2 8 Daß die vom historischen Kontext absehende Unterstellung von »Dogma« abstrakt war und methodisch unkontrollierbar wurde, läßt sich schon bei J . F. Budde recht deutlich beobachten. Die so eindrucksvoll balancierte Gliederung und Bewertung der theologischen Positionen der Vergangenheit und der Gegenwart, die seine Theses theologicae de atheismo et superstitione ( 1 7 1 7 ) darstellten, hat ihre schwache Stelle in dem perspektivischen Punkt, von dem aus gegliedert und bewertet wird: Es ist die von Budde vertretene Forderung religiöser und moralischer Praxis, die zwar das Maß der Ablehnung des Spinozismus einerseits, des Papismus andererseits abgibt, dies aber gerade nicht als dogmatische Position, sondern als die der 80

natürlichen Religion angemessenste Forderung. Ähnlich zweitdeutig argumentierte Budde dann auch in seinem Bedencken über die Wolffianische Philosophie (1724), und zwar nicht, weil es ihm von J . Lange abgenötigt wurde, sondern weil die systematische Leistungsfähigkeit der Wölfischen Philosophie, wenn ihr Prinzip einmal theologisch identifiziert war, der Explikation einer dogmatischen Position ungleich dienlicher war als eine in Dogmatik und Eklektik geteilte Disziplin. Das begründete die Faszination dieser Philosophie für die theologischen Wolffianer, die freilich für die Wahrnehmung des Dogma allerdings den Preis zahlen mußten, die Historie zu verlieren. Demgegenüber vermochte Budde weder dogmatisch zu argumentieren, es sei denn im Ausdruck der Bedrohtheit der eigenen Position, noch auch historisch; denn daß es ein dogmatisches Interesse an der Historie geben könne, durfte der Eklektiker als solcher nicht zugeben, und Buddes Anleihen bei der Föderaltheologie durchbrechen die Unterscheidung von Historie und Dogma nicht. 29 Die innere Grenze der Eklektik in der Theologie wurde aber auch bei den pietistischen Theologen Halles bald erkennbar. Das ist einmal in der Hermeneutik der Fall, in welcher der Zwang zur Erbaulichkeit die Observation und die Exegese des Textes immer unerweislicher und beliebiger machte. Denn das Prinzip der Auslegung, das sich selbst erbauende Ich, thematisierte sich selbst nur als ihr Adressat, nicht auch als ihr Autor, blieb also exegetisch gleichsam anonym; so etwa in J . Langes H ermeneutica sacra (1733). N u r scheinbar das Gegenteil belegt die pietistische Autobiographie, in der allerdings die einzelne Ich-Erfahrung in einem bislang undenkbaren Maß zum Thema wurde, und in der bekanntlich die »Erfahrungsseelenkunde«, d.h. der Beginn der empirischen Psychologie, eine wichtige Wurzel hat. Diese Selbstbeobachtung dokumentiert vielmehr genau die Abstraktheit jenes sich immer nur voraussetzenden Ich, und zwar in dem ungelösten Widerspruch seiner Selbstbejahung und seiner Selbstverleugnung. Man braucht nur die Autobiographie von J . Lange zu lesen und dann die von J. S. Semler, um diesen Widerspruch und seine endliche Auflösung in der theologischen Aufklärung zu beobachten. 30 Dieser gleichsam nur privativen Instanz des Dogmatischen konnte durch eklektische Historiographie nicht aufgeholfen werden, und in ihr liegt auch der eigentliche Grund für die zunehmende Wissenschaftsfeindlichkeit Halles, die, trotz des inzwischen gemeinsamen Kampfes gegen die »philosophischen Religionsspötter«, d.h. gegen die radikalen theologischen Wolffianer, selbst in der auslaufenden orthodox-lutherischen Theologie nirgends zu beobachten ist. 31 j . Halle war nichtsdestoweniger der Ort, wo seit etwa 1740 sich die theologische Aufklärung ausbildete, nach literarischem Vorbild bald »Neologie« genannt. 32 Status noster pristinus penitus mutatus, schrieb J. Lange 1743, und er meinte damit auch sich selbst, der einst höchst erfolgreich gelehrt 81

hatte, seit Mitte der dreißiger Jahre aber vor leeren Bänken lesen mußte. Es gab sogar einen Kollegen, dem er die Schuld dafür geben konnte, den er daher von Anfang an mit dem öffentlichen Vorwurf der Neuerung und Abweichung (er lese zuviel, bediene sich einer schädlichen Methode und sei wolffianischen Prinzipien ergeben) zurückzudrängen versuchte, freilich ohne Erfolg: Siegmund Jakob Baumgarten. Eine Generation später las sich dieser Vorgang zurecht so: »Baumgarten stürzt die Waysenhauspartei«. 33 Der Fortgang zur theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert verbindet sich in Halle tatsächlich mit diesem Namen, und seine zahlreichen Freunde und Schüler erobern schnell fast alle protestantischen Fakultäten. Speziell Halle, seit dem Tode Baumgartens (1757) geführt von J. S. Semler, wurde dann neben den pädagogischen und publizistischen Zentren in Braunschweig und Berlin bis in die achtziger Jahre der Hauptsitz der theologischen Aufklärung. 3 4 Der erstaunliche Ubergang zu einer bewußt aufklärerischen, d.h. dogmen- und kanonskritischen Theologie wurde möglich, als Motive der wissenschaftlichen Entwicklung der Theologie sich verschmolzen, die bislang getrennt oder sogar im Widerspruch gegeneinander gewirkt hatten; Motive, die in dieser Verschmelzung dann auch anders wirksam waren als vordem. Es sind dies die pietistische Subjektivität, der wolffianische Rationalismus und das in der Eklektik gepflegte und methodisch ausgebildete historische Interesse. An Baumgarten läßt sich die Verknüpfung dieser drei Motive geradezu biographisch demonstrieren. Aufgewachsen im Halleschen Pietismus, war er Lehrer am Waisenhaus, wurde 1730 Adjunkt und schon 1734 Ordinarius an der theologischen Fakultät. Der von seinem ins Hintertreffen geratenden Kollegen J. Lange sogleich angezettelte Streit kühlte sein Verhältnis zur inzwischen formalisierten pietistischen Theologie verständlicherweise ab, und dazu kamen tatsächlich gewisse, ihm auch durch seinen Bruder, den später durch seine Ästhetik ausgezeichneten Alexander Gottlieb vermittelte wolffianische Einflüsse. Sie äußerten sich zunächst methodisch und didaktisch, und hier besonders deutlich und erfolgreich, schließlich aber auch dogmatisch: Die unter Baumgarten verteidigte Disputado theologica De conversione non instantanea (1743) nimmt Abschied von einem zentralen Stück der methodisierten pietistischen Frömmigkeit und Theologie, vom Bußkampf als dem empirischen Signum der Bekehrung zum seligmachenden Glauben. Damit sagt sich Baumgarten aber nicht überhaupt vom Erbe pietistischer Erfahrungstheologie los; vielmehr tritt an die Stelle der dort gleichsam ambivalenten jetzt eine eindeutig affirmative Subjektivität: Die empirische innere Empfindung wird zum theologischen Prinzip, und sie kann es werden, weil sie sich zugleich fromm und vernünftig, religiös und moralisch, artikuliert. Baumgarten ist also nicht vom Pietisten zum Wolffianer geworden, so sehr ihm Demonstration und System als notwendige Verfahren auch in der Theologie gelten; er definiert vielmehr 82

das Subjekt der theologischen Deduktion >wolffianisch< durch seine Rationalität und >pietistisch< durch seine Emotionalität zugleich. Diese affektive Erweiterung der aufklärerischen Rationalität verdankte sich übrigens auch holländischen und vor allem englischen Einflüssen, die Baumgarten literarisch sowohl aufnahm als auch, durch seine Nachrichten von einer hallischen Bibliothek (1748/ 51), seine Nachrichten von merkwürdigen Büchern (1752/58) sowie durch seine eigenen und durch die zahlreichen von ihm angeregten und oft mit einem Vorwort versehenen Ubersetzungen, etwa Butlers oder Shaftesburys, so unparteiisch wie wirksam weitergab (die jüngeren Neologen empfingen diese Einflüsse in derselben Zeit schon durch Reisen nach Holland und England). 35 Das »vernünftige Christentum«, das im Gefolge und im neologischen Umkreis S. J . Baumgartens, etwa bei Johann Joachim Spalding und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, zum Ausgangspunkt der theologischen Aufklärung wurde, hatte für die Theologie selbst eine zweifache Bedeutung. Es verknüpfte erstens die supranaturale Prämisse der christlichen Theologie mit der Rationalität ihrer wissenschaftlichen Form, eben in der subjektiven Religion des Theologen, in einer Religiosität, die wiederum sowohl den Gegenstand einer bloß der Vernunft verpflichteten Religionsphilosophie (welche die alte »natürliche Theologie« ersetzte) als auch den Ort einer der Offenbarung verpflichteten Theologie darstellte. Dafür ist die Dogmatik Baumgartens, mit der diese Disziplin endgültig in die deutsche Sprache überwechselte, das erste große Beispiel: Unter dem Titel einer Evangelischen Glaubenslehre, demselben, den erstmals Ph. J . Speners Predigtsammlung (1688 u.ö.) führte, sowie dem Aufriß der pietistischen Dogmatik Johann Anastasius Freylinghausens (1703 u.ö.) folgend und schließlich auch die »Vereinigung des Menschen mit Gott« als Thema der Theologie auslegend, verknüpft diese Dogmatik religiöse Erfahrung und rationale Erklärung in einer Weise, die es ihrem Herausgeber J . S. Semler (1759/60) leicht machte, sie als vorbildlich und zukunftweisend einzuführen. 36 Die aufklärerisch-fromme Subjektivität eröffnet zweitens der Theologie selbst ein neues Feld: die Historie. Dies ist wiederum in Baumgartens wissenschaftlicher Entwicklung mit Händen zu greifen: Zwar immer schon historisch interessiert, hatte er doch zunächst fast nur systematische Themen behandelt; seit 1740 aber beginnt er in großem und bald geradezu lawinenartig anschwellenden Umfang auf allen nur denkbaren, sowohl kirchen- als auch profangeschichtlichen Feldern historische Studien zu treiben, die nicht nur seine reiche literarische Tätigkeit, sondern auch seinen akademischen Unterricht und eben auch seine theologische Position zunehmend bestimmen; über dieses neue Interesse an kritischer Historiographie hat Baumgarten bald auch öffentlich Rechenschaft abgelegt.37 Dieses Interesse bezieht sich nun aber nicht mehr eklektisch, d.h. abgesehen von der »Theologie selbst«, auf die Tradition, sondern durchaus dogmatisch, d.h. in der

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Absicht der historischen Begründung der (gegenwärtigen) dogmatischen Position. Damit wird die alte, unterscheidende Zuordnung von menschlicher Historie und göttlichem Dogma vollkommen gesprengt. Die menschliche Geschichte ist nun selber das Feld, auf dem sich die fromme Subjektivität ihrer göttlichen Objektivität vergewissert; und sie ist nicht mehr als überlieferte Historie immer schon gegeben, sondern muß aus Dokumenten, deren Zuverlässigkeit jeweils zu erweisen ist, allererst erhoben werden. An diesen Quellen ist die Theologie interessiert in der Erwartung, daß ihr Anspruch auf die Geschichte durch die vorurteilsfreie Untersuchung der Tatsachen bestätigt werde, und in der Annahme, daß er nur auf diese Weise überhaupt einer wissenschaftlichen Rechtfertigung fähig sei. Die historische Methode wird damit zur einzigen Methode in der Theologie, sofern diese es mit der Vergangenheit zu tun hat; das legt Baumgarten besonders eindrücklich in seiner Einleitung der Ubersetzung der englischen Algemeinen Welthistorie (1744/58) dar.38 Diese neue, als solche theologische Verknüpfung von Historie und Dogma, nämlich die Historisierung der dogmatischen Tradition von einer veränderten dogmatischen Position aus, war zunächst freilich noch ganz apologetisch verstanden — Baumgarten selbst erwartete, wie die zahlreichen Zeitgenossen, die gleich ihm sich die »Rettung« der christlichen Offenbarung und ihrer Urkunde zur Aufgabe machten, dogmatische Bestätigung aus der Historie. Doch war die Apologetik, wie sich schnell zeigte, nur die eine, Kritik aber die andere Seite der neuen theologischen Historiographie; denn jene Bestätigung der Gegenwart war nur zu erlangen, wenn die Zeugnisse der Vergangenheit nach dem Maßstab der Gegenwart beurteilt und, anders als im eklektischen Umgang mit der Uberlieferung, von ihr entweder für sich beansprucht oder aber als fremd abgestoßen wurden. Die seit den fünfziger Jahren aufkommende Dogmenhistorie hat dann auch innerhalb zweier Jahrzehnte den traditionellen dogmatischen Bestand, vor allem in der Anthropologie und in der Christologie, kritisch aufgezehrt und so der für ein aufgeklärtes Christentum nicht verbindlichen, überwundenen Vergangenheit anheimgestellt.39 Damit nicht genug, die historische Kritik überschritt sehr bald auch die Grenze des biblischen Kanon. Unter Baumgartens Schülern war es J. S. Semler, der den traditionskritischen Impetus der theologischen Aufklärung vollends freisetzte: Nachdem er den »gotischen Kunstpalast« der dogmatischen Tradition der historischen Kritik freigegeben hatte, mußte auch der »künstliche Zaun« niedergerissen werden, »den man wie ein Gehege um den biblischen Kanon gelegt« hatte, wie dies seine Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771 / 75) denn auch tut.40 Die Bibel eine Quelle wie jede Quelle geschichtlicher Erkenntnis: Damit war die theologische Aufklärung in Halle an ihr Ziel gekommen — und an ihre Peripetie. Denn die Abtrennung des Gewesenen und einst Gültigen von heute Geltendem als eigentlich und immer Gültigem, des 84

äußerlich Überlieferten vom innerlich Gewußten, der bloß »historischen

Religion« von der wahren »moralischen Religion« (Uber historische,

gesell-

schaftliche und moralische Religion der Christen-, 1786) war nunmehr so unvermeidlich wie bald unerträglich.

ANMERKUNGEN ι. Zur neuen Jurisprudenz und ihrer leitwissenschaftlichen Funktion vgl. NOTKER HAMMERSTEIN: »Die deutschen Universitäten im Zeitalter der Aufklärung«. In: Zeitschrift für historische Forschung 10 (1983), S. 73 — 89; zur neuen Theologie und ihrem Selbstbewußtsein vgl. KURT ALAND (Hrsg.): Pietismus und moderne Welt. Witten 1974 (Archiv für Geschichte der Philosophie. 12) und FRIEDRICH DE BOOR: Art. »Francke, August Hermann. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 11 (1983), S. 312 — 320, sowie das Jahrbuch Pietismus und Neuzeit, hrsg. von ANDREAS LINDT und KLAUS DEPPERMANN, Bielefeld i974ff., Göttingen 1979ff. 2. Hierzu KLAUS DEPPERMANN: Der Hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.). Göttingen 1961; CARL HINRICHS: Preußentum und Pietismus. Göttingen 1971. 3. JOHANN GOTTFRIED EICHHORN: »Johann Salomo Semler«. In: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur. Bd. V / i . Leipzig 1793, S. i f f . , hier S. i46f. — Zur Rezeption und Korrektur vgl. KARL ANER: Die Theologie der Lessingzeit. Halle 1929, Ndr. Hildesheim 1964, S. 3ff.; EMANUEL HIRSCH: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Gütersloh 4 1968 (' 1949). Bd. II, S. 318 — 390; sowie jetzt MARTIN SCHLOEMANN: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Ubergangs zum Neuprotestantismus. Göttingen 1974, S. 12— 19. 4. Uber WERNER N I E K E : Art. »Eklektizismus«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2 (1972), Sp. 432f., hinaus vgl. jetzt HELMUT HOLZHEY: »Philosophie als Eklektik«. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 19 — 29, sowie WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, S. 249ff., 272ff. 5. Eine neue Monographie über J. F. Budde ist notwendig; einstweilen: ARNOLD F . STOLZENBURG: Die Theologie des Jo. Franc. Buddeus und des Chr. Matth. P f a f f . Berlin 1927, Ndr. Aalen 1979; EBERHARD H . PALTZ: Art. »Buddeus (Budde), Johann Franz«. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 7 (1981), S. 316f.; speziell zu seiner philosophischen Bedeutung MAX WUNDT: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945, Ndr. Hildesheim 1964, S. 63 — 75. 6. JOHANN FRANZ BUDDE: Elementa philosophiae Instrumentalis seu institutionum philosophiae eclecticae torn. I. Halle (1703) 1 1706, Historiae philosophicae succincta delineatio, c. I § X I V (S. 9), c. VI §§ X L I I - X L V I (eclectica philosophandi ratio,

85

S. 96 — 98); entsprechend in den Vorreden aller drei Bände der Institutiones sowie in D E R S . : Compendium historiaephilosophicae, observationibus illustratum cum praefatione I o . G E O R G I I W A L C H I I . Halle 1731 (S. 23, 5 3 4 - 542). 7. B U D D E , Elementa philosophise Instrumentalis (Anm. 6), p. IV (de notitia terminorum Philosophicorum) c. I §§ I - V (S. 271 f.); im Anschluß daran J O H A N N G E O R G W A L C H : Einleitung in die Philosophie. Leipzig 1727, Vorrede (bes. S. 1, 3, 8); 1. II c. II (S. ι j6ff.)· Daß Budde die Denkfreiheit allerdings nicht so weit ausdehnen will wie Anthony Collins, zeigt seine Commentatio theologica de liberiate cogitandi. Jena 1715 (bes. S. 4, 10). 8. B U D D E , Elementaphilosophiae

Instrumentalis

( A n m . 6), S. 2 1 0 , 2 1 9 — 2 2 1 ; D E R S . :

Allgemeines historisches Lexicon, in welchem das Leben und die Thaten der Patriarchen, Propheten [...] Kayser, Könige [...] in Alphabetischer Ordnung vorgestellt werden. Leipzig 1709 ff. (' 1742/44). Hierher gehört nicht nur die Konzeption einer philosophia Ebraeorum (Elementa, S. 9 — 16), sondern auch das häufig geübte Verfahren, eine dogmatisch besetzte philosophische Position als »-ismus« zu enthistorisieren, z.B. in: D E R S . : Exercitatia historico-philosophica de Spinozismo ante Spinozam. Halle 1701 ; vgl. auch D E R S . : Elementa philosophiae theoreticae seu institutionum philosophiae eclecticae tom. II. Halle 1703, p. VI c. II (S. 338ff.)» c. V (S. 383 ff.). 9. J O H A N N F R A N Z B U D D E und J O H A N N G E O R G W A L C H : Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten [...] sonderlich außer der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Bd. I. Jena 1733, Vorrede (Buddes) vom 26.4.1724; Kap. I. ( S . i f f . ) ; D I E S . : Historische und Theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Bd. I. Jena 1730, Vorrede. Vgl. K L A U S W E T Z E L : Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660 — 1760. Gießen 1983, S. 3 i 9 f f . , sowie die Nachworte zum Neudruck der beiden »Einleitungen«, Stuttgart (i972ff.) in Bd. V. 2 (1985), S. 895ff. bzw. Bd. V. 2 (1985), S. 1491 ff. 1 0 . J O H A N N F R A N Z B U D D E : Isagoge historico-theologica ad theologiam universam singulasque eius partes. Jena 1727, 1. I c. IV §§ X I I I —XXII (Historia, S. 171 — 234), §§ X X I X (ars critica, S. 248 — 252); 1. II, c. VI (Historia ecclasiastica, S. 863 —962, bes. der gegen praeiudicati opiniones gerichtete § X I S. 958 — 962). 1 1 . So etwa B A L T H A S A R M E I S N E R : Philosophia sobria. Bd. I . Gießen 1 6 1 1 , S. 672; vgl. W A L T E R S P A R N : Wiederkehr der Metaphysik. Stuttgart 1976, S. 23ff.; zu Justus Lipsius vgl. H O L Z H E Y , »Philosophie als Eklektik« (Anm. 4), S. 21.

12. B U D D E , Elementa philosophiae Instrumentalis (Anm. 6), Historiae philosophicae succincta delineatio c. VI §§ I — V ( S . 73 — 76); D E R S . , Compendium (Anm. 6), c. V §§ I - V (S. 363 - 387, bes. S . 382.f.); W A L C H , Einleitung (Anm. 7), 1. I, Vorbericht § X X ( S . 14); J A K O B B R U C K E R : Institutiones historiae philosophicae. Leipzig ^ 1 7 5 6 (' 1747), S . 5 5 5 f., 560. 13. So in jedem dogmatischen Traktat de fide des 17. Jahrhunderts, z.B. bei (dem von Budde sehr geschätzten und von Walch nochmals edierten) J O H A N N G E R H A R D : Loci theologici. Jena 1610/25, loc. X V I § 1 1 0 ; in Jena sodann z.B. bei J O H A N N W I L H E L M B A I E R : Compendium theologiae positivae. Jena (1683) ' 1 7 2 4 , Prolegomena c. II §§ X V I I f f . (S. 94ff.); ebenso auch bei J O H A N N F R A N Z B U D D E : Institutiones theologiae dogmaticae. Leipzig 1723, 1. IV c. III § X V (S. 1203 f.). 14. Vgl. W A L T E R S P A R N : »Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza«. In: K A R L F R I E D G R Ü N -

86

DER und WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN (Hrsg.): Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung. Heidelberg 1984 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 12), S. 27 —63, bes. S. 3off. 15. BUDDE, Institutiones (Anm. 13), 1. I §§ I - X X I I (S. 5 - 2 7 ) , § L I I (S. 8 9 - 9 5 ) . 16. JOHANN FRANZ BUDDE: Elementa philosophiae practicae seu institutionum philosophiae eclecticae tom. III. (1697). Halle 1703, c. I s. I §§ X I X , X X V I I u.ö.; D E R S . : Institutiones theologiae moralis. Jena 1 7 1 1 , 1. I (Vorbericht) §§ X I f . (S. jf.). Vgl. STOLZENBURG, Theologie des Buddeus und Pfaff (Anm. $), S. 221 ff. 17. B u d d e , Isagoge (Anm. 10), 1. II c. I § X I V (S. 3 8 7 - 4 0 3 ) . Die günstig beurteilten Orthodoxen werden heutzutage zu einer »Reformorthodoxie« oder zum »Frühpietismus« gerechnet — beides hangt noch allzu sehr von jener historischen (Selbst-) Stilisierung ab. 18. Vgl. MARTIN GRESCHAT: Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. Witten 1 9 7 1 , S. 48, 63 f., 288 ff. 19. JOHANN JAKOB RAMBACH: Institutiones hermeneuticae sacrae. Gießen 1725 (u.ö.), Lectori. -Budde bezieht sich dabei positiv auf Jean le Clerc, negativ auf dessen lehramtlliche Präjudizierung der Auslegung: Die hermeneutischen Regeln und ihr richtiger Gebrauch sind allgemein (S. 9 f.). 20. BUDDE, Institutiones (Anm. 13), 1. II c. III, bes. §§ If. (S. 6iof.), 1. IV c. V § X V (S. 1392— 1394); BAIER, Compendium (Anm. 13), Prolegomena c. I §§ I V f f . (S. 23ff.), §§ X V I I f . (S. 36f.); vgl. WERNER KÜMMEL: Die unio cum Deo als ethisches Zentralprinzip im Luthertum, insbesondere bei Baier und Buddeus. Greifswald 1927. 21. »[...] wer in der Theologia ipsa ein Eclecticus seyn will, der ist schon falsch und wancket«. PAUL ANTON: Collegium anti-theticum universale fundamentale Nach der in den Thesibus Breithauptianis Befindlichen Ordnung der Theologischen Materien Anno 1718.

und

1719·

gehalten.

Hrsg. von J O H A N N U L R I C H SCHWENTZEL.Halle

1732,

Prolegomena § 13 (hier S. 14) (freundlicher Hinweis von Norbert Hinske). — Zu Lange, dessen theologisch-politische Tätigkeit ebenfalls neu untersucht werden müßte, vgl. den Beitrag von BRUNO BIANCO, S. I I I —155; R o l f D a n n e n b a u m : Joachim Lange als Wortführer des Halleschen Pietismus gegen die Orthodoxie. Diss. Göttingen 1951 ; sowie immernoch G E O R G M Ü L L E R : Art. »Lange, Joachim«. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3. Aufl. Bd. 11 (1902), S. 261 — 264. 22. Vgl. GRESCHAT, Löscher (Anm. 18), S. 262ff. 23. JOHANN G E O R G WALCH: Philosophisches Lexicon (1726). Leipzig 2 1 7 3 3 , Sp. 599 (s. v. »Eclectische Philosophie«), Zur neuplatonischen Sekte des Potamon ebd., Sp. 600; BRUCKER, Institutiones (Anm. 12), S. 3 i o f f . Walch bezieht sich dabei auf Gottfried Olearius, Brucker überdies auf JOHANN LORENZ VON MOSHEIMS Dissertatio de turbata per recentiores Platonices ecclesia (1732). Vgl. dazu HOLZHEY, »Philosophie als Eklektik« (Anm. 4), S. 2 3 ^ 24. JOHANN AUGUST ERNESTI: Prolusiones de theologiae historicae et dogmaticae conjungendae necessitate. Leipzig 1759; JOHANN SALOMO SEMLER: Historische Einleitung z u : S I E G M U N D J A K O B B A U M G A R T E N : Evangelische

Glaubenslehre.

B d . I.

Halle 1759, S. 34ff. - Vgl. ANER, Theologie der Lessingzeit (Anm. 3), S. 223ff.

87

25. E M I L F . R Ö S S L E R : Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen. Göttingen 1855, S. 2off., 33f., 270ff. — Vgl. H A M M E R S T E I N , »Deutsche Universitäten« (Anm. i), S. 78ff. 26. J O H A N N C H R I S T O P H G A T T E R E R : »Vom historischen Plan«. In: Allgemeine Historische Bibliothek. Bd. I. Göttingen 1767, S . 7 7 F F . ; L U D W I G T I M O T H E U S S P I T T LER: Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche. Göttingen 1782, §§ 2 — 6, § 13. Vgl. P E T E R H A N N S R E I L L : »Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts«. In: R U D O L F V I E R H A U S (Hrsg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S. 163— 193. 27. Vgl. R O L F S C H Ä F E R : Art. »Christentum, Wesen des«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1 (1971), Sp. 1 0 0 8 - 1016, hier Sp. l o i o f f . 28. So etwa V A L E N T I N E R N S T L Ö S C H E R : »Quo ruitis?« In: Frühaufgelesene Früchte der Theologischen Sammlung von Alten und Neuen Sachen. Leipzig 1735, S. 1 3 5 - 1 4 1 . Vgl. G R E S C H A T , Löscher {Anm. 18), S. 69, zz^íí., 319ff. 29. Vgl. S T O L Z E N B U R G , Theologie des Buddeus und Pfaff (Anm. 5), S . 53ff., 32.1 ff., 4 1 3 f f . ; W U N D T , Schulphilosophie (Anm. 5), S . 236ff.; S P A R N , »Formalis Atheus?« (Anm. 14), S . 47ff. Zu den theologischen Wolffianern vgl. H I R S C H , Geschichte (Anm. 3), Bd. II, S. 3 8 7 f . 30. J O A C H I M L A N G E : Lehenslauf, zur Erweckung seiner in der evangelischen Kirche stehenden und ehemals gehabten vielen und werthesten Zuhörer von ihm selbst verfaßt. Halle und Leipzig 1744; J O H A N N S A L O M O S E M L E R : Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. 2 Bde. Halle 1781/82. Vgl. jetzt G U S T A V A D O L F B E N R A T H : Art. »Autobiographie«. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 4 (1979), S. 772ff., hier S . 780 ff. 31. Vgl. die Argumentation gegen J O H A N N L O R E N Z S C H M I D T S Wertheimer Bibel (1735) bei J O A C H I M L A N G E : Der philosophische Religionsspötter. Halle 1735, einerseits und in V A L E N T I N E R N S T L Ö S C H E R S Unschuldigen Nachrichten (Anm. 28), S. 309 — 314 andererseits. 32. G O T T F R I E D H O R N I G : Art. »Neologie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6 (1984), Sp. 718 — 720. 33. J O A C H I M L A N G E , zit. nach M Ü L L E R , »Lange« (Anm. 21), S . 264; S P I T T L E R , Grundriß (Anm. 26), § 55 (S. 463). Zum Streit Langes mit Baumgarten vgl. A U G U S T T H O L U C K : Geschichte des Rationalismus. Erste Abth. Berlin 1865, S. 135ff., sowie jetzt S C H L O E M A N N , Baumgarten (Anm. 3), S. 38ff. 34. Vgl. M A R T I N S C H M I D T : Art. »Aufklärung, II. Theologisch«. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 4 (1979), S . 594 — 608; G O T T F R I E D H O R N I G : »Lehre und Bekenntnis im Protestantismus seit der Mitte des 1 7 . Jahrhunderts«. In: C A R L A N D R E SEN (Hrsg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 3. Göttingen 1984, S . 71 - 146, bes. S . 125 ff. 35. Vgl. W A L T E R S P A R N : »Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 1 8 . Jahrhundert in Deutschland«. In: R U D O L F V I E R H A U S (Hrsg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, S . 18 —57, bes. S . 33ff.; speziell zu Baumgarten vgl. S C H L O E M A N N , Baumgarten (Anm. 3), S. 59ff.

88

36. S I E G M U N D J A K O B B A U M G A R T E N : Evangelische

Glaubenslehre.

M i t einigen

Anmerkungen, Vorrede und historischer Einleitung herausgegeben von JOHANN SALOMO SEMLER. 3 Bde. Halle 1759/60. Vgl. SCHLOEMANN, Baumgarten (Anm. 3), S. 7 9 f f . ; K U R T F E I E R E I S : Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte. Leipzig 1965. 37. Vgl. SCHLOEMANN, Baumgarten

(Anm. 3), S. 96ff.

38. S I E G M U N D J A K O B B A U M G A R T E N : Übersetzung

die in Engeland durch eine Geselschaft Halle 1744, Vorrede, bes. S. 7Í., 3 3 f .

von Gelehrten

der Algemeinen

ausgefertiget

worden.

Welthistorie

Erster Thl.

39. Z u Baumgarten vgl. SCHLOEMANN (Anm. 3), S. 1 5 6 f f . ; zur neologischen D o g menkritik und ihrem religiös-praktischen Motiv vgl. A N ER, Theologie der Lessingzeit (Anm. 3), S. 1 4 3 f f . ; K L A U S SCHOLDER: »Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland«. In: H E I N Z L I E B I N G (Hrsg.): Geist und Geschichte der Reformation (Fschr. f. Hanns Rückert). Berlin 1966, S. 4 6 0 - 4 8 6 ; SPARN, »Vernünftiges Christentum« (Anm. 35), S. 4 2 f f . 40. J O H A N N

SALOMO

SEMLER:

Historische

Einleitung

zu:

BAUMGARTEN,

Evangelische Glaubenslehre (Anm. 36), Bd. I, S. 108; Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Vier Tie. Halle 1 7 7 1 / 7 5 (Zitat: Vierter Thl., 1775, Vorrede a3). Vgl. W O L F G A N G SCHMITTNER: Kritik und Apologetik in der Theologie J. S. Semlers. München 1963; G O T T F R I E D H O R N I G : »Semlers Dogmengeschichtsschreibung und Traditionskritik«. In: O T T O K A I S E R (Hrsg.): Denkender Glaube (Fschr. f. Carl Heinz Ratschow). Berlin und N e w Y o r k 1976, S. 101 — 1 1 3 .

89

WERNER

SCHNEIDERS

Thomasius politicus

Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre

ι. Ob Thomasius klug warf Thomasius wurde in Leipzig geboren, aber sein Name verbindet sich mit Halle. 1 E r war ein Wahlpreuße — zunächst nicht ganz freiwillig, dann aber mit erkennbarer Konsequenz. Immerhin, von Hause war er Sachse, und die Sachsen sind bekanntlich helle. Ihr Beitrag zur deutschen Philosophiegeschichte von Leibniz bis Nietzsche ist beträchtlich. Allerdings galten auch die Hallenser schon damals als gewitzt, wie der bis heute erhaltene Spruch »Hallenser — Halloren — Halunken« beweist. Warum aber geht man von Leipzig nach Halle, wie kommt man von Sachsen nach Preußen? Thomasius' Vater, J a c o b Thomasius, Professor in Leipzig, w a r ein frommer und gelehrter Mann; dem Porträt nach zu urteilen, machte er einen etwas bekümmerten, sozusagen präpietistischen Eindruck. Sein Sohn Christian hingegen war nach eigenem Bekunden kein Kind von Traurigkeit, sondern (in der Sprache seiner eigenen Affektenpsychologie) überaus ehrgeizig und wollüstig. Seine Anfälle von Aktionismus, die bei ihm nach dem Tode seines Vaters auftraten, lassen eine nicht unproblematische VaterSohn-Beziehung vermuten — der Anfang der philosophischen Aufklärung in Deutschland könnte auch in einem Familienkonflikt gründen. A u c h Philosophen müssen zumindest einmal im Leben eine Dummheit machen dürfen — sonst hätten sie nachher nichts, worüber sie weise nachdenken und klug reden könnten. Thomasius hatte seine große, schwache Stunde, als er 1687 in einem Anfall von Leichtsinn eine deutschsprachige Vorlesung ankündigte. Damit machte er sich zwar an der Universität und bei H o f unmöglich; aber indem er trotzig an seinem Vorgehen festhielt, gab er, ohne zu wissen, was er tat, den Startschuß für eine neue geistige Bewegung, die man später als Aufklärung in Deutschland bezeichnen konnte. Dann tat Thomasius allerdings auch einige kluge Dinge. E r schrieb z. B. ein Gutachten für den preußischen H o f , das die konfessionsfremde Heirat der Schwester des Kurfürsten rechtfertigte. U n d er knüpfte über Pufendorf, der in Potsdam Hofhistoriker geworden war, erste Verbindungen nach Preußen, durch die er schon bald wußte, daß dort eine neue Universität geplant wurde. U n d als er dann, sozusagen als erster Märtyrer der A u f k l ä rung, Leipzig verlassen mußte, fuhr er schnurstracks nach Berlin und von

91

dort als frisch ernannter preußischer Rat und Professor nach Halle, wo er, sozusagen als inoffizieller Gründungsrektor, noch vor der Eröffnung der Universität Vorlesungen zu halten begann. Damit beginnt seine vita académica ac privata in Halle, das er trotz mancherlei Spannungen nur noch zu kurzen Reisen verlassen sollte und das ihm sein erstes geistiges Gepräge verdankt. Halle war verglichen mit Leipzig, dem kommenden Klein-Paris, ein Dorf, vicina vix salinis suis nota. Zwar gab es dort seit kurzem eine kleine Ritterakademie, aber die geistige Geschichte Halles beginnt erst mit Thomasius. Dieser wurde, wie gesagt, von Friedrich III., damals noch Kurfürst, nach Halle geschickt, weil dort eine neue Universität gegründet werden sollte, die (wenn man richtig gezählt hat) zweiunddreißigste im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Thomasius war zunächst der einzige Professor und vorerst noch ohne Universität; er war sozusagen seine eigene Universität oder allein die ganze pränatale Universität. Immerhin gelang es ihm auf Anhieb, fünfzig Studenten nach Halle zu locken, die er in einem Privathause unterrichtete. Die Hallenser aber wollten gar keine Universität und schon gar nicht eine, an der die Reformierten gleichberechtigt neben den Lutheranern studieren sollten. Und da Thomasius als Lutheraner für die Reformierten eintrat, war er von vornherein mißliebig. Die offenen Querelen begannen, als er im Hinblick auf die wachsende Studentenzahl den Rat der Stadt aufforderte, man möge ihm im stadteigenen Haus der Waage den großen Saal zur Verfügung stellen und ihm dort ein Katheder errichten. Die Stadt sagte zu, und zwar (juristisch korrekt) mit Vorbehalt, da der Saal u. a. auch für die Viehhändler und durchziehenden Komödianten gebraucht werde. Thomasius fühlte sich (zu Recht oder zu Unrecht) mit durchreisenden Komödianten und Viehhändlern verglichen, brauste auf, wandte sich an den Kurfürsten usw. usw., bis dieser entschied: Thomasius bekommt seinen Vortragsraum, aber das hölzerne Katheder wird nicht fest installiert, so daß es notfalls beiseite geräumt werden kann. Danach herrschte kühler Friede zwischen Thomasius und seiner neuen Wahlheimat, und die Hallenser gewöhnten sich irgendwann an ihre Universität. Thomasius verkörperte, vielleicht als erster, den heute anscheinend aussterbenden Typus des Ordinarius qua wissenschaftlichen Großunternehmers. Er arbeitete viel, aber er ließ auch viel arbeiten. Seine Stellung an der Universität als Stifter und senior academiae war exklusiv; aber da er nicht nur verwaltungsfaul, sondern auch klug war, ließ er als ersten Rektor seinen eigenen Lehrer, den Juristen Strykius, berufen. Und erst als dieser starb, übernahm er nach langem Zögern das Amt eines director perpetuus wie vorher schon das Amt des Rektors. Seine Abschiedsrede als Rektor behandelt die Frage, ob es dem Weisen überhaupt gezieme, ein Amt zu übernehmen; und Thomasius antwortete: Er tut gut daran, wenn er es übernimmt, aber er tut besser, wenn er es läßt — vor allem, wenn er es sich leisten kann. 92

Thomasius selbst war übrigens wohlhabend, teils von Hause aus, teils durch seine Frau, teils durch seine umfangreiche Schriftstellertätigkeit. Und da er einen gewissen Luxus liebte, bewohnte er ein prächtiges Haus, ließ sich jeden Tag im Wagen zur Universität fahren und kaufte sich später ein Gut auf dem Lande — auch deshalb gab es Neider. Thomasius förderte die neue Universität nach Kräften, aber nicht immer zum eigenen Vorteil. So sorgte er für die Berufung des jungen Christian Wolff, der jedoch bald öffentlich über seine Philosophie zu spotten begann. Als dann der Streit um Wolff ausbrach, war Thomasius alles andere als glücklich, weil er einerseits Wolffs Philosophie als neue Scholastik ansah, andererseits den Langeschen Pietismus als Ketzermacherei empfand. Der selbstbewußte Wolff glaubte natürlich, Thomasius halte es mit den Pietisten. Dieser war jedoch des Streitens längst müde, vor allem des Streitens mit den Theologen. Zweimal hatte er sich einen Verweis aus Berlin holen müssen. Das eine Mal, als er unter dem Vorwand, über das decorum zu lesen, Francke und Lange in seinen Vorlesungen angegriffen hatte, mußte er auf königlichen Befehl seine Vorlesungen wegen Grenzüberschreitung abbrechen. Das andere Mal kam es zum Eklat, als er in einer Dissertation die These verteidigen ließ, das Konkubinat könne aufgrund des bloßen Naturrechts nicht verboten werden. Angeblich waren alle Damen in Berlin aufgebracht, und die Königin soll bitterlich geweint haben. Auch der König war verärgert, aber er ließ sich überzeugen, daß Thomasius selber keineswegs für das Konkubinat plädieren wollte, und die Sache lief am Ende glimpflich ab. Schwieriger gestalteten sich die Beziehungen zum Halleschen Pietismus. Thomasius kannte Francke aus seinen bewegten Leipziger Zeiten, wo er ihn gegen die Orthodoxie verteidigt hatte; und er kannte auch Lange, dem er zeitweise als Erzieher seiner Kinder zu Brot und Geld verholfen hatte. Aber obwohl Francke und damit Lange durch ihn nach Halle gekommen waren, trübten sich dort die Beziehungen sehr schnell. Als Thomasius, der aufgrund einer moralischen Krise zeitweise unter den Einfluß des Pietismus geraten war, sich Ende der neunziger Jahre davon zu befreien begann, kam es zu einer Entfremdung, die durch zwei Ereignisse öffentlichen Charakter gewann. Das eine war, daß Francke sich über Frau Thomasius' prächtige Kleidung empörte und deswegen um das Seelenheil seiner Schäflein fürchtete. Das andere und wohl grundlegendere war, daß Thomasius kurz zuvor ein absolut negatives Gutachten über Franckes sogenanntes Paedagogicum angefertigt hatte. Da Francke, der dieses Gutachten erbeten und wohl nicht mit einem Verriß seiner Pläne gerechnet hatte, das Schreiben, das Thomasius ihm privat und versiegelt hatte zukommen lassen, in die Öffentlichkeit trug, kam es zu einem langwierigen Streit, in dem Francke bei dem neuen frommen Soldatenkönig zu siegen verstand. Als Thomasius begriff, wie die Dinge liefen, tat er das einzig Kluge: Er bot, ohne seine Meinung in der 93

Sache selbst aufzugeben, Francke Versöhnung im Persönlichen an, und Francke war seinerseits so klug, dies anzunehmen — so daß der öffentliche Friede zwischen Aufklärung und Pietismus in Halle 1 7 1 6 vorläufig wiederhergestellt war. In der Sache ging es im Grunde genommen darum, daß Thomasius sehr deutlich die Gefahr eines pietistischen Gesinnungsterrors, auf der Basis materieller Besitzverhältnisse, erkannt hatte: Francke kaufe ganze Stadtteile auf, um dann in seinen Schulen und Waisenhäusern frommen Drill auszuüben, durch den sittlich nichts gebessert, wohl aber alles verdorben werden könne. Soweit in aller K ü r z e Thomasius' Verhältnis zu Stadt, Universität und Kirche. Offensichtlich hatte er hin und wieder Schwierigkeiten, sich klug zu verhalten, vermutlich charakterbedingt. E r neigte dazu, empfindlich zu reagieren, aufzubrausen und auf einen groben Klotz einen noch gröberen Keil zu setzen; aber er war auch fast ebenso schnell bereit, seine Uberreaktion bzw. die Grenzen seiner Möglichkeiten zu erkennen, öffentlich zu seinen Fehlern zu stehen und aus Einsicht oder Klugheit nachzugeben; gelegentlich neigte er sogar zu depressiver Resignation. Vielleicht waren es auch seine Erfahrungen mit sich selbst, die ihm — relativ spät — den persönlichen Anstoß gaben, über die Klugheit systematisch nachzudenken. V o r allem aber gab es einen dringenden sachlichen Grund, nun, angesichts der Vollendung seiner neuen Systematisierung der praktischen Philosophie, nach der Rolle der Klugheit zu fragen. Denn eigentlich hatte Thomasius die Klugheit gerade endgültig aus der praktischen Philosophie eliminiert. M . a . W . , es gilt zu verstehen, wieso gerade der Naturrechtler Thomasius sich der Klugheitslehre zuwendet und eine letzte, wenn auch nur kurze Blüte dieser alten philosophischen Thematik herbeiführt.

2. Der historische und systematische Ort der Thomasischen Klugheitslehre U m zu verstehen, wie es zu Thomasius' Klugheitslehre kam, müßte man sowohl deren Vorgeschichte im Rahmen seiner eigenen Philosophie als auch die Diskussion der Klugheit in der ihm vorangegangenen Philosophiegeschichte erhellen. Beides ist hier nur in Andeutungen möglich. Die Geschichte der Klugheitslehre und der damit einhergehende Wandel von der Besonnenheit (phronesis, sophrosyne) zur Voraussicht (Providentia, prudentia) und dann zum Unterscheidungsvermögen (kluocheit) ist noch sehr unzureichend erforscht. 2 Klar ist natürlich, daß es auch vor aller Philosophie schon eine Klugheitslehre gegeben hat, nämlich Versuche, die eigenen Einsichten oder Erfahrungen in Form nützlicher Ratschläge und mehr oder weniger genereller Regeln weiterzugeben. Die klassische philosophische, d. h. prinzipielle Klugheitslehre beginnt jedoch erst mit Aristoteles. Dieser hatte im Anschluß an Piaton die Klugheit einerseits als eine 94

besondere Tugend unter anderen, nämlich als dianoetische Tugend betrachtet, andererseits aber auch als eine Art allgemeine Tugend oder Vorbedingung aller Tugenden. Die Klugheit, die eine Art praktischer Vernunft ist, geht (im Unterschied zur Weisheit, die auf das Allgemeine und Unveränderliche zielt) auf das Besondere und Veränderliche als Gegenstand der menschlichen Praxis und erkennt in jeder konkreten Situation das konkret Richtige, insbesondere das im Rahmen der Moral bzw. als Moral jeweils Nützliche. Gleichzeitig aber hatte Aristoteles die im übrigen nach Sachgebieten spezifizierbare Klugheit eng mit der Politik verknüpft. Denn einerseits spielt die für die Klugheit so konstitutive, im weitesten Sinne »politische« Zweck-Mittel-Reflexion, die in der Ethik Glück und Tugend verknüpft, als Politik im weitesten Sinn in der Politik im engeren Sinn eine besonders wichtige Rolle; andererseits war für Aristoteles die gesamte praktische Philosophie auch insofern eine Art Politik, weil deren höchstes Ziel, die Glückseligkeit, letztlich nur im guten Staat zu erreichen ist. Politik und Klugheit waren daher sowohl vom Ziel als auch von der Strategie her letztlich dasselbe, alle Klugheit in gewisser Weise ethisch-politische Klugheit. Politik kann nun Name für Klugheit bzw. Klugheitslehre werden. Dieser enge Zusammenhang von Klugheit und Politik (als Rahmen aller praktischen Philosophie) lockerte sich allerdings schon sehr bald, nicht zuletzt dadurch, daß sich die Ethik mit dem Untergang der Polis entpolitisierte. Das Ideal des stoischen wie des epikuräischen Weisen beginnt dem des klugen, moralisch-politischen Bürgers Konkurrenz zu machen. Dadurch gewinnt auch die Unterscheidung zwischen einer Klugheit im allgemeinen (der praktischen Philosophie) und der besonderen Klugheit (der Politik im engeren Sinn) mehr und mehr an Gewicht, ohne daß deshalb der Zusammenhang von Klugheitslehre und Politiktheorie einerseits und allgemeiner Klugheitslehre und praktischer Philosophie andererseits ganz aufgegeben würde. Allerdings wird die Klugheit — als zugleich ethische und lebenspraktische Umsicht im Rahmen der gesellschaftlich gültigen Sitte (Ethos) — mehr und mehr überflüssig, wenn die Moral nur noch aus klar formulierten Geboten oder Gesetzen (Dekalog, Naturrecht) folgt bzw. aus deren autoritativer Interpretation — zumal es durch die moralisch-religiöse Verinnerlichung der Ethik im Christentum (die Orientierung an der Sünde statt an der Sitte) gleichzeitig zu einer allmählichen, aber allgemeinen Erosion und Degradierung der dianoetischen Tugenden überhaupt kommt. Daran hat auch Thomas von Aquin mit seinem Rückgriff auf Aristoteles und seiner Auffassung der Klugheit als genitrix virtutum letztlich nichts geändert. In der Neuzeit geht der Zusammenhang von Ethik und Klugheit dann mehr und mehr verloren: teils weil sich die praktische Philosophie in eine Naturrechtslehre (Pflichtenlehre) verwandelt, teils weil, in einem weiteren Wandel der Moral, Tugend immer weniger als die bestmögliche Verfassung 95

des Menschen und immer mehr nur als eine zunächst höfische, dann bürgerliche Affektenbeherrschung, als Kampf gegen die bösen (vormals sündhaften) Neigungen, verstanden wird. Diesem inneren Wandel der Moral entspricht eine Veräußerlichung der Klugheit, die nun weniger (ethischpraktisch) die Moral selber regelt als vielmehr (lebenspraktisch) im Rahmen der Moral den Gebrauch der äußeren Dinge. Klugheit wird darüber hinaus mehr denn je zu einer Frage der moralfreien Erfahrung, insbesondere in der weniger denn je religiös oder moralisch legitimierten Politik. So gerät das Problem der Klugheit auch in den Sog der sich neuzeitlich verschärfenden Dichotomie von Vernunft und Erfahrung und damit von Philosophie und Historie. In dem Maße wie sich die Philosophie den entstehenden Wissenschaften anzugleichen versucht und dabei trotz aller Betonung der Erfahrung weitgehend deduktiv-systematisch wird, verliert sie die primär auf die Lebenswelt bezogene (praktische) Klugheit aus den Augen und überläßt sie den vorphilosophischen Interessen; Klugheit wird zur Sache der Erfahrung oder Historie, und zwar der bloßen Erfahrung, d.h. sie löst sich aus ihrer moralphilosophischen Funktion oder sie wird zum Gegenstand einer speziellen Erziehungsliteratur. Leibniz ist vielleicht der letzte, der, Neues und Altes verknüpfend, noch einmal eine elegante Einheit von Weisheit und Klugheit stiftet (»scientia optimi sapientia ut scientia boni prudentia«). Gleichzeitig kommt es jedoch in der deutschen Frühaufklärung schon zu einer Reaktion gegen die Verdrängung der Klugheit aus der Philosophie, und zwar auf dem Boden ihrer systematischen Eliminierung durch die neue praktische Philosophie, die die alte Einheit von Ethik, Ökonomik und Politik und damit zugleich die alte universale Klugheitslehre aufhebt. Die neue praktische Philosophie, die an das wesentlich aus politischen Gründen entwickelte sogenannte moderne Naturrecht anknüpft und sich zum Teil am Methodenideal der neuen theoretischen Philosophie und damit an der modernen Naturwissenschaft orientiert, findet bei Thomasius ihre erste und im Grunde bis heute maßgebliche Systematisierung. Die praktische Philosophie oder die Moralphilosophie im weiteren Sinn ist Naturrecht im weiteren Sinn, und dieses zerfällt in drei Disziplinen: das Naturrecht im engeren Sinn, die Lehre vom justum (später, z.B. bei Kant, Rechtslehre genannt), die Ethik oder Moralphilosophie im engeren Sinn, die Lehre vom honestum (später, z.B. bei Kant, Tugendlehre genannt) und die Sittenlehre im engsten Sinne (die Lehre vom decorum, der Wohlanständigkeit), also Anstandslehre — etwas, was bei Kant in dieser Form nicht mehr vorkommt, sondern z.B. zu Knigge abwandert. 3 Diese universale Naturrechtslehre versteht sich vor allem als Pflichtenlehre, aber je nach Normgebiet auch als Rechts-, Tugend- und Anstandslehre. Faktisch ist sie natürlich auch noch Klugheitslehre: besonders in ihrem letzten Teil, der vom gesitteten Umgang mit Menschen handelt; aber auch generell, insofern sie noch (teleologisch-eudämonistisch) Glück durch Tugend bzw. Pflichterfüllung 96

erstrebt. Allerdings, dieser Ansatz der gesamten praktischen Philosophie bei der Klugheit als Zweck-Mittel-Reflexion verschwindet sozusagen in der Ausbildung einer universalen und systematischen Pflichtenlehre als Naturrecht. Wo also bleibt hier noch Raum für eine eigenständige Klugheitslehre? Wozu könnte sie, philosophisch-systematisch gefragt, noch gut sein? Was wird aus dem engen Zusammenhang von Klugheitslehre und Politikphilosophie? Als ein ständig auf Praxis drängender Philosoph hat sich Thomasius anscheinend schon früh für das Problem der Klugheit und Klugheitslehre interessiert. Klugheit, so dürfte er gehofft haben, sei als eine Art praktischer Vernunft unmittelbar praxisleitend, wenn nicht selbst schon erste Praxis, zumal die von ihm zur Profession gemachte Wissenschaft, die Jurisprudenz, schon dem Namen nach Anspruch auf Klugheit macht. So nennt er die Klugheit bereits in seiner ersten Grundlegung der Naturrechtslehre, den Institutiones jurisprudentiae divinae von 1688, einen habitus intellectualis practicus, der die menschlichen Handlungen zum Gegenstand habe — eine Definition, die er auch in der Philosophia aulica von 1688, die laut Untertitel eine prudentia cogitandi et ratiocinandi sein will, beibehält. Aufklärung beginnt hier geradezu als praktische Logik, als eine neuartige prudentia cogitandi et ratiocinandi. Aber obwohl Thomasius sogar seine erste deutsche Vorlesung über eine (höfische) Klugheitslehre, die des Spaniers Gradan, hält, wird die Klugheit als solche erst allmählich zu einem explikationsbedürftigen Thema. Zwar ist auch seine Sittenlehre (wie in gewisser Weise auch seine ganze Naturrechtslehre) noch weitgehend Klugheitslehre, nämlich die »Kunst«, vernünftig und tugendhaft zu lieben, als einziges »Mittel«, um zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen; aber der Begriff der Klugheit wie der damit verwandte Begriff der Politik spielen in der Einleitung zur Sittenlehre von 1692 praktisch keine Rolle. Nur beiläufig heißt es, daß (wie die Ethik von den Affekten als inneren Hindernissen der Glückseligkeit) die Ökonomie und die Politik von Mangel und Furcht als den äußeren Hindernissen handeln sollen. Klugheit und Politik bleiben am Rande des Interesses, zumal Thomasius sich nun, in seiner sogenannten pietistischen Phase, mehr noch als zuvor auf die Suche nach der wahren Weisheit konzentriert — obwohl er Klugheit und Weisheit fast immer eng miteinander verknüpft, sozusagen als Außen- und Innenseite ein und derselben Sache. Erst als er sich auf die Notwendigkeit der Regelung der weltlichen Angelegenheiten zurückbesinnt, in dem Summarischen Entwurf der Grundlehren von 1699, wird das Problem der Klugheit Gegenstand ausführlicherer Erörterungen. Und 1705, im gleichen Jahr, in dem die lateinische Fassung seiner Klugheitslehre erscheint, wird in den Fundamenta juris naturae die politica ausdrücklich systematisch dem Bereich des decorum zugeordnet (anscheinend, da zur Weltklugheit auch eine gewisse Gesittung gehört) — eine Verknüpfung der Klugheit mit einem 97

bestimmten Normgebiet, die jedoch in den Cautelen (1710) schon wieder gelockert wird. Der Sache nach hat sich allerdings bei Thomasius seit seinen Anfängen so etwas wie die Konzeption einer Privatpolitik, einer privaten Weltklugheit, entwickelt. Schließlich wollte schon seine erste deutsche Vorlesung (durch Regeln, vernünftig, klug und artig zu leben) auch der Privatkarriere dienen und seine Philosophia aulica den Philosophen zum politischen und politen Weltmann erziehen. Politik und Ökonomie werden immer auch, wenn nicht immer mehr, als Arten der Privatklugheit gesehen. Aber erst in dem nur locker geordneten Summarischen Entwurf der Grundlehren und dann in den Cautelen widmet er der Kunst, klüglich zu leben, ein eigenes Kapitel — unter Ausschluß der Staatsklugheit des Herrschers, also der Politik (Staatskunst) im engeren Sinn. Thomasius' Konzeption einer politischen Klugheit, die, wie sich noch näher zeigen wird, betontermaßen Privatpolitik ist, bündelt eine ganze Reihe von Motiven, die sich hier nicht erschöpfend aufzählen, viel weniger darstellen lassen. Indem er, auf neuer naturrechtlicher Grundlage, am Zusammenhang von Moral und Politik festhält und beide auch als Klugheit (prudentia civilis ac privata) auffaßt, bewahrt er noch einmal, wenn auch schon reduziert, den Grundansatz der praktischen Philosophie des Aristoteles, die Idee einer »politischen« Ethik und »ethischen« Politik. Darin ist Thomasius zweifellos von der von ihm bekämpften peripatetisch-protestantischen Neuscholastik abhängig, während er andererseits in der Betonung der Erfahrung für die Entstehung der Klugheit auch den antiaristotelischen Bewegungen (Macchiavelli, Neustoizismus, Hobbes) einiges verdanken dürfte. Wegweisend wird jedoch erst seine systematische Ausarbeitung der Privatklugheit (Privatpolitik), obwohl auch diese sich im Prinzip bereits längst vor ihm entwickelt hatte, und zwar gerade im 17. Jahrhundert angesichts des Zerfalls feudaler Strukturen und damit der Auflösung der Identität von privater und politischer Klugheit im engeren Sinn. Thomasius' Klugheitslehre markiert hier zweifellos den Ubergang zu einer bürgerlichen Unterscheidung von Staat und Individuum, von Herrscherklugheit und Privatklugheit, auch wenn er noch deutlich von älteren prudentistischen Tendenzen, wie sie sich vor allem bei Christian Weise niederschlagen, beeinflußt ist. Diese Traditionen und Tendenzen verknüpfen sich bei ihm schon sehr früh mit seinem generellen antischolastischen Impetus, speziell mit seinem Bestreben, die Wissenschaften lebensnäher und den Wissenschaftler weltklüger zu machen. Dazu gehört aber für ihn ganz primär eine manierliche Lebensart, gute Sitte bzw. Gesittung, deren theoretischer Erfassung und praktischer Wiederherstellung seine Lehre vom decorum gewidmet ist. Dies führt zu einer Kombination von Klugheits- und Anstandslehre (»gescheide Conduite«), die bis hin zu Knigge und weit darüber hinaus immer wieder Geltung beansprucht. Last not least aber wird man sagen müssen, daß mit 98

der systematischen Ausbildung der praktischen Philosophie als naturrechtliche Pflichtenlehre bei Thomasius eine neue Stufe philosophischer Selbstbesinnung erreicht ist, die es überhaupt erst wieder möglich und nötig macht, noch einmal prinzipiell nach der Klugheit zu fragen. Ist die praktische Philosophie vollendet, wenn sie als umfassende und nach Normgebieten differenzierte Pflichtenlehre konstituiert ist, oder müßte es nun noch eine Lehre von der Anwendung der theoretisch erstellten Regeln und Gesetze geben? Gibt es eine lehrbare Klugheit, die, wie zwischen Ziel und Mitteln, als praktizierte Urteilskraft zwischen Theorie (Normerkenntnis) und Praxis (Handlungssituation) vermittelt? Läßt sich die Klugheit selber wieder auf allgemeine Prinzipien zurückführen, d.h. in die Form einer Wissenschaft bringen?

j. Der Aufbau und Inhalt der Thomasischen

Klugheitslehre

Thomasius' Klugheitslehre erschien 1705, im gleichen Jahr wie sein rechtsphilosophisches Hauptwerk, die Fundamenta juris naturae et gentium, und zwar zunächst in lateinischer Sprache — beide Schriften übrigens mit dem neuen Anspruch, ex sensu communi deductae zu sein. Der volle Titel lautet: Primae lineae de jureconsultorum prudentia consultatoria, in quibus docetur, quid sit prudentia, quid consultatoria, qua ratione ea ad Jetos pertineat, quid observet prudentia tarn in dirigendis actionibus propriis, in conservation quotidiana et selecta, in societate domestica et civili, quam quoad ipsa Consilia aliis danda et ab iis petenda, fere ubique ex sensu communi deductae in usum auditorii Thomasiani (Halle und Leipzig 1705). Die Schrift gibt sich als Auszug aus einer früheren Vorlesung de prudentia legislatoria, beschränkt sich aber ganz auf die prudentia consultatoria, die dann in der deutschen Ubersetzung von 1707 als Klugheit, sich selbst und anderen zu raten, erläutert wird. Vor allem aber wird die Klugheit nun als politische Klugheit bezeichnet. Der vollständige, teils gekürzte, teils erweiterte Titel der Übersetzung lautet: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zurathen, und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen; Allen Menschen, die sich klug zu seyn duncken, oder die noch klug werden wollen, zu höchstnöthiger Bedürffnis und ungemeinem Nutzen (Frankfurt am Main 1707). 4 Da der Aufbau der Schrift nicht auf Anhieb übersichtlich ist, scheint es zweckmäßig, sich dessen Grundstruktur kurz klar zu machen. Die beiden ersten Kapitel handeln in Form einer Begriffsklärung von der Klugheit im allgemeinen und der Klugheit zu raten im besonderen; ein drittes Kapitel bietet, quasi als Exkurs, einen kurzen historischen Rückblick und leitet daraus Gründe für ein gewisses Vorrecht der Juristen auf dem Gebiet der Klugheitslehre ab. Dann folgt in mehreren Kapiteln der Hauptteil des Bu99

ches, die Klugheit zu raten, und zwar sogleich spezifiziert als Klugheit, sich selbst zu raten: zunächst wieder ganz allgemein (4. Kap.), dann, schon etwas spezieller, das Verhalten in der durch Kommunikation bestimmten Gesellschaft, nämlich die alltägliche Konversation (5. Kap.) und die ausgesuchte Konversation oder Freundschaft (6. Kap), sodann die Klugheit in der häuslichen und in der bürgerlichen Gesellschaft (7. u. 8. Kap.) und abschließend, fast als Anhang, die Klugheit, anderen Rat zu geben und selber bei ihnen Rat zu suchen (9. Kap.). Die Bestimmung der Klugheit erfolgt auch bei Thomasius (wie schon bei Aristoteles, wenn auch mit anderen Inhalten) im Hinblick auf die Weisheit. Weisheit und Klugheit sind im Grunde eins bzw. gehören aufs engste zusammen. Sie bestehen nicht in bloßer Spekulation und haben ihren Ort nicht im bloßen Verstand; sie gründen im Herzen oder Willen und beziehen sich beide auf die Praxis. Dennoch sind sie insofern verschieden, als die Weisheit allein auf das Gute bezogen ist, die Klugheit aber auch auf das Böse, das sie zu vermeiden trachtet, so daß strenggenommen nur Gott weise und der Mensch nur klug sein kann. Doch kann man auch etwas laxer sagen, die menschliche Weisheit ziele vornehmlich auf die Erlangung des Guten, während die Klugheit vornehmlich auf die Vermeidung des Bösen ziele. Und sie gehören so zusammen, daß die Klugheit (und deren Lehre) die Weisheit (und deren Lehre) voraussetzt — obwohl, wie Thomasius im Anschluß an seine Ethik sagen muß, die Klugheit mehr auf die äußerlichen Hindernisse bezogen ist, während die Weisheit die innerlichen Hindernisse, nämlich die bösen Affekte, bekämpft. Als eine solche Lehre vom Kampf gegen die äußeren Hindernisse der Glückseligkeit ist die Klugheit zugleich eine Lehre von den Mitteln zur Erlangung des wahren Guten. Die Lehre von den Mitteln, etwas Böses zu erreichen, ist hingegen eine falsche Klugheit, die Arglistigkeit. Die Arglistigen wiederum gehören zu den Narren oder Toren, von denen die meisten jedoch nur dumm und albern sind. Genau genommen bezieht sich diese ganze Beschreibung allerdings nur auf die ratgebende Klugheit, die von künftigen Taten handelt (während die sogenannte beurteilende Klugheit, die nur gestreift wird, auf vergangene oder gegenwärtige Taten bezogen ist). Diese Unterscheidung wird in einem weiteren Kapitel vertieft, und die ratgebende Klugheit dabei in eine ratgebende Klugheit im allgemeinen und eine besondere bürgerliche eingeteilt, die nicht abgehandelt werden soll. Faktisch bleibt es also bei der allgemeinen oder der (ratgebenden) Privatklugheit. Trotz dieser Privatisierung der Klugheit versucht Thomasius in einem eigenen Kapitel, die Kompetenz der Jurisprudenz für die Klugheit abzusichern — schließlich ist diese wie gesagt schon dem Namen nach eine Klugheit und außerdem seine Hauptprofession. Zunächst gibt er wie so häufig eine polemisch-historische Rückschau, in der der Anspruch auf die Erneuerung der Klugheitslehre mit deren Vernachlässigung durch die Scholastik 100

begründet wird. Die »päpstische Clerisey« wollte eine Unterordnung des Staates unter die Kirche; und weil sie selbst alle politischen Amter besetzte, konnte sie eine weltliche Klugheitslehre nicht wollen. Auch Humanismus und Reformation brachten zunächst keine Besserung, zumal die Philosophie selbst noch nicht reformiert wurde. V o r allem glaubte man aber immer noch mit Aristoteles, daß die Ethik nicht in die Form einer »gründlichen Wissenschafft« gebracht werden könne. »Allein dieser Irrthum ist schon vorlängst nicht nur mit sattsamen Beweiß-Gründen, sondern nunmehro durch die That wiederleget worden, indem wir die Lehre von der Gerechtigkeit, Erbarkeit und Sittsamkeit oder Wohlstande in gewisse, allgemeine und unstreitige Lehr-Sätze gebracht haben« (57). Auf der Basis dieses Selbstbewußtseins kann Thomasius auch den Einwand nicht gelten lassen, daß die Klugheit wegen der Ungewißheit und Komplexität ihrer Gegenstände nicht auf gewisse Regeln gebracht werden könne. Nachdem man außerdem »handgreiflich zu erkennen angefangen, daß niemand als kluge Politici der Tyranney der Pfaffen zu widerstehen [ . . . ] tüchtig sei« (62), steht einer wahren Begründung der Klugheitslehre nichts mehr im Wege. Diese aber ist, ohne daß Thomasius die anderen Fakultäten ausschließen möchte, primär A u f g a b e der Jurisprudenz; denn bekanntlich werden die Juristen am ehesten um Rat gebeten und allein zu fürstlichen Räten gemacht. Die Position der Philosophie hingegen erscheint eher ambivalent. »Ein anders ist die Philosophie in weiten Verstände, wie sie vor Alters genommen wurde; ein anders ist das A m t eines heutigen Philosophi auff Universitäten [ . . . ] Allein die Rechtsgelahrtheit selber ist allzeit auch vor einen Theil dieser (und zwar nicht der verkappten, sondern der wahren) Philosophie gehalten worden« (65)· Trotz der behaupteten Vorrangstellung der Juristen, die einen Beruf daraus machen, anderen zu raten, geht Thomasius anschließend völlig zur Klugheit, sich selbst zu raten, über. Dies wird damit begründet, daß die Klugheit, anderen zu raten, die Klugheit, sich selbst zu raten, voraussetze. Davon handelt dann faktisch das ganze Buch, so daß in dem allgemeinen Abschnitt über die Klugheit, sich selbst zu raten, nur allgemeine Regeln vorausgeschickt werden, z . B . zur »Erwählung einer Lebensart«. Inhaltlich konkret wird Thomasius' Klugheitslehre dann in den Ausführungen über die alltägliche und die besondere Konversation. Dabei wird Konversation, obwohl vor allem im engeren Sinn von Gespräch, im Prinzip im weiteren Sinn von Umgang genommen. Konversation ist »der Grund aller Gesellschafften« (108). Hier wendet sich Thomasius mit besonderem Nachdruck dagegen, daß der Weise sich in die Einsamkeit zurückziehen und sich nur der Betrachtung Gottes widmen solle. G o t t habe vielmehr den Menschen zur Geselligkeit erschaffen, und die schlechten Affekte nähmen in der Einsamkeit eher zu als ab. Der Melancholiker zum Beispiel, der sich mehr mit der Natur als mit den Menschen befaßt, spekuliert im Grunde genommen

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über einen Götzen. Auch ist es falsch, daß man sich mit Narren nicht abgeben dürfe, da man auch diese zur Selbsterkenntnis braucht. Nach diesen noch sehr allgemeinen Überlegungen wendet sich Thomasius nun der Klugheit in den einzelnen Gesellschaften zu, wobei er, wie schon in den Institutiones jurisprudentiae divinae, im Sinne eines modifizierten Aristotelismus auf naturrechtlicher Grundlage, zunächst zwischen häuslicher und bürgerlicher Gesellschaft und insofern deutlich zwischen privat und öffentlich unterscheidet. Die häusliche Gesellschaft wird dann wie üblich in die zwischen Mann und Frau, die zwischen Eltern und Kind und die zwischen Herrn und Gesinde eingeteilt. Der weitaus größte Teil handelt dann von der Klugheit in der Ehe bzw. bei der Eheschließung, wobei Thomasius vor allem eine »Gleichheit des humeurs« im Sinne einer Gleichheit der Sitten fordert, nämlich daß beide Personen nach Klugheit und Weisheit streben. Auffällig ist, daß er hier wie auch sonst, bei aller Zeitgebundenheit seiner Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Mann und Frau, die Freiheit der Frau, »sich selbst zu gouverniren«, betont (vgl. 170ff.). Die Abschnitte über das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern (bzw. Vater und Sohn) enthalten wie üblich eine Pädagogik in nuce. Thomasius betont hier nicht nur ein halbes Jahrhundert vor Rousseau die Notwendigkeit, mit Strafen sinnvoll umzugehen, sondern auch die Notwendigkeit, die Kinder kindgemäß zu behandeln und sie bei Zeiten statt zu mechanischer Nachahmung zu freimütiger Selbständigkeit hinzuführen. Am meisten zeitgebunden sind wohl seine Ausführungen über Herr und Knecht. Zwar unterscheidet er nicht mehr wie Aristoteles zwischen Freien und Sklaven, aber er fragt auch noch nicht nach sozialen Ursachen der Knechtschaft, sondern gibt sich mit deren sogenannten »natürlichen« Ursachen zufrieden, wobei er vorsichtshalber zweierlei Dienste und Bedienstete unterscheidet, nämlich das gemeine Gesinde und die vornehmen Bediensteten, denen man eine gewisse Selbständigkeit zusprechen muß. Die Ausführungen über die Klugheit in der bürgerlichen Gesellschaft handeln nicht von der politischen, staatsbürgerlichen Klugheit eines politisch engagierten Staatsbürgers (oder gar der politischen Klugheit im Sinne einer Staatsklugheit des Regenten), sondern von der Klugheit, die der Mensch als bürgerlich geselliges Wesen (als bourgeois, nicht als citoyen) beachten muß. Einteilungsprinzip ist Thomasius' Affektenlehre, d.h. die Menschen sollen auch als Glieder der menschlichen Gesellschaft psychologisch nach ihren drei Hauptaffekten (Wollust, Ehrgeiz, Geldgeiz), genauer gesagt: in ihrem Verhältnis zu Reichtum, Ehre und Belustigungen, betrachtet werden. Dabei sind Thomasius' Bemerkungen über das Verhältnis zum Besitz interessanterweise umfangreicher als seine Bemerkungen zu Ehre und Belustigungen zusammen — und dies, obwohl er gelegentlich behauptet hat, daß der Geldgeiz bzw. das Besitzstreben ihm völlig fremd seien. Hier betont er, daß der Besitz an sich nichts Böses, die Armut also kein 102

notwendiges Kennzeichen der wahren Weisheit sei; aber natürlich soll man sich vor allzu großem Reichtum hüten und den vorhandenen Reichtum nicht besitzen, sondern gebrauchen. Der Besitz von Gütern ist, »nachdem das Eigenthum eingeführet worden« (209), ein Mittel der Lebenserhaltung; und zum E r w e r b von Reichtum gehört nicht nur Arbeit, sondern auch Witz und Geschicklichkeit. Nachdrücklich wendet Thomasius sich gegen Bettelei und Müßiggang. Was hingegen Ehre und Ansehen betrifft, so muß man wahre und eitle Ehre unterscheiden. Z w a r gehört ein guter N a m e zur Weisheit, aber ein kluger Mann wird nicht allzu schnell allzu viel Ehre anstreben und sich vor allem vor der Anhäufung von Ehrenämtern hüten. U n d was letztlich die Wollust betrifft, so bemüht sich der kluge Mann natürlich immer, frohen Mutes zu sein. D a er keinen Abscheu vor ehrlichen Ergötzungen hat, ißt und trinkt er mit fröhlichem Herzen, läßt sich nicht mit Arbeit und Ämtern überhäufen und erquickt sich durch eine angenehme Konversation, w o z u auch die zu angemessener Zeit geheiratete Ehefrau gehört. Hier wird, gerade weil es in diesen letzten Ausführungen um die Klugheit in der bürgerlichen Gesellschaft gehen soll, besonders deutlich, wie privatistisch Thomasius' Klugheitslehre de facto ist, wie schwach der Zusammenhang dieser gesellschaftlichen Klugheit mit den Realitäten der bürgerlichen Gesellschaft ist (selbst wenn diese anders als bei Thomasius vom Staat unterschieden würde). U n d dieser Tatbestand wird durch das sachlich dünne Schlußkapitel, in dem nun endlich die Klugheit, anderen zu raten, thematisiert werden soll, per deficientiam nochmals unterstrichen. Denn nicht nur wird die Klugheit, anderen zu raten, weitgehend als Klugheit in Bezug auf sich selber (beim Beraten der anderen) verstanden; ihre Bedeutung wird auch noch durch die Herausstellung der Klugheit, Rat zu suchen, wiederum relativiert. So erweist sich Thomasius' politische Klugheit der Absicht wie der A u s führung nach als eine reine Privatpolitik — auch wenn die Bezeichnung politische Klugheit, die sich dann als pleonastisch erweist, zunächst eher das Gegenteil vermuten läßt. Thomasius unterscheidet, wie schon angedeutet, ausdrücklich zwischen allgemeiner Klugheit und bürgerlicher Klugheit: »Die rathgebende Klugheit ist entweder allgemein oder bürgerlich. Jene lehret alle Menschen, sie mögen seyn in was vor Stande oder Gesellschafft sie wollen, wie sie ihr Thun und Vorhaben wohl ausführen sollen [ . . . ] Die bürgerliche Klugheit aber siehet vornemlich auff die Regierung einer Republic und alle Theile der Majestät, di hero man sie auch die Klugheit Gesetze zu geben zu nennen pfleget, weil die vornehmste Sorge eines Regenten seyn soll, seinen Unterthanen Gesetze zu geben und die Regeln der Gerechtigkeit fest zu setzen.« (39) Das aber bedeutet: Die allgemeine Klugheit ist in allen Gesellschaften möglich und insofern vor- bzw. übergesellschaftlich, auch wenn sie sich, wie gezeigt, auf das Individuum in der häuslichen wie in der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. im Staat, bezieht - »weil bürgerliche 103

Gesellschafft hier nichts anders bedeutet, als eine Vereinigung vieler häußlichen Gesellschafften und derer darinnen lebenden Personen, soferne sie unter einen allgemeinen Regiment stehen« (170). Die sogenannte allgemeine Klugheit ist de facto individualistische Privatklugheit in jeder, also auch in der vom Staat noch ununterschiedenen bürgerlichen Gesellschaft, d.h. auf das Individuum (in der Gesellschaft), nicht auf die Gesellschaft als solche bezogen. Sie ist nur im allerweitesten Sinn politisch, nämlich als strategischtaktische Zweck-Mittel-Reflexion oder als Umgang mit Menschen in jeder Gesellschaft und folglich auch im Staat. Insofern ist sie in Wirklichkeit voroder überpolitisch in jedem engeren Sinn von politisch, eine private gesellschaftliche Klugheit. Die eigentliche politische Klugheit (politisch im engeren Sinn), die auf die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes, also auf den Staat, bezogen ist, heißt bei Thomasius — im Unterschied zur (politischen) Klugheit in der bürgerlichen Gesellschaft — bürgerliche Klugheit. Sie ist eine vornehmlich durch Gesetze regierende Klugheit bzw. Beraterklugheit. Diese politische bzw. »bürgerliche« Klugheit aber ist nur ein Spezialfall oder eine spezielle K o n kretion der allgemeinen Klugheit, Rat zu geben; die politische Klugheit im engeren Sinn, die Staatsklugheit, ist nur die Anwendung der »politischen« Klugheit im weiteren Sinn, der Privatklugheit. »Es ist aber hieraus zu sehen, daß man die Pferde hinter den Wagen spanne, wenn man die bürgerliche Klugheit erlernen will, ehe man die allgemeine Rath-gebende Klugheit gefasset hat, weil jene, (als ein Theil oder Art von dieser) keine neue Reguln giebet, sondern dieselben von dieser erborget, auf das politische Regiment appliciret und unterweilen nur erweitert. Wir wollen also vorietzo bey der allgemeinen Klugheit Rath zu geben verbleiben, und die Lehre der bürgerlichen Klugheit andern überlassen.« (40, vgl. 57f£.) Mit dieser kurzschlüssigen Ableitung der Politik qua Staatsklugheit aus der Politik qua (allgemeine) Privatklugheit wird nicht nur, wie besonders in Deutschland immer wieder, die Politik gleichsam von G r u n d auf entpolitisiert; der Jurist T h o masius, obwohl er die ratgebende Klugheit vor allem als Sache der Juristen, ja sogar die »Wissenschafft der Historie und Politic« als die »beyden Augen der Klugheit« betrachtet (vgl. 50), scheint sich sogar endgültig aus der vor allem als Gesetzgebung verstandenen Politik (prudentia legislatoria) verabschieden zu wollen — auch wenn er anscheinend noch mit dem Gedanken spielt, irgendwann einmal auch von der bürgerlichen Klugheit ausführlicher zu handeln. Eine systematische Politik qua Staatsklugheit hat er niç geschrieben. Wohl aber hat er immer schon eine naturrechtliche Grundlegung auch des Staates in seiner Naturrechtslehre versucht. So ist Thomasius* Lehre von der politischen Klugheit de facto eine unpolitische Privatpolitik. Sie ist, als Lehre von den Hindernissen der Glückseligkeit, eine um die Politik im engeren Sinn verkürzte Ergänzung der naturrechtlichen Pflichtenlehre, und zwar insbesondere ihres dritten Teils, der 104

Lehre vom decorum. Darüber hinaus aber ist sie eine nicht auf Ethik abzweckende, wohl aber sich im Rahmen der Ethik haltende Klugheitslehre, die alles das regelt, was angenehm und nützlich ist, was zwar nicht geradezu Pflicht ist, aber bei Mangel oder Mißbrauch auch moralisch schädlich werden kann. Klugheit ist »ethische« Lebensklugheit, sozusagen »Politik des Lebens«.

4. Staatsklugheit und Privatpolitik im 18. Jahrhundert A u f s ganze gesehen ist Thomasius' Klugheitslehre natürlich eher ein kulturhistorisches Dokument als eine wegweisende Philosophie. Wie alle Klugheitslehren ist auch sie unvermeidlich sehr subjektiv und enthält daher ebenso unvermeidlich neben einigen erstaunlichen Einsichten auch sehr viele Platitüden. Dies ist nicht zuletzt eine Folge des Grundansatzes der Klugheitslehre, insofern diese aus dem Leben eine Art Lebenskunst machen will oder machen muß, also Lebensfragen zum Gegenstand eines rationalen Kalküls zu machen oder existentielle Probleme, wenn man so will, quasi zu technisieren versucht — schon dadurch, daß sie die besonderen Fälle, in denen es der Klugheit bedarf, wiederum generalisieren muß. Durch diese Entfernung von der jeweils einmaligen konkret-komplexen Situation ergeben sich aber sofort wieder unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, die dazu führen, daß man sowohl zu diesem als auch zu jenem raten kann. Daher muß es letztlich immer wieder bei dem unverbindlichen Rat bleiben, die »Mittelstraße« einzuhalten. Z w a r bezieht Thomasius hinsichtlich der alten, heute nur noch durch Kant bekannten Streitfrage, ob die Klugheit in die Form einer Wissenschaft gebracht werden könne, eindeutig Stellung; ja, er muß den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sogar noch verschärfen, da das neue Naturrecht, als dessen Vorkämpfer er sich versteht, seit Hobbes eine mehr oder weniger exakte Praxiswissenschaft (Rechts-, Moral- und Politikwissenschaft) zu sein beansprucht. Insofern versucht er unwillkürlich, auch die Klugheitslehre, die die wissenschaftliche Pflichtenlehre (Naturrechtslehre) ergänzen und sozusagen komplettieren soll, noch zu einer Wissenschaft zu machen, und zwar zu einer Handlungswissenschaft (vgl. 5 5 ff.). Allerdings fehlt ihm ein klarer oder eindeutiger Wissenschaftsbegriff. Denn einerseits hält er an der alten Auffassung von Wissenschaft als Erkenntnis des Immerseienden fest; andererseits macht er moderne, empiristisch radikalisierte Erkenntnisansprüche. Einerseits hält er die Naturwissenschaft für nur wahrscheinlich und die Moralphilosophie wegen ihrer ewigen und unveränderlichen Prinzipien f ü r viel gewisser; andererseits hat er die menschliche Erkenntnisfähigkeit gerade in moralischen Fragen schon früh grundsätzlich in Zweifel gezogen. Letztlich behilft er sich im allgemeinen mit der etwas unverbindli105

chen Feststellung, daß es verschiedene Arten von Wissenschaft und folglich auch verschiedene Grade von Gewißheit gebe. Auch aus diesen Gründen bleibt seine Klugheitslehre ein Konglomerat aus scharfsinnigen Beobachtungen und willkürlichen Behauptungen, hypothetischen Imperativen und praktischer Konsequenzenlogik - auf äußerst subjektiver Basis; zumal er, wie bereits angedeutet, angesichts der unübersehbaren Komplexität aller konkreten Handlungssituationen immer wieder auf definitive Eindeutigkeit verzichten und sich auf ein Sowohl-als-auch oder Je-nachdem zurückziehen muß. Dennoch hat Thomasius' begrenzte Restitution der Klugheitslehre zunächst einmal Schule gemacht, und zwar weil sie offensichtlich einem Bedürfnis entsprach. An die Stelle der alten Hofklugheit, die er anfangs selber noch (in seiner später als Hofweisheit übersetzten Philosopbia aulica) zu adaptieren versuchte (weniger wohl, um die schon verselbständigte Hofklugheit wieder in die Philosophie zu integrieren, als um die Philosophie hoffähig zu machen), tritt nun eine neue, bürgerliche (wenn auch noch nicht staatsbürgerliche) »politische« Klugheit — eine ziemlich individualistische oder privatistische, aber auf allgemeinen Umgang mit Menschen und Fortkommen in der bürgerlichen Gesellschaft bezogene, prudentistische Alltagsethik, die sowohl dem Bedürfnis der Nichtphilosophen nach praktischer Lebensanweisung entgegenkommt als auch dem Willen der frühen Aufklärung zur Popularisierung der Philosophie und damit zur praktischen Etablierung von Vernunft entspricht. Von hier aus geht — wie auch von der bei Thomasius mit der Politik (speziell Privatpolitik) engstens verknüpften Anstandslehre (Wissenschaft von der Wohlanständigkeit) — eine direkte Linie bis hin zu Knigges Lehre Vom Umgang mit Menschen. Allerdings gab es auch schon bald (auf der neu formierten Basis der etablierten Klugheitslehre) eine deutliche Gegenbewegung gegen die starke Privatisierung der Klugheitslehre, gegen ihre fast vollkommene Reduktion auf Privatpolitik. Da Thomasius sich partout nicht die Finger an der Politik verbrennen wollte (was in seiner Situation auch wenig sinnvoll, also unklug gewesen wäre), machte er, wie gezeigt, einen scharfen Unterschied zwischen staatlicher und privater Politik (zwischen öffentlicher und individueller Klugheit) und tendierte zu einer prinzipiellen oder doch provisorischen Politikabstinenz. Dieses Defizit einer, durch erklärte Inkompetenz, in die arcana abgeschobenen Staatsklugheit mußte natürlich manchen politischen Academicus oder philosophus aulicus zur Auffüllung reizen, zumal ja in der auch den Staat (die societas civilis) erörternden Naturrechtslehre bereits eine neue politica architectonica, eine sogenannte Staatsweisheit, vorlag, die auf eine praktikable Anwendungslehre, die sogenannte Staatsklugheit (Politik im engeren Sinne), geradezu zu warten schien. So wird die Klugheit jetzt sozusagen doppelgleisig (um nicht zu sagen: doppelbödig) als prudentia privata et/vel politica, als Klugheit, zu leben und zu herrschen, usw. zum 106

Thema der frühen Aufklärung — eine Fragestellung, die sich noch vor der Jahrhundertmitte, besonders bei den Wolffianern, mit Wolffs später Unterscheidung von Theorie und Praxis verknüpft bzw. darin aufgeht. Von hier aus läuft dann auch eine gerade Linie zu Kants Konzeption der Politik als angewandte Rechtslehre. Die Entwicklung der Klugheitslehre im 18. Jahrhundert ist bisher nur in isolierten Ansätzen erforscht. Ihre Darstellung müßte einerseits den Zusammenhang und das Auseinanderbrechen von Staatsklugheit und Privatklugheit im Auge behalten, andererseits die fast durchgängige Verknüpfung von privatpolitischer Klugheitslehre und Anstandslehre, also das ethischprudentistische Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft. Davon konnte auch hier nur andeutungsweise die Rede sein. Doch sei wenigstens noch auf zwei Philosophen hingewiesen, die das Prinzip der Klugheit (wenn auch unbefriedigend) systemkonstitutiv durchgeführt haben, nämlich Budde und Rüdiger. Noch während Thomasius an seiner Neugliederung der praktischen Philosophie arbeitete, hatte der Theologe Johann Franz Budde (damals neben Thomasius in Halle lehrend und von ihm beeinflußt) die praktische Philosophie so zu systematisieren versucht, daß sowohl die peripatetische Tradition als auch die naturrechtlichen Innovationen zu ihrem Recht kommen sollten. Seine Elementa philosophiae practicae (i697, 2. Aufl. Halle 1703) zerfallen in drei Teile: Ethik als Glückseligkeitslehre, Naturrecht als Pflichtenlehre und Politik als Klugheitslehre. Diese handelt von den Mitteln oder dem Nützlichen, hat aber, da sie sich auf Glück und Pflichten als vorgegebene Zwecke bezieht, eine deutlich schwächere Stellung. In ihr werden sowohl Staatsklugheit als auch Privatklugheit abgehandelt, so daß schon hier die Politik im engeren Sinn sowohl in der Naturrechts- als auch in der Klugheitslehre erscheint. Auch deshalb macht Buddes »eklektisch« um Ausgleich bemühtes System einen unausgeglichenen Eindruck und hat sich in dieser Form nicht durchsetzen können. Die Vermittlung zwischen alter Klugheitslehre und moderner Pflichtenlehre geschieht vordergründig in Form einer Ergänzung der Klugheitslehre durch die Pflichtenlehre, wobei die prudentistische Glückseligkeitslehre am Anfang bestehen bleibt. Auch bei dem Mediziner Andreas Rüdiger, dem philosophisch bedeutsamsten Schüler von Thomasius, spielt die Klugheitslehre wieder eine wichtige Rolle: sowohl formal im Rahmen seines Systematisierungsversuches als auch inhaltlich in einer ihr eigens gewidmeten Schrift. Auch Rüdiger (Philosophia synthetica, Leipzig 1708) teilt die gesamte Philosophie in drei Teile. Nach dem theoretischen Teil (sapientia), der die Logik und Physik enthält, folgt ein teils theoretischer teils praktischer, letztlich wohl praxistheoretisch gemeinter Teil (Justitia), der de fine handelt und in Metaphysik bzw. natürliche Theologie einerseits und Naturrechtslehre andererseits zerfällt. Den Schluß bildet ein dritter praktischer Teil (Prudentia), der de mediis handelt, 107

und zwar als Ethik von der Affektenbekämpfung und als Politik von der Staatskunst und der Privatpolitik. Diese Politik im engeren wie im weiteren Sinn wird von Rüdiger dann noch einmal, unter Bezug auf Budde, in einem deutschsprachigen Werk ausgeführt (Klugheit zu leben und zu herrschen, Leipzig 1722). Schon hier zeigt sich, wie die Erörterung der Klugheit, wenn sie wirklich praktisch zu werden und als Lebensklugheit alle Lebensbereiche einzubeziehen versucht, zu einer unabsehbaren Ausuferung der Philosophie führen muß; und dies mußte letztlich zu einer Ausgliederung der Klugheitslehre aus der Philosophie und zu ihrer totalen Spezialisierung durch Konkretisierung führen. 5 Zu diesem Ergebnis führte dann letztlich auch die Entwicklung Wolffs und seiner Schule. Nachdem Wolff, der durch Pufendorf populär gemachten Unterscheidung zwischen officia hominis und officia civis folgend, zunächst eine deutsche Ethik und eine deutsche Politik geschrieben hatte und dabei Theorie und Praxis bzw. Pflichtenlehre und Ratschläge der Klugheit jeweils zusammen behandelt hatte, ließ er sich durch seinen ersten bedeutenden Schüler Ludwig Philipp Thümmig zu einer deutlicher unterscheidenden neuen Systematisierung bewegen. Thümmig hatte in seinen Institutiones philosophiae Wolfianae (Frankfurt und Leipzig 1725/26) die praktische Philosophie nach Theorie und Praxis gegliedert. Nach einer einleitenden philosophia practica universalis wird das Naturrecht qua theoretische Pflichtenlehre in ein jus naturale ethicum und ein jus naturale politicum eingeteilt und diesen Teilen dann eine Ethik und Politik als Lehre von der praktischen Anwendung zugeordnet, wodurch die Ethik und die im engeren Sinne verstandene Politik faktisch wieder zu einer Klugheitslehre (oder Politik im weiteren Sinne) werden. Allerdings führt diese Verdoppelung der praktischen Philosophie (theoretische Pflichtenlehre einerseits, praktische Klugheitslehre andererseits) ebenfalls zu einer Aufblähung der praktischen Philosophie — auch wenn in Wolffs unvollständigem Werk die Lehre von der Privatklugheit als solche nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Allein die Politik im engeren Sinn zerfällt jetzt in zwei Disziplinen, in eine theoretische oder naturrechtliche und eine praktisch-prudentistische, in Staatsweisheit und Staatsklugheit. Um die Jahrhundertmitte ebbt die Erörterung der Klugheit in der Philosophie anscheinend mangels produktiver Substanz merklich ab, und dies betrifft sowohl die Privatklugheit als auch die Staatsklugheit, die nun zwischen Rechts- und Moralphilosophie, der neuen gesellschaftsrelevanten Dichotomie, geradezu zerrieben werden. Die Staatsklugheit wird entweder (wie schon bei Thomasius) zur Frage fürstlicher Empirie, dem beschränkten Untertanenverstand des unpolitischen Bürgers letztlich nicht zugänglich; oder sie fristet ein kümmerliches Dasein als Annex der sogenannten Staatsweisheit, d.h. desjenigen Teils der Rechtslehre, der sich prinzipiell mit dem Staat beschäftigt, meist also der Naturrechtslehre des Staates — soweit sie 108

nicht in Zusammenhang mit der ausufernden Ökonomie zur bloßen empirischen Staatswissenschaft (Staatenkunde) wird. Politik als angewandte Rechtslehre (Staatsklugheit als Rechtsklugheit) ist qua Anwendung eigentlich kein genuines Thema der Philosophie; Politik als philosophisches Problem ist nur ein partielles Problem einer im Prinzip politikfernen metaphysischen Rechtslehre (Kant), die sich dann auch verlegen Philosophie des Rechts, Naturrecht und Staatswissenschaften im Grundrisse usw. nennt (Hegel). Die Privatpolitik hingegen, die sich zu Beginn des Jahrhunderts quasi neben der Tugendethik als eine Art zusätzlicher prudentistischer Alltagsethik etabliert hatte, wird zum kleineren Teil (ähnlich wie die Politikphilosophie von der Rechtslehre) wieder von der Ethik resorbiert, zum größeren Teil aber wandert sie wie die Anstandslehre (als nicht philosophiefähig und nicht philosophiewürdig) in die philosophieferne Trivialliteratur ab, w o die Klugheitslehre in der alten Verbindung mit der Anstandslehre bis heute weiterlebt. Klugheit, so heißt es jetzt bei Kant, der sich sozusagen Thomasius' Erbe mit Knigge teilt, kann nicht auf Regeln gebracht werden; der Versuch einer Verwissenschaftlichung der Klugheit würde in einen regressus ad infinitum führen. Wohl aber hält Kant noch am Ideal des Weisen als Ideal der praktischen Philosophie fest. N a c h Kant wollen die Philosophen anscheinend weder klug noch weise sein, sondern nur noch, je länger desto mehr, Wissenschaftler. Vielleicht wird die möglicherweise schon platzgreifende Einsicht, daß sie es doch nie zu anerkannten Wissenschaftlern bringen werden, sie irgendwann auch wieder versuchen lassen, klug und weise zu sein.

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ANMERKUNGEN

ι. Zur folgenden biographischen Skizze vgl. MAX FLEISCHMANN: »Christian Thomasius«. In: D E R S . : Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk. Halle 1 9 3 1 ; E R I C H NEUSS: »Christian Thomasius' Beziehungen zur Stadt Halle«. Ebd.; AUGUST N E B E : »Thomasius in seinem Verhältnis zu Α . H . Francke«. - C A R L H I N R I C H S : Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971. Zur Bibliographie von Thomasius' Werken vgl. ROLF L I E BERWIRTH: Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie. Weimar 1955. Zur Interpretation von Thomasius' Philosophie vgl. WERNER SCHNEIDERS: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim und N e w York 1971 (bes. S. ioo, 1 1 8 , 150, 268 ff., 284). 2. Die Geschichte der Klugheitslehre ist bisher nur in groben Zügen bekannt. Vgl. den Artikel »Klugheit« in: Historisches Wörterbuch der Philosopohie. Bd. 4 Basel 1976. Im allgemeinen wird das Problem der Klugheitslehre im 18. Jahrhundert heute nur aus der Perspektive einer Aufarbeitung der politischen Philosophie gesehen. Vgl. D I E T H I L D M A R I A M E Y R I N G : Politische Weltweisheit. Studien zur deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Diss. Münster 1965; JUTTA BRÜCKNER: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der Politischen Wissenschaft im Deutschland des späten i j . und frühen 18. Jahrhunderts. München 1977; GOTTHARDT FRÜHSORGE: Der politische Körper. Stuttgart 1974. 3. Vgl. WERNER SCHNEIDERS: »Der Verlust der guten Sitte. Auch ein Beitrag zur Geschichtlichkeit der Moral«. In: Studia philosophica 44 (1985), S. 61 —77. 4. Thomasius' Vorlesung De prudentia legislatoria wurde erst 1740 von GOTTLIEB STOLLE herausgegeben. Dazu vgl. H E L G A TUBIES: Prudentia legislatoria bei Christian Thomasius. Diss. München 1975, sowie demnächst ROLF LIEBERWIRTH: »Christian Thomasius und die Gesetzgebung«. In: WERNER SCHNEIDERS (Hrsg.): Christian Thomasius 1655 — 1728. Studium zum 18. Jahrhundert. 5. Dies ist auch schon bei BERNHARD J U L I U S VON ROHR zu erkennen, der noch vor Rüdiger die Klugheit zu leben als Klugheit der Privatpersonen und die Staatsklugheit als die Klugheit der Landesfürsten in zwei Werken behandelt hat: Klugheit zu leben. Leipzig 1 7 1 5 ; Einleitung zur Staatsklugheit. Leipzig 1718. Auch JOHANN C H R I STOPH A L B E R (Von der Klugheit des Bürgers. Leipzig und Helmstedt 1766) unterscheidet noch zwischen der Klugheit des Bürgers, sich selbst glücklich zu machen, und der Klugheit des Fürsten, andere glücklich zu machen.

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BRUNO

BIANCO

F r e i h e i t gegen F a t a l i s m u s

Xu Joachim Langes Kritik an Wolff

ι. Zur Vorgeschichte des Streits: Der theoretische und polemische Hintergrund In der Geschichte der Universität Halle, ja im geistigen Leben Deutschlands im 18. Jahrhundert stellt die Vertreibung Wolffs eine der aufsehenerregendsten Episoden dar, und es steht außer Zweifel, daß Joachim Lange, der erbittertste Gegner des Philosophen, dabei in einen üblen Ruf geraten ist. Als »das eigentliche Schwert der theologischen Fakultät« 1 lieferte er Frankke die theoretischen Waffen für den Kampf: Zwar hat dieser die letzte Demarche beim preußischen König unternommen, der Wolff mit der berühmten Kabinettsordre vom 8. November 1723 befahl, »daß er binnen 48 Stunden nach Empfang dieser Ordre die Stadt Halle und alle unsre übrige Königl. Lande bey Strafe des Stranges räumen solle«. 2 Tatsache ist aber auch, daß Lange seiner Genugtuung über diese Verordnung öffentlich Ausdruck gegeben hat 3 und daß erst ein königlicher Befehl von 1736 der langen Reihe seiner polemischen Schriften gegen die Wölfische Philosophie ein Ende setzen konnte. 4 Man kann daher die herkömmliche Interpretation der Vertreibung Wolffs aus Halle als ein typisches Beispiel religiöser Intoleranz nicht einfach beiseite schieben, zumal es sich um die Pietisten handelte, die jetzt nicht zögerten, die politische Gewalt gegen ihre Gegner zu Hilfe zu rufen, während sie sich vorher als Minderheit — zu den Aposteln der Toleranz und der Gewissensfreiheit gemacht hatten. Ebensowenig handelte es sich nur um eine Boshaftigkeit Wolffs und seiner Anhänger, wenn als ein Grund für die Auseinandersetzung der Neid Langes wegen des Erfolgs seines Kollegen bei den Studenten genannt wurde oder gar das väterliche Interesse für die akademische Laufbahn des jungen Johann Joachim, der die Schule Wolffs Hindernisse in den Weg legte. 5 Gewiß, das herkömmliche Klischee, demzufolge Wolff die Rolle eines unschuldigen Opfers und zugleich die eines »philosophischen Helden« spielt, während Lange als der Verfolger und als ein »abgesagter Feind der Vernunfft und Philosophie« 6 erscheint, ist nicht frei von Gewaltsamkeit. III

Verantwortlich dafür ist zunächst Wolff selbst, wenn er — von der Gerechtigkeit seiner eigenen Sache unerschütterlich überzeugt — sich nicht scheut, das Verhalten seiner Gegner mit dem der Pharisäer gegenüber Christus zu vergleichen.7 In Wirklichkeit ist sich der Historiker heute darüber im klaren, daß er die Quellen, die fast ausschließlich von Wolffianischer Seite stammen,8 nur mit Vorsicht auswerten darf. Und andererseits gelingt es selbst den Quellen nicht, das Bild eines Wolff zu verbergen, das ganz anders aussieht als die glanzvolle Rolle eines Helden und Opfers, die sie zu befestigen suchen. Zunächst einmal steht ein Wolff vor uns, der mit dem ganzen Selbstbewußtsein eines Wissenschaftlers von europäischem Rang mit den Waffen der Ironie und des Spotts zu fechten weiß. Francke, der ihn um das Manuskript der Oratio de Sinarum philosophia9 bittet, antwortet Wolff mit einer spröden Ablehnung, die in eine Herausforderung mündet: »Sollte ihnen belieben, meine Oration zu schelten, so kann ich es geschehen lassen. Ich will sie nur drucken lassen, und an alle Orte und Wege, wo Gelehrte sind, hinschicken; ich hege keinen Zweifel, sie wird so wohl aufgenommen werden, wie meine übrigen Sachen, die insgesamt nach ihrem Geschmack sind.« 10 Und wenn der Appell der Pietisten an König Friedrich Wilhelm zu Recht auf Mißbilligung stößt, so darf man doch nicht vergessen, daß sich auch Wolff ohne Bedenken an die Zivilbehörde wandte, um seinen ehemaligen Schüler Strähler zum Schweigen zu bringen,11 und daß er selbst in gleicher Weise an den König appellierte, um gegen die eigene Fakultät die Berufung Thümmigs zum Ordinarius zu unterstützen.12 Man kann also darüber streiten, ob das Bild eines »Märtyrers«, das Zeller beim Vergleich mit Fichte auf Wolff anwendet, tatsächlich am angemessensten ist, oder ob, wie der Historiker im Falle Fichtes einzuräumen bereit ist, »die Sache, mit etwas weniger Schroffheit von einer Seite, eine minder gewaltsame Lösung gefunden hätte«.' 3 Wie dem auch sei, es handelt sich hier um Richtigstellungen, die an dem Ernst und der Feindseligkeit, die die Episode begleiteten, nichts zu ändern vermögen. Darüber hinaus aber lassen sie die Rechtsfrage, das quid iuris — um die bekannte Kantische Formulierung zu gebrauchen — noch offen. Wie Kant erklärt hat, muß man zwischen dem quid iuris und dem quid facti unterscheiden, und eben dies ist, so scheint uns, bei der Beurteilung des Halleschen Streits bis jetzt nicht geschehen. Mit anderen Worten: Zu oft hat die Darstellung der äußeren Begebenheiten die sachlichen Gründe für die Auseinandersetzung in den Hintergrund treten lassen. Oder, noch klarer: Die berechtigte Verurteilung der intoleranten Praxis der Pietisten hat dazu geführt, das Gewicht ihrer Argumente zu unterschätzen. Bestenfalls wird auf den Kontrast zwischen zwei Weltanschauungen14 verwiesen, auf dem spezifischen Terrain der Philosophiegeschichte und der Ideengeschichte dagegen, in das die Schriften Langes gehören, fällt das Urteil summarisch und abwertend aus: »Auf Langes Beweisführungen im einzelnen einzugehen« — schreibt Max Wundt, 112

dem wir die sorgfältigste philosophische Rekonstruktion verdanken — »lohnt nicht; sie sind von keinem großen Gewicht und bedienen sich öfters auch unlauterer Mittel, indem Wolffs Lehren höchst einseitig aufgefaßt und ganz schiefe Folgerungen aus ihnen gezogen werden. Von Bedeutung ist nur der allgemeine Standpunkt, den tiefer zu begründen, Langes philosophische Fähigkeiten allerdings nicht ausreichten«. 1 ' Noch drastischer fällt das Urteil in der jüngsten Neuausgabe der Caussa Dei et religionis naturalis aus, einer der bedeutendsten polemischen Schriften Langes: »Ces accusations, révélatrices d'une totale incompréhension, n'offrent aucun intérêt par elles mêmes.« 16 Ziel der folgenden Untersuchung ist genau dies: eine »Rettung« des philosophischen Gedankengangs Langes, der, wie wir sogleich sehen werden, um den Vorwurf des Fatalismus kreist. So werden wir — wenn auch nur im Rahmen einer Analyse der großen Linien — zu zeigen versuchen, daß diese Argumente keine bloß vom Gefühl bedingten Stegreifargumente sind. Als ausgearbeiteter Ausdruck bestimmter philosophisch-religiöser Traditionen decken sie einige grundlegende Aporien des großartigen Leibniz-Wolffschen Gedankenbaues auf und nehmen einen beträchtlichen Einfluß auf die deutsche Aufklärungsphilosophie bis hin zu Kant. Die Polemik zwischen Lange und Wolff fällt, wie bereits erwähnt, literarisch gesehen in die Zeit zwischen 1723 und 1736, dem Jahr des Königlichen Erlasses. 17 Am interessantesten sind jedoch in ihrer dichten Aufeinanderfolge' 8 die Schriften von 1723; danach wird die Auseinandersetzung immer schleppender, bis zum Uberdruß wiederholen beide Seiten ihre Argumente. Lange liefert seine organischste Darlegung in der Modesta disquisitio (= MD),19 die im Herbst — kurz nach der Vertreibung Wolffs — herausgekommen ist. Für Wolff werden wir hauptsächlich die beiden Repliken in der Luculenta commentano (= LC)Z0 und im Monitum ad commentationem luculentam (= MC)11 heranziehen. Langes Angriff auf Wolffs Deutsche Metaphysik ( = DM)" — deren Paragraphen in MD reichlich angeführt werden, auch wenn der Verfasser hier nur als »vir clarissimus« oder »auctor clarissimus« auftritt — hat ein Vorspiel, das für ein besseres Verständnis der Beweggründe der pietistischen Polemik wenigstens kurz aufgerollt werden muß. Ins philosophische Rampenlicht war Lange bereits 1704 während seiner Berliner Tätigkeit als Gymnasialrektor und Prediger mit einer Medicina mentis23 getreten, die mit dem gleichnamigen Werk von Tschirnhaus nur den Titel gemein hat — wie der Verfasser selbst bereits in der Vorrede hervorhebt (§ XI). Pate stehen bei diesem Werk nicht Descartes und Spinoza, sondern der Eklektiker Thomasius und der Mystiker Poiret, 14 bei denen sich die Feindseligkeit gegenüber dem Geist und der Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft mit der Ablehnung der aristotelisch-metaphysischen Tradition verbindet. Die dritte Komponente, in vielfältiger Hinsicht mit den anderen beiden homo-

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gen, ist das dialektische Verständnis des Pietismus von Sünde und Gnade, von Bekehrung und Wiedergeburt, das Lange in engem, tagtäglichen Umgang mit Spener und Francke 25 in sich aufgenommen hatte. Der Einfluß dieser geistigen Konstellation wird bereits an der allgemeinen Gliederung des Werks offenkundig. A m Anfang steht ein weitausholender Uberblick über die Geschichte der Philosophie, der bei den biblischen Ursprüngen beginnt. Es folgt eine Analyse der Krankheit des Geistes (Pars II: De mentis aegritudine, S. 247 — 322), in der die pietistische Betonung der natürlichen Verderbnis durch die Erbsünde mit der modernen, insbesondere Thomasischen Kritik an den Vorurteilen der Vernunft zusammenfließt. Lange schwebt das Ideal einer Weisheit vor, die direkt von der Offenbarung inspiriert wird und so vor allem auf der Anerkennung der geschöpflichen Abhängigkeit des Menschen von Gott beruht: Unter Aufnahme der Poiretschen Terminologie — was ihm die Sarkasmen der Wolffianischen Kreise einbringen wird 26 — behauptet Lange ohne Zögern, man habe von der »mosaischen« Philosophie und Physik als den Grundlagen der »eruditio solida« auszugehen. 27 Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Ideals, gespeist von der biblischen Offenbarung, aber auch von der theosophischen Spekulation, gehören zur »eruditio superficiaria« oder »secundaria«, deren Prinzip das »lumen naturale, partim etiam spirituale, sed mere naturaliter usurpatum« {De eruditione superficiaria, § IV, S. 586) ist, die traditionellen Disziplinen wie die natürliche Theologie, die Logik, die Ethik, die Physik und die Mathematik, sofern sie nur geheilt und auf das höhere Prinzip zurückgeführt sind. In der »eruditio falsa« oder »docta stultitia« werden dieselben Wissenschaften dagegen verurteilt und verworfen, sofern ihr »principium ac instrumentum« die von der Erbsünde verdorbene Vernunft, die »corrupta ratio«, ist {De eruditione falsa, § Iff., S. 608). Und so wird die Mathematik, die in untergeordneter Funktion als alternatives pädagogisches Instrument in bezug auf die rhetorisch-humanistische und logisch-metaphysische Tradition zugelassen wird {De erud. superf., § X X X I V , S. 601), angefochten, wenn sie Mathematizismus, d.h. eine metaphysische Auffassung der Wirklichkeit wird. Lange hat hier die neuzeitliche Verflechtung zwischen mathematischer Naturauffassung und Determinismus im Visier, unter Verwendung von Begriffen, die seine spätere Polemik gegen Wolff deutlich vorwegnehmen: Praeterea inordinatum Matheseos Studium incautos, qui ex Philosophia Mosaica non hausere verae Physicae principia, ducit ad Mechanismum in rebus naturalibus omnibus; quo [...] certe nihil fingi potest ut speciosius, sic etiam absurdius et magis noxium. N o n solum etiam saniora Medicinae principia, ideoque eam totam, labefactat et corrumpit; sed etiam apud incautos et in moralibus, imo et in spiritualibus, sublata libertate, inducit necessitatem mechanicam et fatalem. Unde non potest non infelici partu ipse Scepticismus aut Stoicismus gigni. {De erud. falsa, § L X I I I , S. 636)

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Noch lebhafter ist die Polemik Langes gegen die aristotelisch-scholastische Philosophie und deren Gebrauch in der Theologie, mit Ausbrüchen, die denen Luthers gegen die »blinde Vernunft, des Teufels Hure«, 28 an Heftigkeit nicht nachstehen. Paradebeispiel der Wolffianer, als Beweis für die Feindseligkeit Langes gegen Philosophie und Vernunft überhaupt, ist der folgende Passus aus dem historischen Überblick: Quid ergo est in vera Theologia Aristoteles? num famulus? nullo certe modo, sed insidiator, nugator, corruptor: nec philosophiam vulgarem illibata Theologia pro anelila agnoscit, sed pro meretrice. Sancta domina pudicam habet ancillam, ut casta Susanna castam Cajam; sed impudica Lais impudicam Corinnam: Theologia spinosa spinosam Metaphysicam, cum cerebrosa Dialéctica [...] (Hist. Philos. Period., VI, § X V I I I , S. 235)

Für uns Nachkommen freilich sind ein historisches Urteil und das Verständnis solcher Angriffe leichter als für Wolff und seine Schule, die gerade darangingen, die aristotelisch-scholastische Tradition in Verbindung mit der modernen Philosophie und Naturwissenschaft wiederaufzunehmen. Ebenso wie man sich davor hüten wird, aus Luthers Verwerfung der Philosophie und der Vernunft in ihrem verabsolutierten theologisch-metaphysischen Gebrauch voreilig zu folgern, er sei gegen die Vernunft überhaupt, 2 ' so muß auch Langes Verhalten als Reaktion auf eine bestimmte philosophisch-theologische Richtung verstanden werden, die man als Aristotelismus bezeichnete. Seine Polemik gegen die »philosophia vulgaris« fügt sich nicht nur in den Rahmen des Kampfes des Pietismus gegen die neue Scholastik der protestantischen Orthodoxie ein — ein Kampf, in dem Lange selbst einer der bedeutendsten Protagonisten gegen den Dresdener Superintendenten Valentin Ernst Löscher gewesen ist 30 — sondern auch in den allgemeineren Rahmen der nie erloschenen Opposition des 17. Jahrhunderts gegen den Aristotelismus und gegen die Metaphysik,' 1 eine Opposition, die sich um die Jahrhundertwende zuspitzt und bekanntlich in den Schriften des jungen Thomasius auch satirisch niederschlägt. 32 Diese satirische Ader zeigt sich deutlich auch in Langes Medicina mentis, wo die Metaphysik nicht nur mit einem Thomasius-Zitat gebrandmarkt, 33 sondern auch zusammen mit der Syllogistik im Anhang verspottet wird. 34

2. Langes Kritik an Wolff: Die ontologischen und Voraussetzungen

kosmologischen

Vor diesem theoretischen und polemischen Hintergrund verfolgt die Attakke Langes gegen die Wölfische Philosophie eine Strategie, deren Plan in MD vollständiger offenbar wird: Angeklagt selbst wird die Leibnizsche Philosophie, von der die Wölfische, wie bereits dem von Lange verfaßten Vorwort der Theologischen Fakultät zu entnehmen ist, nur der systemati" 5

sehe Ausdruck sein soll ( M D , Praefatio, S. [7]: »Et cum haec ipsa philosophia Leibnitiana, a clarissimi nominis philosopho in peculiaris systematis formam redacta, apud nos tradì coeperit [...]«). Deutlich lassen sich hier der Ursprung und die abwertende Bedeutung des Begriffs »Leibniz-Wolff sehe Philosophie« ablesen; im Gegensatz zu den Angaben Wolffs in seiner Eigenen Lebensbeschreibung35 hat ursprünglich nicht sein Schüler Bilfinger diesen Terminus geprägt, sondern, wie Wundt richtig herausgestellt hat, 36 der pietistische Kreis zu Halle. Für Lange und seine Kampfgefährten muß Wolff mit Leibniz der Vorwurf des Fatalismus und in letzter Konsequenz auch des Spinozismus gemacht werden; beide haben einen physisch-mechanischen Determinismus vertreten, dessen absolute Notwendigkeit die Behauptung der menschlichen Freiheit jeden Sinnes beraubt. Eo ipso werden dabei auch die Grundlagen der natürlichen und der geoffenbarten Religion zerstört. Freiheit gegen Fatalismus: Dies ist das Hauptthema der Polemik zwischen Lange und Wolff, wie letzterer ohne Schwierigkeiten zugesteht: »Cardo totius controversiae in eo vertitur, num ego fatalem ac absolutam omnium rerum necessitatem defendam [...]« (MC, S. 30). Und daß das Thema in der Hauptsache anthropologischer Natur ist — die Verteidigung der Freiheit — zeigt auch rein äußerlich ein Blick auf die Gliederung von MD: Das zweite Kapitel De homine (S. 67— 158) geht in seinem Umfang weit über das erste De mundo (S. 13 — 66) wie auch über das dritte De Deo (S. 179 — 232) hinaus. Es ist dies zweifellos kein Zufall: Die pietistische Akzentverschiebung von der »Rechtfertigung« auf die »Wiedergeburt« hat ein zunehmendes Interesse für den Menschen als aktiven Protagonisten eines Bekehrungsvorganges mit sich gebracht, der über den »Bußkampf« und den »Entschluß« zum immer wieder der »Selbstprüfung« unterworfenen »Durchbruch der Gnade« gelangt. 37 Francke, dem die richtungsweisende Formulierung dieses Bekehrungsschemas zu verdanken ist, 38 ist es gewesen, der in Halle mit seinem energischen Aktivismus den ethischen Anspruch des Pietismus verkörperte, der in der Behauptung der Freiheit einen seiner Angelpunkte finden mußte. 39 In der Tat, gehen wir von dieser äußeren Betrachtung zu einer inneren Analyse der polemischen Strategie Langes über, so stellen wir fest, daß diese Sorge um die Freiheit in der Protheoria (S. 1 — 12) von MD ihren positiven Ausdruck findet: Abgesehen von dem ersten Postulat De Dei existentia et essentia und von dem letzten über die Legitimität, die Prämissen aus ihren ableitbaren Folgen zu beurteilen, widmen sich die zwölf Postulate der Protheoria der Darlegung des Widerstreits zwischen der Freiheit, »praeeipuum praestantiae, qua humana natura pollet, documentum ac primarium religionis ac doctrinae moralis requisitum« (Post. IV, S. 2), und ihrer Verneinungen, wie sie in ebensovielen Thesen der Leibniz-Wölfischen Philosophie zu finden sind. Präziser formuliert Lange seine Freiheitslehre in einem beson116

deren Theorem (S. 6 — io), in dem der Beweis erbracht wird, daß die »libertas agendi regendique [...] speciatim includit potestatem ac regimen animae in corpus suum organicum«. Dieser (wie wir später noch deutlicher sehen werden) influxionistisch formulierten These steht als Antithese der »nexus rerum fatalis« oder das »fatum physico-mechanicum« gegenüber. Für Lange ist dies unzweideutig die Grundstruktur, auf die sich alle Hauptthesen der Leibniz-Wölfischen Philosophie zurückführen lassen, wie er in einem bedeutenden Scholien als Replik auf LC4° präzisiert. Aus dem Blickwinkel dieser Antithetik werden wir also Langes Kritik an Wolff untersuchen, die sich im wesentlichen in zwei Schritten vollzieht: ι. dem Beweis des Fatalismus, der in den ontologisch-kosmologischen Voraussetzungen des Systems angelegt ist; 2. dem Beweis des Fatalismus in der Lehre von der prästabilierten Harmonie als Folge eben dieser Voraussetzungen. 41 Was den ersten Punkt betrifft, so greift Lange aus der DM (IV. Kap. : Von der Welt, §§ J57ff.) jenen Teil der Kosmologie an, in dem Wolff die Struktur der Welt mit der einer Maschine bzw. einer Uhr vergleicht. Die Gewißheit der physischen Ereignisse erklärt er hier aufgrund ihrer lückenlosen Verknüpfung in einer unveränderlichen Ordnung. Im folgenden einige der von Lange herausgegriffenen Passagen: »[...] Und solcher Gestalt sind dadurch, daß die Welt eine Maschine ist, alle Begebenheiten darinnen gewiß gemacht [ . . . ] [ § 561]. Sind die Begebenheiten in der Welt gewiß, so ist nicht möglich, daß sie nicht kommen solten. Und auf solche Weise müssen sie kommen, folglich sind sie in so weit nothwendig [§ 562].« Und weiter: »Wofern die geringste Begebenheit in der Welt anders seyn solte, als sie ist, so müste alles in der Welt vorher anders gewesen seyn, und müste auch künftig alles anders kommen. Und also müste eine gantz andere Welt seyn, als itzund ist: Gleichwie in einem ähnlichen Fall eine gantz andere Uhr erfordert wird usw. [§ 567].« (MD, S. 31) Eben diesem zweifelsohne mechanistischen Weltbild widersetzt sich Lange, wegen seines Anspruchs auf eine allumfassende Erklärung der Totalität der Weltbegebenheiten, einschließlich der spezifisch menschlichen: »Manifestum est, clarissimo Auetori non esse sermonem de astronomia [...]: sed generatim de eventibus, seu iis omnibus, quae ullo modo in hoc universo, etiam in ipso humano genere, seu a caussis liberis, contingent« (MD, S. 33). Wenn in der Welt alles wie die Teile einer Maschine miteinander verkettet ist — welcher Platz bleibt dann noch für die Freiheit? In einer Welt, in der das, was geschieht, nicht unterbleiben kann, so folgert Lange, »habemus sane ipsum fatum Stoicum« (ebd.). Stoisches Schicksal oder auch Spinozismus, wie das zehnte Postulat der Protheoria (S. 4f.) erklärt: Lange unterscheidet hier zwischen einem »Spinozismus partialis«, für den die Behauptung eines »nexus rerum physico-mechanicus« und dessen Ausdehnung auf die freien Handlungen kennzeichnend ist, und einem »Spinozis-

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mus totalis«, der mit der Lehre von der universalen Notwendigkeit die von einer einzigen Substanz verbindet. Wolff wurde von Lange der ersten Art von Spinozismus, d.h. des Determinismus, bezichtigt, nicht aber des Pantheismus. Daher der Sinn seiner Verteidigungsstrategie, die — wie sich schon dem Titel von LC entnehmen läßt — ganz darauf ausgerichtet ist, den Unterschied zwischen dem »nexus rerum sapiens« der eigenen Philosophie und der »fatalis necessitas« Spinozas aufzuzeigen. Dieser Unterschied kreist um den Begriff »nothwendig unter einer Bedingung«, der in § 575 der DM dem entgegengesetzt wird, »was schlechterdings nothwendig ist«: Letztere wird von Wolff auch »geometrische« oder »metaphysische Nothwendigkeit« genannt, die erstere dagegen »die Nothwendigkeit der Natur«, weil »sie ihren Grund in dem gegenwärtigen Laufe der Natur hat, das ist, in dem gegenwärtigen Zusammenhang der Dinge«. Und eben diese Verknüpfung, dieser »nexus«, ist nach Wolff an sich zufällig, weil »die Welt anders hätte seyn können als sie ist« (§§ 569, 576). Und »weil die Welt zufällig ist« — so folgert Wolff in DM —, »so müssen auch alle ihre Begebenheiten zufällig seyn. Denn ihre Begebenheiten ereignen sich nur deswegen, weil sie ist [§ 565]. Und demnach hebet die Nothwendigkeit der Natur, die ihnen zugeeignet werden muß [§ 575], ihre Zufälligkeit nicht auf [§ 577]«. In LC wird nun dieser Begriff der Zufälligkeit der Verknüpfung (»contingentia nexus«) in seinen kategorialen Implikationen näher untersucht und polemisch der »fatalis necessitas« Spinozas gegenübergestellt. So umreißt der wichtige § VII den Gegensatz zwischen den beiden Lehren im Hinblick auf den Begriff des Möglichen; für Wolff gilt als möglich, »quicquid nihil contradictionis involvit, sive illud existât, sive non. Actus ad possibilitatem non confert«; für Spinoza dagegen bedeute das Mögliche nur einen »defectum cognitionis nostrae circa rei existentiam«. 42 Derselbe Gegensatz zeigt sich bei den Begriffen »notwendig« und »zufällig«, den Korrelaten der Begriffe »möglich« und »unmöglich«: Wolff (§ VIII) wirft Spinoza vor, er habe auf der einen Seite keine hinlängliche Unterscheidung zwischen dem Begriff des Möglichen und dem des Unmöglichen geliefert und er habe auch nicht den der Notwendigkeit bestimmt, auf der anderen Seite habe er im wesentlichen auch die Zufälligkeit als einen Mangel unserer Vorstellungen erklärt. 43 Es sei also - so erläutert Wolff weiter (§§ I X - X I ) - die Kluft zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen, die den Unterschied zwischen seinem »nexus rerum sapiens« und der »fatalis necessitas« Spinozas ausmache. Die Wirklichkeit des ersteren, vom freien Ratschluß Gottes ausgehend, schließe die Möglichkeit anderer Verknüpfungen nicht aus und lasse dem Finalismus Raum, während ihn die letztere, die »fatalis necessitas« Spinozas, unter Ausschluß jeder Alternative zur Existenz in ein blindes Schicksal verwandele, das nicht nur die Wirklichkeit der Dinge, sondern 118

auch deren Möglichkeit dem unvermeidbaren Ratschluß Gottes unterordne. 44 Lange hatte mehr als einen Grund, auf diese Verteidigung Wolffs zu antworten. An erster Stelle auf den Begriff der hypothetischen Notwendigkeit des »nexus rerum«, die nach Ansicht seines Gegners mit der Zufälligkeit vereinbar sei. Lange wird nicht müde, Wolff vorzuwerfen, er vermenge die Kontingenz der gegenwärtigen Verfassung der Welt, d.h. ihrer Existenz, und die Kontingenz in der Aufeinanderfolge der Begebenheiten innerhalb der Welt: aus der Behauptung der ersteren folge nicht der Beweis der letzteren. Daher kann Lange der Beweisführung von DM § 577 (»weil die Welt zufällig ist, so müssen auch alle ihre Begebenheiten zufällig seyn«) die materiale Falschheit des darin enthaltenen Obersatzes vorwerfen, der wie folgt formuliert werden könne: »Quaecunque machina est contingens (ita ut potuerit aliter construí), ejus etiam omnes eventus sunt contingentes (ita ut post ipsam constructionem possint in ipsa aliter evenire, quam eveniunt)« ( M D , Cap. I, Plac. VII, n. 4: S. 42). In der Tat »structura quidem hujus universi a caussa libera facta est et contingenter: at quia ex ipothesi est mere mechanica, eventus eius non amplius referendi sunt ad contingentem constructionem, sed ad machinam iam constructam, atque ita respectu machinae non sunt contingentes, sed necessarii, ita ut impossibile sit, eos in hac machina aliter evenire, quam eveniunt« (S. 43). Wie wir gesehen haben, hatte Wolff versucht, die Distanz der eigenen Auffassung von der Spinozas dadurch nachzuweisen, daß er von einer Analyse des Begriffs des Möglichen und schließlich von der — von ihm zugegebenen, von Spinoza dagegen verneinten — Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit ausging. Gegen diese Analyse richtet Lange jetzt denselben Vorwurf der Zweideutigkeit, den er schon in bezug auf den Begriff der Kontingenz der Welt vorgetragen hatte. In seiner Replik auf § VII der LC bemerkt er, der Wölfische Begriff des Möglichen als desjenigen, was keinerlei Widerspruch in sich enthält, sei an sich korrekt, aber falsch in der Anwendung und in der besonderen Bedeutung des Verfassers. Während »in commune systemati« das Mögliche dasjenige ist, das in dieser selben Welt anders existieren konnte, kann und können wird, ist es im Wölfischen System so, daß »possibilia [...] sunt, quae quidem respectu mundi alius contradictionem non involvunt [...]: at respectu huius mundi, in quo fiunt, per se ratione consecutionis suae omnino sunt necessaria et fatalia [...] Atque ita hic possibilium et impossibilium sensus et haec applicano ipsi fato Spinosiano omnino conveniunt« (MD, Epicrisis ad Comment, sect. I, Prop. II, ad § VII; S. 4 9 f . ) . Diese Zweideutigkeit und diese Konvergenz zwischen Wolff und Spinoza gehen nach Lange auch klar aus dem Beispiel der Möglichkeit hervor, wie es in DM § 573 angewandt und in LC § VII wiederaufgenommen wird, nämlich dem Beispiel des jetzt sitzenden Menschen, 45 der aber in einem 119

»gantz anderen Zusammenhang der Dinge« sehr wohl hätte aufstehen können. Eben diese Betrachtung des »gantz anderen Zusammenhangs« liefert für Lange den Beweis dafür, daß die Perspektive Wolffs die eines Determinismus ist, der die Freiheit negiert: Ein spezifisch menschlicher Akt wird hier nicht als Ausdruck des freien Willens gedeutet, sondern in die mechanische Verkettung der Weltbegebenheiten (MD, Cap. I, Plac. VI, S. 39) einbezogen. Und was bedeutet zudem genau »possibile fuit ut surgerem, cum sederem«, wie in LC § VII noch einmal betont wird? Diese Möglichkeit kann für Lange, im Lichte einer solchen mechanischen Verkettung, nicht anders als so interpretiert werden: »Possibile fuit (nimirum in alio mundo) ut surgerem cum (in hoc mundo) sederem« {MD, Epicrisis, Prop. II, ad VII; S. 51). Eine Ausflucht, die nicht anders ist »quam ludere in re seria, et lectores inexercitatos sophismatibus circumagere«, wie Lange in bezug auf ein analoges Beispiel bemerkt (ebd.). In der Tat impliziert die Zufälligkeit für ihn — wie bereits das Postulat VII der Protheoria behauptet — einen Bezug auf die freie Kausalität Gottes, der Engel und der Menschen und hat ihren Grund im freien Willen {MD, S. 3); somit gibt es zwischen der so verstandenen Zufälligkeit und dem Determinismus physisch-mechanischer Art keinerlei Vereinbarkeit (Corollarium I, ebd.).

j. Langes Kritik an Wolff: Die prästabilierte Harmonie Diese Unvereinbarkeit, d.h. die Antithese zwischen Freiheit und Fatalismus, kehrt im zweiten Moment von Langes Kritik an Wolff wieder: in dem Nachweis des Fatalismus, der in der Lehre von der prästabilierten Harmonie enthalten sei. Im zweiten Kapitel von MD wird sie definiert als eine »chimaera, quae a pseudophilosophia Stoica et Cartesiana, nec non a Spinosiana, est formata, ab illustri autem Leibnitio adoptata [...]; chimaera biformis, cuius centrum et peripheria omnis, sublata omni veri nominis übertäte, est in fato physico [...]« (Plac. IX, § X X ; S. 127). Diese Definition findet sich am Schluß einer ausführlichen Analyse der irrigen Voraussetzungen, die in jener Lehre enthalten sind. Wir werden dieser Analyse in ihren Hauptpunkten nachgehen und dabei sowohl die Verteidigung Wolffs in LC (II. Abschn., §§ XVIII —XXIV) als auch die Erwiderung Langes in der umfangreichen Epicrisis {MD, S. 137— 178) berücksichtigen. Der erste Stein des Anstoßes ist für Lange die Auffassung der Seele als »substantia universi repraesentativa« — im Sinne der Definition, wie sie bereits in der Ratio praelectionum (§ XXII) gegeben und in DM (§§ 755, 1077 usw.) wiederaufgenommen wird. Einer Definition, die umso irriger ist, als Wolff in der »vis repraesentativa« sogar das Wesen der Seele überhaupt sieht {DM §§ 745, 746, 754 u.a.), aus dem die anderen Kräfte abgelei120

tet werden sollen. Vom voluntaristischen Standpunkt Langes aus liegt der Hauptfehler dieser Definition in dem Vorrang, der dem Verstand anstatt dem freien Willen zugewiesen wird, einem Verstand übrigens, der in seinem niedrigsten Vermögen, nämlich sich körperliche Dinge vorzustellen, aufgefaßt wird (Plac. I, §§ ι — 2; S. 67). Auf der anderen Seite mußte dem Pietisten der Wölfische Versuch, den Willen und die anderen Kräfte, ausgehend von der immateriellen Einfachheit der Seele, aus dem Verstand abzuleiten (DM § 745), von Anfang an als gescheitert erscheinen; die irreduzible Vielfalt des Geisteslebens darf nicht mit der äußerlichen und teilbaren der materiellen Substanzen verwechselt werden (Plac. II, § 3; S. 72). Aber unter diesem monistischen Intellektualismus verbarg sich für Lange die idealistische und damit fatalistische Seele der Leibniz-Wolffschen Philosophie. Idealistisch sei die Wölfische Definition der Seele — und im Kapitel De Deo gilt ein analoger Vorwurf der Definition Gottes als »substantia omnia universa possibilia unico actu distincte [...] repraesentans« (MD; S. 188ff.) —, weil für die Erklärung dieser Vorstellungskraft die Existenz der Welt, wie Lange unter Anführung von DM §§ 942 und 943 (Plac. I, § 3, S. 67f.) bemerkt, ja des mit der Seele organisch verbundenen Leibes gleichgültig ist, wie es ausdrücklich in D M § 777 heißt: »Derowegen da der Leib gar nichts zu den Empfindungen in der Seele beyträget; so würden alle eben so erfolgen, wenn gleich gar keine Welt vorhanden wäre: welches auch Cartesius erkannt, und längst vor ihm schon vor diesem die Idealisten [...]«. Der Zweck dieses Idealismus jedoch, der die Seele in eine Welt reiner, von der »vis repraesentativa« erzeugter Vorstellungen einschließt, ist eben die Anpassung der anthropologischen Thematik an den allgemeinen Hintergrund der mechanistischen Auffassung. Unter tatsächlichem Ausschluß jeder freien Kausalität der Seele und — allgemeiner noch — jeder Wechselwirkung oder jedes »commercium« zwischen der körperlichen und der geistigen Substanz und folglich unter Negierung der Möglichkeit eines »influxus physicus« spaltet die Lehre von der prästabilierten Harmonie die reale psychophysische Einheit des Menschen in einen doppelten — geistigen und leiblichen — Automatismus, der nur ein anderer Ausdruck für jenes »fatum machanicum« sei, das die Grundlage der Leibniz-Wolffschen Philosophie bildet. Dies ist kurzgefaßt die These, die Lange nicht ohne Wiederholungen und polemische Abschweifungen in enger Gegenüberstellung mit den Paragraphen der Wölfischen Metaphysik entwickelt, wobei er zur Stütze hier und da die Leibnizsche Théodicée zitiert. So folgt auf das Placitum III 4 6 - w o die Verbindung zwischen der idealistischen Auffassung der Seele und dem fatalistischen Hintergrund des Systems nur angerissen wird — das Placitum IV De nexu operationum mentis, tanquam automati spiritualis, necessario (S. 83 — 88), zu dem das sechste (S. 92 — 100) über den Automatismus des Leibes ein Pendant darstellt. 47 Der grundlegende theoretische Konflikt, den 121

Lange nie aus den Augen verliert und der die Polemik anregt, 48 ist der zwischen dem »influxus physicus« und der prästabilierten Harmonie, an deren Entstehung aus der mechanistischen Vorentscheidung unaufhörlich erinnert wird: »Quando autem vir clarissimus hanc hypothesin suam de negato commercio inter animam et corpus physico stabilire nititur hypothesi de eadem vi motrici in universo conservata, principia mechanica applicai ad caussas liberas cum manifesto matheseos abusu, contra Post. IX [Protheoria; S. 5] et ejus corollarium [...]« (S. 99). A u f der anderen Seite handelt es sich für Lange nicht um eine bloß theoretische Auseinandersetzung, bei der die Wahl einer Erklärungshypothese statt einer anderen ohne Folgen für das sittliche und soziale Leben bleibt. Wenn die Seele als ein »automatum spirituale« 49 verstanden wird, ja wenn das menschliche Geschlecht selbst nichts anderes als ein notwendiges Räderwerk im großen Mechanismus der Welt ist, s° so werden das sittliche Verhalten und die Gesellschaft bis in ihre Fundamente hinein zerstört: Das Versprechen von Belohnungen oder die Verhängung von Strafen, Ratschläge, Bitten oder Ermahnungen, alles das hat dann keinen Sinn mehr, ja der Begriff von Laster und Tugend selbst wird ausgelöscht (S. 87f.). Nicht weniger artikuliert als der Angriff Langes ist die Verteidigung der prästabilierten Harmonie, die Wolff in LC vornimmt. Von größerem Interesse und Umfang als die Debatte über das Thema des einzigen Vermögens der Seele (in der im wesentlichen die in DM dargelegten und von Lange kritisierten Argumente erneut vorgebracht werden) ist — stets im § X X I I I 5 ' von LC — die Diskussion über den idealistischen Charakter der Wölfischen Auffassung: was verständlich ist, wenn wir an die Implikationen denken, die der Gegner daraus abgeleitet hatte. Den idealistischen Ursprung einer solchen Auffassung einmal vorausgesetzt (wenn auch nicht zugestanden) kann und muß der Begriff einer geistigen Substanz für Wolff — wie die Cartesianer richtig gesehen haben — von dem Bezug auf die körperliche Welt absehen, wenn man nicht jenen substantiellen Charakter aufheben will. Andererseits reduziert der Ausschluß des »commercium mentis et corporis« die Seele nicht auf ein bloß passives Wesen: Dies — so schlägt Wolff zurück — treffe eher auf die Verfechter des »influxus physicus« zu, bei dem es der Leib sei, der der Seele das Material der Wahrnehmung liefert. Demgegenüber ist die Seele im System der prästabilierten Harmonie aktiv und folglich frei, weil sie den Vorstellungsinhalt aus ihrem eigenen Inneren schöpft. Im § X X I nimmt die Verteidigungsstrategie Wolffs einen anderen Weg, der zeigen soll, daß sich das System des »influxus physicus« und das der prästabilierten Harmonie nicht in der Behauptung der Freiheit, sondern in ihrer Auffassung vom Ursprung der Vorstellungen unterscheiden. »Sed sive perceptiones vi mentis propria, sive vi corporis in eadem [in der Seele] producantur, respectu libertatis perinde est [...]«, argumentiert Wolff (LC; 122

S. 67): die Seele ist gleichermaßen frei in ihrem Urteil wie in ihrem Entschluß, etwas zu wollen oder nicht zu wollen. Übrigens, »quamvis enim dicas, animam in producendis istis perceptionibus non esse liberam, sed ex necessitate naturae agere; quid inde detrimenti in libertatem redundat?« (ebd.). Für Wolff ist dieses Zugeständnis der Notwendigkeit nicht weniger mit der Freiheit vereinbar als die Notwendigkeit, mit der die Vorstellungen im System des »influxus« vom Leib in der Seele hervorgebracht werden. Im übrigen ist auch das Zugeständnis eines leiblichen Automatismus — parallel zu dem Automatismus im Geistigen — für Wolff kein triftiges Argument gegen die Freiheit: Auch im aristotelischen bzw. im gemeinhin angenommenen System sind die Bewegungen des Leibes an sich nicht frei, die entscheidende Feststellung aber lautet: »neque enim libertas est in corpore moto, sed in anima movente« (S. 68). So weist Wolff den Vorwurf des Fatalismus und folglich auch des Spinozismus gegen die Lehre von der prästabilierten Harmonie ruhigen Gewissens zurück; um so ruhiger, als es ihm ein leichtes ist (in § X X ) , den Unterschied zwischen dem ontologischen Monismus Spinozas und dem Leibnizschen Dualismus im Hinblick auf das Leib-Seele-Verhältnis nachzuweisen. Ebenso entschieden weist er übrigens die Folgerungen zurück, die sein Gegner auf der Ebene des Sittlichen und Sozialen gezogen hatte (§ X X I I ) : Ein Streit über die Erklärung des Verhältnisses zwischen Seele und Leib hat keinerlei Einfluß auf die Sitten- und Staatslehre, »omnia enim, quae ea fini adhibentur, systemata circa locomotivam tantum différant, in ejus nimirum determinatione physica dissentientia, in determinatione autem morali conspirantia« (S. 71). Ähnlich wie bei den ontologisch-kosmologischen Voraussetzungen war die Wölfische Verteidigung für Lange auch bei der Lehre von der prästabilierten Harmonie unbefriedigend. In der Epicrisis, die das zweite Kapitel De homine von MD ergänzt, widmet er ihr — wie wir bereits gesehen haben — eine detaillierte Widerlegung. Der heikle Punkt ist vor allem die Verknüpfung von Idealismus und Fatalismus in der Wölfischen Auffassung von der Seele. ,2 Wie wir gesehen hatten, war Wolff zum Gegenangriff übergegangen, indem er vor allem den aktiven und spontanen Charakter der »vis repraesentativa« der Seele und damit die Freiheit des »automatum spirituale« in seinem Vermögen zur Selbstbestimmung herausgestellt hatte. Für Lange aber ist genau dies die schwerste Zweideutigkeit des Leibniz-Wölfischen Systems, die Verwechslung nämlich von Spontaneität und Freiheit. Wenn er bereits im fünften Postulat der Protheoria (MD, S. 3) betont hatte, daß die »libertas agentium liberorum [...] non confundenda est cum spontaneitate, quae etiam brutis, et automatis caussisque ex necessitate naturae agentibus competit«, so drückt er sich in der Epicrisis noch schroffer aus, indem er die Spontaneität als »tantum simia et simulacrum libertatis [...] in notione nobiliore« bezeichnet und sogar die Leibnizsche Théodicée in den 123

Vorwurf miteinbezieht (S. 170ff.)· Mit einem Ausbruch echter Entrüstung antwortet Lange Wolff, der mit Leibniz das Wesen der Freiheit in der Selbstbestimmung sieht: »Absit! absit par [sic!] omnem modum [...]. Sic enim automatum, quod artifice post consummatam structuram non amplius concurrente, nec illud movente, sponte sua movetur, et se ipsum movet, erit ens liberrimum. Absit haec philosophia Spinozizans in quaestione de übertäte animae! [...]« (S. 78). Im übrigen sind die Beweise für dieses fatalistische Gesicht der Spontaneität für Lange offenkundig, da sie sich jederzeit in die Notwendigkeit eines physischen und geistigen Doppelautomatismus verwandeln kann. Wenn Wolff — wie wir oben gesehen haben — zugibt, die Seele »handle aus der Notwendigkeit der Natur«, oder wenn er in demselben Paragraphen X X I behauptet: »Actiones externae, quae motu organorum perficiuntur, mechanismo subjacent,53 nec anima eundem imperio suo violare potest [...]«, so fühlt sich Lange berechtigt, in diesen Behauptungen nicht mehr und nicht weniger als das ausdrückliche Bekenntnis des Leibnizschen Spinozismus zu finden (S. 163). Ebensowenig kann er der Wölfischen Gleichstellung der beiden Systeme hinsichtlich des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit zustimmen. Abgesehen davon, daß ihm die Gleichsetzung des influxionistischen Systems mit dem aristotelischen54 unbegründet erscheint, weist er die Behauptung zurück, auch in ihm finde sich — nicht weniger als in dem LeibnizWolffschen System — die Anerkennung der Notwendigkeit der körperlichen Bewegungen und zugleich der Freiheit als eines Vorrechts der Seele. Gewiß, erläutert Lange, die Freiheit wohnt in der Seele, nicht im Leib; und doch drückt sie sich in der Herrschaft der Seele über den Leib aus, wie sie gerade der »influxus« behauptet (S. 156). Andererseits verhindert diese Herrschaft der Seele über den Leib, daß der letztere als ein bloßes materielles Automaton betrachtet wird, und berechtigt zu der Behauptung, daß die Bewegungen des Leibes frei seien. Man dürfe nicht, wie Wolff es jedoch tue, die Freiheit »in corpore« mit der Freiheit »a corpore« verwechseln: »In systemate communi non defenditur libertas in corpore, quae simul sit a corpore (nisi quod structura ejus mechanica regimini animae subserviat) sed ab anima, quae principium motus in se habet« (S. 161). Ein Irrtum ist es schließlich auch, der influxionistischen Theorie eine passive Auffassung von der Seele zuzuschreiben: Schon auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung übt die Seele ihre freie Tätigkeit aus, indem sie das Material, das ihr von den Sinnen geboten wird, eigens verarbeitet und von ihm nach eigener Wahl einen verschiedenen Gebrauch macht; außerdem äußert sich diese freie Tätigkeit in der Hervorbringung von Verstandesbegriffen und freiwilligen Akten, die über die Sphäre der sinnlichen Empfindung hinausgehen (S. 158). Für Lange ist also jede Gleichsetzung der beiden anthropologischen Auf124

fassungen unbegründet. Der Vorwurf des mechanistischen Fatalismus fällt einzig und allein auf die prästabilierte Harmonie in Leibniz-Wölfischen Sinne zurück. Seinem Gegner, der gemeint hatte, er könne den Gegensatz zwischen dem Dualismus der letzteren und dem Monismus Spinozas mühelos als überzeugendes Argument aufzeigen, stellt er in einer umfassenden quaestio'''' eine Erwiderung entgegen. In den Mittelpunkt der Diskussion rückt er dabei die deterministische Auffassung des Menschen, wie sie sich in der cartesianischen Anthropologie, nicht minder aber auch in der von Spinoza und Leibniz findet, die sich in einer genealogischen Folge von ihr herleiten. Trotz interner Unterschiede haben der Okkasionalismus Descartes', die »praedeterminatio« Spinozas und die »praestabilitio« von Leibniz die Auffassung vom Menschen als einem Automaton gemein, das dem »fatum physico-mechanicum« bzw. der »necessitas absoluta« unterworfen ist (S- 142). Aber dieser Fatalismus — erwidert Lange schließlich auf Wolff — bleibt kein rein theoretischer Mangel und nicht ohne Auswirkungen auf die ethische und soziale Praxis. Gewiß muß man bei einer irrigen Lehre zwischen der bloßen Theorie und deren praktischer Anwendung bzw. zwischen dem Irrtum selbst und den Auswirkungen des Irrtum unterscheiden: Tatsächlich kann niemand ohne weiteres behaupten, das System der Harmonie behindere oder zerrütte gar de facto das sittliche und gesellschaftliche Verhalten derer, die es annehmen (S. 146). Darum geht es aber nicht. Lange stellt sich die Rechtsfrage, indem er zeigt, daß die theoretische Struktur der LeibnizWolffschen Philosophie aufgrund ihrer fatalistischen Basis die Begriffe der Zurechnungsfähigkeit und somit der Freiheit, die die Grundlage der ethisch-sozialen Normen und Urteile bilden, ihres Sinnes beraubt. Wolff hatte mit Selbstsicherheit behauptet: »Videbis etiam, me omnem theoriam et praxin moralem independenter ab hoc systemate dedisse, et in ea nihil immutandum esse, quodcumque systema aliquis fuerit amplexus« (LC, § X X I I , S. 182); Lange antwortet darauf mit einer gewissen Boshaftigkeit, indem er erstens respectu iuris dieses Geständnis der Unabhängigkeit der sittlichen Theorie und Praxis von einer solchen Lehre zur Kenntnis nimmt und daraus die Nutzlosigkeit der Wölfischen Metaphysik für das Leben folgert und zweitens ein solches Geständnis in bezug auf das Faktum und die Absicht zurückweist (MD, S. 172). Wolff wird ironisch vorgehalten, daß er ein schlechtes Gedächtnis habe, unter Verweis auf eine Reihe von Passagen aus den Vorreden zur Metaphysik, zur Ethik und zur Politik, in denen von der allgemeinen Verknüpfung der Wölfischen Lehrsätze die Rede ist, und der Leser wird auf das metaphysische Fundament der ehtischen und politischen Abhandlungen verwiesen (S. 172 f.). Langes Schlußkommentar ist von schneidender Härte: Irgendwann wird vielleicht einmal der Beweis erbracht werden, daß das ethische und politische Lehrgebäude, das auf diesen »metaphysischen Sand« (»arenis metaphysicis«) gebaut ist, refor-

miert werden muß, »sed quid opus erit hac demonstratione? Quandoquidem cum destructo fundamento metaphysico universa philosophiae structura, quae ei imposita est, per se corruit« (S. 175).

4. Die Aporien des Leibniz-Wolffscben

Determinismus

Lange selbst hatte sich diese Destruktion, deren verwickeltes und zuweilen mühsames Schlag-auf-Schlag-Spiel wir darzustellen versucht haben, zur Aufgabe gemacht. Wolff und seine Anhänger haben sich bei ihrer Erwiderung, wie gezeigt, vor allem der persönlichen, psychologischen und moralischen Aspekte des Langeschen Angriffs bedient, um dessen Tragweite herunterzuspielen. Und in der Tat ist MC — die unmittelbare Antwort Wolffs auf MD — philosophisch gesehen nur eine Wiederholung derselben, bereits in DM und LC dargelegten Argumentationen: 56 Interessant ist allenfalls der zunehmende Rückgriff auf die Autorität des »Divus Thomas«, der aus zweiter Hand nach dem Kompendium Carbos zitiert wird. 57 Im übrigen zögert Wolff nicht, seinen Gegner der Verleumdung und der Streitsucht zu bezichtigen (MC, §§ X —XI); er wirft ihm vor, er habe seine Thesen absichtlich und systematisch verdreht, indem er Begriffe und Sätze willkürlich aus ihrem Zusammenhang gerissen und sogar eine fehlerhafte lateinische Übersetzung der Terminologie von DM geliefert habe. s8 Vor allem aber bestreitet Wolff die Legitimität der Methode Langes, dem Gegner Schlußfolgerungen zu unterstellen, »quae per iustam et evidentem consequentiam e praemissis deductae sunt« und aufgrund derer »dijudicandae sunt ipsae praemissae, seu principia« {MD, Protheoria, Post. XII, S. 5 ; vgl. MC, § X, 5. 15 f.). Wolff und die Wolffianer lassen nicht davon ab, gegen diese »Consequentien-Macherey« zu protestieren, die der Verfolgungssucht entspringt und »die Freyheit zu philosophieren« zu unterdrücken droht!' 9 Handelte es sich jedoch bei der Kritik Langes an Wolff tatsächlich um absichtliche einfache Verdrehungen und um unbegründete Rückschlüsse? Diese Kritik knüpft in Wahrheit nicht nur — wie wir bereits zu zeigen versucht haben — an eine große theoretische und polemische Tradition an, sie enthüllt bei ihrer Verteidigung der Freiheit auch einige recht problematische Aspekte der Leibniz-Wölfischen Philosophie im allgemeinen Kontext des neuzeitlichen Denkens. Es läßt sich freilich darüber streiten, ob die von Lange vertretene Lehre des »influxus physicus« wirklich die geeignetste anthropologische Grundlage für die Verteidigung der Freiheit ist: Sie geht von denselben Voraussetzungen des Cartesianischen Dualismus aus, die zu den konkurrierenden Theorien des Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie geführt haben, und wie diese leidet sie an denselben Aporien, von denen jede streng dualistische Auffasssung des Leib-Seele-Verhältnisses betroffen ist. Und wenn Lange den Anhängern der prästabilierten Harmo126

nie zurecht den wundersamen Charakter der Lehre vorwarf, der für die rationalistische Abschaffung der Wunder Rache nehme, 6 0 so hatte Wolff — der bekannten Leibnizschen Kritik an der Cartesianischen Theorie der Bewegung folgend, die von der Seele durch die Zirbeldrüse im Körper erzeugt wird 6 1 — seinerseits recht, wenn er der influxionistischen Lehre die Verletzung des dynamischen Gesetzes der Erhaltung der Energie vorwarf. 6 2 Alles das ist nicht zu leugnen. Nicht weniger wahr aber ist, daß Langes Eintreten für den influxionistischen Standpunkt innerhalb der neuzeitlichen, cartesianischen Anthropologie die Verteidigung jener Auffassung der Freiheit als »liberum arbitrium« darstellt, welche die scholastische Tradition im Rahmen der hylemorphistischen Anthropologie, d.h. der Lehre von der »anima forma corporis«, zum Ausdruck gebracht hatte. Und vor allem im Hinblick auf das Problem der Freiheit weist die Leibnizisch-Wölfische Synthese der religiösen Tradition und des neuzeitlichen Weltbilds ihren vielleicht schwächsten Punkt auf. Man könnte im Rahmen einer systematischen Analyse auf die rationalistischen und intellektualistischen Voraussetzungen des Wölfischen Denkens näher eingehen, aufgrund derer sich die Konkretheit des individuell Existierenden in den logisch-mathematischen Entwurf eines »nexus« von bloßen Wesenheiten auflöst; 6 3 von hier aus könnte der unleugbare Determinismus der Wölfischen Freiheitsauffassung bestätigt werden. 6 4 Man könnte aber auch die Wurzel dieses Determinismus in den charakteristischsten Thesen der Leibnizschen Philosophie nachweisen, wie z.B. in der Beschränkung des Rechts des Möglichen auf das Dasein — nach dem doppelten Prinzip der Kompossibilität und des Besten — und in der daraus folgenden Auffassung der Schöpfung in einem entgegengesetzten Sinne zum Arbitrarismus (wonach Gott nicht die Wesenheiten, sondern nur die Existenzen schafft); oder in dem Verhältnis zwischen den Vernunft- und den Tatsachenwahrheiten sowie dem Verhältnis zwischen der individuellen Substanz und ihren Prädikaten; oder auch — um ausdrücklich von Wolff vertretene Thesen anzuführen — in der Unterscheidung zwischen der hypothetischen und der absoluten Notwendigkeit und in der Verteidigung der Freiheit als Selbstbestimmung im Gegensatz zum »arbitrium indifferentiae«. In einer derartigen systematischen Analyse würde das Urteil Langes über den Leibnizisch-Wolffschen Determinismus und über dessen spinozistischen Aspekt im wesentlichen bestätigt werden, 6 5 und in der Tat hat es nicht an Äußerungen zugunsten der Richtigkeit eines solchen Urteils gefehlt. 66 Nicht weniger wichtig aber ist die Beobachtung, daß die Stichhaltigkeit der Einwände, die Lange gegen den Leibnizisch-Wolffschen Determinismus vorbringt, auf historischem Wege durch analoge Einwände bestätigt wird, auf die die Leibnizsche Philosophie schon vorher und zwar in keineswegs pietistischen Kreisen gestoßen war. Auch auf diesem Wege kann man 127

feststellen, daß Lange ins Schwarze getroffen hatte, indem er den Gegner von seiner problematischsten und somit verwundbarsten Seite angriff. Was den Hauptpunkt der prästabilierten Harmonie angeht, so liefert uns gerade einer der treuesten Anhänger Wolffs, Georg Bernhard Bilfinger, den Beweis, daß sich der pietistische Gegner in bester Gesellschaft befindet: In seiner Commentario hypotbetica,67 noch heute eine unersetzliche Quelle für die Dokumentation der theoretischen Entwicklung und der Kontroversen in bezug auf die drei anthropologischen Systeme des 17. und 18. Jahrhunderts, ist die umfangreiche Sectio sexta (S. 132— 254) ganz den Obiectiones virorum doctissimorum expensae gewidmet. Hier finden wir eine Galerie berühmter Namen der europäischen Kultur, von dem Kanoniker Simon Foucher bis hin zu dem Jesuiten René-Joseph de Tournemine, von Newton bis Clarke und schließlich bis zu dem Arzt und Wissenschaftler Georg Ernst Stahl. Erinnern könnte man, was das Thema der Freiheit im allgemeinen Zusammenhang der Leibnizschen Philosophie angeht, aber auch noch an den bekannten Briefwechsel zwischen Leibniz und Arnauld anläßlich des Discours de métaphysique von 1686, 68 dessen § 13 — mit seiner Behauptung, daß »la notion individuelle de chaque personne enferme une fois pour toutes ce qui luy arrivera à jamais« — den Jansenisten erschreckt und schockiert hat, der darin den Ausdruck einer »nécessité plus que fatale« gesehen hat. 69 Dieselbe Haltung gegenüber dem Leibnizschen Determinismus legte dann 1721 (also kurz vor dem Angriff Langes) der Königsberger Mathematik- und spätere Theologieprofessor Christian Langhansen mit seiner Dissertation Dubia contra monades leibnitianas an den Tag; 1724 wird er noch schwereres Geschütz auffahren, indem er die Wölfische Metaphysik zusammen mit der Leibnizschen Théodicée in den Vorwurf eines absoluten Determinismus miteinbezieht und so zu einem offenen Verbündeten von Lange wird. 7 0 Wir möchten diese Aufzählung von Beispielen jedoch nicht abschließen, ohne ein Dokument zu nennen, das einige Jahrzehnte nach Beginn der Polemik Langes entstanden, aber wegen seiner unverdächtigen ideologischen Stellung von außergewöhnlicher Bedeutung ist. Es handelt sich um die Encyclopédie von Diderot und d'Alembert! In einem Artikel von 1765 zum Stichwort Raison suffisante können wir folgende Überlegungen nachlesen: 71 A u reste, on peut faire une espèce d'argument ad hominem contre le principe de la raison suffisante, en demandant à Messieurs Leibnits et Wolff comment ils peuvent l'accorder avec la contingence de l'univers. La contingence en effet suppose une différence [recte: indifférence] d'équilibre. Or, quoi de plus opposé à cette indifférence que le principe de la raison suffisante? Il faut donc dire que le monde existe, non contingemment, mais en vertu d'une raison suffisante, et cet aveu pourroit mener jusqu'aux 128

bords du spinozisme. Il est vrai que ces philosophes tâchent de se tirer d'affaire, en expliquant la contingence par une chose dont le contraire n'est point impossible. Mais il est toujours vrai que la raison suffisante ne lasse point la contingence en son entier. Plus un plan a des raisons qui sollicitent son existence, moins les autres deviennent possibles, c'est-à-dire, peuvent prétendre à l'existence [...].

Langes Kritik am Leibnizisch-Wölfischen Determinismus war also alles andere als ungerechtfertigt, und es handelte sich bei ihr auch nicht um eine Episode, die von einer rein persönlichen Voreingenommenheit diktiert wurde. Ganz im Gegenteil, eben weil sie in der Sache begründet war, übte sie einen gewissen Einfluß auf die weitere Entwicklung der deutschen Aufklärungsphilosophie aus, wie wir abschließend, wenn auch nur in groben Zügen, zu zeigen versuchen werden.

j. Die Nachwirkung

des Streits in der deutschen

Aufklärungsphilosophie

Dieser Einfluß ist zunächst bei Wolff selbst festzustellen. Zweifelsohne liegt in der Bewertung Mauthners, der die »Selbstsicherheit« und »Unbefangenheit« der Vorrede zur deutschen Metaphysik von 1719 der Sorge des Philosophen um die »Rechtgläubigkeit« seines Systems nach der berüchtigten Kabinettsordre des Königs gegenüberstellt, eine polemische Ubertreibung. 7 1 Und dennoch enthält sie ein Moment der Wahrheit, insofern als bei Wolff eine immer stärkere Betonung seines apologetischen Anliegens nicht zu leugnen ist, die im gleichen Maße wächst wie seine Absicht, »praeceptor Germaniae«, ja ganz Europas zu werden. In den polemischen Schriften findet sich, wie wir bereits festgestellt haben, die Berufung auf die Autorität von Thomas von Aquin, die ihm im katholischen Lager Zustimmung verschaffen sollte. Auch in der Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schrifften befaßt sich das Kapitel X I I I , das Von dem Nutzen der Weltweisheit handelt, in einer Reihe von Paragraphen mit dem Nutzen der eigenen Philosophie für die christliche Religion und Moral. 73 Aber die Auseinandersetzung mit Lange hat nicht nur auf das allgemeine Verhalten Wolffs Einfluß gehabt, sondern auch auf einige spezifische Themen seiner Philosophie. Eines davon ist ohne Zweifel die Auseinandersetzung mit dem Spinozismus, die beinahe das ganze Schaffen Wolffs begleitet und in die bekannte Widerlegung der Paragraphen 671 — 716 der Theologia naturalis, Pars Posterior von 1737 7 4 einmündet: Ins Deutsche übersetzt und der anonymen Ubersetzung des Jahres 1744 (von Johann Lorenz Schmidt) von Spinozas Ethik als Anhang beigegeben, wird sie bekanntlich zu einem der grundlegenden Dokumente für die Diskussion über den Spinozismus in der Spätaufklärung. 75 Der andere für unsere Darstellung nicht weniger bedeutsame Aspekt ist die zunehmende Änderung in Wolffs Verhalten gegenüber der prästabilier129

ten Harmonie. In der Tat wird er — wie schon von anderer Seite bemerkt worden ist 76 — immer stärker den hypothetischen Charakter dieser Lehre unterstreichen und sich somit gewissermaßen von ihr distanzieren. Man vergleiche beispielsweise nur den selbstsicheren Ton, mit dem er — in der Vorrede zur ersten Auflage (1719) der deutschen Metaphysik — von »dieser sinnreichen Erfindung« Leibniz' spricht, mit der Vorsicht, die er in der zweiten Vorrede (1721) an den Tag legt. Hier sagt Wolff von dieser Lehre lediglich, daß mit ihr »der Herr von Leibniz die Gemeinschaft zwischen Seele und Leib auf eine verständliche Art zu erklären vermeinet«, und präzisiert das dem Leser gegenüber dahingehend, daß die psychologische Abhandlung des fünften Kapitels Von dem Wesen der Seele und eines Geistes überhaupt nicht als eine einfache Erklärung der prästabilierten Harmonie betrachtet werden dürfe. 77 Dieses Anliegen, einer diskutierten Theorie eine hypothetische Natur zu verleihen und sie damit von der Behauptung der Freiheit zu unterscheiden, die durch die Erfahrung nachgewiesen werde, zeigt sich am deutlichsten in den Anmerkungen, die Wolff 1724 als zweiten Teil seiner Metaphysik veröffentlicht hat: 78 »Die Freyheit der Seele ist eine Sache, die aus der Erfahrung klar ist, und nicht durch eine Hypothesin heraus gebracht wird. Wer dieselbe läugnet, den muß man mit Gründen, die aus der Erfahrung genommen werden, widerlegen, nicht aber mit solchen, die man aus einer Hypothesi von der Art und Weise, wie die Gemeinschafft zwischen Leib und Seele bestehen kan, herleitet«. 79 Es ist überflüssig zu betonen, welche Bedeutung in der Entwicklung der deutschen Psychologie im Zeitalter der Aufklärung 80 diese zunehmende Trennung des empirisch-experimentellen von dem dogmatisch-hypothetischen Aspekt der Psychologie gehabt hat. Sie hat — freilich nicht ohne den Beitrag antiwolffianischer Strömungen, von der pietistischen »Selbstbeobachtung« bis zur »Empfindsamkeit« und zum französischen und englischen Sensualismus — das Aufkommen einer autonomen »Erfahrungsseelenlehre« begünstigt. Hier genügt es zu betonen, daß Wolff selber unter dem Eindruck der an erster Stelle von Lange ausgelösten Auseinandersetzung über die Lehre von der prästabilierten Harmonie zu dieser Trennung beigetragen hat: Das gleichermaßen apologetische und methodologische Anliegen der Anmerkungen wird später — in der Periode des lateinischen Schaffens — in die Behandlung der beiden Aspekte der Psychologie in zwei getrennten Werken (Psychologia empirica, 1732; Psychologia rationalis, 1734) einmünden. In der Psychologia rationalis selber wird Wolff dann wieder daran gelegen sein, zwischen der »pars hypothetica« und der »pars dogmatica« zu unterscheiden, wobei er der ersteren die Erörterung der Theorien zum Leib-Seele-Verhältnis 81 vorbehält. Wenn wir die Untersuchung jetzt auf die Geschichte des Wolffianismus ausdehnen, so können wir feststellen, daß sich die Kritik Langes und seiner Kampfgefährten hier ähnlich ausgewirkt hat; gerade an der heiklen Frage 130

des Leib-Seele-Verhältnisses bricht die Front der Anhänger in eine parallelistische und eine influxionistische Richtung auseinander, und die letztere gewinnt sogar allmählich — nach 1724, also nach der hitzigsten Phase der Auseinandersetzung — die Oberhand. 82 Während nämlich in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre die parallelistische Theorie — dank der Autorität Wolffs und seines von ihm autorisierten Interpreten Bilfinger — beinahe unbestritten dominiert, 83 beginnt man ab der Mitte des Jahrzehnts, mit Wolff den hypothetischen Charakter der Theorie zu betonen und sie mit der influxionistischen auf die gleiche Ebene zu stellen, wenn nicht gar der letzteren, wie die Darstellungen von Thümmig, Winckler und Gottsched zeigen, 84 entschieden der Vorzug gegeben wird. Der Ubergang zum Influxionismus vollzieht sich im wesentlichen in der Zeit bis 1740, also in den Jahren der größten Blüte der Schule. Zeugnis dafür sind die zwei bedeutenden Beiträge von 1735: die Commentatio philosophica de commercio mentis et corporis per influxum physicum explicando von Martin Knutzen (dem bekannten Lehrer Kants) 8 ' und das Systema metaphysicum antiquiorum atque recentiorum item propria dogmata et hypotheses exhibens von Johann Peter Reusch. 86 Freilich wird es auch nach diesem Datum noch Verfechter der prästabilierten Harmonie geben, wie Stiebritz und Baumeister, 87 sie werden jedoch die vereinzelte Ausnahme bilden. Andere bedeutende Wolffianer dagegen, wie Baumgarten und Meier, werden eine Versöhnung zwischen dem Influxionismus und einer Harmonielehre versuchen, die auf den ursprünglichen universalen Leibnizschen Sinn zurückgeführt ist.88 Wenn wir die Untersuchung darüber hinaus von dem durch Wolff und seine Schule in bestimmter Hinsicht begrenzten Horizont auf den weiteren der deutschen Aufklärungsphilosophie bis Kant ausdehnen, so ist es freilich nicht ganz so leicht, einen direkten und spezifischen Einfluß der Kritik Langes festzustellen. Denn die Opposition gegen den Wolffianismus wird von erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Motiven getragen — wie der Auseinandersetzung über die mathematische Methode und über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis 89 — , die von der neueren westeuropäischen Philosophie stark beeinflußt sind und sich zwar auch bei Lange finden, bei ihm aber keinen hervorragenden Platz einnehmen. Und dennoch ist die philosophische Thematik — auch in ihren wissenschaftstheoretischen Aspekten — in der deutschen Aufklärung an ethisch-religiöse Voraussetzungen gebunden: 90 So spielt die Antithese Freiheit — Fatalismus (die zentrale Achse der Polemik Langes) eine keineswegs marginale Rolle in der Kritik an Wolff, die sich über drei Generationen hinweg (Rüdiger — H o f f mann — Crusius) in einer Kette von Lehrern und Schülern entwickelt und von Thomasius bis hin zur Entstehung des Kantischen Denkens führt. 9 ' Nicht zufällig schlug sich Hoffmann in der letzten Phase der Auseinandersetzung zwischen Lange und Wolff auf die Seite des ersteren — mit einer Schrift, die einerseits die Polemik seines Lehrers Rüdiger gegen Wolff wie-

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deraufnahm und sich andererseits in der Diskussion um den Determinismus des Gegners die ethisch-religiösen Anliegen Langes zu eigen machte.92 In seiner Kritik an der allgemeinen Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde taucht ein Motiv auf, dem schon MD, wie wir gesehen haben, hohes Gewicht beigemessen hatte: der Gegensatz zwischen der Kausalität aus Freiheit und dem Wölfischen »fatum mechanicum«.93 Und genau dieses Thema kehrt bei Crusius wieder, als Beweis für den Einfluß, den das Denken Hoffmanns 94 und allgemein die thomasisch-pietistische Tradition95 auf ihn ausgeübt hat: Selbst wenn man der ethisch-religiösen Komponente in der Herausbildung des Crusianischen Denkens eine bescheidenere Rolle zuweisen will, 96 steht dennoch außer Zweifel, daß seine Kritik an der Allgemeingültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde von dem Anliegen getragen war, die freie Kausalität des Willens zu retten, die er der falschen Freiheit der Leibniz-Wölfischen Spontaneität gegenüberstellt.97 Was sodann Kant angeht, kann von einem Einfluß Langes und seiner Wolff-Kritik durch die Vermittlung Knutzens und Crusius' gesprochen werden; zwei Kanäle des pietistischen Antiwolffianismus, auf die sich zwei Themen zurückführen lassen, die die Entwicklung des Kantischen Denkens bis hin zur kritischen Systembildung mitbestimmen, nämlich das der psychophysischen Wechselwirkung und das der Freiheitsantinomie. Hinsichtlich der ersteren haben wir bereits von der Tragweite der Kritik Langes an der Lehre von der prästabilierten Harmonie und von dem darauf folgenden Aufkommen (in der Wölfischen Schule selber) des Influxionismus gesprochen, zu dessen wichtigsten Vertretern gerade Knutzen gezählt werden darf: Von seinem Lehrer übernimmt Kant die Problematik des »commercium« bereits in seiner Erstlingsschrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, wo sie einen besonderen Fall des allgemeineren Problems der »lebendigen Kräfte« ausmacht.98 Wie bekannt, wird Kant in der Kritik der reinen Vernunft (eingehender in der ersten Auflage [ = A]) mit dem Influxionismus und den beiden anderen konkurrierenden Lehren der Harmonie und des Okkasionalismus abrechnen:99 Alle drei Erklärungshypothesen legen »einen groben Dualism zu Grunde« (A 393), der das Denken und die Ausdehnung als zwei Substanzen oder Dinge an sich selbst betrachtet, während der transzendentale Idealismus lehrt, zwischen Erscheinung und Ding an sich zu unterscheiden, und den Leib-Seele-Gegensatz auf die erstere reduziert, als die bloße Differenz von äußeren und inneren Erscheinungen, d.h. von bloßen Vorstellungen in der Erfahrung. Einen ganz anderen Ausgang dagegen wird bei Kant die Alternative Langes von Freiheit und Fatalismus nehmen: Uber Crusius wird sie zu einer grundlegenden Komponente des kritischen Denkens, auch wenn sie durch den Filter des transzendentalen Idealismus geht. Angesichts der heute allgemein anerkannten Bedeutung, die der Antinomienproblematik für die Herausbildung des Kantischen Gedankens zukommt, 100 darf man wohl nicht 132

nur von »einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung« 101 Crusius' bei der methodologischen und inhaltlichen Ausarbeitung einer Antithetik von »widerstreitenden oder collidierenden Beweisen« 102 ausgehen — zu der dessen Lehrer Hoffmann eine entscheidende Anregung gegeben hat 103 —, sondern auch einen direkten Einfluß seiner Auseinandersetzung mit Wolff auf diejenige Problematik anerkennen, die Kant dann in der dritten Antinomie entwickelt hat. Dieser Einfluß zeigt sich schon in der vorkritischen Periode, vor allem in der Nova Dilucidatio,104 wo sich Kant im neunten Satz des zweiten Teils (AA, Bd. I, S. 398 - 406) die Aufgabe stellt, »enumerare et diluere difficultates, quae principium rationis determinantis vulgo sufficientis premere videntur«. Ausdrücklich wird hier auf die Opposition von Crusius gegen den Wölfischen Fatalismus verwiesen, 105 und im Dialog zwischen Caius, »indifferentiae aequilibrii defensor«, und Titius, »rationis determinantis patronus« (S. 401 — 404) erfährt die Antithese der beiden Standpunkte eine dramatische Darstellung. 106 Gehen wir sodann auf die bekannten Formulierungen der Freiheitsproblematik durch Kant in der Kritik der reinen Vernunft über, so stoßen wir dort nicht nur auf die durch Crusius vermittelte Langesche Alternative von Willensfreiheit und Naturnotwendigkeit, sondern auch auf den spezifischen Begriff der »Kausalität durch Freiheit«, dessen »Möglichkeit« bei der Auflösung der dritten Antinomie »in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit« (A 538/B 566ff.) geklärt werden muß. 107 Und wenngleich Kant für seinen Freiheitsbegriff den der »absoluten Spontaneität« benutzt, d. h. des Vermögens, »eine Reihe von Erscheinungen [...] von selbst anzufangen« (A 446/Β 474), so handelt es sich deswegen doch nicht um eine Verteidigung der Leibnizisch-Wolffschen Spontaneität: Die erstere, die absolute Spontaneität, ist von Art eines Noumenons und bezeichnet deswegen die »transzendentale Freiheit« (ebd.), während die letztere, als bloß »psychologische« oder »komparative Freiheit«, von Kant — ganz im Sinne von Lange und Crusius — mit der »Freiheit eines Bratenwenders« verglichen wird, »der auch, wenn er einmal aufgezogen, von selbst seine Bewegung verrichtet«. 108 Dieser Hinweis auf die kritisch-transzendentale Perspektive läßt ohne Zweifel die Distanz erkennen, die die Kantische Behandlung die Antinomieproblematik und auch den Freiheitsbegriff selber von den ähnlich gelagerten Themenstellungen bei Lange und Crusius trennt. 109 Und dennoch scheint uns, mit eben diesen Einschränkungen, die Anerkennung bezeichnend, die Wundt — ungeachtet des oben angeführten abwertenden Urteils — der Opposition Langes gegen Wolff ausspricht: »Wie stark diese Gegensätze die deutsche Philosophie der kommenden Jahrzehnte bewegt haben, geht am deutlichsten daraus hervor, daß alle hier aufgeworfenen Fragen in Kants Antinomien wiederkehren.« 110 Am unmittelbarsten und spürbarsten aber hat die Polemik Langes vielleicht in einem anderen nicht minder berühmten Streit nachgewirkt, in den

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in den achtziger Jahren im Zeichen von Lessing und Spinoza die bekanntesten Exponenten der deutschen Kultur der Epoche mit verwickelt worden sind. Er bedeutet gewissermaßen den Ubergang von der Aufklärung zu der neuen idealistisch-romantischen Zeit. Die Rede ist von dem sogenannten »Pantheismus«- oder »Spinozismusstreit«, den Jacobi 1783 mit Mendelssohn begonnen hatte und dessen Bedeutung sehr bald über die hermeneutische Frage nach dem Sinn von Lessings spinozistischem Glaubensbekenntnis hinausging, wie es in dem bekannten Gespräch vom 6. Juli 1780 anläßlich der Lektüre von Goethes Prometheus111 zum Ausdruck gebracht worden war. Eben Goethe, Zeuge und zugleich auch einer der Protagonisten des Streits, erinnert sich in Dichtung und Wahrheit daran, daß die Enthüllungen Jacobis im Kreise »einer sonst höchst aufgeklärten Gesellschaft« wie »eine Explosion« gewirkt haben. 1 1 2 Das Aufsehen um die Episode ist in der Tat nicht wirklich zu verstehen, wenn man sich nicht vor Augen hält, daß die eigentliche Zielscheibe von Jacobis Aussage — durch Lessing hindurch — die Leibnizisch-Wölfische Tradition gewesen ist, wie sie im Eklektizismus der Spätaufklärung weiterwirkte und in Mendelssohn — dem Freund und Bewunderer des Wolfenbütteler Bibliothekars — einen ihrer Hauptvertreter gefunden hatte. Im Zuge eben dieser polemischen Strategie »sind die Analogien zwischen den Thesen Langes und denen Jacobis in den Spinozabriefen beeindrukkend«, wie unlängst mit Recht bemerkt worden ist. 1 1 3 Diese Analogien betreffen sowohl die Methode als auch den Inhalt der Polemik Jacobis. In methodischer Hinsicht braucht man nur an seine Absicht zu erinnern, über den Buchstaben hinaus den »Geist des Spinozismus« und dessen Verwandtschaft mit dem Wesen der Leibnizisch-Wölfischen Philosophie zu untersuchen, und diese Absicht mit dem analogen Vorgehen Langes zu vergleichen, das die Grundthesen des Gegners in dem Moment ihres Zusammenfalls mit der »fatalis necessitas« Spinozas zu erfassen suchte. Im einen wie im anderen Fall ist jene Unterscheidung und Entgegensetzung von »Geist« und »Buchstabe« wirksam, die in der pietistischen Tradition das mystisch-spiritualistische Erbe antritt. 114 Nicht allein das: Aufs engste verbunden mit diesem Vorgehen ist die Radikalisierung der gegnerischen Thesen, indem man aus denselben Konsequenzen zieht. Diese Methode hat, wie wir bereits gesehen haben, Lange von Seiten Wolffs und seiner Anhänger den Vorwurf der »Consequentien-Macherey« zugezogen. Dieser Vorwurf nun kehrt wortwörtlich in der Anklage wieder, die Schelling gegenüber Jacobi in dem neuen »Streit um die göttlichen Dinge« erhebt, er benutze »die verächtlichen Mittel der Consequenzmacherey«. 115 Und weiter: Wenn die Analyse der Leibnizisch-Wolffschen Philosophie in MD in »placita« gegliedert ist, so enthalten die Spinozabriefe eine »Darstellung« des Wesens des Spinozismus 116 und eine Zusammenfassung der Thesen Jacobis in »Kurze Sätze«, 1 1 7 die Kant polemisch »Machtsprüche« nennen w i r d . " 8

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Noch wichtiger sind natürlich die inhaltlichen Analogien. Auch fürJacobi ist der Spinozismus Fatalismus, gegen den man den »Salto mortale« oder die unmittelbare Alternative des Glaubens an den freien Willen 1 ' 9 geltend machen muß. Auch für Jacobi sind des weiteren Fatalismus und Idealismus nichts anderes als die beiden Seiten einer und derselben Forderung nach einer rationalistisch-mechanistischen Erklärung der Wirklichkeit, wie er bei seiner »spinozistischen« Interpretation der Entwicklung der deutschen Philosophie von Kant bis Schelling in wachsendem Maße erklären wird. 1 2 0 Doch die spezifisch pietistisch-Langesche Prägung der Polemik Jacobis zeigt sich, wie gesagt, noch deutlicher in dem Angriff auf die LeibnizischWolffsche Philosophie, deren Determinismus auf den spinozistischen Ursprung zurückgeführt wird. Mit einer bewußten Umkehrung der Mendelssohnschen Perspektive von einem »geläuterten Pantheismus« unter dessen Vorzeichen es auf der Linie Leibniz — Wolff — Lessing eine wachsende Distanzierung von Spinoza geben solle, 121 erklärt Jacobi im dritten seiner »Sätze« aufs entschiedendste: »Die Leibnitz-Wölfische Philosophie ist nicht minder fatalistisch, als die Spinozistische, und führt den unablässigen Forscher zu den Grundsätzen der letzteren zurück« (JW, Bd. IV a, S. 221 f.). 1 2 2 Aber schon vorher zeigt uns der Bericht von dem Wolfenbütteler Gespräch mit Lessing, wie sich die beiden Denker wechselseitig darin bestärken, die Nachbarschaft von Leibniz und Spinoza in Themen aufzuzeigen wie den »vincula« zwischen den Monaden, der prästabilierten Harmonie, der Freiheit als Bewußtsein der Notwendigkeit oder dem Automatismus der Seele: 123 Wenn Lessing, in bezug auf Leibniz, »fürchtet, der war selbst im Herzen ein Spinozist« (ebd., S. 63), so ist Jacobi seinerseits der »festen Überzeugung, daß der bündige Determinist vom Fatalisten sich nicht unterscheidet [...]« (S. 65). Die Analogien in der Kritik Langes und Jacobis am deterministischen und somit spinozistischen Gesicht der Leibnizisch-Wolffschen Philosophie sind also evident; sie werden weder durch die Feststellung berührt, es fehlten direkte Zitate, 124 noch durch die wichtigere, es gäbe unleugbare Divergenzen. Gewiß ist der »Glaube« Jacobis, der seine Verteidigung der Freiheit und der mit ihr verbundenen ethisch-religiösen Werte trägt, mit dem Glauben Langes an die geschichtliche Offenbarung und an die Bibel unvereinbar, ja der Pempelforter Denker reagiert sogar mit Härte auf jeden Versuch, den eigenen Theismus, der sich auf eine ursprüngliche sittliche Erfahrung gründet, mit irgendeiner Art von positivem Christentum zu verwechseln. I2S Gleich ist jedoch bei beiden — durch die Vermittlung der gemeinsamen pietistischen Grundlage 126 — die unnachgiebige Einforderung der Rechte der unmittelbaren Existenz und Freiheit gegenüber jeder Form von deterministischem Intellektualismus. 127 In dieser Verteidigung der Freiheit scheint uns — als Fazit unserer historischen Darstellung — die nicht bloß episodische Bedeutung von Langes J 35

Kritik am W ö l f i s c h e n Fatalismus und zugleich der G r u n d für seine W i r kung auf die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts zu liegen. E s fehlte dem Pietisten freilich die Weite des Blicks und der systematische Wille seines großen Gegners, der immer ein zentraler Bezugspunkt im geistigen Panorama der A u f k l ä r u n g bleibt: 1 2 8 W e r sich jedoch in der Geschichte der Philosophie nicht nur auf die Bewunderung der Systeme beschränkt, sondern der E n t w i c k l u n g der Probleme nachgeht, der wird die Berechtigung der Kritik Langes nach dem alten W o r t anerkennen: » A m i c u s Plato, sed magis amica Veritas.«

ANMERKUNGEN * Prof. Dr. Norbert Hinske hat die deutsche Fassung des vorliegenden Vortrags für die gegenwärtige Veröffentlichung noch einmal gründlich durchgesehen und überarbeitet. Der Verfasser dankt ihm aufs herzlichste für seine freundschaftliche Mithilfe bei der Ubersetzung. Die italienische Fassung ist unter dem Titel »Libertà e fatalismo. Sulla polemica tra Joachim Lange e Christian Wolff« in Verifiche 15 (1986), Nr. 1—2, S. 43 — 89 erschienen. ι. So C A R L HINRICHS: Preußenturn und Pietismus. Göttingen 1971, S. 397. Hinrichs' Darstellung (»Die Auseinandersetzung mit Christian Wolff«, ebd., S. 387 —441) ist die beste moderne Rekonstruktion der Auseinandersetzung des Halleschen Pietismus mit Wolff. Von den älteren Darstellungen möchten wir lediglich die von HEINRICH WUTTKE nennen (»Uber Christian Wolff den Philosophen«. In: C. Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Hrsg. mit einer Abhandlung über Wolff von H . WUTTKE. Leipzig 1841. Ndr.: CHRISTIAN WOLFF: Gesammelte Schriften. Neu hrsg. und bearb. von J . É C O L E , H . W . A R N D T , C H . A . C O R R , J . E . H O F M A N N , M . T H O M A N N . Hildes-

heim i9é2ff. [ = WS] I/IO [1980], bes. S. 12 — 29), V O N EDUARD ZELLER (»Wolffs Vertreibung aus Halle. Der Kampf des Pietismus mit der Philosophie«. In: Preußische Jahrbücher 10 [1862], S. 47 — 72. Ndr.: DERS.: Vorträge und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts. Leipzig 1865, S. 108 — 139 [hier benutzte Aufl.: Leipzig ' 1 8 7 5 , Bd. I, S. 1 1 7 - 1 5 2 ] ) und von WILHELM SCHRÄDER (Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Berlin 1894, Bd. I, S. 2 1 1 — 219). Die älteren Darstellungen gehen größtenteils auf die Versionen zurück, die Wolff selbst (vgl. Eigene Lebensbeschreibung, s.o., sowie Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften [...], Frankfurt a . M . 1 1 7 3 3 [' 1726]. Ndr.: WS I/9 [1973]) und seine Anhänger geliefert haben, vor allem CARL GÜNTHER LUDOVICI (Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie. 3 Bde., Leipzig 1 7 3 7 - 1738. Ndr.: WS I I I / i . 1 - 3 [1977]) und GEORG VOLKMAR HARTMANN (Anleitung zur Historie der Leibnizisch-Wolffischen Philosophie. Frankfurt und Leipzig 1737. Ndr.: WS III/4 [1973]). Eine Sonderstellung nimmt die Darstellung von MAX WUNDT ein (Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der

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Aufklärung. Tübingen 1945. Ndr.: Hildesheim 1964; vgl. bes. S. 230 — 243 u.ö.), deren Aufmerksamkeit sich mehr auf den gedanklichen Inhalt der Streitschriften als auf die Entwicklung der Tatsachen richtet. 2. WUTTKE, »Über Wolff« (Anm. 1), S. 28, Anm. 1, sowie auch JOHANN C H R I STOPH GOTTSCHED: Historische Lobschrift des weiland hoch- und wohlgebohrnen Herrn Christians, des H. R. R. Freyherrn von Wolff. Halle 1755 (Ndr.: WS I / i o [1980], S. 23, Beylage g). 3. In einem Brief an den Respondens seiner Dissertation De haeresium praedictione biblica (Halle, Sept. 1724) jubilierte Lange: »Cecidit! cecidit! Philosophie Wolffiana et ariete Regiae Majestatis percussa corruit«. HARTMANN, Anleitung (Anm. 1), S. 708 u. 892 f. 4. Schon 1734 hatte Lange von Friedrich Wilhelm I. ein erstes Verbot erhalten. Die endgültige Verordnung von 1736 war das Ergebnis der Bemühungen, die die Wölfische Partei am H o f e unternommen hatte, um für den Philosophen die Gunst des Königs wiederzugewinnen und um seine Rückkehr nach Halle vorzubereiten. Am 27. Juni jenes Jahres hatte eine kirchliche Kommission, die in Berlin zusammengetreten war, um die Gründe beider Seiten zu überprüfen, die Haltlosigkeit der Vorwürfe Langes festgestellt und empfohlen, dem Disput ein Ende zu setzen. Im Wintersemester 1736 wurde in Halle die Wölfische Philosophie offiziell wieder gelehrt. HINRICHS, Preußentum (Anm. 1), S. 434 und 439f. 5. Wolff selbst legt in seiner Autobiographie (Eigene Lebensbeschreibung [Anm. 1], S. 190 ff.) diese Version nahe, die dann von seinen Schülern aufgenommen und verbreitet wurde, vor allem von Ludovici und von Hartmann. Tatsächlich verletzte Wolff, indem er 1722 seiner Fakultät die Berufung von Thümmig als außerordentlichen Professor aufzwang, die Ansprüche von zwei Konkurrenten: von Langes Sohn, Johann Joachim, und von einem älteren Schüler, Daniel Strähler. Eben letzterer — unterstützt durch die theologische Fakultät — eröffnete die Feindseligkeiten mit einer Prüffung der Vernünfftigen Gedancken des Herrn Hof-Rath Wolffs [...] (März 1723). Die Vertreibung Wolffs im November ging einher mit der seines Schülers Thümmig: Wenige Monate später wurden die beiden freien Lehrstühle eben durch den jüngeren Lange und durch Strähler besetzt. 6. So HARTMANN, Anleitung

(Anm. 1), S. 157.

7. »Denn ihr gantzes Verfahren wider mich findet kein Exempel, dem es gleichte als das Verfahren der Pharisäer mit Christo [...]« (Ausführliche Nachricht [Anm. 1], § 215, S. 619). 8. Wer z.B. Langes Autobiographie (D. Joachim Langens[...]Lebenslauf, zurErwekkung seiner in der Evangelischen Kirche stehenden, und ehemal gehabten vielen und werthesten Zuhörer, von ihm selbst verfasset [...]. Halle und Leipzig 1744) als Pendant zu der Wolffs benützen wollte, um den Ereignissen nach dem Grundsatz »audiatur et altera pars« nachzugehen, würde enttäuscht: Nicht eine einzige Anspielung auf diese Episode, die auch für Langes Leben und Wirken zentral ist, wird hier gemacht - und das gilt gleichermaßen für die lange und heftige Polemik, die mit dem Hauptvertreter der Spätorthodoxie, Valentin Ernst Löscher, vorausgegangen war. In Ermangelung organischer, mit denen Wolffs und seiner Schüler (vor allem Ludovicis und Hartmanns) vergleichbarer Berichte, auf die sich die herkömmliche Geschichtsschreibung gegründet hat, muß der heutige Forscher von den Vorworten und den Vorberichten der verschiedenen polemiI

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sehen Schriften Langes und seiner Partei ausgehen. So ist der »Historische Vorbericht« (S. 3 — 34) von einer gewissen Bedeutung, der der Bescheidenen und Ausführlichen Entdeckung von 1724, d. h. der überarbeiteten und erweiterten deutschen Fassung der Modesta Disquisitio vom Herbst 1723 (auf die wir noch im einzelnen eingehen werden), vorangestellt worden war. 9. GOTTSCHED, Lohschrift (Anm. 2), S. 18, Beylage v. 10. Ebd., S. 1 8 f . , Beylage x ; H I N R I C H S , Preußentum 11.

(Anm. 1), S. 402F.

H I N R I C H S , e b d . , S. 4 0 7 ^

12. Ebd., S. 415 f. 13. Z E L L E R , »Wolffs Vertreibung« (Anm. 1), S. 1 1 8 . 14. So z . B . H I N R I C H S , Preußentum 15. W Ü N D I , Schulphilosophie

(Anm. 1), S. 388 — 396.

(Anm. 1), S. 238.

16. Préface von JEAN É C O L E : WS I I I / 1 7 (1984), S. [2]. Dem Nachdruck liegt die zweite, verm. und verb. Aufl. von 1727 zugrunde; die erste war 1723 erschienen. 17. Die vollständigste Liste der Schriften für und wider die Wölfische Philosophie (einschließlich derer Langes) findet sich in Ludovicis Artikel »Wolfische Philosophie« in: Grosses

vollständiges

Universal-Lexicon

v o n J O H A N N H E I N R I C H Z E D L E R , B d . 58

(1748), Sp. 883 — 1232; vgl. bes. Streit=Schriften wegen der Wolfischen Philosophie, Sp. 967— 1 2 2 1 . Diese Liste (425 Nummern!) ergänzt die in den schon angeführten (Anm. 1) Darstellungen Ludovicis (Bd. I, S. 1 8 8 - 3 2 1 ) und Hartmanns (S. 835 - 9 7 9 ) enthaltenen Verzeichnisse. 18. Der Kürze halber verweisen wir hier lediglich auf die detaillierte Ubersicht in der Einleitung von H A N S - W E R N E R ARNDT zur Ausführlichen Nachricht (Anm. 1), Anm. 9, S. I X f. 19. Vollständiger Titel: Modesta disquisitio noviphilosophiae systematis de Deo, mundo et homine, et praesertim de harmonía commercii inter animam et corpus praestahilita: cum epicrisi in viri cuiusdam clarissimi commentationem de differentia nexus rerum sapientis et fatalis necessitatis, nec non systematis harmoniae praestahilitae et hypothesium Spinosae: praemissa praefatione ordinis theol. in Academia fridericiana e genuinis verae philosophiae prineipiis instituit D . JOACHIMUS LANGE. Halae Sax. M D C C X X I I I . 20. Vollständiger Titel: De differentia nexus rerum sapientis et fatalis necessitatis, nec non Harmoniae praestahilitae et hypothesium Spinosae luculenta Commentatio, in qua simul genuina Dei existentiam demonstrandi ratio expenditur et multa religionis naturalis capita illustrantur, autore CHRISTIANO WOLFIO. Halae Magd. M D C C X X I V (aber 1723). Es handelt sich um eine Replik, die sich im wesentlichen gegen die Caussa Dei richtet. Siehe den Nachdruck in der wertvollen, von JEAN É C O L E hrsg. Edition critique, avec introduction, notes et index der Opuscula metaphysica von Wolff: WS II/9 (1983). Wir haben auch die von G O T T L I E B F R I E D R I C H HAGEN besorgte deutsche Ubersetzung in der Sammlung der Wolffischen Schutzschrifften, welche zu der Grundwissenschaft gehören. Halle 1739, benutzt. Sie steht im Anhang zum vierten Teil der Gesammleten kleinen philosophischen Schrifften Wolffs unter dem Titel: Deutliche Erläuterung des Unterschieds unter einer weisen Verknüpfung der Dinge und einer unumgänglichen Nothwendigkeit, desgleichen unter der Meinung von der vorherbestimmten Harmonie und den Lehrsätzen des Spinozens (WS 1 / 2 1 . 4 [1981], S. 3 — 198). 138

21. Vollständiger Titel: Monitum ad commentationem luculentam de differentia nexus rerum sapientis et fatalis necessitatis, quo nonnulla sublimia metaphysicae ac theologiae naturalis capita illustrantur, autore CHRISTIANO WOLFIO. Halae Magdeburgicae M D C C X X I V (aber 1723). Es geht dabei um eine Replik auf die Modesta disquisitio. Ndr. in der angeführten (Anm. 20) Ausg. der Opuscula metaphysica Wolffs. Vgl. auch die deutsche Ubers, in der angeführten (Anm. 20) Sammlung von Hagen, unter dem Titel: Erinnerung zu der deutlichen Abhandlung von dem Unterscheide einer weisen Verknüpfung der Dinge, und der unumgänglichen Nothwendigkeit (WS I / 2 1 . 4 , S. 199 — 275). 22. Das heißt: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Halle 1720 (aber Dez. 1719 ausgedruckt. Wir werden die I i . Aufl. 1751 benutzen, die dem mit einem kritischen Apparat von Charles A . Corr hrsg. Ndr. (WS I / 2 [1983]) zugrunde liegt. Wir werden sie mit den Zitaten Langes aus der ersten Aufl. vergleichen. 23. J o A C H i M i L A N G I I [...] Medidna Mentis, Qua, praemissa Medica Sapientiae Historia ostensaque ac rejecta Philomoria, secundum verae philosophiae principia, aegrae mentis sanado, ac sanatae usus in veri rectique investigatione ac communicatione, in gratia traditur eorum, qui per solidam eruditionem ad veram sapientiam contendunt. Wir werden uns auf die zweite Aufl. (Berolini M D C C V I I I ) beziehen, die im Vergleich zur ersten hinsichtlich der einführenden historischen Abhandlung erweitert wurde. 24. Lange anerkennt ausdrücklich (Praefatio, § XI), daß er Thomasius und Poiret sehr viel verdankt. Mit ersterem hatte Lange bereits bei seiner Ankunft in Leipzig im Jahre 1689, als er auf Empfehlung Franckes die Stelle als Hauslehrer im Hause von Thomasius erhielt, sehr enge persönliche Beziehungen geknüpft. Diese Beziehungen verschlechterten sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts infolge der Reibungen zwischen Thomasius und Francke (Lange selbst trat für letzteren 1702 mit einer anonymen Notwendigen Gewissensrüge ein), aber insgesamt wurden sie wieder recht gut. Die mystischtheosophischen Schriften Poirets waren im pietistischen Kreis Speners und Franckes verbreitet, w o er die deutsche Mystik und Pansophie (von Tauler bis Böhme), aber auch die romanische Mystik (M.me Guyon, Fénelon, Caterina von Genua, Angela von Foligno usw.) vermittelt hatte. Thomasius selbst, dessen Interesse für die hermetische und theosophische Tradition sowie auch für den mystischen Spiritualismus bekannt ist, hatte 1694 mit einer ausführlichen Vorrede Poirets Schrift De eruditione triplici: solida, superficiaria et falsa libri tres (erste Ausg. Amsterdam 1692) herausgegeben, deren Schema in Langes Medicina mentis wiederkehrt (es sei aber hier auch bemerkt, daß derselbe Thomasius 1708 eine neue Ausg. des Poiretschen Buchs herausgab, von dem er sich diesmal mit einer kritischen Vorrede distanzierte). Zur komplexen Figur Pierre Poirets und zu seinem geistigen Werdegang vom Calvinismus und von der cartesianischen Philosophie zum mystischen Separatismus verweisen wir an dieser Stelle lediglich auf die neuere Arbeit von GUSTAV A . K R I E G : Der mystische Kreis. Wesen und Werden der Theologie Pierre Poirets. Göttingen 1979. 25. Lange war Francke, damals Magister an der Universität Leipzig, vom Bruder Nicolaus 1689 anempfohlen worden: Der junge Student wurde »ohne Entgelt auf seine Stube und Cammer« aufgenommen, so daß es zwischen den beiden zu einer engen intellektuellen und auch menschlichen Beziehung kam, die bis zum Tode Franckes ununterbrochen anhielt. Die Beziehungen zu Spener wurden sehr eng, als Lange 1693 als Hauslehrer des Freiherrn von Canitz, einem Freund Speners und seines Mitarbeiters Caspar Schade (in dessen Haus Lange Unterkunft gefunden hatte), nach Berlin berufen wurde. 1

}9

26. Vgl. z . B . HARTMANN (Anleitung [Anm. I], S. 379), der bei seiner »Historischen Nachricht von Streit und Ubereinstimmung der Vernunfft mit dem Glauben« sich die Gelegenheit nicht entgehen läßt, »unter denen Feinden der Vernunfft« Lange zu nennen, der wegen seiner Gemeinsamkeit mit Schwärmern wie Comenius, Poiret, Fludd, Böhme, van Helmont »wohl den obersten Rang verdient« (S. 379). Unter Beschüß wird vor allem die »physica mosaica« genommen, die Lange bereits in seinen Physicae Comenianae ad lumen divinum reformatae theses (Berlin 1702) umrissen hatte. 27. »Historiae philosophicae prolegomena«, § I, S. 4: »[.·.] sapiens est, cui quasi sapit κ α ι εξοχήν ens i.e. Jehovah, ó όντως ών, ipsa sapientia, omnis luminis, veritatis ac virtutis auctor«; »Hist. phil. periodus prima«, § I, S. 1 1 : »O felicem igitur eorum sapientiam, quibus ad Mosis praescriptum philosophari, divino muñere datum est!«; »De eruditione superficiaria«, § X X I I I , S. 600: »Nulla autem Physica esse potest sana ac solida, nisi quae habeat sana, vera ac solida, principia [...] Quae autem Physica vera habet principia? Certe sola Mosaica. Qui enim mundum creavit, solidissima sane habuit principia; et qui hujus creationis historiam certamque nobis notitia dare voluit, ¡lie certe et ejusdem principia revelavit [...]«. 28. M A R T I N LUTHER: Gesammelte Werke. Weimar 1883ff. (Weimarer Ausgabe): Tischreden, Bd. 6, S. 82, Z . 5 - 10 ( A U R I F A B E R , 1546): »Wir Christen lassen uns nicht anfechten, daß die Vernunft, des Teufels Hure, ihrer Blindheit nach sich dünken lasset, es sei kein ungereimeter, thörlicher Glaube denn eben der Christen, die an einen gecreuzigten Jüden, Jesum Christum, glauben [...]«. (Nr. 6619) 29. Wir verweisen an dieser Stelle lediglich auf die grundlegende Arbeit von BERNHARD LOHSE: Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die Ratio in der Theologie Luthers. Göttingen 1958, aus der die Vielschichtigkeit und die dialektische Verflechtung der verschiedenen Äußerungen Luthers über die »ratio« hervorgehen. Es muß z . B . nicht nur vom systematischen Gesichtspunkt aus die positive Funktion dèr »ratio« in der Welt auch nach dem Fall von deren Unfähigkeit zur Gotteserkenntnis unterschieden werden, sondern selbst was die natürliche Gotteserkenntnis angeht, nimmt sich die Stellungnahme Luthers im Sinne einer progressiven Vertiefung der Kritik — chronologisch gesehen — anders aus. N o c h anders fällt das Urteil über die »ratio« im Urzustand sowie über die durch den Hl. Geist erleuchtete »ratio« aus, der die größte Bedeutung für die theologische Arbeit beigemessen wird. 30. Der in seiner kirchlichen Zeitschrift Altes und Neues ( 1 7 0 1 ; ab 1702 Unschuldige Nachrichten) und dann besonders in seinem Vollständigen Timotheus Verinus (Bd. I: 1 7 1 8 ; Bd. II: 1 7 2 1 ) den Pietismus und die Tätigkeit Franckes in Halle angegriffen hatte. Lange hat ihm mit einer Reihe von Schriften in einer langen Polemik erwidert, die sich bis 1722 — dem Jahre seiner Replik auf den zweiten Band des Timotheus Verinus — hinzog. Es sei hier nebenbei bemerkt, daß Löscher selbst der Wölfischen Philosophie zwischen 1735 und 1736 (in einer Reihe von acht Schriften unter dem Titel Quo ruitis?) eben die Vorwürfe gemacht hat, die ihr von seinem pietistischen Gegner entgegengehalten worden waren. Zur Polemik Langes mit Löscher vgl. die beiden Göttinger Dissertationen von H A N S - M A R T I N ROTHERMUND: V. E. Löschers »Timotheus Verinus« (1947) und von R O L F DANNENBAUM: J. Lange als Wortführer des Halleschen Pietismus gegen die Orthodoxie (1951). 3 1 . Man denke z . B . an die Opposition, auf die Nikolaus Taurellus (1547—1606) sowie Cornelius ( 1 5 6 8 — 1 6 2 1 ) und Jakob (1570 — 1649) Martini stießen, gegen deren metaphysischen Aristotelismus Daniel Hofmann (ca. 1 5 4 0 — 1 6 1 1 ) und seine Schüler

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Wenzel Schilling und Johann Andreas Werdenhagen (1581 — 1662) polemisierten. Oder auch an den Kampf der Wittenberger Theologen — vor allem Abraham Calovs (1612— 1686) — gegen die aristotelisierenden Autoren Georg Calixt (1586— 1656) und die Brüder Johann ( 1 6 1 3 — 1681) und Petrus (1620— 1674) Musäus. Zum deutschen Aristotelismus im 17. Jahrhundert ist die Monographie von PETER PETERSEN: Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland. Leipzig 1921 (Ndr. : Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) — wenngleich mit den notwendigen Vorbehalten wegen der kritischen Haltung gegenüber der orthodoxen Schulphilosophie — noch heute gültig. Zur Opposition gegen die aristotelische Metaphysik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. bes. S. 2 $9 — 277. Ein guter Uberblick über den Stand der Forschung hinsichtlich der lutherischen Scholastik findet sich in: WALTER SPARN: 'Wiederkehr der Metaphysik. Die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen ιγ. Jahrhunderts. Stuttgart 1976, eine Arbeit, die zur philosophischen und theologischen Wiederaufwertung dieses geistigen Phänomens einen bedeutenden Beitrag leistet. 32. Insbesondere in den Lustigen und Ernsthafften Monats-Gesprächen (1688) und in den Freymüthigen jedoch Vernunfft- und Gesetzmässigen Gedancken über allerhand fürnehmlich aber Neue Bücher (1690). In der ersten Schrift schildert Thomasius, indem er an eine satirische Tradition des Mittelalters anknüpft, über die beide gelehrten Brüder Cardenio und Cyllenio unveröffentlichte und pikante Einzelheiten einer Liebesgeschichte Aristoteles', was ihm freilich Anlaß zum Spott über seine Philosophie gibt. In der zweiten beschreibt Thomasius einen Kalender, in dem durch eine allmonatliche Symbolik die Schulphilosophie verspottet wird. Vgl. PETERSEN, Aristotelische Philosophie (Anm. 31), S. 3 9 0 - 3 9 5 · 33. S. 6 3 2 ^ (§ LV): »Ineptae Logicae merito proxime jungitur longe ineptissima metaphysica, et speciatim ontologia. Hujus ineptias referre ac refutare taedet. Indicavi eas subinde in Appendice Supervacuorum. >Metaphysica< (ut paucis multa complectar) >est Regina, sed inter illas disciplinas, quae satagunt circa commenta astutorum ac otiosorum hominum distinendis ingeniis, ne ad solidam rerum cognitionem adspirent: quae adhuc a multis mordicus retinentur, inscita meliorum, aut quia dediscere pudet, quae jam otiose didiceruntDeutlichkeitWeltweisen< namens Meier« hingewiesen, der 1750 noch an den Teufel geglaubt habe. 5 Der Hinweis wird in allen Bloch-Ausgaben unverändert wiederholt, obwohl Bloch das Buch, das er zitiert, falsch datiert und allem Anschein nach auch nicht gelesen hat, denn sonst hätte er bemerken müssen, daß Meiers Philosophische Gedancken von den Würkungen des Teufels auf dem Erdboden (1760) eher den Aufklärer als den Dunkelmann verraten. Erst in jüngster Zeit sind einige Aspekte von Meiers Werk, die über die Ästhetik hinausgehen, näher untersucht worden, so sein Beitrag zur natürlichen Religion, zum Naturrecht, zur Geschichtstheologie und zur Lehre von den Vorurteilen. 6 Eine Gesamtdarstellung ist überfällig, denn die Arbeit von Josef Schaffrath aus dem Jahre 1940 kann nicht als solche gelten. 7 Meiers religionsphilosophisches Denken, das sich in einer ganzen Reihe von heute vergessenen Büchern niedergeschlagen hat, soll hier kurz beleuchtet werden. Doch bevor ich dazu komme, möchte ich etwas Biographisches anbringen. 8 Meier wurde 1718 in der Nähe von Halle geboren. Und wie so man157

cher helle Kopf der Zeit stammte er aus einem Pfarrhaus. Er ging in Halle zur Schule, und hier hat er seit 1736 auch studiert, zunächst nur mit dem Ziel, wie sein Vater Prediger zu werden. Er verband jedoch das Studium der Theologie mit dem der Philosophie und hörte bei den beiden Baumgarten, dem Theologen Siegmund Jakob und dem Philosophen Alexander Gottlieb B. Beide vermittelten ihm Wolffianisches Gedankengut, was auch in Halle nicht selbstverständlich war. Wolffs Philosophie durfte nämlich seit dessen Vertreibung in Preußen nicht gelehrt werden, erst seit der Mitte der 30er Jahre war sie wieder erlaubt, worauf sich auch in Halle schnell jene eigentümliche Symbiose von Lutherischer Theologie und Wolffischer Philosophie einstellte, die wir schon vorher bei Bilfinger und Canz in Tübingen sowie bei Reinbeck in Berlin antreffen können. Ostern 1739 promovierte Meier zum Magister und nahm seine philosophische Lehrtätigkeit auf. Er las und publizierte fleißig, denn er erhielt ja kein Gehalt, und seine Eltern konnten ihn auch nur wenig unterstützen. So entstand innerhalb von zehn Jahren eine Fülle von Schriften mit breit gestreuter Thematik, allerdings mit Schwerpunkt in der Ästhetik und der Religionsphilosophie. Die Anerkennung blieb nicht aus. Die Universität Greifswald wollte ihn zum Adjunkt der Philosophischen Fakultät machen, was er ausschlug. 1746 wurde er zum außerordentlichen Professor in Halle ernannt — ein Titel, kein Amt. 1748 wurde er nach außerhalb berufen — er hatte die Wahl zwischen einem Lehrstuhl an der Universität Helmstedt und einer Professur am Collegium Carolinum in Braunschweig. Da er sich von Halle oder auch von seinen Eltern, die nahe bei Halle lebten, nicht trennen konnte oder wollte, lehnte er die Berufung ab. Dafür wurde er zum ordentlichen Professor in Halle ernannt, freilich nur mit sehr bescheidenem Gehalt. Halle blieb fortan seine Wirkungsstätte, und er ist anscheinend nicht weiter oder öfter über diesen Ort hinausgekommen als Kant über Königsberg. 1750 heiratete er eine Pastorentochter, mit der er eine glückliche, aber kinderlose Ehe führte. Seine Gesundheit war nie die beste, und er starb bereits mit 59 Jahren im Sommer 1777. Als akademischer Lehrer war Meier sehr erfolgreich; er »las wenig Stunden, ohne einige hundert Zuhörer zu haben«, so berichtet uns sein Biograph,9 und dieser Lehrerfolg hing sicherlich damit zusammen, daß er im Unterschied zu Baumgarten nur in deutscher Sprache publizierte. Er übersetzte dessen Metaphysial ins Deutsche, 10 und manche seiner Schriften kommen uns wie Wiedergaben Baumgartens vor; sie sind jedoch viel umfangreicher als dessen außerordentlich konzise Bücher, die mit ihrem lakonischen Stil an die Pragmatien des Aristoteles erinnern. Als Dozent hatte Meier aber nicht mit Baumgarten zu konkurrieren, denn dieser wurde Anfang 1740 nach Frankfurt an der Oder berufen, sondern mit Christian Wolff, der Anfang 1741 seine Lehrtätigkeit in Halle wieder aufnahm, aber längst nicht mehr so großen Zulauf hatte wie vor seiner Vertreibung im 158

Jahre 1723. Die anderen Hallenser Professoren der Philosophie, etwa Johann Friedrich Stiebritz und Johann Christian Foerster, waren von kleinerem Format. Zu Meiers Schülern in Halle zählten Thomas Abbt und Johann August Eberhard, auch der spätere Minister Zedlitz war unter seinen Hörern. Friedrich der Große äußerte 1754 bei einem Besuch in Halle den Wunsch, Meier möge eine Vorlesung über Locke halten. Dieser kam dem Wunsche nach, es war die erste ihrer Art in Deutschland; bei den Studenten fand sie jedoch nur ein geringes Echo und blieb daher Episode. " Immerhin beweist der Vorgang, daß man Meier eine solche Neuerung zutraute. Welches Ansehen er genoß, zeigte sich auch nach seinem Tod: Der Minister Zedlitz bemühte sich, als Nachfolger den besten Mann zu gewinnen, der überhaupt zu haben war, nämlich Kant. Dieser verzichtete jedoch, weil er mitten in der Arbeit an der Kritik der reinen Vernunft stand und Königsberg nicht verlassen wollte. So ging der Lehrstuhl denn an Johann August Eberhard, der ihn bis 1809 innehatte — es hätte schlimmer kommen können. Meier wird in unseren Philosophiegeschichten gewöhnlich im Rahmen der Leibniz-Wölfischen Schule behandelt, dabei häufig als ein Popularisator hingestellt, der die reine Lehre verwässerte, indem er sie gefällig präsentierte. In der Tat sucht Meier Gründlichkeit mit Anmut zu verbinden, was in Deutschland selten vorkommt. Wolff, der den jungen Kollegen mehr als ein Jahrzehnt beobachten konnte, war von ihm nicht übermäßig angetan. »Die Schöndenker«, soll er gesagt haben, »werden alles in der Philosophie verderben«. 12 Ein Grund zum Verdacht war sicherlich Meiers Verzicht auf die mathematische Lehrart, die Wolff und vielen seiner Schüler so sehr am Herzen lag. Meier hielt sie weder für universell verwendbar noch für zeitgemäß; sie erinnerte ihn an die »scholastischen Zeiten« und ihr Mißbrauch erschien ihm als eine der Ursachen für den »verdorbenen Geschmack« der Deutschen. 13 Nun gab es allerdings auch andere Philosophen, die dem Wolffianismus nahestanden, aber der mathematischen Lehrart nichts abgewinnen konnten, z.B. Hermann Samuel Reimarus, aber dieser kam nicht in den Verdacht, daß er »alles in der Philosophie verderben« würde. Das Mißtrauen gegen Meier war wohl nicht ganz unbegründet, denn Meier höhlte den Wolffianismus von innen heraus aus: Er teilte nicht den Vernunftoptimismus der Schule, sondern gab je länger desto deutlicher Zeichen von skeptischer Resignation. Meier löst sich von dem Rationalismus Wolffs und vollzieht bereits die Öffnung zur Erfahrung, die für die spätere Popularphilosophie charakteristisch sein wird. Und wie er in Sach- und in Methodenfragen eine Mittelstellung einnimmt, so auch in den persönlichen Beziehungen. Halle war eine verhältnismäßig kleine Universitätsstadt, eine überschaubare Welt, in der jeder jeden kannte. Durch diese Welt war in den zwanziger Jahren ein tiefer und nachhaltiger Riß gegangen, als der Konflikt zwischen rationalisti-

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scher Philosophie und pietistischer Theologie offen ausbrach. Nicht nur Wolff, sondern auch sein Schüler Philipp August Thümmig mußten damals die Stadt verlassen; die treibende Kraft war vor allem der Theologe Joachim Lange, der durch scharfe Polemik für Polarisierung weit über Halle hinaus sorgte. Aber der Pietismus verlor später an Einfluß, der Rationalismus wurde abgemildert, und die nächste Generation suchte die Gräben zuzuschütten. Der Wolffianer Meier war mit dem Sohn des Anti-Wolffianers Lange eng befreundet, und diese Beziehung überstand auch sachliche Differenzen. In der Frage, ob und wie sich die Unsterblichkeit beweisen lasse, schrieb Lange Jr. gegen Meier und Meier gegen Lange Jr., ohne daß die Freundschaft Schaden nahm. 14 Samuel Gotthold Lange hat nach Meiers Tod dessen Biographie geschrieben — Entsprechendes wäre in der Generation der Väter kaum vorstellbar gewesen. Wenn Meier innerhalb der Wölfischen Schule ein unsicherer Kantonist war — macht sich das auch in der Religionsphilosophie bemerkbar? Was die Religion angeht, so suchten Wolff und die Mehrzahl seiner Anhänger die Harmonie zu bewahren, die uns am deutlichsten in Leibniz' Essais de Théodicée entgegentritt. Genau wie Leibniz sahen sie keinen Gegensatz und erst recht keinen Widerspruch zwischen Philosophie und Religion: Die Wahrheit der Vernunft kann keine andere sein als die der Offenbarung, denn beide fließen letztlich aus derselben Quelle. Philosophie und Religion ergänzen einander und sind aufeinander angewiesen, zumal sie nicht in reiner Gestalt, sondern in geschichtlicher Erscheinungsform gegeben sind. Die Philosophie muß und darf alles, auch die Religion, vor den Richterstuhl der Vernunft ziehen und der Kritik unterwerfen, aber sie darf ihre Perspektive nicht verabsolutieren, sondern muß eingestehen, daß sie (noch) keine Weltauslegung und Handlungsanweisung geben kann, die für alle gleichermaßen faßlich, wirksam und verbindlich wäre. Die Religion bleibt also sinnvoll und notwendig; sie darf ihrerseits die Philosophie zu ihrer eigenen Grundlegung, Festigung und Verteidigung heranziehen, darf sich aber gleichfalls nicht absolut setzen, sondern muß sich philosophische Deutungen ihrer Inhalte gefallen lassen. Nur ihre sog. »Geheimnisse« sind (noch) davor sicher, in Vernunftglauben überführt zu werden. Die von Leibniz konzipierte, von Wolff und den Wolffianern explizierte Harmonie von Vernunft und Glauben ist aber immer nur prekär gewesen; die Spannungen wurden nur vorübergehend verdeckt, aber nicht beseitigt. Schon bei Wolff tritt geradezu eine Ambivalenz im Verhältnis zur Religion zutage. Er empfand sich als gläubiger Christ und gedachte dem Christentum auch in seiner Eigenschaft als Philosoph zu dienen, indem er das Waffenarsenal bereitstellte, mit dem der Glaube gegen Zweifel und Unglauben verteidigt werden konnte: zwingende Beweise für das Dasein Gottes, für das Geschaffensein der Welt und für die Vorsehung in der Welt sowie Kriterien für eine göttliche Offenbarung. Das war die eine Seite. Die Kehr160

seite war jedoch, daß der Anspruch auf Beweise von mathematischer Gewißheit, auf semantische Transparenz und logische Kohärenz der Glaubenslehren sowie auf Kriterien für eine Offenbarung auch gegen die christliche Religion verwendet werden konnte: Wurde er unerbittlich ernst genommen, mußte er als unerfüllt betrachtet werden. Wolff hat das anscheinend nicht gesehen, doch für manche seiner Leser lag es auf der Hand. Aus der Schule Wolffs sind daher einerseits bekannte Theologen wie S. J. Baumgarten, G . B. Bilfinger, I. G. Canz und J . G . Reinbeck hervorgegangen, die seine Philosophie in apologetischer Absicht verwendeten und mit seinen Waffen auf Atheisten, Spinozisten und Naturalisten einschlugen, andererseits aber auch scharfe Kritiker des herrschenden Religionssystems wie J . L. Schmidt, H. S. Reimarus, G. Schade, C. F. Bahrdt, bei denen sich der Wölfische Rationalismus mit den Ideen der englischen Deisten zu einer brisanten Mischung verband. Man könnte von Rechts-Wolffianern und Links-Wolffianern sprechen, wenn diese Ausdrücke nicht gewisse Mißverständnisse nahelegten. 15 Welcher der beiden Richtungen ist Meier zuzurechnen? Sicher nicht den radikalen Kritikern der Offenbarungsreligion, aber auch nicht einfach ihren Apologeten, jedenfalls nicht in jedem Stadium seiner philosophischen Entwicklung. Es scheint vielmehr, daß er eine ähnliche Ambivalenz im Verhältnis zur christlichen Religion zeigt wie Wolff, daß jedoch die Gegensätze bei ihm noch stärker ausgeprägt sind und die Spannung in seinem Denken noch größer ist als bei Wolff. Um dies zu begründen, muß ich nun auf verschiedene, heute kaum noch bekannte Schriften Meiers eingehen. Da sind zunächst zwei Schriften apologetischen Inhalts zu nennen, mit denen Meier in die zeitgenössische Debatte für und wider die christliche Religion eingriff. So etwas gehörte zwar nicht zu seinen Berufspflichten, gleichwohl war er für die Rolle des Apologeten gut gerüstet, denn er hatte ja ein theologisches Studium absolviert und seine Kompetenz erstreckte sich daher nicht nur auf die natürliche Religion. In seiner Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister von 1747 setzte er sich mit einem anonymen französischen Religionskritiker auseinander, 16 und schon ein Jahr später legte er eine Vertheidigung der christlichen Religion, wider Herrn Johann Christian Edelmann vor. 1 7 In beiden Büchern geht er so vor, daß er die gegnerische Schrift kapitelweise kritisch durchspricht, so wie man heute einen Seminartext durchzusprechen pflegt. Er geht mit den Autoren hart ins Gericht, ohne in persönliche Polemik abzugleiten. Anders als die meisten Apologeten aus der Wölfischen Schule verwirft er die Thesen der Freigeister nicht in Bausch und Bogen, sondern ist um eine differenzierende Betrachtung bemüht. Gleichwohl kommt er in beiden Fällen zu einem negativen Resultat. Dem Franzosen, so zeigt er, fehlt es an gründlicher Kenntnis seines Gegenstandes, weswegen seine Kritik an der Oberfläche bleibt. Er hält der christlichen Religion insgesamt vor, was nur eine einzelne Kirche 161

lehrt; er unterstellt den Theologen Meinungen, die sie nicht vertreten, und er ignoriert ihre Versuche, schwierige Glaubenslehren zu erklären. Weil er die christliche Religion mit dieser oder jener theologischen Deutung derselben gleichsetzt, kann er nur einen Scheinsieg über sie erringen. Was Edelmann angeht, so gesteht Meier ihm zu, daß er ein »redlicher Wahrheitsfreund« sei, der sogar Gelehrsamkeit besitze (S. 22 f.). Aber auch Edelmann durchschaut nach Meiers Überzeugung nicht, was er kritisiert; darüber hinaus steht seine Kritik in Widerspruch zu seinen eigenen Prämissen. Er tadelt die Geistlichkeit mit heftigen Worten, obwohl er doch mit Spinoza annimmt, daß Gott es ist, der in allem wirkt, sich also auch in den Geistlichen offenbart (S. 39). Während Spinoza alles demonstrieren wollte, nimmt Edelmann alles unbewiesen an (S. 27, 104). Was er gegen die übernatürliche Offenbarung vorbringt, ist schwach: »Cherbury, Tindal, Collins, Spinoza haben ihre Sache tausendmal besser vorgetragen, als Herr Edelmann« (S- 26). Meier weiß, daß derartige Kritik in einem schiefen Licht erscheinen könnte, so als sollte eine neue Kampagne gegen einen Mann eröffnet werden, der schon unter Verfolgung zu leiden gehabt hatte. Er rechnet mit dem Vorwurf der »Consequenzenmacherey«, die seit den Angriffen der Hallenser Pietisten gegen Wolff als »verhaßter Kunstgriff« galt. Vorsorglich weist er die Beschuldigung zurück: Er ziehe nur zwingende Folgerungen aus den Thesen seines Gegners und sei sich keiner persönlichen Feindschaft gegen ihn bewußt (S. 116). Meier glaubte zweifellos, daß er der christlichen Religion diente, wenn er den Angriffen auf ihre Dogmen und Institutionen mit starken Argumenten entgegentrat, und daß Edelmann es nur sich selbst zuzuschreiben hatte, wenn er in Schwierigkeiten kam: Sein Buch hätte nämlich niemals veröffentlicht werden dürfen, weil »solche Lehren, wie die Edelmannischen sind, die alle Religion und alles Christentum über den Hauffen werffen, gar nicht müssen vorgetragen werden« (S. 78). Das entsprach der Theorie der Denkfreiheit, die Meier im ersten Teil seiner Rettung der Ehre der Vernunft entwickelt hatte und die ihn als einen Hauptvertreter des reaktionären Rechts-Wolffianismus erscheinen läßt. Diese Theorie ist vor dem Hintergrund der großen Diskussion zu sehen, die Spinoza 1670 mit dem Tractatus Theologico-Politicus eröffnet hatte. Spinoza erhob die Forderung nach libertas philosophandi oder Freiheit zu philosophieren, d.h. nach dem Recht zu denken, was man will, und zu sagen, was man denkt, welches er als ein allgemeines Recht betrachtete, das jeder von Natur besitzt und das er uneingeschränkt gebrauchen darf, solange der Gebrauch nicht gegen die Grundlagen der Gesellschaft und der Religion gerichtet ist. Diese Forderung wurde in Deutschland nicht mit Zustimmung aufgenommen. Auch als der Engländer Anthony Collins 1 7 1 3 in seinem Discourse of Free-Thinking in dasselbe Horn stieß, wurde in Deutschland fast nur Kritik laut. 18 Es gab hier nur wenige, die das freie, 162

bloß an der Evidenz der Argumente orientierte, weder durch Vorschriften gelenkte noch durch Verbote gefesselte Denken im Interesse des Erkenntnisfortschritts oder der Religionsverbesserung guthießen; man kann sie an den Fingern einer Hand aufzählen: Christian Thomasius, Nikolaus Hieronymus Gundling, später Johann Lorenz Schmidt und eben Edelmann. Die führenden deutschen Philosophen der Zeit: Leibniz, Budde, Wolff, lehnten die Idee des freien Denkens ab, weil sie dahinter die aufkommende Freidenkerbewegung sahen, in der bewährte und unverzichtbare moralische und religiöse Werte, wie sie meinten, leichtfertig in Frage gestellt wurden. Wolff forderte zwar auch libertas philosophandi, aber nur als akademisches Privileg und in der Uberzeugung, daß die wahre Philosophie (d.h. seine Philosophie) der wahren Religion (d.h. der christlichen Religion) nicht widersprechen könne. 19 Die emotional besetzte und unwissenschaftlich argumentierende Religionskritik der zeitgenössischen Freidenker stieß ihn ab, und daran änderte sich auch dann nichts, als er selbst wegen angeblich staatsgefährdender Lehre von der Obrigkeit gemaßregelt wurde. Die Freiheit zu philosophieren, darüber hinaus die Freiheit zu denken ist jedoch öfters in der Wölfischen Schule erörtert worden, z.B. von Alexander Gottlieb Baumgarten und von Meier. Da Baumgartens Beitrag erst posthum veröffentlicht wurde, 20 ist Meiers Theorie der Denkfreiheit von 1747 das gewichtigste Zeugnis aus der Frühzeit der Schule, das uns zu Gebote steht. Man kann Meiers Theorie der Denkfreiheit wie folgt zusammenfassen: 21 a) Im Gegensatz zu Wolff und Baumgarten spricht Meier nicht von der Freiheit zu philosophieren, sondern von der Freiheit zu denken und zu reden. Er vermeidet damit nicht allein eine Mehrdeutigkeit, sondern gibt auch zu verstehen, daß er keineswegs bloß von dem Recht des Gelehrtenstandes redet, sondern von einem Recht, das jedermann besitzt und ausüben kann. b) Meier schränkt den Anwendungsbereich der Ausdrücke »Freiheit zu denken« und »Freiheit zu reden« auf »Religionssachen« ein. Das hängt damit zusammen, daß die Reden und Schriften der sog. Freidenker oder Freigeister seiner Zeit sich vor allem auf die Religion bezogen. Von dem Recht, die Maßnahmen der Obrigkeit kritisch zu beurteilen und zu diskutieren, von dem Spinoza noch gesprochen hatte, ist bei Meier wie schon bei Wolff und Baumgarten keine Rede mehr. c) Meier trennt die Freiheit zu reden (worunter er auch die Freiheit zu schreiben begreift) gänzlich von der Freiheit zu denken ab. Er sieht keinerlei natürliche Notwendigkeit, daß ein Mensch sagt, was er denkt, und trägt daher kein Bedenken, die Freiheit zu reden einzuschränken, wenn der Inhalt der Rede geeignet ist, die Menschen oder die menschliche Gemeinschaft weniger vollkommen zu machen.

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d) Meier hält den Menschen unter bestimmten Umständen für verpflichtet, ganz für sich zu behalten, was er denkt, oder sogar etwas anderes zu sagen, als was er denkt. Dissimulieren und gar Simulieren sind auch nach Meiers Eingeständnis Unvollkommenheiten, aber sie sind nicht die größten Unvollkommenheiten und müssen daher unter bestimmten Umständen anderen, noch größeren Unvollkommenheiten, etwa einer akuten Gefährdung der eigenen Sicherheit oder des öffentlichen Wohls, vorgezogen werden. e) Für diejenigen, die die Grenzen der erlaubten Freiheit überschreiten, sieht Meier staatliche Sanktionen vor; als Präventivmaßnahme befürwortet er die Vorzensur. Im Prinzip stimmt er darin mit Wolff überein, der ja gleichfalls Atheisten und Deisten, die alle Religion aufheben, nicht dulden wollte. Doch er geht einen Schritt weiter als Wolff, wenn er auch die Naturalisten, die die geoffenbarte Religion zugunsten der natürlichen aufheben, für intolerabel erklärt. f) Meier weist eine andere, liberale Theorie der Denkfreiheit, die gleichfalls auf dem Boden der Wölfischen Schule (im weitern Sinne) entstanden war, entschieden zurück. Zum Schluß seiner Ausführungen geht er nämlich kritisch auf die Argumente ein, mit denen Johann Lorenz Schmidt in Anlehnung an Collins und in voller Anerkennung der Tatsache, daß dem Menschen mit bloßer Denkfreiheit ohne gleichzeitige Redefreiheit nicht gedient ist, eine recht weitgehende Lockerung aller Beschränkungen des Denkens, Redens, Lehrens und Publizierens gefordert hatte. 22 Meier schlägt damit eine Tür zu, durch die der frische Wind der Aufklärung nach Deutschland hätte strömen können. Was wir bisher von diesem Philosophen kennengelernt haben, erscheint wenig attraktiv: Es zeigt einen Rechts-Wolffianer, der darauf hinarbeitet, daß die Verhältnisse so bleiben, wie sie sind. Aber hüten wir uns vor einseitigen Urteilen. Bedenken wir, daß Meier noch keine dreißig Jahre alt war, als er seine Theorie der Denkfreiheit veröffentlichte. Was schrieb er in den nächsten dreißig Jahren, die ihm noch beschieden waren? Wenn man ignorieren wollte, was er zwischen 1748 und 1777 geschrieben hat, so wäre das genauso lächerlich, wie wenn man Kant ausschließlich nach dem beurteilen wollte, was er bis zu seinem 30., ja bis zu seinem 45. Lebensjahr veröffentlicht hatte. Wir müssen daher unser Bild vervollständigen und auf einige von Meiers späteren Werken eingehen. Eins von ihnen ist dabei von besonderem Interesse, weil es direkt an die Theorie der Denkfreiheit von 1747 anknüpft. Von 1761 an veröffentlichte Meier seine Philosophischen Betrachtungen über die christliche Religion, die acht Teile mit zusammen mehr als 1700 Druckseiten umfaßten und erst 1767 abgeschlossen waren. Er beginnt mit religionsphilosophischen Bemerkungen und diskutiert dann die Hauptleh164

ren der christlichen Religion. Ich gehe hier nur auf das erste Stück ein, das den Titel trägt »Von der Freyheit, die christliche Religion zu prüfen« (S. 9 — 146). Obwohl Meier sich hier wiederholt auf seine Theorie von 1747 beruft und nichts davon zurücknimmt, weht 1761 doch ein anderer Wind. Er bejaht mit großem Nachdruck, daß jedermann, und ganz besonders der Christ, berechtigt und verpflichtet ist, seine Religion zu prüfen — allerdings nur still für sich, denn das Recht zu prüfen ist nicht dasselbe wie das Recht, das Ergebnis seiner Prüfung andern mitzuteilen und öffentlich zur Diskussion zu stellen. Doch wenn man von dieser Einschränkung absieht, kann man meinen, einen überzeugten Anwalt der Denkfreiheit vor sich zu haben. Viele seiner Formulierungen erinnern uns an Anthony Collins oder Johann Lorenz Schmidt, zwei Autoren, die nicht daran dachten, die freie Prüfung der Religion auf die Privatsphäre zu beschränken. In der Tat erscheint die Beschränkung widersinnig, denn wenn jemand bei der Prüfung zu einem negativen Resultat kommt, so muß dies doch zumindest eine Außenwirkung haben dürfen: daß er aus seiner Kirche austritt und zu der wahren Kirche übertritt — ein Schritt, den hochgestellte Persönlichkeiten damals nicht ohne publizistische Rechtfertigung zu tun pflegten. Meier beginnt die eigentliche Darlegung mit einer Begriffsbestimmung. Die Freiheit zu denken besteht hinsichtlich der christlichen Religion »in dem Vermögen, oder in der Fertigkeit, nichts anderes in Religionssachen für wahr zu halten, als was man selbst, nach den ächten Gründen und Kennzeichen der Wahrheit, vermittelst einer eigenen gehörigen Untersuchung, als wahr erkannt; und nichts anderes für falsch zu halten, als was man selbst, nach den ächten Gründen und Kennzeichen der Unrichtigkeit, vermittelst einer eigenen gehörigen Untersuchung, als falsch und unrichtig befunden hat« (S. 10). Ein »freydenkender Verstand« denkt also selbst, wählt sich seine Meinungen nicht blindlings, wird auch nicht durch Vorurteile verleitet, seine Meinungen anzunehmen oder zu verwerfen; er »prüfet alles, und das Gute behält er« (S. 11). Die bloße Beschreibung der »edlen Freyheit zu denken« ist geeignet, sie allen vernünftigen Menschen anzupreisen, und »nur ein Sklave im Denken [...] ist ein Feind der Freyheit zu denken« (S. 12). Wem das nicht ohne weiteres einleuchtet, für den hat Meier Argumente parat. Das Recht und die Pflicht zum freien Denken folgt erstens aus der Natur und Beschaffenheit der christlichen Religion, die so, wie sie gewöhnlich angenommen wird, teils wahr, teils falsch ist, ja »mit unendlich vielen Irrthümern untermengt und verunreiniget« ist. Nur durch Unterscheidung des Wahren und Falschen kann man hoffen, zu einer richtigen Erkenntnis der christlichen Religion zu gelangen (S. 13). Das Recht und die Pflicht zum freien Denken folgt nun aber zweitens daraus, daß »keine Wahrheit anders als Wahrheit erkannt werden kann, es sey denn, daß man sie durch den freydenkenden Verstand dafür erkenne« (S. i j ) . Der dritte Grund ist dieser: »Da uns sowohl unsere natürliche als auch die christliche 165

Pflicht verbindet, überall nach der möglichen und größten Vollkommenheit zu streben, so muß auch ein jeder Christ die allervollkommenste Erkenntniß der christlichen Religion zu erlangen suchen. N u n ist allemal diejenige Erkenntniß, welche man durch einen freyen Gebrauch des Verstandes erlangt, viel vollkommener als diejenige, welche ein Mensch durch eine sclavische A r t zu denken erlangt« (S. 16). Die Folgerung liegt auf der Hand. In einem zweiten Anlauf bringt Meier vier Argumente vor, die die Pflicht des freien Denkens durch formale ebenso wie durch materiale Erwägungen weiter verdeutlichen (S. 1 7 — 1 9 ) . 1. Wenn die Erkenntnis von Religionswahrheiten moralische Erkenntnis und die moralische Erkenntnis moralische Pflicht ist und wenn jegliche Erkenntnis den freien Gebrauch des Verstandes erfordert, so folgt, daß es eine moralische Pflicht zum freien Gebrauch des Verstandes bei der Erkenntnis von Religionswahrheiten gibt. 2. Wenn die Religionswahrheiten Gegenstände sind, von denen unsere Glückseligkeit abhängt und wenn die Erkenntnis solcher Gegenstände nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, sondern durch freien Gebrauch des Verstandes erlangt werden muß, so gibt es eine Pflicht zum freien Gebrauch des Verstandes bei ihrer Erkenntnis, j . Die Freiheit zu denken wird an vielen Stellen der Schrift ausdrücklich oder stillschweigend geboten, z . B . in dem Paulus-Wort »Prüfet alles und das Gute behaltet«. 2 ' 4. Alle Religionsverbesserungen in der Geschichte sind durch freies Denken bewerkstelligt worden, z . B . die Einführung des Christentums und die Reformation. Wenn also Religionsverbesserungen notwendig sind, dann auch das freie Denken. Daß aber Religionsverbesserungen notwendig sind, zeigt Meier mit einem Argument, in dem schon Lessings Konzeption der Offenbarung als einer schrittweisen Erziehung des Menschengeschlechts anklingt: »Die natürlich und übernatürlich offenbarte Haushaltung Gottes unter den Menschen bestätigt, daß es ihm zu keiner Zeit gefällig gewesen, der Religion unter den Menschen den höchsten G r a d ihrer Vollkommenheit zu geben. E r hat immer, von Zeit zu Zeit, durch natürliche oder übernatürliche Mittel mehr Wahrheiten bekannt gemacht, und die alten Wahrheiten in einen neuen Glanz versetzt, und er hat nach seiner Weisheit f ü r ein jedes Zeitalter ein gewisses Maß der Erkenntnis bestimmt. Folglich hat er dadurch zugleich aufs klärste an den Tag gelegt, daß es seinem vollkommensten Willen gemäß sey, daß die Menschen das Lehrgebäude ihrer Religion beständig zu verbessern suchen und die Wahrheit desselben immer ausführlicher, Gott anständiger, richtiger, deutlicher, überzeugender und practischer einzusehen sich bemühen« (S. 23). Das können die Menschen aber nicht tun, solange sie Sklaven im Denken sind; folglich sind sie zu freiem Denken verbunden. Wenn sich das freie Denken in Religionssachen so einleuchtend begründen läßt, wieso hat es sich denn nicht durchgesetzt? Es muß Einwände gegen das freie Denken geben, die das bisher verhindert haben. Meier diskutiert fünf davon: daß die Menschen mit dem freien Denken überfordert 166

seien; daß es zum Mißbrauch führen könne; daß die Glaubenseinheit dadurch in Gefahr gerate; daß es Religionsirrtümer begünstige; schließlich daß das freie Denken überflüssig sei, weil die Wahrheit des Protestantismus feststünde (S. 26 — 42). Er weist diese Einwände allesamt mit durchaus treffenden und der Sache der Freiheit dienlichen Argumenten zurück. Doch es bleibt unklar, wie er sich einerseits so beredt für das freie Denken einsetzen und andererseits so kompromißlos für die scharfe Trennung von privater Prüfung der Religion und öffentlicher Diskussion ihres Für und Wider aussprechen kann. Erstaunlich ist, mit welchem Eifer Meier die Hindernisse des Gebrauchs der Freiheit zu denken aufdeckt und ausräumt. Auch dieser ziemlich lange Abschnitt (S. 45 — 135) atmet den Geist der Aufklärung und läßt den Verfasser in einem andern Licht erscheinen als die repressive Theorie der Denkfreiheit von 1747. Was hindert denn die Menschen daran, ihre Religion zu prüfen? 1. Der Mangel eines freien Verstandes: Sie sind Vorurteilen aller Art verfallen. 2. Abergläubische Furcht vor freier Prüfung: Sie bilden sich ein, Gott verlange von ihnen, Glaubenslehren ohne Prüfung anzunehmen. j . Die Sektiererei: Sie pflegen ohne Prüfung anzunehmen, was die eigene Sekte lehrt. 4. Die Verwechslung von Theologie und Religion: Sie setzen Meinungen von Menschen mit dem Willen Gottes gleich, j . Die Schwierigkeit der Schriftauslegung: Nur wenige besitzen die Art von Bildung, die zur Prüfung nötig ist. 6. Die herkömmliche religiöse Erziehung: Die Menschen lernen, leere Formeln nachzusprechen. 7. Der herrschende Verfolgungsgeist: Die Menschen werden eingeschüchtert, bis sie auf ihre Freiheit verzichten. Das alles hätten auch Spinoza, Collins, Schmidt und Edelmann vorbringen können; tatsächlich dürfte keins der Argumente neu sein. Doch die Genannten haben noch ein weiteres Hindernis für den freien Gebrauch des Verstandes angeführt: Religionsgesetze und Zensurbestimmungen. Meier sagt davon kein Wort, weil er die unglaubhafte Annahme macht, die Prüfung der Religion sei ein rein privater Vorgang ohne jede Außenwirkung. Das bisher Gesagte betraf den formalen Aspekt unseres Verhältnisses zur Religion. Meier ist natürlich auch auf Inhaltliches eingegangen, doch sein breit angelegter Versuch, die Hauptlehren der christlichen Religion philosophisch zu beleuchten, vernünftig zu interpretieren und moralisch umzudeuten, der den Kern des Werkes ausmacht, kann hier nicht gewürdigt werden, zumal er im Zusammenhang mit den entsprechenden Versuchen zeitgenössischer Theologen wie Jerusalem, Semler und Teller gesehen werden muß. Ich möchte mich hier auf eine Frage beschränken, die allerdings für die Religionsphilosophie der Aufklärung zentral war, nämlich die nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung. Meier ist dieser Frage in seinen Gedancken von der Religion nachgegangen. 24 Er entwickelt hier kein System einer vernünftigen Religion, sondern 167

reflektiert über Fundament, Funktion und Suffizienz einer solchen. Das Fundament ist seiner Ansicht nach die Physikotheologie: Die Kreaturen sind die Leitern, auf denen wir zu Gott aufsteigen. 25 Der Gedanke bleibt jedoch abstrakt, denn hier ist nichts von jener Liebe zum Detail in der Naturbeschreibung zu spüren, die beispielsweise Hermann Samuel Reimarus, den großen Physikotheologen der deutschen Aufklärung, auszeichnete. 26 Die Funktion der vernünftigen Religion ist nach Meiers Ansicht die gleiche wie bei der geoffenbarten: Welterklärung und Handlungsanweisung mit dem Ziel, den Menschen zu größerer Vollkommenheit und damit auch zu höherer Glückseligkeit zu führen. Die Suffizienz der vernünftigen Religion kommt am Schluß zur Sprache: »Ich sehe aufs allerkläreste, daß ich durch die Religion durchaus vollkommen und im höchsten Grade glückselig werde. Und kann ich außer dem wohl noch mehr verlangen, oder kann außer dem noch mehr von mir gefordert werden? Wenn ich demnach aufhöre zu sündigen, wenn ich nichts als lauter Gutes tue, und zwar alles zur Ehre Gottes, so ist nichts mehr weiter nöthig, ich brauche weder eine übernatürliche Offenbarung Gottes, noch einen Erlöser« (S. 127). Aber ist es menschenmöglich, mit der Sünde aufzuhören, und werden durch eine derartige Sinnesänderung auch die Sünden der Vergangenheit getilgt? Das sind die entscheidenden Fragen, auf die Meier nur eine indirekte, merkwürdig verklausulierte Antwort gibt: »Ich schreibe hier als ein bloßer Weltweiser, und stehe hier an den Grentzen der Offenbarung, die ich nicht berühren darf. Ich will nur noch dieses hinzuthun. Wenn ein Freygeist, der die natürliche Religion annimmt, gründlich denken will, so muß er aus der Vernunft richtig beweisen, daß man die vorhergehenden Fragen bejahen müsse. Die Pflicht eines Gottesgelehrten aber erfordert es, die Verneinung derselben gründlich zu beweisen. Und dieses kann er thun. Er wird alsdenn finden, daß die christliche Religion sich so genau an meine Betrachtungen passe, daß dieselben unmöglich ihr widersprechen können« (S. 127f.). Es ist nicht leicht zu sehen, was Meier damit sagen will. Brauchen wir nun eine Offenbarung oder nicht? Meier scheint der Entscheidung auszuweichen, indem er das Ja dem Theologen, das Nein dem Freigeist zuweist und beiden auch die Beweislast aufbürdet. Wenn er vom Theologen sagt, daß er den Beweis für seine Antwort führen könne, so klingt das zwar wie ein Eingeständnis der Notwendigkeit des Offenbarungsglaubens, es braucht das aber nicht zu bedeuten, denn es kommt augenscheinlich darauf an, aus was für Prämissen der Theologe den Beweis führt. Stützt er sich dabei auf die Prämisse, daß alle Menschen der Erbsünde unterworfen seien, so wird der Freigeist sicherlich Widerspruch einlegen, denn dies ist eine Glaubenslehre. Vom Freigeist wird nicht gesagt, ob er den Beweis für seine Antwort führen kann oder nicht. Meiers frühere Kritik an zeitgenössischen Freigeistern läßt vermuten, daß er ihnen das gründliche Denken, das für den Beweis erfordert wird, generell nicht zutraut. Doch wie auch immer es sich 168

damit verhalten mag, die Frage bleibt, was daraus für den Philosophen folgt. Seine Betrachtungen, so sagt Meier und er glaubt sich darin mit dem Theologen einig, können der christlichen Religion unmöglich widersprechen, und das, obwohl sie nicht zu dem Ergebnis führen, daß alle Menschen erlösungsbedürftig seien. Was kann das anderes heißen, als daß Meier die christliche Religion, sofern sie über die philosophische Religion hinausgeht, als Angebot an diejenigen versteht, die das Bedürfnis nach Erlösung verspüren, weil sie sich nicht zur philosophischen Religion erheben können? Das war auch Spinozas Uberzeugung gewesen, doch Spinoza wäre ein überraschender Gesinnungsgenosse für einen Mann von Meiers Herkunft und Stellung. Was Meier in der Schrift von 1749 nur skizziert, das hat er später in der Philosophischen Sittenlehre breit ausgeführt. Diese erschien zu Halle 1753 — 59 ' n fünf Bänden und ist sein umfangreichstes Werk. Anderthalb Bände sind darin der natürlichen Religion nach ihrer praktischen Seite gewidmet, d.h. der Aufzählung und Herleitung sämtlicher Pflichten des Menschen gegen Gott, soweit sie mit dem bloßen Verstand zu erkennen sind. Es ist der detaillierteste Entwurf der natürlichen Religion, den wir aus der deutschen Aufklärung kennen. Wer ihn studiert, muß sich tatsächlich fragen, ob es noch weitergehende Forderungen Gottes an den Menschen geben kann. Ein moderner Kritiker bewertet ihn nicht ohne Grund als einen »ernsthaften Versuch, das christliche Glaubensgut durch die natürliche Religion zu ersetzen«. 27 Man muß allerdings hinzufügen: Wenn dieser Versuch in Meiers Absicht lag, so hat er klug daran getan, seine Absicht nicht offen auszusprechen, denn damit hätte er zweifellos einen Konflikt mit den Theologen heraufbeschworen. Bald darauf trug Meier im letzten Teil seiner Metaphysik die natürliche Religion auch nach ihrer theoretischen Seite vor. Er behandelt hier Dasein und Eigenschaften Gottes, Schöpfung, Vorsehung und Theodizee. Im Schlußkapitel zeigt er die Möglichkeit von so etwas wie Offenbarung auf und leitet damit von der Theologia Naturalis zur Theologia Revelata über, die nicht mehr zur Philosophie gehört und daher unerörtert bleibt. Meier gibt hier u. a. die Kriterien an, denen alles unterliegt, was als göttlich geoffenbart soll gelten können. Das hatte auch schon Wolff getan, doch Meier geht noch über ihn hinaus, indem er die Kriterien nicht bloß nennt, sondern auch auf einen konkreten Text anwendet, was jener strikt vermieden hatte: »Wenn wir also in einem Buche solche Widersprüche finden, wodurch die göttliche Offenbarung und die gesunde Vernunft über den Hauffen geworfen würden, so ist es ein untrügliches Kennzeichen, daß dasselbe keine übernatürliche Offenbarung seyn könne. Was in dem Buche Tobias von dem Eheteufel und dessen Vertreibung durch eine Fischleber, gemeldet wird, ist so offenbar der gesunden Vernunft zuwider, daß dieses Buch unleugbar keine übernatürliche Offenbarung seyn kan.« 28 169

Die zitierten Texte scheinen die optimistische Grundstimmung auszudrücken, die wir aus anderen Produkten der Wölfischen Schule kennen: Alle wesentlichen Fragen in bezug auf die Religion können von der Vernunft sicher und allgemeinverbindlich entschieden werden. Aber Meier würde das nur von der Vernunft in abstracto sagen, nicht von der Vernunft in concreto, deren wir uns hier und jetzt bedienen. Diese ist vielmehr nach seiner Uberzeugung durch ein beinahe unüberwindliches Hindernis von der Wahrheit getrennt: Alle Menschen, Philosophen und Theologen nicht ausgenommen, sind so von Vorurteilen beherrscht, daß sie sich niemals ganz von ihnen befreien und folglich niemals in den sicheren Besitz der Wahrheit kommen können. Das ist der Tenor einer Schrift, in der sich Meier vom Wölfischen Optimismus distanziert: Bey träge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts.29 Wenn die Vorurteile aber im Prinzip unaufhebbar sind, so hat das Folgen, die Meier selbst als »merkwürdig« bezeichnet: Die gesamte Erkenntnis der meisten Menschen und der größte Teil der Erkenntnis sogar der Gelehrten ist ungewiß; somit obsiegt der Skeptizismus, zwar nicht in der schlimmsten Form, dem Pyrrhonismus, sondern in der gemäßigten Form, die Cicero vertreten hat, für den alle menschliche Erkenntnis im besten Fall wahrscheinlich war (S. 109ff.). Doch wie will man auf dieser Grundlage zwischen guten und schlechten Philosophen, zwischen Orthodoxen und Heterodoxen unterscheiden? Für den Menschen hängt nun alles davon ab, welche Vorurteile er anfänglich in sich aufgenommen hat: »Derjenige Gelehrte, welcher ein richtiges Lehrgebäude schätzbarer Wahrheiten besitzt, muß wenigstens die erste Erlangung dieses Besitzes bloß dem glücklichen Gestirne zuschreiben, unter welchem er geboren worden. Hätte Leibnitz, von Kindesbeinen an, in solchen Umständen gelebt, als Spinoza: so würde er nicht so gedacht haben, als er gedacht hat. Was hat er also, vor dem Spinoza, voraus? Sein gutes Glück, und daß er sich dasselbe vortreflich zu nutze gemacht hat. Das letzte würde Spinoza vielleicht ebenfalls gethan haben, allein das Glück fehlte ihm« (S. 117). So findet sich der Heros der deutschen Philosophie im Zeitalter der Aufklärung auf einer Stufe mit dem »toten Hund« wieder, als der Spinoza damals galt. Wolff, der sich die Mühe machte, Spinoza Punkt für Punkt zu widerlegen, wäre über Meiers These wohl bestürzt gewesen, doch vielleicht ist sie das erste Anzeichen jenes Stimmungsumschwungs, der in der Spätaufklärung zur Rehabilitation Spinozas führen sollte. Mit seinen Betrachtungen über die wirkliche Religion des menschlichen Geschlechts30 griff Meier zum letzten Male in die religionsphilosophische Debatte seiner Zeit ein. Diese Debatte war seiner Meinung nach zu sehr auf die »mögliche Religion« fixiert gewesen, d.h. auf die Abstraktion, die aus der Erkenntnisquelle einer Religion, etwa der Bibel oder dem Koran, abgeleitet werden kann, während es doch auf die »würkliche Religion« ankommt, d. h. auf den Inbegriff von Meinungen über Gott, die der Einzelne 170

tatsächlich für wahr hält, und von freien Handlungen, die er aufgrund dieser Meinungen tut oder unterläßt. 31 Aus der Vollkommenheit der »möglichen Religion«, zu der sich ein Mensch bekennt, folgt nichts für seine »würkliche Religion« (S. 2 1 ) ; das Bekenntnis zum Christentum als der wahren Religion garantiert ihm daher nicht das Wohlgefallen Gottes, und das Bekenntnis zu einer andern Religion schließt es nicht aus. Wie die Religion im Einzelfall aufgefaßt und umgesetzt wird, ist ausschlaggebend, und jeder Einzelfall sieht anders aus. Denn das Erkenntnis- ebenso wie das Begehrungsvermögen sind bei jedem Menschen verschieden stark und tüchtig; Charakter, Vorurteil und äußere Verhältnisse wirken sich bei jedem anders aus. Deshalb wird jede Wahrheit, und sei sie noch so deutlich in der Erkenntnisquelle einer Religion ausgedrückt, von verschiedenen Menschen verschieden aufgefaßt, wird jede Handlung, und sei sie noch so nachdrücklich geboten, von verschiedenen Menschen in verschiedener Gesinnung und mit verschiedenem Verdienst getan. 3 2 Gotteserkenntnis und Frömmigkeit können daher bei verschiedenen Menschen unendlich verschiedene Grade der Vollkommenheit annehmen, auch das Verhältnis beider zueinander kann unendlich abgestuft sein. Die Folge ist, daß es so viele »verschiedene würkliche Religionen in dem menschlichen Geschlechte« gibt, wie es darin Menschen gibt, die eine Religion haben (S. 9). Übereinstimmung der Religion gibt es immer nur im Äußerlichen, selbst unter Angehörigen einer und derselben Konfession (S. 18 ff.). A u f s Äußerliche kommt es jedoch nicht an. Gott beurteilt nämlich jeden Einzelnen nach dem moralischen Wert seiner »würklichen Religion«, und der hängt davon ab, wieviel Wahrheit seine Meinungen von G o t t im Verhältnis zu der ihm verliehenen Erkenntniskraft enthalten und wie redlich sein Bemühen war, Gott nach seiner Einsicht unter seinen äußeren Gegebenheiten zu dienen. Somit ist es durchaus möglich, daß die »würkliche Religion« eines Juden, Türken oder Heiden dank der einen oder der anderen Komponente einen höheren Wert besitzt als die eines Christen — ungeachtet der Tatsache, daß die christliche Religion auch in Meiers Augen die »wahre« ist. U n d ebenso kann die »würkliche Religion« eines »Papisten« (so bezeichnet Meier stets den Katholiken) besser sein als die eines Lutheraners — ungeachtet der Tatsache, daß die lutherische Konfession auch in Meiers Augen die reinste Form des Christentums ist (S. 31 ff.). J a selbst die Frömmigkeit eines »Naturalisten« d.h. eines Menschen, der sich nur zur natürlichen Religion bekennt, ist, wenn sie redlich ausgeübt wird, »ohne Zweifel ächter, besser und grösser« als die eines redlichen Christen, der zugleich abergläubisch ist (S. 43). Meier bestreitet gar nicht, daß in den außerchristlichen Religionen »Irrthum und Gottlosigkeit« vorkommen, sondern er will bewußt machen, daß auch die »würkliche Religion« der allermeisten Christen mit solchen Mängeln behaftet ist. Dabei wiegt die Gottlosigkeit, d. h. das Laster schwerer als

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der Irrtum, denn »Religion ist eine moralische Sache« (S. 68). Der Irrtum kann dem Menschen nur dann als Sünde angerechnet werden, wenn er auf sträflicher Gleichgültigkeit gegenüber der Erkenntnis im allgemeinen oder auf bewußter Mißachtung ihrer Regeln im besonderen beruht, was im allgemeinen nicht der Fall ist. Menschen, die von der Offenbarung in Christus nichts wissen, befinden sich nicht in sündlichem Unglauben, ebensowenig wie die Mehrzahl derer, die sich einen unzutreffenden Begriff von dieser Offenbarung machen. Denn welche Aussicht haben Laien, hier das Richtige zu treffen, wenn sogar die »scharfsinnigsten Weltweisen und Gottesgelehrten« in der Theorie von Gott nicht einig sind (S. 44)? Auch wer irrt, kann daher zu seinem Heil gelangen, wenn er sich nur redlich bemüht, Gott zu dienen, und es steht uns nicht zu, ihn wegen seines Irrtums zu verdammen, denn Gott allein kann wissen, ob der Irrende alles, was in seiner Macht stand, getan hat, um die Wahrheit zu erkennen (S. 57). All das wird von Meier ohne Polemik, ja in irenischer Absicht vorgetragen, aber es hat objektiv betrachtet die Tendenz, den Absolutheitsanspruch eines Offenbarungsglaubens überhaupt zu relativieren und den Gedanken der »alleinseligmachenden« Kraft eines Kirchenglaubens im besonderen zu neutralisieren. Meiers Argument, der Irrtum eines Laien könne schwerlich eine Sünde sein, wo selbst die Gelehrten keine Einigkeit erzielen (S. 54), ist geradezu ein Topos aufklärerischer Religionskritik, und mit der rhetorischen Frage, ob es auch nur im mindesten wahrscheinlich sei, daß Männer wie Sokrates, Plato, Aristoteles und Cicero »eine schlechtere oder unrichtigere würkliche Erkenntnis von Gott gehabt hätten, als ein jeder redliche Christ« (S. 32), spielt er offensichtlich auf die Debatte über die Seligkeit der Heiden an, die Johann August Eberhard 1772 mit seiner Neuen Apologie des Sokrates ausgelöst hatte. Meier will aber weder dem Deismus oder Naturalismus noch dem Indifferentismus das Wort reden. Er hält ausdrücklich an der Wahrheit der christlichen Religion, ja an ihrem Vorzug vor allen andern Religionen fest (S. 84 ff.) und behauptet daher, daß der Christ durch seinen Glauben eine Tugend besitzen kann, die kein Andersgläubiger besitzt, und daß er infolgedessen auch eine Art von Glückseligkeit nach dem Tod erwarten darf, die keinem »Unchristen« zuteil wird (S. 88). Aber das soll keineswegs heißen, daß die »Unchristen« wegen ihres Mangels an christlichem Glauben zur Verdammnis bestimmt sind. Es erscheint Meier als ein hartes, Menschenfeindlichkeit verratendes Urteil, daß außerhalb des Christentums »lauter strafbarer Unglaube« herrschen soll (S. 95). Er stimmt darin mit andern großen Köpfen seiner Zeit wie Lessing oder Mendelssohn aufs schönste überein. Unser kurzer Blick in die religionsphilosophischen Schriften Meiers hat einen Januskopf ans Licht gebracht: auf der einen Seite den Apologeten der herrschenden Religion, der zum Schutz der bestehenden Verhältnisse harte 172

Beschränkungen der Freiheit empfiehlt, auf der andern Seite den Anwalt des freien Denkens und der Toleranz. Wie paßt das zusammen? Da die herangezogenen Schriften einen Zeitraum von beinahe drei Jahrzehnten überspannen, liegt es nahe, eine innere Entwicklung bei Meier anzunehmen, die vom Wölfischen Rationalismus zu resigniertem Skeptizismus, von dogmatischer Arroganz zu aufgeklärter Toleranz führt. Ganz so einfach liegen die Dinge allerdings nicht; bei genauerem Hinsehen kommt der frühe Meier auch in den späten Schriften manchmal durch, und der späte Meier zeigt sich mitunter schon in den frühen Schriften. 33 Es gibt auch keinen Grund zu der Vermutung, daß Meier im Grunde seines Herzens noch kritischer oder negativer über die Religion gedacht hat, als seine späten Schriften zeigen. Nach seiner Theorie der Denkfreiheit wäre zwar nicht auszuschließen, daß er noch weitergehende Kritik am Christentum geübt, sie aber aus sozialer Rücksicht für sich behalten hätte, d.h. nach außen hin den guten Protestanten gespielt, sich aber innerlich zum Freigeist entwickelt hätte. Dagegen steht jedoch das Zeugnis seines langjährigen Freundes und späteren Biographen S. G. Lange, demzufolge er dem Glauben, in dem er aufgewachsen war, bis zum Ende treu geblieben ist. 34 Er hat sicherlich nicht wie Reimarus das »Martyrium des Schweigens« durchlitten. 35 Bei dem unbefriedigenden Stand der Forschung muß man sogar mit H y pothesen sparsam sein. Ich möchte daher nur die Frage stellen, ob Meier nicht vielleicht gerade wegen der Ambivalenz, die in seiner Einstellung zur Offenbarungsreligion zutage tritt, der eigentliche Erbe Wolffs gewesen ist, der die auseinanderstrebenden Tendenzen in dessen Denken in labilem Gleichgewicht zu halten suchte. In der Wölfischen Schule treten diese Tendenzen in der Regel auseinander: Einige Wolffianer nehmen eine durchaus affirmative, andere eine durchaus kritische Haltung zur Offenbarungsreligion ein. Nur Meier zeigt teils affirmative, teils kritische Züge; anscheinend hat er es beiden Seiten recht machen wollen. Möglicherweise ist dies der Grund, warum er in Vergessenheit geraten ist: Wer zwischen allen Stühlen sitzt, wird von der Nachwelt meistens übersehen.

173

ANMERKUNGEN

ι. F R I E D R I C H U E B E R W E G S Grundriß der Geschichte der Philosophie. 3. Teil: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts. Von M A X F R I S C H ,J E I S E N - K Ö H L E R und W I L L Y M O O G . Tübingen 1953, S. 45 j f f . führt neun Titel an. 2. Eine »Zusammenstellung der deutschsprachigen Einzelpublikationen G. F. Meiers« mit 6 5 Nummern bietet Klaus Bohnen im Anhang zum Ndr. von M E I E R S Gedancken von Schemen, Kopenhagen 1977, S. 149— 154. 3. Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744, Ndr. Frankfurt a.M.: Athenäum 1971. — Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst. Halle 1747, Ndr. Hildesheim: Olms 1975. — Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Halle 2 1754 — 59 (' 1748 — 1750), Ndr. Hildesheim: Olms 1976. — Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757, Ndr. Düsseldorf: Stern—Verlag 1965. — Siehe auch Anm. 2. 4. K A N T ' S Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XVI. Berlin 1924 (' 1914). 5. E R N S T B L O C H : Christian Thomasius, ein deutscher Gelehrter ohne Misere (1953). Frankfurt a.M. 1967, S. 54. 6. K O N R A D F E I E R E I S : Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Leipzig 1965, S. 7 2 - 7 6 . — D I E T H E L M K L I P P E L : Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 82 — 84. — L E O N H A R D P. W E S S E L Jr.: »G. F . Meier and the Genesis of Philosophical Theodicies of History in i8th-Century Germany«. In: Lessing Yearbook 12 (1981), S. 63 — 84. — W E R N E R S C H N E I D E R S : Aufklärung und Vorurteilskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 2 0 8 - 2 3 1 . 7. J O S E F S C H A F F R A T H : Die Philosophie des Georg Friedrich Meier. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungsphilosophie. Diss. Freiburg/Brsg. 1939, Eschweiler 1940. 8. Die Daten entnehme ich S A M U E L G O T T H O L D L A N G E S Leben Georg Friedrich Meiers, Halle 1778, von dem auch die biographischen Lexika abhängen. 9. LANGE, Leben Meiers (Anm. 8), S. 39. 10. Die Ubersetzung erschien unter dem Titel Metaphysik, Halle 1766. 1 1 . M E I E R veröffentlichte eigens eine Einladungsschrift zu dieser Vorlesung: Zuschrift an Seine Zuhörer, worin er Ihnen seinen Entschluß bekannt macht, ein Collegium über Locks Versuch vom menschlichen Verstände zu halten, Halle 1754. Der Mißerfolg ließ Meier nach den Worten seines Biographen erkennen, daß »der gute Lock« ein Autor war, »den man durchlesen und durchdenken, über den man aber kein Collegium halten mag« (ebd., S. 39). An mangelnder Kenntnis des Gegenstandes wird es nicht gelegen haben, denn Meier wurde nicht erst von Friedrich d. Gr. auf Locke aufmerksam gemacht. Er kannte ihn schon früher, denn er verweist auf ihn z.B. in der Vorrede zur Vernunftlehre von 1752.

174

1 2 . D a s D i k t u m überliefert J O H A N N

CHRISTOPH

S C H W A B in der Preisschrift

Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leihnitzens und Wolffens Zeiten in Deutschland gemacht hat? (1791). Vgl. die Sammlung der Preisschriften über diese Frage, Berlin 1796, Ndr. Darmstadt 1971, S. 23 f. 13. Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Erster Thl. Halle 1748, S. 26. Vgl. auch LANGE, Leben Meiers (Anm. 8), S. 138. 14. V g l . L A N G E , ebd., S. 1 2 2 - 1 3 7 .

15. Vgl. meinen Beitrag »Christian Wolff und der Deismus«. In: Christian Wolff i6j9 — 1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hrsg. von W E R N E R SCHNEIDERS. Hamburg

1

1983

1986), S. 1 3 9 - 1 4 7 .

16. La vraie religion demontrée par l'ecriture sainte. Londres (Amsterdam?) 1745. Meier benutzt diese Ausgabe. Ihm ist aber auch eine andere Ausgabe bekannt: Examen de la religion, dont on cherche l'éclaircissement de bonne foy. Trévoux 1745. Die deutsche Ubersetzung, die beide Titel zusammenfaßt, scheint er jedoch nicht zu kennen: Die wahre Religion, oder die Religionsprüfung, Franckfurt und Leipzig 1747. Das Werk wird verschiedenen Autoren zugeschrieben. Meier hält Varenne für den Verfasser, J . G . DUNKEL hingegen einen gewissen De la Serre (Historisch-Critische Nachrichten von verstorbenen Gelehrten. Bd. 1. Kothen 1753, S. 491 ff.). Zur handschriftlichen Verbreitung des Werkes vgl. IRA O . WADE: The Clandestine Organization and Diffusion of Philosophie Ideas in France from 1/00 to ij$o. Princeton 1938, S. 141 — 163. 17. Halle ' 1 7 4 8 , 2 1 7 4 9 . Das Werk ist Meiers Lehrer in der Theologie, Siegmund Jakob Baumgarten, gewidmet. Zielscheibe der Kritik ist EDELMANNS Abgenöthigtes Jedoch Andern nicht wieder aufgenöthigtes Glaubens-Bekenntniß. [Neuwied] 1746. 18. Vgl. meinen Beitrag »Die ersten deutschen Reaktionen auf A . Collins »Discourse of Free-Thinking< von 1 7 1 3 « . In: Aufklärung 1 (1985), S. 9 — 24. 19. Die Hauptstellen sind: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften [...]. Franckfurt 1 1 7 3 5 ('1726), Ndr. mit einer Einleitung von HANS WERNER ARNDT, Hildesheim 1973 ( = Ges. Werke I 9), 4. Cap.: »Von der Freyheit zu philosophiren, deren sich der Autor bedienet«, S. 124—149. — Discursus Praeliminaris de Philosophia in Genere. In: Philosophia Rationalis, sive Logica. Pars I. Frankfurt und Leipzig ' 1 7 4 0 (' 1728). Ed. crit. par JEAN ÉCOLE. Hildesheim 1983 ( = Ges. Werke II 1, 1), Cap. V I : »De libertate philosophandi«, S. 79 — 104. 20. Philosophia Generalis. Ed. JOHANN CHRISTIAN FOERSTER. Halle 1770, Ndr. Hildesheim 1968, Cap. I X : »Libertas philosophandi«, S. 233 — 262. 21. Rettung der Ehre der Vernunft wider die Freygeister. Halle 1747, Erster Thl., S. ι — 130. Ich verzichte hier auf Einzelnachweise, da ich Meiers Theorie der Denkfreiheit an anderer Stelle ausführlich behandele. 22. [ J O H A N N

LORENZ

S C H M I D T ] : »Vorbericht«. In: [ M A T T H E W T I N D A L ] :

Be-

weis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung desselben. Beydes aus dem Englischen übersetzt. Frankfurt und Leipzig 1 7 4 1 , S. 8 — 97. 23. i. Thess. 5, 21. — Das Wort spielt bei vielen Autoren in dieser Debatte eine große Rolle. 24. Halle 1749. 25. Ebd., S. 38. Damit wird nicht die Möglichkeit anderer Argumente für das Dasein I

75

Gottes bestritten, sondern angedeutet, daß in erster Linie das physikotheologische Argument Bedeutung für die Religion hat. 26. Vgl. die kritischen Ausgaben der beiden einschlägigen Hauptwerke in den Gesammelten Schriften, besorgt durch die Reimarus-Kommission der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, und der Lessing-Akademie, Wolfenbüttel: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere. Hrsg. von J Ü R G E N V O N K E M P S K I , 2 Bde., Göttingen 1982 und Die Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hrsg. von G Ü N T E R G A W L I C K . 2 Bde. Göttingen 198$. 27. F E I E R E I S , Umprägung

( A n m . 6), S. 74.

28. Metaphysik. Bd. IV. Halle 1759, S. 476f. — Meiers Beispiel war verhältnismäßig unverfänglich, denn das Buch Tobias oder Tobit galt der protestantischen Theologie seit jeher als apokryph, nur in der griechischen und lateinischen Bibel wurde es zum Alten Testament im weiteren Sinne gerechnet. Vgl. E R N S T S E L L I N und G E O R G F O H R E R : Einleitung in das Alte Testament. 10. Aufl. Heidelberg 1965, S. 529. 29. Halle 1766. Vgl. die ausführliche Würdigung der Schrift bei S C H N E I D E R S , Aufklärung (Anm. 6). — Mit diesem Erkenntnispessimismus hängt auch Meiers Zurückweisung des landläufigen Fortschrittsglaubens zusammen. Er fand die Leichtfertigkeit irritierend, mit der man »unsere Zeiten die aufgeklärten zu nennen pflegt«, und kam in einem geschichtsphilosophischen Exkurs innerhalb seiner Philosophischen Gedanken von den Würkungen des Teufels auf dem Erdhoden (Halle 1760, S. 25 — 46) zu dem Ergebnis, »daß das menschliche Geschlecht im Ganzen betrachtet, in Absicht der wahren und höchsten menschlichen Glückseligkeit, zu keiner Zeit vorzüglich aufgeklärt genennt werden kan, und daß wir also in unsern Tagen zu keinen aufgeklärtem Zeiten leben, als in allen vorhergehenden Jahrhunderten« (S. 38). Die Gründe hierfür sind vielfältig: Das »finstere Heydenthum« herrscht bei den meisten Völkern wie eh und je, selbst der größte Teil der Christen sind »blinde Heyden«; die Masse der Menschen lebt wie »unvernünftige Thiere«, und »ein Chaos von Irrthümern, dummer Unwissenheit und abgeschmackten Vorurtheilen benebelt die Vernunft« (S. 28, 32, 34). 30. Halle 1774. 31. S. 8 f. — Mit der Unterscheidung von »möglicher« und »wirklicher« Religion berührt Meier sich mit der modernen Religionssoziologie, die zwischen »gelehrter« und »gelebter« Religion unterscheidet. 32. S. iof. — Der Gedanke, daß verschiedene Menschen nicht einerlei Begriff von einer Sache haben können, begegnet auch bei anderen Autoren der Zeit, z.B. bei M O S E S M E N D E L S S O H N in Jerusalem (1783), Gesammelte Schriften. Jubiläums-Ausg. Bd. V I I I . Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. i34f. und bei C H R I S T I A N G A R V E in dessen Aufsatz Uber die Besorgnisse der Protestanten in Ansehung der Verbreitung des Katholicismus (1785). Ndr. in N O R B E R T H I N S K E (Hrsg.): Was ist Aufklärung? Darmstadt '1981 (' '973)1 S. 2 i 7 f . (Freundlicher Hinweis von N. Hinske). 33. So spricht er schon 1747 die These aus, daß kein Mensch ohne falsche Vorurteile und wirkliche Irrtümer sei, und folgert daraus: »Die Vernunft ist also eine Führerin, welcher man mit Furcht und Zittern folgen muß.« Vgl. Rettung der Ehre der Vernunft, S. 303. 34. LANGE, Leben Meiers (Anm. 8), S. 104. 35. Vgl. D A V I D F R I E D R I C H S T R A U S S : Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig 1862, S. VI. 176

12.

Gründungsgedenkmünze der Friedrtchs-Unwersität Halle von 1694. Rückseite: Mars und Minerva reichen sich über der lodernden Opferflamme eines zwischen ihnen stehenden Altars die Hände. Im Hintergrund das Stadtbild von Halle. Münzstätte Berlin, Silber, geschnitten von Raimund Faltz. (Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).

i j . Privilegiumsmappe der Academia Halensis mit Universitätssiegel, 161)4. Gestochen vom Universitätskupferstecher Christian Gottlieb Liehe nach einer Zeichnung des Universitätsmalers Anton Rüdiger. In: Dreyhaupt, Halle, Tl. 2, '75!· XU, "'ich S. 88. (Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel). Dreyhaupt, S. 7 7 und 88: »Statuta der Friedrichs-Universität zu Halle, von Churfürst Friedrichs des dritten zu Brandenburg Churfürstl. Durch!, ertheilet; d. 1 July 16)4 f...] Nota: Diese Statuta sind in Sammet mit goldenen Tressen besetzt gebunden, und mit einer von Gold und Silber geflochtenen Schnur durchzogen, an welcher das Churfürstl. Majestäts-Siegel hänget, irne aus beygefügten Abriß auf dem Kupferblat No. XII zu sehen ist.«

ι4• Rektorenszepter der Halleschen Universität, Silber, teilweise feuervergoldet, signiert und datiert an einem Akanthusblatt. Goldschmiedearbeit von August Hesse, Halle 1694. (Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).

ι tona.

ntperfi

i j. Das Waage- oder Hochzeitshaus am Markt, Hauptsitz der 1694 gegründeten Universität Halle mit Aula, Hörsälen und Bibliothek. In: Dreyhaupt, Halle, Tl. 2, i j Κ ' XV!!ί, vorS.jf?. '•Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel>.

i6. Das Auditorium maximum während einer Prorektorwahl im Waage-Gebäude am Markt in Halle. IllustrationsKupferstich vom Homannschen Stadtplan von Halle, um lyoo. (Zentrale Kustodie der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg).

WOLFGANG

MARTENS

Officina Diaboli

Das Theater im Visier des halleschen

ι.

Pietismus

Vorbemerkung

Die wissenschaftlichen Bemühungen um das Phänomen des Pietismus in Deutschland sind in den letzten Jahrzehnten nicht unbeträchtlich gewesen. Nicht nur der theologische, der kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekt fand sein Interesse, auch den politischen, wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Implikationen und Wirkungen hat die Forschung sich zugewandt, die Philosophiegeschichte schenkte der Sache ihre Aufmerksamkeit, und natürlich fehlt es nicht an regionalgeschichtlichen und biographischen Einzelstudien. 1 Die deutsche Literaturwissenschaft indessen zeigte sich, meinem Eindruck nach, dem Gegenstand gegenüber relativ kühl. Gewiß, es ist zu einigen vorzüglichen Spezialuntersuchungen gekommen, 2 doch ein beflügelndes Interesse scheint der Pietismus insgesamt für das Fach nicht zu haben. Die neuen, sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichten machen wenig Aufhebens von ihm; die sonst weitgehend akzeptierte Ausdehnung des wissenschaftlichen Literaturbegriffs — etwa auf Trivialliteratur und expositorische Texte — ist spezifisch religiösem Schrifttum und so auch pietistischer Literatur bisher verhältnismäßig wenig zugute gekommen; der Normalgermanist schaut nach Ansprechenderem aus, wenn er nicht gar die ausgetretenen Bahnen, auf denen schon Generationen von Philologen gelustwandelt sind, erneut durchmißt, fleißig durch die anmutigen Auen von Klassik, Romantik, Biedermeier und folgendem. Der Ursachen dafür sind mehrere. Einmal ist der Zeitraum der Entfaltung des Pietismus, das ausgehende 17. und das frühe 18. Jahrhundert, die Zeit also vor Hagedorn, Lessing und Wieland, für viele eine Ubergangszeit ohne klares Profil — weit weniger attraktiv als die Zeit des Barock; erst bei der vollen Entfaltung der Tendenzen der Aufklärung scheint man wieder soliden Boden unter sich zu fühlen. Sodann dürfte eine genuin religiöse Bewegung für manchen heute befremdlich sein, ihm Zugangsschwierigkeiten bereiten. Auch über den politisch-emanzipatorischen Leisten ist der Gegenstand, widersprüchlich und mehrdeutig, schwer zu schlagen; in die Alternativkategorien von fortschrittlich und reaktionär, bürgerlich und feudalabsolutistisch paßt Denken und Handeln der Pietisten so wenig wie ihre soziologisch heterogene Zusammensetzung aus Handwerkern, Gelehrten 183

(Theologen) und Adligen. Stille im Lande, die doch eine Generalreformation der Welt durch alle Stände anstreben, Mystiker und Schwärmer neben weitblickenden Organisatoren, das paßt schwer ins Bild. Einer stimmigen theoriegeleiteten Deutung scheint sich der Gegenstand unbotmäßig zu entziehen. Selbst eine auf gewissen Gebieten zu beobachtende Konvergenz mit Tendenzen der Aufklärung (Einfachheit, Moralität) hilft da nicht viel. Zudem sind die Quellentexte oft mühsam aufzutreiben. Schließlich aber und nicht zuletzt hat eine prinzipielle Abneigung, ja Feindlichkeit der Pietisten der Literatur gegenüber (jedenfalls der schönen Literatur gegenüber) offenbar einen abschreckenden Effekt auch auf die Literaturforschung gehabt: Hat man es hier nicht letztlich mit nur negativen Befunden zu tun — einer puritanisch herbeigeführten tabula rasa in aestheticis? Einer Region, aus der die Musen und Grazien verscheucht sind und wo nur die geistliche Harfe des Königs David bescheiden gezupft werden durfte? Germanistische Zurückhaltung wäre so verständlich. Doch schwer zugängliche und fremdartig anmutende Landschaften haben auch ihre Reize. Zu fragen wäre zum Beispiel: Warum solche Feindschaft gegen Musen und Grazien? Wie ist sie theologisch-weltanschaulich begründet? War sie überall im Pietismus zu spüren? Wie wirkte sie sich praktisch aus in literarischer Produktion und Rezeption, in welchen sozialen Bereichen (z.B. in Städten, an Höfen), in welchen Institutionen (z.B. an Schulen, an Universitäten)? Zugleich aber auch: in welchen literarischen Genres? Und an welchen Autoren? Gibt es, konkret gefragt, weitere Fälle wie den des Christian Hunold (Menantes), der sich in Halle vom einstigen galanten Poeten und Skandalromanschreiber zum bußfertig-ehrbaren Autor wandelt? Gibt es Analogien zum offenbar unter pietistischem Einfluß erfolgten Verzicht des Thomasius auf alle Satire in den letzten Teilen seiner berühmten Monatsgespräche? Wie lange hat die Feindschaft gegen die schöne Literatur vorgehalten? Ist sie eines Tages erloschen, ist sie überwunden oder paralysiert oder umfunktioniert worden, und wie? — Wieder konkret gefragt: Was hat sich in Halle abgespielt, wenn im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ausgerechnet die hallesche Waisenhausbuchhandlung musterhafte Schulausgaben griechischer und römischer — also heidnischer — Klassiker herausbringt und 1836 gerade hier der Echtermeyer als Anthologie deutscher Lyrik seinen Siegeszug durchs Bildungsbürgertum antreten kann? 3 Und von der anderen Seite her gefragt: Wo finden sich positive, neuartige Impulse, die in der Literatur der Frommen zum Vorschein kommen, — in welchem sprachlichen Gebaren, welchen Gattungen wurde das wirksam? Welches Lesen oder welches Hören bedingte dies? Und wurde das fruchtbar auch für weltliche Literatur? für den Dichterbegriff? für das Leseverhalten eines säkularen Publikums? Welche Literaturlandschaften wurden von diesen Prozessen geprägt, welche ausgespart? Fragen in Fülle! Die meisten sind noch nicht zureichend beantwortet. Ich 184

kann heute nur weniges ansprechen. Dabei beschränke ich mich, wie schon in den eben angezogenen Beispielen, quellenmäßig auf den halleschen Pietismus, seinen Ausstrahlungsbereich im Zeichen von Männern wie Francke, Breithaupt, Anton, Lange, Freyer, Schade, Canstein, Vockerodt, Collin, B o g a t z k y , Porst oder Freylinghausen. U n d auch thematisch möchte ich mich beschränken, nämlich auf die negativen Aspekte, die Zurückweisung, Achtung und Bekämpfung schöner Literatur. U n d da auch das noch ein umfängliches Feld darstellt, erlaube ich mir, dieses Thema über eine Analyse des Kampfs der Hallenser gegen das Theaterwesen anzugehen. Die Feindschaft gegen weltliche Dichtung — galante L y r i k , Romane, Satiren an der Spitze — hat, das wird sich zeigen, letztlich die gleiche Basis wie die Feindschaft gegen Schauspiele und Opern.

2. Fakten und Vorgänge Zunächst zu Fakten und Vorgängen! — Fromme Agitation gegen das Theater ist verbreitet gewesen. Sie ist übrigens keine pietistische Domäne, sondern bei Reformierten und Puritanern wie auch analog Lutheranern schon früher zu beobachten 4 und lutherische Orthodoxe, wie der Hamburger Hauptpastor Goeze, haben auch später bei Gelegenheit gegen die Bühne geeifert; doch das pietistische Verdikt zeigt besondere Strenge und Konsequenz. — In Predigten und Traktaten, in ernsten Vermahnungen an die weltlichen Obrigkeiten suchte man Spektakel und Schaustellerei aller Art abzuschaffen. Die Vorgänge in Halle selber sind exemplarisch. 1680 war aus der sächsisch-weißenfelsischen Residenzstadt eine preußische Provinzstadt geworden, H o f o p e r und Hofschauspiel waren ohnehin verschwunden. Die 1694 konstituierte Universität, durch ihre pietistischen Professoren dominiert, begann gegen Kirchweih, Maskeraden, Tanz, Karneval und K o m ö dien sowohl beim Magistrat als auch beim Kurfürsten vorstellig zu werden. 1696 z . B . verlangte sie von Friedrich III. förmlich ein Verbot aller Schauspiele. D e r Kurfürst untersagte tatsächlich im Jahre 1700 alle Theateraufführungen in der Stadt. D a der hallesche Magistrat aus pekuniärem Interesse, vielleicht auch gestützt von der lutherischen, pietistisch noch nicht unterwanderten Stadtgeistlichkeit, 5 zuweilen gewissen Schauspielertruppen weiterhin eine Spezialkonzession gewährte und man die Vorstädte Glaucha und Neumarkt nicht vom Verbot betroffen ansah, intervenierte die Universität 1702 erneut, »damit nicht die schweren Gerichte Gottes über das Land gezogen« würden, wie es hieß. 6 Für lange Zeit scheint es in der Tat daraufhin zu keinerlei Schaustellungen mehr in Halle gekommen zu sein. — Analog verhielt es sich mit den Schulkomödien. Hatte man am lutherischen Gymnasium der Stadt bald nach 1648 die Tradition rhetorischer Schulung in theatralischen Actus wiederaufgenommen (für 1663 ist z . B . die A u f f ü h 185

rung von Gryphius' Catharina von Georgien bezeugt), so brach die Tradition 1693 unter pietistischem Druck ab. Fortan scheint es, bis ins letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, in der Schola Halensis allenfalls noch zu öffentlichen Reden und Dialogen, nicht mehr zu theatralischen Spielen gekommen zu sein.7 — Daß in den den Waisenhausstiftungen zugeordneten Schulen, der Lateinschule und dem Pädagogium, Schulkomödien unmöglich waren, ist selbstverständlich.8 — Im übrigen ist 1713, mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., der Vorhang sozusagen überall in Preußen über dem Theaterwesen heruntergegangen. Der König, als reformierter Hohenzoller ohnehin puritanisch disponiert, öffnete sich pietistischen Forderungen und Plänen, die aus seiner Umgebung (Natzmer, Canstein) an ihn herangetragen wurden, bereitwillig, nicht nur im Hinblick auf das Theaterwesen.9 So erging 1716 an die Stadt Halle ein erneuter königlicher Befehl, die Comoedianten so gleich von dem Neumarckt wegzuschaffen und hinkünfftig dergleichen nebst allen Seil-Täntzern, Gaucklern und Pickelheringen, durch deren ärgerliche und schändliche Narrenrey [!] die Zuschauer zu allerhand Üppigkeiten und Müßiggang gereitzet, und der Zorn Gottes über Land und Leute gezogen wird, nicht weiter aufzunehmen noch zu dulden.

In Berlin hatte es schon um 1700 kirchlich-pietistische Pressionen gegen das Theater gegeben (an denen auch Spener seinen Anteil hatte). Bereits 1 7 1 1 , also noch unter Friedrich I., waren dort für die Hofkomödianten die Lichter gelöscht. Und wenn der neue König auch gelegentlich inkonsequent verfuhr, 1714 z.B. einer Truppe gegen gutes Geld den Auftritt in der preußischen Hauptstadt verstattete, so war er doch prinzipiell dem Schauspielwesen abgeneigt. Am 30.9.1718 untersagte der König z.B. generell für alle Schulen Preußens »Comoedien und Actus dramatici, dadurch nur Kosten verursachet und die Gemüther vereitelt werden«. 11 — Die Nähe des Soldatenkönigs zu pietistischen Konzepten erhellt übrigens aus seinem politischen Testament von 1722, in dem es heißt: Mein lieber Successor mus auch nicht zugehben das in seine Lender und Prowinzen keine Comedien, Operas Bailetes Masckeraden Redutten gehalten werden und ein greul davor haben weil es Gottlohse und Teuffelisches ist, da der Sahtanas sein tempell und reich vermehret werden.' 2

Erst 1740, mit der Thronbesteigung Friedrichs II., war es mit pietistischer Einwirkung auf Hof und König vorbei. Auch in Halle wurde Komödianten das Auftreten wieder verstattet. Von 1742 ist eine Aufführung des Gryphius'schen Papinian durch zehn Hallenser Jurastudenten überliefert.13 Als die Universität 1744, unter Berufung auf die heilsamen Verbote seines Vaters, sich zu einer neuen Eingabe an den jungen König aufschwang, freilich unter kluger Vermeidung religiöser Argumentation, stattdessen fundiert mit den Besorgnissen, 186

daß die allhier studirende J u g e n d durch dergleichen Leuthe zu allerhand Üppigkeiten und schädlichen Müssiggang auch Versäumnis ihrer Collegiorum und Depensirung ihrer G e l d e r zum größten Nachtheil ihrer Eltern, Universitaet und hiesiger Stadt gebracht und gereitzet w e r d e n ; anderer U n o r d n u n g e n , Schlägerey und Insolentien, die bey Besuchung derer C o m o e d i e n unter denen Studenten zu entstehen pflegen, zu geschweigen, 1 4

blieb man ohne Erfolg. Vielmehr vermerkte Friedrich auf eine erneute Vorstellung der Universität eigenhändig: D a ist das geistliche M u k e r p a k schuldt dran. Sie sollen spillen, und H e r r Franke, oder wie der Schurke heißet, sol darbey seindt, umb die Studenten wegen seiner Närrischen Vohrstelung eine öffentliche reparation zu thun, und mihr sol der atest v o m C o m o e dianten geschicket werden, das er dargewesen. ' '

Kurz darauf notierte der König bei ähnlicher Gelegenheit: D i e Haiischen P f a f f e n müssen kurz gehalten werden; es seindt evangelische Jesuiter, und mus M a n sie bey alle Gelegenheiten nicht die Mindeste Authoritet einräumen. i 6

Das war deutlich. (Francke — der jüngere Francke — hatte, um der Peinlichkeit des befohlenen Straf-Komödienbesuchs zu entgehen, Krankheit vorgeschützt. Er kam schließlich mit 20 Talern in die Armenkasse davon.) Bei einem Aufklärer und Kunstfreund auf dem Thron hatten die Hallenser Pietisten nichts mehr zu bestellen. Freilich vermochten sie dem Theaterleben in Halle weiterhin Schwierigkeiten zu machen, so daß das Hoftheater im benachbarten Bad Lauchstädt erheblich davon profitierte. In den Schulanstalten der Franckeschen Stiftungen ist es vermutlich auch weiterhin nicht zur Aufführung von Schulkomödien gekommen. Dagegen hat man im pietistischen Pädagogium von Klosterbergen bei Magdeburg, einst von Johann Justus Breithaupt als Abt geleitet und nach hallescher Lehrart eingerichtet, sich bereits um 1750 erkühnt, Trauerspiele des Johann Elias Schlegel zwar nicht aufzuführen, aber doch im Unterricht lesen zu lassen, und 1801 konnten die Primaner gar ausgerechnet Kotzebues Menschenhass und Reue auf der Schulbühne agieren. 17 Wie hier, wo Ende der 40er Jahre auch der junge Wieland Unterricht genoß, die Blumen der schönen Literatur zwischen frommen Dornen allmählich hervorsprießen konnten, wäre näherer Untersuchung wert. — Bei aufrechten Frommen freilich blieben die theaterfeindlichen Gesinnungen die alten. 1760, mitten im Siebenjährigen Krieg, interpretierte z.B. Carl Heinrich von Bogatzky in seinem Güldenen SchatzKästlein der Kinder Gottes die französischen Armeen im Lande als göttliche Strafe dafür, daß man Komödien und Opern und so »viele Spiele, Tänze und Eitelkeiten« der französischen Nation »nachgethan« habe (wobei er typologisch auf das 2. Buch der Makkabäer, Kapitel 4, zurückgreifen konnte): »Darum vergället GOtt jetzt die sündlichen Lustbarkeiten und siehet uns auch nicht so lange zu, sondern wehret durch seine Strafe der Sünde.« 18 — Soviel zu den Fakten! 187

Warum solche pietistische Ächtung alles Theaterwesens? Die Begründungen von Seiten der Frommen hallescher Observanz sind recht vielfältig (sie klangen zum Teil bereits an). Ich versuche zunächst, die gängigen Urteile, wie sie sich in Predigten, Erbauungschriften und Lehranweisungen finden, zusammenzufassen.

j . Die gängigen

Argumente

Vordergründigstes Argument sind sittliche Verwahrlosung und Rohheit sowohl der gespielten Stücke als auch der Akteure. Und in der Tat extemporierten wandernde Komödianten um 1700 mit ihren Haupt- und Staatsaktionen und den obligatorischen Lustigmachern Anstößiges genug. Ihr gesellschaftlicher Ruf war eindeutig: Schauspieler zählten wie Henker und Schinder zu den unehrlichen Leuten. Daß der pietistische Bannspruch gegen das Theater nicht eben dazu beitrug, das Schauspielwesen zu veredeln und den Schauspielerstand zu heben, sondern sich vielmehr umgekehrt ausgewirkt haben dürfte, versteht sich. Dagegen hat die eifrige Proklamation des Theaters als einer Schule der Sitten durch die Aufklärer später wesentlich zur Besserung der Verhältnisse beigetragen. Die pietistischen Polemiker ihrerseits haben die Möglichkeit eines gereinigten, kultivierten Theaters mit halbwegs ehrbaren Akteuren zunächst nicht ins Auge fassen können oder wollen, auch wenn die existierenden Hoftheater und Hofopern ihnen immerhin andere Begriffe hätten vermitteln können. Vielmehr scheint es zuweilen fromme Taktik gewesen zu sein, Schauspieler mit Bänkelsängern, Seiltänzern, Positurenmachern, schaustellerischen Zahnbrechern und sonstigen Gauklern und Jahrmarktsgrößen in einen Topf zu werfen. Ein weiteres, oft vorgetragenes Argument gab sich ökonomisch: Dem Volk, vor allem Jugendlichen, Handwerksgesellen und Studenten, wird das Geld unnütz aus der Tasche gelockt. — Schlimmer aber noch: Das Publikum wird zum Müßiggang verlockt — etwas, was unter dem Doppelimperativ »Bete und Arbeite!« damals nicht nur bei Pietisten noch unverantwortlich schien. Gauklern zuzuschauen, ist Mißbrauch der edlen Zeit. Der Christ muß, eingedenk seines jederzeit nahen Endes, »die Zeit auskaufen«, er darf sie nicht vertun. — Und schon gar nicht — das ist ein gehaltliches Argument — ziemen sich für ihn Schaustellungen, in denen Liebessachen traktiert werden. Allzuleicht kann ein Funke das Herz des Zuschauers zu unkeuscher Brunst entflammen, allzuleicht kann man hier »zu aller Üppigkeit und bösen Lüsten gereizet und verführet« werden. 19 Unzucht und Ehebruch stellten sich dem Pietisten gern als Hauptinhalt der Komödien dar. — Ein weiteres gehaltliches Argument gegen das Theater war die Verwendung heidnischer Mythologie zumal bei den Opern, wie überhaupt die 188

heidnische Antike mit ihren amphitheatralischen und circensischen Spielen gern warnend beschworen wurde, war doch auch ein christenverfolgender Nero als Harfenschläger und Sänger aufgetreten. Fromme Bedenklichkeiten waren sodann beim weltlichen Lachen gegeben. Zwar ist dem Frommen — ich beziehe mich auf A . H. Franckes j o Regeln zur Bewahrung des Gewissens und guter Ordnung in der Conversation oder Gesellschaft von 1690 20 — nicht jedes Lachen verwehrt, und es kann geschehen, daß er sich »über göttliche Dinge also inniglich erfreuet, daß sein Mund mit einem bescheidenen Lachen von der Lieblichkeit, die in seinem Gemüthe entstanden, Zeugnis giebet«, aber das weltliche Lachen über Possenspiel und Scherz ist als sündlich zu qualifizieren. Wie will man sich, fragte Francke, in solchem Leichtsinn dann »wieder in tiefer Demuth zu dem allgegenwärtigen Gott« nahen? »Wenn andere über Scherz und Narretheidung lachen, so hüte dich, daß du nicht mitlachest. Denn es gefället Gott nicht.« — Weltliches Lachen zeigt ein unbußfertiges, dem gehörigen Ernst vor Gott nicht entsprechendes Gemüt an. — Kopfhängerei und Muckertum, das den Hallensern alsbald nachgesagt wurde, hat hier eine Wurzel. Solche Argumentation aber steht bereits in engem Konnex mit theologischen Bedenken, die grundsätzlich, als Basis, hinter aller frommen Theaterfeindschaft auszumachen sind. Theaterlust ist Sinnenlust, Augenlust, Ohrenlust, jedenfalls weltliche Lust, und deshalb eitel und sündlich. Die Lust des Frommen kann nur eine geistliche sein. Theaterlust beschlagnahmt das Herz, zieht die Gedanken ab vom höchsten Gut, korrumpiert das Denken und Trachten des Christenmenschen, der doch gehalten ist, das Heil seiner Seele zu besorgen und, als noch Unwiedergeborener, des Durchbruchs der Gnade gewärtig zu sein, als Wiedergeborener aber allem weltlichen Wesen weiterhin zu widerstehen. Deshalb auch findet sich Theaterbesuch in pietistischer Polemik immer wieder in einer Reihe mit sonstiger weltlicher Vergnügung. Auch Tanzen, Spielen, Trinken, Schmausen, Spaziergehen, Ausreiten, Schlittenfahren, Maskeraden- und Redoutenbesuch sind Vergnügungen der Sinne an der Welt, am Äußerlichen, am Geschaffenen, und sind damit sündlich; sie ziehen von Gott ab. (Daß Opern und Komödien, zusammen mit Maskeraden, Redouten, Schlittenpartien und Spiel vorzugsweise zur höfischen Sphäre gehören, ein Stück höfischer Repräsentation und Glanzentfaltung sind, ist in pietistischer Verurteilung solcher Vergnügungen nicht akzentuiert. Man bleibt allgemein, enthält sich in der Regel direkter Ausfälle gegen die höfische Lebensart. Im Effekt freilich hat pietistische Kulturkritik in Halle deutlich antihöfische Züge.) Paradigmatisch für die Kombination von Theater- und Opernbesuch mit anderen weltlichen Belustigungen in pietistischer Vermahnung ist das, was wiederum Francke 1 7 1 2 in seiner Idea Studiosi Theologiae, oder Abbildung eines der Theologie Beflissenen über den Lebenswandel des Theologen ausgeführt hat. 189

E r hütet sich für allem ausschweifendem Wesen/und gewöhnet sich nicht zum Müßiggang/zeitverderbender Gesellschaft/unnützen Reisen/und anderen dem Christlichen und äußerlichen Beruf hinderlichen Dingen. Sonderlich meidet er alle Trunckenheit/Saufferey und Schmauserey/alle unnützliche und Zeitverbringende Gesellschaft /allerley Arth von Spielen/als die zum wenigsten das Gemüthe von GOtt divertiren oder abkehren /dahin auch das weltliche Tantzen gehöret/ alle Trinck= und andere Oerter/deren Besuchung ihm selbst zu sündlichem Wesen Gelegenheit geben/ oder doch andern zum Anstoß gereichen möchte; alle Comoedien/Opern und öffentliche Narren=Spiele/und anderen Zeit=Verderb irdisch gesinneter Menschen/alles eitele Spatziren gehen/reiten/fahren; und im Winter das unnützliche/eitele und also auch sündliche/Schlitten=Fahren usf. Er gewöhnet sich aber vielmehr zur Eingezogenheit und zur Arbeitsamkeit.

Daß auch das Reisen als eine Lebensform sündlicher Curiositas der Welt gegenüber begriffen werden und neben die Theaterspektakellust gestellt werden kann, scheint signifikant. Alles, was »das Gemüth von GOtt divertiren« kann, ist vom Übel. 2 2 Es entspricht den Neigungen des »natürlichen« Menschen, des Weltmenschen, und dem muß nach Kräften gesteuert werden. — Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Dokument, das noch einmal die Konformität im Denken König Friedrich Wilhelms I. mit pietistischer Einstellung bezeugt. Eine Tagebuchaufzeichnung des jungen Francke, also Gottfried August Franckes, berichtet von einem Besuch beim König in Wusterhausen im Oktober 1727: [...] Der König fragte auch wieder, was ich von Comödien hielte? Ego: daß nicht anders erkennen könnte, als daß sündlich sei, denselben beizuwohnen. Rex: Warum? Ego: Weil das Gemüth dadurch von Gott abgekehret und vereitelt [eitel gemacht] werde, auch sich hernach nicht wieder so, wie man wünsche, zu Gott kehren könne. Der König bezeugte sein Wohlgefallen über die Antworten, winkte einen gewissen General, w o mir recht, Grumkow, und sagte: habe ich das nicht auch gestern gesagt. Wenn ich in Bristol oder sonst, wo ich nichts zu befehlen habe, eine Comödie sehen wollte, da würde ich nichts ausmachen: aber wo ich zu befehlen habe, da kann ichs nicht verstatten, und dadurch autorisieren; denn so würde ich schuldig an allem Bösen, das dadurch geschieht. 23

Das Gemüt wird durch Schauspiele von Gott abgekehrt, die Sinne werden beschäftigt, die Phantasie entflammt, eingenommen von weltlichem Wesen, auf Kosten von Bußfertigkeit und Betfertigkeit. Weltlichem Wesen anzuhängen ist sündlich. — Das etwa ist der Tenor, auf den hallesche Polemik gegen das Theater immer wieder zurückkommt. Und nicht selten wird dann auch Gottes Zorn ob solchen sündlichen Verhaltens beschworen (was, wie oben zitiert, bis in den Wortlaut königlicher Erlasse hinein sein Echo haben kann). J a man wußte solche Gerichte auch an konkreten Ereignissen festzumachen, so Johann Caspar Schade um 1695 in einer Berliner Predigt gegen die »teufelische Schauspiele« mit der Anspielung auf einen großen Theaterbrand : Es ist noch unvergessen, was 1689, den 13. April G O t t bewiesen in Coppenhagen, da über solchem Schauspiel über 500. Personen jämmerlich umgekommen. 24

190

4- Spezielle

Argumentation

Alles, was bisher an Argumenten pietistischer Theaterfeindschaft vorgestellt wurde, muß nun als eher populär, als nach außen gewendet und agitatorisch bezeichnet werden, für die christlichen Gemeinden und für die Obrigkeiten gesprochen. Nicht zu übersehen ist daneben jedoch noch eine mehr interne, gelehrte, sozusagen innertheologische Argumentation. Sie ist nicht minder interessant. Sie war erforderlich, weil das Verdikt über das Theater zwar bei Reformierten und Calvinisten Tradition besaß, nicht aber bei den Lutheranern, aus denen die halleschen Pietisten sich doch vorwiegend rekrutierten. Der Wittenberger Reformator hatte — nach dem Zeugnis seiner Tischreden — dem Christen Schauspiele weder als Lektüre noch als Spektakel völlig untersagen wollen, etwa »drum daß bisweilen grobe Zoten und Buhlerey darinnen seyen, da man doch um derselben willen auch die Bibel nicht dürfte lesen«, 2 ' und auch die Schulkomödien schienen ihm wegen des sprachlichen Übungsnutzens und der lehrreichen Personenschilderung in den Stücken für Gymnasiasten durchaus vertretbar. 26 Zudem war auch Spener, verehrter Mentor der Hallenser, nicht grundsätzlich gegen das Theater einzunehmen gewesen. Aus der Lektüre der Trauerspiele des Andreas Gryphius hatte er nach seinem Bekenntnis »einen nicht geringeren Sporn zum Guten empfangen [...] als aus der Lektüre der besten anderen Bücher« 27 und in seinen Letzten theologischen Bedenken (1704) wußte er sorgfältig zwischen bestimmten Erscheinungsformen und dem Theaterwesen an sich zu unterscheiden: E s ist mit den theatralischen Vorstellungen eine solche Sache, da ich mir selbst in meinem G e w i s s e n kein G e n ü g e thun können. W i e sie insgemein gehalten werden, wirds unstreitig ein sündliches Wesen sein, welches aber fast von den Umständen herkommt, und ich zähle sie in solcher Bewandtnis unter die weltlichen Eitelkeiten, wie Tanzen und anderes dergleichen. W o ich aber aus Gottes W o r t zur U b e r f ü h r u n g des Gewissens darthun sollte, daß sie an sich selbst Sünde seien, bekenne ich, daß ich damit a u f z u k o m m e n nicht getraue. [ . . . ] D a h e r ich nichts anderes Gründliches dagegen fast aufzubringen wüsste, als den Verlust der edlen Zeit, die Gelegenheit zum Bösen und den jetzigen allgemeinen betrübten Zustand, da wir auch sonst erlaubte Ergötzlichkeit billig zu mäßigen haben. Indessen sinds keine Argumenta, welche die Sache an sich selbst innerst angreifen. 2 8

Schließlich war »erlaubte Ergötzlichkeit«, wie Spener formuliert hatte, eine unschuldige weltliche Vergnügung, nach den auch in die Concordienbücher eingegangenen Bestimmungen über die sogenannten Adiaphora, die »Mitteldinge«, dem Lutheraner nicht einfach zu verwehren. Angesichts solcher Relativierungen und Lizenzen sah sich streitbare pietistische Theaterfeindlichkeit auch zu systematischerer Auseinandersetzung, zu gelehrter Argumentation, genötigt. Ich gehe auf einen mir exemplarisch erscheinenden Text dazu ein. Es handelt sich um eine umfängliche 191

Abhandlung mit dem Titel Mißbrauch derfreyen Künste / insonderheit Der Music/nebenst abgenöthigter Erörterung der Frage: Was nach D. Luthers und anderer Evangelischen Theologorum und Politicorum Meinung von Opern und Comoedien zu halten sey, erschienen in Frankfurt am Main 1697. 29 Der Verfasser ist Gottfried Vockerodt, damals Gymnasialrektor in Gotha, zuvor Konrektor des lutherischen Gymnasiums in Halle. Die Abhandlung versteht sich als Entgegnung auf zeitgenössische Polemiken; sie verfährt systematisch, gliedert in Kapitel und Paragraphen und argumentiert umständlich, übrigens mit einer bemerkenswerten Fähigkeit zur Begriffsbildung. - Ich überschlage zunächst die Ausführungen zur Musik, konzentriere mich auf die das Schauspielwesen betreffenden Kapitel und versuche, die Grundgedanken wiederzugeben, wobei auf die Würze einiger Zitate nicht verzichtet werden soll. Es geht Vockerodt um die Verurteilung jeglichen Schauspiels, auch eines geistlich-erbaulichen Theaters. Bemüht werden die verschiedensten Autoritäten, von alten »vernünftigen« Heiden über die Apostel und die Kirchenväter bis zu zeitgenössischen Theologen und Staatstheoretikern. Auch der Pastor Anton Reiser mit seiner berühmten Theatromania oder Die Wercke der Finsterniß in denen öffentlichen Schauspielen (1681) ist bemüht.

j. Vockerodt über weltliches Schauspiel Zunächst zum weltlichen Theater! Auf die Argumente gängiger pietistischer Theaterpolemik ist auch hier nicht verzichtet. Sie mischen sich mit spezieller Argumentation: Schon die vernünftigen Heiden haben theatralisches Spielen und Tanzen verworfen; die Spartaner duldeten weder Komödien noch Tragödien; die weltlichen »ludi scenici« wurden von allen frommen Kirchenlehrern verdammt; wenn sie unnütze und unheilige Dinge vorstellen, sind Schauspiele für den Christen sündlich und ärgerlich (115), sie beschäftigen die Sinne, dienen der Weltlust, verursachen große Kosten und verderben die Zeit. Wenn Dichter/Spieler und Zuschauer keinen rechtschaffenen Zweck/nemlich GOttes Ehre und Erbauung der Seelen in Erkäntnuß/Furcht und Liebe GOttes haben [...] sondern auff Belustigung der sich gerne von G O t t ab und der Eitelkeit zuneigenden Sinnen ihre vornehmste Absicht haben,

so ist das Sünde, Werk der Finsternis und Greuel vor Gott (116). Es sind die gleichen Thesen, die wir auch aus der populären Polemik kennen. Die Opern sind heidnischer Herkunft, nutzen die antike Mythologie. Sie sind aber auch ungereimt, denn sie verletzen »die Richtigkeit des natürlichen Verstandes« (129), — ein Vorwurf, dem eine Generation später auch Gottsched im Sinne seines Wahrscheinlichkeitspostulats zugestimmt hätte. Auch 192

reformierte Theologen haben sich gegen das Theater gewandt, ja sogar die Papisten haben zuweilen Schauspielern die Sakramente verwehrt. Einem Christen anstößige Liebesintrigen sind in Opern und Komödien unabdingbar und — der Einwand gegen das weltliche Lachen: — es gibt keine Komödie, »worinnen keine raillerie/badinerie und divertissante Schwenkke/Schertz und Possen vorkommen« (119). Neu gegenüber populärer Polemik gegen das Theater ist die Erörterung eines möglichen Nutzens im Gemeinwesen. Vockerodt kann es nur einen Irrtum nennen, zu meinen, Schauspiele besänftigten nach römischen Rezepten aufrührerische Gelüste des Volks, lenkten es durch Belustigung ab (151). Vielmehr ist der Verfall des römischen Reichs auf die »Comödiantischen Täntze der Pantomimorum« seit der Zeit des Augustus mit zurückzuführen (152). Bodinus, Seckendorff, Adam Contzen und andere »Staatsverständige Gelehrte« (152) haben hier genugsam gewarnt. Im bürgerlichen Gemeinwesen ist von Schauspielen nur Schlimmes zu befürchten: Es werden Aergernüsse und Laster unter Jung und Alt ausgebreitet: das Volck verlässt seine ordentlichen Beruffs=Geschäffte/gewehnet sich zum Faullentzen/zur Verschwendung/geräth in Armuth/wird wild und frech. In grossen Städten/wo solche Eitelkeiten am meisten im Schwange gehen/bekommt der Pöbel Gelegenheit/sich zu rottiren, Meuterey anzurichten/etc. (130)'°

Beträchtlichen Raum widmet Vockerodt sodann dem seiner Meinung nach nur vorgeblichen sittlichen Nutzen der weltlichen Schauspiele, ihrer vermeintlich lehrhaft-erzieherischen Wirkung. Es ist bemerkenswert, daß damit, lange vor den einschlägigen moralischen Funktionszuweisungen für die Schaubühne durch die Aufklärer, das Theater als Sittenschule und nützlicher Lasterspiegel bereits in den Blick gerät, — ein Gesichtspunkt, der, wie angedeutet, in der populären pietistischen Polemik gern ganz außer Acht gelassen wird. Vockerodt konzediert, daß es Schauspiele gebe, welche »nach dem äusserlichen Ansehen erbare/erbauliche und nützliche Sachen abzuhandeln scheinen« (115), — nur sind diese für ihn geeignet, »desto unvermerckter den Sinn und die Liebe dieser Welt/Augen=Lust/Fleisches= Lust und hoffärtiges Leben in die Hertzen der Zuschauer einzuspielen«. Er spricht von Stücken, »welche die Laster und Schwachheiten der Menschen/ und die ungereimten Außbrüche derselben [...] deutlich abmahlen«, — aber: dies geschieht »mit einer possirlichen und lächerlichen Art«, mit »Spotten/Höhnen/Verachten/Außlachen/Durchhecheln und Richten anderer Leute«, nicht in gebotenem Ernst, in Erbarmen und Mitleiden (115). Er zitiert ein französisches Urteil, wonach die Komödie in Frankreich seit den Bemühungen Richelieus als eine »Moral-Philosophie und Tugend= Schule« gelten dürfe (126), und gibt zu, die alten Griechen und Römer hätten keine andere Möglichkeit gehabt, »dem rohen Volcke eine nöthige Moral=Wissenschafft beyzubringen/und an gewissen im Schwange gehen-

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den Lastern einen Abscheu zu machen/als durch die Comoedien« (127), ja er konzediert, man könnte den Komödien das Wort reden, »wenn wir noch im Heidenthum wären/und [...] des Aristotelis Sitten=Lehre zur Regul unsers Lebens hätten« (126), aber: heute lebt man nicht mehr im Heidentum; die Besserung des Christen geschieht auf andere Weise: »Die von den Comödienpatronen vorgegebene Morale und Klugheit, welche man aus solchen Schauspielen lernen [...] solte«, ist in den Augen der Christen »eine gar geringe Sache/weil sie wissen/daß solche Klugheit nicht von oben herabkomme« (128). Was sollen Schauspiele, »welche auch wol die Tugend/und ihre Wirckungen vorstellen / aber nicht/wie solche aus einem rechten Grunde eines gläubigen und zu Gott bekehrten Hertzens herfließen«? ( 1 1 5 f.). Vockerodt bringt damit auf den Punkt, worin geistliche Moral und weltlich-philosophische Tugendlehre sich voneinander unterscheiden, — etwas, was viele aufklärerische Geistliche im 18. Jahrhundert nur noch als unerheblich ansahen: Die Besserung des Christen kann nicht über eine von den lehrhaften Schauspielen her freigesetzte vernünftige Einsicht des Menschen erfolgen, sie kann nur im Glauben, als Frucht des Geistes, von Gott her, geschehen. Die menschliche Vernunft, an die das Schauspiel appelliert, ist verderbt, vermag nicht wahrhaft zu bessern. Nur Buße und göttliche Gnade wirken die Wandlung zur wahren Tugend. — Hieronymus Freyer, langjähriger Inspektor des halleschen Pädagogiums, hat später, von der aufklärerischen Propagandaparole vom Theater als nützlicher Tugendschule herausgefordert, in diesem Zusammenhang gelegentlich von Pelagianismus gesprochen, der von Augustinus bekämpften Lehre von der Besserungsfähigkeit des Menschen aus eigener Kraft. 3 1 Bei Vockerodt wie bei Freyer ist damit die Grenze bezeichnet, die das weltliche Theater und überhaupt alle im Zeichen eines moralisch-didaktischen Auftrags antretende schöne Literatur von geistlichen Bemühungen grundsätzlich trennt. Auch das philosophische Lehrgedicht, die Fabel, die Satire, die lehrhafte Erzählung, der moralische Roman wären hinter diese Grenze zu verweisen. Diese Literatur appelliert an die natürliche Vernunft des Menschen und setzt damit pelagianisch — und für den Frommen unvertretbar — eine Selbstbesserungsfähigkeit voraus. Sie kann nicht gutgeheißen werden. Vockerodt geht schließlich auch auf den Begriff der »Mitteldinge« ein, — die Lehre von den einem Christenmenschen erlaubten heilsunschädlichen Ergötzungen, die im Luthertum einen bescheidenen Umgang mit der Dichtung und dem Theater ermöglicht hatte und in populärer pietistischer Theaterpolemik meist ignoriert wurde. Vockerodt bemüht in diesem Zusammenhang interessanterweise auch keinen Lutheraner, sondern den »papistischen Comoedianten« Molière. Dieser hatte in seiner Vorrede zum Tartuffe eingeräumt, wenn alles, was nicht auf Gott und die ewige Seligkeit abziele, 194

zu verwerfen sei, dann müßten auch die Komödien verdammt werden. Freilich hatte er dann hinzugesetzt, bei den Übungen der Gottseligkeit sei eine kleine Abwechslung nichts Böses, den Menschen sei eine Ergötzung durchaus zu vergönnen, und da gebe es keine unschuldigere Art, sich zu ermuntern, als die Komödie. Molière, weiß Vockerodt zu folgern, hat also selber zugegeben, daß Komödien zu verdammen sind, denn seine Einlassung mit der erlaubten weltlichen Ergötzlichkeit ist nicht stichhaltig. Sie zeigt f ü r Vockerodt nur die Leichtfertigkeit der »heutigen Weltkinder« : Sie wissen diesen Dingen einen feinen Schein zu geben/reden nur von unschuldiger/ geziemender und vergönneter Ergetzung/die in den Schrancken der Erbarkeit verbleibet. So fromm und klug sind die Kinder dieser Welt. Aber diese Klugheit ist weit entfernet von der Klugheit der Gerechten/Luc. I. 17/und dem Grunde der Evangelischen Lehre und dem von Luthero beschriebenen Glauben gantz zuwider. Rechte evangelische Christen können nicht anders/als alle ihr Thun auf G O t t und die Seligkeit richten/und werden nimmer mit des Moliere Comoedien Gemeinschafft haben

(«7)· Sie haben auch gar kein Bedürfnis, »ihren Gottesdienst und Arbeit mit einer Comoediantischen Welt=Lust zu unterbrechen und zu versüssen«. — Mit anderen Worten: Für den wahren Christen gibt es keine Adiaphora, wie der Papist Molière sie reklamiert. Sein ganzes Leben muß geistlich sein; alles Weltliche ist vom Übel. Daß Vockerodt in seiner Abhandlung endlich auch die Schulkomödien, traditioneller Bestandteil rhetorischer Unterweisung an den Gymnasien und von Luther geduldet, nicht gutzuheißen gedenkt, versteht sich. Derartiges ist Zeit- und Geldverschwendung und verdirbt die Jugend. Früchte solcher mit der Jugend angestellten Schauspiele sind Frechheit/Hoffart/sich spöttlich miteinander umtreiben/Trägheit zur ordentlichen Beruffs=Arbeit/Comoediantische mores, lächerliche affectation in Reden und Gebärden [...] Versäumniß in studiis/gefährliche Bekanntschafft mit allerley Leuten /auch Frauenzimmer [...] Bursalität/auch wol Schmausereyen (130).

Es gibt andere Wege, die Jugend zur Beredsamkeit und zu sicherem Benehmen zu erziehen. Verkleidung und Mummerei darf übrigens nicht mit dem Hinweis gerechtfertigt werden, auch Christus sei seinerzeit der Maria Magdalena als ein Gärtner erschienen (15 8). 32 Weltliche Schauspiele sind, wenn wir resümieren, von Vockerodt ausnahmslos als eitel und sündlich abqualifiziert. N u r als Reverenz gegenüber Autoritäten wie Luther und Spener ist es zu verstehen, daß Vockerodt zuweilen theoretisch doch eine Konzession macht. »Was die Verfechter der Schauspiele am meisten urgiren«, sagt er einmal, gründe sich »insgemein auff eine blosse Idée, die sie sich von dieser Sache machen/ob sie schon nicht beweisen können/daß dergleichen jemals gespielet worden« (145). — Die Idee, so wäre zu verlängern, mag gut sein, aber praktisch hat man nichts

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mit ihr zu tun. Die Schauspiele, »wie sie sind«, werden vielmehr so bleiben, »solange Welt Welt ist/das ist/im Argen liegt« (145). Geistliche und Lehrer haben recht, heißt es an anderer Stelle, wenn sie Comoedien und Opern nicht zwar an und vor sich selbst/sondern wie sie üblich sind und bleiben werden/so lang Welt Welt ist/Opera Carnis, unfruchtbare Wercke des Fleisches nennen/und deren Aergernüß und Schädlichkeit [...] vorstellen (142).

Die »Sache an und vor sich selbst« ist für den verantwortungsvollen Theologen in dieser bösen Welt also kein Argument.

6. Vockerodt zum geistlichen Schauspiel Vollends kennzeichnend für den halleschen Rigorismus gegenüber dem Theater ist es nun aber, daß Vockerodt auch geistliche Schauspiele rundweg ablehnt. E r muß zwar einräumen, daß ein geistliches Tanzen, wie es von David berichtet ist, nicht sündlich sei und daß mit dem teuren Lutherus in dessen Vorrede zum Buch Judith geistliche Schauspiele mit frommem Zweck, »im Namen Jesu Christi/zur Ehre Gottes und Besserung der Menschen«, ähnlich den Passionsspielen veranstaltet, für zulässig angesehen werden können (114). Aber er zieht zugleich alle Register seines Argumentationsrepertoires, um ein geistliches Schauspiel für den Frommen gleichwohl inakzeptabel zu machen: Es ist unwahr, daß das Volk Gottes im Alten Testament Schauspiele gehabt habe; die Juden sind vielmehr »allen solchen Spielen/als heydnischen Greueln/von Hertzen feind gewesen« ( 1 3 1 ) . Kirchenlehrer wie Tertullian und Cyprian haben keineswegs nur gegen die heidnischen Schauspiele geeifert, sondern auch gegen die »geistliche Abgöttery« bei den Spielen der Christen. Die Kirchenväter haben christlich verbrämte Schauspiele verworfen. 3 3 Auch die zu Vockerodts Zeit sehr lebendige Comedia Sacra, das Jesuitentheater, erfährt keine Anerkennung. Nach der Jesuiten eigenem Geständnis, sagt Vockerodt, seien die Dramen, die dieser Orden die Jugend in seinen Kollegien jährlich vorstellen ließ, nur ein »Malum ex prava consuetudine necessarium« (154). Auch der Terentius Christianus, und die von Frischlino und andern gelehrten Leuten unserer Zeit verfertigte Dramata sacra sind noch lange nicht Christisch [!]/Paulinisch oder Petrinisch (124). A m wenigsten wird man Exempeln anführen können/daß jemals jemand/der den geistlichen Schauspielen beygewohnet/dadurch zu G O t t bekehret/oder voll Glaubens/Andacht/Liebe und Eyfer um die Gottseligkeit und heiliger geistlicher Freude worden sey (122).

Zudem: Schauspiele werden immer nach dem Geschmack des großen Haufens verfaßt, schon deswegen ist eine Einrichtung nach Gottes Wort, auf erbauliche Art, nicht möglich (148). Und so sind auch die heutigen K o m ö 196

dianten nicht bereit, etwa Stücke nach den Vorstellungen Luthers einzurichten (119). Und überhaupt: Wozu brauchen Christen Schauspiele? Sie haben doch, wie Tertullian sagt, »im Worte Gottes die herrlichsten und heiligsten Schauspiele« (118), sie brauchen keine »Augen= und Ohren=Weide«, weil Gott sie selber zum frischen Wasser führt (121). Der heilige Chrysostomus sagte, »Theatrum esse Officinam Diaboli« (145), — das muß offenbar auch für das geistliche Theater gelten.

7. Das Mißtrauen gegenüber dem Schönen

überhaupt

Solche rigorose Denunzierung und Bestreitung von Sinn, Zweck und praktizierbarer Möglichkeit geistlicher Schauspiele muß angesichts des volkserzieherischen und erbaulichen Wirkungspotentials, dessen sich die Hallenser damit begaben, einen spezifischen Grund haben. 34 Die engagierte Ablehnung auch des geistlichen Schauspiels kann sich nicht einfach darauf berufen, hier werde der Christ von Gott abgezogen und zur Welt und ihrer Eitelkeit, zur sündlicher Augenlust und Ohrenlust, verführt, wie das in der Polemik gegen weltliches Schauspiel stets geltend zu machen war. Was läßt den Frommen vor der geistlichen Indienstnahme des Schauspiels zurückschrecken? Vielleicht helfen uns Beobachtungen im Bereich der Musik weiter, denn hier finden sich Analogien. Auch die große Kirchenmusik der Oratorien und Kantaten ist in pietistischem Einflußbereich als Ärgernis unterbunden worden. Bach war nur im orthodoxen Leipzig, nicht im pietistischen Halle möglich, Händel, gebürtiger Hallenser, verließ nicht ohne Grund im Jahre 1703 seine Vaterstadt. Johann Porst in Berlin rügte für den Gottesdienst bereits den Mißbrauch der Orgel durch »lange Praeambula« und eine »eitele und üppige Art im Spielen« mit langen Läufen und dergleichen 35 und Freylinghausen, Schwiegersohn Franckes und Kirchenliederdichter, erwog, ob die »Zierlichkeit der äußerlichen Stimme« im Kirchengesang, von Unwiedergeborenen hervorgebracht, Gott nicht zuwider sein müsse und man nicht »den Gebrauch christlicher Gesänge, bevorab in öffentlichen Versammlungen, gantz und gar abzuschaffen, und es bey der blossen Predigt des Göttlichen Worts bewenden zu lassen« habe. 36 Ahnliches ist auch bei der geistlichen Rhetorik, der Homiletik, zu beobachten: Alle glänzende Kanzelberedsamkeit war den Pietisten vom Übel. 3 7 Daß in den Gemeinden Zinzendorfs später im Gottesdienst Musik, Illumination und Andachtsbilder verwendet wurden, 38 dürfte mit zur Entfremdung der Hallenser von ihrem einstigen Zögling beigetragen haben. Alles ÄußerlichScheinhafte, Sinnenhaft-Schöne der Künste scheint verdächtig gewesen zu sein auch im Dienste religiöser Erbauung. Vockerodt formuliert es einmal in seiner Auseinandersetzung mit geistlichem Schauspiel so: Das Publikum werde hier »nicht so wol auff die vorgestellte geistliche Materien/und deren

197

erbauliche Betrachtung/als auff das äußerliche Gepränge/damit jene vorgestellt werden«, gezogen (118). Das besagt: Das Theatralische, das Sinnenhafte und Künstlerisch-Scheinhafte ist nicht einfach nur Vehikel, dienend zur Vermittlung geistlichen Gehalts, sondern besitzt ein attraktives Eigengewicht, das mit dem Wahrheitsgehalt des Vermittelten in Konkurrenz tritt. Es besteht die Gefahr, sagt Vockerodt an anderer Stelle, daß Gottes Wort in geistlichen Schauspielen »unter abentheuerlichen Extravagantien und poetischen fictionen« seine Kraft verliert (126). Das Poetische, das Fiktive ist also nicht etwa deswegen abzulehnen, weil es fiktiv, künstlich, erdichtet und also unwahr wäre — in diese Richtung zielt pietistische Argumentation freilich auch —, sondern weil es an die Stelle geistlichen Gehalts treten, weil es diesen dominieren könnte. Das Poetische, Sinnenhafte, Theatralische, Künstlerische hat eine höchst bedenkliche Eigenqualität. Pietistisches Denken ist damit hier auf dem Weg, die Kunst, von ihren dienenden Funktionen getrennt, als eine Instanz sui generis zu begreifen, die nicht von Gott ist. Nirgends tritt das deutlicher zutage als in den Passagen, die Vockerodt in seiner Abhandlung ebenfalls der Musik, der abstraktesten aller Künste, gewidmet hat. Sie gilt, heißt es da, noch eben so viel bey den Kindern dieser W e l t / a l s sie von Jubais Zeiten her bey allen Ungläubigen gegolten hat. Diese ist nicht anders aus dem H i m m e l k o m m e n / a l s L u c i fer, der wegen seines A b f a l l s ausgestossen worden (74).

Die Musik ist also für sich selbst eine unheilige Himmelsmacht, eine empörerisch von Gott abziehende Kraft. Die Lust an der Schönheit der Musik an sich ist sündlich, auch wenn diese Musik im Gottesdienst ertönt. 39 — Es überrascht nicht, daß Vockerodt in einer anderen Schrift tatsächlich auch zur Abstraktion des Schönen vorgestoßen ist, um dieses Schöne als eine Gegeninstanz zu Gott zu erkennen. In seinem 1699 im Waisenhausverlag erschienenen Traktat Erleuterte [!] Auffdeckung des Betrugs und Aergernisses/so mit denen vorgegebenen Mitteldingen und vergönneter Lust in der Christenheit angerichtet worden, macht Vockerodt den »Mitteldings=Lehrern« den Vorwurf, sie machten »das schöne« zu einem »sonderbaren Gut/ das ist/zu einem Neben=Gott«, 4 ° wodurch der Grund des Christentums umgestoßen werde. — »Das Schöne« ist verdächtig, zur Abgötterei zu verlocken, also ist es selbst bei geistlicher Indienstnahme mit äußerster Vorsicht zu behandeln, und im Falle des geistlichen Theaters scheint es Vockerodt besser, es ganz auszuschalten. Wir haben es hier mit einem frommen Purismus zu tun, der eine extreme Gegenposition zu katholisch-sinnenhafter Frömmigkeit darstellt, dem kunstfeindlichen Eifer eines Savonarola nicht fern. Verstehbar ist er wohl im Hinblick auf die damaligen Erwartungen der baldigen Heraufkunft des Gerichts — »jenes Tages«, auf den in den Predigten der Zeit oft mahnend verwiesen wurde. Sein radikales Konzept ist freilich auch im halleschen 198

Pietismus nicht überall in die Tat umgesetzt worden. Vockerodt hat die kunst- und sinnenfeindlichen Tendenzen pietistischen Denkens nur im Postulat auf die Spitze getrieben und sie für uns damit besonders klar konturiert. Von hier aus ist die Verwerfung des in weltliche Dienste genommenen Schönen jedenfalls eine blanke Selbstverständlichkeit. Schöne weltliche Literatur, und mag sie noch so erhaben und moralisch dahertreten, ist hier ebenso des Teufels wie weltliche Musik, elegante Rhetorik und die zur Augenlust verlockende bildende Kunst. J a sie ist doppelt gefährlich, denn sie transportiert mittels ihrer ästhetischen Attraktion auch noch weltliche Gehalte. Pietistischem Puritanismus verbietet sich alles Weltlich-Ästhetische und womöglich auch das in geistliche Dienste genommene Schöne. Auf die Wahrheiten des Glaubens, auf das Wort allein und ausschließlich ist der Christ zu fixieren; zu diesen Wahrheiten zählt ohnehin die Verheißung, daß der Erlöser »keine Gestalt noch Schöne« haben werde. Vockerodts Traktate zeigen, scheint mir, das Vorstoßen pietistischen Denkens zum Schönen als einer potentiell mit Gott konkurrierenden Instanz. Solches Denken dürfte seine Folgen im Bereich der Philosophie gehabt haben, denn ist es ein Zufall, daß Alexander Gottlieb Baumgarten, Begründer der Ästhetik als einer Wissenschaft vom Schönen an sich, losgelöst von allen dienenden Funktionen, die den Künsten bisher als selbstverständlich zugewiesen waren, — daß Baumgarten im Geist des halleschen Pietismus aufgewachsen ist und ebenso Moritz und Kant aus pietistischem Milieu stammen? Fromme Perspicacitas war es offenbar, die zur Abstraktion des Schönen befähigte. Sah diese Scharfsichtigkeit vielleicht auch voraus, was sich in der Folge im Zeichen des Schönen vollziehen sollte? Denn kunst- und frömmigkeitsgeschichtlich gesehen sind die schlimmsten Befürchtungen der Pietisten hinsichtlich einer Konkurrenz des Ästhetischen mit dem Geistlichen eingetroffen. Vielleicht ist die fromme Verwerfung der schönen Künste und Wissenschaften einschließlich des Theaters erst von hierher ganz begreiflich. Ich erlaube mir, das noch anzuskizzieren.

8. Die Aufwertung des Schönen seit der Aufklärung bis hin zur Sakralisierung Umgang mit der »anmutigen Gelehrsamkeit«, mit den schönen Wissenschaften und Künsten, Bildung des Geschmacks, wird ein Hauptpunkt aufklärerischer Forderungen im 18. Jahrhundert für den Menschen. Erst das, heißt es, macht ihn zum tugendhaften und wahren Menschen. Ästhetisches und Ethisches, »Geschmack und Sitten« (wie die damals gängige Formel lautet) gehen nun Hand in Hand in der Bildung. Wieland, einst Zögling im pietistischen Pädagogium von Klosterbergen, entwickelt bereits 1758 mit 199

seinem Plan einer Akademie zur Bildung des Verstandes und Herzens junger Leute ein Programm der ästhetischen Erziehung. Schiller gibt solchem Programm später eine philosophisch-rhetorische Form, und das Publikum folgt. Die »alten Tröster«, die Erbauungsbücher, können jetzt abgelöst werden von Gedichtbänden, Schauspielen (zur Lektüre) und Romanen; entsprechende buchhandelsstatistische Untersuchungen, die eine fortschreitende Verlagerung des Lesens von religiöser auf schöngeistige Literatur indizieren, sind uns bekannt.41 Ja mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird der Umgang mit den Musen und Grazien in Kunst und Poesie nicht nur als moralisierend und humanisierend verstanden und praktiziert, sondern Kunst und Dichtung werden hier und da in sakralen Rang gerückt, können als etwas Heiliges begriffen werden, als tröstend, sinnstiftend, die Ganzheit des Menschen herstellend, wie es zuvor Sache der Religion gewesen war. Programmatisch sind die frühromantischen Herzensergieflungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wackenroder und Tieck (1797), wo Künstler als »die großen gebenedeiten Kunstheiligen« erscheinen42 und man mit den Meisterstücken der Kunst umgeht wie ein inbrünstiger Beter, »um sie würdiglich zum Heile seiner Seele zu nützen«.43 »Ich vergleiche den Genuß der edleren Kunstwerke dem Gebet«, heißt es programmatisch.44 »Bildersäle werden betrachtet als Jahrmärkte [...] und es sollten Tempel sein.«45 Josef Berglinger kommt sich nach Musikgenuß »reiner und edler geworden« vor; im Konzert »setzte er sich [...] in einen Winkel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre«.46 »Heiliger Erwin«, so kann 1773 der Baumeister des Straßburger Münsters in Goethes Von deutscher Baukunst apostrophiert und sein Werk als eines bezeichnet werden, vor dem man »anbeten muß«. Künstlers Morgenlied, ebenfalls vom jungen Goethe (1774), formuliert: Ich trete vor den Altar hin und lese wie sichs ziemt Andacht liturgscher Lektion im heiligen Homer. 4 7

Das Schöne erlangt die Aura des Heiligen, tritt in Konkurrenz zum christlichen Heiligen. »Es gibt nur zwei Religionen«, heißt es dann in Wilhelm Meisters Wanderjahren, »die eine, die das Heilige [...] ganz formlos, die andere, die es in der schönsten Form anerkennt und anbetet. Alles was dazwischen liegt, ist Götzendienst.48 Ein später Spruch Goethes formuliert das Konkurrenzverhältnis so: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion. wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion. 4 '

200

Was besagt: Gebildetes Ästhetentum macht christliche Religiosität überflüssig. Schiller hat es in einem Brief an den Prinzen von Augustenburg ähnlich gesehen: Es scheinen sich Geschmack und Religion »in den Menschen und in das Menschengeschlecht so zu teilen, daß die Religion demjenigen ihre Arme öffnet, an dem die Schönheit verloren ist«. s° Die Religion also nur noch ein Zufluchtsort der Amusischen, der zur Wahrnehmung der heiligen Kunst Unfähigen! Im 19. Jahrhundert wird die Alternative noch schärfer formuliert. Nikolaus Lenau in seinen Entwürfen: »Der Glaube an Gott ist nur nötig, solange die Menschen keinen Geschmack h a b e n . « I n David Friedrich Strauß' Der alte und der neue Glaube (1872) wird die Ersetzung der Religion durch Kunstgenuß zum Programm. Etwas provozierend parodistisch bekennt Karl Gutzkow schon 1835: Ich glaube an die Zeit, die alimächte Schöpferin H i m m e l s und der E r d e , und ihren eingeborenen Sohn, die Kunst, welche viel gelitten unter Pontius und Pilatus, von Crethi und Plethi, und doch die Welt erlösen helfen wird, und bis dahin glaube ich an den heiligen Geist der Kritik, welchen die Zeit gesandt hat zu richten die Lebendigen und die T o t e n . 5 2

Die Kunst als das Letzte, Höchste, Heilige proklamiert Stefan George um die Jahrhundertwende, und Rilke ist ihm nicht fern, wenn er die Metanoia aus der Betrachtung eines marmornen Apollo-Torsos postuliert: »Du mußt dein Leben ändern!« 53 Bühnenweihespiele erheben jetzt quasireligiösen Anspruch. Das solcher Ästhetizismus nicht nur bei den »wenigen Edlen« galt, sondern zur Trivialität geriet, wäre nachweisbar. Ich zitiere als Exempel das Gedicht eines Fritz Lemmermeyer, 1891 an die Zeitschrift Deutsche Dichtung eingesandt, die stets Selbstgebasteltes aus dem Publikum abdruckte. (Gewisse Anleihen sind hier überhörbar): An die Poesie Die du v o m H i m m e l bist, Schlichtende, tröstende N i m m e r ermüdende, heilige Poesie! A u f den Knieen im Staube ruft zu D i r In tiefster N o t der Mensch, den das Leben verwundet. Leise trittst du, immer Bereite, A u s verhüllenden Wolken, Steigst milde hernieder Z u dem einsam Trauernden, Neigest dich ihm und berührst mit rosigem Finger D i e glühende Stime, ziehst ihn empor zu D i r , D r ü c k s t an Dein H e r z , das güterreiche, den A r m e n , U n d siehe: Sachte, sachte zieht der Friede, D e r süße, liebliche Friede ihm in das H e r z ,

201

U n d der Verzweifelnde fühlt, Wie hold die Genesung naht U n d küßt in scheuer Ehrfurcht Den Saum Deines göttlichen Kleides. H

Derartige Zeugnisse dürften massenhaft auffindbar sein. Und wie auch nicht, wenn selbst der Literaturwissenschaftler sich seinem Gegenstand mit gebeugten Knien zu nahen hatte! Für Emil Ermatinger war 1925 das Amt des Interpreten dichterischer Werke »nicht ein Handwerk, sondern ein Tempeldienst, [...] den er mit Hingabe seiner ganzen Person an das Heilige auszuüben h a t « . " Und Hermann August Korff erklärte 1935, daß der Gegenstand der Wißbegier des Literaturwissenschaftlers »letzten Grundes ein Heiligtum ist, das den Charakter des Heiligen auch für den Forscher nie verlieren darf«. i 6 Doch genug! Es kam mir bei dieser abschließenden Betrachtung darauf an, zu zeigen, daß Argwohn gegen das Ästhetische, gegen die schönen Wissenschaften und Künste mitsamt dem Theater, wie wir ihn um 1700 in Halle beobachten konnten, vom religiösen Standpunkt aus nicht unberechtigt gewesen sein dürfte. Die Aufwertung des Ästhetischen ist in einem für den Pietisten um 1700 unvorstellbaren Maße vollzogen worden, das Ästhetische hat die Dignität des Religiösen erlangt, es für viele ersetzen können — ein Vorgang von großer Tragweite! Der sogenannten Aufklärung, mit der wir uns beschäftigen, kommt eine Schlüsselrolle dabei zu.

202

ANMERKUNGEN

ι. Die Forschung wird seit 1974 im bibliographischen Teil des Jahrbuchs Pietismus und

Neuzeit

kontinuierlich notiert:

(Hrsg.): Pietismus und Neuzeit. mus. Bielefeld 1974 ff.

ANDREAS

Ein Jahrbuch

LINDT

und

KLAUS

DEPPERMANN

zur Geschichte des neueren

Protestantis-

2. Zu nennen wären Arbeiten wie AUGUST LANGEN: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2., erg. Aufl. Tübingen 1968 ('1954); G E R H A R D K A I S E R : Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. 2., erg. Aufl. Wiesbaden 1973 (' 1961); J Ö R N R E I C H E L : Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969; R O L F CHRISTIAN ZIMMERMANN: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 1. München 1969; WOLFGANG SCHMITT: Die pietistische Kritik der »Künste«·. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Diss. Köln 1958. 3. Vgl. dazu AUGUST SCHÜRMANN: Die Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses und der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle a. S. Zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Franckeschen Stiftungen 1698— 1898. Halle 1898. 4. Vgl. dazu ERNST HÖVEL: Der Kampf der Geistlichkeit Deutschland im i j . Jahrhundert. Diss. phil. Münster 1912.

gegen das Theater

in

5. Vgl. dazu Α . Η . FRANCKES Beschwerde an die vorgesetzte Kirchenbehörde über die hallesche Stadtgeistlichkeit von 1699. Bekenntniß von dem Ministerio zu Halle in Sachsen, dem Hochlöbl. Consistorio des Herzogthums Magdeburg zu remedirung auf geschehene Veranlassung überreichet von August Hermann Francken, Anno 1699 den 27. April. Wiedergegeben in GUSTAV KRAMER (Hrsg.): Neue Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke's. Halle 1875, S. 88ff.: »[...] Bei der Universitaet sind wir bald innen worden, was durch die Comoedianten und dergleichen Volk bey unserer studirenden Jugend für groß Unheil angerichtet werde, daher wir denn auch einige Mal erhalten, daß dieselben nicht agiren dürfen. Warum suchen denn die Hrn. Ministeriales nicht auch solches mit großem Ernst? Sehen sie denn nicht, daß ihre Beichtkinder selbst hineingehen und dadurch zu aller Üppigkeit und bösen Lüsten gereizet und verführet werden? Reden sie ihnen denn darüber nicht zu? Und thun sie dieses ja, warum bezeigen sie nicht ihren Greuel öffentlich, den sie daran haben? Und warum suchen sie nicht die Sache gar aus dem Grunde zu heben? Oder will man auch warten, bis Gott ein Feuer darunter schicke, wie er vor etlichen Jahren zu Copenhagen gethan hat, ob andere ein Exempel daran nehmen möchten? Gewiß, wer nur etwas bey sich fühlet von der großen Seelengefahr bey so öffentlicher Verführung, oder nur auf Gottes unausbleibliche Zorngerichte reflectiret, kann ja dieses so obenhin nicht ansehen.« (S. 106) Er, Francke, sehe sich genötigt, zu bekennen, »daß durch der Hrn. Prediger in Halle ihre Somnolenz das gottlose Wesen immer mehr überhand nehme, und die schweren Gerichte Gottes werden über Stadt und Land gebracht werden«. (S. 107) 6. Zit. nach GÜNTER MEYER: Hallisches 1950, S. 13.

Theater im 18. Jahrhundert.

Emsdetten

203



MEYER,

Hallisches Theater (Anm. 6),

S.

6.

8. Um den Mangel rhetorischer Schulung im lateinischen Schul-Actus zu kompensieren, arbeitete H I E R O N Y M U S F R E Y E R , Inspektor des halleschen Paedagogiums, Komödienszenen des Terenz in Schülergespräche um. Sie erschienen, sozusagen als äußerste Konzession an gelehrte Unterrichtsbedürfnisse, 1714 als Colloquia Terentiana in Halle. 9. Zum Einfluß des Pietismus in Preußen auch im Erziehungs-, Rechts-, Wirtschafts-, Militär- und Sozialbereich s. vor allem C A R L H I N R I C H S : Friedrich Wilhelm /., König in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg. 2. Aufl. Hamburg 1941 ; D E R S . : Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971. 10. Zit. nach

Hallisches Theater (Anm. 6),

MEYER,

S.

21.

1 1 . Zit. ebd. - Über die Berliner Theaterverhältnisse s. Berlin, Stadt der Theater. Der Chronik 1. Teil. Berlin 1957.

GERHARD

WAHNRAU:

12. G E O R G K Ü N T Z E L und M A R T I N H A P (Hrsg.): Die politischen Testamente der Hohenzollern. Bd. 1. Leipzig und Berlin 1 9 1 1 , S. 69. — Einen königlichen Konflikt zwischen ökonomischem Interesse und frommer Gewissenhaftigkeit illustriert sehr hübsch eine in Privatbesitz befindliche Urkunde, über die Hans-Georg Werner (Halle) berichtet hat. Auf die Anfrage seiner Räte vom 21. März 1715, wie wegen des Ansuchens des Komödianten Johann Caspar Haack um Anmietung des Königsbergschen Ballhauses in Berlin gegen eine jährliche Miete von 100 Talern zu verfahren sei, vermerkte der König zunächst handschriftlich: »guht RW«, um sodann jedoch, nach Durchstreichung seiner zustimmenden Notiz, zu befinden: »Die 100. rthl. wehren mir lieb aber ich mache mir ein gewißen ergo sollen nichts gehben und sich aus dem Lande packen. R. Wilhelm.« ( H A N S - G E O R G W E R N E R : »Pietistische Skrupel wider finanzielles Interesse. Ein Eingriff Friedrich Wilhelms I. in das Theaterleben Berlins.« In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle-Wittenberg. Bd. 12 [1963], S. 1050— 53, — mit Reproduktion des Schriftstücks!) — Bezeichnend ist auch die heftige Reaktion des Königs auf das Erscheinen der satirischen Verlachkomödie Die Pietisterey im Fischbeinrocke, verfaßt von der Gottschedin, 1736 — 37 anonym in mehreren verschiedenen Ausgaben herausgebracht. Friedrich Wilhelm nannte das Stück in einer Kabinettsordre »eine recht gottlose SchmähSchrifft« und ein »abominables pasquille«. Sämtlichen Buchführern wurde der Verkauf der »scandaleusen Schmäheschrifft wieder die Halleschen Theologos verbohten«. Der diplomatische Vertreter Preußens mußte beim Hamburger Senat protestieren, weil der Hamburger Ratsdrucker König im Verdacht stand, das Stück gedruckt zu haben. Die Komödie wurde überdies zum Anlaß, ein neues strenges Zensuredikt zu entwerfen. (S. dazu E R N S T C O N S E N T I U S : »Frau Gottsched und die preußische Gesetzgebung«. In: Preußische Jahrbücher 112. Berlin 1903, S. 288 — 307. Vgl. auch die vom Vf. besorgte Ausg.: L . Α . V . G O T T S C H E D : Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, Komödie. Hrsg. von W O L F G A N G M A R T E N S , durchges. u. bibliogr. ergänzte Ausg. Stuttgart 1979.) 13.

MEYER,

14. Zit. nach

Hallisches Theater (Anm. 6), S. 27. MEYER,

ebd., S. 32.

15. Zit., ebd., S. 34. 16. Ebd., S. 34. 17. H U G O H O L S T E I N 1886, S. 2 6 f „ 100f. 204

:

Geschichte der ehemaligen Schule zu Kloster Berge. Leipzig

1 8 . C A R L H E I N R I C H V O N B O G A T Z K Y : Güldenes Schatz-Kästlein der Kinder GOttes, deren Schatz im Himmel ist, bestehend in auserlesenen Sprüchen der heiligen Schrift, samt heygefügten erbaulichen Anmerkungen und Reimen. Zweyter Thl. Halle " i 8 6 0 , S. 233. (' 1760)

19. A . H . F R A N C K E : Bekenntniß von dem Ministerio zu Halle. [1699], wiedergegeben bei K R A M E R , Neue Beiträge (Anm. 5), S. 106. 20. Abgedruckt bei G U S T A V K R A M E R : August Hermann Francke. Ein Lebensbild. 2 Tie. Halle 1 8 8 0 - 8 2 . Das Zitierte dort in I, S. 272. 21. Zit. nach

AUGUST

HERMANN

FRANCKE:

Werke in Auswahl. Hrsg. von

ER-

H A R D P E S C H K E . B e r l i n 1969, S. 1 7 7 .

a. Zum Vorstellungsbereich »Divertiren«: In den Pensées des B L A I S E P A S C A L (1670) ist »Divertissement« ein Zentralbegriff. Er meint dort mehr als nur eine Gott vernachlässigende Zerstreuung, sondern ist vielmehr verstanden als letztes, scheinbar rettendes Auskunftmittel gegenüber dem »Ennui«, der bohrenden Lebenslangeweile des Menschen ohne Gott. In diesem Sinn, als Zuflucht, als Betäubungsmittel vor dem großen dröhnenden Leere-Gefühl in der »Misère de l'homme sans Dieu«, scheint weltliche Belustigung, theatralisches Divertissement, vom halleschen Pietismus noch nicht interpretiert zu werden. Offenbar faßt der Pietist den Seelenzustand des glaubenslosen Gottverlassenen (nicht zu verwechseln mit dem als vorübergehend erhofften momentanen »Stand der Verlassung« für den Frommen!) als Möglichkeit noch nicht ins Auge. 23. Zit. nach

Neue Beiträge (Anm. 5), S. 161 f.

KRAMER

24. J O H A N N C A S P A R S C H A D E : Geistreiche Predigten über alle Sonn= Fest- und Feyertags-Evangelia durch das gantze Jahr. [...] Mit einer neuen Vorr. versehen von Johann Simon Buchka. Hof 1739, S. i2of. — Auf den Kopenhagener Brand nahm 1699 auch Francke Bezug (vgl. seine oben in Anm. 5 zit. Eingabe). Tatsächlich scheinen beim Brand des Kopenhagener Opernhauses im Jahre 1689 50 Personen umgekommen zu sein. Vgl. L O U I S B O B É : Operahusets Brandpaa Amalienborg den i*)de April 1689. Kopenhagen 1889. — Übrigens kann ein Theaterbrand auch noch im 19. Jahrhundert als Zeichen göttlichen Zorns verstanden werden. Karl Gutzkow, aus pietistischem Berliner Elternhaus, berichtet in seinen Jugenderinnerungen über den Brand des Berliner Schauspielhauses im Jahr 1819: »Beide Eltern, uneinig über die Turner und Kotzebues Ermordung, waren in der Abneigung gegen die Komödie einiger. In den Kirchen predigte der immer mehr um sich greifende Pietismus gegen die Bühne und nahm den Brand der Stätte, wo der sündige Iffland gehaust hatte, für ein Zeichen der endlich einmal erschöpften göttlichen Geduld und Langmuth.« ( K A R L G U T Z K O W : AUS der Knabenzeit. Frankfurt a.M. i8j2, S. 201) 25. M A R T I N S. 432.

LUTHER:

Kritische Gesamtausgabe: Tischreden. Bd. 1. Weimar 1912,

26. Ebd., S. 431. 27. Zit. nach Bd. 2, S. 93. 28.

WILHELM

HOSSBACH:

Spener und seine Zeit. Berlin J 1861 (' 1828),

Letzte theologische Bedenken. Hrsg. von C A R L Halle 1 7 1 1 , zit. nach J O H N D . L I N D B E R G ; »Der Pietismus und die deutsche Barockoper. Zusammenprall zweier Welten.« In: G E R H A R D PHILIPP

HILDEBRAND

JACOB

SPENER:

VON C A N S T E I N .

205

H O F F M E I S T E R (Hrsg.): Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. und München 1973, S. 254.

Bern

29. G O T T F R I E D V O C K E R O D T : Mißhrauch der freyen Künste/insonderheit Der Musicinehenst abgenöthigter Erörterung der Frage: was nach D. Luthers und anderer Evangelischen Theologorum und Politicorum Meinung von Opern und Comoedien zu halten sey ? Franckfurt bey Johann David Zunnern, gedruckt im Jahr M D C X C V I I . — Zitatbelege aus diesem Werk sind im folgenden mit eingeklammerter Seitenzahl im Text selbst nachgewiesen. 30. Es ist bemerkenswert, daß noch 1806 eine Eingabe der reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke an die Regierung wegen der Konzession eines Theaters in Elberfeld ganz ähnliche Befürchtungen vorbringt: »Denn wir glauben, daß dadurch irreligiöse christwidrige Grundsätze verbreitet werden, der immer höher steigende Leichtsinn und Luxus befördert und genährt, der Geschmack an den ernsten Wahrheiten des Christenthums verdorben, das Herz für die Kraft der evangelischen Wahrheiten unempfindlich gemacht, die gesegnete Wirkung der Verkündigung des göttlichen Wortes verhindert, und solchen Gesinnungen Vorschub gethan wird, welche die Thronen wankend machen, das Staats- und Bürgerwohl untergraben, und das sittliche Verderben vermehren helfen.« (Zit. nach H A N S G Ü N T E R A U C H : Komödianten, Kalvinisten und Kattun. Geschichte des Wuppertaler und Schwelmer Theaters im 18. und 79. Jahrhundert [1700—1850]. Emsdetten i960, S. 7). 31. H I E R O N Y M U S F R E Y E R : Hieronymi Freyeri Paed. Reg. Hai. Insp. Oratoria in tabulas compendiarías redacta et ad usum iuventutis scholasticae accomodata. Editio séptima. Halae Magdeburgicae Sumptibus Orphanotrophei Anno M D C C X L V , S. 214: »Manche wollen die Comödie gar als ein Mittel ansehen, die Leute zu bessern; und den Willen sowol zur Tugend anzumahnen, als von Lastern abzuschrecken; es wäre aber viel besser gethan, wenn man mit solcher unbefugten Bekehrungsmethode, hinter welcher insgemein ein Pelagianischer Sinn stecket, nur zuhause bliebe und dis [!] wichtige Werk der einfältigen Predigt des Evangelii überließe.« 32. Vgl. H I E R O N Y M U S F R E Y E R S Oratoria (Anm. 31), S. 214: »Die Agirung eines Hofmanns, Soldaten, Gastwirts, Advokaten, Betriegers oder wol gar einer lustigen Person in einem Schauspiel wird dadurch nicht gut gemacht, daß unser Heiland nach seiner Auferstehung den seinigen etlichemal in einer andern als der gewohnten Gestalt erschienen: sondern es ist vielmehr ein schändlicher Mißbrauch solcher heiligen Offenbarung, wenn man das auf den theatralischen Unfug ziehen und insonderheit die Verkleidung eines Jünglings in ein Weibsbild zu einer indifferenten und erlaubten Sache machen will.« — Der gleiche Satz findet sich auch in Freyers Schulprogrammschrift Ob ein Christlicher Schullehrer anstatt der gewöhnlichen oratorischen Übungen mit gutem Gewissen Comedien spielen und die ihm anvertraute Jugend dazu anführen könne (1728), erneut gedruckt in und hier zit. nach: H I E R O N Y M I F R E Y E R I Programmata latino-germanica cum Addimento Miscellaneorum vario. Halae Magdeburgicae Sumptibus Orphanotrophei, Anno 1737, S. 351 —403. — Uber Vockerodt hinaus findet Freyer in dieser Programmschrift noch folgende Argumente gegen die Schulkomödie: »Auf des theuren Lutheri Tischreden darf man sich in solchen Dingen gar nicht beruffen: weil nicht unbillig gezweifelt wird, ob die Concipienten derselben seinen Sinn allemal recht gefasset und völlig ausgedrücket.« (366) — »Christus spricht, daß die Menschen müssen von einem jeglichen müssigen Worte Rechenschaft gaben am jüngsten Tag« (369), — so auch von auf der Bühne gesprochenen Worten. — Anscheinend unschuldige Schulkomödien

206

sind gleich wohl »gefährlich, weil dadurch zu den offenbar sündlichen Schauspielen der Weg geöffnet wird«. (377) — Mancher ungeratene »Discipel« läuft, von der Schulkomödie verführt, alsbald »mit den Comoedianten im Lande herum« (378). — Die Anleitung der Schüler zur Imitation einer Person verleitet zur Heuchelei. — Es kann nicht ohne sündliche Scherzreden abgehen, wenn Knaben oder Jünglinge »in Weibeshabit« auftreten (379). — »Es steckt diesem Alter schon von Natur Thorheit genug im Hertzen: daß man also nicht Ursach hat, demselben noch mehr unnütze Phantasien in den Kopf zu setzen.« (389) 33. Die Kirchenväter, führt Vockerodt weiter aus, haben zwar den Heiden die Poesie abgelernt und »in Epico, Elegiaco und Lyrico Genere« geistliche Gedichte geschrieben, keine aber »in Dramatico«! »Sollten sie nun nicht auch Dramata angestellet und aufgeführet haben/wann sie solches nicht vor unzulässig gehalten hätten?« (135) 34. Ein nichthallescher Pietist wie Heinrich Jung-Stilling, allgemein theaterfeindlich eingestellt, konnte es sich dagegen als sehr ersprießlich vorstellen, wenn man »Schaubühnen errichtete, w o geistliche Personen, Männer und Weiber, die heilige Geschichten, oder auch solche, die viel erbauliches enthalten, gleichsam als Gottesdienst oder Gottesverehrung vorstellten, dadurch das Volk belehrten und dann diese Belehrung durch Gesang und Musik recht tief ins Herz einprägten«. (JOHANN H E I N R I C H JUNG: Lehrbuch der Staats-Poltcey^ Wissenschaft. Leipzig 1788, S. 136) 35. Zit. nach WINFRIED Z E L L E R : »Die edle und wohlgeordnete Musik der Gläubigen. Eine pietistische Orgelpredigt Johann Forsts«. In: WINFRIED Z E L L E R : Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von BERND JASPERT. Marburg 1 9 7 1 , S. 182. 36. J O H A N N

ANASTASIUS

Kern alter und neuer Lieder

FREYLINGHAUSEN:

in sich enthaltend [...]

Geistreiches

Gesangbuch,

mit einem Vorbericht.

den

Hrsg. von

G O T T H I L F A U G U S T F R A N C K E . H a l l e 1 7 4 1 , V o r r . unpag.

37. Vgl. dazu WOLFGANG MARTENS: »Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers >OratoriaWeiber- und Weinseligkeit< ohne »lebensechten Ursprung«, 3 darf sich darin durch eine eindrucksvolle Rezeptionsgeschichte bestätigt finden. Ihrer Wichtigkeit wegen sowohl für die literarhistorische Bewertung der anakreontischen Poesie als auch im Hinblick auf das Thema des Symposions mit der Frage nach dem Rang Halles für die deutsche Aufklärung sei die Rezeptionsgeschichte zumindest mit zwei signifikanten Belegen illustriert. Kant — in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 erschienen ihm die mutwilligen Scherze der Anakreonteen immerhin »flatterhaft, aber schön« 4 — führte eben diese Scherze dann in der Kritik der Urteilskraft nur noch beiläufig als Negativbeispiele mit an. Im Bezugsrahmen der Analytik des Erhabenen, deren leitender Gesichtspunkt ohnedies die »Beziehung auf die Denkungsart« ist (d. h. »auf Maximen, dem Intellektuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht zu verschaffen«), sind ihm die anakreontischen Gedichte zusammen mit Romanen und weinerlichen Schauspielen jetzt als »schale Sittenvorschriften« charakteristisch : die mit (obzwar fälschlich) sogenannten edlen Gesinnungen tändeln, in der Tat aber das Herz welk, und für die strenge Vorschrift der Pflicht unempfindlich, aller Achtung für die Würde der Menschheit in unserer Person und das Recht der Menschen (welches ganz etwas anderes als ihre Glückseligkeit ist), und überhaupt aller festen Grundsätze unfähig machen [...] (sie) vertragen sich nicht einmal mit dem, was zur Schönheit, weit weniger aber noch mit dem, was zur Erhabenheit der Gemütsart gezählt werden könnte. [§ 29] 5

Diese fundamentale, Recht und Glückseligkeit des Menschen dividierende Bestimmung Kants ist — was angesichts der Rezeptionsgeschichte Schillers als eines Zeitgenossen aller Epochen< für die Anakreontik folgenreich war — in dessen Schrift Uber das Pathetische eingegangen 6 und somit in einer weiteren Rezeptionsschicht wirksam geworden. Das Urteil Kants sei durch ein jüngeres ergänzt. In einem in Berlin (-Ost) erschienenen Kommentarband zur Epoche der Aufklärung wiederholen sich in auffälliger Ähnlichkeit Perspektive und Bewertung der anakreontischen Poesie: 211

Die schon bei Hagedorn zu bemerkende Flucht vor politischer Auseinandersetzung, eines Ausweichens vor den drängenden Problemen der Zeit, vor dem Kampf gegen feudale Unterdrückung und kirchliche Bevormundung, setzt sich bei Gleim und den Anakreontikern fort. Auch Gleim verwies den Bürger seiner Zeit auf die Diesseitigkeit, es war aber ein enges, im Grunde — trotz aller anakreontischen Verbrämung — spießbürgerliches Leben ohne nationale und soziale Perpektiven. Auch Gleim wies dem Bürgertum einen Weg in die Freiheit; es war aber, wie bei Hagedorn, nur eine scheinbare Freiheit, erkauft durch den Verzicht auf jedes öffentliche Wirken, auf ökonomische und politische Macht.

Und in derselben Schrift heißt es an anderer Stelle: [Gleims] Liederdichtung entfremdete in ihrer süßlichen, wirklichkeitsentfernten Tändelei den Bürger immer mehr seinen eigentlichen gesellschaftlichen Aufgaben. Man hat der Anakreontik nachgesagt, sie habe das gesellschaftliche Bewußtsein des Bürgertums entwickeln helfen. Hier verwechselte man »gesellig« und »gesellschaftlich«. Gepflegt wurde eine Geselligkeit im Kreis Gleichgesinnter, die sich vor der Welt in ihre Rosenlauben zurückgezogen hatten [ . . . ] Dem großen Gegenstande freilich, den gesellschaftlichen Widersprüchen ging man aus dem Wege. 7

Wie hier die anakreontische Poesie in die Perspektive eines unversöhnlichen Gegensatzes von »gesellschaftlich — gesellig«, eines Gegensatzes der Interessen der Gattung und des Subjekts gestellt ist, so läßt eine lange akademische Deutungstradition ihre Bewertung von dem ersten Pol in der kantischen Dualität »Recht — Glückseligkeit« oder auch in der durch Hegel inspirierten Dualität »Höhere Zwecke — Subjektivität« bestimmt sein. Die rezeptionsgeschichtliche Skizze 8 gibt nun wohl auch der Frage eine gewisse Nachdrücklichkeit, ob und worin denn Aufklärung und deutsche RokokoAnakreontik im Sinne einer positiven Kategorisierbarkeit aufeinander sollen bezogen werden können. Die Frage ist prima vista deswegen ziemlich heikel, weil sich die Anakreontik selbst auf allen Ebenen der Mitteilung, sagend und zeigend, den großen Themen des Jahrhunderts entzogen hat: Autoren wie Lessing, Claudius, Reckert oder Gerstenberg gaben ihren ersten Gedichtsammlungen Titel wie »Kleinigkeiten« oder »Tändeleyen« ; und von »Tändeln« ist nicht weniger auch bei Gleim, Uz, Weiße und dem jungen Goethe die Rede. Diese Selbstbeschränkung in Thematik, Formumfang und Formenkanon aufs Kleine, Spielerische, Unernste, scheinbar Unmaßgebliche ist zudem programmatisch. Wie neuere literarhistorische Forschungen überzeugend nachgewiesen haben, sind die anakreontischen »Kleinigkeiten« in der Tradition der älteren Gattungspoetik als Stücke eines normativen Entwurfs von >Welt< und >Leben< zu verstehen:9 normativ in ihrer geselligen Privatheit! Somit scheint ihre epochale so gut wie systematische Zuweisung zu >Aufklärung< nicht allein erschwert, sondern geradezu unangemessen zu sein. Allerdings ist dabei eine bestimmte, Erscheinungen wie die literarische Kultur des Rokoko ausschließende oder einfach ignorierende Vorstellung 212

von Aufklärung maßgeblich. Denkbar wäre jedoch auch eine Umkehrung der hier gemeinten Problemrelation. In ihr erwiese sich dann die Anakreontik als ein Problemfall für den Aufklärungsbegriff. Vorausgesetzt, daß dieser als philosophischer Aufklärungsbegriff in der »durch Kant nachgerade klassisch gewordenefn] Formel des Selbstdenkens« 10 seinen Fokus hat. Mit dem aus den begriffsgeschichtlichen Untersuchungen hervorgegangenen Definitionsvorschlag von Horst Stuke läßt sich das leicht zeigen. Aufklärung wird verstanden als Emanzipation des Menschen aus der Welt des geschichtlichen Herkommens, d.h. seine Befreiung von allen Autoritäten, Lehren, Ordnungen, Bindungen, Institutionen und Konventionen, die der kritischen Prüfung durch die autonome menschliche Vernunft nicht standzuhalten vermögen; [im Zuge dieses Prozesses strebt] die Aufklärung die Erziehung des Menschen zu einem selbstbewußten Vernunftwesen und zu einer selbständigen sittlichen Lebensweise an, die durch die Vernunft und die von ihr kraft ihres selbsteigenen Vermögens klar, deutlich und nachprüfbar erkannte Wahrheit über Gott, Welt und Mensch bestimmt ist. "

Es ist offenkundig, daß hier der Primat der Vernunft und des Selbstdenkens als Basis sowohl des Epochen- als auch des Bewegungsbegriffs »Aufklärung« angenommen ist. Aber es scheint mir darin nicht oder wenig ausdrücklich das Moment eingegangen zu sein, das Moses Mendelssohn in seinem Beitrag zur Berlinischen Monatsschrift von 1784 »Ueber die Frage: was heißt aufklären?« thematisiert hat. Er sah in »Kultur« den komplementären Begriff zu dem der »Aufklärung« und erläuterte beider Verhältnis — unter dem Dachbegriff der »Bildung« — wie folgt: Aufklärung verhält sich zur Kultur, wie überhaupt Theorie zur Praxis; wie Erkenn tniß zur Sittlichkeit; wie Kritik zur Virtuosität. A n und für sich betrachtet, (objektive) stehen sie in dem genauesten Zusammenhange; ob sie gleich subjektive sehr oft getrennt sein können. 11

Die in Mendelssohns Beitrag offenkundig werdende Verlagerung des Fokus des Aufklärungsbegriffs von der militant-postulatorischen Devise des Selbstdenkens 13 auf eine eher materiale Beantwortung der Frage nach der »Bestimmung des Menschen« 14 ist als ein Vorgang »der zweiten Hälfte des Jahrhunderts« verstanden worden, »durch den die Aufklärung zur bloßen Bildung des Verstandes und von der Bildung des Herzens unterschieden« wurde. 1 5 N u r in scheinbarem Widerspruch steht dazu die Annahme des »Aufklärung und Sinnlichkeit« betitelten Themaheftes einer literaturwissenschaftlichen Zeitschrift von 1981, ab »der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« werde »»Sinnlichkeit* zum notwendigen Bestandteil von >Aufklärung S. 276 — 306. Anregend für meine Fragestellung war die (masch.) Diss, von K O N R A D B A E R : Der junge Gleim und die Hallische Schule. Erlangen 1924, auch wenn der Problemzusammenhang systematisch nicht entfaltet und gerade auch die Bedeutung Baumgartens und Meiers für Gleim wieder erheblich relativiert worden ist (vgl. bes. S. 69). Die Wiederaufnahme meiner früheren Darlegungen scheint mir aus mehreren Gründen gerechtfertigt, wobei ich hier nur wenige Paradigmen aufgreifen kann: 1. Die an der Erôrtèrung des Problemzusammenhangs von Ästhetik und Aufklärung beteiligte philosophische Disziplin soll zur Aufgabe der disziplinimmanenten Arbeitsweise angeregt werden. Das Interesse an Aufklärung muß sich zugleich als ein Interesse an den praktischen Möglichkeiten und Wegen ihrer Realisierung erweisen. 2. Ebenso ist die theologiegeschichtliche Forschung — hier etwa die des Pietismus — dazu zu bewegen, den in der Disziplin begründeten engeren Rahmen dogmatischer Interessen zu überschreiten und das schwerlich noch aktualisierbare Erbe der eigenen Frömmigkeitsgeschichte (wie beispielsweise die Adiaphora-Lehre) zumindest in geschichtlicher Hinsicht

233

gelten z u lassen (und nicht einfach vergessen z u machen: vgl. etwa G E R H A R D SCHMALENBERG: Pietismus

— Schule

— Religionsunterricht.

Spiegel der vom Pietismus bestimmten Frankfurt a . M . 1974).

Die christliche Unterweisung

Schulordnungen

des 18. Jahrhunderts.

im

Bern und

j . O h n e Zweifel ist die Literatursoziologie und Sozialgeschichte

der Literatur interdisziplinär fundierter Anregungen besonders bedürftig: vgl. etwa H O R S T A L B E R T G L A S E R (Hrsg.): Deutsche

Literatur.

Eine Sozialgeschichte.

Bd. 4.

Reinbek bei H a m b u r g 1980, S. 106—108 oder auch R O L F G R I M M I N G E R Hansers Sozialgeschichte

der deutschen

Literatur

vom 16. Jahrhundert

(Hrsg.):

bis zur

Gegen-

wart. Bd. 3. München 1980, S. 564— 568. D e m eigenen Anspruch auf die Korrelierung ästhetischer Reflexion und literarischer Praxis mit »sozialen Reihen« werden diese Arbeiten ebenso wenig gerecht wie M I C H A E L J. B Ü H L E R : Soziale Vermittlung.

Studien zur Literatursoziologie

Rolle und

von A. G. Baumgarten

Ästhetische

bis F. Schiller. Bern

und Frankfurt a . M . 1975, S. 115 — 156. 18. Siehe A n m . 1, S. 94L 19. C A R L S C H Ü D D E K O P F (Hrsg.): Briefwechsel

zwischen Gleim und Uz. Tübingen

1899 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart. C C X V I I I ) , S. 79 f. 20. Wie A n m . 19, S. 5, 8, 19. I i . Ebd., S. 70. 22. D a ß Baumgarten diese Vorlesung im Wintersemester 1739/40 tatsächlich gehalten hat, bezeugt J O H A N N STEPHAN PÜTTERS Selbstbiographie seiner βojährigen Professorsstelle

zu Göttingen.

zur dankbaren

Jubelfeier

Bd. 1. Göttingen 1798, S. 39f.

23. W i e A n m . 19, S. i 8 i f . 24. D i e Titel der angeführten Schriften sind nach der Sammelausg. U B Tübingen: D g . 9 zitiert. 25. Zit. nach: ERNST B E R G M A N N : Die Begründung Alex. Gottlieb ungedruckte

Baumgarten

der deutschen Ästhetik

und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang:

durch

G. F. Meiers

Briefe. Leipzig 1911, S. 239, 244, 258.

26. Wie A n m . 25, S. 250. Vgl. PÜTTER, Selbstbiographie

(Anm. 22), S. 40.

27. Ebd., S. 39f. 28. S C H Ü D D E K O P F , Gleim und Uz (Anm. 19), S. 526f. 29.

ALEXANDER

GOTTLIEB

nullis ad poema pertinentibus.

30. W I L H E L M K Ö R T E : Johann und Schriften.

B A U M G A R T E N : Meditationes

philosophicae

non-

Wilhelm Ludwig

Gleims Leben. Aus seinen

Briefen

Halberstadt 1811, S. 21.

31. A L E X A N D E R G O T T L I E B B A U M G A R T E N : Philosophische

Brieffe

ophilus. Frankfurt und Leipzig 1741, S. 6f.: »2. Schreiben«. Vgl. D E R S . : philosophicae

de

Halle 1735, Leerblatt zwischen S. 4/5, Versoseite.

de nonnullis ad poema pertinentibus

einige Bedingungen

des Gedichtes.

— Philosophische

von

Alethe-

Meditationes

Betrachtungen

über

Ubers, und mit einer Einl. hrsg. von H E I N Z PAET-

ZOLD. H a m b u r g 1983, S. 84/85 und S. 86/87: § C X V I und § C X V I I . -

In den an der

Veränderung in wissenschaftlichen Systemen der Frühaufklärung interessierten Arbeiten Grimms bleibt die innovatorische Leistung Baumgartens (und Meiers) hinsichtlich der Ästhetik merkwürdig unkonturiert. Vgl. beispielsweise G U N T E R E . G R I M M : »Plädoyer für eine philosophische Wissenschaft. Gelehrsamkeitsverständnis und Wissenschaftskanon in der deutschen Frühaufklärung«. In: Lessing Yearbook

234

16 (1984), S. 124— 149,

S. 128. Mit Recht betont PAETZOLD, S. oben, daß Baumgarten gesehen hat, »daß eine Integration der Ästhetik in die Philosophie die Verwandlung von deren Gesamtgefüge zur Folge haben muß« (S. LI). 32. Vgl. in: BERNHARD POPPE: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen Nebst Veröffentlichungen einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik tens. Borna-Leipzig 1907, S. 76: § 6.

Bedeutung zu Kant. Baumgar-

33. U R S U L A FRANKE: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana Supplementa. IX), S. 42, 45, 46 u.ö. Ich folge hier weitgehend dieser Arbeit. 34. G O T T F R I E D WILHELM L E I B N I Z : Meditationes de cognitione, veritate et ideis. In: Die philosophischen Schriften. Hrsg. von C . I. Gerhardt. Berlin 1875 ff. ; Bd. 4, S. 422. 35. FRANKE, Kunst als Erkenntnis PAETZOLD, S. Anm. 3 1 , S. X V I I f f .

(Anm. 33), S. 48. Der Analyse Frankes folgt auch

36. THEODOR WILHELM DANZEL: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Leipzig 1848, S. 2 1 4 f f . 37. Zit nach: BERGMANN, Begründung

der deutschen Ästhetik (Anm. 25), S. 248.

38. F R I E D R I C H S VON HAGEDORN Poetische Werke. Mit seiner Lebensbeschreibung und Charakteristik und mit Auszügen seines Briefwechsels begleitet. Hrsg. von JOHANN JOACHIM ESCHENBURG. Hamburg 1800; Tl. 5, S. 2 0 i f . Zeugnisse wie diese lassen den Versuch Benders problematisch erscheinen, die Kunsttheorie Baumgartens und Meiers einerseits und die Dichtungslehre der Zürcher andererseits unter dem Dach der Rhetorik harmonisieren zu können. (Vgl. WOLFGANG BENDER: »Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger«. In: Zs. f . deutsche Philologie 99 [1980], S. 481 — 506.) 39. C H R I S T I A N WOLFF: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. Frankfurt a. M. 1971 (Ndr. d. Ausg. Halle 1721), S. 38of.: § 391. Vgl. JOACHIM K R U E G E R : Christian Wolff und die Ästhetik. Berlin 1980, S. 65 ff., hier S. 69. 40. BAUMGARTEN, Meditationes (Anm. 31), S. 1 0 / 1 1 : § IX. Vgl. dazu besonders A L F R E D BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Darmstadt 2 1967 ('1923), S. 207 — 2 3 1 : »Baumgartens individualisierende Begriffsbildung«. 41. THEODOR JOHANN QUISTORP: »Erweis, daß die Poesie schon für sich selbst ihre Liebhaber leichtlich unglückselig machen könne«. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften undfreyen Künste. I. Bd. 5. St. Leipzig 1745 (November), (S. 433 — 452), S. 441. Im Hinblick auf die Kontroverse vgl. schon die aufschlußreiche Arbeit DANZE LS (Anm. 36), S. 214 — 227. 42. Q U I S T O R P , Erweis

( A n m . 4 1 ) , S. 4 3 7 , 444, 446, 4 5 2 .

43. G E O R G F R I E D R I C H M E I E R : Vertheidigung eines Gedichtes. Halle 1746, S. 9: § 5.

der Baumgartischen

Erklärung

44. C H R I S T O P H OTTO VON SCHÖNAICH: Die ganze Aesthetik in einer Nuß oder Neologisches Wörterbuch (1754). Mit Einl. und Anm. hrsg. von A L B E R T KÖSTER.

235

Berlin 1900 (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. N r . 70—81), S. 241. Vgl. ZEMAN, Anakreontische Dichtung (Anm. 8), S. 154— 168, bes. S. i6of. 45. ERNST C A S S I R E R : Die Philosophie

der Aufklärung.

Tübingen 1932, S. 471 f.

46. Ebd., S. 475. — Die in der Diskussion der Vorlage aufgeworfene Frage danach, ob es sinnvoll sei, den von Cassirer hier eingebrachten Ausdruck »Emanzipation« beizubehalten, läßt sich überzeugend beantworten mit WERNER SCHNEIDERS: »Emanzipation als moralisches Problem. Zur Beantwortung der Frage: Wie ist Aufklärung praktisch möglich?« In: Rechtstheorie 9 (1978), H. 2 (S. 201 —216), bes. S. 204ff. — Im Hinblick auf die >Philosophie< von Texten wie dem der »Lebenspflichten« Gleims wäre zudem zu bedenken, was Epikurs Theorie des Glücks (selbst wie deren Rezeption) für die Ausbildung der Anakreontik in der frühen Neuzeit bedeutet hat. Zu Epikur vgl. MAXIMILIAN FORSCHNER: »Epikurs Theorie des Glücks«. In: 2s. für philosophische Forschung 36 (1982), (S. 1 6 9 - 1 8 8 ) , bes. S. 185 f. und S. 188. 47. Siehe A L E X A N D E R

G O T T L I E B B A U M G A R T E N : Aesthetica.

Hildesheim

1961

(Ndr. der Ausg. Frankfurt 1750), S. 2 — 5 : §§ 5 - 12; vgl. HANS RUDOLF SCHWEIZER: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der »Aesthetica« A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung. Basel und Stuttgart 1973, S. 1 0 8 / 1 1 0 bzw. S. 1 0 9 / i n . 48. P O P P E , Baumgarten

( A n m . 32), S. 78F.: § 1 2 .

49. G E O R G F R I E D R I C H M E I E R : Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Halle 1748ff.; Tl. I, S. 35 — 37: § 22. — Zum Zustandekommen von Meiers Schrift vgl. BERGMANN, Begründung der deutschen Ästhetik (Anm. 25), S. 141 f. 50. M E I E R , Anfangsgründe 51.

Politik.

( A n m . 49), S. 3 6 f .

A R I S T O T E L E S : Metaphysik

Studien

zu Aristoteles

I 0 2 5 B 2 5 ; v g l . J O A C H I M R I T T E R : Metaphysik

und

und Hegel. Frankfurt a. Μ. 1969, S. 9 ff.

52. BAUMGARTEN, Philosophische

Brieffe (Anm. 31), S. 35: »12. Schreiben«.

53. Vgl. F R I E D R I C H KAMBARTEL: Erfahrung und Struktur. Bausteine Kritik des Empirismus und Formalismus. Frankfurt a. Μ. 1968, S. 61 ff. 54. BAUMGARTEN, Philosophische

zu

einer

Brieffe (Anm. 31), S. 15: »5. Schreiben«.

55. IMMANUEL KANT: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Werke (Anm. 4), Bd. IV, S. 668: »Anmerkung« zum 1. St. der »Philosophischen Religionslehre«. 56. ROLF DANNENBAUM: Joachim Lange als Wortführer des Halleschen gegen die Orthodoxie. Diss, (masch.) Göttingen 1951, Vorwort S. II.

Pietismus

57. C A R L H I N R I C H S : »Der Hallische Pietismus als politisch-soziale Reformbewegung des 18. Jahrhunderts«. In: Jb. f . Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 2 (1953), S.

177-189.

58. JOACHIM LANGE: Antibarbarus orthodoxiae dogmatico-hermeneuticus. Tie. I —II. Berlin 1709; Tie. I I I - I V . Halle 1 7 1 1 ; Zitat Tl. II, S. 3OF. Vgl. DANNENBAUM, Lange (Anm. 56), S. 1 1 8 . Vgl. WOLFGANG SCHMITT: Die pietistische Kritik der >KünsteMedizin< neu überdacht werden. A u f g a b e dieses Beitrags zur Geschichte des 18. Jahrhunderts ist es, tiefverwurzelte Querverbindungen zwischen einer Fachdisziplin (Medizin), einer religiösen Erneuerungsbewegung (lutherischer Pietismus) und einer >Ideologie< (Aufklärung) aufzuzeigen. Personen und deren Wirkungskreis bleiben im Vordergrund, denn die Abstraktionen einer Ideengeschichte möchte ich vermeiden. Dennoch bieten Publikationen und Lehrinhalte das Quellenmaterial, an dem sich die Entwicklung von Auseinandersetzungen zeigen läßt. Die Auffassungen Stahls sind zwar für die Medizin der Frühaufklärung fundamental, gleichwohl reichen sie über engere Disziplingrenzen hinaus. In diesem Sinne wäre es zu kurz gegriffen, nur der Frage nachzugehen: Wie entwickelte sich die Medizin in der Aufklärung? Von erheblich größerer Bedeutung — gerade zu dieser Zeit — war die Diskussion zwischen den Vertretern verschiedener gelehrter Disziplinen. Diese betraf die Natur des Menschen und seine soziale Verfassung, woran sich die Jurisprudenz, Theologie, Philosophie und Medizin beteiligten. Nicht zuletzt bestimmte die Medizin den Verlauf der Debatte: Denn deren Einsichten über die Natur des Menschen, insbesondere über die wechselseitige Abhängigkeit der Bereiche geistiger Vermögen (Vernunft und Erkenntnis), affektiver Beschaffenheit (Leidenschaften, Empfindungen, Wahrnehmungen) und körperlicher Beschaffenheit (Physiologie, Pathologie, TemperamentenlehM5

re) tangierte alle Aspekte der nun aufgeworfenen Fragen. Die Medizin selbst vertrat aber zu dieser Zeit keine einheitliche Meinung. Vielmehr trennten sich zunehmend zwei unterschiedliche Richtungen. Die eine verteidigte eine als >aufklärend< empfundene, empirisch-naturwissenschaftliche Methodik; die andere — an ältere Traditionen anknüpfend — wollte medizinisches Wissen im breiteren Spektrum makrokosmischer Deutungen verankern. 3 Das bedeutete ein Anknüpfen an die vielschichtige Gedankenwelt der deutschen Mystik und der Schriften der radikalen Protestanten oder — wie es Gottfried Arnold polemisch nannte — »der Ketzer«. Die radikalen Protestanten legten Gewicht auf den >Geist< und die seelischen Kräfte. Mit anderen Worten: Es blieb ein zentrales Anliegen der Frühaufklärung, die Schöpfung der Welt und des Menschen aus dem >Unsichtbaren< zu verteidigen. 4 Die naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Fortschritte der Medizin waren dieser Deutung nicht diametral entgegengesetzt. Das wurde nur von denjenigen Medizinern behauptet, die den Fortschritt mit der ausschließlichen Befolgung einer rein naturwissenschaftlichen Methodik gleichsetzten. Georg Ernst Stahls medizinische Theorie, die beachtliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse systematisierte, bezeugt, daß jene Behauptung zu einer Ideologiebildung gehörte. Stahl formuliert seine medizinischen Erkenntnisse so, daß sie dynamische Einwirkungen seelischer Kräfte maßgebend berücksichtigen. Insofern gehört er nicht zu der sich selbstbewußt gebenden >aufgeklärten< Medizin. Nichtsdestoweniger bleibt die Berücksichtigung >unsichtbarer< Kräfte (die makrokosmische Einbettung des Menschen) sehr komplex: Sie ist bei Stahl in keiner Weise gleichzusetzen mit einer einfachen Wiedergabe theosophischer oder alchemistischer Traditionen. Schließlich war es das Verdienst der medizinischen Theorie Stahls, Interpretationen zu liefern, an die sich Dichter, Ästhetiker, Juristen, wie z.B. Christian Thomasius, und andere Denker in ihren Werken hielten. 5 Aber Stahl nur als Zwischenglied in der Uberlieferung >mystischer< Gedankengänge bis zur Romantik zu sehen, wäre zu kurz gegriffen. Er war naturwissenschaftlich-kreativ in der Formulierung einer Psychologie, die den Ansprüchen einer aufgeklärten Physiologie und Pathologie standhielt. Somit vereinfacht die Säkularisierungsthese,6 die sich auf die naturwissenschaftliche Erklärung von Mensch und Natur als Gegengewicht zur Religion bezieht, indem sie die Gedankenwelt der Aufklärung polarisiert. Die These vom Verfall des >abergläubischen< Weltverständnisses, >the decline of magic*,7 ist ebenfalls unzureichend: Der Glaube an unsichtbare Kräfte ist kein schichtenspezifischer >Volksglaubereduktive< Vorgehen mancher Wissensbereiche angesprochen. Das mechanische Modell empirischen Wissens in der Medizin des 18. Jahrhunderts möchte postulierte >Kräfte< eliminieren. Die Metaphysik dieser Zeit will nach einem abstrakten und 256

logischen Begriffssystem die Welt erfassen. Georg Ernst Stahl lehnte sich gegen beide Tendenzen auf: Die Seele beherrscht den Körper, und das Krankheitsgeschehen straft jede Behauptung der Unabhängigkeit der Vernunft Lügen. Die Dynamik emotionaler und vorstellungsgesteuerter Wirkungen läßt sich über die Beobachtung, nicht aber über die begriffliche Ableitung lösen. Diese Diskussionen der Frühaufklärung lassen sich im akademisch-politischen Bereich verfolgen und zeigen auf, wie sich bestimmte Gruppen konstituieren und welche Inhalte ihnen programmatisch wichtig waren.

/. Die Berufung an die medizinische Fakultät: Kontakte mit Α. H. Francke Kehren wir zur Vorgeschichte der Universitätsgründung von Halle zurück, um eine erste Klärung persönlicher und damit auch ideeller Affinitäten herbeizuführen. Kein Aktenstück der Universität Halle liegt — soweit bekannt — über die Entscheidung vor, Stahl als Medizinprofessor zu berufen, aber andere Hinweise ergeben, daß Stahl wie auch Friedrich H o f f m a n n vor 1694 mit August Hermann Francke in Verbindung stand. Beide wenden sich dem Pietismus schon in seiner Frühphase zu. Francke war 1691 — wie auch Christian Thomasius — zum Professor an die Hallesche Neugründung (damals noch eine Akademie) bestellt worden. Ein Brief, den Friedrich H o f f m a n n an Francke richtete, läßt seine Unterstützung der religiösen Erneuerungsbewegung deutlich erkennen. 8 In diesen Jahren hat sich H o f f mann f ü r Francke und die enthusiastischen Kreise in Quedlinburg als hilfreich erwiesen. 1692 verfaßte er ein medizinisches Gutachten, das einer »enthusiastischen Magd«, einer Bediensteten im Hause des pietistischen Geistlichen Johann Heinrich Sprögel, deren Visionen und Entzückungen viele Leute anzog, Gesundheit und Rechtschaffenheit (die Herkunft der Offenbarungen galt als göttlich) bestätigte. Dieses Gutachten wird auf Bitte Sprögels, eines engen Freundes Franckes, veröffentlicht. 9 A u c h mit Georg Ernst Stahl kam August Hermann Francke in Kontakt, und zwar unter Umständen, die auf eine wohlwollende Einstellung Stahls zum Pietismus schließen lassen. Nachdem Stahl 1684 an der Universität Jena promoviert und einige Jahre dort als Extraordinarius gelehrt hatte, wurde er 1687 Leibmedicus von Johann Ernst von Sachsen-Weimar ( 1 6 6 4 — 1 7 0 7 ) . Dieser Mitregent des Hauses Sachsen-Weimar stand dem Pietismus sehr nahe. 1 6 9 1 , als Francke nach Berlin reiste, um mit Philipp J a c o b Spener zu konferieren, und schon vermutete, daß ihm Aufgaben in Halle bevorstanden, machte er in Gotha Station, damals eine nicht unbedeutende Enklave des Pietismus. Dort schickte der Herzog seinen Leibmedicus zu Francke, um ihn zu bitten, Informator seines Sohnes und H o f p r e 25 7

diger zu werden. Einen solchen Antrag stellte man nur durch Personen, die sich gegenseitig verstanden. Francke lehnte ab, schlug aber seinen Mitstreiter vor, den Pfarrer Johann Caspar Weidenheyn. 10 Im Erbaulichen Leben des Christlichen Theologi Herr Caspar Johann Weidenheims [sie] gewesenen Pfarrers zu Schloß Vippach, Hofprediger zu Weimar [...] (Magdeburg 1734) schreibt sein Schwiegersohn über Weidenheyns Beziehung zu Stahl: In der Medizin hat er [Weidenheyn] ins besondere gute Einsichten gehabt, wie er denn einen schönen Balsam des Hauptes unter andern verfertigen können, welches er ohnzweifel dem so berühmten sei. Herrn Hof-Rath und D. Stahl zu dancken, gehabt, als mit welchem er am Hoch=Fürstl. Weimarischen Hofe zu gleicher Zeit gestanden, und gute Freundschaft gepflogen. Dessen [Weidenheyns] Correspondence mit gelehrten und frommen Leuten, nahmentlich D. Breithaupt, D . Anton, Prof. Francken, D. Brücknern in Jena, D . Stahl, D. Rittmeiern, Engelbrechten, Schradens, und anderen, könte mit vielen gewechselten und annoch vorhandenen Briefen darthun, wenns nothig wäre, und der Raum einer kurtz=gefaßten Lebensbeschreibung zu liesse [ . . . ] . "

Auch andere Spuren deuten auf Stahls Kontakte mit enthusiastischen Kreisen im Umfeld des Pietismus. So die Bitte um ein consilium medicum bei der schweren Erkrankung Christian Scrivers, des frommen und berühmten Erbauungsschriftstellers, die dessen Tod 1693 einleitete. 12 Somit läßt sich bestätigen, daß die Besetzung der Medizinischen Fakultät in Halle mit den pietistischen Bestrebungen Speners und Franckes einherging, dort möglichst gleichgesinnte oder dem Pietismus nahestehende Lehrkräfte zu berufen. Man darf daran erinnern, daß auch Christian Thomasius in dieser Frühzeit und auch danach — von universitätspolitischen Zwistigkeiten einmal abgesehen — mit den Hauptvertretern des lutherischen Pietismus, Spener und Francke, gute und enge Beziehungen pflegte. 13 Thomasius' Vater, Jacob, war ein Freund Speners, und in den Leipziger »pietistischen Unruhen« von 1689 las Francke über Vater Thomasius' tabulae de affectibus, bis ihm auch diese Lehrtätigkeit verboten wurde. 1 4 Der Sohn Thomasius half nun Francke mit einem rechtlichen Gutachten, das auch eine innere Verbundenheit der beiden widerspiegelte. 15

2. Die Wirkungsgeschichte der medizinischen Lehre Stahls Ganz im Sinne dieser frühen Kontakte mit August Hermann Francke konnte sich an der Universität Halle eine Zusammenarbeit zwischen dem Mediziner Georg Ernst Stahl und Vertretern pietistischer Interessen entwickeln. Stahl unterstützte die Betreuung der Kranken im Waisenhaus. 16 Er hat sich intensiv um die Freitische der Universität, ein Lieblingsprojekt August Hermann Franckes, das dieser mit Nachdruck am Waisenhaus, am Berliner Hof und unter seinen Kollegen an der Universität förderte, nicht nur bemüht, er hat sie offiziell mitbetreut. 17 Der Patientenkreis der Hallenser Zeit 258

umfaßte namhafte Pietisten, wie Carl Hildebrand Baron von Canstein (1667— 1719), Gneomar Dubislav von Natzmer (1654— 1739), dessen Gemahlin, eine geborene Freifrau von Gersdorf und Mutter von Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf (Charlotte Justine von Gersdorf, 1675 —1764), Heinrich Julius Elers (1667 — 1728), Spener und Francke, um nur diejenigen zu nennen, deren Namen nachweisbar sind. Unter Stahls ärztlicher Nachfolge ragen in den ersten Jahren ebenfalls überzeugte Pietisten hervor: der radikale Dr. Johann Samuel Carl, den Stahl selbst sehr lobte, 18 seine Nachfolger Dr. Michael Alberti und Dr. Johann Juncker, beide schon als Studenten Francke nahestehend, der sie dann auch dem Medizinprofessor empfahl. Die Gebrüder Richter, insbesondere Christian Friedrich, alle Arzte am Waisenhaus, studierten bei Stahl und übernahmen seine medizinische Lehre. 19 Schließlich bezeugt die Drucklegung der Hauptwerke Stahls im Waisenhaus-Verlag eine wichtige Zusammenarbeit. Alle wesentlichen Werke Stahls, wie die Theoria medica vera (1708) und die mehrbändige Ausgabe seiner Dissertationen, betreut von Michael Alberti, sind in diesem Verlag erschienen. Johann Juncker gab die zweite Auflage der Theoria medica vera 1757 heraus und erarbeitete u.a. eine tabellarische Zusammenfassung der medizinischen Lehre Stahls. 20 Die Wirkungsgeschichte der medizinischen Lehre Stahls ist eng mit der pietistischen Erneuerungsbewegung verknüpft. Dies bezieht sich nicht allein auf die Universität Halle, obwohl die Lehrtätigkeit und die Verbindung zu Francke dort ein entscheidender Ausgangspunkt war. Analog zur pietistischen Bewegung wurde die stahlianische Lehre popularisiert. Kennzeichen dafür ist ihre frühe Übersetzung in die Umgangssprache. Im frühen 18. Jahrhundert war dies noch eine Politikum, dessen Brisanz an den Verteidigungen abgelesen werden kann, daß hier niemand »die Hand an die edle Medicin selbst zu legen« wage, sondern sie nur verständlicher und zugänglicher machen wolle. 21 Christian Weisbach, einer der ersten Arzte, die Stahl in deutscher Sprache auf den Büchermarkt brachten, schreibt diesbezüglich einfach: D u ö f f n e s t hiemit ein B u c h / w e l c h e s dir zu deinem heyl in Teutscher Sprache vorgelegt w i r d . "

Weisbach ist in vieler Hinsicht exemplarisch für die frühe Popularisierung Stahls und seine Einbindung in die pädagogischen Absichten der Kreise um Francke. Seine 1 7 1 2 veröffentlichte Wahrhaffte und gründliche Cur aller dem menschlichen Leibe zustossenden Kranckheiten, nach der Vernünfftigen und unverrückten Methode der Natur, samt einem Physico-moralischem Vorbericht, von dem menschlichen Leibe, und der darinn würckenden Seele ist — medizinisch gesehen — eine reine Wiedergabe der Vorlesungen Stahls, verknüpft mit einer umfassenden Vorrede, die mit religiösen Ermahnungen durchsetzt ist. Diese Vorrede bezeugt Weisbachs pietistische

259

Überzeugungen. Er war Promovend bei Stahl. Sein Buch erreichte 1764 eine neunte Auflage. Die gleiche Wirkungsgeschichte zeigt ein anderes, sehr bedeutendes Buch: das von Christian Friedrich Richter, Die hoechst-nöthige Erkenntnis des Menschen, sonderlich nach dem Leibe und natürlichem Leben, Oder ein deutlicher Unterricht von der Gesundheit und deren Erhaltung: auch von den Ursachen, Kennzeichen und Ν ahmen der Kranckheiten [...].23 Richter war ebenfalls Stahl-Schüler und zählte zu den engsten Mitarbeitern des Waisenhauses. Obwohl die Entwicklung und Verbreitung der essentia dulcís, einer Gold-Tinktur, 24 die der göttlichen Vorsehung zugeschrieben wurde, Richter in manchen Konflikt mit Francke und Stahl brachte, blieb er der stahlianischen Lehre treu. Sie wurde auch mehrfach in Richters Briefwechsel mit Baron Canstein erörtert. In diesem Briefwechsel wird schon sehr früh (1702) die Herausgabe eines medizinischen Lehrbuchs erwähnt, 25 das dann als »Hoechst-nöthige Erkenntnis« erstmals 1 7 1 0 erscheint. Die 18. Auflage wird noch 1791 gedruckt. Auch dieses Buch bringt Stahls Lehre in deutscher Sprache einem Laienpublikum nahe. Bemerkenswert ist dann die Verbindung der Lehre Stahls mit den Anliegen religiöser Erneuerung. Bei C. F. Richter geht die stahlianische Lehre der seelischen Verursachung körperlicher »Bewegungen« — die ja bei Stahl nicht nur von somatischen, sondern auch von psychischen Prozessen herrühren — in Anleitungen zur pietistischen Seelenführung über. Die Notwendigkeit der Buße, Bekehrung und Wiedergeburt wird betont. Bei Weisbach hatte der »psychomoralische Vorbericht« dieselbe Funktion. Wichtig war es für ihn sowie für die anderen dem Pietismus nahestehenden Ärzte, den Gedanken vom Primat des Seelischen aufzugreifen, der durch die Lehre Stahls legitimiert wird: Denn gerade dieser demonstriert, wie stark der seelische Einfluß in bezug auf den Körper und auf die gesamten Prozesse der Steuerung und des >psychologischen< Empfindens ist. Das Wort »psychomoralisch«, das Weisbach wählt, zeigt an, daß diese Betonung subjektiver Steuerungsprozesse medizinischer und religiöser Art den eigentlichen Kern bildete, von dem aus eine bewußtseinsändernde Praxis empfohlen werden konnte. Und auf sie kam es an. Ein weiterer Punkt, in dem die Lehre Stahls den pietistisch überzeugten Medizinern hilfreich erschien, war ihr Heilungskonzept: Es war nicht teuer und dennoch wirksam. Die »natürliche Methode« war abwartend und beruhte auf dem im Krankheitsverlauf phasenspezifischen Einsatz von Medikamenten. 26 Mit anderen Worten: Sie kam ohne die zu dieser Zeit übliche Verwendung mehrfacher Rezepte aus. Die Prinzipien der stahlianischen Therapie gingen einher mit den gesellschaftlichen Zielen der pietistischradikalen Ärzte, nämlich den Armen gesundheitliche Betreuung zukommen zu lassen. Der Schüler Stahls, der sich auf diesem Gebiet sehr verdient gemacht hat, war Johann Samuel Carl. 2 7 Die Verzweigungen der stahlianischen Medizin bis in die Brüdergemeinschaften zu verfolgen, wäre eine 260

eigene Arbeit wert. Belegen läßt sich die langjährige Vertrautheit von Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf mit Christian Friedrich Richter und mit dem Nachfolger Stahls in Halle, Johann Juncker. 28 Es ist leicht zu sehen, worin der Reiz der Lehre Stahls für die religiösen Erneuerungsbewegungen bestand: eben in ihrer eindeutigen Betonung der Seele und ihrer Wirkungsmacht im Körper, die in diesem System unerläßlich war, sowohl in Bezug auf physiologische wie pathologische Erklärungen. (Wir kommen auf Einzelheiten dieser Theorie noch zu sprechen.) Sehr leicht ließ sich die »natürliche Methode« — so wurde Stahls Lehre umschrieben — mit der seelischen Selbstreflexion der pietistischen Wiedergeburt vereinen, wie die Bücher von Weisbach und Richter zeigen, übrigens auch ein Grund, weswegen sich Pietisten als Patienten an Stahl wandten. Außerdem konnte Stahls Lehre leichter und effektiver als andere medizinische Therapien bei den ärmeren Bevölkerungsschichten Anwendung finden. Die »natürliche Methode« war therapeutisch wirksamer und kam mit weniger Rezepten aus, wie Samuel Carl und auch andere wußten. Somit erwiesen sich die Zeilen Christian Friedrich Richters aus Halle an Baron Canstein in Berlin vom 1 1 . August 1702 über Stahl als zukunftsträchtig: [ . . . ] so ist doch gewiß, daß G o t t der H e r r durch H . Stahlen einen guten A n f a n g zur künfftigen R e f o r m a t i o n in rebus medicis gemacht, deßen wir w o h l zu genießen, und G o t t dafür zu danken h a b e n . 2 '

j . Die Theorie Stahls als medizinische

Reform

Stahls Reform der Medizin wurde im sozialen und ideellen Bereich in den Pietismus eingebettet. Aber sie entstand nicht durch diesen. Zudem wirkte sie sich auch auf andere Gebiete außerhalb der enggezogenen pietistischen Kreise aus. Schon in Jena, wo er studierte, 1684 seine Promotion abgeschlossen und bis 1687 als Extraordinarius gelehrt hatte, wußte Stahl, daß seine Erkenntnisse in >unorthodoxe< Richtungen führten. Er schrieb über diese Zeit später folgendes: Er hätte damals in Jena einige Privat Collegia gehalten, und sonderlich eines über die Pathologie. Es w a r dieses ein ziemlich kühnes Unternehmen, in dem dazumahl niemand ex Professio über die Pathologie zu lesen getrauete. 5 0

In der Tat setzten sich die medizinischen Erkenntnisse von Stahl derartig von zeitgenössischen Erklärungen in der gelehrten Medizin ab, daß er sich schon 1694 zu folgender Verteidigung gezwungen sah: Vindicias theoriae vere medicae a superfluis, alienis, falsis opinionibus et suppositionibus ex incongrua anatomicae, chymiae et physicae tractatione et applicatione prognatis, ut physiologia medica positiva, demonstrativa asseratur et stabiliatur [•••]•*' 1705 wird diese Rechtfertigung wieder aufgelegt und zwei Jahre 261

später erscheint im Waisenhaus-Verlag eine umfassende Verteidigung seiner Arbeiten: De scriptis suis ad hunc usque diem schediasmatibus, vindiciae quaedam, et indicia. Ein Jahr später, ebenfalls im Waisenhaus-Verlag, folgt die etwa 1500 Seiten lange komplette Ausarbeitung seiner medizinischen Lehre, die Theoria medica vera. Charakteristikum seiner Lehre ist ihr innerer Zusammenhang: Die observationes clinicae führen auf die Prinzipien der Theoria medica hin, und umgekehrt ermöglicht die Kenntnis dieser Theorie den kundigen therapeutischen Eingriff, denn Stahls Pathologie erweist sich als systembezogen. Stahl liebte eine naturwissenschaftliche Empirie, die sich auf isolierte Erkenntnisse beschränkte, nicht. Diese führe den Entdecker meistens auf Irrwege. 32 Außerdem kam es Stahl, wie er es des öfteren betonte, nicht auf eine Theorie per se an. Wie Spener und Francke verabscheute er eine Rhetorik und eine Metaphysik (sprich Philosophie), deren Basis Begriffs wucher und Selbstzierde zu sein schienen. Stahl schrieb: Denn nach dem man von den alten einfältigen Redens=Arten abgegangen, und sich in die oratorischen Flosculos und Rhetorischen Topos und Figuren verliebet, so ist man auch in der Medicin auf die Thorheit verfallen, daß man alles mit schönen Worten vorbringen und die Sachen mit netten Redens=Arten ausschmücken wollen [...]. 3 3

A . H. Francke sagte dasselbe, wenn auch etwas knapper, im Großen Aufsatz, bei der Verteidigung von Joachim Langes Medicina mentis, als er schrieb, daß dieser die Philosophie befreie »von unzehligen unützen Grillen und abgeschmackten quaestionibus logicis et metaphysicis«. 34 Stahl betrachtete seine Theorie als stringentes Ergebnis vieljähriger intensiver Beobachtung aus seiner ausgedehnten Praxis. Innerlich stand er der Auffassung nahe, die auch der Pietismus einnahm, daß die Wahrheit >einfach< sei. Dem modischen Herrn Longolius schreibt er als Mahnung bei der Zulassung zu seinem Hauptseminar den Vers 30, Eccl. 7 ins Stammbuch: Gott hat den Menschen einfältig gemacht, sie aber suchen viel Künste. 35

Diese Ablehnung des Modischen, wozu in dieser Zeit zunehmend das >galante Philosophieren< gehörte, bleibt ein Merkmal der Stahlianischen Werke. Das paßt sehr gut zu dem Diktum der >EinfaltModernebürgerlichen Geistess sondern eine tief empfundene Verpflichtung gegenüber dem >Wahrenaufzuklären< — neue Denkweisen als Zeichen eines neuen Zeitalters zu initiieren — abgetrennt und daher auch angefochten. In de scriptis suis [...] versucht er — in einer zusammenfassenden Vorwegnahme der Theoria medica vera — seinen Standpunkt nach allen Seiten hin klarzustellen. Seine medizinischen Erkenntnisse kehren sich auch gegen die >modernen< Trends. 42 Stahls Erkenntnisse unterscheiden sich, wie gesagt, beträchtlich von den medizinischen Lehren seiner Zeitgenossen. Am deutlichsten wird dies an Hand der Rezeption des von William Harvey entdeckten Blutkreislaufes. Harveys Entdeckung entstammte der anatomischen Einsicht, daß es Herzklappen gibt, die den Rückfluß des Blutes ins Herz verhinderten, und daß somit ein Kreislauf (über die Arterien und zurück über die Venen) vorhanden sein mußte. Dieser Erkenntnis nachgehend, erkannte er die Funktion der Herzkammern und —klappen. Ohne nun weiter auf Harveys Darstellung des Blutkreislaufs einzugehen, soll festgehalten werden, daß er die Medizin in eine bestimmte Richtung wies — das »mechanische Modell« wurde bevorzugt und die Vorstellung vom Herzen als »Pumpe« maßgebend. In diesem Zusammenhang erfuhr die Anatomie eine erhebliche Aufwertung, sie wurde zum Schlüssel medizinischer Erkenntnisse. Andere Theorien der Zeit wichen nicht weit vom »mechanischen« Modell ab, obwohl sie andere Vorgänge im Körper zur Grundlage nahmen. So zum Beispiel die Chemiatrie oder die Fermentationslehre.43 Ihre relativ einfache Rückführung körperlicher Prozesse auf monokausale Auslöser zeigt sich bei der Fieberlehre: Die Erklärung konzentriert sich auf die Erscheinung von >Hitze< und ihrer >chemischen< oder >mechanischen< Erzeugung im als >Uhrwerk< aufgefaßten Körper, nicht auf den Erkrankungsprozeß an sich. Stahl weicht in seiner Fieberlehre schon erheblich von seinen Kollegen ab: Fieberzustände sind primär >Bewegungenseelischer< Werte war. Denn diese >Philopsophie< propagierte mit Nachdruck die Trennung von Leib und See265

le sowie die Institutionalisierung einer sehr >gelehrtenKognitionen< Affekte, Vorstellungen, vernünftige Einsichten, willensmäßige Entschlüsse und >sinnliche Wahrnehmungenlogischen< Grundmodells körperlicher Funktionen — im Sinne des >more geometrico< und daher auch der aufklärerischen Vernunft< — gegen die Entwicklung eines für ihn >wahren< Modells ab, das vor allem der Einsicht Rechnung tragen sollte, bei der Leib-Seele-Einheit handele es sich um ein feingesponnenes Zusammenspiel unterschiedlicher Funktionen aus dem affektiven wie dem körperlich-wahrnehmungsmäßigen Bereich. Dies wäre eine >Logikpsychischer Vermögens bei denen ganz oben die Vernunft steht, wird von Stahl nicht geteilt. Vielmehr betont er die Vielschichtigkeit kognitiver Fähigkeiten, die nicht nur >körperliche< Reaktionen hervorrufen, sondern auch den ganzen Wahrnehmungsbereich der Seele beeinflussen. In Anlehnung an die Temperamentenlehre hat Stahl versucht, eine körperlich-seelische Typologie zu entwickeln. Er behält die alte Schematisierung bei, unterlegt sie aber mit einer Typologisierung des motus tonicus Vitalis.54 Dies bedeutet den Beginn einer >psychologischen< Lehre, dessen Merkmal prinzipiell den somatischen Bezug voraussetzte. Dem motus tonicus Vitalis lag eine seelische >Kognition< zugrunde. Die Seele kann die Beschaffenheit der Materie beeinflussen, weil der ganze Organismus sich nach dem intellectus et voluntas (der Seele) ausrichte. Derselbe Gedanke lag auch der Dissertation zugrunde, die Johann Jakob Reich 1695 in Halle verteidigte: Uber den mannigfaltigen Einfluß der Gemüthsbewegungen auf den menschlichen Körper.5S Diese Arbeit führt den Gedanken der seelischen Steuerung körperlicher Prozesse im Rahmen der Temperamen2 66

tenlehre zum ersten mal aus. Die »Gemütsbewegungen« werden als maßgebliche Wirkursachen physiologischer und pathologischer Umwandlungen anerkannt. Damit ist in der Frühaufklärung ein medizintheoretischer Ansatz gefunden, der einer psychologischen Lehre und nicht einer Vernunftslehre den Vorzug gibt. Das hat für den Zeitraum nach 1695 keine geringe Wirkung, wie es die Bezugnahme von Christian Thomasius auf die Ideen Stahls beweist.

y Stahl, Christian Thomasius und die Psychologie der Früh aufklär ung Nachdem Thomasius von Leipzig nach Halle übergewechselt war, widmete er sich in den darauffolgenden Jahren zunehmend dem Thema der >SittenlehreSittenlehre< wurde hier nicht ein Buch vorwiegend ethischen Inhalts verstanden — ganz im Gegenteil: Thomasius beschäftigte sich mit der Affektenlehre, das heißt mit dem Problem der Leib-Seele-Einheit und den Sinneswahrnehmungen. Bemerkenswert sind hier drei Tatsachen: Erstens stellt sich die >Sittenlehre< als >psychologisches< Problem dar, d.h. die Empfindung eines Affektes — z.B. der Liebe — wird als >Beweggrund< echter Sittlichkeit herausgestellt. Nicht die Moral, sondern die Seele steht im Mittelpunkt. Zweitens: Obwohl Thomasius cartesianische Erklärungen des Leib-Seele-Zusammenhangs seiner Diskussion zugrundelegt, weicht er in zwei für uns wesentlichen Punkten davon ab. Thomasius ändert zum einen die Beurteilung der Affekte als >Leidenschaften< ab, er sieht in ihnen keine vom Verstand >erlittenen< Beeinflussungen, und er wertet sie im Zusammenhang mit der aktiven Rolle des Willens als die Basis des >Handelns< auf. 57 Nicht der Verstand, sondern die affektive >Psychologie< bestimmt den Menschen, dieser ist aber auch der >KorruptabilitätNaturmystikokkulte< Vorgeschichte zu Franz Anton Mesmer«. In: H E I N Z SCHOTT (Hrsg.): Franz Anton Mesmer und die Geschichte des Mesmerismus. Stuttgart 1985. 4. Das ist eine These von mir, die sich in der Medizin bei Johann Conrad Dippel und der Schule von Stahl erläutern ließe. Dippel wird als Frühaufklärer gesehen bei: W I L HELM BENDER: Johann Konrad Dippel. Der Freigeist aus dem Pietismus. Bonn 1882.

269

j. Zur Bedeutung der medizinischen Lehre Stahls für die Dichtung der Aufklärungszeit siehe besonders: WOLFRAM MAUSER: »Glückseligkeit und Melancholie in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts« (erscheint demnächst in einem Sammelband über Melancholie). JOHANNA G E Y E R - K O R D E S C H : Die Psychologie des moralischen Handelns. Psychologie, Medizin und Dramentheorie hei G. E. Lessing, Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai. Ph. D. Dissertation, University of Massachusetts, Amherst 1977. 6. HANS BLUMENBERG: Säkularisierung

und Selbstbehauptung.

Frankfurt a.M.

1974· 7. K E I T H THOMAS: Religion I

and the Decline

of Magic.

Harmondsworth 1973

1

0 97 )· 8. Archiv der Francke'schen Stiftungen, C 65a, 1 — 2 (Ein Brief vom 21. Jan. 1692 aus Halberstadt an Francke): Gratulation zur Berufung als Professor und Pastor in Halle (Glaucha). Hoffmann schreibt, Halle hätte eine Reformation nötig. Der Brief hat eine starke pietistische Färbung. Ein zweiter Brief vom 17. Okt. 1697 gratuliert zur Errichtung der Waisenanstalt. 9. F R I E D R I C H HOFFMANN: Unlängst gestelltes Teutsches Judicium linburgischen Magd Magdalenen an Hn. Sprögeln. Quedlinburg 1692.

von der

Qued-

10. Tagebuch Α . Η . Francke, 1691—92. In: GUSTAV K R A M E R : Beiträge zur Geschichte August Hermann Franches. Halle 1861, S. 155. Die Predigt in der AugustinerKirche zu Gotha, nach der Stahl mit Francke sprach, fand vermutlich am 1 1 . / 1 8 . Oktober 1691 statt. Den Hinweis verdanke ich Prof. Dr. Friedrich de Boor. 1 1 . JOHANN JUST VON EINEM: Das Erbauliche Leben des christlichen Herr Caspar Johann Weidenheims [sie.]. Magdeburg 1734, S. 33. 12.

Leichenpredigt von C H R I S T I A N

Theologen

SCRIVER.

13. G E R T R U D SCHUBART-FIKENTSCHER: Unbekannter Thomasius. Weimar 1954. — H A R A L D HERRMANN: Das Verhältnis von Recht und Pietistischer Theologie bei Christian Thomasius. Diss. jur. Kiel 1971. 14. PAUL G R Ü N B E R G : Philipp Jacob Spener. 3 Bde. Göttingen 1893 — 1906, Bd. I, S. 236. 15. AUGUST N E B E : »Thomasius in seinem Verhältnis zu Α . Η. Francke«. In: MAX FLEISCHMANN (Hrsg.): Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk. Halle 1 9 3 1 , S. 3 8 6 - 8 7 . 16. »Vita Johannes Daniel Göhl«. Archiv der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Halle), Matrikel-Mappe N r . 364. 17. Universitätsarchiv Halle, Rep. 3, N r . 503; Stahl war einer der vier Verwalter der Freytische von 1704 bis zu seiner Ubersiedlung nach Berlin 1716. Sein Nachfolger in diesem Amt war Michael Alberti (nicht Friedrich Hoffmann!), der den Pietisten sehr nahe stand. 18. CHRISTIAN WILHELM KESTNER: Medicinisches Gelehrten-Lexicon 1740, S. 807. 19. ECKHARD ALTMANN: Christian Friedrich Richter (1676 — ¡ya). ker und Liedermacher des Halleschen Pietismus. Witten 1972.

270

[•••]• Jena

Arzt,

Apothe-

20. G E O R G ERNST S T A H L : [ . . . ] Dissertationes

medicae [...].

2 Bde. (Hrsg.: M I -

C H A E L A L B E R T I ) . H a l l e 1 7 0 7 - 1 7 1 2 ; G E O R G E R N S T S T A H L : Theoria

medica

vera,

physiologiam et pathologiam, tanquam doctrinae medicae partes vere contemplativas, naturae artis veris fundamentis intaminata ratione et inconcussa experientia sistens. Editio altera correctior et indice locupletare praedita [...] D . J O A N . J U N C K E R I . Halle 1 7 3 7 (Ί708). 2 1 . Siehe z . B . : J O H N A L L E N : Kurzer Begriff der gantzen medizinischen Praxis, das ist: der gelehrtesten Männer voriger und jetziger Zeit, gründliche Meinungen von denen Kranckheiten des menschlichen Leibes, ihren Ursachen und Hilfsmitteln. Budissin und Görlitz 1726, Vorrede, S. 29. 22. C H R I S T I A N W E I S B A C H : Wahrhaffte und gründliche Cur aller dem menschlichen Leihe zustossenden Kranckheiten, nach der vernünfftigen [...] Methode der Natur sammt einen physicomoralischen Vorbericht von dem menschlichen Leibe und der darin wirckenden Seele [...]. Straßburg 1 7 1 2 , Vorbericht, S. 1. 23. Z u den Auflagen siehe: ALTMANN, Christian Friedrich Richter (Anm. 19), S. 2 1 7 . 24. Siehe dazu: A L T M A N N , ebd., S. 41 ff. 25. Archiv der Francke'schen Stiftungen, Halle, C 285 — 25 (Brief vom 23. Mai 1702). Vgl. dazu auch: A L T M A N N , Christian Friedrich Richter (Anm. 19), S. 2 i 4 f f . (»Die Schriften von C . F. Richter«), 26. Siehe dazu und zur Therapiepraxis anderer medizinischer Lehren: JOHANNA G E Y E R - K O R D E S C H : »Fevers and other Fundamentals: Dutch and German medical explanations c. 1680 to 1730«. In: W . F . BYNUM and V . N U T T O N (Hrsg.): Theories of Fever from Antiquity to the Enlightenment. London 1981. 27. J O H A N N SAMUEL C A R L : Medicina Pauperum oder Armen Apotheke, kürzlich und einfältig mitgetheilet. Büdingen 1 7 2 1 ; D E R S . : Decorum Medici, von denen Machiavellischen Thorheiten gereiniget, Und nach dem Maaß-Stab des Christenthums eingerichtet, mir und meinen Auditoribus zum Unterricht. Büdingen 1 7 1 9 . Siehe auch: C H R I S T A H A B R I C H : »Therapeutische Grundsätze pietistischer Arzte des 18. Jahrhunderts«. In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie 31 (1982), S. 1 2 1 —123, und ihre demnächst erscheinende Habilitationsschrift über Johann Samuel Carl. 28. HANS S C H N E I D E R : »>Die Rechte Gestalt der Wölffe in der Kirche 6z > 76, 79» 8 7 Rassem, Mohamed 253 Rauch, Christian Daniel 275 Reckert, Karl Christian 2 1 2 Reich, Johann Jakob 266, 268, 273 Reichel, Jörn 203 Reill, Peter Hanns 88 Reimarus, Hermann Samuel 159,161, 168, 173 Reinbeck, Johann Gustav 158, 161 Reiser, Anton 192 Reiß, Gunter 208 Rengstorf, Karl Heinrich 9, 54, 63 Reusch, Johann Peter 1 3 1 Rhetz, Johann Friedrich 244 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Herzog von 193 Richter, Christian Friedrich 259, 260, 261, 272 Rietzschel, Evi 208 Rilke, Rainer Maria 201, 208 Ritsehl, Albrecht 58, 59, 62 Ritter, Joachim 219,236 Ritterhoff, Claus 12 Rittmeier, Christoph Heinrich [?] £58 Rohr, Bernhard Julius von 110 Roi, Johann Friedrich Alexander de le siehe Leroi Rössler, Emil F. 88 Rotermund, Hans-Martin 140, 237 Rousseau, Jean-Jacques 102 R o y , Georges le siehe Le Roy Ruarus, Martin 61 Rüdiger, Andreas 151

i07f., 1 1 0 , 1 3 1 , 150,

134. I 3i» 1 5 3 x 5 4 Schenk, Günter 147 Schicketanz, Peter 53 Schiller, Friedrich von 200, 201, 208, 2 n , 232 Schilling, Wenzel 141 Schinkel, Karl Friedrich 275 Schlaffer, Heinz 232 Schlegel, Johann Elias 187 Schloemann, Martin 85, 88, 89 Schlözer, August Ludwig 14, 79 Schmalenberg, Gerhard 234 Schmidt, Horst-Michael 233 Schmidt, Johann Lorenz 88, 129, 1 6 1 , 163, 164, 165, 167, 175 Schmidt, Martin 88 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 85, 87 Schmitt, Wolfgang 203, 236 Schmittner, Wolfgang 89 Schmucker, Joseph 152 Schneider, Ferdinand Josef 232 Schneider, Hans 207, 271 Schneiders, Werner 13, 1 1 0 , 155, 174, 175, 176, 233, 236, 253 Scholder, Klaus 89 Schönaich, Christoph Otto von 222, 235 Schott, Heinz 269 Schräder, Christoph [?] 258 Schräder, Wilhelm 136, 252, 269 Schröder, Kurt 142, 146, 148 Schröter, Manfred 153 Schubart-Fikentscher, Gertrud 60, 252, 270 Schüddekopf, Karl 217, 234 Schumann, Friedrich Karl 64 Schürmann, August 203 Schwab, Johann Christoph 175 287

Schweizer, Hans Rudolf 236 Schwentzel, Johann Ulrich 87 Scriver, Christian 258, 270 Seckendorff, Veit Ludwig von 193 Seifert, Arno 253 Seitz, Anton von 151 Sellin, Ernst 176 Semler, Johann Salomo 77, 79, 81, 82, 83, 84, 87, 88, 89, 167 Seneca, Lucius Annaeus 74 Serre, de la 175 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3 rd Earl of 83 Siegfried, Carl 59 Silentes siehe Weisbach, Christian Sokrates 172 Sozzini, Fausto 62 Spalding, Georg Ludwig 10 Spalding, Johann Joachim 83 Spangenberg, August Gottlieb 271 Spangenberg, Cyriakus 76 Spam, Walter 86, 88, 89, 141 Spener, Philipp Jakob 1 8 , 2 1 , 3 3 , 4 0 , 53, 73, 76, 83, 1 1 4 , 139, 186, 1 9 1 , 195,205, 22

9>

2

57>

2

58>

2

S9>

2 6 2

Spinoza, Baruch (Benedictus) de 75, 1 1 3 , 1 1 7 - 120, 123, 125, 129, 134, 135, 143, 145, i46f., 148, 154, 155, 162, 163, 167, 169, 170 Spittler, Ludwig Timotheus 79, 88 Sporleder, Johann Christian Heinrich 67, 68 Sprögel, Johann Heinrich 257 Stade, Bernhard 59 Stagi, Justin 253 Stahl, Georg Ernst 128, 255 — 274 Steffen, Hans 232 Steinecke, Helmut 208 Stiebritz, Johann Friedrich 1 3 1 , 149, 159 Stintzing, Roderich 252 Stolle, Gottlieb 110 Stolleis, Michael 252 Stolzenburg, Arnold F. 85, 87, 88 Stosch, Samuel Johann Ernst 148 Strähler, Daniel 1 1 2 , 137, 149 Strauß, David Friedrich 176, 201 Struve, Georg Adam 242 288

Stryk(ius), Samuel 2

7

92, 242, 244f., 252,

2

Stuke, Horst

2 1 3 , 2 3 1 , 233, 238

Sturm, Johann Christoph Tauler, Johannes Taurellus, Nikolaus

72

139 140

Teller, Wilhelm Abraham

1 1 , 13, 167

Terenz, Publius Terentius A f e r 204 Tertullian, Quintus Septimius Florens Tertullianus 196, 197 Thaler, Burchard 147 Tholuck, Friedrich August 59, 88 Thomann, Marcel 136 Thomas von Aquin 95, 126, 129, 145 Thomas, Keith 270 Thomasius, Christian 9, 10, 40, 41 — 43, 48, 60, 61, 67, 7 1 , 72, 75, 91 - 1 1 0 , 1 1 3 , 1 1 4 , 1 1 5 , 1 3 1 , 139, 1 4 1 , 150, 163, 184, 2 4 3 - 2 4 8 , 249, 250, 251, 253, 256, 257, 258, 2 6 7 - 2 6 9 , 272, 273, 274 Thomasius, Jakob 40, 91, 258 Thümmig, Ludwig Philipp 108, 1 1 2 , 1 3 1 , 137, 149, 160 Thunmann, Hans Erich 12, 13 Tieck, Ludwig 200 Tindal, Matthew 162, 175 Tonelli, Giorgio 150, 1 5 1 Tournemine, René-Joseph de 128 Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von Tubies, Helga 110 Ueberweg, Friedrich 157,174 Uhlig, Siegbert 52 Ulau, Gottfried Heinrich 273 Unzer, Johann August 274 U z , Johann Peter 212,215-218 Varenne, Maton de la 175 Vendôme, Philippe de 232 Verra, Valerio 153, 154 Verweyen, Theodor 233 Vierhaus, Rudolf 88 Vockerodt, Gottfried 185, 192— 199, 2o6f., 207, 208, 237 Vogel, Georg Johannes Ludwig Völker, Arina 13

62

113

Voltaire, François-Marie Arouet, gen. 2 i o f . , 232 Voss, Karl-Ludwig 272 Vossius, Gerhard Johann 72 Voßkamp, Wilhelm 2 3 7 f . Wächter, Johann Georg

148

Wackenroder, Wilhelm Heinrich 200, 208 Wade, Ira O .

175

Wahnrau, Gerhard

204

Walch, Christian Wilhelm Franz Walch, Johann Georg Weber, Max

74, 75, 78, 86, 87 Zedier, Johann Heinrich 138 Zedlitz, Karl Abraham Freiherr von

228 f., 237

Webster, Charles Webster, John

79

269

268, 274

Weidenheyn, Johann Caspar Weisbach, Christian

Windisch, Hans 63 Winter, Alois 151 f., 152 Wizenmann, Thomas 15 5 Wolff, Christian Freiherr von 9, 10, 1 1 , 4 1 , 6 0 , 6 8 , 7 1 , 9 3 , 107, 108, 1 1 1 - 1 5 5 , 157, 158, 1 5 9 - 1 6 1 , 162, 163, 164, 169, 170, 220f., 235, 247, 266, 269, 273 Wundt, Max 85, 88, 1 i 2 f . , 1 1 6 , 133, i}6(., 138, 142, 143, 145, 150, 153 Wurm, Theophil 63 Würthwein, Ernst 56, 59 Wuttke, Heinrich 136, 137

258

259^, 261, 268, 2 7 1 ,

274 Weischedel, Wilhelm 232 Weise, Christian 98 Weiße, Christian Felix 2 1 2 Werdenhagen, Johann Andreas 141 Werner, Hans-Georg 204 Wesenberg, Gerhard 252 Wessel, Leonhard P. jun. 174 Wetzel, Klaus 86 Wieacker, Franz 252 Wieland, Christoph Martin 183, 187, 199 Winckler, Johann Heinrich 131,149 Windheim, Christian Ernst von 6 i f .

10, 12, 14, 159 Zeit, Leo 13 Zeller, Eduard 1 1 2 , 136, 138 Zeller, Winfried 207 Zeman, Herbert 232, 236 Ziegler, Caspar 242, 244 Zimmermann, Rolf Christian 203, 269 Zinzendorf (und Pottendorf), Charlotte Justine siehe Gersdorf, Charlotte Justine Zinzendorf (und Pottendorf), Nikolaus Ludwig Reichsgraf von 76, 197, 259, 261 Zöckler, Otto 61 f. Zunnern, Johann David

206

289

ANSCHRIFTEN

DER

MITARBEITER

Prof. D r . Bruno Bianco, Via dell' Università ι ι , I 34123 Trieste Prof. Dr. Günter Gawlick, Wacholderstraße zi,

5810 Witten-Bommern

Dr. Johanna Geyer-Kordesch, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Theorie und Geschichte der Medizin, Waldeyerstraße 27, 4400 Münster Prof. D r . N o t k e r Hammerstein, Promenade 109, 6380 Bad H o m b u r g v . d . H . Prof. D r . N o r b e r t Hinske, Im Wiesengrund 25, 5500 Trier-Tarforst Prof. D r . Wolfgang Martens, Nockstraße 1 5 , 8 1 1 0 Murnau Prof. D . D r . Karl Heinrich Rengstorf D . D . D . D . , Melchersstraße 23, 4400 Münster Prof. D r . Werner Schneiders, Mautweg 7, 4543 Lienen Prof. D r . Walter Sparn, Birkig 24, 8581 Goldkronach Prof. D r . Theodor Verweyen, Universität Erlangen-Nürnberg, Institut f ü r Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Bismarckstraße 1, Haus B , 8520 Erlangen

291

Wir danken der Z E N T R A L E N K U S T O D I E DER M A R T I N L U T H E R - U N I V E R S I T Ä T H A L L E - W I T T E N B E R G und der HERZ O G - A U G U S T - B I B L I O T H E K , W O L F E N B Ü T T E L , dafür, daß sie Vorlagen für die Abbildungen dieses Bandes zur Verfügung gestellt haben.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zentren der Aufklärung / [hrsg. von d. Lessing-Akad.]. — Heidelberg : Schneider. N E : Lessing-Akademie

ι. Halle : Aufklärung und Pietismus / hrsg. von Norbert Hinske. [Texterfassung u. -bearb.: Lessing-Akad. Wolfenbüttel]. — ι. Aufl. — 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung ; Bd. 15) ISBN 3 - 7 9 5 3 - 0 7 3 3 - 3 N E : Hinske, Norbert [Hrsg.]; G T

LESSING-AKADEMIE

WOLFENBÜTTELER

S

X

U

D

J

E

N

ZUR AUFKLÄRUNG HEIDELBERG

1

VERLAG

LAMBERT

SCHNEIDER

[Zur Sozialgeschichte der Literatur und Philosophie im Zeitalter der Aufklärung] Herausgegeben von

GÜNTER SCHULZ.

1974. 340

S.,

mit 5 A b b .

I n h a l t : I. Aufsätze: HERMANN LOBBE: Traditionsverlust und Fortschrittskrise. Sozialer Wandel als Orientierungsproblem.

-

JÜRGEN FREIHERR VON STACKELBERG:

Moralistik und Aufklärung in Frankreich. - GERHARD ALEXANDER: Das Verständnis des Menschen bei Hermann Samuel Reimarus. - HERBERT G. GÖPFERT: Bemerkungen über Buchhändler und Buchhandel zur Zeit der Aufklärung in Deutschland. - WOLFGANG MARTENS: D i e G e b u r t des Journalisten in der A u f k l ä r u n g . - PAUL RAABE: D i e

Zeitschrift als Medium der Aufklärung. - WERNER SCHÜTZ: Die Kanzel als Katheder der Aufklärung. - Zwi BATSCHA: Ludwig Heinrich Jakobs frühbürgerliches Widerstandsrecht. II. Quellen: VIKTOR LINK: Geschichte in der Literatur: Drei Darstellungen der Schlacht von Minden und Herzog Ferdinands von Braunschweig und Wolfenbüttel in englischen Romanen des 18. Jahrhunderts. - GÜNTER SCHULZ: Christian Garve im Briefwechsel mit Friedrich Nicolai und Elisa von der Recke. ANNALISA VIVIANI: Christian Garve-Bibliographie.

III. Aus der

GÜNTER SCHULZ: M a x Plaut z u m G e d ä c h t n i s . - GÜNTER SCHULZ:

Lessing-Akademie: Arbeitsbericht

über die Jahre 1971-1973.

2

[Zur Lessing-Forschung] Herausgegeben von similes.

GÜNTER SCHULZ.

1975. 342

S.,

mit 1 A b b . und 3 Fak-

I n h a l t : I. Aufsätze: KARLS. GUTHKE: Grundlagen der Lessingforschung. Neuere Ergebnisse, Probleme, Aufgaben. - FRANKLIN KOPITZSCH: Lessing und Hamburg. Aspekte und Aufgaben der Forschung. - GERHART SCHMIDT: Der Begriff der Toleranz im Hinblick auf Lessing. - JOHANNES SCHNEIDER: Lessings Frage nach der Erkenntnismöglichkeit der Religion. - PETER MICHELSEN: Der Kritiker des Details. Lessing in den »Briefen die Neueste Literatur betreffend«. - INGRID STROHSCHNEIDER-KOHRS: Die überwundene Komödiantin in Lessings Lustspiel. - MARTIN BOGHARDT: Z u r Textgestalt der »Minna von Barnhelm«. - GÜNTER SCHULZ: D e r

Familienstreit nach Lessings Tod. - DIETRICH HOFFMANN: Lessing im Gespräch mit Naturforschern. - JÜRGEN KLEIN: Ethik und Politik bei Edmund Burke. II. Miszellen: URSULA SCHULZ: Karl Ludwig Klöber, der »reisende Engländer«. - WOLFGANG MILDE: Das genaue Datum des Briefes von Lessing an Johann Joachim

293

Eschenburg L M

17, Nr.

334. -

ANNALISA VIVIANI: C h r i s t i a n

Garve-Bibliographie.

Nachträge. -PAULRAABE: Die Weimarer Lessing-Bibliographie.

[Die Frau im 18. Jahrhundert und andere Aufsätze zur Geschichte der Erziehung und Bildung] Herausgegeben von GÜNTER SCHULZ, I976. 420 S . , mit 4 A b b . I n h a l t : MARION BEAUJEAN: Das Bild des Frauenzimmers im Roman des 18. Jahrhunderts. - REINHARD M. G . NICKISCH: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der deutschen Aufklärung. - 1 1 Briefe von Heinrich Christian Boie und Luise Mejer an Sophie La Roche ( 1 7 7 9 - 1 7 8 8 ) . Mitgeteilt von URSULA SCHULZ. - ULRICH HERRMANN: Erziehung und Schulunterricht für Mädchen im 18. Jahrhundert. GOTTHARDT FROHSORGE: Die Einheit aller Geschäfte. Tradition und Veränderung des »Hausmutter«-Bildes in der deutschen Ökonomieliteratur des 18. Jahrhunderts. GÜNTER SCHULZ: Elisa v. d. Recke, die Freundin Friedrich Nicolais. - EVA HORVATH: Die Frau im gesellschaftlichen Leben Hamburgs: Meta Klopstock, Eva König, Elise Reimarus. - KARL HEINRICH RENGSTORF: Der Wandsbecker Bote. Matthias Claudius als Anwalt der Humanität. - HANS-ALBRECHT KOCH: Matthias Claudius und die Kinder. Mit einem Anhang: Unbekannte Briefe von Matthias Claudius. GÜNTER SCHULZ: Carl Friedrich Pockels und die Erziehung in der frühen Kindheit. - FRANKLIN KOPITZSCH: Lessing und Hamburg. Aspekte und Aufgaben der Forschung. (Fortsetzung). - ROLAND MORTIER: Rhétorique et Discours scientifique dans »Le Rêve de d'Alembert«. - SIEGFRIED JÜTTNER: Das experimentelle Theater v o n M a r i v a u x . - PETER B Ü R G E R / G E R H A R D LEITHÄUSER: D i e T h e o r i e d e r

Physiokra-

ten. Zum Problem der gesellschaftlichen Funktion wissenschaftlicher Theorien. EDGAR MASS: Zur Professionalisierung der Literatur in der Aufklärung. Montesquieu und die Leser des »Esprit des Lois«.

Judentum im Zeitalter der Aufklärung Günter Schulz zum 70. Geburtstag. Herausgegeben vom Vorstand der Lessing-Akademie. 1 9 7 7 . 407 S. Inhalt:

K A R L HEINRICH RENGSTORF: J u d e n t u m

im Zeitalter der A u f k l ä r u n g .

Ge-

schichtliche Voraussetzungen und einige zentrale Probleme. - RUDOLF VIERHAUS: Zur historischen Deutung der Aufklärung: Probleme und Perspektiven. - JACOB TOURY: Toleranz und Judenrecht in der öffentlichen Meinung vor 1783. - JULIUS Η . SCHOEPS: A u f k l ä r u n g , J u d e n t u m u n d E m a n z i p a t i o n . - L U D W I G B O R I N S K I :

Anti-

judaistische Phänomene der Aufklärung. - FRIEDRICH NIEWOHNER: »Primat der Ethik« oder »erkenntnistheoretische Begründung der Ethik«? Thesen zur KantRezeption in der jüdischen Philosophie. - FRIEDER LOTZSCH: Moses Mendelssohn und Immanuel Kant im Gespräch über die Aufklärung. - GERHARD ALEXANDER: Moses Mendelssohn und Hermann Samuel Reimarus. - GRETE KLINGENSTEIN: Sonnenfels als Patriot. - KARL S. GUTHKE: Lessing und das Judentum. Rezeption. Dramatik und Kritik. Krypto-Spinozismus. - MICHAEL GRAETZ: »Die Erziehung des Menschengeschlechts« und jüdisches Selbstbewußtsein im 19. Jahrhundert. GUNTER SCHOLTZ: Friedrich Schleiermacher über das Sendschreiben jüdischer Haus-

väter. - Schrifttum über Salomon Maimón. Eine Bibliographie mit Anmerkungen von N O A H J . JACOBS, ü b e r s e t z t v o n G E R D LEISERSOHN. -

DAVID DAVIDOVITCH:

Italieni-

sche Synagogen in Israel.

Geheime Gesellschaften Herausgegeben

u n d eingeleitet v o n

PETER CHRISTIAN L U D Z .

1979.

462

I n h a l t : PETER CHRISTIAN LUDZ: Z u r E i n f ü h r u n g und zum Forschungsstand.

S.

I. Zur

Problematik der Erforschung der Beziehungen von Freimaurerei und geheimen Gesellschaften: FRITZ BOLLE: Forscher und Freimaurer. Über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Freimaurerei. - HANS-HEINRICH SOLF: Die

Funktion der Geheimhaltung in der Freimaurerei. - JACOB KATZ: Echte und imaginäre Beziehungen zwischen Freimaurerei und Judentum. II. Zur theoretischen Bestimmung politischer Geheimbünde des 18. Jahrhunderts: EBERHARD SCHMITT: Elemente einer Theorie der politischen Konspiration im 18. Jahrhundert. - PETER CHRISTIAN LUDZ: Überlegungen zu einer soziologischen Analyse geheimer Gesellschaften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. - MANFRED AGETHEN: Mittelalterlicher Sektentypus und Illuminatenideologie. Ein Versuch zur geistesgeschichtlich-soziologischen Einordnung des Illuminatenbundes. III. Geheimgesellschaften zwischen Gegenaufklarung und radikalisierter Aufklärung: HORST MOLLER: Die Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft. - NORBERT SCHINDLER: Aufklärung und Geheimnis im Illuminatenorden. -

ordens.

ERNST-OTTO FEHN: Z u r Wiederentdeckung des Illuminaten-

IV. Freimaurerei und Geheimbünde

im Spiegel der Literatur: ROSEMARIE

NICOLAI-HAAS: D i e A n f ä n g e des deutschen G e h e i m b u n d r o m a n s . - PETER MICHEL-

SEN: Die »wahren Taten« der Freimaurer. Lessings »Ernst und Falk«. - WOLFGANG MARTENS: Geheimnis und Logenwesen als Elemente des Betrugs in Goethes Lustspiel »Der Großcophta«. - HANS GRASSL: Tragende Ideen der illuminatistischjakobinischen Propaganda und ihre Nachwirkungen in der deutschen Literatur. V. Zum Struktur- und Funktionswandel geheimer politischer Organisationen in Deutschland: ERNST-OTTO FEHN : Knigges »Manifest«. Geheimbundpläne im Zeichen der Französischen Revolution. - OTTO DANN: Geheime Organisierung und politisches Engagement im deutschen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts. Der Tugendbund-Streit in Preußen. - JOHANNES ROGALLA VON BIEBERSTEIN: G e h e i m e G e -

sellschaften als Vorläufer politischer Parteien.

Ludwig Hammermayer: Der Wilhelmsbader Freimaurer· Konvent von 1782 Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte europäischen Geheimgesellschaften. 1980. 244 S.

der

deutschen

und

»Nicht nur der umfassende wissenschaftliche Apparat, sondern auch [ . . . ] , daß der Verfasser [ . . . ] die Vorgänge objektiv sieht [ . . . ] , gibt dem Werk seinen ganz besonderen Wert. (Es wird) vieles klarer und verständlicher, was bis in die Gegenwart hineinwirkt.« (Zirkelkorrespondenz, Jg. 109/1981)

295

Aufklärung und Humanismus Herausgegeben von RICHARD TOELLNER. 1980. 264 S. I n h a l t : RICHARD TOELLNER: Z u r E i n f ü h r u n g . - ELISABETH K Ö R N E R : D a s R e n a i s -

sancebild der Aufklärung. - JÜRGEN VON STACKELBERG: Die »Querelle des Anciens et des Modernes«. Neue Überlegungen zu einer alten Auseinandersetzung. - HORST GÜNTHER: Rückgriffe der Aufklärung auf Geschichtstheorien des Humanismus. NOTKER HAMMERSTEIN: Reichspublicistik und humanistische Tradition. - ULRICH

SCHINDEL: Die Rezeption Sallusts in Deutschland in Humanismus und Aufklärung. BERNHARD FABIAN: Lukrez in England im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. AUGUST BUCK: Diderot und die Antike. - SEM DRESDEN: Erasmianische Humanitas und aufklärerische Humanität. - HELMUT GÖBEL: Lessing und Cardano. Ein Beitrag zu Lessings Renaissance-Rezeption. - HENNING GRAF REVENTLOW: Grundsätze der

Bibelauslegung bei Desiderius Erasmus und Thomas Chubb. - JOHANNES WALLMANN: Johann Salomo Semler und der Humanismus. - SVEN-AAGE JORGENSEN: Hamanns hermeneutische Grundsätze. - CHARLES LICHTENTHAELER: Humanismus und Aufklärung aus der Sicht der allgemeinen Medizingeschichte. - VINCENZO CAPPELLETTI: Humanistische und aufgeklärte Wissenschaft.

Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung Herausgegeben von RUDOLF VIERHAUS. 1981. 336 S. Inhalt:

RUDOLF VIERHAUS: V o r b e m e r k u n g .

-

MANFRED RIEDEL:

Bürgerlichkeit

und Humanität. — HERMANN LÜBBE: Aspekte der politischen Philosophie des Bürgers. — IRING FETSCHER: Voltaires liberales Großbürgertum und der kleinbürgerliche Egalitarismus Rousseaus. — MICHAEL STOLLEIS: Untertan — Bürger — Staatsbürger. Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jahrhundert. — PETER MICHELSEN: Der unruhige Bürger. Der Bürger und die Literatur im 18. Jahrhundert. — HORST GÜNTHER: Darstellung der sozialen Wirklichkeit im frühen bürgerlichen Trauerspiel. -

G E R H A R D SAUDER: » B ü r g e r l i c h e « E m p f i n d s a m k e i t ? — WILFRIED BARNER:

Lessing zwischen Bürgerlichkeit und Gelehrtheit. — SVEN-AAGE JORGENSEN: Wieland zwischen Bürgerstube und Adelssalon. — HANS ERICH BÖDEKER: Thomas Abbt: Patriot, Bürger und bürgerliches Bewußtsein. — GÜNTER SCHULZ: Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Darstellung Christian Garves. — JÜRGEN SCHLUMBOHM: >Traditionale< Kollektivität und >moderne< Individualität: einige Fragen und Thesen für eine historische Sozialisationsforschung. Kleines Bürgertum und gehobenes Bürgertum in Deutschland um 1800 als Beispiel. - ULRICH HERRMANN: Die Kodifizierung bürgerlichen Bewußtseins in der deutschen Spätaufklärung — Carl Friedrich Bahrdts »Handbuch der Moral für den Bürgerstand« aus dem Jahre 1789.

Lessing und der Kreis seiner Freunde Herausgegeben von GÜNTER SCHULZ. 1 9 8 5 . 292 S., mit 13 A b b .

I n h a l t : GÜNTER SCHULZ: V o r b e m e r k u n g . — HEINRICH METTLER: Lessings u n a b dingbares B e d ü r f n i s , m i t F r e u n d e n z u disputieren. — DOMINIQUE BOUREL: D i e K o n troverse z w i s c h e n Lessing und M e n d e l s s o h n u m die E w i g k e i t der H ö l l e n s t r a f e n bei L e i b n i z . — KLAUS HAMMACHER: U b e r F r i e d r i c h H e i n r i c h J a c o b i s B e z i e h u n g e n zu L e s s i n g im Z u s a m m e n h a n g mit dem Streit um S p i n o z a . — WERNER KOHLSCHMIDT: L e s s i n g und H e r d e r : S y m p a t h i e , D i s t a n z , Sachgespräch. — GÜNTER SCHULZ: L e s s i n g und G o e t h e — G o e t h e und Lessing. — WOLFGANG M I L D E : Lessing u n d sein b i b l i o t h e karischer K o l l e g e Christian G o t t l o b H e y n e . — GERHARD ALEXANDER: J o h a n n A l b e r t H i n r i c h R e i m a r u s und Elise R e i m a r u s in ihren B e z i e h u n g e n z u Lessing. — K A R L H E I N R I C H RENGSTORF: Claudius und Lessing. -

FRANKLIN KOPITZSCH: J o a c h i m

H e i n r i c h C a m p e u n d G o t t h o l d E p h r a i m Lessing. Z u r G e s c h i c h t e einer F r e u n d s c h a f t . - J Ö R G - U L R I C H FECHNER: L e s s i n g und H e l f r i c h P e t e r Sturz. - EDWARD P. H A R R I S : J o h a n n F r i e d r i c h S c h i n k in seiner B e z i e h u n g z u Lessing. — WERNER KOHLSCHMIDT: V e r n u n f t und E h r e — E h r e und U n v e r n u n f t in Lessings D i c h t u n g .

Das Bild Lessings in der Geschichte Herausgegeben v o n H E R B E R T G . GÖPFERT. 1 9 8 1 . 168 S. I n h a l t : HERBERT G . GÖPFERT: V o r b e m e r k u n g . - INGRID STROHSCHNEIDER-KOHRS: D i e V o r s t e l l u n g e n v o m >unpoetischen< D i c h t e r Lessing. - HORST STEINMETZ: Literarische

(In-)Kompetenz, Persönlichkeit, Philosophie oder Methode? Zur Rezeptions-

geschichte des K r i t i k e r s Lessing. - WOLFGANG TRILLHAAS: Z u r W i r k u n g s g e s c h i c h t e Lessings in der evangelischen T h e o l o g i e . - A R N O SCHILSON: Z u r W i r k u n g s g e s c h i c h t e Lessings in der katholischen T h e o l o g i e . - J Ü R G E N SCHRÖDER: D e r » K ä m p f e r « Lessing. Z u r G e s c h i c h t e einer M e t a p h e r im 19. J a h r h u n d e r t . - KLAUS BOHNEN: A s p e k t e m a r x i stischer L e s s i n g - R e z e p t i o n ( M e h r i n g , L u k á c s , Rilla). - K A R L S. GUTHKE: A u f g a b e n der L e s s i n g - F o r s c h u n g heute. U n v o r g r e i f l i c h e F o l g e r u n g e n aus neueren Interessenrichtungen. - CHAIM SHOHAM: T h e s e n zur R e z e p t i o n Lessings in der hebräischen Literatur O s t e u r o p a s im 1 9 . J a h r h u n d e r t . E i n D i s k u s s i o n s b e i t r a g .

Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung Herausgegeben von K A R L F R I E D RENGSTORF. Inhalt:

G R Ü N D E R und K A R L

HEINRICH

1989. 208 S.

KARLFRIED

kung. — G E R H A R D

GRÜNDER,

KARL HEINRICH

RENGSTORF:

Vorbemer-

A L E X A N D E R , J O H A N N E S F R I T S C H E : »Religion« und »Reli-

giosität« im 1 8 . J a h r h u n d e r t . E i n e S k i z z e zur W o r t g e s c h i c h t e . — V O L K E R K A P P : D e r E i n f l u ß der französischen Spiritualität auf das deutsche Geistesleben des 18. J a h r h u n derts. — G Ü N T E R

GAWLICK:

Reimarus

und

der

englische

Deismus. — J Ö R G -

U L R I C H F E C H N E R : »Vergesellschaftete B e g e b e n h e i t e n « für »rechtschaffene M ü ß i g gänger«. F u n k t i o n e n der Religiosität im R o m a n des 18. J a h r h u n d e r t s , an H a n d einiger Zeugnisse und Beispiele. — H A N s - G E O R G K E M P E R : N o r d d e u t s c h e F r ü h a u f k l ä r u n g . P o e s i e als M e d i u m einer natürlichen R e l i g i o n . - K A R L

HEINRICH

RENGSTORF:

Lessings A n s a t z in seiner t h e o l o g i s c h e n A r b e i t . — K A R L F R I E D G R Ü N D E R : H a m a n n

2

97

und

Mendelssohn. — H A N S

ERICH

BÖDEKER:

Die

Religiosität

der

Gebildeten.

— J A C O B K A T Z : Mendelssohn und die Mendelssohnschüler im Bannkreis der Religionskritik.

Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen Wirkung Herausgegeben von KARLFRIED GRÜNDER und WILHELM SCHMIDTBIGGEMANN. 1984. 248 S., Ι Kunstdrucktafel. I n h a l t : KARLFRIED GRÜNDER: V o r b e m e r k u n g . - GERSHOM SCHOLEM: D i e W a c h t e r -

sche Kontroverse über den Spinozismus und ihre Folgen. - WALTER SPARN: Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Orthodoxie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza. - WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN: Veritas particeps Dei. D e r Spinozismus im Horizont mystischer und rationalistischer Theologie. - GERHARD ALEXANDER: Spinoza und Dippel. - MICHAEL JOHN PETRY: B e h m e n i s m and Spinozism

in the Religious Culture of the Netherlands, 1 6 6 0 - 1 7 3 0 . - HUBERTUS G . HUBBELING: Z u r frühen Spinozarezeption in den Niederlanden. - SARAH HUTTON: Reason and Revelation in the Cambridge Platonists, and their Reception of Spinoza. - JOHN Ο . WOODBRIDGE: Richard Simon's Reaction to Spinoza's »Tractatus Theologico-Politicus«. - HUGH Β . NISBET: Spinoza und die Kontroverse »De Tribus Impostoribus«.

Weitere, in Vorbereitung befindliche Bände:

10

Begegnung von Deutschen und Juden in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von JACOB

K A T Z und

KARL

HEINRICH

RENG-

STORF.

1 3

Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland zur Zeit der Aufklärung I : Das >Volk< als Objekt obrigkeitlichen Handelns Herausgegeben von RUDOLF

1 4

VIERHAUS.

Aufklärung/Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht Herausgegeben von K A R L F R I E D G R Ü N D E R und N A T H A N STREICH.

298

ROTEN-

Zentren der Aufklärung II: Königsberg und Riga Herausgegeben von

HEINZ

ISCHREYT.

Zentren der Aufklärung III: Leipzig Herausgegeben von

WOLFGANG

MARTENS.

Zentren der Aufklärung IV: Der dänische Gesamtstaat. Kopenhagen · Kiel • Altona Herausgegeben

von

KLAUS

BOHNEN

und

SVEN-AAGE

JOR-

GENSEN.

Zentren der Aufklärung V : Wien Herausgegeben von G R E T E

KLINGENSTEIN.

Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit Herausgegeben von BERT

MICHAEL

ALBRECHT,

EVA ENGEL

und

NOR-

HINSKE.

299

Auf S. 12, letzte Zeile, ist der Text der "Vorbemerkungen" wie folgt zu ergänzen: "Nicht zuletzt aber gilt der Dank des Herausgebers Fräulein Birgit Nehren, die das Personenregister mit großer Sorgfalt angefertigt hat."