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German Pages 292 [293] Year 2018
Konstanze Baron | Christian Soboth (Hg.)
Perfektionismus und Perfektibilität Theorien und Praktiken der Vervollkommnung in Aufklärung und Pietismus
Studien zum achtzehnten Jahrhundert · Band 39
Meiner
KONS TA NZ E BA RON / CH R IS T I A N SOBOT H Perfektionismus und Perfektibilität
S T U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DE RT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 39
FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG
KONS TA NZ E BA RON / CH R IS T I A N SOBOT H (HG.)
Perfektionismus und Perfektibilität Theorien und Praktiken der Vervollkommnung in Pietismus und Aufklärung
FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG
Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, des Landesforschungsschwerpunkts »Aufklärung – Religion – Wissen«, des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie des Lehrstuhls für Romanische Philologie, insbesondere Französische Literatur, von Susanne Goumegou am Romanischen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3453-7 ISBN eBook: 978-3-7873-3454-4
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INH A LT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Konstanze Baron, Christian Soboth Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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TEIL I a n fa ng s g rü n de v on pe r f e k t ion i s m u s u n d pe r f e k t i bi l i t ät Claudia Drese Der Weg ist das Ziel – Zur Bedeutung des Perfektionismus für die frühe pietistische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Clemens Schwaiger Wolffs Vollkommenheitsbegriff im Kreuzfeuer pietistischer Kritik . . . . . . . .
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Stefan Lorenz Leibniz als Denker der Vollkommenheit und der Vervollkommnung. Mit Hinweisen zur Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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TEIL II p h i l o s op h i s c h e pr obl e m at i s i e ru ng e n Bertrand Binoche Rousseau: Perfektibilität ohne Perfektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johannes Rohbeck Perfektibilität und Teleologie in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Axel Rüdiger Die Perfektibilität, das Subjekt und die Antinomie der praktischen Vernunft. Eine Diskussion zwischen Immanuel Kant und Georg Forster . . . . . . . . . . . 133
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Inhalt
TEIL III pe r f e k t ion i s m u s u n d pe r f e k t i bi l i tät i n de r pr a x i s Pia Schmid Vollkommenheit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Tanja Täubner Die Meditation als ein Mittel zur Vervollkommnung im lutherischen Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Kelly J. Whitmer Botany as a Science of Perfection. Observation, Examples and ›Vollkommenheit‹ in Johann Julius Hecker’s Einleitung in die Botanic (1734). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
TEIL IV
Ausblicke, Tr ansformationen, Widerstände Christian Soboth »was den vollkommenen Menschen mache«? – Formen, Funktionen und Aneignungen von Vollkommenheit bei Jakob Michael Reinhold Lenz . . . . . 215 Konstanze Baron Alfierianische Kulturpolitik. Von der Selbstvervollkommnung des Dichters zur Vollendung der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Anne-Julia Zwierlein ›The Education of the Will‹. Kindererziehung als Gewohnheitsbildung in Physiopsychologie und Pädagogik des viktorianischen Großbritannien . . . . 259
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Vorwort
Die hier versammelten Beiträge gehen zurück auf eine Vortragsreihe, die im Wintersemester 2011/12 unter der gemeinsamen Schirmherrschaft der beiden Interdisziplinären Zentren für die Erforschung der Europäischen Aufklärung und für Pietismusforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in Halle an der Saale stattfand. Damals sollte im Rahmen eines Pilotprojektes ein zentrales Querschnittsthema im Spannungsfeld von Pietismus und Aufklärung erschlossen werden. Eine öffentliche, im MDR Kulturradio übertragene Podiumsdiskussion, an der Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Kunst und Kultur teilnahmen, sowie die Ausstellung »no body is perfect« mit historischen und zeitgenössischen Fotografien zu körperlichen Aspekten der (Selbst-)Vervollkommnung in der Galerie Raum Hellrot in Halle, beide von der Fritz Thyssen-Stiftung finanziert, bildeten den Abschluss der Veranstaltungsreihe und machten zugleich den Aktualitätsbezug der Fragestellung deutlich. Seither haben wir uns bemüht, das Thema durch Hinzugewinnen weiterer Beiträge in angemessener Breite abzubilden. Wir sind uns bewusst, dass der vorliegende Band nicht alle Fragen beantworten und auch nicht alle Facetten der Problematik verhandeln kann. Wir hoffen aber, dass er über die erbrachten Ergebnisse hinaus auch Anregungen für weitere historische wie systematische Forschungen bietet und insbesondere jenen als eine Bereicherung erscheinen wird, die sich epochen- und disziplinenübergreifend für das Thema der (Selbst-)Vervollkommnung interessieren. Unser Dank gilt allen, die sich im Zuge der Vorbereitungen mit Rat und Tat eingebracht haben. Zu erwähnen sind an dieser Stelle insbesondere Carsten Zelle, der eine frühere Fassung des Manuskripts lektoriert hat, sowie Leonie Haardt und Oliver Seide, die uns bei der Einrichtung des Typoskripts behilflich waren. Für die Übernahme der Druckkosten sind wir den Interdisziplinären Zentren für Pietismusforschung und für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, dem Landesforschungsschwerpunkt »Aufklärung – Religion – Wissen« an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg sowie dem Lehrstuhl für Romanische Philologie, insbesondere Französische Literatur, von Susanne Goumegou am Romanischen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen zu Dank verpflichtet. Last but not least danken wir unseren Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und ihre Geduld. Tübingen / Halle, im Mai 2018 Konstanze Baron & Christian Soboth
Konstanze Baron · Christian Soboth
Einleitung
D
ie grundsätzliche Überzeugung, dass man in dem, was man macht und was man ist, im Laufe der Zeit besser werden könne, verbindet die beiden wirkmächtigsten kulturellen Strömungen des 18. Jahrhunderts, Aufklärung und Pietismus. Wenn sich die Forschung – disziplinär oder interdisziplinär – in den letzten Jahrzehnten um eine Verhältnisbestimmung beider zueinander bemüht hat, ist sie in der Regel und z. T. bis hinein in unsere Tage der steuernden Kraft der historischen Selbstbilder von Pietismus und Aufklärung gefolgt, um nicht zu sagen: erlegen. Insofern erscheint die Geschichte beider als Geschichte zweier unversöhnlicher Antagonisten, deren einer im Vertrauen auf Gott und die Kraft des Glaubens seine Positionen vertreten, wohingegen der andere die im Inneren des Menschen wie im Äußeren der Natur waltenden Gesetze der Vernünftigkeit und der Vernunft betont hat. Mittlerweile stellt sich der Forschungsstand1 mehrfach anders dar: Erstens ist deutlich geworden, dass ›der‹ Pietismus und ›die‹ Aufklärung (in ihren jeweiligen regional-territorialen und nationalen sowie temporalen Ausprägungen im langen 18. Jahrhundert) in sich hochdifferenziert und komplex sind. Sie sind längst nicht über den jeweils einen Kamm von Gott und Glaube bzw. Vernunft und Vernünftigkeit zu scheren. Damit stellt sich zweitens das Verhältnis beider zueinander ebenfalls anders und in jedem Fall komplexer und differenzierter dar, als bisher angenommen. Beide verbindet und trennt mehr und anderes, als die Rede von der Gegner- bzw. Feindschaft zu erkennen gibt. Eine grundlegende Klärung dieses Verhältnisses steht, trotz bereits geleisteter und z. T. verdienstvoller Arbeiten, noch aus. Die Felder, die es für eine solch breit angelegte Sichtung zu bearbeiten gälte, sind zahlreich und würden langjährige und konzertierte Anstrengungen erfordern. Auffällig allerdings ist, und daran knüpfen die folgenden Überlegungen an, dass sich mit dem dichten 1
An jeweils unterschiedlich akzentuierenden Übersichten zum Verhältnis von Pietismus und Aufklärung empfehlen sich der kritischen Lektüre u. a. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/I: Aufklärung und Pietismus. Tübingen 1991; Hans-Jürgen Schrader: Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hrsg. v. Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 17), S. 91–130. Aus der älteren Literatur seien zudem genannt Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971; Horst Stephan: Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung. Tübingen 1908; Franz Joseph Schneider: Das geistige Leben in Halle im Endkampf zwischen Pietismus und Rationalismus. In: Sachsen und Anhalt 14 (1938), S. 137–166.
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semantischen Feld von Besserung, Verbesserung, Vervollkommnung, Perfektionierung, Perfektibilität und Perfektionismus eine Gemeinsamkeit beider Bewegungen, die sich ja bekanntlich eine jede für sich und manchmal in durchaus polemischer Abgrenzung von der jeweils anderen als Reformbewegungen verstanden haben, abzuzeichnen scheint. Um daher über die Beschwörung der Unterschiede hinauszugelangen, ohne sogleich im Gegenzug historische Essenzen oder gar Abhängigkeiten zu postulieren, wollen wir aus der Makroperspektive, worin die verbindende Verwendung und Bearbeitung des genannten semantischen Feldes aufscheint, in die Mikroperspektive einzelner konkret vertiefender Fallstudien zum Thema gelangen. Zumindest unterschwellig ist dabei auch stets die Frage nach der eigenen Gegenwart, d. h. nach der nachhaltig prägenden Kraft der hier in den Blick genommenen Phänomene, präsent. Mit »Perfektionismus« und »Perfektibilität« ist, so meinen wir, ein Querschnittsthema benannt, das es nicht nur erlaubt, das Verhältnis von Aufklärung und Pietismus in einem exemplarischen Bereich (neu) zu verhandeln, sondern das auch die fortdauernde Aktualität des Verhandelten auf eindrückliche Weise unter Beweis zu stellen vermag.
*** Begriff und Phänomen der Vollkommenheit boten für die theologische Reflexion und das frömmigkeitspraktische Handeln sowie für die persönliche Lebensführung im Pietismus während des späten 17. und des frühen bis mittleren 18. Jahrhunderts eine inhaltliche und strategische Orientierung. Während der vielleicht drei Jahrzehnte seiner theologischen Wirkmächtigkeit bei längerer mentaler und habitueller Prägekraft hat der Pietismus verschiedene Konzeptionierungen und Praktiken in Sachen Vollkommenheit ausgebildet. Das gilt insbesondere für den Halleschen Pietismus und den sog. Radikalen Pietismus, wie überhaupt die regional-territorialen und die historischen Ausprägungen des Pietismus auch in der Frage nach der Vollkommenheit heterogene Gebilde darstellen. In unterschiedlichen Akzentuierungen und Intensitäten sind sie von vollkommenheitsbezogenen Traditionsbeständen geprägt. Das zeigt sich für die Bezugnahme auf die Mystik auf der einen Seite und auf der anderen für Bezüge zum Puritanismus und zum Calvinismus. Liegt der Fokus dort entschieden auf der Verschmelzung mit Gott als Manifestation und Ausdruck von Vollkommenheit, geht es hier um Vollkommenheit als Heiligung vermittels und in Gestalt einer präzisen, schriftgemäßen Lebensführung. Anders als im späteren Pietismus hatte die Vollkommenheit als Konzept und als Lebensführungsmaxime im Luthertum nicht wirklich einwurzeln können. Luthers radikale Paradoxie des simul iustus et peccator hat dem, anders etwa bei den Heiligungskonzeptionen im Calvinismus wie überhaupt im Reformiertentum, entgegengewirkt.2 Angesichts dieser komplexen kulturgeschichtlichen Gemengelage ist schwerlich von 2
Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische
Einleitung
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der Vollkommenheit im Protestantismus und von der Vollkommenheit im Pietismus zu reden. Es droht die Gefahr unzulässiger Vergröberung und Simplifizierung konfessioneller und interkonfessioneller Varietäten und Differenzen. Zudem gilt es, worauf Ryoko Mori hinweist, zu unterscheiden zwischen den theologischen Lehrmeinungen in Sachen Vollkommenheit im Pietismus, wie sie etwa von Joachim Justus Breithaupt kämpferisch vertreten wurden, und der lebenspraktisch-diätetisch orientierten Rezeption und Operationalisierung eben dieser Lehrmeinungen.3 Die grundsätzliche Frage für das Verständnis von Vollkommenheit im Pietismus ist von Spener her, ob diese – lutherisch orientiert – als Geschenk durch das Verdienst und die Rechtfertigung Christi verstanden, erreicht und gelebt werden kann,4 oder ob sie nicht eher als Selbstverdienst oder Selbstleistung des Menschen entweder im Sinne der mystischen Versenkung und Verschmelzung oder der Annäherung auf dem Weg einer – reformiert-calvinistisch – schriftgemäßen gottgefälligen Lebensführung zu begreifen ist.5 Während Spener beide Möglichkeiten der Vervollkommnung, durch Verdienst Christi und durch Lebensführung, in Geltung zieht, ist bei Francke nach einer enthusiastischen Frühzeit eine Verschiebung in Richtung auf eine methodische, am ordo salutis orientierte Lebensführung mit dem zentral gesetzten Bußkampf erSelbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 71. S. dazu ausführlich den Beitrag von Claudia Drese. 3 Mori, Begeisterung, S. 72, 77. 4 Im Anschluss an 1 Joh 1,8–10: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.« Und 2 Petr 1,3 f.: »Alles, was zum Leben und zur Frömmigkeit dient, hat uns seine göttliche Kraft geschenkt durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Kraft. Durch sie sind uns die kostbaren und allergrößten Verheißungen geschenkt, damit ihr durch sie Anteil bekommt an der göttlichen Natur, wenn ihr der Vergänglichkeit entflieht, die durch Begierde in der Welt ist.« Vgl. Klaus vom Orde: Die ersten Kontakte Johann Heinrich Sprögels und Anna Dorotheas von Sachsen, Stiftsäbtissin in Quedlinburg, mit Philipp Jakob Spener. In: Pietismus und Neuzeit 42 (2016), S. 65–86, hier S. 72–78. 5 Darüber hinaus ist etwa im Falle der Einlassungen bei Luther zum Problemkreis der Vollkommenheit zwischen unterschiedlichen Werkphasen zu unterscheiden. Geoff rey Wainwright, um nur diesen zu nennen, deutet zumindest an, dass Luther in ›Devotis monasticis‹ (1522), in der (von Melanchthon niedergeschriebenen) ›Apologie‹ (1528) und in ›Von den Konziliis und Kirchen‹ (1539) auch aus unterschiedlichen Veranlassungen für die Niederschrift durchaus unterschiedliche Positionen in Sachen Vollkommenheit vertreten bzw. jeweils unterschiedliche Akzente gesetzt hat. Das gilt insbesondere für die Frage nach dem Wachstum in der Vollkommenheit, für das Verhältnis dessen, was »hier auf Erden anfängt und zunimmt«, und dessen, was »dort« »in jenem Leben« »vollbracht« wird (WA 50, S. 599, 627). Dabei können diese unterschiedlichen Akzentuierungen nicht einfach konfrontiert werden im Sinne eines jeweils alternativlosen Entweder-Oder. Geoff rey Wainwright: Vollkommenheit. TRE, Bd. 35. Berlin, New York 2003, S. 273–285, hier: S. 279.
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kennbar. Damit ist eine Phase eigenen Bemühens bezeichnet, die unterschiedliche Grade und Stadien aufweisen kann, ganz im Sinne des von Luther her bei Spener beschriebenen inneren Wachstums. Für Spener und wohl auch für Francke steht außer Frage, dass der Mensch die Befähigung zum geistlichen Wachstum der göttlichen Gnade zu verdanken habe. Die eigene Anstrengung wird über die Gnade legitimiert und somit überhaupt ausführbar und nicht so sehr als Gegenposition etabliert. Und obwohl der Mensch ungeachtet seiner Anstrengungen unvollkommen im Sinne der perfectio absoluta bleibe könne er, so zumindest Spener, nach biblischem Wortlaut und, eingeschlossen in das Gnadenhandeln Gottes, ›vollkommen‹ genannt werden. Für beide Gründerväter des kirchlich-lutherischen Pietismus zielt die Rede von Vollkommenheit relativ und relational auf die durch sein Menschsein notwendigerweise eingeschränkte Vollkommenheit des Pietisten, ohne ausdrücklich die Nichtpietisten als unvollkommen zu diskreditieren.6 Die Überführung oder Umsetzung der theologischen Debatten um die Vollkommenheit in handhabbare Lebensregeln oder Lebensführungspraktiken darf als die entscheidende Herausforderung in den Auseinandersetzungen um die Vollkommenheit betrachtet werden. Wenn Luther in der Apologie vom Wachstum in der Vollkommenheit handelt, wie dies auch nach ihm Spener getan hat, bleibt die Frage: wie eigenaktiv ist bzw. kann dieses Wachstum gemeint sein oder verstanden bzw. ausgelegt werden? Und wenn Calvin in einer Predigt zu Mt 5,11 f. schreibt: »Quand encores nous tendrons au bien«,7 wie sehr ist das »tendre« als Aktion in des Menschen Verfügung und Verantwortung gestellt und handelt es sich dementsprechend um eine Ethisierung der Vollkommenheit und um eine moralisierte Praxis zur Erlangung von Vollkommenheit? Unstrittig dürfte sein, dass nach Auffassung der Hauptakteure des kirchlichen Pietismus, Spener und Francke, dem Menschen die perfectio absoluta, interpretiert als Wiederaufrichtung des Bildes Gottes im Menschen durch die Vereinigung mit Gott, nicht erreichbar ist. Aus eigenem Vermögen ein gänzlich sündenfreies Leben zu führen, ist dem Menschen schlichtweg nicht möglich, wohl aber eine gewisse, relative Vollkommenheit aufgrund eigener Anstrengung. Das darf wohl, von den unvermeidlichen Ausnahmen abgesehen, als communis opinio für die pietistischen Theologen vor allem der ersten Generation gelten. Auf Ausnahmen durch kompetitive Radikalisierung und Distinktion gegenüber Nichtpietisten verweist Mori.8 6 Dabei bezieht Spener in den ›Pia Desideria‹ (1675) eine vorsichtig abwägende Position, wenn er schreibt, dass die Menschen in diesem Leben nicht »zu dem jenigen grad der vollkommenheit bringen / daß nichts mehr darzu gethan werden könnte oder sollte / so sind wir gleichwohl verbunden zu einigen grad der vollkommenheit zu gelangen« (Pia Desideria 45–48). 7 Corpus reformatorum: Johannis Calvini Opera 46, S. 821. Zitat nach: Wainwright, Vollkommenheit, S. 279. 8 Mori, Begeisterung und Ernüchterung, S. 76 f.: zu dem Breithauptschüler Machenhauer
Einleitung
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Damit deutet sich eine weitere, für das Verständnis von Vollkommenheit im Pietismus während des 18. Jahrhunderts wichtige Station an: die Dynamisierung und Temporalisierung der Vollkommenheit als Vervollkommnung. Francke hatte in seinem Lebenslauff mit der ihm zugeschriebenen verbindlichen Vorbildlichkeit die eigene Bekehrung bzw. das Erlebnis der eigenen Bekehrung als plötzlich eintretende Glaubenssicherheit und Lebenszuversicht aus Gottvertrauen dargestellt.9 Zwar sind die Bekehrung und der anschließende Gnadendurchbruch nicht per se der Vervollkommnung gleichzusetzen, aber doch zumindest als deren unverzichtbare Elemente zu betrachten. Daraus ist für den Pietismus in und aus Halle die Forderung erwachsen, den genauen Zeitpunkt, das punctum, der Bekehrung angeben zu können und zu müssen. Freilich hat bei Francke selbst just die Betonung des Bußkampfes die Erwartung einer plötzlichen und genau datierbaren Bekehrung ausgehebelt. Stattdessen trägt der auf Dauer gestellte Bußkampf eine zeitliche Dehnung und Dynamik in das Verständnis der Vollkommenheit als Vervollkommnung hinein. Wenn Francke also in seiner Schrift Von der Christen Vollkommenheit (1695) dem Bekehrten und Wiedergeborenen Vollkommenheit attestiert, hebt er darauf ab, dass der eine Wiedergeborene (relativ und relational) »immer vollkommener sey, als der andere«.10 Gerade bei den auf Francke folgenden Theologengenerationen um Siegmund Jacob Baumgarten und vor allem Johann Salomo Semler wird, wie eindrucksvoll in dessen Lebenslauf nachzulesen ist, die gesamte Lebenszeit in den Dienst der Vervollkommnung als Verbesserung gestellt und mit dieser schließlich identisch.
*** Eine ähnliche Dynamisierung und Temporalisierung lässt sich auch für die Aufklärung konstatieren, hatte doch schon die Renaissance damit begonnen, die Idee der Vollkommenheit aus ihrer Transzendenz herauszulösen und in eine innerweltliche Entwicklung einzubetten. So begreift bereits Giorgio Vasari (1511–1574) – lange vor dem Einsetzen der berühmten Querelle des Anciens et des Modernes11 – die Entund dem Jurastudenten Sultzberger, sowie S. 79–83 zu dem Konflikt um den Schloßvippacher Pfarrer Weidenhein, der wie Machenhauer und Sultzberger von der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, vollkommen zu sein, d. h. sündenfrei leben zu können, überzeugt war. 9 Herrn M. August Hermann Franckens vormals Diaconi zu Erff urt […] Lebenslauff. In: Lebensläufe August Hermann Franckes. Hrsg. v. Markus Matthias. Leipzig 1999, S. 29 f.: »Denn wie man eine hand umwendet, so war alle meine zweiffel hinweg, ich war versichert in meinem hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu […]. Es durfte mir niemand sagen was zwischen natürlichen Leben eines natürlichen Menschen und dem Leben, das aus Gott ist, für ein unterscheid sey. Denn mir war zu muth als wenn ich todt gewesen wäre, und siehe ich war lebendig worden.« 10 August Hermann Francke: Von der Christen Vollkommenheit. In: ders.: Werke in Auswahl. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 357–359, hier S. 358. Eine ähnlich relationale Verwendung von Vollkommenheit findet sich bei Breithaupt. 11 Vgl. Hans R. Jauß: Antiqui/moderni (Querelle des Anciens et des Modernes). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Hrsg. v. Joachim Ritter. Basel 1971, Sp. 410–414;
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wicklung der Künste (gemeint sind die drei Disziplinen Malerei, Bildhauerei und Architektur) als einen Prozess, der sich als progressive Annäherung an das Ideal der Perfektion vollzieht, wobei für ihn jedoch genau wie für seine Zeitgenossen klar ist, dass die Vollkommenheit in der Vergangenheit bereits einmal realisiert gewesen war und nunmehr lediglich wiedererlangt werden muss. Seit dem Neubeginn der künstlerischen Entwicklung bei Giotto und Cimabue, so Vasari, lasse sich eine graduelle Vervollkommnung12 der Künste beobachten, wobei jede Generation die jeweils vorherige in ihrer Leistung übertreffe. Der Entwicklung der Künste insgesamt korrespondiert dabei die individualbiographische Vervollkommnung der einzelnen Künstler, die ihre Techniken durch ars und studium verbessern, wie Vasari plastisch in den einzelnen Viten beschreibt. Die hier, aber auch in anderen Kontexten des Renaissance-Humanismus13 erreichte innerweltliche Dynamisierung der Vollkommenheitsidee formierte sich bekanntlich im 18. Jahrhundert weiter zur Idee des Fortschritts.14 Erst damit setzte sich gegenüber einem zyklischen Geschichtsmodell, demzufolge sich Phasen des Aufstiegs und Niedergangs in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen ablösen, die Vorstellung einer grundsätzlich offenen, aus den Maßstäben und Wertungen der Vergangenheit entlassenen Zukunft durch.15 Von dem aufklärerischen Fortschrittsmotiv ist das Konzept der Perfektibilität im engeren Sinne zu unterscheiden. Wie die Forschungen von Bertrand Binoche Heinz Thoma: Querelle des Anciens et des Modernes. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Hrsg. v. Heinz Thoma. Stuttgart, Weimar 2015, S. 407–418. 12 Bei Vasari koexistiert der Begriff der »(ultima) perfezione« mit traditionelleren Ausdrücken wie »virtù« und »eccellenza«, wie ja auch im Titel der Vitensammlung von den »più eccellenti [artefici]« die Rede ist. Zu den Umbrüchen im künstlerischen Selbstverständnis der Renaissance s. den noch immer relevanten Artikel von Ernst H. Gombrich: Der Fortschrittsgedanke im Kunstleben der Renaissance. In: Die Kunst der Renaissance, Bd. I: Norm und Form. Stuttgart 1985 (engl. Original 1966), S. 11–23. 13 Zu erwähnen wäre etwa die stufenartige Anordnung des Kosmos bei Neoplatonikern wie Marsilio Ficino, die der Seele im Prozess der Erkenntnis eine progressive Annäherung an Gott erlaubt. Die Transformationen der antiken Vollkommenheitsvorstellung untersuchen die Beiträge in Verena Olejwiczak Lobsien (Hrsg.): Vollkommenheit. Ästhetische Perfektion in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2010. 14 Reinhart Koselleck, Christian Meier: Art. ›Fortschritt‹. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Hrsg. v. Otto Brunner u. a. Stuttgart 1975, S. 351–423, sowie ders.: ›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹. Ein Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe. In: ders., Paul Widmer (Hrsg.): Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema. Stuttgart 1980, S. 214–230. Einen breiten Einblick in die Fortschrittsdebatte der Aufklärung bieten zudem die Schriften von Johannes Rohbeck. Vgl. u. a.: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987 sowie zuletzt Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin 2010. 15 Daniel Fulda, Jörn Steigerwald (Hrsg.): Um 1700. Frühaufklärung zwischen Öff nung und neuer Schließung. Berlin, New York 2016.
Einleitung
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belegen, war dem Begriff der Perfektibilität eine Lebensspanne von ca. achtzig Jahren beschieden.16 Die Rede von der Perfektibilität zeichnet sich dadurch aus, dass diese als eine innere, dem Menschen (und erst in einem übertragenen Sinne den Institutionen, einer Gesellschaft etc.) gegebene Anlage betrachtet wird.17 Anders als der Fortschritt, der sich in qualitativer oder quantitativer Form manifestieren muss, um zu existieren, ist diese Anlage also eine reine Potenzialität. Sie bezeichnet nichts anderes als die bloße Entwicklungsfähigkeit des Menschen – und enthält somit erst einmal keine Aussage über die Art und Weise dieser Entwicklung oder darüber, ob diese realisiert wird oder nicht. Tatsächlich wird nicht nur das ›ob‹, sondern auch das ›wie‹ der Entwicklung in manchen Teilen der Aufklärung mit einem merklichen Vorbehalt versehen. Denn trotz des vielbeschworenen Optimismus dieser Epoche zeichnen sich gerade die Vertreter eines Konzepts der Perfektibilität durch eine gewisse Skepsis bezüglich des Zieles und des Zwecks der menschlichen Entwicklung aus. Nicht erst die Charakterisierung der Perfektibilität als ›unendlicher‹ (indéfinie) durch den Marquis de Condorcet18 legt nahe, dass die Erreichung der Vollkommenheit als eines objektiven Ziels zugunsten der Entfaltung subjektiver Eigenschaften hintangestellt wird.19 Jean-Jacques Rousseau, der den Begriff im Jahr 1755 erstmals prominent in die Debatte eingebracht hatte, sieht die Entfaltung der Perfektibilität gar als eine Bedrohung für das ethische Potenzial der Menschheit.20 Was sich ontogenetisch als Vervollkommnung darstellt, eine Weiterentwicklung der menschlichen Vernunft in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht, impliziert
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Von 1755 bis 1838. Die letzte Erwähnung findet sich in der 48. Vorlesung des ›Cours de Philosophie positive‹ bei Auguste Comte. Vgl. Bertrand Binoche: Perfection, Perfectibilité, Perfectionnement. In: ders. (Hrsg.): L’homme perfectible, Seyssel 2004, S. 7–11, hier: S. 8; sowie der Beitrag in diesem Band. 17 Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriff s in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriff sgeschichte 24 (1980), S. 221–257, hier besonders S. 224. 18 Zu Condorcet vgl. Bertrand Binoche (Hrsg.): Nouvelles Lectures du ›Tableau Historique‹ de Condorcet, Paris 2013 sowie ders.: Concorcet, F. Schlegel et la perfectibilité indéfinie. In: Etudes Germaniques 208 (1997), S. 593–607. 19 Zur Vorgeschichte s. Walter Haug: Von der ›perfectio‹ zur Perfektibilität. In: Aleida u. Jan Assmann (Hrsg.): Vollkommenheit. München, Paderborn 2010, S. 227–239. 20 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes. In: ders.: Œuvres complètes, éd. publ. sous la dir. de Bernard Gagnebin, Bd. 3. Paris 1964, S. 142, 149, 162 u. 210. Dt. Übersetzung: Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. In: Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand. Hamburg 51995, S. 109 (als »Vervollkommnungsfähigkeit«), S. 157 u. 189 (als »Perfektibilität«. Anm. X ist nicht vollständig übersetzt.) Aus dem Februar desselben Jahres ist auch noch, wie u. a. der hier abgedruckte Beitrag von Bertrand Binoche zeigt, eine Erwähnung in Grimms ›Correspondance littéraire‹ belegt. Zu Rousseau s. ausführlich die Studie von Ursula Reitemeyer: Perfektibilität gegen Perfektion. Rousseaus Theorie sozialer Praxis. Berlin u. a. 22013.
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auf phylogenetischer Ebene einen Rückschritt, die Korruption der menschlichen Gattung als ganzer.21 So gehört es zu den zumal in der französischen Forschung vielfach thematisierten ›Paradoxien‹22 der Perfektibilität, dass diese nicht nur die Möglichkeit der Verbesserung, sondern stets auch eine Option der Verschlechterung oder gar der Degeneration beinhaltet. Man wird sich aus aufklärerischer Sicht darauf einstellen müssen, dass die Rede von der Perfektibilität nicht zwangsläufig mit einem linearen Fortschrittsdenken einhergeht, sondern gerade auf die Ambivalenzen eines Fortschritts abhebt, der sich in dieser Lesart allzu oft als ein bloß vermeintlicher herausstellt.23 Nicht nur bleibt den Menschen die perfectio absoluta im Sinne einer offenen oder permanent vertagten Zukunft verwehrt; radikaler noch gilt, dass die Anlage einer Entwicklung zum Guten hin immer auch die Anlage für das Gegenteil bedeutet – oder zumindest bedeuten kann. Noch weiter zugespitzt impliziert dies, dass Perfektibilität im aufklärerischen Sinne nicht nur als quer zum Fortschritt, sondern potenziell auch zum Ideal der Vollkommenheit selbst stehend gedacht werden muss. Festzustellen ist daher, dass die ›Perfektibilität‹ – als gleichsam ›genetische‹ Befähigung des Menschen zur Geschichte – diesen einerseits zum eminent historischen Wesen macht; andererseits ist es just der Sinn (d. h. die Richtung, tendance) der Geschichte, der mit dem Konzept der Perfektibilität zur Debatte steht. Mit keinem Denker verbindet sich dieser Problemkomplex so sehr wie mit Rousseau, auch wenn er sich keinesfalls auf ihn beschränkt.24 Rousseau war es auch, der betonte, dass die Umstände, unter denen sich die Entwicklung des Menschen vollzieht, durch diesen nicht vollständig kontrollierbar seien. Im Discours über die Ursprünge der Ungleichheit beschreibt er die Auslöser der menschlichen Entwicklung als eine Art negative Gnade – als Einbruch eines Verhängnisses über den im sogenannten ›Goldenen Zeitalter‹ friedlich vor sich hinlebenden, ganz und gar ahistorischen Menschen.25 Perfek21
»perfectionner la raison humaine en détériorant l’espèce«, ebd., S. 188/9. Derartige Paradoxien und Ambivalenzen im Begriff der Perfektibilität herauszuarbeiten ist seit jeher ein besonderes Anliegen der französischen Forschung. Vgl. etwa Florence Lotterie: Progrès et perfectibilité. Un dilemme des Lumières françaises (1755–1814), Oxford 2006, sowie dies.: Les Lumières contre le progrès? La naissance de l’idée de perfectibilité. In: Le dix-huitième siècle 30 (1998), S. 383–396; Betrand Binoche: Les équivoques de la perfectibilité. In: ders.: L’homme perfectible. Seyssel 2004, S. 13–35. 23 Malcom Jack: Corruption & Progress. The Eigtheenth-Century Debate, New York 1989; Michael E. Winston: From Perfectibility to Perversion. Meliorism in Eighteenth-Century France. New York, NY 2005. 24 Ein ähnlich differenziertes Bild fi ndet sich, wie schon Ernst Behler angemerkt hat, in den Schriften Benjamin Constants. S. Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität. Europäische Romantik und Französische Revolution. Paderborn u. a. 1989, S. 113–176. 25 So schreibt Rousseau am Ende des ersten Teils seines Discours: »Ich habe gezeigt, daß die Perfektibilität, die sozialen Tugenden und die anderen Fähigkeiten, die der natürliche Mensch der Möglichkeit nach erhalten hatte, sich niemals von selbst entwickeln konnten, sondern daß 22
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tibilität als solche mag dem Menschen daher wesensmäßig zu eigen sein, die jeweils kontingenten Umstände, die den Prozess der (Selbst-)Vervollkommnung in Gang setzen und formen, sind es definitiv nicht. Somit ist auf aufklärerischer wie auf pietistischer Seite die Einsicht in die Grenzen menschlicher Selbstwirksamkeit gegeben. Was sich in Rousseaus zweitem Discours noch wie eine quasi-mystische Leerstelle liest, wird in der Folge (bei Rousseau selbst und bei seinen Nachfolgern) weiter radikalisiert. Mit dem Verweis auf die Grenzen menschlicher Selbstwirksamkeit ist für die Aufklärer grundsätzlich die Frage nach dem Subjekt in Richtung auf das System hin überschritten. Das Streben nach Vervollkommnung kann, wenn überhaupt, nur den ›ganzen Menschen‹26 betreffen, sofern es nicht auf der Ebene der Vernunft oder des vernunftgemäßen Verhaltens einzelner angesiedelt ist. Von hier aus stellen sich Anfragen an das jeweilige kulturelle und politische ›System‹, die einer gewissen kritischen Sprengkraft nicht entbehren. Die Konsequenzen, die eine solche Dezentrierung sowohl für die Geschichts- als auch für die praktische Philosophie der Aufklärung mit sich bringt, werden in dem vorliegenden Band zur Sprache kommen.27 Sie machen deutlich, dass der Mensch nicht das – alleinige – Subjekt der (seiner) Geschichte ist, sofern es neben den anthropologischen Anlagen stets auch die technischen und strukturellen Bedingungen menschlichen Lebens zu ›perfektionieren‹ gilt; inwieweit sich diese in den Horizont menschlicher Gestaltungskraft einbeziehen lassen und welche Maßstäbe dabei zum Tragen kommen, entscheidet darüber, ob das ethisch-moralische Streben des Einzelnen nach Vervollkommnung eine sinnvolle gemeinschaftliche bzw. politische Ergänzung findet – oder ob es als Projekt unvollendet bleiben muss.
*** Wenn es also zutriff t, dass die Halleschen Pietisten sich mit den perfektionistischen 28 Zügen ihrer Theologie ein Stück weit von der lutherischen Orthodoxie dafür das zufällige Zusammenwirken mehrerer äußerer Umstände (concours fortuit de plusieurs causes étrangères) nötig war, das ebenso gut auch nie hätte stattfinden können, und ohne das er ewig in seinem ursprünglichen Zustand verblieben wäre.« Am Anfang des zweiten Teils ist die Formulierung normativ noch eindeutiger: »infolge irgendeines verhängnisvollen Zufalls (quelque funeste hasard), der zum Wohle aller besser niemals hätte eintreten sollen.« Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit, S. 188/9 und S. 208 ff. 26 So markant formuliert in dem gleichnamigen Sammelband von Hans-Jürgen Schings (Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994); seitdem sinnvoll ergänzt durch Stefan Hermes (Hrsg.): Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800. Berlin 2014, sowie durch zahlreiche Einzelstudien. 27 Insbesondere in den Beiträgen von Axel Rüdiger und Johannes Rohbeck. 28 Der Begriff des Perfektionismus bezeichnet im heutigen philosophischen Sprachgebrauch eine Variante der eudämonistischen Ethik, die sich an einer Vorstellung des guten Lebens orientiert und die dem Menschen als solchem bestimmte Eigenschaften zuschreibt, die es zu vervollkommnen gilt. In der politischen Philosophie geht es um die Ausrichtung der Gesellschaft an einer Vorstellung vom guten Leben (im Gegensatz zum Liberalismus, der die Neutralität des
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entfernen und umgekehrt die Idee der Perfektibilität, zumindest in ihrer französischen Ausprägung,29 in Teilen einer einfachen Lesart der Aufklärung entgegen steht, so sollte eine übergreifende Betrachtung beider lohnend sein. Beiden gemeinsam ist vor allem die Konsequenz, mit der sie die irdische Zukunft in die Handlungsverantwortung des Menschen übermitteln – mit dem Unterschied gleichwohl, dass die Aufklärung ihr Ziel in der Zukunft als ein neu zu formulierendes und zu gestaltendes sieht.30 Dem Pietismus eignet demgegenüber eine gewisse melancholische Rückwärtsgewandtheit, eine handlungsorientierende Erinnerung weniger an das Paradies als an die vorbildliche christliche Urgemeinde.31 Der aufklärerische Entwurf von Zukunft möchte – in seiner affirmativen Variante – das Vergangene an Vollkommenheit überbieten; der pietistische Entwurf will dagegen eine vergangene Vollkommenheit wiederholen, diese aber nicht überbieten. Beide, Aufklärung wie Pietismus gleichermaßen, thematisieren die Grenzen der menschlichen Selbstwirksamkeit und fragen nach den einschlägigen Kontexten menschlichen Handelns in Theorie und Praxis. In diesem Sinne ist auch die zeitgenössisch vieldiskutierte Frage nach dem Verhältnis von Tugend und Glück, menschlicher Moral und göttlicher Gnade letztlich eine, die sich aus der Ausrichtung auf die Vollkommenheitsthematik ergibt. Angesichts der historischen und räumlichen Nähe von Aufklärung und Pietismus zumal in Halle während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie im euroStaates im Hinblick auf die Selbstverwirklichung des Einzelnen fordert). Vgl. Thomas Hurka: Perfectionism. Oxford 1996; Christoph Henning: Schwerpunkt Perfektionismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 696–704; Maximilian Gloor: Die Rede vom ›guten Leben‹ von der Antike bis in die Gegenwart. Würzburg 2017. Er wurde bereits von den Zeitgenossen verwendet, damals jedoch vorwiegend als Kampfbegriff bzw. als an die Pietisten gerichteter Vorwurf, sie würden es mit der menschlichen Selbstherrlichkeit allzu weit treiben. 29 Für den deutschen Kontext ist dagegen die Verwandtschaft mit der Idee der ›Bildung‹ prägend. Vgl. Wilhelm Voßkamp: ›Perfectibilité‹ und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion. In: Siegfried Jüttner u. Jochen Schlobach (Hrsg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hamburg 1992, S. 117–126. 30 Als Problem insbesondere für die Philosophie der deutschen Frühaufklärung erwies sich dabei, dass das Ideal der Vollkommenheit für sich genommen zu inhaltsleer war, um konkrete Ziele und Zwecke menschlichen Strebens zu benennen. An dieser Problematik arbeitet sich die folgende Philosophie bis Kant und darüber hinaus ab. Vgl. Heiner F. Klemme: Werde vollkommen! Christian Wolff s Vollkommenheitsethik in systematischer Perspektive. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hrsg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Int. Christian Wolff-Kongresses, Halle 4.-8. April 2004. Hildesheim u. a. 2010 (Wolffiana II,3), S. 163–180, bes. S. 177. Zur praktischen Philosophie Christian Wolff s s. Frank Grunert: Vollkommenheit als (politische) Norm. Zur politischen Philosophie von Christian Wolff (1679–1754). In: Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler (Hrsg.): Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland. Darmstadt, Mainz 2011, S. 164–184. 31 Vgl. Theo Sundermeier: Perfektibilität. Ein religionsgeschichtliches Dilemma. In: Aleida u. Jan Assmann (Hrsg.): Vollkommenheit. München, Paderborn 2010, S. 157–166, hier: S. 163 f.
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päischen Kontext insgesamt stand der hier unternommene Versuch längst an, beide einander thematisch und systematisch anzunähern. Damit sollen nun aber keineswegs etwaige konzeptionelle und normative bzw. für die Lebenspraxis relevante Unterschiede geleugnet werden; diese gibt es durchaus – und sie sind substanziell.32 Ebenso wenig kann es unser Anliegen sein, den Pietismus als eine andere, womöglich gar als eine bessere Variante von Aufklärung zu profi lieren. Stattdessen soll hier anhand der Semantik der Vervollkommnung und ihrer Manifestationen in Literatur, Philosophie, Theologie und Wissenschaftsgeschichte ein Querschnittsthema sichtbar gemacht und diskutiert werden, das es erlaubt, in thematischer Perspektivierung Annahmen über Aufklärung und Pietismus sowie ihrer Beziehungen zueinander auf den Prüfstand zu stellen, um auf diese Weise, im Rahmen des Möglichen, zu einem vertieften Verständnis beider vorzudringen.33 Dazu noch ein paar letzte Vorbemerkungen. Der vorliegende Band geht davon aus, dass Vervollkommnung ein Prozess ist, der – egal in welcher Form – theoretisch begründet, aber auch praktisch gestaltet, realisiert und umgesetzt sein will. Dementsprechend wird hier eine doppelte Aufgabenstellung verfolgt: Zum einen sollen theoretische Konzeptionen der Vervollkommnung im Spannungsfeld von Pietismus und Aufklärung diskutiert und auf ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede hin befragt werden. Wir gehen dabei davon aus, dass diese nicht rein konzeptionell-inhaltlicher Natur sind, sondern dass sie sich ganz praktisch, d. h. auf der Ebene von Debatten und Kontroversen zwischen historisch klar benennbaren Akteuren34 herausgebildet haben, wobei der ›Konstellation Halle‹ im frühen 18. Jahrhundert eine besondere Rolle zukommt. Die jüngere
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Sie liegen etwa in der materialen Bestimmung der Vollkommenheit (z. B. fromm vs. tugendhaft etc.) sowie im Verhältnis zum Körper und der menschlichen Sinnlichkeit etc. 33 Einen ersten Vorschlag in diese Richtung hat Axel Rüdiger skizziert und inzwischen weiter ausgearbeitet. Axel Rüdiger: Produktive Negativität. Die Rolle des Perfektionismus im deutschen Aufklärungsdenken zwischen Pufendorf und Kant. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58 (2010), S. 721–740. 34 Zu denken wäre hier etwa an Debatten zwischen den Philosophen Christian Wolff und Christian Thomasius sowie den Pietisten; vgl. die Darstellungen u. a. bei Hinrichs (s. Anm. 1) u. aus der neueren Forschung vor allem Albrecht Beutel: Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolff s aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie. In: Ulrich Köpf (Hrsg.): Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beiträge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung für Rolf Schäfer zum 70. Geburtstag. Tübingen 2001, S. 159–202; Barbara Mahlmann-Bauer: Christian Wolff s Hochschulpolitik. Institutionengeschichtliche Hintergründe von Wolff s Vertreibung aus Halle. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hrsg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Int. Christian Wolff-Kongresses, Halle 4.-8. April 2004. Hildesheim u. a. 2010 (Wolffiana II,5), S. 319–362; Thomas Müller-Bahlke u. a. (Hrsg.): Die Causa Christian Wolff. Ein epochemachender Skandal und seine Hintergründe. Halle 2015.
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Konstellations- und Kontroversenforschung35 hat überzeugend argumentiert, dass theoretische Positionen nicht in absoluter Abgeschiedenheit voneinander ausgearbeitet werden, sondern dass sie vielmehr ihre Entwicklung immer auch der Kritik verdanken, der sie sich zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ausgesetzt sahen. Dies gilt, in jeweils genauer zu spezifizierender Weise, auch für Aufklärung und Pietismus bzw. beider Verhältnis zueinander. Erst vor diesem dynamischen Hintergrund lassen sich dann die inhaltlich-dogmatischen Positionen eruieren und auf sinnvolle Weise zueinander in Beziehung setzen. Neben der Darstellung und Diskussion der verschiedenen historischen Theorien und Konzeptionen von Vollkommenheit und Vervollkommnung liegt der zweite wichtige Akzent des vorliegenden Bandes auf den Übersetzungsprozessen im Kontaktbereich von Theorie und Praxis. Aufklärung wie Pietismus eignet ein mitunter druckvolles Effi zienzdenken, das sich eben nicht mit der philosophischen oder theologisch-dogmatischen Spekulation begnügt, sondern das von innen heraus auf Verwirklichung drängt. Neben der pädagogischen Reflexion und Theoriebildung stehen folglich Selbsttechniken wie z. B. die Meditation im Zentrum der Aufmerksamkeit, mit deren Hilfe Subjekte sich selbst affizieren, um konkrete, ethisch wünschenswerte Haltungen und Einstellungen zu habitualisieren. Derartige Praktiken der (Selbst-)Vervollkommnung werden im 18. Jahrhundert in der Regel in Gemeinschaft eingeübt und weitergegeben. Auch wenn sie letztlich auf die Vervollkommnung des Einzelnen zielen, müssen sie daher stets intersubjektiv vermittelbar sein; das bedeutet, sie bedürfen der Kommunikation und Darstellung, konkret anhand von Text- und Bildmedien. Die Rolle von historischen und fiktiven Exempla ist für beide, Aufklärung und Pietismus gleichermaßen, von kapitaler Bedeutung, mögen die jeweils bevorzugten Quellen und Referenztexte noch so unterschiedlich sein. Dass die intersubjektiv nachvollziehbare und ästhetisch stimulierende Vermittlung von Prozessen der Fremd- und Selbstvervollkommnung große Möglichkeiten birgt, umgekehrt aber auch neue Probleme schaff t,36 ist ein weiterer Aspekt, der in den folgenden Untersuchungen Berücksichtigung finden wird. Eine Pietismus und Aufklärung, Theorie und Praxis engführende Betrachtungsweise erscheint nicht zuletzt auch deshalb sinnvoll, weil dadurch die – äußeren wie inneren – Grenzen der Vervollkommnung und die mit ihr verbundenen Zwänge in den Blick geraten. Bereits eine um 1700 zwischen Christian Thomasius und August Hermann Francke geführte pädagogische und erziehungspraktische Debatte zeigt dies an. Thomasius hat Franckes Pädagogik im Zeichen der Vervollkommnung als ›Überforderungspädagogik‹ geschmäht: Kinder seien außerstande, den erzieheri35
Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hrsg.): Konstellationsforschung. Frankfurt a. M. 2005. Zum Beispiel durch die folgenreiche Unterscheidung zwischen wahrer und vermeintlicher Vollkommenheit bzw. die Aushöhlung der Vollkommenheit zur Pose. 36
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schen Erwartungen zu entsprechen und den auf ihnen lastenden schulischen und religiösen Druck auszuhalten.37 Ein ähnlicher Befund ließe sich wohl auch für andere Bereiche – man denke etwa an die zahlreichen Lebens(führungs)regeln, die es für Kinder, für Jugendliche und für Erwachsene gab, an Diätetiken sowie grundsätzlich an alle disziplinär gebundenen und disziplinarisch wirksamen Textsorten – bestätigen: Die Überführung von Konzepten der Vervollkommnung in die Lebenspraxis scheint nicht selten Sollbruchstellen bereitgehalten zu haben. Dabei klaff ten nicht erst Anspruch und Wirklichkeit auseinander, sondern schon im Verhältnis von Anspruch und Verwirklichungsmöglichkeiten tat sich ein – bisweilen garstiger – Graben auf.38 Die Tatsache, dass das Streben nach Vervollkommnung Opfer fordert (etwa, weil eine solche im Pietismus nicht nur gelebt werden durfte, sondern auch für alle sichtbar unter Beweis gestellt werden musste), macht hinlänglich deutlich, wie weit die damalige Konzeption entfernt war von einer individuell-freiheitlichen Selbstverwirklichung im heutigen Sinne. Als Problem für die menschliche Freiheit erweist sich aber nicht nur die Anpassung an ein externes Modell von Vollkommenheit, wie es sich etwa in vorgegebenen sozialen Normen bzw. in einem überindividuell gültigen Muster-Lebenslauf artikuliert. Die Fähigkeit zur freiheitlichen Selbstbestimmung ist auch von innen bedroht. Der Band wird daher durch einen Beitrag abgerundet, der die Entwicklungslinien des 18. bis in das 19. Jahrhundert hinein verfolgt. Mit dem Aufkommen der Eugenik erfährt das organizistische Denken der Antike, das in Teilen noch das humanistisch-aufklärerische Bildungsprogramm durchwirkte, eine wissenschaftliche Neubegründung. Anne Zwierlein fokussiert die Eugenik als das Ende der Perfektibilität; der eugenische Determinismus bedrohe und beschließe – gewissermaßen von innen heraus – das ethische Potenzial des Menschen zur Selbstvervollkommnung durch Bildung und Erziehung. Die Traditionslinie, welche die Perfektibilität als eine dem Menschen von Natur gegebene, innere Anlage betrachtet, sieht sich damit an ihre Grenze getrieben. Paradoxerweise ist es jedoch genau die Humangenetik, die sich heute (als Wissenschaft und Technik) als ein besonders wirkmächtiger Motor des ewig perfektiblen Menschen erweist. Zwischen den Anlagen des Menschen und
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Vgl. u. a. Werner Loch: Pädagogik am Beispiel August Hermann Franckes. In: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Lebenswelten und Glaubenswelt. Göttingen 2004, S. 264–308, hier S. 268. 38 Der Tod eines sogenannten Wunderkindes, des 10-jährigen Christlieb Leberecht von Exter, der von einem halleschen Informator im Geist des Pietismus erzogen worden war, wurde zu einem seinerzeit populären Streitfall über Arten und Weisen der pietistischen Erziehung. S. dazu Pia Schmid: Handlungsräume adliger Mädchen und Knaben 1680–1750. Eine Analyse von Exempelgeschichten. In: Ruth Albrecht u. a. (Hrsg.): Pietismus und Adel. Genderhistorische Analysen. Halle 2018 und Hinrichs (s. Anm. 1), S. 352–387, hier besonders S. 375– 382, sowie die reichen Bestände an kontroversen Quellen in der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, die bislang kaum wissenschaftlich ausgewertet sind.
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seiner Fähigkeit, auf die Bedingungen seines Lebens mit Hilfe von optimierten Techniken seinerseits optimierend einzuwirken, entsteht ein Rückkopplungseffekt, dessen Auswirkungen noch gar nicht im Detail absehbar sind. All diesen vielfältigen, individualbiographischen ebenso wie gesamtgesellschaftlichen und wissenschaftshistorischen Brüchen gilt es Rechnung zu tragen, wenn wir uns in der Folge mit den Theorien und Praktiken der Vervollkommnung im 18. Jahrhundert beschäftigen. Ob dies allerdings zwangsläufig bedeutet, die Idee von Vollkommenheit und das Handeln in Absicht von Vervollkommnung als Postulat und Regulativ aufzugeben, ist eine Frage, die hier nur aufgeworfen, aber nicht abschließend beantwortet werden kann. Der Druck zur ständigen Arbeit an sich selbst auch und gerade da, wo das Ideal der Perfektion selbst gar nicht (mehr) in Reichweite ist, stellt zweifelsohne ein überaus problematisches Erbe des 18. Jahrhunderts dar. Es scheint, als habe dieser Druck den Fortschrittsoptimismus der Aufklärungsepoche überlebt, um in Form eines nunmehr vollständig entgrenzten Zwanges zu »Inszenierung und Optimierung des Selbst«39 weiter zu bestehen. Dass vor diesem Hintergrund die Arbeit an der eigenen Geschichte – etwa im Sinne einer Foucault’schen Genealogie40 – nicht automatisch befreiend wirkt, versteht sich von selbst. Gleichwohl hält die Auseinandersetzung mit dem ›langen‹ 18. Jahrhundert und den dort allfällig auftretenden Spannungen, wie sie sich auch in der vorliegenden Untersuchung darstellen, einige wertvolle Einsichten für die Gegenwart bereit. Diese ergeben sich, wie es scheint, weniger aus der singulären Machtfülle oder -vollkommenheit eines einzelnen Konzepts bzw. einer bestimmten Praxis, als vielmehr aus dem vielschichtigen Zusammenspiel und vor allem dem Gegeneinander konkurrierender Perfektionsmodelle. So ist zunächst einmal der Appell, es in Hinblick auf die ganzheitliche Entfaltung des Einzelnen und seiner Fähigkeiten eben nicht mit dem Bestehenden bewenden zu lassen, von grundsätzlich emanzipatorischer Relevanz. Er verhindert die resignative Unterwerfung unter das Diktat des Faktischen und erlaubt es darüber hinaus, Ansprüche des Individuums auch gegen scheinbar übermächtige gesellschaftliche Imperative anzumelden. Weil sie jedoch um die Grenzen ihrer eigenen Wirksamkeit weiß, bedarf die Vervollkommnung des Einzelnen in Pietismus und Aufklärung ausdrücklich der Gemeinschaft (im säkularen wie im religiösen Sinne), um sich zu konkretisieren. Gegen die normative Beliebigkeit der Selbstverwirklichung setzt die 39 So der Titel einer Aufsatzsammlung, die sich mit dem pädagogischen Diskurs der Gegenwart befasst. Ralf Mayer, Christiane Thompson, Michael Wimmer (Hrsg.): Inszenierung und Optimierung des Selbst. Analyse gegenwärtiger Selbsttechnologien. Wiesbaden 2013. 40 Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Schriften in vier Bänden, Bd. 2. Hrsg. v. Daniel Defert u. a., Frankfurt a. M. 2002, S. 166–191. Zu Foucaults Begriff der Genealogie s. auch Martin Saar: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M. 2007.
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Idee der (Selbst-)Vervollkommnung daher, wie sie im 18. Jahrhundert im Horizont des ›ganzen Menschen‹ konzipiert und praktiziert wurde, ein anspruchsvolles Ideal, das den Einzelnen nicht nur gegen Forderungen von außen immunisiert, sondern ihn in Gemeinschaft mit anderen und – in der Regel – im Einsatz für diese anderen über sich selbst hinauswachsen lässt. Gegen die Idee einer permanenten Selbstoptimierung, deren Inhalte, wenn nicht schon deren Impetus allzu oft von außen gelenkt sind, meldet sie den berechtigten Wunsch des Individuums an, in einem derart vervollkommneten Ganzen sich als sich selbst wiederfinden zu können. Die Dialektik der Vervollkommnung besagt schließlich, dass es kein gutes Leben im schlechten geben kann; dass sich also mit dem Einzelnen immer auch die Gesellschaft als solche entwickeln muss, wenn der Fortschritt ein echter (und kein bloß scheinbarer) sein soll. Dass dies tatsächlich gelingen könnte, dass also die Menschen sich vervollkommnen können, ohne darüber ihre Menschlichkeit zu verlieren – das war die Wette des 18. Jahrhunderts. Sie gilt, in gewisser Weise, noch heute.
*** Der Band gliedert sich in vier Teile, die weitgehend einer chronologischen Ordnung folgen, dabei jedoch auch inhaltliche Gesichtspunkte berücksichtigen. Am Anfang stehen drei Texte, die zusammen die Sektion Anfangsgründe von Perfektionismus und Perfektibilität bilden. Diese umreißt das komplizierte Verhältnis der Pietisten zu ihren orthodoxen Gegnern auf der einen, zu Vertretern der Aufklärungsphilosophie auf der anderen Seite. Ferner wird ein Bogen gespannt von einer der bedeutendsten philosophischen Positionen der Vor- bzw. Früh-Aufklärung zu deren späterer Rezeption im Verlauf des langen 18. Jahrhunderts. Claudia Drese befragt in ihrem Beitrag ›Der Weg ist das Ziel – Zur Bedeutung des Perfektionismus für die frühe pietistische Theologie‹ Positionen des Halleschen Pietismus seit den 1680er Jahren auf die für das christliche Individuum im irdischen Diesseits erreichbaren Stufen der Vollkommenheit hin. Auch wenn von den Pietisten die Möglichkeit einer perfectio absoluta auf Erden nie behauptet wurde, was Vertreter der Lutherischen Orthodoxie mit ihren Vorwürfen vorausgesetzt hatten, verlagerten sie doch den theologischen Akzent von der iustificatio der lutherischen Rechtfertigungslehre hin auf die Wiedergeburt und die Heiligung in einem pietistisch umgeformten ordo salutis. Damit eröffneten sie einerseits die Möglichkeit eines kompetitiven Verständnisses von Vollkommenheit im Sinne einer progressiven Zunahme im Glauben; sofern sie jedoch andererseits auf einer Sichtbarmachung eben jener Glaubensentwicklung bestanden, war die Offenheit der individuellen Entwicklung in der Lebenspraxis zugleich mit einem gewissen Zwang versehen. Während Drese die gegen die Vertreter des Pietismus gerichteten Anfeindungen sowie deren Verteidigungsstrategie in den Blick nimmt, lenkt Clemens Schwaiger in
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seinem Beitrag ›Wolffs Vollkommenheitsbegriff im Kreuzfeuer pietistischer Kritik‹ die Aufmerksamkeit auf die Polemiken, die von den Pietisten selbst ausgingen und die den Hallenser Philosophen Christian Wolff zur Zielscheibe hatten. Schwaiger weist auf eine versteckte Ähnlichkeit zwischen den antagonistischen Argumentationen hin, teilen doch beide – mit Blick auf den Vollkommenheitsdiskurs des jeweils andern – den Vorwurf der Inhaltsleere, des Egoismus und der subjektiven (Macht-) Anmaßung. Schwaiger zeichnet nach, wie Wolff sein Theorem der Vollkommenheit weiterentwickelte, indem er sich Punkt für Punkt und durchaus ernsthaft mit der Kritik seiner theologischen Gegner auseinandersetzte. Dass die stetige Verfeinerung der Wolff ’schen Vollkommenheitslehre in der Folge nicht ohne Auswirkungen geblieben ist, zeigt u. a. die philosophische Debatte um das höchste Gut im Anschluss an Immanuel Kant. Wolff hatte Gottfried Wilhelm Leibniz mehrfach um eine Definition der Vollkommenheit gebeten und diese – in Form des Begriffs des ›Grades positiver Realität‹ und ›affirmativer Erkennbarkeit‹ – auch erhalten.41 Der Beitrag von Stefan Lorenz mit dem Titel ›Leibniz als Denker der Vollkommenheit und der Vervollkommnung. Mit Hinweisen zur Rezeption‹ macht deutlich, in welch starkem Ausmaß Leibniz’ Konzept der Vollkommenheit an dessen spezifische Konzeption der Substanz als individuell geprägte, geistige Einheit bzw. ›Monade‹ gebunden ist. Indem die Monade die ihr von Gott uranfänglich im Prozess der rational begründeten Weltenwahl verliehene Potentialität zur Wirklichkeit bringt, trägt sie zur universellen Harmonie und damit zur Vervollkommnung des Ganzen auf je eigene Weise bei. Die Hinweise auf die Rezeption dieser auch prozessual gedachten, zunächst metaphysischen Motive im weiteren deutschen 18. Jahrhundert belegen ihre breite und nachhaltige Wirkung auch jenseits des systematisch-fachphilosophischen Diskurses sowie ihre produktive Aneignung unter anderem in der Dichtung. Die zweite Sektion versammelt drei Beiträge, die auf jeweils unterschiedliche Weise Philosophische Problematisierungen dieser frühen Ausgangspositionen darstellen. Der Begriff der ›Problematisierung‹ ist dabei in einem doppelten Sinne zu versehen: So handelt es sich nicht nur um eine inhaltliche Weiterentwicklung vorliegender philosophischer Positionen durch die Protagonisten des 18. Jahrhunderts, sondern auch um den Versuch der drei Autoren, sich kritisch mit aktuell geläufigen Aufklärungsdeutungen auseinanderzusetzen. Der Beitrag von Bertrand Binoche mit dem Titel ›Rousseau – Perfektibilität ohne Perfektion‹ widmet sich jener Passage im Discours sur l’origine de l’ inégalité parmi les hommes, in der Rousseau den Neologismus ›Perfektibilität‹ zum ersten Mal 41
Thomas Sören Hoff mann: Art. ›Vollkommenheit‹. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1115–1132, hier: Sp. 1123.
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verwendet. In einer sorgfältigen, im Stile einer französischen dissertation gehaltenen Analyse dieses Textes arbeitet Binoche die latenten Spannungen im Denken Rousseaus heraus. Er stellt fest, dass das (Meta-)Konzept der Perfektibilität nicht nur mit keiner konkreten inhaltlichen Vorstellung von Vollkommenheit einhergehe, sondern mit der Idee der Perfektion als solcher geradezu unvereinbar sei. Dies erkläre auch Rousseaus Sonderstellung in der Begriffsgeschichte, die in dem Beitrag ebenfalls zur Sprache kommt. Da Rousseau zwar die Notwendigkeit, zugleich aber auch die unhintergehbare Ambivalenz der Kultur postuliere, bleibe am Ende nur die theoretische Option einer relativen Vollkommenheit. Diese sehe Rousseau aber nicht, wie von Kritikern gerne unterstellt, in einer Rückkehr zum natürlichen Ursprung, sondern in der Schaff ung von Substituten, die jedoch zwangsläufig alle vom Keim des Verderbens infiziert seien. In seinem Beitrag ›Perfektibilität und Teleologie in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung‹ vertritt Johannes Rohbeck die These, dass sich das Geschichtsdenken der Aufklärung nicht auf teleologische Denkfiguren reduzieren lasse. Zwar sei es zutreffend, dass die Perfektibilität, sofern sie nicht die Vervollkommnung eines einzelnen Menschen, sondern die der Gattung bzw. der Gesellschaft als ganzer betreffe, gewisse teleologische Muster aufweise. So komme es im 18. Jahrhundert zu einer wechselseitigen ›Modellübertragung‹ zwischen Biologie und Geschichtstheorie, wonach die Perfektibilität als eine naturgegebene Anlage des Menschen begriffen wird, die bloß noch ihrer Entfaltung harrt. Doch weisen die Autoren der Aufklärung Rohbeck zufolge durchaus ein Bewusstsein für die Kontingenz der Geschichte bzw. für die Eigendynamik sozialer Systeme auf; Perfektibilität sei demnach nicht allein eine Sache der Naturanlage des Menschen, sondern verweise vielmehr auf die technischen und ökonomischen Bedingungen menschlichen Handelns, die im Sinne eines systemischen Überschusses zwar grundsätzlich offen, aber eben nicht steuerbar seien. In diesem Sinne koexistierten bereits im Zeitalter der Aufklärung verschiedene Denktypen, die sich mit den Begriffen ›Aufklärung‹, ›Moderne‹ und ›Postmoderne‹ identifizieren lassen. Im Mittelpunkt des Beitrages von Axel Rüdiger über ›Die Perfektibilität, das Subjekt und die Antinomie der praktischen Vernunft. Eine Diskussion zwischen Immanuel Kant und Georg Forster‹ steht die Spannung zwischen unendlicher Perfektibilität und revolutionärer Vollendung innerhalb der Denkform der Aufklärung sowie deren Auswirkung auf die Formierung unterschiedlicher Modelle von Subjektivität. Dies wird zunächst im Rahmen der von Immanuel Kant formulierten Antinomie der praktischen Vernunft dargestellt und letztere sodann mit der Revolutionspublizistik Georg Forsters konfrontiert. Rüdiger arbeitet heraus, dass das revolutionäre Motiv der Vollendung bei Kant durchaus vorhanden, aber in den transzendenten Raum der Religion ausgelagert sei, was eine melancholisch-pathologische Rahmung des Subjektbegriffes zur Folge habe. Während Kant das mensch-
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liche Mängelwesen als letztlich unfähig zur Erfüllung seiner moralischen Pflichten betrachtet, interpretiere Forster diesen Mangel umgekehrt als die materiell-sinnliche Voraussetzung für die Erfüllung seiner moralisch-politischen Pflicht, was wiederum Bedingung für eine demokratische Selbstgesetzgebung sei. Für Rüdiger lässt sich die Debatte zwischen Kant und Forster hinsichtlich von Interpretationen aktualisieren, welche die Aufklärung als unvollendetes Projekt beschreiben, das zwar beständig im Kommen ist, aber keine sinnliche Option für eine subjektive bzw. politische Vollendung bereithält. Die dritte Sektion Perfektionismus und Perfektibilität in der Praxis löst den Anspruch des Bandes ein, Perfektionismus und Perfektibilität nicht nur auf der Ebene der theoretischen Diskussion, sondern auch in ihren praktischen Anwendungsbereichen und -modalitäten nachzeichnen zu wollen. Dies geschieht hier exemplarisch, anhand von drei Fallstudien aus dem Bereich der Pädagogik, der religiösen Selbsttechnik sowie in Form eines Einblicks in das historisch-praktische Selbstverständnis einer spezifischen wissenschaftlichen Disziplin, der Botanik. Ausgehend von der inhaltlich-materialen Bestimmung dessen, was im pädagogischen Diskurs des 18. Jahrhunderts sowohl auf Seiten der Aufklärung (im Sinne von moralisch-gut) als auch auf Seiten des Pietismus (im Sinne von fromm) unter Vollkommenheit firmierte, stellt der Beitrag von Pia Schmid ›Vollkommenheit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts‹ verschiedene pädagogische Ansätze und deren mediale Vorgehens- und Vermittlungsweisen vor. Die Zusammenschau ergibt, dass Aufklärung und Pietismus auch formal, d. h. in Bezug auf die Instrumentalisierung von Literatur und Bildprogrammatik, eine durchaus ähnliche Sprache sprechen. Schmid zeichnet ferner die Überlegungen des Erziehungstheoretikers Peter Villaume nach, der in seiner Diskussion pädagogischer Ideale die für die Epoche maßgebliche Spannung zwischen individueller Vervollkommnung und gesellschaftlicher Brauchbarkeit reflektiert. Im letzten Teil des Beitrags werden sodann, am Beispiel eines zeitgenössischen, am Vorbild Rousseaus orientierten Erziehungsexperimentes, praktische Anstrengungen zur Realisierung eines theoretisch vorgegebenen Vollkommenheitskonzeptes nachgezeichnet – und klar deren Grenzen benannt. Tanja Täubner fragt in ›Die Meditation als ein Mittel zur Vervollkommnung im lutherischen Pietismus‹ nach dem historisch-genetischen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen und der Verbreitung lutherischer Meditationspraktiken seit dem späten 16. Jahrhundert und dem Pietismus als Frömmigkeitsbewegung im frühneuzeitlichen Protestantismus. Sie führt aus, dass im Pietismus die Meditation als persuasive Selbsttechnik im Dienste der Vervollkommnung fungierte und als solche auch bewusst eingesetzt wurde. Durch meditative Selbstaffektion sollte ein Brückenschlag von der (theoretischen) Lehre zur Inkorporierung frommer Einstellungen und Haltungen in der Alltagspraxis vollzogen werden. Täubner beobachtet allerdings auch, dass es im Laufe der Zeit zu einer fortschreitenden Emanzipation
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des autobiografischen Schreibens von den meditativen Praktiken kam; sei die pietistische Identität durch rhetorisch Selbstbesprechung einmal etabliert gewesen, so ihre These, habe sich diese durchaus selbstbewusst vor anderen präsentieren können. In ihrem Beitrag ›Botany as a Science of Perfection. Observation, Examples and Vollkommenheit in Johann Julius Hecker’s Einleitung in die Botanic (1734)‹ untersucht Kelly J. Whitmer den besonderen Fall der Vervollkommnung einer wissenschaftlichen Disziplin und skizziert die zwei Wege, die Hecker in dieser Absicht gegangen sei: Dabei handele es sich zum einen um das von Hecker auf der Grundlage seines Theologiestudiums in Halle verfolgte Interesse an der geschulten und kontrollierten Beobachtung von Beispielen vollkommener Menschen und Pflanzen aus der biblischen Geschichte; hier wäre durchaus eine strukturelle Parallele zu den von Pia Schmid behandelten Exempelgeschichten zu sehen. Zum andern betont sie sein Bemühen um eine nach Möglichkeit vollständige Erfassung des gesamten Wissens über Pflanzen als Grundlage für ein universales Klassifizierungssystem, basierend auf den organisierenden Prinzipien von Perfektion und Imperfektion. Whitmer legt zudem die Einsicht nahe, dass die Anstrengungen zur Vervollkommnung der Disziplin bzw. der Umgang mit vollkommenen Exemplaren in Heckers Augen letztlich der (Selbst-)Vervollkommnung des Wissenschaftlers dienten und insofern als eine Form der wissenschaftlichen ›Arbeit an sich selbst‹ zu betrachten seien. Unerlässlich erscheint abschließend die Frage nach potenziellen Weiterentwicklungen und Transformationen sowie den Grenzen der Vervollkommnungsthematik. Wie die Beiträge der vierten und letzten Sektion Ausblick e, Tr ansfor m ationen, Widerstände deutlich machen, sind es weniger Widerstände von außen, als innere Grenzen, die sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts bzw. an der Epochenschwelle zum 19. Jahrhundert manifestieren. Diese werden vornehmlich in literarischer Form reflektiert, wobei auch Spannungen an der Schnittstelle von Kultur/ Kunst und Politik bzw. Ethik zum Vorschein kommen. Nach der Sichtung zweier literarischer Variationen zum Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft schließt der Band mit der Frage nach den Folgen einer konsequenten Naturalisierung von ethischen Einstellungen. In seinem Beitrag ›»was den vollkommenen Menschen mache«? Formen, Funktionen und Aneignungen von Vollkommenheit bei Jakob Michael Reinhold Lenz‹ rekonstruiert Christian Soboth mit besonderer Akzentuierung von Fragen der Darstellung und Inszenierung die Konzeptualisierung von Vollkommenheit bei Lenz, der in seinem Werk unterschiedliche Diskurse und Traditionslinien zusammenführt. Zentraler Fokus ist dabei im Anschluss an Leben und Opfertod des ›allervollkommensten Menschen‹ Jesus Christus die Relation zwischen der Vollkommenheitsfähigkeit des Menschen, seiner Schulung zur Vollkommenheit und deren tatsächlicher Realisierung. Soboth zeigt, dass bei Lenz die Kunst, speziell das Theater, eine besondere Rolle als Aneignungsmodus von Vollkommenheit hat, lade dieses
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Konstanze Baron · Christian Soboth
doch vermittels teilnehmender Nachahmung zur Identifikation mit Christus ein. Doch gerade im Medium des ›großen Schauspiels‹ komme es zu einer systematischen Verfehlung des Selbstopfers, das in der vermeintlichen imitatio Christi sein Ziel, die Stiftung einer neuen Gemeinschaft, gerade nicht erreicht und darüber zur bloßen Pose wird. Optimistischer gestaltet sich das Zusammenspiel von Kunst/Künstler und Gemeinschaft im Werk des italienischen Dichters und Dramatikers Vittorio Alfieri. Wie Konstanze Baron in ihrem Beitrag ›Alfierianische Kulturpolitik – Von der (Selbst-)Vervollkommnung des Dichters zur Vollendung der Nation‹ argumentiert, stellt Alfieri das aufklärerische Motiv der Vervollkommnung ganz in das Zeichen einer noch zu gründenden italienischen Nation und wird damit zum Vordenker des Risorgimento. Seine im eigentlichen Sinne (kultur-)politischen Schriften ringen allerdings mit dem Problem, dass freiheitliche Institutionen eine freiheitliche Kultur (im Sinne tugendhafter Dispositionen des Einzelnen) immer schon voraussetzen und umgekehrt. Dem stellt Alfieri in seiner Autobiographie die Geschichte seiner Selbstbildung als Schriftsteller entgegen; in quasi-analeptischer Wendung legt er dar, wie der Einzelne durch Selbsttätigkeit die Tugend erlangen und die in seinen theoretischen Schriften postulierten Werte einlösen kann. Alfieris Vita wird damit zum Medium (im generischen und performativen Sinne) der Selbstvervollkommnung und trägt zugleich – proleptisch – zur Begründung eines Mythos bei, der auf die Zukunft der italienischen Nation verweist. Anne Zwierlein verfolgt in ihrem Aufsatz ›The Education of the Will: Kindererziehung als Gewohnheitsbildung in Physiopsychologie und Pädagogik des viktorianischen Großbritannien‹, wie sich die aufklärerische Leitvorstellung der Perfektibilität im folgenden Jahrhundert weiterentwickelt. Anhand von pädagogischen Traktaten und Textbeispielen aus dem Umfeld der Selbsthilfeliteratur legt sie dar, wie hier eine regelrechte Einschreibung von Gewohnheiten in die biologische Struktur des Organismus angestrebt wird. Indem sie das Nervensystem zum Verbündeten bei der Umsetzung der eigenen Erziehungsideale machen, wollen die Autoren des viktorianischen Zeitalters zwischen freiem Willen und biologischem Determinismus vermitteln. Was zunächst wie eine gelungene Harmonisierung von Instinkt und Moral aussieht, berge jedoch Risiken, die zum Ende des Jahrhunderts immer deutlicher zutage treten: neben der Automatisierung von (schlechten) Angewohnheiten bzw. deren Versteifung zur Marotte sei dies vor allem die mit der Degenerationstheorie gegebene Vererbungslehre, welche aufgrund des ihr innewohnenden Determinismus die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen von innen heraus begrenzt.
teil 1 anfangsgründe von perfektionismus und perfektibilität
Claudia Drese
Der Weg ist das Ziel Zur Bedeutung des Perfektionismus für die frühe pietistische Theologie
1. Spuren von Vollkommenheitsvorstellungen in frühneuzeitlicher Erbauungsliteratur Kreuzigung des alten Adam, neuer Gehorsam, Selbsterforschung, Selbsterkenntnis, Selbstverleugnung, sichtbare, gute Früchte der Wiedergeburt in Worten und Werken, Zunahme in der eigenen Vollkommenheit, Zunahme im Christentum, Wiedergeburt, Erneuerung, Heiligung – dies sind einige Stichworte, mit denen sich jeder gute pietistische Lebenslauf zu schmücken verstand. Doch woher kamen diese so weit verbreiteten Aussagen und welche theologischen Konzepte standen dahinter? Wo liegen die Wurzeln dieses, später als genuin pietistisch wahrgenommenen Vokabulars? Das bedeutendste Verbreitungsorgan dieser Terminologie ist im 17. Jahrhundert unzweifelhaft die literarische Gattung der Erbauungsliteratur, die damit wichtige Grundlagen pietistischer Theologie bereitgestellt hat. Hier wurde die Neuakzentuierung in Richtung pietistischer Interpretation des ordo salutis zum ersten Mal greifbar.1 Drei ausgewählte Werke, die seit ihren Erstausgaben eine bis heute nicht vollständig erfasste, beträchtliche Anzahl an Neuausgaben erlebt haben, sollen hier als Referenz dienen, denn alle drei Titel: Sonthoms, oder besser und korrekter, Robert Persons Güldenes Kleinod der Kinder Gottes2 , Johann Arndts Vier Bücher vom Wahren Christentum3 und Joachim Lütkemanns Vorschmack göttlicher Güte4 sind nachweislich in denjenigen Kreisen gelesen und rezipiert worden, die hier im weiteren 1
Vgl. Johann Anselm Steiger: Ordo salutis. In: TRE, Bd. 25. Berlin, New York 1995, S. 371– 376, hier: S. 373. 2 Ich zitiere im Folgenden nach der Ausgabe: Gülden Kleinod | Der Kinder Gottes/| Das ist: | Der wahre Weg | Zum | Christenthum/ […]. Lüneburg 1707. Allgemein zu diesem Werk und v.a. der Autorenidentifi kation vgl. Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption englischer Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 60–76. 3 Ich zitiere nach der Ausgabe: Johann Arndt: Sechs Bücher vom Wahren Christenthum. Das ist Von der wahren Bekehrung, vom lebendigen Glauben und heiligen Leben rechtschaffener Christen […]. Berlin 1743. 4 Der Vorschmack Göttlicher güte durch Gottes gnade von Ioachimo Lütkeman Der H. Schriff t Doctore, und Superintendente Generalissimo zu Wolfenbüttel. Vorgetragen. Wolfenbüttel 1653.
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Verlauf interessant sein werden, und bieten deswegen eine relativ gut nachvollziehbare Ideengrundlage. Sonthoms Güldenes Kleinod war 1612 erstmals im deutschsprachigen Raum erschienen, zu diesem Zeitpunkt bereits von Edmund Bunny für reformierte Leser überarbeitet, trat aber erst nach einer lutherischen Überarbeitung 1632 auf die größere Bühne. Ursprünglich stammte die Übersetzungsvorlage, The First Booke of the Christian Excercise, aus der Feder des Jesuiten Robert Persons und orientierte sich u. a. an Loyolas Exercitia Spiritualia.5 Sonthoms Vollkommenheitsvorstellung konzentriert sich v.a. im dritten Teil, der vom lutherischen Bearbeiter6 zum ursprünglichen Text hinzugefügt worden war, auf das Halten-Können und -Sollen der Zehn Gebote als »Regel und Richtschnur« des »neuen Gehorsams«, mithin also auf das Gesetz: »Wir müssen auch also den heiligen Geboten Gottes nachkommen / daß wir uns befleissigen / nicht allein im Stande guter Wercke gefunden zu werden / sondern auch Fleiß anwenden / daß wir immer völliger werden mögen.«7 Zwar seien alle Christen unter angedrohtem Verlust der Gnade verpflichtet, sich an das Gesetz als Lebensregel zu halten, so gut sie könnten, doch bliebe das vollkommene Halten der Gebote Gottes im Bereich des Unerreichbaren: »Diese Worte / wie sie nach dem Buchstaben lauten / können in diesem Leben von keinem Wiedergebohrnen vollkömmlich und ohne Mangel gehalten werden.« 8 In diesem Zusammenhang weist das Güldene Kleinod auch auf Röm 7,21–239 hin, diejenige Schriftstelle, die in den späteren pietistischen Auseinandersetzungen in Leipzig und Erfurt immer wieder begegnet. Das Güldene Kleinod ist hierbei ein Vertreter der klassischen Interpretation, nämlich dass auch Paulus nicht in der Lage gewesen sei, das Gesetz vollkommen zu halten.10 Das Gesetz bleibt im Allgemeinen ein Zuchtmeister und ein »Zeiger […] unserer Dürff tigkeit / unsers Elendes / unserer ewigen Schuld« und auch für diejenigen »die durch den Glauben gerecht worden
Vgl. zu Kontextualisierung und Konzeption des Ursprungswerkes: Sträter: Sonthom, S. 63–67. 6 Wenn dies tatsächlich, wie verschiedentlich vermutet, Justus Gesenius gewesen sein sollte, ergäbe sich noch einmal ein besonderer Zusammenhang, da Gesenius später dezidiert die Konzeption einer 3-stufigen Entwicklung im Christentum vertrat und von Spener Mitte der 1690er Jahre als Referenz für seine ›Gründliche Vertheidigung‹ herangezogen wurde. Vgl. Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924, S. 170; Sträter: Sonthom, S. 9. 7 Gülden Kleinod, S. 48. 8 Ebd., S. 643. 9 S. Anm. 37. 10 »Ich fi nde in mir ein Gesetz /(das ist / eine unvermeidliche Noht / darin ich bin und bleibe / so lange ich lebe /) der ich will das Gute thun / (und begehre es ohne Mangel zu vollbringen /) daß mir das Böse anhanget.« (Gülden Kleinod, S. 644) 5
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sind / eine Regel / darnach sie leben müssen«.11 Einen Endpunkt der Entwicklung des Christen, an dem das Gesetz für Wiedergeborene seine Gültigkeit verlöre, gibt es auf Erden nicht. Dennoch muss dieser Weg in Richtung des »wahren Christentums« beschritten werden, will der Christ nicht aus der Gnade fallen, wobei methodische Meditation quasi als ›Transportmittel mit Kontrollfunktion‹ fungiert, zumal beides in gewisser Weise teleologisch ausgerichtete Prozesse sind und somit eine fruchtbare Partnerschaft eingehen können. Je höher, je verinnerlichter die sonst nur verstandesmäßige Erkenntnis göttlicher Natur, desto weiter fortgeschritten ist der zur Wiedergeburt gebrachte Mensch in seinem Christentum, desto näher der Vollkommenheit. Bedeutung hatte dieses Werk für Joachim Lange und v.a. für Philipp Jakob Spener, der sich des unpräzisen Umgangs englischer Erbauungsschriften mit der lutherischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium allerdings durchaus bewusst war und hin und wieder vor unkritischer Lektüre warnte.12 In Joachim Lütkemanns Vorschmack, das als erstes Buch 1670 in Speners collegium pietatis besprochen worden ist, geht es nicht ganz so gesetzlich zu, und die Bedeutung des Kreuzestodes Christi als Erlösung von eben diesem Gesetz wird zur Grundlage alles Folgenden.13 Damit dieses Verdienst Christi dem Menschen aber zugesprochen werden kann, ist für Lütkemann unabdingbare Voraussetzung, dass dieser ein »zerbrochen und zerschlagenes Hertz«14 habe, dann erst kann die »Cur des heiligen Geistes«, wie Lütkemann es nennt, anfangen zu wirken. Der Mensch muss sich zuvor jedoch drei Elementen öffnen: 1. der Wiedergeburt, 2. der Gotteskindschaft und 3. Gott selbst, denn dieser »vereiniget […] sich mit uns / schencket uns seinen heiligen Geist / der schaft in uns ein neu Hertz«.15 Diese den Akt der Einwohnung Gottes beschreibenden Elemente erfolgen nach Lütkemann zwar alle zum gleichen Zeitpunkt, bilden jedoch einen kausalen Zusammenhang.16 Um den dann notwendig folgenden täglichen Kampf der bösen Natur gegen die wiedergeborene neue Kreatur, mithin also des Fleisches gegen den Geist, der gleichzeitig als 11
Gülden Kleinod, S. 645. Vgl. z. B. Ph. J. Spener an [eine Anhängerin], [Januar] 1686. In: Bed 1, S. 335–337: »Von der materie aber der wiedergebuhrt und darinnen geschehenden unserer rechtfertigung / fürchte ich sehr / daß sie nicht nach gnüge in solchen büchern zu finden seye / vielmehr daß wiedergebuhrt und erneuerung off t mächtig in einander geworffen und vermischet werden.« (Ebd., S. 336) Zu Joachim Lange vgl. Udo Sträter: Wolff s Gegner Joachim Lange im Kontext der Theologischen Fakultät Halle. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hrsg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses […]. Teil 3. Hildesheim [u. a.] 2007, S. 77–95, hier: S. 82. 13 Vgl. z. B. Lütkemann: Vorschmack, S. 489. 14 Ebd., S. 499. 15 Ebd., S. 554. 16 Vgl. ebd., S. 555. 12
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Zeichen der Wiedergeburt fungiert, so erfolgreich wie möglich bestehen zu können, ist der Mensch zu täglicher Erneuerung verpflichtet.17 Ausgangspunkt und Leitvorstellung dieser ›Kur‹ bzw. der täglichen Erneuerung ist die Erinnerung an den Urstand. Aufgrund der gottesebenbildlichen Schöpfung habe der Mensch urständlich im status perfectionis existiert,18 was sich v. a. auf die sündlose Existenz der Ureltern bezieht. Vollkommenheit würde sich dann einstellen, wenn der Mensch dem Bilde Gottes, wie es sich in Adam und Eva manifestiert habe, erneut gleich würde, wobei die Lehre von der Erbsünde der Erreichbarkeit dieses Zustandes allerdings einen unüberwindbaren Riegel vorschiebt. Erreichbar ist Vollkommenheit im Vollsinn nach Lütkemann folglich nur im Jenseits: »Hie auf Erden fahen wir an GOtt gleich zu seyn / aber in grosser Schwachheit / dort aber im Himmel wirds geschehen in der höchsten Vollkommenheit.«19 Lütkemann verneint nicht, dass diese »Reise«, an deren Ende das ewige Leben steht, beschwerlich und der Einzelne beständig der Gefahr des sündlichen Rückfalls ausgesetzt sei, doch hält auch er ein teleologisch fortschreitendes Christenleben, zu welchem das Individuum zumindest in einem beschränkten Grad beitragen kann und muss, für das wahre Christentum, obgleich er sich vor allzu klaren Äußerungen über die möglichen Stufen innerhalb dieses Weges hütet. Und weil Lütkemann hier so vorsichtig und die Rezeption über Spener und Breithaupt 20 hinaus auch nur mehr schwer greifbar ist, möchte ich mich an dieser Stelle Johann Arndts Vier Bücher[n] vom Wahren Christentum zuwenden. Im 11. Kapitel des Ersten Buches erklärt Arndt seinen Lesern unter der Überschrift: »Wer Christo in seinem Leben nicht folget, der thut nicht wahre Busse, ist kein Christ, und nicht GOttes Kind: Auch was die neue Geburt sey, und das Joch Christi«21, dass Christus Mensch wurde, »auf daß er uns ein sichtbar lebendig Exempel zeigete eines göttlichen, unschuldigen, vollkommenen, heiligen Lebens, […] auf daß wir ihm folgen sollen«22 . Als größtes Hindernis dessen benennt Arndt »un17
Ebd., S. 511, 552 f. »[D]enn er ist erschaffen zum Bilde Gottes / wann GOtt in des Menschen Seele sahe / […] da war der Mensch in seinem natürlichen gebürlichen Stande.« (Lütkemann: Vorschmack, S. 553f). Vgl. so auch bei Arndt: Wahres Christenthum I, 41, pass. besonders 10: »da folgete der Fall, der Ungehorsam und Übertretung des Gebots GOTTes an dem verbotenen Baum: Da ist das Bild GOttes erloschen, der Heilige Geist vom Menschen gewichen.« Vgl. auch Bernd Hamm: Johann Arndts Wortverständnis. Ein Beitrag zu den Anfängen des Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 43–73, hier: S. 56. 19 Lütkemann: Vorschmack, S. 859. 20 »Hernachmahls bin mehr und mehr gewehnet zu stärckeren Speisen, absonderlich durch des seel. Joh. ARNDTII Wahres=Christenthum / und des seel. D. LÜTKEMANNI Vorschmack Göttl. Güte.« (Memoria Caplatoniana, Oder: Lebens=Beschreibung zweener Breithaupten […]. O.O. 1725, S. 43). 21 Arndt: Wahres Christenthum, I,11. 22 Ebd., I,11,2; zum Aspekt der Nachfolge vgl. auch: »Und in Summa, das ist das gantze 18
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sere sündliche Natur […] sonderlich der böse Wille des Menschen. Denn aus dem bösen Willen kommt alle Sünde. Wäre kein böser Wille, es geschähe nimmermehr keine Sünde«.23 Die Lösung dieses Problems liegt bei Arndt in der Einwohnung Christi: »Je mehr nun Christus im Menschen lebet, ie mehr die menschliche Natur gebessert wird.«24 Gleichzeitig werden die möglichen Erwartungen aber auch wieder gedämpft: Ob wirs nun wohl in dieser Schwachheit nicht können zur Vollkommenheit bringen, so sollen wir dennoch darnach streben, darnach seufzen, und dasselbe von Hertzen wünschen, daß Christus und nicht der Satan in uns leben und sein Reich haben möge […]. Ja, wir sollen darob kämpfen, und durch tägliche Reue den alten Menschen tödten.25
Der tägliche Kampf zwischen Geist und Fleisch ist auch bei Arndt präsent, denn die vollkommene Erkenntnis der Liebe Gottes bleibt auch bei ihm prinzipiell im Bereich des im irdischen Leben Unerreichbaren, v.a. wenn der Mensch sich der Welt, dem Äußeren, nicht täglich ein Stück weiter ab- und seinem Inneren in gleichem Maße zuwendet und gleichzeitig die Früchte dieser inneren Wendung erkennen lässt.26 Im 6. Kapitel des Zweiten Buches begegnet nun die Vorstellung, die auch in den beiden anderen Werken einen prominenten Platz eingenommen hat: dass der Mensch mit dem Fall seine »angeschaffene Vollkommenheit« eingebüßt habe.27 Gottes Sohn sei Mensch geworden, um diesen Schaden zu beheben, »auf daß die menschliche Natur wieder mit GOtt vereiniget, und also wieder zu ihrer Vollkommenheit gebracht würde«.28 Nur in der Wiedervereinigung des Menschen mit Gott bestünde die Möglichkeit, Vollkommenheit zu erlangen. Allerdings führt Arndt hier dezidiert aus, dass der Mensch nicht in der Lage sei, etwas Eigenes dazu zu tun. Allein der Glaube und die Verleugnung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten, Christenthum, Christo unserm HErrn nachfolgen […] Und Plato hats aus dem Licht der Natur verstanden, und gesagt: Die Vollkommenheit des Menschen bestehet in der Nachfolge GOttes.« (Arndt: Wahres Christenthum, I,18,2). Wobei der Kommentator meiner Ausgabe aus der Verteidigung Heinrich Varenius’ zu letzterem Satz hinzugesetzt hat: »Wir werden zur Vollkommenheit angemahnet, nicht aber gelehret, daß wir dieselbige in dieser Welt vollkömmlich erreichen können«, was darauf hinweist, dass diese Stelle dahingehend interpretiert werden konnte. Vgl. auch Christian Braw: Bücher im Staube. Die Theologie Johann Arndts in ihrem Verhältnis zur Mystik. Leiden 1985, S. 135–143, besonders S. 137. 23 Ebd., I,11,5. 24 Ebd., I,11,9. 25 Ebd., I,11,11. 26 Vgl. ebd., I,11,17 f. Die Mystikrezeption diente nun dazu, diesen Prozess zu erklären, und führte wiederum zum schon bekannten Synkretismusvorwurf und dem Vorwurf, Arndt würde die heilsmittelnde Funktion der kirchlich administrierten Sakramente leugnen. 27 Vgl. ebd., II,6,1. 28 Ebd.
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insbesondere aber des eigenen Willens bereiteten den Menschen dazu, »daß GOtt alles allein in dir thue und wircke«.29 Kann der Mensch auch aktiv nichts zu seinem Entwicklungsprozess nach der einmal geschehenen Einwohnung beitragen, so muss er diese Einwohnung Christi doch ermöglichen. Wie dies geschieht, expliziert Arndt im 3. Buch.30 Die Werke der Buße, wie z. B. die Selbstverleugnung, an deren Anstoß das verbum externum noch notwendig beteiligt ist,31 gestatten erst Gottes Wirken im inneren Menschen, wenn dieser den Herzens-Sabbat erreicht hat. Der danach folgende 3-stufige Prozess, der mit Buße, Einkehr und täglicher Besserung beginnt und über ein »Mittel=Alter«, welches durch »mehrere Erleuchtung« gekennzeichnet ist, fortschreitet bis zum »vollkommene[n] Alter, so da stehet in der gäntzlichen Vereinigung durch die Liebe«32 , ist auf Erfüllung ausgerichtet, so dass ein Erreichen der dritten Stufe auf Erden prinzipiell möglich erscheint – wenn sie auch von den Zeitgenossen Arndts nie erreicht wird. Die Tatsache, dass ein Kommentator in späteren Ausgaben nach dem Stichwort »vollkommenes Alter« die Fußnote folgenden Inhalts gesetzt hat, weist dennoch auf eine tatsächlich missverständliche Stelle hin: »Nicht, daß solches schlechterdings müsse erreichet, sondern darnach äussersten Vermögens gestrebet werden.«33 Als biblisches Beispiel einer solchen, der Welt abgestorbenen Seele wird David angeführt, der das Wasser, nach dem ihm gelüstet hatte, für den Herrn ausgoss, nachdem es ihm die drei Helden aus dem Feindeslager gebracht hatten.34 Indem David das Wasser nicht trank, tötete er seinen Willen: Siehe, hierin stehet die rechte Vollkommenheit eines Christlichen Lebens. Denn die Vollkommenheit ist nicht, wie etliche meynen, eine hohe, grosse, geistliche, himmlische Freude und Andacht; sondern sie ist die Verläugnung des eigenen Willens, Liebe, Ehre und Erkäntniß deiner eigenen Nichtigkeit, eine stete Vollbringung des Willens GOttes, inbrünstige Liebe des Nächsten, ein hertzliches Mitleiden, und in Summa, eine solche Liebe, die nichts begehret, gedencket, suchet, denn GOtt allein, so viel in der Schwachheit dieses Lebens möglich ist.35
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Ebd., II,6,5. Zur Umkehr der mittelalterlichen Vorstellung vom »Aufstieg der Seele zu Gott« zu einem »Sich-Einsenken des Gottesgeistes« vgl. Hamm: Wortverständnis, S. 57. 30 Vgl. ebd., III,2,5. 31 Vgl. Hamm: Wortverständnis, S. 61 f.; Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995, S. 41 f. 32 Arndt: Wahres Christenthum, III, Vorrede, 1; so später auch August Hermann Francke, s. 3., S. 50. 33 Ebd., III, Vorrede, 1. 34 Vgl. 2Sam 23,15–17. 35 Arndt: Wahres Christenthum, III, Vorrede, 4.
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Vollkommenheit bei Arndt konstituiert sich also primär durch ein immer weiter fortschreitendes Absterben der Affekte innerhalb der diesseitigen Welt. Wiedergeburt und Heiligung sind nun aber keine Erfindung frühneuzeitlicher Erbauungsliteratur, sondern Teil des ordo salutis, der Lehre von der Heilsordnung, die in der Lutherischen Orthodoxie als amplificatio der Rechtfertigung differenziert ausgearbeitet worden war. Doch akzentuierten die gerade vorgestellten Werke viel stärker die Elemente conversio, regeneratio und sanctificatio und arbeiteten zudem alle mit dem Motiv des Weges, auf welchem dem »wahren Christentum« entgegengegangen werden muss. Diese Schwerpunktverlagerung und das dazugehörige ›Sichtbarkeitspostulat‹ der erfolgten Wiedergeburt markierten die Heilsordnung viel stärker linear-rationalistisch als eigentlich vorgesehen, zumal sich dieser ›Heilsweg‹ aufgrund menschlicher Denkmuster sprachlich kaum anders als linear beschreiben ließ. Die lineare Art und Weise der Darstellung führte dann fast zwangsläufig zu dem Vorwurf, die iustificatio, die eigentlich einen übergeordneten Zusammenhang bildete, würde in den ganzen ›Vorgang‹ inkorporiert und abhängig von Heiligung und Wiedergeburt. Die notwendige Erklärung, dass die Wirkungen der Gnade zeitlich gerade nicht auseinanderfallen, sondern immer zusammen gedacht werden müssten, findet sich noch bei Lütkemann,36 wurde in weiten Teilen pietistischer Kreise jedoch zugunsten einer Fortentwicklung dieser in der Erbauungsliteratur begonnenen Abkehr von einer rein forensischen Rechtfertigungslehre zurückgestellt, was perfektionistischem Gedankengut wiederum größere Einflussmöglichkeiten eröffnete.
2. »Gottes Wort gute Nacht« – Vorwurfsprofile in Hamburg und Leipzig Ein Jahr nach seinem Bekehrungserlebnis 1687 hing August Hermann Francke bereits der Vorwurf an, perfektionistisch zu lehren. Francke propagiere, so hieß es, dass ein Wiedergeborener in der Lage wäre, das Gesetz zu halten, und die damit verbundenen Sünden nicht mehr begehe. Francke schien also den einen letzten Schritt auf dem Weg, den die gerade vorgestellten erbaulichen Werke vorgelegt hatten, weiter zu gehen. 1688 befand sich Francke von Februar von Dezember in Hamburg, wo er sich – um den Anforderungen des Schabbel’schen Stipendiums Genüge zu leisten – bei Esdras Ezard, Eberhard Anckelmann und Johann Winckler vornehmlich in den alten Sprachen weiterbilden sollte. Als man 1691 in Erfurt im Verlauf der Streitigkeiten Beweismaterial zusammentrug, sagte Eberhard Anckelmann aus, Francke habe ihm gegenüber geäußert, 36
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»daß, was Rom: VII.14 bis zu Ende des cap. stehet hätte der Apostel zwar vor sich geredet, aber nicht als Regenito, sondern irregenito«.37 Woraus Anckelmann und seine Hamburger Kollegen geschlossen hätten, dass Francke das Gesetz als für Wiedergeborene unnötig bzw. erfüllbar ansah. Francke pflegte in Hamburg vornehmlich Kontakt zu Leuten seiner eigenen Altersgruppe38 wie Eberhard Zeller (*1652), Nicolaus Lange (*1659) und Hermann von der Hardt (*1660). Zeller und Lange hatten beide um ca. 1686 in Hamburg Konventikel etabliert, ab 1687 war Zeller als Informator u. a. der Kinder Johann Wincklers tätig, seit 1688 gemeinsam mit Lange, welche beide in Wincklers Haus lebten, obgleich Zeller schon der Verdacht anhing »sich wider den articulum justificationes herausgelassen« zu haben.39 Bemerkenswert ist allerdings, dass in Nicolaus Langes Konventikel im Jahr 1688 der Römerbrief besprochen worden ist40, was zu der Frage führt, wie stark die Beeinflussung Franckes durch die ›jungen Wilden‹ in 37
Röm 7,14–25: »14 Denn wir wissen / das das Gesetz geistlich ist / Jch aber bin fleischlich / vnter die Sünde verkauff t. 15 Denn ich weis nicht / was ich thu / Denn ich thu nicht das ich wil / sondern das ich hasse / das thu ich. 16 So ich aber das thu / das ich nicht wil / so willige ich / das das Gesetz gut sey. 17 So thu nu ich dasselbige nicht / sondern die sünde / die in mir wonet. 18 Denn ich weis / das in mir / das ist / in meinem Fleische wonet nichts guts. Wollen habe ich wol / Aber volnbringen das gute finde ich nicht. 19 Denn das Gute das ich wil / das thu ich nicht / Sondern das Böse / das ich nicht wil / das thu ich. 20 So ich aber thu / das ich nicht wil / so thu ich dasselbige nicht / sondern die Sünde / die in mir wonet. 21 SO finde ich mir nu ein Gesetz / der ich wil das gute thun / das mir das böse anhanget. 22 Denn ich habe lust an Gottes gesetz / nach dem inwendigen Menschen. 23 Jch sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern / das da widerstreittet dem Gesetz in meinem gemüte / vnd nimpt mich gefangen in der Sünden gesetz / welches ist in meinen gliedern. 24 Jch elender Mensch / wer wird mich erlösen von dem leibe dieses todes? 25 Jch danke Gott durch Jhesum Christ vnsern HErrn. So diene ich nu mit dem gemüte dem gesetz Gottes / Aber mit dem fleische dem Gesetze der sünden.« (Zit. n. Martin Luther: Biblia […]. Bd. 3. Hrsg. v. Hans Volz. München 1974 [= Wittenberg 1545], S. 2280 f.). Erklärung Eberhard Anckelmanns gegenüber dem Erfurter Rat, 26./16.9.1691, AFSt/H D 89 : 910–914, hier: S. 912 f. Vgl. auch J. H. Horb an Ph. J. Spener, 20.11.1688, Archiv d. Herrnhuter Brüdergemeine, R.23.A.3.a, Nr.17 und A. H. Francke an H. von der Hardt, 21.11.1688, LB Karlsruhe, K319, VI; vgl. Klaus vom Orde: Der Beginn der pietistischen Unruhen in Leipzig im Jahr 1689. In: Hanspeter Marti u. Detlef Döring (Hrsg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Basel 2004, S. 359–378, hier: S. 362. 38 Eher weniger zu Speners Korrespondenzpartnern Winckler und Horb. Eine Ausnahme ist Hermann von der Hardt, der mit beiden Männern in regem Austausch stand. Vgl. Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild, Bd. 1. Halle 1880, S. 40; Friedrich de Boor: August Hermann Franckes Hamburger Aufenthalt im Jahre 1688 als Beginn seiner pädagogischen Wirksamkeit. In: R. Ahrbeck u. B. Thaler (Hrsg.): August Hermann Francke 1663–1727. Halle 1977 (MLU Halle-Wittenberg Wiss. Beiträge 1977/37 [A39]), S. 24–36, hier: S. 28 f.; Frank Hartmann: Johann Heinrich Horb (1645–1695). Leben und Werk bis zum Beginn der Hamburger pietistischen Streitigkeiten 1693. Tübingen 2004, S. 286; vom Orde: Pietistische Unruhen, S. 362. 39 J. Winckler an Ph. J. Spener, Hamburg 28.12.1687, AFSt/H A 159 : 80, vgl. Hartmann: Horb, S. 278 ff. 40 Vgl. Hartmann: Horb, S. 279.
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Hamburg tatsächlich gewesen ist. Für Francke lässt sich nur festhalten, dass man sich 1. mit dem Römerbrief beschäftigte, während Francke Kapitel 7 eben jenes Briefes ›unorthodox‹ auslegte, 2., dass man sich der Kinderlehre widmete und Francke daran offenbar partizipierte, und 3., dass man die Rechtfertigungslehre effektiv interpretierte, während Francke mit seiner Römerbriefauslegung ebenfalls in die Nähe dieser abweichenden Lehre rückte. Andererseits ist auch eine Beeinflussung der Hamburger durch Francke nicht ausgeschlossen. In den Anfang 1689 in Hamburg stattfindenden Verhören tauchte u. a. auch die Frage nach der von den ›Angeklagten‹ rezipierten Literatur auf, auf welche Eberhard Zeller zugab, Miguel de Molinos’ Guia espiritual gelesen zu haben, allerdings auf Französisch, weswegen er das Werk nicht wirklich verstanden haben wollte.41 Diese Aussage ist schon deswegen mit Vorsicht zu genießen, weil in Gestalt Franckes der Übersetzer eben jenes Werkes in Zellers unmittelbarer Umgebung geweilt hatte.42 Molinos’ 1675 erschienene Guia war vor Franckes Übersetzung aus dem Italienischen im Jahr 1687 im Luthertum weitestgehend unbekannt, eine Disputation in Leipzig Über die Religion der Quietisten fand noch in Unkenntnis der eigentlichen Quelle statt.43 Dass Molinos’ Werk einen gewichtigen Einfluss auf die theologische Entwicklung Franckes gehabt habe, ist in der Forschung hin und wieder mal behauptet worden,44 doch lässt es sich nur schwer nachweisen, da Francke sich später 41
Vgl. Ebd., S. 293. Möglicherweise auch in Form des von Jean Cornand de Lacroze verfassten, aber 1688 anonym in Amsterdam bei Wolfgang und Savouret erschienenen Traktats ›Recueil de diverses pièces concernant le Quietisme et les Quietistes, ou Molinos, ses sentiment et ses disciples‹, welches im Mai 1688 auch Spener in die Hände gefallen war: »Ist das beste unter allen, was noch bisher gelesen, und promittiret der Autor eine völlige Apologiam des Molinos. Möchte gerne wißen, wer er sey.« (Ph. J. Spener an P. Anton, Dresden, 28.06.1688, AFSt/H A 159 : 85 f., hier: 86r; Ph. J. Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Bd. 2: 1688. Hrsg. v. J. Wallmann in Zus.arb. mit Klaus vom Orde. Tübingen 2009, Brief Nr. 65, Z. 24–26; vgl. auch Brief Nr. 56, Z. 53–57). 42 Miguel de Molinos: Manuductio spiritualis, extricans animam, eamque per viam interiorem ad acquirendam contemplationis perfectionem […]. Fideliter & stylo Mysticorum conformiter in latinam linguam translata a M. Aug. Hermanno Franckio […]. Leipzig 1687. 43 Vgl. Klaus vom Orde: Der Quietismus Miguel de Molinos bei Philipp Jakob Spener. In: Hartmut Lehmann u. a. (Hrsg.): Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Göttingen 2002, S. 106– 118, hier: S. 111. 44 Vgl. v.a. Herbert Stahl (August Hermann Francke. Der Einfluss Luthers und Molinos’ auf ihn. Stuttgart 1939), der Molinos einfach zu einem »evangelische[n] Christ[en]« erklärte, weshalb »man bei Francke nicht nach einer besonderen Abhängigkeit von Molinos suchen kann« (S. 77), und so weit geht, die Molinos-Lektüre für die Initialzündung der Francke’schen Bekehrung zu halten, was Francke selbst zwar bestritten habe, aber nur, weil er es »nicht recht wahr haben« wollte (S. 70). Vgl. dazu auch Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallischen Pietismus. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 1. Hrsg. v. dems. Göttingen 1993, S. 439–539, hier: S. 443 und Hartmann: Horb, S. 293.
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kaum je dazu geäußert hat, was nicht verwundern dürfte, barg doch die Beschäftigung mit quietistischer Literatur ein immanentes Verdachtsmoment. Das Problem für den orthodoxen Lutheraner lag in Molinos’ Konzeption der zwei Arten, wie die Seele zu Gott gelangen könne: DUobus modis ad DEUM iri potest, uno per considerationem & discursum, altero per puritatem fidei […]. Primus vocatur meditatio, secundus recollectio interior, aut contemplatio aqvisita. Primus est incipientium, secundus provectiorum. Primus est sensibilis & materialis; secundus nudior, purior, & interior.45
Die hier eröff nete Unterscheidung zwischen meditatio und contemplatio war im Luthertum so nicht üblich und Molinos’ offenkundige Präferenz des kontemplativen Weges machte die Sache nicht einfacher. Das Wortverständnis der Guia und die Offenheit des kontemplativen Weges in Richtung individueller Vollkommenheit boten sich als Angriffspunkt somit geradezu an und Conrad Tiburtius Rango reagierte 1688 dementsprechend mit der Neue[n] Quäckerey In der Quietisterey / Das ist / Kurtze Beschreibung des Ursprungs / Lehre / und ietzigen Zustande der alt=neuen Schwärmerey / der auf den Berg der Vollkommenheit steigenden Quietisten.46 Rango war nicht entgangen, dass die römisch-katholische Zensur u. a. auch die Auslegung von Röm 7,19 durch Molinos kritisiert hatte, welche der späteren Francke-Interpretation recht nahe kam. Dazu käme – laut Rango – die Ignoranz Molinos’ gegenüber der »Individualapplication des Verdienstes JEsu Christi«47 und die Ignoranz gegenüber der diskursiven Art der Betrachtung göttlicher Eigenschaften: Sie [die Seele, CD] soll GOtt nur lieben / ob sie ihn gleich nicht erkenne / […] wie ein Kind seinen Vater / obs ihn gleich nie gesehen / doch denen gläubet / die ihm sagen er sey es. […] Mercke hie den Grund des Köhler=Glaubens / Fidei implicitae, der / der Papisten Lehre nach / ohne Erkäntniß / ja auch mit Widerrede und Verneinung des / das die Kirche glaubet / bestehen sol. Gottes Wort gute Nacht!48
Während Spener etwas kopfschüttelnd über das Rango’sche Werk urteilte,49 verfolgte nun der Vorwurf, sich allzu sehr mit perfektionistischem und quietistischem Gedankengut eingelassen zu haben, Francke von Hamburg nach Leipzig.
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Molinos: Manuductio, S. 11 f. Frankfurt a. M., Leipzig 1688. 47 Rango: Neue Quäckerey, S. 45. 48 Ebd., S. 34. 49 »Wie kürtzlich D. Rango solte in Stetin etwas haben drucken laßen, Neue Quäckerey in der Quietisterey: der gantze erweiß solte dieser seyn, es seye der Quietismus zu verwerffen, weil er Weigelianisch, Weigelianismus aber weiter ex theologia mystica herkomme, dieser weil er den perfectismum intendire. Sind nur seltzame consequentzen, und dauert michs, wo man sich 46
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Nach einem zweimonatigen Aufenthalt bei Philipp Jakob Spener in Dresden, der wahrscheinlich nicht so harmonisch verlaufen ist, wie man vielleicht annehmen möchte, gerade weil sich die beiden wohl mit der Perfektionismus-Frage auseinandersetzten,50 kehrte Francke im Februar 1689 an seinen alten Studienort Leipzig zurück. Sechs Monate später musste er vor den Professoren der Universität und dem Stadtgericht Rede und Antwort stehen. Ich möchte an dieser Stelle nur zeigen, welche Rolle der Perfektionismusvorwurf in dieser bekannten Auseinandersetzung spielte, zumal das Vorwurfsprofil, welches in Hamburg zwar prinzipiell schon vorhanden gewesen ist, aber noch ein wenig konfus erscheint, im Leipziger Protocoll konkreter fassbar wird. Die Verhöre fanden vom 23. September bis zum 10. Oktober statt und begonnen hat man mit den Studenten, welchen 58 Fragen vorgelegt wurden, welche sich mehrheitlich mit Formalien beschäftigten, aber auch die Lehre prüften. Unter der Nr. 33 wurde gefragt »Ob sie nicht gelehret / daß ein regenitus GOttes Gesetz vollkömmlich halten / und ohne Sünde leben könne«, was durch die Studenten im Prinzip verneint wurde, außer durch Gotthard Fonne, der zusätzlich zu seinem »Nein« erklärte, die Magister »machten auch distinction inter phrasin: Das Gesetz halten und erfüllen / halten könne man es wohl / aber nicht erfüllen«.51 Unter den Magistern selbst, die ab dem 4. Oktober verhört wurden, bestätigte Andreas Friedel Fonnes Aussage zur Unterscheidung von »Halten« und »Erfüllen« der Gebote Gottes: »Ein Regenitus wäre nicht ohne Sünde / hätte peccata orig[inalia] und begienge auch actualia ignorantiae & infirmitatis, könne das Gesetz vollkömmlich nicht erfüllen / aber etlicher massen wohl halten«.52 Francke selbst, der am 10. Oktober vernommen wurde und 64 Fragen gestellt bekam, verneinte kategorisch und ohne weitere Erklärung die hier relevanten Fragen 11 und 12 »Ob er nicht gelehret / daß die guten Wercke gerecht und seelig machen?« alßo prostituiret.« (Ph. J. Spener an P. Anton, Dresden 22.02.1688, AFSt/H A 159 : 81r; Spener: Dresdner Briefe 2, Nr. 17, Z. 19–24). 50 Nach seiner Rückkehr nach Leipzig begann Francke, den Brief an die Philipper auszulegen. Dieser Paulusbrief enthält mit Phil 3,9.12 die zweite biblische Kernstelle zur Frage, ob es, speziell für einen Wiedergeborenen, möglich sei, die Gebote Gottes zu halten und somit einen gradum perfectionis zu erreichen. Sollte dies tatsächlich auf Speners Anregung hin geschehen sein, kann davon ausgegangen werden, dass beide sich in Dresden zu dieser Problematik verständigt haben. (Vgl. Christian Peters: »Daraus der Lärm des Pietismi entstanden«. Die Leipziger Unruhen von 1689/90 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: Pietismus und Neuzeit 23 (1997), S. 103–130, hier: S. 108; Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus. Leipzig 1921, gedr. in: ders.: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hrsg. v. Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975, S. 153–267, hier: S. 178; vom Orde: Pietistische Unruhen, S. 363 f.). 51 Vgl. Gerichtliches Leipziger PROTOKOLL […]. O.O. 1692, gedr. in: August Hermann Francke: Streitschriften. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1981, S. 1–71, hier: S. 41 f. 52 Ebd., S. 53.
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und »Desgleichen / daß ein Regenitus GOttes Gesetze vollkömmlich halten / und ohne Sünde leben könne?«53 Der Frage 60, was denn der Inhalt der Heterodoxievorwürfe in Hamburg, von denen man in Leipzig unterrichtet war, gewesen sei, wich er aus, und auf Frage 62 »Was er von Labadie und Molinos Schriff ten halte?« gab er immerhin zu, »daß er die guten Lehren von der Demuth guten theils hoch gehalten […]. In diesem und allem halte er die Regel: Omnia probate, quae meliora sunt, tenete.«54 Im 13. Oktober schrieb er über den Fragenkatalog an Spener: »Ridiculae et ineptae quaestiones erant plurimae.«55 Im Protokoll wird deutlich, dass auch in Leipzig der Francke seit Hamburg anhängende Vorwurf perfektionistischer Lehre einen prominenten Platz einnahm. Neben den Vorwürfen unerlaubter Vergemeinschaftung außerhalb üblicher Universitäts- oder Frömmigkeitspraxis versuchte man an diesem Punkt die »neue Lehre« Franckes und seiner Mit-Magister dingfest zu machen.56 Ohne dies im Detail auszuführen, sei angemerkt, dass genau einen Tag nach Franckes Verhör in Leipzig, am 11. Oktober 1689, Philipp Christoph Zeise, Pfarrer im hinterpommernschen Zirchow, sich vor dem Pommerschen Konsistorium den gleichen Fragen zu stellen hatte.57 Zusammenfassend ist an dieser Stelle festzuhalten, dass in allen bis hierher in den Blick genommenen Auseinandersetzungen der Jahre 1688 und 1689 der Vorwurf perfektionistischer Lehre als theologischer Kristallisationspunkt des allgemeinen antipietistischen Vorwurfsprofils fungierte. Mögen die Vorwürfe auch unterschiedlich nuanciert sein – in Hamburg gründete man sie auf ›unorthodoxe‹ Schriftauslegung, in Leipzig und Hinterpommern eher auf das Halten der Gebote Gottes und die daraus resultierende Sündlosigkeit in hac vita – so bleibt als Grundvorwurf in allen ausbrechenden Konflikten, dass die pietistische »neue Lehre« Elemente der lutherischen Rechtfertigungslehre in unzulässiger Weise vermenge, mithin von der forensischen Auslegung derselben abrücke in Richtung einer effektiven 53
Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. 55 Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hrsg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zus.arb. mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, Brief Nr. 5, Z. 43 f. 56 Francke rechnete diese Frage denn auch zu den Spener gegenüber erwähnenswerten: »Praecipue quaestiones de Magistratu, de perfecta impletione legis, de precibus erant; de quibus omnibus omnibus [?] cum nihil contra verbum Dei et libros Symbolicos docuerim, salva res erat.« (Spener, Briefwechsel, Brief Nr. 5, Z. 47–49). Vgl. auch die Äußerungen Franckes in der ›Apologia, Oder Defensions-Schriff t An Ihre Chur-Fuerstl. Durchl. zu Sachsen‹, 07.11.1689, gedr. Francke: Streitschriften, S. 82–111, hier: S. 87. 57 Vgl. Claudia Drese: »Ich solte auß den rätzeln rathen was die gute freunde meineten« – Kontakte und Konflikte in Hinterpommern. In: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), S. 101–118; Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 41 f. 54
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Rechtfertigung, und mit Hilfe der Überbetonung bestimmter Teile des ordo salutis, wie der Wiedergeburt und der Heiligung, menschlichen Einfluss auf die iustificatio suggeriere. In keinem dieser Konflikte gelang es jedoch, dem Pietismus eine solche Lehre nachzuweisen, so dass man sich auf pietistischer Seite nicht scheute, Konflikte um dieses Thema selbst zu provozieren, was am Beispiel des Wirkens Joachim Justus Breithaupts und August Hermann Franckes in Erfurt noch etwas näher erläutert werden soll.
3. »Ob Halten und Erfüllen der Gebote Gottes Synonyma seien?« – Konfliktlagen in Erfurt Die Lage in Erfurt ist nun eine besondere: Nach einem turbulenten Jahrhundert unterstand die Stadt seit der ›Erfurter Reduktion‹ aus dem Jahr 1664 wieder dem (römisch-katholischen) Kurfürstentum Mainz, allerdings existierten römisch-katholische und lutherische Konfession nebeneinander.58 Die drei Räte der Stadt waren paritätisch besetzt59 und den Protestanten acht Kirchen zugesprochen: St. Andreas/ Mauritius, die Augustinerkirche, die Barfüßerkirche, die Kaufmannskirche, St. Michaelis, die Predigerkirche, die Reglerkirche und St. Thomas. Insgesamt bestand das Ministerium um 1690 aus 17 Geistlichen, von denen 14 zwischen 1683 und 1685 – nach der Pestwelle von 1682/83 – ins Amt gelangt waren.60 Als Senior an der Spitze des Predigerministeriums stand seit 1687 Joachim Justus Breithaupt.61 Und eben dieser rückte 1690 noch vor Francke in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. 58
Vgl. dazu Volker Press: Zwischen Kurmainz, Kursachsen und dem Kaiser – Von städtischer Autonomie zur ›Erfurter Reduktion‹ 1664. In: Ulman Weiß (Hrsg.): Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte. Weimar 1992, S. 385–402. 59 Zur Erfurter Ratsverfassung seit 1664 vgl. Michael Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert […]. Neustadt a. d. Aisch 1992, S. 31; ders.: Erfurter Ratsherren und ihre Familien im 17. Jahrhundert. Neustadt a. d. Aisch 1989, S. 19 f. 60 Vgl. Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 97. Unter den 1683–1685 ins Amt gekommenen waren keine ›Aufsteiger‹ innerhalb der Erfurter Geistlichkeit und sechs ›Anfänger‹ (Johann Melchior Kummer, ab 1684 Oberpfarrer St. Andreas/Mauritius; Johann Laurentius Pfeiffer, ab 1683 Diaconus Barfüßer; Johann Simon Hoe, ab 1683 Diaconus St. Michaelis; Heinrich Süße, ab 1684 Nonarius; Hieronymus Boccius, ab 1684 Diaconus Regler und Johann Michael Schellenberg(er), ab 1683 Oberpfarrer St. Thomas), alle anderen kamen aus Pfarrämtern außerhalb Erfurts, vgl. Series Pastorum für Erfurt und die entsprechenden Biogramme, in: Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bde. 1–10. Hrsg. v. Pfarrerverein d. KPS in Zus. mit d. IWZ f. Pietismusforschung Halle, Leipzig 2003–2009. Die Altersstruktur des Ministeriums war allerdings sehr heterogen und reichte vom Geburtsjahr 1625 (Hieronymus Lämmerhirt, Prediger Hospitalkirche) bis 1663 (August Hermann Francke). 61 Vermutlich war Breithaupt von Spener empfohlen worden, zumindest jedoch hatte Letzterer Breithaupt stark ermuntert, die Vokation nach Erfurt anzunehmen. Vgl. Ph. J. Spener: LBed
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Der Konflikt, welcher sich zwischen Zacharias Hogel III. und Joachim Justus Breithaupt entspann, nahm seinen Anfang in Hogels Unterricht am Ratsgymnasium, an welchem er Rektor war. Am 6. Dezember 1690 dozierte Hogel: in classe Secunda […] de lege Dei episque usu apud renatas […], daß ein wiedergebohrener deßwegen vonnöthen habe des Gesetzes, daß er dadurch mehr und mehr zu Erkäntniß seines elenden sündlichen Fleisches gebracht, und vor Heucheley bewahrt werde, damit er nicht ihm einbilde als [könne er] aber in seiner WiederGeburt durch Christi Kraff t das Heil. Gesetz Gottes […] völlig halten.62
Woraufhin einer seiner Schüler, Johann Christian Machenhauer, mit Unverständnis reagierte und seine Mitschüler »gefragt ob sie denn für wahr hielten, was der Rector jetzt fürgebracht? Er glaube es nicht, wolte ein anders erweisen, daß ein wiedergebohrner könne allerdings die Zehen Gebote halten«.63 In einem Vier-Augen-Gespräch zwischen Hogel und Machenhauer am 12. Dezember musste Letzterer in der direkten Konfrontation allerdings klein beigeben und unterschrieb einen Konsens, in welchem er sich zum einen orthodoxer Lehre konform erklärte und zum anderen die Lehren »in Arminianis Socinianis aliisque« verdammte, wozu auch die Aussage gehörte, Halten und Erfüllen der Gebote seien zwei unterschiedliche Dinge.64 Daraufhin griff Breithaupt in seiner Eigenschaft als Inspektor des Gymnasiums in die Auseinandersetzung ein – zumal Machenhauer überdies auch sein Famulus war. Er leugne nicht, dass die Wörter »halten« und »erfüllen« in den Bekenntnisschriften
3, 217 f. (Mai 1690); Ph. J. Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Bd. 1: 1686/87. Hrsg. v. Johannes Wallmann in Zus.arb. mit Martin Friedrich, Klaus vom Orde u. Peter Blastenbrei. Tübingen 2003, Brief Nr. 80 (11.03.1687). Zum Pietismus in Erfurt allgemein vgl. Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze I. Tübingen 1995, S. 325–350. 62 Z. Hogel an die Inspectores Gymnasii, Dez. 1690, AFSt/H D 84 : 83v–90, hier: 83v. Die Datierung des Briefes auf den 6. Dezember bei Mori kann nicht stimmen, da Hogel die Vorgänge bis zum 18. Dezember beschreibt, und auch die Feststellung, Breithaupt habe am Tag des Vorfalls im Gymnasium reagiert, ist nicht korrekt. Der Brief Breithaupts an Hogel datiert vom 12.12.1690 (vgl. Mori: Begeisterung, S. 73 Anm. 346, S. 74). 63 Z. Hogel an die Inspectores, AFSt/H D 84 : 83v. 64 Ebd., 84r. Im ersten Teil erklärte Machenhauer u. a. »I. Renatis ut peccatoribus opus esse usu Legis paedagogico atque elenchtico, ut ad agnitionem peccati ultenorem adducantur. […] II. Renatum peccati jugum et dominium excutere; nam qui natus est ex Deo non facit peccata i.e. habitum et consuetudinem peccati deponit, quamvir ab omni actu etiam proaeretico sibi cavere non potest.« In Teil 2 verdammte er z. B. die Aussagen, dass »ad Rom. VII. agi de irregenitis, loquitur enim Paulus de se in propria persona et de suo tunc temporis statu tricies eodem loco« oder eben dass »Servare legem non idem esse ac implere.« Vgl. dazu auch Breithaupts Erklärung ›Von der Unterschrift‹ in AFSt/H A 124 : 57.
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an einigen Orthen zusammen gesetzet werden, nehml[ich] daß und wie wir das Gesetz erfüllen und halten können. So ist demnach dieses, daß ein Wiedergebohrner die Gebothe Gottes halten könne, sogar nicht wieder die libros Symbolicos, daß auch das Wort erfüllen, hin und wieder als im articul de delectione et impletione legis, davor gebraucht wird, so ferne es neml[ich] mit dem halten übereinkömmet und heist daher inchoata legis perfecto impletio.65
Breithaupt erklärte im Folgenden unter Heranziehung der Dogmatiken von Martin Chemnitz 66 und Johann Gerhard67, dass »erfüllen« und »halten« nur dann synonym gebraucht werden könnten, wenn »erfüllen« auch tatsächlich im Sinne von »halten« verstanden würde. Da dies aber ob der gängigen Wortbedeutung schwierig sei, sollte man »erfüllen« doch eher im Sinne einer höheren Stufe verstehen, so dass ein »Erfüllen des Gesetzes«, ein »vollkommenes Halten der Gebote Gottes« bedeute. Breithaupt warnte Hogel gleichzeitig davor, dass, wenn »gedachte impossibilitas nur generaliter docirt« werde und er das Halten der Gebote für unmöglich erkläre, eine »vielfältige Seelengefahr« entstünde und »der Teuffel dabey seine Epicureische Somnia einfichten« könne.68 Machenhauer, nun im Wissen um die inhaltliche Rückendeckung durch den Senior, opponierte daraufhin weiter gegen Hogel, wobei aber auch dieser sich mit Machenhauers unterschriebener Erklärung nicht mehr zufrieden gab. Am 13. Dezember verlangte Hogel Satisfaktion, woraufhin die Situation eskalierte: befand aber den Menschen so verkehrt und verhärtet, daß er zum Theil läugnete was er fürgebracht, zum Theil retractirete was ich mit ihm gehandelt, daß ich daher verursachet wurde ihm seine Handschriff t vorzuhalten, und ihn zu vermahnen, ferner sich nicht wiederspenstig zu erweisen. Weil er aber nur immer mehr wiedersprach, man könne das Gesetz Gottes halten, halten und erfüllen wäre zweyerley […].69
Einmal in Fahrt, war Machenhauer auch nicht mehr zu zügeln und erklärte in Gegenwart eines anderen Lehrers, »der H. Rector wäre so ein gelehrter Mann und gebe solche falsche Lehre vor«70, woraufhin Hogel der Geduldsfaden riß: worüber ich endlich aus Ungeduld herausgefahren: Solches wäre erstuncken und erlogen, er solte sich entweder weisen laßen, oder von meinen Augen gehen, welches letztere er denn ohngesäumet mit diesen Worten trotzlich ergriffen; Er könte wohl gehen, stund mit zusammengeraff ten Büchern von seinem Ort auf, und ohngeach65
J. J. Breithaupt an Z. Hogel, Erfurt 12.12.1690, AFSt/H D 84 : 81–82, hier: 81r. Vgl. Martin Chemnitz: Loci Theologici. Frankfurt a. M. 1592, II. Buch, Caput VIII: »De Impletione Decalogi, quomodo fieri possint quae preaecipiuntur«, S. 110–112. 67 Vgl. Johann Gerhard: Locorum Theologicorum […]. Bd. 3. Jena 1613. 68 J. J. Breithaupt an Z. Hogel, AFSt/H D 84 : 81v. 69 Z. Hogel an die Inspectores, AFSt/H D 84 : 85r. 70 Ebd. 66
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tet ihm P. Förster nachrief: ob er also aus seinem Gehorsam treten wolte? fortgieng, noch in der Thür wiederholete, halten und erfüllen wäre Zweyerley; dabey in transitu per auditorium Primanorum sich vernehmen laßen: der Rector hätte ihn heißen gehen […].
An diesen Aussagen wird deutlich, dass sich mehrere Konfliktebenen auftun. Zum einen ging es tatsächlich eine gewisse Zeit lang um die inhaltliche Frage, ob »halten« und »erfüllen« der Gebote Gottes Synonyma seien, zum anderen entwickelte sich diese Auseinandersetzung aber sehr schnell zu einer Machtprobe innerhalb der städtischen Hierarchie. Da der Konflikt nicht intern lösbar schien, setzte der Erfurter Rat, dessen Sekretär übrigens Zacharias Hogels Bruder Emanuel war, am 30. Dezember 1690 eine mit umfangreichen Vollmachten ausgestattete Untersuchungskommission71 ein, deren erste Amtshandlung noch am Tag ihrer Einsetzung darin bestand, August Hermann Francke, der im Juni 1690 in Erfurt Diaconus an der Augustinerkirche geworden war, die Privat-Informationen zu untersagen und ihm zu verbieten, die Leute in ihren Häusern zu besuchen. Im Februar 1691 hatte man sich aber erst einmal wieder auf den Ausgangskonflikt besonnen und verschickte an ausgewählte Prediger Erfurts72 10 Fragen zu dem Sachverhalt, welche in konzentrierter Form das Vorwurfsprofil aus der Erfurter Zeit offenbaren. Die Kommission fragte vornehmlich zur Lehre, ob die Geistlichen glaubten, dass ein Wiedergeborener in diesem Leben die 10 Gebote »vollkommen halten und erfüllen könne«, ob im Artikel de lege stünde, dass »halten« und »erfüllen« Synonyme seien, ob ein Wiedergeborener die 10 Gebote »inchoative halten und erfüllen könne« und was das eigentlich heiße? Aber auch Fragen zur Vermittlung an die ›Einfältigen‹: zum einen, ob man Kindern z. B. zumuten könne, auf die Katechismusfrage nach dem Halten der Gebote zu antworten, sie hätten »die S. Zehn Gebote Gottes zwar nicht perfecte gehalten, iedoch ichoative«,73 zum anderen, ob Beichtväter sich dann ewiger Strafe schuldig machten, wenn sie Beichtkinder absolvierten, die
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Diese bestand aus dem Oberratsmeister Joachim Andreas von Brettin, dem »Elter Bürgermeister« von 1689 Georg Christoph von Hartenfels, dem Syndicus Johann Wilhelm Sömmeringk, einem Schwager Hogels, den beiden »Jüngere[n] Bürger Meister[n]« von 1690 und 1691 Johann Schorch und Wolfgang Winzheim, Anton Hallenhorst, dem Vormundschaftsbeamten von 1689 und Emanuel Hogel als Aktuarius. Vgl. den Erlass des Erfurter Rates vom 09.01.1691/30.12.1690, AFSt/H D 84 : 100v–101; Johannes Biereye: August Hermann Francke und Erfurt. In: ZVKGS 21 (1925), S. 31–82, hier: S. 56. Francke schrieb über die Kommission am 08.01.1691 an Spener: »Die commissarii sind professi hostes.« (A. H. Francke an Ph. J. Spener, Erfurt 08.01.1691. In: Spener, Briefwechsel, Brief Nr. 11, Z. 21 f. dazu auch Anm. 12). 72 »Gegenwärtige quaestiones werden denen Herrn Pastoribus und Diaconis alhier, soviel denen unverdächtig sind […] überschicket« (AFSt/H A 124 : 26.30). 73 10 Fragen der Untersuchungskommission, Frage 5, AFSt/H A 124 : 26r-v.
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behaupteten, sie hätten die Gebote nicht gehalten, und ob derjenige, der »hart drauff dringet, daß man nicht absolute reden […] solle, hiedurch nicht die einfältigen Zuhörer und Kinder turbire« und damit zum Perfektionismus treibe.74 Ohne es an diesem Punkt zu realisieren, hatte die Kommission damit eine Kernstelle pietistischer Theologie angefragt. Das Antreiben zum möglichen Halten des Gesetzes bot ja nur die Grundlage eines ganz anderen Schwerpunktes, nämlich der Sichtbarkeit der Wiedergeburt. Bei der herausragenden Bedeutung, welche im Pietismus der Wiedergeburt als Akt der individuellen Glaubensapplikation beigemessen worden ist, musste die Unterscheidung zwischen ›halten‹ und ›erfüllen‹ der Gebote notwendig folgen. In diesem Unterschied lag das Fundament zur Begründung des ›Sichtbarkeitspostulats‹. Wenn aus den ›guten Werken‹ als Früchten des wahren Glaubens ersichtlich werden sollte, dass und ob der Einzelne ein Wiedergeborener war, mithin dass ihm im Gericht die Rechtfertigung tatsächlich zugesprochen werden würde, dann mussten ›gute Werke‹ auch per definitionem bestimmt werden können. Die Definition konnte aber nur über die ›Gebote Gottes‹ erfolgen und insofern musste es möglich sein, diese »halten« zu können. Ein synonymer Gebrauch von ›halten‹ und ›erfüllen‹ hätte diese Möglichkeit verschlossen und pietistischer Theologie gleichzeitig das einzige Kriterium zu fundierter Beurteilung des Lebenswandels der Gemeindeglieder aus der Hand geschlagen. Um die Ausführungen zum Konflikt Breithaupts in Erfurt hier kurz zu Ende zu führen: Nachdem zusätzlich Gutachten sowohl der Theologischen Fakultäten Jena, Gießen und Wittenberg als auch der Konsistorien in Gotha und Lübeck angefordert worden waren und diese 4 zu 375 für Breithaupt votierten, kam es durch die Vermittlung des Magdeburger Propstes Philipp Müller im Juni 1691 zu einem Vergleich zwischen Hogel und Breithaupt, in welchem Hogel wider Erwarten die Breithaupt’sche Position unterschrieb.76 Acht Tage nach diesem Vergleich erfolgte die erste ausführliche Anklage gegen Francke. Seinen Ausgang nahm dieser Folgekonflikt in einer Bitte der Francke’schen Gemeinde, die semi-privaten Predigtwiederholungen wieder zuzulassen77, woraufhin die immer noch existierende Untersuchungskommission Nachforschungen in Franckes Umfeld anstellen ließ. Im Laufe dieser Nachforschungen stieß man er-
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Ebd., 26v. Jena schickte zwei Gutachten. Vgl. Gutachten der Theologischen Fakultät Jena, Jena 12.02.1691, AFSt/H 124 : 7–10r und Antwort der Theologischen Fakultät auf Anfragen Z. Hogels, Jena 28.02.1691, AFSt/H 124 : 11–17. 76 Vgl. Vergleich zwischen Breithaupt und Hogel, Erfurt 11.06.1691, AFSt/H A 124 : 77–79. 77 Vgl. Sämtliche Eingepfarrte zu St. Augustin an den Rat Erfurt, Erfurt 16.04.1691, AFSt/H D 89: 519f; zum Problem der Predigtwiederholungen vgl. auch Breithaupts Notizen, die deren Entwicklung seit 1689 zusammenfassen: »Was wegen der Repetition der Predigten vorgegangen«, AFSt/H A 124 : 91 f. 75
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neut – so glaubte man – auf perfektionistische Lehre und plötzlich auch auf Beschwerden aus Franckes Gemeinde. Als absehbar gewesen war, dass August Hermann Francke nach den Unruhen nicht würde nach Leipzig zurückkehren können, hatte Breithaupt ihn in Erfurt für die seit Februar 1690 vakante Diakonatsstelle an der Augustinerkirche empfohlen,78 aber während Breithaupt sich erst in der beschriebenen Auseinandersetzung mit Zacharias Hogel direkt dem Perfektionismusvorwurf ausgesetzt sah, hing dieser Francke schon seit seinen Hamburger Tagen nach, was die Berufung, v.a. auch nach den Vorgängen in Leipzig, von vornherein schwierig machte. Nachdem Francke jedoch am 21. April die Probepredigt gehalten und die Augustinergemeinde sich für ihn ausgesprochen hatte, wurde nur drei Tage später, am 24. April, die Examination Franckes vorgenommen und bereits hier zeigte sich die Spaltung des Erfurter Geistlichen Ministeriums deutlich, denn das Examen wurde nur von den vier Predigern Breithaupt, Heinrich Süße, Johann Laurentius Pfeiffer und Johann Glörfeld gehalten, welche Francke für orthodox befanden.79 Die restlichen Prediger protestierten beim Rat gegen dieses Examen, 80 konnten sich jedoch nicht durchsetzen und so wurde Francke gegen den Widerstand eines Großteils des Ministeriums am 2. Juni 1690 ordiniert. Zusätzlich zu den üblichen Reversalien bei Antritt eines Pfarramtes musste Francke allerdings versichern, dass bey dem mit mir angestellten publico Examine auf Articulos de justificatione, Bonis operibus, impletione Legis de Perfectione bin befraget worden, und davon mein bekändn[is] öffentlich daselbst also abgestattet, daß ich in keinen derselben 78
Vgl. J. J. Breithaupt an den Erfurter Rat, Erfurt 27.02.1690, AFSt/H D 84 : 30 f. Vgl. Johann Laurentius Pfeiffers Bericht über das Francke’sche Examen und dessen Umstände: »orthodox, daß wir an ihm nichts finden können, so zu tadeln gewesen, sonderlich hat man wahr genommen, daß er eine fürtreffliche Philology, so daß hebraeische und griechische [?] so gut kan als das deutsche. Die weggangene bekamen ein schlechtes lob bey der gantzen Stadt, und wiewol sie bey Rath ein kamen mit einem Schreiben, worin contra examen nostrum protestirten, welches die ordination etliche wochen aufhielte, so richteten sie doch nichts aus, sondern unser examen muste gelten u. wurde er noch vor Pfingsten ordiniret. […] Als nun der H. Senior sich einstellete, wolte man denselben dahin vermögen das Examen pro nunc aufzuheben. Dn. Senior respondebat, warumb man es ihm nicht eher gesagt, nun wäre ja alles dazu angestellet, viele auditores wären da, denen es befremden würde, warumb das Examen seinen Fortgang nicht hätte, zu dem hätte er des Raths Befehl für sich, den müste er respectiren, sagte darauf, er wolte in Gottes Nahmen das Examen laßen für sich gehen, stellte einem jeden frey was er hierunter thun wolte, ob er dem Examen beywohnen wolte oder nicht, nun da H. Senior ins Gymnasium einginge so folgte ihm niemand nach, als H.M. Süße und ich, die andern gingen alle weg mit H. Kromeyern, als das Examen aber kaum angefangen war, stellte sich noch der Herr Clörfeld, u. waren also unser Viere die H. M. Francken examinireten, wir examinireten ihn alle scharff, und befragten ihn sonderlich auf die puncta, weswegen er einigen Verdacht auf sich geladen, er aber respondirte orthodox.« (Archiv des Evangelischen Predigerministeriums Erfurt, A IV b2, Bl. 36). 80 Vgl. AFSt/H D 84 : 41 ff. 79
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p[uncten] wieder erwehnte unsere Libros Symbolicos icht was hegete sondern meine selbst eigene Seligkeit nicht anders denn durch den Glauben allein hoffete.81
Auf die Anklagepunkte vom 19. Juni 1691, die sich zum einen auf unerlaubte Vergemeinschaftung außerhalb der Gemeinde, also Separation, und zum anderen auf den Perfektionismusvorwurf stützen, reagierte der bis dahin recht ruhige Francke im August 1691 mit einem Schreiben an Breithaupt.82 Nachdem er die Beurteilungen seiner Person aus Leipzig und Hamburg als befangene Äußerungen abgelehnt hatte, erinnerte er die Geistlichen daran, dass »dennoch endlich das sämtliche Ministerium in meine ordination gewilliget und mir alle […] die Hände aufgeleget«.83 Den Vorwurf, er hätte einen »neuen Methodo« eingeführt, könne er nicht nachvollziehen, geschweige die Aussage, er hätte »viel Unfugs gestiff tet«.84 Dass er viele Studenten nach sich gezogen hätte, wäre per se nichts Negatives, »alß wodurch ja der Löblichen Universität ein Zuwachse geschehen, und die Bürger nach ihrem hertzlichen verlangen mit Praeceptoribus ihrer Kinder versehen worden«.85 Zur Lehre äußerte sich Francke in seiner Remonstration selbst nur sehr zurückhaltend. Zwar kenne er den Vorwurf, »daß man von nichts mehrers gehöret, alß, ein wiedergebohrner könne das Gesetz halten«, aber Solches ist ja kein Wunder, da nehmlich dieselbe controversia bißhero zwischen denen H[errn] Seniorem und Rectorem Gymnasii geführet worden, daß man aber solte hinzu gesezet haben: Die Vorfahren hätte geirret, alß welche gelehret, daß man die Gebothe Gottes nicht halten könne, ist von mir, so viel ich weiß, auch von andern, unwahr und unerweißlich.86
Den Vorwurf, sie hätten die Differenzierungen in der Lehre nur zum Schein vorgenommen und »doch in Wahrheit nichts anders, alß den Perfectionismum, zu inculciren gesucht«, halte er für anmaßend und verweise auf sein diesbezügliches Examen.87 81
Revers A. H. Francke, Erfurt 1690, AFSt/ D 84 : 20–22, hier: 21. A. H. Francke an J. J. Breithaupt, Erfurt 21.08.1691, AFSt/H D 89 : 115–124. 83 A. H. Francke an J. J. Breithaupt, Erfurt 21.08.1691, AFSt/H D 89 : 117. 84 Ebd. 85 Ebd., 119. Die pietistischen Informatoren waren für den Erfurter Rat ein spezielles Problem, zumal sie nicht zu Unrecht als Hauptmultiplikatoren der ›neuen Lehre‹ galten, so dass man im August 1691 den Erfurter Bürgern die Beherbergung pietistischer Studenten verbot. Vgl. Ratsprotokoll Erfurt, 27.08.1691, AFSt/H D 89 : 841. 86 A. H. Francke an J. J. Breithaupt, Erfurt 21.08.1691, AFSt/H D 89 : 120. 87 Ebd. Der ursprüngliche Vorwurf lautete: »Die dogmata belangend hat man benebst dem, daß M. Francke seine politischen Lebens=Regeln als Articulos fidei bey den seinen austheilet, von nichts mehr gehöret, als ein Wiedergebohrner könne daß moralische Gesetz halten, und hätten die vorfahren geirret, als welche gelehret, daß man die Geboth Gottes nicht halten könte. Welches zwar alles mit einiger distiction, wenn man in Sie gedrungen, Sie entschuldigen wollen, aber doch in der Wahrheit nichts anders, denn den perfectionismum zu inculciren gesu82
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Diesem Schreiben beigelegt hatte Francke 15 Thesen, die später unter dem Titel Von der Christen Vollkommenheit im Druck erschienen.88 Laut diesen Thesen kann der Mensch auf Erden zwei Arten der Vollkommenheit erreichen. Zum einen würde ihm in der Rechtfertigung, welche durch den Glauben geschehe, die Vollkommenheit Christi zugesprochen. »Wer diese Vollkommenheit nicht hat, der kan nicht seelig werden«89, da die Übertragung der Vollkommenheit Christi mit der Annahme Christi im Glauben einhergehe und die Glaubensapplikation Voraussetzung der Rechtfertigung, bzw. der Seligkeit sei. Der gerechtfertigte Mensch wiederum lebe sowohl in der »Schwachheit des Fleisches« als auch mit der »angebohrne[n] Sündliche[n] Unart«. Doch verlange es den Gerechtfertigten nach nichts mehr »alß Gott und das ewige Leben«90, obgleich die »anklebende Unarten, und Uber=eilungen […] den gerechtfertigten Menschen nicht zugerechnet« werden, und diese in ihrer Seligkeit gewiss sein dürfen, zumal die Wiedergeborenen – und diesen Terminus gebrauchte Francke erst in These 5 zum ersten Mal – »nicht wandeln nach dem Fleisch, ob sie wohl das Fleisch reitzet, sondern nach dem Geist«.91 Im Streit des Fleisches gegen den Geist, den Francke nicht leugnete, stehe ein Wiedergeborener klar auf Seiten des Geistes, wodurch er in die Lage versetzt würde, die Schwachheitssünden mehr und mehr abzulegen.92 Dies ist die zweite Art der erreichbaren Vollkommenheit, die im Laufe der Heiligung erreichbare Zunahme im Christentum, welche entgegengesetzt proportional zur Abnahme in den Sünden verläuft. Francke beschrieb hier kein vollkommenes Endstadium dieses Wachstumsprozesses, niemand aus diesen Kreisen tat das. Dennoch könne dem Menschen »auf gewiße Weise eine Vollkommenheit […] beygeleget« werden, wenn man Vollkommenheit komparativisch verstünde. Das Ziel, welches dem Einzelnen in der Schrift gesetzt sei, bestünde darin, »daß der Mensch zu einer Männlichen Stärcke im Christenthum kommen könne, sich der alten Gewohnheiten zu entschlagen, und
chet«. (Kromayer-Kreis an [J. J. Breithaupt], Erfurt 28.07.1691, zit. nach Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes enthaltend den Briefwechsel Francke’s und Spener’s. Hrsg. v. Gustav Kramer. Halle 1861, S. 127). 88 Offi ziell zum ersten Mal 1695 als Anhang der Lebens=Regeln. Vgl. dazu Erhard Peschkes Einleitung zum Abdruck in: August Hermann Francke: Werke in Auswahl. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 356–359. Ich zitiere hier nach ›Von der Christen Vollkommenheit‹ AFSt/H D 89 : 139–141. 89 Francke: Vollkommenheit, AFSt/H D 89 : 139. 90 Francke: Vollkommenheit, AFSt/H D 89 : 139. 91 Ebd. 92 »In solchen seinen sündlichen Gewohnheiten und Gebrechen bleibet aber der gerechtfertigte Mensch nicht allmahl gleich stehen, sondern leget durch Gottes Gnade das böse immer mehr und mehr ab, und wächset auch von tage zu tage im Glauben und in der Liebe, gleichwie man in leibl[lichem] Alter erst[lich] ein Kind ist, darnach ein Jünglich darnach ein Mann wird.« (Francke, Vollkommenheit, These 7, AFSt/H D 89 : 140; so auch Arndt, s. 1., S. 36).
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sein Fleisch und Blut zuüberwinden, und daß ein Mensch immer vollkommener sey alß der andere«.93 Das Ziel war nicht die völlige Sündlosigkeit. Aus all dem konnte Francke folgern, dass der Mensch sowohl vollkommen – nach der Rechtfertigung – als auch gleichzeitig unvollkommen – bezüglich des möglichen Wachstums in der Heiligung – sei. Ebenso, dass ein Gerechtfertigter nach der Rechtfertigung keine Sünde habe, nach der Erneuerung jedoch sehr wohl, wobei »was dem Menschen noch anklebet«, ihm um Christi willen nicht zugerechnet würde.94 Da Francke im Laufe der Auseinandersetzung auch immer wieder politische Beeinflussung seiner Anhänger vorgeworfen worden war, schaltete sich am 3. September 1691 die kurmainzische Regierung ein und verbot jegliche Konventikel in der Stadt. Francke selbst, der sich geweigert hatte, seine Dimission selbst zu fordern95, wurde am 18. September seines Amtes enthoben und am 24. September der Stadt verwiesen. Einen Tag später nahm auch Joachim Justus Breithaupt seinen Abschied.96
4. Fazit Die Protagonisten des späteren Halleschen Pietismus gingen seit den späten 80er Jahren des 17. Jahrhunderts von der Möglichkeit aus, das christliche Individuum könne bestimmte Stufen oder Grade einer Vollkommenheit im irdischen Dasein erreichen. Wovon pietistische Lehre allerdings nicht ausging, war die Erreichbarkeit einer perfectio absoluta auf Erden – weshalb der Perfektionismusvorwurf von der Orthodoxie auch nie bewiesen werden konnte. Was an den pietistischen Quellen der frühen Zeit deutlich und durch die Vorwurfsprofile von orthodoxer Seite bestätigt wird, ist eine subtile, aber wirkmächtige Modifikation in der Interpretation lutherischer Rechtfertigungslehre. Die von 93
Francke: Vollkommenheit, AFSt/H D 89 : 140. Francke: Vollkommenheit, Thesen 11 und 12, AFSt/H D 89 : 140. 95 Vgl. A. H. Francke an Rat Erfurt, Erfurt 18.09.1691, AFSt/H D 89 : 932–936. 96 Vgl. Kromayer-Kreis an J. J. Breithaupt, Erfurt 21.09.1691, AFSt/H D 89 : 957–973; Rat Erfurt an A. H. Francke, Erfurt 24.09.1691, AFSt/H D 89 : 983; J. J. Breithaupt an Rat Erfurt, Erfurt 25.09.1691, AFSt/H D 89 : 988. Breithaupt wusste zu diesem Zeitpunkt bereits vom Interesse Brandenburg-Preußens, ihn an die neu zu gründende Universität Halle zu berufen. Vgl. dazu Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2015, S. 151: »Als Breithaupt am 25.9.1691 dem Rat seinen Abgang erklärte, muss er ebenfalls über dritte Quellen, neben der kursierenden ersten Liste vom 27.8.1691, über seine Vokation nach Halle informiert gewesen sein, da er offi ziell erst am 7.10.1691 aus Berlin in Kenntnis gesetzt« wurde. 94
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frühneuzeitlicher Erbauungsliteratur zumindest angeregte Individualisierungstendenz in der Glaubenspraxis unterstützte die zunehmende Akzentsetzung auf den ordo-salutis-Elementen Wiedergeburt und Heiligung, was zwar ein Zurückdrängen der übergreifenden Bedeutung der iustificatio bedeutete und deren Charakter als universaler Gnadengabe in den Hintergrund drängte, letztlich aber zu einer systemimmanenten Offenheit gegenüber einem vorher ungekannten Entwicklungsgedanken führte, welcher seinen Ausdruck in der Möglichkeit individuell erreichbarer Stufen der Vollkommenheit fand. Das Individuum bekam allerdings nicht nur die Möglichkeit, sich zu entwickeln, sondern es wurde in gewisser Weise sogar gezwungen, eine Entwicklung ersichtlich werden zu lassen, da ihm sonst der Glauben und damit die Rechtfertigung abgesprochen werden konnten. Die Flexibilität des theologischen Systems und die Verortung des »letzten Status« außerhalb der individuell erfahrbaren Teile der Heilsordnung, dazu die bewusste Unschärfe in der Bestimmung dieses »letzten Status«, machten es für den Pietismus möglich, die Notwendigkeit der Glaubensfrüchte aus der Vollkommenheitsvorstellung abzuleiten. Wenn man die letzte Stufe der Vollkommenheit dennoch bestimmten musste, identifizierte man sie vornehmlich mit dem Urstand, denn die Wiedererlangung dieses sündlosen Zustandes vor der Erbsünde war auf Erden gleichfalls unerreichbar. Aber im Streben nach einem heiligen, möglichst sündlosen Leben bestand für das Individuum die Möglichkeit, sich diesem Zustand unendlich anzunähern. Diese geforderte sichtbare Entwicklung im Christentum hatte ihr festes – wenn auch unerreichbares und ihrem Charakter nach unbestimmbares – Ziel in der Vereinigung der Seele mit Gott. Damit verblieb sie zum einen auf der Individualebene und zum anderen innerhalb des heilsgeschichtlich geschlossenen pietistisch-theologischen Systems, mochten die Entwicklungsstufen des Einzelnen auch noch so undenkbar weit gefasst werden. Aber deren Erkennbarkeit wurde zum wichtigsten Kennzeichen des »wahren Christentums« und somit der Weg zum eigentlichen Ziel.
Clemens Schwaiger
Wolffs Vollkommenheitsbegriff im Kreuzfeuer pietistischer Kritik 1. Die Vollkommenheit als Schlüsselbegriff von Wolff s philosophischer Architektonik Bekanntermaßen spielt der Terminus ›Vollkommenheit‹ (lateinisch ›perfectio‹) in Wolffs theoretischer und praktischer Philosophie überall eine tragende Rolle. Um nur einige wesentliche Verwendungsbereiche stichwortartig zu benennen: In einem Kernstück seiner Ontologie handelt Wolff, die alte scholastische Transzendentalienlehre wiederaufgreifend, von der Trias Ordnung, Wahrheit und Vollkommenheit. In einem gleichfalls zentralen Kapitel seiner allgemeinen Kosmologie erörtert er, im Gefolge von Leibniz, die viel debattierte Frage nach der Vollkommenheit der Welt. In dem einflussreichen Abschnitt über das Strebevermögen in seiner Erfahrungspsychologie baut er, in durchaus selbstständiger Manier, den Gegensatz von vermeinter und wahrer Vollkommenheit zu einem durchgängigen Begriffsraster seiner Handlungstheorie aus. Zu Beginn des zweiten Hauptteiles seiner natürlichen Theologie übernimmt er, im Hinblick auf Kants spätere Rezeption folgenschwer, die cartesische Nominaldefinition Gottes als ›ens perfectissimum‹. In seiner Ethik formt er schließlich das Ideal göttlicher Vollkommenheit zu einer Richtschnur menschlichen Handelns um, insofern er hier den Imperativ der allseitigen Vervollkommnung zum obersten Moralprinzip erklärt. Und zu guter Letzt wird in der Politik die bestmögliche Vollkommenheit des Gemeinwesens zur Zielvorstellung jeglichen politischen Wirkens erhoben. Angesichts dieser überall richtungweisenden Bedeutung der Vollkommenheitsidee verwundert es nicht, dass die umfassende Thematisierung der ›perfectio‹ stets als ein entscheidendes Markenzeichen Wolffs und seiner Schüler galt, ja die Wolffianer später schlicht als die ›Vollkommenheitsmänner‹ apostrophiert wurden.1 1
Der vorliegende Aufsatz zur (schier unerschöpflichen) Vollkommenheitsthematik bei Wolff knüpft an frühere (mehr quellen- bzw. rezeptionsgeschichtlich orientierte) Untersuchungen des Verfassers an und vertieft sie im Sinne des Sammelbandes vor allem hinsichtlich der spannungsvollen Konstellation von Pietismus und Aufklärung; vgl. insbesondere Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolff s. Eine quellen-, begriff s- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 93–120; ders.: Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant. In: Michael Oberhausen (Hrsg.): Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 317–328 (überarbeitet wiederabgedruckt in: ders.:
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Schon die Quasi-Allgegenwärtigkeit des Vollkommenheitsbegriffs in den philosophischen Hauptdisziplinen lässt eigentlich keinen Zweifel mehr an seiner systembildenden Funktion. Wolff unterstreicht aber dessen architektonische Bedeutung noch zusätzlich dadurch, dass er, neben manch anderen Standardmetaphern wie der Vollkommenheit des Auges oder einer Uhr, gerade die Baukunst als bevorzugtes Beispiel zur Veranschaulichung seines Verständnisses von Vollkommenheit verwendet. Die Architektur illustriere am besten die ganze Theorie der Vollkommenheit.2 Wolff begreift sich selbst offenbar als eine Art philosophischer Baumeister, der ein neues, umfassendes Lehrgebäude der Philosophie errichten will, das seine Einheitlichkeit insbesondere durch die Orientierung am Vervollkommnungsgedanken gewinnt. Die Vorbildfunktion der zivilen Baukunst, die ja damals einen wichtigen Bereich angewandter Mathematik darstellt, ist vor allem darin zu sehen, dass Wolff hier vergleichsweise früh eine spezifische Vollkommenheitsdefinition geglückt ist, die von ihm zeitlebens als mustergültig empfunden worden ist. Die Vollkommenheit eines Gebäudes bestehe »in einer völligen Uebereinstimmung desselben mit den HauptAbsichten des Bau-Herrn«.3 Wolff hat diese Begriffsbestimmung schon im Jahre 1710 erstmals öffentlich gemacht und sodann ohne nennenswerte Wandlungen als exemplarisch festgehalten. Modellcharakter besaß sie ihm zufolge auch für andere Gebiete, etwa für das Feld der Politik. Denn dort gelte es gleichermaßen, vom Ideal der größtmöglichen Vollkommenheit auszugehen, selbst wenn dieses immer nur unvollständig zu verwirklichen sei, damit man nämlich wisse, was und wo es im menschlichen Zusammenleben noch fehle.4 Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 155–165). 2 Vgl. Christian Wolff : Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata (1730). Frankfurt a. M., Leipzig 21736, Repr. Hildesheim 1962, § 516 Scholion, S. 404: »Architectura omnem de perfectione theoriam optime illustrat.« Wolff s Schriften werden zitiert nach der Ausgabe: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Jean École u. a. Hildesheim 1962 ff. 3 Ders.: Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften, Bd. 1 (1710). Leipzig 71750, Repr. Hildesheim, New York 1973, S. 307 (5. Erkl.; dazu s. a. die von Wolff stammende Rezension in den ›Acta Eruditorum‹ vom November 1710, S. 490: »Perfectionem aedificii in omnimoda ejus cum finibus fundatoris convenientia consistere ait« [wiederabgedruckt in: ders.: Sämtliche Rezensionen in den Acta Eruditorum (1705–1731). Hrsg. v. Hubert A. Laeven u. Lucy J. M. Laeven-Aretz, Bd. 1. Hildesheim u. a. 2001, S. 501]); vgl. ders.: Elementa matheseos universae (1715), Bd. 4. Halle 21738, Repr. Hildesheim 1968, S. 388 (Def. 4): »Perfectio aedificii est convenientia adaequata cum finibus fundatoris«; ders.: Auszug aus den Anfangs-Gründen aller mathematischen Wissenschaff ten (1717). Frankfurt a. M., Leipzig 31728, Repr. Hildesheim u. a. 2009, S. 613 (5. Erkl.); s. a. ders.: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriff ten, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben (1726). Frankfurt a. M. 21733, Repr. Hildesheim, New York 1973, § 76, S. 226 f. 4 Vgl. ders.: Vernünff tige Gedancken von dem gesellschaff tlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen
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Es lässt sich eine ganze Reihe von Gründen anführen, weshalb gerade die architektonische Vollkommenheit rasch zu Wolffs Lieblingsparadigma wurde. Vom Gebäude im Wortsinn als einer menschlichen Schöpfung und Behausung war der Schritt nicht allzu weit zu einer übertragenen Begriffsverwendung. Man spricht ja beispielsweise ohne weiteres in einem analogen Sinne von einem ›Lehrgebäude‹, von dem ›Staatsgebäude‹ und – allumfassend – von dem ›Weltgebäude‹. Die Baumetaphorik steht dem philosophischen Systemgedanken offenbar besonders nahe, da man etwa auch die Gesamtheit des Staatswesens und sogar den Kosmos insgesamt nach dem Muster eines großen, komplexen Bauwerks begreifen kann.5 Noch Kant steht später ganz im Banne dieser Leitmetaphorik, wenn er Wolff zwar als vermeintlich verwegenen Luftbaumeister verspottet, aber sein eigenes Vorhaben einer kritischen Philosophie mit dem gleichen Bild eines Gebäudes erläutert, das aus dem verfügbaren, vorab zu sichtenden Bauzeug zu errichten ist.6 Ein zweiter, wesentlicher Grund für die ideale Eignung der Architektur als Exempel für Wolffs Vollkommenheitslehre besteht darin, dass hier deren grundlegend teleologischer Charakter unmittelbar zum Vorschein kommt. Wolff zufolge setzt ein gesichertes Urteil über die Vollkommenheit einer Sache stets voraus, dass man deren Zweck oder Nutzung kennt.7 Diese Zielbestimmtheit gilt nun erklärtermaßen gerade im architektonischen Bereich. Wie schon bei Wolff s Definition der Vollkommenheit des Gebäudes, so kommt es auch bei seiner Definition der Baukunst entscheidend auf die Übereinstimmung mit den Zwecksetzungen des Bauherrn an. Die Baukunst sei »eine Wissenschaft, ein Gebäude recht anzugeben, dass es nemlich mit den Haupt-Absichten des Bau-Herrn in allem völlig überein kommt«.8 Geschlechtes (1721). Frankfurt a. M., Leipzig 41736, Repr. Hildesheim, New York 1975, § 226, S. 168–171; ders.: Der vernünff tigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil / bestehend in ausführlichen Anmerckungen (1724). Frankfurt a. M. 41740, Repr. Hildesheim u. a. 1983, § 46, S. 103–107. 5 In der Sprache des 18. Jahrhunderts ergab sich diese gedankliche Verknüpfung fast von selbst, da der bei der Erörterung kosmologischer Hypothesen gebräuchliche Terminus ›systema mundi‹ gewöhnlich als ›Weltbau‹ oder ›Weltgebäude‹ eingedeutscht wurde. Vgl. Fritz-Peter Hager u. Christian Strub: Art. ›System‹. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10. Basel 1998, Sp. 824–856, hier: Sp. 825. 6 Vgl. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. A 58; ders.: Kritik der reinen Vernunft. B 735 = A 707. Kants Druckschriften werden zitiert nach der Ausgabe von Wilhelm Weischedel: Werke in zehn Bänden, Darmstadt 1983 (11956–1964), und zwar nach der dort vermerkten Paginierung der Originalausgaben: A bezeichnet die erste, B die zweite Auflage. 7 Vgl. Christian Wolff : Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata (1731). Frankfurt a. M., Leipzig 21737, Repr. Hildesheim 1964, § 538 Scholion, S. 422: »Patet vero, non ante de perfectione rerum statui quid firmiter posse, quam usus rerum seu fines eorundem fuerint perspecti«. 8 Wolff : Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 305 (1. Erkl.); vgl. ders.: Elementa matheseos universae, Bd. 4, S. 387 (Def. 1): »Architectura civilis est scientia bene
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Der Grund der Vollkommenheit liegt bei diesem Paradebeispiel also offen zutage: Die ›ratio perfectionis‹ eines Gebäudes besteht nämlich im ›scopus‹ des jeweiligen Auftraggebers, der den Bau für einen bestimmten Nutzungszweck errichten lässt.9 Dem ausführenden Architekten räumt Wolff dabei nur eine begrenzte Autonomie ein: Unerachtet seiner Weisungsbefugnis gegenüber den Bauleuten und Handwerkern bleibt der Baumeister bei der planerischen Umsetzung an die Vorgaben seines Bauherren gebunden und muss diesem gegenüber stets Rechenschaft über die Stimmigkeit aller baulichen Details geben können.10 Ein dritter Grund für den hohen Erklärungswert architektonischer Beispiele in Bezug auf die Vollkommenheitstheorie liegt ferner darin, dass sich mit ihrer Hilfe die Unvermeidbarkeit von Ausnahmen einsichtig machen lässt; dies gilt selbst für den Idealfall, dass die größtmögliche Vollkommenheit realisiert wird. Denn ein ständiger Konflikt zwischen konkurrierenden Zwecksetzungen ist auch bei einer noch so perfekten Bautätigkeit unabweisbar. Ein Bauherr kommt deshalb nicht umhin, zugunsten der bei der Errichtung eines Gebäudes verfolgten Hauptabsicht mancherlei Nebenziele zumindest hintanzustellen oder unter Umständen ganz zu opfern. In der Deutschen Metaphysik verdeutlicht Wolff diesen Zielkonflikt lang und breit an der Konkurrenz von ökonomischen und ästhetischen Gesichtspunkten bei der Gestaltung eines Hoftores. Entweder gibt hier die Bequemlichkeit der Durchfahrt oder das Ebenmaß der Fassadenproportionen den Ausschlag.11 Ein damit zusammenhängender, vierter und letzter Grund für Wolffs Privilegierung architektonischer Vollkommenheit ist schließlich darin zu sehen, dass sich hier zwanglos die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Thematisierung der Schönheit bietet. Die Reflexion über das Schöne hat ja vor der Begründung der Ästhetik als einer eigenen philosophischen Disziplin durch Wolffs Schüler Alexander Gottlieb Baumgarten noch keinen angestammten Ort innerhalb des akademischen Fächerkanons. So erörtert Wolff das Wesen des Schönen zunächst im Rahmen der Grundbegriffe der Baukunst. Die Schönheit sei »die Vollkommenheit oder ein nöthiger Schein derselben, in so weit so wohl jene, als dieser wahrgenommen wird, und einen Gefallen in uns verursachet«.12 Dass etwas als schön empfunden wird, setzt voraus, aedificandi h. e. ideam aedificii animo concipiendi & iuxta eam ipsum exstruendi, ita ut scopo fundatoris ex asse satisfiat«. 9 Vgl. Wolff : Der vernünff tigen Gedancken von Gott, anderer Theil, § 46, S. 103. 10 Vgl. Wolff : Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 305 (1. Erkl., 1. Zusatz); ders.: Elementa matheseos universae, Bd. 4, S. 387 f. (Def. 1, Cor. 1–4). 11 Vgl. Christian Wolff : Vernünff tige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720). Halle 111751, Repr. Hildesheim u. a. 1983, §§ 164– 174, S. 87–94. 12 Ders.: Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaften, Bd. 1, S. 307 (6. Erkl.); vgl. ders.: Elementa matheseos universae, Bd. 4, S. 388 (Def. 5): »Venustas seu pulchritudo est perfectio sive vera, sive apparens, quatenus sentitur, seu percipitur«.
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dass es als irgendwie vollkommen erscheint und insofern Gefallen erregt. Aufgrund dieses unabdingbaren Vergnügensmoments aller Schönheit kann Wolff dann später in der lateinischen Schriftenreihe die ›pulchritudo‹ innerhalb des Lustkapitels seiner empirischen Psychologie abhandeln. Schönheit sei schlicht die Eignung eines Dinges, in uns Vergnügen hervorzurufen, oder auch die Beobachtbarkeit von Vollkommenheit.13 All die angeführten Gründe machen die Architektur zur Modellwissenschaft für die Erhellung von Wolffs Vollkommenheitslehre (die übrigens auch entwicklungsgeschichtlich in ihrer Tragweite kaum zu überschätzen ist).14 Angesichts ihrer Erschließungsfunktion erstaunt es nicht, dass Wolff auch umgekehrt die Ontologie oder ›erste Philosophie‹ gelegentlich als ›architektonische Wissenschaft‹ (›scientia architectonica‹) bezeichnen kann. Die Grundwissenschaft verdiene diese Benennung, weil die ontologischen Begriffe eben das ausrichteten, was ein Baumeister zu tun habe.15 Damit hat Wolff einen Terminus in das Selbstverständnis der Metaphysik eingebracht, der später bei Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann Heinrich Lambert und nicht zuletzt bei Immanuel Kant weiter Karriere machen wird.16
2. Pietistische Attacken auf Wolff s Vollkommenheitsbegriff Angesichts der überragenden Bedeutung, die der Gedanke der Vollkommenheit als Dreh- und Angelpunkt von Wolffs Systemkonstruktion besitzt, ist es nur zu verständlich, dass sich die oft stürmischen Auseinandersetzungen um seine Philosophie nicht selten an dieser neuen Leitidee entzündeten. Im Zuge der seit Beginn der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts geführten öffentlichen Debatten pro und con13
Vgl. ders.: Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata (1732). Frankfurt a. M., Leipzig 21738, Repr. Hildesheim 1968, § 545, S. 421: »definiri potest Pulchritudo, quod sit rei aptitudo producendi in nobis voluptatem, vel, quod sit observabilitas perfectionis«. 14 Vgl. zu Wolff s Selbstverständnis als philosophierender Architekturtheoretiker auch ders.: Ratio praelectionum Wolfianarum [in] mathesin et philosophiam universam (1718). Halle 21735, Repr. Hildesheim, New York 1972, Sectio I, Cap. 2, §§ 72–82, S. 51–56. Wolff s Beitrag innerhalb der Geschichte der Architektur und seine ›Philosophie der Baukunst‹, die innerhalb seines Systems mancherlei Scharnierfunktionen erfüllt, ist bislang allenfalls am Rande gewürdigt worden und bedürfte einmal einer eingehenderen Untersuchung. 15 Vgl. ders.: De notionibus directricibus & genuino usu philosophiae primae, § 1 u. § 11. In: ders.: Horae subsecivae Marburgenses Anni MDCCXXIX. Trimestre vernale. Frankfurt a. M., Leipzig 1729, Repr. Hildesheim u. a. 1983, S. 314 u. 349. Eine erste Erwähnung einer solchen neuen Grundlegungskunst namens ›Architectonica‹, die über die Baukunst im engeren Sinn aufgrund ihres höheren Allgemeinheitsanspruch hinausgeht, findet sich schon in ders.: Der vernünff tigen Gedancken von Gott, anderer Theil, § 48, S. 109. 16 Vgl. für eine erste Übersicht Friedrich Kaulbach: Art. ›Architektonik, architektonisch‹. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Basel 1971, Sp. 502– 504.
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tra Wolff geriet das Lehrstück von der Vollkommenheit bald in das Kreuzfeuer gegnerischer Kritik. Die Anstrengungen der Widersacher Wolffs richteten sich umso mehr auf den Begriff der ›perfectio‹, als dieser in der von pietistischer Seite heftig befehdeten Oratio de Sinarum philosophia practica von 1721 (und den kommentierenden Anmerkungen bei der Publikation fünf Jahre später) wiederum eine kardinale Rolle gespielt hatte. Wolff hatte dort den altchinesischen Weisen Konfuzius aufgrund von dessen unablässigem Vervollkommnungsstreben als ein glänzendes moralisch-politisches Vorbild erstrahlen lassen.17 Mit dieser für damaliges Empfinden unerhört weit getriebenen Sinophilie provozierte er die empörte Abwehr der Hallenser Theologen, die darauf insistierten, dass eine recht verstandene christliche Vollkommenheit von jeglicher fremder, säkularer Weisheit grundverschieden sei. Im Gegenzug unternahm Wolff seinerseits intensive Bemühungen, den von seinen theologischen Kritikern – wie er meinte – nur oberflächlich und unzureichend verstandenen, ja bei ihnen regelrecht verhassten Streitbegriff tiefer zu durchdringen und die dagegen vorgebrachten Einwände möglichst zu entkräften. Gerade auf diesem umstrittenen Feld zeigt sich sein philosophisches Denken – wenn man sich der Mühe einer genauen Lektüre unterzieht – als deutlich lebendiger, flexibler und gesprächsbereiter, als mit dem wohlfeilen Pauschalvorwurf monolithischer Erstarrung vielfach unterstellt wird. In den lateinischen Opera aus der Marburger Zeit versucht Wolff, seine im Kern zwar gewiss festgehaltenen Positionen nach Möglichkeit doch plausibler und überzeugender zu präsentieren, indem er zahlreiche neue Differenzierungen und Präzisierungen anbringt. Während der Disput, der zwischen Wolff und seinem theologischen Kontrahenten Joachim Lange um den Zankapfel der menschlichen Willensfreiheit entbrannt war, in der jüngeren Forschung schon relativ gründlich untersucht worden ist,18 hat die benachbarte aufklärerisch-pietistische Kontroverse um Perfektionismus und Perfektibilität bislang keine vergleichbare Aufmerksamkeit gefunden. Dabei scheint ein näheres Studium der damaligen Auseinandersetzungen durchaus geeignet zu sein, einerseits die Konturen von Wolffs Vollkommenheitstheorie schärfer zu zeichnen, andererseits ihre Schwachpunkte historisch gerechter zu würdigen. Zudem war schon einige Jahrzehnte vor dem Ausbruch der ›Causa Wolfiana‹ die pietistische Vollkommenheitsdoktrin ihrerseits wiederholt Zielscheibe orthodoxer Angriffe geworden. So besteht die begründete Hoff nung, bei einer gebührenden Berücksich17 Zu Wolff s philosophisch begründeter Identifi kation mit Konfuzius, die in ihrer Tragweite in der Forschung immer noch unterschätzt wird, vgl. zuletzt den anregenden Beitrag von Henrik Jäger: Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung: In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 37 (2012), S. 165–189. 18 Vgl. dazu vor allem die maßgebliche Studie von Bruno Bianco: Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff. In: Norbert Hinske (Hrsg.): Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Heidelberg 1989, S. 111–155.
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tigung dieses theologischen Horizontes nicht bloß die bestehenden Unterschiede, sondern ebenso sehr die tieferliegenden Gemeinsamkeiten zwischen Wolffianismus und Pietismus in Sachen Vollkommenheit herausarbeiten zu können. Selbst ein noch vergleichsweise summarischer Blick auf die protestantische Vorgeschichte der Perfektibilitätsidee lässt wenig Zweifel daran, dass in den Anfängen der Reformation das Streben nach menschlicher Vollkommenheit keine rechte theologische Beheimatung fand. Die gemeinreformatorische Überzeugung von der erbsündlichen Verderbtheit der menschlichen Natur und der Rechtfertigung des Sünders allein durch göttliche Gnade ließ für ein selbstmächtiges Vertrauen des Menschen auf eine fortschreitende Annäherung an einen irdischen Zustand der Vollkommenheit kaum Spielraum. So wurde etwa die überkommene Auffassung der religiös-monastischen Lebensform als eines ›status perfectionis‹ von Martin Luther als ein katholischer Irrweg leidenschaftlich abgewiesen.19 Gegenüber dieser tiefverwurzelten Ablehnung gewann innerhalb der evangelischen Tradition erstmalig die pietistische Bewegung dem steten menschlichen Mühen um ›Vollkommenheit‹ in Glaube und Leben einen positiven Sinn ab. Beginnend bereits mit Johann Arndt, fortgesetzt durch Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke wurde die Lehre von der ›christlichen Vollkommenheit‹ zu einer tragenden Säule pietistischen Selbstverständnisses und zu einer entscheidenden Antriebskraft pietistischer Ethik. Als biblischer Primärbeleg diente dabei die jesuanische Aufforderung in der Bergpredigt: »Ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« (Mt 5,48). Zwar gebe es in diesem Leben sicherlich keine ›perfectio absoluta‹, aber zumindest eine ›perfectio respectiva‹ bzw. ›comparativa‹ sei erstreb- und erreichbar.20 Terminologisch bahnbrechend war dabei die Unterscheidung zwischen der gnadenhaft geschenkten, unüberbietbaren ›Wiedergeburt‹ einerseits und einer auf Wachstum hin angelegten, stets unabgeschlossenen ›Erneuerung‹ andererseits.21 Denn mit dieser fundamentalen Differenzierung wurde es jetzt möglich, einen 19
Vgl. etwa die geraff ten historischen Gesamtüberblicke bei John Passmore: Der vollkommene Mensch. Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden. Stuttgart 1975, bes. S. 13–30; Michel Dupuy: Art. ›Perfection chrétienne, 16 e -17e siècles‹. In: Dictionnaire de spiritualité, Bd. XII/1. Paris 1984, S. 1131–1146; Geoff rey Wainwright: Art. ›Vollkommenheit‹. In: TRE, Bd. 35. Berlin, New York 2003, S. 273–285. 20 Vgl. an jüngsten theologiegeschichtlichen Darstellungen etwa Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Halle, Tübingen 2004, bes. S. 68–83; Martin Brecht: Zwischen Schwachheit und Perfektionismus. Strukturelemente theologischer Anthropologie des Pietismus. In: Udo Sträter (Hrsg.): Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Tübingen 2009, S. 63–85. 21 Vgl. dazu den inzwischen klassisch gewordenen Aufsatz von Johannes Wallmann: Wiedergeburt und Erneuerung bei Philipp Jakob Spener. Ein Diskussionsbeitrag. In: Pietismus und Neuzeit 3 (1976), S. 7–31.
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Fortschritt zu größerer sittlich-religiöser Vollkommenheit als nicht nur statthaft, sondern sogar gefordert theologisch ein- und heimzuholen. Ungeachtet dieser prinzipiellen Distinktion sahen sich sowohl Spener wie Francke jeweils in den Jahren um 1690 herum von Seiten der lutherischen Orthodoxie vehementen Anschuldigungen eines angeblichen ›Perfektionismus‹22 ausgesetzt. Gegenüber solchen Vorwürfen einer bloß ›eingebildeten Vollkommenheit‹ konnten sie freilich mit gutem Grund geltend machen, dass ihre Annahme einer stufenweisen Vervollkommnung keineswegs die Anmaßung einer sündlosen Perfektion impliziere.23 Vor dem Hintergrund des eben skizzierten geschichtlichen Befundes, dass die pietistische Vollkommenheitslehre früh und wiederholt zum Stein des Anstoßes für die Hüter der älteren protestantischen Tradition geworden ist, muss es einigermaßen frappieren, dass die Hallenser Pietisten eine Menschengeneration später ihrerseits die Vollkommenheitszentriertheit der Wolff ’schen Aufklärungsphilosophie mit strukturell ähnlichen Argumenten attackierten. Insbesondere Joachim Lange, Wolffs großer theologischer Gegenspieler an der Fridericiana, nahm Wolffs Vervollkommnungsethik mehrfach ausgiebig mit einer langen Reihe von Einwänden unter Beschuss. Erstens warf er dem Imperativ der Vollkommenheit in der Deutschen Ethik mangelnde Schriftgemäßheit vor. Wolff hatte dort als oberstes Moralprinzip oder als sog. ›Gesetz der Natur‹ den allgemeinen Grundsatz formuliert: »Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet.«24 Lange monierte hieran, dass in der Heiligen Schrift die Aufforderung zur Vervollkommnung nirgendwo als Handlungsrichtschnur oder Naturgesetz formuliert sei. Zweitens erhob er den Vorwurf des Pelagianismus: Wolff s Vollkommenheitsprinzip blähe den Stolz des Menschen auf, während umgekehrt die Bibel den Menschen mit der Einsicht in die eigene Unvollkommenheit und Sündigkeit demütigen wolle. Drittens hielt er seinem philosophischen Kontrahenten die bloße Bemäntelung eines heimlichen Egoismus vor: Wolffs Moralgrundsatz fördere eine verkehrte Eigenliebe und führe am Ende zur Selbstvergötzung; die Erwähnung fremder Vollkommenheit in der zitierten Formulierung besitze lediglich Alibicharakter. Und viertens wies er die von Wolff behauptete gleiche Gültig22
Vgl. Helmut Hühn: Art. ›Perfektionismus‹. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, Sp. 244–246. 23 Vgl. als programmatische Verteidigungstexte besonders August Hermann Francke: Von der Christen Vollkommenheit (1691). In: ders.: Erhard Peschke (Hrsg.): Werke in Auswahl. Berlin 1969, S. 356–359; Philipp Jakob Spener: Vorrede zu Balthasar Köpke Dialogo von dem Tempel Salomons (1695). In: ders.: Schriften. Hrsg. v. Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß, Bd. VIII/2. Hildesheim u. a. 2002, S. 204–214. 24 Christian Wolff : Vernünff tige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (1720). Frankfurt a. M., Leipzig 41733, Repr. Hildesheim, New York 1976, § 12, S. 12; vgl. ebd., § 19, S. 16.
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keit der Formel auch für Atheisten als uneingelösten Anspruch zurück. Ohne das Absehen auf Gott und die Sanktion durch einen göttlichen Gesetzgeber könne eine ethische Forderung letztlich nicht statthaben.25 Flankierend versuchte Lange Wolffs Vollkommenheitsethik schließlich noch mit der Unterstellung zu diskreditieren, alte und neue Atheisten wie Epikur und Spinoza hätten in der Vergangenheit bereits ähnlich ich-orientierte Moralprinzipien vertreten.26 Der inhaltlich gravierendste, inskünftig vermutlich folgenreichste Einwand bestand jedoch darin, dass Lange den kriteriologischen Wert von Wolffs Vollkommenheitsprinzip überhaupt in Abrede stellte. Wolff drehe sich bei seiner Moralbegründung im Kreise, begehe also einen ›circulus vitiosus‹, insofern nämlich der Begriff des Vollkommenen auf den Begriff des Guten weiterverweise, dieser aber seinerseits wieder auf jenen zurückverweise. Lange veranschaulicht seinen Verdacht der Inhaltsleere des Vollkommenheitskriteriums mit dem Beispiel eines Betrügers oder Verbrechers, dessen Handlungen, unerachtet seiner Laster, gerade aufgrund ihres gemeinsamen kriminellen Zwecks durchaus miteinander übereinstimmten.27
3. Wolff s Entgegnungen auf die Kritik an seiner Vervollkommnungsethik Das von Lange zusammengetragene Arsenal von Vorwürfen gegen eine an der Leitidee der Vollkommenheit orientierte Moralauffassung hat Wolff – auch wenn es nach aussen hin den gegenteiligen Anschein haben mag – keineswegs unbeeindruckt gelassen. Vielmehr sind seine Ausführungen zur Vollkommenheit als fundamentalem Handlungsprinzip von dieser Konfliktkonstellation tief gezeichnet, zumal nach dem Eklat um die Chinesenrede 1721 und nach der abrupten Vertreibung aus Halle Ende 1723. Wolffs Stellungnahmen haben freilich weniger den Charakter einer zurückhaltend-geduldigen Widerlegung der vorgebrachten Kritikpunkte als eher den einer aggressiv-offensiven Vorwärtsverteidigung. So lässt Wolff etwa die Frage nach der Schriftgemäßheit des Imperativs der Vervollkommnung nicht einfach als philosophisch unerhebliches exegetisches Spezialproblem beiseite, sondern verficht in einem eigenen Beitrag der Marburger 25
Vgl. zum Ganzen Joachim Lange: Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie in dem Wolffianischen Systemate Metaphysico von Gott, der Welt und dem Menschen. Halle 1724, Repr. Hildesheim u. a. 1999, S. 367–369; ders.: Nova anatome, seu idea analytica systematis metaphysici Wolfiani: Frankfurt a. M., Leipzig 1726, Repr. Hildesheim u. a. 1990, Appendix de atheismo et de lege naturae, § 16, S. 151; ders.: Philosophische Fragen aus der neuen mechanischen Morale. Halle 1734, Repr. Hildesheim u. a. 1999, S. 18 f. 26 Vgl. ders.: Bescheidene und ausführliche Entdeckung, S. 372 f.; ders.: Philosophische Fragen aus der neuen mechanischen Morale, S. 20 f. 27 Vgl. ders.: Bescheidene und ausführliche Entdeckung, S. 374 f. u. 382–384; ders.: Philosophische Fragen aus der neuen mechanischen Morale, S. 9–12.
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Nebenstunden unter Berufung auf die einschlägige, zentrale Bibelstelle Mt 5,48 entschieden die uneingeschränkte Vereinbarkeit seines Moralprinzips mit dem Christentum. Während Lange die prinzipientheoretische Relevanz dieser jesuanischen Weisung eher bagatellisierte, besteht Wolff vom Gesamtkontext der Bergpredigt her mit Nachdruck darauf, dass hier eine universale Regel für menschliches Handeln formuliert sei, die ihrerseits den Grund für alle übrigen, spezielleren Normierungen enthalte.28 Nicht nur das: Die Mahnung Christi »Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« enthalte zugleich ein Muster (lateinisch: eine ›idea exemplaris‹), wie die allgemeine Regel richtig zu verstehen und in konkreten Anwendungsfällen (beispielsweise beim Gebot der Feindesliebe) umzusetzen sei.29 Die Aufforderung zur unaufhörlichen Vervollkommnung wird damit rückgebunden an ein göttliches Urbild, womit zugleich eine Brücke geschlagen ist von einer Ethik des ›perfice te‹ zu einer Theologie des ›ens perfectissimum‹. Wolffs starke Ausrichtung am Idealbild göttlicher Vollkommenheit legte nun allerdings den (von Lange dann tatsächlich erhobenen) Einwand nahe, damit werde seine Ethik und Politik der vielfachen Realität menschlicher Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit nicht mehr hinreichend gerecht. Statt ständig nur von lauter Vollkommenheit zu reden, solle er den Leuten lieber ihre Mängel und Fehler vorhalten. Diesen Vorwurf, mit seinem optimistisch-perfektionistischen Menschenbild verkenne er das Ausmaß menschlicher Schwachheit und Schuldverfallenheit und werde so erneut dem (um die Macht der Sünde wissenden) biblischen Zeugnis untreu, ließ Wolff freilich nicht gelten. Er konterte mit dem Argument, dass eine bestehende Unvollkommenheit umso augenfälliger hervortrete, je mehr zur Vollkommenheit des Lebenswandels gefordert werde, je höher also die Messlatte idealen menschlichen Lebens und Zusammenlebens gelegt sei.30 Im Übrigen sah sich Wolff 28
Vgl. Christian Wolff : De principio juris naturalis ex doctrina Christi. Matth. V.48. In: ders.: Horae subsecivae Marburgenses Anni MDCCXXX. Trimestre vernale. Frankfurt a. M., Leipzig 1731, Repr. Hildesheim u. a. 1983, S. 343–367, bes. §§ 1–2, S. 343–350. Ein ausdrücklicher legitimatorischer Verweis auf Mt 5,48 findet sich ferner in: ders.: Der vernünff tigen Gedancken von Gott, anderer Theil, § 45, S. 99 f.; ders.: Theologia naturalis methodo scientifica pertractata, Bd. 1 (1736). Frankfurt a. M., Leipzig 21739, Repr. Hildesheim, New York 1978, § 1000, S. 971. Nach dem Urteil von Jean École war Wolff insgesamt nicht nur ein bemerkenswert guter Kenner der Heiligen Schrift, sondern auch ein für seine Zeit erstaunlich reflektiert arbeitender Exeget. S. Jean École: ›Wolff‹. In: Yvon Belaval u. Dominque Bourel (Hrsg.): Le siècle des Lumières et la Bible. Paris 1986, S. 805–822. 29 Vgl. Wolff : De principio juris naturalis ex doctrina Christi. Matth. V.48, § 1, S. 343 u. 345; § 7, S. 363–365. Entgegen anderslautender Ankündigungen (ebd., § 1, S. 343; s. a. Cosmologia generalis, § 539 Scholion, S. 423) hat Wolffs Vorhaben einer systematischen Entfaltung des Nutzens solcher zum Muster dienender Begriffe (›ideae exemplares‹) allerdings, soweit ich sehe, keine Umsetzung mehr erfahren. 30 Vgl. ders.: Der vernünff tigen Gedancken von Gott, anderer Theil, § 45, S. 99 f.
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hierbei wieder durch das Vorbild der alten Chinesen bestärkt: Diese hätten ihre Aufmerksamkeit ganz auf die mit natürlichen Kräften erreichbare Vollkommenheit gelenkt und der menschlichen Unvollkommenheit keine sonderliche Beachtung geschenkt, wie er mit einem offenkundig antipietistischen Seitenhieb bemerkt.31 Wenn sich der Blick mehr nach vorne auf das Erreichbare richtet statt zurück auf das Versäumte, braucht dies nach Wolffs Ansicht jedoch keine Vollkommenheitsversessenheit oder Unvollkommenheitsvergessenheit zu bedeuten. Denn wie Wolff oft genug betont, übersteigt eine allseitige Vervollkommnung, selbst wenn alle verfügbaren Kräfte aufgeboten werden, grundsätzlich die Möglichkeiten eines begrenzten, sterblichen Wesens, wie es der Mensch nun einmal ist.32 Mit dieser Überzeugung von der prinzipiellen Unerreichbarkeit irdischer Vollkommenheit ist Wolff im Grunde von pietistischen Auffassungen gar nicht so sehr entfernt. Denn auch laut Francke mag der Mensch in seinem Tugendwachstum so weit kommen, wie er will, so wird er dennoch nie ganz vollkommen.33 Und für Spener besteht die Vollkommenheit dieses Lebens nicht darin, dass jemand absolut vollkommen ist, denn das sei unmöglich, sondern darin, dass er stets neu nach der Vollkommenheit trachtet.34 Bei Wolff führt die These vom notwendigen Zurückbleiben hinter der erstrebten Perfektion indes zu einer ausgesprochen dynamisch-progressiven Vollkommenheitsvorstellung. Das höchste Gut des Menschen oder seine (philosophische) Seligkeit bestehe, wie es in einer berühmten, maßgeblich von Leibniz inspirierten Definition heißt, im ungehinderten Fortgang zu beständig größeren Vollkommenheiten.35 Wenn man schon die größte Vollkommenheit selbst niemals erlangen könne, dann 31
Vgl. ders.: Oratio de Sinarum philosophia practica. Rede über die praktische Philosophie der Chinesen. Hrsg. v. Michael Albrecht. Hamburg 1985, S. 26–29; Anton Bissinger: Zur metaphysischen Begründung der Wolff schen Ethik. In: Werner Schneiders (Hrsg.): Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 21986, S. 148–160, hier: S. 157 erkennt in der erklärten Bevorzugung der Vollkommenheits- gegenüber der Unvollkommenheitsthematik eine einseitig rational-optimistische Sicht Wolff s, die den Widerstand pietistischer Kreise gegen ihn nur zu verständlich mache. Aus der historischen Rückschau könnte man jedoch ebenso gut fragen, ob die fortschrittszugewandte Begrüßung ›positiven Denkens‹ durch Wolff nicht ein notwendiges Korrektiv zur Sündenfi xiertheit traditioneller Theologie gewesen ist. 32 Vgl. Wolff : Vernünff tige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 44, S. 31; ders.: Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata, Bd. 1. Frankfurt a. M., Leipzig 1738, Repr. Hildesheim, New York 1971, § 374 Scholion, S. 293f.; ders.: Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata, Bd. 2. Frankfurt a. M., Leipzig 1739, Repr. Hildesheim, New York 1979, § 53 Scholion, S. 40 u. § 59 Scholion, S. 45. 33 Vgl. Francke: Von der Christen Vollkommenheit, S. 358. 34 Vgl. Spener: Vorrede zu Balthasar Köpke Dialogo von dem Tempel Salomons, S. 213. 35 Vgl. Wolff : Vernünff tige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 44, S. 32; ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 1, § 374, S. 293: »Beatitudo philosophica seu summum bonum hominis est non impeditus progressus ad majores continuo perfectiones.« Zum
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müsse man wenigstens alle Anstrengung darauf verwenden, der Vollkommenheit von Seele, Leib und äußerem Zustand täglich ein Stück näherzukommen, soweit das eben in unserer Macht liege.36 Als letztlich unabschließbarer Prozess ist die Vervollkommnung also auf stete Weiterentwicklung angelegt; ein bloßer Stillstand wäre dabei bereits ein Rückschritt.37 Die fortschrittsorientierte Dynamisierung des Vollkommenheitsbegriffs hat ferner eine ausgeprägte Quantifizierung zwangsläufig zur Folge, denn es gilt die bei der Vervollkommnung erzielten Zugewinne jeweils vergleichend einzuschätzen und möglichst genau zu messen. Wolff spricht daher von der ›Größe der Vollkommenheit‹, die aus den Graden der Vollkommenheit erwachse.38 Dabei geht es nicht bloß um eine Beurteilung der Vollkommenheit einzelner Handlungen, sondern letzten Endes um eine Bemessung der Fortschritte bei der Lebensführung insgesamt.39 Diesem Vorhaben einer vergleichenden Einschätzung der Vollkommenheit des Lebenswandels überhaupt und nicht bloß isolierter, für sich genommener Taten stand nun allerdings Langes kapitaler Einwand entgegen, dass gemäß Wolffs rein formalem Vollkommenheitskriterium der bloßen Zusammenstimmung der Handlungen dann auch ein im Bösen verstockter Übeltäter ruhig in seinen Lastern fortfahren dürfe. Dieser polemisch vorgebrachte Kritikpunkt scheint Wolff besonders leibnizianischen Hintergrund dieser Begriff sbestimmung vgl. eingehend Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolff s, S. 179–188. 36 Vgl. Wolff : Oratio de Sinarum philosophia practica, S. 54–57; ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 9 Scholion, S. 7; ders.: Jus naturae methodo scientifica pertractatum, Bd. 1. Frankfurt a. M., Leipzig 1740, Repr. Hildesheim, New York 1972, § 180, S. 107. 37 Mit Recht charakterisiert daher Jäger: Konfuzianismusrezeption als Wegbereitung der deutschen Aufklärung, S. 168 Wolff entgegen einer verbreiteten Fehleinschätzung als einen Denker, »der den Prozess, die Entwicklung in den Mittelpunkt seines Denkens stellt und nicht ein fertiges Ergebnis« [Hervorh. i. O.]. 38 So jedenfalls in der ›Deutschen Metaphysik‹: vgl. Wolff : Vernünff tige Gedancken von Gott, §§ 154 f., S. 80 f. u. § 168, S. 90. Dagegen kommt er in der Philosophia prima, sive ontologia, § 519, S. 405 f. bei der Bestimmung der ›magnitudo perfectionis‹ noch ohne den erst später (§ 746, S. 554) eingeführten Terminus ›gradus‹ aus. Die hier sich abzeichnenden Unterschiede bei der quantitativen Erfassung der Vollkommenheit bedürften einer eigenen, vertiefenden Untersuchung, die im vorliegenden Zusammenhang nicht geleistet werden kann. Auch Hans Poser unterstreicht in seinem erhellenden Beitrag Christian Wolff s Forderung nach Vervollkommnung als Grundelement seiner praktischen Philosophie, in: Leona Miodońskiego (Hrsg.): Geschichte und Philosophie vor und nach Hegel. Wrocław 2008, S. 180–192, hier: S. 187–189 die Konsequenz, dass die von Wolff vorgenommene Bewertung der Vervollkommnung der Handlungsfolgen deren mathematisierende Betrachtung nach sich zieht. Bei Wolff komme es zu einer »radikale[n] Umdeutung der traditionellen, einem göttlichen Ideal folgenden perfectio zu einer Vollkommenheit in Gradabstufungen, die es nach menschlichen Möglichkeiten in unseren Handlungen zu verwirklichen gilt« (S. 191 f.). 39 In Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 11 Scholion, S. 8 spricht Wolff sogar von einer ›cognitio perfectionis vitae moralis mathematica‹ als ein denkbares Beispiel für die anzustrebende Verknüpfung von Philosophie und Mathematik.
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an die Nieren gegangen zu sein, denn er kommt immer wieder darauf zu sprechen. Es sei ein gravierendes Missverständnis seiner Position und ein Beispiel für infame Konsequenzenmacherei zu unterstellen, dass ein Bösewicht seine Schurkereien nicht zu ändern brauche, weil diese ja untereinander übereinstimmten.40 Wolff reagiert auf diesen ›Verbrechereinwand‹, wie man das fragliche Argument plakativ nennen könnte, indem er fortan verstärkt über die sittliche Bewertung einzelner menschlicher Handlungen und Zustände hinaus die Lebensführung als ganze zum Gegenstand einer ethischen Betrachtung macht. Der Wandel des Menschen sei vollkommen, so heißt es in einer Ergänzung zur zweiten Auflage der Deutschen Metaphysik von 1722, wenn nicht nur die vielen Handlungen alle miteinander zusammenstimmten, sondern endlich alle insgesamt in einer allgemeinen Absicht gegründet seien.41 Vor allem entwickelt Wolff aber innerhalb der lateinischen Werkreihe zu Beginn des zweiten Bandes der Philosophia practica universalis von 1739 eine ausgiebige Theorie der ›vita perfecta‹, also so etwas wie den allgemeinen Entwurf einer untadeligen Lebensgestaltung. Der Lebenswandel (die ›vita moralis‹) sei im Unterschied zum bloß physischen Dasein (der ›vita physica‹) der Inbegriff der vom Menschen frei hervorgebrachten Handlungen. Dessen Vollkommenheit bestehe in der Zusammenstimmung aller freien Handlungen sowohl untereinander als auch mit den natürlichen Tätigkeiten.42 Mit der skizzierten Ausweitung des Blicks von der Einzelhandlung auf das Lebensganze versucht Wolff offenbar, sein Konsenskriterium vor drohender Inhaltsleere zu bewahren. Als conditio sine qua non einer gelungenen, einwandfreien Lebensgestaltung ist zumindest zu fordern, dass die Handlungen des Menschen in einer allgemeinen Absicht gegründet sind und ein irgendwie planvolles Ganzes ausmachen; anderenfalls wäre man nämlich gezwungen, am Ende gar einen vom puren Lustprinzip oder vom Belieben des Augenblicks diktierten Lebenswandel noch für vollkommen zu halten. Die Minimalbedingung einer gewissen Geordnetheit und Zielgerichtetheit der Lebensführung soll verhindern, dass man nicht abwegigerweise jemanden für vollkommen hält, der sich lediglich von seinen momentanen Neigungen treiben lässt.43 40
Vgl. ders.: Vernünff tige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 14, S. 14; ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 504 Scholion, S. 393; ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 1 Scholion, S. 2. 41 Vgl. ders.: Vernünff tige Gedancken von Gott, § 152, S. 79, Z. 12–24. 42 Vgl. ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 7, S. 6: »Vita moralis dicitur complexus actionum liberarum, quae ab homine eduntur«; ebd., § 9, S. 7: »Perfectio vitae moralis consistit in consensu actionum liberarum omnium inter se & cum naturalibus«; ebd., § 13 Scholion, S. 9; s. a. ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 503 Scholion, S. 391: »Vita hominis, quatenus denotat complexum actionum liberarum, dicitur perfecta, si singulae ad communem quendam finem tendant, ad quem tendunt naturales.« 43 Vgl. ders.: Psychologia empirica, § 512 Scholion, S. 391 (Kritik an einer ›vita dissoluta‹);
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Mit dem weiteren, zweitgenannten Erfordernis einer Übereinstimmung der freiwilligen Handlungen mit den natürlichen Absichten scheint Wolff indessen weit über ein reines Kohärenzpostulat hinauszugehen und in das gegenteilige Extrem eines glatten Naturalismus zu verfallen. Besteht die Vollkommenheit des Menschen einfach darin, bestimmte inhaltlich vorgegebene Naturzwecke zu realisieren, wie man das von einem gewöhnlichen Ding erwartet (beispielsweise von dem Auge, dass es gut sieht, oder von der Uhr, dass sie die Zeit richtig anzeigt, um Wolffs häufig angeführte Lieblingsbeispiele zu gebrauchen)? Dass Wolff diese naturalistische Gefährdung durchaus gesehen hat und wenigstens bestrebt war, sie zu vermeiden, lässt sich daraus abnehmen, dass er in der lateinischen Schriftenreihe als Novum gegenüber der deutschen in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt zwischen einer ›perfectio essentialis‹ und einer ›perfectio accidentalis‹ unterscheidet. Die wesentliche Vollkommenheit besteht in der Übereinstimmung der wesentlichen Bestimmungen, die akzidentelle Vollkommenheit hingegen in der Übereinstimmung der akzidentellen Bestimmungen mit den wesentlichen.44 Der vollkommene Lebenswandel eines Menschen, bei dem das freie Handeln der natürlichen Veranlagung entspricht und diese in harmonischer Weise mehr und mehr zur Entfaltung bringt, ist ein Beispiel für eine akzidentelle Vollkommenheit. Dagegen ist die Wesensvollkommenheit mit der Art und Gattung eines Dinges schon gesetzt und gestattet keine Steigerung mehr. Dem Menschen als Freiheitswesen sind also anders als den übrigen Dingen nicht einfach starre Wesensgrenzen vorgegeben, sondern kraft seiner Freiheit darf und soll er seine verschiedenen Vermögen in menschenwürdiger Weise ausbilden und gebrauchen.45 Einen grundsätzlichen Freiheitsspielraum sichert Wolff seinem Vollkommenheitsbegriff bei aller Rückgebundenheit an die Natur des Menschen und der Dinge ferner dadurch, dass er die allgemeine ontologische Definition der ›perfectio‹ lediglich als eine Art richtungweisenden Begriff (›notio directrix‹) begreift, der zwar so etwas wie eine erste Orientierung über die grobe Marschrichtung geben kann, aber für sich allein ohne entsprechende Sachkenntnis keineswegs zu genügen vermag. Aus der generellen Bestimmung der Vollkommenheit als Übereinstimmung in der Verschiedenheit46 lassen sich nicht ohne weiteres schon besondere Arten der Vollders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 62, S. 47 f. u. § 66, S. 50 f. (Kritik an einer ›vita inordinata‹). 44 Vgl. ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 528, S. 411; ders.: Theologia naturalis, Bd. 1, § 577, S. 527 f. u. § 917, S. 891; ders.: Institutiones juris naturae et gentium. Halle 1750, Repr. Hildesheim 1969, § 11, S. 6. 45 Vgl. ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 528 Scholion, S. 411; ders.: Theologia naturalis, Bd. 1, § 912, S. 886; ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 31 Scholion, S. 22; ders.: Jus naturae, Bd. 1, § 202, S. 125 f. 46 Vgl. ders.: Vernünff tige Gedancken von Gott, § 152, S. 78: »Die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen machet die Vollkommenheit der Dinge aus«; ders.: Philosophia prima, sive
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kommenheit erkennen, geschweige denn konkrete Gegenstände nach ihrer jeweiligen Einzelvollkommenheit beurteilen.47 Um diesem Desiderat einer mangelhaften Durchdringung des Vollkommenheitsbegriffs abzuhelfen, denkt Wolff sogar gelegentlich daran, eine eigene Wissenschaft von den Vollkommenheiten der Dinge zu begründen, von der er sich zahlreiche nützliche Aufschlüsse verspricht.48 Den Terminus technicus der ›notio directrix‹ zur Kennzeichnung des lediglich begrenzten Erkenntniswertes seiner allgemeinen Definition der Vollkommenheit hat Wolff erst vergleichsweise spät eingeführt, nämlich in programmatischer Form in seiner 1729 erschienenen Marburger Abhandlung De notionibus directricibus et genuino uso philosophiae primae.49 In diesem einschlägigen Aufsatz versteht er unter zur Richtschnur dienenden Begriffen solche, aus denen erhellt, wohin die Gedanken gerichtet werden müssen, damit eine gesuchte Einsicht auch gefunden wird. Für diesen heuristischen Wert ontologischer Begriffe gebraucht er zwei grundlegende Metaphern: Sie zeigen einerseits den richtigen Weg, damit man nicht auf Abwege gerät, und sie zünden andererseits ein Licht an, damit man nicht im Finstern herumtappen muss.50 Damit dienen sie gleichsam als optische Sehhilfen, die zu erkennen geben, was man sonst nicht sehen würde.51 Sie schärfen die geistige Sehkraft sowohl bei der eigenständigen Entdeckung bislang unbekannter Wahrheiten als auch bei der kritischen Beurteilung der bereits von anderen gewonnenen Erkenntnisse.52 ontologia, § 503, S. 390: »Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno.« 47 Vgl. ders.: Ausführliche Nachricht, § 20, S. 50; ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 504 Scholion, S. 392. 48 Vgl. ders.: Vernünff tige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, § 708, S. 440; ders.: De voluptate ex cognitione veritatis percipienda, § 7, in: ders.: Horae subsecivae Marburgenses Anni MDCCXXIX. Trimestre aestivum. Frankfurt a. M., Leipzig 1730, Repr. Hildesheim u. a. 1983, S. 185; ders.: Cosmologia generalis, § 539 Scholion, S. 422; s. a. ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 503 Scholion, S. 390 u. § 507 Scholion, S. 395; ders.: Philosophia moralis sive ethica, methodo scientifica pertractata, Bd. 4. Halle 1752, Repr. Hildesheim, New York 1970, § 113 Scholion, S. 141. 49 Hier dient insbesondere die Frage nach der ›perfectio mundi‹ als Paradebeispiel, um die ›vis directrix‹ ontologischer Begriffe überhaupt zu illustrieren (vgl. ders.: De notionibus directricibus & genuino usu philosophiae primae, § 4, S. 326–328). Zum Stellenwert des Vollkommenheitsbegriff s als ›notio directrix‹ speziell in der praktischen Philosophie vgl. ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 1, § 49 Scholion, S. 44; ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, § 2 Scholion, S. 3 u. § 58, S. 43 f. Dagegen ist es merkwürdig, dass der Terminus ›notio directrix‹ weder im Register der ›Lateinischen Logik‹ noch im ›perfectio‹-Kapitel der ›Ontologia‹ auftaucht, was wohl der Hauptgrund für seine mangelnde Rezeption in der Philosophie der Folgezeit sein dürfte. 50 Vgl. ders.: De notionibus directricibus & genuino usu philosophiae primae, § 3, S. 316: »Per notiones enim directrices intelligo eas, per quas apparet, quo cogitationes sint dirigendae, ut reperiatur, quod quaeritur.« 51 Vgl. ebd., § 4, S. 327 f. u. § 9, S. 343 f. 52 Vgl. ebd., § 2, S. 314 f.
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Wolffs offenbar neugebildeter, nicht der klassischen Latinität entlehnter Spezialausdruck ›notio directrix‹, der die blickschärfende, wahrheitsermöglichende Funktion der ontologischen Begriffe im Allgemeinen wie des Vollkommenheitsbegriffes im Besonderen charakterisieren soll, lässt sich im Deutschen nur schwer einigermaßen prägnant wiedergeben. Der Wolff-Übersetzer Gottlieb Friedrich Hagen, der unter anderem auch den fraglichen Beitrag aus den Horae subsecivae Marburgenses ins Deutsche übertragen hat, spricht wahlweise von ›richtenden‹ bzw. ›zur Richtschnur dienenden Begriffen‹. Ihm zufolge ist die Benennung ursprünglich der Mathematik entnommen, näherhin der geometrischen Redeweise von einer ›linea directrix‹ abgeborgt.53 In der Wolff ’schen Begriffsverwendung schwingt aber von Anfang an ein wesentlich praxisbezogenes Moment mit, geht es doch in der allgemeinen praktischen Philosophie entscheidend um die richtige Lenkung (›directio‹ oder ›dirigere‹) der freien Handlungen.54 Diese praktische Ausrichtung jeglichen menschlichen Erkennens und Wirkens auf eine Zunahme an Vollkommenheit hin darf freilich – worauf Wolff größten Wert legt – nicht individualistisch aufgefasst werden. Dem Vorwurf seines Erzfeindes Joachim Lange, hinter dem Moralprinzip der Vollkommenheit stehe im Grunde eine verkappte Eigenliebe, begegnet Wolff mit dem Argument, dass alle Bemühungen um eigene Vervollkommnung stets auf fremde Mitwirkung angewiesen seien. Weil kein Mensch sich und seinen Zustand ganz alleinig vollkommen machen kann, sondern ein jeder dazu der Hilfe anderer bedarf, kann die erstrebte Vollkommenheit, wenn überhaupt, nur mit vereinten Kräften erlangt werden. Eigene und fremde Vollkommenheit hängen so eng, ja unauflöslich miteinander zusammen, dass die Verpflichtungen zu beiden sozusagen im Gleichschritt miteinander gehen müssen. Das, was wir anderen schulden, und das, was wir uns selbst schuldig sind, haben letztlich die gleiche Wurzel: die Pflicht zu einer Mehrung der Vollkommenheit unter den Menschen und in der Welt insgesamt.55 Wer auf eine möglichst tugendhafte, vollkommene Lebensführung bedacht ist, muss deshalb bei all seinem Tun sowohl seine eigene Vollkommenheit als auch diejenige der an-
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Vgl. Christian Wolff : Von den zur Richtschnur dienenden Begriffen (notionibus directricibus), und dem rechten Gebrauch der Grundwissenschaff t. In: ders. (Hrsg.): Gesammlete kleine philosophische Schriff ten, Bd. 2. Halle 1737, Repr. Hildesheim, New York 1981, S. 115 f., Anm. 4. Zur ›linea directrix‹ oder ›linea dirigens‹ als mutmaßliches begriffl iches Vorbild s. a. ders.: Mathematisches Lexicon. Leipzig 1716, Repr. Hildesheim 1965, Sp. 543 f. 54 Vgl. etwa ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 1, § 3, S. 2: »Philosophia practica universalis est scientia affectiva practica dirigendi actiones liberas per regulas generalissimas«; ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, Cap. 1: De generali actionum humanarum directione [Hervorh. C. S.]. 55 Vgl. ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 1, §§ 220–223, S. 174–178; s. a. schon ders.: Vernünff tige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, § 43, S. 31.
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deren unmittelbar, vorrangig und um ihrer selbst willen zur Absicht haben.56 Die Pflicht, das freie Handeln am Leitziel einer unparteiischen Beförderung der Vollkommenheit überhaupt auszurichten und nicht etwa nur das eigene Gut zum Schaden anderer zu mehren, entspringt nach Wolff zudem nicht bloß einem nüchternen Nutzenkalkül des Menschen, sondern verdankt sich in letzter Instanz dem gütigen Schöpferwillen Gottes.57 Sosehr dem Menschen die Sorge um die Vollkommenheit anderer nicht minder am Herzen liegen soll als die persönliche Vervollkommnung, so gilt doch gleichzeitig auch, dass man nur auf das in der eigenen Macht Stehende verpflichtet sein kann. Niemand ist im Konfliktfall gehalten, sich selbst auf Kosten anderer ungebührlich zu vernachlässigen.58 In Wolffs universalistischer Vollkommenheitsperspektive ist letzten Endes jedoch keine konstitutive Differenz zwischen individuellem Wohl und gesellschaftlichem Besten, zwischen der Vollkommenheit des Menschen und der Vollkommenheit der Welt vorgesehen. Dieselbe Ausrichtung, die auf die Vollkommenheit des Mikrokosmos geht, zielt auch auf die Vollkommenheit des Makrokosmos.59 Der massiven Anschuldigung Langes, Wolffs neues Prinzip der Sittenlehre stelle unter dem Namen der Vollkommenheit im Grunde nichts anderes vor als den Eigennutzen (utilitas), ja laufe endlich sogar auf das epikureische Prinzip der Wollust hinaus, war freilich mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer zwischenmenschlichen Kooperation zum Zwecke der Vollkommenheitssteigerung sowie der Einbettung des Vollkommenheitsstrebens in eine kosmische Gesamtsicht noch kaum hinreichend entgegengetreten. Um den misslichen Eindruck zu zerstreuen, er vertrete gewissermaßen einen Utilitarismus avant la lettre, griff Wolff das von Lange wiederholt tadelnd gebrauchte Stichwort einer bloß ›vermeinten‹ oder sogar regelrecht ›falschen Vollkommenheit‹ 60 produktiv auf. Skizzenhaft schon in der Deutschen Metaphysik, breiter ausgeführt dann in der Psychologia empirica unterschied er zwischen einer ›wahren Vollkommenheit‹ (›perfectio vera‹) und einer nur ›vermeinten Vollkommenheit‹ (›perfectio apparens‹). Während erstere der Sache tatsächlich innewohne, werde ihr letztere irrtümlich zugeschrieben.61 Nicht alles, was zunächst als 56
Vgl. ders.: Philosophia practica universalis, Bd. 2, §§ 30–38, S. 20–28 und § 45, S. 33 f. Vgl. ders.: Theologia naturalis, Bd. 1, §§ 905–921, S. 880–896 und § 991, S. 963 f. 58 Vgl. ders.: Jus naturae, Bd. 1, §§ 609–611, S. 399–401. 59 Vgl. ders.: Oratio de Sinarum philosophia practica, S. 6 f., 192 f. u. 236 f. 60 Vgl. Lange: Bescheidene und ausführliche Entdeckung, S. 368 f. u. 372; ders.: Philosophische Fragen aus der neuen mechanischen Morale, S. 18 f. 61 Vgl. Wolff : Vernünff tige Gedancken von Gott, § 405, S. 248; ders.: Psychologia empirica, § 510, S. 388: »Perfectio vera dicitur, quam rei inesse vi notionis perfectionis demonstrari potest, aut, si mavis, quae eidem revera inest. Perfectio autem apparens a nobis vocatur, quam per errorem eidem tribuimus.« Zur Neuheit dieses wichtigen Begriff spaars gegenüber der ansonsten für Wolff weithin maßgeblichen Vollkommenheitstheorie von Leibniz vgl. Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolff s, S. 110–120. 57
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mehr oder minder vollkommen erscheint, ist es auch schon, denn der Schein kann nur zu leicht trügen. Auf der Basis dieses fundamentalen Gegensatzes von Schein und Wahrheit kann Wolff dann des Weiteren zwischen wahrer und vermeintlicher Lust, wirklicher und scheinbarer Schönheit, wahrhaftem Glück und bloßem Scheinglück unterscheiden. Wahres Vergnügen und wahre Glückseligkeit setzen anhaltende Beständigkeit voraus, während trügerisches Vergnügen und vermeintes Glück rasch in ihr glattes Gegenteil umschlagen können.62 Mit dieser Reihe aufeinander aufbauender Distinktionen konnte sich Wolff nun auch mit guten Gründen der üblen Unterstellung erwehren, er huldige stillschweigend einem Epikureismus. Denn wenn nicht wahl- und unterschiedslos jedes Vergnügen und jedes Glück gutgeheißen wird, sondern stets der Maßstab ganzheitlicher, sozialverträglicher Vervollkommnung angelegt wird, ist einem krassen Hedonismus oder seichten Eudämonismus offenkundig eine entschiedene Absage erteilt. Das systematische In-den-Blick-Nehmen verfehlter Vollkommenheitsvorstellungen durch die betonte Herausstellung trügerischen Scheins im menschlichen Handeln eröffnete Wolff ferner die Möglichkeit, den pietistischen Standardeinwurf auszuräumen, er verkenne die vielfachen Unvollkommenheiten im Menschenleben und verdränge die Schattenseiten irdischer Existenz. Denn Wolff thematisiert keineswegs nur einseitig das Ideal der Suche nach größerer Vollkommenheit und unbedingter Erfüllung, sondern ebenso sehr auch die gegenteilige Gefährdung eines Steckenbleibens in Unvollkommenheit, Unlust und Unglückseligkeit.63
4. Ausblick: Zum weiteren Schicksal der Wolff ’schen Vollkommenheitslehre innerhalb der Schultradition und darüber hinaus Die vorstehenden Analysen zu paradigmatischen Aspekten von Wolffs vielgestaltiger Theorie der Vollkommenheit haben aufweisen können, dass deren sukzessive Darlegung, zunächst gedrängt in den deutschen Schriften und dann ausführlich in den lateinischen Opera, tiefgreifend durch die jahrzehntelangen Konflikte mit den pietistischen Gegnern geprägt ist. Angesichts der Intensität der Auseinander62
Vgl. Wolff : Psychologia empirica, § 514, S. 393 (›voluptas vera‹ bzw. ›apparens‹), § 546, S. 421 (›pulchritudo vera‹ bzw. ›apparens‹), § 636, S. 477 (›felicitas vera‹ bzw. ›apparens‹). 63 Vgl. ders.: Philosophia prima, sive ontologia, § 504, S. 391 (Defi nition der ›imperfectio‹); ders.: Psychologia empirica, § 518, S. 397 (Definition von ›taedium‹) u. § 637, S. 477 (Definition der ›infelicitas‹). Mit dieser durchgehenden Berücksichtigung der jeweiligen negativen Gegenbegriffe unterscheidet sich Wolff ein weiteres Mal signifi kant von Leibniz, der bei seinen zahllosen Definitionsketten zu einer Grundlegung der praktischen Philosophie gewöhnlich nur die positiven Termini ausdrücklich benennt und bestimmt (vgl. exemplarisch etwa im Brief vom 18. Mai 1715 an Wolff. In: Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Halle 1860, Repr. Hildesheim, New York 1971, S. 171 f.).
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setzungen wundert es kaum, dass schon die Zeitgenossen den Ausgang des Streits um Wolffs Vollkommenheitsauffassung höchst unterschiedlich beurteilten. Um nur einige repräsentative Stimmen aus diesen Grabenkämpfen anzuführen: Der treue Wolff-Anhänger Friedrich Christian Baumeister sieht trotz des von manchen bekundeten heftigen Missfallens an der Vollkommenheitsdefinition des Schulhaupts kein triftiges Gegenbeispiel, auf das Wolffs ›consensus-in-varietate‹-Formel nicht anwendbar wäre.64 Dagegen erachtet der sich schulunabhängig gebende philosophische Theologe Johann Ernst Gunner Wolffs einschlägige Definition trotz ihrer weiten Verbreitung als unhaltbar. Zumindest auf einige der von Lange gemachten Einwürfe seien die Wolffianer eine gründliche Antwort schuldig geblieben.65 Noch wenig wahrgenommen und kaum untersucht ist indes die Tatsache, dass es dieser Schelte zum Trotz innerhalb des Wolffianismus selbst durchaus zu nennenswerten Weiterentwicklungen von Elementen des Wolff ’schen Theoriegebäudes kam. Eine vergleichsweise eigenständige Anverwandlung der Vollkommenheitsdoktrin von Wolffs Deutscher Metaphysik bietet etwa die frühe Abhandlung De origine et permissione mali von Georg Bernhard Bilfinger. Der Tübinger Wolffianer unterscheidet beispielsweise – neu gegenüber dem Begründer der Schule – zwei grundsätzliche Weisen von Unvollkommenheit: den Mangel eines Konsenses einerseits und das Vorliegen eines Dissenses andererseits. Er veranschaulicht diese Differenz am Beispiel der Abstimmung in einem kollegialen Gremium, wo es entweder bloße Stimmenthaltungen oder offene Gegenstimmen geben kann.66 Die vermutlich originellste, weitreichendste Fortbildung bisheriger Schulorthodoxie bietet in diesem Zusammenhang wohl Alexander Gottlieb Baumgartens Kanon von sechs Hauptvollkommenheiten der Erkenntnis (ubertas, magnitudo, veritas, claritas, certitudo, vita cognitionis), die bekanntlich das zentrale Gliederungsprinzip seiner Ästhetik abgeben und die er in den Merkvers gefasst hat: »Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben, / Wer das meiner Einsicht gibt, hat mir viel gegeben.« 67 64
Vgl. Friedrich Christian Baumeister: Institutiones metaphysicae, ontologiam, cosmologiam, psychologiam, theologiam denique naturalem complexae. Wittenberg, Zerbst 1738, Repr. Hildesheim u. a. 1988, § 202, S. 149 f. 65 Vgl. Johann Ernst Gunner: Beweis von der Wirklichkeit und Einigkeit Gottes aus der Vernunft. Jena 1748, § 6, S. 15–19. 66 Vgl. Georg Bernhard Bilfi nger: De origine et permissione mali, praecipue moralis, commentatio philosophica (1723). Frankfurt a. M., Leipzig 1724, Repr. Hildesheim u. a. 2002, § 102, S. 57 f. u. § 114, S. 66 f.; s. a. ders.: Dilucidationes philosophicae de deo, anima humana, mundo, et generalibus rerum affectionibus. Tübingen 1725, Repr. Hildesheim, New York 1982, § 131, S. 130. Zur weiteren innerwolffianischen Rezeption dieser Typenunterscheidung vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 161. 67 Alexander Gottlieb Baumgarten: [Ästhetik-Nachschrift], § 22. In: Bernhard Poppe (Hrsg.): Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Borna, Leipzig 1907, S. 83; vgl. ders.: Ästhetik.
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Während sich die letztgenannte Neuerung eher einer immanenten Aus- und Umgestaltung des Wolff ’schen Systems der Philosophie verdankt, nämlich der Begründung der Ästhetik als einer eigenen philosophischen Disziplin, sind andere innovative Bestandteile der Vollkommenheitstheorie von Baumgarten und dessen deutschem Popularisator Georg Friedrich Meier anscheinend nach wie vor durch die Lange’schen Invektiven gegen Wolff veranlasst. Der leidige Vorwurf der Eigennutzfi xiertheit einer perfektionistischen Moralauffassung blieb offenbar auch für diese beiden kreativen Jungwolffianer ein Stachel im Fleisch, der ihnen über Wolffs Apologie hinaus weitere begriffliche Anstrengungen abnötigte. So unterschieden sie zwischen dem Streben nach Vollkommenheit als Zweck einerseits und als Mittel andererseits, um auf diese Weise deutlicher einzuschärfen, dass die Vervollkommnung des Handelnden selber nicht genüge, sondern stets auch die Vervollkommnung der Mitmenschen im Auge haben müsse. Zugleich wurde eine übersteigerte Selbstliebe terminologisch erstmals als ›moralischer Egoismus‹ gebrandmarkt – eine neue, zur praktischen Philosophie gehörige Verwendung des bis dahin lediglich in einem theoretischen Sinne gebräuchlichen Egoismusbegriffs.68 Kam es somit auf der einen Seite innerhalb der Schule zu einem mehr oder minder kontinuierlichen Ausbau Wolff ’scher Positionen in der Behandlung der Vollkommenheitsproblematik, so fanden jedoch auf der anderen Seite nicht alle Wolff ’schen Lösungsansätze unter seinen Anhängern Gefolgschaft. Weitgehend unrezipiert blieb etwa seine Idee der ›perfectio‹ als einer ›notio directrix‹, seine programmatische Forderung nach einer eigenständigen Wissenschaft von den Regeln der Vollkommenheit überhaupt und nicht zuletzt seine ausgearbeitete Lehre vom mannigfachen Schein der Vollkommenheit. Seine begrifflichen Entgegensetzungen von wahrer und vermeinter Vollkommenheit, von wahrer und vermeinter Schönheit, von wahrer und vermeinter Glückseligkeit, obwohl von ihm selbst für äußerst bedeutsam gehalten, fanden so gut wie keine Resonanz.69 Lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern. Hrsg. v. Dagmar Mirbach, Bd. 1. Hamburg 2007, § 22, S. 24 f. 68 Vgl. dazu genauer mit zahlreichen Quellenbelegen Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 136–139 u. 163–165. 69 Symptomatisch dafür ist, dass in dem für die philosophische Fachsprache des 18. Jahrhunderts sehr aufschlussreichen Nachschlagewerk ›Onomasticon philosophicum latinoteutonicum et teutonicolatinum‹ (hrsg. v. Ken Aso, Masao Kurosaki, Tanehisa Otabe u. Shiro Yamauchi.Tokio 1989) weder die Termini ›perfectio vera‹ bzw. ›apparens‹ (S. 270) noch die davon abhängigen Begriff spaare ›pulchritudo vera – apparens‹ (S. 310) sowie ›felicitas vera – apparens‹ (S. 138) belegt sind. Alexander Gottlieb Baumgarten kennt als spärliches Relikt lediglich noch den Unterschied zwischen ›wahrer Lust‹ (›voluptas vera‹) und ›Schein-Lust‹ (›voluptas apparens‹). Vgl. ders.: Metaphysica. Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe. Übersetzt, eingeleitet u. hrsg. v. Günter Gawlick u. Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, § 655, S. 346. Die Behauptung von einem bloßen Schein der Vollkommenheit, wo sie da und dort später noch begegnet, wurde zumindest nicht als ein typisches Spezifi kum der Wolffianer wahrgenommen.
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Auch noch in anderer Hinsicht ist die terminologische Entwicklung nicht einfach bei Wolff stehengeblieben, sondern mannigfach über ihn hinausgegangen. Sprachgeschichtlich gesehen ist es dabei frappierend, dass selbst einige mittlerweile völlig geläufige Begriffe wie ›Fortschritt‹, ›Vervollkommnung‹ oder ›Perfektibilität‹ offenbar erst relativ späte Wortneuprägungen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind,70 sosehr ein heutiger Interpret fast zwangsläufig dazu neigt, sie bereits für Wolff selbst in Anspruch zu nehmen. In der Gegenwart erfreut sich Wolffs Lehrstück von der Vollkommenheit gewöhnlich keiner guten Presse mehr, ja erfährt nicht selten scharfe Be- und Verurteilungen. Denn eine Metaphysik, Ethik oder gar Politik der Vollkommenheit scheint seit Immanuel Kant gänzlich obsolet geworden zu sein.71 Man muss zwar nicht so weit gehen wie der Lexikograph Fritz Mauthner, der den Begriff der Vollkommenheit als ›Wortleiche‹ am liebsten gleich beerdigen würde.72 Doch ist heute der Trend zu einer Minimalisierung der Auffassung von Vollkommenheit unübersehbar, insofern wir in den meisten Lebensbereichen keine abschließende Perfektion mehr kennen und vom Ideal eines ›mundus perfectisssimus‹ längst Abschied genommen haben.73 Obwohl sich Wolffs Vollkommenheitsdenken schon allein aufgrund solcher semantischen Wandlungsprozesse heute beim besten Willen nicht mehr repristinieren lässt, war sein historisches Verdienst als folgenreicher Anstoßgeber möglicherweise doch größer als gemeinhin angenommen. Kants reife Lehre vom kategorischen ImBezeichnenderweise kann auch der große Wolff-Antipode Christian August Crusius einmal en passant zwischen wahren und scheinbaren Vollkommenheiten unterscheiden. Vgl. ders.: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden (1745). Leipzig 31766, § 190, S. 318 f. 70 Vgl. Reinhart Koselleck u. Christian Meier: Fortschritt. In: Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 351–423; Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutsch[s]prachigen Literatur. In: Archiv für Begriff sgeschichte 24 (1980), S. 221–257. 71 Vgl. als schonungslose Generalabrechnungen mit Wolff bspw. Heiner F. Klemme: Werde vollkommen! Christian Wolff s Vollkommenheitsethik in systematischer Perspektive. In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hrsg.): Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.-8. April 2004, Bd. 3. Hildesheim u. a. 2007, S. 163–180; Frank Grunert: Vollkommenheit als (politische) Norm. Zur politischen Philosophie von Christian Wolff (1679–1754). In: Bernd Heidenreich u. Gerhard Göhler (Hrsg.): Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland. Darmstadt, Mainz 2011, S. 164–184. 72 Vgl. Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3. Leipzig 21924, S. 372–379, hier: S. 379. 73 Vgl. Thomas Sören Hoff mann: Art. ›Vollkommenheit‹. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1115–1132; Severin Müller: Art. ›Vollkommenheit‹. In: Petra Kolmer u. Armin G. Wildfeuer (Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3. Freiburg i. Br., München 2011, S. 2370–2384, bes. S. 2372 u. 2382.
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perativ hat in Wolffs pionierhaften Versuch, mittels einer theologieunabhängigen ›lex perfectiva‹74 ein formales Beurteilungsprinzip der Moral zu formulieren, zweifelsohne einen gewichtigen, damals Neuland erschließenden Vorgänger gehabt.75 Zudem kann man sich ernsthaft die Frage stellen, ob nicht zumindest der Kern von Wolff s Vollkommenheitsidee unter aktuell zwar anderslautenden, aber in mancher Hinsicht durchaus vergleichbaren Vokabeln wie beispielsweise ›Selbstverwirklichung‹76 oder ›Optimierung‹ (im Zuge von Reformbedarf, Qualitätsmanagement und Dauerevaluation) nach wie vor fröhliche Urständ feiert. Allem Vermuten nach kann selbst unsere ganz andersgeartete Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts, infiziert vom neuzeittypischen Virus einer permanenten Menschheitsverbesserung, auf derartige normative Leitvorstellungen von hohem Abstraktionsgrad, aber geringer Greifbarkeit nicht schlechterdings verzichten. Solche inhaltsarmen Schlagworte mögen vielleicht modischer klingen, ob sie am Ende aber klarer sind als Wolffs immerhin sehr elaborierter Vollkommenheitsbegriff, bleibe hier dahingestellt.
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Wolff : Philosophia practica universalis, Bd. 1, § 193, S. 154; ders.: Grundsätze des Naturund Völckerrechts. Halle 1754, Repr. Hildesheim, New York 1980, § 48, S. 31. 75 Die gedankliche Nähe beider Begründungsansätze wird z. B. herausgestellt von Eberhard Günter Schulz: Wolff s Moralprinzip und Kants kategorischer Imperativ. In: Sonia Carboncini u. Luigi Cataldi Madonna (Hrsg.): Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hildesheim u. a. 1992, S. 217–237. 76 Vgl. zu diesem Substitutionsbegriff Gerd Gerhardt: Kritik des Moralverständnisses. Entwickelt am Leitfaden einer Rekonstruktion von ›Selbstverwirklichung‹ und ›Vollkommenheit‹, Bonn 1989, bes. S. 166–184.
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Leibniz als Denker der Vollkommenheit und der Vervollkommnung Mit Hinweisen zur Rezeption
Wir ähneln im Kleinen der Gottheit, und zwar im Hinblick auf die Fähigkeit, den uns betreffenden Dingen Ordnung zu verleihen […] und darin besteht unsere Tüchtigkeit und Vollkommenheit, wie unser Glück in dem Vergnügen, das wir daraus schöpfen, besteht.1
›Vollkommenheit‹ (als Status) und ›Vervollkommnung‹ (als Prozess) oder ›Perfectio‹ und ›Perfektibilität‹2 gehören in der Philosophie3, zumal in der Ontologie und der Ethik – später in der Ästhetik und Geschichtsphilosophie, in Religion und Theologie4 seit je5 zu den ganz zentralen Begriffen und mit ihnen werden grundlegendste Ideenkomplexe benannt. Die Vorstellung einer der Substanz oder einem Gegenstand realiter oder virtuell (im Sinne einer Entwicklung) innewohnenden, 1
»[…] qui nous fait ressembler en diminutif à la Divinité, tant par la connoissance de l’ordre, que par l’ordonnance que nous savons donner nous même aux choses qui sont à nostre portée, à l’imitation de celle que Dieu donne à l’univers, et c’est aussi en cela que consiste nostre vertu et perfection, comme nostre felicité consiste dans le Plaisir que nous y prenons.« Leibniz an die Königin Sophie Charlotte von Preußen. Lettre touchant ce qui est independent des Sens et de la Matiere. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. I. Gerhardt. Sechster Band. Berlin 1885. Repr. Hildesheim, New York 1978, S. 499–508, hier: S. 507. 2 Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriff s in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriff sgeschichte 24 (1980), S. 221–257; Richard Baum, Sebastian Neumeister u. Gottfried Hornig: Art. ›Perfektibilität‹. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, Sp. 238–244. 3 Für das philosophische Verständnis der Leibnizzeit vgl. Etienne Chauvin: Lexicon Philosophicum. Leeuwarden 1713 (Repr. mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer Düsseldorf 1967), S. 480–482 (s. v. ›Perfectio‹ und ›Perfectum‹); für das frühe 18. Jahrhundert vgl.: Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon. Zweyte verbesserte […] Auflage. Leipzig 1740, Sp. 2775–2777 (s. v. ›Vollkommenheit‹). 4 R. Newton Flew: The Idea of Perfection in Christian Theology. Oxford, London 1934. 5 Vgl. Thomas Sören Hoff mann: Art. ›Vollkommenheit‹. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1115–1132 und speziell für Aristoteles Friedo Ricken: Art. ›Teleion/vollendet, vollkommen‹. In: Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles-Lexikon. Stuttgart 2005, S. 574–575. Zu der Leibniz unmittelbar voraufgehenden Epoche der Philosophie vgl. Emmanuel Faye: Philosophie et Perfection de l’Homme. De la Renaissance à Descartes. Paris 1998.
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wie auch immer gefassten Perfektion verweist auch auf die klassische, scholastische6 Transzendentalienlehre (unum, verum, bonum)7, die noch Kant diskutiert8: Markiert wird dann auch ein teleologisches Denken, das den Ist-Zustand eines Dinges oder einer Person (und ihre Handlungen) stets auch mit Rücksicht auf einen Soll-Zustand betrachtet.9 In der klassischen Ontologie und der natürlichen Theologie ist der Begriff des höchstvollkommenen Wesens (theistisch: Gott) konstitutiv: ein höchstes Wesen10, das – aristotelisch gesprochen – reine Aktualität ist (und somit jeder Entwicklung enthoben) und dem alle nur denkbaren Vollkommenheiten (theistisch: Allmacht, Allwissenheit, Allgüte) zugeschrieben werden, als Inbegriff der ontologischen und moralischen ›perfectio‹ weltkonstitutives Prinzip, Maßstab und Orientierungspunkt.11 In den Schriften Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) lassen sich die Bedeutungsfacetten von ›perfectio‹ – ›Vollkommenheit‹12 oder deren Vorformen (wie im Falle der Ästhetik13 oder der Geschichtsphilosophie14) nicht nur deutlich wieVgl. Josef de Vries: Grundbegriffe der Scholastik. Darmstadt 1980, S. 102–107 (s. v. ›Vollkommenheit‹). 7 Johannes B. Lotz: Art. ›Transzendentalien‹. In: Walter Brugger (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Freiburg u. a. 141976, S. 411–412. 8 Immanuel Kant: KrV 113 B. Vgl. dazu: Hans Leisegang: Über die Behandlung des scholastischen Satzes: Quodlibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum und seine Bedeutung in Kants Kritik der reinen Vernunft. In: Kant-Studien 20 (1915), S. 403–421 (S. 406–411: Hinweise auf Wolff und Baumgarten). 9 John Passmore: Art. ›Perfectibility of Man‹. In: Philip P. Wiener (Ed.): Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, Vol. 3. New York 1973, S. 463–476; John Passmore: Der vollkommene Mensch. Eine Idee im Wandel von drei Jahrtausenden. Stuttgart 1975 (zu Leibniz vgl. bes. S. 222 f.); Arnold Burgen, Peter McLaughlin u. Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): The Idea of Progress. Berlin, New York 1997. 10 Robert Theis: Art. ›Wesen, höchstes‹. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Basel 2004, Sp. 645–649. 11 Für die ›perfectio Dei‹ in der altprotestantischen Dogmatik als dem lutherischen Hintergrund Leibnizens vgl. Karl Hase: Hutterus redivivus. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche. Leipzig 121883, S. 115 f. 12 Einen Überblick gibt das die ›Philosophischen Schriften‹ (hrsg. v. C. I. Gerhardt, 7 Bde. 1875–1890) verschlagwortende ›Leibniz Lexicon‹ (compiled by R. Finster, G. Hunter, R. F. McRae, M. Miles and W. E. Seager) Hildesheim u. a. 1988, s. v. ›Perfectio‹ (S. 255–256) und ›Vollkommenheit‹ (S. 390), sowie der Art. ›Perfection‹. In: Stuart Brown, N. J. Fox: Historical Dictionary of Leibnitz’s Philosophy. Lanham u. a. 2006, S. 178–179. Das Thema hat früh Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. Léopold Mabilleau: De perfectione apud Leibnitium. Paris 1881. 13 Carsten Zelle: Ästhetische Anthropoiesis – Leibniz’ Erkenntnis-Stufen und der Ursprung der Ästhetik. In: Alexander KoŠenina/Wenchao Li (Hrsg.): Leibniz und die Aufklärungskultur. Hannover 2013, S. 93–116. 14 Vgl. Wolfgang Hübener: Leibniz – ein Geschichtsphilosoph? In: Albert Heinekamp (Hrsg.): Leibniz als Geschichtsforscher. Wiesbaden 1982, S. 38–48; vgl. Paul Rateau: Leibniz et le meilleur des mondes possibles. Paris 2015 (S. 103–174: Le meilleur exclut-il le progrès? Contre l’éternel retour – L’univers progresse-t-il?). 6
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derfinden, sondern die gesamten philosophischen Bemühungen Leibnizens könnten geradezu am Leitfaden dieses Begriffes rekonstruiert werden. Wie wohl bei kaum einem anderen Philosophen der frühen Neuzeit ist der »teleologische Sinn von ›Vollkommenheit‹«15 so stark betont und hat ein solch systematisches Gewicht, wie es dies bei Leibniz der Fall ist. Seine spezifische Fassung der ›Substanz‹ als je individueller Inbegriff aller ihr zukommender Prädikate und Bestimmungen (Monade), die – zwar uranfänglich vom vollkommensten Wesen so angelegt – im Verlauf ihres Wirkens zur Ausformung gelangen (Leibniz hat hierfür später sogar den aristotelischen Begriff der ›Entelechie‹ wieder zur Geltung bringen wollen16), seine spezifische Idee der geregelten Zusammenstimmung der Einzelsubstanzen miteinander (Praestabilierte Harmonie), seine Vorstellung einer lückenlosen, graduell abgestuften Kette von empfindenden Wesen bis hinauf zu Gott, sein Konzept von der Wahl der bestmöglichen Welt (series rerum) durch das vollkommenste Wesen (metaphysischer Optimismus), wie auch die Lehre von der imitatio dieses am optimum orientierten Handelns Gottes durch die vernunftbegabten Wesen (Engel und Menschen) als Tugend, wodurch die Weltverfassung im fortwährenden Prozess zum Besseren begriffen ist – all diese Eigenheiten der Leibnizschen Philosophie lassen ›perfectio‹ – ›Vollkommenheit‹ – zu einem ihrer zentralen Begriffe werden, dem vielleicht nur noch der der ›Harmonie‹ an Bedeutung gleichkommt. Im Folgenden soll anhand von Passagen aus zwei philosophischen Texten Leibnizens, die auch der unmittelbaren Mit- und Nachwelt bekannt gewesen sind, die Bedeutung des Konzeptes der ›Vollkommenheit‹ und seine Verwobenheit sowohl mit Leibniz’ Substanztheorie als auch seiner Vorstellung von der ›Republik der Geister‹ aufgewiesen werden. Sie stammen zum einen aus einem Brief an Antoine Arnauld (1690), der am Beginn jener Phase der philosophischen Entwicklung Leibnizens steht, in der er zu einer endgültigen Sicht auf die ihn umtreibenden Probleme gekommen ist. Zum anderen sollen die einschlägigen Paragraphen der späten Mona15
Hoff mann, Vollkommenheit, Sp. 1123. Dieser Umstand springt besonders bei den Überarbeitungen ins Auge, die Leibniz im Briefwechsel mit Antoine Arnauld mit Blick auf dessen geplante (aber nicht zustande gekommene) Publikation vorgenommen hat. Er ersetzt das ursprünglich in den Briefabfertigungen verwandte ›forme substantielle‹ in seinen Konzepten durch ›entelechie‹. Vgl. dazu jetzt die kritische Edition des Briefwechsels in Akad.-A. II/2 und dort die Vorbemerkung zu N. 57, S. 239. Vgl. Adolphe Bertereau: De Entelechia apud Leibnitium. Thesis Philosophica (Academia Parisiensis). Paris 1843; Annick Latour: Le concept leibnizien d’entéléchie et sa source aristotélicienne. In: Revue philosophique de Louvain 100 (2002), S. 698–722 (S. 720–722: Bibliographie); Theodor Ebert: Entelechie und Monade: Bemerkungen zum Gebrauch eines aristotelischen Begriff s bei Leibniz. In: ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Zur Philosophie und ihrer Geschichte. Paderborn 2004, S. 253–273; Hans Georg Reinhard: Admirabilis transitus a potentia ad actum: Leibniz’ Deutung des Aristotelischen Entelechiebegriff s. Würzburg 2011. 16
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dologie herangezogen werden, die in ihrer deutschen Übersetzung durch Heinrich Köhler (1720) entscheidend auf das 18. Jahrhundert eingewirkt und hier das philosophische Bild Leibnizens geprägt hat. Nach einem kurzen Ausblick auf die Essais de Théodicée von 1710 werden dann einige äußerst knappe und zudem selektive Hinweise auf einige Vervollkommnungsvorstellungen bei J. J. Spalding, G. E. Lessing und F. Schiller gegeben, die sich Leibnizschen Anregungen verdanken. Sie wollen lediglich als Andeutungen auf die spätere Umsetzung des Potenzials der Leibnizschen Gedanken auch ausserhalb des philosophischen Fachdiskurses verstanden werden, deren genauere Erforschung seit geraumer Zeit in Gang gekommen ist.17
Der Brief an Antoine Arnauld vom März 1690 Im März 1690 – er ist gerade bei den Vorbereitungen zur Heimreise nach Hannover von seiner über zweieinhalb Jahre währenden Reise nach Süddeutschland, Österreich und Italien – erstellt Leibniz eine Art von Bilanz auch seiner bisher erreichten philosophischen Positionen in Metaphysik, Moral und Physik. Er (der bislang noch mit keinem philosophischen Werk im engeren Sinne an die Öffentlichkeit getreten war – lediglich einige kleinere, gegen Descartes gerichtete Aufsätze18 zeugten von seinen philosophischen Ambitionen) – formuliert diese gedrängt und thesenartig in einem Brief (Venedig, 23. März 1690) an keinen Geringeren als an den großen jansenistischen Theologen und Philosophen Antoine Arnauld (1612–1694). Leibniz hat diesen Brief ebenso wie den Briefwechsel mit Arnauld insgesamt in philosophischer Hinsicht für so bedeutsam gehalten, dass er ihn zu publizieren beabsichtigte (wie auch zahlreiche Überarbeitungsspuren in den Manuskripten zeigen19), wozu es jedoch nicht gekommen ist. Der Briefwechsel mit Arnauld und der dazu gehörige Discours de Métaphysique wurden erst 1846 publiziert 20, das 18. Jahr17
Dabei hätte auch auf andere Autoren wie etwa auf Herder, Jacobi, Jean Paul und Schelling verwiesen werden können. Vgl. jetzt die Beiträge zu dem von Wenchao Li und Monika Meier herausgegebenen Sammelband: Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800. Hildesheim/ Zürich/New York 2016. 18 G. W. Leibniz: Meditationes de Cognitione, Veritate, et Ideis. In: Acta Eruditorum, November 1684 (Akad.-A. VI/4 N. 141, S. 585–592); Brevis Demonstratio erroris memorabilis Cartesii […]. In: Acta Eruditorum, März 1686 (Akad.-A. VI/4 N. 369, S. 2027–2030). 19 Vgl. oben Anm. 15 und die diese Bearbeitungsstufen kenntlich machende, kritische Edition in Akad.-A. II/2, N. 3. 4. 8. 11. 12. 13. 14. 17. 24. 25. 36. 40. 42. 51. 52. 53. 56. 57. 58. 60. 78. 20 C. L. Grotefend (Hrsg.): Briefwechsel zwischen Leibniz, Arnauld und dem Landgrafen Ernst von Hessen Rheinfels aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover. (Leibnizens Gesammelte Werke aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover herausgegeben von Georg Heinrich Pertz. Zweite Folge. Philosophie. Erster Band). Hannover 1846. Der Discours de Métaphysique, dort S. 154–193. Dessen kritische Edition jetzt: Akad.-A. VI/4 B N. 306, S. 1529–1588.
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hundert hat davon lediglich das gewusst, was der Brief aus Venedig enthielt. Dieser allerdings war dem 18. Jahrhundert seit 1729 bekannt und ist 1730 im Journal des Sçavans ebenso wieder abgedruckt worden wie in der großen, sechsbändigen Leibniz-Ausgabe von Louis Dutens21, deren Bedeutung für die Leibniz-Rezeption des weiteren 18. Jahrhunderts kaum zu überschätzen ist.22 In dem Brief aus Venedig charakterisiert Leibniz seine metaphysischen Positionen (»mes solutions«), die er Arnauld schon zuvor mitgeteilt habe (»certaines pensées dont je vous ay fait part autrefois«), als von den herkömmlichen Ansichten (»doctrines communes«) durchaus unterschieden. Er wolle sie nun thesenartig zusammengefasst Arnauld noch einmal zur Beurteilung vorlegen (»que je suis bien aise de sousmettre icy en abregé à vostre jugement«). Bereits hier sind in achtzehn Thesen nahezu alle Elemente versammelt, die wir beim späteren Leibniz (wenn auch in einer etwas veränderten Terminologie) wiederfinden: Die individuelle(n) Substanz(en) (die er später als Monade(n) bezeichnen wird) ist (sind) – wenn auch mit einem veränderlichen, organischen Körper verbunden – wesentlich nicht körperhaft, sie ist (sind) unvergänglich und hat (haben) alle ohne Ausnahme etwas Seelenartiges. [Thesen 1–3]23 Sowohl ihr Tun und Leiden, aber auch alles, was ihnen widerfahren ist und je widerfahren wird, ist ihrem ›Individualbegriff‹ von Gott beim Schöpfungsakt anfänglich eingeschrieben und sie sind, auf ihre je individuelle Weise, Spiegel des Universums. [Thesen 4–6]24 Folgerichtig handeln die Substanzen nur gemäß den ihnen eingegebenen Gesetzmäßigkeiten und wirken nicht aufeinander ein (Leibniz wird später bildlich von ihrer Fensterlosigkeit sprechen). [These 7]25 21
Louis Dutens (Hrsg.): Gothofredi Guillelmi (!) Leibnitii […] Opera omnia […] Tomus secundus […]. Genf 1768, Repr. Hildesheim 1990, S. 45–48 u.d.T: »Lettre de M. Leibniz a M. Arnauld […] Où il lui expose ses sentimens particuliers sur la Métaphysique & la Physique.« 22 Zum einen wurden mit ihr »Leibniz mit seinen authentischen Werken zugänglich« und »seine Gedanken wurden aus der Verbindung, die sie mit den Lehren Wolff s und seiner Schüler eingegangen waren, gelöst«, zum anderen ist sie die textliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit Leibniz von Lessing, Kant, Herder und Goethe bis hin zu Hegel und Feuerbach. Vgl. Albert Heinekamp: Louis Dutens und seine Ausgabe der Opera omnia von Leibniz. In: ders. (Hrsg.): Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Stuttgart 1986, S. 1–28; Zitat S. 26; zur Bedeutung der Ausgabe für den Deutschen Idealismus vgl. ebd., S. 24 f. 23 [1] […] que les corps ne sont […] pas des substances à proprement parler. [2] […] que partout dans les corps il se trouve des substances indivisibles et incorruptibles, ayant quelque chose de repondant aux ames. [3] […] ces substances ont tousjours esté et seront tousjours unies avec des corps organiques […]. 24 [4] […] chacune de ces substances contient dans sa nature […] tout ce qui luy est arrivé et arrivera. [5] […] toutes ses actions viennent de son propre fonds, excepté la dependence de Dieu. [6] […] chaque substance exprime l’univers tout entiere et exactement […] selon son point de veue […]. 25 [7] […] que l’union de l’ame avec le corps, et même l’operation d’une substance sur l’autre,
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Eine herausgehobene Position kommt jenen Substanzen (Menschen und Engeln) zu, deren Geistbegabungen sie allgemeine und überzeitliche Wahrheiten sowie die Existenz Gottes erkennen lässt, was sie zu moralischen Wesen macht – um ihretwillen ist alles geschaffen. Sie stellen mit Gott an der Spitze eine »Republik« dar. [Thesen 8–11]26 Gott belohnt und straft nach Gerechtigkeit in dieser ›Stadt Gottes‹ und lässt seine Vorsehung entsprechend seiner Weisheit walten. [Thesen 12–13]27 Daraus folgt für die geistbegabten Wesen die Verpflichtung, eine zufriedene Haltung (darin besteht die wahre Gottesliebe) hinsichtlich des Vergangenen einzunehmen, für die Zukunft aber entsprechend dem vermutbaren Willen Gottes tugendhaft und gerecht zu handeln. [Thesen 14–15]28 Die Gerechtigkeit wird als die ›Mildtätigkeit des Weisen‹ (caritas sapientis) definiert, eine Definition, die Leibniz an unzähligen anderen Orten als die Seinige reklamieren wird 29 und die das Fundament seines Naturrechtsdenkens bildet. Mildtätigkeit ist ein umfassendes Wohlwollen, das sich – an der Vernunft orientiert – um die Erlangung des jeweils größtmöglichen Gutes bemüht. [These 16–17]30 Dabei ist es (was unser Text nur implizit sagt) für die Leibniz’sche Vorstellungswelt – und damit auch für seinen Begriff von ›Vollkommenheit‹ – wichtig zu bemerken, dass weder die Vernunft noch die Maßstäbe von Tugend und Gerechtigkeit bei Gott und Engeln und Menschen prinzipiell verschieden sind, sondern sich lediglich ne consiste que dans ce parfait accord mutuel establi exprés par l’ordre de la premiere creation en vertu du quel chaque substance suivant ses propres loix se rencontrent dans ce [que] demandent les autres […]. 26 [8] Que les intelligence ou ames capables de reflexion et de la connoissance des verités universelles {eternelles} et de Dieu, ont bien des privileges, qui les exemtent des revolutions des corps. [9] Que pour elles il faut joindre les loix morales aux physiques. [10] Que toutes les choses sont faites pour elles principalement. [11] Qu’elles forment ensemble la Republique de l’univers, dont Dieu est le Monarque. 27 [12] Qu’il y a une parfaite justice et police observée dans cette Cité de Dieu, et qu’il n’ay point de mauvaise action sans un chastiment, ny point de bonne sans une recompense proportionnée. [13] Que les choses vont si bien que plus on les connoistra plus on les trouvera belles et conformes aux souhaits qu’un sage pourroit former. 28 [14] Qu’il faut tousjours ester content de l’ordre du passé, parce qu’il est conforme à la volonté de Dieu absolue, qu’on connoist par l’evenement, mais qu’il faut tacher de rendre l’avenir, autant qu’il depend de nous, conforme à la volonté de Dieu presomtive ou à ses commandemens, orner nostre Sparte, et travailler à faire du bien sans se chagriner pourtant, lorsque le succés y manqué; dans la ferme creance, que Dieu sçaura trouver le temps le plus proper aux changemens en mieux. [15] Que ceux qui ne sont pas contens de l’ordre des choses ne sçauroient se vanter d’aimer Dieu comme il faut. 29 Vgl. Patrick Riley: Leibniz’ Universal Jurisprudence: Justice as the Charity of the Wise. Cambridge, MA 1996. 30 [16] Que la justice n’est autre chose que la charité du sage. [17] Que la charité est une bienveuillance universelle, dont le sage dispense l’execution conformement aux mesures de la raison, à fin d’obtenir le plus grand bien.
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in der graduellen Abstufung voneinander unterscheiden. Dieser Zusammenhang ist gerade zentral für Leibniz’ Theodizeedenken. Hinsichtlich der Vollkommenheit Gottes und seines Handelns, der relativen Vollkommenheit (Bonität) der Welt und unseres Handelns in ihr haben wir einen Maßstab der Beurteilung: Wir wissen – grundsätzlich und im Allgemeinen (das ›Dass‹), nur zum geringsten Teil im Besonderen (das ›Wie‹) –, dass Gott nach diesen ›vernünftigen‹ Regeln handelt (auch wenn er eine Welt schaff t); er ist somit kein den Regeln enthobener Despot, dessen Handlungsmaximen sich jeder menschlichen Beurteilung entziehen. Erst vor diesem theoretischen Hintergrund des Leibniz’schen Rationalismus wird ›Theodizee‹ überhaupt erst möglich. Kant wird das später bekanntlich so auf den Punkt bringen: »Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.«31 Diese ›Erhebung der Anklage‹ würde im Vorhinein abgewiesen werden müssen, gäbe es nicht zwischen göttlichem Handeln und menschlichen Begriffen eine Kongruenz. Entsprechend all diesen Voraussetzungen gipfelt unser Text in der Bestimmung der Weisheit als Wissenschaft von der Glückseligkeit 32 – eine Bestimmung, die als spezifisch leibnizisch verstanden wurde. So greift etwa Johann Christoph Gottsched später bewusst auf diese zurück.33 Die Glückseligkeit wiederum ist definiert als dauerhafte Zufriedenheit, zu deren Erreichung entweder die fortwährende Zunahme an Vollkommenheit oder doch zumindest die Entfaltung der Bandbreite desselben Grades der Vollkommenheit vorausgesetzt wird. [These 18]34 31
Immanuel Kant: Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel (Werkausgabe, Bd. 11). Frankfurt a. M. 111996, S. 105 (A 194). 32 Vgl. Albert Heinekamp: Das Problem des Guten bei Leibniz. Bonn 1969; ders.: Das Glück als höchstes Gut. In: The Leibniz Renaissance. International Workshop, Firenze, 2–5 giugno 1986 (Biblioteca di storia della scienza 28). Florenz 1989, S. 99–125. 33 Für den Zusammenhang vgl. Werner Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant. In: Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 1985, S. 58–92, bsd. S. 79: Gottsched frage mit seinem Wiederaufgreifen der Leibniz’schen Definition nicht nach »den Gründen der Dinge, viel weniger nach deren Möglichkeit [was Wolff s Ansatz gewesen war S. L.], sondern nach deren Vollkommenheiten, die uns das wahre Vergnügen gewähren sollen.« Zur Einordnung dieses Umstandes im Prozess der ›Aufklärung‹ vgl. Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997, S. 156–158, sowie Massimo Mori: Glück und Autonomie. Die deutsche Debatte über den Eudämonismus zwischen Aufklärung und Idealismus. In: studia leibnitiana 25/1 (1993), S. 27–42. 34 [18] Et que la sagesse est la science de la felicité ou des moyens de parvenir au contentement durable, qui consiste dans un acheminement continuel à une plus grande perfection, ou au moins dans la variation d’un même degré de perfection. – Alle Leibniz-Zitate der Anm. 21–32: Leibniz an Antoine Arnauld, Venedig, 23. März 1690, Akad.-A. II/2 N. 78, S. 309–315, hier: S. 311–313.
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Es ist – so könnte man sagen – das Konzept der Vollkommenheit und der Vervollkommnung, das den Zielbegriff und die Klammer für Leibnizens philosophische Erwägungen im Feld von Gott, Welt und Mensch abgibt.
Die Monadologie Die sogenannte Monadologie, von Leibniz im Jahre 1714 für einen Adressatenkreis von interessierten Gelehrten in Paris verfasst 35, gilt gemeinhin als die bündigste und systematischste Darstellung seines philosophischen Denkens. Ob dieses Urteil zutriff t, sei einmal dahingestellt; fest steht jedenfalls, dass sie auch ein signifikantes Beispiel für das Geschick der Leibniz’schen Texte insgesamt ist. Was das 18. Jahrhundert von ihr kennt, ist eine postum von einem Vertrauten Leibnizens, Heinrich Köhler, im Jahre 1720 veröffentlichte, deutsche Übersetzung der aus 90 Paragraphen bestehenden Schrift. Köhler ist es auch, der ihr den bis heute gebräuchlichen Titel gibt. Im darauffolgenden Jahr (1721) erscheint in den Acta Eruditorum eine lateinische Übersetzung – das französische Original Leibnizens wird erst 1840 durch die Publikation von Johann Eduard Erdmann bekannt.36 Gleichwie: Auch dem 18. Jahrhundert galt die ›Monadologie‹ als der Schlüsseltext für die Leibniz’sche Metaphysik. Orientiert man sich lediglich an den Okkurenzen der Begriffe »parfait«– »vollkommen« – »perfectus« bzw. »perfection« – »Vollkommenheit« – »perfectio«37 als Leitfaden der Lektüre, dann ergibt sich das folgende Bild 38:
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Über die verwickelten Umstände der Entstehung informiert Clara Strack: Ursprung und sachliches Verhältnis von Leibnizens sogenannter Monadologie und den Principes de la nature et de la grace. I. Teil: Die Entstehungsgeschichte der beiden Abhandlungen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde genehmigt von der Philosophischen Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin 1915. Clara Strack hat ihren Untersuchungen eine kritische, alle Überlieferungsträger berücksichtigende Edition folgen lassen: Leibniz’ sogenannte Monadologie und Principes de la nature et de la grâce fondés en raison. Berlin 1917. Repr. Berlin 1967. 36 Zu den Einzelheiten vgl. Antonio Lamarra, Roberto Palaia u. Pietro Pimpinella: Le prime traduzioni della ›Monadologia‹ di Leibniz. Introduzione storico-critica, sinossi die testi, concordanze contrastive. Florenz 2001. 37 Vgl. die ›Concordanze contrastive‹ bei Lamarra, Palaia u. Pimpinella: Le prime traduzioni, S. 299 (s. v. ›parfait‹) bzw. S. 307 (s. v. ›perfection‹). 38 Der deutsche Text folgt hier der Übersetzung von Heinrich Köhler von 1720 und wird zitiert nach: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Französisch u. deutsch. Zeitgenössische Übers. v. Heinrich Köhler. Mit der ›Lebens-Beschreibung des Herrn von Leibnitz verfaßt von dem Herrn Fontenelle‹. Hrsg. v. Dietmar Till. Frankfurt a. M. 1996. Die Paragraphenzählung in eckigen Klammern ist die gängige des französischen Originals – Köhler hatte seiner deutschen Übersetzung eine abweichende Paragrapheneinteilung gegeben.
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Leibniz reklamiert für die Monaden eine »gewisse Vollkommenheit«, die er eigens mit den altgriechischen Termini ›Entelechie‹ und ›Autarkie‹ erläutert, die gänzlich der eigenen Individualität entspringt.39 Gott ist als das vollkommenste Wesen gefasst, dem eine Unendlichkeit an positiver Realität zukommt.40 Unvollkommenheit bzw. Vollkommenheiten der Geschöpfe resultieren aus der göttlichen Schaffensökonomie, die ein jedes Geschöpf mit dem ihm zukommenden Perfektionsgrad ausstattet. Implizit ist aber gesagt, dass der Unterschied von Gott und (geistbegabten) Geschöpfen hier nur ein gradueller ist. Freilich kann die Unvollkommenheit der Geschöpfe Gott nicht zur Last gelegt werden.41 In Betreff der kognitiven (Erkenntnis) und volitiven (Willen) Fähigkeiten ist Gott schlechthin vollkommen. Die erschaffenen Wesen ahmen in der Ausübung ihrer beschränkten Fähigkeit Gott nach, jeweils entsprechend dem Grad ihrer Vollkommenheit.42 Gott hat viele mögliche (d. h.: widerspruchsfreie) Welten (series rerum wird er im Lateinischen sagen) vor Augen und er wählt davon eine mögliche und er tut dies nicht arbiträr, gleichsam aus bloßer Machtfülle, sondern nach Gründen, die ihn dabei bewegen. Es ist das rationalistische Gottesbild einer potentia ordinata, das hier vorgestellt wird, und nicht das voluntaristische einer von Leibniz von frühauf abgelehnten potentia absoluta.43 39
§ 18: Es könnten alle diese einfachen Substanzen oder erschaffenen Monaden / Entelechiae, genennet werden. Denn sie besitzen eine gewisse Vollkommenheit in sich / (ἔχουσι τὸ ἐντελές) sie haben eine Suffisance, (ἀυτάρκεια) oder dasjenige / was sie zur Vollziehung ihrer Würkungen nötig haben / und welches verursachet / daß sie die Quelle ihrer innerlichen Actionen und / so zu reden / unkörperliche automata sind. 40 § 40 [41]: Woraus dann folget / daß Gott schlechterdings vollkommen sei; indem die Vollkommenheit nichts anders als die Größe der positiven Realität ist / wenn solche im genauen Verstande genommen wird; in so weit man die Schranken / worinnen sich die andern Dinge außer Gott befinden / bei seite setzet. Wo nun gar keine Schranken sind / wie wir solches in Gott befinden / daselbst muß die Vollkommenheit schlechterdings unendlich sein. 41 § 41 [42]: Es folget auch / daß die Geschöpfe ihre Vollkommenheit von dem Einfluß Gottes haben / und daß hingegen ihre Unvollkommenheiten von ihrer eigenen Natur / welche nicht unumschränket sein kann / herstammen. Denn eben hierinnen bestehet der Unterscheid / welcher zwischen Gott und den Kreaturen ist. 42 § 49 [48]: Hierauf beruhet dasjenige / welches mit demjenigen überin kommet / so bei denen erschaffenen monadibus das Fundament ausmachet und in facultate perceptiva et facultate appetitiva bestehet. In Gott aber sind dies Eigenschaften schlechterdings unendlich und vollkommen und in den erschaffenen Monaden oder in denen Entelechiis (oder Perfectihabiis, wie Hermolaus Barbarus dieses Wort übersetzte) findet man nur eine Nachahmung nach Proportion und nach dem Grad der Vollkommenheit / die sie besitzen. 43 § 54 [53]: Gleichwie nun in denen Ideen Gottes unendlich viele mögliche Welt-Gebäude sich vorstellen und abschildern / und nur eines davon existieren kann; so muß von der getroffenen Wahl Gottes eine zulängliche Raison angetroffen werden / welche ihn mehr zu der Hervorbringung des einen als zur sichtbaren Darstellung des andern determinieret hat.
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Das Kriterium der göttlichen Schöpfung, die sich als Weltenwahl darstellt, ist der größtmögliche Grad der Vollkommenheit jener Welt, die dann wirklich zur Realität gebracht wird44: nämlich die unsrige, die beste aller möglichen. Hier muss allerdings der Akzent auf das größtmöglich gelegt werden, denn der wirklichen Welt haften notwendig Mängel und Übel an (Leibniz ist der letzte, der das leugnen würde), die aber von Gott (nicht billigend) in Kauf genommen werden, um ein größeres Gesamtgut, eine größere Harmonie in der Vielfalt zu schaffen. Man muss freilich beachten, dass hier beträchtliche Deutungsprobleme gegeben sind: Leibniz hat zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Texten sowohl verschiedene Definitionen von dieser »Gesamtvollkommenheit« gegeben wie auch das die Kompossibilität der zu schaffenden Substanzen untereinander bestimmende Kriterium des ›Bestmöglichen‹ verschieden beschrieben, ein Umstand, der hier nicht eigens erörtert werden kann, der die Forschung allerdings bis heute umtreibt. Durchdekliniert wird die Wahl der bestmöglichen Welt dann anhand der klassischen Trias der Attribute Gottes, die die göttliche Vollkommenheit ausmachen; wobei Leibniz – dieser Verdacht drängt sich auf – wohl durchaus an eine hierarchische Abstufung denkt: Die Weisheit (Allwissenheit) Gottes erkennt, die Güte (Allgüte) Gottes lässt zu und die Macht (Allmacht) Gottes erschaff t.45 Die Geistwesen (Menschen und Engel) haben einen – beschränkten – Einblick in diese Zusammenhänge. Das resultiert aus ihrem Abbildcharakter und der Tatsache, dass ihre Vernunft (wenn auch in unendlich kleinerem Grade) von derselben Art ist wie diejenige Gottes. Sie sind »kleine Götter« in ihrem je eigenen Bereich, wenn sie Gott in Erkenntnis und Tugend nach Maßgabe ihrer Kräfte und Vollkommenheiten nachahmen.46 Damit bilden sie unter allen Geschöpfen (wobei mitgedacht werden muss, dass alle Monaden, bis hin zur untersten, ›beseelt‹ sind) eine gesonderte Klasse, deren Privileg es ist, gemeinsam mit Gott eine nach Art eines Staatswesens gedachte, vollkommene Gemeinschaft zu bilden.47 44
§ 55 [54]: Und dieser Bewegungs-Grund kann sich nur in denen verschiedenenen Graden der Vollkommenheit / welche sotane Welt-Gebäude in sich fassen / befinden; allermaßen ein jedwedes mögliches Ding das Recht hat / nach dem Maß der Vollkommenheit / so es in sich begreifet / die Existenz zu fordern. 45 § 56 [55]: Warum aber die allerbeste und ausbündigste Ordnung existieret / davon fi ndet man den Grund in seiner Weisheit / welche ihn dieselbe hat erkennen lassen; in seiner Güte / welche ihn zur Erwählung derselben bewogen hat / und in seiner Macht / wodurch er vermögend gewesen / solche aus dem Unsichtbaren an das Licht zu stellen. 46 § 85 [83]: […] hingegen daß die Geister auch überdem gewisse portraits der Gottheit selbst oder des Urhebers der Natur sind / welche die Fähigkeit haben / den Bau der großen Welt zu erkennen und denselben durch die nach der Bau-Kunst eingerichtete und aufgeführte Muster einiger maßen zu imitieren; indem ein jedweder Geist in seinem Bezirk eine kleine Gottheit ist. 47 § 86 [84]: »[…] daß die Geister geschickt sind / mit Gott in eine gewisse Art der Societät zu treten […].« – § 87 [85]: »[…] daß aus der völligen Zusammennehmung aller Geister die Stadt
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Diese ›Republik der Geister‹ markiert das ergänzende normativ-moralische Prinzip in einer ansonsten nur mechanisch, nach den Wirkursachen zu befragenden, natürlichen Welt.48 Unter dem vollkommensten Monarchen herrscht – wir dürfen dessen trotz aller anscheinenden Unausgewogenheiten und Zweckwidrigkeiten sicher sein – die vollkommenste Gerechtigkeit, deren Betrachtung wiederum die reinste Liebe erzeugt, die ihrerseits den Antrieb zum eigenen tugendhaften Handeln darstellt, das sich inhaltlich wiederum an der dem jeweiligen Geist möglichen Einsicht in die Güte Gottes orientiert. Insgesamt steht es dann für Leibniz aus Gründen der metaphysischen Erwägung des Begriffes der ›Vollkommenheit‹ außer Zweifel, dass in diesem wohlverstandenen Sinne die Welt die beste aller möglichen ist.49
Die Essais de Théodicée Leibniz hat die einzelnen Paragraphen der Monadologie mit Hinweisen auf entsprechende Paragraphen der Essais de Théodicée (1710) versehen50 (dem einzigen größeren philosophischen Werk, das er selbst publiziert hat), wohl um die gedankliche Übereinstimmung beider Texte zu dokumentieren. Zwar hat er selbst einmal gesagt, er habe sich »un peu familièrement«51 in der Théodicée ausgedrückt, doch wird man nicht sagen dürfen – wie mitunter behauptet –, dies Werk sei ein exoterisches: Gottes / das ist / der allervollkommenste und allerausbündigste Staat / welcher nur unter dem allervollkommensten Monarchen möglich ist / bestehen und erwachsen müsse.« 48 § 88 [86]: Diese Stadt Gottes / diese Monarchie / welche in der Tat allgemein ist / ist eine moralische Welt in der natürlichen Welt […]. 49 § 92 [90]: Es wird […] unter dieser vollkommenen Regierung keine Tat unvergolten / und keine böse unbestraft bleiben / und alles muß zum Besten der Frommen ausschlagen / das ist derjenigen / welche […] den Urheber alles Guten gebührender maßen lieben und nachahmen; indem sie in der Betrachtung seiner Vollkommenheiten ihre Lust haben / und zwar nach der Natur der wahrhaftig reinen Liebe / wodurch man bewogen wird / daß man aus der Glückseligkeit desjenigen / den man liebet / seine Vergnügung schöpfet. Dieses treibet die weisen und tugendhaften Personen an / daß sie nach allem demjenigen streben und arbeiten / welches dem vorhergehenden Willen Gottes* (*Voluntas antecedens) gemäß zu sein scheinet / und daß sie sich unterdessen mit demjenigen begnügen / was ihnen Gott vermöge seines geheimen SchlußWillens ** (** Voluntas consequens) würklich wiederfahren läßt; indem sie gar wohl erkennen / daß / wenn wir die Ordnung der Welt zur Gnüge verstehen könnten / wir befinden würden … daß es unmöglich sei / daß dieselbe besser sein könne […]. 50 Eine Konkordanz ›De la Théodicée à la Monadologie‹ bietet André Robinet (Hrsg.): G. W. Leibniz. Principes de la nature et de la grâce fondés en raison. Principes de la philosophie ou Monadologie […]. Paris 1954, S. 132–133. 51 Leibniz an Charles Hugony, nach November 1710. In: Die philosophischen Schriften. Hrsg. v. C. I. Gerhardt. Dritter Band. Berlin 1887. Repr. Hildesheim 1960, S. 680. Zu Charles Hugony vgl. Clara Strack: Ursprung, Teil I, S. 59–68.
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Stimmen doch alle seine Aussagen und Lehrinhalte mit anderwärts und in anderen Kontexten von Leibniz getätigten Aussagen zum Problem überein. Doch ist es die Théodicée52 , mit der die unmittelbaren Zeitgenossen und das weitere 18. Jahrhundert das Leibniz’sche Vollkommenheitsdenken vor allem assoziieren. Es kann nicht genug betont werden, wie stark die Monadologie und Theodizee, als Theorie der Vollkommenheit verstanden53, dem Entwicklungsgedanken – dem individuellen wie dem kollektiven – im weiteren 18. Jahrhundert Vorschub geleistet hat: Wir werden das bei Spalding fürs Individuum, bei Lessing für den Fortgang der Menschheit als Ganzer (Erziehung), bei Schiller für die idealisch-emphatisch gefasste ›Menschheit‹ und bei Goethe für die Unsterblichkeitsvorstellung sehen. Der ungeheure Erfolg der Théodicée und des damit verbundenen Theorems von der ›besten Welt‹ – man hat es geradezu als »Grundbuch der deutschen Aufklärung« apostrophieren wollen54 – im 18. Jahrhundert darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihm auch eine große Opposition entgegengeschlagen ist.55 Parallel zu solcher Kritik hat sich sein Gehalt von den (von den Zeitgenossen nicht recht gesehenen) subtileren metaphysischen Voraussetzungen gelöst und sich dann in der Folge ein populärer ›Optimismus‹ gebildet, der, wie die zeitgenössische Physikotheologie56 oder Anthropologie (etwa: Alexander Pope) auch, versichern wollte, alles sei gut.57 Ernst Cassirer hat den Impuls der Théodicée und ihre Attraktivität für den Gedanken der Entwicklung außerordentlich anschaulich formuliert: [Es] bleibt im wesentlichen nur ein entscheidender Gedanke zurück. Eine schlechthin und absolut vollkommene Welt wäre ein Widerspruch in sich selbst, weil sie dem Wesen der »Kreatur« zuwider wäre. Alles Geschaffene ist als solches ein in sich selbst Begrenztes, das also mit einer notwendigen und ursprünglichen Schranke behaftet ist. Aber in dieser Schranke liegt zugleich die Wurzel seiner Kraft: denn von ihr empfängt es die bestimmte Richtung seines Tuns und damit die Richtung seiner Selbstvollendung. Die wahrhafte Vollkommenheit läßt sich nicht in einem einzelnen ruhenden Zustand des Universums ausdrücken, sondern sie besteht in der beständigen »Erhöhung des Wesens«, die die Individuen erfahren. Der eigentümlichste, reichste und tiefste Wert der Welt ist daher der Wert des Werdens selbst. […].
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Vgl. Stefan Lorenz: Art. ›Theodizee‹. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10. Basel 1998, Sp. 1066–1073; Paul Rateau: La question du mal chez Leibniz. Fondements et élaboration de la Théodicée. Paris 2008. 53 Vgl. Rateau: Leibniz et le meilleur des mondes possibles, S. 103–174. 54 Alfred Brunswig: Leibniz. Wien, Leipzig 1925, S. 54. 55 Vgl. Lorenz: De mundo optimo. 56 Vgl. Stefan Lorenz: Art. ›Physikotheologie‹. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, Sp. 948–955. 57 Marion Hellwig: Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich. Würzburg 2008.
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[Es …] verlangt Gegensätze; verlangt nicht die Harmonie schlechthin, sondern ihre Herstellung aus dem Mangel und Widerstreit.58
Nach diesem – notgedrungen kursorischen – Überblick über die Elemente von Leibnizens Vollkommenheitslehre wenden wir nun den Blick auf deren Reflexe speziell in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts.
Hinweise zur Rezeption Das weitere 18. Jahrhundert hat die Vorgaben der Leibniz’schen Philosophie – soweit sie aus dem jeweils publizierten Material bekannt war59 – durchaus und zunächst im Rahmen des fachphilosophischen Diskurses behandelt. So hat etwa die von Friedrich dem Großen reformierte Akademie der Wissenschaften in Berlin – die im Zuge dieser Reform die einzige Akademie Europas war, die mit einer eigenen ›classe de philosophie spéculative‹ 60 versehen war – schon für das Jahr 1747 die Monadenlehre zum Gegenstand ihrer ersten Preisaufgabe gemacht61, die internationale Resonanz fand. An ihr beteiligte sich E. B. de Condillac mit einer eingeschickten Abhandlung, wie wir seit den Forschungen L. L. Bongies wissen.62 Die Diskussion über die Leibniz’sche Substanztheorie hingegen war bereits um die Jahrhundertmitte derart angewachsen, dass den Zeitgenossen Überblicke über die bisher erschienene Literatur gegeben werden mussten.63
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Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Darmstadt S. 55 f. 59 Einen Überblick und Analysen bietet Dietmar Till: Leibniz-Rezeption und LeibnizÜbersetzung im 18. Jahrhundert. Zur medialen Konstruktion der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie. In: Daphnis 31 (2002), S. 643–699. 60 Zur philosophischen Arbeit der Berliner Akademie vgl. Christian Bartholmèss: Histoire philosophique de L’Académie de Prusse depuis Leibniz jusqu’à Schelling particulièrement sous Frédéric-le-Grand. 2 Bde. Paris 1850–1851; Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet. 3 Bde. Berlin 1900. 61 Vgl. Harnack: Geschichte, Erster Band – Erste Hälfte, S. 402 f. 62 Etienne Bonnot de Condillac: Les Monades. Edited with an introduction and notes by Laurence L. Bongie. Oxford 1980; dass. frz.: Etienne Bonnot de Condillac: Les monades. Edition établie et présentée par Laurence L. Bongie. Apparat critique traduit de l’anglais par François Heidsieck avec la collaboration de Frank Pierobon. Grenoble 1994. Die ›Introduction‹ (S. 5–125) hat monographischen Charakter. Vgl. dazu Lothar Kreimendahl: Condillac und die Monaden. Zu einem neu aufgefundenen Text des Abbés. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 64 (1982), S. 280–288. 63 Christian Ernst von Windheim: Entwurf einer kurzen Geschichte der Schriften von den Monaden oder Elementen der Körper von den Zeiten Leibnizens bis auf die itzigen. In: ders. (Hrsg.): Göttingische Philosophische Bibliothek. Erster Band. Sechstes Stück. Hannover 1749, 41975,
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Ebenso verhält es sich mit dem metaphysischen Optimismus Leibnizens, der ja eine ›Vollkommenheit‹ der Welt aus metaphysischen Gründen heraus annimmt.64 Ihn stellt die Berliner Akademie für das Jahr 1755 zur Diskussion65, nachdem bereits nach Erscheinen der Essais de Théodicée im Jahre 1710 eine rege und kontroverse Diskussion darüber entbrannt war, die bis hin zu Kant und darüber hinaus66 andauern sollte.67 Und auch hier mussten den Zeitgenossen früh Überblicke geboten werden, um die Diskussion verfolgen zu können.68 Auch die ›Praestabilierte Harmonie‹, Leibniz’ aufs Engste mit seiner Substanztheorie verbundene Lösung des Leib-Seele-Problems und das die harmonische Übereinstimmung aller Monaden untereinander regelnde Prinzip (das damit zu einem Konstituens der Vollkommenheit der Welt wird), ist von Anfang an Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen.69
S. 469–506; Zweiter Band. Erstes Stück. Hannover 1749, S. 4–64; Dritter Band. Viertes Stück. Hannover 1749, S. 289–309. 64 Vgl. Wolfgang Hübener: Sinn und Grenzen des Leibnizschen Optimismus. In: studia leibnitiana 10/2 (1978), S. 222–246; Wiederabdruck: Wolfgang Hübener: Zum Geist der Prämoderne. Würzburg 1985, S. 133–152. 65 Vgl. Harnack: Geschichte (wie Anm. 61), S. 404–409; zur preisgekrönten Schrift des an der leibniz-kritischen Philosophie Christian August Crusius’ orientierten Adolph Friedrich Reinhard vgl. Lorenz (wie Anm. 33), S. 167–179, sowie Marion Hellwig (wie Anm. 57), die auf einige der eingesandten Preisschriften genauer eingeht. 66 Otto Willareth: Die Lehre vom Übel in den grossen Systemen der nachkantischen Philosophie und Theologie. Sand 1903; Christoph Schulte: radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche. München 21991; Ulrich Dierse: Umformulierung einer unvermeidlichen Frage. Über prominenten und weniger prominenten Gebrauch von ›Theodizee‹. In: Archiv für Begriff sgeschichte 47 (2005), S. 141–161. 67 Vgl. Luca Fonnesu: Der Optimismus und seine Kritiker im Zeitalter der Aufklärung. In: studia leibnitiana 26/2 (1994), S. 131–162; Stefan Lorenz (wie Anm. 33); Paul Rateau (Hrsg.): L’idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques (studia leibnitiana – Sonderhefte 36). Stuttgart 2009; Wenchao Li, Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.): 300 Jahre Essais de Théodicée – Rezeption und Transformation. Stuttgart 2013. 68 Friedrich Christian Baumeister: Historia recentiorum controversiarum de mundo optimo. In: ders.: Exercitationes Academicae et Scholasticae. Leipzig, Görlitz 1741 (Exerc. XXX), S. 245–279. 69 Vgl. Gerd Fabian: Beitrag zur Geschichte des Leib-Seele-Problems (Lehre von der prästabilierten Harmonie und vom psychophysischen Parallelismus in der Leibniz-Wolffschen Schule). Langensalza 1925. Repr. Hildesheim 1974; Eric Watkins: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth-Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: Review of Metaphysics 49 (1995), S. 295–339; Eric Watkins: From Pre-established Harmony to Physical Influx: Leibniz’ Reception in Eighteenth Century Germany. In: Perspectives of Science 6 (1998), S. 136–203; Stefan Lorenz: Problemanzeigen und Krisenphänomene. Theologie und ›Praestabilierte Harmonie‹ in der Perspektive der Wolff schen Schule und ihrer Gegner. J. G. Reinbeck und J. F. Bertram als Beispiele. Vorwort zu: Johann Gustav Reinbeck, Johann Friedrich Bertram: Drei Schriften zur Theologie und ›Praestabilierten Harmonie‹. Hildesheim u. a. 2014, S. 7*–51*.
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Schließlich ist bekannt, in welch entscheidenden Punkten sich Christian Wolff, bei dem allerdings der Begriff der Vollkommenheit eine zentrale Rolle spielt 70, von Leibniz kritisch absetzt: Weder das Konzept der Monade noch das der ›Praestabilierten Harmonie‹ lässt Wolff im umfassenden Sinne gelten. Sein Substanzbegriff ist ein anderer – die durchgängige Beseeltheit der Welt hat er abgelehnt – und die ›Praestabilierte Harmonie‹ gilt ihm nur als eine mögliche Hypothese – zudem als eine, die die Gefahr des Determinismus in sich bergen mochte.71 Doch hinsichtlich der Philosophie Leibnizens als Ganzer, so auch mit Blick auf den Begriff und das Konzept der ›Vollkommenheit‹ und der ›Vervollkommnung‹, wäre eine Wirkung ins Auge zu fassen, die auch und gerade jenseits des philosophischen Fachdiskurses verläuft und die keineswegs darauf abzielt, etwa ein Leibniz’sches System zu rekonstruieren oder es im Sinne einer Schulbildung zur Geltung zu bringen. Stattdessen ist hier die Übernahme bestimmter Leibniz’scher Topoi gemeint, die Virulenz von etwas, was man vielleicht den ›Geist des Leibnizianismus‹ nennen könnte: die Übernahme einzelner seiner Gedankenmotive in der Absicht produktiver Aneignung. Zeitlich ließe sich diese Art der Rezeption mit dem Niedergang des Wolffianismus und dem Übergang zur sogenannten ›Popularphilosophie‹ einsetzend beschreiben – als konkretes Datum könnte man grosso modo die beiden editorischen Großereignisse der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nennen: die Edition der Leibnizschen Opera durch Louis Dutens in sechs Bänden 1768 und die Erstveröffentlichung der Nouveaux Essais sur l’entendement humain, Leibniz’ große Auseinandersetzung mit dem Empirismus Lockes, durch Rudolf Erich Raspe (1736–1794) im Jahre 1765. Leibniz findet mit diesen Texten aufmerksame Leser wie Lessing, Herder, Goethe und Schiller – und er hat gleichsam eine neue Konjunktur, diesmal nicht durch die Amalgamierung mit der Philosophie Wolffs, 70 Vgl. Dieter Henrich: Über Kants früheste Ethik. In: Kant-Studien 54 (1963), S. 404–431; Ferdinando L. Marcolungo: ›Perfectio‹ e ›prudentia‹ in Christian Wolff. In: Enrico Berti (Hrsg.): Imperativo e sagezza. Contributi al XLII Convegno del Centro di Studi Filosofici di Gallarate, aprile 1987. Genua 1990, S. 107–132; Bénédict Winiger: Verité, perfection et devoir en droit: une nouvelle lecture du Jus naturale de Christian Wolff. In: Histoire des idées et critique littéraire 346 (1995), S. 249–258; Gerhard Sauder: Vollkommenheit. Christian Wolff s Rede über die Sittenlehre der Sinenser. In: Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 317–334; Clemens Schwaiger: Vollkommenheit als Moralprinzip bei Wolff, Baumgarten und Kant. In: Michael Oberhausen (Hrsg.): Vernunftkritik und Aufklärung. Studien zur Philosophie Kants und seines Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 317–328 und weitere Titel bei Gerhard Biller: Wolff nach Kant. Eine Bibliographie. Mit einem Vorwort von Jean École. Hildesheim u. a. 2004, S. 249 (s. v. ›Vollkommenheit‹). 71 Vgl. Jean École: War Wolff ein Leibnitianer? In: Aufklärung 10 (1998), S. 29–46; Martin Schönfeld: Christian Wolff and Leibnzian Monads. In: The Leibniz Review 12 (2002), S. 131– 135; Brandon C. Look: Simplicity of Substance in Leibniz, Wolff and Baumgarten. In: studia leibnitiana 45/2 (2013), S. 191–208.
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sondern als Ideen- und Konzeptgeber: Der tiefere Sinn des Monadenkonzeptes und die überraschende und inspirierende Entdeckung seiner ›petites perceptions‹ bei der nachgeborenen, an Ästhetik, Gnoseologie, Anthropologie und Geschichtsphilosophie interessierten Generation machen den originären Leibniz attraktiv, wogegen die Wolff ’sche Schulphilosophie ihren Glanz weitgehend verloren hat. Im Folgenden sollen einige knappe Hinweise auf einige Autoren gegeben werden, deren Interesse an Begriff und Sache der Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung sich aus einem solchen ›Geist des Leibnizianismus‹ speist.
Spalding Dem Aufklärungstheologen Johann Joachim Spalding (1714–1804) ist attestiert worden, er habe »das ekklesiologische Perfektibilitätsmotiv […] in anthropologische Universalität transformiert«.72 Mit seinem Hauptwerk, der zuerst im Jahre 1748 (111794)73 erschienenen, schon mit ihrem Titel eine der Basisideen74 der Aufklärung indizierenden Schrift Die Bestimmung des Menschen, hat Spalding 75 einen Grundtext und Erfolgstitel der theologisch-philosophischen Aufklärungsliteratur vorgelegt: allein die hohe Zahl der Auflagen belegt dies. Die Bestimmung des Menschen stellt sich dar als eine Meditation über die Festsetzung eines ›Systems des Lebens‹. In abgestufter Folge – wobei sich die jeweils erreichte Stufe als transitorisch erweist – kommt der Meditierende auf fünf Bestimmungen, anfangend mit der ›Sinnlichkeit‹, über die ›Vergnügungen des Geistes‹ und die ›Tugend‹ (in den Feldern: Familie, Staat und Gesellschaft) bis hin zur ›Religion‹, die ihm vermittels der Teleologie die Vorstellung eines höchsten, alles aufs Beste ordnenden Wesens vermittelt. Die ins Auge fallenden Zweckwidrigkeiten der Welt, nicht zuletzt die Unausgewogenheit in der Austeilung von Gütern und Übeln an
72
Albrecht Beutel: Elastische Identität. Die aufklärerische Aktualisierung reformatorischer Basisimpulse bei Johann Joachim Spalding. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 111 (2014), S. 1–27, hier: S. 18. 73 Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Hrsg. v. Albrecht Beutel u. a. (Kritische Ausgabe. Erste Abteilung: Schriften. Band I). Tübingen 2006. 74 Vgl. Norbert Hinske: Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung. In: ders. (Hrsg.): Die Bestimmung des Menschen (Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahrsschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte Jg. 11, Heft 1). Hamburg 1999, S. 3–6. 75 Albrecht Beutel: Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 2014; Johann Hinrich Claussen: »Wie einer, der Freude träumet«. Vor 300 Jahren wurde Johann Joachim Spalding geboren, der den aufgeklärten Protestantismus vertrat. In: Süddeutsche Zeitung. Dienstag, 28. Oktober 2014, Nr. 248, S. 14.
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Tugendhafte und Missetäter, begründet das Postulat der ›Unsterblichkeit‹: Das Jenseits ist gefordert als der Ort einer ›allgemein richtigen Vergeltung‹, durch die die höchste Weisheit ihre Rechtfertigung erfährt. Wir haben es hier gewissermaßen mit einer idealen Stufenleiter der menschlichen Vervollkommnung zu tun. Auffällig ist, dass der Theologe Spalding keinerlei Bezug auf den Text der Offenbarung nimmt und auch darauf verzichtet, für seine Überlegungen Autoritäten oder Vorbilder zu nennen – ein Umstand, der zu der Frage nach den Quellen seines Textes geführt hat.76 Aufgrund des Bildungsganges ihres Verfassers hat man vor allem eine »enge Symbiose von Leibniz-Wolff ’schen Elementen einerseits und Grundauffassungen Shaftesburys«77 in der Schrift beobachtet. So ist eben auch der Name Leibnizens im Buch nicht genannt. Doch ist dieses auch und nicht zuletzt als eine populäre Theodizeevariante anzusehen, die metaphysische Theorien in Form einer Meditation verarbeitet und dabei der zeitgenössischen Physikotheologie und einem eudämonistischen Optimismus entgegen kommt. Aufschlussreich ist zudem der Umstand, dass die zeitgenössische Wahrnehmung da, wo Spaldings Text in die Kritik gerät, diesen offensichtlich als einen eindeutig von Leibniz inspirierten ansieht: Moses Mendelssohn etwa ruft in seiner Debatte, die er mit Thomas Abbt über die Bestimmung des Menschen führt, den Geist Leibnizens als Gewährsinstanz herbei, um die Zweifel zu zerstreuen, die Abbt skeptizistisch im Namen Pierre Bayles gegen das Spalding’sche Räsonnement vorgebracht hatte.78
Lessing Wenn Gotthold Ephraim Lessing seiner großen Hochachtung für Leibniz79 und seinen Reserven gegenüber der Wolff ’schen Schulphilosophie prägnanten Ausdruck gibt, so stellt er sich damit ein gutes Zeugnis für seinen klaren Blick auf die philo76
Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung. In: Hinske (Hrsg.): Die Bestimmung des Menschen, S. 7–19. 77 Schwaiger (wie Anm. 75), S. 17. 78 Vgl. Stefan Lorenz: Skeptizismus und natürliche Religion. Thomas Abbt und Moses Mendelssohn in ihrer Debatte über Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen. In: Michael Albrecht, Eva J. Engel und Norbert Hinske (Hrsg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit. Tübingen 1994, S. 113–133. 79 Vgl. Bernd Meyer: Lessing als Leibniz-Interpret. Ein Beitrag zur Geschichte der Leibnizrezeption im 18. Jahrhundert. Diss. Erlangen-Nürnberg 1967; einen instruktiven Überblick über die Forschung ›Lessing als Leibnizianer‹ gibt Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 444–446. Literaturhinweise zum Lessing’schen Leibnizverständnis: Lessing: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Siebenter Band. Darmstadt 1996, S. 979–980.
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sophische Situation der Zeit aus. Die grundlegenden Differenzen, die im Kern zwischen beiden Positionen bestehen, werden hier ebenso klar angesprochen wie die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der meisten Zeitgenossen, diese zu erkennen. Auch die größere Subtilität Leibnizens gegenüber Wolff ist behauptet, auch wenn Ersterer kein ›System‹ hinterlassen hat. Lessings frühe Leibniz-Rezeption (und hier wiederum die Bedeutung, die dabei dem Begriff der Vollkommenheit zukommt) dokumentiert ein erst aus dem Nachlass veröffentlichter Text: Das Christentum der Vernunft (1752/1753).80 An dieser Stelle seien lediglich Stichworte aus dem 27 Paragraphen umfassenden, Fragment gebliebenen Text genannt, mit denen die Nähe zur Monadologie markiert ist: ›Vollkommenheit‹‚ ›Harmonie‹, ›unendliche Reihe‹, ›einfache Wesen‹ als ›eingeschränkte Götter‹, ›Grade der Vollkommenheit‹, »Wesen, welche Vollkommenheit haben, sich ihrer Vollkommenheiten bewußt sind, und das Vermögen besitzen, ihnen gemäß zu handeln«, die Anweisung: »handle deinen individualischen Vollkommenheiten gemäß« – »Dieses Gesetz ist aus ihrer eigenen Natur genommen«, »in der Reihe der Wesen [kann] unmöglich ein Sprung Statt finden«. All diese Stichworte sind ohne weitere Erläuterung und unmittelbar als leibnizianisch inspiriert zu erkennen. Unter dem Aspekt der ›Vollkommenheit‹ darf aber ein Hinweis auf den Entwicklungsgedanken in Lessings später Erziehung des Menschengeschlechts nicht fehlen. Lessing verschiebt dort, wenn man sich so ausdrücken dürfte, das Problem der Theodizee von der ontologischen Synchronie in die Diachronie, von der Metaphysik in die Geschichte. Er selbst macht gleich zu Anfang auf den Zusammenhang mit der Theodizee aufmerksam: Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll? Als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen. Diesen unseren Hohn, diesen unsern Unwillen, verdienet in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?81
Hier ist es die Vervollkommnung der Menschheit als Ganzer, die von Lessing thematisiert wird.
80
Lessing: Werke, Achter Band. Darmstadt 1996, S. 278–281. Vgl. die Kontextualisierung und den Kommentar von Helmut Göbel, ebd., S. 844–854. 81 Lessing: Werke, Achter Band, S. 489 [Hervorh. S. L.].
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Schiller Es sind einzelne Topoi oder Elemente der Leibniz’schen Philosophie, die in Schillers theoretischen Schriften der frühen Zeit ganz besonders herausgehoben und akzentuiert werden, wobei es zur Verschmelzung mit Motivkreisen anderer Denker kommt. Dem Begriff der ›Vollkommenheit‹ fällt dabei größte Bedeutung zu – freilich schöpft der eklektische Schiller dabei keineswegs nur aus der Leibniz’schen Quelle. Über seinen Lehrer Jacob Friedrich Abel82 hat er an der Stuttgarter Karlsschule auch die deutsche Popularphilosophie und die schottische Moralphilosophie eines Ferguson (und hierüber vermittelt die Anschauungen Shaftesburys) kennengelernt.83 Die Philosophischen Briefe Schillers von 1786 führen dann diese Gedanken aus, zumal im Abschnitt Theosophie des Julius: Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit. Alle – es gibt hier Verirrungen, aber keine einzige Ausnahme – alle streben nach dem Zustand der höchsten freien Äußerung ihrer Kräfte, alle besitzen den gemeinschaftlichen Trieb, ihre Tätigkeit auszudehnen, alles an sich zu ziehen, in sich zu versammeln, sich eigen zu machen, was sie als gut, als vortrefflich, als reizend erkennen. Vollkommenheit in der Natur ist keine Eigenschaft der Materie, sondern der Geister. Alle Geister sind glücklich durch ihre Vollkommenheit. Ich begehre das Glück aller Geister, weil ich mich selbst liebe. […] Alle Vollkommenheiten im Universum sind vereinigt in Gott. Gott und Natur sind zwo Größen, die sich vollkommen gleich sind. Die ganze Summe von harmonischer Tätigkeit, die in der göttlichen Substanz beisammen existieren, ist in der Natur, dem Abbilde dieser Substanz, zu unzähligen Graden und Maßen und Stufen vereinzelt. […] […] hat sich das göttliche Ich in zahllose empfindende Substanzen gebrochen.
Unschwer sind in diesen Zitaten die Leibnizianischen Motive der sich vervollkommnenden, individuell gedachten Substanzen (Geister) in ihrem Zusammenwirken (Harmonie) zu erkennen. Schiller fügt dann in seinen Prosatext einen dichterischen Ausdruck ein, ein poetisches Zeugnis seiner Rezeption des Leibniz’schen Vollkommenheitsgedanken und der 82
Vgl. Wolfgang Riedel: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie herausgegeben. Würzburg 1995. Vgl. bes. die Einleitung zum Stellenkommentar: »Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosophische Profi l von Schillers Lehrer Abel«, ebd., S. 375–450. 83 Vgl. Oskar Walzel: Einleitung zu Friedrich Schiller: Sämtliche Schriften. Säkular-Ausgabe. Hrsg. v. Eduard von der Hellen. Elfter Band. Erster Teil. Stuttgart, Berlin [1904], S. V– LXXXIV, hier: S. XIV–XVI.
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Stufung dieses in Liebe vereinten Geisterreiches, das vom einfachsten Menschen bis zum untersten Engel und darüber hinaus reicht – Leibniz’ ›Republik der Geister‹ als Gedicht: Tote Gruppen sind wir – wenn wir hassen, / Götter – wenn wir liebend uns umfassen! / Lechzen nach dem süßen Fesselzwang – / Aufwärts durch die tausendfachen Stufen / Zahlenloser Geister, die nicht schufen, / waltet göttlich dieser Drang. / Arm in Arme, höher stets und höher, / […].84
Und mit dem ethischen Aufruf an die Menschheit zur Verähnlichung mit Gott lässt Schiller die Theosophie des Julius enden: »[…] Nähert euch dem Gott, den ihr meinet!«85
Goethe Wie bei Schiller, kann auch bei Goethe die starke Attraktivität ausgemacht werden, die die Leibniz’sche Philosophie nicht als System, sondern mit einzelnen ihrer Motive oder Elemente auf ihn ausübt.86 Prominent ist die bekannte Stelle bei Eckermann: »[…] so kommen wir auch wieder auf die Entelechie. Die Hartnäckigkeit des Individuums und daß der Mensch abschüttelt was ihm nicht gemäß ist, sagte Goethe, ist mir ein Beweis daß so etwas existiere. […] Leibnitz, fuhr er fort, hat ähnliche Gedanken über solche selbständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.«87 Goethe konstatiert weiter: »Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer, denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren«, um dann mehr andeutend als erläuternd zu erklären: »Aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein.«88 Klaudia Hilgers hat in ihrer großen Studie zu den Formen der »Vervollkommnung im Werk Goethes« diese nicht ohne weiteres verständlichen Äußerungen 84
Friedrich Schiller: Sämtliche Schriften. Säkular-Ausgabe, Elfter Band. Philosophische Schriften. Erster Teil. Stuttgart, Berlin [1904], S. 127. 85 Alle Zitate aus den Philosophischen Briefen nach: Friedrich Schiller: Sämtliche Schriften. Säkular-Ausgabe, Elfter Band. Philosophische Schriften. Erster Teil, S. 108–138, hier: S. 117 f., 119, 121 f., 126 f., 132. 86 Dietrich Mahnke: Leibniz und Goethe. Die Harmonie ihrer Weltansichten. Erfurt 1924; Jürgen Nieraad: Standpunktbewusstsein und Weltzusammenhang. Das Bild vom lebendigen Spiegel bei Leibniz und seine Bedeutung für das Alterswerk Goethes. Wiesbaden 1970; Klaudia Hilgers: Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes. München 2002 87 Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter. Bd. 19: Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. v. Heinz Schlaffer, S. 361 f. [Mittwoch, den 3. März 1830]. 88 Ebd., S. 335 [Dienstag, den 1. September 1829].
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gedeutet, indem sie den dafür einschlägigen Kontext eruiert hat. So hat sie den »Gedanke[n] der Unsterblichkeit im 18. Jahrhundert« 89 im Zusammenhang mit den Vorstellungen von Vervollkommnung und Perfektibilität gesehen und kommt dabei zu dem – auch für Goethe geltenden – Ergebnis: Der Gedanke der Unsterblichkeit ist im 18. Jahrhundert unauflöslich mit der Idee der Perfektibilität verknüpft. […] Der Mensch als der Mittelpunkt des Universums ist davon überzeugt, kraft seines Geistes sein diesseitiges und jenseitiges Lebens selbst mitgestalten zu können und auf der ›Stufenleiter der Wesen‹ eine neue Sprosse erklimmen zu können. Die überzeitliche Präsenz der fortdauernden, individuellen Substanz (Monade) bietet für diese Überzeugung eine angemessene Grundlage. So ist es nicht verwunderlich, dass gerade diese Positionen des Leibnizschen MonadenTheorems vor dem Hintergrund der für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmende Frage nach der Unsterblichkeit diskutiert wird.90
Goethe selbst hat auf eine Stelle (Faust II, Fünfter Akt, 11934–11941) aufmerksam gemacht, die sich wie eine poetische Umsetzung der von Eckermann referierten Ansichten und Überlegungen ausnimmt. Sie ist mit der Szenenanweisung versehen: »ENGEL schwebend in der höhern Atmosphäre, / FAUSTENS Unsterbliches tragend.« Goethe kommentiert (so will es jedenfalls Eckermann): Wir sprachen sodann über den Schluß, und Goethe machte mich auf die Stelle aufmerksam, wo es heißt: Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen: / Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen, / Und hat an ihm die Liebe gar / Von oben Teil genommen, / Begegnet ihm die selige Schar / Mit herzlichem Willkommen. In diesen Versen, sagte er, ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten. In Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hülfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.91
Albrecht Schöne hat auf die hier vorliegende Amalgamierung von aristotelischem und leibnizianischem Gedankengut hingewiesen: Der Entelechie-Begriff, mit dem Aristoteles ein ›sich im Zustand der Vollendung Befindend‹ bezeichnete, wird von Goethe im Sinn von Leibniz’ unzerstörbarer ›Monade‹ benutzt […], gleichbedeutend etwa mit ›Seele‹, die das in ihr Angelegte mit dauernder Energie zu vollenden strebt. Von seinen Vorstellungen über eine Fortdauer nach dem Tode schrieb Goethe an Zelter (19.3.1827): »Die entelechische Monade muß 89 90 91
Hilgers: Entelechie, S. 178–196. Ebd., S. 194. Goethe: Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 456 [Montag, den 6. Juni 1831].
Stefan Lorenz
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sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten« […] – Deshalb konnte er in der Endfassung Faustens Entelechie durch Faustens Unsterbliches ersetzen; deshalb ist aber auch bei dieser Bezeichnung ein fortdauerndes Vollendungsstreben mitzudenken […].92
Schluss Ernst Cassirer hat die hier vorgeführten Beispiele (die sich vermehren ließen) einer produktiven Rezeption leibnizianischer Gedanken und Motive in der zweiten Hälfte des deutschen 18. Jahrhunderts mit Blick auf die ›Vollkommenheit‹ bzw. ›Vervollkommnung‹ von Seele und Welt treffend gekennzeichnet: In der beherrschenden Macht, die sie über diese sich neu gestaltenden Fragen ausübt, tritt die Grundanschauung der Monadologie noch einmal in ihrer Fülle und Ursprünglichkeit heraus. […] Gegenüber all der zuströmenden Fülle des Stoffes wird eine selbständige geistige Form behauptet. Sie ist freilich kein starres, sondern ein bewegliches und bildsames Ganze: sie wächst aus Leibniz’ philosophischer Gesamtansicht heraus, indem sie diese Ansicht selbst rückwirkend umgestaltet. Sobald die Grundbegriffe der Monadologie aus fertigen Resultaten wieder zu Richtlinien des Denkens und Forschens werden, belebt sich damit ihr eigener Gehalt und wird einer freien und selbständigen Weiterbildung zu.93
Im Hintergrund soll immer die Idee der individuellen Vervollkommnung in der Verschränkung mit der allgemeinen Entwicklung des Ganzen stehen: Indem jedes Individuum sich als einen selbständigen Ausdruck der allgemeinen Gesetzlichkeit begreift, findet es in der Vollendung des Alls seine eigene Vollendung. Zur Ausprägung dieses Gedankens greift Leibniz auf den Aristotelischen Begriff der ›Entelechie‹ zurück. Weil es im Gedanken der individuellen Substanz liegt, daß alles, was immer geschehen kann, aus ihrem eigenen Grunde herstammt und aus ihrem vollständigen Begriffe ableitbar sein muß: darum ist sie sich selbst genug.94
Die Vervollkommnung als ›Bestimmung des Menschen‹ bei Johann Joachim Spalding, die Übertragung des metaphysischen Vollkommenheitsgedankens auf den Bereich der Geschichte bei Lessing, die Vollkommenheit als Eudämonismus beim jungen Schiller und die monadische Vervollkommnung als Prinzip der Goethe’schen Weltsicht sind nur einige Belege für die Suggestivkraft und Attraktivität des Leibniz’schen Denkens, das in modifi ziert-erweiterter und eklektisch-verarbeiteter Form seine Wirkung nun auch jenseits des bloß fachphilosophischen Terrains entfalten kann. 92
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Kommentare. Von Albrecht Schöne. Darmstadt 1999,
S. 800. 93 94
Cassirer: Freiheit und Form, S. 63 f. [Hervorh. S. L.]. Ebd., S. 45.
teil ii philosophische problematisierungen
Bertrand Binoche
Rousseau: Perfektibilität ohne Perfektion
D
ie folgenden Überlegungen beziehen sich auf jene berühmte Stelle in Rousseaus zweitem Discours (1755), in welcher der Begriff der Perfektibilität (»perfectibilité«) erstmals eingeführt wird.1 Mein Ziel ist es, die Bedeutung dieser Passage genauer zu analysieren und dabei vor allem deren eminent paradoxen Charakter herauszuarbeiten. Dieser rührt zum einen daher, dass – wie allgemein bekannt – die Perfektibilität für die Menschen eine Quelle des Unglücks darstellt; und zum anderen – und das ist weitaus weniger bekannt –, dass die Perfektibilität mit keinerlei Vorstellung von Perfektion verbunden ist. Diese beiden Aspekte hängen wohlgemerkt zusammen. Wenn ›Perfektibilität‹ praktisch gleichbedeutend mit ›Vervollkommnung‹ wäre, könnte sie die Menschheit nicht ins Verderben stürzen. So jedoch erfährt der Begriff bei Rousseau eine Sinnzuschreibung, die den Erwartungen des Lesers diametral zuwider läuft – zumal den Erwartungen des theologisch geschulten Lesers. Die Perfektibilität ist bei ihm nicht verbunden mit einem wie auch immer gearteten Anspruch auf Vollkommenheit. Dieser Widerspruch bedarf sicherlich einer genaueren Erläuterung, die ich in der Folge zu liefern beabsichtige; doch schon jetzt dürfte einsichtig werden, a) warum Rousseaus Zeitgenossen (in Frankreich, England und Deutschland) das Konzept einhellig abgelehnt haben; b) warum sie größte Schwierigkeiten hatten, es wörtlich zu übersetzen; und schließlich c) warum sie Rousseau schlicht und einfach aus der (Begriffs-)Geschichte der Perfektibilität verbannen konnten. Mit diesem letzteren Aspekt möchte ich meine Ausführungen beginnen.
1. Die kurze Karriere eines Begriff s Zunächst einmal gilt es, einige grundsätzliche Punkte in Erinnerung zu rufen, die in der Diskussion von Rousseaus Ansatz (und zwar, wie ich meine, aus den oben angedeuteten Gründen) oftmals nicht ausreichend gewürdigt werden.
1
Konkret handelt es sich um jenen Absatz des ersten Teils der Abhandlung, der mit »Mais, quand les difficultés qui environnent toutes ces questions« beginnt und mit »et de leur bonheur originel« endet. Die deutschen Zitate im vorliegenden Text stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, aus folgender Ausgabe: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755. Hrsg. u. übers. v. Kurt Weigand. Hamburg 1978. Die betreffende Passage ist dort auf S. 106 bzw. S. 107 ff. abgedruckt [Anm. der Übers.].
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Erste Bemerkung: Nach dem derzeitigen Stand der Forschung, und sofern man sich auf die geschriebenen Quellen stützt, kann Rousseau als Erfinder des Wortes »perfectibilité« gelten.2 Der Neologismus taucht erstmals im Discours sur l’origine et les fondements de l’ inégalité parmi les hommes auf, den Rousseau zu großen Teilen bereits im März 1754 fertiggestellt hatte, der jedoch erst im Juni des darauffolgenden Jahres (1755) veröffentlicht wurde. Der Begriff kommt hier insgesamt vier Mal vor,3 bei der ersten (und bei der dritten) Erwähnung ist er kursiv gesetzt, was seinen Neuheitswert zusätzlich unterstreicht. Im Februar desselben Jahres hatte Friedrich Melchior Grimm in der Correspondance littéraire vermerkt, dass diejenige Eigenschaft, wodurch der Mensch sich vor allen anderen Geschöpfen auszeichne, seine Fähigkeit zur (Selbst-)Vervollkommnung sei (»la perfectibilité ou la faculté de se rendre plus parfait«);4 Rousseau spricht dagegen allgemeiner von der Entwicklungsfähigkeit des Menschen (»la faculté de se perfectionner«). Zweite Bemerkung: Das nachdrückliche Insistieren Rousseaus auf der Perfektibilität im zweiten Discours stellt im Kontext seines Werks eine Ausnahmeerscheinung dar.5 So hat Rousseau den Begriff später nie wieder verwendet – und zwar auch nicht dort, wo man es am meisten erwarten könnte, also weder in seiner Antwort auf Bonnet (alias Philopolis), der ihn zuvor in seinem Brief vom 25. August 1755 doch explizit kritisiert hatte;6 noch im Émile, von dem zu keinem Zeitpunkt gesagt wird, er sei »perfektibel«;7 und auch nicht in der Lettre à Beaumont, in der Rousseau seine wichtigsten Überzeugungen zusammenfasst und in welcher er dem Konzept
2
Wie ich einem Hinweis von Prof. Andreas Kleinert entnehme, findet sich im Kirchenlatein der Frühen Neuzeit eine häufige Verwendung des Begriff s ›perfectibilitas‹. Es scheint jedoch, dass dieser, in neo-aristotelischer Manier, auf ein ›natürliches Verlangen‹ nach dem höchsten Gut, d. h. der Glückseligkeit, verweist (vgl. Claudius Frassen: Scotus academicus. Paris 1967, S. 197a) und daher nur positiv verstanden werden kann. Für das Französische gilt, dass vor Rousseaus zweitem ›Discours‹ keine Verwendung des Terms ›perfectibilité‹ belegt ist. 3 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1964 (Œuvres complètes, Bd. 3), S. 142, 149, 162, 210. 4 Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc., Bd. 2. Hrsg. v. Maurice Tourneux. Paris 1877, S. 492. 5 Diese Bemerkung bezieht sich ausdrücklich nicht auf die Briefe, die ich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht ausreichend berücksichtigen konnte. 6 Charles Bonnet: Lettre du 25 août 1755 à Louis de Boissy, rédacteur du Mercure. In: Jean-Jacques Rousseau: Correspondance complète, Bd. 3. Hrsg. v. R. A. Leigh. Genève 1966, S. 151–156, hier: S. 152. 7 Zwar behauptet Rousseau im zweiten ›Discours‹, dass die Vervollkommnungsfähigkeit »der Gattung wie dem Einzelnen« zukomme. In seiner Einleitung zu ›Émile ou de l’éducation‹ (Paris 2009) schreibt A. Charrak: »La théorie de la perfectibilité est reprise au début du livre II« (S. 21, Anm. 2; vgl. auch Anm. 4 des zweiten Teils, S. 720). Gleichwohl kommt das Wort selbst an dieser Stelle nicht vor.
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der Erbsünde sein eigene Erklärung vom Ursprung des Bösen entgegenhält, 8 etc. Der aufmerksame Leser kann ob dieses Befundes nur staunen: Nachdem er den Begriff 1755 ganz gezielt und mit viel Nachdruck eingeführt hatte, scheint Rousseau dessen Verwendung fortan regelrecht zu scheuen. Dritte Bemerkung: Dieses Verstummen Rousseaus sollte ihn, im weiteren Verlauf der (Begriffs-)Geschichte, schließlich selbst ereilen. Wenn Condorcet im Tableau historique die Vorläufer des von ihm verfochtenen Konzepts der »perfectibilité indéfinie« auflistet, erwähnt er Turgot, Price und Priestley, nicht jedoch Rousseau.9 Nun verwendet Turgot jedoch in seinen berühmten Reden vor der Sorbonne im Jahr 1750 den Begriff der Perfektibilität nicht ein einziges Mal; und auch wenn für Price und Priestley bislang noch keine entsprechenden Erhebungen vorliegen,10 so ist es doch mehr als auffällig, dass der Name Rousseaus in dieser Liste fehlt. Bei den Nachfolgern Condorcets verhält es sich nicht anders, so etwa 1800 bei Madame de Staël11 oder 1810 bei Benjamin Constant.12 Alle diese Autoren verbindet, dass sie ex post eine Genealogie der Perfektibilität konstruieren, in der ausgerechnet – und paradoxerweise – der Erfinder des Begriffs mit keinem Wort erwähnt wird. Dies ist. m. E. nur so zu erklären, dass der Begriff der Perfektibilität zu diesem Zeitpunkt längst eine ganz andere Bedeutung angenommen hat – eine Bedeutung, die sich nur dadurch legitimieren ließ, dass man seinen realen philosophischen Ursprung verdrängte. Zugespitzt formuliert: Die »unendliche Perfektibilität« (»perfectibilité indéfinie«) Condorcets konnte sich nur insofern im philosophischen Diskurs behaupten, als sie die »beinahe unbegrenzte Perfektibilität« (»perfectibilité presque illimitée«) Rousseaus darin auszulöschen vermochte.
Jean-Jacques Rousseau: Lettre à Christophe Beaumont (18. November 1762). Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1969 (Œuvres complètes, Bd. 4), S. 925–1007, hier: S. 935 f. 9 Jean-Antoine-Nicolas de Caritat Marquis de Condorcet: Tableau historique des progrès de l’esprit humain. Projets, esquisse, fragments et notes (1772–1794). Hrsg. v. Jean-Pierre Schandeler u. Pierre Crépel. Paris 2004, S. 234 f. 10 Richard Price verwendet in der ersten der ›Four Dissertations‹ den Begriff ›improvableness‹ (London 1768, S.151, Anmerkung). 11 Vgl. Germaine de Staël: De la littérature. Paris 1991, S. 59 f. Das Vorwort zur zweiten Auflage erwähnt namentlich Ferguson, Kant, Turgot und Condorcet, nicht aber Rousseau. 12 Vgl. dessen ›Fragmens d’un essai sur la perfectibilité de l’espèce humaine‹, in dem Godwin, Priestley, Price, Condorcet und Turgot genannt werden (abgedruckt als ›Appendix B‹ in Benjamin Constants Übersetzung von Godwin: De la justice politique. Hrsg. v. B. R. Pollin. Québec 1972, S. 363–373, hier: S. 363). 8
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2. Perfektibilität vs. Willensfreiheit Wenden wir uns nun der Verwendung des Begriffs im zweiten Discours zu. Bekanntlich betrachtet Rousseau im ersten Teil des Werks, der einer Erhellung des – wenn auch nur spekulativ zugänglichen – Urzustands gewidmet ist, den natürlichen Menschen zunächst in seiner Eigenschaft als physisches, dann als metaphysisches und moralisches Wesen. In diesem Zusammenhang greift er die – ganz und gar traditionelle – Frage wieder auf, mit der er seine Beschreibung des Naturzustands zunächst eingeleitet hatte, die Frage nämlich, was den Menschen vom Tier unterscheide. Galt für den Menschen als physisches Wesen, dass dieser sich mit Hilfe seiner mimetischen Fähigkeiten die Instinkte der Tiere ›aneignen‹ könne,13 so führt Rousseau für den Menschen in metaphysischer und moralischer Hinsicht zwei Argumentationslinien ins Feld, die beide gleichermaßen plausibel erscheinen.14 Das erste dieser Argumente setzt, ganz klassisch, beim freien Willen an: Zwar verbieten es die Annahmen der sensualistischen Philosophie, dem Tier schlechterdings den Verstand abzusprechen (denn insofern das Tier über Sinneseindrücke verfügt, muss es auch »Begriffe« haben und diese »bis zu einem gewissen Punkt« miteinander kombinieren können); doch geht dem Tier jene anspruchsvollere Form von Freiheit ab, die es wiederum dem Menschen erlaubt, sich in Absehung von den Instinkten selbst zu bestimmen. Im freien Willen ist die spezifisch-geistige Dimension der menschlichen Seele verbürgt, die sich just aus diesem Grund den Gesetzen der Mechanik entzieht. Kurz: Diese erste Argumentationslinie führt zur Zwei-Substanzen-Lehre, die der savoyardische Vikar sieben Jahre später, d. h. im Kontext des Émile, ausdrücklich bekräftigen und begründen wird. Doch so richtig (im Sinne von ›wahr‹) diese Lösung auch sein mag, so schiebt Rousseau sie dennoch beiseite, um – einigermaßen überraschend – an ihrer Stelle ein anderes Kriterium einzuführen, nämlich das der besagten »faculté de se perfectionner« (dt.: »Fähigkeit zur Vervollkommnung«). Ebenso wenig wie mit der mimetischen Nachahmungsfähigkeit ist diese einfach mit der (Willens-)Freiheit gleichzusetzen; es gilt vielmehr, an dieser Stelle zwei Formen von Unbestimmtheit zu unterscheiden: die Unbestimmtheit verstanden als Unabhängigkeit des Willens gegenüber den mechanischen Ursachen auf der einen Seite und die Unbestimmt13
Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 135. Es gibt daher m. E. keinen guten Grund, die Fähigkeit zur (Selbst-)Vervollkommnung mit der Fähigkeit zur Aneignung der animalischen Instinkte zu identifi zieren, wie das R. D. Masters tut (La philosophie politique de Rousseau. Frz. Übers. v. G. Colonna d’Istria und J.-P. Guillot. Lyon 2002, S. 190–191). Eine solche Lesart steht vielmehr in Widerspruch zu dem, was Rousseau selbst am Ende des ersten Teils schreibt: »Après avoir montré que la perfectibilité, les vertus sociales, et les autres facultés que l’homme naturel avait reçues en puissance, ne pouvaient jamais se développer d’elles-mêmes […].« Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 162. 14
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heit als eine potenzielle (Entwicklungs-)Möglichkeit des Menschen, d. h. als etwas, das erst durch die Umstände angestoßen werden muss, auf der anderen. Beide miteinander zu vermengen, wäre ein humanistischer Fehlschluss, der jedoch offenbar so naheliegend ist, dass er vielen namhaften Exegeten unterlaufen ist.15 Rousseau behauptet aber gerade nicht, dass der Mensch perfektibel, weil frei sei. Er sagt vielmehr, dass der Mensch frei sei und dass er perfektibel sei, aber er unterscheidet diese beiden Eigenschaften explizit, ja er löst sie sogar vollständig voneinander ab. So könne man dem Menschen unter gewissen Umständen die Freiheit absprechen, nicht jedoch die Perfektibilität. Die beiden Antworten (Willensfreiheit und Perfektibilität) sind also beide richtig, aber sie sind, in Anbetracht der Umstände, nicht beide gleichermaßen angemessen. Die zweite ist im Kontext der aktuellen Argumentation der ersten vorzuziehen. Warum ist das so? Es scheint mir ratsam, Rousseau hier wörtlich zu lesen.16 Bezüglich der Perfektibilität, so schreibt er, sei »kein Zweifel möglich«, d. h. sie leuchtet als Distinktionsmerkmal des Menschen unmittelbar ein. Sie ist – philosophisch betrachtet – das effizientere Argument, weil sie es erlaubt, den Materialismus-Streit zu umgehen, der sich sonst unausweichlich aufdrängen würde. Zwar wäre es in Rousseaus Augen durchaus möglich und im Übrigen auch wünschenswert, den Materialismus der philosophes theoretisch zu widerlegen. (Genau das versucht schließlich der savoyardische Vikar!) Aber das ist es nicht, worauf es ihm in diesem Zusammenhang ankommt. Tatsächlich ist die Perfektibilität nicht nur das unmittelbar überzeugendere Kriterium von beiden, sie ist vor allem auch das angemessenere im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung. Die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen verlangt nach einer »hypothetischen Geschichte«, die von der Freiheit des Willens genauso abzusehen vermag wie von der Vorsehung,17 die aber ohne Perfektibilität schlicht nicht denkbar wäre. Die Perfektibilität durchzieht die »histoire hypothétique« des zweiten Discours wie ein roter Faden; sie bildet in gewisser Weise deren unsichtbares Rückgrat. Aus diesem Grund ist die Perfektibilität für Rousseau auch nicht ein Konzept unter vielen (wie z. B. das Mitleid oder das Eigentum), sondern ein Metakonzept: d. h. ein Konzept, das die Bedeutung und die 15
Vgl. Joseph Moreau: Jean-Jacques Rousseau. Paris 1973, S. 23: Der Vorzug des Menschen »besteht genau darin, dass er unvollendet ist, nicht perfekt, aber perfektibel, und dass die Verwirklichung seiner Perfektion und seines Glücks seiner Freiheit anheimgestellt ist« [Übers. K. B.]. Etwas neueren Datums und deutlich ausgewogener auch der exzellente Artikel von JeanLuc Guichet: L’homme et la nature chez Rousseau. In: Revue des sciences philosophiques et théologiques 36/1 (Frühjahr 2002), S. 69–84. 16 Vgl. Leo Strauss: Droit naturel et histoire. Frz. Übers. v. M. Nathan und E. de Dampierre. Paris 1986, S. 230. 17 Zumindest dem Anspruch nach, denn gelegentlich verfällt Rousseau in einen fi nalistischen Diskurs und spricht dann auch explizit von ›Vorsehung‹. Vgl. Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 127, 133 u. 152.
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wechselseitigen (Sinn-)Zuschreibungen der anderen Konzepte organisiert.18 Als solches erlaubt sie es Rousseau, die Argumentationsschwierigkeiten des ersten Discours effektiv zu umgehen: Standen sich dort noch ein klassisches Konzept von Geschichte als Gegenstand von Induktion bzw. als magistra vitae und die apriorische Reflexion unverbunden gegenüber,19 so soll die Perfektibilität nun genau diese Kluft überwinden; ganz nebenbei ermöglicht sie es Rousseau zudem, die bürgerliche Kritik der politesse mit der christlichen Abwertung der Wissenschaften, die bis dato nahezu unvermittelt nebeneinander existierten, auf organische Weise miteinander zu verbinden.20 Im Prinzip also ist der Mensch perfektibel, und er ist frei. Die Perfektibilität erwähnt Rousseau im Kontext einer Geschichte der Ungleichheit, während er die Freiheit in dem – ganz und gar a-historischen – Kontext der natürlichen Religion anführt. Auch wenn die beiden Aspekte offensichtlich nicht deckungsgleich sind, so sind sie immerhin nicht unvereinbar. Allerdings bleiben bezüglich ihrer Vereinbarkeit einige Zweifel bestehen, zumal wenn man bedenkt, dass in Rousseaus Schriften immer nur ein Erklärungsmodell – unter Absehung vom jeweils anderen – zum Zuge kommt. So spricht zum Beispiel der savoyardische Vikar niemals von Perfektibilität. Liegt das einfach daran, so möchte man fragen, dass er das Konzept nicht benötigt, oder ist der Grund vielleicht doch der, dass es schwierig wäre, den Menschen als gleichzeitig frei und perfektibel vorzustellen? Diese Bedenken verschärfen sich noch, wenn man die in der Lettre à Beaumont dargestellte Genealogie sorgfältig liest und sieht, wie die Selbstliebe (»amour de soi«) des zweiten Discours dort eine Umdeutung im Sinne der Zwei-Substanzen-Lehre erfährt, die auch das Gewissen mit einschließt.21 Dessen Einfluss macht den Menschen, obgleich »dem Wesen nach gut«, unter den Bedingungen der Zivilisation böse. Auf der terminologischen Ebene sieht es daher ganz so aus, als zwinge die Wiederkehr des Dualismus in der Darstellung des eigenen Gedankenganges Rousseau dazu, den Begriff der Perfektibilität aufzugeben, auch wenn dieser inhaltlich keineswegs an Bedeutung verloren hat.
18
Was ich an anderer Stelle als ›schème‹ bezeichnet habe. S. Verf.: La raison sans l’Histoire. Paris 2007, S. 397. 19 Vgl. das Ende des ersten Teils des ersten ›Discours‹ (Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1964 [Œuvres complètes, Bd. 3], S. 16), sowie Victor Goldschmidt: Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau. Paris 1974, S. 30. 20 Wie von Heinz Thoma sehr überzeugend dargestellt in seinem Artikel: Politesse und Kulturkritik. Rousseaus erster ›Discours‹ im Kontext. In: Anne-Amend Söchting u. a. (Hrsg.): Das Schöne im Wirklichen – Das Wirkliche im Schönen. Heidelberg 2002, S. 391–403. 21 Rousseau: Lettre à Beaumont, S. 936. Die ›Selbstliebe‹ (amour de soi) wird unterteilt in eine physische und eine moralische Komponente: ›Überlebenstrieb‹ (instinct de conservation) vs. ›moralisches Bewusstsein‹ / ›Gewissen‹ (conscience morale).
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All dies zeugt in meinen Augen von einer latenten Spannung im Denken Rousseaus, in dem zwei von der Tendenz her unvereinbare Ansätze wirksam sind: nämlich einerseits eine Geschichte (»histoire«), deren Aufgabe es ist, die (materiellen und symbolischen) Faktoren auszuweisen, unter deren Maßgabe sich die Menschheit zum Schlechteren gewandelt hat;22 sowie andererseits eine grundsätzlich a-historische Anthropologie, die den Menschen nur als freies und selbstbestimmtes Wesen in den Blick bekommt. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Rousseau einmal über sich selbst gesagt hat, dass er, um nicht moralisch zu verrohen, der Gesellschaft den Rücken kehren musste23 – was ja im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass Sozialisation und Moral in einem unvereinbaren Gegensatz zueinander stehen, dass der Einzelne sich mithin zwischen ihnen entscheiden muss …
3. Perfektibilität vs. Perfektion Nachdem nun geklärt ist, welche Gründe Rousseau dazu bewogen haben könnten, der Perfektibilität als Distinktionsmerkmal des Menschen in metaphysischer und moralischer Hinsicht den Vorzug zu geben vor der (Willens-)Freiheit, können wir nun dazu übergehen, die einzelnen Etappen seiner Begründung etwas genauer zu analysieren. Zunächst einmal gilt es, die These und den darin verwendeten Neologismus zu erklären: Der Mensch unterscheidet sich vom Tier aufgrund seiner Perfektibilität, die genauer beschrieben wird als »Fähigkeit zur Vervollkommnung« (»faculté de se perfectionner«). Diese Definition verlangt nach einigen Erläuterungen. Erstens: Rousseau versucht hier, etwas auf den Begriff zu bringen, was schon Buffon in seiner Histoire naturelle de l’ homme von 1752 behauptet hatte, nämlich das grundsätzliche Unvermögen der Tiere zu jedweder Art von Weiterentwicklung oder Fortschritt (»quelque espèce de progrès«) – eine These, die der Materialist Charles-Georges Leroy in seinen Lettres sur l’ intelligence et la perfectibilité des animaux (1762–1768) anfechten wird. Für Rousseau ist die Perfektibilität jedoch kein einfaches Vermögen, sondern eine Art Metavermögen, d. h. eine Fähigkeit, »die […] alle anderen [Fähigkeiten] allmählich entwickelt«, und zwar in »der Gattung wie im Einzelnen«. Nur insofern es sich um ein solches Metavermögen handelt, konnten wir oben von der Perfektibilität als einem ›Metakonzept‹ sprechen, konnte Reinhart Koselleck sie als »metahistorische Kategorie« bezeichnen bzw. als die »Grundbedingung aller möglichen Geschichte«.24 22
S. insbesondere die Anmerkung IX, S. 202–203. So etwa im zweiten der drei Gespräche. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Dialogues. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1962 (Œuvres complètes, Bd. 1), S. 823–824. 24 Im Art. ›Fortschritt‹ der Geschichtlichen Grundbegriffe, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 378. 23
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Zweitens: Die reflexive Verbform (frz.: »se perfectionner«) ist irreführend 25 und man hat sie Rousseau später immer wieder zum Vorwurf gemacht: Denn die Fähigkeit sich selbst zu vervollkommnen, bedeutet gerade nicht, dass der Mensch (qua Individuum oder Gattung) in der Lage wäre, seine Fähigkeiten von selbst oder aus sich selbst heraus zu entwickeln, als Konsequenz einer wie auch immer gearteten Selbsttätigkeit (um einen Begriff von Tetens zu verwenden) – gleich, ob man diese nun anthropologisch begreift, als Instinkt oder Trieb (Lenz wird 1772 von einem Grundtrieb sprechen), oder moralisch, d. h. als Pflicht des Menschen, nach einem Ideal von Vollkommenheit zu streben (so wie man das zum Beispiel in England bei William Godwin findet 26). Vielmehr gilt, dass die Perfektibilität strukturell auf die »Hilfe der Umstände« angewiesen ist; am Ende des ersten Teils wird die Rede sein von dem »zufällige[n] Zusammenwirken mehrerer äußerer Umstände, das ebenso gut auch nie hätte stattfinden können«. Die Natur dieser äußeren Umstände bleibt dabei vorerst im Dunkeln, ebenso die Frage, wie genau der Übergang von der zyklischen Zeit des auf sich gestellten, natürlichen Menschen zur kumulativen Zeit des sozialisierten Menschen vorzustellen wäre. Weiterhin, und das ergibt sich aus dem Vorhergehenden, impliziert die Entwicklung seiner Fähigkeiten keinesfalls, dass der Mensch dadurch irgendwie ›vollkommener‹ würde27 – etwa in dem Sinne, dass er sich einem Ideal der Vollkommenheit annähern (theologische Argumentation) oder er eine in ihm selbst angelegte Möglichkeit zur vollen Entfaltung bringen würde (historistische Argumentation). Vielmehr realisiert sich die Vervollkommnung der Fähigkeiten unabhängig von jeglicher Zielvorstellung, die ihr von vornherein eine bestimmte Richtung vorschreiben würde. Wir müssen uns somit der paradoxen Einsicht stellen, dass das neue Konzept der Perfektibilität nicht nur unter Absehung von, sondern geradezu in Opposition zu einer klassischen Idee von Vollkommenheit entwickelt wurde. Dieser Punkt ist von kapitaler Bedeutung und markiert zugleich Rousseaus Sonderstellung in der Ideengeschichte: Gegenüber den Vorgängern und der Verwendung von lat. ›perfectibilitas‹ in der Frühen Neuzeit 28 wird hier ein Bruch vollzogen, der sich in Rousseaus Abwendung von der aristotelischen Logik, der zufolge es kein Vermögen ohne Gegenstand, kein Begehren ohne Ziel geben kann, manifestiert. Gegenüber den Nachfolgern tut sich ebenfalls eine Kluft auf, sofern sich die späteren ›Geschichts25
Wo, wie im Deutschen, von der ›perfectibilité‹ als ›Vervollkommnungsfähigkeit‹ gesprochen wird, ist diese Problematik natürlich nicht so deutlich spürbar. 26 Vgl. Verf.: La raison sans l’Histoire, Kap. XI. 27 Dieser Aspekt wurde ganz zu Recht von Franck Tinland hervorgehoben in: L’ homme aléatoire. Paris 1997, S. 87. Ein Anklang darauf findet sich zudem im Titel der Studie von Ursula Reitemeyer: Perfektibilität gegen Perfektion. Münster 1996, auf den unsere eigene Überschrift Bezug nimmt. 28 S. Anm. 2.
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philosophien‹ allesamt von Rousseaus Genealogie der Ungleichheit absetzen werden, auf der sie doch aufbauen; letztere erscheint gleichsam als ihr negativer und paradoxer Ursprung.29 Drittens: Wenn die Perfektibilität als solche über jeden Zweifel erhaben, also in gewisser Weise offen-sichtlich ist, dann nicht zuletzt deshalb, weil man sie gewissermaßen mit eigenen Augen sehen kann, und zwar in Bezug auf den Einzelnen ebenso wie auf den Menschen als Gattungswesen. So zeige schon die simple Beobachtung, dass die in ihren Instinkten befangenen Tiere über Generationen hinweg stets die gleichen Eigenschaften und Verhaltensmuster aufweisen, während die modernen Menschen sich von ihren Ahnen, den antiken Völkern (und erst recht von den Wilden) signifikant unterscheiden. Wilde und antike Völker werden von Rousseau zuweilen (etwa in seinen Betrachtungen über die Musik 30) mit einem einzigen, positiven Ursprung identifiziert; wobei der Wilde gelegentlich noch im einfachen Volk von heute fortlebt, wie man u. a. an den Marktfrauen von Les Halles sehen könne, die eine Fähigkeit zum Mitleid aufweisen, die dem normalen Bürger, der kaltblütig seine eigenen Interessen verfolgt, abgeht.31 In diesem Sinne kann man sagen, dass der ›Ursprung‹ der Gattung bis in die Gegenwart hinein greifbar ist. In Bezug auf das Individuum führt Rousseau den Beweis dagegen ex negativo: Die Tatsache, dass der Mensch unter dem Einfluss der Umstände seine Fähigkeiten entwickelt, während das Tier von Geburt an mit allen lebensnotwendigen Instinkten ausgestattet ist, wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass der Mensch seine Fähigkeiten im Alter wieder einbüßt. Der Greis wird schwachsinnig, denn er verliert, was er erworben hatte, wohingegen das Tier weder hinzugewinnen noch verlieren kann. Die Regression des Individuums liefert also indirekt den Beleg dafür, dass zuvor eine Entwicklung, eine Progression, stattgefunden haben muss. Doch wenn es stimmt, dass sich die Perfektibilität im Individuum vor allem durch ihr Gegenteil, den Verfall, manifestiert, gilt selbiges dann nicht auch vielleicht für die Gattung insgesamt? Triff t es auch für die Menschheit als ganze zu, dass die Fähigkeit zur Vervollkommnung mit einem Rückschritt verbunden ist bzw. sich als ein solcher manifestiert? Dass also der Mensch, um es noch einmal anders zu formulieren, regrediert, indem er sich vervollkommnet, und nicht erst danach – was genau genommen zwei völlig verschiedene Dinge sind?
29
Vgl. dazu Verf.: Les trois sources des philosophies de l’histoire (1764–1798). Paris 1994 (Wiederaufl. Québec 2008), sowie ders.: Rousseau ou l’origine paradoxale des philosophies de l’histoire. In: Luc Vincenti (Hrsg.): Rousseau et le marxisme. Paris 2011, S. 89–93. 30 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Essai sur l’origine des langues, XVIII. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1995 (Œuvres complètes, Bd. 5), S. 423. 31 Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 156.
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Dies ist in der Tat die Position Rousseaus. Vorerst handelt es sich um eine bloße Hypothese, weshalb der Text im Konditional steht (»es wäre traurig für uns« / »es wäre schrecklich«). Bekanntlich wird jedoch der zweite Teil des Discours diese Hypothese weiter ausführen und bekräftigen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass der gesamte zweite Discours den Nachweis dafür liefern soll, dass die Perfektibilität ein Fluch und kein Segen für die Menschheit ist … Die besagte Hypothese gestaltet sich in Rousseaus Text als feierliche Aufzählung dessen, was anzunehmen ›traurig‹ oder ›schrecklich‹ wäre – was aber gleichwohl der Fall ist. Etwa, dass die Perfektibilität als alleinige Quelle menschlichen Unglücks zu gelten habe, wobei das Unglück hier als Verlust der natürlichen Unschuld verstanden wird – ein Verlust, der sich nicht zuletzt in der Gewalt bekundet, die der zivilisierte Mensch gegenüber seiner Umwelt (seinen Mitmenschen und der Natur) ausübt.32 Zwar ist dieser Verlust an sich ambivalent, denn der Mensch gewinnt ja im Prozess der Zivilisation auch etwas hinzu: Erkenntnisse ebenso wie Irrtümer, Tugenden und Laster gleichermaßen. Aber man darf schon unterstellen, dass für Rousseau die Irrtümer letztlich die Oberhand gewonnen haben über die Erkenntnisse und die Laster über die Tugenden, denn sonst hätte die Hypothese ja nichts ›Trauriges‹ an sich. Die Hypothese ist allerdings nicht nur ›traurig‹, sondern auch ›schrecklich‹: Denn wenn es zutriff t, dass die Perfektibilität die (alleinige) Quelle unseres Verderbens ist, müssten wir es dann nicht eigentlich jenen barbarischen Völkern am Amazonas gleichtun, die ihren Kinder direkt nach der Geburt den Schädel mit Hölzern einschnüren und diese somit zum Schwachsinn verurteilen? Was uns hier, in dieser bewusst provokanten Frage begegnet, ist nichts anderes als die Idee von der natürlichen ›Einfalt‹ des Menschen, allerdings nicht als Ergebnis eines (bedauernswerten) Regressionsprozesses, sondern als glücklicher Ursprung, den die Menschheit zu ihrem eigenen Wohle besser niemals verlassen hätte. Im Grunde handelt es sich um dieselbe, ambivalente Denkfigur: Rousseau wird den natürlichen Menschen immer wieder als »dumm«, »beschränkt« und »blöde« beschreiben33 – und zugleich als gut (unfähig, Böses zu tun) und glücklich. In Anbetracht dieser Ambivalenzen versteht man die Schwierigkeit der Leser, seine Position eindeutig zu bestimmen.
32
Auch wenn dies nur ein Randaspekt ist, so thematisiert Rousseau doch mehrfach die Gewalt, die der Natur von Menschen zugefügt wird, u. a. gleich zu Beginn der Anmerkung IX im zweiten ›Discours‹. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch seine Kritik des Bergbaus in den ›Rêveries‹ (Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1067), denn damit richtet er sich explizit gegen die Enzyklopädisten: Wenn ewa Diderot den Bergbau erwähnt, dann durchweg positiv und als Symbol menschlicher Erfindungskraft. Vgl. Denis Diderot: ›Art‹. Article de l’Encyclopédie. Hrsg. v. John Lough. Paris 1976 (Œuvres complètes, Bd. 5), S. 500. 33 Rousseau: Contrat social, I, 8; Lettre à Beaumont, S. 936.
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Was die Interpreten allerdings trotz der terminologischen Unschärfe sehr gut verstanden haben, ist die Tatsache, dass diese »uns auszeichnende, fast unbegrenzte Fähigkeit« nicht »unendlich« (»indéfinie«) ist im Sinne Condorcets. »Fast unbegrenzt« bedeutet für Rousseau, dass man nicht mit Gewissheit sagen kann: »Hier ist die Grenze, bis wohin der Mensch gelangen, und die er nicht überschreiten kann.«34 Es bedeutet also nicht, dass wir dazu bestimmt wären, ewig fortzuschreiten, sondern lediglich, dass man nicht sagen kann, bis wohin genau die Entwicklung reicht, bevor die nächste Revolution alles Erworbene wieder hinfällig werden lässt. Man weiß nicht, wie weit die Menschheit es bringen könnte, »wenn sie nicht in ihrem Fortschritt aufgehalten würde«, schreibt Diderot – übereinstimmend mit Rousseau – im Artikel Encyclopédie; aufgehalten jedoch wird sie, denn »die Revolutionen sind notwendig«.35 Just gegen diese Auffassung richtet sich übrigens Condorcet mit seinem Tableau historique, wenn er z. B. behauptet, dass die Erfindung des Kanonenpulvers in Zukunft sämtliche Kriege unmöglich machen werde.36 Dieses Problem einmal gelöst und »Wahrheit, Glück und Tugend« wie durch ein »unauflösbares Band miteinander verknüpft«,37 kann er sodann die Perfektibilität als ›unendliche‹ feiern. Diese unendliche Perfektibilität ist es auch, die bei Condorcet den Menschen vom Tier unterscheidet: Denn nach Leroy gilt es zwar als ausgemacht, dass auch Tiere über Perfektibilität verfügen, sie ist bei ihnen jedoch »in sehr viel engeren Grenzen befangen als die menschliche Perfektibilität«.38 Aus der Perspektive dieser Denker betrachtet hatte Rousseau also gleich mehrfach unrecht: erstens, indem er dem Tier jegliche Fähigkeit zur Vervollkommnung absprach, zweitens, indem er die Einheitlichkeit des Fortschritts leugnete, der Wissenschaft und Moral gleichermaßen umfasst, und drittens, indem er einen nichtlinearen und nicht-notwendigen Entwicklungsprozess postulierte, der ein unendliches Fortschreiten des Menschen fraglich erscheinen ließ. Vor diesem Hintergrund ist es nun allerdings nicht weiter erstaunlich, dass Condorcet Rousseau in der Reihe seiner Ahnen gar nicht erst erwähnt.
34
Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation, I. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Paris 1969 (Œuvres complètes, Bd. 4), S. 281 [dt.: Emil oder über die Erziehung. Übers. v. Ludwig Schmidts. Paderborn 1993, S. 38]. 35 Denis Diderot: ›Encyclopédie‹. Article de l’Encyclopédie. Hrsg. v. John Lough. Paris 1976 (Œuvres complètes, Bd. 7), S. 186–187 [Übers. K.B.]. 36 Condorcet: Tableau historique, S. 336 und 434. 37 Ebd., S. 450 [Übers. K. B.]. 38 Ebd., S. 484.
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4. Problematisierung Kommen wir noch einmal auf die Umstände zurück, welche die Perfektibilität der Menschen in Gang setzen. Bei genauerer Betrachtung spielen diese in gleich zweifacher Weise eine entscheidende Rolle. Zum einen, weil sie »ebenso gut auch nie hätte[n] stattfinden können«, was bedeutet, dass der Mensch durchaus auch im Naturzustand hätte verweilen können.39 Zum anderen, weil auch ganz andere Umstände hätten eintreten können, die dann ihrerseits eine andere Art von Entwicklung bewirkt hätten. So charakterisiert z. B. Rousseau die Selbstliebe (»amour de soi«) im Jahr 1763 als eine Leidenschaft, die nur per Zufall und aufgrund der äußeren Umstände entweder eine gute oder schlechte Ausrichtung bekomme.40 Dieser zweiten Lesart zufolge wäre also durchaus ein anderer historischer Verlauf denkbar gewesen als der, den der zweite Discours beschreibt; vielleicht, so darf man spekulieren, liegt diese andere Geschichte sogar auch jetzt noch im Bereich des Möglichen.41 Schließlich tauchen in Rousseaus Schriften immer wieder Orte auf, die vom allgemeinen Verderben ausgenommen zu sein scheinen und wo folglich die Transformation der Selbstliebe in Eigenliebe (»amour-propre«) noch einen positiven Verlauf nehmen kann, wie etwa im Fall Korsikas oder in der pädagogischen Fiktion. Richtig besehen, handelt es sich hier um zwei verschiedene Vorstellungen von Kontingenz: In der ersten Hypothese ist es die Geschichte als solche, die kontingent ist, in der zweiten ist es diese ganz spezielle Geschichte. Im letzteren Fall liegt noch eine weitere Mehrdeutigkeit vor, je nachdem, ob die alternative Geschichte möglich gewesen wäre oder es immer noch ist. Auch im Hinblick auf ihre politischen Konsequenzen unterscheiden sich die beiden Versionen erheblich: Im Fall der ersten Hypothese wie in der ersten Spielart der zweiten kann man den Verlust der Unschuld nur noch betrauern; im zweiten Fall tut sich hingegen die Möglichkeit einer politischen Alternative zum Despotismus auf. Man hat in Rousseau daher mal einen Nostalgiker des Ursprungs gesehen, mal einen Revolutionär – und bisweilen sogar das eine aus dem anderen abzuleiten versucht. So hat etwa Friedrich Nietzsche ein Bild von Rousseau gezeichnet, wonach dieser den (Aber-)Glauben an eine intakte menschliche Natur befördert habe, die zwar unter den gegenwärtigen Institutionen verschüttet sei, die sich aber in dem Moment wiederherstellen lasse, wo 39
Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 162. Ebenso schreibt Rousseau im Kapitel V seines ›Essais‹, dass die Umstände, die zur Erfindung der Schrift geführt haben, »bei sehr alten Völkern auch niemals hätten eintreten können«. Rousseau: Essai sur l’origine des langues, S. 386 [Übers. K. B.]. 40 Rousseau: Lettre à Beaumont, S. 936. 41 An dieser Stelle sei an den bedeutenden Artikel von Henri Gouhier: Nature et histoire dans la pensée de J.-J. Rousseau (in: ders.: Les méditations métaphysiques de J. J. Rousseau. Paris 1970, S. 27–31) erinnert.
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die Menschen den Mut aufbrächten, die bestehenden Verhältnisse in Gesellschaft, Staat und Erziehung zu beseitigen.42 Sofern sie in Rousseau einen Anhänger des unverfälschten Ursprungs sahen, musste den Zeitgenossen sein Konzept der Perfektibilität fundamental widersprüchlich erscheinen. Die Reaktionen auf den zweiten Discours fallen dementsprechend eindeutig aus: So gestehe Rousseau den Menschen – und ganz zu Recht – die Fähigkeit zur Vervollkommnung zu, behaupte aber gleichzeitig, dass sie, sobald sie von dieser Fähigkeit Gebrauch machten, sich zwangsläufig dem Verfall aussetzten. Aber, so lautet der Einwand der Kritiker, ist es nicht völlig absurd, dem Menschen ein Ziel bzw. einen Zweck (»fin«) vorzuschreiben und im selben Atemzug die Finalität zu verurteilen, die ihn auf dieses hinbewegt? Die Vorsehung könne doch dem Menschen unmöglich eine Anlage – einen Trieb, wie man im Deutschen sagt – zur Vervollkommnung mitgegeben haben, nur um ihn dann zu bestrafen, wenn er diese auch auslebt! Es handelt sich demnach um einen regelrechten double bind.43 Die hier dargestellte Kritik beruht allerdings, wie bereits angedeutet, auf einer teleologischen (Fehl-)Interpretation der Perfektibilität. Ein Widerspruch liegt nur insofern vor, als man nicht sieht (oder sehen will!), dass Rousseau Perfektibilität und Perfektion klar voneinander trennt: Die Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten ist eben nicht identisch mit der Perfektion des Menschen. Auch wäre es falsch, Rousseau den Wunsch nach einer »Rückkehr zur Natur« zu unterstellen. Gegen ein solches Verständnis seiner Schriften hat er sich stets explizit verwahrt, vom ersten Discours44 bis hin zu den Dialogues,45 die berühmte Replik auf Voltaire im September 1755 eingeschlossen: »Wie Sie sehen, strebe ich nicht danach, unsere Dummheit wiedereinzuführen, obgleich ich meinerseits das wenige, was ich davon einbüßte, sehr bedauere.«46 Aber wenn die natürliche Unschuld ein für alle Mal verloren ist und wenn die Perfektibilität keine Perfektion impliziert, so muss man fragen, gibt es dann überhaupt noch eine Norm, und wenn ja, wo wäre diese zu finden? 42
Menschliches, Allzumenschliches, § 463. Rousseau weist diesen Einwand jedoch bereits im dritten Teil der ›Gespräche‹ zurück. Vgl. Rousseau: Dialogues, S. 935. 43 Vgl. Verf.: La raison sans l’Histoire, Kap. XI. 44 Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 55: »(…) gardons-nous d’en conclure qu’il faille aujourd’hui brûler toutes les bibliothèques et détruire toutes les universités et les académies.« 45 Rousseau: Dialogues, S. 935: »Mais la nature humaine ne rétrograde pas et jamais on ne remonte vers les temps d’innocence et d’égalité quand une fois on s’en est éloigné; c’est encore un des principes sur lesquels il a le plus insisté«. 46 Jean-Jacques Rousseau: Réponse à M. Voltaire. Hrsg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Paris 1971 (Œuvres complètes, Bd. 3), S. 226–229, hier: 226 [dt.: Schriften zur Kulturkritik, S. 309 f.]. Am Anfang des zweiten ›Discours‹ erwähnt Rousseau sogar den Wunsch nach einer Rückkehr zum Naturzustand, den er bei seinen Lesern auslösen könnte, jedoch nur, um diesen als müßig und als Zeichen des Verfalls zurückzuweisen. Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 133.
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Rousseaus Replik auf Voltaire ist auf verstörende Weise mehrdeutig: Der Ursprung ist, wenn auch nicht Ziel einer expliziten Agenda, so doch Gegenstand der Sehnsucht und des Bedauerns. Im Rahmen des zweiten Discours kommt ihm zudem die Rolle eines Maßstabes zu: Wir haben, so heißt es bekanntlich im Vorwort, »rechte Begriffe nötig, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können«, d. h. wir brauchen die Vorstellung vom Naturzustand, um das Ausmaß der Verirrungen zu erkennen, die uns von ihm entfernt haben. Der Naturzustand ist also beides zugleich: eine unbeugsame Norm, welche eine Kritik der Ungleichheit ermöglicht, und Gegenstand eines nostalgischen Bedauerns, das Anlass zu melancholischen Träumereien gibt. Der Fehler, den Rousseaus Interpreten begehen, besteht demnach darin, dass sie ein nostalgisches Bedauern und einen heuristischen Maßstab mit einer programmatischen Forderung verwechselt haben. Ich gebe jedoch gerne zu, dass es nicht immer leicht ist, diese Dinge auseinander zu halten, und es ist auch keineswegs gesagt, dass Rousseau selbst in diesen Dingen immer den Durchblick behalten hätte … Tatsächlich ringt Rousseau hier mit dem Problem der »zweiten Natur«, dem Bertrand Ogilvie vor kurzem eine interessante Studie gewidmet hat. Unbestimmt, d. h. perfektibel wie sie sind, sind die Menschen zur Kultur verurteilt bzw. zur Institution, und das bedeutet, dass sie sich nur selbst verwirklichen können, indem sie sich zugleich von sich selbst entfremden (»trouver le déploiement de leur être que du côté de ce qui les rend étrangers à eux-mêmes«).47 Der Mensch wird Mensch erst durch Selbstentfremdung – nichts anderes besagt der zweite Discours, auch auf die Gefahr hin, es sich mit allen zu verderben. Zum Beispiel mit den Theologen, denn wie Rousseau selbst gegenüber Beaumont einräumt,48 dem Menschen Perfektibilität zuzugestehen bedeutet im Grunde die Vorsehung zu leugnen, die ihn doch zur Glückseligkeit führen oder ihn zumindest im Stande der Unschuld bewahren soll. Ebenso mit den Philosophen, denn zu behaupten, dass die Perfektibilität die Quelle allen menschlichen Unglücks sei, heißt nichts anderes, als den Glauben an die heilsamen Kräfte des Fortschritts in Frage zu stellen und zu bestreiten, dass die Kultur eine ganz und gar positive Angelegenheit sei, eine Art segensreiche Emanzipation von den Fesseln der Natur, über die man sich nur begeistern könne. Verglichen damit ist Rousseaus Diagnose von einem großen Pessimismus geprägt, wie ja auch das finstere Ende des zweiten Discours zeigt. Jedenfalls hat Rousseau den ambivalenten Charakter der Kultur (»l’institution«) voll erfasst und ist von dieser Einsicht zeit sei-
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Bertrand Ogilvie: La seconde nature du politique. Essai d’anthropologie négative. Paris 2012, S. 20. Merkwürdigerweise geht Ogilvie nicht auf Rousseau ein, der doch Wasser auf seinen Mühlen wäre. Rousseau erwähnt die ›zweite Natur‹ explizit im Rückgriff auf Montaigne. Vgl. Rousseau: Émile, S. 407–708. 48 Rousseau: Lettre à Beaumont, S. 939 f.
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nes Lebens nicht mehr abgerückt – die Kultur erhebt den Menschen über das Tier und macht ihn zugleich zur unglücklichsten aller Kreaturen. Allerdings ist dies nur die eine Seite der Medaille. Ich betonte eben, der Ursprung sei eine ›Norm‹ und kein (politisches oder philosophisches) Programm. Das stimmt jedoch nicht ganz. Denn Rousseau hat immer wieder versucht, den Naturzustand wieder auferstehen zu lassen. Der Naturzustand stellt nicht nur Norm dar in dem Sinne, dass er es erlaubt, als eine Art kritischer Maßstab die gegenwärtige Korruption zu erkennen und zu benennen; sondern er ist auch ein Ideal, dem wir uns so gut es geht annähern sollten. ›Annäherung‹ heißt hier jedoch nicht Rückkehr zum Ursprung, sondern die Schaff ung von Substituten. Ob im Contrat Social, in Bezug auf Émile (der ja gewissermaßen als ›Wilder‹ in der heutigen Gesellschaft bestehen soll) oder auf die Person Jean-Jacques’ selbst: stets richten sich alle Bemühungen Rousseaus darauf, den Ursprung neu zu erfinden. Was das Glück des Wilden ausmachte, war ja bekanntlich dessen Unabhängigkeit, d. h. seine Selbstgenügsamkeit und die gelebte Einheit mit sich selbst; diese Unabhängigkeit versucht Rousseau folglich in der einen oder in der anderen Form wieder neu aufleben zu lassen: etwa in der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Gesellschaftsvertrag, wo jeder aufgrund der vollständigen Entäußerung seiner Rechte letztlich nur sich selbst gehorcht; oder in der Haltung des autonomen Handwerkers, der gelernt hat, die Meinung der anderen zu ignorieren und der bei der kleinsten Irritation »die Hände mitnimmt und davonzieht«;49 schließlich auch im (Vor-)Bild des einsamen Spaziergängers, der, abgeschieden von der Welt, sich ganz und gar dem Müßiggang hingibt und dabei weder gut noch böse ist.50
5. Schlussbemerkungen Auch nach 1755 behält Rousseau naturgemäß die Errungenschaften der Perfektibilität bei, ebenso wie die theoretischen Probleme, die mit ihr einhergehen. Aber wir können nun auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen: Warum vermeidet es Rousseau fortan, den Begriff der ›Perfektibilität‹ zu erwähnen? Zunächst einmal sind externe Gründe denkbar: Der Begriff gab, wie wir sahen, Anlass zu Missverständnissen, so dass es klüger scheinen mochte, ihn ganz zu vermeiden, um den Kritikern keine unnötige Angriffsfläche zu bieten.51 Perfektibilität 49
Rousseau: Émile, S. 470 [dt.: Emil oder über die Erziehung, S. 194]. Der selbständige Handwerker ist dem Wilden dahingehend ähnlich, dass er in der Lage ist, »sich selbst immer ganz mit sich zu führen« (Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité, S. 136 [dt.: Schriften zur Kulturkritik, S. 89]). 50 Rousseau: Dialogues, II, S. 824. 51 Diesen Vorwurf macht ihm jedenfalls Mendelssohn: »Rousseau kann sich nicht überwin-
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und Perfektion so radikal gegeneinander auszuspielen war ein für die Zeitgenossen zu ungewöhnlicher Schritt, um für Rousseau nicht riskant zu sein. Von daher mag es ganz einfach praktischer gewesen sein, auf den Begriff zu verzichten. Aber man könnte auch argumentieren, dass für Rousseau schlichtweg keine Notwendigkeit bestand, in anderen systematischen Kontexten von ›Perfektibilität‹ zu sprechen. Denn trotz aller Parallelen unterscheidet sich beispielsweise der Fall des Zöglings Émile signifikant von dem des Wilden.52 Statt von Perfektibilität spricht Rousseau im Émile, wo es um die Entwicklung des Individuums geht, von »natürlichem Fortschritt« (»progrès naturel«),53 womit er die »schrittweise Entwicklung nach dem Gesetz der Natur« meint.54 In diesem Zusammenhang gibt es keine Kontingenz; Kontingenz ist vielmehr das, was es um jeden Preis zu vermeiden gilt: So besteht die ›Kunst‹ des Erziehers gerade darin, dafür Sorge zu tragen, dass der Zögling ausschließlich dem Gesetz der Natur unterworfen ist.55 Die Menschheit als Gattung jedoch hat diese natürliche Ordnung längst hinter sich gelassen, und zwar unwiederbringlich. Oder, um es noch einmal anders zu formulieren: Der Wilde ist nicht für die Zivilisation gemacht, das Kind hingegen ist von Natur aus dazu bestimmt, erwachsen zu werden.56 In diesem Sinne kann man sagen: Émile ist nicht perfektibel, eben weil seine Entwicklung eine notwendige ist. Kommen wir abschließend noch einmal auf unseren Ausgangspunkt zurück. Wie ich hoffe gezeigt zu haben, rührt das Paradox der Perfektibilität daher, dass dieses Konzept bei Rousseau völlig losgelöst von einem Modell der Vollkommenheit gedacht wird, von dem her es eine inhaltliche Bestimmung (ein telos) erfahren könnte. Zwar gibt es auch bei Rousseau eine Vorstellung von Vollkommenheit; diese ist jedoch dem Naturzustand vorbehalten und der Kultur nur insofern, als es ihr gelingt, Substitute dieses Ursprungs zu erschaffen. Ich spreche hier bewusst von ›Substituten‹ im Plural, weil keine der möglichen Realisierungen für sich in Anspruch nehmen kann, den Naturzustand vollständig zu ersetzen. Es gibt also nur eine relative Vollkommenheit, Zustände fragiler Unabhängigkeit, die den Widrigkeiten der den, dem natürlichen Menschen, die Bemühung, sich vollkommener zu machen, abzustreiten. O! Was für siegreiche Waffen hat er durch dieses Eingeständnis seinen Gegnern in die Hände gegeben! Der Wilde hat ein Bestreben, sich vollkommener zu machen. – Worin soll sich dieses äußern?« Moses Mendelssohn: Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig. Hrsg. v. G. B. Mendelssohn. Leipzig 1843 (Gesammelte Schriften, Bd. 1), S. 378. 52 So von Jean-Louis Labussière richtig gesehen in seinem Aufsatz: Rousseau et la perfectibilité. De l’individu à l’espèce. In: Bertrand Binoche (Hrsg.): L’homme perfectible. Seyssel 2004, S. 91–113, hier: S. 108. Vgl. Rousseau: Émile, S. 310. 53 Ebd., S. 298 u. 323. 54 Ebd., S. 501 [dt.: Emil oder über die Erziehung, S. 220]. 55 Ebd., S. 325: »Vous ne serez point maître de l’enfant si vous ne l’êtes de tout ce qui l’entoure (…)«, und S. 640: »(…) il faut employer beaucoup d’art pour empêcher l’homme social d’être tout à fait artificiel«. 56 Ebd., S. 310.
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Umstände ausgesetzt bleiben und die bei der kleinsten Anfechtung zu zerbrechen drohen – so wie auch z. B. die Verbindung zwischen Émile und Sophie nicht von Dauer sein wird, wenn sie sich plötzlich in der Welt bewähren muss … Vollkommenheit ist also das, was man erhält, wenn man die Perfektibilität gegen sich selbst ausspielt, d. h. wenn man sie dazu bringt, nach dem Modell der Natur künstliche Formen von Unabhängigkeit zu schaffen, die jedoch, gerade weil sie künstlich sind, den Keim des Verderbens bereits in sich tragen und somit insgesamt recht wenig Anlass zum Jubel bieten. Aus dem Französischen übersetzt von Konstanze Baron
Johannes Rohbeck
Perfektibilität und Teleologie in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung
M
it meinem Thema stelle ich die Idee der Perfektibilität der Sache nach in den Kontext der Geschichte und der Theorie nach in den Kontext der Geschichtsphilosophie. Damit geht es nicht allein um die Perfektion eines einzelnen Menschen, sondern um die von sozialen Gruppen, Gesellschaften, Nationen und Kulturen. Im Rahmen einer Konzeption der Universalgeschichte oder Weltgeschichte wird sogar die Perfektion der gesamten Menschheit postuliert. Im Zuge der Universalisierung von Perfektibilität stellt sich natürlich eine Reihe von Problemen. Damit meine ich hier weniger das aktuelle Problem, dass wir in der heutigen Gegenwart eher skeptisch sind, was die Erwartungen für die Zukunft betriff t. Angesichts der Katastrophen des letzten Jahrhunderts und der zu befürchtenden zukünftigen Katastrophen auf den Gebieten der Finanzen, natürlichen Umwelt und Ressourcen ist uns der Glaube an den perfektionierenden Fortschritt längst verloren gegangen. Aber auch im 18. Jahrhundert war die Idee der Perfektibilität des Menschen und der Menschheit keineswegs unproblematisch, so dass sich auch in der historiographischen Betrachtung viele Fragen stellen, die ich in meinem Beitrag erörtern möchte. Der Begriff der Perfektibilität bedeutet die Möglichkeit zur Perfektion. Und sofern damit nicht nur die reine Denkmöglichkeit, sondern die Möglichkeit im wirklichen Handeln gemeint ist, sprechen wir von einer ›realen Möglichkeit‹. Damit stellt sich die Frage, in welcher Realität diese Möglichkeit begründet sein kann. Der natürliche Kandidat für eine solche Disposition ist selbstverständlich der Mensch. Die Konstruktion besteht hier darin, dass die Erfahrung der Perfektion in der Vergangenheit und die Erwartung von Perfektion für die Zukunft in die Natur des Menschen als gewissermaßen angeborene Fähigkeit im Sinne einer natürlichen Anlage projiziert werden. Doch über diese Konstruktion hinaus lässt sich in den Geschichtsphilosophien der Aufklärung noch eine andere Theorie beobachten, der zufolge die Perfektibilität nicht allein im Menschen angelegt ist, sondern auch in den technischen und ökonomischen Bedingungen menschlichen Handelns. Diese Variante, die man zwischen den Zeilen aufspüren muss, halte ich für theoretisch interessanter, weil sie bereits auf moderne Systemtheorien verweist. Beide Theorietypen werde ich unter systematischen Gesichtspunkten unter die Lupe nehmen. Vom Begriff der Perfektibilität unterscheide ich den Begriff der Perfektion, der das Ergebnis der ›realen Möglichkeit‹ bezeichnet, d. h. das realisierte Ergebnis eines
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wie auch immer verstandenen perfekten Zustandes. Hier unterscheide ich noch einmal zwischen der Beschreibung eines derartigen Zustandes der Perfektion und der normativen Dimension der Perfektion als einem Sollzustand oder einzuforderndem Ideal. In beiden Fällen, dem des Deskriptiven wie dem des Normativen, handelt es sich um spezifische Funktionen historischer Erzählungen. Zwischen der Disposition zur Perfektibilität und dem Endzustand der Perfektion findet ein Prozess statt, der üblicherweise als Perfektionierung bezeichnet wird. Dieser Prozess, sofern er die ganze Menschheit erfasst, ist sozusagen die eigentliche Geschichte. Bekanntlich hat sie die Eigenart, ziemlich verworren und undurchsichtig zu sein, weil die Bedingungen menschlichen Handels schwer steuerbar sind. Die Absichten und Vorsätze der Menschen werden ständig von Zufällen durchkreuzt. Heute spricht man von kontingenten Bedingungen oder von der Kontingenz in der Geschichte. Bereits die Autoren des 18. Jahrhunderts hatten ein klares Bewusstsein davon, dass die Geschichte im Ganzen nicht planbar ist. Um trotzdem einen roten Faden in der Geschichte zu finden und die Hoff nung auf ein gutes Ende zu nähren, entwickelten einige (wenige) Geschichtsphilosophen die Konzeption der Teleologie, der zufolge die Geschichte so vorgestellt wird, als ob sie von einer höheren Macht gelenkt würde. Auch diese problematische Konstruktion werde ich auf den Prüfstand stellen. Meine leitenden Begriffe sind also Perfektibilität, Perfektion und Perfektionierung. Im Deutschen lauten sie Vervollkommnungsfähigkeit, Vollkommenheit und Vervollkommnung. Da ich mich im Folgenden auf die Geschichtsphilosophie in Frankreich konzentrieren werde, führe ich hier die französischen Begriffe ein. Die Vervollkommnungsfähigkeit heißt dann perfectibilité – ein Begriff, der erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts gebildet worden ist. Er findet sich zum ersten Mal schriftlich bei Rousseau in dessen Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit.1 Der entsprechende Begriff perfection für Vollkommenheit ist sehr viel älter. Aber der Begriff für Vervollkommnung, nämlich perfectionement, stammt erst vom Ende des 18. Jahrhunderts, wo er erstmals bei Condorcet, und zwar im Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, nachweisbar ist.2 In meiner systematischen Rekonstruktion beginne ich mit dem Begriff der Perfektion, werde dann den Prozess der Perfektionierung erläutern und schließlich das 1
Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755. Hrsg. u. übers. v. Kurt Weigand. Hamburg 1978, S. 108. S. dazu auch den Beitrag von Bertrand Binoche in diesem Band. 2 Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hrsg. v. Wilhelm Alff. Frankfurt a. M. 1976, S. 42. Vgl. Reinhart Koselleck u. Christian Meier: Fortschritt. In: Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 351–423, hier S. 379.
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Problem der Perfektibilität erörtern. Ich kehre also die Reihenfolge um, indem ich den Themenkomplex vom Ende her aufrolle. Dieses Vorgehen entspricht der modernen Theorie der Narratologie, der zufolge eine Geschichte immer vom Ende her erzählt wird. Auch in diesem Fall wollen wir erst klären, was inhaltlich unter einem perfekten Zustand verstanden wird, sodann, auf welche Weise dieser Zustand erreicht werden kann, und schließlich, aus welchen Quellen sich dieser Prozess speist.
Perfektion Ohne Zweifel bilden die wissenschaftlich-technischen Entdeckungen und Erfindungen den Ausgangspunkt für die Fortschrittsidee der Neuzeit. Den Anfang machte wohl Francis Bacon zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als er die technischen Errungenschaften Buchdruck, Kompass und Schießpulver pries und eine Methode zur systematischen Erfindungskunst entwarf. Ende des 17. Jahrhunderts kamen mit Charles Perrault und Fontenelle noch Maschinen sowie Fernrohr und Mikroskop zur Ahnenreihe großer Erfindungen hinzu. Und während im 18. Jahrhundert die Enzyklopädisten den für sie gegenwärtigen Zustand der ›mechanischen Künste‹ festhielten, versuchten die Historiographen, die Entstehung und Entwicklung der Technik zu erforschen. Vor allem Antoine Yves Goguet stellt in mehreren Bänden seiner De l’origine des lois, des arts et des sciences die Errungenschaften der Agrikultur dar.3 Es sind Systeme des Wissens, Könnens und der sozialen Praxis, die paradigmatisch für Zustände der Perfektion sind. Diese Systeme sind keine singulären Handlungen, sondern repräsentieren bereits institutionalisierte Handlungszusammenhänge. Sie stellen sozusagen die geronnene und teilweise ja auch gegenständlich fi xierte Erfahrung der Geschichte dar. In der Geschichtsphilosophie fungieren diese Systeme als Modelle der historischen Rekonstruktion. Paradigmatisch für ein solches Verhältnis von System und Geschichte dürfte die Geschichte der Mathematik sein. Im Grunde weist Descartes’ Methode der späteren Fortschrittstheorie den Weg: Nachdem der Historiker das gegenwärtige mathematische System in elementare Einheiten zerlegt hat, kann er die darauf folgende Synthese aus diesen Elementen als Entstehungsprozess der Mathematik darstellen. Genau so verfährt Turgot in seiner Geschichte des menschlichen Geistes, indem er sie mit einfachen Vorstellungen wie Zahlen und Raumgrößen beginnen lässt und die weiteren Fortschritte als Kombinationen zu immer komplexeren und damit auch allgemeineren Ideen und Regeln beschreibt. Von dort lässt sich dann der zurück3
Antoine Yves Goguet: De l’origine des lois, des arts et des sciences; et de leurs progrès chez les anciens peuples, Bd. 1. Paris 1758, S. 203 ff.
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gelegte Fortschritt betrachten: »Eine Kette voneinander abhängiger Glieder bildet sich, in der die Menschen alle Schritte wiedererkennen können, die sie gemacht haben, um Wahrheit auf Wahrheit zu häufen.«4 In Goguets Mathematikgeschichte ist dieselbe Methode beobachtbar, wenn er den Weg von »einfachen« zu »schwierigen« arithmetischen Operationen darstellt. Aber er reflektiert diese Methode mit einer interessanten Nuance: Die moderne Arithmetik kann uns nur als Idee dienen für jene Zeitalter, die hier an uns vorbeilaufen; anstelle einer exakten Analyse führen wir diese Wissenschaft auf ihre ersten Elemente zurück. Das ist das einzige Mittel, um diejenigen Operationen aufzudecken, die sich, entsprechend ihrer Einfachheit, als erste dem forschenden Geist wohl angeboten haben dürften.5
In dieser Reflexion wird die Differenz zwischen aktueller Systematik und geschichtlicher Genese deutlich. Goguet orientiert sich lediglich an der zeitgenössischen Mathematik, ohne behaupten zu wollen, mit ihrer ›Idee‹ im Sinne eines Modells bereits die historische Analyse geleistet zu haben. Die Rationalität der entwickelten Wissenschaft erfüllt bei der Erforschung der historischen Entwicklung lediglich eine heuristische Funktion.
Perfektionierung Auf die Frage, wer denn die Geschichte ›mache‹, finden die Aufklärer seit Vico die Antwort: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte – jedenfalls scheint festzustehen, dass kein anderer sie macht. Doch stellt sich das Problem, wie aus den Handlungszielen der Individuen ein gemeinsames Telos hervorgehen soll. Die Menschen stellen zwar Dinge her und erzeugen mit ihren Handlungen bestimmte Wirkungen, aber damit ›machen‹ sie nicht die Geschichte im Ganzen. Sie mögen zwar ihre einzelnen Zwecke verfolgen, aber den Endzweck der Geschichte können sie niemals planen. Über diesen Sachverhalt gibt es von Anfang an keinen Zweifel. Unmissverständlich werden die Individuen als planende Subjekte ausgeschlossen. Mir scheint, als sähe ich eine riesige Armee – schreibt Turgot –, deren Bewegungen von einem Genie gelenkt werden. Beim Anblick militärischer Signale, beim tobenden Lärm der Trommeln und Trompeten geraten ganze Schwadrone in Bewegung, selbst die Pferde werden von einem unerklärlichen Feuer erfüllt; jeder Teil geht seinen Weg über alle Hindernisse hinweg, ohne zu wissen, wie es endet; allein der Feld4
Anne Robert Jacques Turgot: Über die Fortschritte des menschlichen Geistes. Hrsg. v. Johannes Rohbeck u. Lieselotte Steinbrügge. Frankfurt a. M. 1990, S. 204 f. 5 Goguet: De l’origine des lois, Bd. 1, S. 207 [Übers. u. Hervorh. J. R.].
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herr sieht die Wirkung so vieler vereinter Märsche. Auf ähnliche Weise sind es die Leidenschaften, welche die Ideen vermehrt, die Kenntnisse erweitert und die Geister perfektioniert haben – in Ermanglung der Vernunft […].6
Bei Ferguson heißt es noch pointierter: Jeder Schritt und jede Bewegung der Menge wird sogar in denjenigen Zeitaltern, die man aufgeklärt nennt, mit der gleichen Blindheit für die Zukunft gemacht. Die Nationen stoßen gleichsam im Dunkeln auf Einrichtungen, die zwar durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht jedoch die Durchführung irgendeines Planes.7
Was zunächst in militärischen Metaphern, dann auch mit den Begriffen »höhere Macht« oder »Vorsehung« formuliert wird, kommt Kants Idee einer »Naturabsicht« oder Hegels Formel einer »List der Vernunft« in der Geschichte ziemlich nahe. Eine Übertragung der Zweckrationalität individueller Handlungen auf Gesellschaften oder gar auf die ganze Menschheit kommt damit nicht in Frage. Es ist das Verdienst von Kant, die unterstellte »Absicht der Natur« erkenntnistheoretisch reflektiert zu haben.8 Der Sache nach schreibt ihr Kant die Funktion zu, die Menschen so anzuleiten, dass sie ihre rationalen Fähigkeiten entfalten und insbesondere eine vernünftige Gesellschaft bilden: »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird.«9 Wie Adam Smith die Ambivalenz der gesellschaftlichen Arbeitsteilung mit den Polen »Beistand« und »Beleidigung« kennzeichnet, die man mit Kooperation und Konkurrenz übersetzen kann, so lässt Kant die Natur mit Hilfe der Konkurrenz eine »ungesellige Geselligkeit« schaffen. Und wie Smith die Garantie für eine prosperierende und gerechte Gesellschaft einer »unsichtbaren Hand« anvertraut, so schreibt Kant diese Aufgabe der »Naturabsicht« zu. Auch wenn in dieser Konstruktion die Denkfigur einer verzeitlichten Theodizee steckt,10 ist doch nicht zu übersehen, dass hier ebenso das Modell eines zweckrationalen Handelns eingefügt ist. Die Natur geht in Zweck-Mittel-Kategorien zu Werke, indem sie die Interessen der Individuen als Mittel zum Zweck der Gesellschaft benutzt. Turgot: Über die Fortschritte, S. 176. Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1986, S. 258. 8 Kant beruft sich auf die »Anordnung eines weisen Schöpfers«; Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1965 (Werke in 12 Bänden, Bd. 11), S. 34. 9 Ebd., S. 38 f. 10 Exemplarisch sei genannt Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1973, S. 52 ff. 6 7
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Dieser Theorietyp gipfelt in der Paradoxie, dass die Menschen mit ihren Handlungen zwar die Geschichte machen, sie aber zugleich auch nicht machen.11 Dieses Machen erfährt eine eigentümliche Spaltung: als Machen und als Nicht-MachenKönnen; der Mensch ist dabei Täter und Opfer zugleich. Die Selbstermächtigung des Menschen erfährt bereits in den Anfängen der Moderne eine eigentümliche Brechung. Zwar sind die Aufklärer mit der Absicht angetreten, eine Ordnung in den neuen Gegenstandsbereich zu bringen und ihn nach dem Vorbild der exakten Wissenschaften zu systematisieren, aber es ist das Gegenteil dabei herausgekommen. In keiner anderen Disziplin ist so explizit von Willkür und Barbarei, Zufall und Chaos die Rede. Die Geschichte wird als kontingentes Geschehen begriffen, das für die Menschen prinzipiell unverfügbar ist. So steht die Philosophie der Geschichte für die Erfahrung der Kontingenz menschlichen Daseins. Indessen lässt sich die geschichtsphilosophisch vermittelte Kontingenzerfahrung noch historisch präzisieren: Es geht nicht um Kontingenz überhaupt, deren Feststellung ja trivial wäre, sondern um eine genau bestimmbare Erfahrung, die Kant so treffend »ungesellige Geselligkeit« genannt hat.12 Gemeint sind damit Arbeitsteilung und Warentausch, durch die neue Formen sozialer Abhängigkeit erfahren werden. Daraus resultiert ein Bewusstsein von Ohnmacht, das sich offenbar auf die Geschichte übertragen hat. Wie sich der Zusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft nur – nach einer Formulierung von Marx – als »planloser Plan« herstellt, so scheint sich auch der historische Fortschritt nur ›blind‹ und ›hinter dem Rücken‹ der Individuen durchzusetzen. Wenn diese Parallele zutriff t, dann erhält die Analogie zwischen der »unsichtbaren Hand« von Adam Smith und der »Naturabsicht« in Kants Geschichtsphilosophie ihre Plausibilität. Nüchtern betrachtet, handelt es sich um die keineswegs triviale Entdeckung der Selbstregulation sozialer Systeme. Denn mit der Metapher »unsichtbare Hand« verbindet sich die Erkenntnis, dass ökonomische Handlungszusammenhänge von Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden. Die Wirtschaftstheoretiker der Aufklärung hatten eine Ahnung davon, dass die Handlungskompetenz der Individuen von einer Kompetenz sozialer Systeme ergänzt zu werden beginnt. Für die Politik folgt aus dieser Einsicht, dass die Rückkehr zur staatlichen Steuerung weder möglich noch wünschenswert erscheint. Denn liberale Ökonomen wie Turgot und Smith, wie halbherzig sie das Laissez-faire auch immer vertraten, haben ja den ›Mechanismus‹ der arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft ausdrücklich begrüßt und politisch propagiert. So wie das politische Handeln auf wirtschaftlichem Feld abgewertet 11
Auf dieses Paradoxie hat Heinz Dieter Kittsteiner aufmerksam gemacht: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980, S. 163 f., S. 184 f.; ders.: Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens. Frankfurt a. M. 1998, S. 12 ff., S. 44 f., S. 86. 12 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 39.
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wird, so hat es seine Funktion als Planungsvernunft für den technisch-ökonomischen Fortschritt im Ganzen verloren. Heute stellt sich die Frage, aus welcher Perspektive dieser Befund zu interpretieren ist. Wer die Ohnmachtserfahrung in den Vordergrund stellt, wird die Rede von der »Naturabsicht« als Kompensation einer misslungenen Moderne deuten. Misslungen ist die Moderne deshalb, weil man ihr den Vorwurf machen kann, die einmal erkannte Kontingenz der Geschichte durch die Einsetzung einer metaphysischen Instanz wieder getilgt zu haben.13 An dieser Stelle scheint die alte Teleologie wieder aufzuerstehen. Doch was bleibt dann von der Geschichtsphilosophie übrig? Wird ihr dadurch nicht die Legitimationsbasis entzogen? Gewiss ist die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Geschichte ein theoretischer Gewinn. Mit Freud könnte man dies als eine geschichtsphilosophische Kränkung der Menschheit bezeichnen. Für Bossuet war Gott der Schöpfer der Geschichte. Im Laufe der Aufklärung setzte sich der Mensch an die Stelle Gottes als Werkmeister seiner eigenen Geschichte. Zugleich musste er erfahren, dass er die Geschichte im Ganzen gerade nicht planen kann. Wie das Unbewusste in der Psychoanalyse scheint es in der Geschichte ein kollektiv Unbewusstes zu geben. Aber offensichtlich handelt es sich nur um ein negatives Resultat, das eher dafür spricht, diesen Denktypus auszumustern. Die Geschichtsphilosophie hat ihren Dienst getan; sie hat zwar ein richtiges Problem gestellt, dafür jedoch die falsche Lösung angeboten. Heute lautet die Devise, die Eigendynamik technischer und sozialer Systeme wohl oder übel anzuerkennen und damit einigermaßen vernünftig umzugehen – auch ohne teleologische Rückendeckung. Wozu also diese Geschichtsphilosophie? Eine mögliche Antwort bestünde darin, die Geschichtsphilosophie von der teleologischen Überlagerung zu befreien und auf ihr ursprüngliches Fundament zu stellen: Es ist die menschliche Gattung, von der es bei den Aufklärern heißt, dass sie allein Fortschritte macht und damit die Universalgeschichte ermöglicht. Unbestritten ist, dass die handelnden Individuen am historischen Prozess beteiligt sind. Geschichtsphilosophisch interessant ist jedoch der weitergehende Versuch, den Gattungsbegriff umzuformulieren. Auf diese Weise ließe sich auch die traditionelle Frage nach dem Subjekt der Geschichte neu stellen. 13
Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, S. 52 ff.; Rüdiger Bubner: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1984, S. 35 ff.; Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 31986, S. 95 ff.; Emil Angehrn erkennt dieses Bemühen an und sieht darin eine legitime und produktive Nähe zum Mythos: Ursprungsmythos und Geschichtsdenken. In: Herta NaglDocekal (Hrsg.): Der Sinn des Historischen. Frankfurt a. M. 1996, S. 305 ff.; Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel 2006, S. 230 f.; Thomas Zwenger: Geschichtsphilosophie. Eine kritische Grundlegung. Darmstadt 2008, S. 153 ff.
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Perfektibilität In diesem Zusammenhang interessiert die naturgeschichtliche Grundlegung der Geschichtsphilosophie. Ausdrücklich ist der naturhafte Träger der Geschichte erhalten geblieben; er hat nur gewechselt vom individuellen Menschen zur menschlichen Gattung, die nun als Generationenfolge verstanden wird. Die Geschichte wird naturalisiert, so wie die Natur geschichtlich wird. Das übergreifende biologische Modell bildet die »Kette der Lebewesen«, die in einer kontinuierlichen Folge oder besser Stufenleiter besteht, innerhalb deren die einzelnen Lebewesen nach dem Maßstab ihrer »Vollkommenheit« eingeordnet werden.14 Was unter Vollkommenheit, die ja zu den Schlüsselbegriffen der antiken bis neuzeitlichen Philosophie gehört, jeweils verstanden wird, kann variieren: Bonnet legt den Grad von Komplexität und Zweckmäßigkeit der Organismen zu Grunde. Buffon setzt hingegen den Grad der Ähnlichkeit und später den Grad der Nützlichkeit als Maßstab fest. Unterstellt wird dabei in jedem Fall, dass diese Kette nicht von Lücken oder Sprüngen unterbrochen wird, sondern aus unendlich kleinen Zwischenstufen besteht, deren Glieder allenfalls verborgen sind. Strittig ist dabei die Frage, ob auch zwischen Affe und Mensch nur ein solcher gradueller Unterschied besteht und daher Bindeglieder gefunden werden. Während Buffon und Burnett eine lückenlose Kontinuität behaupten, wendet sich Rousseau, der sich ansonsten an Buffon orientiert, gegen eine zu große Nähe des Menschen zum Affen.15 Diese Dynamisierung der Naturgeschichte hat nachweislich die Philosophie der Aufklärung beeinflusst, vor allem dort, wo das mechanistische Denkmodell verlassen wurde zugunsten des Leitbildes Organismus. Doch die Vererbungstheorie ließ sich beim besten Willen nicht in die Geschichtsphilosophie übertragen. Die wenigen Autoren, die das versucht haben,16 machten sich mit der Vorstellung, die Menschen vererbten ihre erworbenen Fähigkeiten, schon zu Lebzeiten lächerlich. Angesichts dieser Problemlage stellt sich die umgekehrte Frage, ob nicht vielmehr zuerst das Geschichtsdenken Einfluss auf die Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts, namentlich auf die Kosmologie, Geologie und Biologie ausgeübt hat. Als Fontenelle in seinen Gesprächen über die Vielzahl der Welten zum ersten Mal das Sonnensystem Veränderungen unterworfen sah, hatte bereits die Querelle des anciens et des modernes begonnen, von der erste Anstöße zum Fortschrittsdenken 14 Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. New York 1936, S. 10 ff. 15 Charles Bonnet: Œuvres d’histoire naturelle et de philosophie, Bd. 7. Neuchâtel 1781, S. 15 ff.; Georges Louis Leclerc Comte de Buffon: Histoire naturelle, Bd. 2. Hrsg. v. J. Pivetau. Paris 1954, S. 117 ff.; Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, S. 87. 16 So hält es Condorcet für möglich, dass »die individuelle Vervollkommnung sich vererben kann«. Condorcet: Entwurf, S. 220.
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ausgingen. Auch Boulanger war Geologe und Geschichtsphilosoph zugleich.17 So liegt die Vermutung nahe, dass die neue Geschichtsphilosophie das Interesse für geologische und biologische Veränderungen geweckt haben könnte. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass diese Autoren immer noch die Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition zu führen hatten, zu der eben auch Fragen der Schöpfungsgeschichte mit ihrer Chronologie gehörten. Eine solche wechselseitige Modellübertragung lässt sich exemplarisch an der nun einsetzenden Anthropologisierung beobachten. Ferguson unterstellt zur Fundierung des zitierten Entwicklungsgesetzes eine in der Natur des Menschen angelegte »Fähigkeit zur Verbesserung« oder ein »Prinzip des Fortschritts«.18 Das entspricht der »Fähigkeit zum Fortschritt« Condorcets oder, sieht man einmal von bestimmten Differenzen ab, der »Perfektibilität« Rousseaus wie auch in Deutschland dem »Bildungstrieb« Blumenbachs.19 Auch Kant betrachtet die Menschen zunächst als Naturwesen, die wie die Tiere dazu bestimmt seien, ihre natürlichen Anlagen zu entfalten, betont jedoch zugleich den wesentlichen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Beim Tier sind es körperliche Organe, die am Ende ihre Zwecke erfüllen sollen; beim Menschen ist es die Vernunft, die sich für einen zweckmäßigen Gebrauch entwickeln soll. Dass Kant mit der Analogie zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte keine naturalistische Reduktion beabsichtigt, zeigen die folgenden Ausführungen über die Vernunftentwicklung.20 Während der Mensch von Natur aus sparsam ausgestattet sei, befreie er sich durch die »Erfindung« seiner Nahrungsmittel bis hin zu den Annehmlichkeiten des Lebens aus den inneren und äußeren Abhängigkeiten von der Natur. Kant schließt die Geschichte der Menschheit zwar an die Naturgeschichte an, besteht aber zugleich auf der Trennung, indem er die Geschichte wesentlich als kulturelle Entwicklung auffasst. Wechselseitig ist diese Modellübertragung insofern, als sowohl aus der Naturgeschichte als auch aus der Geschichtstheorie Strukturmerkmale eingingen, die eine neue Ähnlichkeit erzeugten. Aus der Geschichtsphilosophie stammt die Idee des Fortschritts, die nun in die Natur des Menschen verlegt und dort als naturgegebene Anlage stilisiert wird. Das Modell dieser Naturanlage stammt jedoch aus der zeitgenössischen Biologie, da es die Struktur von Keim und Pflanze bzw. von Samentierchen und Tier besitzt. Nach der Präformationstheorie bedeutet dies, dass 17 Bernhard Le Bovier de Fontenelle: Exkurs über die Alten und die Modernen. In: ders.: Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1971, S. 12 ff.; Nicolas-Antoine Boulanger: Œuvres de Boulanger. Paris 1792. 18 Adam Ferguson: Principles of Moral and Political Sciences. Edinburgh 1792, Repr. New York 1973, S. 205; ders.: Versuch über die Geschichte, S. 106. 19 Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb. Göttingen 1791, S. 92. 20 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 36 f.
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schon alle späteren Formen und Funktionen en miniature im Keim enthalten sind. Nach der Theorie der Epigenese sind es »interne Gussformen«, die das Lebewesen in seiner Entfaltung steuern.21 In jedem Fall ist damit die zukünftige Entwicklung vorherbestimmt; es kann sich nur herausbilden, was im Keim schon angelegt ist. Kant hat diesen Vorgang so treffend als »Auswicklung« bezeichnet. Wird nun dieses Keimmodell in die Fortschrittstheorie übertragen, so stellt sich auch die Menschheitsgeschichte als ein Prozess der bloßen Entfaltung dar. Die Geschichte vermag demnach nur dasjenige hervorzubringen, was in den Menschennaturen bereits vorhanden ist. Im Grunde kann auf diese Weise nichts wirklich Neues entstehen. Diese Beschränkung des Historischen korrespondiert wiederum mit einem reformistischen Grundzug der aufklärerischen Geschichtsphilosophie. Ob diese Gründe noch einmal für die biologische Restriktion selbst verantwortlich gemacht werden können, ist eine Frage, die sich wohl kaum beantworten lässt. Wie dem auch sei, hier zeigt sich, in welchem Maße der Kontext, in den übertragen wird, das Übertragene zu selektieren vermag.
Perfektionierung ohne Telos An dieser Stelle macht sich eine eigenartige Ambivalenz bemerkbar, die mir typisch für die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts zu sein scheint. Auf der einen Seite verbindet sich mit der Geschichtsphilosophie der Aufklärung die berühmtberüchtigte Teleologie der Geschichte, die im soeben erläuterten Modell der Perfektibilität zum Ausdruck kam. Die Aufklärer nehmen eine verschämte Teleologie in Anspruch, um der Geschichte eine Richtung und einen halbwegs sicheren Verlauf zuschreiben zu können. Auf der anderen Seite verstehen die Aufklärer ihre neue Wissenschaft als erklärende Historiographie, die sich an den zeitgenössischen Naturwissenschaften orientiert. Ihrem Selbstverständnis nach wollen Aufklärer wie Montesquieu, Voltaire, Turgot oder Adam Smith und Ferguson in erster Linie die Ursachen historischer Veränderungen erforschen. »In diesem Sinn umfaßt die Universalgeschichte«, schreibt etwa Turgot, »die Betrachtung der aufeinander folgenden Fortschritte der menschlichen Gattung und der einzelnen Ursachen, die dazu beigetragen haben.«22 Dabei stellt sich dieser Typ der kausalen Erklärung in der konkreten Durchführung als wesentlich differenzierter heraus als die programmatischen Ankündigungen. Keine ›Kette‹ von Ursachen, sondern Erklärungen, welche die Bedingungen der Möglichkeit von Entwicklungen beschreiben. Zu diesen Bedingungen gehören 21 22
Buffon: Histoire naturelle, S. 117 ff. Turgot: Über die Fortschritte, S. 169.
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ökonomische Veränderungen, auf dem Gebiet der Technik und Wissenschaften vor allem die gegenständlichen Mittel des Handelns. In den Wissenschaften misst man den gegenständlichen Instrumenten eine wesentliche Bedeutung bei. Für die Mathematikgeschichte weisen Goguet und Condillac nach, wie die Menschen durch den Gebrauch gegenständlicher Repräsentanten – zuerst durch die Finger der Hand und dann durch Rechensteine – das Zählen und Rechnen lernen und mittels dieses praktischen Umgangs zu theoretischen Ergebnissen – etwa die Erfindung der Null als Leerstelle auf einem Rechenbrett – gelangen, die der reine Intellekt sich hätte niemals ausdenken können.23 In Condillacs Worten: »Aber man muß beachten, daß die Erfindungsmethode schneller vorankommen kann als die Erfinder selbst.«24 Im strengen Sinn vervollkommnet sich nach diesem Konzept gar nicht der »menschliche Geist«, wie in unzähligen zeitgenössischen Titeln verkündet wird, vielmehr werden die Hilfsmittel immer effektiver. Darin besteht die Paradoxie einer derartigen Technik- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Es gehört zur Stärke dieser Theorie, für diese Art Fortschritt eine plausible Erklärung anzubieten. Wenn man wie Fontenelle unterstellt, dass die Natur der Menschen zu allen Zeiten gleich und dass der menschliche Verstand von Natur aus relativ beschränkt sei, dann können die bisherigen Fortschritte und vor allem deren beobachtbare Beschleunigung nur durch die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel erklärt werden, die sich in dem Maße vermehren und verbessern, in dem auch der Schwierigkeitsgrad der jeweils zu lösenden Probleme zunimmt.25 Diese phantastische Macht der Werkzeuge, Instrumente und Methoden rührt demnach aus deren Potenzen, Sinnesorgane zu verstärken sowie bisherige Erkenntnisresultate zusammenzufassen und damit das umfangreicher und komplexer werdende Wissen leichter begreifbar zu machen. Hilfsmittel, die sich in einem Gebiet bewährt haben, lassen sich auf andere Gegenstände anwenden und auf diese Weise verallgemeinern. Dadurch können sogar neue Objektbereiche entstehen. Fernrohr und Mikroskop sind dafür schlagende Beispiele. Diese Instrumente erlauben es nicht nur, bereits anvisierte Ziele besser zu erkennen, sondern erweitern wesentlich den Wahrnehmungshorizont und verändern damit letztlich auch die Ziele menschlicher Erkenntnis. Hinter solchen Beobachtungen steht die generelle Einsicht, dass die Mittel der Technik weiter reichen als die ursprünglichen Absichten. Die gegenständlichen Instrumente offenbaren während ihres Gebrauchs immer mehr und andere Möglich23
Goguet: De l’origine des lois, Bd. 1, S. 199 ff.; Etienne Bonnot de Condillac: La langue des calculs. Paris 1798 (Œuvres, Bd. 23), S. 9 ff. 24 Condillac: La langue des calculs, S. 221. 25 Bernard Le Bovier de Fontenelle: Vorrede über den Nutzen der Mathematik und der Naturwissenschaften. In: ders.: Philosophische Neuigkeiten, S. 277 ff.; sowie ders.: Exkurs über die Alten und die Modernen. In: Ebd., S. 243.
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keiten, als zur Zeit der Planung und Herstellung bezweckt waren. Sie vergrößern den Horizont der Gebrauchsmöglichkeiten, indem sie diese überschießenden Potenzen verkörpern. Und im Nachweis eines derartigen Überschusses besteht die neue Art historischer Erklärung. Die Erfindungen werden längst nicht mehr in Form einer Kausalkette aneinandergereiht, sondern stellen sich als gegenständliche und kognitive Bedingungen für erweiterte Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten dar. Ohne dieses Begründungsverfahren hätten die Aufklärer den erwähnten Schritt zur Geschichtstheorie nicht vollziehen können. Genau dasselbe Erklärungsmuster lässt sich indessen auf ökonomischem Gebiet nachweisen. Denn diese Geschichtsphilosophie beschränkt sich nicht auf einzelne Fortschritte von Wissenschaft und Technik; im Zentrum steht vielmehr die Abfolge technisch-ökonomischer Stadien. Bereits Montesquieu unterschied zwischen Jägern, Hirten, Ackerbauern und industrietreibenden Völkern, aber erst Turgot und Smith transformieren diese Subsistenzweisen in einen Entwicklungszusammenhang. Das Entscheidende ihrer Argumentation liegt darin, dass der Arbeitsbegriff, den Turgot und Smith in den historiographischen Diskurs übertragen, längst aus einer elaborierten Sozialwissenschaft stammt und damit theoretisch vermittelt ist. Darüber hinaus wird ein analytisches Instrument bereitgestellt, um ökonomische Fortschritte feststellen und begründen zu können. Wiederum ist es die Kategorie des Überschusses, mit deren Hilfe die Übergänge von einem Stadium in das andere erklärt werden: Familien oder kleine Völker – führt Turgot aus –, die weit voneinander entfernt leben, weil sie einen riesigen Raum zu ihrer Ernährung benötigen: das zeichnet das Stadium der Jäger aus. […] Überall, wo (bestimmte) Tiere vorkamen, dauerte es nicht lange, bis sich das Hirtenleben einstellte: die Rinder und Schafe in Europa, die Kamele und Ziegen im Orient, die Pferde in der Tartarei und die Rentiere im Norden. […] Das Hüten der Herden ist eine Last, welche die Jäger nicht haben, und die Herden ernähren mehr Menschen, als man zu ihrer Betreuung braucht. […] Die Hirtenvölker, die sich in fruchtbaren Ländern aufgehalten haben, sind wahrscheinlich als erste zum Stadium der Ackerbauern übergegangen. […] Außerdem ernährt der Boden bei ihnen mehr Menschen, als zur Kultivierung nötig sind. Folglich gibt es Müßiggänger, Städte, Handel, all die nützlichen und angenehmen Künste; daher gibt es Fortschritte auf allen Gebieten.26
Achtet man auf die implizite Art der Erklärung bei Turgot, ist es der jeweils erwirtschaftete Überschuss an Nahrungsmitteln, der das nächsthöhere Niveau ermöglicht, weil er Menschen für die entwickeltere Tätigkeit freisetzt. Ohne die ökonomische Theorie der Physiokraten hätte das Kriterium für eine solche Begründung gar nicht zur Verfügung gestanden. Denn erst die Analyse von Wirtschaftszyklen erlaubt es, einen quantitativen Wertzuwachs analytisch zu fassen und damit ein ›sur26
Turgot: Über die Fortschritte, S. 171–175.
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plus‹ zu identifizieren, das als Bedingung weiterer Fortschritte interpretiert werden kann. Demnach setzt sich der Fortschritt aus zwei Bewegungen zusammen: aus dem Zyklus der Reproduktion und aus dem gleichzeitigen Zuwachs des Reichtums. So bildet die erweiterte Reproduktion das grundlegende Modell dieser Geschichtstheorie. In seinen Lectures on Jurisprudence leitet Adam Smith daraus ein allgemeines Entwicklungsgesetz ökonomischen Fortschritts ab: Jeder Handel erfordert eine Reserve von Nahrung, Kleidung und einen Ort zur Aufbewahrung. Diesen Fall vorausgesetzt, daß in jedem Land eine Reserve von Nahrung, Kleidung und Lagerung vorhanden ist, muß die Zahl derjenigen Menschen, die dafür beschäftigt werden, im rechten Verhältnis dazu stehen.27
Wie Turgot setzt Smith eine »Reserve«, d. h. einen Überschuss voraus, um zu erklären, wie Menschen in die Lage versetzt werden, sich einer avancierteren Subsistenzweise wie dem Handel widmen zu können. Sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet ähnelt sich das Muster kausaler Erklärung, so dass eine wechselseitige Modellübertragung vermutet werden darf. Der gemeinsame Typus besteht längst nicht mehr in der Konstruktion linearer Kausalketten, wie die methodologischen Ankündigungen befürchten ließen; vielmehr geht es um den Nachweis gegenständlicher Voraussetzungen für erweiterte Handlungsmöglichkeiten, mithin von Bedingungen der Möglichkeit weiterer Entwicklungsphasen. Hier wird nicht etwa ein bestimmtes Schema in eine bereits vorhandene Geschichtskonzeption implantiert; vielmehr ist die Theorie der Universalgeschichte durch die politische Ökonomie überhaupt erst möglich geworden. Für diese These spricht auch der biographische Umstand, dass die Theorie der technisch-ökonomischen Stadien zuerst von den Wirtschaftstheoretikern Turgot und Smith entwickelt wurde. Der Zusammenhang von Ökonomie und Geschichte ist für die Fortschrittsidee der Aufklärung konstitutiv. So hat eine neue Sozialwissenschaft der Geschichtsphilosophie zum Durchbruch verholfen. Thema ist nicht mehr die Serie singulärer Fortschritte, sondern die Abfolge bestimmter Gesellschaftsformen. Der Fortschritt wird auf diese Weise zu einer soziologischen Kategorie. Zusammenfassend stelle ich fest: Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung lässt sich nicht auf die Denkfigur der Teleologie reduzieren. In der Stadientheorie werden Gründe angegeben, die ausdrücklich nicht teleologisch konstruiert sind. Es werden weder Handlungszwecke der beteiligten Individuen unterstellt, als ob etwa die Hirten das Ackerbaustadium mit einer vorausschauenden Absicht ange27
Adam Smith: Lectures on Jurisprudence. Hrsg. v. R. L. Meek, D. D. Raphael, P. G. Stein. Oxford 1978 (Works, Bd. 5), S. 498, vgl. S. 492.
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strebt hätten, noch gibt es in diesem Kontext Hinweise auf eine überindividuelle Instanz, die dabei auf ein allgemeines Ziel hin hätte einwirken können. Stattdessen werden die Bedingungen für erweiterte Handlungsmöglichkeiten analysiert. Diese Art Fortschritt hat kein Endziel, er besteht in einem fortdauernden Überschreiten des jeweils Erreichten mit offenem Ausgang. Freilich sind auch die Grenzen dieses Schemas sichtbar. Es werden lediglich die Möglichkeitsbedingungen für eine im Grunde offene Entwicklung nachgewiesen. Obwohl es sich dabei um ein universelles Prinzip handelt, das für die gesamte Geschichte gelten soll, bleibt doch die historische Entwicklung im Ganzen unbegreifbar. Das anfangs angekündigte Programm einer Universalgeschichte ist im Rahmen einer erklärenden Historiographie offensichtlich nicht einlösbar.
Neuzeitliche, moderne und postmoderne Aufklärung Verallgemeinert man diese Erfahrungen auf den Feldern Sprache, Gesellschaft und Geschichte, lässt sich eine Grundrichtung erkennen.28 Es wurden nicht allein neue Gegenstandsbereiche entdeckt, sondern mit diesen zugleich ein grundsätzlich neues Verständnis menschlicher Vernunft gewonnen. Es waren die Entäußerungen oder Vergegenständlichungen der Vernunft, die jetzt eine bestimmende Rolle spielten. Sie beschränkten sich nicht auf die herkömmliche Ausdrucksfunktion, sondern übten umgekehrt einen rückwirkenden Einfluss auf menschliches Denken und Handeln aus. An den sprachlichen Zeichen, gegenständlichen Repräsentanten und wissenschaftlichen Instrumenten, die als Erkenntnismittel fungierten, ließen sich kognitive Strukturen ablesen, die gerade nicht antizipierbar waren. Ökonomie und Geschichte führten zu Ergebnissen, die von den handelnden Menschen weder bezweckt noch vorhergesehen wurden. Solche ›unbeabsichtigte Nebenfolgen‹ konnten damals wie heute nicht selten zur Hauptsache werden. Das aufklärerische Vernunftmodell enthielt gleichermaßen ein für Wissenschaft, Technik und Ökonomie gültiges Deutungsmuster historischer Entwicklung: Die moderne Zivilisation eröff nete neue Aktionsräume, ohne dass die daran Beteiligten diese Möglichkeiten direkt anstrebten oder bereits als natürliche Anlagen besäßen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand also eine Philosophie, in der dasjenige zum Vorschein kam, was wir heute Moderne nennen. Im engeren Sinn ›modern‹ war die Rücknahme überzogener rationalistischer Erklärungsansprüche, die Absage an metaphysische Systeme und die Orientierung an Wahrnehmung und 28
In diesem letzten Abschnitt spitze ich thesenartig zu, was ich an anderer Stelle detailliert ausgeführt habe. Vgl. Verf.: Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin 2010, S. 27–53.
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Erfahrung, mithin auch die Wahrung der Grenzen einer rein spekulativen Vernunft. Diese neue Zurückhaltung galt auch für das Gebiet des Sozialen und Historischen. Der Liberalismus drückte nicht nur die Forderung aus, den Wirtschaftskreislauf gewähren zu lassen, sondern ebenso die Erkenntnis, dass sich das ökonomische System einer direkten Planung und Steuerung entzieht. Auf ähnliche Weise legte die säkulare Geschichtsphilosophie die Erfahrung zu Grunde, dass die Geschichte im Ganzen ein kontingentes Geschehen ist. Diese Unterscheidung zwischen Rationalismus und Moderne blieb sowohl bei einigen postmodernen Kritikern der Aufklärung als auch bei ihren Verteidigern unbeachtet. Hier zeigte sich nicht nur der von Philosophiehistorikern monierte Mangel, dass man die konkrete Vielfalt der historischen Epoche der Aufklärung zu wenig würdigte, sondern darüber hinaus das in systematisch-philosophischer Hinsicht folgenreiche Defizit, dass man die Entstehung unterschiedlicher Denktypen, die man aus heutiger Sicht als Aufklärung und Moderne bezeichnen kann, innerhalb der historischen Epoche der Aufklärung vernachlässigte. Denn die Anhänger der Postmoderne griffen häufig unter dem Titel einer Kritik der Moderne lediglich Positionen vernunftgesteuerter Aufklärung an, indem sie etwa die Ideale eines autonomen Subjekts oder einer geschichtsmächtigen Vernunft für hoffnungslos überholt erklärten, ohne zu beachten, dass genau diese Ideen bereits im 18. Jahrhundert empfindlich relativiert worden waren und dass sich somit die Aufklärung selbst zu einem nicht unerheblichen Teil in die Richtung einer Moderne bewegte, die von der postmodernen Kritik nicht mehr getroffen wird. Auf der Gegenseite boten die Verteidiger der Moderne gegen die Postmoderne nur ein Spiegelbild auf, indem sie das ›Projekt der Moderne‹ bruchlos in die Tradition der Aufklärung stellten und damit wieder nur die in Frage gestellten Ideale – wie die Einheit der Vernunft oder die Autonomie des Individuums – ins Feld führten. Da wundert es nicht, dass derartige Appelle, an einer mit der Aufklärung identifizierten Moderne festzuhalten, sich als ziemlich wirkungslos erwiesen, reichten doch die bemühten Ideale weder zur Legitimierung der Moderne noch zur Abwehr der postmodernen Kritik aus. Im Zuge der neueren Diskussion über das Verhältnis von Aufklärung und Postmoderne sind es nun die ›Postmodernen‹ selbst, die bereits in der historischen Epoche der Aufklärung einige Aspekte der postmodernen Philosophie entdecken. Aus der Perspektive eines Differenzdenkens zeigt sich, dass die Bewegung der Aufklärung weit weniger einheitlich war, als früher angenommen wurde, und dass ihr Gesamtphänomen in eine Vielzahl regionaler und kultureller Strömungen aufgefächert werden muss. Parallel zu dieser allgemeinen Pluralisierung der Aufklärung treten auch innerhalb der einzelnen Disziplinen wesentliche Differenzen zum Vorschein, die in der vorangegangenen Forschung verborgen blieben oder zumindest weniger berücksichtigt wurden: zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Natur
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und Kultur, die Wahrnehmung eines nicht mehr mechanistischen, sondern ansatzweise organischen Naturbildes, die Diskursanalysen zur Geschlechterdifferenz, der verstärkte Blick auf die Beschreibung kultureller Vielfalt und interkultureller Transfers und damit verbunden die Differenz zwischen der naturwissenschaftlichen und spezifisch geisteswissenschaftlichen Methode der vergleichenden Kulturgeschichte. Auf diese Weise erweitert sich das Spektrum innerhalb der historischen Epoche der Aufklärung. Angesichts des neuesten Forschungsstandes steht nicht nur fest, dass die historische Epoche der Aufklärung eine Fülle bisher unbekannter Facetten aufweist; vielmehr ist auch festzustellen, dass die Philosophie des 18. Jahrhunderts bereits verschiedene Denktypen enthält, mit deren Hilfe sich die Pluralisierung bündeln lässt. Folgt man dieser Typisierung, kann man innerhalb dieser Epoche zwischen Aufklärung, Moderne und Postmoderne unterscheiden. Danach ist unter ›Aufklärung‹ in der unmittelbaren Tradition der Neuzeit das Ziel der Emanzipation und Autonomie des Menschen zu verstehen, unter ›Moderne‹ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Respektierung der Eigendynamik kultureller Systeme und die Beschränkung auf das realistisch Denkbare und Machbare, unter ›Postmoderne‹ die durchgängig zu beobachtende Anerkennung des Differenziellen und Marginalen. In diesem Sinn kann man zwischen einer spezifisch neuzeitlichen, modernen und postmodernen Aufklärung unterscheiden. Dabei repräsentieren die drei Denktypen keine aufeinander folgenden Phasen der Aufklärung, sondern die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Schichten eines übergreifenden Prozesses der Moderne. Mit dieser Typologie verbinde ich die Hoffnung, dass daraus auch Kriterien für die Grundsatzdebatte über die Aktualität der Aufklärung gewonnen werden können. Wenn bis vor kurzem der mangelnde Dialog zwischen Aufklärungsforschung und Aufklärungskritik beklagt wurde, so betriff t dieses Versäumnis durchaus beide Seiten. Denn nicht nur den postmodernen Kritikern ist vorzuwerfen, dass sie mit einem pauschalen Bild von Aufklärung operieren. Zu ergänzen ist der Vorwurf, dass auch diejenigen Philosophiehistoriker, die von der aktuellen Bedeutung der Aufklärung überzeugt sind, sich ein vereinfachtes Bild von der Kritik an der Aufklärung machen. Durch diese doppelte Verzerrung sind die erwähnten Polarisierungen entstanden, die weder der historischen Forschung noch der systematischen Theorie dienen. Wenn sich hingegen herausstellt, dass die Philosophie dieser Epoche imstande war, die verschiedenen Denktypen Aufklärung, Moderne und Postmoderne zu integrieren, sind die alten Gegensätze obsolet geworden. Damit öff net sich der Horizont für die Bildung eines integrativen Begriffs der Moderne.
Axel Rüdiger
Die Perfektibilität, das Subjekt und die Antinomie der praktischen Vernunft Eine Diskussion zwischen Immanuel Kant und Georg Forster
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rnst Cassirer hat darauf hingewiesen, dass es die Fortschritts- und Perfektibilitätsidee der Aufklärungsphilosophie im 18. Jahrhundert verkennen heißt, wenn sie auf einen bloßen »progressus in indefinitum« reduziert wird.1 So stehe dem quantitativen und dispersiven Effekt des geistigen Fortschritts in der Denkform der Aufklärung, der eine solche Interpretation nahe legen könnte, potentiell immer auch eine qualitative Rückwendung auf das universale Subjekt gegenüber; der unvollendete und fragmentierte Charakter einer beständigen Erweiterung des Wissens werde auf diese Weise ergänzt durch das Motiv der Vollendung, in welchem das Wissen selbstreflexiv auf das Subjekt bezogen und vereinheitlicht wird. Mit dieser Intervention wandte sich Cassirer gegen die mechanistisch-deterministische Denunziation der Aufklärung durch den philosophischen Konservativismus, der ihr ganz allgemein philosophische Konsequenz und Tiefgang absprach. Aber auch heute noch, wo mangelnde philosophische Tiefe gemeinhin nicht mehr als Problem gilt, werden beide Pole des aufklärerischen Fortschritts- und Perfektibilitätsdenkens gerne auseinandergerissen und gegeneinander ausgespielt. Entweder wird das Motiv des philosophischen Perfektionismus dazu benutzt, der Aufklärung totalitäre Ambitionen zu unterstellen,2 oder ihr wird umgekehrt eine philosophische Bescheidenheit gutgeschrieben, die sie zu einem ewig unvollendeten Projekt macht, das immer nur im Kommen ist.3 Die Entlastung vom Vorwurf des Totalitarismus scheint daher nur mit Hilfe ihrer Reduktion auf einen ›progressus in indefinitum‹ möglich, was die Aufklärung jedoch im Sinne Cassirers halbiert und darüber hinaus in die Nähe der melancholisch-attentistischen Ideologie rückt, die das emanzipatorische Begehren ewig aufschiebt, um dadurch faktisch die Mängel des gegenwärtigen Spätkapitalismus zu legitimeren. Was in beiden Aufklärungsversionen also verloren geht, 1
Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Mit einer Einleitung von Gerald Hartung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach. Hamburg 1998, S. 4. 2 Diese Perspektive verbindet Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1969, mit Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976. 3 Diese Interpretation liegt sowohl in einer dekonstruktivistischen als auch in einer habermasianischen Variante vor. Vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a. M. 1992, sowie Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990. Frankfurt a. M. 1981.
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ist die Idee eines revolutionären Subjekts, das die Aufklärung sowohl dynamisch vorantreibt als auch diese zugleich universalisiert und vollendet.4 In der Folge wende ich mich ganz im Sinne Cassirers gegen diese reduktionistischen Sichtweisen auf das Verhältnis von Aufklärung und Revolution, die sich in der Marginalisierung beziehungsweise Unterschlagung des Subjektes überschneiden. Als Angelpunkt dient dabei die Debatte zwischen Immanuel Kant und Georg Forster, in der es darum geht, wie sich die von Kant formulierte Antinomie der praktischen Vernunft auf die Geschehnisse der Französischen Revolution anwenden lässt und welche Form der Subjektivität aus der moralischen Pflicht entspringt, das Objekt der praktischen Vernunft (das ›höchste Gut‹) nicht nur zu begehren, sondern durch die Tat auch zu vollenden.
1. Die Kritik des Glücks bei Immanuel Kant und Georg Forster Vor Rousseau galt die Transformation affektiver menschlicher Leidenschaften in rationale Interessen unter den meisten Aufklärern als fortschrittlich, weil sie die exzessive Dimension von Subjektivität im Rahmen der neuen Kommerzgesellschaft und ihrer Anerkennungs- bzw. Anstandsrituale (civilité) tilgte und der politischen Ordnung damit eine kontinuierliche und konfliktfreie Entwicklungsperspektive jenseits des traditionellen Zyklenmodells aus Aufstieg, Krise und Niedergang versprach.5 Für Rousseau war der Fortschritt einer solchen Gesellschaft allerdings mit 4
In dieser Hinsicht lässt sich Cassirers Aufklärungsperspektive mit Hilfe eines an Jacques Lacan anschließenden Subjektbegriff s aktualisieren. Anstöße dazu leisten Dominik Finkelde: Exzessive Subjektivität. Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan. Freiburg, München 2015; Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt a. M. 2001, sowie Alenka Zupančič: Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan. Frankfurt a. M. 2001. 5 Siehe hierzu Albert Hirschmann: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a. M. 1980. Einen breiten Einblick in die Fortschrittsdebatte der Aufklärung bieten die Schriften von Johannes Rohbeck. Vgl. u. a.: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987, Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin 2010, sowie der Beitrag in diesem Band. Zur Spezifi k der deutschen Aufklärung siehe: Jörn Garber: Von der Menschheitsgeschichte zur Kulturgeschichte. Zum geschichtstheoretischen Kulturbegriff der deutschen Spätaufklärung. In: ders.: Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaftstheorie im Übergang zur Moderne. Frankfurt a. M. 1992, S. 409–433, Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriff s in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriff sgeschichte 24 (1980), S. 221–257, Reinhart Koselleck u. Christian Meier: Fortschritt. In: Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 351–423, sowie zuletzt Douglas Moggach: Freedom and Perfection: German Debates on the State in the Eighteenth Century. In: Canadian Journal of Political Science 42/4 (2009),
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dem Rückschritt der menschlichen Subjektivität erkauft, insofern die allgemeine Neutralisierung der menschlichen Affekte auch den moralischen Affekt für das sittlich Gute (Enthusiasmus) betraf, so dass die für das autonome Subjekt konstitutive Unterscheidung zwischen gut und böse verblasste. Den Fortschritt subjektiver Autonomie sah Rousseau stattdessen durch einen Mechanismus aus legalem Zwang und einer künstlich-heteronomen Bedürfnisbefriedigung (Glückseligkeit) ersetzt. Während er diese Widerspruchskonstellation, für die er den Begriff der perfectibilité prägte, im Kontext der modernen Gesellschaft jedoch nicht aufzulösen vermochte, entwickelte die Zivilisationstheorie der Spätaufklärung ein alternatives Erklärungsmodell, das gesellschaftlichen Fortschritt und subjektive Autonomie über die organische Spannung von mechanischer civilité und generativer civilisation verband.6 In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts durchläuft der Fortschrittsbegriff daher einen Bedeutungswandel, in dem die neutrale (zeitliche oder räumliche) Bedeutung des Begriffs einer Verbindung mit dem Begriff der Vervollkommnung weicht.7 Auch Kant griff dieses zivilisationstheoretische Modell im geschichtsphilosophischen Motiv der »ungeselligen Geselligkeit« auf und arbeitete es dann bei der Formulierung der Antinomie der praktischen Vernunft systematisch aus.8 Das mit der moralischen Vervollkommnung in der Zivilisationstheorie verflochtene Fortschrittsmotiv bezeichnet bei Kant nicht nur eine subjektive Praxis, sie erhält als Menschheitsgeschichte zugleich auch eine kollektive und historische Dimension und vergegenständlicht sich darüber hinaus in einem spezifischen Objekt, das Kant in seiner Moralphilosophie unter dem Namen des ›höchsten Gutes‹ behandelt. In seinen Vorlesungen über Moralphilosophie schildert er zunächst die verschiedenen Deutungen dieses definitiven Objektes des Begehrens aus der historischen Perspektive der unterschiedlichen moralphilosophischen Schulen.9 So habe der S. 1003–1023. Die Spannung von Aufklärung und Romantik bezüglich des Perfektibilitätsproblems kommt pointiert zur Darstellung bei Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität. Europäische Romantik und französische Revolution. Paderborn u. a. 1989. 6 Vgl. Michael Sonenscher: Sans-Culottes. An Eighteenth-Century Emblem in the French Revolution. Princeton 2008, S. 77–101. Siehe auch Michel Malherbe: Quelques considérations sur l’idée de civilisation. Hume et Ferguson. In: Bertrand Binoche (Hrsg.): Les équivoques de la civilisation. Seyssel 2005, S. 163–183, hier: S. 178–195; Jörg Fisch: Zivilisation, Kultur. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7. Stuttgart 1992, S. 679–774, sowie Jean Starobinski: Das Wort Zivilisation. In: ders.: Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1990, S. 9–64. 7 Vgl. Jean Starobinski: Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriff spaars. Frankfurt a. M. 2003, S. 311. 8 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 9), S. 31–50, hier: S. 44. 9 Vgl. Immanuel Kant: Vorlesungen über Moralphilosophie. In: Kants Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (fortan zit. als AA), Bd. 27.1. Berlin 1974, S. 247–252.
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Epikureismus das ›höchste Gut‹ in der ›Glückseligkeit‹ bestimmt, welche sowohl in der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung als auch im Streben nach individuellen Nutzen und Vorteil bestehe. Der Stoizismus hingegen definiere die sittliche ›Würdigkeit‹ als eigentlichen Inhalt des ›höchsten Gutes‹. Während die Epikureer die Sittlichkeit nur als Mittel bzw. Folge des Strebens nach physischen ›Glücksgütern‹ betrachteten, sahen die Stoiker umgekehrt die utilitaristische ›Glückseligkeit‹ nur als Folge des ›moralischen Gutes‹ der Sittlichkeit bzw. Würdigkeit. Beide kämen jedoch überein, das ›höchste Gut‹ als einen Gegenstand der Kunst zu betrachten, obgleich sie diese wiederum verschieden entweder als ›Klugheit‹ (Epikur) oder als ›Weisheit‹ (Zenon) bestimmten. Hiervon wich wiederum die dritte von Kant erwähnte moralphilosophische Schule ab, die sich auf die kynische Tradition im Anschluss an Diogenes zurückführt. Diese bestimmte das ›höchste Gut‹ nicht als einen künstlichen, sondern als einen natürlichen Gegenstand, der durch die natürliche Unschuld und die asketische Genügsamkeit im Genuss der Glückseligkeit erzeugt wird. Das anthropologische Muster des Kynismus ist daher auch nicht Epikurs ›kluger Mann von Welt‹ oder Zenons ›weiser Philosoph‹, sondern der ›natürliche Mensch‹. Welche Konsequenzen ergeben sich nun, wenn Kant diese Perspektiven auf das ›höchste Gut‹ im Kontext der Zivilisationstheorie des Fortschritts anwendet? Zunächst führt dies bei ihm zu einer dezidierten Ablehnung der inhaltlichen Bestimmung des ›höchsten Gutes‹ durch den Begriff des Glücks bzw. der Glückseligkeit, womit er sich zugleich sowohl gegen den neo-aristotelischen Eudämonismus als auch den merkantilen Epikureismus wandte, die sich im 18. Jahrhundert beide auf das Glück als letztem und unbedingtem Wert menschlichen Strebens beriefen. Der Glücksbegriff fungierte daher nicht allein als epikureischer Platzhalter des ›höchsten Gutes‹, er tauchte auch in der paternalistischen Staatszwecklehre des politischen Aristotelismus an zentraler Stelle auf. Während der epikureische Glücksutilitarismus eine zentrale Legitimationsfigur des merkantilen Frühkapitalismus war, der in Bernard Mandevilles Formel private vices, public benefits seinen populären Ausdruck fand, operierte der Eudämonismus in der Staatszwecklehre mit dem Glücksbegriff als einer paternalistischen Legitimationsformel, welche Herrschaft und Wohlfahrt auf die Fürsorge für unmündige und politisch passive Bürger gründete.10 Beide Glücksmotive überkreuzen sich im Modell der merkantilistischen Monarchie und der gemischten Regierungsform, wie sie paradigmatisch von Montesquieu formu-
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Vgl. hierzu Walter Euchner: Versuch über Mandevilles Bienenfabel. In: ders.: Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie. Frankfurt a. M. 1973, S. 74–131; Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glücks. Berlin, New York 2003 (Kantstudien. Ergänzungshefte, 142), sowie Frank Grunert: Die Objektivität des Glücks. Aspekte der Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung. In: ders. u. a. (Hrsg.): Aufklärung als praktische Philosophie. Tübingen 1998, S. 351–368.
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liert wurde.11 In der merkantilistischen Monarchie überschneiden sich polizeistaatlicher Paternalismus (»gute Policey«) und entfesselter Handelskapitalismus, wobei diese Schnittstelle insbesondere von den Finanzgeschäften des liberalen Adels repräsentiert wird. Es ist also keineswegs der Fall, dass sich paternalistischer Eudämonismus und utilitaristischer Kommerz im merkantilistischen Regierungsmodell ausschließen, wie oft in der liberalen Ideengeschichte behauptet, sie bilden vielmehr zwei Seiten ein und derselben Medaille. Es ist daher wichtig, Kants doppelte Frontstellung bei der Kritik des Glücksbegriffs zu berücksichtigen, um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, er wäre ein naiver Apologet der kapitalistischen Kommerzgesellschaft gewesen.12 In diesem Sinne wird »Glückseligkeit« von Kant zunächst ganz allgemein definiert, als »das Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet«.13 Ob diese »Annehmlichkeit« paternalistisch über Gaben oder über den Konsum von warenförmigen ›Glücksgütern‹ befriedigt wird, ist dabei nicht wesentlich, da beide Möglichkeiten für Kant keine moralische Autonomie zulassen, sondern auf eine Fremdbestimmung hinauslaufen. Sie sind beide mechanisch im Sinne der Theorie vom opus operatum, die vom subjektiven Antrieb (modus operandi) abstrahiert.14 Darüber hinaus befinden sich beide damit im Widerspruch zum post-rousseauistischen Zivilisationsbegriff, den Kant für die Ausarbeitung seines Aufklärungsbegriffs zugrunde legt.15 Kant sub11
Vgl. hierzu Michael Sonenscher: Before the Deluge. Public Debt, Inequality, and the Intellectual Origins of the French Revolution. Princeton 2007, S. 95–172. 12 Diese wird präzise herausgearbeitet von Kojin Katantani: Transcritique. On Kant and Marx. Cambridge, MA, London 2005, S. 121. 13 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 6), S. 129. 14 Als ›opus operatum‹ kritisierte der radikale Protestantismus die orthodoxe Anschauung von der objektiven und selbstwirksamen, des unmittelbaren Glaubens nicht bedürfenden Gegenwart Gottes z. B. in den bloßen Gnadenmitteln von Predigt und Sakrament. Vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005, S. 79–88. Deistische Versionen dieser Idee finden sich sowohl bei Malebranche als auch bei Spinoza in der Unterscheidung von ›natura naturata‹ und ›natura naturans‹, worüber eine atheistische Rezeption dieses ursprünglich heterodox-religiösen Konzepts möglich wurde. Siehe hierzu Giorgio Agamben: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2). Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Berlin 2010, S. 313–342. 15 Am Beginn seines Essays über Aufklärung dekliniert Kant beide Varianten durch: »Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden, das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.« Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 9), S. 51–61, hier: S. 53. Kants Aufklärungsbegriff wendet sich daher explizit gegen den delegierten Glauben im Sinne des ›opus operatum‹, bei dem der große Andere stellvertretende für das Subjekt glaubt. Mit Robert Pfaller kann Kants Aufklärungsbegriff mit der Kritik an einer solchen delegierten Interpassivität
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sumiert daher beide Optionen, die paternalistische Gabe und die merkantile Ware, unter den Begriff der Glückseligkeit, die aufgrund ihres empirischen Charakters als »ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip« bestimmt wird, »das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann«.16 Aus diesem Grunde kann Kant mit Recht feststellen, dass der Begriff der Glückseligkeit »ein so unbestimmter Begriff« ist, der die »Einbildungskraft« heteronom manipuliert und genau deshalb nicht als ein apriorisches und autonomes »Ideal der Vernunft« dienen kann.17 Trotz der heteronomen Indifferenz des Glücksbegriffes hält Kant allerdings das egoistische »Prinzip der eigenen Glückseligkeit« doch für »am meisten verwerflich […], weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die sie eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten, indem sie die Bewegungsursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen und nur den Kalkül besser ziehen lehren, den spezifischen Unterschied beider aber ganz und gar auslöschen«.18 Er geht sogar so weit, jeden Versuch, das pathologische Eigeninteresse als Triebfeder des Sittengesetzes auszugeben, als korrupten Inhalt des ›radikalen Bösen‹ zu bestimmen.19 Demnach handelt es sich bei der »Bösartigkeit«, die mit der »Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens« identisch ist, um den »Hang der Willkür zu Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen. Sie kann auch die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und, ob zwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betriff t) verderbt, und der Mensch darum als böse bezeichnet.«20 Das Radikalböse – das sich, wie Starobinski gezeigt hat, im Umfeld der Französischen Revolution mit dem Begriff der Reaktion liierte – erscheint hier keineswegs als ein dämonisch-irrationaler Gesetzesbruch, vielmehr drückt es sich in einer simplen und nur allzu leicht verständlichen kommerziellen Kalkulation aus, die Kant auch folgendermaßen zusammenfasste: »Ein jeder Mensch hat seinen Preis, für den er sich weggibt.«21 Die reaktionäre Bösartigkeit, die schwerer wiegt als jeder in Verbindung gebracht werden. Vgl. Robert Pfaller: Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Berlin, New York 2000. 16 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 133 f. 17 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 6), S. 47 f. 18 Ebd., S. 77. 19 Dieser Zusammenhang wird herausgearbeitet von Alenka Zupančič: Das Reale einer Illusion, S. 121–130. 20 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 7), S. 677. 21 Ebd., S. 688. Wenn Kant diese fi ktive Aussage einem englischen Parlamentarier in den
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Gesetzesbruch, besteht für Kant, wie etwa auch für seinen Anhänger Johann Benjamin Erhard, der diesem Gedanken in seiner Apologie des Teufels weiter nachgegangen ist, darin, das Gesetz, unter dem äußerlichen Mantel legaler Gesetzestreue, der Korruption zu unterwerfen.22 Deshalb wird die boshafte Anthropologie der Reaktion in ihrer Reinform vom vermeintlich unschuldigen homo legalis verkörpert, d. h., wie Alenka Zupančič schreibt, »jemand für den sich die Moralität auf die Frage der Gesetzmäßigkeit beschränkt« bzw. »der sich freiwillig ans Gesetz hält, solange er daraus irgendeinen Nutzen ziehen kann.«23 Tatsächlich ist der homo legalis bzw. der legalistische Bürger (bourgeois) nach Kants moralischem Maßstab derjenige verwerfliche Akteur, der den Antrieb zur Tugend mit dem des Lasters zugunsten des korrupten Kalküls zusammenwirft. Das ist der Hintergrund für das »Problem der Staatserrichtung«, bei dem laut Kant ein Volk von solchen »Teufeln« mit Hilfe von reziproken »Zwangsgesetzen« so organisiert werden müsse, dass das Gesetz trotz der allgemeinen bürgerlichen Pathologie nicht der egoistischen Korruption anheimfällt.24 Dies kann selbstverständlich keineswegs bedeuten, der Korruption freien Lauf zu lassen oder derselben mit Korruption zu begegnen.25 Die Kritik an der teuflisch-reaktionären Dimension der legalistischen Glücksideologie wird 1793 auch von Georg Forster, dem Weltumsegler und jakobinischen Repräsentanten der ersten demokratischen Republik auf deutschen Boden,
Mund legt, so bezeugt dies seine Skepsis gegenüber dem englischen Regierungssystem, das vielen Aufklärern als Archetypus der politischen Korruption galt. Zum Zusammenhang von Fortschritt, Reaktion und ›Radikalbösen‹ vgl. Jean Starobinski: Aktion und Reaktion, S. 311. 22 Für Erhard sind ›Einzelnheit‹, ›Eigennützigkeit‹ und ›Alleinfreiheit‹ die ›Momente‹ einer »boshaften Gesinnung«. Deren ›Maximen‹ lauten: »1) Sei nie wahrhaftig, und scheine es doch. […] 2) Erkenne kein Eigentum, aber behaupte, daß es heilig und unverletzbar sei, und eigne dir alles zu. […] 3) Bediene dich der Moralität anderer als Schwäche zu deinen Zwecken. […] 4) Verleite jedermann zur Sünde, während du die Moralität als etwas Notwendiges zu erkennen scheinst. […] 5) Liebe niemand. 6) Mache jeden unglücklich, der nicht von dir abhängen will. 7) Sei völlig konsequent, und lasse dich nie etwas gereuen.« Johann Benjamin Erhard: Apologie des Teufels [1795]. In: ders.: Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften. Hrsg. v. Hellmut G. Haasis. Frankfurt a. M. 1976, S. 109–134, hier: S. 121 f. Vgl. zu Erhard auch Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus, Tübingen-Jena (1790–1794), Bd. 2. Frankfurt a. M. 2004, S. 1189–1392. 23 Zupančič: Das Reale einer Illusion, S. 125. 24 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 9), S. 224. 25 Dieses Verständnis von Kants Staatsbegründung wird von liberalen Interpretationen verfehlt. Vgl. u. a. Otfried Höffe: Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Frankfurt a. M. 1987, S. 432 f.; Wolfgang Kersting: Kant über Recht. Paderborn 2004, S. 31 ff., sowie Peter Niesen: Volk-von-Teufeln-Republikanismus. Zur Frage nach den moralischen Ressourcen der liberalen Demokratie. In: Lutz Wingert u. Klaus Günther (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas. S. 583 ff.
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aufgegriffen und ganz im Sinne des revolutionären Republikanismus ausgedeutet.26 Forster verbindet, wie Kant, die Kritik am paternalistischen Eudämonismus mit der Kritik am kommerziellen Utilitarismus, die beide für ihn letztlich gleichermaßen in den politischen Despotismus münden. Die Ursachen dieses Despotismus sieht Forster, Rousseau folgend, wesentlich in der Manipulation der menschlichen Bedürfnisse durch die Glücksideologie. Denn wenn der Mensch die Befriedigung seiner Bedürfnisse entweder »von der Huld seines Herrn« oder ausschließlich aus der »Befriedigung seiner Naturbedürfnisse« mittels kommerzieller Glücksgüter erwartet, dann wird er zum »Sklav seiner Bedürfnisse« und damit »zur Beute aller, die ihn umgeben; er schleppt eine Kette, an der man ihn leiten kann, wohin man will.«27 Die pathologische Reduktion der Bedürfnisbefriedigung auf patrimoniale Gaben und kommerzielle Waren gehen auch bei ihm auf Kosten jenes autonomen und freiheitlichen Genusses, den er aus dem vitalistischen »Bildungstrieb« ableitet, und speist auf diese Weise allein den heteronomen Mechanismus des politischen Despotismus.28 Die Überwindung dieses doppelten Despotismus der Glücksideologie betrachtet Forster als wesentliche Aufgabe der Revolution. »Endlich«, so feiert Forster die jakobinische Phase der Revolution 1793, »scheint die Zeit gekommen, wo jenes lügenhafte Bild des Glücks, das so lange am Ziele der menschlichen Laufbahn stand, von seinem Fußgestelle gestürzt, und der ächte Wegweiser des Lebens, Menschenwürde, an seine Stelle gesetzt werden soll.«29 Sowohl für Kant als auch für Forster basiert die traditionelle ›Glückseligkeit‹ letztlich auf einer pathologisch-irregeleiteten Lust, welche das Subjekt scheinbar mit dem begehrten ›höchsten Gut‹ zu verbinden verspricht, faktisch aber den Zugang zu demselben effektiv versperrt. Die Glücksideologie verwandelt das begehrte ›höchste Gut‹ der Ethik aus einem Gegenstand der praktischen Vernunft in ein bösartiges 26
Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit. In: ders.: Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (fortan zit. als AA), Bd. X.1. Berlin 1990, S. 565–591. Zu Forster vgl. die Georg-Forster-Studien. Kassel 1997 ff., sowie zuletzt Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt. Berlin 2015. 27 Ebd., S. 570, 583 und 585. Bereits Rousseau hatte das ›Glück‹ (bonheur) diesbezüglich ausdrücklich vom ›Genuss‹ (jouissance) unterschieden. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung. Paderborn 1971, S. 57. 28 Der Begriff des ›Bildungstriebes‹ ist ein anthropologischer Schlüsselbegriff, den Forster von Johann Friedrich Blumenbach übernimmt. »Die ersten Organisationskräfte, man nennt sie plastisch mit den Alten, Seele mit Stahl, wesentliche Kräfte mit Wolf, Bildungstrieb mit Blumenbach, usw. wirken im Menschen dahin. Daß er sich selbst erhalten, und sein individuelles Dasein hier gegen alle äusseren Verhältnisse behaupten könne.« Georg Forster: Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit. In: AA, Bd. VIII. Berlin 1974, S. 185–193, hier: S. 187. Da der Bildungstrieb an der Schnittstelle von physischer und sittlicher Anthropologie operiert, schreibt ihm Forster sowohl natürliche als auch sittliche Qualitäten zu. Vgl. Georg Forster: Die Kunst und das Zeitalter. In: AA, Bd. VII, S. 17. 29 Forster: Über die Beziehung der Staatskunst, S. 591.
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und korrumpierendes Neidobjekt, das die Gesellschaft gleich einem Zankapfel spaltet und somit den korrupten Despotismus stützt. Aus dieser Erkenntnis heraus mobilisiert Kant den Begriff der »Kultur« gegen den zivilisierten Eudämonismus, wobei die ideologiekritische Funktion des Kulturbegriffs, wie er schreibt, zunächst nur »negativ« definiert ist, insofern er »in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden (besteht), wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen, indem wir uns die Triebe zu Fesseln dienen lassen«.30 Ähnlich wie bei Forster setzt die selbstbestimmte Wahlfreiheit auch für Kant eine Emanzipation vom heteronom-empirischen Lustprinzip voraus, auf welches sich sowohl der eudämonistische Paternalismus als auch der merkantilistische Utilitarismus stützen. Gegen das pathologische Lustgefühl von patrimonialem Eudämonismus und epikureischer Warenästhetik, das Kant in seinem Aufklärungsessay mit der bequemen Unmündigkeit gleichgesetzt hat, setzen beide mit »Kultur« bzw. »Bildungstrieb« auf die ideologiekritische Wirkung der stoischen Prinzipien von Würde und Selbstbeherrschung.31 Allerdings folgt aus dieser Absage an den patrimonialen wie utilitaristischen Eudämonismus nicht zwangsläufig, dass sich tugendhafte Sittlichkeit und sinnlichbegehrende Glückseligkeit generell ausschließen. Andernfalls hätte Kant wie Forster der pathologischen Glücksideologie nur eine wenig attraktive asketische Leidensethik entgegenzusetzen, die nicht weniger unter Despotismusverdacht stünde als der Eudämonismus des Ancien Régime. Wie moralische Kultur und Bildung mit einer materialistischen Sinnlichkeit jenseits von Heteronomie korrespondieren können, diskutiert Kant schließlich mit Hilfe der Antinomie der praktischen Vernunft. Es geht hierbei um die gemeinsame Möglichkeit eines nicht-pathologischen Begehrens mit dem sittlichen Genuss des ›höchsten Gutes‹.
2. Kants Antinomie der praktischen Vernunft und das Gesetz der Approximation Kant geht der Frage nach dem ›höchsten Gut‹ innerhalb seiner kultur- bzw. zivilisationstheoretischen Fortschrittsperspektive systematisch in der Kritik der praktischen Vernunft nach. Da er das ›höchste Gut‹ dort als einen komplexen Gegenstand iden30
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 8), S. 554. Zur Dialektik von Kultur und Bildung in der deutschen Spätaufklärung s. neben Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1994, insbesondere auch Raymond Geuss: Kultur, Bildung, Geist. In: ders.: Morality, Culture, and History. Essays on German Philosophy. Cambridge 1999, S. 29–50. 31 Für Kant sind ›Kultur‹ und ›Disziplin‹ durchaus Korrespondenzbegriffe. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 554.
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tifiziert, zerlegt er diesen analytisch zunächst in seine verschiedene Bestandteile, wobei er ein »oberstes« und ein »vollendetes Gut« unterscheidet.32 Erst zusammengenommen bilden beide Teile das ›höchste Gut‹. Das »oberste Gut« wird für sich genommen als Gegenstand der Tugend bestimmt und ist als solcher »diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, d. i. keiner andern untergeordnet ist (originarium)«.33 Das »vollendete Gut« wird hingegen als dasjenige Objekt definiert, in dem sich die »völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetz« manifestiert und ist insoweit »dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum)«.34 Wir haben es bei den beiden Bestandteilen des ›höchsten Gutes‹ also mit einer ursprünglichen Voraussetzung (›oberstes Gut‹) und einem vollendeten bzw. perfekten Resultat (›vollendetes Gut‹) zu tun, die beide nur dann zusammenkommen, wenn die Tugend zur Triebfeder des Vollendeten bzw. Perfekten wird. Dass die »Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein) die oberste Bedingung alles dessen (ist), was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit«,35 hat Kant in der Analytik – dem ersten Buch der Kritik der praktischen Vernunft – zu beweisen versucht. Dort hat er mit Hilfe der Unterscheidung von »pflichtmäßigem« Handeln und Handlungen »aus Pflicht«, die der Unterscheidung von »Legalität« und »Moralität« entspricht, die unbedingte Priorität der Moral vor dem pathologischen Glücksstreben eingeführt sowie deren qualitative Verschiedenheit im Sinne einer Inkompatiblität proklamiert.36 Die Unterscheidung von »Moralität« bzw. dem Handeln »aus Pflicht« und »Legalität« bzw. dem »pflichtgemäßen« Handeln folgt dem Vorbild der theologischen Opposition von opus operatum und opus operantis bzw. ihrer säkularisierten gesellschaftstheoretischen Variante von civilité und civilisation (›Cultur‹). Während dem »pflichtmäßigen« Handeln, laut Kant, durchaus pathologische Begierden nach äußerlich-empirischen Gegenständen und Lüsten zugrunde liegen können, die gemäß dem Sittengesetz aber legal sind, sind Handlungen »aus Pflicht« nicht auf äußere empirische Objekte oder Inhalte gerichtet und müssen über ihre Legalität hinaus auch dem inneren moralischen ›Geist‹ des Gesetzes entsprechen; ihre Triebfeder kann daher auch keine pathologische Begierde nach empirischmateriellen Objekten oder Inhalten sein, sondern besteht ausschließlich in der inhaltslosen und daher reinen Form des Gesetzes. Zwischen der »Legalität« und der »Moralität« besteht also kein kontinuierlicher bzw. gradueller Übergang, wie es noch in der älteren Unterscheidung zwischen unterem und oberem Begehrungsvermögen der Fall war, vielmehr setzt Kant zwischen beiden Zuständen einen prinzipiellen 32 33 34 35 36
Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 238. Ebd. Ebd., S. 238 u. 252 f. Ebd., S. 238. Ebd., S. 203.
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Bruch, der durchaus die Kriterien einer sittlichen ›Revolution‹ erfüllt.37 Aus diesem Grunde sprengt die Moralität notwendig den pathologischen Rahmen der Legalität, was bedeutet, dass die Moral niemals auf das bloß pflichtgemäße Prinzip der Legalität reduziert werden kann. Hieraus folgt nun aber nicht, die formale Ethik Kants besäße nun gar keine Triebfeder mehr und müsste daher ohne jede Stütze in der Sinnlichkeit auskommen. Vielmehr muss die sittlich-reine Triebfeder, die Kant im Übergang von der Legalität zur Moralität einführt, den pathologischen durch einen praktischen Antrieb ersetzen, was nichts anderes meint, als dass die »echte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft« mit der Form des Gesetzes selbst identisch sein muss.38 Erst dann besteht die Materialität der Sittlichkeit weder im pathologischen Begehren empirischer Objekte noch im delegierten Genießen des opus operatum, bei dem das Individuum die Bequemlichkeit seiner passiven Teilnahmslosigkeit als Unmündigkeit genießt, sondern in der spezifisch produktiven Materialität der praktischen Form des Antriebs (modus operandi). Demnach kann ausschließlich das moralische Gesetz selbst die dynamische Triebfeder der Handlungen ›aus Pflicht‹ sein. Wie aber soll dies möglich sein? Wie kann etwas Triebfeder von Tugend und Sittlichkeit sein, wenn es doch erst deren Ergebnis ist? Wie kann, so könnte mit Friedrich Schiller gefragt werden, die Freiheit Bedingung der Freiheit sein, ohne sich im Zirkel von theoretischer und praktischer Kultur zu verfangen?39 Diese Frage sucht Kant in der Dialektik, dem zweiten Teil der Kritik der praktischen Vernunft, zu beantworten. Dort behandelt er an Stelle des in »Legalität« (»pflichtmäßig«) und »Moralität« (»aus Pflicht«) gespaltenen »obersten Gutes« nun 37
Für Kant ist der Begriff der Revolution ursprünglich ein moraltheologischer Begriff, der sittlich qualitativ über den Begriff der Reform steht. »Das aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: Das kann nicht durch allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; […].« Kant: Die Religion, S. 698 [Hervorh. i. O.]. 38 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 211. Kants moralischer Formalismus darf an dieser Stelle nicht mit dem formalistischen ›Legalismus‹ verwechselt werden, da dieser als Pathologie ausgeschlossen ist. Vielmehr entwickelt Kant die aristotelische Distinktion von ›causa formalis‹ und ›causa materialis‹ weiter. »Kant zielt nicht einfach darauf ab, jede Spur der Materie aus dem Bestimmungsgrund unseres Willens zu tilgen, sondern vielmehr darauf, dass die Form selbst ›materiell‹ ist, dass sie als ›Materie‹, als Triebfeder unseres Handelns fungiert.« Zupančič: Das Reale einer Illusion, S. 27. 39 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Peter-André Alt u. a. (Hrsg.): Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. 5. München, Wien 2004, S. 592. Schillers vermeintlich ästhetische Lösung des Problems beruht allerdings auf einem Unverständnis der dynamischen Materialität der Form bzw. des ›Formtriebs‹. Ebd., S. 662.
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das »ganze und vollendete Gut«, in dem der Wille dem moralischen Gesetz völlig angemessen sein soll. Bestand das Hauptproblem der Analytik zuvor darin, die Aufnahme des obersten bzw. unbedingten Motivs der »Moralität« bzw. der »Freiheit« im kausalen Zusammenhang der empirisch bedingten Handlungen des Menschen zu erklären, so wird das Unbedingte in der Dialektik jetzt nicht mehr aus der Perspektive der Kausalität betrachtet, sondern vielmehr als eine »absolute Totalität der Bedingungen« gesetzt.40 Obwohl die unbedingte Totalität des »vollendeten Gutes« nach Kant praktisch postuliert werden muss, ist diese doch dem sinnlich-menschlichen Subjekt aufgrund seines beschränkten Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparates absolut unzugänglich. Diesbezüglich besteht bei Kant eine direkte Analogie zwischen dem ›vollendeten Gut‹ in der Kritik der praktischen Vernunft und dem ›Ding an sich‹ in der Kritik der reinen Vernunft. Gleichwohl muss die praktische Vernunft laut Kant »zu dem praktisch-Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte (suchen), und zwar nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts.«41 Der Gegenstand der praktischen Vernunft ist insofern zwar Resultat der praktischen Vernunft, dieser aber paradoxer Weise absolut unzugänglich. Das »oberste Gut« aus der Analytik kann für sich alleine genommen, wie Kant betont, auch deshalb noch nicht das ›höchste Gut‹ sein, weil ihm die Dimension der »Glückseligkeit« fehlt.42 Eine solche nicht-pathologische ›Glückseligkeit‹ kommt erst mit dem »ganze(n) und vollendete(n) Gut« hinzu. Denn erst »Tugend und Glückseligkeit zusammen (machen) den Besitz des höchsten Guts in einer Person« aus.43 Das »höchste Gut«, bestimmt als Objekt der reinen praktischen Vernunft, beinhaltet demnach notwendig die »Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit«,44 wobei es sich dabei freilich nicht mehr um die zuvor so scharf kritisierte ›Glückseligkeit‹ im pathologischen, sondern nur um einen sinnlichen Genuss im praktischen Sinne handeln kann. D. h. um eine »Glückseligkeit«, die, wie Kant es ausdrückt, »dem, der sie besitzt, zwar angenehm (ist), aber […] jederzeit das moralische gesetz-
40
Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 234. Ebd., S. 235. 42 Kant verweist an dieser Stelle auf eine ambivalente »Zweideutigkeit«, die dem »Begriff des Höchsten« immanent ist und deren Nichtberücksichtigung notwendig zu einseitigen Interpretationen führe: »Das Höchste kann das Oberste (supremum) oder auch das Vollendete (consummatum) bedeuten. Das erstere ist diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, d. i. keiner andern untergeordnet ist (originarium); das zweite dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum).« Ebd., S. 238. 43 Ebd., S. 238 f. 44 Ebd., S. 239. 41
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mäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt«.45 Offensichtlich berücksichtigt Kant hier also sehr wohl das sinnlich-materielle Bedürfnis als konstitutives Moment der praktischen Vernunft, so dass der Vorwurf des asketischen Purismus gegen seine Ethik an dieser Stelle deplaziert erscheint. Die Verwendung stoischer Argumente gegen pathologischen Hedonismus und delegiertes Genießen geht also nicht so weit, den angenehm-sinnlichen Charakter der Bedürfnisbefriedigung generell zu diskreditieren. Entscheidend ist hier vielmehr, dass die spezifisch sinnliche Materialität der praktisch-moralischen Bedürfnisbefriedigung weder von beliebigen empirischen Objekten noch von der »Interpassivität« des opus operatum herrührt, sondern von jenem höchsten Objekt der praktischen Vernunft, das paradoxerweise zugleich notwendig als auch unmöglich ist.46 Der sinnliche Genuss resultiert deshalb aus der bloßen Form des sittlichen Antriebs bzw. dem Moralgesetz. Bei der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit im »höchsten Gut« handelt es sich insofern sowohl um eine »logische Verknüpfung« (›analytisch‹) als auch um eine »reale Verbindung« (›synthetisch‹), wobei, wie Kant betont, »jene nach dem Gesetze der Identität, diese der Kausalität betrachtet wird.«47 Diese Problematik fasst Kant folgendermaßen zusammen: Die Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit kann also entweder so verstanden werden, daß die Bestrebung tugendhaft zu sein und die vernünftige Bewerbung um Glückseligkeit nicht zwei verschiedene, sondern ganz identische Handlungen wären, da denn der ersteren keine andere Maxime, als zu der letztern zum Grunde gelegt zu werden brauchte: oder jene Verknüpfung wird darauf ausgesetzt, daß Tugend die Glückseligkeit als etwas von dem Bewußtsein der ersteren Unterschiedenes, wie die Ursache eine Wirkung, hervorbringe.48
Diese Verknüpfung von Sittlichkeit und praktischem Genuss (Glückseligkeit) ist jedoch nicht unproblematisch und konstituiert insofern auch eine Widerspruchs45
Ebd. Vgl. Robert Pfaller: Interpassivität. Damit kommt Kant hier dem Gegenstand nahe, der in der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans als ›Objekt klein a‹ (›objet a‹) bezeichnet wird. »Das ›objet a‹ ist der ›nie aufgehende Rest‹, welcher sich der symbolischen Form entzieht, und gleichzeitig die reine Form, eine rein formale Verzerrung (Protraktion usw.) des Inhalts. […] Das ›objet a‹ ist demzufolge nicht der Kern der Realität, der seiner Subsumtion unter den durch das Subjekt verordneten Begriff srahmen widersteht, sondern, im Gegenteil, die Objektivierung des Begehrens des Subjekts.« Slavoj Žižek: Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus. Übers. v. F. Born. Frankfurt a. M. 2014, S. 898 u. 906. In der Folge werde ich diese Korrespondenz zwischen dem ›objet a‹ und dem Gegenstand der praktischen Vernunft als ›höchstes Gut‹ weiter verfolgen. 47 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 239. Zur Unterscheidung von logischem Grund und Realgrund s. auch ders.: Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 2), S. 779–819. 48 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 239. 46
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konstellation, die Kant als ›Antinomie der praktischen Vernunft‹ bezeichnet und die im Gravitationszentrum seiner Moralphilosophie steht.49 Denn damit eine solche Verknüpfung überhaupt zustande kommt, »muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend« werden »oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein«. Allerdings ist die erste Variante, wie Kant feststellt, aufgrund ihres pathologischen Charakters »schlechterdings unmöglich«, während die zweite, wegen der darin enthaltenen unmöglichen Verknüpfung von natürlicher Kausalität und moralischer Gesinnung, ebenso ausgeschlossen werden muss. Moralische Handlungen können deshalb faktisch nicht »wirkende Ursache der Glückseligkeit sein«.50 Diese ›Antinomie der praktischen Vernunft‹ hebt Kant in der Folge nur dadurch auf, dass er den zweiten Satz der Antinomie nicht für »schlechterdings falsch«, wie den ersten Satz, sondern nur für »bedingter Weise falsch« bezeichnet. Unmöglich ist die Glückseligkeit bzw. das Wohlgefallen als Wirkung moralischer Maximen demnach nur dann, wenn man sie »schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt)« sucht bzw. herbeizuführen trachtet.51 Kant hebt die Antinomie der praktischen Vernunft also nur auf Kosten des säkularen Status der praktischen Vernunft und ihres Gegenstandes, dem ›höchsten Gut‹, auf und überführt diese damit letztlich direkt wieder in den Bereich der Religion. Der Genuss der Sittlichkeit, der auf moralische Weise ein sinnlich-materielles Bedürfnis befriedigt, verweist somit logisch auf die Transzendenz und ist für Kant deshalb auch nicht in der profan-immanenten Weltlichkeit verortet. Der Widerspruch zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit lässt sich folglich nur moraltheologisch innerhalb eines religiösen Rahmens aufheben, der auf den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes ruht. Diese beiden religiösen Postulate werden von Kant als ›Maximen der Vernunft‹ bzw. ›regulative Ideen‹ eingeführt, welche »der Vernunft die vollkommenste Befriedigung« verschaffen können.52 Ausdrücklich kritisiert werden von Kant deshalb alle Versuche, das Objekt der praktischen Vernunft unabhängig von der Religion zu behandeln, wodurch er in religiös-dogmatischer Hinsicht hinter den heterodoxen Perfektionismus zurückfällt, der das Reich Gottes bereits im irdischen Diesseits zu errichten erstrebt. Das wird aber von Kant logisch ausdrücklich ausgeschlossen.
49 Vgl. Michael Albrecht: Kants Antinomie der praktischen Vernunft. Hildesheim, New York 1978, und Bernhard Milz: Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Berlin u. a. 2002 (Kantstudien. Ergänzungshefte, 139). 50 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 242. 51 Ebd., S. 243 f. 52 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 4), S. 580 u. 587.
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Dass es sich dabei dem Anspruch nach um einen »Vernunftglauben« handelt, der sich auf die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes weniger im Sinne einer objektiv-empirischen Realität als auf eine »objektive Gültigkeit« gründet,53 schmälert den dogmatisch-apodiktischen Charakter von Kants religiöser Lösung der Antinomie der praktischen Vernunft keineswegs. Auch der subjektive Grundsatzcharakter und der regulative Status, den Kant der Religion zuschreibt, bedeutet trotz eines weitverbreiteten Missverständnisses eben nicht, dass diese lediglich provisorisch-hypothetischen oder fakultativen Charakter besitzen würden. Jenseits jeder arbiträren Beliebigkeit geht es Kant vielmehr ganz im Gegenteil um die logische Begründung der unhintergehbaren anthropologischen Notwendigkeit von Religion. Auch wenn die empirische Existenz Gottes »gar keine Bedeutung« hat und der klassische Gottesbeweis damit überflüssig wird, so bleibt die Idee dennoch grundsätzlich »immer richtig«.54 »Ich mußte also das Wissen aufheben«, erläutert Kant im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, »um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die Wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.«55 Oder mit Franco Zotta gesprochen: »Die […] Behauptung Kants, man müsse schlechterdings von Gott, Freiheit und unsterblicher Seele als Vernunftideen ausgehen, auch wenn dadurch weder Gott, Freiheit, noch Unsterblichkeit als tatsächlich gegebene Phänomene bewiesen seien, ist, was den Geltungsanspruch betriff t nicht weniger apodiktisch als eine Tatsachenbehauptung.«56 Wenn nun das ›höchste Gut‹ als Gegenstand der praktischen Vernunft in den geschichtsphilosophischen Rahmen des Fortschrittsbegriffs eingeordnet wird, dann eröffnen sich bei Kant zwei gegensätzliche Perspektiven: erstens die Perspektive der Approximation bzw. der unendlichen Annäherung sowie zweitens die Perspektive der Perfektion bzw. der Vollendung und Verwirklichung. Um Letztere jedoch widerspruchsfrei entwickeln zu können, bedarf Kant auch hier wieder des Rückgriffes auf die Religion. Wenn der säkulare Teil der Moral nur approximativ, d. h. über eine unendliche Annäherung gedacht werden kann, so ergibt sich für den moralischen Fortschritt des Menschen bzw. der Menschheit hieraus ebenfalls nur ein approximatives Szenario, in dem die Dimension der Vollendung nicht enthalten ist. Kant 53
Ebd., S. 582 ff. Ebd., S. 599 f. 55 Kant: Kritik der reinen Vernunft (Werke in 10 Bdn., Bd. 3), S. 33. 56 Franco Zotta: Immanuel Kant. Legitimität und Recht. Eine Kritik seiner Eigentumslehre, Staatslehre und seiner Geschichtsphilosophie. Freiburg i. Br., München 2000, S. 156. Siehe auch Carmelo Lacorte: Kant. Die Versöhnung von Religion und Philosophie. Berlin 1989, wo das Konzept des ›Vernunftglaubens‹ als Kapitulation der Philosophie vor der dogmatischen Religion interpretiert wird. 54
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spricht in diesem Zusammenhang tatsächlich ausdrücklich vom »Gesetz der Approximation«, das im Bereich der autonomen Moral einzig und allein herrscht.57 Insofern ist die von Kant in der Geschichtsphilosophie formulierte politischmoralische Aufgabe, »eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze (zu) verwandeln«, zwar einerseits möglich und sogar notwendige Pflicht, gleichwohl ist »ihre vollkommene Auflösung« bzw. Realisierung aufgrund der menschlichen Pathologie als eines sinnlichen Wesens anderseits »unmöglich« – denn »aus so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«.58 Aufgrund dieser Antinomie gilt in Kants Geschichtsphilosophie das »Gesetz der Approximation« uneingeschränkt und besitzt gleichfalls den Status einer unhintergehbaren regulativen Idee. Es gilt deshalb der Satz: »Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.«59 Und hieraus folgt, dass der menschliche Fortschritt innerhalb der profanen Geschichtsphilosophie nicht über das von Kant in der Dialektik der praktischen Vernunft beschriebene ›oberste Gut‹ hinaus gelangen kann, weshalb die praktische Vernunft hier ihrer Vollendung und Realisierung im ›höchsten Gut‹ entbehrt. Demnach muss die unbedingte Tugend, die Kant auch schon zur Erreichung des ›obersten Gutes‹ fordert, ohne jede sinnlich-materielle Unterstützung durch Bedürfnis oder Genuss auskommt, da die praktische Glückseligkeit ja erst Resultat der Vollendung des ›höchsten Gutes‹ im religiösen ›Vernunftglauben‹ ist, während die pathologische Glückseligkeit von der Tugend per se ausgeschlossen ist. Konnte Kant vorhin noch vom Vorwurf des asketischen Terrorismus freigesprochen werden, so ist dies nun nicht mehr möglich. Zumindest in der Geschichtsphilosophie, die von Kant allein approximativ konstruiert ist, scheint sich der Vorwurf des asketischen Purismus, der unter der Hand in einen zynischen Tugendterror umschlägt, nun also doch noch zu bestätigen.
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In einer Vorlesungsmitschrift über Moral von 1785 (Mrongovius) heißt es diesbezüglich: »Die Moral also ganz rein vortragen heißt eine Idee der practischen Vernunft geben. Solche Ideen sind nicht Chimären, denn sie machen die Richtschnur aus, der wir uns immer nähern müssen. – Sie machen das Gesetz der Approximation aus. Wir müssen einen Maasstab haben, um unsern sittlichen Werth darnach zu schätzen und zu wissen, in welchem Grade ich fehlerhaft und mangelhaft bin, und hier muß ich mir ein Maximum denken, alsdenn weiß ich wie weit ich davon entfernt oder wie nahe ich demselben bin.« Kant: AA, Bd. 29.1.1, S. 604 f. An anderer Stelle spricht Kant davon, »daß in unserer Einbildungskraft ein Bestreben zum Fortschritte ins Unendliche, in unserer Vernunft aber ein Anspruch auf absolute Totalität, als auf eine reelle Idee liegt«. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 336 [Hervorh. i. O.]. 58 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 38. 59 Ebd., S. 41.
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3. Das menschliche Mängelwesen zwischen Pathologie und Praxis Der asketisch-religiöse Status des moral- und geschichtsphilosophischen Approximationsmotivs wird bei Kant gelegentlich durch dessen regulativen und nicht-teleologischen Charakter verdeckt. Gerade die ontologische Abwesenheit von Zweckerreichung und abschließender Vollendung könne, so wird argumentiert, als die eigentliche, dem modernen Menschen einzig angemessene Erfahrungs- und Daseinsweise gelten, welche den Gedanken der ›unendlichen Perfektibilität‹ mit ›romantischer Ironie‹, radikaler Kontingenz und liberaler Revolutionskritik im Sinne von Edmund Burke und Benjamin Constant verbindet.60 So erscheint die Idee des ›höchsten Gutes‹, einschließlich des damit verbundenen eigentümlichen Genusses, aus der Sicht von Ernst Behler als vormodernes Überbleibsel der »organizistische(n) Tradition des deutschen Denkens, das auf ganzheitliche Integration angelegt ist« und damit als ein metaphysisches »Prinzip, das unendliche Perfektibilität eo ipso ausschließt«.61 Auch Kant hätte deshalb wie Constant besser ganz auf diese Idee verzichten sollen. Die von Behler propagierte positivistische Version von ›unendlicher Perfektibilität‹ mag zwar modern anmuten, kann aber letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der antihumanistische Asketismus hier auf die Spitze getrieben wird.62 Denn der vermeintlich postmetaphysische Verzicht auf den Genuss des ›höchsten Gutes‹ entzieht der Ethik jegliche materielle Stütze in der Sinnlichkeit jenseits von pathologischer Korruption. Damit fehlt zugleich die von Cassirer eingeforderte qualitative Reflexion auf die subjektive Vollendung, so dass es sich beim ›progressus in indefinitum‹ wiederum nur um eine positivistisch verkürzte Perspektive handelt, die auf den Übergang von der Aufklärung zur Romantik projiziert wird. Übrig bleibt dann nur die falsche Wahl zwischen asketisch-melancholischem Verzicht und kommerziellem Neidobjekt, die in der kantischen Terminologie als eine »Verkehrtheit (perversitas)« beschrieben werden muss, da der utilitaristische Egoismus zur einzig möglichen Triebfeder der Moral wird. Das durch diese Wahl bestimmte Subjekt ist der ›homo oeconomicus‹, der die romantisch-liberale Idee einer gegenstandslosen ›unendlichen Perfektibilität‹ mit der Kreditspekulation im finanzgetriebenen Kapitalismus verbindet.63 60
Das ist die Grundthese von Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität. Ebd., S. 93 u. 90. 62 Auf das politisch verhängnisvolle Problem der Entkoppelung von passivem ›Fortschritt‹ und aktiver ›Revolution‹ im Begriff der ›unendlichen Perfektibilität‹ ist bereits hingewiesen worden von Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser (Hrsg.): Gesammelte Schriften, Bd. I.2. Frankfurt a. M. 1974, S. 691–704, insbesondere: S. 700 f. 63 Vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zweite, durchges. u. korr. Aufl. Zürich, Berlin 2004, S. 255–288. 61
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Anstatt mit Behler und den neo-merkantilistischen Apologeten des Finanzkapitalismus in eine resignativ-reaktionäre Ideologie des ›Nicht-Wollens‹ abzugleiten, ist es allerdings auch möglich, Kants Gesetz der approximativen Unendlichkeit mit Alenka Zupančič in eine ›Ethik des Begehrens‹ zu übersetzen, in der durch das standhafte Festhalten am ›höchsten Gut‹ das unmögliche Ideal des ›guten Lebens‹ mit dem realen Mangel verbunden wird, das aus dieser Unmöglichkeit resultiert.64 Insofern in Kants Ethik das prinzipiell grenzenlose Begehrungsvermögen des Menschen über die empirisch-positive Grenze des Gegebenen hinausreicht, eröffnet sie Zupančič zufolge einen Raum für das Unmögliche, der nicht notwendig religiös bestimmt werden muss. Denn »allein die Tatsache, dass sie diesen Platz als etwas [quelque chose] freihält, erzeugt einen Raum der Freiheit und eines anderen Möglichen als desjenigen des Realitätsprinzips«.65 Es geht hier also darum, gegen Behler mit Kant über Kant hinaus zu gehen. Wenn das ›höchste Gut‹ der praktischen Vernunft daher kein positives Gut oder Neidobjekt ist, wie das bloße Leben, die paternalistische Fürsorge oder der kommodifizierte Reichtum, dann kann die Ethik auch nicht allein auf die Akkumulation und Reproduktion positiver Güter reduziert werden. Eine emanzipatorische Dimension erhält die Ethik somit erst, wenn sie die empirisch-positive Grenze der Glücksideologie überschreitet. Aber auch aus dieser Perspektive bleibt Kants approximative Ethik und Geschichtsphilosophie problematisch; und das Problem beginnt genau da, wo er den Menschen als ein endliches Mängelwesen darstellt. Es besteht allerdings nicht darin, dass er die »Ethik des Unmöglichen« per se als eine »Ethik des Mangels« beschreibt – da nicht das Motiv der menschlichen Mangelhaftigkeit an sich problematisch ist –, vielmehr ist es Kants konkrete Behandlung dieses Mangels. Denn wenn der menschliche Mangel, wie es in Kants Geschichtsphilosophie der Fall ist, ausschließlich pathologisch interpretiert wird, dann schlägt die progressive Perspektive einer zu realisierenden Unmöglichkeit unweigerlich um in vollständige Resignation, die allein noch durch die Einführung einer religiösen Dimension bedingt optimistisch gebrochen werden kann. Die Tugend sucht dann in der unmöglichen Jagd nach dem ›höchsten Gut‹, die zugleich ein unendlicher Kampf gegen die menschlichen Pathologien ist, resignativ Trost in der Religion. Die Religion fungiert dann faktisch als jenes pathologische Opiat, das später vom jungen Karl Marx (im An64
Vgl. hierzu Zupančič: Das Reale einer Illusion, worin die unterschiedlichen Facetten der »Ethik des Begehrens« auch als »Ethik des Unmöglichen« bzw. als »Ethik des Mangels« beschrieben werden. Zupančič’ Rehabilitation ist nur möglich, weil Kant trotz des Primats der Approximation und der regulativen Idee dennoch an der Notwendigkeit des ›höchsten Gutes‹ festhält. Das ist auch der Grund, weshalb Kant und Fichte von Behler nicht zum Paradigma der ›unendlichen Perfektibilität‹ in seiner reinen Form, wie es von Benjamin Constant und den Romantikern propagiert wurde, hinzugezählt werden. 65 Ebd., S. 118.
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schluss an Novalis) ganz zutreffend beschrieben und kritisiert wurde.66 Wo aber die Religion jenseits ihrer resignativen Trostfunktion keinen wirklichen Schutz vor Unterdrückung und destruktiven Affekten zu bieten vermag, hilft zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nur noch der Leviathan des Machtstaates, der sich auf das pathologische Recht des Stärkeren und die ebenso pathologische Ästhetisierung der asketischen Leidensfähigkeit seiner Bürger stützt, die er zu Kriterien eines legalistischen Freiheitsverständnisses erklärt.67 Dennoch bleibt auch hier noch eine alternative Lesart Kants möglich. Denn wird der menschliche Mangel in Kants eigener Terminologie nicht pathologisch, sondern praktisch interpretiert, dann erscheint der anthropologische Mangel nicht mehr notwendig als Ursache resignativer Melancholie und realistischer Machtpragmatik, die zwangsläufig in Religion oder Repression münden. Vielmehr kann gerade der Mangel in diesem Falle zur materialistischen Form bzw. Triebfeder eines humanistischen Enthusiasmus und darüber zum revolutionären Antrieb für die Überschreitung der passiven Legalität hin zur aktiven Gesetzgebung im Rahmen fortschrittlicher Sittlichkeit werden. Eine solchermaßen praktische Wendung des menschlichen Mängelwesens findet sich bereits in der Sprachursprungstheorie von Johann Gottfried Herder angelegt.68 Hierin wird von Herder beispielhaft demonstriert, wie die im Vergleich zum Tier natürliche Mangelhaftigkeit des Menschen (imbecillitas) Innovationen in der Menschheitsgeschichte provoziert, in denen die Unendlichkeit des ›höchsten Gutes‹ und damit das unmögliche Begehren sittlicher Menschen sukzessive in der Differenz der konkreten Objekte der praktischen Vernunft sichtbar werden. Der menschliche Mangel erscheint hier nicht mehr pathologisch, als Abzug und Unvermögen, sondern praktisch, als zwar abwesendes, aber dennoch realisierbares Objekt des Begehrens. Bei den menschlichen Erfindungen, die den Fortschritt der Gattung markieren (Sprache, Werkzeuge etc.), handelt es sich dann jeweils, wie 66
Marx ist an dieser Stelle sehr präzise: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.« Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Bd. 1. Berlin 1983, S. 378 f. Novalis erwähnt das »Opiat« der »Philister-Religion« in seiner Aphorismensammlung Blütenstaub. In: Athenäum (Auswahl). Hrsg. v. Gerda Heinrich. Leipzig 1978, S. 76. 67 Auf diese paradigmatisch von Hobbes repräsentierte Lösung fällt Kant schließlich in seiner Rechtslehre zurück. Vgl. dazu die ausführliche Kritik bei Zotta: Immanuel Kant. Die ausschließlich pathologische Interpretation des menschlichen Mängelwesens ist auch das normative Hauptproblem der ›Philosophischen Anthropologie‹ in der Tradition von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin 1940. 68 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hrsg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a. M. 1985 (Werke in 10 Bdn., Bd. 1.), S. 695–810.
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Zupančič erläutert, »um die Realisierung eines ganz und gar singulären Objekts, in dem sich das Leere verkörpert, das alle gegebenen Objekte vom ›vollendeten‹ Ding scheidet. Realisierung des höchsten Gutes bedeutet Realisierung dieses Mangels, dessen was (noch) mangelt.« 69 Aus dieser Sicht kann sich das ›höchste Gut‹ über die fortschreitende Objektivierung des anthropologischen Mangels in den technischen und sozio-kulturellen Revolutionen der Menschheitsgeschichte anhand ganz verschiedener positiver Güter realisieren. Das heißt für Zupančič allerdings nicht, dass der Gegenstand der praktischen Vernunft (das ›höchste Gut‹) vollständig und unmittelbar in der Existenz positiver Objekte aufginge: Was existiert, ist das verlangte Objekt, das Objekt des Anspruchs; und es existiert auch die Objekt-Ursache des Begehrens, die keinerlei positiven Inhalt hat und sich auf das bezieht, was man erhält, wenn man die im gegebenen Objekt gefundene Befriedigung vom Anspruch auf dieses Objekt abzieht.70
Zupančič bezieht sich hier auf die ›Logik der Subtraktion‹, die entsteht, wenn die reale Befriedigung eines Bedürfnisses vom Anspruch auf diese Befriedigung – m. a. W. das Begehren vom Auf-Begehren – abgezogen wird, und die sich ebenso im Arbeitsprozess wie in der Praxis von Kultur, Bildung oder Zivilisation findet.71 Innerhalb dieser subtraktiven Logik erweist sich der ethisch-praktische Wert der Objekte, insofern diese den anthropologischen Mangel objektivieren und auf diese Weise realisieren. Gerade durch diese objektive Realisierung des Mangels macht die Subtraktion aber der infinit-approximativen »Metonymie des Begehrens ein Ende, indem sie auf einen Schlag das unendliche Potential dieser Metonymie realisiert«.72 Obwohl neben Herder vor allem Kant selbst die philosophischen Grundlagen für eine praktische Konzeptionalisierung des anthropologischen Mangels entwickelt hat, schwankt dieser doch offensichtlich zwischen einer pathologischen und praktischen Behandlung desselben hin und her. Dies führt an entscheidenden Stellen seiner Moralphilosophie zur Konfusion empirischer und apriorischer Argumente, was eine Beliebigkeit etabliert, die nach Bedarf pathologisch gefüllt werden kann. Gerade weil Kant also die Realisierung einer Gesellschaft, die moralischen Standards tatsächlich genügen würde, letztlich aus pathologischen Gründen negiert, bleibt allein die Möglichkeit einer unendlichen Annäherung aus moralischer Perspektive überhaupt noch offen. Das hat zur Folge hat, dass die von Zupančič stark gemachte 69
Zupančič: Das Reale einer Illusion, S. 91 f. Ebd., S. 91. 71 Das Prozedere der ›Subtraktion‹ beinhaltet analog zu Kants oben erwähnten Kulturbegriff die »negative Bewegung« einer »Reduktion auf ein Minimum« und ist zugleich die »Art und Weise, wie sich ein Ereignis in das Sein einschreibt«. Žižek: Weniger als nichts, S. 1103. 72 Ebd., S. 93. 70
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unmögliche ›Ethik des Begehrens‹, die aus praktischer Perspektive absolut notwendig ist, ebenfalls pathologisch eingefärbt wird und einen melancholisch-resignativen Charakter erhält. Der von Kant postulierte praktische Status der regulativen Ideen wird somit pathologisch untergraben. Obwohl Kant also an der Vollendung bzw. Realisierung des Gegenstandes der praktischen Vernunft jenseits der bloßen Approximation theoretisch immer noch festhält, wird diese doch in den Bereich der religiösen Transzendenz verschoben. Damit bleibt Kant dem aufklärerisch-emanzipatorischen Anspruch der Zivilisationstheorie auf Vervollkommnung zwar in gewisser Weise treu, desauvouiert diese aber mit der gleichzeitigen Verteidigung des orthodox-transzendenten Religionsbegriffs. Wenn daher Kant 1786 seine philosophische Spekulation über den Anfang der Menschheitsgeschichte mit einem Plädoyer für die »Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange menschlicher Dinge im ganzen« enden lässt, die »sich vom Schlechtern zum Besseren allmählich entwickelt«,73 dann harmonisiert er das moralisch-politische Problem des menschlichen Fortschritts im offenen Widerspruch zu seiner Aufklärungsschrift ganz offen wieder mit der religiösen Theodizee und der Interpassivität eines opus operatum.
4. Von der praktischen zur revolutionären Vernunft: Georg Forster Kants eigentümliches Schwanken bezüglich der praktischen bzw. pathologischen Interpretation des menschlichen Mangels hatte erhebliche Auswirkungen auf dessen Moral- und Geschichtsphilosophie, deren pathologische Inkonsistenzen von Kant in der Folge je nach Problemlage notdürftig entweder religiös oder juristisch geflickt wurden. Ins Visier der Kritik geriet Kant dafür auch bei Georg Forster, der 1792 trotz der gemeinsamen Kritik an der merkantilistischen Glücksideologie im Kantianismus als Ausdruck des deutschen Universitätsdiskurses ein Hindernis für die Rezeption der französischen Revolutionstheorie und die ideologische Überwindung des Ancien Régimes in Deutschland sah.74 Anders als Kant verband Forster die Zivilisationstheorie des Fortschritts konsequent mit der revolutionären ›science sociale‹, wie sie von Emmanuel Joseph Sieyès, Constantin François Volney u. a. formuliert worden war, und übernahm daraus das unbedingte Recht auf eine politische Revolution.75 Revolutionen waren für Forster aber keine spontanen Wil73
Immanuel Kant: Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 9), S. 102. 74 Vgl. Georg Forster: Über den gelehrten Zunftzwang. In: AA, Bd. VIII, S. 230 f. 75 Zur französischen ›science sociale‹ siehe: Ulrich Dierse: Die Anfänge der ›science sociale‹ bei den französischen Ideologen und in ihrem Umkreis. In: Gudrun Gersmann u. Hubertus Kohle (Hrsg.): Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalität, Stuttgart 1990, S. 104–121,
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lensakte, sondern unter bestimmten Bedingungen notwendige soziale Katastrophen mit Ereignischarakter, die sich, analog zu Benjamins »Griff zur Notbremse«, jeder Regulierung und damit selbstverständlich auch jedem Verbot entziehen.76 Neben der Apologie der Revolution unterschied sich Forster von Kant insbesondere auch darin, dass er an der nicht-pathologischen bzw. praktischen Deutung des menschlichen Mängelwesens auch im Erfahrungshorizont der Revolution festhielt, was ihn aus moralphilosophischer Perspektive gewissermaßen zu einem konsequenteren Kantianer als Kant selbst machte. Obwohl sich Forster in seinen Spätschriften offen zum Jakobinismus des Jahres II bekannte, war er alles andere als ein idealistischer Schwärmer, der sich weltfremden Illusionen über den realen Charakter einer sozialen Revolution hingab. Gerade aus diesem Grunde konnte er die Französische Revolution auch dann noch als einen Akt der Vollendung und der Perfektibilität deuten, als diese sich von ihren populären Ursprüngen in einen blinden Exzess politischer Gewalt verwandelt hatte.77 Diese ausgesprochen realistische Perspektive auf die Revolution war für Forster auch deshalb möglich, weil er das Objekt der praktischen Vernunft bzw. der Perfektibilität nie, wie die romantisch-idealistische Theorie der ›schönen Seele‹, als eine makellose und daher transzendente Entität betrachtete, sondern im Sinne der praktischen Logik der Subtraktion lediglich als eine negative Realisierung des Mangels deutete, bei der die reale Befriedigung des revolutionären Auf-Begehrens vom sittlichen Genuss vollendeter Gerechtigkeit abgezogen werden muss. Diesbezüglich formuliert Forster: Immerhin mögen die Vertheidiger des Despotismus über die gehoff te Vervollkommnung des Menschengeschlechts lachen! Ich lache gerne mit ihnen, wenn von der Realisirung eines Ideals der sittlichen Vollkommenheit die Rede ist. Wie das Ideal des sinnlichen Vollkommenen, kann es nur in der Phantasie des Philosophen existiren, und hat nicht einmal den Grad von Realität, den der Künstler im Bilde dem Idealischschönen geben kann. Allein es heißt zu früh gelacht, wenn nicht der höchste denkbare Punkt der Vollkommenheit als wirklich erreichbar angenommen, sondern nur die Freiheit, in der Entwicklung jedes Einzelnen so weit zu kommen, als Organisation, inneres Kraftmaaß und natürliche Beziehungen es jedesmal gestatten, von dem Staate und seinen Herrschern gefordert wird.78 sowie Michael Sonenscher: »The Moment of Social Science«: The ›Decade Philosophique‹ and late Eighteenth-Century French Thought. In: Modern Intellectual History 6/1 (2009), S. 121–146. Für Kant bleibt die Revolution eine theologische Kategorie; eine politische Revolution inklusive Widerstandsrecht schließt er ausdrücklich aus. Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten (Werke in 10 Bdn., Bd. 7), S. 437–443. 76 Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Anmerkungen. In: Gesammelte Schriften, Bd. I. 3, S. 1232. 77 Vgl. hierzu Georg Forster: Parisische Umrisse. In: AA, Bd. X. 1, S. 595. 78 Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein. In: AA, Bd. IX. Berlin 1958, S. 114.
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Hier ist explizit nicht von jenem makellosen Ideal sittlicher Vollkommenheit die Rede, das für Forster nur in der puristischen Fantasie einer ›schönen Seele‹ Realität besitzt, sondern ausdrücklich von der »Freiheit«, den »Punkt der Vollkommenheit« anzustreben, die vom »Staate und seinen Herrschern gefordert« werden muss. Forsters Argument entspricht dem, was mit Zupančič ein politisches »Objekt des Anspruchs« genannt werden kann79 und das sogar in der scheinbar banalen und politisch profanen Forderung der Pariser Sansculotten nach Brot enthalten ist, da diese einen konkreten Bezug zum Allgemeinen besitzt. Dies ist der Fall, wenn die profane Forderung nach Brot die allgemeine Transformation der herrschenden Ordnung verlangt, da ihre Erfüllung aus der beschränkten Kausalität der Herrschaft unmöglich ist. Das Brot wird dann zum partikularen Platzhalter einer universalen Ordnung der Gerechtigkeit, deren Synthese sich in dem Schlachtruf »du Pain et X!« (›Brot und die Freiheit!‹, ›Brot und die Vernunft!‹ oder ›Brot und die Republik!‹) artikuliert.80 »[N]ie hat der Bürger in Paris besser gelebt als jetzt«, so resümiert der den genüsslichen Gaumenfreuden ansonsten durchaus aufgeschlossene Forster diesen Zusammenhang, »da freilich nur Eine Art Brot gebacken wird«; und er fügt hinzu: »daß Brot und Eisen noch unsre einzigen Bedürfnisse sind«, trage dazu bei, »daß wir so gut als unüberwindlich seyn müssen.« 81 Aus dieser Sicht ist es daher auch kein Zufall, wenn sich in Forsters Revolutionstheorie exakt jene Logik findet, welche die konkrete politische Forderung nach Gerechtigkeit vom Ideal sittlicher Vollkommenheit subtrahiert, anstatt das abstrakte Ideal, wie Schiller und die Romantiker, in seiner fantastischen Makellosigkeit zu umschwärmen und vor jeglicher politischen Verunreinigung bewahren zu wollen.82 Schillers Kritik des jakobinischen Terrors verkennt gerade dessen im kantischen Sinne praktische Dimension, die auf die allgemeine Verfügbarkeit von Brot und die dafür notwendige Revolutionierung der politischen Ordnung gerichtet ist. Pathologisch wird der Terror erst da, wo er dem Motiv der Säuberung folgt. Einer solchen pathologischen Purifikation liegt aber im Unterschied zur praktischen Subtraktion gerade die idealistische Politisierung abstrakter Schönheit und Makellosigkeit zugrunde, wie sie eben der moralisierenden Ästhetik der ›schönen Seele‹ zu eigen ist, die Schiller mit vielen Revolutionskritikern gegen den jakobinischen Terror vertritt. Wenn sie den jakobinischen Politikern daher abstrakt-idealistische Motive unter79
Zupančič: Das Reale einer Illusion, S. 91. Vgl. hierzu ausführlich Jacques Guilhaumou: Subsistances (pain, bled(s), grain(s)). In: Hans-Jürgen Lüsebrink u. Rolf Reichardt (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680–1820, Heft 19/20. München 2000, S. 141–202. 81 Forster: Parisische Umrisse, S. 632 u. 609. Seine umfassende Sicht auf den sinnlichen Genuss des Essens erschließt sich in seinem Essay: Über Leckereyen. In: AA, Bd. VIII, S. 164– 181. 82 Exemplarisch entwickelt Forster diese Logik der Subtraktion in den Parisischen Umrissen. 80
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stellen, begegnen sie letztlich nur der Horrorfantasie ihrer eigenen Unfähigkeit, realpolitisch zu denken. Im Unterschied dazu wird die unbestimmte Unendlichkeit des sittlichen Ideals durch die politische Praxis der Subtraktion in der Formel ›du Pain et X‹ objektiviert, was bedeutet, dass das Ideal mit der realen Politik vermittelt und an dieser gemessen werden kann.83 Das Ideal der unbedingten Tugend muss sich dann weder in leerer Raserei noch in pathologischer Melancholie und asketischer Resignation verlieren, sondern kann den von ihr repräsentierten realen Mangel durch einen praktischen »Actus der Freiheit« realisieren.84 Oder mit Zupančič ausgedrückt: Das Begehren, im Kern verknüpft mit dieser Logik der Subtraktion, die eine (potentiell) unendliche Metonymie nach sich zieht, ist gar nichts anderes als das, was im Universum des Subjekts das Inkommensurable, d. h. ein unendliches Maß einführt und artikuliert. Das Begehren ist nichts anderes als dieses ›unendliche Maß‹. In dieser Perspektive bedeutet ›sein Begehren realisieren‹: das Unendliche, das unendliche Maß realisieren, ›ermessen‹.85
Die Realisierung des begehrten Ideals der Gerechtigkeit bedeutet hier Realisierung des Mangels, d. h. dessen, wessen immer wieder immer (noch) mangelt. Ganz in diesem Sinne ist »Aufklärung« für Forster auch nur dann grenzenlos und »schreitet von Erfahrung zu Erfahrung ins Unbegränzte fort«, wenn sie vor der der Übermacht des Despotismus und dem dogmatischen Realitätsprinzip der patrimonialen wie kommerziellen Glücksideologie nicht resigniert, sondern an der praktischen und daher nicht-pathologischen Realisierung einer letztlich unmöglichen Aufklärung festhält.86 Es ist klar, dass die Revolution aus dieser Perspektive natürlich als eine Konsequenz der Aufklärung erscheinen muss, welche die Aufklärung über den Makel ihres Versagens politisch-praktisch vollendet, ohne aber damit die prinzipielle Unendlichkeit des menschlichen Aufklärungs- und Fortschrittsstrebens aufzuheben. Forster hält an diesem radikalen Realismus auch noch Ende 1793 fest, als die Revolution in Paris auf ihren gewaltsamen Höhepunkt zusteuert: 83
Dieser Moment revolutionärer Realpolitik kann mit Oliver Marchart als der »Machiavell’sche Moment des Politischen« bezeichnet werden. Revolutionäre Realpolitik muss hier in einem doppelten Sinne verstanden werden: »im Lacan’schen Sinne eines Realen als Name für die Unüberbrückbarkeit des Abgrunds der ontologischen Differenz; und im Sinne der gewöhnlichen politischen Realität, in die man nicht handelnd eingreifen kann, ohne sich in unterschiedlichem Grade die Hände schmutzig zu machen.« Oliver Marchart: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010, S. 251. 84 Kants Formel vom ›Actus der Freiheit‹ kann somit von der Theologie auf die revolutionäre Politik übertragen werden. Vgl. Kant: Die Religion, S. 667. 85 Zupančič: Das Reale einer Illusion, S. 91. 86 Georg Forster: Cook, der Entdecker. In: AA, Bd. V, S. 181–319, hier: S. 199.
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Die Gegener der Vervollkommnung sollten endlich überzeugt seyn, daß man die schönen Träume von idealischer Vollkommenheit den Schwärmern überlassen könne, ohne deshalb an der Sache der Freiheit, oder, welches gleichlautend ist, der Vernunft und Sittlichkeit zu verzweifeln.87
Umgekehrt resultiert hieraus kein Widerspruch, wenn er in Bezug auf Kants Polemik gegen die fiktive Wunschprojektion eines ›goldenen Zeitalters‹ einwendet:88 Diese harmlose Hofnung, ein Stein der Weisen unseres Jahrhunderts, verdient wenigstens keinen Spott, so lange sie das aufgesteckte Ziel bleibt, welches so viele Kräfte für das Bedürfniß des gegenwärtigen Augenblicks in Bewegung erhält, und einen jeden anfeuert, in seiner Laufbahn nach der Vollkommenheit zu streben, die ihm erreichbar ist.89
Obwohl Forster daher Kants Kritik am imaginären Ideal als eine »leere Sehnsucht (denn man ist sich bewußt, daß das Gewünschte uns niemals zu Teil werden kann)«90 logisch vollauf akzeptieren kann, fällt er deshalb dennoch nicht wie dieser zurück in eine melancholisch-pathologische Mixtur aus Theodizee und Realitätsprinzip. Stattdessen war Forster gerade deshalb, weil er mit den konkreten Forderungen nach Brot und einer demokratischen Republik über einen politischen Maßstab für das imaginäre Ideal der ebenso praktischen wie revolutionären Vernunft verfügte, in der Lage, die hierin enthaltene »leere Sehnsucht« zu repräsentieren, ohne damit auf jene enthusiastische Triebfeder verzichten zu müssen, derer es zur (unendlichen) Realisierung dieser Sehnsucht bedarf. Die aus Mangel resultierende »leere Sehnsucht« erscheint somit bei Forster nicht, wie bei Kant, als pathologischer Grund für die Unmöglichkeit des perfekten Objekts des Begehrens (das ›höchste Gut‹), sondern ganz im Gegenteil als praktische Form und enthusiastische Triebfeder, der es zur Realisierung des Objekts der praktischen Vernunft bedarf. Die melancholische Ethik des endlosen Zauderns bzw. des ›Nicht-Wollens‹ (Zupančič) taugt laut Forster weder für die Aufklärung noch für die Revolution, sondern nur für »gemeine Seelen«, die »bey der ärgsten Lust auszuschweifen, oft aus Furcht enthaltsam sind, und sich zu einem feigherzigen Leiden verdammen, um nur noch länger leiden zu können, indeß ein hoher Grad von Mannskraft dazu gehört, Befriedigung mit Schmerz zu erkaufen«.91
87 88 89 90 91
Forster: Über die Beziehung der Staatskunst, S. 578. Vgl. Kant: Mutmasslicher Anfang, S. 100 f. Forster: Cook, S. 199. Kant: Mutmasslicher Anfang, S. 100. Forster: Über Leckereyen, S. 171.
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5. Schluss: Die politische Ökonomie des Genießens Die ideengeschichtliche Passage von Kant zu Hegel, in der auch Forster präsent ist, wird von Slavoj Žižek als Inkubationsphase beschrieben, in der sich die philosophischen Voraussetzungen der beiden bedeutendsten modernen Emanzipationstheorien herausgebildet haben – die psychoanalytische Subjekttheorie und die dialektische Gesellschaftstheorie des Marxismus.92 Wenn dem so ist, dann müssen sich diese umgekehrt auch als hermeneutischer Schlüssel verwenden lassen, um diese philosophische Epoche interpretieren zu können. Dazu gehört auch die revolutionäre Rekonstruktion der aufklärerischen Fortschrittsidee im philosophischen Horizont der Antinomie der praktischen Vernunft. Fassen wir abschließend die Ergebnisse vor diesem Hintergrund noch einmal zusammen. Der Ausgangspunkt für die Formulierung der Antinomie der praktischen Vernunft war Kants Einsicht, dass das ›höchste Gut‹, wie alle apriorischen Objekte, in einer empirischen, von Lust und Unlust (›Glückseligkeit‹) geprägten Welt außerhalb der Reichweite endlicher Subjekte liegt. Indem Kant daher konsequent jeden pathologischen Inhalt aus dem Begriff des ›höchsten Gutes‹ tilgte, löschte er das ›höchste Gut‹ aus dem Bereich der Empirie überhaupt aus. Anstatt daraus allerdings auf die belanglose und überflüssige Nichtigkeit eines ›höchsten Gutes‹ und damit auf die nihilistische Gegenstandslosigkeit von ›unendlicher Perfektibilität‹ und praktischer Vernunft zu schließen, verhalf Kants konsequente Ausstreichung des ›höchsten Gutes‹ aus dem partikularen und pathologischen Erfahrungshorizont von Eudämonismus und Utilitarismus demselben gerade zu einer unbedingten und in diesem Sinne apriorischen Existenz. Dies ist nur scheinbar paradox, insofern die nicht-empirischen und nicht-partikularen Konturen eines ›höchsten Gutes‹ gerade durch die negative Markierung seiner Abwesenheit innerhalb der phänomenalen, raum-zeitlich bedingten Erfahrung überhaupt sichtbar werden. Genauer gesagt, wird an diesem leeren Ort kein materialer Inhalt mehr, sondern nur die Form des ›höchsten Gutes‹ sichtbar. Somit legte erst Kants radikaler Verzicht auf die empirische und material-inhaltliche Bestimmung des ›höchsten Gutes‹ überhaupt die universale Qualität des ›höchsten Gutes‹ innerhalb einer willkürlichen Hierarchie partikularer Güter frei. Diese negative Operation definiert zugleich den Charakter von Kants Kulturbegriff, der sich zu wesentlichen Teilen mit dem post-rousseauistischen Zivilisationsbegriff deckt. Sie führt des Weiteren, mit Žižek gesprochen, »die Unterscheidung zwischen einem Element und seinem (leeren) Platz ein, oder genauer: den Primat des Ortes über das Element; sie garantiert, dass jedes positive Element einen Platz 92
Vgl. u. a. Slavoj Žižek: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor. Wien 1994, insbesondere: S. 239–281, sowie zuletzt Žižek: Weniger als nichts.
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einnimmt, der ihm nicht ›konsubstantiell‹ ist, dass es eine Leere ausfüllt, die nicht ›seine eigene‹ ist.«93 Anstatt eines partikularen Inhaltes taucht an der getilgten, leeren Stelle des empirischen Horizontes eine ebenso universale wie dynamische Form auf, die allein fähig ist, den menschlichen Willen unabhängig von pathologischempirischen Bestimmungen anzutreiben. Die Form ist also nicht nur eine substanzlose, leere Gestalt, sie ist zugleich im Sinne der aristotelischen Formursache (causa formalis) auch ein dynamischer Antrieb (modus operandi), dessen Materialität nicht in der Stofflichkeit, sondern in seiner qualitativen Energie besteht. Dieser moralisch einzig mögliche Antrieb ist daher weder an ein empirisches Objekt noch einen materialen Inhalt des menschlichen Handelns gebunden; er erscheint vielmehr allein durch die Form des moralischen Handelns motiviert, die Kant schließlich in die Formel des kategorischen Imperativs kleidete. Folglich füllt nur diese universale Form des moralischen Gesetzes die Leere aus, die aus der Negation des ›höchsten Gutes‹ als einem besonderen, empirischen Objekt entstanden ist. Die Frage, ob aus der Auslöschung aller ›pathologischen‹ Objekte und der Reduktion auf die reine Form schließlich auch, wie Žižek formuliert, »eine neue, unerhörte Art von Objekt« entsteht und ob dieses transzendentale Objekt als »Objekt-Ursache des Begehrens« letztlich unter profanen Bedingungen auch realisiert und empirisch zur Erscheinung gebracht werden kann, bestimmte dann bereits vor Hegel schon die kritische Auseinandersetzung von Forster mit Kant.94 Eine Auseinandersetzung, in der es um die ›unendliche Aufgabe‹ der Aufklärung ebenso geht wie um die moralisch-politische Notwendigkeit der Revolution und die laut Žižek der Ausgangspunkt für den dialektischen Materialismus ist. Tatsächlich kritisiert Forster Kant für seine Vernachlässigung der Frage nach der materiellen Objekt-Ursache moralischen Begehrens, die dieser durch das Motiv der Approximation und der religiösen Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft ersetzt hatte. Für Forster war die profane Möglichkeit eines realen, mit dem Formprinzip des kategorischen Imperativs korrespondierenden Objektes aber notwendig, um innerhalb einer säkular-politischen Ethik den moralischen Genuss als praktischen Antrieb des Willens von der pathologischen Lust des Glücks abgrenzen zu können. Während Kant aus dem normativen Überschuss, der aus der Differenz der rigorosen Reinheit des kategorischen Imperativs zu den kontingenten Handlungsbedingungen real-existierender Menschen entsteht, einen fi xen Dualismus aus der notwendig pathologischen Beschränktheit leibhaftiger Menschen einerseits und der logischen Existenz eines göttlich-perfekten Wesens anderseits ableitete, zog Forster aus dieser Differenz ganz andere Konsequenzen.95 93
Ebd., S. 241. Ebd., S. 242. Die Intervention von Forster würden in diesem Falle eine Idee vorwegnehmen, die Žižek im Anschluss an Jacques Lacan erst der entfalteten Psychoanalyse zuschreibt. 95 Dies korrespondiert mit der Kritik von Lacan und Žižek an der unscharfen Unterschei94
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Anstelle eines unüberwindlichen Dualismus aus perfekter Göttlichkeit und pathologischer Anthropologie tritt bei Forster die Differenz zwischen kategorischem Imperativ und jenem profanen Objekt, das die wirklichen Menschen vom moralischen Gesetz trennt. Dieses Objekt verkörpert das menschliche Mängelwesen als einen objektiven Makel und kann dabei je nach Kontext ganz verschiedene empirische Inhalte annehmen. Als Makel trennt und verbindet es die Menschen zugleich vom Gesetz, so dass sich in ihm Obszönität und Sublimität wechselseitig durchdringen. So waren die Pariser Sansculotten einerseits aus der Ordnungsperspektive des Ancien Régime sowohl durch ihre fehlenden (vornehmen) Hosen als auch durch ihre Forderung nach Brot disqualifiziert; anderseits machte gerade dieser obszöne Makel sie zu sublimen Agenten universaler Gerechtigkeit (etwa in der Formel ›du Pain et X!‹).96 Es ist dieser objektive Makel, der die Differenz zwischen der kategorischen Form, die in der ausgestrichenen Lücke der phänomenologischen Ordnung erscheint, und dem anthropologischen Mangel, dieser nicht vollständig entsprechen zu können, in einer konkreten Handlungssituation verkörpert. Er repräsentiert daher exakt jene Leere, die alle normalen Objekte vom perfekten Ding (das ›höchste Gut‹) unterscheidet. Einerseits bildet dieses Objekt die obszöne Rückseite des kategorischen Imperativs – gleichsam als reine Materie, welche die objektive Unzulänglichkeit endlicher Individuen anzeigt, immer vollständig dem moralischen Gesetz zu entsprechen, und somit die Reinheit des Gesetzes beschmutzt. Aus umgekehrter Perspektive verkörpert aber gerade diese objektive Materie, die das formale Sittengesetz obszön befleckt, zugleich auch den Absolutheitsanspruch des Gesetzes, da es auf negative Weise den normativen Überschuss des kategorischen Imperativs über den konkreten Ort seines Erscheinens abbildet. Somit ist das reale mit dem Formprinzip des kategorischen Imperativs korrespondierende Objekt nicht nur dessen obszöne Rückseite, die die Menschen in ihrer Schwäche demütigen kann, sondern stellt andererseits zugleich auch das ultimative Objekt des Begehrens dar. Während Kant die pathologische Dimension des menschlichen Mängelwesens privilegierte, bestand Forster konsequent auf der praktisch-moralischen Qualität sowohl des anthropologischen Mangels als auch des objektivierten Makels. Hinzu kommt, dass die Aneignung und der Genuss dieser materiellen Objekte nicht nur einen konkret-empirischen Mangel abstellen, sondern dieser bloßen dung Kants zwischen dem ›Subjekt des Aussagens‹ (die formale Reinheit des Kategorischen Imperativs) und dem ›Subjekt der Aussage‹ (die konkrete Verkörperung des Kategorischen Imperativs in einer kontingenten Entscheidungssituation). Ebd., S. 243 f. Bekanntlich leitet Hegel aus dieser Spannung die Dynamik der Dialektik ab. 96 Es ist wohl kein Zufall, dass Rousseaus Episode aus den ›Confessions‹, wonach eine Prinzessin den hungernden Bauern empfohlen habe, doch anstatt Brot lieber Kuchen zu essen, während der Revolution zum geflügelten Worte wurde und von da an Marie-Antoinette zugeschrieben wurde. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Leipzig 1955, S. 340. Zur politischen Sansculotten-Metaphorik siehe ausführlich: Sonenscher: Sans-Culottes, S. 77–101.
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Bedürfnisbefriedigung auch noch jenen spezifisch sittlichen ›Mehr-Genuss‹ hinzufügen, der aus der Realisierung des transzendentalen Überschusses des moralischen Gesetzes resultiert.97 So kann sich die Forderung nach Brot für die Allgemeinheit, wie Forster zeigte, aus einer Forderung, die aus dem konkreten empirischen Mangel des Hungers der Pariser Sansculotten resultiert, direkt mit der wesentlich abstrakteren Forderung nach einer demokratischen Republik verbinden, wenn diese den politisch-universalen Rahmen zu repräsentieren vermag, der die allgemeine Bedürfnisbefriedigung gegen die partikularistische Rechtsordnung des Ancien Régime durchsetzt. Die empirische Befriedigung des Hungergefühls ist hier unmittelbar mit der Befriedigung des abstrakt-universalen Gerechtigkeitssinnes verkoppelt, der sich in der Forderung nach einer demokratischen Republik verkörpert. Darüber hinaus wird dieser Genuss noch durch die sinnliche Befriedigung verstärkt, die der revolutionäre Gesetzesbruch mit sich bringt, insofern die Errichtung der demokratischen Republik gegen das Legalitätsprinzip des Ancien Régime verstößt. Der revolutionäre Gesetzesbruch, der den enthusiastischen ›Mehr-Genuss‹ gleichsam krönt, ist dabei keineswegs bösartig oder illegitim. Denn es ist die legale Rechtsordnung, die sich als bösartig und reaktionär erweist, wenn diese eine partikulare und mithin korrupt-pathologische Politik hinter der formalen Kulisse legaler Pflichtmäßigkeit versteckt. Der spezifische Genuss, den jeder Gesetzesbruch mit sich bringt,98 erscheint hier also definitiv gutartig – bzw. praktisch –, wodurch sich Forsters jakobinisch geprägte politische Ökonomie des Genießens umstandslos in die Revolutionstheorie des Abbé Sièyes einfügt. Aus dieser Sicht vollzieht sich die Revolution neben dem schnöden empirisch-materiellen Bedürfnis der Menge zugleich auch ›aus Pflicht‹ im ursprünglich-kantischen Sinne, da die legale Rechtsordnung, welche das bloß ›Pflichtgemäße‹ festlegt, lediglich das korrupte Herrschaftsinteresse einer Minderheit bedient und folglich wieder mit dem Universalismus der moralisch-legitimen Pflicht synchronisiert werden muss. Die vom reaktionären Legalismus bloß simulierte Moral bzw. Legitimität erhält damit wieder eine reale moralisch-legitime Grundlage (pouvoir constituant), was sich auch darin zeigt, dass der gegenstandslos-formalistische Legalismus einem materialistischen Universalismus weicht (›Brot und die demokratische Republik!‹), in dem sich das ›höchste Gut‹ verkörpern kann. 97
Zu Lacans Begriff des ›Mehr-Genießens‹ (plus-de-jouir) siehe Slavoj Žižek: Der Mut, den ersten Stein zu werfen. Das Genießen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Wien 2008, S. 119–126, sowie Fabio Vighi: On Žižek’s Dialectics. Surplus, Subtraction, Sublimation. London, New York 2010. 98 »Genießen ist der ›Überschuß‹, der aus dem Wissen resultiert, dass unsere Lust jene Erregung einschließt, welche der Eintritt in ein verbotenes Gebiet mit sich bringt – das heißt, dass unsere Lust eine bestimmte Unlust miteinschließt.« Žižek: Denn sie wissen nicht, S. 251 [Hervorh. i. O.].
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Wenn es tatsächlich wahr ist, dass eine europäische Leitkultur, die ihrem Namen gerecht werden will, nur in der Tradition der Aufklärung stehen kann, dann sollte man sich im Sinne Cassirers nicht mit halben Sachen zufrieden geben. Wenn allerdings wieder einmal gefragt werden sollte, ob sich eine zeitgemäße Emanzipationstheorie eher an Kant oder an Hegel orientieren müsste, sollte auch an Forster gedacht werden!
teil iii perfektionismus und perfektibilität in der pr a xis
Pia Schmid
Vollkommenheit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts
A
ls Konsens der Pädagogen des 18. Jahrhunderts kann die Überzeugung gelten, Kinder und Jugendliche seien nicht perfekt; das triff t zwar auch auf Erwachsene zu, aber Kindern eignet signifi kant weniger Vollkommenheit als Erwachsenen. Kindheit wird als ein defi zitärer Zustand gesehen, und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wird dies ungeachtet gelegentlicher Idealisierungen von Kindern und Kindheit in Romantik oder auch in der Reformpädagogik die vorherrschende Position bleiben. Die Unvollkommenheit des Kindes betriff t Verstand, Einbildungskraft, Leidenschaften: Kinder können die Wirklichkeit nicht adäquat erfassen, ihnen fehlt die Erwachsene auszeichnende ordnende Vernunft. Weiter unterliegen sie phantastischen Vorstellungen, die eine Nähe zum Aberglauben aufweisen, und sie lassen sich von ihren Leidenschaften bestimmen. Kinder sind noch nicht zivilisiert, ein Merkmal, das sie mit niederen Ständen und Wilden teilen. Insbesondere fehlende Vernunft und Selbstkontrolle kennzeichnen sie im Vergleich zum vor allem männlichen bürgerlichen Erwachsenen als Defizitwesen. In dieser Einschätzung treffen sich aufklärerische und pietistische Pädagogik wie auch die der Jesuiten, die primär darauf zielen, Selbstdisziplin in den Zöglingen zu installieren. Die Begründungen fallen allerdings mit Erbsünde und zu brechendem Eigenwillen einerseits, Unvernunft und mangelnden Verstandeskräften andererseits unterschiedlich aus. Durchgesetzt wird diese Selbstkontrolle zum einen durch Fremdkontrolle, die Aufgabe des Erziehers ist und die desto besser gelingt, je mehr sich dieser als Kontrolleur unsichtbar macht,1 zum anderen durch die Habitualisierung unterschiedlicher Praktiken, die vor allem auf Selbstbeobachtung bzw. Rechenschaftslegung des eigenen Lebens zielen, wie etwa Tagebuch- und Briefeschreiben oder der Besuch von Konventikeln.2 Das als ›pädagogisch‹ apostrophierte 18. Jahrhundert geht aber nicht nur von einer prinzipiellen Unvollkommenheit der Erziehungsobjekte aus, sondern zugleich von deren Perfektibilität. Das bringt die Pädagogik als Praxis wie auch Theorie der Praxis in Schwung. Pädagogen nämlich verstehen sich als Spezialisten für Perfektibilität und ihr Geschäft, die Erziehung, gilt als eines der vornehmsten, wenn nicht gar als das vornehmste Mittel zur Vervollkommnung des Menschen überhaupt. Dies wiederum deckt sich mit der pietistischen Überzeugung, Weltveränderung könne 1 2
Perfekt verkörpert diese unsichtbare Kontrolle der Erzieher in Rousseaus ›Émile‹ (1762). Dabei kommt der Reflexion des Gebrauchs der Zeit eine zentrale Bedeutung zu.
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Pia Schmid
und müsse durch Menschenveränderung (Martin Schmidt) bewirkt werden. Kant bringt diese Überzeugung in seiner Vorlesung Ueber Pädagogik folgendermaßen zum Ausdruck: Vielleicht, dass die Erziehung immer besser werden, und dass jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steht das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. […] Es ist entzückend, sich vorzustellen, dass die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und dass man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröff net uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlecht.3
Erziehung konzipiert Kant als Instrument der Vervollkommnung, indem er davon ausgeht, dass der Mensch bzw. die menschliche Natur durch die richtige Erziehung, deren Möglichkeitsbedingung die Perfektibilität des Menschen bildet, immer besser werden könne, und weiter, dass diese verbesserte Erziehung des Einzelnen ihrerseits zur Verbesserung der Gesellschaft insgesamt und dies wiederum zum Glück aller führe. Sofern Erziehung die Menschheit zu verbessern und glücklicher zu machen vermag, wird in ihr das zentrale Mittel zur Herstellung der Möglichkeitsbedingungen von Glückseligkeit gesehen, die sich im 18. Jahrhundert als Ziel der Geschichte des Einzelnen wie der der menschlichen Gattung neben der Gottseligkeit des Pietismus positioniert. Damit wird eine bis heute gebräuchliche Argumentationsfigur formuliert, die bei gesellschaftlichen Problemen, seien es übergewichtige Kinder oder Rechtsradikalismus, die Pädagogik in der Pflicht sieht. Diese Überzeugung, gesellschaftliche Probleme ließen sich mit den Mitteln der Erziehung beheben, führt zu einer Überschätzung, ja zur tendenziellen Allzuständigkeit von Pädagogik. Im Folgenden soll es um Vollkommenheit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts gehen. In einem ersten Schritt wird versucht, Vollkommenheit material zu bestimmen und der Frage nachgegangen, wie im 18. Jahrhundert Vollkommenheit gedacht wurde. Da es um den Vollkommenheitsdiskurs der Pädagogik geht, deren Objekte Kinder und Jugendliche bilden, ist die Frage dahingehend zu präzisieren, wie man sich ein möglichst vollkommenes Kind vorstellte. In einem zweiten Schritt wird die Thematisierung von Vollkommenheit in der pädagogischen Theoriebildung am Beispiel des philanthropischen Pädagogen Peter Villaume (1746–1825) diskutiert.
3
Immanuel Kant: Über Pädagogik (1803). Hrsg. v. Friedrich Theodor Rink. Darmstadt 1983 (Werke in 10 Bdn., Bd. 10), S. 700. Kant hat erstmals im Wintersemester 1776/77 über Pädagogik gelesen, weitere Vorlesungen folgten im Sommersemester 1780 und im Wintersemester 1783/84 und 1786/87. Diese letzte Vorlesung liegt vermutlich der von Rink herausgegebenen zu Grunde.
Vollkommenheit in der Pädagogik des 18. Jahrhunderts
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Anhand eines Erziehungsexperimentes à la Rousseau wird dann in einem dritten Schritt dargestellt, wie Vollkommenheit praktisch werden sollte.
1. Perfektion material: Vorstellungen vollkommener Kinder Perfektion muss sich zeigen, sie bedarf der Materialisierung. Was tun, so die Frage, perfekte bzw. möglichst perfekte Kinder? Welche Praktiken, welche Verhaltensweisen bzw. Eigenschaften werden als Ausdruck ihrer Vollkommenheit beschrieben? Das soll an zwei Texten und einem Bild untersucht werden.
Vollkommenheit pietistisch: die Exempelgeschichte4 Die pietistische Vollkommenheitskonstruktion wird anhand einer in Pietismus (und Puritanismus) breit genutzten literarischen, auch kinderliterarischen Gattung, den Exempelgeschichten, dargestellt, die zur religiösen Erbauungsliteratur zählen und eine seit der Antike bekannte Gattung bilden. Exempelgeschichten beanspruchen, wahre Geschichten wiederzugeben, Lebensgeschichten von Personen, die vorbildlich fromm gelebt haben und, fast wichtiger, fromm gestorben sind. Der Pietismus hat Perfektibilität, wie Claudia Drese gezeigt hat, als neutestamentliches Gebot gesehen, der göttlichen Vollkommenheit nachzueifern im Sinne von Mt 5,48.5 In diesem Kontext sind auch die zahlreichen Sammlungen von Exempelgeschichten für Erwachsene und Kinder und über Erwachsene und Kinder zu sehen, die der Pietismus hervorgebracht hat. Die in ihnen propagierten Frömmigkeitspraktiken können als Teil des impliziten Wissens über den Menschen, Erwachsene wie Kinder, des 18. Jahrhunderts gelten, die mit dem Pietismus in Kontakt kamen. Die folgende Exempelgeschichte stammt aus dem Kapitel »Exempel frommer Kinder zur Erweckung einer heiligen Nachfolge zusammen getragen« in Johann Jakob Rambachs (1693–1735) Erbauliches Handbüchlein für Kinder, einer erstmals 1734 erschienenen und bis 1851 ca. 17 Mal aufgelegten, ausgesprochen erfolgreichen Schrift.6 Der Autor Johann Jacob Rambach war seit 1727 Franckes Nachfolger 4
In den Ausführungen zu pietistischen Exempelgeschichten nehme ich Argumentationen auf aus meinem Artikel: Fromme Knaben, fromme Mädchen. Geschlechterkonstruktionen im Pietismus? In: Pia Schmid u. a. (Hrsg.): Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen. Halle 2015, S. 263–286. 5 Siehe den Beitrag von Claudia Drese in diesem Band. 6 Vgl. Stefanie Pfi ster u. Malte van Spankeren: Einführung. In: dies. (Hrsg.): Johann Jacob Rambach. Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1734). Leipzig 2014, S. 11–77, hier: S. 11. Die aus vorliegenden Exempelsammlungen übernommenen Exempelgeschichten bilden einen der insgesamt sieben Teile des Handbüchleins. Rambach trägt unter 29 Rubriken jeweils ein bis
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als Theologieprofessor an der Friedrichs-Universität in Halle. 1731 wechselte er an die Universität Gießen, wo er außerdem Superintendent und in dieser Funktion für das Hessen-Darmstädtische Schulwesen zuständig war. Rambach ist ein Vertreter des Pietismus. Er schreibt: Das Exempel des vollkommenen Kindes Jesus Christus ist bereits in seiner zarten Kindheit das vollkommenste Muster der Heiligkeit gewesen. Sein Lebenslauf vom vierzigsten Tage seines Lebens biß ins zwölfte Jahr wird von Lucae. 2, 40. in diese kurtze Beschreibung zusammen gefasset: Das Kind wuchs, und ward starck im Geist, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bey ihm. Im zwölften Jahr seines Alters bewieß er 1) einen ehrerbietigen Gehorsam gegen die Verordnung seines Vaters von Besuchung des Oster-Fests, 2) eine besondere Liebe zum Wort Gottes, und 3) eine heilige Geschäftigkeit zu seyn in dem, was seines Vaters ist, und mit Hintansetzung aller andern Absichten, seinen Willen zu vollbringen. Dabey war er 4) gegen alle Menschen freundlich und liebreich, 5) jedermann durch sein gutes Exempel erbaulich, 6) gegen seine Eltern aber überaus gehorsam, indem er mit ihnen hinab gen Nazareth gieng, und ihnen unterthan war, Luc. 2, 41–52. Lehre: Das fromme Kind rufet allen Kindern zu: Folget mir nach! Und will ihnen zu solcher Nachfolge seinen Geist williglich schencken.7
Auch wenn Jesu Vollkommenheit für sterbliche Kinder nicht zu erreichen ist, findet sich hier die klassische Trias der Anforderungen an ein vollkommenes – und das heißt im Pietismus: an ein vorbildlich frommes – Leben, die sich auf Gott, den Nächsten und das Selbst beziehen: Das vollkommene Kind Jesus ist gottesfürchtig und liebt das Wort Gottes; es achtet seine Nächsten, was sich im Gehorsam gegen seine Eltern zeigt wie auch in der Freundlichkeit gegenüber jedermann; bezogen auf das Selbst meidet es alles, was der Frömmigkeit nicht entspricht.
drei kurze Abschnitte aus Exempeln zusammen, die wünschenswertes frommes Verhalten etwa gegenüber Eltern veranschaulichen sollen und erläutert den Inhalt in knappen anschließenden Merksätzen; hier handelt es sich also nicht um ausführliche Exempelgeschichten, sondern um Exempel aus Exempelgeschichten. 7 Johann Jacob Rambach: Erbauliches Handbüchlein für Kinder. Gießen 81736, S. 148.
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Nimmt man weitere Kinderexempel hinzu, so zeichnet sich ein frommes Kind in der Summe durch folgende Praktiken und Verhaltensweisen aus:8 1. Ein frommes Kind kämpft um seine Wiedergeburt, um die Gewissheit göttlicher Liebe Bei Jesus, dem vollkommenen Kind, erübrigt sich das, aber die sonstigen Exempelkinder kämpfen um ihre Wiedergeburt, denn sie wissen um die Erbsünde und damit um die prinzipielle Sündhaftigkeit aller Menschen, also auch ihre eigene. Exempelkinder wollen unbedingt richtig, vorbildlich fromm sein. Dies äußert sich in expressiven Frömmigkeitspraktiken, in denen wirkliche Buße zum Ausdruck gebracht wird, ohne die, wie sie wissen, niemand zum wahren, Gott erreichenden Beten kommt. 2. Ein frommes Kind betet sehr viel und möglichst im Verborgenen Von allen Exempelkindern wird berichtet, dass sie intensiv beten, und in beinahe jedem Exempel wird das heimliche Beten hervorgehoben, das praktiziert wird, um keine Aufmerksamkeit zu heischen und den Verdacht der Heuchelei zu entkräften. Im Verborgenen zu beten gilt als Zeichen authentischer Frömmigkeit. 3. Ein frommes Kind geht gerne zur Schule, lernt gerne und liest gerne religiöse Schriften Sofern sie erwähnt wird, heißt es stets, dass die Kinder gerne zur Schule gegangen seien. Es gibt sogar Kinder, die sich auf eigene Faust eine Schule suchen, um fromme Geschichten zu hören oder lesen zu lernen. Exempelkinder kennen viele Sprüche, Lieder, Gebete auswendig, ja es gibt Wunderkinder unter ihnen, was eine exponierte Form der Perfektion markiert. 9 4. Ein frommes Kind praktiziert Nächstenliebe Das zeigt sich in Mildtätigkeit, mehr aber noch in ideeller Nächstenliebe, der Sorge um das Seelenheil anderer. Exempelkinder ermahnen, sie wollen bekehren, legen Bibelsprüche aus, ja sie sind kleine Prediger. Dabei beanspruchen sie die Kompetenz 8
Siehe die ausführliche Darstellung frommer Praktiken in Verf.: Fromme Knaben, S. 276–
284. 9
Das Wunderkind stellt, so Dominique Julia, eine der emblematischen Figuren von Kindheit zwischen Absolutismus und Aufklärung dar. Die beiden anderen emblematischen Kindheitsfiguren sieht er im wilden Kind und im Kind als Held der Nation im Gefolge der Französischen Revolution. Vgl. Dominique Julia: L’enfance entre absolutisme et Lumières (1650–1800). In: Histoire de l’enfance en occident. Tome 2. Du XVIIe siècle à nos jours. Sous la direction d’Egle Becchi et Dominique Julia. Paris 1998, S. 7–111, hier: S. 85–89.
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bzw. die moralische Definitionsmacht, andere auf den richtigen Weg zu bringen, die ansonsten nur Erwachsenen zusteht. Das betriff t Eltern, Geschwister, Gesinde oder auch Personen auf der Straße bzw. Fremde, also das gesamte soziale Umfeld. 5. Ein frommes Kind erträgt seine Krankheit geduldig und stirbt freudig Die Knaben und Mädchen in den Exempeln haben vor ihrem Tod meist schwere Krankheiten durchzustehen. Diese Leiden ertragen sie ohne Klagen wie ihr Vorbild Jesus. Sein Streben nach Vollkommenheit zeigt sich nicht nur darin, dass ein Kind bestimmte Dinge tut, sondern genauso in dem, was es unterlässt: 1. Ein frommes Kind spielt nicht Spielen, das wissen fromme Kinder, ist Müßiggang, also vertane, schlecht genutzte Zeit. Folgerichtig wirft ein frommer kleiner Graf sein Spielzeug aus dem Fenster.10 2. Ein frommes Kind ist enthaltsam im Essen, bescheiden in der Kleidung Ein Exempelkind meidet leibliche Genüsse und auffällige Kleidung. Exempelkinder können sich etwas versagen, ja manche neigen zur Askese, die ihnen vermutlich als religiöse Praktik bekannt ist. 3. Ein frommes Kind schwört nicht, flucht nicht, meidet schlechte Gesellschaft Bedenken wir insgesamt, was ein frommes Kind laut Exempeln zu tun und was es zu lassen hat, ist festzuhalten, dass das Streben nach Vollkommenheit ein das ganze Leben umfassendes, anstrengendes Programm darstellt, denn es verlangt Lernen, Gehorsam, Beten und Buße, Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle.11 Aber es bil10
Vgl. Erdmann Heinrich Henckel Graf und Freiherr von Donnersmarck: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen und in diesem und nechste verflossenen Jahren selig in dem HERRN Verstorbenen Personen. Von verschiedenem Stande, Geschlechte und Alter. Zum Lobe Gottes und zu allgemeiner Erweckung, Erbauung und Stärckung so wol derer ietzo Lebenden, als der Nachkommen. Aus gewissen und wohl-geprüften Nachrichten zusammen getragen. Mit einer Präfation der Theol. Facult. zu Halle. 1. Theil. Halle 1720, S. 275. 11 Der Kanon frommer Eigenschaften wird in folgender Charakteristik des Pfarrers Caspar Santern aus Augsburg über seine verstorbene Tochter zusammengestellt: »Wisset ihr / wie dieses Kind so fromm und Gottselig / so züchtig und still / so friedlich und einträchtig / so gehorsam und arbeitsam / ja darzu so fleißig und embsig in seinem Catechismo und Psalmen / sammt anderen vielen Gebeten / gewesen ist.« Wenceslaus Bergmann: Ander Theil. Der Sterbenden Exempel / Darinn Zweyhundert und zehen sterbende Persohnen mit ihren denckwürdigen Worten und Wercken Exempels weise angeführet werden von Wentzel Bergmann. Wittenberg 1708, S. 131 (erstmals 1651).
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det auch eine Ressource, können fromme Kinder doch mit Bewunderung rechnen, etwa für ihre Kenntnis von Bibelsprüchen oder Liedern, wie auch Rückzugsmöglichkeiten in Gestalt des Betens im Verborgenen nutzen, die den engmaschig beaufsichtigten Kindern in sozial höher gestellten Familien sonst kaum zugänglich sind. Bedeutsamer dürfte aber gewesen sein, dass ihr Streben nach Vollkommenheit Exempelkinder zum Ermahnen anderer autorisierte – ein Vorrecht, das eigentlich den Erwachsenen vorbehalten und in der strikt altershierarchisch strukturierten Gesellschaft der frühen Neuzeit als Handlungsspielraum für Kinder sonst nirgends gegeben war.
Vollkommenheit – aufklärerisch-philanthropisch: ein moralisches Gedicht Die Tradition der Exempelgeschichten wird weitergeführt in den moralischen Erzählungen und Gedichten der aufgeklärten Kinder- und Jugendliteratur.12 Das folgende Gedicht stammt aus der sehr populären Kinderbibliothek,13 einem erstmals 1778 bis 1784 in zwölf Bänden erschienenen Lesebuch des philanthropischen Schriftstellers und Pädagogen Joachim Heinrich Campe (1746–1818). Campe hat als Hauslehrer der Brüder Humboldt, dann am Dessauer Philanthropin, später in einer eigenen Einrichtung und als Edukationsrat in Braunschweig-Wolfenbüttel pädagogisch gearbeitet und war als Herausgeber der ersten pädagogischen Enzyklopädie in deutscher Sprache, der Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesen (1785–1792), hervorgetreten. Sein Väterlicher Rath an meine Tochter (1789) gilt als erfolgreichste Schrift zur Mädchenerziehung, sein Robinson der Jüngere (1779) als eines der verbreitetsten Kinderbücher der Zeit.
12
Otto Brunken hat darauf hingewiesen, dass die Erzählstrukturen der pietistischen Exempelliteratur »später in besonderem Maße auf die Beispielgeschichten der philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur eingewirkt [haben]«. Otto Brunken: Einleitung. In: Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Otto Brunken (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 2: Von 1570 bis 1750. Stuttgart 1991, Sp. 1–55, hier: Sp. 18. Bemerkenswerterweise ermahnen die beispielhaften aufklärerischen Kinder allerdings nirgends mehr Erwachsene und büßen damit im Vergleich zu ihren pietistischen Vorläufern einen diesen aufgrund ihrer Vollkommenheit zugestandenen Handlungsspielraum ein. 13 Zu der ›Kinderbibliothek‹ siehe Hans-Heino Ewers: Joachim Heinrich Campe (1746– 1818): Kleine Kinderbibliothek. 12 Bändchen. Hamburg 1778–1784 (1779–1785). In: Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Hans-Heino Ewers: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3: Von 1750 bis 1800. Stuttgart 1982, Sp. 196–233.
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Des kleinen Friedrichs Geburtstag. Es war einmal, ihr Leutchen, Ein Knäblein jung und zart, Hieß Friedrich, war daneben Recht gut von Sinnesart. War freundlich und bescheiden, Nicht zänkisch und nicht wild; War sanft, wie kleine Schäfchen, Und wie ein Täubchen mild. Drum gab auch Gott Gedeihen! Das Knäblein wuchs heran: Und seine Eltern hatten Recht ihre Freude dran. Zu Schul- und Gotteshause Sah man es eifrig gehen, Und jedem, der es grüßte, Gar freundlich Rede stehn. Auch war ihm in der Schule Ein jeder herzlich gut, Denn allen macht es Freude, Und allen war es gut.14
Betrachtet man den Kanon der erwähnten Eigenschaften – der vorbildliche Knabe ist freundlich, bescheiden, gehorsam, weder wild noch zänkisch, er geht gerne zur Schule und in die Kirche, hört auf Erwachsene und ist die Freude seiner Eltern, so fallen Parallelen zu pietistischen Exempelkindern ins Auge: das hohe Maß an Affektkontrolle, an Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, das hier hervorgehoben wird, war bereits in den pietistischen Exempelgeschichten zu beobachten.15
14
Joachim Heinrich Campe: Des kleinen Friedrichs Geburtstag. In: J. H. Campe (Hrsg.): Kleine Kinderbibliothek. Erster Theil, welcher das erste und zweite Bändchen der ersten Auflage enthält. Wolfenbüttel, in der Schulbuchhandlung 21786, S. 22 f. Campe vermerkte, dass es sich bei dem kleinen Friedrich um den »hoff nungsvolle[n] Anhalt-Dessauische[n] Erbprinzen« handelt (ebd., S. 22). 15 In der Erzählung ›Die frommen Kinder‹ (In: Kleine Kinderbibliothek, Erster Theil, S. 55– 57) wird der aus den pietistischen Exempelgeschichten bekannte Topos des heimlichen Betens aufgenommen. Der Plot: Nantchen und Leopold verschwinden zur Beunruhigung ihrer Eltern nach dem Frühstück stets in den Garten, statt wie bislang ans Arbeiten oder Lernen zu gehen. Auf die Frage ihres Vaters, warum sie immer so früh hinausliefen, geben sie keine Antwort. So kommt es dazu, dass die Mutter ihnen nachläuft und ihre Kinder in einer Laube auf den Knien
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In pietistischen Exempelgeschichten wie auch moralischen Erzählungen und Gedichten der Spätaufklärung finden sich kindliche Protagonistinnen und Protagonisten, die sich in ihrem Streben nach Vollkommenheit einen bestimmten Kanon von Praktiken aneignen und dann über bestimmte Eigenschaften verfügen. Der Lohn fällt unterschiedlich aus: Für pietistische Exempelkinder besteht er in der Gewissheit, als Wiedergeborene zu sterben, also in den Himmel zu kommen, für die Kinder aus den Aufklärungserzählungen hingegen in dem Bewusstsein, das moralisch Richtige zu tun. Gemeinsam ist beiden, in den Aufklärungserzählungen lediglich stärker betont, dass sie für ihr Streben nach Vollkommenheit Anerkennung und Zuneigung erfahren.
Vollkommenheit romantisch: gemalte Unschuld16 In der Romantik wird eine gänzlich andere Sicht auf Kinder und Kindheit artikuliert. Das Kind repräsentiert nicht mehr »den unvollkommenen«, sondern vielmehr »den besseren, ja den vollkommenen Menschen«.17 Kindheit interessiert hier nicht als pädagogischer Gestaltungsraum von Müttern, Vätern, Erziehern, sondern firmiert – wie Meike Sophia Baader gezeigt hat – als ästhetischer, geschichts- und religionsphilosophischer Imaginations- und Projektionsraum. Kinder werden als ideale Wesen gesehen, die von sich aus, d. h. weil sie Kinder sind, über positive Eigenschaften verfügen, vor allem Natürlichkeit, Unschuld, Ganzheit, Phantasie, Unmittelbarkeit. Kindheit stellt keine Zeit des ›Noch-Nicht‹, also nichts Defizitäres dar, vielmehr wird umgekehrt das Erwachsenenalter nun als eine des ›Nicht-Mehr‹ gekennzeichnet. In der deutschen Frühromantik wird »Kindern […] eine spezifische Vollkommenheit und Überlegenheit attestiert, sie werden dem Erwachsenen – vor allem dem Künstler – als Muster vorgehalten.«18 Vermutlich wirkmächtiger als durch den hier knapp skizzierten literarischen Kindheitsdiskurs wurde die romantische Idee des vollkommenen Kindes in einem romantischen Bildprogramm verbreitet, das sich von England aus im letzten Drit-
findet: Sie beten (heimlich), was die Mutter zu Tränen rührt und, wie ebenfalls erwähnt wird, glücklich macht. 16 In den Ausführungen zur romantischen Vollkommenheit nehme ich Argumentationen auf aus meinem Artikel: Bürgerliche Kindheit. In: Meike Sophia Baader, Florian Eßer u. Wolfgang Schröer (Hrsg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge. Frankfurt a. M. 2014, S. 42–71, hier: S. 57–59. 17 Dieter Richter: Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kinderbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M. 1987, S. 259. 18 Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Neuwied, Kriftel 1996, S. 7.
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tel des 18. Jahrhunderts auch auf dem Kontinent ausbreitete.19 Kinder aus Aristokratie und gehobenem Bürgertum wurden in diesen bildlichen Darstellungen wie in Momentaufnahmen beim Spielen portraitiert, wobei auch einmal ein Strumpf runtergerutscht oder der Hut zu Boden gefallen sein konnte. Als programmatisch kann das Bild gelten, das Joshua Reynolds (1723–1792), Hofmaler und Präsident der Royal Academy, vermutlich 1788 von seiner Großnichte Theophila Gwatkin (1782–1844) malte.20 Er lässt sie in einem weißen Kleid und mit nackten – sauberen – Füßchen auf der Erde sitzen vor einer vage gehaltenen dunklen Landschaft, die das Kind umso mehr hervortreten lässt. Das Mädchen ist ganz in sich versunken und zugleich ganz präsent in seiner kindlichen Körperlichkeit. Reynolds Gemälde fand als Kupferstich eine weite Verbreitung, jetzt unter dem einen zentralen Topos des romantischen Kindheitsdiskurses aufnehmenden Titel The Age of Innocence (1794). Die amerikanische Kunsthistorikerin Anne Higonnet hat darauf hingewiesen, dass »alle diese neuen Bilder von Kindheit [von Reynolds, Gainsborough, Raeburn, Lawrence u. a., d. Vf. n] um einen unschuldigen kindlichen Körper kreisen, einen Körper, der über seine Differenz zu dem der Erwachsenen bestimmt ist«.21 Damit war, so Higonnets These, eine bis in die Photographie des 20. Jahrhunderts fortwirkende Tradition begründet, in der kindliche Vollkommenheit darin gesehen wurde, dass Kinder als Symbole der Unschuld firmieren.22 Diese Bilder repräsentieren Imaginationen von Erwachsenen, die kindliche Vollkommenheit vor allem in Unschuld, Unmittelbarkeit, Natürlichkeit verkörpert sehen, also in der Abwesenheit genau jener Eigenschaften, die das Erwachsenenalter auszeichnen.
2. Vollkommenheit in der pädagogischen Theoriebildung: Das Beispiel Villaume Perfektibilität, die Möglichkeitsbedingung von Vollkommenheit, wurde in der Pädagogik der Spätaufklärung, d. h. für Deutschland in der des Philanthropismus, durchaus diskutiert. Für Vollkommenheit gilt das weniger. Gleichwohl findet sich in der Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens (1785–1792) ein Beitrag, in dem Peter Villaume (1746–1825) das Spannungsverhältnis zwischen Vollkommenheit und Brauchbarkeit diskutiert. 19 Siehe: Die Entdeckung der Kindheit. Das englische Kinderportrait und seine europäische Nachfolge. Katalog zur Ausstellung im Städel Museum 20. April bis 15. Juli 2007 und in der Dulwich Picture Gallery 1. August bis 4. November 2007. Frankfurt a. M. 2007. 20 Tate Gallery, London. 21 Anne Higonnet: Pictures of Innocence. The History and Crisis of Ideal Childhood. London 1998, S. 23. 22 Vgl. ebd., S. 90.
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Villaume, ein Theologe hugenottischer Herkunft, hatte 1780 in Halberstadt eine ›Erziehungsanstalt für Frauenzimmer‹ gegründet, unterrichtete danach ab 1787 am renommierten Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin, wechselte aber 1793 unter den Bedingungen des Wöllnerschen Religionsedikts nach Dänemark, wo er ab 1794 an einem Philanthropin unterrichtete, von 1796 bis 1807 eine eigene Landwirtschaft unterhielt und, obwohl er nach Frankreich übersiedeln wollte, letztlich doch bis zu seinem Tod in Dänemark blieb. Villaume war ein produktiver pädagogischer Schriftsteller und steuerte weitere Texte zum Revisionswerk bei.23 Villaume ging der Frage nach, Ob und in wie fern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey? 24 Dabei ist er sich darüber im Klaren, dass allein die Frage »schon etwas Hartes«25 habe und die Brauchbarkeit, weil sie mechanisches Können und Gehorsam verlange, notgedrungen zu Vereinseitigung 26 führe und damit den Gegenpol zu Vollkommenheit darstelle.27 Dass das Gemeinwesen gleichwohl nicht ohne Brauchbarkeit seiner Mitglieder funktionieren kann, steht für Villaume als Vertreter des utilitaristisch orientierten Philanthropismus außer Frage. »Die Menschheit, die Gesellschaft«, so seine Argumentation, habe das Recht, dass der Mensch »selbst auf Kosten seiner höheren Vollkommenheit ihr diene, weil sie die Quelle, die Schöpferin dieser Vollkommenheit ist«.28 Der Einzelne müsse also bereit sein, seine Vollkommenheit zu opfern bzw. auf seine Perfektibilität zu verzichten, weil er in der Schuld der Gesellschaft stehe, die ihn erhalte.29 Allerdings nimmt Villaume im Hinblick auf die 23
Zu Villaumes Abhandlungen im Revisionswerk zählen ›Über die Unzuchtsünden der Jugend‹ (1787), eine preisgekrönte Preisschrift, wie auch ›Von der Bildung des Körpers in Rücksicht auf die Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen, oder über die physische Erziehung insonderheit‹ (1787), eine der ersten Schriften zu Gymnastik bzw. Turnen. 24 Peter Villaume: Ob und in wie fern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey? In: Allgemeine Revision des gesamten Schulund Erziehungswesens, von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, Bd. 3. Hrsg. v. Joachim Heinrich Campe. Wolfenbüttel 1785, S. 436–616. 25 Villaume: Vollkommenheit, S. 438. 26 Hier fi nden sich Parallelen zur zeitgenössischen Debatte um Entfremdung, in der Vereinseitigungen berufsbürgerlicher Existenz zur Diskussion stehen, etwa in Schillers ›Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen‹ (1795). Vollkommenheit sieht Schiller im Spiel gegeben, im zweckfreien Tun, das qua definitionem nicht an Brauchbarkeit orientiert ist. 27 Villaume: Vollkommenheit, S. 468. 28 Ebd., S. 531 ff. Für Villaume ist Vollkommenheit an Vergemeinschaftung und Erziehung gebunden, denn auf sich allein gestellt würde der Mensch nie über ein »thierische[s] Leben« hinausgelangen, also keine Moralität entwickeln. »[D]iese Würde […] hat er ganz der Gesellschaft, vermittelst der Erziehung zu danken« (Villaume: Vollkommenheit, S. 534). 29 Es ist bemerkenswert, dass Villaume Ansprüche der Gesellschaft bzw. Allgemeinheit an den einzelnen Menschen im Rekurs auf eine ›Schuld‹ dieses Einzelnen begründet, denn ›Schuld‹ stellt in der Regel eher eine Größe in theologischen, nicht in pädagogischen Argumentationen dar. Vielleicht lässt sie sich als eine säkulare Transfiguration der Erbsünde sehen, die ähn-
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notwendige Aufopferung von Vollkommenheit zwei Relativierungen vor. Die eine betriff t die Standesgebundenheit von Brauchbarkeit wie Vollkommenheit: Die niederen Stände, die vor allem mechanische Arbeit erledigen, benötigen seines Erachtens weniger Vollkommenheit als die nicht mechanisch arbeitenden höheren Stände, ja ein Zuviel an Vollkommenheit hindere sie geradezu daran, im gesellschaftlichen Sinne brauchbar zu sein.30 Im Gegenzug will Villaume nicht nur das Recht des Einzelnen auf Vollkommenheit begrenzt wissen, sondern ebenso das der Gesellschaft auf die Brauchbarkeit ihrer Mitglieder und plädiert als eine Art Mittelweg für so viel Brauchbarkeit wie nötig und so viel Vollkommenheit wie möglich.31 Derartige Einschränkungen von Perfektibilität, wie Villaume sie, wenn auch mit Abstrichen, gefordert hatte, wird die sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert formierende neuhumanistische Bildungstheorie radikal in Frage stellen. Es kommt zum Streit zwischen dem Philanthropinismus und dem Neuhumanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit, so der Titel der Streitschrift des bayrischen Zentralschulrats Philipp Immanuel Niethammer (1766–1848) aus dem Jahr 1808. Ein Jahr zuvor hatte Ernst August Evers (1779–1823), beauftragt mit der Reorganisation der Kantonsschulen im Schweizerischen Aargau, bei den Aufklärungspädagogen polemisch-satirisch sogar »Schulbildung zur Bestialität« am Werk gesehen. Der Neuhumanismus ergreift Partei für das Individuum und gegen den Primat der Gemeinnützigkeit des Einzelnen. Hier entsteht die Idee der Allgemeinbildung. Humboldt fordert in diesem Sinne als Gegenpol zu einer an Nützlichkeit orientierten Erziehung bekanntlich »die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte [der des Menschen, d.Vf.n] zu einem Ganzen«,32 also allgemeine Bildung.
3. Erziehungsexperimente à la Rousseau: Gescheiterte Vollkommenheit Von der Vorstellung der Perfektibilität ist es nicht weit bis zu Erziehungsexperimenten, mit denen das perfekte Kind hervorgebracht werden soll; in ihnen erfahren pädagogische Machbarkeitsvorstellungen eine Radikalisierung. Auch wenn bürgerlich unhintergehbar ist wie eine durch die Tatsache menschlicher Vergesellschaftung gegebene Schuld. 30 Vgl. Villaume: Vollkommenheit, S. 525 ff. Villaume plädiert zugleich dafür, begabte Schüler zu fördern, d. h. ihnen mehr Vollkommenheit zu ermöglichen. Ebd., passim. 31 Vgl. ebd., S. 567: »Beide, der Mensch und die Gesellschaft, haben ihre Rechte; ersterer auf innere Vortreffl ichkeit und Veredlung, diese auf Brauchbarkeit. Da aber diese Rechte in Widerspruch gegen einander kommen, so müssen sie beiderseits beschränkt werden. Man muß aber keines ganz aufopfern.« (Ebd.) 32 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Darmstadt 31980 (Werke in fünf Bänden, Bd. 1), S. 56–233, hier: S. 64.
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liche Familien sich häufig an Locke orientiert zu haben scheinen,33 war es doch vor allem Rousseau, der Eltern zu Erziehungsexperimenten animierte. Das scheint allerdings keineswegs im Sinne des Autors gewesen zu sein, der einer praktischen Umsetzung seines Erziehungsromans äußerst kritisch gegenüberstand, begriff er seinen Émile (1762) doch nicht als praktisch-pädagogische, sondern als philosophisch-kulturkritische Schrift. So stimmte Rousseau auch einem kritischen Leser, Philibert Cramer, der sein Erziehungssystem als utopisch qualifiziert hatte, völlig zu: »Sie haben recht, wenn Sie es als unmöglich bezeichnen, einen Émile zu erschaffen; aber glauben Sie ernstlich, dass das meine Absicht war und dass das Buch, das diesen Titel trägt, wirklich eine Abhandlung über Erziehung ist? Es ist vielmehr ein philosophisches Werk, das auf dem Prinzip […] basiert, dass der Mensch von Natur aus gut ist.«34 Auch wenn Rousseau selbst seinen Erziehungsroman als utopischen Entwurf betrachtete, konnte er doch nicht verhindern, dass bürgerliche Eltern den Émile als Leitfaden für die Erziehung des vollkommenen Menschen verstanden. So auch Richard Lovell Edgeworth sen. (1744–1817), dessen an Rousseau orientiertes Erziehungsexperiment mit seinem erstgeborenen Sohn Richard Lovell Edgeworth jun. (1764–1796) hier Julia V. Douthwaite folgend vorgestellt werden soll.35 Der Vater war ein liberaler Intellektueller, Mitglied der Lunar Society in Birmingham, einer Aufklärungssozietät, ein Schriftsteller, der zusammen mit seiner Tochter Mary Edgeworth später pädagogische Schriften verfassen wird, bekannt auch als Erfinder von Maschinen. Zugleich war er englischer Landbesitzer in Nordirland und als solcher beteiligt an der Niederschlagung der irischen Revolte um 1800. Edgeworth sen. hatte sich in Absprache mit seiner Frau vorgenommen, sein erstes Kind, den zwei Jahre nach Erscheinen des Émile geborenen Richard Egdeworth jun. nach rousseauschen Prinzipien zu einem freien, natürlichen, also perfekten Menschen zu erziehen, auch wenn Freunde und Verwandte sich über dieses Vorhaben eher mokierten. Wie genau er Rousseau umsetzte, ist nicht bekannt, wohl aber, dass die Kleidung des Jungen seit seinem dritten Lebensjahr – er lief barfuß und trug ärmellose Jacken – ganz auf Abhärtung angelegt war und er umherlaufen konnte, wo immer er wollte, und überhaupt in allen Dingen ganz seinem ei33
Vgl. Hugh Cunningham: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt. Düsseldorf 2006 (Children and Childhood in Western Society since 1500. Harlow u. a. 2005), S. 100. 34 »Vous dites très bien qu’il est impossible de faire un Émile. Mais je ne puis croire que vous preniez le Livre que porte ce nom pour un vrai traité d’Education. C’est un ouvrage assez philosophique. Sur ce principe avancé par l’Auteur dans d’autres écrits que l’homme est naturellement bon.« Jean-Jacques Rousseau: Lettre à Philibert Cramer, 13 Octobre 1764. In: Correspondance complète, Bd. 21. Hrsg. v. R. A. Leigh. Oxford 2004, S. 248. 35 Julia V. Douthwaite: Wild Girl, Natural Man and the Monster. Dangerous Experiments in the Age of Enlightenment. Chicago, London 2002, S. 134–137.
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genen Willen folgen durfte. Sein Vater beschrieb ihn als kühn, frei, furchtlos und großzügig und hielt fest, dass er Entbehrungen aller Art ertragen konnte und seine Sinne ausgezeichnet zu gebrauchen verstand – also allem Anschein nach ein kleiner ›Émile‹. Nach und nach traten allerdings Schwierigkeiten in seinem Sozialverhalten auf; das Zentralproblem stellte der Gehorsam dar: Der kleine Egdeworth ließ sich nichts sagen. 1771, das Kind war mittlerweile sieben Jahre alt, besuchte der Vater im Rahmen einer Frankreichreise Rousseau mit seinem Kind, man könnte auch sagen: Er führte seinen Musterzögling dem Meister vor. Nach einem Gespräch mit Richard Edgeworth jun. äußerte sich Rousseau zwar durchaus positiv über dessen Fähigkeiten, problematisierte aber auch, dass der Junge dazu neige, störrisch zu sein, was zu einem schlechten Charakter führen könne. Nachdem der Vater im weiteren Verlauf der Reise, mittlerweile in Lyon, immer mehr von einem großen technischen Projekt, der Umleitung der Rhone, absorbiert war, spitzte sich die Situation zu und führte schließlich dazu, dass der Vater sich von der Erziehung des Sohnes abwandte. Das Experiment interessierte ihn nicht mehr. Wenn er später vermerkte, die körperliche Erziehung des Sohnes sei bestens gelungen, aber er sei so gut wie gar nicht dazu zu bewegen gewesen, etwas zu tun, das ihm nicht gefalle, und dies damit erklärte, dass Geist und Temperament, d. h. der Charakter seines Sohnes, sich als schwierig erwiesen hätten, dann rekurrierte er auf ein altbekanntes Muster bei der Erklärung von Erziehungsproblemen, indem er die Ursachen ausschließlich beim Zögling und nicht etwa bei sich selbst, dem Erzieher, ausmachte. In der Folge wird der Junge zuerst einem Hauslehrer übergeben und, nachdem dieser ihn unbeeinflussbar fand, mit acht Jahren in ein katholisches Internat geschickt, wo sein Ungehorsam allerdings weiter Probleme bereitete. 1779, mit 15 Jahren, durfte Richard Edgeworth jun. auf eigenen Wunsch zur See gehen, was ganz im Sinne der Familie gewesen zu sein scheint. Jahrelang scheint es kaum Kontakt gegeben zu haben, Entfremdung prägte das Verhältnis zwischen Vater bzw. Familie und Sohn. 1783 bat er, nachdem er vom Schiff desertiert war, nach Hause, d. h. nach Irland zurückkommen zu dürfen, was ihm aber erst 1784 gewährt wurde. In den nächsten Jahren besuchte er gelegentlich seine Familie, aber diese war offenbar erleichtert, als dieses ihres Erachtens missratene Familienmitglied in die Vereinigten Staaten auswanderte und dort heiratete; auf jeden Fall wurde Richard finanziell unterstützt. Der Vater bedauerte später das Experiment und gab halb sich, halb Rousseau die Schuld an dessen Scheitern; er scheint auch bereut zu haben, seinen Sohn weggegeben zu haben, als dieser ihn am meisten brauchte. Insgesamt war dem Kind, nachdem klar geworden war, dass es kein Émile wie aus dem Buche werden würde, also die vom Vater in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen würde, eine unglückliche Existenz beschieden. Aus der Perspektive des jungen Edgeworth muss
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dieser Beziehungsabbruch seitens des Vaters ein schwer verständlicher, wahrscheinlich dramatischer Lebenseinschnitt gewesen sein, auf jeden Fall eine Bestrafung. Nach dem Tod des Sohnes 1796 schrieb der Vater, dass »seine Art zu leben, wie voraus zu sehen, weder für ihn selbst noch für seine Familie erfreulich war und es deshalb für beide Seiten besser gewesen ist, dass er sich zurückgezogen habe«36 – eine Aussage von bemerkenswerter Kälte, als habe er als Vater keinerlei Anteil am Schicksal seines Sohnes.37 Edgeworth sen. scheint nicht der einzige gewesen zu sein, dem beim Scheitern der Erziehung zum vollkommenen Menschen nichts anders einfiel, als das Kind traditionellen Institutionen zu übergeben, symbolisch eine Strafe, und die Beziehung abzubrechen. Julia Douthwaite berichtet, dass Manon Roland (1754–1793), girondistische Salonière der Revolutionszeit, ihre nach Rousseau erzogene Tochter Eudora ins Kloster gab, nachdem diese ihres Erachtens zu wenig Freude am Lernen bewiesen hatte.38 Es ist kein Zufall, dass kein gelungenes Erziehungsexperiment à la Rousseau bekannt ist: Vollkommene Menschen bzw. Kinder lassen und ließen sich nicht hervorbringen.
36
»His way of life had become such as promised no happiness to himself or his family – it is therefore better for both that he has retired from the scene.« Richard Lovell Edgeworth to Mrs. Powys [1796], cited in Marilyn Butcher: Maria Edgeworth: A Literary Biography. Oxford 1972, S. 107, zit. n. Douthwaite: Wild Girl, S. 138. 37 Richard Edgeworth jun. erfuhr auch einen gewissen, halb anonymen literarischen Nachruhm, indem er das Vorbild gab für Dick (=Richard) Musgrove in Jane Austens Roman ›Persuasion‹ (1818). 38 Douthwaite (Wild Girl, S. 136) kommt zu der Einschätzung, dass Edgeworth, Roland und Day, ein weiterer Erzieher à la Rousseau, »weniger an der Erziehung wirklicher Kinder interessiert waren als daran, ein Ideal körperlicher und moralischer Perfektion umzusetzen«. – Ein weiteres der Aufklärung verpflichtetes Erziehungsexperiment hat Elisabeth Badinter in ›Der Infant von Parma oder die Ohnmacht der Erziehung‹ (München 2010) dargestellt. Der zukünftige Herzog von Parma, der Infant Ferdinand (1751–1802), sollte nach dem Willen seiner Eltern zum mustergültigen aufgeklärten Herrscher erzogen werden, doch das Projekt scheiterte; dies auch, weil seine aufgeklärten Erzieher, unter ihnen Condillac, seine religiösen Neigungen nur bekämpften, insgesamt auf die Persönlichkeit des Prinzen wenig bis gar nicht eingingen. An die Macht gekommen, holte der junge Herzog die unter seinem Vater vertriebenen Jesuiten zurück und führte die Inquisition wieder ein, vor allem aber ging er exzessiv seinen religiösen Neigungen nach.
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Die Meditation als ein Mittel zur Vervollkommnung im lutherischen Pietismus 1. Vorspann: Das pietistische Konzept »von der Christen Vollkommenheit« Im Jahr 1689 wurde die Universitätsstadt Leipzig zum Schauplatz einer neuen religiösen Bewegung in Mitteldeutschland, deren Anhänger in einem Gedicht des zeitgenössischen Rhetorikprofessors Joachim Feller mit dem Namen »Pietisten« beehrt wurden.1 Zu ihnen zählten in erster Linie Theologiestudenten, aber auch begeisterte Bürger und Bürgerinnen. Es verband sie die innere Motivation, ihr Christ-Sein ernst zu nehmen und sich um sichtbare Früchte des Glaubens zu bemühen. Sie trafen sich außerhalb der Kirche in ihren Privathäusern zu sogenannten Konventikeln, in denen sie gemeinsam die Bibel lasen und die biblischen Aussagen auf ihr eigenes Leben übertrugen. Vorbild für diese Privatversammlungen waren die Bibelübungen von Magister Caspar Schade (1635–1697) und August Hermann Francke (1663–1727). Beide Magister hielten ihre erbaulichen Bibelkollegien für Studenten erstmals in deutscher Sprache ab und luden auch Interessierte aus der Stadtbevölkerung dazu ein. Francke war Anfang des Jahres 1689 nach einem zweimonatigen Aufenthalt bei seinem theologischen Mentor Philipp Jakob Spener (1635–1705) in seine Studienstadt zurückgekehrt und motiviert, Speners Reformimpuls zur Praktizierung des »geistlichen Priestertums« umzusetzen.2 In seinen Bibelübungen wollte Francke den Teilnehmern den geistlichen Nutzen der biblischen Gehalte verdeutlichen und sie ermuntern, sich im Alltag entsprechend zu verhalten. Der pietistische Funke sprang über: Begeisterte Studenten nutzten Krankenbesuche, um ihre religiösen Ideale unter der Stadtbevölkerung zu verbreiten: Die Solidarität der neu entstandenen Gruppe fiel in der Stadt auf: Wenn Francke in benachbarten Dörfern predigte, folgten ihm seine Freunde in Scharen. Die Pietisten kleideten und benahmen sich einheitlich, um ihre gemeinsame Frömmigkeit zu demonstrieren.3 1 Joachim Feller bringt in seinem Sonett die Charakteristika der neuen Bewegung auf den Nenner: »Es ist jetzt Stadt bekannt der Nahm der Pietisten; Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert, Und nach demselben auch ein heiliges Leben führt.« Vgl. Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 24. 2 Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005, S. 83. 3 Mori: Begeisterung, S. 17.
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Auffällig war, dass die Anhänger der Bewegung für sich in Anspruch nahmen, die »Heiligung ihres Lebens« nicht nur zu wollen, sondern auch aktiv verwirklichen zu können. Dahinter stand ihre Überzeugung, wiedergeborene »Kinder Gottes« zu sein. Diese Anmaßung veranlasste die theologische Fakultät, im Herbst desselben Jahres eine Untersuchungskommission einzuberufen. Francke und seinen Mitstreitern wurde vorgeworfen, sie lehrten »in der Frage der Rechtfertigung und Heiligung nicht orthodox«, sondern seien »dem Perfektionismus, der Lehre von der möglichen Vollkommenheit des Christen auf Erden, zugetan«.4 Francke verteidigte sich energisch in seiner Apologia5, doch letztlich gelang es der Stadtgeistlichkeit, die Bewegung mit einem kurfürstlichen Konventikelverbot auszuschalten. Daraufhin trat Francke noch im Jahr 1690 eine Diakonstelle in Erfurt an, wohin ihm seine studentischen Anhänger folgten. Dort wiederholten sich die orthodoxen Vorwürfe gegen seine pietistische Lehre. Dieses Mal verteidigte er sich mit fünfzehn Thesen Von der Christen Vollkommenheit (1691), in denen er klarstellte, welche Art von Vollkommenheit die Heilige Schrift von einem »wahren Christen« erwarte:
Doch kann nicht geläugnet werden / dass auch in dem Verstande auf gewisse Maasse eine Vollkommenheit dem Menschen von der H. Schriff t beygelegt wird / nemlich wie ich etwa einen pflege einen Meister zu nennen / ob er gleich die Kunst nie auslernen kann / und noch viel Meister über sich hat; Allso will die Schrift nicht / dass der Mensch gantz vollkommen in diesem Leben werden könne / dass er nicht ohne Sünde und Reitzung zur Sünde sey / sondern dass der Mensch zu einer männlichen Stärcke im Christenthum kommen könne / sich der alten Gewohnheiten zu entschlagen / und sein Fleisch und Blut zu überwinden / und dass ein Mensch immer vollkommener sey als der andere.6
Diese These enthält sehr knapp das Programm einer pietistischen Ethik, das Spener in seinem Predigtzyklus von 1695 über den Hochwichtigen Articul von der Wiedergeburt 7 ausführlich darlegt. Es gründet – kurz gesagt – auf zwei Annahmen: 4
Klaus Deppermann: August Hermann Francke. In: Martin Greschat (Hrsg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus. Stuttgart 1982, S. 246. 5 Gerichtliches Leipziger Protocoll In Sachen die so genannten Pietisten betreffend / Sammt Hn. Christian Thomasii, berühmten JC. Rechtlichen Bedencken darüber; Und zu Ende beygefügter Apologia Oder Defensions-Schriff t Hn. M. Augusti Hermanni Franckens (1692). In: August Hermann Francke: Streitschriften. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1981, S. 1–111. 6 August Hermann Francke: Anhang von der Christen Vollkommenheit / Vor einigen Jahren aufgesetzt von M. August. Herm. Francken / und darnach ohne vorbewust des Autoris beygedrucket dem Informatorio Biblico des Sel. J. Arnds. 1691. In: August Hermann Francke: Werke in Auswahl. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 356. 7 Philipp Jakob Spener: Schriften. Hrsg. v. Erich Beyreuther. Bd. 7: Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt (1696) 1715. TlBd. 1: Predigten 1–34, TlBd. 2: Predigten 35–66. ND der Ausg. Frankfurt a. M. 1715. Hildesheim u. a. 1994.
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Zum Ersten verweist die Vollkommenheit, wie sie »dem Menschen von der H. Schriff t beygeleget wird«, immer zurück auf ihren Ermöglichungsgrund. Francke und Spener sind sich einig, dass die meisten Menschen »rasend und truncken […] in dem Welt=Wesen« gefangen und damit unfähig seien, aus eigener Kraft »zu einer wahren Nüchterkeit des Gemüths« 8 zu gelangen. Um sich seiner misslichen Lage bewusst zu werden, müsse sich der Mensch in den Bußkampf schicken, um die »Ordnung Gottes« erstmalig an sich selbst zu erfahren: Was lehret uns damit die heil. Schrift anders, als dass der Mensch, wie er von Adam gebohren, und fleischlich und irdisch gesinnet ist, nicht so flugs ins Himmelreich hinein springe […], sondern erst mit Christo in den Stand der Erniedrigung treten müsse […], erst die Gemeinschaft seines Todes schmecken […], erst in der Busse und in allerley Leiden und Trübsal sein Elend, Nichtigkeit und Unvermögen erkennen, und sodann den Reichthum der Freundlichkeit und Leutseligkeit Christi gewarten müsse.9
Sei er derart dem Leiden Christi teilhaftig geworden, werde der Büßer aus der Zahl der fleischlich gesinnten Menschen herausgehoben und mit »einer neuen Natur« ausgestattet: Er erhält eine »neue geistliche lebens-kraff t / auß dero man guts zu thun vermöge«.10 Aufgrund dieser Einstiegsbedingung sind nicht alle Menschen gleichermaßen auf die Idee der Vollkommenheit im Sinne einer Heiligung des eigenen Lebens ansprechbar. In seiner späteren Funktion als Pfarrer und Pädagoge in Glaucha erkannte Francke, dass er an den Bedingungen arbeiten muss, um den Menschen inmitten ihres Alltagslebens Buße und Bekehrung zu ermöglichen. Zum Zweiten folgt in der pietistischen Ethik auf den Ermöglichungsgrund ein lebenslanger »herber Kampf« um die eigene christliche Vollkommenheit.11 Spener Betrachtungen. Wie ein Mensch in sich selbst gehen / und sein Leben bessern soll / Aus dem Italiänischen übersetztet Und nebst einer Vorrede von Herrn M. August Hermann Frankken. Halle 1698, A2r. 9 Quedlinburgisches // Zeugniß /// Oder // Predigt // Von der // Offenbahrung // der Herrlichkeit Christi /// Uber das Evangelium Joh. // II. v. 1. –11. // Am II. Sont. Nach Epiphan. // Hall 1694. In: August Hermann Francke. Predigten I. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1987, S. 95. 10 Erhard Peschke: Bekehrung und Reform. Ansatz und Wurzeln der Theologie August Hermann Franckes. Bielefeld 1977, S. 100. 11 »So haben denn diejenigen, so einmal gläubig worden sind von Hertzen an das Evangelium von der Gnade GOTTes, wohl auf ihre Seele acht zu haben, dass sie keine Schwachheit des Glaubens selbst durch ihre eigene Schuld verursachen […], sondern allezeit plus ultra weiter hindurchbrechen, den Harnisch GOttes ergreiffen und anziehen, damit sie bestehen können gegen die Listigen Anläufe des Teufels […].« Vgl. Vom Rechtschaffenen Wachsthum des Glaubens / Die wahre Glaubens-Gründung / Kräftigung / Stärckung und Vollbereitung. 1691. In: Francke: Predigten I, S. 32. 8
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zufolge erbringt erst dieser »Kampf« die »Erneuerung des Menschen« als »die ›fernere Auspolirung und Ausarbeitung‹ des göttlichen Bildes, das der Mensch in der Wiedergeburt empfangen hat«.12 Durch den Glauben ist der »neue Mensch« bereits vollkommen gerechtfertigt, doch bleibt er aufgrund der »Schwachheit seines Fleisches« prinzipiell unvollkommen; er ist »nie im Gewordensein, sondern immer im Werden begriffen.«13 Somit gibt es für die »Kinder Gottes« keine Entschuldigung und vor allem keine Pause in der Selbst-Bemeisterung mehr. Um jener Schwachheit des »alten« Menschen vorzubeugen und Rückfälle in die Sünde zu minimieren, legten beide Theologen viel Wert auf ein tägliches, geistiges Übungsprogramm. Dazu gehörten die ständige Selbsterforschung und -beobachtung und die Meditation, die speziell Francke in eine rigide Tagesstruktur eingebunden wissen wollte. Als Gründer der Waisenhaus-Anstalten in Glaucha und als Theologieprofessor der Universität Halle war er der ausführende Arm Speners, des theologischen Vordenkers des lutherischen Pietismus. Bereits in seiner Leipziger Zeit entwarf Francke für sich persönlich wie auch für seine Anhänger seine später so genannten Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen.14 Mit ihrer Hilfe konnte sich ein wiedergeborener Christ in der eigenen Vollkommenheit üben – und zwar sowohl in Gesellschaft als auch in der Einsamkeit. Man muss, so mahnt Francke, »nicht nur fromm seyn / wenn man bey den Leuten ist / sondern auch / wenn man alleine ist: Denn sonst wäre man ein Heuchler.«15
2. Franckes Schriff tmäßige Lebens=Reglen (1695): ein Praxis-Handbuch zur pietistischen Ethik Bei seinen Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen handelt es sich um ein Handbuch zur »Praxis pietatis«, das inhaltlich und stilistisch große Ähnlichkeiten zur Praxis Pietatis (1611)16 von Lewis Bayly (gest. 1631) aufweist – ein Klassiker unter den ins
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Peschke: Bekehrung und Reform, S. 105. Martin Schmidt: Der Pietismus und das moderne Denken. In: Pietismus und moderne Welt. Hrsg. v. Kurt Aland. Witten 1974, S. 12. 14 Die Schrift enthält zwei Kapitel, die er »Anno 1689 in Leipzig von mir führnehmlich zu meiner eigenen Erbauung zu Pappier gebracht« hat, wie er in der Vorrede verrät. 1695 gibt er beide Kapitel zusammen heraus in dem Traktat: August Hermann Francke: Schriff tmäßige Lebens=Reglen / Wie man so wohl bey als ausser der Gesellschaft die Liebe und Freudigkeit gegen den Nechsten / und Freudigkeit eines guten Gewissens für GOTT bewahren / und im Christenthum zunehmen soll. Leipzig 1695. 15 Francke: Lebens=Reglen, S. 28. 16 Spener wie auch Francke wurden in ihrer jugendlichen Frömmigkeit von den englischen Erbauungsbüchern geprägt. Vgl. Wallmann: Pietismus, S. 68, 105 f. 13
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Deutsche übersetzten puritanischen Erbauungsbüchern im Luthertum des 17. Jahrhunderts.17 Im ersten Kapitel der Lebens=Reglen unterbreitet Francke seinen Lesern situationsbezogene Ratschläge für ein gottgefälliges Verhalten gegenüber anderen Menschen. Im zweiten Kapitel beschäftigt er sich ausführlich mit den geistlichen Praktiken einer »gottgefälligen Einsamkeit«18 . Ergänzend gibt er Empfehlungen zur klugen Gestaltung des Tages, um die eigene geistliche Praxis zu unterstützen. Der gesamte Text ist im paränetischen Redestil einer Predigt organisiert – im lesenden Vollzug wird er jedoch zur »persuasiven Meditation«19. »Persuasiv« deshalb, weil die höhere Instanz, die den Leser ununterbrochen anspricht, in ihn hineinsieht, ihn motiviert, manipuliert und bei wiederholter Lektüre sogar zum selbstständigen Gedanken des Lesers werden will: du wirst nicht unbeständig seyn in dem Werck / das du vor hast / denn du kanst dasjenige / so du unter den Händen hast / ohne den Willen des gegenwärtigen HErrn nicht weg legen / so beständig dein Vater ist in dem Beywohnen / so beständig sey auch in deinem Werck […].20
Mit dem »Werck« meint Francke die tägliche »Praxis pietatis« – wobei er auch auf die tägliche Meditation der Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen selbst anspielen könnte. Denn der Schwerpunkt liegt in Franckes Praxis-Handbuch – nicht anders als in anderen Erbauungsbüchern des 17. Jahrhunderts – auf den Praktiken der Seelsorge an sich selbst: Für deine Seele kanst du / wenn du alleine bist sorgen (I) durch Prüfung deines Gewissens. (2) Durchs Gebet. (3) Durch Lesung heiliger Schriff t und Gottseliger Bücher. (4) Durch fleißige Bewahrung deines Hertzens.21
Zur Pflichtübung der »Praxis pietatis« gehört die tägliche Meditation anhand der Bibel oder anderer sorgsam ausgewählter »Gottseliger Bücher«: »Schiebe nicht dein Bibel=lesen auff von einem Tage zum andern / sondern forsche täglich in der Schriff t.«22 Dabei bleibt die tägliche Seelsorge nie auf die Meditation beschränkt. Francke verbindet sie stets mit dem Gebet und der Selbstprüfung, so auch beispiel17
Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 77 ff. 18 »Wenn du merkest / dass die Gesellschaft dir nicht nothwendig ist / oder dass die Ehre GOttes anderweit besser könne befördert werden […] / so lass dir ja nicht lieb seyn / bey der Gesellschaft zu bleiben.« Francke: Lebens=Reglen, S. 23 f. 19 Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche. Tübingen 1995, S. 49. 20 Francke: Lebens=Reglen, S. 37. 21 Ebd., S. 52. 22 Ebd., S. 75.
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haft in seiner Quedlinburger Predigt Von der Off enbahrung der Herrlichkeit CHristi (1694): Verknüpfet mit dem Gebet die Meditation, oder Erwegung und Betrachtung der göttlichen Dinge, und alles dessen, was zum Heil und Frieden eurer Seelen dienet. Es muss der Mensch in eine innerliche Arbeit seiner Seelen gesetzet werden, dass ers nicht nur darauf ankommen lasse, dass er die Predigt höre, GOttes Wort lese, und es denn in den Wind schlage; Sondern dass er gleich der Maria die Worte fein in seinem Hertzen behalte, erwege, überlege, seinen Zustand darnach prüfe und untersuche.23
Die tägliche »Praxis pietatis« hat zum Ziel, dass »das Ebenbild Gottes in dir je mehr und mehr möge verneuert werden / dahin du endlich alles bringen must«.24 Wie aktivistisch seine Forderung auch klingen mag, sie erinnert zumindest grammatikalisch an das passive Wirkungsgeschehen: Das Ebenbild Gottes wird im Menschen »verneuert«, während er selbst es dahin »bringen« muss. Den aktiven Anteil bei der »Erneuerung« des Menschen fordert auch die vierte, von Francke genannte Praktik, die »fleißige Bewahrung deines Hertzens« in den Alltagsgeschehnissen. Doch die innerliche Stärke, um sich in den Verführungen und Anfechtungen des Alltags zu bewähren, erwirbt sich der Pietist vor allem durch die »innerliche Arbeit [an] seiner Seelen«: Sanff tmuth und Bescheidenheit können niemand missfallen / und lassen sich nicht allein durch würckliche Ausübung / sondern auch in der Stille / wenn darinnen durch die Empfindung der holdseligen Gegenwart GOttes das Hertz gelinde und lieblich gemacht wird / erlernen.25
Es ist zu wiederholen: ein Christ kann sich äußerlich um einen heiligen Lebenswandel mühen, doch bleibt er, wie Francke in den Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen anmahnt, »ein Heuchler«. Ich kann also konstatieren, dass Francke von einem essenziellen Wirkzusammenhang zwischen der Meditation und der charakterlichen Veränderung des Menschen ausgeht. Mit diesem Aufsatz möchte ich diesen Wirkzusammenhang im zeitgenössischen Diskurs aufdecken und ihn systematisch auf der Ebene der Meditationspraktik nachvollziehen. Dazu werde ich zunächst noch einmal auf die Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen zurückkommen. Von Franckes Praxisansatz aus suche ich dann die Spur methodischer Meditation in der überkonfessionellen Erbauungsliteratur des Luthertums seit dem Ende des 16. Jahrhunderts auf. Die im Luthertum verbreiteten Erbauungsbücher zeichnen sich durch zwei Merkmale aus, auf die Udo Sträter hinweist. Erstens dominiert in ihnen das »persuasive 23 24 25
Quedlinburgisches Zeugniß, S. 112. Francke: Lebens=Reglen, S. 85. Ebd., S. 39.
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Element, das Drängen auf Entscheidung für ein wahrhaft christliches Leben«.26 Zweitens fordern die Autoren eindringlich von jedem Christen, sich täglich in der Meditation zu üben, um »dem gepredigten oder gelesenen Wort Gottes Eingang ins und Wirkung im Leben zu verschaffen.«27 Folglich vermute ich, dass es zwischen der Verbreitung literarischer Meditationen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts und dem Auftreten der pietistischen Bewegung innerhalb der lutherischen Kirche gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen historisch-genetischen Zusammenhang gibt.
3. Anstöße der Forschung: Meditation in pietistischer Autobiografik und Briefkultur Auf die Bedeutung frommer Praktiken für die Herausbildung einer pietistischen Identität, die zur Absicherung nach außen natürlich die Inklusion in die pietistische Gruppenkultur benötigte, verweisen – wenn auch nur indirekt – neuere, historisch-anthropologisch ausgerichtete Studien zu pietistischen Selbstzeugnissen. Ulrike Gleixner untersucht anhand von Briefen, Tagebüchern, Lebensläufen und Leichenpredigten die Frömmigkeitspraxis des gelehrten pietistischen Bürgertums Altwürttembergs (vom letzten Drittel des 17. Jahrhunderts bis 1840).28 Im Gegensatz zur älteren autobiografischen Forschung betont sie ausdrücklich, dass der Sinn des pietistischen Schreibens nicht darin liege, das eigene Innere auszudrücken: Der Sinn des pietistischen Schreibens liegt darin, die individuellen Lebensumstände und Gefühlslagen mit einer pietistischen Deutung zu versehen und in das vorgegebene Modell einzulesen. Diese ›Technologien des Selbst‹ fördern nicht die Darstellung von Individualität, sondern erfordern vom Schreibenden im Gegenteil eine schemenhafte Verallgemeinerung der Persönlichkeit.29
Zu fragen wäre, woher die Schreibenden das vorgegebene religiöse Lebensmodell kannten und was sie befähigte, dieses in ihren Tagebüchern, Briefen und Lebensläufen bis in sprachliche Nuancen hinein auf sich selbst zu applizieren. Die sprachliche Fähigkeit, das eigene Leben als Abfolge von Anfechtung und unmittelbarer Glaubenserfahrung zu deuten, fand einen besonders schematisierten 26 Udo Sträter: »Wie bringen wir den Kopff in das Hertz?« Meditation in der Lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. In: Gerhard Kurz (Hrsg.): Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2000, S. 20. 27 Sträter: »Wie bringen …«, S. 21. 28 Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit Württembergs 17.-19. Jahrhundert. Göttingen 2005. 29 Gleixner: Pietismus und Bürgertum, S. 121 [Hervorh. T. T.].
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Ausdruck in den Lebensläufen der Herrnhuter Brüdergemeinde.30 Seit den 1750er Jahren wurde von den Gemeindegliedern erwartet, »eine Darstellung ihres ›Ganges durch die Zeit‹ zu hinterlassen und darin vor allem über ihren Glauben Rechenschaft abzulegen«.31 In den Lebensläufen konkretisiert sich die individuelle Fähigkeit, das eigene Leben mit den Augen der pietistischen Gruppe zu reflektieren und es als ein Ringen um und ein Hineinwachsen in die eigene Gottseligkeit zu beschreiben.32 Das erfordert, wie Pia Schmid in ihrer Auswertung ausgewählter Lebensläufe schreibt, vor allem die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, »man könnte auch sagen: der Installation eines parteiischen Beobachters im Innern dieser frommen Schreiberinnen und Schreiber«.33 Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung – zur »Gewissensprüfung« im zeitgenössischen Terminus technicus – korrespondiert mit der oben genannten Fähigkeit, im autobiografischen Schreiben »die Gruppennorm, genauer: deren Frömmigkeitsstandards«34 zu reproduzieren. Diese beiden korrespondierenden Fähigkeiten der Pietistinnen und Pietisten bringt Gleixner wie folgt auf den Punkt: Der Schwerpunkt autobiographischen Schreibens liegt in der individuellen Aneignungsleistung vorgeformter Haltungen, die durch in Bibel, Predigt und erbaulicher Literatur vorgefertigte Redewendungen reproduziert werden. Dieser mimetische Vorgang ist aber keineswegs simple Nachahmung, sondern eine Anforderung, die individuell erbracht werden muss.35
Dieses Ineinandergreifen von Selbstbeobachtung und Anpassung an die Gruppennorm in den pietistischen Selbstzeugnissen erklärt Gleixner mit dem zugrunde liegenden Kompositionsprinzip der »Intertextualität«. Frauen in weit höherem Maße 30
Irina Modrow: Religiöse Erweckung und Selbstreflexion. Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern als einem Beispiel pietistischer Selbstdarstellungen. In: Winfried Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, S. 121–129. 31 Pia Schmid: Frömmigkeitspraxis und Selbstreflexion. Lebensläufe von Frauen der Herrnhuter Brüdergemeinde aus dem 18. Jahrhundert. In: Sonja Häder in Kooperation mit H.-E. Tenorth (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Weinheim, Basel 2004, S. 52. 32 Deshalb sind sie einerseits Bekenntnis vor der hinterbliebenen Gemeinde, da sie beim eigenen Begräbnis verlesen und mit dem Blick auf dieses geschrieben wurden. Andererseits ist die Offenlegung des eigenen Glaubenslebens mit allen Unzulänglichkeiten auch eine Rechenschaft und Bereinigung des Gewissens vor Gott. 33 Pia Schmid: »wie glücklich man sey, wenn man sich dem Heiland ganz ergebe«. Selbstzweifel und Selbstgewissheit in Herrnhuter Lebensläufen des 18. Jahrhunderts. In: Udo Sträter u. a. (Hrsg.): Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung. 2 Bde. Tübingen 2009, S. 305–324, hier: S. 320. 34 Ebd. 35 Gleixner: Pietismus und Bürgertum, S. 124 [Hervorh. T. T.].
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als Männer benutzen »Textreferenzen« aus der Bibel, aus Predigten und Liedversen und vor allem aus der Erbauungsliteratur, »um ein Ich im Text zu entwickeln«.36 Folglich müssen die Schreibenden vielfache Erfahrung im Umgang mit der Bibel und erbaulichen Texten gehabt haben, so dass sie Sprachformeln übernehmen und kreativ verwenden konnten, um »Vorfälle des Alltags mit einer transzendenten biblischen oder auch mystischen Bedeutung«37 zu versehen. Gleixner und Schmid legen eine Frage nahe, die ich stellen und beantworten möchte: Welche Rolle kommt der Meditation für die Befähigung der Pietistinnen und Pietisten zu, sich in der eben erläuterten Weise autobiografisch auszudrücken?
4. Meditative Praktiken in Franckes Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen und ihre subjektiven Voraussetzungen August Hermann Francke setzt in seinen Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen einen Leser voraus, der zwar motiviert ist, an seiner christlichen Vollkommenheit zu arbeiten, aber noch nicht recht weiß, wie er es angehen soll: Ließ die Heilige Schriff t zu keinem andern Zweck / als darzu sie gegeben ist / nemlich / dass sie uns I. weise mache / 2. zur Seligkeit. 2. Tim.III.25. Gedencke nur gantz einfältig / du wollest I. glauben / 2. Thun / 3. Hoffen / was in der Schriff t I. gelehret / 2.geboten / 3.verheissen wird / wie du es für dir findest / so dencke / du wollest gantz und gar so seyn: und strebe darnach dein Lebenlang mit allen äusersten Kräff ten /die du von GOtt darzu empfähest / […] und denn wird dir das lebendige Wort GOttes der unvergängliche Saame seyn / I.Pet.I.23. dadurch du wiedergebohren wirst / und welches deine Seele reinigen wird im Gehorsam der Wahrheit.38
In dieser präzisen Anweisung wird eine doppelte Zielrichtung deutlich. Unter dem Stichwort »gedenke« nimmt Francke Bezug auf das Meditationsverständnis in der monastischen Tradition.39 Nach der biblischen Schlüsselstelle von Ps 1,1–2 40 forderte die meditatio vom Mönch, unablässig mit dem göttlichen Wort umzugehen. Das sollte geschehen, indem er die Texte der Heiligen Schrift murmelnd rezitierte, memorierte und sie sich als geistige Speise einverleibte.41 36
Gleixner: Pietismus und Bürgertum, S. 122. Ebd., S. 122. 38 Francke: Lebens=Reglen, S. 75. 39 Martin Nicol: Meditation II. In: TRE, Bd. 22. Berlin, New York, 1992, S. 338. 40 Psalm 1,1 f. in der Vulgata: »beatus vir, qui in lege Domini meditabitur die ac nocte« (»Wohl dem, der über das Gesetz des Herrn nachsinnt Tag und Nacht.«). 41 »Die Praxis der Meditation wird als Akt geistig-körperlicher Aneignung des Textes vorgestellt und mit dem Bild des wiederkäuenden Tieres (vgl. Lev 11,3; Dtn 14,6) verbunden: In der Lektüre wird die Schrift dem Magen des Gedächtnisses einverleibt und in der wiederholten 37
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Francke verweist seinen Leser unter dem Stichwort »strebe« auf die ethische Konsequenz der Meditationsübung: die Aneignung der göttlichen Wahrheit muss zur gelebten Tugend werden. Er fordert den Leser auf, nach dem Ideal, das er meditierend in der Schrift erkennt, ein »Lebenlang« zu streben. Die Erfolge soll der Leser täglich an sich selbst überprüfen: Bey Lesung der heiligen Schriff t hast du die beste Gelegenheit die Prüfung deines Glaubens und Gewissens vorzunehmen. Darumb bedencke I. Ob du also alles in der Erfahrung befindest wie es in der Schriff t vor Augen lieget / 2. Woher es komme / dass du noch so grosse Fehler in Lesung der Schriff t bey dir befindest. 3. Wie du doch zu dem Guten / das du siehest / durch hinlängliche Mittel kommen mögest.42
Im zweiten Kapitel der Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen findet der Leser eine ausführliche Anleitung zur Erforschung des Gewissens, wozu die abwechselnde Prüfung der »Worte, Werke, Gemütsbewegungen und Gedanken« gehört. Insbesondere bei der Prüfung der »Gemüths=Bewegungen« zeigt sich, dass es dem Leser nur gelingen kann, »gottselige« von »sündhaften Regungen« zu unterscheiden, wenn er zuvor gelernt hat, sich selbst zu objektivieren, das heißt, den »parteiischen Beobachter«43 in sich zu installieren. Nur dieser »parteiische Beobachter« vermag zu beurteilen, ob die inneren Regungen »das Gemüth nicht in eine verderbliche Unruhe und Bitterkeit setzen / sondern sich endlich alle […] in der Freude am Heiligen Geist endigen«:44 Weistu aber noch nicht / was lebendiger und in der Liebe thätiger Glaube ist / so hastu von nöthen / dass du wieder umkehrest / und von forne anfangest / und abermahls den Grund legest von der Busse der todten Wercke und muthwilliger Sünden / ehe du die Prüfung deiner Gedancken mit rechten Nutzen vornehmen kanst.45
Mit dieser Mahnung hebt Francke auf den ersten Ermöglichungsgrund pietistischer Ethik ab: auf das aktiv zu suchende, aber letztlich passive Geschehen von Buße und Bekehrung. Deshalb formuliert er hier, der Leser solle »von forne« anfangen und sich den »Grund« – das heißt die grundlegende Erfahrung von der eigenen Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit – aneignen. Wie aber eignet sich der Leser eine Erfahrung an, die sich doch durch ihren Widerfahrnischarakter auszeichnet? Francke antwortet adäquat zum Frömmigkeitsdiskurs der lutherischen Kirche im 17. Jahrhundert: Der Leser solle »hinlängliche Mittel« benutzen. Welche Mittel er Rezitation allmählich wiederkäuend verdaut (ruminatio). […] Die Vorstellung der ›ruminatio‹ wird das ganze Mittelalter hindurch tradiert und findet sich noch in der Frömmigkeitsliteratur der protestantischen Orthodoxie und des Pietismus.« Vgl. Günther Butzer: Meditation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5. Hrsg. v. Gert Ueding. Tübingen 2001, S. 1018. 42 Francke: Lebens=Reglen, S. 60. 43 Pia Schmid: »wie glücklich man sey …«, S. 320. 44 Francke: Lebens=Reglen, S. 59. 45 Ebd., S. 53.
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damit meint, erklärt er in seinem Vorwort zu dem von ihm übersetzten und herausgegebenen katholischen Erbauungsbuch Betrachtungen. Wie ein Mensch in sich selbst gehen / und sein Leben bessern soll (1698): Unter solchen Mitteln aber ist nicht das geringste die Meditation oder Betrachtung. Weswegen denn auch verständige Lehrer allzeit darauf gedrungen / ja sogar auch die Art und Weise fürgeschrieben / wie eine göttliche Betrachtung heilsamlich anzustellen sey / oder auch ihre Betrachtungen ans Licht gegeben / damit ungeübte Anfänger ein Exempel vor sich hätten / darnach auch sie ihre Betrachtung anstellen könten.46
5. Die literarische Verbreitung der Meditation im Luthertum des 17. Jahrhunderts Francke empfiehlt die Meditation als Methode zur Bekehrung. Die Bekehrung beschreibt er in seinem Vorwort zu den Betrachtungen ganz und gar nicht als eine plötzliche Gottesbegegnung – wie die textunkritische Lesart seines Lebenslauff es47 nahe legt –, sondern als methodische Übung, »wodurch man einen Menschen zu einer wahren Gemüths=Nüchternheit bringen möge / da er eine ernstliche und zulängliche Sorge für seine Seele trage.«48 Mit dieser Empfehlung der Meditation steht Francke nicht allein. Im Gegenteil, er steht in einem vielschichtigen Frömmigkeitsdiskurs, der konfessionsübergreifend im 17. Jahrhundert im Kontext der Erbauungsliteratur ausgetragen wurde.49 Dabei wurde der Meditation eine zentrale Rolle zugemessen, wie Udo Sträter für die lutherische Kirche aufzeigt: Es begegnet [uns] das neue Interesse der Lutheraner an Meditation aber nicht nur in Gestalt von ausgeführten literarischen Formen oder als prägendes Element oder strukturierendes Prinzip von Texten – die Meditation ist in einer Fülle von Schriften Gegenstand unendlicher Mahnungen, Aufforderungen, Anleitungen, sie zu betreiben.50 46
Betrachtungen. Wie ein Mensch in sich selbst gehen / und sein Leben bessern soll / Aus dem Italiänischen übersetztet Und nebst einer Vorrede von Herrn M. August Hermann Frankken. Halle 1698, A5v–A6r. 47 Herrn M. August Hermann Franckens vormahls Diaconi zu Erff urt, und nach dem er daselbst höchst unrechtmäßig dimittiret, zu Hall in Sachsen Churf. Brandenburg. Prof. Hebraeae Lingvae, und in der Vorstadt Glaucha Pastoris Lebenslau ff. In: Lebensläufe August Hermann Franckes. Hrsg. v. Markus Matthias. Leipzig 1999, S. 5–32. 48 Betrachtungen, A2v. 49 Ulrike Gleixner kommt zu dem Schluss, dass trotz aller regionalen und kirchlich-dogmatischen Unterschiede die »Vorschläge zur Erneuerung der Frömmigkeit in den christlichen Konfessionen des 17. Jahrhunderts weitgehende Ähnlichkeiten« aufweisen, »so dass man von einem europäischen Aufbruch sprechen kann«. Vgl. Gleixner: Pietismus und Bürgertum, S. 49. 50 Sträter: »Wie bringen …«, S. 14.
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Die Renaissance der Meditation als ursprünglich monastische Praktik begann bereits im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts nach der Konsolidierung der Reformation. Lutherisch-orthodoxe Theologen wie Martin Moller (1547–1606) oder Johann Gerhard (1582–1637) suchten nach Möglichkeiten einer meditativen Verinnerlichung der lutherischen Glaubenslehre. Dabei stießen sie auf altkirchliche Gebetstexte und auf Texte der mittelalterlichen Mystik – hier vor allen Dingen die unter dem Namen Augustins überlieferten Meditationes, Soliloquia und das Manuale. An ihnen erarbeiteten sie sich Themen und sprachliche Mittel, die sie daraufhin zu eigenen protestantischen Meditationen umformten und veröffentlichten.51 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts verzeichnete der gut funktionierende und international vernetzte Bücher- und Übersetzungsmarkt eine stete Zunahme an Produktionen und Auflagen erbaulicher Literatur. Dazu zählen die Meditationsbücher im engeren Sinne – zum Beispiel Mollers Soliloqvia de Passione Christi (1587), Gerhards Meditationes Sacrae (1606) oder Heinrich Müllers Liebeskuss (1659) –, die Handbücher zur christlichen Lebensführung – wie Baylys Praxis Pietatis (1611) mit einer anglikanischen und einer katholischen Meditationsanleitung im Anhang52 –, Gebets- und Trostschriften, Gesangbücher, Predigtsammlungen und geistliche Lyrik. Achtet man bei all diesen erbaulichen Texten »auf die typische Meditations-Struktur in der Abfolge von rhetorisch angelegtem diskursiven und affektivem Teil – dann erweist sich Meditation in der religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts […] als fast omnipräsent«.53 Aber die Meditation interessierte die Theologen der lutherischen Kirche nicht nur als Strukturprinzip für ihre erbaulichen Texte und Predigten. Insbesondere in den Kreisen der innerlutherischen Kirchenkritiker versprach man sich von der Meditation die Behebung eines zentralen kirchlichen Problems, das Sträter in ihren Schriften als fortwährende »Frage, Klage oder Forderung« wieder findet: Das reichlich gepredigte Wort ging offenbar zum einen Ohr der Gemeinde, die doch als die ›Zuhörer‹ apostrophiert wurde, hinein und zum anderen gleich wieder hinaus. Es berührte den Kopf […], aber es fand nicht den Weg in das Herz, in den Sitz von Willen und Affekten, wo der heilbringende Glaube sein Fundament haben und wo er seine Wirkung tun sollte.54
51
Günther Butzer: Rhetorik der Meditation. Martin Mollers »Soliloqvua de Passione Iesu Christi« und die Tradition der elquentia sacra. In: Kurz (Hrsg.): Meditation und Erinnerung, S. 62; Johann Anselm Steiger: Meditatio sacra. Zur theologie-, frömmigkeits- und rezeptionsgeschichtlichen Relevanz der ›Meditationes Sacrae‹ (1606) Johann Gerhards. In: Kurz (Hrsg.): Meditation und Erinnerung, S. 39 ff. 52 Sträter: Sonthom, S. 82, 86. 53 Sträter: »Wie bringen …«, S. 33. 54 Ebd., S. 16.
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Außerdem weist Sträter nach, dass eine Reihe reformorientierter orthodox-lutherischer Theologen in ihren Predigten und Traktaten die Gemeindeglieder vehement dazu aufforderten, zumindest am Sonntag die Predigt in gründlicher Meditation nachzubereiten, damit »sich das gepredigte Wort ins Leben verwandelte, ›Herz‹ und Affekte bestimmte und im Willen Wirkkraft entfalten konnte«.55 Deshalb forderten die Reformtheologen ihre Predigthörer auf, sich die Meditation als notwendige Pflicht eines Christen täglich, mindestens aber sonntäglich anzugewöhnen. Nur durch eine konsequente »Praxis pietatis« könne »die offenbar fehlende Kraftübertragung hergestellt werden zwischen Intellekt und Affekt, zwischen Verstehen und Wollen, zwischen Lehre und Leben«.56 In ihren Handbüchern zur christlichen Lebensführung versuchten die Reformtheologen, die Leser von dem geistlichen und lebenspraktischen Nutzen einer »umfassenden exercitia pietatis« zu überzeugen, die den christlichen Tagesablauf in den lutherischen Familien bestimmen sollte.57 Als wichtigste Inspirationsquelle für die Reformer der lutherischen Orthodoxie nennt Sträter die Praxis Pietatis des englischen Bischofs Joseph Bayly.58 Das puritanische Erbauungsbuch führt seit seiner ersten lutherischen Übersetzung im Jahr 1631 in Lüneburg einen anonymen zweiten Teil mit sich. Bei diesem handelt es sich um The Art of Divine Meditation (1606) von Joseph Hall.59 Hall entwickelt seine Meditationsanleitung als »protestantische Alternative« zu den Exercitia Spiritualia von Ignatius von Loyola.60 Im ersten Schritt der Übung führt sich der Meditierende die Lehrgegenstände anschaulich vor Augen, während er im zweiten Schritt auf seinen Willen und seine Affekte einwirkt.61 Für die tägliche Übung schlägt Hall ein unerlässliches, aber »sehr lockeres Minimalprogramm« vor, so dass die Methodik auf das Notwendigste reduziert wird.62 Denn sein Anliegen ist es, die methodische Meditation im Berufsalltag des Laien zu verankern und ihm zu beweisen, »dass auch in eine vita activa meditative Phasen integrierbar sind und sich geradezu als ›profitabel‹ für die Lebensführung erweisen«.63 55
Ebd., S. 22. Ebd., S. 16. 57 Ebd., S. 19. 58 Die ›Praxis Pietatis‹ gibt »genaueste Anweisungen, wie die Spiritualisierung des Alltagslebens zu erreichen sei: Bibellektüre, regelmäßige Gebetszeiten in Anwesenheit aller Hausgenossen, morgens, abends, vor den Mahlzeiten sowie besondere Gebete am Sonntag und vor dem Abendmahl, permanente Selbstbeobachtung, um Selbstliebe und Unglaube zu erkennen und jede Sünde in der ersten Regung zu ersticken, das persönliche Kreuz als besondere Gnade Gottes in Geduld zu tragen, die Vermeidung unnützer Reden«. Vgl. Gleixner: Pietismus, S. 52. 59 Sträter: Sonthom, S. 81. 60 Ebd., S. 86. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 88. 63 Ebd., S. 87. 56
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Mit Halls Bestreben »zur Popularisierung methodischer Meditation« übernimmt das Luthertum aus dem englischen Puritanismus eine Entwicklung, die nach Sträters Diagnose »zur Aufhebung der Methodik führt und den ›Laien‹ als selbstständigen Ausleger und Prediger des Wortes installiert«.64 Diese Entwicklung mündet in den souveränen Gebrauch meditativer Elemente in der pietistischen Autobiografik, die, wie ich noch zeigen werde, letztlich zum Verschwinden der methodischen Meditation im lutherischen Pietismus führt. Zuvor jedoch möchte ich die systematische Frage auf der Ebene der literarischen Meditationspraktik beantworten: Was tut der Leser eigentlich, wenn er meditiert? Oder umgekehrt: Was tun die Texte mit dem Leser? Wie bringen sie ihn dazu, sich selbst als Sünder und damit erlösungsbedürftigen Menschen wahrzunehmen und die aufsteigenden Gemütsbewegungen entsprechend zu beurteilen?
6. Die Wirkung der literarischen Meditation auf den Leser Da die meisten der Meditationsbücher wie auch die Handbücher zur christlichen Lebensführung in Form einer Meditation – das heißt als eine »persuasive«, dialogische Rede – organisiert sind, wird jede Lektüre, sogar die von Anweisungen, wann, unter welchen Bedingungen und mit welcher Geisteshaltung meditiert werden soll, zu einem ›Lehrgang in Meditation‹.65 Das heißt, Meditieren lernte man im 17. Jahrhundert im Vollzug: Entweder hörte man aufmerksam die Predigt, ließ sich vom Prediger affizieren und zur Buße motivieren, oder man las morgens und abends ein Kapitel aus einem der unzähligen Erbauungsbücher. Martin Moller war einer der ersten und dazu ein äußerst produktiver Erbauungsschriftsteller der lutherischen Kirche. An seinen Soliloqvia de Passione Christi (1587)66 lässt sich sehr gut nachvollziehen, welche ›rhetorische Operation‹ die Meditation am Leser vornimmt. In jedem der 20 Kapitel hält sich Moller an dasselbe rhetorische Schema: Zuerst wird eine historische Begebenheit oder der Schauplatz der Passion eingeführt (inventio), dann schließt die eigentliche Meditation des Themas an (dispositio), die 64
Sträter: Sonthom, S. 90. Das »geistliche Priestertum« unter den besonders engagierten Christen war eine der Hauptforderungen Speners in seinen ›Pia Desideria‹ gewesen. Zur Realisierung von Speners Forderung hatten in der Stadt Leipzig in den Jahren 1698/99 Francke und seine Mitstreiter erbauliche Bibelkollegs gehalten, wodurch religiös begeisterte Studenten und Bürger angeregt wurden, eigene ›collegia pietatis‹ zu veranstalten. 65 Vgl. Sträter: Meditation, S. 55, 115. 66 Martin Moller: Soliloqvia de passione Jesu Christi. Wie ein jeder Christen Mensch das allerheiligste Leyden und Sterben unsers Heren Jesu Christi in seinem Hertzen betrachten / Allerley schöne Lehren daraus schöpffen / und zu einem Christlichen Leben und Seligen Sterben nützlich gebrauchen sol. Görlitz 1587.
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mit einem Gebet beschlossen wird. Die Texte sind als ein trialogisches Selbstgespräch organisiert, das auf Augustinus Soliloquia zurückgeht:67 zwischen einer höheren Instanz (das kann Christus sein oder der Autor selbst), der Seele (des Lesers) und Gott. Der Leser wohnt diesem Gespräch nicht einfach bei, sondern er führt es lesend mit sich selbst. Im Lesen bringt er sich die Historie, deren theologische Auslegung und die dazugehörigen Gemütsbewegungen bei. Dazu versetzt ihn die Textstruktur zunächst in eine höhere Sprecherposition, von der aus er auf seine »liebe Seele« einredet: Lerne aber hie, liebe Seele, und sihe zu, das du in deines Herren Fußstapffen trettest. Denn sihe, weil er sein Leyden zuvor wusste, und ihme nichts verborgen sein kundte, redet er off tmals davon, verkündigt es seinen Jüngern, und ergibet sich zur bestimpten Zeit gehorsam. Also auch, liebe Seele, weil du weißt, das alle Kinder Gottes durch viel Trübsal, unnd endlich durch den Tod, ins Reich Gottes eingehen müssen, so entsetze dich nicht, wenn dir der herr sein Creutz auffleget. Denn dir widerfehret nichts newes, Gedencke, das dirs der Herr zuvor gesaget hat.68
Diese rhetorische Inszenierung des Selbstgesprächs entfaltet ihre Wirkung, weil der Leser mit rhetorischen Mitteln auf seine Vorstellungskraft einwirkt. Das hat den Effekt, dass er sich in die Lehrgehalte nicht nur hineindenkt, sondern sich affektiv in sie hineinlebt. »Gesteuert wird die Affekterzeugung von einer durchgängigen antithetischen Struktur auf der Mikro- und Makroebene der Texte«, 69 die an der lutherischen Theologia crucis ausgerichtet ist.70 Ziel der Selbstbesprechung ist es, dass sich der Leser am Leiden Christi selbst als der schuldige Sünder empfindet, um sich sodann mit ganzer Willenskraft dem Erlösungswerk Christi zuzuwenden. Der meditative Textvollzug steuert auf die Erkenntnis zu, dass die »Heilung« von der Sünde »nur im Rahmen der Heiligung möglich ist; diese aber ist angewiesen auf die Gnade der Inspiration«.71 Diese Erkenntnis vermittelt der Text mit Hilfe des abschließenden Gebets. Im vorgegebenen Gebetstext wechselt der Leser wieder die Sprecherposition: Er verlässt die höhere Instanz und identifiziert sich nun mit seiner affizierten Seele. Als Seele ruft er Gott an, beschuldigt sich seiner Fehler und bittet um Hilfe, damit er die neuen Heilserkenntnisse im Leben wirksam umsetzen kann: Hilff Herr Jesu, das ich mich allezeit zum Creutze und Verfolgung schicke. Denn also ists beschlossen, und also gefellet es dir, dass wir dein Creutz auff uns nehmen, 67
Butzer: Rhetorik, S. 60. Moller: Soliloqvia, S. 16. 69 Butzer: Rhetorik, S. 61 f. 70 Günter Butzer: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München 2008, S. 211. 71 Ebd., S. 214. 68
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und dir nachfolgen sollen. Gib das ich davon off t rede, off t daran gedencke, und tägliche bereyt sey, nicht allein alle Widerwertigkeit der Welt zu dulden, sondern auch so es dir also gefiele, umb deines willen auch das Leben zu lassen. Amen.72
Mollers trialogisch gebaute Meditationen demonstrieren die rhetorisch beabsichtigte Wirkung der »persuasiven« Meditation, die sich in der Erbauungsliteratur des Luthertums durchgesetzt hat. Die »persuasive« Methode zielt – in Anlehnung an Luthers Trias73 – nicht mehr auf die contemplatio der mystischen Tradition als eine ekstatische Vereinigung der Seele mit Gott (unio mystica). Seit Luther hat sich das Ziel der Meditation verschoben »von dem (methodisch herbeizuführenden) Gotteserlebnis auf das Verstehen, die Aneignung und Anwendung der Schriftwahrheit.«74 Günther Butzer betont in seiner Studie zu Mollers Soliloqvia, dass es sich um eine »individuelle emotionale Aneignung«75 der Glaubensinhalte handelt, die im Modus der »sprachlich vermittelten Selbstaffektion«76 erfolgt. Ich möchte Butzers methodischen Blick um eine pädagogische Sichtweise ergänzen. Betrachte ich das Subjekt als ein im Werden begriffenes, dann lässt sich auf der Textebene auch ein Prozess der Bewusstseinsformung nachweisen. Im Vollzug der meditativen Texte lernt der Leser, eine objektivierende Position zu sich selbst einzunehmen, die er trialogisch gestaltet. Meditierend erlebt er sich – mit sich selbst und mit Gott sprechend – als Subjekt und als Objekt. Als Subjekt spricht er sich aus höherer Instanz die göttlichen Wahrheiten zu, während er sich gleichzeitig als Objekt in seinem Sündersein mit den dazugehörigen Gefühlen von Schmerz und Reue erlebt. Zu diesem Reflexionsprozess »tritt das kontemplative Gebet lediglich als Bestätigung des Sich-verstehens vor Gott in der erkannten und angenommenen Wahrheit hinzu«.77 In der Aussprache vor Gott verschmilzt das sündige Objekt mit der höheren Instanz zu einem neuen Subjekt (der »neuen Kreatur«), das sich selbst erkannt hat und deshalb entschließt, in den Prozess der Erneuerung einzutreten. Diesen Bewusstseinsschritt, der auf der Ebene der Textmeditation unzählige Male wiederholt wird, bis er sich im Individuum als ein pietistischer Habitus manifestiert, hat August Hermann Francke als »Bekehrung« bezeichnet. Die Anhänger der pietistischen Bewegung wurden in Leipzig im Jahr 1689 aufgrund eben jener 72
Moller: Soliloqvia, S. 16. Luther stellte die vierstufige Methode der monastischen Tradition von ›lectio-meditatiooratio-contemplatio‹ um zur Trias von ›oratio-meditatio-tentatio‹, die zugleich sein theologisches Programm enthält. Vgl. Martin Nicol: Meditation bei Luther. 2., durchgesehene und ergänzte Aufl. Göttingen 1991. 74 Elke Axmacher: Praxis Evangeliorum. Theologie und Frömmigkeit bei Martin Moller (1547–1606). Göttingen 1989, S. 174. 75 Butzer: Rhetorik, S. 72. 76 Butzer: Soliloquim, S. 96. 77 Axmacher: Praxis, S. 174. 73
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pietistischen Haltung verdächtigt, die biblischen Wahrheiten im eigenen Leben nicht nur befolgen zu wollen, sondern auch zu können. Wobei Vollkommenheit im pietistischen Sinne nicht meint, wie Francke in seinen Verteidigungsthesen78 erklärt, vollkommen zu sein, sondern »mit allen äusersten Kräff ten«79 danach zu streben.
7. Fazit: Autobiografisches Schreiben wird zur wichtigsten Übung in der »Christen Vollkommenheit« Pietistinnen und Pietisten haben ihrem individuellen Streben nach Vollkommenheit schriftlich Ausdruck gegeben – beziehungsweise unter dem Gruppenzwang der Herrnhuter Brüdergemeinde geben müssen –, wodurch die unzähligen Selbstzeugnisse des Pietismus in Form von Briefen, Tagebüchern und Lebensläufen entstanden sind. Ihre autobiografischen Texte lese ich – unter Berücksichtigung des linguistic turn in der Historik – als eine Handlungspraxis beziehungsweise als eine Übung zur Gottseligkeit: Schreibend üben sie sich, »Haltung, Gefühlsausdruck und Phrasen aus der erbaulichen Literatur« selbstständig zu reproduzieren und auf sich selbst anzuwenden.80 Mit dieser Interpretation schließe ich mich an die Ergebnisse von Gleixner und Schmid zur Autobiografik im Pietismus an, jedoch führe ich sie aus historisch-genetischer Perspektive auf die verbreitete literarische Meditationspraktik zurück. Schmid und Gleixner argumentieren mit Bezug auf Michel Foucaults Begriff der »Selbst-Technologien«:81 Für Schmid sind die Herrnhuter Lebensläufe »Zeugnis der Genese von Subjektivität im Medium religiöser Vergemeinschaftung«.82 Gleixner spitzt diese Beobachtung zu, indem sie das pietistische Schreiben als einen konkreten Lebensvollzug beschreibt, der von dem schreibenden Subjekt nicht zu trennen ist. »Erst durch das Schreiben erfährt, erkennt und konstituiert sich das Subjekt als pietistisch, gleichzeitig schaff t es damit wieder neue Identifikationsstrukturen innerhalb der frommen Genealogie.«83 Meine Frage war: Wie oder wodurch wurde es den Schreibenden möglich, ihr pietistisches »Ich« im Text zu erschaffen? Meine Antwort lautet, dass sich die Sprachund Reflexionsfähigkeit, das eigene Leben aus einer höheren Instanz wahrnehmen 78
Francke: Anhang, S. 356. Francke: Lebens=Reglen, S. 75. 80 Gleixner: Pietismus und Bürgertum, S. 122. 81 Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Luther H. Martin u. a. (Hrsg.): Technologien des Selbst. Frankfurt a. M. 1993, S. 24–62. 82 Schmid: Selbstzweifel, S. 321. 83 Gleixner: Pietismus und Bürgertum, S. 124. 79
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und beurteilen zu können, im wiederholenden Vollzug literarischer Meditationen ausprägt. Mittels der rhetorischen Selbstbesprechung lernt der Leser, sich biblische Formeln und theologische Topoi anzueignen und die adäquaten Gefühle in sich zu erzeugen. Dazu gehören der Schmerz über begangene Sünden, die Furcht vor dem göttlichen Urteil, der Hass auf die Sünde. Aber auch die erhebenden Gemütsbewegungen gehören dazu wie die Hoff nung auf die Barmherzigkeit Gottes und die »Empfindung der Liebe Christi«, die, wie Francke verkündet, »fleusset durch unser Hertz, als ein geschmoltzener Zucker, oder kräftiger Balsam, dass es seine Süßigkeit fühlet und darüber voll unaussprechlicher Freude wird«.84 Vor dem Hintergrund meiner These wende ich mich abschließend der meditativen Vollzugsebene der pietistischen Selbstzeugnisse zu. Katja Lißmann macht anhand der Briefe der Quedlinburger Pietistinnen Sophia Maria von Stammer und Anna Magdalena von Wurm an Francke auf die meditative Fähigkeit der Schreiberinnen aufmerksam: Ihre [Stammers, d. Vf.n.] Briefe an Francke geraten zu ausufernden schriftlichen Übungen, in deren Vollzug die Briefautorin versucht, eine bestimmte Haltung der Willenlosigkeit als Weg der Nachfolge Jesu zu kultivieren – und zwar methodisch über das Medium der Meditation. Der Sinn der schriftlichen Übungen erweist sich gerade in ihrem Wiederholungscharakter und ihrer Monotonie; sie sind Praktiken der restlosen Ausrichtung des eigenen Willens, des Empfindens, Handelns und Sprechens auf Gott.85
Doch handelt es sich hier tatsächlich um Meditation im beschriebenen Schema trialogischer Selbstbesprechung? In den Briefen, die Lißmann zitiert, wie auch in den Herrnhuter Lebensläufen wird das trialogische Modell rhetorischer Selbstbesprechung zugunsten eines autobiografischen Schreibmodus aufgegeben. Der Pietist, die Pietistin spricht nicht mehr aus einer höheren Instanz zur eigenen Seele, sondern spricht sich vor dem prüfenden Blick des oder der anderen aus. So auch im Fall von Anna Magdalena von Wurm, die sich in ihren Briefen direkt an ihren Seelenbruder Francke wendet. Sie bittet ihn um Gebetsbeistand, »damit dasjenige welches ich als wahrheit erkenne, in meinem hertzen feste und unbeweglich werden möge«86. Auch an anderer Stelle verwendet sie den Sprechmodus des Gebets, um ihr Streben nach Vervollkommnung auszudrücken: »wie hatt mich die schriff t bewegt 84
Quedlinburgisches Zeugniß, S. 109. Katja Lißmann: »Übung wahrer Gottseligkeit«. Briefpraktiken von Frauen im frühen Quedlinburger Pietismus: Aneignende Erfahrung. In: Christian Soboth u. a. (Hrsg.): »Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget«. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009, Bd. 1. Tübingen 2012, S. 419–432, hier: S. 427 f. 86 Lißmann: Übung, S. 429. 85
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[…], liebster Gott wenn ich doch gantz und gar so seyn möchte, wie ich dieses als wahrheit erkenne«.87 Das ›pietistische Subjekt‹ nutzt die Formeln der Erbauungsliteratur. ›Es‹ nutzt sie aber nicht, um zu sich zu sprechen, sondern um über sich oder zu einem anderen zu sprechen. Damit verabschiedet ›es‹ sich von der literarischen Meditation; ›es steigt‹ gewissermaßen aus den Texten der Erbauungsliteratur ›aus‹ – und wird erst dadurch überhaupt als ›pietistisches Subjekt‹ für die anderen wahrnehmbar. Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Gewissensprüfung transportiert sich aus der literarischen Meditation in die neue Textsituation, indem sich die Schreibenden selbstbewusst mit der höheren Instanz – die im rhetorischen Sprechmodus Christus vorbehalten war – identifizieren. In der pietistischen Gruppenkultur tritt außerdem noch die Gruppe an die Stelle der höheren Instanz. Durch die Internalisierung der höheren Instanz und der kollektiven Maßstäbe gelingt es den Schreibenden, das eigene Leben einer Gewissensprüfung zu unterziehen, wie sie Francke in den Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen fordert. An dieser Stelle komme ich auf den Effekt der Bewusstseinsformung im Vollzug der Meditation zurück. Insofern die Verfasser autobiografischer Texte die eigenen Gemütsbewegungen und »sündlichen Reitzungen« als etwas Objektives verstehen, sind sie ihnen – zumindest auf der Ebene des Textes – nicht mehr ausgeliefert. Nichts anderes meint Francke mit seiner Definition »von der Christen Vollkommenheit«. Es ging ihm um die »Selbst-Bemeisterung«, in der sich die Pietistin und der Pietist während des Schreibens autobiografischer Texte üben. Dabei konnte sogar der Rückfall in die Sünde als ein Erfolg in der »Selbst-Bemeisterung« verbucht werden. Sobald der Fehler erst einmal wahrgenommen und erkannt worden ist, beweist er die Wirksamkeit des »parteiischen Beobachters«.
8. Abspann: Vom Verschwinden der methodischen Meditation hinter dem pietistischen Selbstausdruck im 18. Jahrhundert Bleibt eine letzte Frage: Was geschah mit der literarischen Tradition der Meditation im Luthertum, sobald die pietistischen autobiografischen Textproduktionen im 18. Jahrhundert zunahmen? Günther Butzer, der in seiner Studie Soliloquium (2008) die europäische Diskursgeschichte des meditativen Selbstgesprächs von der Antike über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit verfolgt, hat darauf bereits eine Antwort gefunden. In der pietistischen, autobiografisch geprägten Erbauungsliteratur bemerkt er ein »Ver-
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stummen der vordem sprachlichen Selbstformung«.88 Dieses Verstummen begründet Butzer mit dem »Übergang vom rhetorischen zum autobiografischen Schreibmodus, mithin von der Selbstaffektion zum Selbstausdruck«. Das bedeutet »letzten Endes den Verlust der Anschlussfähigkeit der Texte für die meditative Lektüre«.89 Sobald Selbstprüfung und Meditation untrennbar miteinander verbunden werden – wie in Franckes Schriff tmäßige[n] Lebens=Reglen – »verselbstständigt sich […] die erstere; und geht […] eine Verbindung mit narrativen Textverfahren ein«.90 Die narrativen autobiografischen Texte, in denen der oder die Einzelne die Erfolge ihrer meditativen Übungspraxis dokumentiert, können nicht mehr im meditativen Rezeptionsmodus gelesen werden, indem der Leser sich selbst in die Position des sprechenden Ichs versetzt; es handelt sich vielmehr um beispielhafte Erzählungen eines fremden Lebens, die einen moraldidaktischen Zweck verfolgen und auf das eigene Leben des Lesers erst übertragen werden müssen.91
Eine Ironie der Geschichte des lutherischen Pietismus? Die Meditationspraktik rhetorischer Selbstbearbeitung brachte ein religiöses Subjekt hervor, das, einmal zum Sprechen gekommen, eben diese Praktik abwarf wie einen alten Mantel? Die autobiografischen Texte der pietistischen Bewegung beweisen die gelungene Verbreitung und Wirkung der literarischen Meditation im Luthertum. An den Texten lernten die Pietistinnen und Pietisten, sich selbst mit der höheren Instanz zu identifi zieren. Das versetzte sie bei hinreichender Übung in einen neuen Bewusstseinsstand, so dass sie sich nun selbstständig (schreibend und sprechend) – also ohne Textvorlage – prüfen, be- und verurteilen, erziehen und bemeistern konnten. Systematisch betrachtet fallen in dem pietistisch-autobiografischen Redemodus zwei Sprechebenen ineinander: das sind die »liebe« Seele und die höhere Instanz, für die der Heilige Geist oder Christus eingesetzt wurde. Sobald jedoch die schreibenden Pietistinnen und Pietisten den Heiligen Geist ihrem Seelenleben zurechneten, gab es kein Außen mehr, an das sich die Vervollkommnung abgeben ließe. Nahezu aufklärerisch ging die gesamte Verantwortung für die pietistische Vervollkommnung auf das Subjekt über.
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Butzer: Soliloquium, S. 40. Ebd., S. 295. Ebd., S. 296. Ebd., S. 314.
Kelly J. Whitmer
Botany as a Science of Perfection Observation, Examples and ›Vollkommenheit‹ in Johann Julius Hecker’s Einleitung in die Botanic (1734)
Vollkommenheit, Lat. Perfectio, ist diejenige Eigenschaff t einer Sache, da sie alles dasjenige an sich hat, was sie ihrem Wesen und ihrer Absicht nach, warum fleist, an sich haben soll. In den gemeinen Metaphysicen werden von derselben allerhand Eintheilungen fürgebracht, indem man solche in eine besondere (PERFECTIONEM PARTICULAREM) und in ein gäntzliche (TOTALEM) eintheilet, […].1
To practice botany in early modern Europe and its colonies was to participate in a sustained series of efforts to come to terms with mounting evidence of the world’s biodiversity and to better understand the characteristics or qualities of plants. Several scholars have pointed to the utopian aspirations of many of those involved in these efforts – including those who worked to systematically collect and identify plants in botanical gardens, colonial outposts and on botanical expeditions.2 Indeed, a preoccupation with building utopia through the control or manipulation of the natural world is crucial to understanding this period and ultimately resulted in the production of several classificatory schemes or frameworks – including Carl Linnaeus’s Systema Natura – that promised to help more effectively manage the ever-increasing flows of information about places, peoples and plants from all over the world.3 1
Art. ›Vollkommenheit‹. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, vol. 50. Halle, Leipzig 1746, p. 261. 2 Richard Drayton: Nature’s Government: Science, Imperial Britain and the ›Improvement‹ of the World. New Haven, Conn. 2000; Emma Spary: Utopia’s Garden. Chicago 2000; Holger Zaunstöck: Gärten als epistemologische Modelle. In: Ulrich J. Schneider (Ed.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, pp. 533–535; Londa Schiebinger and Claudia Swan: Colonial Botany: Science, Commerce and Politics in the Early Modern World. Philadelphia 2007; Londa Schiebinger: Plants and Empire: Colonial Bioprospecting in the Atlantic World. Cambridge, MA 2004; Antonio Barrrera: Local Herbs, Global Medicines: Commerce, Knowledge and Commodities in Spanish America. In: Paula Findlen and Pamela H. Smith (Eds.): Merchants and Marvels: Commerce, Science and Art in Early Modern Europe, London 2002, pp. 163–181. 3 Lisbet Koerner: Linnaeus: Nature and Nation. Cambridge, 1999; Stefan Müller-Wille: Collection and Collation: Theory and Practice in Linnaean Botany, Studies in History and Philosophy of Science, Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38/3 (2007), pp. 541–562.
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An ancient science associated with the pursuit of natural history and medicine, the study of botany in the early modern period was often about better understanding plants »indigenous« to particular regions.4 In Halle c. 1680–1690, the Knauth brothers – both physicians – were among the most active botanizers here. Christoph Knauth published a local flora, or an »enumeration« of seventeen classes of plants from this region.5 After the founding of the university, medical students worked on augmenting these enumerations. In 1717, a student named Abraham Rehfeldt published a new synopsis of all the species identified by Knauth on the Halle Orphanage press.6 And a bit later, in the early 1720s, another student of medicine, Johann Christian Buxbaum (1693–1730), helped reorganize the University’s botanical garden and produced his own account of local flora.7 By the early 1730s the study of botany was increasingly described as a universal science (eine Wissenschaft) with its own distinct identity apart from the related pursuits of medicine and natural history. In the introduction to a textbook on botany he wrote in 1734, a young student teacher named Johann Julius Hecker (1707–1768) defined botany as »a science of plants and their parts, which reveals their proper designation, nature and difference, effects and multifaceted uses«; it deserved to be called a science, he noted, because it involved engaging with and applying several irrefutably certain principles (unwiedersprechlich gewisse principia).8 The principles 4
Alix Cooper: Inventing the Indigenous: Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe. Cambridge 2007; Paula Findlen: Natural History. In: The Cambridge History of Science, vol. 3: Early Modern Science. Eds. Katherine Park and Lorraine Daston. Cambridge 2006, pp. 435–468; Brian Ogilvie: Science of Describing: Natural History in Renaissance Europe. Chicago 2006. 5 Christoph Knaut: Enumeratio Plantarum Circa Halam Saxonum Et In Eius Vicinia. Leipzig 1687. 6 Abraham Rehfeldt: Hodegus Botanicus Menstruus, Præmisis Rudimentis Botanicis, Plantas, Quæ potissimum circa Halam Saxonum, vel sponte proveniunt vel studiose nutriuntur, non solum usitatioribus nominibus enumerans; Sed &, quo loco eædem inveniantur, & quo tempore juxta seriem Mensium floreant, indigitans, Plantis officinalibus peculiariter notates. Halle 1717. 7 Johann Christian Buxbaum: Enumeration Plantarum accuratior in Agro Hallensi Locisque. Halle 1721; Walter Saal: Johann Christian Buxbaum. Ein Merseburger als erster Botaniker an der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Halle 1983, p. 8. Buxbaum was from Merseburg, a small town just outside of Halle, and before commencing his studies there, spent some time in Leiden. Later in his life he served as Tsar Peter the Great’s physician and botanist. He published descriptions of all the plants of Byzantium based on his travels throughout Greece and Turkey in the 1720s. Johann Christian Buxbaum: Plantarum minus cognitarum centuria […] compectens plantas circa Byzantium & oriente observatas. Petersburg 1728–1740. See Dániel Márgocsy: Refer to Folio and Number: Encyclopedias, the Exchange of Curiosities and the Practices of Identification before Linnaeus. In: The Journal of the History of Ideas 71/1 (2003), pp. 63–89. 8 Johann Julius Hecker: Einleitung in die Botanic. Worinnen die nöthigste Stücke dieser Wissenschaft kürtzlich abgehandelt werden, Mit einer Vorrede Herrn Friederich Hoff manns. Halle 1734, p. 1. »Die Botanic ist eine Wissenschaft von den Pflantzen und ihren Theilen, welche
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were certain and irrefutable, he said, despite the fact that ongoing disputes among different botanists had stressed that the study of botany did not have a mathematical clarity or distinctness.9 Hecker noted that it was still important to distinguish between nominal (or external) botany – which focused mainly on the names of plants – and philosophical botany (botanica philosophica or interna), which included the observation and investigation of plants’ structure, nutritional systems and other components. Medical botany (Botanica medica or oeconomica) was a third subfield concerned mainly with plants’ uses.10 Related to these changes in the early 1730s was a profound sense that botany was a science that desperately needed to be perfected. A portion of the entry on Botanica in Zedler’s Universallexicon notes that since antiquity »this science deteriorated and was almost entirely forgotten until several educated and hard-working men tried not only to restore it to its previous glory but in fact to bring it to the highest grade of perfection it has ever achieved.«11 Hecker noted that pursuing this science in the interest of perfecting it meant taking care to practice it with the help of a Naturalienkammer, a botanical garden, trips through woods, valleys and mountains, meadows and fields, and even at home. His introduction to the study of botany offers a great deal of insight into ongoing efforts to perfect the study of botany before the widespread acceptance of a Linnaean framework. When discussing his aspirations for botany as a science in his textbook, Hecker combined two distinct approaches to the pursuit of perfection or Vollkommenheit. In this essay I use this textbook, Hecker’s Einleitung in die Botanic, to consider his efforts to combine these approaches into a single, unified system of classification based around perfect flowers. First, it is important to recognize that Hecker was a theology student who trained with Halle’s circle of Pietists; thus, for him, perfectderselben richtige Benennung, Natur und Unterscheid, Wirckungen und vielfältigen Nutzen zeiget.« 9 Hecker: Einleitung, p. 2 f.: »Daß die Botanic eine Wissenschaft genennet wird, geschicht nicht ohne Grund. Denn obgleich die viele Streitigkeiten der Botanicorum zeigen, daß nicht alle Warheiten dieser Disciplin eine mathematische Deutlichkeit haben, so hat sie doch in verschiedenen Stücken unwiedersprechlich gewisse principia. Daher sie mit eben dem Recht also die Physic eine Wissenschaft genant worden.« 10 Ibid., p. 4: »Wenn man sich blos um die Namen und Benennung der Pfl antzen bekümmert, so heist solches Botanica nominalis oder externa. Wenn man die wunderbare Structur, Fortpflantzung, Ernehrung und andere Eigenschaften der Kräuter betrachtet und untersuchet, so ist dieses Botanica philosophica oder interna. Wenn man endlich den Nutzen der Pflantzen in der Oeconomie oder Artzney lernet oder vorträget, so wird sie Botanica medica und oeconomica genennet.« 11 Zedler: Universal-Lexicon, vol. 4. Halle, Leipzig 1733, p. 430: »In folgenden Zeiten ist diese Wißenschaff t fast überall in Abgang und Vergeßenheit gerathen, bis sie nunmehr durch geschickte und fleißige Männer wieder hervorgesucht, und nicht nur zu ihrem vorigen Ruhm, sondern fast zu ihrer höchsten Vollkommenheit erhaben worden.«
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ing botany involved the study of history, especially Biblical history, as a means of acquiring access to examples (Exemplaria) of perfected individuals and plants and training skilled »scientific observers« able to recognize these Exemplaria.12 Second, for Hecker perfecting the science of botany was an enterprise linked to completeness, to synthesizing information about plants in the interest of creating a universal system of botanical classification. He privileged classificatory schemes that were organized around the idea of exemplary plants’ perfection and imperfection as a fundamental organizational principle. Johann Julius Hecker came to the University of Halle in May of 1726 to study theology and in 1729, like many theology students before him, worked in exchange for room and board as a teacher in the Pädagogium.13 Halle’s Pädagogium was an elite boarding school mostly for the sons of ennobled gentlemen associated with the educational complex or »city of schools« (Schulstadt) founded by the Pietist pastor, and later professor of theology, named August Hermann Francke in the late 1690s. While working as a teacher here Hecker taught a combination of history, German language, religion, Hebrew and Greek in addition to botany, anatomy, physiology, chemistry and materia medica. He left Halle in 1735 to take up a post as the inspector of Potsdam’s Military Orphanage, after which he started a Realschule in Berlin for which he is still well known. Because of his affi liation with Halle’s theology faculty in the years immediately following Christian Wolff ’s (1679–1754) notorious expulsion from the city in 1723, Hecker is generally thought of as a Pietist. Hecker’s biographer notes that he learned all of the »most important forms of knowledge« from his teachers Joachim Justus Breithaupt (1658–1732), Paul Anton (1661–1730), August Hermann Francke (1663–1727), Johann Joachim Lange (1670–1744) and Johann Jakob Rambach (1693–1735) in the theology faculty of the University, firmly locating him within the community of Pietists and their students for which the University became famous in the early years of the eighteenth century.14 After studying Hecker’s correspondence with A. H. Francke’s son, Gotthilf August Francke (1696–1769), 12
Hecker was one of many student teachers in Halle committing to training up a new generation of highly skilled ›scientific observers‹. For an introduction to the history of scientific observation see Lorraine Daston and Elizabeth Lunbeck (Eds.): Histories of Scientific Observation. Chicago 2011. See also Kelly J. Whitmer: The Halle Orphanage as Scientific Community: Observation, Eclecticism and Pietism in the Early Enlightenment. Chicago 2015. 13 Anthony La Vopa: Grace, Talent, and Merit: Poor Students, Clerical Careers, and Professional Ideology in Eighteenth-Century Germany. Cambridge 1988. 14 Leben des hochgelahrten Herr Johann Julius Hecker. In: Ehrengedächniss des weiland Hochwürdigen und Hochgelahrten Herrn Johann Julius Hecker […] Pastoris bey der Dreyfaltigkeitskirche und Directoris der Königl. Realschule und des Frankfurtschen Waisenhauses. Berlin 1769, p. 49. For more on the Universalschule see Hugo Gotthard Bloth: Johann Julius Hecker (1707–1768) und seine Universalschule. Dortmund 1968.
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Friedrich-Franz Mentzel also concludes that Hecker needs to be seen as part of a »continuous Pietist tradition«, who, thanks to his connections at court, was able to help Halle Pietists adapt to a variety of social and political changes by the middle of the eighteenth century.15 For years the Pietist theologians who directed the Halle’s Orphanage and Pädagogium were well known for promoting the contemplation of perfected models or Exemplaria, from spiritual gifted children to old testament patriarchs and even perfected, archetypical buildings. In his pedagogical writings, A. H. Francke was fond of pointing out that there were great advantages to providing young people with living examples of individuals who were virtuous and possessed spiritual gifts.16 His organization published an account of a gifted child in 1708 that offered people a composite portrait of desirable character qualities they could reflect upon and emulate.17 He also recommended the frequent observation of beautiful buildings as a means of triggering or awakening certain kinds of »pious desires« (Pia Desideria). In 1718, Halle’s Orphanage and Pädagogium contained two extremely large wooden models of Solomon’s Temple that were routinely demonstrated to young people during their recreational periods.18 In many ways, promoting the careful study of Old Testament patriarchs and an archetypical building like Solomon’s Temple meant stressing the importance of returning to or revisiting the past (especially past Exemplaria) a precondition for one’s own efforts to become perfected in the present or future. This required having a great deal of faith in the forms of certainty or truth(s) one could obtain by studying the past. But by the turn of the eighteenth century, the study of history – especially Biblical history – was increasingly attacked by a variety of individuals who argued that human testimony and accounts of past events, including those contained in
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Friedrich-Franz Mentzel: Ein erfolgreicher Pietist an König Friedrichs Hof? Der Briefwechsel von Johann Julius Hecker und Gotthilf August Francke (1746–1763). In: Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, vol. 1. Eds. Ursula Goldenbaum, Alexander Košenina. Hannover 1999, p. 36: »Hecker wie Francke stehen ungebrochen in der pietistischen Tradition, stellen sich beide offensiv, aber in unterschiedlicher Weise den neuen Herausforderungen. Verkörpert Hecker stärker die Kreativität und Wandlungsfähigkeit des Halleschen Pietismus unter den besonderen Bedingungen Berlins, […].« 16 August Hermann Francke: Kurzer und einfältiger Unterricht: wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind. Halle 1702. Repr. in: A. H. Francke’s Pädagogische Schriften. Ed. Gustav Kramer. Langensalza 1876, p. 108 17 Wilhelm E. Arends: Eines zehen-jährigen Knabens Christlieb Leberecht von Exter, aus Zerbst, Christlich geführter Lebens-Lauff : Nebst dessen angefangenen Tractätlein vom Wahren Christenthum, ingleichen seine Briefe und Lieder, &c. Halle 1708. 18 Kelly J. Whitmer: Unmittelbare Erkenntnis. Das Modell des Salomonischen Tempels im Waisenhaus zu Halle als Anschauungsobjekt der frühen Aufklärung. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 7/1 (2009), pp. 92–104.
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the Bible, were unreliable.19 This strengthened the resolve of those who believed it was worth reflecting on examples from the past, ultimately resulting in efforts to standardize a set of techniques for critically evaluating historical evidence. These ongoing debates and discussions drew attention to what the study of history actually did have to bring to the table when it came to ongoing efforts to improve and even to perfect the world of the present – and the future. In the cases I mentioned above, what made certain buildings and individuals worthy of emulation was the evidence of their perfection, which resided in the quality of their moral character and their virtuosity (spiritual, intellectual etc.). Still, as one contemplated the quality of an exemplary figure’s moral character and virtuosity, one might also observe that it resulted from the combination of smaller, possibly slightly less visible traits, behaviors or qualities. How to understand the relationship between these smaller traits or components and the composite whole? This is what Christian Wolff focused on in his own efforts to define perfection while developing a new system of philosophy in Halle. Wolff ’s way of understanding perfection more closely corresponded to the passage from Zedler’s Universallexicon that opened this essay; for him it connoted the order, »harmony or concordance (Zusammenstimmung) of a manifold or multiplicity of objects or parts of objects.«20 Beyond this formal definition, perfection meant »the suitability of that order or harmony of parts for achieving the aim that is intended for the whole, such as telling the time in the case of a clock.«21 Of course, Hecker arrived in Halle several years after Wolff had been expelled from the city; however, he did have the opportunity to work closely with a professor of medicine at the University named Friedrich Hoffmann (1660–1742), who, like Wolff, is often associated with the »Enlightenment« tradition in Germany. Hoffmann was an early admirer of Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), a member of the Berlin Academy of Sciences and the British Royal Society, also a Cartesian and a proponent of a mechanical worldview.22 He enthusiastically endorsed and wrote a preface for the Einleitung in die Botanic textbook in which he helped Hecker 19
Rhoda Rappaport: When Geologists were Historians, 1665–1750. Ithaca, NY 1997, p. 65 f. For recent work on the status of history in this period see Gianna Pomata and Nancy G. Siraisi (Eds.): Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe. Boston 2005. 20 Paul Guyer: 18th Century German Aesthetics. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2008). Ed. Edward N. Zalta, p. 1f.; see also Paul Guyer: Perfection, Autonomy, and Heautonomy: The Path of Reason from Wolff to Kant. In: Jürgen Stolzenberg and Oliver-Pierre Rudolph Christian (Eds.): Wolff und die europäische Aufklärung: Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. Teil 1. Hildesheim 2007, pp. 299–322. 21 Guyer: 18th Century, p. 1 f. 22 See Art. ›Friedrich Hoff mann‹. In: Manfred Kuhn and Heiner Klemme (Eds.): The Dictionary of Eighteenth Century German Philosophers, vol. 2. London, New York 2010, pp. 526– 529. [http://www.manchester.edu/kant/bio/FullBio/Hoff mannF.html]
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articulate a rationale for pursuing advanced studies in botany.23 Hecker also must have had other opportunities while studying at the University to learn more about Wolff ’s philosophical system. A closer look at his Einleitung in die Botanic reveals the extent of his own engagement with it, including his efforts to apply the mathematician-philosopher’s peculiar understanding of perfection to the science of botanical classification. The textbook also affords insight into some of the strategies Hecker applied in order to reconcile Wolff ’s ideas with some of those he first encountered via his studies in Halle’s theology faculty. Before proceeding with a discussion of botanica philosophica, or the principles that animated and undergirded this science, Hecker opened his textbook with an introduction to the history of botany. In so doing, I think he was following through on lessons he learned from Halle’s theologians: namely that contemplating Biblicohistorical examples was a way of demonstrating how returning to carefully selected moments from the past could actually provide a rationale for (in this case) moving the study of botany forward. Short stories helped to illustrate how a variety of figures in antiquity pursued botany in order to improve themselves – including the famous Persian king Mithridates, who had acquired so much knowledge that he was able to build up a tolerance toward most poisonous plants.24 The best example of Hecker’s attempt to apply what he had learned from Halle’s theologians to the study of botany, though, comes later in the textbook, in a chapter called »The uses of an understanding of plants to illuminate certain passages in the holy scriptures.«25 Here Hecker made a case for why the pursuit of botany was a useful enterprise for theologians to undertake. Clearly following ongoing conversations among practitioners of »natural theology«, he argued that knowledge of certain exemplary plants and flowers, particularly those mentioned in the holy scriptures, could be used to better understand and to marvel at the larger plan or purpose God had for his creation.26 The focus in this section is on how to attend to the powerful meanings embedded in parts of plants and in particular species.27 For instance, 23
He wrote the preface for Hecker’s introduction to the study of Anatomy and Physiology as well: Johann Julius Hecker: Betrachtung des menschlichen Cörpers nach der Anatomie und Physiologie. Halle 1734. 24 Hecker: Einleitung, p. 5. 25 Ibid., p. 186: »Der Nutzen der Kräutererkenntniß zur Erleuterung einiger Stellen in der heiligen Schrift.« 26 Ibid., p. 186: »Wir wollen in diesen Capital sehen was die Gleichnisse von den Pfl antzen in der heiligen Schrift, von ihren Theilen und andern Nebenumständen zu bedeuten haben […]. Man wird auch daraus erkennen, daß das Studium botanicum nicht allein den Medicis zu statten kommen müsse, sondern auch den Theologis vielen Nutzen schaffen könne.« 27 Brian Olgilvie: Natural History, Ethics, and Physico-Theology. In: Historia. Boston 2005, pp. 75–103 and Fernando Vidal: Introduction: Knowledge, Belief and the Impulse to Natural Theology. In: Science in Context 20 (2007), pp. 381–400.
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Hecker pointed out that roots generally connoted the »foundation or origin of a thing«; the leaves in some lands that were constantly green and blooming offered a »beautiful image to the faithful«, who are encouraged to remain strong and true amidst all challenges.28 Flowers presented images of Christ, Hecker wrote, because of their beauty and smell.29 But beyond addressing the meanings embedded in the parts of all plants, Hecker also wanted to direct his readers’ attention to specific examples of plants and trees mentioned in the Bible; their higher or perfected qualities were worth careful study and reflection, he argued – in keeping with sentiments expressed in Johann Jacob Schmidt’s Biblischer Physicus.30 Especially noteworthy examples included fig (Feigenbaum), cedar (Cederbaum), palm (Palmbaum) and olive (Oelbaum) trees, a mysterious plant called »the Isop« Hecker speculated – referring to a variety of sources he trusted – might be an Adiantum (a special kind of fern), oregano (Origanum) or Marjoram. He also pointed to the exemplary qualities of the love apple or dudaim.31 Halle-trained missionaries then living in a Danish outpost called Tranquebar in southeast India had been enlisted to help acquire more information about the dudaim, including whether or not it was the fruit of an »Indian fig tree« and whether figs were not the same thing as bananas.32 In addition to these very focused excursions into the realm of natural theology, Hecker’s treatment of botany’s history also contained short summaries of a variety of efforts from the more recent past to make the process of organizing information about plants easier and accessible. By the turn of the eighteenth century, Hecker wrote, there had emerged several new classificatory schemes and methods for organizing plants. For him only the best or most perfected schemes, each associated with the work of a particular botanist, were worth noting – namely the schemes of Robert Morison (1620–1683), August Quirinus Rivinus (1652–1723), Joseph Pitton de Tournefort (1656–1708) and John Ray (1627–1705). Hecker stressed the importance of understanding exactly what distinguished the methods of these figures from each other. Morison, he explained, stressed the importance of considering the »notable characteristics« (notas characteristicas) of a combination of a plant’s fruits 28
Hecker: Einleitung, p. 189. Ibid., p. 190. 30 Ibid., Einleitung, p. 192 f.: »Es hat mit mehrerm davon gehandelt Johann Jacob Schmidt in seinem biblischen Physico pag. 242 seqq. Anitzo wollen wir noch einige Gewächse, welche in der Schrift zum öftern vorkommen, mit wenigen untersuchen, zugleich aber auch einige Oerter vornehmen, zu deren richtigem und bessern Verstande die Botanic einiges Licht geben kann.« See Johann Jacob Schmidt: Biblischer Physicus, Oder Einleitung zur Biblischen Natur-Wissenschaft und deren besonderen Theilen […]. Leizpig 1731. 31 Hecker: Einleitung, pp. 193–195, 199–204. 32 Ibid., pp. 193–195. See also Kelly J. Whitmer: What’s in a Name? Place, Peoples and Plants in the Danish-Halle Mission. In: Annals of Science 70/3 (2013), pp. 337–356. 29
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and seeds and their relationships.33 He remarked that Rivinius described Morison’s methods as disorderly and also accused him of simply adopting, with some slight modifications, the methods of the Italian physician and philosopher Andrea Cesalpino (1524–1603), who also classified plants according to their fruits and seeds. Rivinus, on the other hand, believed that the key to distinguishing plants from each other lay in the observation of their reproductive parts.34 Tournefourt divided plants into 22 classes according to the structure of their blossoms and from his observations of the structure of blossoms and fruits he discerned 673 genera. After considering the combination of roots, stems and leaves he identified 8846 species, from which he identified 25 new genera and an additional 1356 species.35 And finally Ray, who was not satisfied with either Rivinius or Tournefort, and advocated a return to observing a combination of »notable characteristics« in plants, or their overall morphology.36 He stressed a need to take into consideration a plant’s odor, texture, color and even the position of leaves on the stem.37 A young person approaching the study of botany through this textbook would have learned that an awareness of historical examples – including plants described in the Bible – ought to anchor their own efforts to move the science itself forward. Yet there was a still a big problem: it was hard to deny that the classificatory schemes devised by Morison, Ray, de Tournefourt and Rivinius were all of exceptionally high quality. They were all worthy of careful consideration, all exemplary; yet they could not all be right, especially if perfecting the science of botany meant settling on a single framework. Indeed, Hecker insisted that the science of botany was still unstable because it was difficult to decide which of these classificatory systems was, in fact, the most perfected or the best. 33
Hecker: Einleitung, p. 17: »Er nahm die notas characteristicas von der Uebereinstimmung der Früchte, des Saamens und ihrer Behältnisse, nach welcher Einrichtung er auch den andern Theil seiner Historiae universalis Oxoniensis plantarum verfertiget hat.« 34 Ibid., p. 17 f.: »Augustus Quirinus Rivinus, aus Leipzig gebürtig, hat die notam characteristicam plantarum a femine und flore zugleich, und insonderheit petalorum nunmero, regularitate und irrgularitate hergenommen.« 35 Ibid., p. 18 f.: »Joseph Pitton Tournefort, ein Frantzose, hat die Pfl antzen soviel ihm bekant gewesen, nach der unterschiedenen Strucktur ihrer Blüthe in XXII Classen abgehandelt, und sodenn hierunter nach der verschiedenen Beschaffenheit der Blüthe und Frucht 673 genera: nach der Uebereinstimmung aber an Wurtzeln, Stengeln und Blättern 8846 species begriffen: welchen er nachmals noch 25 neue genera und 1356 species hinzugesetzet.« 36 Phillip R. Sloan: John Locke, John Ray, and the Problem of the Natural System. In: Journal of the History of Biology 5 (1972), pp. 50–52; see also Peter Anstey and Stephen A. Harris: Locke and Botany. In: Stud. Hist. Phil. Biol. & Biomed. Sci. 37 (2006), p. 168. 37 Sloan: p. 29 f.; John Ray: New Method of Plants (1682). For Ray as a practitioner of Baconian natural history, »a kind of learning in its own right« that »required firsthand observation and detailed description« see Olgilvie: The Science of Describing, pp. 262–264; Anstey: Locke and Botany, p. 167.
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Leaving aside his own preferences for the moment, Hecker turned to a discussion of how to conduct a series of botanical investigations – so that emerging practitioners could ultimately decide for themselves which system of classification was the best. The first step was to create a special kind of Kräuterbuch or herbarium wherein one studied not only examples of various plants from near by, but also from far away, and where each of the Exemplaria presented with the help of the book could be displayed according to their »perfected beauty«.38 Here the emphasis was on how to make a herbarium that would allow one to produce exceptionally high quality Observationes and make use of specific tools, even to replicate experiments that would lead to a better understanding of plants’ structures.39 Hecker also directed his students to use other senses, particularly their senses of smell and taste, to help them better observe the plants they were studying.40 Hecker explained that the better one became at observing plants, the more one would be able to recognize the gradations of perfection found in plants themselves. Discovering the quality of particular plants was not an easy process though and first required determining, through careful observation, which plants were more complete. In Hecker’s estimation, the system or scheme that better attended to perfected or complete flowers seemed to be the one most likely to be the best. Hecker recommended a table (Tabelle) of plants devised by Rivinius as a starting point, noting it was remarkable because its primary organizing principle hinged on distinguishing between perfect and imperfect flowers (vollkommene und unvollkomene Blumen). Here is an example of what a portion of the scheme looked like: Erster Abschnitt von den Pflantzen, welche eine vollkommene Blume tragen I. Pflantzen, welche eine vollkommene eintzele Blume haben: I. Regulaire und zwar I) Einblätterige, und diese wiederum … (I) Mit unbedecktem Saamen und das 1. Einkörnigt .. 2. Zweikörnigt … 38
Hecker: Einleitung, p. 22: »[…] nicht allein alle in hiesigen Landen wachsende Officinalia, sondern auch andere nach ihrer vollkommenen Schönheit solten vorgestellet warden. Die Exemplaria welche man hier davon zu Gesicht bekommen hat bezeugen, daß solches dem Versprechen nach nicht geschehen sey, nach welcher es werckstelliger warden muß, leidet wol nicht, daß solches bey allen Blumen geschehen könne.« 39 Ibid, p. 26, 33–49. Hecker urged pupils to replicate specific experiments with plants described in Christian Wolff ’s Vernünff tige Gedancken von dem Gebrauche der Theile in Menschen, Th ieren und Pflantzen. Franckfurt 1725, p. 41: »Man kann dieses an einem Kohlstengel oder Reisgen von einem Kirchbaum leichte experimentiren. See Wolfens Gebrauch der Theile, p. 720 seqq«. He also describes experiments from Helmont and Boyle on page 155. 40 Ibid., p. 152: »Dem Geschmack der Pfl antzen kömmt zu Hülfe der Geruch derselben, aus welchem man gleichfalls zuweilen viel schliessen kann.«
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3. Vierkörnigt … 4. Vielkörnigt (2) Mit bedecktem Saamen und solches 1. In eindem einfachen Behältniss … 2. In einem zweyfachen Beahältniss … 3. In einem dreyfachen Behältniss … II. Pflantzen, welche eine vollkommene, einzele und irregulaire Blume haben, und zwar … usw A perfect flower, Hecker explained, was one that had both stamens and pistols: imperfect flowers were those that only had one or the other.41 Regular flowers were not necessarily perfect, but their size, shape and habitat was similar to one another, whereas irregular flowers were the opposite.42 Note how the scheme places the bulk of emphasis on learning to recognize the differences between complete and incomplete flowers first – i.e. those with both stamens and pistols and those without one or the other. Then it draws attention to the relationships between the various parts, such as seeds, and their positioning relative to the respective whole. These are crucial starting points for almost any kind of investigation of the natural world in Wolff ’s estimation. Yet it is important to remember that according to his own definition, perfection connoted a particular order or assemblage of parts that was suitable »for achieving the aim that is intended for the whole«. Investigating the order of perfected or completed flowers and all their parts first was supposed to make it easier to discern the reasons why they existed at all.43 Hecker hoped this might also make it easier to compare and contrast flowers, grouped along a spectrum of perfection, in the interest of discerning specific patterns. For example, he noted that all the plants described in Rivinius’ table as perfect, regular and single-leaved (particularly those that had a unbedekten vierkörnigten Saamen) all had astringent properties and could be used to heal wounds.44 By teaching young people how to observe patterns like these, the goal was to get them 41
Hecker: Einleitung, p. 77: »Vollkommene Blumen nennen wir diejenigen, welche Blumenblätter, stamina und stilum haben: unvollkommene aber, welchen es entweder an einem oder dem andern fehlet, wenigstens so, daß man mit den Augen siehet.« 42 Hecker: Einleitung, p. 77: »Eine regulaire Blume ist, deren Blumenblätter oder Einschnitte an der Grösse, Figur und Stellung einander gleich sind: eine irregulaire aber, woran man das Gegentheil wahrnimt.« 43 Hecker: Einleitung, p. 138. 44 »Diejenige Pfl antzen, welche nach pag. 79sqq eine vollkommene eintzele, regulaire, einblätterige Bluem tragen, und zwar nachher einen unbedeckten vierkörnigten Saamen bekommen, als die Pulmonaria, Cynoglossa, Buglossa, borago, Consolida und dergliechen mehr, sind alle wegen des irdischen und dabey einger massen adstringirenden Elements in Heilungen der Wunden vortreffl ich zu gebrauchen.«
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Kelly J. Whitmer
to better apprehend certain inherent traits or qualities that could provide some kind of insight into the higher purpose for which each plant was intended. For Hecker, botany was a science of perfection because the very act of bringing it into a state of perfection hinged on observing perfect or exemplary plants. This observation helps to create and to standardize a set of principles that were to serve as the foundation for an entire framework – thereby putting an end to all the confusion surrounding which system of classification one should actually apply. But even beyond this, botany was a science of perfection because it was supposed to teach young people how to observe and foster perfection in their own lives. In his discussion of how to create a herbarium, Hecker was careful to point out that the experience was not only fundamental to perfecting the science itself, but would also help his pupils understand that they were living books of plants too.45 Friedrich Hoffmann also made a point of affirming this in his preface to Hecker’s Einleitung, noting that rather than abiding by rules that followed mainly from the rational consideration (vernünftigen Ueberlegung) of something, humans were more inclined to follow the examples of other, highly regarded or exceptional things they admired – or found beautiful. Despite their potential to be led astray by especially bad examples, Hoffmann argued that God had planted »seeds for recognizing the truth« (Samen zu der Erkentniß der Wahrheit) in everyone and that schools played important roles in helping these seeds develop or evolve correctly. Halle’s Orphanage and Pädagogium were exemplary schools, Hoffmann noted, because they played crucial roles in helping initiate a process of perfecting young people by drawing their attention to beautiful and highly noteworthy examples – from the past and present –including Hecker’s efforts to create a set of fundamentals for the science of botany.46
45 Hecker: Einleitung, p. 25 f.: »Wird man dis alles in acht nehmen, und mit rechter Aufmercksamkeit die Geschöpfe dessen, der alles gemacht hat, und zu dessen Verherrlichung wir auch die Kräuterwissenschaft studiren müssen, gehörig betrachten, fleissig sammlen, geschickt einlegen, nach dem character naturali untersuchen, und allerhand nützliche Experimenten mit den Kräutern anstellen, so wird man erfahren, daß man endlich selbst gleichsam ein lebendiges Kräuterbuch geworden sey.« 46 Hoff mann in Hecker: Vorrede.
teil iv ausblicke, tr ansformationen, widerstände
Christian Soboth
»was den vollkommenen Menschen mache«? Formen, Funktionen und Aneignungen von Vollkommenheit bei Jakob Michael Reinhold Lenz
When too perfect, lieber Gott böse. Nam June Paik
Die titelgebende Frage, die Jakob Michael Reinhold Lenz in seiner zwischen 1771 und 1773 entstandenen Schrift Über die Natur unsers Geistes stellt, hat Hans-Gerd Winter in einem 1994 publizierten Aufsatz zur Aufklärungskritik bei Lenz wie folgt beantwortet: »Für Lenz zeigt sich die Vollkommenheit vorrangig im Leiden. Lenz verdeutlicht dies an Christus, […].«1 Eine alternative Fassung von Vollkommenheit bei Lenz hat Martin Rector 1999 in seinem Beitrag Zur Anthropologie von Jakob Michael Reinhold Lenz wie folgt beschrieben: »Lenz denkt die progressive Selbstvervollkommnung des Menschen bis in die Transzendenz hinüber und holt umgekehrt das Ziel der transzendenten Glückseligkeit in die diesseitige Erreichbarkeit zurück«.2 Während laut Winter die Vollkommenheit bei Lenz sich »zeigt«, wird sie laut Rector ›gedacht‹. Der »weitreichendste Gedanke seines anthropologischen Glaubensbekenntnisses« sei, dass »der Körper mit hinüber müsse ins Jenseits« und »meine Seele […] mit meinem Fleische umgeben Gott schauen« werde (3, 61).3 Und während Winter das Leiden in der Nachfolge Christi als vornehmstes Mittel zur Erlan1
Hans-Gerd Winter: »Denken heißt nicht vertauben.« Lenz als Kritiker der Aufklärung. In: David Hill (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtwerk. Opladen 1994, S. 81–96, hier: S. 87. 2 Martin Rector: Zur Anthropologie von Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Literaturwissenschaft und politische Kultur. Für Eberhard Lämmert zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Winfried Menninghaus und Klaus R. Scherpe. Stuttgart, Weimar 1999, S. 239–247, hier: S. 246. 3 Rector: Anthropologie, S. 247. Rector zitiert an dieser Stelle aus Lenz’ ›Catechismus‹: »Was ist unsere Bestimmung? Das ewige Leben, die Erkenntniß Gottes und Jesu Christi als des Ursprungs aller Form und Verhältnisse – daß wir alle diese Verhältnisse durcherkennen, durchfühlen und durchhandeln […]. Daß wir also vorzüglich unsern Geist die thätige Kraft in uns bilden, nicht die leidende […] um zur Gottheit emporzusteigen […] und so von Form zu Form übergehen ins ewige Leben. Denn ich weiß, daß Gott meine Seele nicht in der Tieffe des Grabes lassen wird, sondern sie wird mit meinem Fleisch umgeben Gott schauen in allen seinen Wirkungen und in den ewigen Verhältnissen derselben.« (3, 61); Lenz wird mit Angabe von Band und Seitenzahl nach folgender Ausgabe zitiert: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. v. Sigrid Damm. München, Wien 1987.
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Christian Soboth
gung von Vollkommenheit annimmt, betont Rector die »Selbstvervollkommnung« durch Tätigsein. Winters und Rectors unterschiedlich akzentuierende Vorschläge, wie Lenz Vollkommenheit konzeptioniert und in Erscheinung treten lässt, seien zum Anlass genommen, der bei Lenz nahezu allgegenwärtigen Rede über Vollkommenheit genauer nachzugehen, um dabei für den Menschen erwogene Formen der Vollkommenheit und der Annäherung an sie darzustellen. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage nach der Darstellung und Inszenierung von Vollkommenheit. Vollkommenheit zieht sich gut sichtbar wie ein roter Faden durch das Werk von Jakob Michael Reinhold Lenz. Ob als Wort, das verwendet, als Begriff, der erläutert, als Konzept oder Projekt, das entworfen wird: Vollkommenheit ist omnipräsent und ubiquitär, in allen Werkphasen, in verschiedenen Textsorten und literarischen Gattungen. Der bei den Zeitgenossen des mittleren und späteren 18. Jahrhunderts reich belegte Begriff der Perfektibilität mit seiner spezifisch aufklärerischen Färbung der Verbesserungsfähigkeit und der Akzentuierung des Prozessualen findet keine Verwendung.4 Lenz hält, es mag seiner religiösen Sozialisation und frömmigkeitlichen Prägung durch den Pietismus zugerechnet werden,5 an dem älteren Begriff der Vollkommenheit und dem Adjektiv vollkommen fest.6 Nicht einmal dessen dynamisierende Wendung in Gestalt der Vervollkommnung findet sich. Lenz bietet ein breites Textsorten- und Gattungsspektrum im Grenzbereich und an den Übergängen von Theologie, Philosophie und Literatur bzw. Dichtung. Vollkommenheit begegnet in anthropologisch, in moraltheologisch und moralphilosophisch orientierten Traktaten, in Gebrauchstexten wie Lebensregeln und Projektschriften und im Brief, weniger in den poetischen Gattungen: im Gedicht, in der Erzählung und gar nicht im Drama. Es scheint, als habe es sich bei Vollkommenheit für Lenz eher um ein Thema der Reflexion als um eines der Darstellung, eher um ein Phänomen der Theoriebildung als um eines der Anschauung gehandelt. 4
Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriff s in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriff sgeschichte 24 (1980), S. 221–257; Richard Baum, Sebastian Neumeister, Gottfried Hornig: Art. ›Perfektibilität‹. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7. Basel 1989, Sp. 238–244. 5 Vgl. zur religiösen Sozialisation u. a. Christian Soboth: Christian David Lenz und Jakob Michael Reinhold Lenz zwischen Halle und Herrnhut. In: Pietismus und Neuzeit 29 (2003), S. 101–133, Stefan Pautler: Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und Drang. Gütersloh 1999; Hans-Georg Kemper: Der himmlische Zug. Zum pietistischen Einfluß auf Lenz’ erstes Erlebnisgedicht. In: Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel (Hrsg.): Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Darmstadt u. a. 2001, S. 335–359, bsd. S. 335–342. 6 Thomas Sören Hoff mann: Art. ›Vollkommenheit‹. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1115–1132.
»was den vollkommenen Menschen mache«?
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Wenn Lenz in seinen theoretischen Schriften von Vollkommenheit spricht, geht es ihm nicht primär um die Rekonstruktion oder Entfaltung einer theologischen oder philosophischen Idee, eines ästhetischen Konzepts oder eines pädagogischen Projektes. Lenz hat keine im genieästhetischen Originalitätssinn ›eigene‹ Idee von Vollkommenheit ausgearbeitet. Die konzeptionelle Nähe zu Leibniz ist ersichtlich7 und ebenso – wie zu zeigen sein wird – die zur Textsorte der Lebensregeln in pietistischer Tradition.8 Vollkommenheit bei Lenz ist vornehmlich gebunden an die projektive Figur des vollkommenen Menschen und an deren historische Konkretion in der Person Jesu Christi. Insofern geht es bei der über Lenz’ Werk verstreuten, kaum systematisch zu nennenden Diskussion von Vollkommenheit um eine anthropologische Fragestellung im Übergang zu Theologie und zu Philosophie. Zentraler Fokus ist dabei mit Blick auf die Figur und die historische Person des Vollkommenen die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Vollkommenheitsfähigkeit des Menschen und dessen Schulung zur Vollkommenheit. Einen eigenständigen Beitrag zur Debatte um Vollkommenheit hat Lenz insofern geleistet, als er bei der Erörterung von Aneignungsmodi der Kunst einen besonderen Stellenwert zuweist.
1. Vollkommenheit und Glückseligkeit Laut Lenz’ Versuch über das erste Principium der Moral von 1771/72, geschrieben als Rede für die Salzmannsche Sozietät in Straßburg, hat Gott dem Menschen die Triebe nach Vollkommenheit und nach Glückseligkeit gegeben. Vollkommenheit definiert Lenz als Eigenschaft in Gestalt einer »gewissen Übereinstimmung aller unserer Kräfte zu einem Ganzen zu einer gewissen Harmonie«.9 Diese zu realisieren ist den Menschen aufgegeben, »ohne freilich Vollkommenheit zu erreichen, sonst hörten sie auf endliche Geschöpfe zu sein.« (2, 505) Demgegenüber wird die Glückseligkeit als Zustand beschrieben, als eine »gewisse[n] Lage, eine gewisse Relation unsers Selbst mit den Dingen außer uns«. (2, 507) Entscheidend ist nun, denjenigen Zustand anzustreben, »welcher unserer Vollkommenheit, dem Umfange unserer Fähigkeiten am angemessensten ist« (ebd.). Es muss demnach derjenige Zustand sein, der die größtmögliche Entfaltung unseres Triebes zur Vollkommenheit erlaubt: »Wir sind also nur als denn wahrhaftig 7
S. den Beitrag von Stefan Lorenz in diesem Band. S. den Beitrag von Claudia Drese in diesem Band und von Joachim Jacob: Lebensart vermitteln. Lebensregeln und Verhaltenslehren im Pietismus. In: Christian Soboth u. Pia Schmid (Hrsg.): »Schriff t soll leserlich seyn.« Der Pietismus und die Medien, Bd. 2. Halle 2016, S. 587– 600. 9 Vgl. Winter: Lenz als Kritiker der Aufklärung, S. 88: »Es geht um die Einheit von Fühlen, Denken und Handeln, die Lenz als Ausdruck von Vollkommenheit empfindet.« 8
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glücklich wenn wir in einem Zustand sind, in welchem wir unsre Vollkommenheit auf die leichteste und geschwindeste Art befördern können.« (2, 509) Für den Zustand ist Gott verantwortlich, für das darauf gründende Streben nach Vollkommenheit der Mensch. Einen glücklichen Zustand zugeteilt zu bekommen, hängt wiederum vom Vollkommenheitsstreben ab. Wer sich um Vollkommenheit im Sinne der harmonischen Übereinstimmung seiner Fähigkeiten bemüht, den setzt Gott in den Zustand der Glückseligkeit. Umgekehrt gilt, dass es einer gewissen Glückseligkeit bedarf, um nach dem Vollkommenen zu streben. Hier tut sich eine Spannung auf bzw. ein Zirkelschluss. Konzeptionell scheinen das Verhältnis und die Interdependenz der Triebe nach Vollkommenheit und Glückseligkeit nicht sauber geklärt.
2. Vollkommen, vollkommenst, allervollkommenst: Jesus Christus als Beispiel und Vorbild Kontur und Präzision gewinnt die Konzeption mit dem Wechsel vom natürlichen oder moralischen Glauben zum religiösen Glauben und damit zur Orientierung an Christus. Seine Sendung bietet »neue Motive, höhere Beweggründe«, »die uns der barmherzige Gott zur Aufmunterung und Hülfe auf dem steilen und schweren Wege nach Vollkommenheit und Glückseligkeit hinzugetan.« (2, 511) Christus markiert für Lenz zwei unterschiedliche, aber aufeinander bezogene und aufeinander aufbauende Ausprägungen von Vollkommenheit: die des Sittenlehrers und die des freiwilligen Selbstopfers. Sowohl Jesu Leben als auch Christi Sterben legen auf ihre je besondere Weise Zeugnis ab von Vollkommenheit. Lenz’ Verwendung des Superlativs, wenn er von Christus als dem »vollkommensten« (2, 491; 3, 284) oder »allervollkommensten« (3, 284) Menschen spricht, zielt zum einen auf die Überbietung des Sittenlehrers durch den Selbstopferer, der mit seinem Tod die Lehren des vollkommenen Menschen Jesus an sich radikalisiert einlöst. Zum andern und gerade dadurch ist Christus als der vollkommenste bzw. allervollkommenste Mensch uneinholbar und unüberbietbar der Sphäre des Menschlichen entrückt. Ein Vorbild ist Jesus Christus für den Menschen insofern, als sein Leben ein Beispiel gibt für Vollkommenheit als widerspruchs- und spannungslose »Übereinstimmung« von Handeln, Denken und Fühlen sowie Glauben. Hierin ist der Mensch aufgefordert, Jesus nachzueifern, wenn er dem gerecht werden will, was den Menschen ausmacht, nämlich die Triebe nach Vollkommenheit und Glückseligkeit zu leben. Anders verhält es sich mit Christi Passion und Sterben, die den vollkommenen zum vollkommensten Menschen machen. Dieser für den einzelnen Menschen wie
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für die Menschheit an Folgen reiche Tod folgte einem göttlichen Plan (»er lebte um zu leiden und zu sterben« 2, 622) und erfolgte auf ein ebenfalls von Gott gesetztes Ziel hin. Entscheidend ist dabei für das Verständnis des Todes Christi der Umstand, dass er sein menschliches Leben »freiwillig zum Opfer dem himmlischen Vater« (3, 17) gibt. »Der Tod des göttlichen Mittlers versöhnet den Vater! […] Mit ihm zerreißt die Handschrift unserer Sünden, die Ketten / Des Gesetzes und Todes, […].« (3, 17) Christi freiwilliger Opfertod (»wir hören, daß nach dem Ausdruck der Bibel, alle bisher begangenen Sünden auf ihn gelegt werden, daß er sie trägt« 3, 284) ist retrospektiv sinnhaft sowohl in Richtung auf Gott als auch in Richtung auf den Menschen: Er zerreißt die Kausalitätenkette von Sünde, Schuld und Strafe. Zugleich ist er prospektiv sinnstiftend, indem ein neuer Bund zwischen den Menschen und Gott begründet wird. An die Stelle des Gesetzes als lenkende und strafende Instanz tritt die frohe Botschaft der Liebe und der Versöhnung: »[…] weil das Alte alles vorbei und wir gleichsam jetzt neue Glieder an einem großen Ganzen sind, wovon der allervollkommenste Jesus das Haupt war.« (3, 284) Funktionsanalytisch präzisieren lässt sich Jesu Christi Vollkommenheit bzw. Vollkommenstheit und Allervollkommenstheit dahingehend, dass sowohl die habitualisierte harmonische Übereinstimmung als auch sein Sterben im Dienste der Entsühnung und des Glückseligkeitserwerbs stehen. Die Glückseligkeit der Menschen ist in der Lehre wie im Leben und im Tod Christi eigentlicher Lebenszweck und Lebenssinn. Selbstformung im Sinne der Harmonisierung der inneren Vermögen und deren Ausrichtung auf das Betreiben der Glückseligkeit des Mitmenschen sollen demnach den vollkommenen Menschen auszeichnen.
3. Das »Reich Gottes auf Erden« als Solidar- und Glückseligkeitsgemeinschaft Als »moralische Pflicht« gewinnen am Vorbild Christi die 1771/72 in Straßburg aufgesetzten Lebensregeln die Aufgabe, »unsere und unserer Nebenmenschen Glückseligkeit leichter zu befördern«. (2, 492) Der Versuch über das erste Principium der Moral formuliert: Wir müssen suchen andere um uns herum glücklich zu machen. […] Jeder sorgt bloß für des anderen Glück und jeder wird selbst glücklich, weil er um sich herum Leute findet, die für das seinige sorgen. Diese beständig wachsame und wirkende Sorgfalt für den Zustand meines Nebenmenschen wird auch das beste Mittel sein, hier in dieser Welt meine Fähigkeiten zu entwickeln, meine Vollkommenheit zu befördern. (2, 510)
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Glück ist nichts, was der Einzelne sich selbst schaff t. Es handelt sich um eine einander gegenseitig zu erstattende Gabe, deren Erhalt an den Verzicht auf ein selbstisch-unmittelbares Streben nach eigenem Glück gebunden ist und an die Bereitschaft, Sorge zu tragen für das Glück der Mitmenschen. Diese Forderung betriff t alle gleichermaßen: »[W]enn wir den rechten Gebrauch von unsern Fähigkeiten machen wollen, [sollen] wir schon hier – und in Ewigkeit glücklich oder selig sein«. (3, 284) In der 5. der Lebensregeln (Mein Katechismus) wird die Frage: »Welches ist die zweite Hauptlehre, die wir aus dem Beispiel Christi für unsere moralische Vollkommenheit abziehn?« (2, 490) wie folgt beantwortet, dass es neben dem »rechten Maße und der Ordnung in allen unsern Handlungen« auf die an Christus orientierte »Demut« des Herzens ankomme. Die auch in pietistischer Tradition verwurzelte Textsorte der Lebensregeln formuliert ein Programm der Selbstformung im Dienst der Gemeinschaft.10 Der wahre Christ macht es sich zur Aufgabe, die »Zeitgenos10
Als ein Vorbild für die psychagogische, selbsterzieherische Textsorte der Lebensregeln sei von den dazuzurechnenden Schriften August Hermann Franckes als ein Beispiel ›Von der Christen Vollkommenheit‹ von 1691 (gedr. 1695) genannt. Francke, als erster Vertreter des institutionalisierten, kirchlich-lutherischen Pietismus und Gründer der heute nach ihm benannten Glauchaschen Anstalten, hatte sich mit seinem Aufenthalt in Leipzig und der enthusiastischen Frühphase in Glaucha den Vorwurf eingehandelt, den Perfektionismus zu lehren. Francke hat diese Behauptung, er lehre, der Mensch könne aus eigener Kraft, d. h. ohne die Gnade Gottes, sündenfrei leben, zurückgewiesen. Francke notiert, im Jahr vor seinem Wechsel nach Glaucha: »In solchem Wachsthum aber mag der Mensch so weit kommen / als er immer will / wird er dennoch nie gantz vollkommen / sondern kann wachsen und zunehmen im Glauben / so lang er lebet. Und wer sich in dem Verstande der Vollkommenheit rühmet / betreugt sich selbst und andere.« August Hermann Francke: Werke in Auswahl. Hrsg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 358. Dass die Vollkommenheit »nie gantz« sein wird, wird biblisch begründet und somit im Sinne der Bibel als geoffenbartes Wort Gottes von und durch Gott selbst. »Allso will die Schrift nicht / daß der Mensch gantz vollkommen in diesem Leben werden könne / daß er ohne Sünde und Reitzung zur Sünde sey / sondern daß der Mensch zu einer männlichen Stärcke im Christenthum kommen könne / sich der alten Gewohnheiten zu entschlagen / und sein Fleisch und Blut zu überwinden / und daß ein Mensch immer vollkommener sey als der andere.« Ebd., S. 358. Der Mensch ist gebunden an »Fleisch und Blut«, insofern hat die Überwindung physische Grenzen, es sei denn, angestrebt wird die radikalste Form des Durchbruchs zur Vollkommenheit in Gestalt der Christi leiblich nachfolgenden Selbstopferung, die freilich theologisch nicht zu rechtfertigen ist, sondern den Vorwurf wenigstens der Hybris auf sich ziehen muss. Entscheidend für die individuell differierenden Vollkommenheitsgrade ist nicht allein der von Lenz genannte »Fleiß«, hier als Überwindung von »Fleisch und Blut«, hinzukommen muss zur Selbstermächtigung und eigenen Anstrengung ein Weiteres: »Wir sind vollkommen / und wir sind nicht vollkommen / nemlich wir sind vollkommen durch Christum und in Christo durch unsere Rechtfertigung und nach der zugerechneten Gerechtigkeit Jesu Christi. Wir sind aber und werden nicht gantz [Hervorh. C. S.] vollkommen / daß wir nicht mehr sollten wachsen können nach der Ablegung des Bösen und Annehmung des Guten / oder Heiligung.« Ebd., S. 358. Die Übernahme der Sünden durch Christus und damit die Rechtfertigung des Menschen durch den Opfer- und Sühnetod bescheren die unverzichtbare gnadengewirkte Grundlage, der die menschlichen Bemühungen um Vollkommenheit aufruhen müssen und die durch sie erst legitimiert werden. Nur durch Christi Vorarbeit können überhaupt die Selbstbeobachtung, die »Stärckung seines Glaubens«
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sen und Nachkommenschaft« zu »wärmen« (2, 490).11 Im Motiv des Wärmens wird die gemeinschaftsbildende und beglückende Liebes-Kraft, die Christus beispielhaft verkörpert, sinnlich greifbar. »So ging Christus uns vor« (2, 490). Der entscheidende Akzent dabei ist, dass laut Bibel einer des anderen Last trage (»Traget einer des anderen Last, und erfüllet so das Gesetz des Christus.« Gal 6, 2). Vollkommenheit wird in einer Glückseligkeitsgemeinschaft realisiert, die sich, orientiert am Beispiel Jesu, in wechselseitiger Hingabe und durch das »beständige[n] Bestreben aller Menschen einander glücklich zu machen« (2, 512), konstituiert. Diese Glückseligkeitsgemeinschaft nennt Lenz das »Reich Gottes auf Erden« (2, 512).12 Mit der Beglückungsforderung nimmt Lenz eine prominente theologische Diskussion der Zeit auf. 1773, in seinen Theologischen Untersuchungen, formuliert Johann Gottlieb Töllner die Ermunterung: »Sey glücklich! Und nicht, werde es dereinst!«13 Diesem »unwiederstehlichen Trieb[es] in seiner Natur« zu folgen, entund die »Besserung seines Lebens« Früchte tragen. Der Mensch als Mensch ist stets gefährdet, in den Stand der fleischlichen Sicherheit, der Welthörigkeit, der Sünde zurückzufallen, nicht zuletzt dann, wenn er und dadurch, dass er dem Irrtum erliegt, unumkehrbar geheiligt zu sein. In diesen Lebensregeln, derer Francke eine ganze Reihe vorgelegt hat, die nicht in dem Maße die Vollkommenheit fokussieren, erscheint die Vollkommenheit als Projekt, als regulative Idee und lockendes Ziel einer für den Menschen unabschließbaren Annäherung an eine Vollkommenheit, die sich in Christus verkörpert und offenbart. Für Lenz ist dieser Christus der vollkommenste Mensch (Paradox) und bei Francke die gewährleistende Bedingung und Grundlage für die Vollkommenheit des Menschen im Rahmen seiner Möglichkeiten als Mensch. 11 Im Moment des Wärmens besteht eine auff ällige Nähe zu Goethes ›Zwo wichtige bisher unerörtete biblische Fragen‹ von 1772/1773: »Er tret auf! Und wir wollen ihn ehren! Gesegnet seist du, woher du auch kommst! Der du die Heiden erleuchtest! Der du die Völker erwärmst!« Johann Wolfgang Goethe: Zwo wichtige bisher unerörtete biblische Fragen. Hrsg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998 (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. I, Bd. 18), S. 140. Vgl. Christian Soboth: Willkommen und Abschied: Der junge Goethe und der Pietismus. In: Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001, S. 209–231, bsd. S. 216–219. Dort auch (S. 218) eine Äußerung von Jung-Stilling, die dem Genie die den Menschen erwärmende Kraft abspricht. 12 Vgl. zu Reich Gottes-Konzeptionen im Pietismus und über den Pietismus hinaus Marion Dittmer: Reich Gottes. Ein Programmbegriff der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert. Berlin u. a. 2014. 13 Das ganze Zitat lautet: »Strebt, sollten sie ihnen zurufen, nach Glück und Ruhe für dis Leben: und fürchtet sodann nichts im zukünftigen. Und sollte es nicht sehr rathsam seyn, das sicherste Mittel, die größte Hinderniß der Gottseligkeit, die Meinung, daß sie allein die Verheißung des zukünftigen Lebens habe, bei ihrer Quelle zu verstopfen sey, wenn wir unser ganzes Lehrgebäude etwas umformten? Es aus einem Unterrichte zur ewigen Glückseligkeit in einen Unterricht zur Glückseligkeit überhaupt verwandelten? Und also unter der Heilsordnung nicht eine Ordnung, dereinst nach dem Tode glücklich zu werden, sondern ein Ordnung, glücklich zu werden, es sogleich zu werden, begriffen? Und die Absichten des in Christo ausgeführten Erlösungswerkes nicht in eine andere Welt, sondern schriftmäßig in die gegenwärtige setzten? Kurz, dem Schüler der Religion durchgängig zuriefen: Sey glücklich! und nicht, werde es dereinst!« Johann Gottlieb Töllner: Ist das gegenwärtige Leben nichts weitere als eine Prüfungszeit?
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spricht für Töllner dem Willen Gottes: »Also will offenbar der Mensch von Natur, was Gott will.«14 Im Oktober 1772 hatte Lenz in einem Brief an den Freund Salzmann als »Extrakt seine Religion« notiert: Die Pflichten des Christentums aber, laufen alle dahin zusammen, diese Wahrheiten, die Christus uns verkündigt, zu glauben, gegen ihn voll Liebe und Dankbarkeit sein Leben immer besser studieren, damit wir ihn immer mehr lieben und nachahmen, von ihm aber (welches die Hauptsache ist) zu Gott, als dem höchsten Gut, hinauf zu steigen, ihn immer besser erkennen zu lernen, ja alle Erkenntnisse, die wir hier erwerben, zu ihm, als dem letzten Ziel zu lenken, um ihn als die Quelle alles Wahren, Guten und Schönen mit allen Kräften unserer Seele zu lieben und das ist die natürliche Folge davon, seinen Willen auszuüben, d. h. ihn von ferne, im Schatten, nachzuahmen, wie er ganz Liebe und Wohltätigkeit gegen das menschliche Geschlecht, so kein größeres Glück kennen, als andere glücklich zu machen. (3, 295)
Das Glück höherer sozialer Ordnung öffnet sich ins Religiöse. Von dieser Aufgabe her, »andere glücklich zu machen«, führt ein Weg zur Vollkommenheit, da derjenige, der das Glück seiner Mitmenschen selbstlos und in »Demut« befördert, »im Schatten«, wie Lenz verhalten formuliert, die Nachfolge Christi als des vollkommensten Menschen antritt. Er tut dies, indem er mitleidet, vor allem aber, indem er stellvertretend Leid auf sich nimmt.
4. Aneignung und Teilhabe – Bibellektüre und Abendmahl Wie gelingt nach der Bestimmungdessen, was den vollkommenen Menschen ausmacht, die lebensweltliche Aneignung und lebenspraktische Umsetzung und Verwirk lichung der an Jesus Christus sichtbaren Vollkommenheit? Dieser Heiland aber, hat uns außer seiner Lehre und Beispiel, auch sein Verdienst gelassen, dessen er uns durch die Sakramente teilhaftig macht. Indem er sich besonders durch das Sakrament des Abendmahls auf eine, zwar unbegreifliche, aber doch der Vernunft nicht widersprechende, Art mit uns geistig verbindet, so daß wir jetzt gleichsam alle an seiner vollkommnen menschlichen Natur Anteil nehmen. (3, 294 f.)
Entsprechend der zwei Realisierungsmodi von Vollkommenheit in Form der jesuanisch-moralischen und der christologisch-soteriologischen Vollkommenheit (»Lehre In: ders.: Theologische Untersuchungen. Des ersten Bandes zweites Stück. Riga 1773, S. 1–30, hier: S. 28. 14 Johann Gottlieb Töllner: Die Güte der menschlichen Natur. In: ebd., S. 159–200, hier: S. 159.
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und Beispiel« sowie »Verdienst« und »vollgeltendes Verdienst« 2, 513) diskutiert Lenz zwei Aneignungsmodi: zunächst die Lektüre der biblischen Lehren Jesu, wobei zu beachten ist, dass die daran anschließende habituelle Selbstformung sich auf die Glückseligkeit des Mitmenschen zu richten hat. Dann zur Teilhabe am Verdienst ohne eigentliche imitatio in Gestalt aktiver Nachfolge durch den Genuss des Abendmahls. Über die Aneignung und Nachfolge durch Lektüre eröffnet sich ein dritter Weg der Teilhabe, der Lenz’ Werk betriff t und dies zu einem Medium der Vervollkommnung nobilitiert: die nachvollziehende mitleidende Imagination der Passion Christi in der Poesie. In seinem Aufsatz Von der Erbsünde erläutert Töllner, »[d]aß der Mensch natürlich wol eine anschauende Erkenntnis von den kleinern, aber nicht von den größern Gütern hat und erlangt. Aus der Seelenlehre ist bekannt, daß allein anschauende Erkenntnis eine bewegende und das heißt Begierden und Abneigungen hervorbringende Erkenntnis ist: und je anschauender und daher lebhafter und sinnlicher eine Erkenntnis ist, desto bewegender und stärker ist sie.«15 Christi Lehren sind in der Bibel illustrierend und argumentierend umgeben von anschaulich gestalteten und insofern anschaulich belehrenden Szenen. Mehr noch: Christus, heißt es in der Schrift Über die Natur unseres Geistes, zwischen 1771 und 1773 als Rede für die Straßburger Sozietät entstanden, »hat uns ein Symbol geben wollen, was den vollkommenen Menschen mache und wie der nur durch allerlei Art Leiden und Mitleiden werde und bleibe« (2, 624). Bemerkenswert an dieser Formulierung ist nicht allein die Nähe zu Lessings Brief an Nicolai vom November 1756 mit der auf das Trauerspiel bezogenen Identifizierung des mitleidigsten Menschen als des besten Menschen, »zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste«.16 Bemerkenswert ist zugleich die im Symbol-Begriff angesprochene Darstellung des vollkommenen Menschen.17 Lenz spricht vom »große[n] Gemälde das unser Heiland uns in seinem Leben aufgestellt hat«: »Das
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Johann Gottlieb Töllner: Von der Erbsünde. In: ders.: Theologische Untersuchungen. Des ersten Bandes zweites Stück. Riga 1773, S. 115 f. 16 Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Hrsg. u. komm. v. Jochen Schulte-Sasse. München 1972, S. 55. 17 Aus der Geschichte des Begriff s im 18. Jahrhundert seien lediglich zwei Stimmen zitiert. In Zedlers Universal-Lexicon findet sich im 41. Band, S. 358, von 1744 unter dem Lemma ›Symbolum‹ der Hinweis: »wird von denen Theologen erstlich vor ein Zeichen einer heiligen Sache genommen, als da heissen das Brot und der Wein die äusserlichen Symbola (symbola externa) des Leibes Christi«. Im Verweis-Lemma ›Sinnbild‹ in Band 37 (1743), S. 858, werden die Funktionen der sinnbildlich-symbolischen Veranschaulichung herausgestellt: »Sinnbilder werden gebraucht, um allerhand Tugend=Lehren, geheime Bedeutungen, tiefsinnige Gedancken, vornehmlich aber rühmliche und vortreffl iche Thaten vorzustellen« – und das in und vermittels unterschiedlicher Text- und Bildmedien.
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ist eine lebendige Rede, oder vielmehr ein redendes Leben, welches wenn wir es anschauend erkannt, wir nicht unnachgeahmt lassen können.« (2, 512) Die Formulierung von Christi Leben als großes Gemälde, als lebendige Rede oder als redend, die wir anschauend erkennen und nachahmen müssen, findet eine Entsprechung in einem Brief an den Freund Salzmann vom Oktober 1772: »Wir hören nun, daß ein vollkommener Mensch gelebt hat, durch den sich Gott uns ehemals sichtbar geoffenbart und angekündigt hat […].« (3, 284)18
5. Vergegenwärtigung und Partizipation im Medium der Poesie Ausgehend von der biblisch verbürgten und theologisch gesicherten Bedeutung des Anschaulichen, Symbolischen für die Vermittlung der Vollkommenheit Christi skizziert Lenz für die imaginative Teilhabe textsorten- bzw. gattungsbezogen zwei in ihren Gegenständen unterschiedliche Optionen. In den frühen Gedichten, vor allem der späten 60er Jahre, dominieren Imaginationen des blutigen und qualvollen Opfertodes Christi. Darüber hat der in der Lektüre mitvollziehende Leser daran teil, wie im und durch den Tod Christus zum vollkommensten Menschen wird. Dabei spielt das Theatrale, die Theatermetaphorik, in Gestalt und Funktion einer barockartigen Repathetisierung dichterischer-dramatischer Lebens-Bilder eine ästhetisch lenkende Rolle. Gehäuft finden sich in den Landplagen von 1769 Theatralität signalisierende Formulierungen wie »[e]ntsetzliches Schauspiel« (3, 51), »wilde[s] Schauspiel« (3, 62), »herztötendes Schauspiel« (3, 73), »entsetzlichste[n] Szenen« (3, 74), »gräßliche Szene« (3, 75). Das menschliche Dasein erscheint als ein theatral-performatives Vernichtungsgeschehen. Zugespitzt auf den Kreuzestod Christi formuliert das Fragment eines Gedichts über das Begräbnis Christi, entstanden zwischen 1765 und 1768: »Seid mir Begleiter wenn ich zum Hügel des Bundes hineile, / Den Unsterblichen tot, den Schöpfer gekreuzigt zu sehen.« (3, 8) Der Einladung, dem lyrischen Ich zu folgen, schließt sich steigernd der Aufruf an, Christus selbst nachzufolgen: »Folgt ihm gläubige Seelen auf dem Wege der Leiden« (3, 10). Dem folgt eine Kaskade von Imaginationsaufforderungen: »Seht den Göttlichen ruhig der Mörder Urteil erwarten! / Seht ihn blutig, entkleid’t, geschlagen, verspottet und elend! / Seht das glänzende Antlitz mit Speichel und Tränen bedecket! / Seht die heilge Scheitel mit spitzigen Dornen zer18
In einem zweiten Brief ebenfalls vom Oktober 1772 an Salzmann wiederholt Lenz mit anderem Akzent: »Die Offenbarung sagt uns, dieser Heiland sei ein ganz reiner vollkommener Mensch, vielleicht das Ideal der menschlichen Natur gewesen, dem sich die Gottheit, auf eine uns unbegreifliche, Weise offenbart und mitgeteilet […].« (3, 294) Hier ist Christus nicht der Offenbarungsinhalt, sondern derjenige, dem sich die Gottheit offenbart, und zwar in einer nur dem Vollkommenen sich aufschließenden Weise.
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stochen!« (3, 11) Teilnahme, Teilhabe, Nachfolge verwirklichen und erfüllen sich im Sine einer imitatio durch empathische affizierte Beobachtung und Imagination. Dank der vorausgehenden Teilhabe im Leid partizipiert die adressierte Leserschaft auch an Christi leiblicher Verklärung, die seine Vollkommenheit im Gedicht sinnlich greifbar und wirkmächtig, evident und präsent macht. Der »hellglänzende Leib mit himmlischer Klarheit verkläret« (3, 18) ist das untrügliche Zeichen für Christi Vervollkommnung durch Leid. Insofern mag Christus in dieser Hinsicht als vollkommenes Kunstwerk betrachtet werden. Gegen die blutige Nachfolge als Vervollkommnungspraktik hatten ab dem mittleren 18. Jahrhundert die in der protestantischen Theologenschaft tonangebenden Neologen und später die theologischen Rationalisten Einspruch erhoben und Bedenken geltend gemacht. Überhaupt zeigten die Theologen an Christi Opfertod selbst ein gewisses Desinteresse und vernachlässigten dessen soteriologische Qualität gegenüber dem Sittenlehrer Jesus und der Moralisierung des Glaubens. Nicht nur sollte grundsätzlich auf Opfer und Martyrien verzichtet werden, selbst die »orientalischen Reden« vom Opfer sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Die historische Einmaligkeit der in ihrer Gnadenwirkung für alle Zeiten, zurück- und vorlaufend wirkenden Selbstopferung Christi (das »vollgeltende Verdienst Christi«) bedurfte keiner Nachahmung, sondern lediglich der Aneignung. Jeder Versuch, Christi Passion zu wiederholen, entbehrte der theologischen Rechtfertigung und folglich der sozialen gemeinschaftsstiftenden Wirkung. In der Literatur hingegen reüssierte das blutige Schlachtopfer, das sein Sterben als sinnhaftes oder sinnstiftendes Opfer in und aus der Nachfolge Christi begründen will. In dieser Perspektive auf das Opfer verbinden sich zwei entscheidende Dinge: zum einen die sinnhaltige Funktion des Sterbens für die Gemeinschaft, die bewahrt, neu begründet und legitimiert werden soll, und zum andern soll das Opfer aus genau dieser Funktionszuschreibung seinerseits eine sinnhaltig auf die Gemeinschaft und auf Gott bezogene Identität garantieren, die sich im Sterben realisiert und durch das Sterben legitimiert wird. Beides in einem, die Darstellung eines sozialen Ursache- und Wirkzusammenhanges und die eines Opfergeschehens, adressieren ein Publikum, dem wie bei der Lyrik nun jedoch augengefälliger auch in dieser dramatischen Form Teilhabe und Nachfolge angeboten wird. Lenz hat kein Christus-Drama geschrieben, aber mit dem Engländer und der Catharina von Siena zwei Dramen, deren titelgebende Protagonisten als Postfigurationen Christi ausgezeichnet zu sein scheinen und die sich durch ihren Tod für eine christologisch-soteriologische Interpretation anbieten. Insofern fragen die Dramen nach der Möglichkeit radikaler Vervollkommnung durch einen deshalb sinnhaften oder sinnstiftenden Freitod, weil er dem Glück des Mitmenschen verpflichtet scheint. Wie diese Christus nachfolgen, leisten Leser und Zuschauer ihrerseits den teilnehmenden Mitvollzug, die ästhetisch-imaginative compassio. In anschauender
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Betrachtung des sinnhaften bzw. sinnstiftenden und Glückseligkeit gewährleistenden Todes wird auf Seiten des Rezipienten der Trieb nach Vollkommenheit angeregt. Die doppelte Aufforderung aus dem frühen Gedicht, die das lyrische Ich formuliert: »Seid mir Begleiter« und »Folgt ihm« (s. o.) kennzeichnet ebenfalls die Dramen als ästhetische Phänomene und als kommunikative Akte im Zeichen der Vollkommenheit. Die Frage an die Dramen ist demnach eine doppelte in Richtung auf die Akteure und in Richtung auf den Rezipienten, ob eine Christus im Selbstopfer nachfolgende Vollkommenheit dem Menschen erreichbar sei und dessen anschauender Mitvollzug zudem eine Christi Opfertod vergleichbare Wirkung entfalten kann.
6. Der Engländer – das verblendete Opfer und die verfehlte Vollkommenheit Herausgestrichen in der Forschung zum Engländer wird zumeist und mit einer gewissen augenverschließenden Ausschließlichkeit der Themenkomplex von Melancholie und Wahnsinn, zueinander entweder in einem Verhältnis der Steigerung oder der gleichermaßen verderblichen Polarität von feurig und rauchig, von heiß und kalt.19 Dass Robert sicherlich aus dem Tritt gekommen und er für sein Leben alle Gestaltungsmöglichkeiten verloren oder verspielt hat, steht oder scheint doch außer Frage zu stehen. Gleichwohl – Hots Wahnsinn hat Methode und folgt einer kulturgeschichtlich hochrelevanten Bahnung der imitatio Christi. Und er tut dies, indem er jesuanische Moralität im Sinne der Aufklärungstheologie und christologische Soteriologie lutherisch-orthodoxer Prägung aufeinander bezieht oder verwebt im Motiv eines aus seiner Sicht sinnstiftenden Opfertodes.20 Insofern scheint mir, wie nun zu zeigen ist, die sicherlich richtige Akzentuierung von Hots Wahnsinn im Sinne bzw. in Gestalt nicht gelingender Selbstermächtigung und -behauptung auf Vernunftgrundlage die besondere Pointe aufzuweisen, dass der Wahnsinnige für sich in Anspruch nimmt, vermittels seines Todes das Glück seiner Mitmenschen 19
Vgl. Dagmar von Hoff : Inszenierung des Leidens. Lektüre von J.M.R. Lenz’ ›Der Engländer‹ und Sophie Albrechts ›Theresgen‹. In: Inge Stephan u. Hans-Gerd Winter (Hrsg.): »Unaufhörlich Lenz gelesen …«. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart 1994, S. 210–224, hier: S. 212 f. 20 Sehr zu Recht nennt Glarner die »zentralen Akte« im ›Hofmeister‹ und im ›Engländer‹ »Akte der mißglückten Selbstverwirklichung und der als Strafe bzw. Opferung aufgefaßten Selbstbeseitigung« (S. 202). Ungesehen bleibt dabei freilich die im Motiv der Opferung aufscheinende Verwobenheit von Scheitern und Triumph, die hier zu lenkende Interpretationsperspektive wird. Vgl. Johannes Glarner: ›Der Engländer‹. Ein Endpunkt im Dramenschaffen von J. M. R. Lenz. In: Stephan u. Winter (Hrsg.): »Unaufhörlich Lenz gelesen …«, S. 210–224, sowie ders.: »Diese willkürlichen Ausschweifungen der Phantasey«. Das Schauspiel ›Der Engländer‹ von Jakob Michael Reinhold Lenz. Bern u. a. 1992.
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unmittelbar zu bestellen und zu gewährleisten, also ein Opfer im christlichen Sinne zu sein. Auf den ersten Blick scheint Robert Hot, der Held mit dem sprechenden Namen aus dem Drama Der Engländer (1775–77),21 ein Bruder oder naher Verwandter des Hofmeisters Läuffer aus Lenz’ gleichnamigem Drama zu sein: Auch er leidet unter seinem Vater, und er leidet an seiner unerfüllten Liebe zu Armida. Er desertiert, um die Geliebte zu sehen, und liefert sich danach den Wachen aus. Für seine Fahnenflucht soll er mit dem Tod bestraft werden, was Armida in lebenslängliche Haft umwandeln kann. Doch von dieser glücklichen Wendung ist Robert nicht begeistert, er will durch ihre Hände sterben, nimmt dann aber um ihretwillen die Begnadigung an. Nun soll er ein zweites Mal begnadigt werden und mit seinem Vater das Land verlassen. Robert ist entsetzt, er möchte seine lebenslange Haft als Buße und Sühne absitzen. Robert erkrankt, er wird von seinem Vater und von Lord Hamilton über Armidas Heirat unterrichtet, und Robert rast: »Nein, sie ist grausamer als alle wilden Tiere, grausamer als ein Tyrann, grausamer als das Schicksal selbst, das Weinen und Beten nie verändern kann.« (1, 332) Trotz seines Hasses ist er bereit zu leiden, allerdings nur unter der Bedingung, dass Armida dadurch glücklich wird: Ja, ich will gern leiden, will das Schlachtopfer ihres Glücks sein – stirb, stirb, Robert! es war dein Schicksal, du mußt nicht darüber murren, sonst wirst du ausgelacht. (1, 332)
Über diese Dependenz – sein Leiden befördert ihr Glück – legitimiert sich seine Verwendung des Opfermotivs.22 Darin potenziert sich seine Akzeptanz der Haftstrafe, 21
Über Lenz’ Entscheidungen für den Stoff gibt es keinerlei Selbstauskünfte. Das gilt im Übrigen auch für das zweite hier diskutierte Drama ›Catharina von Siena‹. Zu vermuten ist, dass die Wahl für Robert Hot auf der Affinität zu Shakespeare und zu dessen für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts unkonventionellem regelwidrigem Theater beruht. Zugleich handelt es sich allem Anschein nach um einen zeitgenössischen Stoff des 18. Jahrhunderts, es geht um einen in seinen extremen Gefühlswallungen und Gefühlsausbrüchen radikalisierten Empfindsamen, um einen Stürmer und Dränger, der – statt das Lebensführungsideal der Jahrhundertmitte an sich zu verwirklichen, nämlich den Ausgleich von Herz und Kopf, wie dies der wahrhaft Empfindsame tut –, von tausend Furien und Leidenschaft getrieben ist. Zugleich geht es um die unter Stürmern und Drängern grassierende Neigung zu einer in Edward Youngs ›Night Thoughts‹ von 1757 gestalteten Ästhetik des Friedhofs, des Dunklen, des Nächtlichen und Schauerlichen und schließlich um die englische Nationalkrankheit, den Spleen nämlich, die Melancholie, die im 18. Jahrhundert, ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung, diesseits und jenseits des Kanals eine glänzende, nicht nur literarische Karriere gemacht hat – als Modekrankheit (dem ›joy of grief‹) oder, wie in Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ dokumentiert, als psychische Störung. 22 Dagmar von Hoff zitiert Seite 216 in diesem Zusammenhang aus Lenz’ Schrift ›Über die Natur unseres Geistes‹ die Passage, dass Jesus Christus kein »rühmlicher, sondern ein schändlicher« Tod vorbehalten gewesen sei und Lenz sich die »niedrige, verachtete, zertretene Knechtsgestalt«, »unter der ein Gott erscheint« (2, 623), zum Vorbild für Robert Hot genommen habe.
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die er bezeichnenderweise nicht als Strafe für seine Desertierung ansieht, sondern dafür, Armida in ihrer Nachtruhe gestört zu haben. Robert ist zu ›hot‹, um sich ein Leben ohne Armida vorstellen zu wollen oder zu können. Wenn er schon auf Armida verzichten muss, dann – so die Logik – soll sein Freitod ihr Glück krönen. Robert begeht Selbstmord. Sterbend wendet er sich an Gott, an dessen Dasein ich so lange zweifelte; das ich zu meinem Trost leugnete, ich fühle dich – du, der du meine Seele hieher gesetzt! du, der sie wieder in seine grausame Gewalt nimmt. Nur nicht verbiete mir, daß ich ihrer nicht mehr denken darf. Eine lange, furchtbare Ewigkeit ohne sie. Sieh, wenn ich gesündigt habe, ich will gern Straf und Marter dulden; Höllenqualen dulden, wie du sie mir auferlegen magst; nur laß das Andenken an sie sie mir versüßen. (1, 335)
Der herbeigeeilte Beichtvater rät dem Sterbenden, er möge sich von den Geschöpfen ab- und dem Schöpfer zuwenden. Seine Liebe zu Armida und sein Selbstmord hätten Gott beleidigt, er wolle ihm aber verzeihen und ihn lieben, »wenn Sie ihm das Herz wieder ganz weihen, das Sie ihm entrissen haben« (1, 337). Der Beichtvater warnt, Robert dürfe seine Opferbereitschaft nicht zu weit zu treiben, »um einen Gegenstand, den Sie nicht mehr besitzen können, zu ihrer Marter auf ewig im Gedächtnis zu behalten« (ebd.). Robert winkt ab: »Armida! Armida! – Behaltet euren Himmel für euch« (ebd.) Mit dieser apostatischen Verweigerung stirbt Robert. Den Tausch: Himmlische Seligkeit für das Eingeständnis, mit seiner Leidenswut gefehlt zu haben, schlägt er aus. Schließlich würde er damit die Begründung für seinen Freitod verspielen. Die unerfüllte Liebe zu Armida ist allerdings nur der letzte Anlass für den Selbstmord, die Beförderung ihres Glücks ein vorgeschobener Grund. Armida soll Hot retten, und zwar vor seinem Vater, dem folgende Worte Züge eines strafenden Gottes verleihen: laß mich dich noch einmal demütig anschauen, dann mit diesem Gewehr mir den Tod geben; meinem Vater auf ewig die grausame Gewalt nehmen, die er über mich hat. (1, 318)
Der Entschluss zum Selbstmord scheint festzustehen, längst bevor Armida heiratet, sie selbst und ihre Vermählung sind nicht viel mehr als eine weitere Bestätigung dafür, zum Leiden und Unterliegen geboren zu sein. Nur bietet Armida – im Unterschied zum Vater – eine Möglichkeit, diesem beschlossenen Tod ein freundlicheres
Es fehlt die hier betonte Akzentuierung von Hots Selbstverständnis als Opfer, worin gegenüber der Betonung des kreatürlichen Leidens die Göttlichkeit oder Gottähnlichkeit Hots bewahrt wird. Immerhin glaubt Hot doch, dass sein Leiden und sein Tod sinnhaft, da für Armidas Glück unerlässlich erscheint.
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Gesicht zu geben: das eines sinnvollen Opfers für das Lebensglück eines anderen Menschen. Hot will sterben, weil ihm der Vater ein Leben zumutet – Rückkehr nach England, Gebrauch in öffentlichen Geschäften, Heirat mit der Tochter von Lord Hamilton –, das seinen eigenen Vorstellungen zuwider läuft. Roberts Rückblick auf die ersten zwanzig Jahre seines Pflanzen- und Steinlebens (vgl. 1, 318) – »bloß um die törichten Wünsche meines Vaters auszuführen« (ebd.) – karikiert und persifliert einmal mehr das Selbsthelfer- und Kraftmenschentum der Stürmer und Dränger: Handeln ist, wie häufig bei Lenz, autoaggressives Handeln unter der Prämisse, leiden zu müssen, und unter der allerdings nicht nur in diesem Fall trügerischen christologisch-opfertheologischen Voraussetzung, einen anderen Menschen glücklich zu machen. Der aus dem Vater-Sohn-Konflikt resultierende Appell lautet: ›Vernichte Dich selbst, strafe damit Deinen Vater, indem Du seine schönsten Hoff nungen oder törichten Wünsche zerstörst.‹ Hots Ausspruch »Weg mit den Vätern« (1, 310) verkehrt sich über die angedeutete imitatio Christi zu ›Weg mit den Söhnen‹.23 Robert, der seit seiner Jugend »über nichts als Büchern und leblosen, wesenlosen Dingen« gelebt hat, »wie ein abgezogener Spiritus in einer Flasche, der in sich selbst verraucht«, betrachtet Armidas »Gesicht, auf dem alle Glückseligkeit der Erde und des Himmels wie in einem Brennpunkt« (1, 318 f.) vereinigt sind, als angemessene Entschädigung für sein unter dem Diktat des Vaters versäumtes Leben. Für Hot, der langsam ›cold‹ wird, hat sich wenig geändert: Statt in sich zu verrauchen, verströmt er sein Blut, statt sein Pflanzen- und Steinleben fortzusetzen, stürzt er sich ins Höllenfeuer, und statt über Büchern und anderen leblosen Dingen zu brüten, will er in seinem Gedächtnis das Bild der geliebten Frau tragen und die Gewissheit, als Schlachtopfer für ihr Glück gesorgt zu haben. In diesem Selbstbild kommt er Christus nah, auch wenn er unversöhnt mit seinem irdischen und dem himmlischen Vater stirbt. Er zieht, wie Lenz über den gekreuzigten Christus schreibt, den »einzige[n] Begriff, den wir in der Bibel von einer Hölle haben« (2, 512), dem Himmel vor: Er gibt die »Gemeinschaft mit Gott« (ebd.) auf, um in dem Bewusstsein zu sterben, einmal wenigstens Täter gewesen und deshalb Opfer geworden zu sein, einmal ins Leben eingegriffen und damit Schuld auf sich geladen zu haben, die er nun sühnt. Er übersieht dabei allerdings zweierlei, erstens dass Armida auch ohne seinen Tod glücklich wird oder sogar ist; zweitens, dass er seinen Vater, wenn überhaupt, nur dadurch bestraft, dass er dessen »grausame Gewalt« an sich exekutiert.
23
Im Anschluss an Albrecht Schöne akzentuiert Glarner die Kontinuität und die Wandlungen des Vater-Sohn-Motivs auf Grundlage des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Luk 15,11– 32); vgl. Glarner: ›Der Engländer‹, S. 204 passim.
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Der Versuch, Hot das Leben und die Passion Christi nachvollziehen zu lassen24 – er fühlt sich verspottet, verraten und ruft schließlich, nachdem er sich mit einer Schere in die Gurgel gestochen hat: »Ich komme, ich komme« (1, 334 f.; vgl. 1, 328; 332) – läuft ins Leere: Opfermotiv und Motivation des Selbstmordes gehen nicht ineinander auf, auch wenn Hot mit seiner an Hysterie grenzenden Empfindsamkeit und dem Instrument seiner Selbsttötung weibliche Elemente bzw. Attribute in sich aufgenommen hat, die ihn ebenfalls in die Nähe Christi rücken sollen (vgl. 2, 622). Vorgeführt wird schließlich nur, aus welcher psychischen Zwangslage heraus die in den theoretischen Schriften breit entfalteten Überlegungen und Reflexionen zum Leiden und zum Selbstopfer Christi Anwendung finden: nicht in erster Linie um Armidas Glück zu befördern, eine Phantasie, die den Blick auf den wahren Grund verstellen soll, sondern um sich selbstbestimmt und gleichzeitig unter dem Eindruck der väterlichen Bevormundung in der Rolle des Opfers eine Identität zu geben, die doch notwendig an die Selbstvernichtung gebunden ist.
7. Catharina von Siena – schöne Pose statt religiöser Inbrunst Liebe und Hass als Elementartriebe, die wohl diszipliniert werden sollen, aber nicht können, spielen auch in Lenz’ fragmentarischem Künstlerdrama Catharina von Siena mit seinen vier Fassungen die Hauptrollen.25 Die Ausgangslage ist der des Engländers vergleichbar, es scheint, als kämen hier die Robert über den Christus-Anschluss zugeschriebenen weiblichen Anteile in einer für Lenz identifikatorischen Frauengestalt deutlich zum Vorschein: Catharina liebt einen Maler, der – je nach Fassung – Correggio oder Rosalbino heißt, aber sie 24
Vgl. Dagmar von Hoff : Inszenierung des Leidens, S. 215 u. 221. Eine Interpretation auf philologischer Grundlage der Scheidung und Darstellung der zu vier Fassung gebündelten Textüberlieferungen unternimmt Martin Rector: Ästhetische Liebesverzichtserklärung. Jakob Lenz’ Dramenfragmente ›Catharina von Siena‹. In: Ulrich Kaufmann (Hrsg.): »Ich aber werde dunkel sein». Ein Buch zur Ausstellung Jakob Michael Reinhold Lenz. Jena 1996, S. 58–65. Die historische Catharina von Siena stirbt 1380 im Alter von 33 Jahren – wie Christus, und 1375, im Alter von 27 Jahren, soll sie Stigmata erhalten haben, die aber – anders als im Falle des Heiligen Franz von Assisi – nur für sie selbst sichtbar gewesen sind. In sozialer und politischer Hinsicht ist anzuführen, dass an Catharina von Siena, in deren Vita sich weltflüchtige Askese und kirchenpolitisches, karitatives Engagement verbunden haben, die Differenz zwischen kirchlicher Obrigkeit und volkskirchlicher Bewegung deutlich wird. Für die Nachwelt ist sie vor allem durch ihre 380 Briefe in Erinnerung geblieben, die versuchen – und auch hierin zeigen sich gewisse Affinitäten zu Lenz – ihre Zeit und deren große Probleme in den Griff zu bekommen, dabei allerdings – nach Einschätzung der Forschung, die ich hier lediglich wiederholen kann – über Pauschalierungen nicht hinaus gekommen sein sollen. Möglicherweise hat Lenz, das sei zu Rector ergänzt, Catharina von Siena durch Gottfried Arnolds ›Historie und Beschreibung der mystischen Theologie‹ von 1703 oder durch dessen auch für Goethe wichtige ›Unparteiliche Kirchen und Ketzerhistorie‹ von 1699/1700 kennen gelernt. 25
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soll auf Drängen ihres Vaters Trufalo oder Trufaldino heiraten. Catharina flieht von den Menschen in eine Höhle und quält sich dort mit Selbstvorwürfen. Sie betet zu Gott: Errette, rette mich vor meinem Vater / und seiner Liebe, seiner Tyrannei. / Laß mich sein Auge nimmer wiedersehn, / Das mich von Kindheit auf zu seiner Sklavin machte. / Hätt’ er’s gewinkt, ich hätte Gott verleugnet! (1, 428)
Wie in Lessings Patriarchalismus-kritischen Dramen Miss Sara Sampson und Emilia Galotti erlebt die Tochter die Liebe als gefährlichste Waffe des Vaters im Kampf gegen ihren Willen. Dennoch – für sie möchte Catharina sterben: Ich sterbe ja für dich, ich liebe dich / Mehr als mich selbst – nur nicht als meine Freiheit! / Sieh mich als tot an – flieh’ ich doch hieher, / Nur um die Ehrfurcht gegen dich nicht zu verletzen, / Um dir durch Widerspenstigkeit nicht weh zu tun. (1, 429)
Freiheit ist die Freiheit zum Tod, womit Catharina glaubt, ihrem Vater und sich selbst gerecht zu werden. Der Gedanke, zurückzukehren »nach Hause zu den kalten Leuten, / Die um ihr kaltes träges Pflanzenleben / Den blanken Dunst von Weisheit spinnen« (ebd.), ist ihr unerträglich. Besser sterben aus freiem Entschluss, als einen ungeliebten Mann heiraten und sich selbst untreu werden. »Nein hier allein darf mein gequältes Herz / Sich mind’stens frei und ungezwungen brechen« (ebd.). Wie Robert Hot will Catharina ihren Tod als Opfer verstehen. Um die »Ehrfurcht», die eine Tochter dem Vater schuldig ist, nicht zu verletzen, ist sie entschlossen, ihren Körper, den Sitz ihres Widerspruchsgeistes und ihrer Liebe zu Correggio, zu vernichten: Seht mich hier an diesem Felsenbrot / Den blut’gen Gaumen letzen, seht die Geißel, / Die euch gerochen hat – sie ist mir Wollust, / Mein einziger Genuß eu’r Elend auszusöhnen. (1, 430)
Niemand ist da, um zu sehen, doch will Catharina aus ihrer Selbstzüchtigung ein öffentliches Schauspiel machen. Sie wünscht sich Richter und Peiniger herbei (vgl. ebd.), die schauen sollen, mit welcher Inbrunst und Wollust sie das Versöhnungsopfer dem Vater zu Liebe und Gefallen an sich vollzieht. Gleichzeitig hat ihr Martyrium einen zweiten Adressaten: den Maler Correggio, der jedoch für weibliche Reize vollkommen unempfindlich ist und ausschließlich die Kunst liebt. Auch ihn will Catharina beeindrucken, wünscht, er käme und sähe sie sterben (vgl. ebd.). Durch die Geißelung – der Nebentext vermerkt: »Catharina in der Höhle mit der Geißel, beide Schultern enblößt, kniet und geißelt sich eine Weile stumm« (ebd.) – versucht Catharina ihre Leidenschaft für Correggio zu unterdrücken. Doch das Gegenteil geschieht: Der Schmerz wird zur Lust, die Lust damit legitimiert und zugelassen:
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Wenn ich die schöne edle Mannsgestalt – (geißelt sich) / Fließ fließ mein Blut, vertilge die Gedanken – / Das hohe Auge – (sich geißelnd) – ach den süßen Mund – / Ach ich erliege – Jesus Jesus hilf mir! (Ebd.)
Schließlich sinkt sie entkräftet zu Boden, »das Kruzifix auf ihre Lippen geheftet« (1, 431). Der Teufel erscheint in Gestalt Correggios und sagt ihr allerlei Lästerungen. Dennoch macht er sie glücklich, »da er das dumpfe Gefühl des Schmerzes, das sie wie ein Feuer unter der Asche schleichend verzehrt in ihr weckt und in lebendige Flammen ausbrechen macht« (ebd.). Catharina stirbt in der Hoffnung, sie und Correggio werden »glücklich« und in »Brudertreue bei einander leben« (ebd.). Die Flammen des Schmerzes haben ihre Sinnlichkeit verzehrt; aus der begehrenden Frau ist eine Heilige geworden, Correggio ist in Christus eingegangen, den sie lieben und sogar küssen darf. Ihr Selbstopfer ist ein schöpferischer Akt, eine Art Metamorphose oder alchimistische Reinigung und Veredlung, wodurch Catharina sich und den Gegenstand ihres Begehrens verwandelt und in dieser verwandelten Form genießen kann. Aufschlussreicher für das Opfermotiv ist die vierte Fassung. Sie schließt, mit anderen Akzenten, an diese ästhetisch-schöpferische Dimension des Opfers an. Noch immer liebt Catharina Correggio, der nun Rosalbino heißt und der noch immer die Kunst liebt. Mit der Natur kann er ebenso wenig anfangen wie mit Catharina. Die Natur verflucht er wegen ihrer schrecklichen Gipfel und ihrer spitzen Felsen, die Catharina Schmerzen bereiten: »O ich will in der Natur nichts mehr malen. Du hast mich verraten. Ich habe dir alles aufgeopfert, falscheste aller Mütter. Du hast mich um alles gebracht. Und kannst so lächeln, wo Catharina gelitten hat.« (1, 464) Allerdings flucht er nicht aus Liebe zu Catharina, denn Rosalbino ist ihr nur gefolgt, um »dich den deinigen wiederzugeben, dadurch ein Recht zu erhalten dich täglich zu sehen, jeden Tag mit neuen Entzückungen, jeden Tag unter einem schönern Lichte in neuen Stellungen des Zaubers!« (Ebd.) Catharina ist für ihn weniger geliebte und liebende Frau als bevorzugter Gegenstand seiner Kunst. Weil er fürchtet, diesen zu verlieren, will er Catharina dorthin zurückbringen, wo sie wirklich Schmerzen leidet und dadurch besonders attraktiv wird. Was Catharina gegenüber Rosalbino ausspricht: O ich habe oft gedacht, wenn ich so dalag vor Schmerz und Kälte fast erstarrt in meiner Höhle, daß ich mir selbst wie ein Marmorbild vorkam – man hat doch Exempel von Versteinerungen, vielleicht bleibe ich nun so – und Rosalbino kommt einmal hierher, seine schöne Einbildungskraft an mir zu üben – er, der sonst nichts an mir unbemerkt ließ, der auf jede meiner Mienen, jede meiner kleinsten Ausdrücke der Seele Acht gab – wenn er mich in dem Augenblick, da ich mit dem Gedanken an ihn sterbe, hier verewigt anträfe – (1, 467),
beschreibt sehr genau Rosalbinos Absichten: Catharina soll tatsächlich ein pygmaliontisches »Marmorbild« sein, jeden Tag »in neuen Stellungen des Zaubers«,
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an dem er seine Einbildungskraft und sein Künstlertum üben kann. Zu diesem Zweck präsentiert Rosalbino Catharina eine Zeichnung ihres Vaters, die sie in ihrem Entschluss, nicht nach Hause zurückzukehren, wanken macht. Schließlich gibt Rosalbino zu erkennen, dass Catharina Trufaldino heiraten und ihm nur ihr Herz lassen soll. Entsetzt und enttäuscht von dieser »Großmut«, sagt Catharina, sie werde als »unglücklichste Person, die je geboren ward«, zurückkehren und sich an den »Triumphswagen« (1, 470) ihrer Familie und Freunde binden lassen. Es macht keinen Unterschied, ob Catharina wie in der ersten Fassung stirbt oder Trufaldino heiratet.26
8. Glück – Opfer – Vollkommenheit Lenz zeigt Opfer, und seine Figuren zeigen sich als Opfer, deren Sinngehalt im Blick auf die theoretischen Vorüberlegungen jedoch äußerst fragwürdig, zumindest problematisch ist. Motivverwendung und poetische Kontextualisierung, Opferabsicht und -durchführung gehen nicht ineinander auf. Gerade in den Dramen herrscht ein auffälliges Ungleichgewicht zwischen der Sinnprätention des Opfers und deren kontextueller Verwirklichung. Das Opfer, als sinnbezogene oder sinnstiftende Vermittlungs- und Versöhnungstat, die sich Christi Vorbild anschließen will, kann sich in Lenz’ dramatischen Szenarios nicht durchsetzen: Entweder es läuft ins Leere, wie im Engländer: Robert betrügt sich selbst, wenn er glaubt, Armidas Glück hänge von seinem Selbstmord ab; die Wahrheit ist: Er will sich seinem Vater und einem unerträglichen Leben entziehen. Oder das Opfer wird, wie in der ersten Fassung der Catharina, zum heimlichen Lustspender, oder es erstarrt, wie in der vierten Fassung, zur Pose, zum Kunstwerk, an dem der Künstler / Betrachter sein Wohlgefallen hat und sein Auge übt. Die Erosion des Opfers oder der Nachweis seiner Überflüssigkeit aus sozialer, gemeinschaftlicher Perspektive ist mit der subjektiven Notwendigkeit, sich im Leid und aus Leid eine Identität der Transgression zu konstruieren, verknüpft. Statt um 26
Martin Rector: Ästhetische Liebesverzichtserklärung, interpretiert die ›Catharina‹ in der Gesamtheit der Fassungen als »ästhetische Liebesverzichtserklärung« und nicht – wie in der älteren Deutung durch Curt Wesle – »als aufeinander aufbauende Versuche zur psychologischen Plausibilisierung für Catharinas Christusliebe, sondern als Variationsreihe realer Liebesenttäuschungen, die nicht nur motivierenden Charakter haben, sondern ihrerseits einer psychologisierenden Begründung bedürfen, insofern sie nämlich erkennen lassen, das wäre meine These, daß der in diesem Drama scheinbar so stringent vorgeführte Beweis für die Notwendigkeit des Liebesverzichts letztlich nur als Vorwand dient für ein anderes, dahinterstehendes Liebesproblem Lenzens« (S. 61). Hinter dem »Szenario einer objektiven Liebesverhinderung« mutmaßt Rector den »ästhetische[n] Legitimierungsversuch subjektiver Liebesangst«, weshalb sich Lenz stets in unerreichbare Frauen verliebt habe (S. 64).
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sozial bindende Sinnhaftigkeit, etwa in Form mitmenschlichen, von Sympathie, von Empathie oder von Caritas gegründeten Handelns, geht es um die prekäre Präsenz, um einen ästhetischen Moment der (vermeintlichen, eingebildeten) Vollkommenheit und der Vollendung im Über- und im Untergang. Lenz kappt den angedeuteten Zusammenhang von sozialer Funktion und einer auf Gemeinschaft hin offenen Formung von personaler Identität. Zu beobachten ist bei Lenz ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Konstruktion von Identität durch das Opfer, die Sinnhaftigkeit oder Sinnstiftung bezogen auf eine Gemeinschaft durch – scharf formuliert – eine Pose ersetzt. Seinen Figuren gelingt es nicht, sich in einen Sinnzusammenhang zu integrieren, und es gelingt ihnen ebenfalls nicht, einen neuen Sinn in Gestalt einer verbindlichen Ordnung zu stiften (s. o.).27 Ihr Tod ist kein Opfer und insofern kein eschatologischer Augenblick,28 der »plötzlich« das Zeitkontinuum aufbrechen und etwas Neues beginnen lassen würde. Ihnen bleibt am Ende wenig mehr als die große Pose, die große Geste, unterzugehen, zu sterben, gemordet zu werden, auch von eigener Hand, im tröstlichen Bewusstsein, ein Opfer gebracht und gewesen zu sein: zum Erhalt der bestehenden Ordnung, zum Wohle der Gemeinschaft, für die Geliebte, die nur über und durch den Tod des Liebenden zu ihrem Glück finden kann. Die dramatischen Geschichten fallen diesem identitätssichernden Selbstbild als Opfer in den Rücken und signalisieren, dass ein Graben sich zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung auftut, doch diese Differenz scheint allemal im toten Winkel von Lenz’ Akteuren zu verbleiben, sie tritt nicht ins Licht der Erkenntnis, was seinerseits tödliche Konsequenzen mit sich führen könnte. Mit seinen ›falschen‹ Opfern schreibt und illustriert Lenz die Geschichte einer anderen Moderne, die nicht im Zeichen der Selbstermächtigung, des Strebens nach Autonomie steht. Er erzählt und illustriert mit blutigen Bildern eine Moderne im Zeichen der Selbstdepotenzierung, der Selbstvernichtung, die freilich auch von radikaler Autonomie zeugen kann, insofern sich die Selbstzerstörung nicht mehr durch die Denkfigur und die Semantik des Opfers und des Opferns sinnhaft oder sinnstiftend binden und auffangen lässt. Die Lesarten, die Lenz’ Dramen für die vermeintlichen Opfer bietet zeigen, dass es einen in der blutigen Nachfolge Christi vollkommenen oder vollkommensten Menschen nicht geben kann, der durch seinen freiwilligen Tod schlagartig einen neuen Bund zu stiften vermöchte. Was bleibt, ist 27 Vgl. Winter: Lenz als Kritiker der Aufklärung, S. 87: »Läßt Robert seinen Einbildungen und Empfindungen freien Lauf, so fehlt ihm doch eine wesentliche Qualität, die den vollkommenen Menschen auszeichnet. Er ist ganz Leidenschaft, die sich verströmt. Es gelingt ihm nicht seine Empfindungen zu ordnen, zu untersuchen und sich im Hinaussetzen über sie eine ›innere Festigkeit‹ zu erwerben.« 28 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981.
»was den vollkommenen Menschen mache«?
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im Sinne einer unabschließbaren Annäherung die Mühsal, dem Sittenlehrer durch Selbstformung und die Verbreitung von dessen selbst-loser Botschaft nachzufolgen. Das »Reich Gottes auf Erden« als eine Form gemeinschaftlicher Vollkommenheit steht nicht unmittelbar zu erwarten.
9. Nachtrag: Lebensweltliche Übersetzungen Hinsichtlich der konkreten lebensweltlichen Realisierungsmöglichkeiten von Vollkommenheit und Glückseligkeit ist Lenz skeptisch: Und [s]o müssen wir dem vollkommensten der Menschen nachahmen, je mehr wir sind, für desto minder uns ausgeben, ja auch für desto minder uns selber halten, weil wir zu dem letzten noch immer Ursache genug finden werden, da der Weg nach Vollkommenheit durch Äonen geht und wir höchstens nur Jahre lang drauf gezogen […]. (2, 491)
Das gilt nicht zuletzt für Lenz’ persönliche Bemühungen. In einem Brief vom 6. Januar 1780 schreibt Lenz an seinen Vater: Nicht die vollkommene Erfüllung, dessen was man sich von ihm versprochen, sondern nur die Fähigkeit, sich diesem Ideal durch eigenen Fleiß künftig bis zur Vollkommenheit nähern zu können, ist das was meiner zu seiner höchsten Empfehlung sagen kann. (3, 581)
Annäherung ist die Bestimmung und Aufgabe des Menschen. Lenz findet zu dieser vorsichtigen Formulierung nicht im Kontext einer moraltheologischen oder -philosophischen Erörterung, sondern er spricht lebenspraktisch-situativ und pro domo: Er bittet den Vater um ein Empfehlungsschreiben für eine Anstellung. Im lyrischen Frühwerk sind es die desolaten Lebensumstände und gesellschaftlichen Verhältnisse, die Glückseligkeit verhindern. »Mit jedem Tage lernt man klärer, / Daß nur der Tod der große Lehrer / Der Tugend und des Glückes sei. / Um glücklich in der Welt zu leben, / Dazu gehöret viel Bestreben / Der Bosheit und der Heuchelei.« (3,85) Prosaischer, aber nicht weniger deutlich, heißt es wiederum in einem Brief an den Vater vom 15. Juni 1772: »Bedenken Sie daß wir in einer Welt sind, wo wir durch tausend in einander gekettete Mühseligkeiten zum Ziel gelangen und niemals eine vollkommene Befriedigung auch unserer unschuldigsten und gerechtesten Wünsche erwarten können.« (3, 257) Aber, auch das sprechen die Briefe aus, schuld sind nicht allein die widrigen Umstände, auch die menschliche Natur, und zwar seine eigene menschliche Natur, steht dem Glück und der Vollkommenheit entgegen: »Um also glücklich zu sein, sehe ich wohl, werde ich künftig nur immer an meinem Magen arbeiten, nicht an
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der Mahlzeit, die ich ihm vorsetze.« (3, 257) Anpassung soll das Glück machen, aber ein anderes als das ursprünglich angestrebte. In summierender Konsequenz sind es aber weder die Umstände, noch die menschliche Natur allein, die über das Geschick des Menschen befinden, sondern die Entscheidung über Glück oder Unglück wird höheren Orts gefällt, wie Lenz in einem Brief an Salzmann vom September 1772 erläutert: Der waltende Himmel mag wissen, in was für eine Form er mich zuletzt noch gießt und was für eine Münze er auf mich prägt. Der Mensch ist mit freien Händen und Füßen dennoch nur ein tänzelnd Kind, wenn er von dem großen Werkmeister, der die Weltuhr in seiner Hand hat, nicht auf ein Plätzchen eingestellt wird, wo er ein paar Räder neben sich in Bewegung setzen kann. (3, 272)
Seine persönlichen Aussichten auf Glück hat Lenz gering veranschlagt. An Herder heißt es am 28. August 1775, an Freund Goethes Geburtstag, der drei Monate später seine Karriere am Weimarer Hof beginnen wird: »Ich, der stinkende Atem des Volkes, der sich nie in eine Sphäre der Herrlichkeit zu erheben wagen darf. […] Was für Sümpfe habe ich noch zu durchwaten! Wenn wird die Zeit kommen, da ich Dich von Angesicht sehen werde, Herr der Herrlichkeit – in Deinen Erwählten.« (3,333) Wohlweislich heißt es nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern – gespiegelt und wie über Bande – in »Deinen Erwählten«, denen sich Lenz – wenn sie es sind, die den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen – bescheiden und demütig nicht zurechnet.
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Alfierianische Kulturpolitik Von der Selbstvervollkommnung des Dichters zur Vollendung der Nation1
D
ie Literaturgeschichtsschreibung in der Romania nimmt ihren Ausgang im 18. Jahrhundert. Einen Meilenstein markiert dabei das Erscheinen von Montesquieus De L’Esprit des Lois im Jahr 1748. War Voltaires Le Siècle de Louis XIV noch dem traditionellen Modell einer Zeitalter-Lehre gefolgt, so ermöglicht nun Montesquieus Untersuchung vom Geist der Gesetze, obwohl sie selber gar keine Anmerkungen zur Literatur und damit zum ›Geistesleben‹ der Nationen im engeren Sinne enthält, eine neue Art von komparativer Literaturgeschichtsschreibung, welche die literarische Produktion in Beziehung setzt zu den Institutionen des jeweiligen Landes. Die erste wirklich innovative Aneignung dieses Vorbilds findet sich in Germaine de Staëls De la littérature. Wie Bertrand Binoche anschaulich gezeigt hat,2 verläuft die Argumentation bei de Staël entlang von zwei Achsen: Die eine, zeitlicher Art, verfolgt die Entwicklung der Literatur diachron von der Antike bis zur Gegenwart, während die zweite Achse räumlicher Natur ist und die verschiedenen europäischen Nationen synchron in den Blick nimmt. Die leitende Fragestellung lautet dabei, wie sich die Literatur zu den Institutionen (d. h. den jeweiligen politischen Systemen eines Landes) verhält, wobei Madame de Staël nicht nur dem Zusammenhang von Kultur und Politik im Allgemeinen nachspürt, sondern gezielt eine Antwort geben möchte auf die Frage, welche Art von Literatur die geeignete sei für das nach-revolutionäre Frankreich ihrer eigenen Zeit. In Italien findet sich bereits vor dem Ausbruch der Revolution ein Projekt, das vom Charakter her dem der Madame de Staël erstaunlich ähnlich ist. Denn auch Vittorio Alfieri (1749–1803), der Piemonteser Graf und Schriftsteller, ist in seinem Traktat Del Principe e delle lettere dem Zusammenhang zwischen der Literatur und den politischen Institutionen im Zuge einer historischen Untersuchung nachgegangen. Im Unterschied zu Madame de Staël ist Alfieris Werk aber tendenziös, und das gleich im doppelten Sinne. Denn zum einen stellt Del Principe e delle lettere eine direkte Fortsetzung von Alfieris früherem Traktat mit dem Titel Della tirannide (geschrieben 1777) dar, welcher eine flammende Verurteilung des absolutistischen 1
Für die Lektüre dieses Aufsatzes und seine hilfreichen Anmerkungen diesbezüglich danke ich Harald Bluhm. 2 Bertrand Binoche: Littérature, esprit national et perfectibilité. In: Annales Benjamin Constant 31–32 (2007), S. 9–25.
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Systems enthält, unter dem die Bewohner der italienischen Staaten nicht anders, wenn auch vielleicht in kleinerem Maßstab, zu leiden hatten als ihre Zeitgenossen in Deutschland oder Frankreich. Alfieris Traktat ist folglich politisch alles andere als neutral; handelt es sich doch um ein Thesenwerk, das die grundsätzliche Unvereinbarkeit des Despotismus mit einer florierenden literarischen Kultur belegen soll. Zum anderen ist das, was Madame de Staël für Frankreich wie selbstverständlich voraussetzen kann, nämlich die Existenz eines (französischen) Nationalstaats, für Alfieri noch reine Zukunftsmusik. Für ihn soll die Literatur allererst das hervorbringen, was sie bei Madame de Staël lediglich zu stabilisieren braucht: eine freie und geeinte (italienische) Nation. In Anbetracht der Verhältnisse auf der Halbinsel ist dies gewiss ein hehres Projekt. Die Italiener sind nicht nur auf verschiedene Stadt- und Kleinstaaten verteilt, sie sind zudem – in weiten Teilen – auch der Herrschaft fremder Mächte unterworfen. Eine italienische Nation heraufzubeschwören bedeutet daher für Alfieri zunächst einmal, ein ›freies‹ Volk zu antizipieren. Der vorliegende Aufsatz möchte diese Bestrebungen und speziell die Rolle des Freiheitsmotivs bei Alfieri nachzeichnen. Es gilt letztlich eine Antwort zu finden auf die Frage, wie ausgerechnet ein zurückgezogen lebender Aristokrat, der wenig Kontakt mit der sozialen Wirklichkeit seiner Zeit hatte und über keinerlei nennenswertes politisches Gespür, geschweige denn über ein ausgearbeitetes politisches System verfügte, zum unangefochtenen »Forerunner of Italian nationalism«3 werden konnte. Die These – um sie gleich vorwegzunehmen – besagt, dass dafür zwei Faktoren ausschlaggebend waren: Zum einen die bereits angesprochene Politisierung der Literatur durch Alfieri, derzufolge den lettere eine nicht nur abbildend-nachvollziehende, sondern – im Hinblick auf die politische Bildung des Landes – eine genuin kreative Funktion zukommt; sowie zum anderen Alfieris persönliche Ethik, wie sie in seiner Autobiographie dargestellt ist, welcher daher der zweite Teil dieses Beitrags gewidmet sein soll. Die Vita macht deutlich, dass Alfieri zunächst und an erster Stelle sich selbst in die Pflicht nimmt, wenn es um die italienische Kultur geht. Das Bildungsprojekt des Schriftstellers setzt beim eigenen Ich an – diese quasi›existenzialistische‹ Dimension seines Projektes, dem – trotz entsprechender antiker Vorbilder – eine eigentümlich moderne Qualität nicht abzusprechen ist, hat ihm nicht nur eine Menge auktoriales Prestige eingebracht, indem sie seine Authentizität 3 So der Titel einer einschlägigen Studie von Gaudence Megaro (London, New York 1930). Hans Kohn beschreibt den Schriftsteller Alfieri mit folgenden Worten: »more a declamatory poet than a thinker in contact with reality, more a ferocious individualist than a political nationalist«. Hans Kohn: The Idea of Nationalism. A Study in its Origins and Background. New York 1951, S. 505. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist Alfieris Wirkung auf die italienische Bewegung des ›Risorgimento‹ unbestritten. Zur Wirkung Alfieris s. auch Giovanni Gentile: L’Eredità di Vittorio Alfieri. In: La Critica 19 (1921), S. 12 ff.
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unter Beweis stellt und den Zusammenhang von Leben und Werk garantiert; sie rückt auch die Sorge um das Selbst in den Vordergrund der politischen Bildungsbemühungen. In der Tat setzt die Arbeit an der Nation für Alfieri die Arbeit am eigenen, am italienischen Charakter voraus, wie in der Folge zu zeigen sein wird.
1. Nationale Emanzipation als literarisches Projekt Doch wenden wir uns zunächst dem angesprochenen literatursoziologischen Traktat zu. Del Principe e delle lettere4 ist eng an ein berühmtes italienisches Vorbild, nämlich an Machiavellis Buch Vom Fürsten, angelehnt.5 Der ›Principe‹ ist auch hier titelgebend, doch soll er nun konkret auf seine Beziehungen zu den ›lettere‹, den Künsten und Wissenschaften, hin befragt werden. Der erste Teil ist ganz im Stile eines Fürstenspiegels gehalten. Es werden die jeweiligen Interessenlagen des Fürsten und der Literaten beleuchtet und der Nachweis ihrer grundsätzlichen Unvereinbarkeit erbracht. Während dem Fürsten allein an der Macht gelegen ist, die er nur auf Kosten anderer erwerben und behaupten kann, sind die letterati der Wahrheit und insofern dem Wohl der gegamten Menschheit – d. h. dem Gemeinwohl in seiner denkbar weitesten Ausdehnung – verpflichtet. Zwischen beiden besteht folglich ein unüberbrückbarer Interessenkonflikt.6 Doch legt Alfieri auch dar, dass – und wie – der Fürst aus einer Verbindung mit den Schriftstellern Nutzen zu ziehen vermag. Indem er die Künste und Wissenschaften fördert, könne er sie in ihrer Freiheit beschneiden und ihnen somit, unter dem Anschein des Wohlwollens, Fesseln anlegen; eine offene Verfolgung der Schriftsteller und Künstler käme dagegen einem Eingeständnis fürstlicher Schwäche gleich. So ruft er aus: »qual più atroce insulto può egli farsi alle lettere, che di pascerle ed impedirle?« (124) / »Was kann, alles wohl erwogen, den Wissenschaften für eine größere Beschimpfung widerfahren, als wenn man sie belohnt und zugleich ihre Wirksamkeit verhindert!« (14). Trotz 4
Vittorio Alfieri: Del Principe e delle lettere. In: ders.: Scritti politici e morali, Bd. 1. A cura di Pietro Cazzani. Asti 1951 (Opere di Vittorio Alfieri da Asti, Bd. 3), S. 111–254 (im Folgenden PL). Für die Übersetzung wurde diese Ausgabe konsultiert: Vittorio Alfieri: Der Fürst und die Wissenschaften. Aus dem Italienischen übersetzt von Friedrich Buchholz, mit einem Nachwort von Arnaldo di Benedetto. Göttingen 2011. Der deutsche Textnachweis steht i. d. R. in Klammern hinter dem Original-Zitat. 5 Den Einfluss Machiavellis auf Alfieri hat Arnaldo di Benedetto präzise dargelegt. Vgl. Arnaldo di Benedetto: »Il Nostro Gran Machiavelli«. Alfieri e Machiavelli. In: Critica letteraria 106 (2000), S. 71–84. Gisela Schlüter führt im Anschluss daran aus, wie Alfieri »den vor allem in Frankreich ›republikanisierten‹ Autor des ›Principe‹ national für einen originär italienischen Republikanismus vereinnahmt«. Gisela Schlüter: Emphatische Rezeption. Alfieri liest Machiavelli. In: Henning Krauss u. a. (Hrsg.): Psyche und Epochennorm (Festschrift für Heinz Thoma zum 60. Geburtstag). Heidelberg 2005, S. 391–404, hier: S. 404. 6 Alfieri spricht gar von beiden als »naturali nemici« (133).
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aller Gegensätzlichkeit liegt es also bei genauerer Betrachtung durchaus im wohlverstandenen Eigeninteresse des Fürsten, die Künste und Wissenschaften zu fördern. Man könnte Alfieris Argumentation zynisch nennen, wenn er ihr nicht sogleich einen zweiten Teil folgen lassen würde, der sich an die letterati wendet und sich deren Standpunkt zu eigen macht. Es gilt nun, die Konsequenzen der zuvor beschriebenen Allianz aus dem umgekehrten Blickwinkel zu erhellen. Dabei ist Alfieri – etwa in dem Kapitel Che le lettere nascono da sè, ma sembrano abbisognare di protezione al perfezionarsi / Die Wissenschaften entstehen von selbst, aber scheinen des Schutzes zu ihrer Vervollkommnung zu bedürfen (II.3) – vor allem daran gelegen zu zeigen, dass die Schriftsteller in erster Linie sich selber schaden, wenn sie sich auf eine Verbindung mit dem Fürsten einlassen; denn eine solche beschneide zwangsläufig ihre geistige Freiheit und gefährde ihr höchstes Gut, das literarische Talent. Allenfalls ein mittelmäßig begabter Schriftsteller, so Alfieri, vermöge von der Förderung eines Fürsten zu profitieren, da er durch diese seinen fehlenden inneren Antrieb, sich selbst zu vervollkommnen (perfezionarsi), kompensieren könne. Für alle anderen aber, insbesondere für die wahren Genies unter ihnen, gelte, dass sie durch äußere, materielle Anreize, wie sie ein fürstlicher Mäzen zu bieten habe, nur ihre eigenen, besonderen Qualitäten einbüßen würden: »Ciò mi fa credere, e non senza ragione, che la protezione possa bensì giovare agli ingegni mediocri, i quali per mezzo di essa poco danno, ma niente affatto darebbero senz’essa; ma che ella sia assolutamente nuociva ai sommi ingegni, in quanto questi assaissimo più darebbero se non l’avessero.« (147 f.) / »Dies macht mich glauben, daß Protection den mittelmäßigen Köpfen zu statten kommen könne, in so fern sie vermittelst ihrer etwas, und ohne sie durchaus nichts leisten werden; daß sie aber für große Köpfe durchaus nachtheilig sey, in sofern diese weit mehr leisten werden, wenn sie ihnen fehlt.« (39 f.) Die großen Geister, also die, welche den Namen des Genies wirklich verdienen, wissen sich allein sich selbst und ihrer Kunst verpflichtet und erstreben keine andere Anerkennung als diejenige, welche ihnen von der größten Zahl ihrer Mitmenschen, inklusive der Nachwelt, zuteilwird. Im wohlverstandenen Eigeninteresse der Schriftsteller, mit dem sich der zweite Teil von Alfieris Schrift befasst, ist es also, die Nähe des Fürsten zu meiden und die eigene intellektuelle Unabhängigkeit zu wahren. Insofern ist die Verbindung zwischen fürstlichem Mäzen und Künstler in ihren Konsequenzen für die Betroffenen eine durchaus ungleiche. Wie Alfieri in der Conclusione zum zweiten Teil (II.13) festhält, hat der Schriftsteller als der schwächere Partner mehr zu verlieren und leidet folglich mehr unter der Verbindung als der Fürst.7 Gleichwohl richtet sich Alfieri 7
Demzufolge lautet Alfieris eigene Bilanz der vorangegangenen Argumentation: »Ma le principali ragioni da me finora addotte, mi pajono venirsi tutte a ristringere in quest’una: ›Che
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in seinem Traktat nicht nur an den einzelnen Schriftsteller. Es geht ihm ferner auch darum, mit einem Mythos aufzuräumen, den vermeintlich aufgeklärte Historiker – als Beispiel nennt er Voltaire8 – in die Welt gesetzt hätten und der besage, dass eine (literarische) Kultur, um zu ihrer vollen Blüte zu gelangen, auf die Protektion eines glanzvollen Herrschers angewiesen sei – mit anderen Worten, dass allein die (Fürsten-)Höfe den lettere ein geeignetes Umfeld für ihre Entwicklung bieten könnten.9 Gegen diese weitverbreitete Vorstellung setzt Alfieri mit allem erdenklichen Nachdruck sein Argument von der Souveränität der Literatur. Um dieses zu verstehen, ist es zunächst notwendig, sich über die Maßstäbe der Beurteilung zu verständigen und insbesondere die Qualität der Vollkommenheit, bezogen auf die Literatur, genauer zu definieren. Alfieri unterscheidet in diesem Zusammenhang (S. 142 ff.) zwei Arten der Vollkommenheit: Die eine, intrinsische, bestehe in der Qualität der Ideen und dem gelebten Gefühl, in dem diese zum Ausdruck gebracht werden. Die zweite, extrinsische, beziehe sich auf das, was wir heute den ›Stil‹ nennen würden; sie betriff t die Rhetorik als die äußere Form des Vortrags. Einzig diese letztere, äußerliche Qualität, werde an den Fürstenhöfen gefördert und kultiviert, und dies nicht selten auf Kosten der ersteren. Ja, man könne sogar feststellen, dass die höfische Literatur es vorrangig auf die äußere Eleganz abgesehen habe und die Wahrheit, um die es doch eigentlich geht, allzu oft verschleiere: L’indole predominante nelle opere d’ingegno nate nel principato, dovrà dunque necessariamente essere assai più la eleganza del dire, che non la sublimità e forza del pensare. Quindi, le verità importanti, timidamente accennate appena qua e là, e velate anche molto, infra le adulazioni e l’errore vi appariranno quasi naufraghe (120 f.) Der herrschende Charakter aller Geistesproducte, welche unter einer monarchischen Verfassung zu stande kommen, muß also nothwendig mehr die Eleganz des Ausdrucks als die Erhabenheit und Stärke des Gedankens seyn. Daher erscheinen wichtige Wahrheiten hie und da furchtsam angedeutet und obendrein so viel als möglich
il principe e il letterato, e le arti loro, e il loro fine, essendo cose in tutto diverse e direttamente opposte, non si possono mai ravvicinare il protettore e il protetto, senza che il più debole vi scapiti e ceda.‹« (196) / »Alle Gründe aber, welche ich bisher beigebracht habe, scheinen mir sich in diesem einzigen zu vereinen: daß Fürst und Gelehrter, Regierungskunst und Schriftstellerey und der Zweck der einen und der andren so himmelweit voneinander verschieden und so schnur stracks entgegen gesetzt sind, daß sich Beschützer und Beschützte durchaus nicht nähern können, ohne daß der physisch Schwächere darunter leide und nachgebe« (92). 8 Zu dem in mehr als einer Hinsicht spannungsvollen Verhältnis Alfieris zu Voltaire s. Gisela Schlüter: En pleine liberté. Voltaire und Alfieri konkurrieren um Autonomie. In: Das achtzehnte Jahrhundert 36/2 (2012), S. 212–223. 9 So Voltaire in ›Le Siècle de Louis XIV‹, der die von ihm ausgemachten drei großen Blütephasen der europäischen Literatur nach den jeweils herrschenden Fürsten benennt: Augustus, die Medici (für die Renaissance) und Louis XIV (für das Zeitalter der französischen Klassik).
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verschleiert – wie Trümmer, welche auf dem weiten Meere der Schmeicheley und des Irrthums daher schwimmen. (10)
Am Hofe wird aus Wahrheit Lüge, die Macht des Prinzen wird in den von ihm protegierten lettere zwangsläufig verklärt, die grundlegende Einsicht aber, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind, kann nicht mehr öffentlich ausgesprochen werden. So dürfe man sich nicht wundern, wenn in diesem Kontext allenfalls die Liebeslyrik noch frei praktiziert werden könne, sei diese doch ohne politische Bedeutung und daher für den Fürsten ungefährlich. Aus der Zweckentfremdung der Literatur, ihrer Unterordnung unter die Interessen eines (über-)mächtigen Einzelnen, ergibt sich demnach auch eine inhaltliche Korruption bzw. Perversion. Somit gilt also auch hier, für die literarische Kultur als ganze, was bereits in Bezug auf den Schriftsteller als Individuum festgestellt wurde: [L]a protezione principesca può forse giovare, o almeno non nuocere, alla perfezione delle lettere quanto alla lingua, e all’eleganza dei modi; ma […] alla perfezione vera di esse, la quale nella sublimità del pensare, e nella libertà del dire si dee principalmente riporre, non solamente non giova, ma espressamente nuoce ogni qualunque dipendenza; cioè ogni protezione. (149) Daß fürstlicher Schutz der Vervollkommnung der Wissenschaften in Hinsicht auf Sprache und Eleganz des Ausdrucks vielleicht frommen oder wenigstens nicht schaden kann; daß aber der wahren Vervollkommnung derselben, welche hauptsächlich in der Erhabenheit der Gedanken und in der Freiheit des Ausdrucks gesucht werden muß, jede Abhängigkeit, d. h. jeder Schutz, nicht nur nicht frommt, sondern wesentlich schadet. (41)
Während eine auf ihre bloß äußerlichen Qualitäten reduzierte Literatur am Hof durchaus zu bestehen, ja sogar zu florieren vermag, ist die wahre Literatur, die allein im Dienst der Wahrheit steht, im Einflussbereich des Fürsten schlecht aufgehoben. Daraus ergibt sich für die Belange der vorliegenden Untersuchung eine doppelte Einsicht. Zum einen zeichnet sich hier die grundsätzlich utilitaristische Qualität von Alfieris Wahrheits- und Vollkommenheitsbegriff ab, die, wie bereits angedeutet, auch sein Verständnis der Literatur bzw. der Kunstausübung mit umfasst: »Dovendosi sempre intendere per vera perfezione d’una cosa qualunque, il maggior utile ch’ella arrechi a un più gran numero d’uomini.« (150) / »weil man mit dem Begriff von Vervollkommnung, die Sache selbst sei, wie sie wolle, immer die Idee des größeren Nutzens für eine größere Anzahl von Menschen verbinden muß« (43). Die ›wahre‹ Literatur unterscheidet sich mithin von ihren künstlichen, verfälschten oder degenerierten Erscheinungsformen durch ihre Orientierung am Gemeinwohl. Damit bekräftigt Alfieri noch einmal seine Diagnose eines unvermeidbaren Interessenkonflikts zwischen Fürsten und Schriftstellern: Wo der eine nur sich selber
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im Blick hat und seine ganze Kunstfertigkeit dem Erhalt der eigenen Macht widmet, ist der andere der Wahrheit verpflichtet und stellt sich samt seiner Kunst in den Dienst der Menschheit – inklusive desjenigen Teils, der erst nach ihm geboren wird. Zum anderen aber ergibt sich aus dem Gesagten die unverbrüchliche Koppelung der Literatur an die Freiheit als ihre unverzichtbare Voraussetzung: Quindi è, che i sommi letterati (la di cui grandezza io misuro soltanto dal maggior utile che arrecassero agli uomini) non sono stati mai pianta di principato. La libertà li fa nascere, l’indipendenza gli educa, il non temer li fa grandi; e il non essere mai stati protetti, rende i loro scritti poi utili alla più lontana posterità, e cara e venerata la loro memoria. (121) Daher sind die größten Schriftsteller – ich messe ihre Größe nur nach dem größeren Nutzen, den sie dem menschlichen Geschlecht gestiftet haben – niemals Pflanzen auf dem Boden einer monarchischen Verfaßung gewesen. Freiheit giebt ihnen Entstehung, Unabhängigkeit, Erziehung, Furchtlosigkeit, Größe, und der Umstand, daß sie nie beschützt wurden, macht ihre Werke für die fernste Nachwelt nützlich und ihr Andenken werth und verehrt. (10)
Nicht nur muss der Schriftsteller als Person, also gewissermaßen von Hause aus, ein ›freier Geist‹ sein;10 er kann auch nur unter solchen politischen Bedingungen gedeihen, die ihm und seiner Kunst Freiheit verbürgen. Was Alfieri hier als philosophische These präsentiert, versucht er in PL auch historisch zu belegen. Dementsprechend diagnostiziert er, wie zuvor schon bei der Literatur, nun auch bei den Autoren verschiedene Grade der Vollkommenheit (eccellenza).11 Zu unterscheiden seien Schriftsteller, die in einer Republik geboren wurden, von solchen, die zwar in einem Fürstentum geboren wurden, aber niemals nach Protektion gestrebt, sich vielmehr konsequent vom Fürsten ferngehalten hätten; sowie schließlich jene dritte Art von Literaten, die unfrei geboren sich gleich noch ein weiteres Mal versklaven, indem sie sich bewusst von einem Fürsten protegieren lassen. Mit dieser Unterscheidung ist zugleich eine normative Rangfolge vorgegeben, denn, so Alfieri, wahrhaft vollkommene Literatur habe es historisch gesehen immer nur in Republiken gegeben.12 Ihren Höhepunkt habe die Literatur bereits im alten Griechenland erreicht, 10
»[…] chiarissima cosa è, che alto animo, libere circostanze, forte sentire, ed acuto ingegno, sono i quattro ingredienti che compongono il sublime scrittore« (202) / »Es ist ausgemacht, daß zu einem großen Schriftsteller nichts weiter erforderlich ist, als ein großes Herz, eine unabhängige Lage, ein lebhaftes Gefühl und ein scharfer Verstand« (97). 11 Alfieri: Del Principe e delle lettere, S. 180 f. 12 »[…] il nascimento come la perfezione delle lettere, sono stati frutto da prima di libertà, e non di principato« (203) / »daß sowohl die Entstehung, als die Vervollkommnung der Wissenschaften ursprünglich die Frucht der Freiheit und nicht monarchischer Verfassungen sind« (99).
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als die Dichter (sein Gewährsmann dafür ist Homer) noch frei und ungebunden waren. Danach sei es stetig bergab gegangen, bis die Literatur im jetzigen Italien – parallel zum politischen Niedergang des Landes – ihren Tiefpunkt erreicht habe. Es ist also letztlich eine Dekadenztheorie der Literatur, die Alfieri in PL in Verbindung mit der politischen Geschichte seines Landes präsentiert. Die wahre, vollkommene Kultur hat Freiheit zu ihrer unverbrüchlichen Voraussetzung, und zwar im subjektiven, persönlichen, wie auch im objektiven, institutionellen Sinne. Allerdings, und das verleiht seiner Argumentation eine gewisse Brisanz, hat die Literatur Freiheit nicht nur zur Bedingung. Sie kann auch ihrerseits zu deren Entwicklung beitragen. Mit anderen Worten, Literatur kann helfen, ein freies, selbstbewusstes und souveränes Volk zu (er)schaffen. Alfieris Text ist an dieser Stelle zwar ein wenig gewunden, in der Aussage aber eindeutig: Auf die Frage (in Kapitel II.2), ob eine dekadente Kultur eher die Ursache oder vielmehr die Wirkung politischer Korruption sei, gibt er eine ausgewogene Antwort: Secondo le diverse epoche e posizioni d’un popolo, e secondo la specie di gente che maneggia fra esso le lettere, elle possono dunque a vicenda divenire effetto e cagione di corrotti costumi: ma possono altresì, e ben maneggiate il debbono, farsi efficacissima cagione di libertà e di virtù. (146) Die Wissenschaften können also nach den verschiedenen Epochen und Verhältnissen eines Volkes und nach Beschaffenheit derjenigen, welche sie handhaben, abwechselnd die Wirkung und die Ursache der Sittenverderbniß seyn; sie können aber auch, und gehörig angewandt, müssen sie sogar, die wirksamste Ursache der Freiheit und Tugend werden. (38)
Je nach Entwicklungsstand der betroffenen Zivilisation ist die Literatur entweder ein Symptom der Korruption, oder aber sie trägt ihrerseits, sofern nämlich die Dekadenz schon weit genug fortgeschritten ist, ursächlich zur politischen Korruption bei (vermutlich, indem sie die Macht des Fürsten verherrlicht und Missbräuche verschleiert, statt sie öffentlich anzuprangern). Umgekehrt kann sie aber auch zu einem Mittel der Befreiung werden, und zwar, wie es im Text heißt, »efficacissima cagione di libertà e di virtù« – ja sie muss es geradezu werden, wenn man sie nur richtig einzusetzen weiß. Wie ist das möglich? Hier gilt es nun noch einmal, sich Alfieris Literaturbegriff vor Augen zu führen. Wie bereits anklang, ist die Literatur laut Alfieri der Wahrheit verpflichtet. Diese Orientierung am Allgemeinen teilt sie mit den (exakten) Wissenschaften.13 Aber anders als diese richtet sich die Literatur nicht allein an den 13
In III.3 und III.4 skizziert Alfieri einen Vergleich zwischen den exakten Wissenschaften und den ›belle lettere‹, so wie er bereits in II.5 einen Vergleich zwischen ›letterati und ›artisti‹ gezogen hatte. Damit wendet er das klassische Modell des ›paragone‹ (Wettstreit zwischen den Künsten) auf die Frage des Mäzenatentums aus.
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Verstand. Sie zielt vielmehr direkt auf die Herzen der Menschen ab; sie stimuliert die Affekte, insbesondere die noblen Affekte, und setzt Energien frei, indem sie die menschliche Vorstellungskraft beflügelt. Schon auf den ersten Seiten seines Traktats definiert Alfieri die Literatur in diesem emphatischen Sinne: [L]e lettere sono l’arte d’insegnar dilettando, e di commuovere, coltivare, e bene indirizzare gli umani affetti […] il toccare ben addentro le vere passioni, lo sviluppare il cuore dell’uomo, l’indurlo al bene, il distornarlo dal male, l’ingrandir le sue idee, il riempirlo di nobile ed utile entusiasmo, l’inspirargli un bollente amore di gloria verace, il fargli conoscere i suoi sacri diritti. (120) Sind die Wissenschaften die Kunst, auf eine angenehme Art zu unterrichten und menschliche Gefühle zu erschüttern, auszubilden und gut zu leiten, […] die wahren Leidenschaften im Innern anzuregen, das Herz des Menschen aus seinen Hülsen zu befreien, ihn zu Tugend hin- und vom Laster abzuleiten, ihn in seinen Ideen zu erheben, ihn mit einem edlen und nützlichen Enthusiasmus zu erfüllen, ihm eine siedende Liebe für den wahren Ruhm einzuflößen, ihn über seine wahren Rechte zu belehren. (10)
Literatur weckt in den Menschen eine Leidenschaft für das Gute, darunter auch so noble Ideale wie die Liebe zur Freiheit und zum Vaterland. Sie vermittelt insbesondere den Bürgern eines Staates einen Begriff ihrer eingeborenen Rechte – und zwar nicht im Sinne einer förmlichen Belehrung, sondern indem sie direkt deren (Selbstwert-)Gefühl anspricht, das sich in der Liebe zur Freiheit und in der Abneigung gegen jede Art von Unterwerfung artikuliert. Alfieris Traktat liegt also eine ›virtus‹-Konzeption der Literatur zugrunde, und das in mehrfachem Sinne. So vermag die Literatur bei ihren Lesern die aus der Antike überlieferten, eminent republikanischen Tugenden der Freiheitsliebe, der Großherzigkeit und des Patriotismus zu stimulieren. Sie ist damit ein wichtiger Teil der politischen Kultur eines Landes auch und gerade da, wo dieses der Dekadenz anheimzufallen droht. Durch die ihr eigene kreative Energie ist sie aber auch selbst ein Mittel der Tat, oder genauer: stellt sie ein Äquivalent zum politischen Handeln dar. Wiederholt zieht Alfieri eine Parallele zwischen den Staatsmännern (gemeint sind in diesem Falle nicht die Fürsten, sondern die republikanischen Gesetzgeber und Staatsgründer) und den letterati: Beide seien im Grunde Menschen gleichen Schlags, nur dass die letzteren zur Feder griffen, wo sie durch widrige Umstände am Handeln gehindert werden.14 Statt durch ihre Taten lehrten sie politische Tu14
»Quindi, se alcuni di quei pochi a ciò atti, ed a ciò non eletti, si trovano dalle loro circostanze impediti d’operare, questi colla lor penna insegnano agli altri ciò ch’essi eseguir non potevano« (218) / »Wenn also einige von diesen wenigen, die dazu geschickt, aber nicht berufen sind, sich durch die gegenwärtigen Umstände verhindert fühlen zu ›handeln‹, so ›lehren‹ sie ihre Mitbürger mit der Feder in der Hand das, was sie nicht thun konnten« (115).
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gend mit der Hilfe ihrer Schriften, aber mit dem gleichen Ergebnis, nämlich die Menschen zu begeistern durch ruhmvolle Beispiele und in ihnen eine unstillbare Leidenschaft für die Freiheit zu entzünden. Wenn Alfieri also seine Ausführungen in PL damit beginnt, die Interessengegnerschaft zwischen den autokratischen Fürsten seiner Zeit und den letterati herauszustreichen – »Virtus et summa potestas non coëunt« lautet, in Anspielung auf Lucan, das Motto seines gesamten Traktats –, dann geschieht das nicht etwa, weil er den Schriftstellern eine politische Ader oder Funktion absprechen würde. Ganz im Gegenteil. Die Schriftsteller sind Feinde der Fürsten just in dem Maße, wie sie für eine andere Art der Politik stehen, nämlich eine Politik der freiheitlichen Kultur und der subjektiven ›Entunterwerfung‹15. Insofern ist es auch nur konsequent, wenn Alfieri, wie bereits sein Vorbild Machiavelli, seinen Text in einen »Aufruf, Italien von den Barbaren zu befreien« kulminieren lässt.16 Allerdings treten spätestens jetzt auch die Unterschiede zu Machiavelli deutlich zutage. Denn wo dieser sich an die Fürsten wendet, um Italien zu einen und die fremden Herrscher des Landes zu verweisen, da sieht Alfieri die Fürsten selbst als Teil des zu bekämpfenden Übels an. Seine Hoffnungen richten sich stattdessen ganz auf die Schriftsteller als die eigentlichen Wahrer – die Rede ist gar von ›Tribunen‹ – der republikanischen Tugenden: Sie sind es, die den Kampf aufnehmen sollen mit den korrupten Herrschern für eine bessere Zukunft des Landes in Freiheit und Einigkeit. Bei Alfieri tritt also, trotz aller Parallelen, der Schriftsteller letztlich an die systematische Stelle, die Machiavelli dem Fürsten vorbehalten hatte. Überblicken wir von hier aus die Ergebnisse der Untersuchung, dann ist festzuhalten, dass Alfieris Traktat vom Fürsten und den Wissenschaften seine philosophische Sprengkraft so richtig erst auf den zweiten Blick entfaltet. Vordergründig 15
Ich verwende hier bewusst den etwas sperrigen, aber ausdrucksvollen Begriff Foucaults, der Herrschaftskritik an Formen bzw. Praktiken der (Ent-)Subjektivierung koppelt. Vgl. Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992. Charakteristisch für Alfieri ist der voluntaristische Gestus, wie Piero Gobetti anmerkt: »La negazione della monarchia in Vittorio Alfieri è dunque una volontà e perciò non ammette transazioni; è una forza ideale e non una riforma reppublica.« La fi losofia politica di Vittorio Alfieri. Ripatransone 1995, S. 54. Die Verweigerung einer Komplizenschaft mit dem Despoten als Frage der persönlichen Haltung verbindet Alfieri darüber hinaus mit Etienne de La Boétie, dessen ›Discours sur la Servitude Volontaire‹ (erste vollständige Veröffentlichung in französischer Sprache im Jahr 1576) ihm bekannt war. Zu den Beziehungen zwischen Alfieri und dem Franzosen s. Sara Pasquet: La tirannide riesce sempre la stessa. Alfieri e La Boétie. In: Critica Letteraria 44 (2016), S. 263–278. 16 Kap. III.11 trägt den Titel »Esortazione a liberar la Italia dai barbari«, und Alfieri macht in einer Fußnote den Hinweis auf Machiavelli explizit, wenn er schreibt: »Così intitolò il divino Machiavelli il suo ultimo capitolo del PRINCIPE; e non per altro si è ripetuto, se non per mostrare che in diversi modi si può ottenere lo stesso effetto« (249) / »So überschrieb der göttliche Machiavelli das letzte Capitel seines Fürsten. Ich habe diese Überschrift aus keinem anderen Grunde wiederholt, als um zu zeigen, daß man auf verschiedene Weise zu demselben Ziel gelangen könne« (150).
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haben wir es mit einem durchaus klassischen Konzept republikanischer Geschichtsschreibung und Politik zu tun. Alfieri hängt politisch einem nostalgischen Ideal an, nämlich dem der antiken Republiken, und verbindet damit ein nicht minder traditionelles Modell von Geschichte als einem sich wiederholenden Zyklus von Aufstieg und Niedergang.17 Doch anders als etwa bei dem von ihm ebenfalls sehr geschätzten Jean-Jacques Rousseau, der in der Kultur lediglich die (Blumen-)Girlanden sieht, hinter welchen sich die Eisenketten der politischen Unfreiheit verbergen,18 kommt der Literatur bei Alfieri eine mehr als bloß dekorativ-verschleiernde Funktion zu. Sie ist ihm nicht nur Ausdruck oder Symptom der Dekadenz, sondern trägt ihre eigene politische virtùs in sich. Folglich ruht insbesondere in einem Zeitalter des größten politischen Niedergangs, wie es das seine ist, die Hoffnung auf den letterati, sie mögen den Weg in eine neue Zukunft weisen. Die Schriftsteller haben bei Alfieri eine genuin politische Mission: »vorrei che tanta e tal guerra, e sotto così diversi aspetti, movessero alla assoluta ingiusta e mortifera potestà, che dalla loro divina fiamma venissero essi poi, quando che fosse, ad incendere le intere nazione« (233) / »so möcht’ ich, daß sie der ungerechten und verderblichen unumschränkten Gewalt einen so lebhaften und vielseitigen Krieg ankündigten, daß durch ihre himmlische Flamme zuletzt, wann es auch geschehen möchte, alle Nationen entzündet würden« (133). Die Schriftsteller, Künstler wie Wissenschaftler gleichermaßen, haben die Möglichkeit, das Land neu aufzubauen (»un vero ed onorevole mezzo di fare col tempo revivere quella patria«), indem sie in sich selbst den Geist ihrer antiken Vorfahren wiederaufleben lassen. Dies zu bewirken und damit indirekt zur nationalen Bildung beizutragen ist denn auch das eigentliche Ziel von PL.
17
Hans Sckommodau ist daher zumindest vorläufig zuzustimmen, wenn er schreibt: »Es liegt nicht in der Logik Alfieris als eines politischen Denkers, sich eine in der ›Perfektionierung‹ befindliche politische Gemeinschaft vorzustellen (wie es die meisten politischen Denker seiner Zeit taten). Sein Glaube verbindet sich nicht mit der Vorstellung einer historischen, in Richtung auf ein gutes Ziel hin evolutionierenden Menschheit. Die Geschichte scheint ihm die Gefahr zu bergen, daß die Menschen von einer idealen Form, die ihnen einst (in einer mythischen Vergangenheit) gegeben worden ist, abfallen könnten. Die ideale Existenz des Menschen ist für Alfieri durchaus eine staatliche Existenz, aber die der antiken Republiken.« Hans Sckommodau: Vittorio Alfieri und das Problem der Gerechtigkeit. In: Romanische Forschungen 71/3 (Jan. 1959), S. 312–333, hier: S. 315. 18 So eine berühmte Stelle in Rousseaus ›Discours über die Künste und Wissenschaften‹ (1755). Zur Verbindung mit Rousseau vgl. Bartolo Anglani: Alfieri e Rousseau. In: Alfieri fra Italia ed Europa. Letteratura Teatro Cultura. A cura di Carla Forno e Chiara Cedrati. Modena 2011, S. 83–109.
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2. Alfieris politische Ethik Die Originalität von Alfieris Del Principe e delle lettere liegt, wie die vorangehenden Ausführungen haben erkennen lassen, in der Kombination einer kulturgeschichtlichen mit einer individualethischen Perspektive. Alfieri verbindet auf ihm absolut eigene Weise den subjektiven, persönlichen Standpunkt des Schriftstellers mit den objektiven Gegebenheiten der politischen Institutionen. In dieser Doppelperspektive tritt insbesondere die ambivalente Rolle der Freiheit deutlich zutage: Freie Institutionen, genauer: die Staatsform der Republik ist Bedingung dafür, dass sich die Literatur vervollkommnen kann. Umgekehrt kann aber auch die Literatur zur Erziehung freier Menschen – und insofern zumindest indirekt zur Schaff ung freier Institutionen – beitragen. Dazu ist jedoch eine große persönliche geistige Freiheit und materielle Unabhängigkeit auf Seiten der praktizierenden Schriftsteller vonnöten. Für Alfieri folgt daraus, jedem ›Halbberufenen‹, der sich seiner Stärke und Unabhängigkeit nicht ganz und gar inne ist, eine Tätigkeit als Schriftsteller zu untersagen.19 Im Gegenzug verspricht er sich umso mehr von seinen eigenen Standesgenossen, den Aristokraten, die den Vorzug der ›freien Geburt‹ und somit eine gewisse materielle und psychische Form der Unabhängigkeit – auch und gerade gegenüber ihrem jeweiligen Fürsten – genießen.20 Ja, auf den letzten Seiten seines Traktats entwirft er gar die Vision einer adligen Avant-Garde, welche die Geburt der neuen Republik, zunächst in Form einer république des lettres, dann aber auch im vollen politischen Sinne, vorbereiten solle. Freiheit ist mithin das telos, aber zugleich auch Bedingung für die Vervollkommnung der Literatur. Nirgends wird dieser Zirkel so plastisch ausgedrückt wie in dem Satz: »I moderni scrittori adunque, che vorranno essere padri di verità, di virtù, di alto diletto, e fondatori di un nuovo secolo letterario, essere dovranno pria d’ogni cosa, figli di sè medesimi.« (242) / »Neuere Schriftsteller also, welche Väter der Wahrheit, der Tugend und des Vergnügens und eben dadurch Stifter eines neuen literärischen Jahrhunderts werden wollen, müssen vor allen Dingen aus sich selbst hervorgehen« (142). Als »Väter der Tugend« bzw. Erzieher einer neuen Generation freiheitsliebender Bürger müssen die Schriftsteller zunächst ihre »eigenen Söhne«
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»L’uomo, che con qualche dritto si lusinga di conoscere il vero, e che si sente il nerbo di esporlo con forza ed eleganza, o dee avere il bastante per vivere, o contentarsi del pochissimo, o rinunziare all’impresa, o guastarla« (164) / »Der Mann, der sich mit einigem Rechte schmeichelt, die Wahrheit zu erkennen, und Kraft genug fühlt, sie mit Stärke und Eleganz zu sagen, muß entweder das zum Leben Nothwendige besitzen, oder sich mit Wenigem begnügen, oder auf ein solches Unternehmen Verzicht leisten, oder es verhunzen« (57). 20 Zum Verhältnis von Aristokratie und schriftstellerischer Berufung siehe die maßgebliche Studie von Edoardo Costadura: Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Renaissance und Revolution. Tübingen 2006.
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sein.21 Das gilt insbesondere für die Situation im zeitgenössischen Italien, wo die Bedingungen für eine freie Kultur nicht gegeben sind und wo die letterati folglich in einer Art institutionellem Vakuum operieren. Umso wichtiger ist es daher für jeden Einzelnen von ihnen, bei sich selber anzusetzen, und zwar im Zuge einer strengen Selbstprüfung, welche die Qualität eines ethischen Imperativs annimmt: Il primo obbligo dunque di chi si destina scrittore, egli è d’imparare a conoscere in sè stesso questo sublime impulso, e, conosciuto, a dirigerlo. Appurando così i proprj suoi mezzi, ove egli senta vivamente in sè stesso la evidente certezza di un tale impulse, fermamente dee credere che egli tutto farà da sè stesso; e che ogni protezione potrà nuocergli, e nessuna giovargli. (227) Die erste Pflicht eines jeden angehenden Schriftstellers ist also, diesen erhabenen Antrieb in sich selber auszumitteln und wenn er ihn in sich antriff t, ihn zu leiten. Und fühlt er sich lebhaft im Besitz deßselben; so muß er glauben, daß er alles durch sich selbst vermögen werde und daß jeder Schutz ihm nur schaden, aber niemals frommen könne. (125)
Indem er die Pflicht (obbligo) des Schriftstellers betont, sich selbst zu prüfen und, über die Umstände der Geburt hinaus, an seiner eigenen Unabhängigkeit zu arbeiten, vollzieht der Traktat den Übergang von einer kulturgeschichtlichen bzw. literatursoziologischen Betrachtungsweise hin zu einer persönlichen Ethik des Schriftstellers. Hier vorerst nur im Keim angelegt, wird diese später eine umfängliche Ausarbeitung in Alfieris Autobiographie erfahren, die damit zugleich ihren strukturellen Bezug zu den politischen Schriften des Autors unter Beweis stellt. Im Jahr 1790 beginnt Alfieri, an seiner Vita22 zu arbeiten, die erst nach seinem Tod erscheinen und seinen Ruhm nachhaltig begründen wird. Zwischen der Vita und dem früheren Traktat PL bestehen viele offenkundige Parallelen.23 So sind insbesondere das erste und zweite der insgesamt vier Bücher der Vita der Charakterschilderung des jungen Vittorio gewidmet. Alfieri beschreibt sich selbst als 21
Es handelt sich hier folglich um eine Art ›Selbst(-er-)zeugung‹. Christian Begemann zufolge wird das Motiv der Selbstgeburt im Zuge der aufkommenden Genie-Ästhetik gegen das konkurrierende Motiv der ›Genealogie‹ in Anschlag gebracht. Christian Begemann: Der Körper des Autors. Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 44–61, bsd. S. 49 f. 22 Vittorio Alfieri: Vita. Scritta da esso. Edizione critica della stesura defi nitiva. A cura di Luigi Fassò. Asti 1951 (Opere di Vittorio Alfieri da Asti, Bd. 1). Die deutschen Zitate stammen aus der Ausgabe: Vittorio Alfieri: Mein Leben. Übersetzt, mit Anmerkungen, einem Nachwort und einer Bibliographie versehen von Gisela Schlüter. Mainz 2010. Der deutsche Textnachweis folgt i. d. R. in Klammern hinter dem Original-Zitat. 23 Man hat die ›Vita‹ daher gar als »Appendix« zu ›PL‹ bezeichnen können (G. Megaro) – eine Bezeichnung, die diesem vielschichtigen Werk wohl kaum gerecht wird.
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melancholischen Jungen, der seinen ersten Selbstmordversuch bereits hinter sich hat, als er noch keine zehn Jahre alt ist, und der sich vor seinen Altersgenossen durch eine (über-)große Sensibilität und Leidenschaftlichkeit auszeichnet. Vor allem aber offenbart sich schon früh seine Haupteigenschaft, seine schier unbezwingbare Liebe zur Freiheit, verbunden mit einem nicht minder großen Hang zur Gerechtigkeit. So attestiert er sich selbst »una certa naturale pendenza alla giustizia, all’egualianza, ed alla generosità d’animo« / »eine gewisse natürliche Neigung zu Gerechtigkeit, Gleichheit und Großmut«, und fügt sogleich hinzu: »che mi pajono gli elementi d’un ente libero, o degno di esserlo« (58) / »Das aber ist es wohl, was einen freien Menschen ausmacht und zum Freisein berechtigt« (93). Legt man die in PL definierten Maßstäbe zugrunde, dann wird man wohl schließen müssen, dass Alfieri, zumindest seiner eigenen Auffassung zufolge und aus der Rückschau, zum Poeten geboren ist. Er hat das melancholische Gemüt, aber vor allem jene innere Freiheit und Unabhängigkeit, ohne die ein Dichter nicht bestehen kann. Auch fehlt ihm eine andere ›poetische‹ Eigenschaft nicht, nämlich der Drang, sich vor anderen auszuzeichnen und stets nach Höherem zu streben. Allerdings, und das ist gewissermaßen die ›Tragik‹ von Alfieris Leben,24 stoßen diese so wertvollen Charakteranlagen zunächst auf keinerlei Resonanz. Sie erfahren noch nicht einmal eine minimale Form der Förderung, denn sowohl in seiner Familie als auch in den öffentlichen Institutionen, allen voran in dem von ihm besuchten Jungeninternat, regiert der blanke Stumpfsinn. Hart geht Alfieri mit dem zeitgenössischen Bildungswesen ins Gericht, wo die Schüler nicht nur körperlich gezüchtigt werden, sondern auch geistig verrohen. So besteht der Unterricht allein im Auswendiglernen und Rezitieren; die Lehrer haben keinerlei geistige Ambitionen und sind ebenso ungebildet wie ihre Zöglinge.25 Voller Abscheu kritisiert Alfieri die Pedanterie und Ignoranz dieser Zeit und nennt sich selbst einen »Esel unter Eseln, angeführt von einem Esel«.26 Alfieris Jugendjahre stehen also ganz im Zeichen der versäumten Gelegenheiten – die Rede ist von einer »schändlichen Zeitverschwendung« und gar von einem 24
Zu den z.T. bewusst konstruierten Parallelen von Leben und Werk s. Doerthe Winter: »Come farsi eroe letterario«. Die ›Vita‹ Vittorio Alfieris als intertextuelles Bezugssystem. Frankfurt a. M. 2000. 25 »Nessuna massima di morale mai, nessun ammaestramento della vita ci veniva dato. E chi ce l’avrebbe dato, se gli educatori stessi non conoscevano il mondo nè per teoria, nè per pratica.« (28) / »Uns wurde niemals auch nur ein moralischer Grundsatz, nie auch nur eine praktische Lebensmaxime vermittelt. Und wer hätte sie uns auch vermitteln können? Kannten doch die Erzieher selbst die Welt weder theoretisch noch praktisch« (48); »Tutte le idee erano o circoscritte, o false, o confuse; nessuno scopo in chi insegnava; nessunissimo allettamento in chi imparava.« (31) / »Alle Vorstellungen, die man uns vermittelte, waren engstirnig, falsch oder verworren« (52). 26 »asino, fra asini, e sotto un asino«, 30 (51).
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»Verrat an der Jugend«.27 Wenige Begegnungen insbesondere mit der italienischen Literatur bleiben zunächst folgenlos; Alfieri muss sich die entsprechenden Bücher heimlich beschaffen und gewissermaßen ›unter der Bank‹ lesen; auch kann er sich mit niemanden darüber austauschen, so dass diese frühen Lektüren, unverdaut wie sie sind, keine Früchte tragen. Zwar manifestiert sich immer mal wieder sein ›dramatischer Genius‹ – sei es, dass seine Affekte beim Hören von Musik angesprochen werden, sei es, dass die Lektüre von Plutarchs Viten ihn in eine kaum beherrschbare innere Aufruhr versetzt. Aber der Ausgang ist immer der gleiche, wie Alfieri in einer durchaus typischen Passage beschreibt: Mi capitarono anche allora varie commedie del Goldoni, e queste me le prestava il maestro stesso; e mi divertivano molto. Ma il genio per le cose drammatiche, di cui forse il germe era in me, si venne tosto a ricoprire o ad estinguersi in me, per mancanza di pascolo, d’incoraggiamento, e d’ogni altra cosa. E, somma fatta, la ignoranza mia e di chi mi educava, e la trascuraggine di tutti in ogni cosa non potea andar più oltre. (I, 37) Auch mehrere Komödien Goldonis, Leihgaben meines Lehrers, gelangten damals in meine Hände, und ich fand sie sehr unterhaltsam. Doch der dramatische Genius, der vielleicht in mir keimte, verbarg sich schon bald wieder und verschwand aus Mangel an Nahrung und Ermutigung und allem anderen. Kurzum, meine Ignoranz und die meiner Erzieher wie auch unser aller völlige Nachlässigkeit hätten größer nicht sein können. (62)
Was auch immer diese wenigen lichten Momente über die Begabung des späteren Schriftstellers verraten mögen, Alfieris Jugend steht insgesamt unter keinem guten Stern. Daran ändern auch seine vielfältigen Reisen, die zum zeitgenössischen Bildungsprogramm des jungen Aristokraten gehören und die ihn durch ganz Europa führen, nichts. Sein Banausentum ist so groß, dass er das Grab Petrarcas, als er in der Nähe vorbeikommt, nicht einmal aufsucht. Er reist, ohne zu sehen, ohne zu begreifen, und entfernt sich dabei immer mehr von dem, was ihn eigentlich ausmacht. Es ist ein In-die-Ferne-Schweifen, das jede Art von Tiefgang verhindert. Das gleiche gilt für seine amourösen Beziehungen zu Damen verschiedenster europäischer Nationalitäten: nichts als Irrungen, Wirrungen. Damit sich das ändert, damit der Schriftsteller seine Berufung erkennen und auch ergreifen kann, ist ein einschneidendes Erlebnis vonnöten, das Alfieri am Ende des dritten Buches als »mia strana liberazione«28 bezeichnen wird. Zuvor jedoch wird seine Entwicklung einen weiteren moralischen Tiefpunkt erreichen. Dies geschieht in Form einer neuerlichen Liebesbeziehung, die Alfieri zwar nicht näher 27
»Ed ecco in qual modo si viene a tradire senza rimedio la gioventù«, 31 (52). S. 146. Dem Motiv der Befreiung entspricht dasjenige der Bekehrung; so ist in Bezug auf die fraglichen Ereignisse ebenfalls von einer ›conversione letteraria‹ die Rede. 28
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beschreibt, die aber alle Anzeichen der Schande aufweist. Vittorio verfällt einer Frau 29, die geistig und moralisch seiner nicht würdig ist, die ihn aber dennoch sinnlich voll und ganz in ihren Bann gezogen hat. Alfieri empfindet diese Leidenschaft, der er sich wider besserer Einsicht nicht entziehen kann, als überaus schmachvoll; in ihm regt sich – nicht zum ersten Mal, jetzt aber übermächtig – die Scham (vergogna) über sein vertanes Leben.30 Vor allem aber sieht er seinen Stolz, den Stolz des wenn schon nicht in Freiheit, so doch zumindest für die Freiheit geborenen Mannes, durch diese unwürdige »Knechtschaft« gedemütigt – und so fasst er einen folgenreichen Entschluss. Nicht nur beschließt er, den Kampf gegen seine eigenen, fehlgeleiteten Sinne aufzunehmen und sich mit aller Macht dieser fatalen Anziehung zu widersetzen;31 er gibt sich auch selbst das Versprechen, sich von nun an ganz seiner »wahren Liebe«, d. h. der Liebe zur Wahrheit, zu widmen und die literarischen Tugenden zu kultivieren, um ein großer tragischer Autor zu werden. Es ist, als habe das schiere Ausmaß seiner Verirrung ihn zur Rebellion gegen die falschen Musen bewogen und ihn dazu angeregt, sein Leben von Grund auf zu ändern.32 Am Ende des dritten Buches steht also ein ›Pakt‹ des jungen Autors mit sich selbst und mit seinem (zukünftigen) Publikum, sich fortan ganz in den Dienst der Literatur zu stellen und es in diesem Feld, wie könnte es anders sein, zu höchstem Glanz und Ruhm zu bringen. Auf diesen Schwur folgt ein nicht minder ungewöhnliches Szenario, das die Besonderheit der Vita als Autorenbiographie ausmacht. Denn Alfieri verfügt ja, wie der Leser aufgrund von dessen Jugendbeschreibung weiß und wie Alfieri selbst zu Beginn des vierten Buches noch einmal in fast schon komischer Nüchternheit rekapituliert, in keinster Weise über die für eine derartige Karriere erforderlichen intellektuellen Voraussetzungen. Er ist kaum der italienischen Sprache mächtig,33 geschweige denn verfügt er über solide literarische oder 29 Es handelt sich um Elena Margherita Gabriella Falletti di Villafalletto, die zwar aus feinem Hause stammte, sich aber in der galanten Welt einen etwas »zweifelhafte[n] Ruf« (»non troppo buon nome«) erworben hatte. Alfieri: Vita, S. 138. Zudem war sie ca. 10 Jahre älter als Alfieri und verheiratet. Die Liason der beiden dauerte von Mitte 1773 bis Februar 1775. 30 »libero avrei voluto trovarmi, ma liberarmi non sapea, nè potea« (144) / »Ich wollte frei sein, war aber nicht in der Lage, mich zu befreien« (217 f.). 31 Das geht einmal so weit, dass Alfieri seinen Diener Elia bitten muss, ihn an seinen Schreibtischstuhl zu fesseln, wenn er wieder einmal den Drang verspürt, zu seiner Geliebten zu eilen. Eine frei gewählte Form der (Selbst-)Bindung wird hier gegen die »vili cattene« der Liebe ausgespielt – ein Motiv, das in Alfieris Beziehung zur Gräfin Albany, seiner »würdigen Liebe«, erneut aufgenommen wird. 32 Die Idee einer derartigen ›persönlichen Reform‹, die letztlich den ganzen Lebenswandel umfassen wird, findet sich auch bei Jean-Jacques Rousseau. Vgl. dessen ›Confessions‹, Buch VIII. 33 Im Piemont sprach man damals Dialekt, während die Hof- und Unterrichtssprache Französisch war. Alfieri hat bis zum Jahr 1775 sein Tagebuch in französischer Sprache geführt; auch seine ersten literarischen Versuche (z. B. die ›Esquisse d’un jugement universel‹) sind auf Französisch geschrieben.
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stilistische Kenntnisse. Die Kluft zwischen der gerade geweckten ambizione und den tatsächlichen Fähigkeiten des angehenden Autors könnte also größer kaum sein. Um diese Kluft zu überwinden, unterwirft sich Alfieri einem ebenso umfassenden wir rigorosen (Selbst-)Bildungsprogramm. Was er in der Jugend versäumt hat, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften Qualität des zeitgenössischen Bildungswesens, muss er nun, als erwachsener Mann, nachholen, und zwar in Eigenregie und unter Mobilisierung aller verfügbaren Ressourcen. Was das im Einzelnen bedeutet, schildert Alfieri im vierten, dem ›Mannesalter‹ gewidmeten Teil seiner Autobiographie. Zunächst gilt es, den Bildungsballast abzuwerfen, den er sich in den vergangenen Jahren angeeignet hatte. Der angehende Autor muss sich ent-bilden, so wie er sich von den Fesseln einer falschen Liebe befreien musste. Dann aber heißt es für ihn, die richtige Art von Bindung einzugehen. Eine solche findet Alfieri in Luise Stolberg, Gräfin Albany. Diese »würdige Liebe« macht seiner anderen großen Liebe, nämlich der zur Wahrheit, keine Konkurrenz, sondern weiß diese anmutig zu unterstützen und zu fördern. Gemeinsam verlassen die beiden Piemont, um sich in der wesentlich liberaleren Toskana niederzulassen. Denn Alfieris Reformprogramm, so persönlich es auch sein mag, weist eine dezidiert politische Komponente auf. Gemäß seinem Diktum, wonach nur ein freier Mann ein Schriftsteller (im Sinne der literarischen virtù) sein kann, geht Alfieri dazu über, sich ganz bewusst zu »ent-vasallieren« (279).34 Um dem Einfluss des Königs von Piemont, Vittorio Amedeo III., zu entkommen, gibt er seine Staatsbürgerschaft und die damit verbundenen (höfischen, militärischen) Pflichten, aber auch Privilegien auf. Sein gesamtes Vermögen vermacht er seiner Schwester Giulia, von der er sich lediglich eine monatliche Rente für seinen Lebensunterhalt ausbedingt. So beweist Alfieri, dass er zu bedeutenden materiellen Opfern bereit ist, um seine persönliche und schriftstellerische Freiheit zu wahren. Erste literarische Erfolge geben seinen Bemühungen recht. Aber Alfieri ist noch weit davon entfernt, der italienische Klassiker zu sein, der er einmal werden wollte (und sollte).35 Dazu muss er sich dem Studium der alten Sprachen widmen, was er mit großem Eifer tut. Eigens dafür konsultierte Lehrer helfen ihm dabei,36 vor
34
Zu Alfieris Vorliebe für Neologismen s. die Anmerkungen der Übersetzerin Gisela Schlüter: Alfieri. Mein Leben, S. 542. In diese Reihe gehören auch seine Wortschöpfungen »entbarbarisieren« und »entpiemontisieren«. 35 Der Selbststilisierung und Selbst(er-)fi ndung Alfieris als Klassiker bin ich in einem anderen Kontext nachgegangen. S. Verf.: Vittorio Alfieri – A Self-Made Classic of the Enlightenment. In: Christophe Abramovici u. Daniel Fulda (Hrsg.): Enlightenment and Classicism / Lumières et Classicisme / Aufklärung und Klassizismus. RIEDS – Revue internationale d’étude du dix-huitième siècle / IRECS – International Review of Eighteenth-Century Studies 3 (2017) S. 87–106. 36 So studiert Alfieri Horaz, Seneca etc. unter der Anleitung des Turiner Historikers Carlo Denina.
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allem aber der informelle Austausch mit Freunden37 und mit den Gelehrten, denen er auf seinen neu aufgenommenen, nunmehr ernsthaft betriebenen Bildungsreisen begegnet. Alfieris Umgang mit diesen Autoritäten ist dabei auf charakteristische Weise ambivalent: So sucht er zwar ihren Rat, behält sich aber sein eigenes, unabhängiges Urteil vor: Non c’intendevamo. Io chiamava languido e triviale ciò ch’essi diceano fluido e sonante; quanto poi alle scorrezioni, essendo cosa di fatto e non di gusto, ni ci cadea contrasto. Me neppure su le cose di gusto cadeva contrasto fra noi, perchè io a maraviglia tenea la mia parte di discente, come essi la loro di docenti: era però ben fermo di volere prima d’ogni cosa piacere a me stesso. Da quei signori dunque io mi contentava d’imparare negativamente, ciò che non va fatto; dal tempo, dall’esercizio, dall’ostinazione, e da me, io mi lusingava poi d’imparare quel che va fatto. (193) Den Herren Professoren zufolge war einiges inkorrekt, aber das meiste flüssig und klangvoll […]. Einig waren wir uns indes auch in Geschmacksfragen, denn ich beschränkte mich vorbildlich auf meine Schülerrolle und überließ es ihnen, mich zu belehren. Allerdings lag mir vor allem daran, mir selbst zu gefallen. Von diesen Herren wollte ich nur negativ lernen, nämlich erfahren, was zu unterlassen war. Umgekehrt hoff te ich darauf, dass Zeit, Übung, Beharrlichkeit und ich selbst mich lehren würden, was zu tun war. (248 f.)
Ähnlich verfährt er auch im Umgang mit den literarischen Klassikern, die er akribisch liest, exzerpiert und annotiert: Alfieri möchte sich zwar deren stilistische Qualitäten durch ständige Übung bzw. durch eine Mischung aus Studium und begleitender literarischer Praxis aneignen; doch ist ihm auch daran gelegen, einen Ausdruck für seine persönlichen Eigenheiten, für das ihm – und nur ihm – Charakteristische zu finden. Das führt zu einer diffi zilen Gratwanderung: Während er sich einerseits, im Zuge seiner literarischen ›Exerzitien‹, mit lateinischen und italienischen Klassikern regelrecht zu imprägnieren versucht, so ist er andererseits stets darum bemüht, sich von diesen abzugrenzen – etwa indem er die bereits existierenden Vorbilder für einen bestimmten Stoff, an dem er selber gerade arbeitet, bewusst ignoriert – ein Verhalten, das der Literaturtheoretiker Harold Bloom mit dem Terminus der ›Einflussangst‹ belegt hat. Die sorgfältige Balance zwischen Aneignung und Abgrenzung, die Alfieris Beziehung zu den klassischen Autoritäten kennzeichnet, mündet schließlich in die Findung eines eigenen Stils – ein Unterfangen, das umso schwieriger ist, als es in 37
Das Motiv der Freundschaft ist ein wichtiges Element der von Alfieri rezipierten klassischen Literatur (und nicht zuletzt bei seinem Vorbild Montaigne). Alfieri wird nicht müde, die Bedeutung des ehrlichen und dabei doch einfühlsamen Austauschs mit Freunden zu betonen. Seinem engen Vertrauten Francesco Gori hat er mit ›La virtù sconosciuta‹ ein literarisches Denkmal gesetzt.
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dem von ihm bevorzugten Genre, der Tragödie, keine zeitgenössischen italienischen Vorbilder gibt. Hier muss Alfieri tatsächlich neue Wege beschreiten: indem er die Klassiker studiert, sich selbst zunächst aus dem Französischen (rück-)übersetzt und nach und nach ein genuin italienisches Metrum, die sogenannten versi sciolti, für die Tragödie zu adaptieren lernt. So kommt er seinem Ziel, für Italien eine tragische Kultur zu schaffen, die derjenigen der Franzosen ebenbürtig ist, Schritt für Schritt und mit großer Disziplin näher. Überblickt man Alfieris Bildungsprogramm in eigener Sache, wie das hier nur in groben Zügen möglich war, so stellt man fest, dass es von mehreren Spannungsfeldern konstituiert wird. 1) Es handelt sich um das Kulturprogramm eines Schriftstellers, das sich im Medium der Sprache vollzieht, das aber das Leben als ganzes, d. h. die gesamte Lebensführung des Autors bis hin zur Wahl des Wohnorts, den sozialen Beziehungen, der Ernährungsweise und den Freizeitaktivitäten, umfasst. 2) Trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der Alfieri sich den selbstgewählten Pflichten unterwirft, ist seine Disziplin nicht lückenlos, sondern sieht auch Perioden der Entspannung vor, in denen der Autor sich von seinen Strapazen erholen kann, etwa indem er sich seinem anderen ›Steckenpferd‹, dem Reitsport widmet.38 Dem Programm liegt also ein echter Rhythmus, ein Wechsel von rigider Disziplin und Freiheit zugrunde. Diese und andere Elemente weisen es als ›klassisch‹ aus. 3) Dem entspricht, auf inhaltlicher wie auf formaler Ebene, Alfieris Suche nach einem eigenen Stil.39 Wie in der Liebe geht es auch hier um die Einheit von Freiheit und Bindung, Leidenschaft und Struktur, müssen doch die ungezähmten, bisweilen sogar schroffen Affekte einer männlich-maskulinistischen virtù mit dem Medium der gebundenen Vers38
In diesen Zeiten wird auch der – über den literarischen Arbeiten vernachlässigte – Körper des Autors wieder in seine Rechte eingesetzt. Die (staats-)tragende Funktion des Körpers im Denken Alfieris diskutiert Daniel Winkler: »Per non tradire, quantò è in me, la maestà e maschia sublimità della tragedia.« Körper, Revolution und Nation bei Vittorio Alfieri und im alfierianischen Theater der Sattelzeit. Paderborn 2016. In der ›Vita‹ ist der Körper allerdings eher Schauplatz eines bewussten Wechsels von (schriftstellerischer) Disziplin und Entspannung. Alfieri beschreibt anschaulich, wie sich sein vom Druck der Schreibarbeit befreiter Körper wieder streckt, kräftigt und allgemein jünger und schöner wird. 39 Nachzuvollziehen bei Vittore Branca: Alfieri e la ricerca dello stile. Con cinque novi studi. Bologna 1981. Viel wäre an dieser Stelle auch über den Stil der ›Vita‹ selbst zu sagen, die auf einzigartige Weise satirische bzw. komische Elemente mit einem epischen Prosastil vermischt. Der Protagonist wird, in der Rückschau, zugleich heroisiert und ironisiert (vgl. Schlüter: Alfieri. Mein Leben, S. 532), so dass man in diesem Zusammenhang von einem ›gemischten Stil‹ sprechen kann. Der Effekt ist der einer partiellen Distanzierung, welche zwar die Ernsthaftigkeit der dargestellten Themen und Bestrebungen unterstreicht, aber zugleich eine gewisse Souveränität des Erzählers (d. h. des alten Alfieri) gegenüber seinem jüngeren ›alter ego‹ zum Ausdruck bringt. Die Forschung hat m. E. die moralischen und politischen Implikationen von Alfieris Stil erst in Ansätzen herausgearbeitet, so etwa Bartolo Angliani: Alfieri tragicomico, o la profazione dell’eroico, in: Paola Andrioli (Hrsg.): Teatro, scena, rappresentazione dal Quattrocneto al Settecento. Lecce 2000, S. 401–420, der damit auf frühere Vereinseitigungen reagiert.
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sprache versöhnt werden. Das Ergebnis ist eine Mischung aus normativer Regelbefolgung und persönlichem Selbst-Ausdruck, man könnte auch sagen, eine ständige wechselseitige Durchkreuzung (und Befruchtung) der ›Grammatik‹ durch ›Poesie‹. 4) Ob und inwieweit die Versöhnung von Freiheit und Bindung auch als Modell für Alfieris politische Imagination (etwa seine Idee des Volkes) fungiert, kann hier nicht angemessen geklärt werden und wäre wohl Teil einer weiterführenden Untersuchung, die auch die Alfieri-Rezeption in Deutschland zu berücksichtigen hätte. Fest steht allerdings, dass Alfieris Bildungsprogramm die cura sui als Arbeit am eigenen Selbst konsequent in einem politischen Kontext verortet.40 Nicht nur macht Alfieri, wie wir sahen, die persönliche Freiheit (oder gegebenenfalls: die Selbst-Befreiung) des Schriftstellers zur Voraussetzung wahrer Dichtung. Am Horizont von Alfieris Dichterleben zeichnet sich darüber hinaus, wenn auch vorerst nur in Umrissen, die Idee der italienischen Nation ab: Schließlich hat Alfieri stets danach gestrebt, ein genuin italienischer Klassiker zu werden; sein Versuch, sich selbst – durch klassische Bildung – zu ›ent-barbarisieren‹, ist nicht zuletzt gegen die kulturelle Vorherrschaft der Franzosen auf dem Gebiet der tragischen Dichtung gerichtet.41 Alfieris Kulturbegriff umfasst also politische, moralische und literarische Komponenten und führt diese zu einem Ganzen zusammen, das unter dem Vorzeichen der italienischen Nation, der italianità, steht. Letztere bildet das Ziel seines Wirkens, auch und gerade in pragmatischer Hinsicht. So soll schließlich die Selbstbildung, die Alfieri in der Vita beschreibt, zumindest der Idee nach, in Fremdbildung, und das bedeutet konkret: in die Bildung einer italienischen Nation übergehen.42 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Alfieris Parteinahme für das tragische Fach, die er in seiner Replik auf einen Brief Ranieri de’ Calzabigis wie folgt erläutert: Io credo fermamente, che gli uomini debbano imparare in teatro ad esser liberi, forti, generosi, trasportati per la vera virtù, insofferenti d’ogni violenza, amanti della patria, veri conoscitori dei proprj diritti, e in tutte le passioni loro ardenti, retti, e 40
Das ist gute stoische Tradition. Von den Stoikern unterscheidet sich Alfieri jedoch wie, im folgenden Absatz nur andeutungsweise ausgeführt werden kann, durch sein durchweg positives Verhältnis zu den Affekten. 41 Die anti-französische Tendenz von Alfieris Denken nimmt im Laufe seines Lebens, vor allem unter dem Eindruck der Französischen Revolution, stetig zu, bis sie schließlich in der Satireschrift ›Il Misogallo‹ (›Der Franzosenhasser‹) ihren prägnantesten Ausdruck findet. 42 Vor dem Hintergrund eben dieser »Verschränkung von individuelle[r] und nationale[r] Bewußtwerdung« kann Friedrich Wolfzettel die ›Vita‹ Alfieris als »Gründungstext einer neuen, engagierten Tradition des autobiographischen Diskurses in der Epoche des Risorgimento« bezeichnen. Friedrich Wolfzettel: Künstlerautobiographie und Identitätsproblematik im italienischen Ottocento. In: Reinhold R. Grimm, Peter Koch, Thomas Stehl und Winfried Wehle (Hrsg.): ›Italianità‹. Ein literarisches, sprachliches und kulturelles Identitätsmuster. Tübingen 2003, S. 220–239, hier: S. 223.
Alfierianische Kulturpolitik
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magnanimi. […] Io scrivo con la sola lusinga, che forse, rinascendo degli Italiani, si reciteranno un giorno queste mie tragedie. […] L’aver teatro nelle nazioni moderne, come nelle antiche, suppone da prima l’esser veramente nazione, e non dieci popoletti divisi, che messi insieme non si troverebbero simili in nessuna cosa: poi suppone educazione private e pubblica, costumi, coltura, eserciti, commercio, armate, guerra, fermento, belle arti, vita. […] Ma il miglior protettore del teatro, come d’ogni nobile arte e virtù, sarebbe pur sempre un popolo libero.43 Ich glaube fest daran, dass die Menschen im Theater lernen können, frei zu sein, stark zu sein, großzügig und von der wahren Tugend beseelt, unduldsam gegenüber jeglicher Form von Gewalt, voller Liebe für ihr Vaterland, in bester Kenntnis ihrer eingeborenen Rechte, und in allen ihren Leidenschaften glühend, rechtschaffen und von hohem Sinn. […] Ich schmeichele mir selbst mit der Vorstellung dass, sollte Italien jemals wieder auferstehen, meine Tragödien dort ein Publikum finden werden. […] Ein Theater zu besitzen bedeutet für moderne Nationen, wie für die alten, dass sie zunächst wirklich Nationen sind, und nicht zehn zerstreute kleine Völkchen, die, auch wenn man sie zusammenführte, keinerlei Verbindendes untereinander haben; es setzt öffentliche wie private Bildung voraus, Sitten, Kultur, ein Heer, Handel, Streitkräfte, Krieg, Gärung, schöne Künste, kurz: ein Leben. […] Aber der beste Beschützer des Theaters, wie einer jeden vornehmen Kunst und Tugend, wird zu allen Zeiten ein freies Volk sein.
Für Alfieri – ähnlich wie für Friedrich Schiller, dem er in vielerlei Hinsicht nahesteht – ist die Schaubühne eine moralische Anstalt, und zwar mit dezidiert nationalem Charakter.44 Die heroische Darstellung großer Stoffe soll den Zuschauern genau diejenigen politischen und moralischen Tugenden vermitteln, die für moderne Patrioten unverzichtbar sind. Dazu bedarf es einer direkten Ansprache der Affekte, wie sie – im großen bzw. hohen Stil – nur die Tragödie zu bewirken vermag. Allerdings wiederholt sich hier der logische Zirkel, den wir bereits für Alfieris Traktat Vom Fürsten und den Wissenschaften konstatieren konnten: Denn so sehr die Schaubühne auch zur Bildung eines freien und geeinten Volkes beitragen mag, so ist sie selber, als Institution, doch immer schon auf die Existenz eines eben solchen angewiesen. Für Alfieri ist die bewusst getroffene Entscheidung, sich selbst zu einem tragischen Dichter auszubilden und sein gesamtes Erwachsenenleben in den Dienst einer derart vervollkommneten tragischen Kunst zu stellen, letztlich politisch motiviert. Seine Hoff nungen, was die »Wiederbelebung«, die Renaissance des italienischen Volkes angeht, ruhen ganz auf der Tragödie als politischem Medium. Und doch ist es nicht oder doch nicht allein der Tragödienschreiber Vittorio Alfieri, der – um 43
Vittorio Alfieri: Risposta al Calzabigi. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti, Bd. 35. A cura di Morena Pagliani. Asti 1978, S. 216–238, hier: S. 227 f. Die Übersetzung stammt von mir, K.B. 44 Zur genaueren Kontextualisierung Alfieris im Verhältnis zu Calzabigi und Schiller s. Winkler: Körper, Revolution und Nation, Kap. 5.
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noch einmal die Formulierung von G. Megaro aufzugreifen – zum »Forerunner of Italian Nationalism« im 18. Jahrhundert werden konnte. Dafür ist, wie der vorliegende Beitrag argumentiert hat, vielmehr die für Alfieri charakteristische Verbindung aus persönlichem und politischem Schrifttum verantwortlich, wobei der Autobiographie des Autors eine konzeptionell zentrale Rolle zukommt. Die Vita bewirkt nicht nur den Brückenschlag vom Individuum zur Nation; sie vollendet und übersteigt darüber hinaus den Zirkel, der in den theoretischen Schriften zum Ausdruck kam. So kann Alfieri zum einen anschaulich den Nachweis führen, dass er selbst, als Person, dem von ihm entworfenen Ideal des unabhängigen, freigeistigen Schriftstellers entspricht. Sein Leben, wie es in der Vita dargelegt wird, deckt sich nahezu uneingeschränkt mit seiner Doktrin – ein Umstand, den er (wenn auch damals noch ohne Bezug zu sich selbst) schon in PL als wichtige Bedingung für die Durchschlagkraft eines Autors formuliert hatte45 und der ihm in der Folge, bei seinen Lesern, entsprechend viel auktorialen Kredit verschaff t haben dürfte. Schließlich ist die Eigenschaft der Authentizität, die Übereinstimmung zwischen Leben und Werk, Sagen und Tun wohl bei keinem anderen Schriftsteller-Typus so bedeutsam wie bei eben jenem, der die Literatur selbst als eine (Form von) Handlung konzipiert. Zum anderen und darüber hinaus wurde die besondere Qualität der Vita als einer – kunstvoll gestalteten – Form der ›Arbeit an sich selbst‹ deutlich. Diese überschreitet Alfieris zyklisches Geschichtsbild insofern, als sie einen Ausweg aus dem ewigen Zirkel von Aufstieg und Untergang, Blüte und Dekadenz zu weisen vermag. Das Konzept der Perfektibilität, das Alfieri als politischer Denker vermissen lässt, kann er in der Vita, als Form der persönlichen und literarischen Selbstvervollkommnung, durchaus geltend machen. Damit aber ist zugleich auch ein wichtiges Signal politischer Natur gesetzt. Denn indem er die Arbeit an sich selbst, als Arbeit am eigenen Charakter, dem Bereich des Politischen nicht etwa entgegensetzt, sondern diesem gewissermaßen vorordnet, sagt Alfieri auch etwas über das Verhältnis von Sitten und Institutionen im Allgemeinen aus. Seine Autobiographie kann – und sollte – so gelesen werden, dass die moralischen Verhältnisse (das ethos im individuellen wie auch im kollektiven Sinne) den politischen jeweils vorausgehen. Mit anderen Worten: Die Befreiung Italiens als Nation setzt die Vervollkommnung des italienischen Charakters voraus. Diesem sind zwar – wie Alfieri nicht müde wird zu betonen – die besten Anlagen von Natur aus gegeben; doch reicht das eben nicht aus, um politisch mündig zu werden. Zu diesem Zweck gilt es für den freiheitsliebenden Bürger zunächst und in erster Linie, sich selbst in die Pflicht zu nehmen, statt auf die heilsame Rolle der Institutionen zu hoffen. Die Revolution, so kann man Alfieri auch verstehen, muss von innen kommen, und insofern fängt am besten jeder bei sich selber damit an. 45
PL, II.7 (op. cit, 169 f., 171).
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›The Education of the Will‹ Kindererziehung als Gewohnheitsbildung in Physiopsychologie und Pädagogik des viktorianischen Großbritannien
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nd here it may be observed how greatly the character may be strengthened and supported by the cultivation of good habits. Man, it has been said, is a bundle of habits; and habit is second nature.«1 So heißt es in Samuel Smiles’ populärem Werk Self-Help; with Illustrations of Character, Conduct, and Perseverance (1859), das die Unterscheidung Immanuel Kants zwischen physiologischer Anthropologie und Anthropologie »in pragmatischer Hinsicht« in die bürgerliche Leistungsethik des mittviktorianischen England übersetzte. »Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll«, formuliert Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798),2 und Smiles, der »champion of middle-class utopianism«,3 schreibt die Idee des Menschen als »freihandelndes Wesen« fort. Er kombiniert sie allerdings mit der assoziationistischen Philosophie David Humes, der den Menschen als »bundle of habits« definierte,4 als identisch mit der Summe seiner im Laufe des Bildungsprozesses erworbenen Gewohnheiten. Auf Humes Definition rekurriert die anglo-amerikanische Wissenschaft im 19. Jahrhundert, neben dem Popularisierer Smiles auch die Philosophen und Physiopsychologen William Carpenter, Alexander Bain, John Stuart Mill, Henry Maudsley oder William James. Die zentrale These dieser Wissenschaftler lautet jeweils, die den Einzelnen charakterisierenden Gewohnheiten, und damit seine Lebensgeschichte, würden in seine physische Konstitution eingeschrieben: »we learn habits of thought and feeling through the earliest associations of childhood and the repetition of habitual mental gestures that carve grooves in the mind, so that our mental processes become a set of
1
Samuel Smiles: Self-Help; with Illustrations of Character, Conduct, and Perseverance (1859). Hrsg. v. Peter W. Sinemma. Oxford 2002, S. 319. 2 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1998 (Werke in sechs Bänden, Bd. 6), S. 690, hier: S. 399. 3 R. J. Morris: Samuel Smiles and the Genesis of Self-Help: The Retreat to a Petit Bourgeois Utopia. In: Historical Journal 24 (1981), S. 89–110, hier: S. 109. 4 Siehe David Hume: A Treatise of Human Nature. London 1734. Book I, Part IV, Section VI: Of Personal Identity, sowie die Ausführungen zu Gewohnheit in Book I, Part III, Sections VII–IX und in David Hume: Inquiry Concerning Human Understanding. London 1748.
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automatic responses«.5 Konsequenzen physiologischer Untersuchungen zur ›Erziehbarkeit‹ des Organismus zeigten sich besonders in Positionen zur Kindererziehung in der englischen Physiopsychologie und Pädagogik der 1860er bis 1890er Jahre, welche im Folgenden exemplarisch in den Blick genommen werden sollen – neben Smiles, Carpenter und James besonders auch John Ruskin und George Eliot. Die Konzentration auf die physiopsychologischen Vorstellungen dieser Autoren kann somit der Maßstäbe setzenden Studie von Sally Shuttleworth, The Mind of the Child: Child Development in Literature, Science, and Medicine, 1840–1900 (2010), in der diese Autoren, mit Ausnahme von Eliot, nicht oder nur am Rande behandelt werden, noch einige wertvolle Ergänzungen hinzufügen. In Auseinandersetzung mit dem Bildungskonzept der säkularisierten »anthropologischen Vorstellung eines unendlicher Vervollkommnung fähigen Menschen«, historisch verankert in der deutschen Aufklärung und Humanitätsphilosophie, 6 sehen die Schilderungen individueller Bildungsprozesse bei diesen Wissenschaftlern und Literaten Gewohnheitsbildung, in unterschiedlicher Akzentuierung, als Kompromiss zwischen ›freiem Willen‹ und biologischer Determiniertheit. Als paradigmatisch kann hier Mills Ablehnung des Determinismus gelten, dargelegt im Kapitel »On Liberty and Necessity« seines System of Logic (1843) sowie später in seiner Autobiography (1873), einem Schlüsseltext des Viktorianismus, der auch Eliot tief beeindruckte. Hier entwickelte Mill sein Konzept des »well-developed human being« weiter,7 wobei er die utilitaristische Philosophie Jeremy Benthams um die Betonung sozialer Verantwortung als Grundlage individueller moralischer Entwicklung ergänzte. Die Idee der Selbstformung wird wie folgt formuliert: I saw that though our character is formed by circumstances, our own desires can do much to shape those circumstances; […] that we have real power over the formation of our own character; […] that our will, by influencing some of our circumstances, can modify our future habits or capabilities of willing.8
Dieser berühmte philosophische Kompromiss versucht, ein deterministisches Universum zumindest teilweise mit dem freien Willen zu versöhnen. Ähnlich wie in seinem Aufsatz On Nature argumentiert Mill hier, der Mensch könne, obgleich den 5
So paraphrasieren Jenny Bourne Taylor und Sally Shuttleworth in Embodied Selves: An Anthology of Psychological Texts, 1830–1890. Hrsg. v. Jenny Bourne Taylor, Sally Shuttleworth. Oxford 1998, S. 69. 6 Georg Jäger und Heinz-Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken. In: Karl-Ernst Jeismann und Peter Lundgreen (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3: 1800–1870, Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. München 1987, S. 71–103, hier: S. 71. 7 John Stuart Mill: On Liberty (1859). In: ders.: On Liberty and Other Essays. Hrsg. v. John Gray. Oxford 1991, S. 1–128, hier: S. 71. 8 John Stuart Mill: Autobiography (1873). Hrsg. v. Harold J. Laski. London 1949, S. 143 f.
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Naturgesetzen unterworfen, dennoch zu einem gewissen Grad die Natur ändern und gestalten – indem die Umstände und jeweils spezifisch wirkenden Gesetze gezielt ausgewählt werden.
Bildungstheorie und physiologische Gewohnheitsbildung Mit ihrem Ideal der ›Perfektion‹ der Persönlichkeit, der aus der Humboldt- und Goethe-Rezeption stammenden Idee einer möglichst gleichmäßigen und harmonischen Ausbildung individueller Anlagen, gepaart mit dem humanistischen Ideal der Zweckfreiheit des Wissens, verfolgte die britische liberal education primär das elitäre Ziel der Erziehung von gentlemen. Dabei war das Bildungsziel von religiöser Unterweisung explizit unterschieden. In Thomas Hughes’ Bildungsroman Tom Brown’s Schooldays (1857), der auf die in Eton praktizierten Erziehungsideale zurückgeht, wurden die mit dem Status des gentleman verbundenen Maximen der ›fairness‹ und ›nobleness‹, die Einübung von Kameradschaft und sozialer Kompetenz als weit höhere Erziehungsziele gepriesen als eine bloße Anhäufung von Wissen.9 In Opposition zur liberal education entwickelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein stärker utilitaristisches, zweckorientiertes Bildungskonzept. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland wurde das traditionelle Bildungsideal zunehmend durch den Ruf nach pragmatischer Berufsausbildung abgelöst. Die Neuerungen des viktorianischen Erziehungssystems ab den 1860er Jahren bestanden dementsprechend in der Ausweitung des Fächerkanons sowie der Öff nung der Lehranstalten für größere Teile der Bevölkerung. Lauren Goodlads wichtige Studie zum britischen Liberalismus, die die Ideologie der ›Selbstregierung‹ des charakterlich geformten Individuums sowie lokaler Gemeinschaften betont, konzentriert sich auf intellektuelle Geschichte und definiert die damalige Idee des ›Charakters‹ als »antimaterialist«;10 hiermit lässt sie allerdings eine prägende viktorianische Wissenschaft außer Acht, welche ›Charakter‹ eng mit dem materiellen Substrat verband: die Physiologie. Grundsätzlich unterscheiden alle theoretischen Modelle zur Kindererziehung in den 1860er bis 1890er Jahren zwischen positiver und negativer Gewohnheitsbildung, häufig firmierend als ›educated will‹ und ›lack of will‹. Entscheidend ist jeweils die Rolle, die dem menschlichen Willen in den Prozessen der Gewohnheitsbildung und Selbstformung zugeschrieben wird. Die optimistische Sichtweise der Aufklärung auf die Perfektibilität des Menschen, bei David Hume und John Locke Siehe Heinz Antor: Der englische Universitätsroman: Bildungskonzepte und Erziehungsziele. Heidelberg 1996, S. 29 und passim. 10 Lauren Goodlad: Victorian Literature and the Victorian State: Character and Governance in a Liberal Society. Baltimore 2003, S. ix. 9
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für den englischen Sprachraum definiert, im Utilitarismus Benthams und Mills und schließlich in der Psychologie William James’ fortgeschrieben, imaginierte eine Anerziehung nützlicher und sinnvoller Gewohnheiten, eine »education of the will«, die dem Individuum sodann eine harmonische Integration in den gesellschaftlichen Kontext ermöglicht.11 Auch die logische Kehrseite, eine negative Unterwerfung unter unliebsame Gewohnheiten, die den Willen gerade ausschalten, erscheint in den physiopsychologischen Schriften der Zeit. Sie ergibt sich primär aus der stärkeren Betonung der Materie in Betrachtungen der menschlichen Natur, bereits angelegt in der assoziationistischen Philosophie, die die physische Schaff ung von ›Gehirnbahnen‹ durch Antrainieren von Gewohnheiten postuliert, und konsequent ausformuliert im naturwissenschaftlichen Materialismus sowie der Evolutionstheorie, in welchen der menschliche Wille irrelevant wird. So grundlegend die beiden von Kant formulierten Dimensionen der Anthropologie auch sind, so problematisch wird die Unterscheidung zwischen biologischem Determinismus und »freihandelnder« Selbstbestimmung im Laufe des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich übernimmt, trotz einer gleichzeitigen Persistenz des Fortschrittsglaubens, der Determinismus im fin de siècle die weltanschauliche Vorherrschaft – und das Konzept der »volition«, des freien Handelns und der Selbstbestimmung bedarf zunehmend komplizierter Begründungen und philosophischer Kompromisse. So behaupteten sich auch in der Naturwissenschaft Denkrichtungen, die den Willen des Individuums als Faktor seiner Formgebung einbezogen, also eine Verknüpfung zwischen individuellem Willen, individueller Leistung und biologischer Strukturierung des Organismus annahmen. Wie George Henry Lewes in Problems of Life and Mind (1874–9) in ironischer Überzeichnung feststellte: »Even to this day, in all the glare of Science, the clouds which gather round the conception of Cause are wafted from the mysterious region of Will, and many thinkers hold that no explanation of causation is possible except that which is furnished by volition.«12 Die naturwissenschaftlichen Modelle einer Wechselwirkung zwischen Willen und Umwelt sind komplex. Nicht nur der neben Darwins Evolutionsbiologie weiterexistierende Lamarckismus postulierte, der Wille des Individuums könne über die Vererbung erworbener Eigenschaften in die biologische Formbildung eingreifen. Auch die Evolutionsbiologie selbst ließ sich zumindest in der populären Rezeption durchaus mit der viktorianischen Fortschrittsideologie verbinden, und die Betonung des Willens fand sich auch in physikalischen Texten – zumeist in Form einer moralischen Überhöhung des Energiebegriffs. Weder Evolutions- beziehungsweise Degenerationstheorie 11
William James: The Education of the Will (1890). In: William James, The Principles of Psychology, Bd. 2. Hrsg. v. Frederick H. Burkhardt, Fredson Bowers u. Ignas K. Skrupskelis. Cambridge, MA 1981, S. 1182–1193. 12 George Henry Lewes: Problems of Life and Mind (1874–9). First Series: The Foundations of a Creed (1874–5), Bd. 2. London 1874–5, S. 401.
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noch physikalisches Entropiegesetz konnten also die Forderung nach Leistung und zielgerichteter Lebensführung entkräften.13 Kindererziehung und physiologische Theorien der Gewohnheit sind daher im 19. Jahrhundert eng verknüpft. Viktorianische Naturwissenschaftler reflektierten auch explizit den sozialdisziplinatorischen Aspekt der Gewohnheitsbildung, die Fixierung gesellschaftlicher Normen in Psyche und Körper. Smiles’ Ideen zur Selbstformung und Leistungsethik gründen auf einer materialistischen Theorie des Trainings, »systematic discipline and drill […] until the life becomes crystallized in habit«.14 Charakterbildung sieht er als kumulativen Prozess, Resultat vieler einzelner Akte der »self-culture«.15 Selbst bescheiden Begabte, so Smiles’ optimistische Vision, seien durch körperliches Training und Erziehung in der Lage, eine respektable Position zu erlangen; Kriminelle schließlich könnten zu Soldaten umgeformt werden.16 Gerade mit Bezug auf die unteren Schichten wurden Erkenntnisse über die ›heilsame‹ Wirkung physischer Disziplin systematisch eingesetzt, so beim verordneten Sport in Schulen für Arbeiterkinder. In naturwissenschaftlicher Forschung zur Gewohnheit wird die soziale Schichtung als ›Natur zweiter Ordnung‹ wahrgenommen: Der Beruf, so William Carpenter in Principles of Mental Physiology (1874), beeinflusse die Charakterformung und werde zur ›zweiten Natur‹; Smiles sieht ähnlich frühe Einflüsse des Elternhauses als ›zweite Natur‹ des erwachsenen Menschen.17 Auch nach Ansicht von William James wird die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bei Geburt festgelegt und dann verstärkt. Elemente des Verhaltens wie Körperhaltung, Gang oder Aussprache würden schon früh eingeübt: »If the period between twenty and thirty is the critical one in the formation of intellectual and professional habits, the period below twenty is more important still for the fi xing of personal habits […] such as vocalization and pronunciation, gesture, motion, and address.«18 Statt das »perfectly-rounded development« der liberal education zu erreichen – tatsächlich nur einer elitären Oberschicht möglich –, werde das Kind armer Eltern körperlich und geistig unterversorgt und, wie James es nennt, ›pervertiert‹.19 Die Biologie des Menschen stellt also, aus Sicht viktorianischer Psychologen, kei13
S. Anson Rabinbach: The Human Motor: Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley 1990; zu Konvergenzen zwischen Degeneration und Entropie siehe Stephen C. Brush: The Temperature of History: Phases of Science and Culture in the Nineteenth Century. New York 1978, S. 2. 14 Samuel Smiles: Character. London 1871, S. 159. 15 Smiles: Self-Help, S. 262; S. 261–296: Kap. XI, Self-Culture – Facilities and Difficulties. 16 S. Smiles: Self-Help, S. 315, und Smiles: Character, S. 159. 17 William B. Carpenter: Principles of Mental Physiology, with their Applications to the Training and Discipline of the Mind, and the Study of Its Morbid Conditions. London 1874, S. 418; Smiles: Self-Help, S. 362. 18 James: Principles of Psychology, Bd. 1, S. 126. 19 Siehe ebd., Bd. 2, S. 1056 f.
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nen Gegensatz zu Kultur und sozialen Normen dar, sondern ist deren Komplize. Das späte 19. Jahrhundert erlebt eine ›Biologisierung der Kultur‹. – Im folgenden sollen nun einige Positionen zu physiologischen Grundlagen der Gewohnheitsbildung und Kindererziehung während der Zeitspanne von den 1860er zu den 1890er Jahren näher betrachtet werden.20
Samuel Smiles: »Energy of will is the man himself« Parallel mit der Hinwendung zu einer pragmatischeren Ausbildung in den Bildungsinstitutionen führte die ›Selbsthilfe‹-Bewegung, die ihren soziologischen Ort in der unteren Mittelschicht sowie teilweise der Arbeiterschicht hatte, zur Einrichtung der berühmten Mechanics’ Institutes, die höhere Bildung und, in der Theorie, sozialen Aufstieg auch für Arbeiterkinder möglich machten. In diesem Kontext entstand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die bis heute populäre Gattung der Selbsthilfeliteratur. Obgleich von Smiles selbst, wie R.J. Morris gezeigt hat, zunächst als politisches Instrument zur Demokratisierung der Gesellschaft verstanden,21 verkörpert gerade sein Werk Self-Help (1859) bis heute bürgerliche Leistungsethik und Individualitätsideologie; selbst Mills On Liberty, das im selben Jahr erschien, ist als »the intellectuals’ equivalent of Self-Help« bezeichnet worden.22 Smiles fasst die mittviktorianische bürgerliche Ideologie zusammen im Leitmotiv des ›Willens‹: »man can triumph over circumstances, and subject them to his will«. Er insistiert, dass man auch mit lediglich mediokren Anlagen durch körperliches Training und geistige Erziehung, also Disziplin, Energie und Fleiß einen Platz in der Gesellschaft erobern könne. Das Fallbeispiel eines trotz mittelmäßiger Begabung erfolgreichen Mannes zeigt: »It was the force of his character that raised him; and this character not impressed upon him by nature, but formed, out of no peculiarly fine elements, by himself.«23 Smiles hatte vor seinem schriftstellerischen Durchbruch ein Buch über Physical Education publiziert (1838); bereits hier verbanden sich bei ihm Körper- und Charakterformung. So entwickele sich zusammen mit der körperlichen auch die moralische ›Fitness‹: »the moral man lies concealed [in the physical].« Das Maß an aufgewandter Energie entscheidet über Erfolg oder Misserfolg individueller Selbst20
Die Abschnitte zu Smiles, Carpenter und James sowie zum ›brain-forcing‹ verwenden Material aus meiner Studie: Der physiologische Bildungsroman im 19. Jahrhundert: Selbstformung, Leistungsethik und organischer Wandel in Naturwissenschaft und Literatur. Heidelberg, 2009, S. 190–194; 201–206; hier: S. 148 f. 21 Morris: Samuel Smiles and the Genesis of Self-Help, S. 92. 22 Ebd., S. 109. 23 Samuel Smiles: The Education of the Working Classes; an Address Delivered to the Members and Friends of the Leeds Mutual Improvement Society, March 19th, 1845. Leeds 1845, S. 10; Smiles: Self-Help, S. 315.
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formung: »energy of will may be defined to be the very central power of character in a man – in a word, it is the Man himself.«24 Hier liegt eine materialistische Theorie der physiologischen Eintrainierbarkeit von Gewohnheiten zugrunde. Die Beliebtheit der Schriften Smiles’ resultierte aus einer perfekten Zusammenfassung der herrschenden Diskurse. In seinem Werk Duty (1880) besteht er darauf, wie wichtig es sei, schon früh ein festes Ziel im Leben zu finden, an dem alle Handlungen ausgerichtet werden können: »›Character‹, says Novalis, ›is a completely fashioned will‹; and the will, when once fashioned, may be steady and constant for life.«25 Charles Dickens’ Roman David Copperfield (1849–50), in dem viele Postulate der Selbsthilfe-Ideologie zitiert werden, bietet ein Beispiel hierfür in der Selbsterziehung Davids durch Gewohnheitsmechanismen wie asketische Ernährung, frühes Aufstehen, lange Arbeitszeiten und gewaltige Fußmärsche. Auch wenn dies aus der Retrospektive des erwachsenen Ich-Erzählers mit ironischer Distanz versehen wird – »I was stronger than ever in those tremendous practical resolutions that I felt the crisis required. I continued to walk extremely fast, and to have a general idea that I was getting on.« –, so wird doch die moralische Doktrin der Gewohnheitsbildung hier in actu vorgeführt.26 Dass solche Vorstellungen maskulinistisch waren, ist evident: Wie Jacqueline Banerjee mit Bezug auf Kindheitsdarstellungen der viktorianischen Literatur gezeigt hat, gab es für die männliche Entwicklung spezifische Vorgaben, wie die Forderung nach »manhood« und »brave self-reliance« schon bei Knaben.27 Die von Walter E. Houghton identifizierte mittviktorianische kollektive Haltung des »Worship of Force« sowie die von Smiles geschürte Bewunderung für Charakterfestigkeit und Durchsetzungskraft produzierten eindeutig männliche ›Helden‹.28 Bruce Haleys Untersuchung The Healthy Body and Victorian Culture von 1978 widmet sich ausführlich dem viktorianischen Ideal des »healthy man», der im Gegensatz zur weichen und formbaren Frau durch Training seinen Körper und gleichzeitig auch seinen Geist stählt. Als zeitgenössische Aktualisierung der klassischen Temperamentenlehre findet sich in Alexander Bains On the Study of Character (1861) die Auffassung vom Willen als geschlechtsspezifisches psychophysisches Phänomen; die Temperamente werden als stark oder schwach, männlich oder weiblich klassifiziert, wobei die Menge an zur Verfügung stehender »spontaneous energy« das ent24
Smiles: Self-Help, S. 191. Samuel Smiles: Duty; with Illustrations of Courage, Patience, and Endurance. 1880. London 1905, S. 25. 26 Charles Dickens: David Copperfield (1849–50). Hrsg. v. Nina Burgis. Einleitung v. Andrew Sanders. Oxford 1997, S. 521. 27 S. Jacqueline P. Banerjee: Th rough the Northern Gate: Childhood and Growing Up in British Fiction, 1719–1901. New York 1996, S. 149. 28 Walter E. Houghton: The Victorian Frame of Mind, 1830–1870. New Haven 1957, S. 198, Anm. 6. 25
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scheidende Kriterium ist.29 Gerade im Zeitalter des expandierenden British Empire erhielten solche Ideologien Gewicht; im Konzept der ›Muscular Christianity‹ sind die Diskurse der Frömmigkeit, des Imperialismus und der (männlichen) körperlichen Selbstdisziplinierung eng verknüpft. Mit physiologischen Theorien der Gewohnheit ließ sich auch die unbewusste Macht gesellschaftlicher Konventionen beschreiben, welche sich über die Erziehung in das Individuum eingraben. So heißt es bei Smiles: »The habit at first may seem to have no more strength than a spider’s web; but, once formed, it binds as with a chain of iron. The small events of life, taken singly, may seem exceedingly unimportant, like snow that falls silently, flake by flake; yet accumulated, these snow-flakes form the avalanche.« Schneeflocke für Schneeflocke entsteht die Lawine, werden einzelne Ereignisse und Handlungen zu etablierten Gewohnheiten – und heben dadurch einen Teil der ›Individualität‹ des Einzelnen auf: »It thus happens that as we grow older, a portion of our free activity and individuality becomes suspended in habit […] we are bound by the chains which we have woven around ourselves.«30 Hierdurch wird, so Smiles, aus dem Einfluss von Familie, Schule und Universität eine Sozialisation im größeren Maßstab, die Unterwerfung unter das, was bei den Griechen »nomos«, Gesetz, heiße, »and which is often far less easily changed than any written law; becoming so completely ingrained in the Constitution of a People or a Class, as to constitute a ›second nature‹«.31 Dies ist eine fast wörtliche Beschreibung des Habitus-Konzepts, wie Pierre Bourdieu es hundert Jahre später formulierte.
William Carpenter: »The strength of early associations« Dem bekannten Physiologen William Carpenter ging es ebenso um die Verflechtung organischer Faktoren mit geistigen Zuständen. In seinem Kapitel »Of Habit« in Principles of Mental Physiology (1874) beschreibt Carpenter die psychophysische Beschaffenheit des Menschen, »the intimate relation between Mind and Body«, als definiert durch die Fähigkeit zur Gewohnheitsbildung.32 Für die »Physiology of Habit« sei essentiell, dass das Gehirn die größte »reconstructive activity« unter allen Organen aufweise. Während der Wachstumsperiode des Menschen müsse man die wichtigsten Gewohnheiten antrainieren:
29 30 31 32
Alexander Bain: On the Study of Character. London 1861, S. 205 f. Beide Zitate: Smiles: Self-Help, S. 320. Smiles: Self-Help, S. 362. Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 337–375: Kap. VIII, Of Habit, S. 337.
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The ›strength of early associations‹ is a fact so universally recognized, that the expression of it has become proverbial; and this precisely accords with the Physiological principle, that, during the period of growth and development, the formative activity of the Brain will be most amenable to directing influences. It is in this way that what is early ›learned by heart‹ becomes, branded-in (as it were) upon the Cerebrum; so that its ›traces‹ are never lost, even though the conscious memory of it may have completely faded-out. For when the organic modification has been once fixed in the growing Brain, it becomes a part of the normal fabric, and is regularly maintained by nutritive substitution; so that it may endure to the end of life, like the scar of a wound.33
Diese drastische Formulierung – Erinnerung als vergleichbar mit einer vernarbten Wunde – macht die untrennbare Verknüpfung von geistigen Vorgängen mit Veränderungen des materiellen, körperlichen Substrats deutlich. Gleichzeitig wird hier die Irreversibilität deutlich, die Physiopsychologen der Bildung von Erinnerungen und Gewohnheiten beimessen. Wie Jenny Bourne Taylor und Sally Shuttleworth betonen: »in the debates on memory, mental physiologists […] argued that the moral education of children was important precisely because early impressions never entirely disappeared but remained latent.«34 Der Erwerb neuer sowie die Aufgabe einmal angenommener Gewohnheiten werde dagegen, laut Carpenter, mit zunehmendem Alter schwieriger. Selten fehlte in den naturwissenschaftlichen Traktaten ein Appell zur sorgfältigen Selbstformung (oder Kindererziehung) mittels Anerziehung der richtigen Gewohnheiten. So betont Carpenter in Principles of Mental Physiology: »Where the Habits have been judiciously formed in the first instance, the tendency is an extremely useful one, prompting us to do that spontaneously, which might otherwise require a powerful effort of the Will.«35 Die frühe Gewöhnung an ein bestimmtes Arbeitspensum und an methodische Arbeitsweisen erleichtere es einem später, immense Arbeitslasten ohne größere Anstrengung zu bewältigen. Zur Untermauerung seiner Behauptung, der Mensch könne durch bewusste Gewohnheitsbildung in die eigene Entwicklung eingreifen, zitiert Carpenter im Vorwort die berühmte Passage aus Mills Autobiographie zum Kompromiss zwischen Automatismus und freiem Willen. Gerade durch ihr Insistieren auf der Formkraft des Willens sei die Physiopsychologie eine hochmoralische Wissenschaft; »[it] gives [mankind] the strongest and noblest motives both for Self-discipline and for Philanthropic exertion« und ermögliche eine »capacity for infinite progress«.36 Das viktorianische Fortschrittsdenken lässt sich hier also noch harmonisch mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus kombinieren. Dementsprechend rahmt Carpenter sein Werk durch den 33 34 35 36
Ebd., S. 341 und 344 f. Bourne Taylor, Shuttleworth (Hrsg.): Embodied Selves, S. 289. Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 350. Ebd., S. xii.
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Hinweis, die Unterscheidung zwischen automatischen und bewussten mentalen Vorgängen sei die einzige solide Basis für alle Anstrengungen in Erziehung und Selbstdisziplin, so paradox die Koexistenz von physiologischen Automatismen mit dem Phänomen des selbstformenden menschlichen Willens auch anmute.37 Aus der Physiologie der Gewohnheit ließ sich somit eine moralische Erziehungstheorie gewinnen, die auf der Ausbildung des Willens basierte: »It is solely by the Volitional direction of the attention that the Will exerts its domination; so that the acquirement of this power, which is within the reach of every one, should be the primary object of all Mental discipline.«38
William James: »Make our nervous system our ally« Besonders deutlich zeigt sich der anhaltende Einfluss Carpenters in William James’ Kapitel »Habit« aus The Principles of Psychology (1890). Wie Kate Flint bemerkt, geht es James hier vor allem um »the way in which habit constitutes the material world for the perceiving subject at the same time that it works to constitute the self«.39 Der Organismus des Menschen ist, laut James, lernfähig und die meisten seiner Fähigkeiten somit »the fruit of painful study« – eine Anknüpfung, auf organischer Ebene, an die Leistungsethik.40 Der Schlüssel zum Verständnis von Gewohnheiten liege jedoch im physikalischen Bereich, vor allem in der Materieeigenschaft der Plastizität. Carpenter, dessen Principles of Mental Physiology James als großes Vorbild über sechs Seiten hinweg zitiert, habe dies präzise zusammengefasst: »Dr. Carpenter’s phrase that our nervous system grows to the modes in which it has been exercised expresses the philosophy of habit in a nutshell.«41 Einschreibungen von Gewohnheiten in den Körper funktionierten nach demselben Prinzip wie andere, inorganische Strukturveränderungen: »Everyone knows how a garment, after having been worn a certain time, clings to the shape of the body better than when it was new; there has been a change in the tissue, and this change is a new habit of cohesion.«42 37
S. ebd., S. ix f.: »It will, I doubt not, be considered by many, that there is a palpable inconsistency between the two fundamental doctrines which are here upheld; – that of the […] Automatic activity of the Mind […]; and that of the existence of an independent Power, controlling and directing that activity, which we call Will. I can only say that both are equally true to my own consciousness; as I believe they are to the common consciousness of Mankind.« 38 Ebd., S. 25. 39 Kate Flint: Touching Habits: Repetition and Interconnection in Mrs Dalloway. In: Times Literary Supplement, 6. Februar 2004, S. 12 f., hier: S. 12. 40 James: Principles of Psychology, Bd. 1, S. 118. 41 Ebd., S. 117. Carpenters Principles of Mental Physiology (Aufl. 1874, S. 339–345) werden wörtlich wiedergegeben. 42 Ebd., S. 110.
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Bei James, der in Harvard und Edinburgh lehrte und dessen Physiopsychologie für den britischen Kontext überaus einflussreich war, ergeben sich aus solchen wissenschaftlichen Darstellungen ebenfalls Handlungsanweisungen: Da Gewohnheiten trainierbar seien und automatisierte Handlungen weniger Gedanken- und Muskelenergie beanspruchten als spontane, blieben dem Menschen, gemäß dem Energieerhaltungssatz, mehr für kreative Aufgaben nutzbare Kräfte übrig – wie James unter Verweis auf Maudsleys The Physiology and Pathology of the Mind (1867) feststellt.43 Die Lernfähigkeit und somit der Fortschritt der Menschheit sind physiologisch bedingt: »[Man] is, par excellence, the educable animal.«44 Unter Verweis auf den berühmten Ausspruch des Duke of Wellington – den auch Smiles wiederholt zitiert –, »Habit a second nature! Habit is ten times nature«, geht James zum obligatorischen Lob militärischen Drills als extremes Beispiel für die Effektivität physiologischer Gewohnheitsbildung über. Die moralischen Implikationen beziehen sich dabei auf positive wie negative Gewohnheiten. In Principles of Psychology unterstreicht James diese Ambivalenz: »As we become permanent drunkards by so many separate drinks, so we become saints in the moral, and authorities and experts in the practical and scientific spheres, by so many separate acts and hours of work.« Wie er stellvertretend für alle zeitgenössischen Physiopsychologen schlussfolgert, müsse man gute Gewohnheiten fördern, schädliche vermeiden: »The great thing, then, in all education, is to make our nervous system our ally instead of our enemy.«45 James ist sich mit Carpenter einig, dass nur von einem Individuum mit trainierter Willenskraft etwaige Krisen bewältigt werden können; auch David Copperfield demonstriert ja erst in der vermeintlichen Krise seine bemerkenswerte Ausdauer. Eine solche reale oder imaginäre Katastrophe dient häufig als Fluchtpunkt der Selbstformung: »Keep the faculty of eff ort alive in you by a little gratuitous exercise every day […] so that when the hour of dire need draws nigh, it may find you not unnerved and untrained to stand the test.« In fast kantischer Sprache – James spricht von einer »practical maxim« – wird hier an die Visionen des 18. Jahrhunderts von der menschlichen Selbstperfektionierung angeknüpft.46 Das durch die richtigen Gewohnheiten gefestigte Individuum sei widerstandsfähiger als seine verweichlichten Zeitgenossen. Menschen, die zu der nötigen Beharrlichkeit fähig sind, seien »a higher kind of men than those who cannot – more evolved, more fit for life, more helpful to the race«.47 ›Charakterlose‹, willensschwache Individuen dagegen stellen in allen physiologischen Traktaten Gegenbilder zur richtigen Gewohnheitsbildung dar: 43 44 45 46 47
Ebd., S. 118; Maudsley wird hier zitiert als »The Physiology of Mind, p. 154«. James: Principles of Psychology, Bd. 2, S. 1275. Beide Zitate: James: Principles of Psychology, Bd. 1, S. 131 und Bd. 1, S. 125. Beide Zitate: Ebd., S. 130. Ebd., S. 232.
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Besides the men of strong bad wills and strong good wills, there is a far larger number who have very weak wills, or no wills at all. They are characterless. They have no strong will for vice, yet they have none for virtue. They are the passive recipients of impressions, which, however, take no hold of them. They seem to go neither forward nor backward. […] As the wind blows, so their vane turns round […].48
Auch Carpenter in Principles of Mental Physiology bespricht diesen »negative type of character, on which the wisest Educator finds it difficult to make any permanent impression, through constitutional want of self-determining power.« Solche Menschen besäßen keine Kraft, eigenen Prinzipien treu zu bleiben, und seien »creatures of circumstances«.49 Unter günstigen Umständen könnten sie ein tadelloses Leben führen, unter widrigen Umständen würden sie aus Mangel an moralischem Rückgrat sofort scheitern. Als Kompensation für fehlende Willenskraft sei nur langsame Gewöhnung an konsequentes Handeln und Denken möglich.50 Neben Individuen, die nicht genug Gewohnheiten ausgebildet haben, begegnen schließlich noch solche, die, wiederum aufgrund mangelnder persönlicher Willenskraft, zu viele ausgebildet haben – und, in Smiles’ Worten, deren »servile slave[s]« sind, keine geistige Flexibilität mehr besitzen. Die Grenze zwischen dem selbsterziehenden autonomen Subjekt und dem ferngesteuerten Automaten ist unscharf. Wie Athena Vrettos feststellt, durchzieht diese Ambivalenz die gesamte viktorianische Literatur über das Phänomen ›Gewohnheit‹: »Paradoxically responsible for both human individuality and mechanicality, habits make people unique while simultaneously threatening to transform them into things.«51
John Ruskin und George Eliot: »Willing to will strongly« John Ruskin, der berühmte Schriftsteller, Geologe und Kunsthistoriker an der Universität Oxford, setzte seine erzieherischen Grundsätze unter anderem in seinen Kunstmärchen um sowie auch, beispielhaft, in The Ethics of the Dust. Ten Lectures to Little Housewives on the Elements of Crystallisation (1865), zehn in Dialogform niedergeschriebenen Vorträgen über Kristallbildung, die er in Winnington Hall, einer von seiner Bekannten Margaret Bell geleiteten progressiven Mädchenschule 48
Smiles: Duty, S. 27. Beide Zitate: Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 427. 50 »With a character of this type, the object of the judicious Educator will be to invigorate the whole nature, corporeal as well as physical; to find out what worthy objects of pursuit have the most attraction for his pupil, and to aid and encourage his steady pursuit of them, not by removing difficulties from his path, but by helping him to surmount them« (ebd., S. 428). 51 Athena Vrettos: Defi ning Habits: Dickens and the Psychology of Repetition. In: Victorian Studies 42/1 (1999/2000), S. 399–426, hier: S. 413. 49
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in Cheshire, gehalten hatte. Allerdings handelt es sich hier um eine viktorianische bürgerliche Erzählung zur Mädchenbildung, ein Genre, das Cathy Shuman als grundsätzlich paradox bezeichnet: »Subject at once to the demands of the bildung and the retention of a marriageable inexperience, girls must become self-conscious producers of unconscious naturalness and accomplished scholars in ignorance.«52 Frauen sind sowohl Subjekte als auch Objekte der Untersuchung, und in der proleptischen Bestimmungszuweisung des Titels, Ten Lectures to Little Housewives, sind die Grenzen ihrer Entfaltungsmöglichkeiten schon vorweggenommen. Die Hauptaussage dieses Textes ist, wie Ruskin selbst in seinem Vorwort zur Neuauflage des Buches von 1877 feststellt, »[to demonstrate] the general conditions under which the Personal Creative Power manifests itself in the forms of matter«.53 Die Korrelation von Mineralen und Kindern wird vom »Old Lecturer« durchgängig vorgenommen; so vergleicht er in »Lecture II« die Sitzordnung seiner Schülerinnen mit der Anordnung von Atomen in einem Kristall. Diese wird auch Allegorie für die gesellschaftliche hierarchische Ordnung – wie die leitmotivische Frage, »But we know our places; how do the atoms know theirs?«, deutlich macht.54 Ein glückliches Leben, so verkündet Ruskin, sei nur am ›richtigen Platz‹ möglich. Sobald Konkurrenz an die Stelle von Kooperation tritt – ein Leitmotiv in seinem Werk – entwickeln sich alle Beteiligten in negativer Weise; die freie Entfaltung und Ausbildung aller Potentiale werden ersetzt durch gegenseitige Zerstörung. Besonders anschaulich werden solche Vorstellungen über den ›Platz‹ des Individuums in den praktischen Unterrichtsteilen der »Lecture IV«, in denen Ruskin die Schülerinnen im Garten ein ›Kristallisationsspiel‹ spielen lässt: Jedes Mädchen hat innerhalb einer auf dem Boden nachgezeichneten Kristallform ein Atom des Gefüges zu repräsentieren. Die moralisch hohe Bewertung solcher ›Ordnung‹ in der Welt der Minerale wie der menschlichen Gesellschaft, die Einheit von Leben und definierter Form, sind für Ruskin Grundsätze: »You may always stand by Form, against Force.«55 Ausdrücklich empfahl Ruskin Margaret Bell in seinen Briefen, die »formation of moral habits […] in your pupils« als primäres Ziel zu verfolgen.56 Nicht selten 52
Cathy Shuman: »In the Way of School«: Dickens’s ›Our Mutual Friend‹. In: Pedagogical Economies: The Examination and the Victorian Literary Man. Stanford 2000, S. 123–169, hier: S. 160. 53 John Ruskin: The Works of John Ruskin: The Library Edition, Bd. 18. Hrsg. v. E.T. Cook, Alexander Wedderburn. London 1905, S. 203. 54 Ebd., S. 221 f. 55 Ebd., S. 341. Mit »Form« meint Ruskin einen ästhetischen Gegenpol zur physikalischen »Force«; siehe seine Invektiven gegen die Darstellung des Energieerhaltungsgesetzes in John Tyndalls ›Heat a Mode of Motion‹ (1870). Ebd., S. 238. 56 Ruskin: Brief an Margaret Bell, 11.03.1863. In: John Ruskin: The Winnington Letters: John Ruskin’s Correspondence with Margaret Alexis Bell and the Children at Winnington Hall. Hrsg. v. Van Atkin Burd. Cambridge, MA, 1969, S. 403 f.
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klingt er in dieser Hinsicht ähnlich wie Smiles; beide teilen das Lob der Armeedisziplin: »out of [many youths’] fiery or uncouth material, it is only soldier’s discipline which can bring the full value and power.«57 Ruskin weitete diese Maximen auch auf die Nation aus, für die er erzieherische Pläne hatte: »the ›breeding‹ of a vital race, Ruskin asserts, depends on ›the habits enforced in youth‹.«58 Die Hauptvorgabe für einen gelungenen Bildungsprozess von Kristallen und Menschen ist neben der Kenntnis des eigenen ›Platzes‹ beharrliche Energie und Zielgerichtetheit: »It is just as true for us, as for the crystal, that the nobleness of life depends on its consistency, – clearness of purpose, – quiet and ceaseless energy. All doubt and repenting, and botching, and retouching, and wondering what it will be best to do next, are vice, as well as misery.«59 Willenlosigkeit liegt, so Ruskins allegorische Deutung von Kristallformationen, dem gescheiterten Leben zugrunde; ein Beispiel ist die verunstaltete Form eines Kristalls, »distorted in the spine«. Der Wille ist für ihn das entscheidende Attribut des Menschen, da der fehlende tierische Instinkt durch die »added gifts of will and reason« ersetzt werde:60 Hat die richtige Erziehung stattgefunden, ist das Individuum mit einer ›instinktiven Tugend‹ ausgestattet, die moralisch gute Handlungen automatisch hervorbringt; es handelt sich also um das Paradoxon eines ›erlernten Instinkts‹. Solche erlernten Instinkte sind auch zentral für das Schrifttum George Eliots; für sie ist der Mensch lernfähig, weil sein Handeln Konsequenzen hat: »It is this invariability of sequence which can alone give value to experience and render education in the true sense possible.« 61 Nur in einem deterministischen, also ›berechenbaren‹ Universum ist es möglich, aus Beobachtungen Schlüsse zu ziehen und Gelerntes weiterzugeben. George Levine betont, dass kein Widerspruch besteht zwischen Eliots Vorstellung von unerbittlichen Naturgesetzen und individueller Verantwortlichkeit: »A man is only good in so far as he has trained himself to exercise his will for what past experience has taught him is the good.« 62 Die lamarckistische Grundidee des lernenden und Traditionen weitergebenden Individuums passte deutlich besser zu Eliots moralischen Grundüberzeugungen als Darwins Evolutionstheorie, 57
Ruskin: The Work of Iron. In: The Works of John Ruskin. Ed. cit., Bd. 16, S. 409. S. Judith Stoddart: Ruskin’s Culture Wars: ›Fors Clavigera‹ and the Crisis of Victorian Liberalism. Charlottesville 1998, S. 79. Das Zitat stammt aus ›Fors Clavigera‹, in: Works, Bd. 27, S. 468. 59 Ruskin: Works, Bd. 18, S. 264. 60 S. Robert Casillo: Parasitism and Capital Punishment in Ruskin’s ›Fors Clavigera‹. In: Victorian Studies 29/1 (1985), S. 537–567, hier: S. 553. Das Ruskin-Zitat stammt aus ›Fors Clavigera‹, Brief 53 (May 1875), in: Works, Bd. 28, S. 316–341, hier: S. 332. 61 George Eliot: The Progress of the Intellect (1851). In: George Eliot: Selected Critical Writings. Hrsg. v. Rosemary Ashton. Oxford 1992, S. 18–36, hier: S. 21. 62 George Levine: Determinism and Responsibility (1962). Repr. in: A Century of George Eliot Criticism. Hrsg. v. Gordon S. Haight. London 1965, S. 349–360, hier: S. 358. 58
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die sie zwar rezipierte, aber nicht für epochal hielt.63 In ihrem literarischen Werk wird, in durchweg physiologischer Metaphorik, das unbeirrte Festhalten bestimmter Figuren am einmal geformten inneren Wesen, »the practice of willing strongly, willing to will strongly«, als moralisch hochstehende Selbsttreue und, wie bei Mill, als Ausweg aus dem Gesetz der Notwendigkeit bewertet.64 Die frühe Geschichte des Organismus, die in The Mill on the Floss (1860) beschriebenen »first ideas«, prägen die charakterliche Disposition und Weltwahrnehmung in späteren Zeiten: »Every one of those keen moments has left its trace, and lives in us still, but such traces have blent themselves irrecoverably with the firmer texture of our youth and manhood«.65 Auch bei Eliot wird jedoch die Kehrseite der Gewohnheitsbildung, die Gefahr von Automatisierungen ohne Steuerung durch den Willen, reflektiert: Mr. Brooke in Middlemarch (1871–2) beispielsweise zeichnet sich aus durch ein »too rambling habit of mind«, »[a] glutinously indefinite mind […] enclos[ing] some hard grains of habit«.66 Seine durch lange Gewohnheit eingeübten, aber unreflektierten, instinktiven Verhaltensmuster finden ebenso wenig die Gnade der Erzählerin wie seine Entschlusslosigkeit in Krisensituationen – womit er die negativen Prognosen für ›Willenlose‹ bei Carpenter und James bestätigt. Auch Smiles’ Bezeichnung solcher Individuen als »passive recipients of impressions, which, however, take no hold of them« findet eine Entsprechung in der Beschreibung Brookes durch den Rektor: »Brooke is a very good fellow, but pulpy; he will run into any mould, but he won’t keep shape.«67 Aufgrund fehlenden Charaktertrainings ist Brooke Krisen nicht gewachsen; ebenso wird in Daniel Deronda (1876) Grandcourts hedonistische Prinzipienlosigkeit zurückgeführt auf »the want of regulated channels for the soul to move in – good and sufficient ducts of habit, without which our nature easily turns to mere ooze and mud, and at any pressure yields nothing but a spurt or a puddle.«68 Die Automatisierungen, sprachlichen und gestischen Marotten, die beide auszeichnen, entsprechen dagegen den Thesen des Physiopsychologen Lewes, Eliots Lebenspartner, über ›fi xe Ideen‹ aus The Physiology of Common Life (1860): »Habits, 63
S. Gillian Beer: Darwin’s Plots: Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction (1983). Repr. Cambridge 2000, S. 146. 64 S. George Eliot, Brief an Mrs. Henry Frederick Ponsonby, 19.08.1875. In: George Eliot: The George Eliot Letters. Hrsg. v. Gordon S. Haight. 9 Bde. New Haven 1954–78, Bd. 6: 1874– 77, S. 166 f., S. 166: »I shall not be satisfied with your philosophy till you have conciliated necessitarianism – I hate the ugly word – with the practice of willing strongly, willing to will strongly, and so on […]«. 65 George Eliot: The Mill on the Floss (1860). Hrsg. v. Gordon S. Haight. Einleitung v. Dinah Birch. Oxford 1996, S. 151 und 166. 66 George Eliot: Middlemarch (1871–2). Hrsg. v. David Carroll. Einleitung v. Felicia Bonaparte. Oxford 1996, S. 8. 67 Smiles: Duty, S. 27; Eliot: Middlemarch, S. 65. 68 George Eliot: Daniel Deronda (1876). Hrsg. v. Graham Handley. Oxford 1988, S. 132.
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Fixed Ideas, and what are called Automatic Actions, all depend on the tendency which a sensation has to discharge itself through the readiest channel.« 69 Während dieser hirnphysiologische Sachverhalt einerseits Lernvorgänge unterstütze, so hieß es schon hier, könne er andererseits zu automatisierten Marotten führen, denen man willenlos unterworfen sei.
»The Education of the Will« und die Gefahren des ›brain-forcing‹ Es ergibt sich also die paradoxe Situation, dass persönliche Willenskraft die einzige Bastion gegen die passive Unterwerfung unter Gewohnheiten darstellt – »[it is] in virtue of the Will, that we are not mere thinking Automata« –, dass aber diese Willenskraft ihrerseits als ›Gewohnheit‹ anerzogen werden muss, wie Maudsley feststellt: »A man can no more will than he can speak without having learned to do so, nor can he be taught volition any more than he can be taught speech except by practice.«70 Wie aber aus blinden Impulsen ein aktiver Wille – oder auch ›nur‹ die instinktive Moral Ruskins oder Eliots – wird, erklärten die Physiologen nicht. Eine praktische Lösung bot die zeitgenössische Erziehungstheorie; auch James forderte eine physiologisch geschulte »Education of the Will«.71 Physiologen wie Erzieher postulierten, dass Kindeserziehung vor allem über die unbewusste Einwirkung positiver Vorbilder zu erfolgen habe. Lange vor Freud gab es eine Bandbreite von psychologischen Studien zum Unbewussten; in seinen Lectures on Metaphysics and Logic (1859) wies beispielsweise William Hamilton, Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Edinburgh, darauf hin, dass der größte Teil des individuellen Wissens und individueller Fähigkeiten latent sei und nur bei Bedarf abgerufen werde: »the infinitely greater part of our spiritual treasures, lies always beyond the sphere of consciousness, hid in the obscure recesses of the mind.«72 Auch Carpenters Theorie der »unconscious cerebration« sowie zeitgenössische Untersuchungen zu Traum oder Trance vertieften diese Einsichten in die Vielschichtigkeit der Psyche. Kalkuliere man also ein, dass Gewohnheitsbildung größtenteils unbewusst ablaufe, könne man gerade deshalb 69
George Henry Lewes: The Physiology of Common Life, Bd. 2. Leipzig 1860, S. 58–60. Fast wörtlich wird James dies in ›Principles of Psychology‹ wiederholen: »when a current once has traversed a path, it […] traverse[s] it more readily still a second time« (Bd. 1, S. 113). 70 Erstes Zitat: Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 98. Zweites Zitat: Henry Maudsley: Responsibility in Mental Disease. London 1874, zit. in Bourne Taylor, Shuttleworth (Hrsg.): Embodied Selves, S. 277. 71 S. William James: The Education of the Will. In: Principles of Psychology, Bd. 2, S. 1182 f. 72 William Hamilton: Lectures on Metaphysics and Logic (1859). Hrsg. v. H. C. Mansel und John Veitch. 4 Bde. Edinburgh 1860, zit. in Bourne Taylor, Shuttleworth (Hrsg.): Embodied Selves, S. 81.
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Kinder im positiven Sinne erziehen: Carpenter apostrophiert das Phänomen der »unconscious cerebration« ausdrücklich als »a mode of influence which acts with peculiar potency on the minds of Children, and which is a most important element in their Moral education.«73 Das Phänomen der Assoziationsbildung im Gehirn verlange, so postulierte schon Erasmus Darwin im Sinne der assoziationistischen Philosophie, zwingend eine gute Erziehung, durch die früh die richtigen Verknüpfungen hergestellt würden.74 Jede einzelne Handlung des Kindes, so insistierte auch Ruskin, sei wichtig, denn durch diese würden Gewohnheiten verfestigt, die dann das weitere Leben – und das Seelenheil – des Individuums bestimmen könnten: »Remember that every day of your early life is ordaining irrevocably, for good or evil, the custom and practice of your soul. […] Now, therefore, see that no day passes in which you do not make yourself a somewhat better creature«.75 Mit dieser Logik der Akkumulation folgt Ruskin den Physiopsychologen, und seine Angst, es könnten sich falsche Gewohnheiten oder Assoziationen im kindlichen Gedächtnis festsetzen, kommt deren Modell vom Organismus als ›unerbittlicher Registratur‹ aller Handlungen sehr nahe: »Never teach a child anything of which you are not yourself sure; and […] if you feel anxious to force anything into its mind in tender years, that the virtue of youth and early association may fasten it there, be sure it is no lie which you thus sanctify.«76 Für Carpenter ist das wichtigste Erziehungselement während der frühesten Lebensphase, der »Infant Education«, die moralische Atmosphäre, in der das Kind aufwächst. Die unbewusst stattfindende Ausbildung von Gewohnheiten werde so unterstützt durch »the unconscious action of example […]; and commencing in the Nursery, it prolongs itself alike in the Home and in the School, through the whole period of Childhood and Youth, and by no means dies out in Adult age.« Zur moralischen Atmosphäre des Heims gehören folgende Bestandteile: »Order and Regularity«, »the principle of Duty or Obligation«, »notions of Right and Justice« sowie die Tugend der Nächstenliebe. Er betont die unmerkliche Wirksamkeit solcher täglich vorgelebten Einflüsse; die Einübung positiver Gewohnheiten sei dabei wichtiger als angelerntes Wissen: It is by doing, that we learn to do; by overcoming, that we learn to overcome; by obeying reason and conscience, that we learn to obey; and every right act which we cause to spring out of pure principles, whether by authority, precept, or example, will have a greater weight in the formation of character than all the theory in the world.77 73
Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 101. Vergleiche auch James Sullys Sensation and Intuition (1874) sowie Lewes’ Theorie der ›unconscious sensibility‹. 74 S. Erasmus Darwin: Zoonomia; or, The Laws of Organic Life. London 1794, S. 52. 75 Ruskin: Sesame and Lilies (1865). In: Works, Bd. 18, S. 2–187, hier: S. 37 f. 76 Ruskin: The Queen of the Air (1869). In: Works, Bd. 19, S. 283–423, hier: S. 399 f. 77 Vorangehende Zitate: Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 353; 356; 357; 424.
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Ebenso heißt es bei Smiles: »The first instruction for youth […] consists in habits, not in reasonings, in examples rather than in direct lessons.« Die unbewusste Aneignung von Gewohnheiten wird hier in physiologischer Terminologie beschrieben – ähnlich wie in James’ Vergleich der Gewohnheitsbildung bei Mensch und anorganischem Material: The best-regulated home is always that in which the discipline is the most perfect, and yet where it is the least felt. Moral discipline acts with the force of a law of nature. Those subject to it yield themselves to it unconsciously; and though it shapes and forms the whole character, until the life becomes crystallized in habit, the influence thus exercised is for the most part unseen and almost unfelt.78
Würden Grundtugenden wie Beharrlichkeit und Leistungswille früh geformt, verlaufe der Bildungsprozess fast automatisch positiv, versprach auch James seinen Lesern,79 und die Pädagogin Charlotte Mason, die 1885 die Parents’ Educational Union gründete, unterstützte dies in ihrem Werk Parents and Children: A Practical Study of Educational Principles (1896): Das Ziel sei, »to ease the way of the child, while will is weak and conscience immature, by getting it on the habits of the good life where it is as easy to go right as for a locomotive to run on its lines«.80 Allerdings sahen Zeitgenossen durchaus auch die Gefahr der Ver-bildung durch übertriebenen Drill und Training: So äußert auch Ruskin häufig sein Missvergnügen an den rigiden Zwängen des bestehenden Erziehungssystems: It might be shown […] that it would be advantageous to roll the students up into pellets, flatten them into cakes, or stretch them into cables; and that when these results were effected, the re-insertion of the skeleton would be attended with various inconveniences to their constitution. The reasoning might be admirable, the conclusions true, and the science deficient only in applicability.81
Tatsächlich erwacht im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Interesse an der spezifischen Physis und Psyche von Kindern:82 Entgegen einer früheren Auffassung, der zufolge Kinder lediglich als ›unvollständige Erwachsene‹ galten, hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem befördert durch Jean-Jacques Rousseaus Darstellung kindlicher 78
Smiles: Duty, S. 31; Smiles: Character, S. 160 f. S. James: Principles of Psychology, Bd. 1, S. 131. 80 Charlotte Mason: Parents and Children: A Practical Study of Educational Principles (1896). London 1904, S. 166. James Clarke Maxwell zeigt die negative Kehrseite der Metapher, wenn er eingefahrene Denkschemata mit einem »railway system« vergleicht: Brief an Herbert Spencer, 05.12.1873; zit. in David Duncan (Hrsg.): The Life and Letters of Herbert Spencer (1908). In: Herbert Spencer: Collected Writings. 12 Bde. Repr. London 1996, Bd. 2, S. 429. 81 John Ruskin: Unto this Last (1862). In: Works, Bd. 17, S. 1–114, hier: S. 26. 82 S. Adrian Wooldridge: Measuring the Mind: Education and Psychology in England, c. 1860 – c. 1990. Cambridge 1994, S. 24. 79
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Entwicklung in Émile (1762), die Ansicht durchgesetzt, Kinder seien qualitativ von Erwachsenen verschiedene Geschöpfe, »perhaps closer to humankind’s original, natural, even prelapsarian state, and deserving of special care – both for the sake of its healthy cultivation and to preserve its innocence as long as possible.«83 Hinzu kommt eine intensive Auseinandersetzung mit der physiologischen Bedingtheit psychologischer Prozesse. Noch im Jahre 1896 forderte die neugegründete Childhood Society, eine Untergruppierung der British Medical Association: »it is only by a more precise knowledge of the natural process of unfolding of the human mind, and of the way in which this is modified by the environment, that further advance can be made in elucidating the principles of a natural and sound education«.84 Bereits seit Mitte des Jahrhunderts wurden diese Fragestellungen diskutiert, wobei man auch Johann Pestalozzis und Friedrich Froebels Erziehungstheorien rezipierte; der Schulinspektor M. Mitchell lobte im Jahre 1854 Froebels System, da es auf das spezifische kindliche Wesen eingehe: »it treats the child as a child, encourages it to think for itself«.85 Charles Dickens machte Froebels Prinzipien, aus denen die Kindergarten-Bewegung erwuchs, mit einem Artikel von Henry Morley, »Infant Gardens« (1855), in Household Words einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Unter anderem heißt es hier: How many men and women go about pale-skinned and weak of limb, because their physical health during infancy and childhood was not established by judicious management. It is just so, thought Froebel, with our minds. There would be fewer sullen, quarrelsome, dull-witted men or women, if there were fewer children starved or fed improperly in heart and brain. To improve society – to make men and women better – it is requisite to begin quite at the beginning, and to secure for them a wholesome education during infancy and childhood. […] since they are […] so created as to find happiness in the active exercise and development of all their faculties, we, who have children round about us, shall no longer repress their energies […].86
Solch eine Betrachtungsweise konnte auch als Gegengewicht zu exzessiver erzieherischer ›Gewohnheitsbildung‹ bei Kindern dienen. In seinen Schriften zur kindlichen Entwicklung, vor allem in Social Statics und Education: Intellectual, Moral and Phy83
Robert Newsom: Fictions of Childhood. In: The Cambridge Companion to Charles Dikkens. Hrsg. v. John O. Jordan. Cambridge 2001, S. 92–105, hier: S. 92. 84 Childhood Society Minutes: Second General Meeting, 07.04.1899, zit. in Wooldridge: Measuring the Mind, S. 36. 85 Minutes of the Committee of the Council of Education, 1854–5, zit. in Wooldridge: Measuring the Mind, S. 38. S. hierzu auch Mary Hilton: ›The Elevation of Child-Nature‹: Planting the English Kindergarten. In: Women and the Shaping of the Nation’s Young: Education and Public Doctrine in Britain, 1750–1850. Aldershot 2007, S. 201–222. 86 Henry Morley: Infant Gardens. In: Household Words, 21.07.1855, S. 577–582, hier: S. 577 f. S. Wooldridge: Measuring the Mind, S. 24: »by 1870 the kindergarten movement was developing rapidly«.
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sical (1861) argumentierte Herbert Spencer, getreu seinem Grundsatz, »the mental must not be developed at the expense of the physical«, für eine ganzheitliche Lebensgestaltung.87 Eltern sollten vermeiden, Kinder in jungen Jahren extremen geistigen Leistungsanforderungen zu unterwerfen: »[They should consider] whether defect of bodily growth, or the want of that structural perfection which gives vigour and endurance, is compensated by the additional knowledge acquired?«88 Im Hintergrund steht die Logik des geschlossenen Systems: Eine bestimmte Menge an Energie kann entweder für physisches oder für geistiges Wachstum verwendet werden. Anhand von schulischen Tagesabläufen demonstriert Spencer den »merciless school drill« seiner Zeit, der binnen kurzem die körperliche Verfassung ruiniere: »As we were told by one of the inmates, those who arrive with fresh complexions quickly become blanched. Illness is frequent«.89 Noch im Jahre 1883 warnte der Arzt James Crichton-Browne in ähnlichen Tönen vor schulischer Überlastung von Kindern; hier wird der Kontext der Degenerationsängste des ausgehenden 19. Jahrhunderts deutlich: »to push such children forward and overburden them with tasks is to sow widespread the seeds of nervous degeneration«. Oberstes Gebot für Mediziner müsse es sein, Lehrer und Eltern vor den »dangers of brain forcing« zu warnen: »to overwork the immature brain is to enfeeble it […] precocity is really the sign either of an inferior mental organisation or of morbid excitement.«90 Wie Spencer insistiert er, die Natur vergelte eine Überlastung im geistigen Bereich mit einer Unterentwicklung im physischen: »For Nature is a strict accountant; and if you demand of her in one direction more than she is prepared to lay out, she balances the account by making a deduction elsewhere.«91 Das Ideal einer harmonischen Bildung kehrt hier in anderer Form wieder: Betont werden physiologische Aspekte und die Wichtigkeit eines ausgeglichenen Energiehaushalts im wachsenden Organismus – eine Thematik, die sich auch in Dickens’ David Copperfield durchgängig findet; das Prinzip des sparsamen Energieverbrauchs, das von einer begrenzten körperlichen Lebenskraft ausgeht, wird hier von Dr. Chillip vertreten, und mit den »habits of industry and 87
Herbert Spencer: Social Statics, or, The Conditions essential to Human Happiness specified and the First of them developed (1851). Repr. New York 1969, S. 12. S. auch Henry Morley: Infant Gardens. In: Household Words, 21.07.1855, S. 577–582, hier: S. 579: »The mind of a young child must not be trained at the expense of its body.« 88 Herbert Spencer: Education: Intellectual, Moral, and Physical (1860). New York 1896, S. 268. 89 Ebd., S. 111 f. S. Elizabeth Gargano: The View from the Sickroom Window: Zymosis, Brain Fever, and the Dangers of Institutional Education. In: Reading Victorian Schoolrooms: Childhood and Education in Nineteenth-Century Fiction. New York 2008, S. 125–155. 90 James Crichton-Browne: Education and the Nervous System. In: The Book of Health. Hrsg. v. Malcolm Morris. London 1883, S. 269–380, hier: S. 342. Zum ›brain-forcing‹ siehe umfassend auch Shuttleworth: The Mind of the Child, S. 107–150. 91 Spencer: Education, S. 113.
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temperance«, die nach medizinischer Auffassung Extreme vermeiden und die Psychophysis in der Balance halten sollten, wird Davids schließlich gefundenes Gleichgewicht passend wiedergegeben.92
Phylogenetische Gewohnheitsbildung: Utopie und Dystopie Trotz seiner Warnung vor Deformierungen durch übermäßigen Drill ist, laut Spencer, Erziehung zu sinnvollen Gewohnheiten dennoch unabdingbar, denn man befinde sich zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt auf einer evolutionären Zwischenstufe zwischen dem primitiven und dem zivilisierten Leben: »Those respects in which a child requires restraint, are just the respects in which he is taking after the aboriginal man.«93 Tatsächlich wurde in der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden wissenschaftlichen Kinderpsychologie nicht nur die Entwicklung kindlichen Bewusstseins und kindlicher Fähigkeiten untersucht,94 sondern Kinder wurden auch als lebende Wiederholungen der Stammesgeschichte angesehen – so bemerkte Crichton-Browne: »Parents should remember that children are not little nineteenth-century men and women, but diamond editions of very remote ancestors, full of savage whims and impulses, and savage rudiments of virtue.«95 Der Kinderpsychologe William Preyer betonte in Anspielung auf die These von der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese, dass die Kindesentwicklung eine Kurzversion der Menschheitsentwicklung sei.96 Auch James Sully, Medizinprofessor am University College London, postulierte ähnlich: The first years of the child answer indeed to the earliest known stages of human history. […] It is probable indeed that inquiries into the beginnings of human culture, the origin of language, of primitive ideas and institutions, might derive much more help than they have yet done from a close scrutiny of the events of childhood.97 92
S. T. Stone: The Physiology of Intemperance. In: Household Words, 25.01.1851, S. 412– 417, hier: S. 417. 93 Spencer: Education, S. 187. 94 S. Sally Shuttleworth: The Psychology of Childhood in Victorian Literature and Medicine, Literature, Science, Psychoanalysis, 1830–1970: Essays in Honour of Gillian Beer. Hrsg. v. Helen Small, Trudi Tate. Oxford 2003, S. 86–101, sowie John R. Morss: The Biologising of Childhood: Developmental Psychology and the Darwinian Myth. Hove 1990, S. 83–114. 95 Crichton-Browne: Education and the Nervous System, S. 379. Hierzu s. a. Shuttleworth: The Mind of the Child, S. 181–185. 96 William Preyer: The Mind of the Child; aus dem Deutschen von H.W. Brown. New York 1893 (Original: Die Seele des Kindes, 1882). 97 James Sully: Introduction. In: Bernard Perez: The First Th ree Years of Childhood. London 1885, S. v–ix, zit. in: Bourne Taylor, Shuttleworth (Hrsg.): Embodied Selves, S. 345. In ›Studies of Childhood‹ (1895) verweist Sully auf E. B. Tylors ›Primitive Culture‹ (1871) und vergleicht den ›religiösen Animismus‹ von Kleinkindern mit dem von ›Naturvölkern‹.
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So ging man in der Physiopsychologie bei der Diskussion des Phänomens Gewohnheit auch über die Zeitspanne des menschlichen Lebens hinaus, indem man aus der Entwicklung des Individuums Schlüsse für die Stammesentwicklung zog. Hieraus ergaben sich im Zusammenspiel mit der Anthropologie Theorien über ein phylogenetisches Sediment in der individuellen Psyche, ein ›organisches Gedächtnis‹, das sich aus Vorprägungen des Individuums durch die Stammesgeschichte zusammensetzt. Der Terminus »organic memory« wurde erstmalig von Spencer in The Principles of Psychology (1855) hierfür verwendet;98 die Theorie triff t sich mit Lamarcks These der Vererbung erworbener Eigenschaften, welcher bereits Erasmus Darwin anhing: In der Zoonomia hob er hervor, dass individuelle »habits of action« zu Teilen an die Nachkommenschaft weitergegeben werden könnten.99 Einen Vererbungsvorgang von Gewohnheiten hypostasierte auch der Schriftsteller und idiosynkratische Evolutionsbiologe Samuel Butler in Unconscious Memory (1880): »When an action through long habit or continual practice has become so much a second nature to any organisation […] its effects will penetrate, though ever so faintly, into the germ that lies within it«.100 Carpenter in Principles of Mental Physiology benutzte unter anderem das Beispiel schwer erziehbarer Straßenkinder in den britischen Metropolen, die das unstete Leben ihrer Vorfahren geerbt hätten, um die »Hereditary Transmission of acquired tendencies« zu illustrieren.101 Besonders Reflexe und Instinkte, so glaubte Spencer, deuteten auf die Erfahrungen nicht des individuellen Organismus, sondern der gesamten Rasse hin: »Every one of the countless connections among the fibres of the cerebral masses, answers to some permanent connection of phenomena in the experiences of the race.«102 Für den Mediziner Sully bedeutet das organische Gedächtnis einen kostbaren ›Vorschuss‹, der dem Nachwuchs in die Wiege gelegt werde – aufgrund der Weitervererbung von Erfahrungen müsste die Menschheit nicht mit jedem Neugeborenen ›von vorn anfangen‹: It gives a new meaning to human progress to suppose that the dawn of infant intelligence, instead of being a return to a primitive darkness, contains from the first a faint light reflected on it from the lamp of racial intelligence which has preceded; that instead of a return to the race’s starting point, the lowest form of the school of Herbert Spencer: The Principles of Psychology. London 1885, S. 97. S. a. Laura Otis: Organic Memory: History and the Body in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries. Lincoln 1994. 99 S. Darwin: Zoonomia, S. 137: »these habits of action […] which begin with life, and only terminate with it […] we can in some measure deliver to our posterity«. 100 Samuel Butler: Unconscious Memory (1880). London 1920, S. 79. Butler übersetzt hier (S. 63–86) Ewald Herings Vorlesung ›Über das Gedächtnis als eine allgemeine Function der organisierten Materie‹ (1870), S. 5–31. 101 S. Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 364 f. 102 Spencer: Principles of Psychology, S. 526 und 581. 98
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experience, it is a start in a higher form, the promotion being a reward conferred on the child for the exertions of his ancestors.103
Ähnlich wie das von James und Maudsley gelobte Faktum der Automatisierung motorischer Abläufe handelt es sich auch beim phylogenetischen ›Vorschuss‹ um einen Energiespareffekt, der Kapazitäten des Individuums für kreative Tätigkeit freisetzt. Die Idee der Vererbung erworbener Eigenschaften und Gewohnheiten ließ sich also positiv interpretieren – im Sinne eines potentiell unendlichen Fortschritts: »in so far as we improve our own Intellectual powers and elevate our own Moral nature by watchful Self-Discipline, we are […] improving the Intellectual and Moral Constitution which our children and our children’s children will inherit from us.«104 Eine negative Auslegung der These des organischen Gedächtnisses war aber ebenso möglich, indem man im Rahmen der sich zunehmend durchsetzenden Degenerationstheorie annahm, auch die durch lasterhaften Lebenswandel ›erworbene‹ Deformation der Eltern könne sich auf den Nachwuchs übertragen; dies war die Kehrseite der lamarckistischen Vererbung erworbener Eigenschaften. Pessimistische Thesen über Atavismen, das Wiederaufleben primitiver Züge in Verbrechern und Wahnsinnigen, verschaff ten sich zunehmend Gehör. In die Forschungen zur Kindesentwicklung flossen anthropologische Vorstellungen über ›primitive Völker‹ mit ein; das (vor-freudianische) Unbewusste wurde zunehmend in der Sprache der Evolutionstheorie geschildert – die ›dunklen Seiten‹ des Individuums waren Regressionen in frühere Menschheitsstufen. In Cesare Lombrosos Theorien über das »child-brain« des Kriminellen wandelte sich das Kind vom Hoffnungsträger zum Sinnbild für die degenerierte physikalische Konstitution des Verbrechers.105 Ähnlich gelagert ist die Besorgnis des Mediziners Thomas S. Clouston, die degenerierten Aspekte des zivilisierten Lebens brächten zunehmend abnorme Kinder hervor: »What child is born in a civilised country without inherited brain weaknesses of some sort or in some degree?«106 Kinder sind in diesen pessimistischen Theorien also sowohl durch primitive, animalische Vererbungen als auch durch die Degeneration eines überzivilisierten Zeitalters gezeichnet. In Maudsleys Body and Mind (1870) heißt es dementsprechend: »No one can escape the tyranny of his organisation; no one can elude the destiny that is innate in him, and which unconsciously and irresistibly shapes his ends«.107 Die Lernfähigkeit des Organismus erwies sich somit, 103
James Sully: Studies of Childhood. London 1895, S. 9. Carpenter: Principles of Mental Physiology, S. 367 und 374 f. 105 S. Cesare Lombroso: L’uomo delinquente, übers.: Criminal Man. London 1876, und Athena Vrettos: Somatic Fictions: Imagining Illness in Victorian Culture. Stanford 1995, S. 146. 106 T. S. Clouston: Clinical Lectures on Mental Diseases. London 1883, S. 528, zit. in Shuttleworth: Psychology of Childhood, S. 97. 107 Henry Maudsley: Body and Mind: An Enquiry Into Their Connection and Mutual Influence. London 1870, S. 75 f. 104
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in onto- wie phylogenetischer Perspektive, als Fluch: Automatisierte Gewohnheiten ketteten den Menschen an sein animalisches Erbgut; der Mensch war nicht länger »willing subject« seiner Gewohnheiten, sondern ihr »servile slave«.108 Nicht nur Robert Louis Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde (1886), mit der Darstellung primitiver Residuen in der menschlichen Psyche, sondern auch zahlreiche andere spätviktorianische literarische Texte stellten solche ›ererbten‹ Fehler als unüberwindliche Hindernisse für individuelle Entwicklung dar, wie Eliots später Roman Daniel Deronda (1876) mit seiner neurotischen Protagonistin oder die Romane Thomas Hardys, die sich alle mit dem kumulativen Einfluss von vergangenen ›Erfahrungsschichten‹ oder vererbbaren Defekten befassen. Visionen von Perfektibilität und geschichtlicher Vervollkommnung blieben also in den Ansichten der Physiopsychologie zur Kindererziehung im 19. Jahrhundert teilweise erhalten, nahmen aber eine problematische Wendung in Richtung Degenerationstheorie (sowie ihrer Kehrseite, der Eugenik). Ausgangspunkt sind mittviktorianische evolutionäre Utopien wie die Spencers in Social Statics, or, The Conditions Essential to Human Happiness Specified (1851). Hier wird der Sozialisationsprozess als physiologisches Modell vorgestellt und eine konstante Weiterentwicklung der Menschheit verkündet, bis zu einem Endpunkt der totalen Zivilisation, an dem Moral und Instinkt vollständig übereinstimmen werden: […] this incongruity between man’s attributes and his conditions is in course of being remedied. […] the instincts of the savage must die of inanition – […] the sentiments called forth by the social state must grow by exercise […]. The young human being will [then] spontaneously unfold itself into that ideal manhood, whose every impulse coincides with the dictates of the moral law.109
Auf diese Weise wird sich, laut Spencer, in einem evolutionären Endstadium der Entwicklungsstand aller Individuen mit dem der Gesellschaft harmonisch decken; es wird kein ›Bildungs-‹ und Anpassungsprozess mehr erfolgen, denn junge Menschen werden von Beginn an perfekt auf ihre Umwelt abgestimmt sein. Die düsteren Alternativen des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren jedoch Visionen nicht der Perfektibilität, sondern der Korruptibilität: Die Ängste des fin de siècle vor vererbbarem Wahnsinn und Kriminalität demontierten die aufklärerische Idee der Vervollkommnungsfähigkeit des Einzelnen wie der Gesellschaft. Trotz der Persistenz eines säkularen Fortschrittsgedankens wurde somit im Spätviktorianismus die Vorstellung einer unendlichen Perfektibilität endgültig obsolet.
108 109
S. die bereits zitierte Passage aus Smiles: Character, S. 159. Spencer: Social Statics, S. 187 f.
PER SONENR EGISTER
A Abbt, Thomas 91 Abel, Jacob Friedrich 93 Adorno, Theodor W. 133 Alfieri, Giulia 253 Alfieri, Vittorio 28, 237–258 Anckelmann, Eberhard 37 f. Anton, Paul 204 Arnauld, Antoine 77 ff. Arndt, Johann 31, 34–37, 50, 59 Augustinus von Hippo 195 Augustus, Kaiser von Rom 209, 241 Austen, Jane 179 B Bacon, Francis 119 Bain, Alexander 259, 265 Baumeister, Friedrich Christian 71 Baumgarten, Alexander Gottlieb 53 f., 56 f., 71 f., 76 Bayle, Pierre 91 Bayly, Lewis 184, 192 Beaumont, Christophe de 100, 104, 112 Bell, Margaret 270 f. Bentham, Jeremy 260 f. Bilfinger, Georg Bernhard 71 Blumenbach, Johann Friedrich 125, 140 Boccius, Hieronymus 43 Bongies, Laurence L. 87 Bonnet, Charles 100, 124 Bourdieu, Pierre 266 Bossuet, Jacques Bénigne 123 Boulanger, Antoine 125 Breithaupt, Joachim Justus 11 ff., 34, 43 ff., 47 ff., 51, 204
Brettin, Joachim Andreas von 46 Budde(us), Johann Franz 290 Buffon, Georges Louis Leclerc Comte de 105, 124 Bunny, Edmund 32 Burke, Edmund 149 Burnett, Frances Hodgson 124 Butler, Samuel 280 Buxbaum, Johann Christian 202 C Calzabigi, Ranieri de’ 256 Campe, Joachim Heinrich 171 f. Carpenter, William 259, 260, 263 f., 266–270, 273 ff., 280 Cassirer, Ernst 86, 96, 133 f., 149, 162 Catharina von Siena 225, 227, 230 Cesalpino, Andrea 209 Chauvin, Étienne 75 Chemnitz, Martin 45 Clarke, Samuel 276 Clouston, Thomas 281 Condillac, Etienne Bonnot de 87, 127, 179 Condorcet, Nicolas de 15, 101, 109, 118, 124 f. Constant, Benjamin 16, 101, 149 f., 153 Cramer, Philibert 177 Crichton-Browne, James 278 f. Crusius, Christian August 73, 88 D Darwin, Charles 262, 272 Darwin, Erasmus 275, 280 Denina, Carlo 253
284
Personenregister
Descartes, René 78, 119 Dickens, Charles 265, 277 f. Diderot, Denis 108 f. Diogenes von Sinope 136 Dutens, Louis 79, 89 E Eckermann, Johann Peter 94 f. Edgeworth, Mary 177 Edgeworth, Richard Lovell jun. 177 f. Edgeworth, Richard Lovell sen. 177, 179 Eliot, George 260, 270, 272 ff., 282 Epikur 61, 136 Erdmann, Johann Eduard 82 Erhard, Johann Benjamin 139 Ernst, Landgraf von Hessen Rheinfels 78 Evers, Ernst August 176 Ezard, Esdras 37 Exter, Christlieb Lebrecht von 205 F Feller, Joachim 181 Ferdinand von Bourbon, Herzog von Parma 179 Ferguson, Adam 93, 101, 121, 125 f. Feuerbach, Ludwig 79 Fichte, Johann Gottlieb 150 Fonne, Gotthard 41 Fontenelle, Bernhard Le Bovier de 119, 124, 127 Forster, Georg 25 f., 133 f., 139 ff., 153–162 Foucault, Michel 22, 133, 197, 246 Francke, August Hermann 13, 20, 36 f., 43, 46, 48, 59, 181, 189, 191, 196, 204 f., 220 Francke, Gotthilf August 204 Franz von Assisi 230 Freud, Sigmund 123, 274, 281
Friedel, Andreas 41 Froebel, Friedrich 277 G Gehlen, Arnold 151 Gerhard, Johann 45, 192 Gesenius, Justus 32 Glörfeld, Johann 48 Godwin, William 101, 106 Goethe, Johann Wolfgang von 79, 86, 89, 94 ff., 221, 230, 236, 261 Goguet, Antoine Yves 119 f., 127 Goldoni, Carlo 251 Gori, Francesco 254 Gottsched, Johann Christoph 81 Grimm, Friedrich Melchior 15, 100 Gunner, Johann Ernst 71 Gwatkin, Teophila 174 H Hagen, Gottlieb Friedrich 68 Hall, Joseph 193, 194 Hallenhorst, Anton 46 Hamilton, William 227, 229, 274 Hardy, Thomas 282 Hartenfels, Georg Christoph von 46 Hecker, Johann Julius 27, 201–212 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 79, 121, 134, 145, 151, 158 ff., 162 Herder, Johann Gottfried 78 f., 89, 151 f., 236 Hobbes, Thomas 151 Hoe, Johann Simon 43 Hoff mann, Friedrich 206, 212 Hogel, Emanuel 46 Hogel, Zacharias III. 44–48 Homer 244 Horaz 253 Horkheimer, Max 133 Houghton, Walter E. 265
Personenregister
Hughes, Thomas 261 Humboldt, Wilhelm von 171, 176, 261 Hume, David 259, 261 J James, William 259 f., 260, 262 ff., 268 f., 273 f., 276 Jung-Stilling, Johann Heinrich 221 K Kant, Immanuel 18 f., 24 ff., 53, 55, 57, 73, 76, 79, 81, 88, 101, 121 f., 125 f., 133–162, 166, 259, 262 Knauth, Christoph 202 Köhler, Heinrich 40, 78, 82 Konfuzius 58 Kummer, Johann Melchior 43 L La Boétie, Etienne de 246 Lacan, Jaques 134, 145, 156, 159, 161 Lacroze, Jean Cornand de 39 Lambert, Johann Heinrich 57 Lämmerhirt, Hieronymus 43 Lange, Joachim 33, 58, 60 ff., 64, 68 f., 71 f., 204 Lange, Nicolaus 38 Leibniz, Gottfried Wilhelm 24, 53, 63 f., 69 f., 75–96, 206, 217 Lenz, Christian David 216 Lenz, Jakob Michael Reinhold 27, 106, 215–218, 220–227, 229 f., 233–236 Leroy, Charles-Georges 105, 109 Lessing, Gotthold Ephraim 78 f., 86, 89, 91 f., 96, 114, 223, 231 Lewes, George Henry 262, 273 Linnaeus, Carl 201 Locke, John 89, 177, 261 Lombroso, Cesare 281 Loyola, Ignatius von 32, 193
285
Lucanus, Marcus Annaeus (Lucan) 246 Ludwig XIV., König von Frankreich 237, 241 Luise Maximiliane Caroline, Prinzessin zu Stolberg-Gedern (Gräfin von Albany) 252 f. Luther, Martin 10 ff., 17, 23, 26, 32 f., 37, 39 f., 42 f., 51, 59 f., 76, 181, 183– 187, 190–196, 199 f., 220, 226 Lütkemann, Joachim 31, 33 f., 37 M Machenhauer, Johann Christian 12 f., 44 f. Machiavelli, Niccolò 239, 246 Malebranche, Nicolas 137 Mandeville, Bernard 136 Marie Antoinette 160 Marx, Karl 122, 150 f., 158 Mason, Charlotte 276 Maudsley, Henry 259, 269, 274, 281 Maxwell, James Clarke 276 Meier, Georg Friedrich 72 Mendelssohn, Moses 91, 113 Mill, John Stuart 259 ff., 264, 267, 273 Mitchell, Muirhead 277 Molinos, Miguel de 39 f., 42 Moller, Martin 192, 194, 196 Montaigne, Michel de 112, 254 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 126, 128, 136, 237 Morison, Robert 208 f. Moritz, Karl Philipp 227 Morley, Henry 277 Müller, Heinrich 192 Müller, Philipp 47 N Nicolai, Friedrich 223 Niethammer, Philipp Immanuel 176 Nietzsche, Friedrich 110
286
Personenregister
Novalis 151, 265 P Perrault, Charles 119 Pestalozzi, Johann 277 Petrarca, Francesco 251 Pfeiffer, Johann Laurentius 43, 48 Plessner, Helmuth 151 Plutarch 251 Preyer, William 279 Price, Richard 101 Priestley, Joseph 101 R Rambach, Johann Jakob 167 f., 204 Rango, Conrad Tiburtius 40 Raspe, Rudolf Erich 89 Ray, John 208 f. Rehfeldt, Abraham 202 Reynolds, Joshua 174 Rivinus, August Quirinus 208 f. Roland, Eudora 179 Roland, Manon 179 Rousseau, Jean-Jacques 15 ff., 24 ff., 99–118, 124 f., 134 f., 137, 140, 158, 160, 165, 167, 176–179, 247, 252, 276 Ruskin, John 260, 270 ff., 274 ff. S Salzmann, Johann Daniel 217, 222, 224, 236 Santern, Caspar 170 Schade, Johann Caspar 181 Scheler, Max 151 Schellenberg(er), Johann Michael 43 Schiller, Friedrich 78, 86, 89, 93 f., 96, 143, 155, 175, 257 Schmidt, Johann Jacob 208 Schorch, Johann 46
Seneca, Lucius Annaeus 253 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury 91, 93 Sièyes, Emmanuel Joseph 153, 161 Smiles, Samuel 259 f., 263–266, 269 f., 272 f., 276 Smith, Adam 121 f., 126, 128 f. Sömm, Johann Wilhelm 46 Sonthom, Emanuel 31 f. Sophie Charlotte, Königin von Preußen 75 Spalding, Johann Joachim 78, 86, 90 f., 96 Spencer, Herbert 276, 278 ff., 282 Spener, Philipp Jakob 11 f., 32 ff., 38– 43, 59 f., 63, 181–184, 194 Spinoza, Baruch de 61, 137 Staël, Germaine de 101, 237 f. Stammer, Sophia Maria von 198 Stevenson, Robert Louis 282 Sully, James 279 f. Süße, Heinrich 43, 48 T Thomasius, Christian 19 f. Töllner, Johann Gottlieb 221 ff. Tournefort, Joseph Pitton de 208 f. Turgot, Anne Robert Jacques 101, 119 f., 122, 126, 128 f. V Varenius, Heinrich 35 Vasari, Giorgio 13 f. Vico, Giambattista 120 Villaume, Peter 26, 166, 174 ff. Vittorio Amedeo III., König von Piemont 253 Volney, Constantin François 153 Voltaire 111 f., 126, 237, 241 von der Hardt, Hermann 38
Personenregister
W Wellesley, Arthur, Duke of Wellington 269 Winckler, Johann 37 f. Winzheim, Wolfgang 46 Wolff, Christian 19, 24, 53–74, 79, 81, 87–92, 204, 206 f., 210 f. Wurm, Anna Magdalena von 198
Y Young, Edward 227 Z Zeise, Philipp Christoph 42 Zeller, Eberhard 38 f., 227 Zenon von Kition 136
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AUTOR INNEN U ND AUTOR EN
Konstanze Baron, Dr. phil., ist Akademische Rätin a. Z. am Romanischen Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen (Italienische und Französische Literaturwissenschaft). Forschungsschwerpunkte im Bereich der Frühen Neuzeit: Moralistisches Erzählen, Formen des Dialogs, ästhetische Theoriebildung (Frankreich); Autobiographie, apologetisches Schrifttum, Rechenschaftsberichte und Konzeptionen der Autorschaft (Italien). Monographie: Diderots Erzählungen. Die Charaktergeschichte als Medium der Aufklärung, Paderborn 2014; Mitherausgeberin der Bände Jean-Jacques Rousseau: Im Bann der Institutionen (gem. mit Harald Bluhm; Berlin, Boston 2016) und Diderot – Le Génie des Lumières. Nature, Normes, Transgressions (gem. mit Robert Fajen; erscheint in Paris bei Classiques Garnier). Bertrand Binoche, Prof., ist Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der modernen Philosophie an der Université Paris-1 / Panthéon-Sorbonne. Forschungsschwerpunkt: Philosophie der europäischen Aufklärung. Monographien: Religion privée, opinion publique. Paris 2012; Les trois sources des philosophies de l’histoire (1764–1798). Paris 32013; Introduction à ›De l’esprit des lois‹ de Montesquieu. Paris 22015. Als Herausgeber verantwortet er u. a. die Bände L’Homme perfectible. Seyssel 2004; sowie Nouvelles lectures du ›Tableau historique‹ de Condorcet. Québec 2010. Claudia Drese, Dipl. theol., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle ›Edition der Briefe Philipp Jakob Speners‹ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Forschungsschwerpunkte: Editionsphilologie, hallischer Pietismus, Geschichtstheologie, Perfektionismus. Veröffentlichungen dazu u.a.: Der Berliner Beichtstuhlstreit oder Philipp Jakob Spener zwischen allen Stühlen? In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 60–97; Der ›Faden‹ der Geschichte. Zur Evaluation der Vergangenheit durch den Halleschen Pietismus. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, S. 115–128.
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Autorinnen und Autoren
Stefan Lorenz, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Leibniz Forschungsstelle an der Universität Münster (Forschungsvorhaben der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen). Forschungsschwerpunkte: Begriffs- und Philosophiegeschichte des 17. u. 18. Jahrhunderts, Leibniz im philosophie- und im theologiegeschichtlichen Kontext, Geschichte der Theodizee als philosophische und theologische Denkfigur, Editionsphilologie. Veröffentlichungen dazu u. a.: De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710-1791). Stuttgart 1997; Themen und Variationen theologischer Kritik am metaphysischen Optimismus: von Budde bis Schleiermacher. In: Paul Rateau (Hrsg.): L’Idée de théodicée de Leibniz à Kant: héritage, transformations, critiques. Stuttgart 2009, S. 69–92; Problemanzeigen und Krisenphänomene: Theologie und ›Praestabilierte Harmonie‹ in der Perspektive der Wolff schen Schule und ihrer Gegner. J. G. Reinbeck und J. F. Bertram als Beispiele. In: Johann Gustav Reinbeck – Johann Friedrich Bertram: Drei Schriften zur Theologie und ›Praestabilierten Harmonie‹. Mit einem Vorwort von Stefan Lorenz. Hildesheim u. a. 2014, S. 7*–51*. Johannes Rohbeck, Prof. Dr. phil., war von 1993 bis 2015 Professor für Praktische Philosophie und Didaktik der Philosophie an der Technischen Universität Dresden; seit 2016 ist er dort Seniorprofessor für Forschung. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Aufklärung, Geschichtsphilosophie, Didaktik der Philosophie und der Ethik. Mitherausgeber des ›Grundrisses der Geschichte der Philosophie, Romanische Länder‹: Frankreich (2008); Italien (2012); Spanien, Portugal, Lateinamerika (2016). Monographien: Egoismus und Sympathie. Frankfurt a. M. 1978; Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Frankfurt a. M., New York 1987; Technologische Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1993; Technik, Kultur, Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a. M. 2000; Geschichtsphilosophie zur Einführung. Hamburg 32015; Marx. Leipzig 22014; Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin 2010; Zukunft der Geschichte. Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik. Berlin 2013. Axel Rüdiger, Dr. phil., ist derzeit Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Soziale und politische Theorien der Neuzeit, Geschichte der Staatswissenschaft, Universitätsgeschichte. Monographie: Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2005; weitere Veröffentlichungen dazu u. a.: Produktive Negativität. Die Rolle des Perfektionismus im deutschen Aufklärungsdenken zwischen Pufendorf und Kant. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/5 (2010),
Autorinnen und Autoren
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S. 721–740; Die Utopie des Grundeinkommens als Gebot der praktischen Vernunft. Die philosophische Begründung des kommunistischen Republikanismus bei Johann Adolf Dori um 1800. In: A. Amberger und T. Möbius (Hrsg.): Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung. Wiesbaden 2016, S. 145–160. Pia Schmid, Prof. Dr. paed., ist Professorin emerita für Historische Pädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, besonders zum 18. Jahrhundert, Geschlechtertheorien und Weiblichkeitsbilder, historische Kindheitsforschung, kulturwissenschaftliche Pietismusforschung, insbesondere Herrnhuter Brüdergemeine. Veröffentlichungen dazu u. a.: Der Beitrag der Pädagogik bei der Durchsetzung der bürgerlichen Geschlechtertheorie 1760 bis 1830. Unveröffentlichte Habilitationsschrift Universität-Gesamthochschule Siegen 1993; Bürgerliche Kindheit. In: Maike Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schröer (Hrsg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge. Frankfurt 2014, S. 42–71; Hrsg. in Zusammenarbeit mit Ruth Albrecht, Ulrike Gleixner, Eva Kormann, Katja Lißmann, Christian Soboth: Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen. Halle 2015; Auffallende Kinder im beginnenden 18. Jahrhundert. Die Herrnhuter Kindererweckung 1727 und das schlesische Kinderbeten 1707/08. In: Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder. Hrsg. v. Wolfgang Behringer u. Claudia Opitz-Belakhal. Bielefeld 2016, S. 349–364. Clemens Schwaiger, Dr. phil., ist Lehrbeauftragter für Philosophie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Abteilung Benediktbeuern. Forschungsschwerpunkt: Praktische Philosophie der deutschen Aufklärung (Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten, Immanuel Kant u.a.). Monographien: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolff s. Eine quellen-, begriff s- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995; Kategorische und andere Imperative. Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999; Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Christian Soboth, Dr. phil. habil., ist Geschäftsführender Mitarbeiter des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts, Literatur und Frömmigkeit, die literarhistorische Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Pietismus. Veröffentlichungen dazu u. a.: Theologie und Literatur. In: Literatur und Wissen. Ein Handbuch. Hrsg. v. Roland Borgards u.a.. Stuttgart 2013, S. 176–183, »Das Haar laß
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Autorinnen und Autoren
recht verwirrt um Kopf und Stirne fliegen«. Hallischer Pietismus, frisiert und unfrisiert. In: Holger Zaunstöck u. a. (Hrsg.): Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700. Halle 2013, S. 273–287; Erbauungsliteratur. In: Handbuch des Pietismus. Hrsg. v. Wolfgang Breul u. Thomas Hahn-Bruckart. Tübingen [erscheint 2018]. Tanja Täubner, Dr.paed., ist Dozentin für Anthropologie, Fachschule für Sozialassistenz, Sozialpädagogik und Heilpädagogik, Kassel-Wilhelmshöhe. Forschungsschwerpunkte: Soziale Kunst, Ökologische Lebenskönnerschaft, Perspektiven einer spirituellen Pädagogik. Veröffentlichungen dazu u. a.: »Zum andern soltu meditirn«. Die Meditationspraktiken in der Pädagogik August Hermann Franckes. Halle 2014. Kelly J. Whitmer, PhD, ist Associate Professor of History, Seewanee/ The University of the South. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte in Verbindung mit Historischer Pädagogik und Historischer Kindheitsforschung, Historische Sammlungsforschung; Monographie: The Halle Orphanage as Scientific Community. Observation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment. London, Chicago 2015; weitere Veröffentlichungen dazu u. a.: What’s in a Name? Place, Peoples and Plants in the Danish-Halle Mission, c. 1710-1740. In: Annals of Science Special Issue – In Kind: Species of Exchange in Early Modern Science 70/3 (2013), S. 337–356; Model Children and Pious Desire in Early Enlightenment Philanthropy. In: Claudia Jarzebowski and Thomas Max Safley (Hrsg.): Childhood and Emotion across Cultures, 1450–1800. London 2014, S. 15–27. Anne-Julia Zwierlein, Prof. Dr. phil., ist Lehrstuhlinhaberin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte von der Frühen Neuzeit bis zum Viktorianismus; die Forschungen zum 18. Jahrhundert beschäftigen sich u. a. mit dem britischen Kolonialismus, der epischen Tradition sowie mit multimedialen Darstellungsformen. Monographien: Majestick Milton: British Imperial Expansion and Transformations of Paradise Lost, 1667–1837. Münster 2001; Der physiologische Bildungsroman im 19. Jahrhundert: Selbstformung, Leistungsethik und organischer Wandel in Naturwissenschaft und Literatur. Heidelberg 2009.