Wahrnehmen, Speichern, Erinnern: Memoriale Praktiken und Theorien in den Bildkünsten 1650 bis 1850 9783110432695, 9783110440720

Current developments in the digital organization of knowledge give rise to an in-depth study in the humanities of the hi

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German Pages 358 Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Erinnern und Gedächtnis. Medialität und Materialität
Erinnerung und Repräsentation
Ordnen und Sichtbarmachen. Frühneuzeitliche Wissensvermittlung im Umbruch
Vergessene Bilder, erinnerte Metaphern Mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche zwischen memoria passionis und encyclopédie
Evidenz der Sinne in Robert Hookes Micrographia
Wissensordnung und Darstellungsmaximen in der Biografik ,nach Vasari‘ Giovanni Pietro Bellori in den 1660er-Jahren
Auswählen und Bilden. Wissensverarbeitung im 18. Jahrhundert
Remembering Reading The British Commonplace Book in the Long Eighteenth Century
Willkürliches oder unwillkürliches Erinnern? Praktiken und Debatten um das Entlehnen in den Künsten im Großbritannien des 18. Jahrhunderts
Gedächtnis und Gefühl Bilderbibeln im 18. Jahrhundert
Sehen und Verknüpfen. Künstlerische Reflexionen und Bildästhetiken des Erinnerns um 1800
Strategien visueller Erinnerung Karl Philipp Moritz und das Bildgedächtnis
„A picture in her hand“ Erinnerungsbilder und Souvenirformen in Faltfächern des 18. Jahrhunderts
Wie man einen Kuss verwahrt Die Porträtminiatur als intimes Andenken
,Transcripts of features and forms ever at hand‘ Miniaturen in der nordamerikanischen Memorialkultur nach 1800
Erinnern und Gegenwart. Historienbilder im Zeichen von Transnationalität und Transkulturalität
Angst vor dem Hai John Singleton Copleys Kunst der kulturellen Verfeinerung
Anhang
Autorinnen und Autoren
Dank
Bildnachweise
Personenregister
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Wahrnehmen, Speichern, Erinnern: Memoriale Praktiken und Theorien in den Bildkünsten 1650 bis 1850
 9783110432695, 9783110440720

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Wahrnehmen, Speichern, Erinnern

Bettina Gockel und Miriam Volmert (Hrsg.)

Wahrnehmen, Speichern, Erinnern Memoriale Praktiken und Theorien in den Bildkünsten 1650 bis 1850

Gedruckt mit Mitteln der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-11-044072-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043269-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043275-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Übersetzung der Beiträge von Jan Blanc und Hanneke Grootenboer: Dagny Hildebrandt, Miriam Volmert Lektorat des englischen Beitrags: Keonaona Peterson Einbandabbildungen (von links nach rechts): 1.  Robert Hooke, Fischschuppen unter dem Mikroskop, Kupferstich, 1665 (Detail) 2.  Daniel Berger nach Peter Ludwig Lütke, Kupferstich, um 1792 (Detail) 3.  Brosche mit Augenminiatur, um 1800, Aquarell auf Elfenbein, mit Perlen und Diamanten Satz: SatzBild GbR, Sabine Taube, Kieve Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in Germany

♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einführung  7 Erinnern und Gedächtnis. Medialität und Materialität

Katia Saporiti Erinnerung und Repräsentation   29 Ordnen und Sichtbarmachen. Frühneuzeitliche Wissensvermittlung im Umbruch

Andreas Gormans Vergessene Bilder, erinnerte Metaphern Mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche zwischen memoria passionis und encyclopédie  49 Lisa Oberli Evidenz der Sinne in Robert Hookes Micrographia  76 Valeska von Rosen Wissensordnung und Darstellungsmaximen in der Biografik ,nach Vasari‘ Giovanni Pietro Bellori in den 1660er-Jahren   94 Auswählen und Bilden. Wissensverarbeitung im 18. Jahrhundert

David Allan Remembering Reading The British Commonplace Book in the Long Eighteenth Century   141

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|     Inhaltsverzeichnis

Jan Blanc Willkürliches oder unwillkürliches Erinnern? Praktiken und Debatten um das Entlehnen in den Künsten im Großbritannien des 18. Jahrhunderts   155 Michael Thimann Gedächtnis und Gefühl Bilderbibeln im 18. Jahrhundert   169 Sehen und Verknüpfen. Künstlerische Reflexionen und Bildästhetiken des Erinnerns um 1800

Reinhard Wegner Strategien visueller Erinnerung Karl Philipp Moritz und das Bildgedächtnis   185 Miriam Volmert „A picture in her hand“ Erinnerungsbilder und Souvenirformen in Faltfächern des 18. Jahrhunderts   193 Hanneke Grootenboer Wie man einen Kuss verwahrt Die Porträtminiatur als intimes Andenken   219 Patrizia Munforte ,Transcripts of features and forms ever at hand‘ Miniaturen in der nordamerikanischen Memorialkultur nach 1800   230 Erinnern und Gegenwart. Historienbilder im Zeichen von Transnationalität und Transkulturalität

Bettina Gockel Angst vor dem Hai John Singleton Copleys Kunst der kulturellen Verfeinerung   247 Anhang

Autorinnen und Autoren   287 Dank   290 Bildnachweise   291 Bildtafeln   295 Personenregister   355

Miriam Volmert

Einführung

Eine Visitenkarte aus dem 18. Jahrhundert, die sich heute in der Beinecke Library be­ findet, zeigt eine grafische Ansicht, die zeitgenössische Bildthemen der europäischen Grand Tour aufnimmt (Abb. 1): In einer antikisierenden Ruinenlandschaft, in deren Hintergrund vage der Herkulestempel des römischen Forum Boarium auszumachen ist, haben sich zwei Männer vor einem gewaltigen Baufragment eingefunden. In Reise­ kleidung, begleitet von einem Hund, ziehen sie augenscheinlich eine Karte oder ein Buch für ihre Betrachtungen heran. Sie erinnern an die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Gruppendarstellungen von Grand-Touristen, wie sie etwa von Malern wie Nathaniel Dance angefertigt wurden.1 Vertieft sind die beiden den Überresten eines am Boden liegenden Steingebälks zugewandt, das sich in seinen brüchigen Formen, den nahsichtigen Ausmaßen wie auch in seiner Ausstattung deutlich von den dahinter zu sehenden Gebäuden abhebt. So sticht vor allem eine große Marmortafel ins Auge, die nicht allein in ihrer seitlichen Platzierung im ansonsten von mit floralem Dekor verzierten Gebälk buchstäblich aus dem Rahmen fällt. In geschwungener Handschrift ist hier ein Name zu lesen: „Col. Cosmo Gordon“.2 Die offenbar in Massenfertigung gedruckte Visitenkarte bietet mit dem architektonischen Element der weißen Tafel ein leeres Feld, auf dem potenzielle Besitzer ihren Namen eintragen können. Es existierten etliche solcher ,Grand-Tour-Visitenkarten‘, in denen in der Bildtradition der Grand Tour etablierte Motive wie der Vesuvausbruch, das Kolosseum oder das Forum Romanum zur Kulisse für ein bisweilen als helles Steinfragment angelegtes, manchmal aber auch ganz abstrakt hineinragendes Namensfeld werden.3 Die im 18. Jahrhundert bereits konventionalisierten Formen der personalisierten 1 Vgl. zum Beispiel Nathaniel Dance, James Grant of Grant, John Mytton, the Hon. Thomas Robinson, and Thomas Wynne, ca. 1760, Öl auf Leinwand, 98,1 × 123,8 cm, Yale Center for British Art, New Haven, Inv.-Nr. B1976.7.19; siehe auch Anton von Maron, Zwei Reisende vor dem Konstantinsbogen in Rom, 1767, Öl auf Leinwand, 137 × 101 cm, Privatsammlung. 2 Es könnte sich bei Cosmo Gordon um den Sohn von William Gordon, 2nd Earl of Aberdeen, und Anne Gordon handeln. Er wurde in den 1730er-Jahren geboren und verstarb nach 1786. Vgl. den kurzen biografischen Eintrag in J. S. Ersch und J. G. Gruber (Hg.), Allgemeine Encyklopädie der Wissen­schaften und Künste […], Erste Section, A–G, Leipzig 1862, S. 342. 3 Siehe die Sammlung von ,Grand-Tour-Visitenkarten‘ in der James Marshall and Marie-Louise ­Osborn Collection, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, Sign. Osborn c529.

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1  Anonymus, Visitenkarte von Col. Cosmo Gordon, Radierung, 2. Hälfte 18. Jahrhundert, James Marshall and Marie-Louise Osborn Collection, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University, Sign. Osborn c529

Erinnerung an und der Identifikation über die Grand Tour nahmen vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte mit einer wachsenden Zahl spezifischer Souvenirobjekte zunehmend kommerzialisierte Züge an.4 Diese Entwicklung dürfte das Aufkommen derartiger Visitenkarten geprägt haben. Sie ermöglichten es ihren Besitzern (in vermutlich relativ kurzlebiger Nutzung), die Teilnahme an der vor allem für aristokratische Kreise verpflichtenden Italienreise und im Besonderen das partizipatorische Wissen um deren visuelle Topoi in spielerischer Form als spezifisch zugeschnittenes ,Aushängeschild‘ einzusetzen. Ein kurzer Abriss zur allgemeinen Entwicklung von Visitenkarten im 18. und frühen 19. Jahrhundert, der indes nicht näher auf spezifische Bildthemen eingeht, findet sich in Esther Milne, Letters, Postcards, Email: Technologies of Presence, New York/London 2010, S. 94–98. 4 Vgl. zu Kunst- und Souvenirobjekten der Grand Tour u. a. Andrew Wilton und Ilaria Bignamini (Hg.), Grand Tour: The Lure of Italy in the Eighteenth Century (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, London, Tate Gallery), London 1996, S. 271–303; Maria Dolores Sánchez-Jáuregui und Scott Wilcox (Hg.), The English Prize. The Capture of the Westmorland, an Episode of the Grand Tour (Ausst.-Kat. Oxford, Ashmolean Museum of Art and Archaeology, New Haven, Yale Center for British Art), New Haven 2012, v. a. S. 181–308; Ulrich Schneider, Der Grand Tour. Souvenirs aus dem Rom des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.), Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken (Ausst.-Kat. Frankfurt, Museum für Angewandte Kunst), Köln 2006, S. 118–128.

Einführung     |

Im vorliegenden Fall wird in einer gewitzten, selbstreferenziellen Weise das Namensfeld des Besitzers mit verschiedenen, überlappenden memorialen Ebenen verknüpft. Zum einen nimmt die räumliche Struktur auf die Tradition der loci und imagines der römischen Mnemotechnik Bezug. So repräsentieren die ungewöhnliche Platzierung der Marmor­ tafel auf dem Gebälk und dessen aus der Struktur der umliegenden Gebäude heraus­ fallende Dimensionen ein besonders denkwürdiges, starkes Erinnerungsbild – im Sinne der von römischen Rhetorikern wie Quintilian etablierten Empfehlung, zu erinnernde Begriffe in einer parcoursartig angelegten mentalen Gedächtnislandschaft an ausgewählten, auffallenden Orten in verdichteten, ausdrucksstarken Bildern ,abzulegen‘.5 Weiterhin berührt die dargestellte Szenerie auch den antiken Topos der durch künstlerische und literarische Monumente gestifteten fama, hebt also auf die Funktion eines Kunstwerks ab, die ruhmvolle Erinnerung an eine Person tragen und über die Zeiten hinweg garantieren zu können.6 Auf der rezeptiven wie produktiven Ebene wird in diesem Sinne damit gespielt, dass die (im Bildgedächtnis des Betrachters erwartete) in Stein gemeißelte Inschrift, eingetragen auf der marmornen Tafel des Bauwerks, durch eine auf Papier aufgetragene Handschrift ersetzt wird, deren Besitzer sich sozusagen selbst ein ,Denkmal‘ schafft. Durch das Spannungsfeld zwischen der dargestellten Marmortafel einerseits und der auf das Papier aufgebrachten Tinte andererseits wird der Fokus gerade auf die – ambivalente – Materialität des Gedächtnisträgers gelenkt.7 Analog ver­

5 Quintilian, Inst. Or. XI, 2, 17–22, in: Helmut Rahn (Hg.), Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, Teil 2, Darmstadt 1975, S. 592–595. Siehe zudem auch die Passagen in der Rhetorica ad Herennium, vgl. Rhet. Her. III, 30–31, in: Theodor Nüßlein (Hg.), Rhetorica ad ­Herennium. Lateinisch – Deutsch, 2. Auflage, Düsseldorf/Zürich 1998, S. 166 (lateinisch) und 167 (deutsch). Zur römischen Gedächtniskunst siehe auch grundlegend Frances A. Yates, The Art of ­Memory, London/Chicago 1966, S. 1–26. Zur Rezeption der Gedächtniskunst in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. auch Renate Lachmann, Gedächtniskünste, in: Christian Gudehus, Ariane ­Eichenberg und Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 136–142. 6 Vgl. zu diesem Topos allgemein u. a. Claudia Brink: Fama, in: Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie, Bd. 1, München 2011, S. 285–292; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 38–61; Peter Springer, Tod der Unsterblichen. Zur Rolle des Künstlers in Selbstreflexion und Erinnerungspraxis der bildenden Kunst, in: Ekkehard Mai und Kurt Wettengl (Hg.), Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier (Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, Köln, Wallraf-Richartz-Museum – Fondation Corboud), Wolfratshausen 2002, S. 152–169. 7 Damit werden auch klassische Gedächtnismetaphern aufgerufen, die vielfach auf die Idee des buchstäblichen Einprägens von Lettern (etwa in die Wachstafel) zurückgreifen. Vgl. z. B. die Rhetorica ad Herennium, die die bereits bei Platon (Theaitetos, 191 c, d) eingeführte Wachstafelmetapher aufgreift und mit der Gedächtniskunst in Verbindung bringt, indem es heißt, dass die mnemotechnisch einzusetzenden mentalen Orte „einer Wachstafel und einem Blatt Papier sehr ähnlich“ („loci cerae aut cartae simillimi sunt“) seien. Rhet. Her. III, 30, in: Nüßlein (wie Anm. 5), S. 166 (lateinisch) und 167 (deutsch). Zur Geschichte von Gedächtnismetaphern vgl. u. a. Douwe Draaisma, Metaphors of Memory: A History of Ideas about the Mind, Cambridge 2000, v. a. S. 24–48; Kurt Danziger, Marking the Mind: A History of Memory, Cambridge 2008, S. 24–58; Uwe Fleckner (Hg.), Die Schatzkammern der Mnemosyne. Ein Lesebuch mit Texten zur Gedächtnistheorie von Platon bis Derrida, Dresden 1995; Assmann 1999 (wie Anm. 6), S. 149–178.

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weisen die im Bild gezeigten Figuren, die auch die Erinnerung an ihre metareferenziellen ­Pendants (Betrachter und Empfänger der Visitenkarte) evozieren, auf die Relation zwischen einer temporären und einer die Zeiten überdauernden Betrachtung des Werks. Zudem wird, auf der Ebene der generellen Bilderzählung, in der typisierten Grand-Tour-Szenerie ein reisespezifischer Gedächtnisaspekt angedeutet: Mit den über die Bildfiguren thematisierten erinnerungsspezifischen Momenten des lektürebasierten Diskutierens und Nachsinnens wird ein Referenzrahmen der gelehrten Reise imaginiert; ein Rahmen, in dem letztlich wiederum auch die genannten antiken Gedächtnistraditionen als Wissenskanon eingelagert sind. Dieser Referenzrahmen der Grand Tour ist jedoch zugleich – und damit wäre noch eine weitere der überlappenden memorialen Ebenen der Darstellung angesprochen – über die mit der Inschriftentafel inszenierte Bruchstelle eng mit einer in der kommerzialisierten Erinnerungskultur der Grand Tour über zahlreiche Objekte kultivierten Souvenirsprache verbunden, die, wie bereits erläutert, das partizipatorische Wissen um die stereotypisierten Erinnerungsbilder selbst­ referenziell offenlegt. Die Visitenkarte reiht sich mit ihrer Bildästhetik ein in eine Vielzahl von Bildobjekten im 18. Jahrhundert, die tradierte Erinnerungstopoi in fragmentierter Form zitieren und, oft damit verknüpft, personalisierende wie popularisierende Formen des Erinnerns ästhetisch reflektieren.8 Derartige Objekte verweisen, wie im vorliegenden Buch zu diskutieren sein wird, auch auf die sich um diese Zeit wandelnden Formen, Wissen zu speichern, und auf damit einhergehende neue Vorstellungen von den Funktionsweisen menschlicher Erinnerung. Der Sammelband beschäftigt sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit spezifischen memorialen Bildpraktiken und zugleich auch in breiterer Perspektive mit visuellen und textuellen Erinnerungsdiskursen im langen 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika. Von grundlegendem, übergreifendem Interesse ist es, aus verschiedenen, vor allem kunst- und sehhistorischen Perspektiven kulturelle Formen der Wissensorganisation und Wissensvermittlung einer Scharnierzeit zu untersuchen, die vielfach von der Koexistenz rhetorischer Wissenstraditionen und empiristischer Ordnungskategorien geprägt ist und neue Ideen von Wissensspeicherung, Informationsorganisation und Gedächtniseffizienz hervorbringt.9 Die exemplarisch ausgerichteten 8 Vgl. z. B. zu Souvenir- und Andenkenskulturen u. a. Anna Ananleva und Christiane Holm, Phäno­ menologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit, in: Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.), Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken (Ausst.-Kat. Frankfurt, Museum für Angewandte Kunst), Köln 2006, S. 156–187; Günter Oesterle, Souvenir und Andenken, in: Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.), Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken (Ausst.-Kat. Frankfurt, Museum für Angewandte Kunst), Köln 2006, S. 16–45. 9 Vgl. generell zu der Geschichte von Wissens- und Ordnungssystemen und damit in Beziehung stehenden Gedächtniskonzepten zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert u. a. John Bender und David E. Wellbery, Rhetoricality: On the Modernist Return of Rhetoric, in: John Bender und David E. Wellbery (Hg.), The Ends of Rhetoric. History, Theory, Practice, Stanford 1990, S. 3–39, v. a. 5–22; ­A ssmann 1999 (wie Anm. 6), S. 89–113; Draaisma 2000 (wie Anm. 7), Kap. 3 und 4; Frank Grunert, Die Marginalisierung des Gedächtnisses und die Kreativität der Erinnerung. Zur Gedächtnistheorie

Einführung     |

Beiträge untersuchen anhand von unterschiedlichen Bild- und Textmedien des späteren 17. bis frühen 19. Jahrhunderts, wie Praktiken und Theorien des Erinnerns in den Bildkünsten, in der (Kunst)Literatur und Kunsttheorie erprobt, reflektiert und ästhetisiert werden. Diese Blickrichtung bedingt auch eine Zusammenführung bzw. Annäherung von bisher oft getrennt voneinander behandelten Gebieten und Themen kunsthistorischer Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Allgemein binden Forschungen zu historischen Erinnerungs- und Gedächtniskonzepten für die Kunstgeschichte zahlreiche und in einzelnen Bereichen intensiv bearbeitete Fragestellungen, die zum Teil im Kontext jüngerer, auch interdisziplinärer Forschungen der Postcolonial Studies, der Postmemory, der Global Art History und der Material Culture Studies neue Impulse erfahren haben.10 Zu den für die Kunstgeschichte wichtigsten und vielfach bearbeiteten Bereichen, deren gedächtnisspezifische Aspekte freilich oft auch nicht exklusiv im Kern von Untersuchungen stehen, zählen, um nur einige und (sich verschiedentlich überlappende) Gebiete aufzureihen:11 Formen, Medien und Semantiken kollektiver, lokaler, nationaler wie transnationaler Gedächtnisstiftung der deutschen Aufklärungsphilosophie, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 29–52; Jörg Jochen Berns, Umrüstung der Mnemotechnik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfindung, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750, Tübingen 1993, S. 35–72; Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber, Mnemonik zwischen Renaissance und Aufklärung. Ein Ausblick, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750, Tübingen 1993, S. 373–385; Jürgen Trabant, Memoria – Fantasia – Ingegno, in: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 406–424; Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien/Köln/Weimar 2000. 10 Siehe hier, auch in interdisziplinärer Perspektive, u. a. Joan Gibbons, Contemporary Art and Memory: Images of Recollection and Remembrance, New York 2007; Mick Broderick und Antonio Traverso (Hg.), Interrogating Trauma: Collective Suffering in Global Arts and Media, London/New York 2011; Iain Chambers, Alessandra De Angelis, Celeste Ianniciello und Mariangela Orabona (Hg.), The Postcolonial Museum. The Arts of Memory and the Pressures of History, Farnham 2014; Sebastian Groes (Hg.), Memory in the Twenty-First Century: New Critical Perspectives from the Arts, Humanities, and Sciences, New York 2016; Liedeke Plate und Anneke Smelik (Hg.), Performing Memory in Art and Popular Culture, New York 2013; László Munteán, Liedeke Plate und Anneke Smelik (Hg.), Materializing Memory in Art and Popular Culture, New York 2017; Rick Crownshaw, Transcultural Memory, New York 2014; Lucy Bond und Jessica Rapson (Hg.), The Transcultural Turn: Interrogating Memory Between and Beyond Borders, Berlin/Boston 2014; Chiara De Cesari und Ann Rigney (Hg.), Transnational Memory: Circulation, Articulation, Scales, Berlin/Boston 2014; Aleida Assmann und Sebastian Conrad (Hg.), Memory in a Global Age: Discourses, Practices and Trajectories, New York 2010; Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory: Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York 2012. 11 Angesichts der zahlreichen in den vergangenen Jahrzehnten erschienenen Studien auf den im Folgenden genannten Gebieten kann hier in den folgenden Anmerkungen nur exemplarisch auf einige Studien verwiesen werden, die sich mit grundlegenden, übergreifenden Fragen oder auch mit aktuellen Positionen zur (trans)kulturellen Gedächtnisforschung in der Kunstgeschichte und interdisziplinären Forschung beschäftigen; zu themenspezifischen Zusammenhängen siehe jeweils die Verweise in den Beiträgen des vorliegenden Bandes sowie im weiteren Verlauf der Einleitung.

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in Kunstwerken, Denkmälern und Mahnmalen;12 mit diesen Kontexten zusammenhängend: (Gedächtnis-)Ordnungen in verschiedenen medialen, musealen, sammlungsspezifischen und archivarischen Kontexten;13 kunsttheoretische Topoi künstlerischer 12 Grundlegend zu medialen Aspekten der Gedächtnisstiftung in Kunst und Literatur vgl. u. a. Assmann 1999 (wie Anm. 6); Astrid Erll, Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-) kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin/New York 2004, S. 3–22; siehe auch Astrid Erll (Hg.), Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 2., erw. Auflage, Stuttgart 2011, v. a. S. 137–171; Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.), Media and Cultural Memory/Medien und kulturelle Erinnerung, Berlin/New York 2008, v. a. S. 301–407. Zu Aby Warburgs gedächtnistheoretischem Konzept der Pathosformeln, das in eine gänzlich andere Richtung des kollektiven Gedächtnisses zielt (siehe u. a. Aby Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-­ Atlas [1929], in: Ilsebill Barta Fliedl und Christoph Geissmar [Hg.], Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körper­sprache in der Kunst [Ausst.-Kat. Wien, Graphische Sammlung Albertina], Salzburg/Wien 1992, S. 171–173), vgl. u. a. Michael Diers, Mnemosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby ­Warburg, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 79–94; Georges Didi-­ Huberman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010. Zu gegenwärtigen interdisziplinären Ansätzen zum kulturellen und (trans)nationalen Gedächtnis vgl. u. a. auch Cesari 2014 (wie Anm. 10); Eva Dewes und Sandra Duhem (Hg.), Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, Berlin 2008; Astrid Erll, Travelling Memory, in: Parallax 17 (2011), Nr. 4, S. 4–18, DOI: http://dx.doi.org/10.1080/13534645.2011.6 05570; Monica Juneja und Michael Falser (Hg.), Kulturerbe – Denkmalpflege: Transkulturell. Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis, Bielefeld 2013; Sharon Macdonald, Memorylands. Heritage and Identity in Europe Today, London 2013; Marta Anico (Hg.), Heritage and Identity. Engagement and Demission in the Contemporary World, London 2009. Zur Bedeutung von Ding- und Materialkulturen für einen erweiterten Begriff kultureller Erinnerungsformen vgl. u. a. Munteán, Plate und Smelik 2017 (wie Anm. 10). Zu zeitgenössischen künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Vermittlung von Erinnerung vgl. u. a. Lisa Saltzman, Making Memory Matter: Strategies of Remembrance in Contemporary Art, Chicago 2006; Kurt Wettengl (Hg.), Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart (Ausst.-Kat. Historisches Museum Frankfurt), Ostfildern-Ruit 2000. 13 Angesichts der Fülle der Literatur erfolgen auch hier nur wenige Hinweise (siehe auch Anm. 11). Siehe zu Museen und kollektiven Gedächtnisräumen den interdisziplinären Band von Greg Dickinson, Carole Blair und Brian L. Ott (Hg.), Places of Public Memory: The Rhetoric of Museums and Memorials, Tuscaloosa 2010; aus kultur- und medienwissenschaftlicher Blickrichtung vgl. ­Silke Arnold-de Simine, Mediating Memory in the Museum: Trauma, Empathy, Nostalgia, New York 2013; zu postkolonialen Perspektiven siehe zuletzt u. a. Chambers, De Angelis, Ianniciello und Orabona 2016 (wie Anm. 10). Vgl. weiterhin grundlegend zu Museen und Archiven als Gedächtnisspeicher ­ rchive Moritz Csáky und Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, A 1: Absage an und Wiederherstellung von Vergangenheit – Kompensation von Geschichtsverlust, Wien 2001 und Moritz Csáky und Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, ­Museen, Archive 2: Die Erfindung des Ursprungs – Die Systematisierung der Zeit, Wien 2002. Die verschiedenen, kollektiven wie personalisierten, Ebenen der Wechselbeziehungen von Museum und Gedächtnis untersucht Susan A. Crane (Hg.), Museums and Memory, Stanford 2000. Zu wissensgeschichtlichen Aspekten des Sammelns seit dem 18. Jahrhundert vgl. u. a. Anke te Heesen und Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissensgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001. Zu mnemotechnischen Aspekten frühneuzeitlichen Sammelns vgl. u. a. Robert Felfe, Der Raum frühneuzeitlicher Kunstkammern zwischen Gedächtniskunst und Erkenntnistheorie, in: Ursula Kundert, Barbara Schmid und Regula Schmid (Hg.), Ausmessen – Darstellen – ­Inszenieren. Raumkonzepte und die Wiedergabe von Räumen in Mittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2007, S. 191–211. Siehe auch Robert Felfe und Kirsten Wagner (Hg.), Museum, Bibliothek, Stadtraum. Räumliche Wissensordnungen 1600–1900, Berlin 2010. Zum Beziehungsgeflecht von

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Gedächtnisstiftung und damit zusammenhängende kunsttheoretische und künstlerische Diskurse um medienspezifische Vermittlungsleistungen wie auch Speicherkapazitäten von Kunst;14 Diskurse um die Beziehungen von Imagination, Gedächtnis und Invention in der Tradition (und im Bruch mit) der rhetorisch fundierten Kunsttheorie wie auch im Dialog mit wissenschaftlichen Modellen psychophysischer Prozesse;15 Architektur und Gedächtnis in der Frühen Neuzeit und am Beginn der Moderne vgl. den Band von ­Harald Tausch, Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung, Göttingen 2003. Grundlegend zur Gedächtniskunst in der mittelalterlichen Buchkunst siehe Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990. 14 Zu erinnerungsspezifischen Aspekten des künstlerischen Paragone vgl. Sabine Heiser und Christiane Holm (Hg.), Gedächtnisparagone – Intermediale Konstellationen, Göttingen 2010. Vgl. zur Tradition der ars memorativa in der Renaissance im kunsttheoretischen Diskurs des Paragone auch Christiane Hessler, Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rang­ streitkultur des Quattrocento, Berlin 2014, S. 585ff. Zum Wettstreit der Künste im Zusammenhang der frühneuzeitlichen Gedächtnisstiftung und entsprechenden Topoi künstlerischer fama vgl. wiederum Springer 2002 (wie Anm. 6) sowie auch Brink 2011 (wie Anm. 6); zu porträttheoretischen Aspekten vgl. übergreifend Daniel Spanke, Porträt, Ikone, Kunst. Methodologische Studien zur Geschichte des Porträts in der Kunstliteratur, München 2004. In interdisziplinärer Perspektive vgl. zu memorialen Speicher- und Vermittlungsaspekten in der Ding- und Materialkultur Munteán, Plate und Smelik 2017 (wie Anm. 10). Siehe zur Erinnerung und Gedächtnisvermittlung in der zeitgenössischen Kunst und Medienkultur u. a. Maria Ida Catalano und Patrizia Mania (Hg.), Arte e memoria dell’arte, Pistoia 2011; zur Reflexion des (Speicher) Gedächtnisses in der zeitgenössischen Kunst vgl. auch Irene Müller, The memory remains. Bemerkungen zu den Begriffen Speicher und Gedächtnis vor dem Hintergrund zeitgenössischer Kunst, in: Hans-Jörg Heusser und Kornelia Imesch (Hg.), Visions of a Future. Art and Art History in Changing Contexts, Zürich 2004, S. 227–240; Cordula Meier, Kunst und Gedächtnis: Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher, München 2002; grundlegend zudem Hans Ulrich Reck (Hg.), Zwischen Erinnern und Vergessen. Transitorische Turbulenzen II, in: Kunstforum International 128 (1994). Zu Konzepten der Information und technischen Kommunikation in der zeitgenössischen Kunst vgl. zudem den jüngst erschienenen Band von Sarah Cook (Hg.), Information, London/ Cambridge, MA, 2016. 15 Zu Gedächtniskonzepten in der Kunsttheorie der Frühen Neuzeit vgl. u. a. Cornelia Manegold, Wahrnehmung – Bild – Gedächtnis. Studien zur Rezeption der aristotelischen Gedächtnistheorie in den kunsttheoretischen Schriften des Giovanni Paolo Lomazzo, Hildesheim 2004; Mary Pardo, Memory, Imagination, Figuration: Leonardo da Vinci and the Painter’s Mind, in: Susanne Küchler und Walter Melion (Hg.), Images of Memory: On Remembering and Representation, Washington/London 1991, S. 47–73. Vgl. übergreifend zu künstlerischen Topoi der schöpfenden und memorierenden Hand in der Frühen Neuzeit Claire Richter Sherman (Hg.), Writing on Hands: Memory and Knowledge in Early Modern Europe (Ausst.-Kat. Carlisle, The Trout Gallery, Dickinson College, Washington, The Folger Shakespeare Library), Seattle 2000. Zu rhetorisch fundierten memoria-Konzepten und Konzepten des externen Speichergedächtnisses in der niederländischen Kunsttheorie vgl. ­M iriam Volmert, memorie, gedachtenis, geheugen. Kunsttheoretische, historiografische und künstlerische memoria-Konzepte in den Niederlanden der Frühen Neuzeit, in: C ­ laudia Fritzsche, Karin Leonhard und Gregor J. M. Weber (Hg.), Ad Fontes! Niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts in Q ­ uellen, Peters­berg 2013, S. 137–163. Zu kunsttheoretischen Wissensordnungen und Konzepten des Speicher­gedächtnisses vgl. Michael Thimann, Gedächtnis und Bild-Kunst. Die Ordnung des Künstlerwissens in Joachim von Sandrarts „Teutscher Academie“. Freiburg im Br./Berlin/Wien 2007. Zur kunsttheoretischen Reflexion von memoria und fama vgl. Springer 2002 (wie Anm. 6) und Brink 2011 (wie Anm. 6). Weiterführend vgl. zu frühneuzeitlichen künstlerischen Reflexionen von und Brüchen mit rhetorischen Bildkonzepten Valeska von Rosen (Hg.), Erosionen der Rhetorik? Strate­ gien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2012. Zahlreiche Studien beschäf­ tigen sich mit kunsttheoretischen wie wissenshistorischen Aspekten der Imaginationskraft (und

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Trauer- und Gedenk-, Material- und Souvenirkulturen und damit zusammenhängende Konzepte privaten und öffentlichen Erinnerns.16 Die vorliegende Publikation versucht, verschiedene dieser genannten Gebiete in einer zeitlich eingegrenzten, dezidiert an Erinnerungskonzepten und -praktiken ausgerichteten Perspektive in exemplarischen Beiträgen zusammenzuführen. Grundsätzlich richtet sich der gemeinsame Fokus auf die dynamischen Vorgänge, Verfahren und Wirkweisen des Erinnerns und Speicherns. Dies impliziert auch, dass Gedächtnis als ein diesen Prozessen zugrunde liegendes System betrachtet wird, das „all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art“ umfasst, „denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt“.17 In unserer Zielrichtung geht es dabei weniger um eine Reihung semantischer Aspekte und dahingehend etwa um größere, nationalisierende Formen und Narrationen kollektiven „Funktionsgedächtnisses“18 als vielmehr darum, an damit einem dem Gedächtnis eng verwandten Terrain); ohne an dieser Stelle näher auf die (freilich allein im Kontext der Wahrnehmungsästhetik des 18. Jahrhunderts immense) Fülle der ­Literatur eingehen zu können, sei auf zwei übergreifende interdisziplinäre Studien für die Frühe Neuzeit und Vormoderne verwiesen, siehe Christine Göttler und Wolfgang Neuber (Hg.), Spirits Unseen. The Representation of Subtle Bodies in Early Modern European Culture, Leiden/Boston 2008; Jörn Steigerwald und Daniela Watzke (Hg.), Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit: Erregung und Steue­r ung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter, Würzburg 2003. Siehe zur Imaginationskraft grundlegend auch Bernd Hüppauf und Christoph Wulf, Einleitung: ­Warum Bilder die Einbildungskraft brauchen, in: Bernd Hüppauf und Christoph Wulf (Hg.), Bild und Einbildungskraft, München 2006, S. 9–44. Zu wissenshistorischen Perspektiven auf die Funktionszuschreibungen des menschlichen Gehirns in der Vormoderne vgl. weiterführend Ernst Florey und Olaf Breidbach (Hg.), Das Gehirn – Organ der Seele?, Berlin 1993; siehe in ebd. v. a. auch den Beitrag von Ernst Florey, Memoria. Geschichte der Konzepte über die Natur des Gedächtnisses (S. 151–216). Zu Wechselbeziehungen von Imaginationstheorien und Naturwissenschaften im 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. zudem u. a. Gabriele Dürbeck, Bettina Gockel, Susanne B. Keller u. a. (Hg.), Wahrnehmung der Natur – Natur der Wahrnehmung. Studien zur Geschichte visueller Kultur um 1800, Amsterdam/Dresden 2001, v. a. Teil II; Werner Busch (Hg.), Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München 2008; Bettina Gockel, Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Porträtmalerei, Berlin 1999; vgl. auch ebd., v. a. S. 75–91, zu philosophischen Wahrnehmungs- und Assoziationstheorien und ihren Wechselbeziehungen zur Malerei. 16 Siehe zu künstlerischen Topoi, Formen und Medien des Gedenkens u. a. Hartmut Böhme, Wettstreit der Medien im Angedenken der Toten, in: Hans Belting und Dietmar Kamper (Hg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 23–43; Nigel Llewellyn, Art of Death: Visual Culture in the English Death Ritual c. 1500–c. 1800, London 1991; grundlegend zur Gedächtniskultur im Kontext von Trauer und Totengedenken vgl. Assmann 1999 (wie Anm. 6), S. 33–61. Vgl. zu Formen des Andenkens in der Vormoderne und Moderne Ananleva und Holm 2006 (wie Anm. 8); Oesterle 2006 (wie Anm. 8); Christiane Holm und Günter Oesterle, Andacht und Andenken. Zum Verhältnis zweier Kulturpraktiken um 1800, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 433–448; zu Souvenir- und Andenkenskulturen vgl. auch übergreifend u. a. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.), Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken (Ausst.-Kat. Frankfurt, Museum für Angewandte Kunst), Köln 2006. 17 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 6. 18 Aleida Assmann bezeichnet mit dem Begriff ,Funktionsgedächtnis‘ in Abgrenzung zum ,Speicher­ gedächtnis‘ die in das Gedächtnis einer Kultur eingegangenen, d. h. von „kollektive[n] Hand-

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sehr spezifischen material- bzw. quellenbasierten Schnittstellen memoriale Schaffensprozesse und Rezeptionsvorgänge in künstlerischen und kunsttheoretischen Kontexten, Diskursen und Medien zu analysieren. Memoriale Funktionsweisen, das Wie historischer Erinnerungsformen und -prozesse, werden für die hier vorgenommene Zusammenführung unterschiedlicher Perspektiven, Objekte und Methoden von zentraler, rahmender Bedeutung sein. Diese offene und auf Pluralität angelegte Beschäftigung mit den medialen Bedingungen von Erinnerungsvorgängen knüpft an fachübergreifende Forschungen an, die weniger darauf abzielen, eine umfassende Gedächtnistheorie oder eine Geschichte von Gedächtnisformen engzuführen, als vielmehr darauf, gerade die Vielseitigkeit medien­ basierter Formen und Funktionsweisen kultureller Erinnerung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Grundlegend hat Aleida Assmann in ihrer Studie Erinnerungsräume dargelegt, dass die Komplexität des kulturellen Gedächtnisbegriffs einem überbauenden bzw. einheitlich polarisierenden Theoriemodell entgegensteht, wie es etwa in früheren soziologischen Ansätzen entwickelt worden war.19 Assmann geht stattdessen von einer Vielzahl dynamischer, keineswegs homogener Strukturen und Funktionen kultureller Erinnerung aus, die sie gerade durch ihre verschneidenden Blickrichtungen auf memoriale Diskurse und mediale Erscheinungsformen, Speicherorte und Gedächtnismetaphern in ihrer histo­r ischen wie systematischen Reichweite beleuchtet.20 Im Unterschied

lungssubjekte[n]“ (Assmann 1999 [wie Anm. 6], S. 137) aufgenommenen, intentional geformten Vergangenheitskonstruktionen. Diesem „bewohnten Gedächtnis“ (ebd., S. 134) stellt sie das „unbewohnte“ Speichergedächtnis gegenüber. Hierunter versteht sie die „Masse von Daten, Informationen, Dokumenten, Erinnerungen“, die nicht intentional gebunden sind: das „unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen“ (ebd., S. 137). Assmann zufolge ist die Beziehung zwischen diesen beiden Gedächtnisformen als perspektivisch und dynamisch zu verstehen; sie beschreibt sie so auch als eine Relation zwischen dem „Hintergrund“ (der Masse des Speichergedächtnisses) und dem „Vordergrund“ (des ,herausgeformten‘ Funktionsgedächtnisses), die durch Bewegung gekennzeichnet ist, indem sich die Werte des intentionalen Funktionsgedächtnisses ändern können und neue Zugriffe auf das Speichergedächtnis unternommen werden (ebd., S. 136). Vgl. auch Aleida Assmann, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung, in: Kristin Platt und Mihran Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Wiesbaden 1995, S. 169–185. Siehe zu Assmanns Begriff des Speichergedächtnisses auch weiter unten in dieser Einleitung. 19 Beispielsweise umgeht Assmann mit ihrem darin eingebetteten Konzept von Speicher- und Funktionsgedächtnis (siehe oben, Anm. 18) explizit die kategoriale Polarisierung von (vermeintlich neutraler) Geschichte und (intentional geformtem) Gedächtnis, wie sie zunächst von Maurice Halbwachs formuliert wurde und auch in Pierre Noras Konzept der lieux des mémoires vertreten ist. Vgl. Maurice Halbwachs, La mémoire collective, Paris 1950, Kap. 2, v. a. S. 69–79; Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 12–13; Assmann 1999 (wie Anm. 6), S. 131–133. Vgl. auch Jan Assmanns Auseinandersetzung mit Halbwachs’ Unterscheidung von ,kollektivem Gedächtnis‘ und ,Tradition‘, siehe Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 4. Auflage, München 2002, S. 45. Zu Halbwachs und Nora siehe zudem Patrick H. Hutton, History as an Art of Memory, Hanover/London 1993, S. 73–90 und 147–153. 20 Assmann 1999 (wie Anm. 6).

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zu ­Begriffen wie „Tradition, Überlieferung oder Erbe“ ist der Begriff des Gedächtnisses zudem, wie Assmann hervorhebt, „mehrdimensional und dynamisch; er bezieht sich nicht nur auf einen Vorgang, einen Bestand oder einen Wert, sondern immer auch auf sein Gegenteil. Denn Gedächtnis umfasst immer schon beides: Erinnern und Vergessen. Zwischen beiden gibt es obendrein viele Grautöne und permanente Verschiebungen, die in den eindimensionalen Begriffen nicht annähernd erfasst werden können.“21

Jüngere Studien heben in dieser Blickrichtung noch stärker die Pluralität und Dynamik von Erinnerungsmedien hervor.22 Sie richten den Fokus dabei zum Beispiel auf die von Konkurrenzhaftigkeit und Interaktion geprägte Vernetzung, Koexistenz und Variabilität von kommunikations- und medienbasierten Erinnerungsformen. Der 2010 erschienene interdisziplinär ausgerichtete Band Gedächtnisparagone widmet sich in dieser Hinsicht der Interrelation medienbasierter Erinnerungsleistungen in Bild-, Text- und Musikkünsten von der Antike bis zur Gegenwart.23 Jenseits einer engeren erinnerungstheoretischen Ausrichtung haben sich Forschungsarbeiten aus verschiedenen Disziplinen, vor allem in den Literatur- und Geschichtswissenschaften, in den letzten Jahren vermehrt mit historischen Praktiken der Wissens- und Informationsverarbeitung auseinandergesetzt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in der Digitalisierung bieten sich neue Impulse für die Erforschung historischer Wissensorganisation, die sich zum Beispiel durch eine nutzerorientierte Perspektive auf Strategien und personalisierte Spuren des Wissenszugriffes und der Bewältigung von Informationsfülle auszeichnen. So sind diverse Studien erschienen, die sich medien-, material- und gattungsspezifisch mit frühneuzeitlichen und frühmodernen Formen des Lesens, Exzerpierens, Notierens und Bibliografierens beschäftigen.24 Vor allem im Kontext des (nicht nur) für die Frühe Neuzeit paradigma21 Aleida Assmann, Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin/New York 2004, S. 45–60, hier S. 47. 22 Einige der im Folgenden genannten Studien (Oesterle 2005, Erll und Nünning 2004, Erll und Nünning 2008, Heiser und Holm 2010, Erll 2008, Dickhaut 2004) sind im Kontext des bis 2008 durchgeführten Gießener Forschungsprojektes „Erinnerungskulturen“ entstanden. Vgl. Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005; Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin/New York 2004; Erll und Nünning 2008 (wie Anm. 12); Heiser und Holm 2010 (wie Anm. 14). Vgl. zudem Andrea von Hülsen-Esch (Hg.), ­Medien der Erinnerung in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 2009. Siehe auch grundlegend Astrid Erll, Cultural Memory Studies: An Introduction, in: Erll und Nünning 2008 (wie Anm. 12), S. 1–15; Kirsten Dickhaut, Intermedialität und Gedächtnis, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität, Berlin/New York 2004, S. 203–226; Andre Bartoniczek, Bilder, in: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 202–216. 23 Heiser und Holm 2010 (wie Anm. 14). 24 Siehe u. a. Alberto Cevolini (Hg.), Forgetting Machines: Knowledge Management Evolution in Early Modern Europe, Leiden/Boston 2016; Helmut Zedelmaier, Suchen und Finden vor Google: Zur

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tischen Umgangs mit Informationsfülle untersuchen sie Referenzbücher, Commonplace Books und Notizbücher auf gemeinsame Repertoires an (wissens-)gesellschaftlich wie auch bürgerlich-populär verbreiteten Verfahrenstechniken, die darauf abzielten, Wissen effizient zu filtern, zu sammeln und zu ordnen. Diese Perspektiven richten sich, will man Aleida Assmanns polares, aber zugleich durchaus dynamisch-interaktiv angelegtes Begriffsschema von ,Speichergedächtnis‘ und ,Funktionsgedächtnis‘ aufgreifen,25 auf die eigenen Funktionsräume und Vernetzungen der vielleicht nur scheinbar „amorphen Masse“26 des Speichergedächtnisses und damit auch auf Parameter, die dessen potenzielle Verfügbarkeit für das präsentische Funktionsgedächtnis prägen. Für den vorliegenden Zusammenhang sind diese letzteren Ansätze weniger quellenspezifisch als vor allem perspektivisch ein Impuls, um Erinnerungspraktiken und -diskurse in den Bildkünsten über engere kontextuelle memoriale Funktionsräume hinaus auch als Auseinandersetzungen mit historischen Formen der Informations- und Wissensorganisation zu begreifen. Im Zentrum der folgenden Analysen stehen Aspekte des Wandels externer Speichersysteme und damit zusammenhängende Fragen nach der (Neu-)Strukturierung und effizienten Bewältigung von Wissen in schriftlichen und visuellen Referenzsystemen, aber auch Vorstellungen von den Kapazitäten und Aufgaben des menschlichen Gedächtnisses und der Erinnerungskraft in Kunst und Kunsttheorie und schließlich auch personalisierte Erinnerungs- und Andenkenskulturen um 1800 und deren selbstreferenzielle Ästhetik. Es werden auf diese Weise Forschungsrichtungen zusammengebracht, die die Vielschichtigkeit und Mehrseitigkeit memorialer Prozesse in ihrem komplexen Wechselverhältnis zu den Bildkünsten und der Kunsttheorie von verschiedenen, aber auch überlappenden Perspektiven offenlegen sollen. Dieses Feld kann und soll thematisch wie methodisch in diesem Rahmen weniger abgesteckt als geöffnet werden, um mit den zusammengeführten Einzelbetrachtungen historischer Erinnerungsformen, -theorien Meta­datenproduktion im 16. Jahrhundert, in: Ann Blair und Anja-Silvia Goeing (Hg.), For the Sake of Learning. Essays in Honor of Anthony Grafton, Bd. 1, Leiden/Boston 2016, S. 423–440; Frank Grunert und Anette Syndikus (Hg.), Wissensspeicher der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen, Berlin/Boston 2015; Richard Yeo, Notebooks, English Virtuosi, and Early Modern Science, Chicago 2014; Karl A. E. Enenkel (Hg.), The Artist as Reader. On Education and Non-Education of Early Modern Artists, Leiden/Boston 2013; Elisabeth Décultot (Hg.), Lesen, Kopieren, Schreiben. Leseund Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2014 (frz. Erstausgabe Paris 2003); Ann Blair, Too Much to Know: Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven 2010; David Allan, Commonplace Books and Reading in Georgian England, Cambridge/ New York 2010; siehe auch den Beitrag von David Allan in diesem Band; Lucia Dacome, Noting the Mind: Commonplace Books and the Pursuit of the Self in the Eighteenth Century, in: Journal of the History of Ideas 65 (2004), Nr. 4, S. 603–625; Helmut Zedelmaier, Frank Büttner und Markus Friedrich (Hg.), Sammeln – Ordnen – Veranschaulichen. Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, Münster/Hamburg/Berlin/London 2003. 25 Siehe oben, Anm. 18. 26 Assmann beschreibt das Speichergedächtnis auch als „,amorphe Masse‘, jene[n] Hof ungebrauchter, nicht-amalgamierter Erinnerungen, der das Funktionsgedächtnis umgibt“. Assmann 1999 (wie Anm. 6), S. 136.

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und -praktiken verschiedene Ausgangspunkte auch für künftige Untersuchungen vorzuschlagen. Die fünf Abschnitte des Buches folgen größtenteils einer chronologischen und thematischen Ordnung, innerhalb derer es Schnittmengen gibt. In der ersten Sektion, „Erinnern und Gedächtnis. Medialität und Materialität“, die einführend philosophischen Problemfeldern des Erinnerns gewidmet ist, diskutiert Katia Saporiti erkenntnistheoretische Konzepte des psychologischen Erinnerungsbegriffs unter besonderer Berücksichtigung repräsentationalistischer Erinnerungstheorien: Was heißt es, wenn wir uns erinnern, und welche Formen nehmen unsere Erinnerungen an? Persönlichen Erinnerungen an Tatsachen haftet, wie die Autorin zunächst grundsätzlich darlegt, aus empirischer Perspektive ein Moment der Vergangenheit an, indem sie auf eine zuvor gemachte Erfahrung (des Wissenszuwachses) zurückgehen. Indem sie zudem „Erkenntnisgründe“ (Saporiti) liefern, implizieren sie, unabhängig von der prinzipiellen Möglichkeit der Fehlbarkeit der Erinnerung, Wissen und Wahrheit. Vorstellungen von der Funktion und Form von Erinnerungen als gespeicherte und wiederaufrufbare Ideen indes, wie sie in repräsentationalistischen Konzepten im 17. und 18. Jahrhundert etwa von John Locke und David Hume entwickelt wurden, bereiten gerade dann Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die Beziehung einer mentalen Idee zu dem ihr zugrunde liegenden erinnerten Gegenstand genauer zu definieren. Dies betrifft etwa Ähnlichkeitsbeziehungen mentaler Repräsentationen, wenn diese Eindrücke von Gegenständen, aber auch die Gegenstände selbst repräsentieren sollen. Räumliche und visuelle Metaphern prägen auch in der Gegenwartssprache bildliche Vorstellungen über die mentale Präsenz von Erinnerungen. Doch jenseits repräsentationalistischer Theorien werden in gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskursen andere Perspektiven verfolgt, wenn es darum geht, Erinnerungen als materielle Spur zu beschreiben: „Fragen wir uns heute nach der Materialität und Medialität des Erinnerns, so müssen wir uns entweder mit den neurophysiologischen Grundlagen des Erinnerns befassen oder darüber nachdenken, wie die Artefakte und Medien funktionieren, derer wir uns bedienen, um uns zu erinnern“ (Saporiti).

Die zweite Sektion, „Ordnen und Sichtbarmachen. Frühneuzeitliche Wissensvermittlung im Umbruch“, beschäftigt sich mit Strategien der Ordnung und Vermittlung von Wissen in Bild- und Textwerken der Frühen Neuzeit. Einen Schwerpunkt bildet die Frage nach neuen Formen des Umgangs mit der wachsenden Fülle und Vielfalt an Information in der Buchkultur des 17. Jahrhunderts.27 Andreas Gormans beschreibt in seinem Artikel „Vergessene Bilder, erinnerte Metaphern. Mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche zwischen memoria passionis und encyclopédie“ mit einem breiten Fokus auf mittelalterliche wie frühneuzeitliche Bildprogramme den allmählichen Rückgang mnemotechnischer Traditionen im Zeichen eines gewandelten, zunehmend empiristischen und 27 Siehe auch oben, Anm. 9.

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enzyklopädischen Wissensverständnisses. Mittelalterliche kosmografische Diagramme spiegeln aus gedächtnistheoretischer Sicht den Versuch, ein theologisch-naturphilosophisches Wissens- und Weltbild unter den aus der antiken Tradition adaptierten Prinzipien der ars memorativa als „statischen, einheitlichen und topisch geordneten Zusammenhang“ (Gormans) zu konstruieren. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts schwindet die Bedeutung mnemotechnischer Traditionen. Es entwickeln sich vielfältige Ordnungssysteme, die in der Informationsfülle einer erstarkenden Buchdruckkultur auch von neuen Praktiken der ars excerpendi begleitet werden. Im 18. Jahrhundert schließlich stehen enzyklopädische Wissensordnungen für eine zunehmende Ausdifferenzierung und Partikularisierung von Wissensgebieten. Damit entstehen, wie Gormans aufzeigt, auch andere Wissensbilder, die darauf angelegt sind, die prinzipielle Polyperspektivität des Weltwissens zu repräsentieren. Spiegelt sich im panoramatischen Bildmodus der Weltkarte bis ins 17. Jahrhundert noch der Versuch, die Vielfalt der Wissensgebiete als Einheit zu erfassen, prägt das sich im 18. Jahrhundert schließlich durchsetzende Bild des Baumes, das in enzyklopädischen Baumdiagrammen zur Anwendung kommt, nach Gormans umso stärker die Idee des kontinuierlichen Wachsens und Sichverzweigens der Wissenschaften. Beleuchtet Gormans aus diachroner Perspektive die künstlerische Formulierung und Metaphorisierung makrokosmischen Weltwissens, beschäftigt sich Lisa Oberli am Beispiel von Robert Hookes Micrographia mit der Vermittelbarkeit des Mikrokosmos an der gerade in der Frühen Neuzeit fruchtbaren Schnittstelle künstlerischer und wissenschaftlicher Bildproduktion. Hooke, der seinerseits auch eine Gedächtnistheorie entwickelte,28 bringt im Vorwort seiner 1665 veröffentlichten Micrographia seine Skepsis gegenüber dem (aus seiner Sicht fehlbaren) menschlichen Gedächtnis zum Ausdruck und unterstreicht programmatisch die in seinem Werk vertretene empirische, mikro­skopische Naturforschung als Korrektiv bzw. Schärfung der menschlichen Sinnesleistungen.29 Verschiedentlich haben kunsthistorische und wissenschaftshistorische Forschungen diskutiert, welche wissensgenerierende Funktion die in Hookes Werk prominenten grafischen Bildtafeln einnehmen, um diesen neuen, empirischen Blick anschaulich und 28 Hooke entwarf eine Theorie des menschlichen Gedächtnisses, die zwar traditionelle Vorstellungen vom Gedächtnis als einem mentalen, mit Fantasie und Verstand verbundenen Speicher aufgreift, sich andererseits aber durch ein spezifisches Interesse an der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Quantifizierbarkeit von Erinnerungen auszeichnet. So geht er u. a. davon aus, dass sich Erinnerungen als eine lange Kette aneinanderreihen, deren letztes, von der Seele am weitesten entferntes Glied die älteste Erinnerung darstellt, die ein Mensch somit am Beginn seines Lebens abgespeichert hat. R ­ obert Hooke, Lecture explicating the Memory, and how we come by the notion of Time. ­Lecture, Read at meetings of the Royal Society, May–June 1682 (zuerst ersch. posthum in: Richard ­Waller [Hg.], The Posthumous Works of Robert Hooke […], London 1705, Lectures of Light, Sect. VII, S. 138–148), hg. u. komm. von Deborah Taylor-Pearce, Time, Soul, Memory, 2003, URL: http://www.she-­philosopher.com/PDFs/hooke_tsm.pdf [letzter Zugriff am 10. Mai 2017]. Siehe zu ­Hookes Gedächtniskonzept auch Draaisma (wie Anm. 7), S. 49–67 sowie den Beitrag von Lisa Oberli in diesem Band, Anm. 42. 29 Siehe hier im Einzelnen die Verweise im Beitrag von Lisa Oberli in diesem Band, Anm. 39.

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zugleich persuasiv zu vermitteln.30 Oberli beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der in diesem Zusammenhang bedeutenden Reichweite verschiedener, einerseits rhetorischer, andererseits empiristischer evidentia-Konzepte, die ihrer These zufolge bei Hooke indes nicht isoliert werden können, sondern vielmehr in „Koexistenz“ bzw. als „Überlagerungen“ auftreten. So greifen die Bildtafeln der Micrographia vielfach auf Bildtraditionen der rhetorischen evidentia zurück; sie sind dabei „an eine gleichsam synästhetische Wahrnehmungserfahrung gebunden, durch welche die verschiedenen Sinne und ihr Zusammenspiel reflektiert werden“ (Oberli). Der dritte Beitrag in dieser Sektion widmet sich ebenfalls der Schwellenzeit des 17. Jahrhunderts und greift aus anderer Perspektive dabei den Aspekt der Pluralisierung von Darstellungsmodi auf. Valeska von Rosen analysiert in ihrem Aufsatz Giovanni Pietro Belloris Strategien der Speicherung, Anordnung und Vermittlung von Wissen im Umgang mit und in Abgrenzung zur Vasari’schen Tradition der Vitenschreibung. So legt sie dar, dass Bellori in seinen 1672 erschienenen Vite de’ pittori, scultori et architetti moderni31 vor dem Hintergrund wachsender historiografischer Informationsfülle und damit einhergehender neuer Kulturen der literarischen Wissensvermittlung neue Formen der Künstlerbiografik entwickelt, die sich von den kanonischen Setzungen Vasaris32 distanzieren. Auf struktureller Ebene zeigt sich dies an der auf zwölf Viten konzentrierten Gesamtarchitektur des Werkes, das in der verdichteten Form eine beispielhaft argumentierende und auf Veränderbarkeit angelegte Darstellung „jenseits von Linearität und Teleologie“ (von Rosen) verfolgt. Auf der Binnenebene der einzelnen Viten wiederum äußert sich die Distanz zur tradierten monolithischen Normierung in einer Vielstimmigkeit der künstlerischen Werturteile. Während sich einige von Belloris Viten noch stärker normativ auf Vasari beziehen, um in der Übernahme bestimmter Termini und Topoi die eigene Argumentation zu bekräftigen, verfolgen andere Viten, wie die Autorin zeigt, keine synthetisierenden normierenden Prinzipien: Abschließende Urteile werden vermieden oder weichen einer Pluralität von Meinungen verschiedener Autoren. Von Rosen sieht in dieser veränderten Struktur ein für diese Zeit charakteristisches, in zahlreichen historiografischen Werken etabliertes Bemühen um effiziente und konzise Wissensvermittlung angesichts einer zunehmend unüberschaubaren Fülle publizierter Wissensordnungen. Der Umgang mit und die effiziente Filterung von Wissen für literarische und künstlerische Produktions- und Rezeptionsvorgänge für die Zeit nach 1700 ist das Thema der sich anschließenden Sektion „Auswählen und Bilden. Wissensverarbeitung im 18. Jahrhundert“. Dieser Abschnitt beginnt mit dem Beitrag von David Allan, der sich der Kultur und Praxis britischer Commonplace Books im 18. Jahrhundert zuwendet. Commonplace

30 Siehe zu diesen Referenzen die Ausführungen im Beitrag von Lisa Oberli in diesem Band. 31 Giovanni Pietro Bellori, Le Vite de’ pittori, scultori et architetti moderni, Rom 1672. 32 Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani […], 2 Bde., Florenz 1550.

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Books (im deutschsprachigen Raum auch als Kollektaneenbücher bekannt) waren eine im 18. Jahrhundert gesellschaftlich breit kultivierte Form des individuell angelegten Exzerpt- und Notizbuches, um die Fülle gelesenen Wissens nach verschiedenen Kriterien zuzuschneiden, zu ordnen und zu bewahren. Allan legt in seinem Beitrag unter anderem dar, wie die Gattung des Commonplace Book im 18. Jahrhundert zunehmend in Bewegung gerät und eine wachsende Pluralisierung, Partikularisierung und ,Profanisierung‘ erfährt, die eine singuläre Funktionszuschreibung oder lineare Definition erschwert. Auf struktureller Ebene spiegelt sich diese Entwicklung, wie Allan erläutert, auch in neuen Ordnungspraktiken innerhalb der Commonplace Books, die vielfach eine von John Locke entwickelte Methode aufgreifen.33 Vor dem 18. Jahrhundert waren Commonplace Books in der humanistischen Tradition oft durch lateinische Termini so vorstrukturiert, dass zu memorierende Zitate nach fixierten Kategorien eingetragen werden konnten. Demgegenüber stand das von Locke vorgeschlagene System, das eine alphabetisierende Ordnung mit einer offenen Indexierung kombinierte, für einen zunehmend dynamischen und auf individuelle Kontinuität angelegten Gebrauch von Commonplace Books, der eine prinzipiell offene, neue (Lese-)Erfahrungen fortwährend inkludierende Speicherpraxis bedeutete. Mit Blick auf die im 18. Jahrhundert schließlich so verbreitete offene Kultur des ,Commonplacing‘ ist letztlich, so resümiert David Allan, auch zu fragen, inwieweit sie über die konkrete Anwendungspraxis hinaus eine neue Art des Lesens prägte, indem sie Menschen dazu anregte, „to scan and skim texts in a peculiar way, with an eye constantly on the lookout for materials suitable for copying and subsequent consideration“. Dass Vorstellungen über das Speichern, Wiederaufrufen und Verarbeiten künstlerischen Wissens im 18. Jahrhundert in Bewegung geraten und eine allmähliche Abkehr von älteren rhetorischen Modellen erkennen lassen, erörtert der nachfolgende Beitrag von Jan Blanc, „Willkürliches oder unwillkürliches Erinnern? Praktiken und Debatten um das Entlehnen in den Künsten im Großbritannien des 18. Jahrhunderts“. Der Autor beschäftigt sich mit dem vom englischen Maler Sir Joshua Reynolds theoretisierten und praktizierten Konzept des borrowing bzw. des ,Entlehnens‘ als einer Form der künstlerischen Auseinandersetzung mit den im Bildgedächtnis gespeicherten Werken älterer Meister. Der Beitrag zielt darauf ab, die dem borrowing zugrunde liegenden Ideen von den Funktionen des Gedächtnisses und der Wirkmacht der Erinnerungen im künstlerischen Schaffensprozess zu analysieren. Die in der rhetorisch fundierten kunsttheoretischen Tradition kanonisierten Vorstellungen, dass das Wahrnehmen, Abspeichern und Sicheinverleiben künstlerischer Vorbilder im Gedächtnis des Künstlers die grund­legende Voraussetzung für die Erzeugung einer gelungenen eigenen inventio darstellten, werden, wie Blanc aufzeigt, in Reynolds’ Konzept zwar nicht aufgegeben; in den An­­nahmen hin33 John Locke, A New Method of a Common-Place-Book, Translated out of French from the Second Volume of the Bibliothèque Universelle, in: Peter King and Anthony Collins (Hg.), Posthumous Works of Mr. John Locke, London 1706, S. 311–336.

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sichtlich der mentalen Verarbeitungsprozesse und der jeweiligen Aufgaben von Fantasie und Gedächtnis kommt es in den Überlegungen des englischen Akademiepräsidenten jedoch zu Verschiebungen. So kommen neue, von der zeitgenössischen assoziationisti­ schen Philosophie geprägte Gedächtniskonzepte zum Tragen, die die Komplexität des unwillkürlichen Assoziationsflusses von Erinnerungen stärker berücksichtigen und ein dynamischeres Zusammenwirken von Fantasie und Gedächtnis implizieren.34 Dies spiegelt sich Blanc zufolge auch auf der Ebene der Kunstrezeption: Wenn sich Reynolds in seiner Porträtkunst auf bekannte künstlerische Vorbilder bezieht, tut er dies in einer ausdrücklichen Form, um „das kollektive Gedächtnis seiner Betrachter einzubeziehen“, sie „in ihrem Erwartungshorizont zu überraschen“ (Blanc) und so die Spuren seiner fortwährenden künstlerischen Auseinandersetzung in neuer Weise zu erhellen. Die paragonal bedeutsame Wirkkraft und Einprägsamkeit von Bildern im Kontext der didaktischen und moralisierenden Vermittlung religiösen Wissens steht im Zentrum des sich anschließenden Beitrags von Michael Thimann, „Gedächtnis und Gefühl. Bilderbibeln im 18. Jahrhundert“. Im Fokus stehen verschiedene Formen von Bilderbibeln für die Kinder- und Jugenderziehung sowie auf Bibelszenen bezogene religiöse Bilder. So befasst sich Thimann unter anderem mit Johann Hübners Biblischen Historien (erstmals erschienen 1714),35 den 60 Biblischen Geschichten (1774–1779 publiziert von dem Maler Johann Rudolph Schellenberg)36, Lavaters Bibeldichtung Jesus Messias (1783–86)37 und den mit bildkritischen Kommentaren Lavaters versehenen grafischen Bildwerken im Kontext dieses Werkes sowie schließlich den frühen Bilderbibelprojekten des nazarenischen Künstlers Friedrich Overbeck. Thimann geht es darum, den „Wandel von einer mehr rhetorisch hin zu einer sentimental bestimmten Gedächtniskultur“ nachzuzeichnen: Ist in Hübners Biblischen Historien noch ein rhetorisch fundiertes Gedächtniskonzept erkennbar, indem das über einzelne Geschichten des Alten und Neuen Testaments zu vermittelnde religiöse Wissen in moralisierenden exempla geordnet ist, setzen spätere Bilderbibeln ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Akzent viel expliziter auf eine empfindsame Sprache und die Bedeutung von Bildern, denen die Aufgabe zugeschrieben wird, an den Verstand wie an das Gefühl zu appellieren. Overbeck schließlich entwickelt in diesem Kontext den Begriff der ,einfachen und würdigen Vorstellungen‘, um damit eine klare, einprägsame und zugleich den Gegenstand mit Würde betrachtende Bildersprache zu bezeichnen. Das Gemüt des lesenden und sehenden Kindes erscheint bei ihm als eine tabula rasa, „auf der der Maler, der selbst

34 Siehe zur Imagination in der Kunsttheorie auch oben, Anm. 15. 35 Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und ­Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset, Leipzig 1714. 36 Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des alten Testamentes in Kupfer geäzt, Winter­t hur 1774; Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Historien des neuen Testamentes in Kupfer geäzt, Winterthur 1779. 37 Johann Caspar Lavater, Jesus Messias. Oder Die Evangelien und Apostelgeschichte, in Gesängen, 4 Bde. und Tafelband, Winterthur 1783–1786.

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werden muss wie ein Kind, das entscheidende Sentiment für die religiösen Gegenstände eintragen kann“ (Thimann). Die vierte Sektion des Buches, „Sehen und Verknüpfen. Künstlerische Reflexionen und Bildästhetiken des Erinnerns um 1800“, greift Aspekte des vorherigen Kapitels auf, verlagert den Fokus indes stärker auf die Untersuchung selbstreferenzieller materialund bildästhetischer Auseinandersetzungen mit memorialen Bildformen. Die in den hier versammelten Beiträgen diskutierten Bildobjekte verhandeln in spezifischer Weise das Wissen um und den ästhetischen Umgang mit einerseits tradierten, andererseits neuen, zunehmend popularisierten Modi visuellen Erinnerns. Reinhard Wegners Artikel „Strategien visueller Erinnerung. Karl Philipp Moritz und das Bildgedächtnis“ beschäftigt sich mit der Bedeutung von räumlicher Distanz in Moritz’ wahrnehmungsästhetischen Reflexionen zum Verhältnis von Imagination und Erinnerung. In seinen „Grundlinien zu einer Gedankenperspektive“, die 1789 in dem von ihm mit herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde erschienen,38 hebt Moritz die enge Bindung der Einbildungskraft an die Erfahrung räumlicher und zeitlicher Distanz hervor. Die hier entwickelten wahrnehmungsästhetischen Betrachtungen finden sich auch in Moritz’ Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 in literarischer und bildkünstlerischer Form reflektiert. Sie werden dabei spezifisch verknüpft mit dem um diese Zeit in der Reiseliteratur präsenten Problem der Vermittelbarkeit der literarisch kanonisierten Stätten Italiens und damit in Verbindung stehender visueller Topoi, wie Wegner am Beispiel der den Bänden beigefügten vier Kupferstiche diskutiert. In analoger Form verbindet jeder Stich mit zwei unterschiedlichen Bilddarstellungen zwei Blickweisen auf Italien: In dieser Gegenüberstellung werden „subjektive Wahrnehmung und unterschiedliche optische Bedingungen […] dem Bildbetrachter bewusst gemacht“ (Wegner). Gerade in der durch die Bildpaare ermöglichten Kombination von Nah- und Fernsicht, von einer Darstellung des Gegenstandes und einer Darstellung des Blickes auf den Gegenstand wird Wegner zufolge die Vermittlung künstlerischer Italienbilder zu einer selbstreferenziellen ästhetischen Auseinandersetzung mit den visuellen Modalitäten des Wahrnehmens und Erinnerns. Der folgende Beitrag von Miriam Volmert befasst sich aus anderer Perspektive ebenfalls mit visuellen Erinnerungsbildern der Italienreise. Im Fokus des Beitrags stehen bemalte Faltfächer, die vor allem im ausgehenden 18. Jahrhundert in Italien für den touristischen Handel produziert und von europäischen Grand-Tour-Reisenden als Erinnerungsstücke und Geschenke erworben wurden. Fächer dieser Art weisen, wie der Beitrag exemplarisch diskutiert, eine prägnante und zugleich komplexe Bildsprache auf, die mit zeitgenössischen Kunst- und Bildwerken in engem Austausch steht. Fächerblätter, die bedeutenden römischen Sehenswürdigkeiten gewidmet sind, kombinieren beispielsweise häufig ornamentale Groteskenmotive mit einzelnen aneinandergereih38 Karl Philipp Moritz, Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 7 (1789), Teil 3, S. 81–82.

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ten Bildkartuschen, in denen aus der zeitgenössischen Malerei bekannte Landschaftsund Ruinendarstellungen präsentiert werden. Die Stätten der Italienreise werden durch diese Bildreihungen als partikularisierte, medial gespeicherte und assoziativ erschließbare Erinnerungsorte offengelegt. Zugleich korreliert die Präsentationsform der über die Groteskenelemente miteinander verketteten Einzelbilder auch mit dem Moment der körpereigenen Bewegung und des sukzessiven Auffächerns. Die im 18. Jahrhundert komplexen sozialen und künstlerischen Bedeutungsfacetten und Rezeptionsweisen des Fächers werden in diesem Beitrag auch über den Kontext der Grand Tour hinaus eingehender untersucht. So wird aus verschiedenen Perspektiven diskutiert, inwieweit Fächer, gerade „indem sie als Schnittflächen modischer Accessoires und Souvenirobjekte, sozial codierter Körpergesten und künstlerischer Bildformeln betrachtet werden können, als visuelle wie körperliche Erinnerungsträger und -auslöser fungierten“ (Volmert). Eine intimere, private, gleichwohl gesellschaftlich hoch codierte Art der Bildbetrachtung untersucht Hanneke Grootenboer am Beispiel von Erinnerungsbildern, die am Körper getragen werden. In ihrem Artikel befasst sie sich mit den kommunikativen wie erinnerungsstiftenden Funktionen verschiedener Formen von Miniaturporträts im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Im Zentrum stehen der um diese Zeit aufkommende spezifische Typus der Augenminiatur und verwandte Formen wie der wesentlich seltenere Typus der Mundminiatur. Was für eine Form der privaten Erinnerung an einen Menschen entsteht, wenn dieser durch ein einzelnes Auge porträtiert wird? Um diese Frage eingehender zu diskutieren, geht Grootenboer zunächst auf die Gattung des Miniaturbildnisses im 18. Jahrhundert ein. Miniaturporträts sind, so legt sie dar, als Elemente der gesellschaftlich-privaten Kommunikationskultur weniger als ,statische‘ Bildnisse aufzufassen denn als bewegte, „evokative Objekte“, die im Kontext der intimen Konversation nach einer Korrespondenz verlangen. Die Augenminiatur nimmt in dieser Kultur eine besondere Rolle ein, indem sie sich in gewisser Weise auch aus der Bildnisgattung herauslöst: So verweist eine Augenminiatur nicht allein als pars pro toto auf das abwesende Gesicht einer Person; vielmehr steht sie in der appellativen Expressivität des (zurück)schauenden Auges für einen „greifbar gemachten“ Blick, „eine Liebesgeste, eine fortwährende Antwort auf eine vorangegangene Frage und eine Bitte um Erwiderung“ (Grootenboer). Die Gattung des Miniaturbildnisses und die mit ihr verbundenen Vorstellungen, die private Erinnerung an den Porträtierten geschützt zu bewahren und zugleich verfügbar mit sich zu tragen, ist das Thema des folgenden Beitrags. Patrizia Munforte beschäftigt sich in ihrem Artikel mit Beziehungen zwischen gemalten Miniaturbildnissen und frühen fotografischen Porträts in Nordamerika und beleuchtet insbesondere die vielseitigen Verschränkungen traditioneller und neuer Erinnerungspraktiken. Ausgangspunkt des Beitrags sind fotografische Bildnisse, in denen die Porträtierten ein kleines Etui in den Händen halten, das wiederum als ein für diese Zeit üblicher Schutzbehälter ebensolcher Porträtfotografien identifiziert werden kann. Dieses Bildelement ist Munforte zufolge nicht allein ein Zeugnis der zeitgenössischen fotografischen Materialkultur. Vielmehr

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handelt es sich hier um eine Bildformel, die mit der Bild-, Memorial- und Materialtradition der Miniaturmalerei eng verwoben ist und dazu dient, „die porträtierte Person als Mitglied einer bürgerlichen Gemeinschaft in Szene zu setzen, deren tradierte Trauer- und Erinnerungspraktiken einen wesentlichen Teil des kulturellen Selbstverständnisses ausmachen“ (Munforte). Derartige Schutzetuis wurden, wie die Autorin darlegt, nicht erst seit der Einführung der Daguerreotypie produziert, sondern waren Teil eines seit dem 18. Jahrhundert in Nordamerika bestehenden, zunächst für gemalte Miniaturbildnisse entwickelten Marktes. Die mit der Materialkultur des Etuis kultivierten Vorstellungen einer tragbaren und zugleich kostbaren, geschützten Erinnerung wurden so auch auf die fotografische Bildproduktion übertragen. Munforte erörtert weiterhin am Beispiel verschiedener zeitgenössischer fototheoretischer Abhandlungen, die auf die besondere erinnerungsstiftende Bedeutung der Daguerreotypie abzielen, dass neue, medienspezifische Metaphern etablierte memoriale Topoi der Porträtmalerei aufnehmen: Fotografische Materialisierungsprozesse stehen nun bildhaft für eine präzise, unfehlbare Bildwiedergabe, und so ist es die „Beständigkeit und Unzerstörbarkeit“ (Munforte) der Daguerreotypieplatte, die die Erinnerung an einen Menschen dauerhaft vor dem Ver­ gessen und der Vergänglichkeit sichern kann. In der folgenden Sektion, „Erinnern und Gegenwart. Historienbilder im Zeichen von Transnationalität und Transkulturalität“, schließt das Buch mit dem Beitrag von Bettina Gockel. Dieses Kapitel bildet zusammen mit dem Beitrag von Katia Saporiti eine Klammer, die sich von der philosophischen Erörterung des Themas zur zukünftigen Ausweitung (kunst)historischer Forschungen spannt. Gockels Beitrag geht von einer institutio­ nellen Innovation aus – nämlich der Gründung eines Museums für afroamerikanische Geschichte und Kultur (National Museum of African American History and Culture, NMAAHC) in Washington, DC, eröffnet im Jahr 2016. Zuvor gab es keine Institutio­ nalisierung der Erinnerung an die Geschichte von Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten vom globalen Sklavenhandel über den amerikanischen Bürgerkrieg bis hin zum Civil Rights Movement. Der Beitrag von Gockel erinnert daran, dass im 18. Jahrhundert zunehmend Künstler an die Öffentlichkeit traten, die das Medium des Bildes aktiv benutzten, um an die Existenz schwarzer Menschen als Akteure von Gemeinschaften zu erinnern, lange bevor sie Bürgerrechte erhielten. John Singleton Copley, ein Künstler, der eine transatlantische Bildsprache entwickelte, war prädestiniert dafür, in der Gattung des Historiengemäldes eine fiktional aufbereitete Erinnerungspraxis zu erfinden, die erst am Beginn des 21. Jahrhunderts institutionell etabliert werden sollte – als ­Evidenz- und Authentizitätscharakter historisch belegbarer Fakten.

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Erinnern und Gedächtnis. Medialität und Materialität

Katia Saporiti

Erinnerung und Repräsentation

So, wie es kein Wissen gibt, ohne dass es jemanden gibt, der etwas weiß, so existiert auch keine Erinnerung, ohne dass sich jemand an etwas erinnert.1 Jedes Reden von Erinnerung, das sich nicht mehr auf Individuen zurückführen lässt, die sich erinnern, ist entweder Unsinn oder in einem übertragenen Sinn zu verstehen. Wir reden zwar davon, dass wir Erinnerungen festhalten – unter anderem in Büchern und Bildern, auf Fotografien und Tonträgern und mithilfe elektronischer Speichermedien –, aber keines dieser Medien erinnert sich an etwas oder ist selbst eine Erinnerung. Die beruhigende Vorstellung, man könne Wissen vor dem Vergessen bewahren, Erinnerungen vor ihrer Auslöschung, indem man Bücher in Bibliotheken stellt oder gewaltige Datenmengen auf elektronischen Medien speichert, ist trügerisch. Wer viele Bücher besitzt, die er nicht liest, weiß auch nicht mehr als jemand, der kein Buch besitzt. Bilder, die niemand anschaut oder versteht, halten keine Erinnerung lebendig. Die Existenz, das Vorhandensein von Erinnerungen hängt wesentlich davon ab, dass jemand sich erinnert. Kein materieller Gegenstand ist Wissen oder selbst eine Erinnerung. Bestenfalls kann er eine Erinnerung für oder an jemanden sein, aber er kann niemandes Erinnerung sein. Wer nach der Materialität und Medialität des Erinnerns fragt, der muss sich also zunächst einmal für Individuen interessieren, die sich erinnern. Er sollte die physischen und physiologischen Grundlagen derjenigen ihrer Zustände, Fähigkeiten und Handlungen untersuchen, die wir als wesentlich erachten für das Erinnern. Es ginge ihm demnach in erster Linie um die neurophysiologischen Grundlagen bestimmter kognitiver Leistungen. Tatsächlich achtet die zeitgenössische philosophische Debatte um das Erinnern sehr genau darauf, was die Neurowissenschaften zu diesem Thema zu sagen haben. Die Frage nach der Materialität und Medialität des Erinnerns wird aber sofort interessanter, betrachtet man nicht allein das sich erinnernde Individuum, sondern nimmt zusätzlich weitere Individuen und Einzeldinge in den Blick. Wir erinnern uns ja nicht nur selbst, beispielsweise daran, was in einer Sitzung am Vortag besprochen wurde, wir erinnern auch andere daran, und wir tun dies auf verschiedenste Weise und mit den 1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 5. Dezember 2014 anlässlich der Tagung Memoria und Souvenir. Medialität und Materialität des Erinnerns in den Künsten, 1700–1800 in Zürich.

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unterschiedlichsten Hilfsmitteln – schriftlichen und audiovisuellen Aufzeichnungen beispielsweise oder bildlichen Darstellungen. Wir ersinnen auch ausgeklügelte Verfahren, um unserem Gedächtnis und Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. Wir erinnern uns nicht nur an viele Dinge, die Dinge erinnern uns. Materielle Gegenstände werden uns zu Erinnerungen. All dies hat die abendländische Philosophie im 18. Jahrhundert mit wenigen Ausnahmen meist nur am Rande beschäftigt. Das mag daran liegen, dass der bloße Begriff des Sich-Erinnerns allein schon eine Fülle weitreichender Fragen aufwirft, und daran, dass die Fähigkeit, sich zu erinnern, für uns Menschen von derart grundlegender Bedeutung ist. Sie scheint die Bedingung beinahe jeder anderen kognitiven Fähigkeit zu sein. Ohne die Fähigkeit, etwas im Gedächtnis zu behalten, könnten wir weder etwas l­ernen noch etwas erkennen. Wir könnten vom individuellen Sinneseindruck nicht abstrahieren und keine Begriffe bilden. Wir verfügten weder über Sprache noch über ein Bewusstsein unser selbst. Ende des 17. Jahrhunderts hat vor allem John Locke in seinem Essay ­Concerning Human Understanding hierauf aufmerksam gemacht. Als Empirist geht Locke davon aus, dass unser Geist, bevor wir durch die Sinne etwas erfahren, leer ist. Er gleicht einem unbeschriebenen Blatt Papier. Das Material des Denkens, unsere Vorstellungen oder Ideen, müssen erst gebildet werden. Wenn wir etwas mit den Sinnen wahrnehmen, dann gelangen erste Ideen (ideas) in unser Bewusstsein. Ausgehend von diesen ersten Sinneseindrücken bilden wir dann weitere Ideen. Aber das können wir nur, weil wir in der Lage sind, verschiedene Sinneseindrücke zu unterscheiden und im Gedächtnis zu behalten. Jede Perzeption, jedes Haben einer Idee, geht mit dem Bewusstsein einher, dass wir es sind, die diese Ideen haben, und jede unserer Handlungen mit dem Bewusstsein, dass es die eigene Handlung ist, die wir ausführen. Dieses alle unsere Bewusstseinsinhalte und Handlungen begleitende Bewusstsein ist es, was uns zu Personen macht, und das, was die Person, die wir gestern waren, und die Person, die wir heute sind, zu ein und derselben Person macht, ist die Erinnerung: die Erinnerung an die eigenen Bewusstseinsinhalte, die Erinnerung daran, dass wir selbst es waren, die dies und jenes gedacht, empfunden und getan haben. „[S]oweit ein vernunftbegabtes Wesen die Idee einer vergangenen Handlung mit demselben Bewußtsein, das es zuerst von ihr hatte, und mit demselben Bewußtsein, das es von einer gegenwärtigen Handlung hat, wiederholen kann, eben soweit ist es dasselbe persönliche Ich. Denn durch sein Bewußtsein von seinen gegenwärtigen Gedanken und Handlungen ist es augenblicklich für sich sein eigenes Ich. Es bleibt dasselbe Ich, soweit sich dasselbe Bewußtsein auf vergangene oder künftige Handlungen erstrecken kann. Der Abstand der Zeit oder der Wechsel der Substanz würde aus einem solchen Wesen ebenso wenig zwei Personen machen, wie ein Mensch dadurch zu zwei Menschen wird, daß er heute andere Kleider trägt als gestern, nachdem er zwischendurch längere oder kürzere Zeit geschlafen hat.“2 2

John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London 1690, Buch 2, Kap. 27, Paragraf 10; hier zitiert aus der Ausgabe John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, hg. von Reinhard Brandt, 4. Auflage, Hamburg 1981.

Erinnerung und Repräsentation     |

Die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts wird insbesondere auf die zentrale Bedeutung des Erinnerungsvermögens als Grundlage nahezu aller Verstandesleistungen aufmerksam und auf die Bedeutung der Erinnerung für die Identität der Person. Die philosophischen Theorien, die in dieser Zeit entwickelt werden, zeigen jedoch auch, wie viele Fragen der Begriff des Sich-Erinnerns aufwirft und vor welche Rätsel uns unsere Vorstellung vom Erinnern stellt. Ich werde mich im Folgenden deshalb auf einige Bemerkungen über das Sich-Erinnern beschränken, auch wenn die Materialität und die Medialität des Erinnerns dabei in gewisser Weise zu kurz kommen werden. Interessanterweise scheinen sich aber aus allgemeinen Überlegungen zum Erinnern und zu bestimmten Theorien des Erinnerns Hinweise darauf zu ergeben, dass gerade die Materialität und Medialität der Repräsentation (zum Beispiel durch Bild und Schrift) uns Schwierigkeiten bereiten, wenn es darum geht zu verstehen, was es heißt, sich zu erinnern.

I. Formen und Gegenstände des Erinnerns Sobald wir uns an einer Begriffsklärung versuchen, werden wir auf die Heterogenität dessen aufmerksam, was wir als Erinnerung bezeichnen. Eine in der Philosophie gebräuchliche Unterscheidung ist die zwischen sogenanntem dispositionalem und episodischem Erinnern. Vieles von dem, was wir erleben und erfahren, vergessen wir, anderes behalten wir im Gedächtnis. Wir können uns daran erinnern. Wir haben es nicht vergessen. Aber wir denken natürlich nicht die ganze Zeit an all das, was wir nicht vergessen haben. In diesem Sinn von Etwas-im-Gedächtnis-Behalten verfügen wir über einen großen Vorrat an Erinnerungen, der das übersteigt, was wir mit einem Mal im Bewusstsein zu fassen vermögen. In einem etwas anderen Sinn erinnern wir uns an vergangene Ereignisse oder an eine verstorbene Person, indem wir an sie denken. Geschieht dies absichtlich, sprechen wir davon, dass wir uns etwas in Erinnerung rufen. Beide Arten von Erinnern hängen miteinander zusammen. Nur wer sich an etwas (im dispositionalen Sinn) erinnert, kann es sich ins Gedächtnis rufen (und sich damit im episodischen Sinn daran erinnern); und nur wer sich etwas ins Gedächtnis rufen kann (sich im episodischen Sinn an etwas erinnern kann), hat es nicht vergessen (verfügt über eine Erinnerung im dispositionalen Sinn). Wer etwas behalten hat (sich im dispositionalen Sinn erinnert), ist disponiert, sich im episodischen Sinn daran zu erinnern. Dieser grundlegende, begriffliche Zusammenhang zwischen beiden Formen des Erinnerns wird durch mancherlei verkompliziert (wie etwa den Begriff des Unterbewusstseins, das Erinnerungen bergen mag, die sich nicht ohne Weiteres zutage fördern lassen), das wir hier jedoch außer Acht lassen wollen.3

3 Viele für die getroffene Unterscheidung scheinbar problematische Redeweisen lassen sich durch harmlose Ausdrucksweisen ersetzen. So kann die Rede von verschütteten Erinnerungen, die mit der Vorstellung einhergeht, diese könnten wieder geborgen werden, vermutlich durch diejenige von verlorenen und wiedergewonnenen Erinnerungen ersetzt werden.

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Wir erinnern uns an ganz verschiedene Arten von Dingen: an Geschehnisse, an Handlungen, an Personen, an Orte, an Gefühle. Manchmal erinnern wir uns an ein Gedicht, eine Melodie oder an ein Bild. Wir erinnern uns an Geschichten und an Argumente. Wir erinnern uns daran, etwas Bestimmtes getan, gesehen oder gedacht zu haben, aber auch daran, wo sich etwas befindet, wann etwas geschehen ist, warum es geschehen ist, und daran, wer etwas getan hat. Wir erinnern uns daran, wie etwas gemacht wird. Aber auch daran, wie etwas aussieht, klingt oder sich anfühlt. Wir erinnern uns an den Namen einer Person und an die Bedeutung eines Wortes. Kurz: Wir erinnern uns an Einzeldinge und an Eigenschaften, an Zustände, Ereignisse und Prozesse, an Konkretes und Abstraktes. Ontologisch gesehen scheint unser Erinnerungsvermögen nicht wählerisch zu sein. Vielerlei kann Gegenstand der Erinnerung werden.

II.  Erinnerung und Vergangenheit Oft wird angenommen, Erinnerungen beträfen grundsätzlich Vergangenes. Aber das stimmt nicht. Wir können uns an Dinge erinnern, die die Zukunft betreffen.4 Ich kann mich beispielsweise daran erinnern, dass ein Konzert morgen um 20:30 Uhr beginnen wird und dass mein Patenkind am Wochenende zu Besuch kommen wird. Wir können uns auch daran erinnern, dass Sachverhalte in der Gegenwart bestehen. Ich kann mich beispielsweise daran erinnern, dass gerade jetzt eine bestimmte Ausstellung eröffnet wird. Erinnerungen können also neben der Vergangenheit durchaus auch die Zukunft und die Gegenwart betreffen. Auch Zeitloses und sogenannte ewige Wahrheiten können Gegenstand des Erinnerns werden. So kann man sich an wissenschaftliche Generalisierungen, mathematische und logische Wahrheiten erinnern, an den Satz des Pythagoras oder daran, dass die Innenwinkelsumme im Dreieck 180 Grad beträgt. Philosophen vernachlässigen dies für gewöhnlich und konzentrieren sich auf die Erinnerung an Vergangenes. Als paradigmatische Fälle des Erinnerns werden Erinnerungen an vergangene Geschehnisse und Handlungen angesehen. Aber wir erinnern uns eben nicht nur an Dinge und Ereignisse, sondern auch daran, dass etwas der Fall ist, war oder sein wird. Es ist diese Rede vom ,Sich daran erinnern, dass‘, die auch die Zukunft und die Gegenwart zum Gegenstand möglicher Erinnerung werden lässt. Zwar ist es Philosophen im 17. und 18. Jahrhundert durchaus auch darum zu tun gewesen, dass wir uns an Tatsachen erinnern können, daran also, dass bestimmte Sachverhalte bestehen, aber weil sie dabei in erster Linie an Tatsachen dachten, die vergangene Ereignisse und Handlungen betreffen, an die wir uns gewissermaßen persönlich erinnern können, sind ihnen neben der Zukunft und der Gegenwart auch die in weiter

4 Viele der nachfolgenden Bemerkungen zum Begriff der Erinnerung folgen Überlegungen, die Norman Malcolm in seinen „Three Lectures on Memory“ anstellt (in: Norman Malcolm, Knowledge and Certainty, New York 1963). Zur Beobachtung, dass wir uns an Zukünftiges erinnern können, siehe u. a. ebd. S. 204, Anm. 1.

Erinnerung und Repräsentation     |

Vergangenheit liegenden Ereignisse als Gegenstand der Erinnerung aus dem Blick geraten. Denn ich mag mich daran erinnern, dass Napoleon in der Schlacht um Austerlitz siegte, aber natürlich kann ich mich nicht an die Schlacht selbst erinnern. Ich war ja nicht dabei. An die Schlacht von Austerlitz kann ich mich deshalb höchstens in dem Sinn erinnern, in dem ich mich auch an das morgige Konzert erinnern kann. Während wir also über Erinnerungen an Tatsachen verfügen, die die Vergangenheit, die Zukunft oder die Gegenwart betreffen, können wir persönliche Erinnerungen nur an das haben, das wir in der Vergangenheit selbst erlebt haben oder dem wir selbst begegnet sind. Die Behauptung, dass sich jemand an ein bestimmtes Ereignis erinnere, impliziert für gewöhnlich (nämlich immer dann, wenn ein persönliches Erinnern gemeint ist), dass er dem Ereignis beigewohnt hat oder jedenfalls in irgendeiner Form während dieses Ereignisses von ihm Kenntnis erlangt hat. Vielleicht können Sie sich an den Fall der Berliner Mauer erinnern, obwohl Sie nicht in Berlin waren, als die Berliner Mauer fiel. Dies schränkt die möglichen Gegenstände der persönlichen Erinnerung auf Vergangenes ein, genauer: auf dasjenige, das zu Lebzeiten des sich Erinnernden geschehen ist oder existiert hat und das erlebt zu haben, ihm begegnet zu sein oder davon erfahren zu haben er sich erinnern kann. Persönliche Erinnerungen gehen immer mit Erinnerungen an Tatsachen einher, die sich ohne Bezugnahme auf das eigene Erleben fassen lassen. Umgekehrt ist dies, wie wir bereits gesehen haben, nicht der Fall. Nicht alles, an das wir uns erinnern, ist von Erinnerungen begleitet, die eigene Erlebnisse oder Erfahrungen betreffen.5 Für die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts war die Fähigkeit des Menschen, sich an Tatsachen (insbesondere an die Geltung von Prinzipien) zu erinnern, in verschiedenen Zusammenhängen von zentraler Bedeutung. Dennoch hat sie sich in ihren Überlegungen zum Erinnern häufig auf persönliche Erinnerungen bzw. solche Erinnerungen konzentriert, die mit persönlichen Erinnerungen einhergehen. Im 19. und 20. Jahrhundert haben einige Philosophen nur die episodische persönliche Erinnerung an Dinge (und Ereignisse), die sie für epistemologisch grundlegend hielten, als echte oder eigentliche Erinnerung gelten lassen.6 Das entspricht aber nicht unserem Sprachgebrauch, und es passt auch nicht dazu, dass jede persönliche Erinnerung mit „unpersönlichen“ Tatsachenerinnerungen einhergeht. Für ein Nachdenken über Materialität und Medialität empfiehlt es sich jedenfalls nicht, den Begriff der Erinnerung einzuengen und nur das episodische Erinnern oder nur das persönliche Erinnern in den Blick zu nehmen. Ein starkes Motiv dafür, die Erinnerung daran, dass etwas der Fall ist, nicht als echte Erinnerung anzusehen, mag die Überzeugung sein, das Erinnern müsse doch etwas 5 Zu den Begriffen der persönlichen Erinnerung und der Erinnerung an Tatsachen vgl. Norman Malcolms „Three Forms of Memory“ und „A Definition of Factual Memory“ in Malcolm 1963 (wie Anm. 4). Malcolm bestimmt diese Begriffe allerdings etwas anders und vor allem präziser, als sie hier verwendet werden. 6 Dies gilt mit einigen Qualifikationen zum Beispiel für Bergson und Russell (Henri Bergson, M ­ atière et mémoire, Paris 1896; Bertrand Russell, The Analysis of Mind, New York 1921).

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mit der Vergangenheit zu tun haben. Es könne doch nicht sein, dass man sich an die Zukunft erinnere.7 Solche Formulierungen muten tatsächlich paradox an. Aber darauf ist ­erstens zu erwidern, dass derjenige, der die Erinnerung daran, dass etwas der Fall ist, als Er­innerung gelten lässt, sich keineswegs darauf festlegt, dass man sich in irgend­ einem mysteriösen oder paradoxen Sinn an die Zukunft erinnern kann. Vielmehr erinnern wir uns an alles, das wir nicht persönlich erlebt haben, ob es in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, auf diese Weise. Ich erinnere mich daran, wann ich geboren wurde. An meine Geburt erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich daran, dass das Konzert morgen stattfinden wird, aber ich habe in gewissem Sinn keine Erinnerungen an das Konzert, das noch gar nicht stattgefunden hat. Ich verfüge über keine persönliche Er­innerung an das Konzert. Zweitens, und das ist der wichtigere Punkt, hat Erinnerung tatsächlich immer etwas mit der Vergangenheit zu tun, und das gilt auch für die Erinnerung an Tat­sachen. Zwar bleiben Tatsachen immer Tatsachen – Tatsachen sind sozusagen zeitlos, es wird auch morgen und übermorgen noch der Fall sein, dass Sie heute diesen Vortrag ge­­ lesen haben –, aber dennoch ist der Begriff der Erinnerung (auch an Tatsachen) mit dem Begriff der Vergangenheit verwoben. Das Vergangene kommt allerdings nicht durch den Gegenstand der Erinnerung ins Spiel, sondern durch den Zeitpunkt, zu dem wir ihm begegnet sind bzw. von ihm erfahren haben. Es ist nicht das, woran man sich erinnert, was notwendigerweise in der Vergangenheit liegt, sondern der Zeitpunkt, zu dem man davon erstmals Kenntnis erlangt hat. Erinnern, gleichgültig an was und in welcher Form, kann man sich nur an etwas, das man zuvor erfahren oder gelernt hat – von dem man in irgendeiner Weise in der Vergangenheit Kenntnis erlangt hat. Ich erinnere mich daran, dass das Konzert morgen stattfindet, wann ich geboren wurde und dass Napoleon bei Austerlitz gesiegt hat, weil ich all diese Dinge in der Vergangenheit erfahren habe. Aber es wäre natürlich ganz falsch, hieraus zu schließen, dass jemand, der sich daran erinnert, wann die Schlacht um Austerlitz stattgefunden hat oder wann er selbst geboren wurde, sich in Wirklichkeit daran erinnert, wie er von diesen Daten Kenntnis erlangt hat, also beispielsweise daran, es gelesen zu haben oder es erzählt bekommen zu haben. An Tatsachen erinnern wir uns häufig, ohne uns gleichzeitig daran zu erinnern, wann und auf welche Weise wir von ihnen erfahren haben. Die Erinnerung an Tatsachen, das heißt an das Bestehen von Sachverhalten, kann deshalb nicht auf die Erinnerung an etwas reduziert werden, das man persönlich erlebt hat.

III.  Erinnerung und Wahrheit Manchmal wird von Erinnerung in einer Form gesprochen, die zulässt, dass man sich an etwas erinnern kann, das gar nicht stattgefunden hat. In diesem Sinn von Erinnern wäre der Umstand, dass Hannah sich daran erinnert, Gerda auf einer bestimmten Konferenz 7 Aristoteles, De Memoria et Reminiscentia, 449b.

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getroffen zu haben, damit vereinbar, dass Gerda gar nicht an der Konferenz teilgenommen hat. Man möchte in diesem Fall sagen, Hannah habe sich falsch erinnert. Aber diese Redeweise führt zu einer Reihe von Verwirrungen, und wir sollten sie beim philosophischen Nachdenken über das Erinnern vermeiden. Sie verleitet uns nämlich, über Fragen wie die folgenden nachzudenken: Angenommen, jemand erinnert sich daran, dass etwas der Fall ist – zum Beispiel daran, eine Kollegin getroffen zu haben. Welche Gründe haben wir dann anzunehmen, dass das, woran er sich erinnert, tatsächlich der Fall ist – dass er die betreffende Kollegin tatsächlich getroffen hat? Wenn Hannah sich an ein bestimmtes Ereignis erinnert, zum Beispiel daran, ihre Kollegin getroffen zu haben, wie können wir dann wissen, ob es dieses Ereignis tatsächlich gegeben hat, ob sie ihre ­Kollegin tatsächlich getroffen hat? Diese Redeweise und diese Fragen sind jedoch irreführend und fügen sich nicht zu einem konsistenten Gebrauch der relevanten Ausdrücke. Wir sollten sie durch präzisere Formulierungen ersetzen. Denn auf die Frage, woher sie wisse, dass Gerda an der Konferenz teilgenommen habe, kann Hannah antworten, sie erinnere sich, Gerda dort getroffen zu haben. Das kann sie deshalb, weil unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch zufolge Erinnerung häufig Wahrheit impliziert, und zwar in folgendem Sinn: Wenn sich jemand daran erinnert, dass etwas der Fall ist, dann ist es der Fall. Man kann sich nicht daran erinnern, dass etwas der Fall ist, was gar nicht der Fall ist – so, wie man nicht wissen kann, dass etwas der Fall ist, was nicht der Fall ist. Derjenige, der sich daran erinnert, dass er seine Kollegin getroffen hat, der hat sie getroffen. Wenn sich jemand an ein Ereignis erinnert, zum Beispiel das Treffen mit der Kollegin, dann hat dieses Ereignis stattgefunden. Man kann sich nicht an Ereignisse erinnern, die nicht stattgefunden haben. Erinnerung impliziert Wahrheit.8

IV.  Erinnerung und Wissen Tatsächlich scheint Erinnern deshalb auch Wissen zu implizieren. Wissen ist, so wollen wir der Einfachheit halber und einer langen Tradition folgend annehmen, wahre, gerechtfertigte Meinung. Wer etwas weiß, der glaubt etwas, der hat eine Meinung. Denn man kann nicht wissen, dass etwas der Fall ist, ohne zu glauben, dass es der Fall ist. Damit es sich bei der fraglichen Meinung um Wissen handelt, muss diese Meinung auch zutreffen, muss das, was geglaubt wird, wahr sein. Da bloßes richtig Raten, Aberglaube und Hellseherei uns nicht als Wissen gelten, muss derjenige, der etwas weiß, auch noch Gründe für seine Meinung haben oder sonst irgendwie gerechtfertigt sein, das zu glauben, was er da glaubt. Dreierlei muss also zusammenkommen, damit jemand etwas weiß. Damit

8 Vgl. Alfred Jules Ayer, The Problem of Knowledge, London 1956, S. 168; George Edward Moore, Philo­sophical Papers, New York 1959, S. 217; für eine Differenzierung der verschiedenen Implika­t io­ nen unterschiedlicher Redeweisen im Englischen siehe Norman Malcolm, „Memory and the Past“, in: Malcolm 1963 (wie Anm. 4), S. 189f.

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wir von Hannah korrekterweise sagen können, sie wisse etwas, zum Beispiel, dass sie ihre Kollegin getroffen hat, muss Hannah erstens glauben, dass sie ihre Kollegin getroffen hat. Es ist nicht gut möglich, von Hannah zu sagen, sie wisse zwar, dass sie ihre Kollegin getroffen habe, glaube es aber nicht. Hannah muss zweitens richtig liegen mit ihrer Meinung. Ihre Überzeugung, die Kollegin getroffen zu haben, muss wahr sein. Es muss tatsächlich der Fall sein, dass sie ihre Kollegin getroffen hat. Drittens schließlich muss Hannah einen Grund haben zu glauben, ihre Kollegin getroffen zu haben. Denn wer nur richtig rät, dem möchten wir kein Wissen zuschreiben. Erfreulicherweise können Erinnerungen uns solche, für das Wissen erforderliche Gründe liefern. Wer sich an das Treffen mit seiner Kollegin erinnert, verfügt über eine persönliche Erinnerung an ein Ereignis. Erinnern kann man sich nur an etwas, das es wirklich gegeben hat. Das Treffen hat also stattgefunden. Wer sich an das Treffen mit ­seiner Kollegin erinnert, erinnert sich auch daran, dass er die Kollegin getroffen hat. Er erinnert sich an eine Tatsache. Tatsachen aber können nicht falsch sein. Die Rede von ­falschen Tatsachen ist unsinnig. Etwas ist entweder eine Tatsache, oder es ist keine. Wer sich daran erinnert, dass er seine Kollegin getroffen hat, der ist auch der Meinung, seine Kollegin getroffen zu haben. Es ist unsinnig zu behaupten, jemand erinnere sich daran, dass etwas der Fall sei, glaube es aber nicht. „Ich erinnere mich daran, dich gesehen zu haben, aber ich glaube nicht, dich gesehen zu haben.“ Das kann niemand ernsthaft aufrichtig und mit Bedacht behaupten. Aber, und das ist der Witz an der Sache, wer sich daran erinnert, seine Kollegin getroffen zu haben, der glaubt nicht nur zutreffenderweise, seine Kollegin getroffen zu haben, er hat auch noch einen Grund zu glauben, er habe sie getroffen. Denn er erinnert sich ja daran, sie getroffen zu haben. Die Erinnerung an Tat­sachen, die mit jeder persönlichen Erinnerung einhergeht, impliziert also Wissen. Wer sich an etwas erinnert, der weiß etwas. Erinnerungen liefern uns epistemische Gründe, sogenannte Erkenntnisgründe. Das erklärt das Interesse, dass die philosophische Episte­mologie am Erinnern haben muss. (Umgekehrt gilt, dass jemand, der etwas weiß, sich auch daran erinnert – wenn auch nicht unbedingt im Sinne einer persönlichen Erinnerung.)

V.  Erinnerung und Irrtum Anders, als es vielleicht den Anschein hat, haben wir nun nicht einfach eine Reihe wichtiger epistemologischer Fragen vom Tisch gefegt oder ihre Antworten einfach vorausgesetzt, indem wir uns den Begriff des Erinnerns in geeigneter Weise zurechtgebogen haben. Manchen mag das Gefühl beschleichen, dass wir das Auftreten von Irrtümern im Zusammenhang mit Erinnerungen ausgeschlossen haben. Es mag aussehen, als könnten wir der Fehlbarkeit des Erinnerns nicht mehr gerecht werden. Aber das ist nicht der Fall. Zwar wird mitunter eingewandt, wer davon ausgehe, dass eine persönliche Erinnerung an ein Ereignis garantiert, dass das Ereignis stattgefunden hat, und dass die Erinnerung an eine Tatsache das Bestehen des entsprechenden Sachverhalts impliziert, der mache

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das Erinnerungsvermögen zu einem unfehlbaren Erkenntnisvermögen. Aber dieser Einwand ist unberechtigt. Unser Erinnerungsvermögen kann in vielerlei Hinsicht zu wünschen übrig lassen und ist mit Sicherheit fehlbar. Aber was auch immer es heißen mag, dass unser Erinnerungsvermögen fehlbar ist, eines heißt es ganz bestimmt nicht: Es heißt nicht, dass man sich an etwas erinnern kann, das nicht geschehen ist. Dass unser Erinnerungsvermögen fehlbar ist, heißt vielmehr, dass wir uns an vieles nicht erinnern, dass wir uns an manches nur lückenhaft erinnern und dass wir uns darüber irren können, ob wir uns an etwas erinnern oder nicht. Es scheint uns oft so, als erinnerten wir uns an etwas, an das wir uns gar nicht oder nur teilweise erinnern, mitunter sogar nicht erinnern könnten, weil es nicht geschehen ist. Wir meinen dann fälschlicherweise, uns zu erinnern, wir täuschen uns. Eine falsche Erinnerung ist nichts anderes als eine vermeintliche Erinnerung oder ein Komplex aus Erinnerung und vermeintlicher Erinnerung. In diesem Fall überschneiden einander, wie die Philosophin Mary Warnock es einmal ausgedrückt hat, Imagination und Erinnerung.9 Der enge Zusammenhang zwischen Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen wird aber auch an anderer Stelle deutlich. Manchmal erinnern wir uns besonders lebhaft und in einer Weise, die wir als eine Art von Wiedererleben beschreiben möchten. Wir scheinen dann vormalige Wahrnehmungseindrücke oder -empfindungen noch einmal zu haben. Ich erinnere mich genau, ich sehe es vor mir, möchten wir sagen. Oder wir erinnern uns an eine Melodie, die uns dabei durch den Kopf geht. Wie dieses Erinnern, das in der Philosophie als bildliches Erinnern oder Wahrnehmungserinnern bezeichnet wird, genau zu denken ist, ist eine interessante Frage, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. Ich möchte an dieser Stelle festhalten, dass eine falsche Erinnerung nur eine vermeintliche, also eigentlich keine Erinnerung ist und dass die Rede von falschen Erinnerungen ebenso irreführend ist wie die Rede von falschen Wahrnehmungen. Tatsächlich verfügen wir über eine Reihe sprachlicher Möglichkeiten, dem engen Zusammenhang zwischen Erinnerung und Wahrheit oder, um es technisch auszu­ drücken, dem Umstand, dass „erinnern“ ein faktives Verb ist, Rechnung zu tragen, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem wir eine absolute Zuverlässigkeit unseres Erinnerungsvermögens unterstellen. Während nämlich die Aussage ,Ich erinnere mich daran, dass Brendel sie am Klavier begleitete‘ logisch impliziert, dass Brendel sie am Klavier begleitete, implizieren die Aussagen ,Meiner Erinnerung nach ...‘ oder ,Soweit ich mich erinnere, hat Brendel sie am Klavier begleitet‘ nichts dergleichen.10 (Philosophen sprechen manchmal davon, dass Erinnerungen veridisch seien. Diese Rede ist harmlos, wenn alle Erinnerungen als veridisch angesehen werden und nicht zwischen veridischen und anderen Erinnerungen unterschieden wird. Wird angenommen, dass   9 Mary Warnock, Memory, London 1987, S. 12. 10 Malcolm macht eine entsprechende Beobachtung für englischsprachige Ausdrücke, vgl. Malcolm 1963 (wie Anm. 4), S. 189f.

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es auch Erinnerungen gibt, die nicht veridisch sind, ist sie aus den erwähnten Gründen missverständlich und führt zu begrifflichen Problemen.) Will man sich des Urteils darüber enthalten, ob man es mit einer Erinnerung zu tun hat oder nicht, kann man von einer mutmaßlichen oder augenscheinlichen Erinnerung sprechen. Die irreführende Frage, woher wir wissen, ob etwas, woran wir uns erinnern, auch tatsächlich geschehen ist, kann weniger irreführend und missverständlich wie folgt formuliert werden: ,Woher wissen wir, ob etwas, woran wir uns zu erinnern glauben, auch tatsächlich geschehen ist?‘ oder ,Woher wissen wir, ob eine mutmaßliche Erinnerung tatsächlich eine Erinnerung ist?‘ und vielleicht ,Woher wissen wir, ob eine mutmaßliche Erinnerung ­veridisch ist?‘ Um derlei Fragen beantworten zu können, muss man genauer über die Natur des Erinnerns nachdenken, und zwar nicht über seine physiologischen Grundlagen (die Materialität und Medialität des Erinnerns selbst), sondern darüber, was genau wir meinen und sagen wollen, wenn wir behaupten, wir erinnerten uns oder jemand anders erinnere sich. Insbesondere müssen wir uns fragen, wann wir korrekterweise von jemandem sagen können, er erinnere sich. Dabei ist es wichtig, sich durch die Vielfalt sprachlicher Wendungen, die sich keineswegs alle konsistent zusammenführen lassen und von denen einige deshalb gefahrlos nur in verschiedenen Kontexten gebraucht werden können, nicht in die Irre führen zu lassen und grundlegende begriffliche Zusammenhänge, die für unser Verständnis von Erinnern, Tatsache, Wahrheit und Wissen konstitutiv sind, nicht leichtfertig aufzulösen.

VI.  Erinnerung als Repräsentation des Gegenstands der Erinnerung Seit der Antike orientieren wir uns beim Reden und Nachdenken über das Erinnern, über das Erinnerungsvermögen und das Gedächtnis des Individuums an unseren Vorstellungen vom Bild oder Abbild – und zwar am Bild sowohl als physischem Gegenstand als auch als Repräsentation (als Bild von etwas). Ganz allgemein gilt, dass wir das Mentale mithilfe von Metaphern aus dem Bereich des Körperlichen beschreiben. Aber weder dies noch der Umstand, dass der Gesichtssinn in vielen Hinsichten von besonders großer Bedeutung für uns ist, reichen hin, um den engen Zusammenhang zu erklären, den wir zwischen Bildern und Erinnerungen herstellen. Dabei lassen wir uns, wenn wir von Erinnerungen sprechen, sowohl von der Materialität als auch der Medialität des Bildes leiten – sei es als Philosophinnen oder als gewöhnliche Sprecherinnen. Wir reden davon, dass wir Erinnerungen sammeln und aufbewahren, dass wir sie wieder hervorholen. Wir bezeichnen Erinnerungen als detailgetreu und als verschwommen. Wir sprechen davon, dass Erinnerungen mit der Zeit verblassen. Und obwohl all dies uns in Teufels Küche zu führen scheint, obwohl die Auffassung von Erinnerungen als eine Art von Bild uns seit der Antike in immer dieselben und gelegentlich einige neue Sackgassen hat laufen lassen, finden wir keine Alternative. Obwohl repräsentationalistische Theorien der Erinnerung eine ganze Reihe grundsätzlicher, bislang ungelöster Probleme aufwerfen, kommen wir nicht von ihnen los. Bis heute beherrschen repräsentationalistische Ansätze die

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Debatten um das Erinnern. Es scheint, als seien unseren Begriffen des Erinnerns materielle und mediale Aspekte des Bildes wesentlich inhärent. Ich kann diese Hypothesen in diesem Rahmen nicht belegen. Stattdessen werde ich im Folgenden einige Grundzüge repräsentationalistischer Theorien des Erinnerns darzulegen versuchen. Der repräsentationalistischen Theorie der Erinnerung zufolge erinnern wir uns an ein vergangenes Ereignis dadurch, dass wir eines inneren, mentalen und privaten, nur uns selbst zugänglichen Gegenstands unmittelbar gewahr werden. Dieser unmittelbare Gegenstand des Bewusstseins beim Erinnern existiert nicht in der Vergangenheit, sondern ist uns im Augenblick des Erinnerns gegenwärtig. Er wird von Philosophen bis heute als Eindruck, Repräsentation oder Bild bezeichnet. Im 17. und 18. Jahrhundert wird er unter anderem von Descartes, Locke und Hume eine Idee oder Vorstellung genannt. Viele Philosophen sprechen auch vom unmittelbaren oder gegenwärtigen Objekt der Erinnerung. Dieser unmittelbare Gegenstand des Bewusstseins beim Erinnern kann aber nicht das sein, woran man sich erinnert. Denn wir erinnern uns insbesondere auch an Vergangenes, an Dinge, die existiert oder stattgefunden haben, nun aber, im Moment des Erinnerns, nicht mehr existieren oder längst ihr Ende gefunden haben, während der unmittelbare Gegenstand oder Inhalt des Bewusstseins beim Erinnern gerade im Moment des Erinnerns existiert oder gegeben ist. Aber wie geht das? Schon Aristoteles hat sich in De Memoria gefragt, wie es möglich sei, dass wir uns durch die Wahrnehmung eines gegenwärtigen Eindrucks an das Abwesende erinnern, das wir nicht wahrnehmen, und eine repräsentationalistische Antwort vorgeschlagen: Das unmittelbare Objekt des Bewusstseins beim Erinnern dient als Zeichen oder Bild – als Repräsentation – des Ereignisses, an das wir uns erinnern. Der unmittelbare Bewusstseinsgegenstand beim Erinnern, die Idee oder Vorstellung, die wir beim Erinnern haben, ist konstitutiver Bestandteil des Erinnerns. Ohne sie gibt es keine Erinnerung. Um ­d iesen unmittelbaren Gegenstand der Erinnerung, die mentale Repräsentation, von dem zu unterscheiden, an das man sich erinnert, vom eigentlichen Gehalt oder Gegenstand der Erinnerung, wird Letzterer manchmal als epistemologischer Gegenstand oder epistemologisches Objekt bezeichnet.11 Unklar bleibt in diesem Zusammenhang neben vielem anderen, wie ein mentaler Zustand oder ein mentales Ereignis überhaupt eine Repräsentation von irgendetwas sein kann. Was macht diesen Zustand oder dieses Ereignis zu einer Repräsentation gerade von x und nicht von y? Schon Descartes war bewusst, dass weder Ähnlichkeit noch eine kausale Beziehung garantieren könnten, dass eine Idee eine Idee gerade davon ist, wovon sie eine Idee ist. Anders ausgedrückt: Wenn Erinnerungen in einem bestimmten Sinn wie Bilder sind, dann ergibt sich die Frage, wessen es sich verdankt, wie es zugeht oder was es heißt, dass diese Bilder Bilder gerade davon sind, wovon sie Bilder sind. Ähnlichkeit vermag hier nichts auszurichten. Ähnlichkeit ist eine symmetrische Beziehung. Wenn irgendein Gegenstand irgendeinem anderen ähnelt, dann gilt das auch 11 Etwa von C. D. Broad; vgl. C. D. Broad, The Mind and its Place in Nature, New York 1925, S. 229.

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umgekehrt, dann ähnelt Letzterer auch Ersterem. Wenn ein Gegenstand wie ein Bild eine Repräsentation von irgendetwas ist, beispielsweise ein Bild von einem bestimmten Gebäude ist, dann repräsentiert das Bild in gewissem Sinn das Gebäude, aber das Gebäude üblicherweise nicht das Bild. Ein anderes bekanntes Problem ist natürlich, dass die meisten Bilder allen anderen Bildern und vor allem sich selbst ähnlicher sind als allem, was auf ihnen abgebildet sein könnte. Dieses Problem verschärft sich im Falle mentaler Bilder. Einige Philosophen wie etwa Locke, Berkeley und Kant haben darauf hingewiesen, dass überhaupt nicht klar ist, was es denn heißen könnte, dass ein mentales Bild, eine Vorstellung oder Idee, etwas anderem ähneln könnte als einer Vorstellung oder Idee. Denn die Idee eines roten Quadrats kann ja selbst weder rot noch quadratisch sein. Wir können auch keinerlei Ähnlichkeitskriterien für Vorstellungen und das, wovon sie Vorstellungen sind, ersinnen. Denn wir können unsere Vorstellungen nicht mit dem vergleichen, wovon sie Vorstellungen sind, es sei denn, es handelte sich um Vorstellungen von Vorstellungen. An idea can be like nothing but an idea. Nur eine Idee kann einer Idee ähneln, wird Berkeley nicht müde zu wiederholen.12 Sowohl für Berkeley als auch für Kant ist dies ein Grund, den Repräsentationalismus abzulehnen. Beide gelangen zu idealistischen Theorien, denen zufolge die empirische Welt eine Welt der Vorstellungen bzw. der Erscheinungen ist.13

VII. Das Gedächtnis als Magazin oder Depot Häufig geht mit repräsentationalistischen Modellen des Erinnerns eine Vorstellung vom Gedächtnis als einer Art Magazin oder Depot einher. Eine solche Vorstellung spiegelt sich auch in alltäglichen Redewendungen wider. So sprechen wir etwa von einem Vorrat an Erinnerungen. Die Vorstellung von einer Art Lagerhaus oder Vorratskammer findet sich bereits bei Platon, in dessen Theaitetos das Gedächtnis unter anderem mit einem Vogelhaus oder Taubenschlag verglichen wird.14 Augustinus spricht von der großen Höhle des Gedächtnisses, in der die inneren Bilder untergebracht werden, um bei Bedarf wieder hervorgeholt zu werden.15 Locke beschreibt das Gedächtnis als eine Art Lagerhaus für unsere Vorstellungen. In diesem Lagerhaus bringen wir diejenigen unserer Vorstellungen unter, die wir gerade nicht perzipieren. Damit aber widerspricht Locke der für ihn zentralen und von nahezu allen Denkern der Neuzeit geteilten Auffassung, 12 S. z.B. George Berkeley, A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, Dublin 1710, sec. 8. 13 Kausale Theorien der Intentionalität oder des mentalen Gehalts scheitern insbesondere daran, dass sie dem Vorkommen bestimmter Irrtümer nicht gerecht werden können, weil es keine Möglichkeit zu geben scheint, auf nicht zirkuläre Weise zwischen korrekten und fehlerhaften Repräsentationen zu unterscheiden. Darüber hinaus hat es sich als schwierig erwiesen zu begründen, weshalb gerade bestimmte Abschnitte langer und unterschiedlich detailliert beschreibbarer Kausalketten dafür relevant sein sollten, was jeweils repräsentiert wird. 14 Platon, Theaitetos, 169c7-200d4. (Der Vergleich ist Teil eines im Verlauf des Dialogs verworfenen Versuchs, die Möglichkeit falscher Meinungen zu erklären.) 15 Augustinus, Confessiones, X. 13.

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dass Ideen oder Vorstellungen dann und nur dann existieren, wenn jemand sie hat, und dass wir nur die Vorstellungen haben, die wir gerade perzipieren. In der zweiten Ausgabe des Essay fügt Locke hinzu, dass die Rede von der Lagerung von Ideen so zu verstehen sei, dass wir die Fähigkeit besitzen, Wahrnehmungen, die wir einmal hatten, wieder hervorzuholen. Werden sie wieder aufgerufen, dann gehen diese Ideen jeweils mit der zusätzlichen Idee einher, dass man sie zuvor schon einmal gehabt hat. „Das Behalten geschieht auf zweierlei Weise: Erstens dadurch, daß die in den Geist gebrachte Idee eine Zeitlang wirklich im Blick gehalten wird. Hier spreche ich von kontemplativer Betrachtung. Die zweite Möglichkeit, etwas zu behalten, ist die Kraft, im Geist jene Ideen wiederzubeleben, die nach dem Einprägen verschwunden oder sozusagen außerhalb unseres Gesichtskreises abgelegt worden sind. […] Hier handelt es sich um das Gedächtnis, gewissermaßen das Lagerhaus für unsere Ideen. Da der enge Geist des Menschen nicht dazu in der Lage ist, viele Ideen gleichzeitig im Blick zu behalten und zu betrachten, ist ein Speicher nötig, um diese Ideen aufzubewahren, die zu einem anderen Zeitpunkt nützlich sein könnten. Doch da unsere Ideen nichts weiter sind als tatsächlich gegebene Wahrnehmungen im Geist, die ihrerseits, sobald sie nicht wahrgenommen werden, gar nichts mehr sind, bedeutet dieses Aufbewahren unserer Ideen im Gedächtnisspeicher nichts weiter, als daß der Geist die vielfach einsetzbare Kraft hat, einstige Wahrnehmungen wiederzubeleben, wobei ihnen die zusätzliche Wahrnehmung anhaftet, daß sie schon einmal da waren. In diesem Sinne sagt man, unsere Ideen befänden sich im Gedächtnis, während sie eigentlich nirgends sind.“16

Diese Formulierungen deuten darauf hin, dass wir Locke zufolge im Falle des Erinnerns etwas wieder hervorholen oder wiederbeleben, dessen wir zuvor bereits einmal gewahr waren. Woher aber wird es hervorgeholt? Wo hat es in der Zwischenzeit, in der Zeit zwischen dem Erleben und dem Erinnern, existiert, in welcher Form hat es überdauert? Auch in David Humes 1738 erschienenem Treatise of Human Nature finden sich Formulierungen, die nahelegen, dass beim Erinnern etwas noch einmal erlebt wird, ein mentales Ereignis sich wiederholt, und dass beim Erinnern derselbe Gegenstand dem Bewusstsein unmittelbar präsent ist wie bei der ursprünglichen Erfahrung. Hume schreibt, dass beim Erinnern ein Eindruck, der dem Bewusstsein zu einem früheren Zeitpunkt einmal gegenwärtig war, erneut ins Bewusstsein tritt – beim zweiten Mal als Idee. Letztlich ist Hume zur Auffassung gelangt, dass diejenige Perzeption, die beim Erinnern das un­mittelbare Objekt des Bewusstseins ist, nicht mit der ursprünglichen Perzeption identisch, sondern numerisch von dieser verschieden ist. Er nennt die Perzeption, die wir beim Wahrnehmen eines Gegenstands haben, einen Eindruck (impression), diejenige, die wir haben, wenn wir uns an den Gegenstand erinnern, eine Idee (idea). Diese Idee ist eine Kopie des ursprünglichen Eindrucks. Sie repräsentiert diesen Eindruck. Zugleich aber muss sie den wahrgenommenen Gegenstand repräsentieren. Denn es soll sich ja um eine Idee dieses Gegenstands handeln, nicht um eine Idee des Eindrucks. Wir erinnern uns an den Gegenstand, an das, was wir ursprünglich wahrgenommen haben – an dasjenige, 16 Locke 1690 (wie Anm. 2), Buch 2, Kap. 10, Paragraf 1–2; übersetzt von Joachim Schulte für eine von Katia Saporiti besorgte zweisprachige Ausgabe einer Auswahl aus Locke 1690, die bei Reclam erscheinen wird.

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was die Spur hinterlassen hat, nicht an die Spur. Hierin tut sich eine weitere grund­ legende Schwierigkeit repräsentationalistischer Theorien der Erinnerung auf. Sie müssen darlegen, wie etwas zugleich die Repräsentation einer Spur und die Repräsentation dessen ist, wovon die Spur eine Spur ist. Und selbst wenn das Gedächtnis nur in dem von Locke angedeuteten übertragenen Sinn als ein Aufbewahrungsort angesehen werden kann und das Aufbewahren der Idee im Besitz der Fähigkeit besteht, ein weiteres Vorkommnis dieser Idee zu produzieren – die Idee noch einmal zu haben –, so ergibt sich trotzdem die Frage, worin der Besitz dieser Fähigkeit besteht und wie er materiell verankert ist. Diese letzte Frage stellt sich auch der neurophysiologischen Gedächtnisforschung. Nehmen wir an, dass im Falle der (episodischen) Erinnerung an einen wahrgenommenen Gegenstand im Gehirn etwas Ähnliches geschieht wie beim Wahrnehmen des Gegenstands (dass, sagen wir zum Beispiel, ein Teil derselben Synapsen aktiv wird, die auch beim Wahrnehmen des Gegenstands aktiv waren). An manche Dinge können wir uns erinnern, an andere nicht. Die Information, welche Nervenzellen und Synapsen aktiviert werden müssen für ein Erinnern an den Gegenstand, muss im Zentralnervensystem irgendwie vorhanden sein. Es ist die Zeit­­zwischen dem ursprünglichen Erleben und dem Erinnern, die uns in diesem Zusammenhang Rätsel aufgibt. In welchem Sinn sind wir in dieser Zeit im Besitz unserer Erinnerungen?

VIII.  Erinnern und Vorstellen Der repräsentationalistischen Theorie des Geistes zufolge sind sowohl beim Erinnern als auch bei allen anderen kognitiven Aktivitäten mentale Repräsentationen involviert. Wer sich an eine bestimmte Person, an ein Ereignis oder einen Sachverhalt erinnert, der hat in seinem Bewusstsein eine Repräsentation von dieser Person, diesem Ereignis oder diesem Sachverhalt. Im 17. und 18. Jahrhundert werden diese geistigen Repräsentationen von Rationalisten und Empiristen als Ideen bezeichnet. Nicht nur der, der sich an etwas erinnert, auch derjenige, der etwas wahrnimmt, über etwas nachdenkt oder sich etwas im Geiste ausmalt, wer sich etwas einbildet, etwas halluziniert oder träumt, hat dabei, so will es das repräsentationalistische Modell, Ideen. Wie unterscheidet sich dann aber das Erinnern vom Vorstellen? Was geschieht, wenn wir uns an einen Theaterbesuch erinnern, was, wenn wir uns nur vorstellen, im Theater gewesen zu sein? Locke zufolge wird die fragliche Idee im Falle der Erinnerung, wie wir gesehen haben, von einer weiteren Idee begleitet, die sich auf Erstere bezieht: der Idee nämlich, dass man die Idee davon, woran man sich erinnert (die man im Moment des Erinnerns erneut hat), schon einmal hatte. Diese zweite Idee scheint klarerweise einen propositionalen Gehalt zu haben. Sie ist so etwas wie eine Meinung oder Überzeugung über eine der eigenen mentalen Repräsentationen: die Überzeugung, man habe just diese Idee zuvor schon einmal gehabt. Hierin kann man sich natürlich irren. Aber das ist auch gut so, da unser Erinnerungsvermögen nicht unfehlbar ist. Ob dieser Ansatz aus einer phänomenalen Perspektive überzeugt, sei für den Augenblick dahingestellt.

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David Hume zufolge unterscheiden sich Erinnerungen gegenüber Vorstellungen in folgenden zwei Hinsichten. Zum einen müssen in der Erinnerung involvierte Ideen in derselben Reihenfolge und Anordnung ins Bewusstsein treten wie ihre Originale. Für Vorstellungen gilt dies nicht. Zweitens sind Ideen beim Erinnern stärker und lebendiger als Ideen beim Vorstellen. Die Ideen, die wir beim Erinnern haben, werden eben aufgrund ihrer Stärke und Lebendigkeit von der Überzeugung begleitet, dass wir sie genauso, in eben derselben Anordnung, schon einmal gehabt haben. Ob dies tatsächlich der Fall ist, können wir Hume zufolge niemals feststellen, da wir die vergangenen Eindrücke nicht wieder hervorholen können, um ihre Anordnung mit derjenigen unserer jetzigen Ideen zu vergleichen.17 Hume war mit seinen Überlegungen zum Erinnerungsvermögen des Menschen unzufrieden, und nur wenige Philosophen sind seiner Unterscheidung zwischen Erinnerung und Vorstellung anhand der Lebendigkeit von Ideen und der Stärke, mit der sie den Geist affizieren, gefolgt. Aber die meisten repräsentationalistischen Theorien der Erinnerung enthalten zwei der Hume’schen Auffassung entsprechende Elemente: Sie gehen erstens davon aus, dass unsere mentalen Repräsentationen beim Erinnern von einer für das Erinnern charakteristischen Überzeugung begleitet sind, und sie gehen zweitens auch davon aus, dass die Merkmale, die eine Erinnerung von einer bloßen Vorstellung unterscheiden, introspektiv auszumachen sind und den mentalen Repräsentationen anhaften. Es ist, mit anderen Worten, etwas an den mentalen Repräsentationen selbst, durch das uns bewusst ist, dass wir uns mutmaßlich erinnern und uns nicht etwa nur etwas vorstellen. Die mentalen Bilder wirken im Falle des Erinnerns anders auf unser Bewusstsein, haben sozusagen eine gewisse Patina oder sind mit einer entsprechenden Bildunterschrift versehen. Jüngere Autoren postulieren an dieser Stelle ein nicht weiter analysierbares Gefühl des Vergangenseins. William James zufolge sind Erinnerungen durch ein Gefühl der Wärme und Nähe („warmth and intimacy“) und ein Gefühl einer bestimmten Ausrichtung in der Zeit auf die Vergangenheit des Erinnernden bezogen.18 Auch Bertrand Russell zufolge sind Gefühle der Vertrautheit und Gefühle des Vergangenseins („feelings of familiarity“ und „feelings giving a sense of pastness“) konstitutiver Bestandteil von Erinnerungen. Sie begleiten im Falle des Erinnerns dasjenige, was im Bewusstsein auftritt und dem, an was man sich erinnert, irgendwie ähnlich ist oder in irgendeiner Beziehung zu ihm steht.19 Der Bezug auf die Vergangenheit liegt Russell zufolge in diesen Gefühlen, nicht im Inhalt der Erinnerung. Für den Repräsentationalisten steht weniger die Frage im Vordergrund, wie sich eine mutmaßliche Erinnerung als eine tatsächliche und mithin als veridisch erweisen lässt. Repräsentationalistische Theorien geben eher eine Antwort auf die Frage, was es heißt, 17 David Hume, A Treatise of Human Nature, London 1740, I. i. 3 und I. iii. 5. 18 William James, Principles of Psychology, New York 1890, Bd. 1, S. 650. 19 Russell 1921 (wie Anm. 6), S. 163.

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sich, und sei es auch nur vermeintlich, an etwas Bestimmtes zu erinnern. Sie geben hierauf eine zweigeteilte Antwort. Sie beantworten erstens die Frage, was das Erinnern vom Vorstellen, Annehmen, Erwarten oder etwa Glauben unterscheidet, und sie beantworten zweitens die Frage, was es ausmacht, dass wir uns gerade an das zu erinnern meinen, woran wir uns zu erinnern meinen, und nicht etwa an etwas ganz anderes. Diese zweite Frage wird durch die Postulierung mentaler Bilder oder Repräsentationen beantwortet. Sie treten beim Erinnern ins Bewusstsein des Erinnernden, der sie anschaut und ihnen quasi das entnimmt, an was er sich erinnert. Die erste Frage, die Frage, was das Erinnern von anderen kognitiven Prozessen unterscheidet, die dieselben mentalen Repräsentationen involvieren mögen, wird durch die Postulierung verschiedener Arten von Gefühlen beantwortet (Gefühle der Vertrautheit, Bekanntheit, Wärme, Nähe usw., des Vergangen- oder Abwesendseins, Gefühle des Überzeugtseins).

IX. Skeptizismus Auf die Frage, was eine mutmaßliche Erinnerung zu einer tatsächlichen und damit veridischen Erinnerung macht, gibt der Repräsentationalismus keine eigene Antwort. Entgegen einer verbreiteten Ansicht war René Descartes sich der Fehlbarkeit unseres Erinnerungsvermögens sehr bewusst, und er nimmt es auch nicht, wie oft behauptet wird, vom radikalen Zweifel aus. Vielmehr erwägt er die Fehlbarkeit unserer Verstandesfähigkeiten und damit auch des Erinnerungsvermögens in den Meditationen über die erste Philosophie durchaus als Grund dafür, bisher gehegte Überzeugungen als bezweifelbar anzusehen. Letztlich garantiert Descartes zufolge nur die Güte Gottes, dass die Vermögen, die dieser uns verliehen hat, zuverlässig sind, sodass wir uns beispielsweise sicher sein können, dass bereits durchlaufende Schritte in einer Beweiskette (und allgemein bereits gewonnene Erkenntnisse) weiterhin Bestand haben und unsere Erinnerung an sie uns nicht trügt.20 Locke hingegen gesteht einfach zu, dass wir eine vermeintliche Erinnerung niemals mit Gewissheit von einer tatsächlichen Erinnerung werden unterscheiden können und dass unser Erinnerungsvermögen unzuverlässig ist. Glücklicherweise habe Gott dafür gesorgt, dass es trotz aller Unzulänglichkeit zuverlässig genug sei, damit wir unsere Ziele und Zwecke erreichen können. Hume zieht weit skeptischere Konsequenzen. Wir können niemals sicher sein, dass uns jenes Gefühl des bereits Da­­ gewesenseins, das unsere mentalen Repräsentationen beim Erinnern begleitet, nicht trügt. Wir haben keinen Grund, unserem Erinnerungsvermögen zu trauen. Russell hält es für logisch möglich, dass die Welt, so wie wir sie kennen, erst vor fünf Minuten entstanden ist und mit ihr all unsere vermeintlichen Erinnerungen an Vergangenes, das länger als fünf Minuten zurückliegt.21 20 René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, Paris 1641, vgl. Meditationes I & III. 21 Russell 1921 (wie Anm. 6), S. 159–160; Bertrand Russell, An Outline of Philosophy, New York 1927, S. 7; Bertrand Russell, Human Knowledge, New York 1948, S. 228.

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Statt sich eine dieser skeptischen Haltungen zu eigen zu machen, möchte man aus heutiger Sicht vielleicht lieber die nicht nur von vielen Philosophen des 18. Jahrhunderts geteilte Annahme verwerfen, dass wir letztlich nur der Zustände und Inhalte des eigenen Bewusstseins unmittelbar gewahr sind. Auch sollte uns die Materialität und Medialität von Bild und Schrift heute nicht mehr dazu verleiten, einer repräsentationalistischen Theorie des Erinnerns anzuhängen. Fragen wir uns heute nach der Materialität und Medialität des Erinnerns, so müssen wir uns entweder mit den neurophysiologischen Grundlagen des Erinnerns befassen oder darüber nachdenken, wie die Artefakte und Medien funktionieren, derer wir uns bedienen, um uns zu erinnern.

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Ordnen und Sichtbarmachen. Frühneuzeitliche Wissensvermittlung im Umbruch

Andreas Gormans

Vergessene Bilder, erinnerte Metaphern Mediengeschichtliche Kontinuitäten und Brüche zwischen memoria passionis und encyclopédie

Mit der Ausbreitung des Christentums im 4. Jahrhundert erhält der erstmalig in den antiken Rhetoriktraktaten theoretisierte Begriff der memoria und damit auch die antike ars memorativa für viele Jahrhunderte einen zusätzlichen Aufgabenbereich.1 Im Zuge dieser Christianisierung der antiken Mnemotechnik, die mit dem Untergang der frei gehaltenen, öffentlichen Rede in der Spätantike ihr ursprünglich wichtigstes Betätigungsfeld verloren hatte, sollten die Axiome christlicher Heilsgeschichte sowie die Vorstellung einer christozentrischen Kosmologie zu den zentralen Gegenständen der an das Mittelalter weiter tradierten bildunterstützten Gedächtniskunst avancieren.2 Dass das Christentum in der Phase seiner Konsolidierung und der künstlerischen Propagierung seiner wichtigsten Glaubensgrundsätze an eine mit rhetorischem Impetus auftretende Bildtheorie anknüpfen konnte, die just in dieser Phase nach neuen Aufgaben suchte, war mehr als eine glückliche Fügung.3 Die Berührungspunkte zwischen Bildtheorie und Bildkunst waren so zahlreich, dass die Liaison von christlicher Kunst und ars memorativa geradezu prädestiniert war: Auf der einen Seite existierte eine techne beziehungsweise ars, die – ausgehend von der Notwendigkeit einer Totenklage4 – dazu ersonnen worden war, selbst kreierte, textsubstituierende Bilder so klug an ausgewählten Orten innerhalb einer realen oder fiktiven Architektur zu deponieren, dass die zuvor ikonisch chiffrierten Botschaften beim erneuten Durchschreiten dieses Gebäudes problemlos 1 Rhetorica ad Herennium III, 28–40; Marcus Tullius Cicero, De Oratore II, 350–360; Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis Oratoriae XI 2, 1–51. Vgl. Frances Amelia Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (Acta humaniora), Weinheim 1990 (engl. Erstausgabe Chicago/London 1966), S. 11–33. 2 Zu Erinnerung und Gedächtniskunst im Mittelalter vgl. Helga Hajdu, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, Budapest 1936; Yates 1990 (wie Anm. 1), S. 54–101; Mary J. Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture (Cambridge Studies in Medieval Literature 10), Cambridge 1990; Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995. 3 Wolfgang Kemp, Memoria, Bilderzählung und der mittelalterliche esprit de système, in: Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern (Poetik und Hermeneutik 15), München 1993, S. 263–282; Wolfgang Kemp, Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen, München/Paris/London 1994. 4 Stefan Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 21 (1989), Nr. 1–2, S. 43–66.

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wiedererinnert werden konnten. Auf der anderen Seite war der memoria-Gedanke im Christentum zentral und wesensbestimmend, weil Judentum und Christentum Religio­ nen waren, die historisch und theologisch in der Geschichte verankert waren und als Religionen der Erinnerung, als monotheistische Gedächtnisreligionen beschrieben werden konnten.5 Entsprechende handlungsnormierend formulierte Appelle, auf die diese Gedächtnisverpflichtung zurückzuführen ist, finden sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. So korrespondiert mit den zahllosen Warnungen vor dem Vergessen Gottes, der oblivio Dei,6 und den Ermahnungen, Gott als Schöpfer und Retter ständig im Gedächtnis zu behalten, die bekannte, nur im Lukasevangelium überlieferte Sentenz „Hoc facite in meam commemorationem“,7 mit der der scheidende Erlöser die Einsetzung des Abendmahls einleitete und seinen Jüngern einen Gedächtnisauftrag anvertraute, der in Form der Feier der Eucharistie bis heute sakramental-rituell eingelöst wird. Grundsätzlich empfänglich für die Nutzung der bildunterstützten Gedächtniskunst war die christliche Kunst aber auch, weil die eschatologische Naherwartung bislang ausgeblieben war und bereits verblasste – kurzum, weil in Erinnerung gerufen werden musste, was in Vergessenheit zu geraten drohte – und weil man sich der großen Taten Gottes in der Vergangenheit ebenso erinnern sollte wie der von Gott in Aussicht gestellten Heilsverheißungen am Jüngsten Tag. Durch die lebendige Erinnerung an die Anfänge des göttlichen Heilsplans und dessen erwartete Vollendung am Ende aller Tage war christliche Anamnesis retrospektiv und prospektiv zugleich. Sie umfasste die gesamte Heilsgeschichte als sinnvolle, planmäßige Abfolge göttlicher Handlungen.8 Die Bilder und Bildformen, die aus Gründen der religiösen Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung gegen das Vergessen entwickelt wurden, sind dabei so mannigfaltig wie die memorativen Dimensionen der Religion, die auf eine wirkmächtige und dauerhafte visuelle Propagierung ihrer Überzeugungen setzte. Primärer Ausgangspunkt, Gegenstand und zugleich auch primäres Medium dieses christlichen Gedächtnisses war die Person Jesu Christi vor allem in der Darstellungs-

5 Vgl. Christel Meier, Vergessen, Erinnern, Gedächtnis im Gott-Mensch-Bezug. Zu einem Grenzbereich der Allegorese bei Hildegard von Bingen und anderen Autoren des Mittelalters, in: Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruhberg (Hg.), Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Festschrift für Friedrich Ohly zum 60. Geburtstag, Bd. 1, München 1975, S. 143–194; Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis (Historische Studien 6), Frankfurt am Main/New York 1992 (frz. Erstausgabe Paris 1988), S. 102–115. 6 Deut 8, 11; 8, 14; 8, 18–19. Vgl. Jan Assmann, Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Mnemo­syne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 337– 355; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Auflage, München 1997, S. 212–228. 7 Lk 22, 19. 8 Zur dichotomen Struktur des christlichen memoria-Verständnisses vgl. Adolf Darlap, Anamnesis. Marginalien zum Verständnis eines theologischen Begriffs, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 97 (1975), S. 80–86. Vgl. ferner Paul Petzel und Norbert Reck (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003.

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form des Schmerzensmannes (Taf. I).9 Von Jesaja in der Vulgata als vir dolorum, als Mann der Schmerzen, angesprochen,10 dauerte es bis ins 14. Jahrhundert, bis diese alttestamentliche Präfiguration des Messias unter dem Einfluss der christlichen Mystik als Inbegriff der Passion Christi Einzug in die spätmittelalterliche Bildschnitzkunst hielt.11 Vorausgegangen waren diesem Typus, der die Gesamtheit der Passion in einem einzigen vollplastischen Bildwerk konzentrierte, Schmerzensmanndarstellungen in Malerei und Grafik, in denen die einzelnen Stationen der Passion noch lediglich in Form von Piktogrammen angedeutet waren. So zeigt beispielsweise eine um 1475 in Umbrien entstandene Ablasstafel einen von Maria und Johannes flankierten Schmerzensmann, der von solchen Piktogrammen konzentrisch umbaut ist (Abb. 1).12 Sie stellen Waffen beziehungsweise Wappen dar, mit deren Hilfe Christus den Sieg über den Tod errungen hat; es sind arma christi, signa rememorativa, also abbreviierte Erinnerungszeichen, die an ausgewählte Stationen der Passion Christi erinnern.13 Indem die Vielzahl dieser kleineren untergeordneten Erinnerungszeichen, die ihrer Disposition wegen als subimagines bezeichnet worden sind, wiederholt auf die eine, größere, zentrierte Darstellung des Schmerzensmannes als superimago bezogen werden, dient das gesamte Bild der Vergegenwärtigung der Passion Christi.14 Etwa zeitgleich wird diese Form der Darstellung in narrativer wie anschaulicher Hinsicht nochmals gesteigert und verdichtet in der Bildform der Passionslandschaft, wie sie etwa ein Gemälde Hans Memlings von 1470/71

  9 Hans Multscher und Werkstatt, Schmerzensmann, Ulm, um 1460, Lindenholz gefasst, 73 × 29 × 17 cm, Hessisches Landesmuseum, Kassel. Vgl. Marika Schäfer, „Unsers Herrn Barmherzigkeit“. Hans Multscher und der Kasseler Schmerzensmann, hg. von der Museumslandschaft Hessen Kassel (Wissenschaftliche Reihe 1), Kassel 2011. Allgemein zu Schmerzensmanndarstellungen vgl. Erwin Panofsky, Imago Pietatis. Ein Beitrag zur Typengeschichte des Schmerzensmannes und der Maria Mediatrix, in: Festschrift für Max. J. Friedländer zum 60. Geburtstag, Leipzig 1927, S. 261– 308; Romuald Bauerreiss, Pie Jesu. Das Schmerzensmann-Bild und sein Einfluss auf die mittelalterliche Frömmigkeit, München 1931; Gert von der Osten, Der Schmerzensmann. Typengeschichte eines deutschen Andachtsbildwerkes von 1300–1600 (Forschungen zur Deutschen Kunstgeschichte 7), Berlin 1935; Wiltrud Mersmann, Der Schmerzensmann (Lukas-Bücherei zur Christlichen Ikonographie 4), Düsseldorf 1952; Andrea Zimmermann, Jesus Christus als „Schmerzensmann“ in hochund spätmittelalterlichen Darstellungen der bildenden Kunst. Eine Analyse ihres Sinngehalts, Diss. Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg 1997. 10 Jes 53, 3–4. 11 Vgl. Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters (Fortuna Vitrea 12), Tübingen 1993. 12 Ablasstafel mit Schmerzensmann und Arma Christi, Umbrien, 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, Pappelholz, 81,5 × 50 cm, erworben 1930 als Überweisung vom Museum Schnütgen, Köln, Wallraf-Richartz-Museum, WRM 0744. 13 Vgl. Rudolf Berliner, Arma Christi, in: Münchner Jahrbuch für Bildende Künste 6 (1955), S. 33–152; Robert Suckale, Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder, in: Städel-Jahrbuch N.F. 6 (1977), S. 177–208; Lisa H. Cooper und Andrea Denny-Brown (Hg.), The Arma Christi in Medieval and Early Modern Material Culture, Farnham/Burlington 2014. 14 Vgl. Jörg Jochen Berns, Film vor dem Film, Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Marburg 2000, bes. S. 30–56.

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1  Ablasstafel mit Schmerzens­ mann und Arma Christi, ­Umbrien, 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, Pappelholz, 81,5 × 50 cm, Wallraf-­R ichartzMuseum, Köln

beispielhaft repräsentiert (Taf. II).15 Der Schritt von der mittelitalienischen Ablasstafel und den Schmerzensmanndarstellungen des späten Mittelalters hin zu dieser Passionslandschaft Memlings lässt sich als memorativer Medienwechsel beschreiben: Das körperliche Passionsgedächtnis Christi in der Tafel des umbrischen Anonymus, bei dem die von der Geißelung zeugenden Wundmale als sichtbare Körpermale auf Vergangenes verweisen und dem Corpus Christi wie lesbare Spuren eingeschrieben sind, mutiert zum topografischen Landschaftsgedächtnis des frühen Niederländers. Memlings Vergegenwärtigung der memoria passionis ist unmittelbare Folge der künstlerischen Eroberung 15 Hans Memling, Darstellung Jerusalems mit der Passion Christi, 1470/71, 56,7 × 92,2 cm, Öl auf Eichen­holz, Galleria Sabauda, Turin, Inv.-Nr. 8. Vgl. Dirk de Vos (Hg.), Hans Memling: Five C ­ enturies of Facts and Fiction (Ausst.-Kat. Brügge, Groeningemuseum), Brügge/Antwerpen 1994, S. ­46–51.

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der Landschaft mit perspektivischen Mitteln. In dem Simultanbild durchmisst das Auge des Betrachters das scheinbar antike Jerusalem, vergegenwärtigt im Bild einer zeittypischen spätmittelalterlichen Stadtdarstellung.16 Mehr noch – der loci-Lehre der antiken ars memorativa entsprechend wandert das Auge zugleich auf einem Parcours, auf dem die einzelnen Stationen des Leidens Christi aneinandergereiht sind, vorgeführt in emotional bewegenden Gedächtnisbildern, sogenannten imagines agentes, die in einer Stadt verortet sind, die hier als mnemotechnisches Ortssystem, als mnemotechnische domus fungiert.17 Ziel dieser imaginären Wanderung des Auges, die möglicherweise eine körper­lich beschwerliche Jerusalem-Pilgerfahrt ersetzen konnte, ist der persön­ liche erinnernde Nachvollzug der Passion Christi. Durch die bildkonzeptionell bedingte Pflicht, auf diesem Parcours wie beim Abschreiten eines Kreuzweges immer wieder neu Station machen und innehalten zu müssen, führt die optische Betrachtung der szenischen Bilder im Bilde an diesen Orten des Verweilens zur Betrachtung im Sinne einer meditativ-kontemplativen Reflexion des dargestellten Geschehens.18 Lässt sich von dieser Form der Passionsdarstellung zwar einerseits eine direkte Verbindung zur aktuellen Verwendung architektonischer oder landschaftlicher Gedächtnismetaphern herstellen – nicht zuletzt, weil sich die mit Fragen der Verräumlichung des Wissens und Denkens beschäftigende Medienwissenschaft mit der Genese und Semantik beispielsweise von Begriffen wie ‚Datenraum‘ oder ‚Informationslandschaft‘ auseinandersetzt –, so wird man andererseits zur Aufdeckung der Bildidee, die diesem Netzwerk christlicher Gedenkstätten zugrunde liegt, doch noch ältere Bildformen bemühen müssen.19 Auf der Suche nach den Vorläufern für eine solche panoramatische Überblickslandschaft mit unverkennbar memorativen Implikationen wird man – auch wenn diese wie im vorliegenden Fall noch auf die memoria passionis bezogen ist – letztlich auf die Bildgattung der Weltkarte zu sprechen kommen müssen, wie sie beispielsweise die im Oktober 1943 bei einem Bombenangriff auf Hannover zerstörte, um 1300 in einem 16 Vgl. Ehrenfried Klucker, Die Erzählformen des spätmittelalterlichen Simultanbildes, Diss. Eberhard-Karls-Universität, Tübingen 1974. 17 Unter anderem auch zur architektonischen Metaphorik des Gedächtnisses vgl. Harald Weinrich, Typen der Gedächtnismetaphorik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 23–26; Aleida Assmann, Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 13–35. 18 Vgl. Heike Schlie, Das Mnemotop Jerusalem in der Prozession, in Brügge und im Bild. Die Turiner Passion von Hans Memling und ihre medialen Räume, in: Katja Gvozdeva und Hans Rudolf ­Velten (Hg.), Medialität der Prozession. Performanz ritueller Bewegung in Texten und Bildern der Vor­moderne, Heidelberg 2011, S. 141–175; Mitzi Kirkland-Ives, In the Footsteps of Christ. Hans Memlings’ Passion Narratives and the Devotional Imagination in the Early Modern Netherlands (Proteus 5), Turnhout 2013; Richard G. Newhauser und Arthur J. Russel, Mapping Virtual Pilgrimage in an Early Fifteenth-Century Arma Christi Roll, in: Lisa H. Cooper und Andrea Denny-Brown (Hg.), The Arma Christi in Medieval and Early Modern Material Culture, Farnham/Burlington 2014, S. 83–112. 19 Vgl. Kirsten Wagner, Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte. Zur Verräumlichung des Wissens und Denkens in der Computermoderne (Berliner Kulturwissenschaft 4), 1. Auflage, Freiburg im Breisgau/Berlin 2006.

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Benediktinerinnen-Kloster entstandene sogenannte Ebstorfer Weltkarte mustergültig repräsentiert (Taf. III).20 Während der lediglich durch Kopf, Hände und Füße hinter dem eigentlichen Kartenrund erkennbare Kosmokrator das umspannt, was er geschaffen und durch seine Menschwerdung erlöst hat,21 zeigt die Karte selbst im Zentrum Jerusalem in Form einer urbs quadrata, also den Nabel der Welt, an dem der mit Siegesfahne attributiv ausgezeichnete Christus triumphans der offenen Grabtumba entsteigt.22 Oben, auf der geosteten Karte, erkennt man das irdische Paradies, darüber hinaus andere biblisch bedeutsame Orte und Monumente, wie etwa den Turm zu Babel oder die Arche Noah. Durch die zusätzliche Darstellung der sagenumwobenen fantastischen Völkergruppen am Rand der Ökumene oder die des kretischen Labyrinths trägt die Ebstorfer Weltkarte nicht nur topografisches und ethnografisches, sondern ebenso naturkundliches und historiografisches Wissen, ja selbst Vorstellungen der Literatur- und Sagengeschichte kompilierend zusammen. Die wohl bekannteste und komplexeste mappa mundi, die im hohen Mittelalter geschaffen wurde, mutiert somit zum Thesaurus eines mitunter spekulativen Weltwissens in Kartenform, komprimiert und chiffriert in Signaturen und Piktogrammen, keineswegs auf lückenlose Vollständigkeit bedacht, sondern vielmehr konzipiert wie ein Exzerpt, das aus der Fülle scholastischer Wissenssummen schöpfte und ein hochkomplexes Weltbild christozentrischer Prägung lieferte.23 Mit dieser Karte betrieben die an ihrer Konzeption beteiligten Inventoren Kartografie als Historiografie; die Ebstorfer Weltkarte war ein Wissensspeicher und keine flächige Darstellung eines Raumes, nach der man Wege und Reiserouten hätte zuverlässig bestimmen können.24

20 Hartmut Kugler, Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 116 (1987), Nr. 1, S. 1–29; Birgit Hahn-Woernle, Die Ebstorfer Weltkarte, Stuttgart 1987; Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, Weinheim 1991; Jürgen ­Wilke, Die Ebstorfer Weltkarte (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 39), 2 Bde., Bielefeld 2001; Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke (Hg.), Kloster und Bildung im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 218, zugl. Studien zur Germania Sacra 28), Göttingen 2006. 21 Vgl. Barbara Bronder, Das Bild der Schöpfung und Neuschöpfung der Welt als orbis quadratus, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 188–210; Gernot Böhme und Harmut Böhme, Feuer, ­Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 224.­ 22 Franz Niehoff, Umbilicus mundi – Der Nabel der Welt. Jerusalem und das Heilige Grab im Spiegel von Pilgerberichten und -karten, Kreuzzügen und Reliquiaren, in: Anton Legner (Hg.), Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik (Ausst.-Kat. Köln, Schnütgen-Museum/Josef-Haub­ rich-­Kunsthalle), Köln 1985, S. 53–72; Kerstin Hengevoss-Dürkop, Jerusalem. Das Zentrum der Ebstorfer Karte, in: Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdiszipli­näres Colloquium 1988, Weinheim 1991, S. 205–222. 23 Vgl. Karl Clausberg, Scheibe, Rad, Zifferblatt. Grenzübergänge zwischen Weltkarten und Weltbildern, in: Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, Weinheim 1991, S. 260–313. 24 Vgl. Tanja Michalsky, Karten schaffen Räume. Kartographie als Medium der Wissens- und Informationsorganisation, in: Ute Schneider und Stefan Brakensieg (Hg.), Gerhard Mercator. Wissenschaft und Wissenstransfer, Darmstadt 2015, S. 15–38.

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Doch auch mit diesem ersten Rückblick ist die ideengeschichtliche Vorgeschichte der mappae mundi, der von arma Christi umbauten Andachtsbilder und der Passionslandschaften keineswegs hinreichend geklärt. Bildstruktureller historischer Referenzpunkt für all diese Bilder war nämlich das diagrammatisch strukturierte konzentrische Bildund Begriffsschema naturphilosophischen Inhalts, das wohl am ehesten als Kosmo­ gramm bezeichnet werden kann. Auch schon diese Kosmogramme standen, wie das, was sich aus ihnen entwickeln sollte, im Dienst einer bildunterstützten Erinnerungskunst. Im 18. Jahrhundert sollten sie allerdings ihre Bedeutung verlieren, denn geradezu bruchlos wird sich aus ihrem Ende unter dem Einfluss gänzlich gewandelter Rahmenbedingungen ein völlig neues Gedächtnismedium seinen Neuanfang bahnen. Bei dieser lange Zeit bewährten, bis zur Aufklärung existierenden Bildform handelt es sich um eine oftmals aus Kreis und Quadrat, also elementargeometrischen Formen, zusammengesetzte, Text substituierende konzentrische Figur, in der Begriffe und Personifikationen kosmologisch-heilsgeschichtlichen Inhalts zusammengestellt werden. Hierzu zählen beispielsweise die vier Elemente, Himmelsrichtungen und Jahreszeiten oder auch die vier Evangelisten oder Paradiesflüsse, ebenso die zwölf Apostel, Monate und Tierkreiszeichen, im Zentrum oftmals eine Darstellung Christi oder des Annus, der Personifikation des Jahres. Ein frühes Beispiel für ein solches aus konzentrischen Bildsummen – beispielsweise in Kuppelmosaiken frühchristlicher Kirchen – hervorgegangenes Kosmogramm findet sich auf Folio 134r einer um 818 in Salzburg entstandenen kosmologischen Handschrift (Taf. IV).25 Zu sehen ist im Zentrum zweier nach dem Prinzip der Quadratur verschränkter Quadrate eine mappa mundi – hier noch in einfachster Bauart – in Form einer Darstellung des orbis tripartitus, der dreigeteilten Welt mit den damals bekannten Kontinenten Europa, Afrika und Asien. Darum gruppieren sich an den Eckpunkten des Binnenquadrats die vier Himmelsrichtungen. In den Zwickelfeldern zwischen Binnenund Umfassungsquadrat sind schließlich die vier Elemente angeordnet, die buchstäblich die elementaren Grundbausteine des gesamten materialen Seins auf der Erde repräsentieren. Ein weiteres Beispiel, das vor allem die zunehmende Komplexität dieser Kosmogramme belegt, ist Folio 7v des sogenannten Ramsey Computus, einer um 1090 entstandenen Kopie des im Jahre 1011 in der ostenglischen Benediktinerabtei Ramsey von einem pädagogisch umfassend geschulten Mönch namens Byrhtferth verfassten Manuale (Abb. 2).26 In dieser komplexen Demonstrationsfigur mikro- und makrokos25 Kosmogramm, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 387, fol. 134r. Vgl. Eva Irblich, Karl der Große und die Wissenschaft. Ausstellung karolingischer Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek zum Europa-Jahr 1993, Prunksaal, 9. Juni–26. Oktober 1993 (Ausst.-Kat. Wien, Öster­reichische Nationalbibliothek), 2. korrigierte Auflage, Wien 1994, S. 110–111. 26 Kosmogramm, Ramsey Computus, um 1090, Oxford, St. John’s College, MS 17, fol. 7v. Vgl. ­Elizabeth Sears, The Ages of Man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton, NJ, 1986, S. 22–23, 33–36, Abb. 10.

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2  Kosmogramm, Ramsey ­Computus, um 1090, Zeichnung, koloriert auf Pergament, St. John’s College, Oxford, MS 17, fol. 7v, McGill University Library

mischer Zusammenhänge wird das Programm der zuvor erwähnten Miniatur um die Gruppe der vier Winde, Jahreszeiten und menschlichen Lebensalter sowie den Zodiakus erweitert. Bedingt durch die Anpassung der Figur an das hochrechteckige Format des Codex werden hierbei die vier Viertelkreissegmente entlang der Horizontalachse gestaucht; die zweifach miteinander verschränkten Quadrate werden dadurch zu Rhomben, die allerdings immer noch Quadrate meinen. Für diese und weitere, ähnlich konzipierte Kosmogramme gilt, dass sie eine Zusammenschau in Form einer synoptisch-panoramatischen Übersicht leisten, die vor allem in den Schriften der Viktoriner, einer im Jahre 1108 von Theologen und Kanonikern des regulierten Kanonikerstifts Saint-Victor in Paris gegründeten Gemeinschaft, theo­ retisch umfassend reflektiert wurde.27 Die Form höchster göttlicher Erkenntnis, eine 27 Christel Meier, Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Wolfgang Harms (Hg.), Text und Bild, Bild und Text. DFG-Sympo­ sion 1988 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 11), Stuttgart 1990, S. 35–65.

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kontemplative mystische Gottesschau, versuchten sie durch einen sich in Etappen vollziehenden ascensus zu erreichen, also durch einen wörtlich zu nehmenden sukzessiven Aufstieg, der als Metapher für einen Erkenntnisprozess steht. Im Zuge dieses Prozesses hat man – in einer einem Vogelflug vergleichbaren souveränen Bewegung, die den ordo der Dinge erkennbar werden lässt und sich von einer additiv fortschreitenden Erkenntnisform absetzt, die die unbegrenzte Zahl (infinitus numerus) der Weltdinge als Verwirrung (confusio) erfährt – eine maximale räumliche Entfernung zwischen Betrachterauge und Betrachtergegenstand an einem denkbar hoch gelegenen Punkt erreicht. Von diesem Punkt aus eröffnet sich – gewissermaßen in Form eines senkrecht gestellten Sehkegels – das, was sich in der Umgangssprache bis heute einstellt, wenn man sich einen Überblick über eine Sache verschafft. Diesen Überblick bezeichnete das Hochmittel­ alter als ­contuitus, womit eine besondere Form einer Erkenntnis verschaffenden Schau gemeint war, ein monoperspektivischer Blick auf die Welt, der unmittelbar mit jenem Blick Gottes korrespondiert, den dieser nicht zufällig am Abend des sechsten Schöpfungstages, zudem unmittelbar vor dem Sündenfall, auf seine Schöpfung hatte. „­Viditque cuncta, quae fecit“, heißt es – fast lapidar und erstaunlicherweise von der Forschung kaum kommentiert – in der Genesis 1, 31: „Und [Gott] sah auf alles, was er gemacht hatte“. Der creator mundi versicherte sich also mit anderen Worten visuell der Perfektion dessen, was sich allein der ontischen, Sein schaffenden Potenz seines gesprochenen Wortes verdankte.28 Er sah Mensch und Tier, Erde und Himmel – kurzum das, für das nach den großartigen, ­extreme Weite suggerierenden Landschaftsschöpfungen Joachim Patinirs wiederum der Begriff der Weltlandschaft gebräuchlich werden sollte.29 Kosmo­ gramme wie die exemplarisch vorgestellten zeigten eine solche nach Maßgabe einer kombinatorisch verfahrenden Fantasie geschaffene Ideallandschaft als Gesamtdarstellung des Universums allerdings gerade nicht. Als abstrakte, diagrammatische und damit nichtmimetische Bilder fokussierten sie stattdessen vielmehr die konstruktive Beschaffenheit und Struktur der Welt, den projektierten ordo-Gedanken als den Leitgedanken antik-mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Weltverständnisses. Als solche wiederum liefern sie dem Menschen in der planperspektivischen Aufsicht Einsichten oder, noch besser gesagt, Ein­blicke in jene Baugesetze, die Gott bei der Schöpfung der Welt in diese hineingelegt hatte, und diese Welt war – wie es im Buch der Weisheit heißt – nach Maß, Zahl und Gewicht konzipiert.30

28 Vgl. Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 2. Auflage, München 1994, S. 21–37. 29 Vgl. Detlef Zinke, Patinirs „Weltlandschaft“. Studien und Materialien zur Landschaftsmalerei im 16. Jahrhundert (Europäische Hochschulschriften 6, Reihe 28), Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas 1977; Albrecht Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1990; Markus Paulußen, Jan Brueghel d. Ä. ‚Weltlandschaft‘ und enzyklopädisches Stillleben, Diss. RWTH Aachen 1997. 30 Weis, 11, 20.

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Kosmogramme wie die gezeigten, deren visueller Code sich entsprechend der Grund­ a nnahme einer mathematischen Beschreibbarkeit der Welt bevorzugt der Formen­sprache der Mathematik bediente,31 sind demnach Bilder, in denen das menschliche Auge und der menschliche Blick an das göttliche Auge und den göttlichen Blick angeglichen werden. Es sind pikturale Selbstermächtigungsversuche des Menschen, die Einblicke in die ratio Dei gewähren. In deutlicher Anlehnung an Platons Lehrstück über seine sogenannte Anamnesis-Lehre im Dialog Menon32 sind es Versuche, das durch den Sündenfall temporär verschüttete Wissen um die Beschaffenheit und Struktur der Welt und deren verborgene Baugesetze in einem visuell initiierten und aktivierten Prozess der Wiedererinnerung sukzessive wiederzugewinnen.33 Durch Betrachtung dieser Kosmo­g ramme wird der Mensch, der sich post lapsum, also nach dem Sündenfall, in einem status corruptio­nis befindet, gewissermaßen in einen ursprünglichen paradiesischen status innocentiae et integritatis zurückversetzt.34 Dieser Status wird folglich durch einen Blick wiederhergestellt, der ein epistemologisch-ontologischer und memorativer Blick zugleich ist. Die integritas des konzentrisch strukturierten Kosmogramms, also die ,Ganzheit‘ beziehungsweise ,Vollheit‘ dieser synoptischen, kosmologische Quaternitäten kombinatorisch zusammenführenden Diagramme, für die in aller Regel geometrisch perfekte Formen herangezogen werden, korrespondiert direkt mit der intellektuellen integritas Gottes, mit der prinzipiellen Unversehrtheit seines absoluten Wissens und seines absoluten Gedächtnisses, seiner exorbitanten divina sapientia et memoria naturalis, die keiner mnemonischen Unterstützung bedarf. Für Gott nämlich waren die Ordnung der Dinge, die Ordnung des Intellekts und die Ordnung des Gedächtnisses in idealer Weise auf­einander und ineinander abbildbar.35 Nur derjenige, der wie der Mensch hierin Schaden genommen und die göttliche überragende Gedächtnisleistung als Naturgabe ver­loren hatte, weil er nach dem Sündenfall die similitudo Dei und damit sein Wissen durch Vergessen temporär verloren hatte, bedurfte der Wiederherstellung seiner intellektuellen Kapazitäten durch Wiedererinnerung, um dadurch eine möglichst weit­reichende Wieder­herstellung der vollen Gottähnlichkeit zu er­­reichen. So hatte es jedenfalls mit bestechend klaren Worten auch schon Francis

31 Menso Folkerts, Eberhard Knobloch und Karin Reich (Hg.), Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis und Weltbeherrschung (Ausst.-Kat. Wolfenbüttel, Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel), Weinheim 1989. 32 Platon, Menon 82b–85e. 33 Vgl. Andreas Gormans, Visus perfectus – oder die Kunst, den Sündenfall vergessen zu machen, in: David Ganz und Thomas Lentes (Hg.), Sehen und Sakralität in der Vormoderne (KultBild, Visualität und Religion in der Vormoderne 4), Berlin 2011, S. 240–265. 34 Vgl. Thomas Leinkauf, Scientia universalis, memoria und status corruptionis. Überlegungen zu philo­sophischen und theologischen Implikationen der Universalwissenschaft sowie zum Verständnis von Universalwissenschaft und Theorien des Gedächtnisses, in: Jörg Jochen Bern und Wolfgang Neuber (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750 (Frühe Neuzeit 15), Tübingen 1993, S. 1–34. 35 Ebd., S. 5

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3  Joan Blaeu, Weltkarte in Mercatorprojektion aus dem Atlas Novus, Kupferstich, koloriert, ­A msterdam 1634 und später

Bacon gesehen, bestand das oberste Ziel der Wissenschaft – wie er in seiner ersten wissen­schaftstheoretischen Schrift, dem Valerius Terminus von 1603, schrieb – doch in der Restitution des göttlichen Heilsplans: Wahres Ziel des Wissens war „a restitution and reinvesting (in great part) of man to the sovereignty and power (for whensoever he shall be able to call the creatures by their true names he shall again command them) which he had in first state of creation.“36 Auf das Engste mit dieser komplexen Gedächtnistheorie verbunden, treten diese Kosmogramme, die somit als geometrisch kodierte Gedächtnisbilder zu betrachten sind und die Komplexität des verfügbaren Wissens in ihrer Ordnung transparent machen,

36 Francis Bacon, Valerius Terminus of the Interpretation of Nature, in: James Spedding, Robert Leslie Ellis und Douglas Denon Heath (Hg.), The Works of Francis Bacon, 14 Bde., London 1857–1874, Faksimile-Neudruck, Bd. 3, Stuttgart/Bad Cannstatt 1963, S. 222. Vgl. auch Wolfgang Neuber, Systematische und kasuistische Wissensordnungen. Mnemotechnische Prozesse im 17. Jahrhundert, in: Wolfgang Detel und Claus Zittel (Hg.), Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit (Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel 2), Berlin 2002, S. 185–196, hier S. 188.

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4  Pieter van den Keere, Comitatus Hollandiae, Amsterdam 1610, Kupferstich, 56 × 44 cm, ­u nkoloriert, München, Bayerische Staatsbibliothek, Sign. Mapp. V, 40 z

ihre Rezeptionsgeschichte bis in 17. Jahrhundert an.37 Zentrale Bausteine dieser Rezeptionsgeschichte sind zunächst und vor allem die frühneuzeitlichen Karten, so beispielsweise die Weltkarte von Joan Blaeu als Bestandteil seines erstmals 1634 veröffentlichten Atlas Novus mit den vier Elementen und Jahreszeiten in den flankierenden Seitenvignetten und den sieben Planeten und Weltwundern oben und unten (Abb. 3).38 Zu denken ist darüber hinaus an die Tabula Comitatus Hollandiae Pieter van den Keeres aus dem Jahre 37 Vgl. Andreas Gormans, Memoria more geometrico. Welt und Weltverständnis im Zeichen von Kreis und Quadrat, in: Andrea Albrecht, Gesa von Essen und Werner Frick (Hg.), Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur (linguae & litterae 11), Berlin/Boston 2011, S. 83–109. 38 Zu erkennen sind Personifikationen von ignis (Blitzbündel und Flammenball), aer (Wolken und ­Vögel), aqua (Amphore) und terra (Füllhorn), außerdem ver (Blumen), estas (Korngarbe), autum­nus (Weintrauben) und hyems (Mantel und Hut). Vgl. Franz Wawrik, Renaissance- und Barock­atlanten, in: Hans Wolff (Hg.) im Auftrag der Bayerischen Staatsbibliothek, Vierhundert Jahre Mercator. Vierhundert Jahre Atlas. „Die ganze Welt zwischen zwei Buchdeckeln“. Eine Geschichte der Atlanten (Ausstellungskataloge Bayerische Staatsbibliothek 65), Weißenhorn 1995, S. 41–66.

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1610, eine Karte, die silhouettenhaft Stadtansichten, regionale Trachten unterschied­ licher sozialer Klassen, Stadtwappen und landestypische Tätigkeitsbereiche wie Seefahrt, Ackerbau, Getreidemahlen, Fischen und Torfstechen, aber auch Freizeitbeschäftigungen wie das beliebte Landjachtfahren zusammenstellt. Als repräsentativer Einblick in die soziokulturellen Facetten des Lebens der Holländer im Überblick wird die Karte zum Statement nationaler Identität (Abb. 4).39 Vor dem Hintergrund, dass die vorliegende markante rasterförmige Bilddisposition prinzipiell auch auf andere vergleichbare Kontexte übertragbar gewesen ist, lassen sich nicht weniger auch Karten vom Heiligen Land anführen, die holländischen Bibeleditio­ nen auf Wunsch ihrer Käufer zusätzlich beigegeben werden konnten. Dazu zählt etwa eine von Petrus Plancius entworfene, 1604 bei Jan Evertsz. Cloppenborch in Amsterdam gedruckte und von Johannes van Doetechum gestochene Karte, die das irdische Paradies teils in Form einer enzyklopädischen Paradieslandschaft in der Manier Roelant Saverys und Jan Brueghels d. Ä. darstellt, teils topografisch zwischen Palästina, Ägypten und Arabien exakt zu verorten sucht und in 15 querovalen Medaillons die Genesis als Bildergeschichte erzählt (Abb. 5).40 Nicht zuletzt wird man an dieser Stelle an die berühmte Serie der vier Erdteilbilder Jan van Kessels d. Ä. von 1664–1666 erinnern müssen,41 noch mehr allerdings an den sogenannten Leo Belgicus (Abb. 6).42 Ab 1609 in zahllosen modifizierten Auflagen veröffentlicht, erinnert die intelligente Verschmelzung von topografischer Karte, panoramatischem Landschaftsbild, von Stadtansichten und Stadtwappen und der symbolischen, vor allem mnemotechnisch höchst bedeutungsgeladenen Tierfigur des streitbaren Löwen in der vorliegenden Form des vermutlich um 1621 in der Amsterdamer Offizin von Claes Jansz. Visscher entstandenen politischen Ereignisbildes an die Segnungen des niederländisch-spanischen Waffenstillstandes zwischen 1609 und 1621 für Wissenschaft und Kunst, Handel, Landwirtschaft und persönliches Wohlergehen. Ließe sich diese exemplarisch zitierte Gruppe aussagekräftiger Bildbeispiele zwar problemlos erweitern, so ist an dieser Stelle doch im Hinblick auf ihre Rezeptionsgeschichte relativierend einzuwenden, dass es diesem offensichtlich bis weit ins 17. Jahrhundert hinein in ganz unterschiedlichen Kontexten genutzten Bildformular – in der Grundidee mittelalterlichen Ursprungs – nicht beschieden sein sollte, Zeit überdauernde 39 Traudl Seifert (Hg.), Die Karte als Kunstwerk. Dekorative Landkarten aus Mittelalter und Neuzeit (Ausst.-Kat. München, Bayerische Staatsbibliothek), Unterschneidheim 1979, S. 153. 40 Vgl. Shirley K. Bennett, Art on Netherlandish Maps 1585–1685: Themes and Sources, Diss. University of Maryland 1990, S. 98–117. 41 Vgl. Andreas Gormans, Ein eurozentrischer Blick auf die Welt, die Lust an der Malerei und die Macht der Erinnerung. Die Erdteilbilder Jan van Kessels in der Alten Pinakothek, München, in: Frank Büttner und Gabriele Wimböck (Hg.), Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes (Pluralisierung & Autorität 4), Münster 2004, S. 363–400. 42 Vgl. Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild (Münstersche Mittelalter-Schriften 53), München 1984, S. 328–331, Abb. 77.

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5  Petrus Plancius, Tabula Geographica, in qua Paradisus, […], gedruckt bei Jan Evertsz. ­ Cloppenborch nach einem Kupferstich von Johannes van Doetechum nach einem Entwurf von Petrus ­Plancius, Amsterdam 1604, Kupferstich, unkoloriert, Amsterdam 1604, The Jewish National & University ­Library, David and Fela Shapell Family Digitization Project, Eran Laor Cartographic Collection, ­Hebrew University of Jerusalem

Gültigkeit zu beanspruchen. Spätestens mit Beginn des 18. Jahrhunderts nämlich sollte der Verfall dieser lange Zeit bewährten, vornehmlich aus elementargeometrischen Formen konzipierten Kosmogramme panoramatisch-synoptischer Bauart einsetzen; das Bildformular, das seine Kompatibilität und memorative Effizienz Jahrhunderte lang bewiesen hatte, geriet ziemlich abrupt in Vergessenheit. Zurückzuführen ist dieser Bedeutungsverlust maßgeblich darauf, dass sich diese diagrammatisch strukturierten Bildformen, die sich auf bestimmte ländliche Regionen, auf einzelne Länder und Kontinente oder sogar die ganze Welt beziehen konnten, in den seltensten Fällen auf den Weltausschnitt oder die Welt selbst, sondern in aller Regel nur auf die Vorstellungen, die man von diesem Ausschnitt oder der Welt hatte, bezogen haben. Was in diesen Koordinatensystemen approximativer Weltorientierung begegnet, ist mithin meist die Grundannahme der Existenz einer immer schon vorausgesetzten, projektierten und in sich geschlossenen Ordnung, in die wirklich Neues unmöglich zu integrieren gewesen wäre. Diese Inkompatibilität der statischen, abgeschlossenen kosmo­ logischen Diagrammatik mit einem sich dynamisch entwickelnden und im Wandel befindlichen Weltwissen deutete sich bereits im 17. Jahrhundert an. Spätestens zum Tragen gekommen wäre diese prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen der Bildform und der Vorstellung, die man vom Bildgegenstand hatte, im 19. Jahrhundert mit Charles ­Darwin,

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6  Claes Jansz. Visscher, Leo Belgicus, 1611–1621, Radierung und Kupferstich, 48 × 58 cm, ­ Stanford University Libraries, The David Rumsey Map Collection, Sign. G601.A5 1611.V5

denn spätestens mit seiner Evolutionstheorie ist auch die Natur in eine geschicht­liche Dimension gestellt worden, die die alten, absolut erscheinenden Systematisierungs­ muster als heuristische Klassifikationsschemata enttarnt hätte.43 Folglich musste die memorative Bildkomposition auf den Wandel dieser Vorstellungen und damit auch auf die gravierenden ,Demontagen‘ überholter Weltbilder reagieren. Eine der folgen­reichsten dieser Neuordnungen war sicherlich die Vorstellung von der Unendlichkeit der Welt, die in Isaac Newtons Postulat vom unendlichen, homogenen und isotropen Raum kulminierte.44 Hinzu kamen entsprechende Teildemontagen, die die konkreten Inhalte der 43 Olaf Breidbach, Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht (Edition Unseld 10), 1. Auflage, Frankfurt am Main 2008, S. 59. 44 Zur Geschichte der physikalisch-philosophischen Raumvorstellungen im Wandel der Geschichte vgl. Alexander Gosztonyi, Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg/München 1976, Bd. 1, S. 329–354; Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt am Main 1980, S. 144–172, 186–245.

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Baugesetze der Welt betrafen, so beispielsweise die Vorstellung von der Vier-Elemente-­ Lehre oder Grundannahmen der Alchemie, an deren Stelle die neuere Chemie treten sollte.45 Spätestens mit diesem Wandel verlor vor allem die divinia quaternitas, jene über mehr als ein Jahrtausend unangreifbare Vierzahl als Matrix des christlichen Weltverständnisses,46 ihre Bedeutung. Mit dem Bedeutungsverlust der Vierzahl verschwanden die kompatiblen kosmologischen Quaternitäten, mit den Quaternitäten schließlich die elementargeometrischen Figuren und Figurationen aus Quadraten und Rechtecken, aus Rhomben und Kreisen und die aus ihnen gebildeten Kosmogramme komplexerer Bauart. Die buchstäbliche Sprengung des geografischen Weltbildes, gewandelte Raumvorstellungen, eine skeptizistisch-kontroverse Haltung gegenüber neuen, zeitgemäßen, Kosmos systematisierenden und klassifizierenden Begriffen, Taxonomien und Kategorien, das unübersehbare Ordnungsproblem bei der Wissensverwaltung,47 aber auch die exponentielle Steigerung von Buchpublikationen in allen Wissensbereichen, Disziplinen und Sparten und damit einhergehend der immense Zuwachs eines Wissens, das längst nicht mehr überschaubar war48 – alles das musste zwangsläufig zur Ablösung eines inzwischen überholten Darstellungsverfahrens führen, das noch immer auf die raum-zeit­ liche Endlichkeit des von Gott geschaffenen und auf Gott ausgerichteten Kosmos fixiert war und auf die Zählbarkeit der die Welt konsti­tuierenden Dinge vertraute. Der Bild­ typus des geometrisch strukturierten Gedächtnisbildes kosmologischer Ausrichtung, das noch den Anspruch hatte, die Gesamtheit des Wissens anschaulich und auf einen Blick in einer einzigen perspektivischen Totale zu speichern und zu ver­mitteln, verschwand folglich für immer aus der europäischen Kunst- und Wissenschaftsgeschichte. Wenn der deutsche Universalgelehrte Eberhard Werner Happel in seinen 1684 erschienenen Relationes Curiosae schreibt, dass „Gott auf seiner runden Weltkugel eine ­solche Kunst­kammer ordiniert [habe], mit welcher keine einzige zu vergleichen [sei]“, war die Welt also offenbar nicht mehr abbildbar;49 ein Abbild von ihr konnte nur noch die Welt 45 Vgl. Sven Dupré, Dedo von Kerssenbrock-Krosigk und Beat Wismer (Hg.), Kunst und Alchemie. Das Geheimnis der Verwandlung (Ausst.-Kat. Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast), Düsseldorf/ München 2014. 46 Anna C. Esmeijer, Divina Quaternitas. A Preliminary Study in the Method and Application of Visual Exegesis, Assen 1978. 47 Helmut Zedelmaier, Bibliotheca Universalis und Bibliotheca Selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 33), Köln/­ Weimar/Wien 1992. 48 Vgl. Dirk Werle, Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580–1630 (Frühe Neuzeit 119), Tübingen 2007; Ann M. Blair, Too Much to Know. Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven/London 2010; Peter Burke, Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia, Berlin 2014. 49 Eberhard Werner Happel, Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes Curiosae […], Bd. 3, Hamburg 1684. Zit. nach Uwe Hübner und Jürgen Westpfahl (Hg.), Eberhard Werner Happel, Größte Denkwürdigkeiten der Welt oder sogenannte Relationes Curiosae, Berlin 1990, S. 224; Flemming Schock, Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der „Relationes Curiosae“ von E.W. Happel (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 68), Köln/­ Weimar/Wien 2011.

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selbst sein.50 Denn auch wenn der Topos der mathematischen Beschreibbarkeit der Welt Formen der Anschaulichkeit in Darstellungen eines creator mundi gefunden hat, den Miniatu­r isten seit Beginn des 13. Jahrhunderts bevorzugt mit einem Zirkel operierend dargestellt haben,51 so bezog sich Galileo Galileis in seiner Schrift Il saggiatore von 1623 getroffene Feststellung, dass die Philosophie in dem großen, vor unseren Augen offen liegenden Buch, dem Universum, in der Sprache der Mathematik, in Dreiecken, Kreisen und anderen geometrischen Figuren geschrieben sei,52 sicherlich nicht mehr auf die Gruppe der panoramatisch-synoptischen Kosmogramme; vielmehr wird diese Äußerung als eine Anspielung auf die zukünftig immer intensiver anzuwendende Methode der mathematisch-geometrischen Beschreibung (descriptio) der Vorgänge in der Natur und die Formulierung allgemeingültiger mathematischer Gesetzmäßigkeiten zu verstehen sein. Für das aus elementargeometrischen Formen zusammengesetzte Kosmo­ gramm synoptischer Bauart bedeutete diese Entwicklung jedoch das Ende. Die einzig neuen Bildtotalen, die im Zusammenhang mit Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts entstanden sind, lieferten folglich die für sie eigens entwickelten Frontispize, so auch das von John Sturt signierte zur zweibändigen Cyclopaedia Ephraim Chambers’ von 1728 (Abb. 7),53 das vermutlich auf einen Stich mit dem Titel L’ Académie des S ­ ciences et des Beaux-Arts von Sébastien Leclerc zurückgeht. Als Versuch, das sogenannte ­Système – jene diagrammatische Darstellung zur allgemeinen Wissenschaftstektonik (entendement) – in ein allegorisches Figurenbild umzusetzen, zeigt es die Fülle der Wissenschaften und Künste in einer fiktiven, offenen Loggia-Architektur, idealtypisch zusammengestellt – eine Darstellung, die verworren und überladen wirkt, keineswegs aber memorativ.54 An die Stelle der alten monoperspektivischen Sicht hatte also angesichts des gewandelten wissenschaftstheoretischen Ansatzes und der neuen Materialfülle die polyperspektivische Sicht zu treten, die sich als einzige adäquat der Empirie und der neuen Mannigfaltigkeit der Phänomene der Einzelwissenschaften zuwenden ­konnte.55 Die lange Zeit als geschlossener, einheitlicher Schauplatz verstandene Welt, die in immer wieder anderen Theatra mundi inszeniert wurde, hatte sich in eine Vielzahl von Teilschauplätzen aufgespalten; der inflationär verwendete Titel ‚­T heatrum‘ oder

50 Vgl. Umberto Eco, Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien, München/Wien 1990, S. 85–97. 51 Vgl. Jutta Göricke, Greifbare Vernunft. Zur Ikonographie mathematischer Instrumente, in: Hans Holländer (Hg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 255–295, bes. 278–288. 52 Karen Gloy, Das Verständnis der Natur. 1. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens, München 1995, S. 154–157, 308, Anm. 42. 53 Philip Stewart, Sur le frontispice (français) de Chambres, in: Gazette des Beaux-Arts 6 (1995), Nr. 125, S. 31–40. 54 Vgl. Barbara Holländer, Die enzyklopädische Ordnung des Wissens in bildlichen Darstellungen, in: Hans Holländer (Hg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 163–179. 55 Jacques Proust, L’ Encyclopédie Diderot et D’Alembert. Planches et commentaires, Paris 1985.

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7  John Sturt, Frontispiz zu Ephraim Chambers, Cyclopædia: or, an Universal Dictionary of Arts and Sciences; […], Bd. 1, London 1728

‚Schauplatz‘ für wissenschaftliche Traktate war nur ein, wenngleich aussagekräftiges Indiz für diesen Wandel.56 Was indes von den memorativen Kosmogrammen Mitte des 18. Jahrhunderts noch übrig geblieben war, sollte allein die Erinnerung an den panoramatisch-synoptischen Blick sein. Mustergültig repräsentiert im Medium der Karte, wurde diese Bildform fortan zur wichtigsten Metapher für die Enzyklopädie im 18. Jahrhundert, mit der sich eine programmatische Generalreform der Wissenschaften und eine zukunftsträchtige Planung des Wissenschaftsfortschritts verbinden sollte.57 So schwebte bereits Ende des 17. Jahrhunderts dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz im Rahmen seiner Vorüberlegungen zum Aufbau einer zukünftigen 56 Vgl. Andreas Gormans, „Das Medium ist die Botschaft“. Theatra als Bühnen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses, in: Flemming Schock, Oswald Bauer und Ariane Koller (Hg.), Dimensionen der Theatrum-Metapher in der Frühen Neuzeit. Ordnung und Repräsentation von Wissen (Meta­ phorik.de 14), 1. Auflage, Hannover 2008, S. 21–53. 57 Madeleine Pinault, L’ Encyclopédie (Que Sais-Je?), Paris 1993.

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Enzyklopädie der Entwurf eines „Atlas universalis“ vor, auf dem alle Wissenschaften wie auf einer Landkarte verzeichnet sein sollten.58 Der englische Schriftsteller und Vertreter der Frühaufklärung, Ephraim Chambers, wiederum benutzte zur Charakterisierung seines 1728 in London erschienenen zweibändigen enzyklopädischen Wörterbuchs Cyclopaedia das Bild vom Land des Wissens („the whole land of knowledge“),59 während der Schweizer Theologe und Philosoph Johann Georg Sulzer die Ansicht vertrat, dass – weil sich die Wissenschaften als ein Land darstellen würden – der Stoff der Gelehrsamkeit trotz seiner Unendlichkeit mithilfe einer Karte überschaubar gemacht werden könne. Ausgehend von diesen Voraussetzungen, so Sulzer in seinem Kurzen Begriff aller Wissen­schaften und andern Theile der Gelehrsamkeit von 1745, sei es „angenehm, einen Abriß desselben [der ,Wissenschaftslandschaft‘] vor sich zu haben, und die Namen, die Lage und allgemeine Beschaffenheit der verschiedenen Provinzen und Städte derselben auf einer Landcharte zu lernen“.60

Die ausführlichste Kommentierung einer solchen als Weltkarte (mappemonde) verstandenen Enzyklopädie findet sich allerdings erst sechs Jahre später in der Encyclopédie ­Diderots und d’A lemberts von 1751. So betrachtet Jean Le Rond d’A lembert die Vorzüge einer als ‚Weltkarte‘ verstandenen Enzyklopädie in der Gleichzeitigkeit der Übersicht und der Veranschaulichung der Verbindungen der Wissenschaften untereinander, wodurch den immensen Wissenssummen („vaste labyrinthe“) ein wohlgeordnetes System entgegengestellt werde. Der Zweck dieser Ordnung, so der Mathematiker und Physiker, bestehe in einer Zusammenstellung auf möglichst kleinem Raum („le plus petit espace possible“), und der Philosoph, so heißt es weiter, solle gewissermaßen ­contuitus-­gleich über diesem Labyrinth stehen („au-dessus de ce vaste labyrinthe“) und von einem höher gelegenen und zugleich überlegenen Standpunkt aus gleichzeitig die wichtigsten Künste und Wissenschaften erfassen können („dans un point de vue fort élevé d’où il puisse apercevoir à la fois les science et les arts principaux“).61 Dabei solle er, so d’A lembert, 58 „Mihi autem in mentem venit Encyclopædiam totam Atlante quodam Universali egregie comprehendi posse.“ Louis Couturat (Hg.), Opuscules et Fragmentis inédits de Leibniz. Extraits des Manuscrits de la Bibliothèque royale de Hanovre (Collection Historique des Grands Philosophes), Paris 1903, S. 222. Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2), Bonn 1977, S. 30– 35, hier S. 33. 59 Ephraim Chambers, Cyclopaedia: or an Universal Dictionary of Arts and Sciences, 2. Auflage, London 1738, Preface, S. IIf. Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2), Bonn 1977, hier S. 59. 60 Johann Georg Sulzer, Kurzer Begriff aller Wissenschaften und andern Theile der Gelehrsamkeit, worin jeder nach seinem Inhalt, Nuzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird, 2. Auflage, Frankfurt/Leipzig 1759, S. 4. Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2), Bonn 1977, S. 40. 61 Jean Le Rond D’A lembert, Einleitung zur Enzyklopädie von 1751, hg. von Erich Köhler (Meiners Philosophische Bibliothek 242), Hamburg 1955 (frz. Erstausgabe Paris 1751), S. 84–85. Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2), Bonn 1977, S. 54–55.

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die Gegenstände („objets de ses spéculations“) mit einem einzigen schnellen Blick über­ sehen („voir d’un coup d’œil“), wobei man an eine Art Weltkarte denken könne, auf der die wichtigsten Länder, ihre Lage und Abhängigkeiten voneinander verzeichnet seien („une espèce de mappemonde qui doit montrer les principaux pays, leur position et leur dépendance mutuelle“).62 Die konkrete Anschaulichkeit des künstlerisch gestalteten memorativen Bildes hatte sich somit in die literarische Anschaulichkeit einer hermeneutischen Metaphorik hinübergerettet oder, noch besser gesagt, in die Anschaulichkeit der Metapher. Durch diesen paradigmatischen Schritt zu diesem Zeitpunkt befreite der Verlust der mnemotechnischen Strukturierungssysteme des Wissens die Vernunft mithin aus der Vormundschaft der erinnerten Tradition, die bezeichnenderweise als „Memorialismus der älteren Wissenschaft“ bezeichnet wurde.63 Es etablierte sich eine gedächtniskritische Philosophie, die die Macht und die Last der Erinnerung zu neutralisieren suchte, die das Vergessen als Conditio sine qua non für jedweden wissenschaftlichen Fortschritt propagierte, sich auf einen autonomen Standpunkt zurückzog und sich allein auf die Leistung einer kritisch reflektierten Vernunft berief.64 Parallel zu dieser grundsätzlich memoria-skeptischen Haltung sollten darüber hinaus nicht zuletzt auch die alten mnemotechnischen Strukturierungssysteme des ­Wissens ihre eingangs erwähnte theologische Legitimation im Rekurs auf den Sündenfall ver­ lieren. Während bereits Voltaire die Erbsünde schlichtweg für eine Erfindung („invention“) der christlichen Kirche hielt,65 war für Immanuel Kant im Sinne einer kritischen Verwendung der menschlichen Vernunft als universeller Urteilsinstanz der Sündenfall der erste emanzipatorische Schritt des Menschen zu sich selbst, die erste emanzipierende Tat, die zum Gewinn der Freiheit führte; in diesem Sinne hatte augenscheinlich auch die Sünde, seit jeher Inbegriff und Ursprung alles Bösen, ihr Gutes.66 62 D‘Alembert 1955 (wie Anm. 61), S. 86–87. 63 Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, 2. Auflage, München 1997, S. 264. 64 Vgl. ebd.; Frank Grunert, Die Marginalisierung des Gedächtnisses und die Kreativität der Erinnerung. Zur Gedächtnistheorie der deutschen Aufklärungsphilosophie, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Formen der Erinnerung 26), Göttingen 2005, S. 29–51; Dirk Werle, Zum Verhältnis von Skeptizismus und Enzyklopädistik bei Gabriel Naudé und Pierre Bayle, in: Carlos Spoerhase, Dirk Werle und Markus Wild (Hg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850 (Historia Hermeneutica, Series Studia 7), Berlin/New York 2009, S. 179–199. 65 Klaus Schreiner, Das verlorene Paradies. Der Sündenfall in Deutungen der Neuzeit, in: Richard von Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien/ Köln/Weimar 1998, S. 43–71, hier S. 58. 66 „Wie nun […] auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen immer beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste: es sich als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen […].“ Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten (Kants gesammelte Schriften 6), hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1907, S. 40. Vgl. Odo Marquard, Felix culpa? – Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3, in: Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfhart Pannenberg (Hg.), Text und Applikation. Theologie,

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Alles das setzte jedenfalls die alte, als Wiedererinnerung verstandene und praktizierte Suche nach der für den Menschen temporär verschütteten divina sapientia außer Kraft. Da das kulturelle Gedächtnis auf diese Weise Schritt für Schritt von der aufgeklärten Gedächtniskritik eingeholt und schließlich sogar überholt worden ist, wurde diese Suche in ihre neuen Rechte und Vorrechte gesetzt, um seitdem dazu zu animieren, die Wahrheit der Wissenschaft nicht mehr länger hinter sich, sondern vor sich zu suchen.67 Das Zeitalter des mitunter sturen, autoritätsgläubigen Kopierens heraus­ ragender wissen­schaftlicher Handschriften, wie es vor allem im Mittelalter praktiziert worden war, die Erinnerung an das Tradierte, die selbst zur Tradition geworden war, war jedenfalls vorbei. Das Postulat einer unveränderlichen immerwährenden Gültigkeit eines einmal gewonnenen Wissens wurde aufgegeben und führte unter dem Gesichtspunkt der Histo­r izität und Zeitlichkeit zu einer veränderlichen, zeitbedingten Wissenswahrnehmung, zu einer sich selbst unentwegt neu erfindenden Vorläufigkeit aktueller Wissensordnungen, die zugleich die bereitgestellte ars, dieses Wissen zu memorieren, infrage stellen musste. Mit dem Ende der memorativen Kosmogramme endete zugleich die Vorstellung von einem Wissen als zeitlosem Zeugnis, als einem statischen, einheitlichen und topisch geordneten Zusammenhang. Angesichts des immensen Wissenszuwachses, der Auffächerung und Verselbstständigung der Einzelwissenschaften blieb von dem hierarchischen universal-topischen System, von den vielen Techniken, altes Wissen zu bewahren, vor allem aber neues zu erlangen,68 blieb von der bildunterstützen ars memorativa, die als Bestandteil der antiken Rhetorik ersonnen wurde und ursprünglich angetreten war, um Texte zu memorieren, mit dem einzelnen Buchstaben als der kleinsten mnemotechnischen Bildeinheit nur noch das Skelett übrig,69 nämlich die alphabetische Ordnung, die den Stoff der Enzyklopädie fortan strukturieren sollte. Diese alphabetische Ordnung, die sich seit dem 17. Jahrhundert durchzusetzen begann, isolierte die Gegenstände des Wissens, indem sie sie von ihrem Ort in der Schöpfung, dem Kosmos und den Ordnungsprinzipien der Kunst- und Wunderkammern löste. Zugleich war diese neue Ordnung aber auch eine unmittelbare Folge der parallel aufkommenden Kunst des Exzerpierens. Letztlich war diese Kunst der Verfügbarmachung des Wissens gelesener Bücher mithilfe geordneter Notizen nämlich nur deswegen so effizient und zuverlässig, weil diese Kunst nicht nur auf die Verwendung von Papier und Tinte, sondern auch von Behältern, Kisten und sogar Schränken Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 53–71, hier S. 58. 67 Vgl. Weinrich 1997 (wie Anm. 63), S. 264. 68 Barbara Keller, Mnemotechnik als kreatives Verfahren im 16. und 17. Jahrhundert, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 200–217. 69 Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Buchstaben, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechnik vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), Wien/Köln/­ Weimar 2000, S. 699–709.

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8  Vincentius Placcius, De arte excerpendi. Vom Gelahrten Buchhalten, Liber singularis, […], Stockholm/­Hamburg 1689, Tab. IV

setzte, in denen – wie der Kupferstich eines Exzerptschranks in der Schrift De arte excerpendi des Hamburger Juristen, Pädagogen und Philosophen ­Vincent ­Placcius von 1689 zeigt – die geernteten Lesefrüchte nur dadurch verarbeitet und erinnerbar gemacht werden konnten, dass diese Schränke mit Titeln oder Schlagwörtern (tituli), den Namen der Fundstellen (loci) oder eben dem Alphabet systematisch ver­sehen worden sind (Abb. 8).70 Wie bereits der Blick auf die ars excerpendi deutlich macht, geschah die neue alphabetische Ordnung der Enzyklopädien mithin nicht zuletzt auch mit der Absicht, dem Benutzer einen schnellen und zielsicheren Zugriff auf die Gegenstände seines Interesses zu gewähren, so wie das beispielsweise auch schon Pierre Bayle im Vorwort zu seinem erstmalig in Rotterdam 1697 erschienenen zweibändigen Dictionnaire historique et ­critique dargelegt hat, das viele Auflagen und Übersetzungen erfahren hat. So heißt es etwa im Vorwort der von Johann Christoph Gottsched angefertigten, mit Anmerkungen ver­ sehenen und 1741 in Leipzig erschienenen deutschen Übersetzung dieses Wörter­buches, 70 Vincentius Placcius, De arte excerpendi. Vom Gelahrten Buchhalten, Liber singularis, […], Stockholm/Hamburg 1689, Tab. IV. Vgl. Anke te Heesen, Die doppelte Verzeichnung. Schriftliche und räum­l iche Aneignungsweisen von Natur im 18. Jahrhundert, in: Harald Tausch (Hg.), Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung (Formen der Erinnerung 19), Göttingen 2003, S. 263–286, bes. S. 277–284. Siehe auch Helmut Zedelmaier und Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit 64), Tübingen 2001; Markus ­K rajewski, Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek (Copyrights 4), Berlin 2002; Noel Malcolm, Thomas Harrison and his ‘Ark of Studies’. An Episode in the History of the Organization of Knowledge, in: The Seventeenth Century 19 (2004), Nr. 2, S. 196–232.

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dass es letztlich allein die Zweckmäßigkeit dieser alphabetischen Ordnung gewesen sei, die es ihm, also Bayle, erlaubt habe, „verschiedene Artikel aus einem Buchstaben in den anderen [zu verweisen]“, um „die Gleichheit, welche [er] unter den Buchstaben des Alphabets beobachtet haben wollte“, gewährleistet zu sehen.71 Während diese prinzipielle Offenheit der alphabetischen Ordnung zudem das ungemein wichtige Potenzial besaß, grenzenlos erweiterbar zu sein, war indes der Umstand noch viel wichtiger, dass durch diese Anordnung vermieden werden konnte, dass den Gegenständen des Wissens der bislang von theologisch bestimmten Universalbegriffen konditionierte Blick auf die Welt immer wieder vorgeordnet wurde, war es doch das erklärte Ziel, gerade diese Perspektivierung zu überwinden. Dass dieser einem Pragmatismus geschuldete neue alphabetische Ordnungsmodus dabei das Festhalten an der Idee der Ordnung selbst gänzlich unberührt lassen sollte, bezeugt folglich einerseits das erwähnte, den Enzyklopädien vorangestellte Frontispiz, vor allem aber das besagte Bild der Karte, das als Metapher für diese neue Thesaurierungsform noch immer herangezogen wurde. Verantwortlich dafür, dass die Gesamtheit des verfügbaren Wissens in der Encyclopédie immer noch als eine geschlossene Ordnung begriffen werden sollte, war mithin eine auffällige Doppelfunktion der Karte. Aus der Fusion ihrer kontextabhängigen metaphorischen Funktion im Hinblick auf die Encyclopédie einerseits und ihrer kontextunabhängigen epistemologischen, Erkenntnis generierenden Funktion andererseits ergibt sich die Vorstellung von einer Encyclopédie als einem Bild von der Vielheit der Wissenschaften und Künste als Einheit. Nicht gänzlich einflusslos mag in diesem Zusammenhang die von Johann Heinrich Alsted schon früh, nämlich 1630, in Herborn unter dem Titeloberbegriff ‚Enzyklopädie‘ erschienene und subsumierbare siebenbändige Encyclopaedia Cursus Philosophici gewesen sein,72 in der der Polyhistor noch betont hatte, dass es nichts Schöneres und Ertragreicheres gebe als die Ordnung („Ordine nihil pulchrius, nihil fructuosius esse …“).73 Hermeneutisch nicht einfach fassbar, als Sinnform jedoch überaus produktiv, ist folglich auch das Bild von der ,Kartierung der Wissenschaften‘ ein Beispiel für eine Metaphorologie, die hilft, das scheinbar Unbegreifbare dadurch begreifbarer zu machen, dass der eigentliche, zur Diskussion stehende Begriff durch etwas ersetzt wird, das deutlicher, anschaulicher und sprachlich reicher ist.74 71 Johann Christoph Gottsched, Herrn Peter Baylens, […], Historisches und Kritisches Woerterbuch […], Erster Theil. A. und B. Nebst dem Leben des Herrn Bayle vom Herrn Desmaizeaux, Leipzig 1741, Vorrede, S. VII. 72 Thomas Leinkauf, Systema mnemonicum und circulus encyclopaediae. Johann Heinrich Alsteds Versuch einer Fundierung des universalen Wissens in der ars memorativa, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechnik vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), Wien/Köln/Weimar 2000, S. 279–307. 73 Johann Heinrich Alsted, Encylopaedia Septem tomis distincta, Stuttgart/Bad Cannstatt 1989 (Erstausgabe Herborn 1630), S. I, Admonitio de Hisce Tabulis. 74 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1301), 1. Auflage, Frankfurt am Main 1998; Petra Gehring, Das Bild vom Sprachbild. Die Metapher

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Was von der Karte als Bild für die Enzyklopädie im 18. Jahrhundert blieb, war allerdings nicht mehr das konkrete Erscheinungsbild, das man seit Anfang des 17. Jahrhunderts, ausgehend von den Niederlanden, für mehrere Jahrzehnte mit einer Karte in Verbindung brachte, nämlich – wie dargelegt – ein statisch fest gefügtes Arrangement aus einem größeren Referenzbild im Zentrum, umgeben von einer beschränkten Anzahl kleinerer Randbilder. Was die Enzyklopädie mit einer Karte im metaphorischen Sinne vergleichbar machte, waren vielmehr die Eigenschaften, die sie besaß. Im Sinne der Universalwissenschaft des 17. Jahrhunderts,75 die noch immer auf die Blicktotale von oben setzte,76 eröffnete auch noch die als Karte verstandene Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts in erster Linie eine überschaubare Anordnung eines deutlich erweiterten und gänzlich neu strukturierten Wissens, zudem vermittelte sie maßgebliche Erkenntnisse über die Lage und das Verhältnis der einzelnen Wissenschaften zueinander. Das neue konkrete Bild allerdings, das für die Wissensstruktur der Enzyklopädie dann tatsächlich bevorzugt Verwendung finden sollte, das Bild, das – wenn man so will – die Karte als konkretes Bild, nicht aber als Metapher ablöste, war nunmehr die Figur des Wissensbaums, der zur Illustration des angesprochenen Système figuré genutzt wurde, das Diderot ostentativ an den Anfang des ersten Buches seiner Encyclopédie stellte (Abb. 9).77 Basierend auf einer kritischen Methodenanalyse Francis Bacons in ­seiner 1620 in London erschienenen Schrift De dignitate et augmentis scientiarum, wonach er die menschlichen Vermögen in die drei Bereiche memoria, ratio und imaginatio unterteilte, beschäftigt sich auch Diderot mit diesen menschlichen Grundfähigkeiten (,­Connoissances Humaines‘) und ordnet dem Gedächtnis (,Memoire‘) die Geschichte,

und das Visuelle, in: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (Wolfenbütteler Forschungen 120), Wiesbaden/Wolfenbüttel 2009, S. 81–100; Dirk Werle, Methodenmetaphern. Metaphorologie und ihre Nützlichkeit für die philologisch-historische Methodologie, in: Lutz Danneberg, Carlos Spoerhase und Dirk Werle (Hg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (Wolfenbütteler Forschungen 120), Wiesbaden/Wolfenbüttel 2009, S. 101–123. 75 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft (Paradeigmata 1), Hamburg 1983; Wilhelm Schmidt-Biggemann, Philoso­ phia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, 1. Auflage, Frankfurt am Main 1998; Frank Pohle, Universalwissenschaft, in: Hans Holländer (Hg.), Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion, Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 73–119; Isabella von Treskow, Universalwissenschaft. Ein barockes Wissensmodell aus der Perspektive des Hans von Gersdorff, in: Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln/Wien/Weimar 2004, S. 323–348. 76 Vgl. Barbara Bauer, Die Philosophie auf einen Blick. Zu den graphischen Darstellungen der aristotelischen und neuplatonisch-hermetischen Philosophie vor und nach 1600, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechnik vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), Wien/Köln/Weimar 2000, S. 481–519. 77 Robert Darnton, Philosophen stutzen den Baum der Erkenntnis: Die erkenntnistheoretische Strategie der Encyclopédie, in: Robert Darnton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München/Wien 1989, S. 219–244.

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9  Systême Figuré Des Connaissances Humaines, aus: Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’A lembert, Encyclopédie, Ou Dictionnaire Raisonné Des Sciences, Des Arts Et Des Métiers, […], Bd. 1, Paris 1751, o. S.

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der Vernunft (,Raison‘) die Philosophie und der Einbildungskraft (,Imagination‘) die Dichtkunst zu. Wie die Karte machte auch dieses mit Klammern als Zeichen der Zugehörigkeit operierende Baumdiagramm, das übergeordnete Grundbegriffe in möglichst viele Einzel­ aspekte unterteilte und differenzierte, Sachverhalte überschaubar. In mnemotechnischer Hinsicht war es so effizient,78 wie der Anspruch der Encyclopédie selbst, die zu einer geheiligten Stätte avancieren sollte („devienne un sanctuaire“),79 an der das Wissen der Menschen vor den Zeitläufen und Revolutionen geschützt und gesichert werden sollte („soient à l’abri des temps et des révolutions“).80 Der Grund dafür, dass man am Bild der Karte weiterhin zumindest als Metapher für die Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts festhielt, war also die Tatsache, dass man mit diesem Medium, mehr als mit jedem anderen, die Generierung raumübergreifender und grenzüberschreitender Erkenntnisse verband, dass man in ihr vor allem ein Medium erkannte, das zuverlässig Orientierung bot, das gerade in der Ausformulierung einer Weltkarte (mappemonde) sicheres, universales Navigieren ermöglichte. In einer zunehmend komplexer werdenden Wissenschaftslandschaft, die d’A lembert leitmotivisch als Labyrinth bezeichnete, wies einem Leser der mit dem Medium Karte verbundene Blick von oben den Weg, den man einzuschlagen hatte, um einer momentan ausweglos erscheinenden Situation doch noch Herr zu werden. Fragt man indes nach den Gründen, die dazu geführt haben, dass sich wiederum das Bild des Baumes als konkretes, programmatisches wie zukunftsweisendes Bild der für Enzyklopädien typischen Wissenschaftsstruktur durchgesetzt hat, so wird man vor allem darauf verweisen müssen, dass dem Baum seit jeher die Wachstumsidee und damit das Potenzial zu einer fortschreitenden Verästelung inhärent war. Für d’A lembert dürften somit vor allem zwei Gründe für den Typus des Baum­ diagramms zur Veranschaulichung der Wissenschaftsstruktur in der Encyclopédie gesprochen haben: Mit der Wahl des Begriffes ‚Zweig‘ („branches générales“) für eine Wissenschaft81 hatte er nämlich einen im Französischen doppeldeutigen Begriff gewählt, der in der Botanik noch eine Verzweigung an einem Stängel oder Ast meinte, in der Defini­tions­theorie hingegen bereits eine dem Prinzip der Dihairesis verpflichtete Methode der Logik, nach der Begriffe gewissermaßen getrennt und unterteilt wurden, 78 Hans Michael Baumgarten, Arbor porphyriana, porphyrischer Baum, in: Joachim Ritter (Hg.), Histo­risches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, Sp. 493–494; Hermann Schadt, Die Darstellungen der Arbores Consanguinitatis und der Arbores Affinitates. Bildschemata in juristischen Handschriften, Tübingen 1982; Hermann Schadt, Die Arbores bigamiae als heilsgeschichtliche Schemata. Zum Verhältnis von Kanonistik und Kunstgeschichte, in: Werner Busch, Reiner Haussherr und Eduard Trier (Hg.), Kunst als Bedeutungsträger. Gedenkschrift für Günter Bandmann, Berlin 1978, S. 129–147; Theda Rehbock und Nele Schneidereit, Pflanze (3 Strukturprinzipien des Denkens), in: Rolf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 261–274, bes. S. 267–268. 79 D’A lembert 1955 (wie Anm. 61), S. 220. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 86.

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um im Sinne einer umfassenden Klassifikation zu Unterbegriffen und Teilbereichen zu gelangen. Das dem Baum qua Pflanze ureigene Potenzial des Wachstums und damit der Veränderung wird wiederum dadurch reflektiert, dass der mit der Encyclopédie erreichte Wissensstand von d’A lembert in seinem Discours Préliminaire explizit als ein lediglich temporärer beschrieben wird. In dem Zugeständnis, dass der Nachwelt damit prinzipiell die Möglichkeit eingeräumt wird, eigene Entdeckungen den in der Encyclopédie vorliegenden und aufgezeichneten hinzufügen zu können („Qu’elle ajoute ses découvertes à celles que nous aurons enregistrées“),82 wird man zugleich den Reflex einer grundsätzlichen Entwicklungstendenz der Gedächtnistheorie der europäischen Aufklärung erkennen dürfen. Demnach wird das Gedächtnis nicht mehr als ein abgeschlossener, schützender Behälter, als eine ars, sondern vielmehr als eine vis, eine immanente Kraft, eine Energie mit eigenen Gesetzlichkeiten begriffen,83 die maßgeblich dazu beigetragen haben dürfte, dass sich das Wissen in ein üppiges Blattwerk einer stattlichen Anzahl von Künsten und Wissenschaften verzweigen und verästeln konnte.84 Augenscheinlich dürften es insbesondere diese speziellen morphologischen Eigenschaften gewesen sein, die dazu geführt haben, dass dem arbor scientia-Diagramm in der Gattung der Enzyklopädie eine derartige Erfolgsgeschichte beschieden sein sollte. Unter den Spielformen des sichtbaren, diagrammatischen Denkens war diese Diagrammform jedenfalls die mit Abstand geeignetste,85 dem von der Enzyklopädie verfolgten Umbau der ortsgebundenen, normierten, topischen Wissensverwaltung zu einem pragmatischen, flexibel erweiterbaren System gerecht zu werden. Wenngleich man in diesem System, in der erstmals arbeitsteiligen Einlassung auf die Fülle des Wissbaren, zwar eine gegenläufige Entwicklung erkennen mag, indem die Karte als konkretes Bild aus den dargelegten Gründen ihre Bedeutung verlieren musste, während der Baum als konkretes Bild zeitgleich an Bedeutung gewann, so sind Karte und Baum doch nicht nur in memorativer Hinsicht auf das Engste miteinander vergleichbar. Als Metaphern ermöglichen sie Zugänge, die scheinbar nur in metaphorischer Form möglich sind, als Metaphern eröffnen sie zudem Einblicke in die neuronalen Infrastrukturen menschlichen Denkens.86

82 Ebd., S. 220. 83 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 27–32; Grunert 2005 (wie Anm. 64). 84 Vgl. Darnton 1989 (wie Anm. 77), S. 225. Grundsätzlich zum Verständnis des artifiziellen Gedächtnisses in der Tradition der Enzyklopädien vgl. Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie- und Lexikonartikel zur Mnemonik (Documenta Mnemonica. Text- und Bildzeugnisse zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit 2), Tübingen 1998. 85 Jörg F. Maas (Hg.), Das sichtbare Denken. Modelle und Modellhaftigkeit in der Philosophie und den Wissenschaften (Philosophie & Repräsentation 2), Amsterdam/Atlanta 1993. 86 Vgl. Gehring 2009 (wie Anm. 74), S. 81.

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I. Persuasion und Evidenz Eine eigenartige, persuasive Kraft geht von den Bildtafeln der Micrographia aus, die der englische Naturforscher Robert Hooke 1665 auf Basis seiner mikroskopischen Forschungen publizierte. Bereits das Journal des Sçavans, das in seiner Ausgabe vom 20. Dezember 1666 einen ausführlichen, mit präzisen Kopien und Beschreibungen einzelner originaler Bildtafeln des Buches ergänzten Bericht veröffentlichte, hebt ihre besondere Prägnanz hervor. Der darin reproduzierten mikroskopischen Darstellung einer riesigen, vermeintlich bis ins letzte Detail zeichnerisch ausgearbeiteten Laus bescheinigt der Rezensent, viel exakter als der sie begleitende Text die Erscheinung des kleinen Insekts unter dem Mikroskop zu veranschaulichen.1 Beinahe 80 Jahre später grenzt auch der englische Mikroskopist Henry Baker im Vorwort seiner 1745 erschienenen Micrographia Restaurata die Qualität der von ihm neu aufgelegten originalen Bildtafeln mit unmissverständlicher Klarheit von den sprachlichen Beschreibungen mikroskopischer Unter­suchungsgegenstände Robert Hookes ab. Enthalten die Kupferstiche seiner Ansicht nach eine ansprechende Fülle verschiedener mikroskopischer Beobachtungen und seien „perhaps, the most valuable Part of the whole Work“, seien die Texte hoffnungslos veraltet, „­obscure“ und in einem „verbose and disfused Way of Writing“ verfasst, „which seems to us at present tedious and distasteful“. Deshalb habe er sich dafür entschieden, die Micrographia Hookes nicht mehr als Gesamtwerk, sondern nur die darin enthaltenen Bilder neu aufzulegen und diese selbst kurz zu erläutern: „to give

1 „Cette Figure qui represente un Poulx couché sur le dos, & tenant un cheveu avec ses pates, fait beaucoup mieux comprendre que le discours, quelle est la forme de cét insecte.“ Anonymus, Micrographia, or some Physiological descriptions of minute Bodies made by magnifying Glasses […] by R. Hooke […], in: Le Journal des Sçavans (20. Dezember 1666), S. 491–501, hier 495 (zit. nach der Pariser Ausgabe). Im Exemplar der Bibliothèque nationale de France findet sich eine Reproduktion der entsprechenden Bildtafel mit der Laus, ergänzt mit einzelnen Haarfragmenten aus Tafel V und dem Bienenstachel aus Tafel XVI der Micrographia.

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rather some short and plain Descriptions of its Pictures, without meddling at all with its Opinions or Hypotheses“.2 Seit dem erstmaligen Erscheinen der Micrographia finden sich Versatzstücke der 38 Kupferstiche in zahlreichen nachfolgenden, ebenfalls der Erforschung mikroskopischer Welten gewidmeten Werken des 17. und 18. Jahrhunderts in unterschiedlichen Varianten und Kompilationen mehr oder weniger offen kopiert (Taf. V).3 Durch die ­Praxis ihrer stetigen Rezeption und Reproduktion etablierten diese programmatischen Bilder allmählich eine kulturprägende Sichtweise auf das Mikroskopische.4 Veröffentlicht im September 1665 im Auftrag der Royal Society of London for the Improving of Natural Knowledge war das Werk durch seine affektive Präsentation mikroskopischer Erscheinungen thematisch darauf ausgerichtet, die in diesem Umfeld praktizierte empirische Naturforschung nicht mehr nur einem Kreis von Spezialisten, sondern auch interessierten Laien näherzubringen. Besonders die Wahl des Themas Mikroskopie schien geeignet, über einschlägige Kreise hinaus genügend Aufmerksamkeit für die dem Wissenschaftsideal Francis Bacons verpflichtete Royal Society zu generieren. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten die auf der Technik der optischen Linse beruhenden Apparaturen die menschliche Weltsicht verändert, indem sie das Verhältnis der Sehenden zum Gesehenen und so auch den Blick auf Forschungsobjekte neu austarierten. Die Implikationen der mikroskopischen Betrachtungsweise wurden unter Spezialisten bereits in

2 Henry Baker, Micrographia Restaurata: Or, the Copper-Plates of Dr. Hooke’s Wonderful Discoveries by the Microscope, Reprinted and fully Explained […], London 1745, o. S., The Preface. Hervorhebungen im Original. 3 Kopien finden sich zum Beispiel in Johann Franz Griendels, Micrographia Nova, vgl. Johann Franz Griendel, Micrographia nova: sive nova et curiosa variorum minutorum corporum singularis cuiusdam & noviter ab autore inventi microscopii ope audactorum & mirandamagnitudine repraesentatorum descriptio tam utilitas quam jucunditatis gratia additis eorum figuris, Nürnberg 1687, in Philippo Bonannis Micrographia Curiosa, vgl. Philippo Bonanni, Observationes circa viventia, quae in rebus non viventibus reperiuntur. Cum micrographia curiosa. Sive Rerum minutissimarum Observationibus, quae ope Microscopii recognitae ad vivum exprimuntur, Rom 1691; in George Adams 1746 erstmals erschienener Micrographia Illustrata, vgl. George Adams, Micrographia Illustrata or, The Knowledge of the Microscope Explain’d: Together with an Account of A New Invented Universal, Single or Double, Microscope, Either of which is capable of being applied to an Improv’d Solar Apparatus, London 1746; in Martin Frobenius Ledermüllers Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung, vgl. Martin Frobenius Ledermüller, Mikroskopische Gemüths- und Augen-Ergötzung: Bestehend, in Ein hundert nach der Natur gezeichneten und mit Farben erleuchteten Kupfertafeln, sammt deren Erklärung, Nürnberg 1763. Vgl. auch Gerard L’E. Turner, The Impact of Hookes Micrographia, in: Paul Kent und Allan Chapman (Hg.), Robert Hooke and The English Renaissance, Herefordshire 2005, S. 124–145, hier 137–138; Stefan Ditzen, Der Satyr auf dem Larvenrücken. Zum Verhältnis von instrumentellem ­Sehen und Bildtraditionen, in: Martina Heßler (Hg.), Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschaftsund Technikbilder seit der Frühen Neuzeit, München 2006, S. 41–56, hier 51. 4 Vgl. Gabriele Wimböck, Karin Leonhard und Markus Friedrich, Evidentia: Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Einleitung, in: Gabriele Wimböck, Karin Leonhard und Markus Friedrich (Hg.), Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 11–38, hier 13–14.

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der Mitte des 17. Jahrhunderts eingehend disputiert.5 Hingegen waren sie zugewandten Laien, wie sie sich in den Reihen dilettierender Gentleman Scientists und Virtuosi der englischen Oberschicht fanden, noch weitgehend unbekannt.6 Hookes kunstvolle, detaillierte Bildtafeln mikroskopischer Beobachtungen versinnbildlichten die Wirkmächtigkeit der empirischen Naturforschung, folgte ihre programmatische Funktion doch der bereits im Titelkupfer des Buches artikulierten Ambition, Wissen nicht mehr aus Worten, sondern aus Sinneserfahrungen zu gewinnen.7 Da sie eine Überschneidung von Leserblick, Bild und originärer mikroskopischer Beobachtungssituation vorgaben, verschoben sie die Grenzen des Sichtbaren auch für zeitlich und räumlich distanzierte Betrachtende ohne eigenen Zugang zu optischen Geräten und versetzten diese im übertragenen Sinne selbst in die Rolle empirischer Naturforscher.8 Angesichts der ,Wahrhaftigkeit‘, die Hookes Mikrografien im Rezeptionskontext schon bald zugeschrieben wurde, stellt sich die Frage nach den ästhetischen Modalitäten ihrer augenscheinlichen Überzeugungskraft. Wie und warum gelingt es Hookes Zeichenkunst und Grafik, mittels mikroskopischer Seherfahrungen wahrgenommene Präparate in gleichsam ,lebendige‘, für die Betrachtenden sinnlich erfahrbare Repräsentationen ihrer selbst zu verwandeln und so persuasive und suggestive Wirkungsweisen zu entfalten? Zunächst lässt sich die Überzeugungskraft von Hookes mikroskopischen Bildtafeln damit umschreiben, dass sie als Bilder der Wissenskommunikation ihren Adressaten eine spezifische Sichtweise auf bis anhin unsichtbare Welten vermittelten und dabei bildrhetorische Strategien verfolgten, die der visuellen Erzeugung von Glaubwürdigkeit dienten. Sie beanspruchten Gültigkeit in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Diskursen gerade als Bilder, die mikroskopisch Kleines vermeintlich deutlicher, klarer und lebendiger zu zeigen vermochten, als in Worten fassbar gewesen wäre.9 Dass 5 Vgl. Marian Fourniers Liste der zu dem Thema publizierten Bücher und Artikel zwischen 1625 und 1750 nach Autor und der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung: Marian Fournier, The Fabric of Life. Microscopy in the Seventeenth Century, Baltimore 1996, S. 201–213. 6 Vgl. Michael Aron Dennis, Graphic Understanding. Instruments and Interpretation in Robert Hooke’s Micrographia, in: Science in Context 3 (1989), Nr. 2, S. 309–365, hier 311; zur Laienmikroskopie des 17. Jahrhunderts vgl. Jacob Orrje, Reading Art, Reading Nature. How Microscopic Literature Formed Seventeenth-Century Readers, in: Lychnos (2009), S. 91–116. 7 So lautet das Motto der Royal Society, das auch auf Hookes Titelkupfer zu sehen ist, „Nullius in verba“. Vgl. Robert Hooke, Micrographia; or, some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnifying Glasses. With Observations and Inquiries thereupon, London 1665, Titelseite. 8 Die Verdichtung von ursprünglicher Beobachtungssituation und Leserblick zu einer Einheit blendet jene transformativen Prozesse und medialen Umformungen aus, die sich zwischen real beobachteten Sehbildern und ihrer Übersetzung in Zeichnungen und Kupferstiche ergaben. Vgl. zu diesem Befund Hole Rößler, Die Kunst des Augenscheins. Praktiken der Evidenz im 17. Jahrhundert, Zürich/ Berlin 2012, S. 143; 153. Zum Beispiel Leeuwenhoeks vgl. auch Hartmut Böhme, Die Metaphysik der Erscheinungen. Teleskop und Mikroskop bei Goethe, Leeuwenhoek und Hooke, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig (Hg.), Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2003, S. 359–397, hier 387. 9 Vgl. zur Rhetorizität wissenschaftlicher Bilder Simone de Angelis, Demonstratio ocularis und evidentia. Darstellungsformen von neuem Wissen in anatomischen Texten der Frühen Neuzeit, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig (Hg.), Spuren der Avantgarde: Theatrum ana-

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sie sich somit einer visuellen Rhetorik der Evidenz bedienten, wurde von der Forschung schon früh erkannt, jedoch unterschiedlich interpretiert, wandelte sich Evidenz doch im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts selbst von einem in der Antike begründeten rhetorischen zu einem empiristischen Konzept, dessen Anwendungsbereich nicht mehr primär in der Redekunst, sondern vermehrt in der Naturforschung lag.10 Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die Differenzierung rhetorischer und empirischer Spielformen der Evidenz im Zuge der Neuorientierung der Wissenschaften in der Frühen Neuzeit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Hooke’sche Bildproduktion zu untersuchen.11 Eine Beschäftigung mit dem vielschichtigen Begriff der Evidenz ist bei Hooke deshalb reizvoll, weil er in der Micrographia ebenso mit einer visuellen Überzeugungskraft wie auch mit einer aus Sinneswahrnehmung gewonnenen Gewissheit verknüpft ist und damit eine Koexistenz überlieferter rhetorischer Wissenstraditionen und tomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich (Theatrum Scientiarum 5). Berlin/New York 2011, S. 168–193, hier 168, sowie allgemeiner zum Gegensatz von praktischen und rhetorischen Aspekten wissenschaftlichen Arbeitens Jutta Schickore, Doing Science, Writing Science, in: Philosophy of Science 75 (2008), Nr. 3, S. 323–343. 10 Ohne sich in seinem Aufsatz eingehender mit den Voraussetzungen frühneuzeitlicher Bildrhetorik auseinanderzusetzen, attestierte 1989 der Wissenschaftshistoriker John T. Harwood Hookes Bildtafel einer Laus, aufgrund ihres Ausdrucks besonderer Lebendigkeit dem rhetorischen Prinzip der enérgeia zu folgen, vgl. John T. Harwood, Rhetoric and Graphics in Micrographia, in: Michael ­Hunter und Simon Schaffer (Hg.), Robert Hooke, New Studies, Woodbridge 1989, S. 119–147, hier 135. Spätere Ansätze erkannten in Hookes Bildproduktion dagegen eher im Zuge der sich erneuern­ den Wissenschaft auftretende, empirische und bildliche Spielformen von Evidenz, die auf eine aus der Anschauung gewonnene Gewissheit rekurrieren. Vgl. für Analysen der Bildtafeln im Zusammenhang mit dem Thema der Evidenz v.a. Rößler 2012 (wie Anm. 8), S. 158–164, Wimböck, Leon­ hard und Friedrich 2007 (wie Anm. 4), S. 13–14 und Karin Leonhard, Kritik an der Hand. Zum Verhältnis von Wissenschaftler und Zeichner in der frühen Mikroskopie, in: Gabriele Wimböck, Karin Leonhard und Markus Friedrich (Hg.), Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 235–262, hier 247–248. 11 Das Auseinandertreten rhetorischer und empirischer Evidenz wird im Zusammenhang mit der Bildgeschichte der Frühen Neuzeit thematisiert in dem Sammelband: Gabriele Wimböck, Karin Leonhard und Markus Friedrich (Hg.), Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der ­Frühen Neuzeit, Berlin 2007, wobei verschiedene Beiträge auf die antiken Ursprünge des Evidenzbegriffs verweisen. Vgl. Wimböck, Leonhard und Friedrich 2007 (wie Anm. 4), S. 11; bezüglich der Ausdifferenzierung des Evidenzbegriffs vgl. v. a. Jan-Dirk Müller, Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der Frühen Neuzeit, in: Wimböck, Leonhard und Friedrich (wie Anm. 11), S. 59–84, hier 65f. und Markus Völkel, Hugo Grotius’ Grollae obsidio cum annexis von 1629: Ein frühneuzeitlicher Historiker zwischen rhetorischer (Text) und empirischer Evidenz (Kartographie), in: Wimböck, Leonhard und Friedrich (wie Anm. 11), S. 85–110. Vgl. auch die Rezensionen zu dem Band: Angela Fischel, Rezension zu: Wimböck, Gabriele; Leonhard, Karin; Friedrich, Markus (Hrsg.): Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2007, in: H-Soz-Kult (23.12.2008), URL: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-10484 (letzter Zugriff am 7. Mai 2016); Hania Siebenpfeiffer, Video, ergo scio. Neue Untersuchungen zur Evidenz in der Frühen Neuzeit. Rezension über: Gabriele Wimböck/Karin Leonhard/Markus Friedrich (Hg.): Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. ­Münster: LIT 2007, in: IASLonline (03.01.2009), URL: http://www.iaslonline.de/index. php?vorgang_id=2768 (letzter Zugriff am 7. Mai 2016). Bezüglich der Evidenz frühneuzeitlicher mikroskopischer Bilder an Bildbeispielen Antoni van Leeuwenhoeks und Jan Swammerdams vgl. Leonhard 2007 (wie Anm. 10).

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neuer empiristischer Ordnungskategorien andeutet. Ausgehend von der begrifflichen Vieldeutigkeit der Evidenz soll somit im Folgenden am Beispiel der Micrographia näher nach den Überlagerungen empirischer und rhetorischer Ausprägungen dieses Konzepts in Text und Bild und damit nach einer Ambiguität empiristischer und rhetorischer Wissensordnungen gefragt werden. Indem der Beitrag die persuasive Kraft der in der Micrographia entfalteten Bildwelt auch im Zusammenhang der rhetorischen Traditionen und Wissenskonzepte betrachtet, die mit der Hinwendung zur Empirie zunehmend an Bedeutung verloren, gerät der Bezugsrahmen jener Rhetorisierung der Wissenschaften und der Künste ins Blickfeld, deren „Erosionen“ sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts abzeichneten.12

II. Am Umbruch von rhetorischer zu empirischer Evidenz In der Frühen Neuzeit begannen sich neuartige Konzepte empirischer Evidenz zu ent­ wickeln, die den Bezug zu tradierten Konzepten rhetorischer Evidenz jedoch nicht vollends verloren.13 Als antike rhetorische Überzeugungs- und Darstellungsstrategien bezeichneten enérgeia, enárgeia und evidentia persuasive rednerische Veranschau­ lichungen eines Gegenstandes. Rhetorische Evidenz umfasst demnach verschiedene gestaltende Verfahrensweisen, durch die ein Gegenstand oder Sachverhalt so vermittelt wird, dass er den Zuhörenden unmittelbar einleuchtend, vermeintlich unzweifelhaft und gewiss vor Augen stehend erscheint; anhand der Lebendigkeit (enérgeia) oder der Deutlichkeit (enárgeia) seiner Darstellung kann er gleichsam vergegenwärtigt werden.14 Dabei beziehen sich die in der klassischen Redekunst begründeten energetischen und enargetischen Techniken des ,Vor-Augen-Stellens‘ gemäß Ansgar Kemmann einerseits auf „Verfahren der Verlebendigung […, und] der Vergegenwärtigung des Abwesenden, indem es gleichsam lebendig vorgeführt wird und so für alle in Erscheinung tritt“, und andererseits auf „Verfahren der Detaillierung“, die eine „ausmalende Beschreibung, plastische Ausprägung und Modellierung“ des Dargestellten anstreben.15 Noch in den Rhetoriken des 16. und 17. Jahrhunderts wurden energetische und enargetische Techniken des Vor-Augen-Stellens nach Heinrich Plett so ausdifferenziert, dass die „Energia eher die Dynamisierung des Stils durch pathetisch-anschauliche Verlebendigung der Darstel12 Vgl. zu den „Erosionen der Rhetorik“ Valeska von Rosen (Hg.), Erosionen der Rhetorik? Strategien der Ambiguität in den Künsten der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2012, S. 1–2. 13 Vgl. Anm. 11. 14 Vgl. zum antiken Evidenzbegriff ausführlicher Ansgar Kemmann, Evidentia, Evidenz, in: Gert ­Ueding (Hg.),  Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 33–47, URL: http://www.degruyter.com/view/HWRO/evidentia_evidenz (letzter Zugriff am 7. Mai 2016), Kap. C. Geschichte, I. Antike; vgl. u.a. auch Müller 2007 (wie Anm. 11), S. 61–65 sowie De Angelis 2011 (wie Anm. 9), S. 171 und zum Evidenzbegriff grundlegend Rüdiger Campe, Epoche der Evidenz. Knoten in einem terminologischen Netzwerk zwischen Descartes und Kant, in: Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer (Hg.), Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 25–43. 15 Vgl. Kemmann 1996 (wie Anm. 14), Kap. B. Verwendungsbereiche, III. Rhetorik.

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lung, die Enargeia hingegen eher die sinnliche Evidenz einer detaillierten Beschreibung bezeichnet“.16 Bezog sich die Evidenz in der Antike noch auf eine Bilder generierende Fähigkeit der Sprache, wurde sie von Kunsttheoretikern der Renaissance zunehmend auch auf visuelle Medien und ihre Bildkonzepte übertragen und zielte dabei ebenso wie in der Rede auf eine affektive Wirkungsweise bei ihren Betrachtern. Die zunächst widersprüchlich erscheinende Übertragung des Konzepts der rhetorischen Evidenz auf visuelle Medien erklärt sich Valeska von Rosen zufolge dabei mit einer „auf Vergegenwärtigung zielenden, fingierten Lebendigkeit der Darstellung, die den Rezipienten ihren bloßen Zeichencharakter und damit ihre Artifizialität vergessen lassen will, um ihm das bloß Fingierte als Wirklichkeit ,vor Augen zu stellen‘“.17

Im Zuge der Ausbildung einer auf Erfahrungstatsachen gründenden, induktiven Naturforschung bildete sich dagegen das Ideal einer – vermeintlich vermittlungslosen – empirischen Evidenz aus, die sich auf jene unmittelbare Gewissheit bezog, die von Forschenden aus instrumentell oder experimentell generierten Beobachtungen gewonnen wurde.18 In diesem Kontext entwickelte sich die Evidenz zu einer besonderen Qualität in Abgrenzung von jenen Argumentationen einer aristotelischen Naturphilosophie, ­welche als trügerische und spekulative Gedankengerüste ohne Bezug zu realen Erfahrungs­werten wahrgenommen wurden.19 Da die Evidenz unter dem Standpunkt einer Wissens­genese durch Anschauung diskutiert wurde,20 rückten in ihrem Zusammenhang auch die sinn­lichen Wahrnehmungspotenziale des Menschen samt ihrer Defizite in den Fokus. Gerade die instrumentelle Verfeinerung der sinnlichen Wahrnehmung führte in diesem Kontext zu einer vermehrten Reflexion menschlicher Seelenvermögen, wie sie in tradierten Wahrnehmungs- und Gedächtniskonzepten beschrieben wurden.

16 Vgl. Heinrich Franz Plett, Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance, Tübingen 1975, S. 183. 17 Vgl. zur Übertragung der oratorischen in visuelle enárgeia ausführlicher Valeska von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171– 208, hier S. 172. 18 Vgl. den Überblick zur Naturwissenschaft als Schauplatz der Evidenz bei Robert Jütte, Augenlob – oder die (Neu-)Bewertung des Sehsinnes in der Frühen Neuzeit, in: Wimböck, Leonhard und Friedrich (wie Anm. 11), S. 41–58, hier 48–49. 19 Bei Francis Bacon meint Evidenz dasjenige, was sich in den Dingen selbst zeige und sich für Naturforschende durch das Experiment oder die instrumentelle Beobachtung erschließe. Bacon grenzte die Evidenz der neuen Naturforschung von den ,Betrügereien‘ der aristotelischen Wissensproduk­ tion ab: „Nos vero rerum evidentia freti, omdem commenti et imposturae conditionem rejicimus“, vgl. Francis Bacon, Neues Organon [1620], Bd. 1, hg. von Wolfgang Krohn, 2. Auflage, Hamburg 1999, Aphorismus 122, S. 254. Auch Thomas Sprat betonte in seiner History of the Royal Society, dass ein wahrer Naturphilosoph nur durch die Evidenz natürlicher Erscheinungen von deren Existenz zu überzeugen sei: „Let us suppose that he is most unwilling to grant that any thing exceeds the force of Nature, but where a full evidence convinces him.“ Vgl. Thomas Sprat, The History of the Royal-­Society of London, For the Improving of Natural Knowledge, London 1667, S. 360. Hervor­ hebung im Original. Vgl. dazu auch Rößler 2012 (wie Anm. 8), S. 2. 20 Vgl. Wimböck, Leonhard und Friedrich 2007 (wie Anm. 4), S. 11.

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Vordergründig ersetzte die für das frühneuzeitliche Wissenschaftsideal der Royal Society programmatische, empirische Evidenz ihre ältere rhetorische Vorgängerin. Ihrem eingangs erwähnten Motto ,Nullius in verba‘ folgend, gewannen die Forscher dieser Gesellschaft Einsichten vermeintlich nur noch aus unmittelbarer instrumenteller oder experimenteller Anschauung und lösten sich dagegen vollständig von der Wissensgenerierung durch Worte.21 Damit schienen auch die energetischen und enargetischen Verfahrensweisen einer rednerischen oder visuellen Evidenzproduktion obsolet. Wie Hole Rößler konstatiert hat, war das von Bacon postulierte „Vertrauen in die Evidenz der Dinge“ jedoch selbst gewissen Produktionsmechanismen unterworfen, denn ihre Anschaulichkeit musste auch in der empirischen Naturforschung entweder durch eine Präsentation vor Publikum oder eine Darstellung in Wort und Bild erst produziert werden. Deswegen war die „Evidenz als Grundlage von Wissenschaft“ Rößler zufolge selbst nicht „,wissenschaftlich‘, sondern operierte im Bereich des Ästhetischen“ und sei selbst als Bestandteil der zeitgenössischen visuellen Kultur zu betrachten.22 Der gesteigerte Einsatz von Bildern in wissenschaftlichen Publikationen, der so bezeichnend ist für die Micrographia, ist damit im Sinne einer Rhetorizität der Wissensvermittlung einzu­ ordnen. Mehr noch, die Verankerung empirischer Vergewisserungsstrategien in der visuellen Kultur deutet darauf hin, dass sie ihrerseits selbst in überwunden geglaubten rhetorischen Evidenzstrategien verhaftet blieben.23 Bedeutsam ist diesbezüglich, dass rhetorische Evidenz in der zeitgenössischen Poetik und in der Kunstliteratur, die der Zeichner und Kunstliebhaber Robert Hooke bekanntermaßen sammelte, ebenso verhandelt wurde wie empirische Evidenz in Texten zur Programmatik der empirischen Naturforschung.24 Im Vorwort eines Gedichts des eng21 Siehe auch oben, Anm. 7. Vgl. jedoch zu diskursiven Praktiken der Wissensproduktion und -demonstration der Royal Society Steven Shapin und Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump: Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985; Steven Shapin, The House of Experiment in Seventeenth-Century England, in: Isis 79 (1988), Nr. 3, S. 373–404. 22 Vgl. Rößler 2012 (wie Anm. 8), S. 3–4. 23 Vgl. Siebenpfeiffer 2009 (wie Anm. 11), Abs. 5; 31. 24 Hookes künstlerische Ausbildung thematisieren die beiden zeitgenössischen Quellentexte von John Aubrey und Richard Waller. Vgl. Robert Hooke, in: John Aubrey, Brief Lives, chiefly of Contemporaries, set down by John Aubrey, between the Years 1669–1696, hg. von Andrew Clark, Bd. 1, Oxford 1898, S. 409–416, hier 410, sowie Richard Waller (Hg.), The Posthumous Works of Robert Hooke, London 1705, hier Vorwort, S. ii. Ebenso gibt Hookes Tagebuch Einblick in seine Auseinandersetzung mit Zeichen- und Drucktechniken sowie seine Sammeltätigkeit, vgl. Henry W. Robinson und Walter Adams (Hg.), The Diary of Robert Hooke 1672–1680, London 1968. Hookes Bibliotheks­ katalog wurde im Todesjahr Hookes 1703 publiziert, vgl. Edward Millington, Bibliotheca Hookiana. Sive catalogus diversorum librorum [1703], in: H. A. Feisenberger (Hg.), Scientists (= Sale Catalogues of Libraries of Eminent Persons 11), London 1975, S. 37–116. Betreffend Hookes Sammlung an Kunstliteratur vgl. Leona Rostenberg, The Library of Robert Hooke: The Scientific Book Trade of Restoration England, Santa Monica 1989, S. 130–133; weiterführend vgl. Kristen Birkett und David Oldroyd, Robert Hooke, Physico-Mythology, Knowledge of the World of the Ancients and Knowledge of the Ancient World, in: Stephen Gaukroger (Hg.), The Uses of Antiquity. The Scientific Revolution and the Classical Tradition, Dordrecht/Boston/London 1991, S. 145–170, hier 158; Giles Mandelbrote, Sloane’s Purchases at the Sale of Robert Hooke’s Library, in: Giles Mandelbrote und

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lischen Dramatikers George Chapman findet sich etwa ein genauerer Hinweis darauf, was unter einem evidenten Bild in England um 1600 verstanden wurde. Darin beschreibt Chapman die dichterische „enargia“ als „cleereness of representation“ und zieht dabei einen Vergleich zur Malerei: „[…] it serves not a skillfull Painters turne, to draw the figure of a face onely to make knowne who it represents; but hee must lymn, guive luster, shaddow, and heightening; which though ignorants will esteem spiced, and too curious, yet such as have the judicial perspective, will see it hath, motion, spirit, and life.“25

Die Evidenz einer bildnerischen Darstellung ergibt sich demnach aus einer geschickten Modellierung von Lichtern, Schatten, Glanzpunkten und Höhungen, die den visuellen Ausdruck von Lebendigkeit ermöglicht.26 Spuren dieser enárgeia-Konzeption finden sich 60 Jahre später auch in einer Abhandlung über die Kupferstechkunst, die John Evelyn, ein Fellow der Royal Society, Virtuoso und Zeitgenosse Robert Hookes, 1662 veröffentlichte. Darin ist ebenfalls von einer Augen täuschenden Kraft der Linie die Rede: „The pen is therefore both the first, and best instructive, and has then […] attain’d its desired end, when it so deceives the eye by the Magic and innocent Witch-craft of lights and shades, that elevated, and solid bodies in Nature, may seem swelling, and to be embossed in Plano, by Art.“27

Dass die stark an ein malerisches rilievo angelehnte Zeichenpraxis, die Evelyn in seiner Abhandlung propagierte, für Hookes Arbeit an den Bildtafeln der Micrographia bedeutsam war, erscheint wahrscheinlich, betonte dieser im Vorwort des Buches doch selbst, wie wichtig für ihn die Regie von Licht und Schatten für das Erkennen und zeichnerische Erfassen mikroskopischer Strukturen gewesen sei.28 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die Bildtafeln der Micrographia die ihnen zugeschriebenen Wahrheitseffekte gerade durch einen Rückgriff auf rhetorische Darstellungs- und Überzeugungsstrategien der Lebendigkeit und der Detaillierung erzeugten, obwohl sie thematisch einer empirischen, unmittelbar auf die sinnliche Gewissheit bezogenen Evidenz verpflichtet waren. In welchen Differenzierungen tritt also die Evidenz in der

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Barry Taylor (Hg.), Libraries Within the Library: The Origins of the British Library’s Printed Collections, London 2009, S. 98–145. Vgl. Phyllis Brooks Bartlett (Hg.), The Poems of George Chapman, 2. Auflage, New York 1962, S. 49; vgl. auch von Rosen 2000 (wie Anm. 17), S. 185 sowie allgemein zur englischen Wirkungsästhetik der Renaissance Plett 1975 (wie Anm. 16). Gemäß Rößler findet sich der Bezug von bildhafter Evidenz und Licht-Schatten-Modulierung auch bei Leonardo da Vinci, vgl. Rößler 2012 (wie Anm. 8), S. 17. Vgl. zum malerischen rilievo weiter ausführend von Rosen 2000 (wie Anm. 17), S. 185–186. Vgl. John Evelyn, Sculptura; Or the History, and Art of Chalcography and Engraving in Copper […], London 1662, S. 107. Hervorhebungen im Original. Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface: „[…] This I mention the rather, because of these kind of Objects there is much more difficulty to discover the true shape, then of those visible to the naked eye, the same Object seeming quite differing, in one position to the Light, from what it really is, and may be discover’d in another. And therefore I never began to make any draught before by many examinations in several lights, and in several positions to those lights, I had discover’d the true form.“

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Micrographia in Erscheinung, und wie gestaltet sich dabei das Verhältnis zwischen ihren empirischen und (bild-)rhetorischen Ausprägungen?

III.  Evidenz und Sinneserweiterung Eine erste Erwähnung der Evidenz findet sich im ausführlichen, programmatischen Vorwort des Buches.29 Um die Naturforschung voranzubringen und die Fehlleistungen der alten, rhetorischen Wissensordnung zu überwinden, müssten die Verarbeitungsprozesse und das Zusammenspiel der Sinne, des Gedächtnisses und des Verstandes berichtigt und verbessert werden, denn nur deren „evidence“, „strength“, „integrity, and the right correspondence of all these“ verhälfen zur Erkenntnis natürlicher Prozesse und zu einem Vorankommen induktiv operierender Wissenschaften.30 Die empirische Evidenz im Vorwort der Micrographia entspricht einer Gewissheit aus Sinneserweiterung, welche die als unsicher taxierten Befunde unverstärkter Sinneswahrnehmung hinterfragt. Hooke möchte der Evidenz einer künstlich verfeinerten Sinneswahrnehmung mehr Anteil geben am Erkenntnisprozess: „The first thing to be undertaken in this weighty work, is a watchfulness over the failings and an inlargement of the dominion, of the senses.“31 Diese Botschaft veranschaulicht die zweite, gleichsam als Bildrätsel aufgebaute Bild­ tafel des Bandes, in der die instrumentell hervorgebrachten, zerfurchten und gleichsam haptisch greifbaren Oberflächen dreier zunächst nur als abstrahierte Kegel, Kugel und Kreisfläche erkennbarer Figuren vor Augen geführt werden (Taf. VI). Nur vermittels des beigefügten Textes werden diese als mikroskopische Sehbilder einer Nadelspitze, eines Satzpunktes und einer Rasierklinge identifizierbar. Die Pointe besteht darin, dass die vor dem Betrachterauge präsentierten mikroskopischen Observationen jenen Eigenschaften diametral widersprechen, welche diesen Gegenständen mit bloßem Auge betrachtet zugeschrieben werden. Die Spitze „of a sharp small Needle“ erscheint unter dem Mikro­ skop „irregular“ und „uneven“.32 Der Punkt wirkt „disfigur’d“, „rugged“ und „deformed“,33 die Schneide des Rasiermessers „scratched“.34 Wenn die instrumentelle Sichtweise des Mikroskops selbst die Erscheinung der alltäglichsten Dinge so stark zu verändern ver29 Das Vorwort des Buches wurde gemäß einem Brief von Hooke an Robert Boyle vom 24. November 1664 vor der Publikation von einigen Mitgliedern der Royal Society redigiert. Vgl. dazu weiter Harwood 1989 (wie Anm. 10), S. 132, dort Anm. 30. Die alleinige Autorschaft Hookes an der Micro­ graphia ist nicht unumstritten, vgl. dazu weiterführend auch Dennis 1989 (wie Anm. 6), S. 314–315 sowie Janice Neri, The Insect and the Image. Visualizing Nature in Early Modern Europe, Minnesota 2011, S. 110–112. 30 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface: „[…] The only way which now remains for us to recover some degree of those former perfections, seems to be, by rectifying the operations of the Sense, the Memory, and Reason, since upon the evidence, the strength, the integrity, and the right correspondence of all these, all the light, by which our actions are to be guided, is to be renewed, […]“. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), S. 1–2. Hervorhebungen im Original. 33 Vgl. ebd., S. 3. Hervorhebungen im Original. 34 Vgl. ebd., S. 4.

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mag, wird sie auch den Blick auf komplexere Untersuchungsobjekte entscheidend verändern, ließe sich daraus ableiten.35 Stellvertretend für die Evidenz durch Sinneserweiterung steht in der Micrographia der mikroskopische Blick auf so noch nie Gesehenes, etwa zelluläre Gewebestrukturen, die weiter hinten im Buch vor Augen geführt werden.36 Das Thema Mikroskopie täuscht darüber hinweg, dass die Evidenz im Vorwort der Micrographia nicht mehr nur auf das Augenscheinliche und damit auf den Sehsinn, sondern auf eine Erweiterung und Verfeinerung aller Sinneswahrnehmung rekurriert. Volle Evidenz und Einsicht ergeben sich idealerweise aus der instrumentellen Perfektionierung und dem Zusammenspiel sämtlicher Sinne, deren mechanische Grundlage teilweise erst erfunden werden müsste: „And as Glasses have highly promoted our seeing, so ’tis not improbable, but that there may be found many Mechanical Inventions to improve our other senses, of hearing, smelling, tasting, touching.“37

Sinneserweiternde Instrumente werden dabei nicht als Fremdkörper, sondern selbst als künstliche, den körperlichen Sinnen angefügte „Organe“ begriffen, die das vermeintlich defizitäre menschliche Sensorium unterstützen.38 Indem sie in Bezug gesetzt wird zu einem verbesserten Gedächtnis und einem geschärften Verstand, geht mit der Propagierung der Sinneserweiterung darüber hinaus nicht nur eine fundamentale Kritik an der menschlichen Sinnesphysiologie, sondern auch eine an der davon abhängenden Kognition einher.39 Mit dieser Kritik ist eine Werteverschiebung hinsichtlich der seit der Antike tradierten mentalen Potenziale verbunden, die auf einen Umbruch der Wissensordnungen verweist. Hookes missbilligende Bemerkung, dass „[…] the Science of Nature has been already too long made only a work of the Brain and the Fancy“, kann als unmissverständlicher Hinweis auf eine anbrechende Entrhetorisierung des Wissens gelesen werden.40 Anstelle der „work of the Brain and the Fancy“, die mit einer – nun negativ 35 Vgl. dazu auch die Bildanalyse von Angela Fischel, Bildtechniken. Mikroskopie in populärwissenschaftlichen Büchern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Anja Zimmermann (Hg.), Sichtbarkeit und Medium. Austausch, Verknüpfung und Differenz naturwissenschaftlicher und ästhetischer Bildstrategien, Hamburg 2005, S. 19–46, hier 21–22. 36 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7). Hooke prägt den Begriff der Zelle, vgl. Obs. XVIII, S. 113. 37 Ebd., o. S., Preface. 38 Ebd., o. S., Preface: „The next care to be taken, in respect of the Senses, is a supplying of their infirmities with Instruments, and, as it were, the adding of artificial Organs to the natural; this in one of them has been of late years accomplisht […] by the invention of Optical Glasses.“ Vgl. zur Sinnesphysiologie weiterführend Jütte 2007 (wie Anm. 18), S. 43. 39 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), Preface: „Thus all the uncertainty, and mistakes of humane actions, proceed either from the narrowness and wandring of our Senses, from the slipperiness or delusion of our Memory, from the confinement or rashness of our Understanding […]“. Hervorhebungen im Original. Vgl. zu Hookes Kritik an den natürlichen Sinnen auch Böhme 2003 (wie Anm. 8), S. 390. 40 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface. Hervorhebungen im Original. Vgl. zu diesen historischen Prozessen im Zusammenhang sich wandelnder Gedächtniskonzepte auch Miriam Volmert, Vom „Chaos der Farben“ zum ,blot‘. Konzepte von Bilderfindung und Gedächtnis bei Alexander Cozens und Samuel van Hoogstraten, in: Flusser Studies 14 (2012), Nr. 2, S. 1–24, hier 15, URL: http://www.flusserstudies.net/sites/www.flusserstudies.net/files/media/attachments/volmertvom-chaos-der-farben.pdf (letzter Zugriff am 28. September 2017).

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konnotierten – Einbildungskraft assoziiert wird, werden die erweiterten Sinne und die gestärkte Memoria zum integralen Fundament der Erkenntnis erhoben.41 Da die instrumentelle Sinnessteigerung den Umfang des subjektiv Wahrnehmbaren vergrößere, sorge sie dafür, dass dem menschlichen Verstand mehr Wahrnehmungen und Erfahrungswerte zugetragen würden.42 Sie bilde demnach eine unabdingbare Voraussetzung höherer Einsicht.43 Des Weiteren hänge die Stärkung des individuellen Gedächtnisses von einer besseren Speicherung und Abrufbarkeit der so gewonnenen Informationen ab.44 Plausibel erscheint, dass damit nicht eine Verbesserung des natürlichen Gedächtnisses gemeint ist, sondern die Auslagerung von Gedächtnisinhalten angedeutet wird, welche die wiederholte Abrufbarkeit einmal gewonnener Sinneswahrnehmungen ermöglicht.45 Zuletzt bestehe die Funktion des Verstandes darin, die durch Sinneserweiterung gene41 Die Erwähnung der Einbildungskraft im Vorwort der Micrographia und ihr Ausschluss aus der Wissensgenese kann im Anschluss an Bacons Klassifikation des Wissens gesehen werden. Vgl. hierzu Holger Wille, Was heißt Wissenschaftsästhetik? Zur Systematik einer imaginären Disziplin des Imaginären, Würzburg 2004, S. 78. Vgl. zur Einbildungskraft in frühneuzeitlichen Kognitionsmodellen weiterführend Claudia Swan, Eyes Wide Shut: Early Modern Imagination, Demonology, and the Visual Arts, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 7 (2003), H. 4, S. 560–581. Der Bezug auf die Sinne als grundlegendem Erkenntnisfundament steht ebenfalls in einer antiken Traditionslinie. Vgl. hierzu Deborah Taylor-Pearce, Time, Soul, Memory. Robert Hooke’s „Lecture explicating the Memory and how we come by the notion of Time,“ Read at Meetings of the Royal Society, May– June 1682, Transcribed & Introduced by Deborah Taylor-Pearce, 2003, S. 5; 9, URL: https://www. she-philosopher.com/PDFs/hooke_tsm.pdf (letzter Zugriff 8. Mai 2016). Allgemeiner zu Hookes Rezeption antiker Autoren vgl. Birkett/Oldroyd 1991 (wie Anm. 24). 42 Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface: „By the means of Telescopes, there is nothing so far distant but may be represented to our view; and by the help of Microscopes, there is nothing so small, as to escape our inquiry; hence there is a new visible World discovered to the understanding.“ Hervorhebungen im Original. In später veröffentlichten Texten zur Gedächtnistheorie ebenso wie zur Mikroskopie und Teleskopie greift Hooke diesen Gedanken wieder auf, bezieht ihn dort expliziter auf das ursprünglich aristotelische, später empiristische Erkenntnisprinzip, dass nichts im Verstand ist, was nicht vorher in den Sinnen war. Vgl. Robert Hooke, Lectures of Light, Explicating its ­Nature, Properties, and Effects, &c, in: Richard Waller (Hg.), The Posthumous Works of Robert ­Hooke, ­London 1705, S. 71–148, hier 139; Robert Hooke, Philosophical Experiments and Observations Of the late Eminent Dr. Robert Hooke, S.R.S. And Geom. Prof. Gresh., And Other Eminent Virtuoso’s in his Time, London 1726, S. 262. 43 Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface: „And frome thence it must follow, that not having a full sensation of the Object, we must be very lame and imperfect in our conceptions about it, and in all the propositions which we build upon it; […]“ 44 Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface: „The next remedies in this universal cure of the Mind are to be applyed to the Memory, and they are to consist of such Directions as may inform us, what things are best to be stor’d up for our purpose, and which is the best way of so disposing them, that they may not only be kept in safety, but ready and convenient, to be at any time produc’d for use, as occasion shall require.“ Hervorhebungen im Original. Die Externalisierung wird in einer inhaltlich ähnlichen Textpassage aus Hookes ca. 1666/1667 verfasstem, jedoch posthum veröffentlichtem General Scheme deutlicher thematisiert. Vgl. Robert Hooke, A General Scheme, or Idea Of the Present State of Natural Philosophy, And How its Defects may be Remedied By a Methodical Proceeding in the making Experiments and collecting Observations. […], in: Richard Waller (Hg.), The Post­ humous Works of Robert Hooke, London 1705, S. 1–70, hier 34. Vgl. dazu Richard Yeo, Notebooks, English Virtuosi, and Early Modern Science, Chicago/London 2014, S. 238. 45 Vgl. Yeo 2014 (wie Anm. 44), S. 238–243; zum Gedächtnisbegriff bei Hooke vgl. auch Taylor-Pearce 2003 (wie Anm. 41), S. 13; 21; Douwe Draaisma, Hooke on Memory and the Memory of Hooke, in:

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rierten und durch Gedächtnisauslagerung gesicherten Informationen zu ordnen: „The Understanding is to order all the inferior services of the lower Faculties; but yet it is to do this only as a lawful Master, and not as a Tyrant.“46 Vermittelt durch die Neudefinition tradierter mentaler Potenziale wird dem alten, rhetorischen Wissenssystem im Vorwort der Micrographia die Programmatik eines aus der Evidenz von Experiment und Beobachtung gewonnenen, durch externe Speichermedien gesicherten und dadurch rationalisierbaren Wissens gegenübergestellt. Die Abhängigkeit der erweiterten Sinneswahrnehmung vom gestärkten Gedächtnis und die Umdeutung des Letzteren vom inneren menschlichen Seelenvermögen zum externalisierten Wissensspeicher erklären sich dabei aufgrund der Besonderheit frühneuzeitlichen forschenden Sehens, dass mikroskopische und teleskopische Bilder sofort verschwanden, sobald der Beobachter seinen Blick vom Sichtfeld des Okulars abwandte. In der frühen Mikroskopie vermochte einzig das Medium der Zeichnung die Fixierung und Haltbarmachung mikroskopischer Seheindrücke zu gewährleisten, die aus schnell vergänglichen und fragilen Untersuchungsobjekten gewonnen wurden. Dass so wenige Aufzeichnungen persönlicher mikroskopischer Beobachtungen Hookes und seiner Mitarbeiter überliefert sind, macht begreifbar, wie bedeutsam ihre Auslagerung in die von vielen abrufbaren ,externalisierten Gedächtnisse‘ der Druckgrafik und des Buches war.47 Ihre längerfristige Speicherung bildete die Voraussetzung für ihre Kommunizierbarkeit und Validierung weit über das 17. Jahrhundert hinaus. An diesem Punkt stellt sich erneut die Frage, wie die aus instrumenteller Sinneserweiterung gewonnene, sinnliche Gewissheit in Text und Bild übertragen wurde. Die vermeintliche Unmittelbarkeit empirischer Evidenz ist hinsichtlich ihrer ästhetischen Umsetzung und Vermittlung zu untersuchen, deren gestalterische Verfahrensweisen im Rezeptionskontext gleichwohl im Verborgenen bleiben mussten, um eine evidente Wirkung nicht zu gefährden.48

Michael Cooper and Michael Hunter (Hg.), Robert Hooke, Tercentennial Studies, Aldershot 2006, S. 111–121, hier 111–122. 46 Hooke 1665 (wie Anm. 7), o. S., Preface. Hervorhebungen im Original. 47 Frühe mikroskopische Beobachtungen Hookes überliefert das Commonplace Book John Covels, vgl. John Covel, Natural History Notebook and Commonplace Book, ca. 1660–1713, British Library, Sign. Add MS 57495: 1660–1713, fol. 112v; 113v. Vgl. dazu Janice Neri, Some Early Drawings by Robert Hooke, in: Archives of Natural History 32 (2005), Nr. 1, S. 41–47; Janice Neri, Between Observation and Image: Representations of Insects in Robert Hooke’s Micrographia, in: Amy R. W. Meyers und Therese O’Malley (Hg.), The Art of Natural History: Illustrated Treatises and Botanical Paintings, 1400–1850, Washington 2008, S. 83–107; Neri 2011 (wie Anm. 29), S. 123–131; Matthew C. Hunter, Wicked Intelligence. Visual Art and the Science of Experiment in Restoration London, Chicago/London 2013, S. 128. Weitere mikroskopische Beobachtungen Robert Hookes überliefert eine Zeichnung von Ammoniten, vgl. British Library, Ms. Add. 5262, Nr. 152, vgl. dazu Sachiko Kusukawa, Drawings of Fossils by Robert Hooke and Richard Waller, in: Notes and Records. The Royal Society Journal of the History of Science 67 (2013), S. 123–138, hier 123, URL: http://rsnr.royalsocietypublishing.org/content/roynotesrec/67/2/123.full.pdf (letzter Zugriff am 8. Mai 2016). 48 Vgl. Rößler 2012 (wie Anm. 8), S. 143.

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IV.  Eine visuelle Rhetorik der Evidenz Nicht nur im Vorwort der Micrographia, auch in den nachfolgenden sprachlichen Beschreibungen mikroskopischer Observationen ist das Konzept der Evidenz allgegenwärtig. Durch die suggestiv eingesetzte Icherzählung Robert Hookes entsteht eine starke Identifikation der Lesenden mit der scheinbar unmittelbar nachvollziehbaren Labor- und Beobachtungssituation, die durch die Lektüre des Textes bildhaft vor dem inneren Auge entsteht und sich mit der in den Kupferstichen entfalteten Bildwelt verwebt. Wird die Evidenz explizit genannt, wird sie oftmals auf die visuelle Darstellungsform bezogen, welche die mikroskopischen Beobachtungen vermeintlich genauer zu veranschaulichen vermöge als die sprachlichen Erläuterungen. Die flach gelegte und getrocknete Haut einer Seezunge gleicht für Hooke etwa mit bloßem Auge betrachtet einem Stück Leinwand. Unter dem Mikroskop besehen zeigten sich jedoch muschelförmige Schuppen, deren Länge und Form wiederum durch die beigefügte visuelle Darstellung evident werde: „The length and shape of the part of the Scale which was buried by the skin, is evidenced by the first Figure; which is the representation of one of them pluck’d out and view’d through a good Microscope […].“49

Folgt man Hooke, veranschaulicht die Abbildung der Fischschuppe gleichsam das, was er selbst unter dem Mikroskop gesehen habe (Taf. VII). Sein Text impliziert eine enge Relation zwischen Bild und Bildgegenstand. Die visuelle Repräsentation wird als anschau­ liche Vergegenwärtigung des originären Beobachtungszusammenhangs beschrieben. Im unteren Teil der Bildtafel schreiben die aufsichtige, mit der Sehrichtung des Instruments übereinstimmende Perspektive auf die Fischschuppen sowie die kreisförmige Rahmung des Bildausschnittes die instrumentelle Sichtweise gleichsam in das Blatt ein und überlagern so den Leserblick mit jenem Robert Hookes durch das Okular seines Mikroskops.50 Sämtliche so ausgestalteten Mikrografien Hookes vermitteln den Eindruck, die Betrachter würden beim Anschauen der scharf und präzis wirkenden gedruckten Sehbilder zu vermeintlichen, wenn auch nachgeordneten Zeugen instrumenteller Aufzeichnungsprozesse seines Mikroskops.51 Die darin implizierte Unmittelbarkeit von Beobachtungsund Rezeptionsprozess bindet die Betrachtenden scheinbar in das direkte Geschehen des Bildes mit ein. Indem Hookes mikroskopische Sehbilder auf die Rahmenbedingungen des Instruments verweisen, visualisieren sie die im Vorwort propagierte empirische Evidenz, denn mit ins Bild gesetzt wird in ihnen im übertragenen Sinn auch das Erkenntnis­ potenzial, das sich aus der Veränderung des Blicks aufgrund mikroskopischer Sinnes49 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), S. 163. Hervorhebungen im Original. 50 Vgl. Dennis 1989 (wie Anm. 6), S. 319; Neri 2011 (wie Anm. 29), S. 128; Rößler 2012 (wie Anm. 8), S. 158. 51 „Virtuelle Zeugenschaft“ umfasst bei Shapin und Schaffer neben dem sozialen Prozess der Zeugenschaft vor allem auch jene Strategien, mittels deren Wissensinhalte in visuelle und sprachliche Repräsentationen umgesetzt wurden, vgl. Shapin/Schaffer 1985 (wie Anm. 21), S. 60–61.

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erweiterung ergibt. Besonders die präzise, detaillierende, auf lineare Feinheit bedachte Darstellungsweise suggeriert eine Wirkmächtigkeit des optisch verstärkten Sehens, das angeblich in der Lage sei, vermittels gestochen scharfer Sehbilder einen unverzerrten Blick auf die mikroskopische Welt zu gewährleisten. Gerade sie steht jedoch in der Tradition älterer enargetischer und energetischer Überzeugungsstrategien. Folgt man Jan-Dirk Müller, bezogen wissenschaftliche Abbildungen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ihre „Sachadäquatheit“ zunehmend aus einer enargetischen, detaillierenden Darstellungsstrategie, während energetische, sich aus Verlebendigung ergebende Evidenzeffekte an Bedeutung verloren.52 Hookes mikroskopische Bilder scheinen jedoch noch Anleihen zu nehmen bei einer visuellen Rhetorik der Evidenz, die neben der Detaillierung auch noch stark der Lebendigkeit des Dargestellten verschrieben ist. Ein eigentümliches Detail fesselt etwa beim Betrachten der mikroskopischen Darstellung eines Weberknechts: Der Glanzpunkt im rechten Auge des Insekts verleiht diesem einen gerade­­zu lebhaften Ausdruck (Taf. VIII). Es wirkt so, als fasse das Tierchen die Betrachtenden ebenfalls ins Auge. Sein Blicken verleiht ihm geradezu individuelle Züge. Dem Anschein seiner Lebendigkeit widerspricht, dass ihm zahlreiche Beine fehlen, wodurch es klar als Präparat erkennbar wird. Der Körper des Weberknechts erhält hingegen aufgrund einer subtil ausdifferenzierten Licht- und Schattenmodulation eine augentäuschende Plastizität. Dadurch ist neben der rhetorischen enérgeia auch die ­enárgeia angesprochen, ein Begriff, der sich gemäß Kemmann selbst über die altgriechische Adjektivform „enargés“ für „klar, deutlich sichtbar“ von „énargos“ herleitet, was „von Glanz umgeben“ und „aus sich selbst leuchtend“ bedeutet.53 Die Gestaltung des Weberknechts lässt sich auf die bereits erwähnte enárgeia-Konzeption George Chapmans beziehen, für den sich die verlebendigte Wirkung eines Porträts unter anderem dadurch ergibt, dass der Maler ihm „luster“, also höhende Glanzlichter, ebenso wie vertiefende Schatten verleihe.54 Lebendigkeit scheint darin gerade in modellierender Detaillierung begründet. Auch in Hookes Evidenzproduktion ist eine enargetische, der Detaillierung verpflichtete Darstellungsstrategie eng gebunden an die Modellierung von Licht und Schatten, aus denen sich wiederum eine verlebendigte, energetische Bildwirkung ergibt.55 52 53 54 55

Vgl. Müller 2007 (wie Anm. 11), S. 76–77. Vgl. Kemmann 1996 (wie Anm. 14), Kap. A. Definition. Vgl. Chapman 1962 (wie Anm. 25), S. 49, Anm. 24. Im künstlerischen Umfeld Robert Hookes finden sich Spuren dieser spezifischen visuellen Evidenzproduktion auch in Druckgrafiken William Faithornes, in dessen Porträts es ebenfalls die Glanzpunkte in den Augen, auf Gesicht und Haaren sind, die den Porträtierten nicht nur Wiedererkennungswert verleihen, sondern sie darüber hinaus äußerst präsent wirken lassen. Vgl. zu Parallelen zwischen Faithornes und Hookes Bildstrategien Megan C. Doherty, Discovering the True Form: Hooke’s Micrographia and the Visual Vocabulary of Engraved Portraits, in: Notes and Records. The Royal Society Journal of the History of Science 66 (2012), S. 211–234, hier 212; zu Faithornes ­Rolle als Bildproduzent der Royal Society vgl. Megan C. Doherty, Creating Standards of Accuracy: ­Faithorne’s The Art of Graveing and the Royal Society, in: Rima D. Apple, Gregory J. Downey und Stephen L. Vaughn (Hg.), Science in Print. Essays on the History of Science and the Culture of Print, Wisconsin/London 2012, S. 15–36; zu der von Faithorne propagierten Kupferstechkunst vgl.

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Eine augentäuschende Plastizität, die mit dem eigentlich zweidimensionalen Wahrnehmungserlebnis realer mikroskopischer Sehbilder bricht, diente in vielen Bildtafeln der Micrographia einer überzeugenden Präsentation des Mikroskopischen. Oftmals werden die mikroskopierten Gegenstände darin so vor dem Betrachterauge präsentiert, als träten sie gleichsam aus der Buchseite hervor. Besonders plastisch erscheint die illusio­ nistische Darstellung von fünf unregelmäßigen Stahlkörpern, die in Tafel V das Blatt von der linken oberen Bildhälfte bis in die Mitte überziehen und deren nach rechts fallende Verschattung suggeriert, sie seien unmittelbar vor dem Leser auf das Blatt gerollt (Taf. IX). Durch die kontrastreiche, von Reflexionen und Glanzpunkten überzogene Darstellung ihrer zerfurchten Kruste wirken die auf einige Zentimeter vergrößerten Körper gleichsam haptisch greifbar. Hookes mikroskopische Beobachtung bezieht sich auf ein Experiment Descartes’, das sich den beim Gegeneinanderschlagen von Stahl und Feuerstein entstehenden Funken widmete. Während der diesem Experiment gewidmete Holzschnitt in Descartes’ Principa philosophiae die sich so ergebenden Partikel nur schemenhaft wiedergibt (Taf. X), stehen bei Hooke die kleinen Trümmerstücke selbst – der mikroskopischen Sichtweise entsprechend in Übergröße – im Zentrum des Bildes.56 Erst Hookes Kupferstich vermag durch seinen Illusionismus die Materialität dieser zunächst unscheinbar anmutenden Körper zu offenbaren. In diesem Kontext betrachtet, impliziert er wiederum die Macht einer Naturforschung, die durch ihre Verfeinerung der Sinneswahrnehmung in der Lage sei, von anderen ungesehene Phänomene wie diese Stahlkügelchen so evident ans Licht zu bringen, dass Hooke in einem davon gar „[…] could perceive the Image of the Window prety well, or of a Stick, which I moved up and down between the Light and it“.57 Der visuelle Rekurs nicht nur auf den Augen-, sondern auch auf den Tastsinn entspricht dem im Vorwort des Buches entwickelten empirischen Evidenzbegriff, der sich nicht nur auf den dominanten Gesichtssinn, sondern auf ein ergänzendes Zusammenspiel sämtlicher menschlicher Sinne bezieht.58 Für Hookes den Tastsinn reizende Darstellungsweise sind jedoch ebenso enárgeia-Konzeptionen bedeutsam, die mit dem von frühneuzeitlichen Bildtheoretikern propagierten, malerischen rilievo zusammen­ hingen.59 Das rilievo, das eine aus einer gelungenen Licht- und Schattenverteilung resultierende Plastizität des Dargestellten bezeichnet, sodass dieses gleichsam lebendig erscheine, wurde auch im näheren Umfeld Hookes im Zusammenhang mit der Kunst des Kupferstechens diskutiert. Gerade die Zeichnung und der Kupferstich ermöglich-

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­William Faithorne, The Art of Graveing and Etching, wherein is exprest the true way of Graveing in C ­ opper. Allso the manner & method of that famous Callot & Mr. Bosse in their severall ways of ­Etching, London 1662. Vgl. René Descartes, Principia Philosophiae, Amsterdam 1644, Principiorum Philosophiae, Pars Quarta, S. 237. Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), S. 44. Vgl. Anm. 38. Zu kunsttheoretischen Konzepten des rilievo in der Frühen Neuzeit vgl. weiterführend von Rosen 2000 (wie Anm. 17), S. 186.

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ten John Evelyn zufolge einen Illusionismus, durch welchen die vor dem Betrachterauge präsentierten Objekte gleichsam dreidimensional aus dem Bild- in den Betrachteraum hinauszutreten scheinen: „[…] Drawing, as it is prævious, and introductory to the Art of Chalcography […] which because it so much concernes the conducting of Hatches and stroaks, whether with pen, point, or Graver; pretending […] to a method, how by a constant, and regular certitude, one may express to the eye, the Sensation of the Relievo, or extancie of objects, be it by one, or more hatches, cross and counter […].“60

Dass Evelyn die sinnestäuschende Kraft des rilievo erwähnt, lässt sich auf den Augensinn, ebenso aber auf den Tastsinn beziehen. Eine haptische Wirkung war, wie Valeska von Rosen aufgezeigt hat, durchaus im Sinne des rilievo, ihr zufolge bargen so ausgestaltete Gemälde in ihrer vermeintlichen Dreidimensionalität und eindrücklichen Präsenz einen „Apell an den Tastsinn“.61 Auch Markus Rath betont, dass die bildnerische ­Technik des rilievo in ihrem Entstehungskontext auf eine „künstlerisch reflektierte Strategie der Verbindung von haptischen Erfahrungswerten mit optischen Bildgebungsverfahren“ hindeutete.62 Dass Hooke für die Veranschaulichung empirischer Evidenz auf ältere rhetorische Überzeugungsstrategien zurückgriff, bestätigt die fünfte Bildtafel der Micrographia noch aus einem weiteren Grund.63 Neben den aufsichtig präsentierten Stahlkügelchen finden sich in der unteren Bildhälfte die Stoppeln verschiedener Tierhaare auf einer nicht genauer ausgearbeiteten und sich dadurch in den Untiefen des Blattes irgendwann verlierenden Fläche hintereinander gestaffelt. Deuten die nach rechts fallenden Schlagschatten eine gemeinsame Standfläche an, erzeugt die Größenabstufung der auf dieser Bildebene platzierten Körper den Eindruck von Tiefenräumlichkeit. Anhand der Lektüre des Textes wird klar, dass es Hooke daran gelegen war, die Schnittflächen der Haare so vor dem Betrachterauge darzubieten, dass ihre inneren Strukturen offengelegt werden.64 Diesem Bedürfnis folgt die Perspektivität ihrer visuellen Darstellung. Frank Büttner zufolge besteht die bildrhetorische Funktion einer – für die reale Wahrnehmungserfahrung des 60 Evelyn 1662 (wie Anm. 27), S. 118. Hervorhebungen in den ersten beiden Zeilen sowie „Relievo“ und „extancie“ im Original, Hervorhebung in Zeile drei und vier von der Verfasserin. 61 Vgl. von Rosen 2000 (wie Anm. 17), S. 186. 62 Vgl. Markus Rath, Die Haptik der Bilder. Rilievo als Verkörperungsstrategie der Malerei, in: ­Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm (Hg.), Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit (Actus et Imago 7), Berlin 2013, S. 3–30, hier 6. 63 Vgl. die Bildanalyse bei Angela Fischel, Sehen, Darstellen, Beschreiben. Mikroskopische Beobachtung in den Kupferstichen der Micrographia, in: Kunsttexte.de, Sektion Bild Wissen Technik (2002), Nr. 1, S. 1–10, hier 5–6. 64 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7), S. 156–162, hier 157: „[…] and this I try’d with the greatest care I was able, cutting many of them with a very sharp Razor, so that they appear’d, even in the Glass, to have a pretty smooth surface, but somewhat waved by the sawing to and fro of the Razor, as is visible in the end of the Prismatical body A of the same Figure; and then making trials with causing the light to be cast on them all the various ways I could think of, that was likely to make the pores appear, if there had been any, I was not able to discover any.“

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Mikroskopischen im 17. Jahrhundert eigentlich höchst unnatürlichen – Perspektivkonstruktion jedoch auch darin, auf die „empirische Raumaufassung“ der Betrachtenden zu verweisen. Mit der „Angleichung an die Wirklichkeitsorientierung des Betrachters“ stellte sich „das perspektivische Bild in den Dienst der evidentia“.65 Besonders die Kommensurabilität des perspektivisch Dargestellten war Büttner zufolge ein Aspekt, der in frühneuzeitlichen Kunsttraktaten oftmals als entscheidender Vorteil der Perspektive genannt wurde, da er die Orientierung der Betrachtenden im Bild erleichterte.66 Die Übertragung der Perspektive in die Darstellung des Mikroskopischen vereinfachte nicht nur die Orientierung im mikroskopischen Raum und das Urteil der Lesenden über die Größe und Proportionen der abgebildeten mikroskopischen Gegenstände, sie erzeugte visuell wiederum den Eindruck von Unmittelbarkeit und „scheinbarer Gegenwärtigkeit“, die für die rhetorische Evidenz so entscheidend war.67 Indem sowohl die räumliche Perspektivierung der Haarstoppeln wie auch die illusionistisch dargelegten Stahlkörper den Leserblick auf eines jener eingangs erwähnten mikroskopischen Sehbilder lenken, ­welche die instrumentelle Sichtweise des Mikroskops versinnbildlichen, ergibt sich in der Bildtafel ein komplexes Gefüge ineinander übergreifender Sinnesebenen des Sehens, des Tastens und der Raumwahrnehmung.

V.  Evidenz der Sinne Die Ausdifferenzierung verschiedener Darstellungsweisen des Mikroskopischen in den Kupferstichen der Micrographia verdeutlicht, dass die visuelle Erzeugung unmittelbarer, sinnlicher Gewissheit bei Hooke noch geprägt war von rhetorischen Darstellungsstrategien der Evidenz, deren Bedeutung in Zeiten empirischer Naturforschung vermeintlich verloren ging. Bezieht sich das Vorwort der Micrographia explizit auf einen empirischen Evidenzbegriff, der stark auf die künstlich erweiterte Sinneswahrnehmung als grundlegendem mentalem Potenzial abstellt, wird visuelle Evidenz in den Bildtafeln durch den Rückgriff auf tradierte rhetorische Überzeugungsstrategien produziert. Für deren Beschreibung scheint die damit üblicherweise assoziierte Begrifflichkeit des Vor-­AugenStellens jedoch ungenügend, da die bei Hooke verwendeten gestalterischen Strategien auf ein umfassenderes sinnliches Wahrnehmungserlebnis der Betrachtenden zielen. Hookes Bildkonzepte appellieren nicht nur an den Seh-, sondern auch an den Tastsinn und ebenso auch an die Raumwahrnehmung der Betrachtenden. Die evidente Wirkung vieler Tafeln ist an eine gleichsam synästhetische Wahrnehmungserfahrung gebunden, durch welche die verschiedenen Sinne und ihr Zusammenspiel reflektiert werden. Gerade durch den Rückgriff auf eine tradierte Rhetorik der Evidenz entspricht Hookes 65 Vgl. Frank Büttner, Perspektive als rhetorische Form. Kommunikative Funktionen der Perspektive in der Renaissance, in: Joachim Knape (Hg.), Bildrhetorik (Saecula Spiritalia 45), Baden-Baden 2007, S. 201–231, hier 209. 66 Vgl. ebd., S. 210–211. 67 Vgl. ebd., S. 209.

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mikroskopische Bildwelt der programmatischen Ausrichtung des Buches, beschreibt dessen Vorwort doch, wie durch die instrumentelle Perfektionierung sämtlicher Sinne das menschliche Wahrnehmungsspektrum so erweitert werden könne, dass sich dem Geist idealerweise die Gesamtheit allen möglichen Wissens über die Natur eröffne.68

68 Vgl. Hooke 1665 (wie Anm. 7); siehe auch Anm. 37 und 38.

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Valeska von Rosen

Wissensordnung und Darstellungsmaximen in der Biografik ‚nach Vasari‘ Giovanni Pietro Bellori in den 1660er-Jahren

I. Fragestellung. Historiografie, Biografik und Ordnungsmodelle Mit der Aufgabe der Speicherung und Darstellung von Wissen und Informationen, die Erinnerungen gewährleisten und künftige Wahrnehmungen lenken, sind historiografische Texte eminent befasst. Sie präsentieren Ausschnitte aus einer Faktensammlung und ordnen Wissensbestände in einer bestimmten Weise, wofür zunächst die gewählte Gattung (Biografie, Dialog, Traktat) mit ihren spezifischen Darstellungsmöglichkeiten und -konventionen Vorgaben setzt. Dass die Frage nach den Formen der Wissensordnung und den Möglichkeiten ihrer Präsentation, die seit dem fortgeschrittenen 17. Jahrhundert in den Fachdiskursen zunehmende Relevanz erhielt, durchaus auch für italienische kunsthistoriografische bzw. biografische Texte eine Rolle spielte, ist die grundlegende Überlegung dieses Beitrags. Ausführen möchte ich sie am Beispiel der Vite de’ pittori, scultori e architetti moderni von Giovanni Pietro Bellori, die 1672 nach längerer und schwieriger, weil von größeren Zäsuren gekennzeichneter Genese in Teilen gedruckt wurden und auf Fortsetzung angelegt waren.1 Hinsichtlich der Frage, wie in kunsthistoriografischen Texten des 17. Jahrhunderts Informationen ausgewählt, geordnet und präsentiert sind, ist grundsätzlich ein hohes Reflexionsniveau anzunehmen. Dies lässt sich mit der spezifischen Konstellation, in der 1 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen meines DFG-Projekts „Kunsthistoriographie und Künstlerbiographik im 17. Jahrhundert. Giovanni Pietro Belloris Vitenwerk in seinen Kontexten“ und schließt an einen ersten Aufsatz zum Thema an, der vor allem Belloris aufgegebenes erstes Viten-Projekt der 1640er-Jahre in den Blick nimmt (Valeska von Rosen, Zwischen Normativität und Deskriptivität, oder: Wie sich ‚Geschichte‘ nach Vasari schreiben lässt. Bellori in den 1640er Jahren, in: ­Fabian Jonietz und Alessandro Nova (Hg.), Vasari als Paradigma. Rezeption, Kritik, Perspektiven/The Para­ digm of Vasari. Reception, Criticism, Perspectives, Venedig 2016, S. 163–182. Er geht zurück auf ­meine langjährige Beschäftigung mit Belloris Viten im Rahmen der von Elisabeth Oy-Marra geleiteten DFG-Editionsgruppe. Allen Mitgliedern unserer Gruppe, vor allem Elisabeth Oy-­Marra, ­Henry ­Keazor, Marieke von Bernstorff, Anja Brug, Gabriele Wimböck, Fiona Healy, Sabrina Leps und ­Irina Schmiedel, danke ich für die gemeinsamen Gespräche und vielen Hilfestellungen, insbesondere auch, dass ich ihre noch unpublizierten Übersetzungen und Kommentare sowie, wo vermerkt, auch ihre Essays für diesen Aufsatz verwenden durfte. Die mehrbändige Edition wird ab 2018 in Einzelbänden erscheinen. Isabell Franconi, Mitarbeiterin in meinem DFG-Projekt, danke ich sehr herzlich für ihre große Unterstützung bei der Ausarbeitung dieses Texts; danken möchte ich auch Anna-­Maria ­Procajlo, Alexander Linke sowie Thomas Leinkauf und Christian Klein für wichtige Hinweise.

Wissensordnung und Darstellungsmaximen in der Biografik ‚nach Vasari‘     |

diese Texte entstanden, erklären. Gemeint ist ihre Rolle als ‚Texte nach‘ Vasaris Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori, des biografisch-historiografischen Gründungstexts des 16. Jahrhunderts. Giorgio Vasaris Künstlerbiografien hatten bekanntlich sowohl infolge ihrer kunsthistoriografischen Rahmung als auch durch ihre kunstkritischen Einlassungen, die auf bestimmten normativen Setzungen des Autors beruhen,2 für Theoretiker wie Praktiker der Künste seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert das Feld kunsttheoretischer Reflexion stark determiniert. Hinsichtlich der hier interessierenden Frage nach den Möglichkeiten des Schreibens nach Vasari besaßen sie aber auch einen eminenten Nutzen: Sie generierten für jüngere Autoren die Notwendigkeit, ihr methodologisches ‚Besteck‘ zu überprüfen und sich der eigenen darstellungstheoretischen Prämissen, insbesondere hinsichtlich der Leitfragen nach Normativität respektive Deskriptivität, im Schreiben einerseits und der ‚Ordnung der Dinge‘ andererseits bewusst zu werden. Schließlich war für diese Autoren eine Herangehensweise, die nicht ihre eigene Denkhaltung und die Prämissen der Fixierung der Wissensbestände im Verhältnis zum kunsthistorischen Gründungstext überprüfte, ebenso wenig möglich wie den praktizierenden Künstlern die unreflektierte, nicht den eigenen Standort bestimmende Tätigkeit in ihrer Gattung, deren Geschichte seit ihren postulierten Anfängen im 13. Jahrhundert mit dem Anspruch auf Vollständigkeit3 und Wahrheit4 nun publiziert vor ihnen lag. 2 Jüngst hierzu: Alessandro Nova, Piero di Cosimo, le “Vite” di Vasari e i limiti di un sistema teleologico, in: Elena Capretti, Anna Forlani Tempesti, Serena Padovani und Daniela Parenti (Hg.), Piero di Cosimo 1462–1522. Pittore eccentrico fra Rinascimento e Maniera (Ausst.-Kat. Florenz, Galleria degli Uffizi), Florenz 2015, S. 64–75; Thomas Ketelsen, Die Künstler-Viten Giorgio Vasaris als Wissensform und als Wissenschaftssteuerung, in: Claus Zittel und Karl Enenkel (Hg.), Die „Vita“ als Vermittlerin von Wissenschaft und Werk: Form- und Funktionsanalytische Untersuchungen zu frühneuzeitlichen Biographien von Gelehrten, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, Berlin 2013, S. 331–343; Gerd Blum, Gesamtgeschichtliches Erzählen am Beginn der Frühen Neuzeit: Michelangelo und Vasari, in: Gerd Blum, Steffen Bogen, David Ganz und Marius Rimmele (Hg.), Pendant Plus: Praktiken der Bildkombinatorik (Bild + Bild 2), Berlin 2012, S. 131–145; Gerd Blum, Zur Geschichtstheologie von Vasaris Vite (1550): Kunstgeschichte als „große Erzählung“ und Bildsystem, in: David Ganz und Felix Thürlemann (Hg.), Das Bild im Plural (Bild + Bild 1), Berlin 2010, S. 271–288; Matteo Burioni, Vasari’s “rinascita”: History, Anthropology or Art Criticism?, in: ­A lexander Lee, Pit Péporté und Harry Schnitker (Hg.), Renaissance? Perceptions of Continuity and Discontinuity in Europe, c. 1300–c. 1550, Leiden 2010, S. 115–127; Matteo Burioni, Rinascita dell’arte o rinascita dell’antichità? Storia, antropologia e critica d’arte nelle Vite del Vasari, in: Katja Burzer, Charles Davis, Sabine Feser und Alessandro Nova (Hg.), Le Vite del Vasari: genesi, topoi, ricezione/Die Vite Vasaris. Entstehung, Topoi, Rezeption, Venedig 2010, S. 153–160; Martino Capucci, Dalla biografia alla storia: Note sulla formazione della storiografia artistica nel Seicento, in: Studi secenteschi 9 (1968), S. 81–125, hier bes. S. 82–86; Hans Belting, Vasari und die Folgen, in: Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte?, München 1983, S. 63–91; Ursula Link-Heer, Giorgio Vasari oder der Übergang von einer Biographien-Sammlung zur Geschichte einer Epoche, in: Hans Gumbrecht und Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt am Main 1985, S. 73–88. 3 Der Anspruch auf Vollständigkeit zeigt sich in den „Sammelviten“, die kompendiumartig jene Künstler, denen Vasari keine eigene Vita widmete, in Gruppen ordnen. 4 Siehe etwa Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori: nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. von Rosanna Bettarini und Paola Barocchi, 20 Bde., Florenz 1967–1987, hier Bd. 6, 1987, S. 389.

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Diese ‚Katalysatorfunktion‘ Vasaris hinsichtlich einer reflexiven, die Gattungsimplikationen und Möglichkeiten bedenkenden Komponente gilt es im Folgenden herauszuarbeiten. Der Fokus richtet sich dabei auf einen Text des 17. Jahrhunderts, der sich durch die Wahl der Gattung diachronisch angelegter Viten – Bellori publizierte Künstlerbiografien von Federico Barocci (circa 1533/34–1612) bis Nicolas Poussin (1594–1665) und plante im Fortsetzungsband ihre Weiterführung bis zu seinem Zeitgenossen Carlo Maratta (1625–1713) – absichtsvoll in die Tradition von Vasaris historiografischem, progressiv strukturierten opus stellte und diese Nähe zu ihm auch durch den Titel markierte.5 Damit ist Bellori der erste Autor, der nach Vasari ein Projekt der Abfassung von Künstlerviten begann, die nicht nur – wie etwa diejenigen des Venezianers Carlo Ridolfi, des Genuesers Raffaele Soprani und des Römers Giovanni Baglione – den Künstlern einer bestimmten Region galten, sondern auch die drei verschiedenen Medien, Malerei, Skulptur und Architektur, berücksichtigten und damit beanspruchten, die Entwicklung der Künste im 17. Jahrhundert umfassend zu rekonstruieren. Umso markanter ist Belloris Abkehr von Vasaris Prämissen und Prinzipien hinsichtlich seines biografisch-historiografischen Schreibens einerseits in Bezug auf die Anlage und Ordnung der Vitensammlung – Bellori konzentrierte sich bekanntlich nur auf zwölf Viten – und andererseits im Präsentationsmodus auf der Mikroebene der einzelnen Biografien. Im vorliegenden Beitrag soll es vorrangig um diese Differenzen auf struktureller Ebene und deren epistemologische Voraussetzungen gehen. Er schließt an einen früheren Aufsatz an, der der approximativen Rekonstruktion von Belloris erstem Vitenprojekt der 1640er-Jahre galt, das Bellori nach der Fertigstellung mindestens einer 5 Die Frage, in welchem Verhältnis Bellori zu Vasari stand, ist ein Kernthema der Bellori-Forschung. Wenn ich sie hier noch einmal zum Thema mache, geschieht dies aus zwei Impulsen heraus: zum einen, um die Ebenen dieses Verhältnisses genauer zu differenzieren, also ob und inwieweit Bellori auf der Makro- oder der Mikrostruktur seiner Vite oder hinsichtlich kunsttheoretischer Maximen Vasari folgt; zum anderen halte ich es für wichtig, die Brüche in Belloris Vite hinsichtlich seiner Orien­t ierung am Prätext Vasaris herauszuarbeiten, die auf seine Reflexion über die Prämissen seines Schreibens schließen lassen; vgl. zum Thema Giovanni Previtali, Introduzione, in: Giovan Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni, hg. von Evelina Borea, Turin 1976, S. [IX]–LX; Elizabeth Cropper, “La più bella antichità che sappiate desiderare”: History and Style in Giovan Pietro Bellori’s ‘Lives’, in: Peter Ganz und Martin Gosebruch (Hg.), Kunst und Kunsttheorie 1400–1900, Wiesbaden 1991, S. 145–173; Charles Dempsey, “Le vite de’ pittori, scultori ed architetti moderni” di Giovan Pietro Bellori, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello: viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 99–112; Elisabeth Oy-Marra, Belloris moderne Künstler im Spannungsfeld unterschiedlicher historiografischer Modelle, in: Claus Zittel und Karl Enenkel (Hg.), Die „Vita“ als Vermittlerin von Wissenschaft und Werk: Form- und Funktionsanalytische Untersuchungen zu frühneuzeitlichen Biographien von Gelehrten, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern, Berlin 2013, S. 345–364; Tomaso Montanari, Introduction, in: Giovan Pietro Bellori, The Lives of the Modern Painters, Scultors and Architects: A New Translation and Critical Edition, hg. von Hellmuth Wohl und Tomaso Montanari, Cambridge 2005, S. 1–39; Hana Gründler, „Gloriarsi della mano e dell‘ingegno“: Hand, Geist und pädagogischer Eros bei Vasari und Bellori, in: Elisabeth Oy-Marra, Marieke von Bernstorff und Henry Keazor (Hg.), Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen: Schreiben über Kunst und ihre Medien in Giovan Pietro Belloris ‚Viten‘ und der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2014, S. 77–103.

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sowie der Konturierung mehrerer Viten für einige Zeit unterbrach,6 um auch in anderen Gattungen, vor allem antiquarisch, tätig zu sein.7 Im hier vorliegenden Beitrag zu den historiografischen und biografischen Prämissen der Vite Belloris möchte ich nun vor allem mit Bezug auf jene Biografien seines opus, die, soweit sich das rekonstruieren lässt, nach dieser Zäsur wohl in den 1660er-Jahren entstanden, zeigen, dass sich in ihnen eine Abkehr von den historiografischen Setzungen und Implikationen von Vasaris Text beobachten lässt. Meine mit dieser Beobachtung verbundene These lautet, dass gerade jene Texte, die von einer Distanzierung von Vasaris Prämissen historiografisch-biografischen Schreibens geprägt sind, auf Belloris Reflexionen der epistemologischen Bedingungen seiner Zeit und der aktuellen Modelle der Wissensordnung und -darstellung zurückzuführen sind. Sie führten ihn zu einer Überprüfung, wie in diesen veränderten Paradigmata die Gattung der Biografiensammlung mit historiografischer Rahmung neu auszurichten war. Dies generierte auch seinen Impuls, sich mit weiteren Schriften s­ einer Zeit zur Wissensordnung zu beschäftigen. Infolge dieser Auseinandersetzungen mit 6 Siehe Anm. 1. Dass Bellori sein Vitenprojekt schon sehr viel früher in Angriff genommen hat, als lange Zeit vermutete wurde, ist seit Evelina Boreas Fund eines Briefes aus dem Jahr 1645 belegt. Daraus geht zum einen hervor, dass Bellori die Vita Caravaggios bereits fertiggestellt hat; und zum anderen bittet er darin den Adressaten Francesco Albani um einige Informationen zu den Carracci; siehe hierzu Evelina Borea, Bellori 1645: una lettera a Francesco Albani e la biografia di Caravaggio, in: Prospettiva 100 (2000), S. 57–69. Ein weiteres Indiz für Belloris Arbeit an dem Projekt datiert aus dem Jahr 1660 und gibt den Hinweis, dass sich zu diesem Zeitpunkt sechs Viten im Druck befänden. Um welche es sich handelt, wird nicht erwähnt. Die lange, von Unterbrechungen bestimmte Entstehungszeit der Vite wurde in der Forschung schon häufiger thematisiert, wie auch die Frage diskutiert wurde, welche Viten 1660 bereits vorlagen; zu den verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten siehe Previtali 1976 (wie Anm. 5), S. XL–XLIII; Borea 2000 (wie Anm. 6), S. 61f.; Donatella Livia Sparti, La formazione di Giovan Pietro Bellori, la nascita delle Vite e il loro scopo, in: Studi di storia dell’arte 13 (2002), S. 177–248, bes. S. 181–186; Tomaso Montanari: Bellori. Trent’anni dopo, in: Giovan Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni, hg. von Evelina Borea, Bd. 2, Turin 2009, S. 656–729. 7 Bellori verfasste eine Vielzahl von Schriften – nicht nur auf dem Gebiet der Malerei, sondern überwiegend in Bezug auf seine antiquarischen und archäologischen Tätigkeiten. Zu den bekannteren Arbeiten zählt die Abhandlung I vestigi delle pitture romane im Anhang der Nota delli musei, librerie, galerie et ornamenti di statue e pitture ne‘ palazzi, nelle case e ne’ giardini di Roma aus dem Jahr 1664. Eine Übersicht sowie Transkriptionen aller Schriften finden sich im Corpus Informatico Belloriano der Scuola Normale Superiore. URL: http://bellori.sns.it/bellori/TOC.html (letzter Zugriff am 1. März 2016). Siehe auch Paola Barocchi, Gli strumenti di Bellori, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 55–80; Lucia Faedo, Percorsi secenteschi verso una storia della pittura antica: Bellori e il suo contesto, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 113–120; Vincenzo Farinella, Bellori e la Colonna Traiana, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 2, Rom 2000, S. 589–604; Maria Pia Muzzioli, Bellori e la pubblicazione dei frammenti della pianta marmorea di Roma antica, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 2, Rom 2000, S. 580–588; Montanari 2009 (wie Anm. 6), S. 680–682.

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anderen Modellen für eine ‚Ordnung der Dinge‘ löste sich Bellori sowohl auf der Makroebene der Reihung der Viten zu einem Gesamtnarrativ als auch auf der Mikroebene der einzelnen Texte von dem einen wirkmächtigen Modell des 16. Jahrhunderts, das, wie er 1645 explizit formulierte, beim Schreiben „vor ihm lag“.8 Diese gedanklichen ‚Pendelbewegungen‘ in der Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens in der von ihm gewählten Gattung der Biografik mit historiografischer Rahmung bedingte sicherlich die gewisse diskrepante Struktur, die Belloris Viten eignet. Wenn ich sie in den folgenden Textanalysen herausstelle, geht es mir zugleich darum, Belloris opus vom Etikett ‚der‘ klassizistischen Kunsttheorie zu befreien, das ihnen seit Julius von Schlosser anhaftet.9 Dies verbindet sich mit dem Plädoyer, Belloris Vite nicht als monolithischen Block zu verstehen. Vielmehr ist es mein Anliegen aufzuzeigen, dass es sich um ein durchaus heterogenes Werk handelt, dem Spuren der Veränderung der Denkhaltung seines Autors in Bezug auf grundlegende Parameter historiografischen Schreibens in der Ordnung und Darstellung von Wissen an vielen Stellen eingeschrieben sind.

II.  „Per haver innanzi il Vasari“. Belloris Projekt der 1640er-Jahre und ­normative Einlassungen in weiteren Viten Eine Beschäftigung mit der Genese von Belloris Viten muss sich zwei eng miteinander verknüpfte Probleme bewusst halten: Wir besitzen zwar einige Informationen bezüglich seiner Anläufe und Arbeitsphasen am Text, wissen aber meist nicht mit Sicherheit, mit welcher Biografie Bellori sich jeweils beschäftigte oder welche er zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtete.10 Lediglich für die zuerst verfasste Vita Caravaggios haben wir einen diesbezüglichen Anhaltspunkt, weil Bellori sie bereits 1645 einem befreundeten Künstler zur Korrekturlektüre übersandte. Überdies fehlen uns gesicherte Hinweise auf mögliche Überarbeitungen der einzelnen Biografien zu späterem Zeitpunkt, etwa für die Drucklegung eines Teils der Viten im Jahre 1672. Folglich   8 So formuliert er es in dem in Anm. 6 erwähnten Brief an Albani: „Hor sig.r mio non isdegni in ­queste righe un affetto divotiss.mo, che viene a darle tributo di se stesso, quale non haverebbe ardito di comparirle avanti, se il P. Reggio non m’havesse affidato del suo patrocinio con l’occasione delle Vite de’ Pittori, che io intraprendo tutto timido per haver innanzi il Vasari, che hà scritto così bene, et per essere io cieco nel trattar de’colori […].“, zit. nach Borea 2000 (wie Anm. 6), S. 57.   9 Julius von Schlosser, Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924; Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie (­Studien der Warburg Bibliothek 5), 2. Auflage, Berlin 1960 (Erstausgabe Leipzig/Berlin 1924); siehe außerdem Cropper 1991 (wie Anm. 5); Janis Bell und Thomas Willette (Hg.), Art History in the Age of Bellori: Scholarship and Cultural Politics in Seventeenth-Century Rome, Cambridge 2002, S. 30–34; Hans Raben, Bellori’s Art. The Taste and Distaste of a Seventeenth-Century Art Critic in Rome, in: Simiolus 32 (2006), S. 126–146; jüngst Sonia Maffei, Il lessico del classico: arte antica e nuovi modelli in Bellori, in: Elisabeth Oy-Marra, Marieke von Bernstorff und Henry Keazor (Hg.), Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen: Schreiben über Kunst und ihre Medien in Giovan Pietro Belloris ‚Viten‘ und der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2014, S. 139–171. 10 Vgl. Montanari 2005 (wie Anm. 5), S. 16–18; Sparti 2002 (wie Anm. 6), bes. S. 181–191.

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sind alle Konjekturen bezüglich einer möglichen Genese der Vite mit gebotener Zurückhaltung zu formulieren. Allerdings liegen Fokus und Erkenntnisinteresse dieses Beitrags auch nicht auf der positivistischen Rekonstruktion der komplizierten Genese der Vite, sondern vielmehr auf der Herausarbeitung der diskrepanten Struktur des Vitenwerks in Gänze hinsichtlich seiner biografisch-historiografischen Prämissen und deren möglichen epistemologischen Voraussetzungen. Ob und inwieweit diese tatsächlich auf der Zeitachse zu erklären sind und folglich Belloris wechselnde Orientierung ihnen ablesbar ist, soll unten noch interessieren.

II.1  Das Projekt der 1640er-Jahre Wie angedeutet haben wir immerhin zwei relevante Fixdaten hinsichtlich der Anfänge von Belloris Vitenprojekt bereits in den frühen 1640er-Jahren, die daher der Ausgangspunkt meiner an anderer Stelle angestellten Überlegungen zur Rekonstruktion desselben waren.11 So wissen wir einerseits, dass Bellori zunächst eine Biografie über den lombardischen, seit 1592/93 in Rom tätigen Maler Caravaggio verfasste und diese bereits im Jahr 1645 an den Maler Francesco Albani sandte. Andererseits erfahren wir aus ­diesem Schreiben, dass er Informationen über die Maler der Carracci-Familie sammelte und dass dieses frühe Projekt der Abfassung von Künstlerviten durch seine Mitarbeit an der Neuedition der Vite Vasaris für das Verlagshaus Dozza angeregt wurde.12 Dass diese Beschäftigung mit Vasaris opus magnum für sein eigenes Schreiben relevant war, thematisiert Bellori erneut in einer aussagekräftigen Formulierung in einem Brief, der die Übersendung der Caravaggio-Biografie an Albani begleitet. Hier formuliert er, er sei „timido per haver innanzi il Vasari“, „er sei verschüchtert, Vasari vor sich zu haben.“13 Die Viten der ältesten von Bellori behandelten Künstler – Barocci, Agostino und Annibale Carracci sowie insbesondere Caravaggio – geben Belloris ambivalente Haltung zum starken Prätext überdeutlich zu erkennen. Dies zeigt sich, wenn er etwa nach einer deskriptiv-neutralen Beschreibung der besonderen Arbeitsweise und künstlerischen Haltung Caravaggios in einem abschließenden Abschnitt Urteile über dessen Malerei spricht, die nicht aus dem zuvor Gesagten resultieren und sich dabei auf Termini stützen, die im deskriptiven Teil allenfalls eine marginale Rolle spielten.14 Bezeichnenderweise 11 Siehe von Rosen 2016 (wie Anm. 1). 12 Giorgio Vasari, Le Vite de’ più Eccellenti Pittori, Scultori et Architetti di Giorgio Vasari Pittore, & Architetto Aretino. Parte Prima, e seconda. In questa nuova edizione diligentemente rivisite, ricorrette accresciute d’alcuni Ritratti, & arricchite di postille nel margine. Al Serenissimo Ferdinando II. Gran Duca di Toscana, hg. von Carlo Manolessi, Bologna 1647. Für Belloris Mitarbeit an dieser Edition siehe Montanari 2005 (wie Anm. 5), S. 15; außerdem Sparti 2002 (wie Anm. 6), bes. S. 183f. und 185f. sowie Anm. 73 und Andrea Emiliani, La prospettiva storica di Giovan Pietro Bellori, in: ­Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 87–92, hier S. 89. 13 Siehe Anm. 8. 14 Für eine ausführliche Analyse siehe von Rosen 2016 (wie Anm. 1).

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sind diese Termini die zentralen Kategorien Vasaris. So konstatiert Bellori etwa, Caravaggios Werken fehlten die „besten Bestandteile“ der Malerei, denn sie besäßen: „[…] né invenzione, né decoro, né disegno, né scienza alcuna della pittura, mentre tolto da gli occhi suoi il modello restavano vacui la mano, e l’ingegno.“15 Sowohl inhaltlich als auch strukturell folgt Bellori mit diesen und weiteren Verdikten dem dominanten Modell Vasaris: Dieser formulierte (auch) in den kunsttheoretischen Prätexten seiner Vite Normen, an denen er insbesondere die Kunstproduktion seines eigenen Jahrhunderts maß – so hinsichtlich der Rolle des disegno im Entstehungsprozess eines Kunstwerks, der idealen künstlerischen Nachahmung der Natur und der Orientierung an künstlerischen Idealen. Auf der Basis dieser Kriterien apostrophierte Vasari einen colmo der Kunst im Sinne einer perfezione dell’arte und äußerte zugleich vehemente Kritik, wenn diese ,Regeln‘ von Künstlern nicht befolgt wurden. Nach ­Christian Klein und Matías Martínez sind Biografien „narrative Konstruktionen, also textuell gestiftete Sinnzusammenhänge mit je verschiedenen Kommunikationsabsichten“, deren Autor mit „behauptender Kraft Sachverhalte“ berichtet;16 in den Künstlerviten, so wie Vasari sie anlegte, sind vor allem die kunsttheoretischen bzw. kunstkritischen Einlassungen mit „behauptender Kraft“ formuliert.17 Bellori war von diesem Vertextungsmodell stark geprägt, zugleich versuchte er aber insbesondere in den ersten deskriptiven Teilen der genannten Biografien, einen anderen, nämlich deskriptiv-neutralen Schreibmodus zu entwickeln – im Prinzip eine Quadratur des Kreises, die zu inhaltlichen und modalen Diskrepanzen in seinem Text führte und ihn offenkundig schließlich bewogen hat, das Projekt vorübergehend ruhen zu lassen; dies sicherlich auch mit der Absicht, vor einer möglichen Fortsetzung alternative Modelle historiografischen und biografischen Schreibens zu studieren.

15 Giovan Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni, hg. von Evelina Borea, Turin 1976 (Erstausgabe Rom 1672), S. 212 [Caravaggio]; Nach meiner Übers.: „[…] weder Erfindungskraft noch Dekorum noch disegno, genauso wenig wie jegliche Lehre der Malerei“. Für analoge Verdikte Vasaris siehe unten, Anm. 31, Anm. 32 und Anm. 36. Für eine ausführliche vergleichende Analyse der Passagen siehe von Rosen 2016 (wie Anm. 1). Zum disegno bei Bellori siehe Simonetta Prosperi Valenti Rodinò, Il disegno per Bellori, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello. Viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 131–139; Elisabeth Oy-Marra, Drawing as an Epistemological Medium in Belloris Lives, in: Harald Klinke (Hg.), Art Theory as Visual Epistemology, Newcastle upon Tyne 2014, S. 111–123. 16 Christian Klein und Matías Martínez, Analyse biographischer Erzählungen, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 199–219, hier 213. Ich danke Christian Klein sehr für zahlreiche Hinweise bezüglich der Besonderheit der Viten des 17. Jahrhunderts. 17 So in den Tizian-Verdikten, siehe Anm. 31, Anm. 32 und Anm. 36.

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II.2  Die Rubens-Vita Anknüpfend an diese Überlegungen möchte ich im Folgenden den Blick auf zwei weitere, 1672 publizierte Viten Belloris richten, die über eine ähnliche diskrepante Struktur wie die Vita des Lombarden Caravaggio verfügen, und zwar diejenigen der Flamen Rubens und van Dyck. Dabei soll die Frage hier zunächst zurückgestellt bleiben, ob auch diese beiden Viten womöglich früh entstanden (oder zumindest früh begonnen wurden) oder ob die Diskrepanzen in den Schreibweisen den Hinweis darauf geben, dass sich ­Bellori auch in den folgenden Jahrzehnten von der Prägung durch Vasari nie vollständig zu lösen vermochte.18 In den genannten Viten der beiden Flamen sind es – ähnlich wie in den frühen Biografien – gerade die latenten oder offenkundigen Widersprüche in der Argumentation, die diese ambivalente Haltung gegenüber seinem Modelltext zu erkennen geben. So weist Belloris Rubens-Vita – wie auch diejenigen Caravaggios, Annibales und ­Baroccis – eine zweiteilige Struktur auf: Der erste Teil bietet eine neutrale, prinzipiell positive Schilderung der Lebensstationen des Künstlers, in der Bellori Rubens’ „lebendigen Geist“ [„­spirito vivo“], seine „universelle Begabung“ [„ingegno universale“] und umfassende Bildung in Literatur, Geschichte und Dichtkunst herausstreicht. Nach einer durch den Tod des Malers bedingten Zäsur folgt der zweite Teil, in dem Bellori in analoger Weise Rubens’ Äußeres und Auftreten schildert, das ebenfalls sehr positiv als „­maestoso“, „umano“ und „nobile di maniere e d’abiti“ charakterisiert wird. Es ist der folgende Halbsatz, „si può opporre nondimeno“, der die Wende in Duktus und Inhalt indiziert.19 Dabei markiert insbesondere das Adverb „nondimeno“, dass nun gerade keine Synthese aus der bisherigen positiven Schilderung folgen wird. Und tatsächlich schließt Bellori ein heftiges Verdikt an, dass er auch nicht, wie gelegentlich in anderen Viten, Dritten in den Mund legt,20 sondern als Erzähler mit „behauptender Kraft“ selbst spricht: „Si può opporre nondimeno al Rubens di aver mancato alle belle forme naturali per la mancanza del buon disegno, per la quale, e per un certo suo genio che non pativa riforma, veniva egli ­r imosso dalla venustà dell’aria delle teste e dalla grazia de’ contorni, che egli alterava con la sua maniera. […] Con la libertà del colorito spesse volte si dimostrò troppo pratico, né si riteneva alle parti emendate della natura; e benché egli stimasse sommamente Rafaelle e l’antico, non però imitò mai l’uno o l’altro in parte alcuna“.21 18 Zur Frage der Datierung der beiden Viten siehe unten sowie Anm. 123. 19 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 266 und 267 [Hervorhebung von der Autorin]. 20 Siehe z. B. ebd., S. 183 [Barocci] und S. 218 [Caravaggio]; siehe hierzu auch von Rosen 2016 (wie Anm. 1). 21 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 267f.; Übersetzung von Anja Brug: „Man kann Rubens nichtsdestoweniger entgegenhalten, dass er es an schönen natürlichen Formen hat fehlen lassen aufgrund des Mangels an guter Zeichenkunst. Deshalb und wegen eines gewissen ihm eigenen Wesenszugs, der keine Änderungen duldete, entfernte er sich vom Reiz der Gesichtsausdrücke und von der Anmut der Linien, die er mit seiner Vorgehensweise verdarb. […] In der Freiheit der Farbe zeigte er sich oftmals zu routiniert und hielt sich nicht an die von der Natur verbesserten Partien; und obwohl er Raffael und die Antike in höchstem Maße schätzte, ahmte er trotzdem niemals den einen oder den anderen in irgendeinem Teil nach“.

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Entscheidend hinsichtlich der argumentativen Diskrepanz der Vita ist, dass es sich bei dem nun Kritisierten nicht um die im ersten Teil der Vita womöglich vernachlässigten oder ausgeblendeten Aspekte der Rubens’schen Malerei handelt, die nun kritisch nachgetragen werden. Hier wird vielmehr im beurteilenden Duktus das beanstandet, was im ersten Teil der Vita neutral, ja sogar mehr oder weniger latent positiv geschildert wurde. Dabei entsprechen sowohl der zutage tretende Anspruch, benennen zu können, wie Kunst zu sein hat, als auch die Kriterien selbst, die Bellori anlegt, terminologisch entweder exakt oder im Kern denjenigen Vasaris. Dies gilt insbesondere für dessen Leitbegriff disegno, dessen Mangel Bellori nun ‚plötzlich‘ konstatiert – ‚plötzlich‘, weil diese Kritik in der chronologisch angelegten Lebens- und Werkbeschreibung im ersten Vitenteil in keiner Weise vorbereitet ist. Im Gegenteil: Bellori hatte dort sogar explizit vermerkt, dass Rubens in Italien intensiv gezeichnet habe.22 Lediglich einmal erwähnte er im ersten Teil, Rubens sei in seiner Frühzeit in Antwerpen „übergangslos vom Zeichnen zum Kolorieren übergegangen“. Bellori kommentierte diese Praxis aber selbst mit den Worten, dies sei Rubens „kraft seiner Begabung [ingegno]“ [!] möglich gewesen.23 Das heißt, sein generalisierendes Urteil bezüglich eines postulierten Fehlens von disegno am Ende der Rubens-Vita wird von Bellori weder argumentativ vorbereitet, noch folgt es in irgendeiner Form logisch aus dem zuvor Gesagten. Dasselbe gilt auch für Belloris Bemerkung, Rubens habe weder antike Skulpturen noch die Werke Raffaels nachgeahmt.24 Dass eine solche Feststellung schlicht falsch ist, liegt auf der Hand und muss Bellori auch bewusst gewesen sein:25 Nicht nur Rubens’ umfangreicher Zeichnungskorpus nach Antiken (Abb. 1 und Abb. 3)26 oder das aus

22 Bellori verwendet den Begriff, von der kritischen Passage abgesehen, in der Vita Rubens’ viermal; dreimal davon berichtete er, dass der flämische Maler viel gezeichnet habe. Vgl. Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 222, 223, 227. An einer Stelle in der Vita benutzt er den Terminus disegno wie folgt: „Né potendo altrimente far resistenza alla sua forte inclinazione, si lasciò tutto a questo studio, […], portandosi senza intervallo dal disegno alli colori, non per l’uso commune de’ giovini in Fiandra, che tosto si mettono a colorire, ma per l’impeto dello ingegno.“; übers. von Anja Brug: „Und da er sich in keiner Weise seiner starken Neigung zu widersetzen wusste, gab er sich diesem Studium vollkommen hin, […]; ohne Unterbrechung ging er von der Zeichnung zur Farbe über, jedoch nicht aus der den Jungen in Flandern gemeinen Gewohnheit, sofort mit dem Kolorieren zu beginnen, sondern mit dem Impetus seiner Begabung.“ Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 240. Zu dieser Passage siehe die folgende Bemerkung. 23 Siehe oben, Anm. 22. 24 Siehe Anm. 21. 25 Hierzu Fiona Healy in ihrem noch unpublizierten Essay zur Rubens-Vita der in Anm. 1 genannten Edition: „Bellori then resumes his general discussion of Rubens, which apart from mentioning just a few works, mostly portraits, and a terse reference to the nine ceiling paintings executed for Charles I of England, about which Bellori is surprisingly uninformed, is mainly concerned with an evaluation of the artist’s character, social standing and achievements.“ (S. 10) 26 Rubens fertigte zahlreiche Zeichnungen von antiken Marmor- und Bronzeskulpturen, Münzen, Gemmen und Sarkophagen an; siehe hierfür Marjon van der Meulen, Copies after the Antique (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard 23), Bd. 1–3, London 1994/1995; siehe auch Frans Baudouin, Rubens en de antieke kunst, in: Frans Baudouin (Hg.), Rubens in Context. Selected Studies, Schoten 2005, S. 105–123.

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1  Peter Paul Rubens, Laokoon, Zeichnung nach der antiken Statue im Vatikan, um 1601, schwarze Kreide, 45,7 × 47,5 cm, Biblioteca Ambrosiana, Mailand

s­einem an­ sonsten verbrannten „Theoretischen Notizbuch“ stammende Studienblatt nach Raffaels Borgo­brand in der Stanza dell’Incendio im Vatikan (Taf. XI), dessen Existenz Bellori auch erwähnt,27 sind eindeutige Indizien dafür, dass Rubens sich dezidiert mit der Antike und Raffael auseinandergesetzt hat; weitere Belege hierfür sind ein von Rubens’ Hand stammender Traktat über die Nachahmung antiker Skulptur,28 seine umfangreichen Rekurse auf antike Werke in seinen Gemälden wie etwa in der Bellori bestens bekannten Dornenkrönung in S. Croce in Gerusalemme (Abb. 2), die den Torso vom Belvedere (Abb. 3) zitiert,29 und schließlich die ostentativen Bezugnahmen auf 27 Siehe zu diesem Blatt und zum Studienbuch: Arnout Balis, Rubens und Inventio. Der Beitrag seines theoretischen Stundenbuches, in: Ulrich Heinen und Andreas Thielemann (Hg.), Rubens Passioni. Kultur der Leidenschaften im Barock, Göttingen 2001, S. 11–40; allgemein zum Thema vgl. Jeremy Wood, Rubens. Copies and Adaptations from Renaissance and Later Artists (Corpus Rubenianum Ludwig Buchard 26, 2), Bd. 1–3, London 2010/2011. 28 Der Traktat mit dem Titel De imitatione antiquarum statuarum war wahrscheinlich Teil des verbrannten „Studienbuches“; Roger de Piles zitiert in seinen Cours de peinture par principes, Paris 1708 eine Passage daraus. Siehe Andreas Thielemann, Rubens’ Traktat „De imitatione statuarum“, in: Ursula Rombach und Peter Seiler (Hg.), „Imitatio“ als Transformation: Theorie und Praxis der Antikennachahmung in der Frühen Neuzeit, Petersberg 2012, S. 95–150. 29 Das Gemälde befand sich nebst weiteren prominenten von der Hand des Flamen (Heilige Helena bei der Auffindung des Kreuzes und Kreuzaufrichtung) bis 1811 in der römischen Kirche; über England gelangte es 1827 in die Kathedrale von Grasse, wo es sich noch heute befindet. Siehe hierzu Hans Vlieghe, Saints (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard 8), Bd. 2, Nr. 111, London 1973, S. 62–64; vgl. Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 222; zur Zeichnung nach dem Torso vom Belvedere vgl. Didier Bodart (Hg.), Rubens: Pietro Paolo Rubens (1577–1640) (Ausst.-Kat. Padua, Palazzo della Ragione u. a.), Rom 1990, Nr. 57, S. 155f.

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2  Peter Paul Rubens, ­Dornenkrönung, 1601–1602, Öl auf Holz, 224 × 180 cm, ­Notre-Dame-du-Puy, Grasse

R ­ affaels Gemälde etwa in der Transfiguration für den Herzog von Mantua (Abb. 4 und Taf. XII).30 Die Sätze erklären sich aber aus Belloris offenkundigem Bedürfnis, hier eine Form der Biografik nach dem Modell Vasaris anzuwenden, die auf der Einforderung a priori gesetzter Normen beruht, welche auch und gerade ex negativo zu konturieren sind. Belloris Bedürfnis, an dieses Modell anzuschließen, war offenkundig so stark, dass er es sogar um den Preis der Kongruenz der eigenen Argumentation umsetzt. Bezeichnenderweise gibt es ein konkretes Modell, dem Bellori mit diesen Invektiven gegen Rubens am Ende seiner Vita folgt, und das ist Vasaris für die Giuntina-Edition von 1568 verfasste Tizian-Biografie. In ihr legt der Autor in mehreren, in die chronologische Schilderung von Leben und Werk des Venezianers eingefügten kunsttheoretischen Exkursen ausführlich und kritisch die Folgen dar, die sich seines Erachtens einstellen, wenn ein Maler seine künstlerischen Leitlinien nicht an den von ihm selbst vor allem in

30 Siehe hierfür Christine Göttler, „Barocke“ Inszenierung eines Renaissance-Stücks. Peter Paul Rubens’ Transfiguration für Santissima Trinità in Mantua, in: Christine Göttler und Ulrike ­Müller-­Hofstede (Hg.), Diletto e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock, Emsdetten 1998, S. 166–189.

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3   Peter Paul Rubens, Torso vom Belvedere, ca. 1601–1602, Bleistift und schwarze Kreide auf Papier, 37,5 × 27 cm, Rubenshuis, Antwerpen

den kunsttheoretischen Prätexten (Della Pittura sowie auch den Proömien) entwickelten Prämissen und Regeln ausrichte.31 Konkret bemängelt Vasari das angebliche Fehlen von disegno in Tizians Werken, dessen fehlendes Studium der Antike sowie der Werke Michelangelos und Raffaels.32 Dass es nun gerade diese Vita in Vasaris umfangreichem 31 Zur Rolle und Bedeutung der Tizian-Vita in Vasaris System siehe Ketelsen 2013 (wie Anm. 2); ­Valeska von Rosen, Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians: Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten/Berlin 2001; von Rosen 2016 (wie Anm. 1). 32 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 4, 1976, S. [155]–174, hier S. 157: „E mi ricordo che fra’ Bastiano del Piombo […] mi disse che, se Tiziano in quel tempo fusse stato a Roma et avesse veduto le cose di Michelagnolo, quelle di Raffaello e le statue antiche, et avesse studiato il disegno, arebbe fatto cose stupendissime, vedendosi la bella pratica che aveva di colorire, e che meritava il vanto d’essere a’ tempi nostri il più bello e maggiore imitatore della natura nelle cose de’ colori, che egli arebbe nel fondamento del gran disegno aggiunto all’Urbinate et al Buonarruoto“; dt. Übers. in: Giorgio Vasari, Das Leben des Tizian, hg. und komm. von Christina Irlenbusch, Berlin 2005, S. 20: „Und ich erinnere mich, daß Fra Sebastiano del Piombo mir […] sagte, daß Tizian herrlichste Dinge vollbracht hätte, wenn er zu jener Zeit in Rom gewesen wäre und dort die Werke Michelangelos, Raffaels und die antiken Statuen gesehen und sich dazu im Zeichnen geübt hätte. Dann nämlich wäre er, dessen schöne Praxis in der Farbgestaltung offensichtlich sei und der es verdiene, hinsichtlich der Farben als der beste und größte Naturnachahmer unserer Zeit gerühmt zu werden, in der Grundlage des großen disegno dem Urbinaten und Buonarroti gleichgekommen“.

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4  Peter Paul Rubens, Transfiguration, 1604–1605, Öl auf Leinwand, 407 × 670 cm, Musée des Beaux-Arts, Nancy

opus war, die in den Folgejahren besondere Aufmerksamkeit von Künstlern und Kunst­ literaten erhielt und mit Abstand die meisten und kritischsten Annotationen erfuhr, habe ich an anderer Stelle gezeigt.33 Bezeichnenderweise wird sie auch von Annibale gerade der in ihr zutage tretenden Normativität wegen regelrecht polemisch aufs Korn genommen.34 33 Siehe hierfür von Rosen 2001 (wie Anm. 31); Mario Fanti, Le postille carraccesche alle „Vite“ del Vasari: il testo originale, in: Il Carrobbio 5 (1979), S. 148–163; Mario Fanti, Ancora sulle postille carraccesche alle „Vite“ del Vasari: in buona parte sono di Annibale, in: Il Carrobbio 6 (1980), S. 136– 141; Henry Keazor, „Distruggere la maniera“? Die Carracci-Postille, Freiburg im Breisgau 2002; Daniele Benati, Le postille di Annibale Carracci al terzo tomo delle „Vite“ di Giorgio Vasari, in: ­Daniele Benati und Eugenio Riccomini (Hg.), Annibale Carracci (Ausst.-Kat. Bologna, Museo C ­ ivico Archeologico, Rom, DART Chiostro del Bramante), Mailand 2006, S. 460–464. Siehe d ­ arüber hinaus auch Anne Summerscale, Malvasia’s Life of the Carracci: Commentary and Translation, University Park 2000, bes. S. 2–5; Elizabeth Cropper, A Plea for Malvasia’s Felsina Pittrice, in: Carlo Cesare Malvasia, Felsina Pittrice: Lifes of the Bolognese Painters: A Critical Edition and Annotated Translation, Bd. 1, hg. von Elizabeth Cropper und Lorenzo Pericolo, London 2012, S. 1–47, bes. S. 4–7 sowie jüngst Lorenzo Pericolo, Statuino: An Undercurrent of Anticlassicism in Italian Baroque Art Theory, in: Art History 38 (2015), Nr. 5, S. 862–889, bes. S. 866f. 34 So annotiert Annibale Vasaris Bemerkung hinsichtlich Tizians angeblich fehlender zeichnerischer Praxis mit den Worten: „[Q ]uasi che non si possano [p]orre in più modi diferenti su la tavola, [e] da quella cassarle [e] rifarle, come su la [c]arta, ma mi manca [il] loco di provar [la] coglioneria di [q] uesto goffo del Vasari.“; übers. von Henry Keazor: „Als ob man diese nicht auf mehrere, verschiedene Arten in einem Bild darstellen und in diesem, wie auf dem Papier, ausradieren und überarbeiten könne, aber mir fehlt hier der Platz, um die Dummheit dieses Tölpels Vasari zu belegen.“ Keazor 2002 (wie Anm. 33), S. 30 (italienisch) und 31 (deutsch).

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Angesichts der breiten Reaktionen auf die Tizian-Vita, in der Vasaris normative Prämissen in maximaler Deutlichkeit elaboriert sind, musste Bellori also bewusst ge­wesen sein, dass der sich durch die Parallelität der Kritikpunkte ergebende intertextuelle Charakter dieser Passage in seiner Rubens-Vita erkannt werden musste. So hatte Vasari in einer ebenfalls von Annibale Carracci besonders kritisch annotierten35 Passage mit Bezug auf Tizians Lehrjahre in der Werkstatt Giovanni Bellinis die negativen Folgen benannt, zu denen eine angeblich nicht an der antiken Skulptur ausgerichtete Mal­ praxis zwangsläufig führe: Es fehle dann ein ‚richtiges‘ Konzept der Naturnachahmung (imitazione), das den Maler befähige, dem Naturvorbild Schönheit zu verleihen. Logisch konsequent wird der behauptete disegno-Mangel der Gemälde Tizians ‚erklärt‘ mit dem Faktum der nicht (respektive zu spät) angetretenen Reise des Venezianers nach Rom.36 Ganz ähnlich, weil auf ein zu enges Nachahmungsverständnis abzielend, dem letztlich Schönheit und ‚Kunst‘ geopfert würden, schreibt Bellori auch im Folgesatz über die von Rubens gemalten Gewänder, sie seien „semplice“ und „non corretto dall’arte“.37 Und auch die weiteren Kategorien Belloris, deren Mangel in Rubens’ Werken er beklagt, näm-

35 „[L’]ignorante Vasari [n]on s’accorge che gl’[a]ntichi buoni maestri [h]anno cavate le cose [l]oro dal vivo, et voul [p]iù tosto che sia buono [r]itrar dalle seconde cose [c]he son l’antiche, che [d]a le prime, è princi[p]alissime che sono le vive, le quali si dobbono [s]empre immitare. [M]a costui non intese [q]uest’arte.“ „Der ignorante Vasari merkt nicht, daß die alten guten Meister ihre Dinge aus dem lebendigen Vorbild geschöpft haben, und er hätte es lieber, daß es gut sei, nach den zweit(rangig)en Dingen zu arbeiten (welche die Antiken und die Werke der vorangegangenen Künstler sind) anstatt nach den erst(rangig)en und wichtigen, welches die Dinge der lebendigen Natur sind, welche man immer nachahmen muß. Aber er verstand diese Kunst eben nicht.“ Ebd., S. 12 (italienisch) und 13 (deutsch). 36 Siehe das Zitat in Anm. 32; für die entsprechende Ausarbeitung eines angeblich zu einfachen Nachahmungsbegriffs, der durch die Verben ,contrafare‘ und ,ritrarre‘ statt ,imitare‘ charakterisiert wird, siehe auch Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 164: „[…] il Buonarruoto lo [Tiziano] comendò assai, dicendo che molto gli piaceva il colorito suo e la maniera, ma che era un peccato che a Vinezia non s’imparasse da principio a disegnare bene e che non avessono que’ pittori miglior modo nello studio: ,Con ciò sia‘ – diss’egli – ,che, se quest’uomo fusse punto aiutato dall’arte e dal disegno, come è dalla natura, e massimamente nel contrafare il vivo, non si potrebbe far più né meglio, avendo egli bellissimo spirito et una molto vaga e vivace maniera.‘ Et infatti così è vero, perciò che chi non ha disegnato assai e studiato cose scelte, antiche o moderne, non può fare bene di pratica da sé né aiutare le cose che si ritranno dal vivo, dando loro quella grazia e perfezzione che dà l’arte fuori dell’ordine della natura, la quale fa ordinariamente alcune parti che non son belle“; dt. Übers. in: Vasari 2005 (wie Anm. 32), S. 36: „[…] Michelangelo äußerte sich sehr anerkennend über ihn, indem er sagte, ihm würden seine Farbgebung und sein Stil sehr gut gefallen, es sei aber schade, daß man in Venedig nicht von Anfang an gut zeichnen lernte und sich jene Maler nicht mit der besten Methode ihrem Studium widmeten. ,Wenn deshalb‘, sagte er, ,dieser Mann, vor allem bei der Nachahmung des Lebendigen, von der Kunst und dem disegno genauso gefördert würde wie von der Natur, könnte man weder Größeres noch Besseres vollbringen, da er über einen herrlichen Geist und einen anmutigen und lebendigen Stil verfügt.‘ Und tatsächlich verhält es sich genau so, denn wer nicht genügend gezeichnet und ausgewählte Dinge an Antikem oder Modernem studiert hat, vermag weder allein aus der Übung heraus gut zu arbeiten noch das nach dem Leben Gemalte zu verbessern und ihm dadurch jene Anmut und Perfektion zu verleihen, die die Kunst unabhängig von der Ordnung der Natur erzeugt, die manches für gewöhnlich nicht schön hervorbringt“. 37 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 268 [Rubens].

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lich „grazia e venustà“,38 erscheinen bereits bei Vasari;39 insbesondere den Mangel an grazia hatte Vasari Tizians Gemälden attestiert.40 Um Rubens einen von Vasaris dichotomen Kategorien vorgegebenen kunsttheoretischen Ort zuzuweisen, der im Prinzip durch den intertextuellen Charakter dieser Passage der Vita bereits sehr deutlich markiert ist, spricht Bellori in der Folge vom „buon colorito veneziano“ des Flamen.41

II.3  Die Van-Dyck-Vita Auch in der Vita Anthonis van Dycks lassen sich ähnliche Diskrepanzen in der Argumentation nachweisen. Sie ist vergleichsweise kurz, verfügt aber ebenfalls über die üb­­ liche zweiteilige Struktur: In ihr lautet Belloris generalisierendes Urteil folgendermaßen: „[…] [S]e bene egli non fu sì capace d’invenzioni, né ebbe pari lo spirito e la facilità nelle opere copiose e grandi, essendo l’armonia de’ suoi colori più propria d’una camera.“42 Die erwähnte Diskrepanz sticht dem aufmerksamen Leser sofort ins Auge, denn genau die hier angemahnte Kategorie des „spirito“, des „Geistes“ in der Malerei, hatte Bellori zuvor an prominenter Stelle, nämlich im ersten Satz der Vita van Dycks, noch positiv hervorgehoben: „Grande per la Fiandra era la fama di Pietro Paolo Rubens, quando in Anversa nella sua scuola sollevossi un giovinetto portato da così nobile generosità di costumi e da così bello spirito nella pittura che ben diede segno d’illustrarla ed accrescerle splendore in quella dignità ed eccellenza alla quale il maestro l’aveva inalzata.“43 38 Ebd., S. 247f. Zur grazia bei Bellori siehe jüngst Jörn Steigerwald, ‚Grazia‘ oder die Vollendung menschlicher Natur und Kunst in Giovan Pietro Belloris „Vite“, in: Elisabeth Oy-Marra, Marieke von Bernstorff und Henry Keazor (Hg.), Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen: Schreiben über Kunst und ihre Medien in Giovan Pietro Belloris ‚Viten‘ und der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, Wies­ baden 2014, S. 257–284. 39 Allein die Kategorie grazia verwendet Vasari in seinen Viten über 400-mal belegt, punktuell auch in Verbindung mit venustà, so in der Vita Brunelleschis, vgl. Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 3, 1971, S. 137. 40 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 164: „Et infatti così è vero, perciò che chi non ha disegnato assai e studiato cose scelte, antiche o moderne, non può fare bene di pratica da sé né aiutare le cose che si ritranno dal vivo, dando loro quella grazia e perfezzione che dà l’arte fuori dell’ordine della natura, la quale fa ordinariamente alcune parti che non son belle.“ Hervorhebung von der Autorin. Dt. Übers. in: Vasari 2005 (wie Anm. 32), S. 36: „Und tatsächlich verhält es sich genau so, denn wer nicht genügend gezeichnet und ausgewählte Dinge an Antikem oder Modernem studiert hat, vermag weder allein aus der Übung heraus gut zu arbeiten noch das nach dem Leben Gemalte zu verbessern und ihm dadurch jene Anmut und Perfektion zu verleihen, die die Kunst unabhängig von der Ordnung der Natur erzeugt, die manches für gewöhnlich nicht schön hervorbringt.“ Hervorhebung von der Autorin. 41 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 248 [Rubens]. 42 Ebd., S. 283 [van Dyck]; übers. von Anja Brug: „Dennoch war er zu Erfindungen nicht so fähig und hatte auch wenig Geist und Leichtigkeit in den vielen und großen Werken, da die Harmonie seiner Farben eher für eine Kammer geeignet war.“ 43 Ebd., S. 272; übers. von Anja Brug: „Groß war in Flandern der Ruf des Peter Paul Rubens, als in Antwerpen in seiner Schule ein junger Mann emporstieg, getragen von solch erlesener Fülle guter Umgangsformen und von solch schönem Empfinden im Malen, dass er sich anschickte, die Malerei

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„Spirito“ ist ein wichtiger Terminus Vasaris, und bezeichnenderweise lässt dieser damit auch die Vita Tizians beginnen: „Essendo nato Tiziano in Cador, piccol castello posto in sulla Piave e lontano cinque miglia dalla Chiusa dell’A lpe, l’anno 1480, della famiglia de’ Vecelli, in quel luogo delle più nobili, pervenuto all’età di dieci anni con bello spirito e prontezza d’ingegno, fu mandato a Vinezia in casa d’un suo zio, cittadino onorato […].“44

Dass Bellori auch in der Kritik an van Dyck dem Muster Vasaris folgt und mithin auch deren kunsttheoretische Nuancen in der vergleichenden Lektüre mit dessen Tizian-Vita umso deutlicher hervortreten, macht Belloris weitere Kritik an dem Flamen deutlich: „Non fu sì capace d’invenzione“,45 lautet das harsche Urteil, das es zumindest indirekt auch in Vasaris Tizian-Vita gibt.46 Daraus resultiert konsequent die Würdigung des Malers in der Gattung des Porträts – eben jener Gattung, der im Gattungsdiskurs der Zeit oft die unmittelbare, tendenziell zu enge Bindung an das Naturvorbild attestiert wurde:47„Conseguì egli il pregio maggiore ne’ ritratti, ne’ quali fu unico, ed alcune volte con l’istesso Tiziano maraviglioso.“48 Um die indirekt behauptete Filiation der flämischen von der venezianischen Malweise besonders deutlich zu machen, nennt Bellori hier auch Tizians Namen, und zwar bezeichnenderweise als denjenigen Künstler, der bis dato auf diesem Gebiet unübertroffen gewesen sei. Es folgt seine vehemente Kritik an van Dycks

berühmt zu machen und ihren Glanz zu vergrößern mit der gleichen Würde und Vortrefflichkeit, zu der der Meister sie erhoben hatte.“ 44 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 155. Hervorhebung von der Autorin. Dt. Übers. in: Vasari 2005 (wie Anm. 32), S. 15: „Tizian wurde 1480 in Cadore, einem kleinen, fünf Meilen der Alpenschlucht entfernten Weiler an der Piave, als Sprößling der Familie Vecellio geboren, die in dieser Gegend zu den vornehmsten zählte. Als er sich im Alter von zehn Jahren von schönem Geist und Scharfsinn zeigte, schickte man ihn nach Venedig in das Haus eines Onkels, der dort ein angesehener Bürger war.“ Hervorhebung von der Autorin. 45 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 283; übers. von Anja Brug : „[…] dennoch war er zu Erfindungen nicht so fähig und hatte auch wenig Geist und Leichtigkeit in den vielen und großen Werken […].“ 46 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 155: „[…] [Tiziano] tenendo per fermo che il dipingere solo con i colori stessi, senz’altro studio di disegnare in carta, fusse il vero e il miglior modo di fare il vero disegno; ma non s’accorgeva che egli è necessario a chi vuol bene disporre i componimenti et accomodare l’invenzioni, ch’e’ fa bisogno prima […] porle in carta, per vedere come il tutto torna insieme. Con ciò sia che l’idea non può vedere né imaginare perfettamente in sé stessa l’invenzioni, se non apre e non mostra il suo concetto agl’occhi corporali che l’aiutino a farne buon giudizio.“; dt. Übers. in: Vasari 2005 (wie Anm. 32), S. 15f.: „[…] da er [Tizian] der festen Überzeugung war, daß allein das farbliche Gestalten ohne die Hilfe von Zeichenstudien auf Papier die wahre und beste Methode sei und dies den eigentlichen disegno darstelle. Dabei übersah er allerdings, daß jemand, der gut angelegte Kompositionen wünscht und die Einfälle ordnen möchte, sie notwendigerweise zuvor […] zu Papier bringen muß, um zu sehen, wie alles zusammenpaßt. Die Vorstellung an sich vermag die Einfälle weder zu sehen noch sie zu imaginieren, wenn sie ihre Konzeption den leiblichen Augen nicht eröffnet und vorführt, auf daß sie ihr bei der erfolgreichen Urteilsfindung Hilfe leisten.“ 47 Vgl. hierzu Rudolf Preimesberger, Hannah Baader und Nicola Suthor (Hg.), Porträt (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren 2), Berlin 1999, passim. 48 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 283; übers. von Anja Brug: „Er erlangte höchste Wertschätzung in den Porträts, in denen er einzigartig und manches Mal sogar zusammen mit Tizian fabelhaft war.“

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Leistungen in der ranghöchsten, eben mit den geistigen Kategorien der invenzione, des disegno und der idea intrinsisch verknüpften Gattung der istoria: „Nell’istorie però non si mostrò sufficiente e stabile nel disegno, né sodisfece con perfetta idea, mancando in questa e nell’altre parti che si convengono all’azzione de’ componimenti.“49

Auch Vasari hatte Tizians Leistungen „particolarmente“ auf dem Gebiet des Porträts sehen wollen50 und umging zugleich nach Möglichkeit die Würdigung seiner Leistungen auf dem Gebiet der istoria. So hatte er die angeblich schlechte Sicht auf Tizians capolavoro in dieser Gattung, die monumentale Assunta im Chor der Frari-Kirche, zum Anlass genommen, das Werk nicht zu besprechen,51 – was Annibale Carracci wiederum als Vorwand entlarvte.52 Entscheidend für die hier interessierende Parallele zwischen Vasaris Tizian- und Belloris Van-Dyck-Verdikten ist noch etwas anderes: Alle Kategorien, die Vasari an Tizian heranträgt und deren Mangel er wortreich betont, laufen darauf hinaus, dem venezianischen Maler jene mit der Transzendenz vom Naturvorbild verbundene Intellektualität abzusprechen und seine Malerei auf das sinnliche akzidentielle colore festzulegen. Im kunsttheoretischen Kern kongruiert diese Zuschreibung exakt mit dem, was Bellori dann expliziter auf die Gattungsfrage zuspitzt, wenn er van Dyck die Leistungen in der Gattung der istoria abspricht. Hier wie dort dürfte zumindest ein Teil der Zeitgenossen angesichts der Leistungen van Dycks – und natürlich auch Tizians – in der Gattung der istoria diese Zuschreibungen kaum als adäquat erachtet haben.53 Nur kennen wir bislang kaum Kommentare respektive Annotationen zu dieser Vita.54 49 Ebd., S. 283f.; übers. von Anja Brug: „In den Bilderzählungen zeigte er sich weder ausreichend und beständig in der Zeichnung, noch befriedigte er mit einer vollkommenen Idee, da es diesbezüglich und hinsichtlich der anderen Teile daran mangelte, dass sie für die Handlungen der Kompositionen angemessen war.“ Vgl. hierzu die folgende Passage in Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 155: „[…] usando nondimeno di cacciar sì avanti le cose vive e naturali, e di contrafarle quanto ­sapeva il meglio con i colori, e macchiarle con le tinte crude e dolci, secondo che il vivo mostrava, senza far disegno, tenendo per fermo che il dipingere solo con i colori stessi, senz’altro studio di disegnare in carta, fusse il vero e il miglior modo di fare il vero disegno.“; dt. Übers. in: Vasari 2005 (wie Anm. 32), S. 15f.: „Dennoch pflegte er weiterhin lebendige und natürliche Dinge vor sich zu postieren, sie so gut er konnte mit Farben nachzuahmen, indem er harte und weiche Farbtöne entsprechend ihrer natürlichen Erscheinung auftupfte, und dies ohne zuvor eine Zeichnung angefertigt zu haben, da er der festen Überzeugung war, daß allein das farbliche Gestalten ohne die Hilfe von Zeichenstudien auf Papier die wahre und beste Methode sei und dies den eigentlichen disegno darstelle.“ 50 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 164. 51 Siehe ebd., S. 159; einzig Tizians Gemälde des Petrus Martyr wird bedingungslos gelobt: siehe ebd., S. 160f.; vgl. hierzu von Rosen 2001 (wie Anm. 31), besonders S. 31–40. 52 Siehe das Zitat in Keazor 2002 (wie Anm. 33), S. 34f. 53 Healy weist in ihrem Essay insbesondere auf die in Genua entstandenen Historien hin, von denen Bellori aufgrund seiner generell sehr guten Informiertheit gewusst haben muss. Siehe oben, Anm. 25. 54 In der von Margaret Daly Davis publizierten anonymen Rezension der Vite Belloris aus dem Jahre 1673 werden Belloris Zuschreibungen an van Dyck und die Parallelisierung mit Tizian kritiklos übernommen und wörtlich das Urteil über die fehlende Erfindungskraft des Flamen wiederholt; ­siehe

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Gerade in diesen intertextuellen Bezügen auf Vasaris Tizian-Vita gibt sich die doppelte Absicht Belloris zu erkennen: Er stellt van Dyck in eine von Vasari erstmals beschriebene Tradition nicht intellektuell basierter künstlerischer Praxis mit geringer Inventionskraft und verfolgt damit zugleich die Absicht, über diese Rekurse der eigenen Argumentation Gewicht zu verleihen, ja Autorität auch über die Fortschreibung der ‚großen Theorie‘ Vasaris zu gewinnen.

III.  Gegentendenzen. Abschied von der Normativität und einem linear-progressiven Narrativ Vor dieser Folie einer stark Vasaris Kategorien und seiner normativen Kunstgeschichtsschreibung verpflichteten Biografik wartet die Lektüre der anderen von Bellori verfassten Viten mit Überraschungen auf. Weder hinsichtlich der Verabsolutierung bestimmter Kategorien noch hinsichtlich der Postulierung vorbildlicher Künstler oder konventionalisierter Ausbildungswege in der Malerei macht Bellori in ihnen vergleichbare Setzungen. Dies sei im Folgenden exemplarisch ausgeführt und daran anschließend gefragt, was diese neue Ausrichtung seiner Schrift bedingt haben könnte.

III.1  Die „gran pennelli“ der älteren Maler und der Abschied von der Normativität Hinsichtlich der Wertungen respektive Abwertungen der Künstler in den zitierten Passagen aus Belloris Vite war es jeweils der Autor, der, wie gesehen, seine Meinung mit „behauptender Kraft“ wiedergab. Dies sieht in anderen Viten, teilweise aber auch anderen Passagen der bisher behandelten Viten,55 durchaus anders aus. So referiert Bellori in der Vita Poussins lediglich die konträren Urteile der Zeitgenossen hinsichtlich der Präferenz des Malers für kleinfigurige Gemälde, enthält sich aber eines eigenen Kommentars zu dem Thema.56 Hierdurch vermittelt er seinen Lesern das Faktum der Pluralität der Anonymus, Rezension von: Giovan Pietro Bellori, Le Vite de’ pittori, scultori et architetti moderni, scritte da Gio: Pietro Bellori, Parte prima. All’IIllustriss. et Eccellentiss. Signore Gio: Battista Colbert Cavaliere Marchese di Seignelay […] In Roma, Per il Success. al Mascardi, 1672, in: Giornale de’ letterati, 23. Juni 1673, hg. und komm. von Margaret Daly Davis (FONTES 17, 29. September 2008), URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/610/ (letzter Zugriff am 22. März 2016), S. 26f. 55 So tritt beispielsweise in der Vita Baroccis Michelangelo auf, der dessen Werk beurteilt, vgl. Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 183; in der Lebensbeschreibung Caravaggios äußern sich seine Kritiker, vgl. ebd., S. 218; vgl. hierzu auch von Rosen 2016 (wie Anm. 1). 56 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 453 [Poussin]: „[…] Contuttociò quelli che lo chiamano in giudicio si vagliono ch’egli dipingesse in picciolo i suoi megliori componimenti, […], e che per tal cagione si astenesse dalle opere grandi ed a fresco. […] Altri nondimeno sono di parere che Pussino non per mancanza di genio o di sapere ma per lunga consuetudine si esercitasse in picciolo, cresciuto in questa riputazione.“; übers. von Henry Keazor: „[…] Dennoch, diejenigen, die über ihn urteilen, sagen, dass er seine besten Werke im kleinen Maßstab malte, […] und dass er aus diesem Grund von großen Werken und Fresken Abstand nahm. […] Andere hingegen sind der Meinung, dass Poussin sich nicht aus Mangel an Begabung oder Erfahrung, sondern aus langer Gewohnheit in der Kleinmalerei betätigt habe und darin seinen Ruhm vermehrt habe.“

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Sichtweisen und Urteile in Bezug auf Poussin, das nicht durch sein autoritäres Urteil nivelliert wird. In analoger Weise referiert er in der Vita Domenichinos das Urteil Dritter, die dem Maler eine besondere Begabung abgesprochen hätten,57 stellt dagegen aber das Wort Poussins, der „keinen anderen Maler als Domenichino anerkannte in Bezug auf die Bereiche Natur und Kunst“.58 Zwar meldet sich hier nun auch der Autor Bellori zu Wort und formuliert seine Ansicht einer Überlegenheit Domenichinos gegenüber seinen Künstlerkollegen;59 in dem zuvor entwickelten argumentativen Rahmen und angesichts des Faktums, dass Bellori sein Urteil lediglich auf bestimmte Aspekte in den Gemälden Domenichinos beschränkt, verbindet sich mit dieser Bewertung aber kein absolut gesetztes Urteil. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass Bellori die in den frühen Viten sowie in den Biografien van Dycks und Rubens’ zu beobachtende zweipolige Struktur nach dem Schema der chronologischen Schilderung von Leben und Werk, auf die eine autoritäre Charakterisierung des Gesamtwerks folgt, aufbricht. Dies wird besonders deutlich in der Vita Guido Renis, in der nach der Schilderung des Tods des Künstlers sehr allgemeine kunsttheoretische Reflexionen über einzelne malerische Kategorien folgen. Dabei geht es weniger um Synthese und Zuspitzung des Urteils wie in den Viten der beiden Flamen; vielmehr überlässt es der Autor hier dem Künstler Reni, seine Praktiken und Ansichten zu formulieren.60 Noch markanter ist der Unterschied zu den genannten Viten in der Biografie Andrea Sacchis, in der nun jede Form der Synthese fehlt. Stattdessen folgt am Ende der Vita eine bloße Auflistung der in der Schilderung von Leben und Werk fehlenden Gemälde in einem sehr knappen, aufzählenden Modus.61 Auch in den Viten von François Duquesnoy und Poussin finden sich an dieser Stelle quasi ‚nachgeschobene‘ Beschreibungen von Gemälden, so als handelte es sich um Texte, die Bellori in der chronologisch aufgebauten Vita nicht unterbringen konnte, der Vollständigkeit halber aber noch nachtragen wollte.62 In der Vita Poussins fügt Bellori an diese wiederum kommentarlos zwei vom Maler selbst verfasste unpublizierte Texte: die illustrierten Misure sopra la statua d’Antinoo veduta di 57 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 360 [Domenichino]: „Essendo però tale il gran genio che toccò a Domenico, fu egli condannato a torto che non avesse dono naturale e che il tutto operasse con fatica, con mostrare a dito la derezza e lo sforzo, o perché non facilmente colorisse una piega di panno overo un dintorno ignudo […].“ 58 Ebd., S. 361: „[…] [Risuona] ancora la voce di Nicolò Pussino, il quale soleva dire di non riconoscere nell’età sua altro pittore che Domenico, rispetto le parti della natura e dell’arte.“ 59 Ebd., S. 360f.: „Ben noi possiamo affermare con verità che appresso il supremo ingegno suo nell’espressione niuno all’età nostra meglio di lui concepí l’istorie, ed altrettanto in questo egli superò gli altri, quanto andò avanti a ciascuno nel buon disegno e nella scienza e dottrina della pittura.“; übers. von Marieke von Bernstorff: „Wir können wahrhaftig beteuern, dass aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung für die Darstellung von Gefühlszuständen keiner zu unseren Zeiten besser als er Historiendarstellungen konzipierte, und so wie er in diesem die anderen übertraf, so war er auch allen in der guten Zeichnung und in der Wissenschaft und Gelehrsamkeit der Malerei überlegen.“ 60 Ebd., S. 358f. 61 Ebd., S. 561–568 [Sacchi]. 62 Ebd., S. 300–302 [Duquesnoy] und S. 442–473 [Poussin].

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faccia bzw. veduta di profilo (Abb. 5 a und 5 b), die in sehr nüchternem Modus Maße und Proportionen dieser antiken Statue aus der Frontal- und der Profilansicht vermerken,63 und die kunsttheoretischen Osservazioni di Nicolò Pussino sopra la pittura,64 die Pous­ sins Maximen hinsichtlich der Überlegenheit der Kunst über die Natur einerseits und der Voraussetzungen ‚guter‘ Kunst andererseits formulieren. Weder kommentiert Bellori diese Osservazioni Poussins, noch stellt er Bezüge zu seiner Beschreibung der Werke in der Vita des Malers her. Statt einer abschließenden Charakterisierung derselben war für ihn hier offenkundig der Wunsch nach Vollständigkeit in der Wiedergabe der ihm zur Verfügung stehenden Informationen über den Künstler leitend. Was hinsichtlich der normativen Anlage von Vasaris Schrift bei den Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen am stärksten in der Kritik stand, ist der viel zitierte ,Campanilismo‘, also die Herausstellung von Florenz und Rom als ‚den‘ Orten künstlerischer Produktion, die jede andere Region in den Schatten gestellt hätten. Liest man mit der Frage, wie Bellori sich dazu positionierte und wie er einerseits Bologna als den Ort präsentierte, aus dem die erfolgreiche Schule der Carracci stammte, und andererseits Rom als jenen, an dem alle von ihm in Biografien bedachten Maler dauerhaft oder für einige Jahre lebten, fällt eine bemerkenswerte Nüchternheit ins Auge. Zwar erstrahlt im Vorspann der Reni-Vita Bologna durch „himmlischen Eingriff“, als der Maler dort auf die Welt kam,65 doch bleibt dieses Städtelob recht formelhaft. Wenn Reni schließlich nach Rom geht, wird als Motivation recht lapidar vermerkt, dass er dort die Werke Annibales, Raffaels und antike Marmorstatuen sehen konnte,66 nicht aber eine Vasari analoge Emphase, dass ihn nur deren Studium zur ‚richtigen‘ Malerei führen konnte, wie es Vasari in der Tizian-Vita expliziert.67 63 Ebd., S. 474–477. 64 Ebd., S. 478–481. Siehe hierzu Jan Białostocki, Das Modusproblem in den bildenden Künsten: Zur Vorgeschichte und zum Nachleben des „Modusbriefes“ von Nicolas Poussin, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 24 (1961), Nr. 2, S. 128–141; Anna Pallucchini, Per una situazione storica di G ­ iovan Pietro Bellori, in: Storia dell’arte 12 (1971), S. 285–295, hier S. 290; Giovanna Perini, Il Poussin di Bellori, in: Olivier Bonfait, Christoph Luitpold Frommel, Michel Hochmann und Sebastian Schütze (Hg.), Poussin et Rome (Actes du colloque à l’Académie de France à Rome et à la Bibiotheca ­Hertziana, 16–18 novembre 1994), Paris 1996, S. 293–303. Vgl. auch jüngst Pericolo 2015 (wie Anm. 33), S. 883f. 65 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 487: „Volle anche il cielo felicitare i suoi natali nella solennità dell’anno santo 1575 e nel ponteficato di Gregorio XIII di patria bolognese, perché Bologna di ogni parte risplendesse con la nascita ancora d’un nuovo Apelle.“ Hervorhebung von der Autorin. 66 Ebd., S. 495: „[…] Guido non differí molto la sua andata in Roma, portando seco la copia della tavola di Santa Cecilia di Rafaelle, incaminatosi con Francesco Albano, che per l’istessa cagione di veder l’opera d’A nnibale e di Rafaelle e li marmi antichi, gli tenne compagnia.“ 67 Siehe oben Anm. 32 und 40. Vgl. auch Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 4: „[…] nella pittura, nella scultura e nell’architettura, gli ingegni toscani sempre sono stati fra gli altri sommamente elevati e grandi, per essere eglino molto osservanti alle fatiche et agli studii di tutte le facultà sopra qualsivoglia gente di Italia, volse dargli Fiorenza, dignissima fra l’altre città, per patria, per colmare alfine la perfezzione in lei meritamente di tutte le virtù per mezzo d’un suo cittadino.“ Dt. Übers. in: Giorgio Vasari, Das Leben des Michelangelo, hg. von Caroline Gabbert, Berlin 2009, S. 32: „Und weil er sah, daß in der Ausübung solcher Tätigkeiten und in diesen einzigartigen Künsten,

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5a  Giovan Pietro Bellori, Misure sopra la statua d’Antinoo veduta di faccia, in: Giovan Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni, Rom 1672, S. 456–457 (Anhang zur Vita Poussins)

In den Viten von Duquesnoy und Giovanni Lanfranco bleibt die vermerkte Übersiedlung dieser Künstler nach Rom sogar gänzlich unkommentiert,68 und bei den vielen Orten, die Sacchi im Zuge seiner Ausbildung bzw. seines künstlerischen Studiums aufsucht, werden auch Modena, Mantua und Venedig benannt. Der Pluralität der Orte verdankt sich die tatsächlich von Sacchi wahrgenommene künstlerische Vielfalt in der Malerei des 16. Jahrhunderts, denn es sind, so explizit, die „gran pennelli“, die „großen Pinsel“ der älteren Maler – im Plural! –, die Sacchi zu dieser Studienreise treiben.69 Das sprich der Malerei, Bildhauerei und Architektur, die toskanischen Künstler immer schon größer und den anderen um ein Vielfaches überlegen waren, da sie sich mehr als jedes andere Volk Italiens den Mühen und dem Studium aller Tätigkeiten unterwarfen, wollte er ihm Florenz, die würdigste aller Städte, zur Heimat geben, um in ihr schließlich verdientermaßen die Vollendung all dieser Vorzüge durch einen ihrer Bürger krönen zu lassen.“ 68 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 288 [Duquesnoy] und S. 378 [Lanfranco]; siehe hierfür Elisabeth Oy-Marra, Giovanni Lanfranco, Bellori e la questione della scuola dei Carracci a Roma, in: Leonarda Di Cosmo und Lorenzo Fatticcioni (Hg.), Le componenti del Classicismo secentesco: lo statuto della scultura antica (Atti del convegno internazionale, Pisa, Scuola Normale Superiore, 15–16 settembre 2011), Rom 2013, S. 191–210, bes. S. 210. 69 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 552 [Sacchi]: „Da Parma egli trascorse a Modena, a Mantova ed a Venezia, sollecitato da que’ gran pennelli […].“

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5b  Giovan Pietro Bellori, Misure sopra la veduta di profilo della statua d’Antinoo, in: Giovan Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni, Rom 1672, S. 458–459 (Anhang zur Vita ­Poussins)

heißt, es wird allein durch die Wahl der Künstler, die Bellori mit Biografien bedenkt, deutlich, welche bedeutende Rolle er Rom als Schauplatz der Künste im 17. Jahrhundert zuschreibt, und entsprechend erwähnt er in der Vita Algardis auch das „Verlangen“ des Bildhauers, sich gerade hier in der Kunst einzurichten,70 aber Bellori unterlässt es, diesen Gedanken analog zu Vasari im Sinne eines ‚nur hier‘ normativ zu explizieren.

III.2  Jenseits von Linearität und Teleologie in den kunsthistoriografischen Exkursen Die in der Vita Lanfrancos aufgerufenen „gran pennelli“ der großen Künstler führen zu einem weiteren Themenkomplex: Weitaus mehr als die Ortsfrage ist in Vasaris opus die Frage der Vorbildlichkeit bestimmter Künstler normativ besetzt. Denn mit ihr verknüpft ist das zentrale Strukturelement eines progressiven, sich durch Linearität und Teleologie auszeichnenden Narrativs seiner Viten, sind sie doch mit der Absicht verfasst, zu 70 Ebd., S. 401 [Algardi]: „Avendo Alessandro nello studio di Mantova avvalorato l’ingegno, gli venne quel desiderio che sogliono avere li belli spiriti, e particolarmente li nostri artefici, di trasferirsi a Roma per istabilirsi nell’arte.“

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rekonstruieren, wie die einstige Größe der Künste der Antike in den Künsten der Neuzeit wiedergewonnen wurde. Dies gelang bekanntlich schrittweise in einer linearen und folgerichtigen Entwicklung ‚der Kunst‘ von Cimabue über Giotto bis zu Michelangelo, in dessen Œuvre dieses Ideal erreicht ist, das im Prinzip aber von Anbeginn an vorgegeben war.71 Wie konstruktivistisch Vasari hierbei denkt, zeigt die Metaphorik, wenn von den „Dingen“, die an festen „Orten“ (auf einer imaginären Entwicklungslinie) „stehen“ bzw. ihren Platz haben, die Rede ist.72 Wie er sich dazu verhalten sollte, ob und inwieweit er an dieses Modell anknüpfen bzw. dieses ‚weiterschreiben‘ sollte, muss Belloris zentrale, die Makrostruktur seines Projekts betreffende Frage gewesen sein – umso mehr, weil er mit den ersten Biografien von Federico Barocci, Agostino Carracci und Domenico Fontana in zeitlicher Hinsicht etwa dort einsetzte, wo Vasari 1568 aufgehört hatte. Folglich ist die Frage von Relevanz, wie er die von ihm besonders geschätzten Künstler Raffael, Annibale Carracci und schließlich Maratta, mit dessen Biografie er den zweiten Band zu beschließen plante, beschrieb und wie er explizit die Entwicklung der Künste seit dem fortgeschrittenen Cinquecento schilderte. Dabei stellte sich ihm eine zentrale Frage respektive Aufgabe, die im Kern bereits Vasari in der Giuntina-Edition von 1568 zu durchdenken hatte, nämlich wie eine bereits als „vollendet“ und das heißt „perfekt“ apostrophierte Kunst im Werk Michelangelos,73 eine Kunstgeschichte, die mithin ihr Telos bereits erreicht hatte, eigentlich weiterzuschreiben war. Bekanntlich vollzog Vasari hier einen ‚turn‘, indem er sein lineares Modell mit progressiver Zielrichtung jäh beendete, Michelangelos und Raffaels Kunstauffassung nun als neue, überzeitlich gültige Norm ansetzte, die es für alle nachfolgenden Künstler durch das konkrete Nachzeichnen ihrer Werke sich anzueignen und zu bewahren 71 Siehe Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 31; dt. Übers. in: Giorgio Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, hg. von Matteo Burioni und Sabine Feser, übers. von Victoria Lorini, Berlin 2004, S. 72f. Siehe auch bes. Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 3, 1971, 1, S. 7; dt. Übers. in: Vasari 2004 (wie Anm. 71), S. 77–90, hier bes. S. 79. Vgl. hierzu z. B. Luigi Grassi, Teorici e storia della critica d’arte: Prima Parte: Dall’Anticità a tutto il Cinquecento: con due saggi introduttivi, Rom 1970, S. 201–209; Ian Verstegen, Vasari’s Progressive (but Non-Historicist) Renaissance, in: Journal of Historiography 5 (2011), S. 1–19; sowie die in Anm. 2 genannte Literatur. 72 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. [369]–408, hier S. 389: „[…] mettere le cose a’ luoghi loro, ed a dirle come stanno veramente […].“ Hervorhebung von der Autorin. Dt. Übers. in: Giorgio Vasari, Mein Leben, hg. von Sabine Feser, Berlin 2005, S. 52: „[…] damit die Dinge ihren entsprechenden Platz erhalten und sie gesagt werden, wie sie wirklich sind.“ 73 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 410: „[…] non so quello che di lui e d’altri antichi si fusse detto, s’e’ fussi stato al tempo del Buonarruoto: oltre che gl’uomini di questo secolo, il quale è nel colmo della perfezzione, non sarebbono nel grado che sono, se quelli non fussero prima stati tali e quel che furono innanzi a noi.“ Hervorhebung von der Autorin. Übers. von Isabell Franconi: […] ich weiß nicht, was über ihn [Giotto di Bondone] und andere alte Meister gesagt worden wäre, wenn sie zur Zeit Michelangelos gelebt hätten; außer, dass die Künstler dieses Jahrhunderts, welches der Gipfel der Vollkommenheit ist, nicht auf dieser Stufe stünden, wenn zuvor nicht jene das gewesen wären, was sie waren.“ In der Wagenbach-Edition fehlt diese Passage aus Vasaris L’autore agl’artefici del disegno, so wie es in der Barocchi-Edition abgedruckt ist.

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galt. So ersetzte Vasari kurzerhand die dominante Progression der Künste durch eine sie beschließende Phase der Retrospektion, deren Ziel die Erhaltung des bereits erreichten Ideals der perfezione dell’arte ist. Wie das zu leisten ist, malt Vasari wort- und bildreich aus, wenn er schildert, wie er selbst Tag und Nacht die Fresken im Vatikanischen Palast abzeichnete und dabei auf Essen und Schlaf verzichtete.74 Wie verhält sich Bellori dazu, inwieweit knüpft er an dieses Denkmodell an? Es wird in der Forschung oft vermerkt, das Bellori Vasaris Geschichtsverständnis grundsätzlich gefolgt sei, allerdings den von Vasari präferierten, den colmo der Kunst erreicht habenden Künstler Michelangelo durch Raffael ersetzt habe.75 Zunächst ist allerdings festzuhalten, dass es in Belloris Vite auf der Makroebene weder eine lineare noch eine teleologische Struktur gibt, denn die Viten sind anachronistisch geordnet: Bellori beginnt mit den Viten von Annibale und Agostino Carracci (1560–1609 bzw. 1557–1602); daran stellt er diejenigen der Künstler Fontana (1543–1607) und Barocci (1528–1612), auf die mit den Biografien von Caravaggio (1571–1610) und Rubens (1577–1640) ein Zeitsprung von etwa 50 Jahren folgt. Auch die Folgeviten van Dycks (1599–1641) und Duquesnoys (1597–1643), Domenichinos (1581–1641), Lanfrancos (1582–1647), Alessandro Algardis (1598–1654) und Poussins (1594–1665) erscheinen nicht in der Reihenfolge ihrer Lebensdaten. Sofern uns die drei erhaltenen, aber nicht publizierten Viten und weitere Informationen über die geplante Gestalt des zweiten Bandes den Hinweis geben, gilt dies auch für dessen Anlage: Nicht nur ist Reni, der 1672 nicht mit einer Vita bedacht wurde, die aber als Manuskript vorliegt, mit dem Geburtsjahr 1575 deutlich älter als Duquesnoy, Poussin und Algardi, deren Viten sich im ersten Band befinden; Bellori plante offensichtlich auch, im zweiten Band noch Biografien von Antonio und Ludovico Carracci (1583?–1618 bzw. 1555–1619), also von Malern, die ihre Ausbildung noch im 16. Jahrhundert erhalten hatten, zu publizieren.76 Wie expliziert Bellori nun die Entwicklung der Künste? Es gibt nur zwei Passagen im gesamten Vitenwerk, die überhaupt den Verlauf der Künste reflektieren, die jeweils ersten Abschnitte in der Vita Annibale Carraccis und in der unpublizierten, aber als Manu74 Vasari 1967–1987 (wie Anm. 4), Bd. 6, 1987, S. 371 [Autobiographie]; vgl. außerdem Vasari 1967– 1987 (wie Anm. 4), Bd. 5, 1984, S. 459 [Vita Battista Francos] und S. 515f. [Vita Francesco Salviatis]. 75 Vgl. besonders Oy-Marra 2013 (wie Anm. 5), hier S. 351. Vgl. auch Ian Verstegen: Death Dates, Birth Dates and the Beginnings of Modern Art History, in: Storiografia 10 (2006), S. 319–337, zu Bellori bes. S. 328f; Emiliani 2000 (wie Anm. 12), hier S. 89; Pasquale Sabbatino, La scrittura ­dell’arte nelle ‘Vite’ di Bellori e la pittura di Caravaggio, in: Vittorio Casale (Hg.), Storia della lingua e storia dell’arte in Italia: dissimmetrie e intersezioni [Atti del III. Convegno ASLI, Associazione per la Storia della Lingua Italiana, Roma, 30–31 maggio 2002], Florenz 2004, S. 257–274, besonders S. 257–262. Außerdem bereits Schlosser 1924 (wie Anm. 9), S. 450. 76 Welche Viten für den zweiten Teil vorgesehen waren, wurde in der Forschung sehr kontrovers diskutiert. Bellori äußert sich dazu in seiner Ansprache an den Leser wie folgt: „Mi rimangono alcuni altri per la seconda parte, principalmente Francesco Albani e Guido Reni, le cui vite ora non ho potuto ridorre a compimento.“ Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 8; übers. von Irina Schmiedel: „Es fehlen mir einige weitere für den zweiten Band, insbesondere Francesco Albani und Guido Reni, deren Viten ich gegenwärtig nicht zu Ende führen konnte.“ Für eine ausführliche Übersicht über die einzelnen Positionen siehe von Rosen 2016 (wie Anm. 1).

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skript erhaltenen Vita Sacchis.77 Liest man beide Passagen parallel, fällt ihre signifikante Divergenz ins Auge. Denn der kunsthistoriografische Abriss in der Annibale-Vita bestätigt im Kern Vasaris historiografisches Modell und basiert bezeichnenderweise auch auf seinen Denkvorstellungen und seiner Metaphorik: So sind es, nach Bellori, „die Malerei“ und „die Kunst“, die von Raffael in den Zustand ihrer in der Antike erlangten „Erhabenheit“ [„antica maestà“]78 zurückversetzt werden, wobei dies ebenso schrittweise [„poco a poco avanzata“] und initiiert von denselben Protagonisten Cimabue und Giotto gelingt.79 Und genauso im Kern vasarianisch-linear – lediglich unter Austausch des ‚Spitzenkünstlers‘ Michelangelo durch Raffael – denkt Bellori das Modell dort weiter, wo Vasari es nicht expliziert hatte. Er postuliert nun nach Raffaels Tod einen neuen Niedergang der Künste [„declinare“],80 „die Kunst wird verdorben“ [„viziarono l’arte“],81 und in kei77 Zu der ersten Passage in der Carracci-Vita vgl. Montanari 2009 (wie Anm. 6), S. 694–702; Oy-­ Marra 2013 (wie Anm. 5), passim; Sabbatino 2004 (wie Anm. 75), bes. S. 257–262. Zu letzterer, von der älteren Forschung weitgehend übersehener Passage in der Sacchi-Vita vgl. jüngst Elisabeth Oy-Marra, die auch hier einen deutlichen Rekurs auf die ,Zeitalterlehre Vasaris‘ konstatiert: „[We] must assume that Bellori intended to write a new chapter in the history of art subsequent to Vasari’s ‘terza maniera’ […]. The introduction of Sacchi’s life can thus be understood as a short history of Roman art in which Bellori appropriates Vasari’s historical outlook by modifying some of its tenets. […] Even if Bellori does not employ the term age (età) or century (secolo) anywhere in his Vite, the concept of the four ages of painting inspired by Vasari permeates his entire work. While Bellori’s Vite are said to encompass only the fourth age alluded to by Vasari as a future event, Bellori here projects art’s fourth age back towards the origins of Roman art. […] Bellori’s surprising mention of Cavallini is due to the growing importance of Rome as an art centre in need of a history rooted in the ‘rough ages’. It is as if Bellori felt that only an artistic lineage reaching back to the Middle Ages could lend his claim enough weight. He came to see his initial emphasis on the Bolognese school in more critical terms, especially after the publication of the Felsina Pittrice in 1678, in which Malvasia argued for Bologna as one of the first cities in which the arts were revived after the Babarian invasion.“ Elisabeth Oy-Marra, Changing Historical Perspectives? Giovan Pietro Bellori and the Middle Ages in Rome, in: Lorenzo Pericolo und Jessica N. Richardson (Hg.), Remembering the Middle Ages in Early Modern Italy, Turnhout 2015, S. 247–256, bes. S. 248–256. 78 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 31 [Annibale]: „Allora la pittura venne in grandissima ammirazione de gli uomini e parve discesa dal cielo quando il divino Rafaelle, con gli ultimi lineamenti dell’arte, accrebbe al sommo la sua bellezza, riponendola nell’antica maestà di tutte quelle grazie e di que’ pregi arricchita, che già un tempo la resero gloriosissima appresso de’ Greci e de’ Romani.“ Übers. von Anja Brug: „Die Malerei erfuhr von den Menschen größte Bewunderung und sie schien vom Himmel herabgekommen zu sein, als der göttliche Raffael mit den neuesten Zügen der Kunst ihre Schönheit aufs Höchste steigerte, indem er sie in den Zustand ihrer alten Erhabenheit zurückversetzte, bereichert um all jene Anmut und um jene Vorzüge, die sie schon einst bei den Griechen und den Römern so ruhmreich hatten werden lassen.“ 79 Ebd., S. 31: „Ma perché le cose giù in terra non serbano mai uno stato medesimo, e quelle che sono giunte al sommo è forza di nuovo tornino a cadere con perpetua vicissitudine, l’arte, che da Cimabue e da Giotto, nel corso ben longo di anni ducento cinquanta erasi a poco a poco avanzata, tosto fu veduta declinare, e di regina divenne umile e vulgare.“ Übers. von Anja Brug: „Aber da die Dinge unten auf der Erde niemals denselben Zustand bewahren und jene, die das Höchste erreicht haben, zwangsläufig von Neuem stürzen werden, im ständigen Wechsel, sah man die Kunst, die sich seit Cimabue und seit Giotto im langen Verlauf von 250 Jahren nach und nach entwickelt hatte, bald wieder absteigen, und von einer Königin wurde sie zu etwas Niedrigem und Gewöhnlichem.“ 80 Siehe vorheriges Zitat, Anm. 79. 81 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 31: „Siché, mancato quel felice secolo, dileguossi in breve ogni sua forma; e gli artefici, abbandonando lo studio della natura, viziarono l’arte con la maniera […].“

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ner Region in Italien ist irgendein Künstler imstande, dieser kollektiven „Wendung“ der Kunst zu ihrem „Ende“ [„volgevasi al suo fine“] Einhalt zu gebieten, bis dies schließlich – unter tatkräftiger Mithilfe Gottes – Annibale Carracci in Bologna gelingt, der die „gefallene und fast ausgelöschte Kunst [„l’arte caduta e quasi estinta“] wiederaufrichtet“.82 Hier und ebenso in einer Passage in der Widmung al lettore, in der von der Wiederherstellung [„ristaurazione“] der Malerei durch die Hand von Annibale die Rede ist,83 sind es also erneut einzelne Künstlerheroen, die sich rettend um ein Abstraktum, nämlich ‚die Kunst‘, bemühen und deren Schicksal besiegeln, das mit kriegerischer Metaphorik [„caduta“] beschrieben wird. Umso erstaunlicher ist, wie anders der historiografische Exkurs über die Entwicklung der Künste in Rom in der Vita Sacchis angelegt ist. Auch hier taucht punktuell der Kollektivsingular in Bezug auf ‚die Kunst‘ bzw. ‚die Malerei‘, die in der Neuzeit wieder auflebte [„la pittura risorger“], auf,84 aber es geht Bellori hier weniger um die Beschreibung einer kollektiven Entwicklung als um die exemplarische Nennung von vier Künstlern aus verschiedenen Jahrhunderten, die eine positive Entwicklung ihrer jeweiligen Künste [!] befördert haben: Pietro Cavallini, Paolo di Mariano di Tuccio ­Tacconi da Sezze, genannt Paolo Romano, Giulio Romano85 und eben Andrea Sacchi. Der kurze Abriss dient nun nicht dazu, bestimmte Kategorien und Werte in deren Œuvre herauszustellen, sondern markante Werke zu nennen, wie etwa die Statue des hl. Paulus am Fuße der Engelsbrücke des wenig bekannten Bildhauers Paolo Romano aus dem 15. Jahrhundert

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Übers. von Anja Brug: „Nachdem also jenes glückliche Jahrhundert vorbei war, schwand in Kürze jegliche ihrer Formen; und die Künstler, indem sie das Studium der Natur aufgaben, verdarben die Kunst mit der maniera […].“ Hervorhebung von der Autorin. Ebd., S. 32: „Così quando la pittura volgevasi al suo fine, si rivolsero gli astri più benigni verso ­l ’Italia, e piacque a Dio che nella città di Bologna, di scienze maestra e di studi, sorgesse un elevatissimo ingegno, e che con esso risorgesse l’arte caduta e quasi estinta.“ Übers. von Anja Brug: „Als die Malerei sich ihrem Ende entgegenneigte, wandten sich die gütigsten Sterne Italien zu, und es gefiel Gott, dass sich in der Stadt Bologna, der Lehrmeisterin der Wissenschaften und des Studiums, ein allererhabenstes Talent entfalten und dass sich mit ihm die gefallene und fast ausgelöschte Kunst wieder aufrichten würde.“ Ebd., S. 7 [Al lettore]: „Il perché essendomi impiegato a scrivere le vite de’ pittori, scultori ed architetti più moderni dalla ristaurazione della pittura per mano di Annibale Carracci, nel meditare le memorie loro, io mi sono trovato ristretto in così angusti confini, che quasi mi è mancato lo spazio d’impiegar la penna.“ Übers. von Irina Schmiedel und Anja Brug: „Aus diesem Grunde habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Viten der modernsten Maler, Bildhauer und Architekten ab der Wiederherstellung der Malerei durch die Hand des Annibale Carracci niederzuschreiben; doch als ich über deren Hinterlassenschaften nachdachte, habe ich mich innerhalb solch enger Begrenzungen wiedergefunden, dass mir fast der Raum fehlte, den Stift anzusetzen.“ Ebd., S. 535 [Sacchi]: „[…] onde sin ne’ primi tempi che cominciò a risorger la pittura un Pietro Cavallini romano sublimossi in quel rozzo secolo non solo nella pittura, ma anche nella scoltura, restandocene ancora gli esempii.“ Übers. von Elisabeth Oy-Marra und Anja Brug: „[…] Daher ragte seit frühester Zeit, als die Malerei wieder auflebte, ein Pietro Cavallini aus Rom in dieser rauen Epoche nicht allein in der Malerei, sondern auch in der Skulptur heraus, wovon uns noch Zeugnisse verblieben sind.“ Siehe für die Identifizierung der von Bellori genannten Künstler den Kommentar zur Übersetzung der Sacchi-Vita von Elisabeth Oy-Marra (siehe Anm. 1).

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6  Paolo Romano, Heiliger Paulus, Stein/Marmor, 1463–1464, Rom, Engelsbrücke

(Abb. 6). Er führt diese Werke als „esempii“86 an – aber nicht etwa für eine irgendwie geartete Entwicklung der Künstler, sondern vielmehr als markante Werke im römischen Stadtbild, auf die Bellori eher im Sinne eines ,Cicerone‘ verweist. Bezeichnenderweise ersetzt er Formulierungen à la ,Die Kunst kommt voran‘, durch „[i pittori] si avanzarono nella pittura“,87 sie „schreiten voran in der Malerei“. Und ganz konsequent werden Sacchis Werke in seiner auf diesen Abriss folgenden Vita keineswegs als Krönung einer vorausgegangenen Entwicklung der Künste (oder gar der Kunst) apostrophiert. Dieser Paradigmenwechsel in den historiografischen Exkursen der Viten Annibales und ­Sacchis bestätigt die an anderer Stelle ausgeführte These, dass es gerade die früh angelegten oder verfassten Viten Belloris waren, die weitaus mehr als die später geschriebenen eine Prägung durch Vasaris Denkmuster zu erkennen geben.88 86 Siehe Anm. 87. 87 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 536 [Sacchi]: „Ma fra gl’altri molti che all’età nostra si avanzarono nella pittura […].“; übers. von Elisabeth Oy-Marra und Anja Brug: „Aber unter all jenen, die in ­u nserer Zeit in der Malerei Fortschritte machten […].“ 88 Von Rosen 2016 (wie Anm. 1).

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Wie sich Bellori nicht nur in der Sacchi-Vita weitgehend von der Vorstellung ‚der Kunst‘ im Kollektivsingular verabschiedet, so verliert auch die für Vasari leitende Vorstellung einer perfezione derselben an Relevanz. Bezeichnenderweise läuft auch keine wie auch immer geartete Entwicklung der Kunst auf Maratta zu, obwohl Bellori diesen Künstler mit einer äußerst umfangreichen Vita bedacht hat. Aber sein künstlerisches Werk setzt keinen Endpunkt einer Entwicklung, und sein Name wird in den älteren Viten auch gar nicht antizipiert.

III.3 Raffael, Annibale und andere – „conforme l’abilità de la loro principi“ Wenn Linearität und Teleologie an ihr Ende gekommen sind, bleibt die Frage nach der Normativität des bereits in den Künsten Erreichten und die Frage der Verpflichtung der jüngeren Künstler auf dieses Ideal. Hierfür ist zu prüfen, wie Bellori Raffaels und Annibales jeweilige Rolle in der Entwicklung der Künste sprachlich genau fasst. Sicherlich ist Raffael derjenige Maler, der von Bellori am häufigsten in den Viten als künstlerisches Vorbild benannt wird, und es gibt eine Vielzahl von Formulierungen, die ein Studium seiner römischen Werke als immens wichtig für den künstlerischen Ausbildungsgang definieren. Dabei sind aber zwei Aspekte auffällig: Innerhalb der verschiedenen Viten beschreibt Bellori diese Leitbildfunktion des Malers verschieden stark, weil zum einen sein Name in einigen Viten (von Agostino Carracci, Lanfranco und van Dyck) gar nicht bzw. nur einmal erwähnt wird und weil zum anderen die Nennung seines Namens nicht mit der Vorstellung einer perfezione dell’arte à la Vasari verknüpft wird. Wie bereits erwähnt, macht Bellori deutlich, dass die Künstler seiner Generation sich an verschiedenen Künstlern des Cinquecento orientieren. So absolviert Guido Reni seine Lehre bei dem Flamen Denys Calvaert, der Reni Druckgrafiken nach Werken von Dürer und ­Raffael – in dieser Reihenfolge – studieren lässt;89 Bellori nutzt diese Information jedoch nicht, um eine Bemerkung über eine mögliche Superiorität der einen über den anderen anzufügen. Und am Ende der Vita stellt Bellori heraus, dass Reni unter den Malern des 16. Jahrhunderts insbesondere Raffael, Correggio und Veronese schätzte.90 In der Vita Sacchis wird Raffael zwar als „numen“ der Malerei und als „Engel“ apostrophiert,91 doch wird seine künstlerische Auffassung keineswegs verabsolutiert, und bezeichnenderweise werden für Sacchis Ausbildung und seine künstlerische Orientierung dann auch Correggios Werke namhaft gemacht.92 Selbst in der Vita Marattas, in der Raffaels Name so häufig wie in keiner anderen Künstlerbiografie Belloris vorkommt,93 was wiederum überzeugend als eine Art Replik auf das Raffael-Verdikt der 1678 erschienenen Felsina 89 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 489 [Reni]. 90 Ebd., S. 532. 91 Ebd., S. 557f. [Sacchi]. 92 Ebd., S. 532 [Reni]. Das Gleiche für den Werdegang von Giovanni Lanfranco; siehe Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 378f. 93 Der Name Raffael kommt in den Viten insgesamt 51-mal vor, davon 26-mal allein in der Maratta-­Vita.

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pittrice Malvasias erklärt wurde,94 fällt eine Besonderheit auf: Wird Raffaels Werken etwa „singolarità“ zugeschrieben, ist es Marattas Perspektive, die explizit vermerkt wird: „ihm schien es“ [„parevagli“], als seien die Gemälde einzigartig, schreibt Bellori,95 und auch die übrigen Wertungen werden als seine Einlassungen in eine kontroverse Diskussion über die Bedeutung des Urbinaten markiert.96 Zwar gibt es ähnlich preisende Passagen, die als Belloris Aussage gekennzeichnet sind, wie im abschließenden Künstlerlob, in dem von den „unerschütterlichen Fundamenten“ [„più saldi fondamenti“] und „besten Regeln der Kunst“ [„ottimi precetti“]97 die Rede ist, die dieser befolgt habe, aber Bellori stellt teilweise wörtlich referierte Verdikte seiner Zeitgenossen gegen

94 So Oy-Marra und Leps in ihren unpublizierten Essays (siehe Anm. 1). Zu den prominentesten Kritikern Raffaels im Seicento zählt Carlo Cesare Malvasia, der sich in seiner Felsina Pittrice mehrfach abwertend äußert. Vgl. Carlo Cesare Malvasia, Felsina Pittrice: Vite de’ pittori bolognesi, 2 Bde., Bologna 1678, vgl. Bd. 1, S. 365; vgl. auch Giovan Battista Passeri, Die Künstlerbiographien von Giovanni Battista Passeri, nach den Handschriften des Autors, hg. und mit Anm. versehen von ­Jacob Hess, Worms 1995, S. 274 und S. 397 und Marco Boschini, La carta del navegar pitoresco, hg. von Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, S. 79. Zum Raffael-Verdikt im Seicento siehe Schlosser 1924 (wie Anm. 9), S. 451f.; Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 627 [Maratta], Anm. 2; Philip Sohm, Pitto­ resco: Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth- and Eighteenth-Century Italy, Cambridge 1991, S. 162–173 sowie Giovanna Perini, Una certa idea di Raffaello nel Seicento, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello: viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, ­Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 153–161. Zur Rolle ­R affaels im Cinquecento und Seicento siehe Charles Dempsey, Raphael’s Legacy in Italy circa 1600, in: ­M iguel Falomir (Hg.), Late Raphael (Proceedings of the International Symposium; Madrid, Museo Nacional del Prado, October 2012), Madrid 2013, S. 156–159. 95 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 590 [Maratta]: „[…] la qual singolarità parevagli non aver altri posseduto che il divino Rafaelle e Guido Reni sino al presente giorno, benché vi siano stati altri gran maestri insigni in quest’arte, i quali in altre degnissime parti si sono inalzati.“ Übers. von Sabrina Leps: „[…] [D]iese Einzigartigkeit schien ihm bis zum heutigen Tag niemand anderes besessen zu haben als der göttliche Raffael und Guido Reni, obschon es weitere große, in dieser Kunst bedeutende Meister gegeben hat, die sich in anderen äußerst würdigen Bereichen hervorgetan haben.“ 96 So werden zahlreiche Aussagen durch die Verben „rispose“ (fünfmal), „disse“ (zweimal) und „soggiunse“ eingeleitet; vgl. auch Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 625 [Maratta]: „Seguitò egli sempre il suo primo intento di eleggere ed imitare la bella natura […], al qual fine […] gli servì la guida di ­R afaelle […], essendo egli solito dire che degl’altri maestri si contenta copiar le opere con la mente e di ­r itenerle coll’idea il più che gli sia possibile e particolarmente quelle de’ famosi Carracci, Correggio, Tiziano e Guido Reni, ammirando i loro dipinti e le dolci e nobili arie di teste con la rara maniera di panneggiare, ove in Rafaelle, oltre l’idea, trova sempre più da meditare nell’altre più prestanti parti della pittura, a cui stima più prossimo Annibale nell’imitazione di essa bella natura.“ Übers. von Sabrina Leps: „Er folgte immer seiner grundsätzlichen Absicht, die schöne Natur zu wählen und nachzuahmen […]; zu diesem Ziel diente ihm […] das Leitbild Raffaels, […] wobei er zu sagen pflegte, dass er sich bei den anderen Meistern damit zufriedengebe, ihre Werke mit dem Geist nachzumalen und sie in der Idee zu bewahren, so weit, wie ihm das möglich wäre – und [er meinte] vor allem jene der berühmten Carracci, von Correggio, Tizian und Guido Reni, da er ihre Gemälde und die lieblichen und vornehmen arie di teste in Verbindung mit der außergewöhnlichen Art und Weise der Faltenbildung bewunderte –, wohingegen er bei Raffael, über die Idee hinaus, immer noch mehr zum Nachsinnen findet in weiteren noch vortrefflicheren Gebieten der Malerei; diesem in Bezug auf die Nachahmung dieser schönen Natur am nächsten schätzt er Annibale.“ 97 Ebd., S. 626.

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R ­ affael.98 Durch diese Struktur von Rede und Gegenrede, in der meist Maratta, mal Bellori selbst auftritt, vermag er die Raffael-Kontroverse des ausgehenden 17. Jahrhunderts anschaulich abzubilden, und der Text erhält durch die Implementierung fremder Meinungen einen gewissen dialogischen Charakter. Letztlich kann und muss sich der Leser seine eigene Meinung zu dieser um diese Zeit viel diskutierten Problematik bilden. Wenn Annibale Carracci zu Beginn seiner Vita von Bellori als Heilsbringer und Retter der Kunst nach deren Tiefgang im ausgehenden 16. Jahrhundert eingeführt wird, stellt sich die Frage, wie Bellori die Rolle des Bolognesers in den übrigen Viten beschreibt. Hier ist zunächst bemerkenswert, dass Annibale im kunsthistoriografischen Exkurs in der Sacchi-Vita nicht vorkommt, obwohl er ja viele Jahre in Rom gearbeitet hatte. Und auch sonst verweist Bellori nur vereinzelt auf die historische Rolle Annibales in der Entwicklung der Künste; so etwa in der Vita Sacchis, in der von der guten „maniera rinovata“ Annibales die Rede ist.99 Nun ist es aber nicht mehr „die Kunst“, die wiederhergestellt wird, vielmehr wird eine spezifische „maniera“ erneuert. In den übrigen Viten, selbst denen der Schüler Annibales, fehlen solche Aussagen. An der Vorbildrolle und allgemeinen Wertschätzung der Werke Annibales kommen zwar beim Leser der Viten keine Zweifel auf, aber sie wird nicht expliziert, und in mehreren Viten, wie etwa derjenigen Poussins, wird Annibale auch gar nicht erwähnt. Die generelle ‚Nüchternheit‘ kann eine Schilderung aus der Vita Renis verdeutlichen. Dieser hatte mit Denys Calvaert zunächst einen niederländischen Lehrmeister, bevor er in die Carracci-Werkstatt (zu Lodovico) wechselte. Es sind Renis Beweggründe für den Wechsel, die in diesem Zusammenhang bemerkenswert sind, hatte ihn sein erster Lehrer doch sowohl geschlagen als auch um seinen Verdienst betrogen.100 Doch nichtsdestotrotz schilderte ihn Bellori in künstlerischer Hinsicht als guten Lehrer.101 Ebenfalls in der Vita Renis wird das oben konstatierte Bewusstsein Belloris für die Pluralität der Malerei des Cinquecento erweitert zu einer Pluralität der Möglichkeiten, im Seicento künstlerisch tätig zu sein. So schildert Bellori Renis Umgang mit seinen eigenen Schülern, die zu ihm in die scuola kamen: Er „empfing sie liebevoll“ und teilte sie auf verschiedene Zimmer auf „conforme l’abilità de la loro principi chi a disegnare che a colore“ –102 das ist das Maximum an wahrgenommener Pluralität: Jeder angehende Künstler orientiert sich an der Tradition gemäß seinen Interessen.   98 Ebd., S. 627: „Questi nelle loro scuole e ne’ loro libri insegnano che Rafaelle è secco e duro, che la sua maniera è statuina, vocabolo introdotto all’età nostra.“ Übers. von Sabrina Leps: „Diese lehren in ihren Schulen und in ihren Büchern, dass Raffael trocken und streng sei, dass seine Mal­ weise starr sei, ein Begriff, der in unserer Zeit eingeführt worden ist.“ Siehe hierzu auch Pericolo 2015 (wie Anm. 33).   99 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 538 [Sacchi]. 100 Ebd., S. 489 [Reni]. 101 Ebd., S. 488f. 102 Ebd., S. 528: „Concorrevano i giovani da tutte le parti alla scuola di Guido, non solo delle città d’Italia, ma d’altre nazioni forastiere che egli riceveva amorevolmente, distribuendoli in diverse stanze conforme l’abilità de’ loro principii, chi a disegnare, chi a dipingere.“ Übers. von Gabriele Wimböck: „Es kam der Nachwuchs von überall her zur Schule von Guido, nicht nur aus den Städten

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III.4  Ekphraseis und die Evokation imaginärer Bildlichkeit Wenn Bellori zentrale gattungsspezifische Konstituenten der cinquecentesken Biografik sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene verabschiedet, stellt sich die Frage, was er stattdessen zu gewinnen sucht. ‚Deskriptivität‘ ist der mehrfach genannte Terminus für den Modus, den Bellori zumindest in einigen Viten der Normativität Vasaris entgegensetzt, und Deskriptivität strebt er auch an, wenn er teilweise äußerst ausführliche Werkbeschreibungen in dieselben einflicht.103 Eine Besonderheit hierbei manifestiert sich bereits auf der strukturellen Ebene: Die Ekphraseis folgen den Lebensbeschreibungen oft recht abrupt, werden kaum oder gar nicht angekündigt oder eingeleitet. Damit zielt Bellori offenkundig auf die Demonstration dieser spezifischen, eben beschreibenden Herangehensweise an seine Themen, seien es Kunstwerke, Lebensumstände oder künstlerische Maximen. Welchen Umfang und Stellenwert die Ekphraseis in den Viten haben, ist von der Bellori-Forschung mehrfach herausgestellt worden: Insbesondere in den Viten von Rubens, Lanfranco und Domenichino nehmen die Ekphraseis mehr Raum ein als die diegetischen Abschnitte. Die Funktionsweisen und Zielsetzungen der literarischen Gattung der Ekphrasis sind seit der Antike viel bedacht worden104 und waren Bellori als Verfasser der D ­ escrizzione delle imagini dipinte da Rafaelle d’Urbino Nelle Camere del Palazzo Apostolico ­Vaticano bestens vertraut. In ihr rekurriert er bezeichnenderweise explizit auf den ­Meister der Gattung in der Antike, nämlich Philostrat.105 Ekphraseis beruhen bekanntlich auf dem Italiens, sondern auch von fremden Nationen, die er liebevoll empfing, wobei er sie auf verschiedene Zimmer aufteilte, ihren jeweiligen Grundbegabungen entsprechend, den einen zum Zeichnen, den anderen zum Malen.“ 103 Zur Gattung der Ekphrasis bei Bellori vgl. Oskar Bätschmann, Giovan Pietro Belloris Bildbeschreibungen, in: Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 279–311; Giovanna Perini, La tecnica dell’ecfrasi in Malvasia e Bellori, in: I Tatti Studies in the Italian Renaissance 3 (1989), S. 175–206; Martina Hansmann, “Con modo nuovo li descrive”: Bellori’s Descriptive Method, in: Janis Bell und Thomas Willette (Hg.), Art History in the Age of Bellori: Scholarship and Cultural Politics in Seventeenth-Century Rome, Cambridge 2002, S. 224–238; Ismène Cotensin, L’héritage littéraire de Giorgio Vasari au XVIIe siècle à Rome: Giovanni Baglione, Giovanni Battista Passeri et Giovanni Pietro Bellori, Diss. Université de Lyon 2006 (Mikrofiche), S. 341–355. 104 Siehe zur Gattung der Ekphrasis in der Antike nach wie vor Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995; Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Bildbeschreibungen in der Literatur von der Antike bis in die Gegenwart, in: Horst Wenzel und Wilfried Seipel (Hg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche, Mailand 2001, S. 175–184; Christine Ratkowitsch (Hg.), Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien 2006; Ruth Webb, Ekphrasis, Imagination and Persuasion in Ancient Rhetorical Theory and Pratice, Farnham 2009; Mario Baumann, Bilder schreiben. Virtuose Ekphrasis in Philostrats „Eikones“, Berlin 2011. 105 Giovan Pietro Bellori, Descrizzione delle imagini dipinte da Rafaelle d’Urbino Nelle Camere del ­Palazzo Apostolico Vaticano, Rom 1695; siehe hierzu Evelina Borea, Giovan Pietro Bellori e la “commodità delle stampe”, in: Elizabeth Cropper und Giovanna Perini (Hg.), Documentary Culture: ­Florence and Rome from Grand-duke Ferdinand I to Pope Alexander VII, Bologna 1992, S. 263–285.

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seit der Antike breit reflektierten Axiom der imaginären Bildlichkeit rhetorisch geformter Sprache (enárgeia) und setzen die Reflexion der medialen Differenzen von Bild und Text hinsichtlich ihrer jeweiligen emotionalen und affektiven Qualitäten voraus. Dabei ist es das Bild, dem aufgrund seiner medialen Bedingungen der „Simultaneität“ die höhere Wirkintensität, ja Pathoshaltigkeit zugeschrieben wird als der sich in einer Sukzession entfaltenden und entsprechend vorgeblich nicht unmittelbar wirken könnenden Sprache.106 Folglich zielen Ekphraseis auf eine gesteigerte Ansprache der Leser (bzw. der Hörer vorgetragener Texte), denen das Beschriebene so plastisch und eingängig vermittelt wird, dass es mentale und eben wirkmächtigere Vorstellungsbilder bei seinen Rezipienten zu erzeugen imstande ist. Wie Nikolaus von Myra folgenreich formulierte, werden die Leser respektive Hörer hierdurch zu „Zuschauern“, denen das auditiv oder qua Lektüre Vermittelte zur sinnlich erlebbaren „unmittelbaren Gegenwart“ wird.107 Es ist dieser Effekt der präsentischen Kraft der Bilder, welcher die Ansprache der Rezipienten garantiert. Bellori folgt den etwa in Philostrats Ekphraseis mustergültig studierbaren Techniken, wenn er in seinen Ekphraseis detailliert Duquesnoys’ Behandlung des Marmors beschreibt und dabei besonders auf die illusionistische Wirkung scheinbarer Bewegung des Steins abhebt: „[…] e sopra il petto e le mammelle s’increspa gentilmente la tonaca in modo che il sasso, perduta affatto l’asprezza, s’assottiglia nelle pieghe e si avviva nello spirito e nell’atto.“108 Explizit das Mitleiden des Betrachters als Rezeptionsziel benennt er in seiner Ekphrasis über Poussins Pest von Ashdod, in der er detailliert die verschiedenen grausamen Motive benennt: „Accresce la commiserazione e l’aspetto funebre un altro bambino non morto ma ancora spirante, il quale tiene la mano sopra il seno materno, avvicinando la bocca alla mammella per suggerne il latte, ma in quel tanto alza egli il semplice volto verso di uno che gli tocca la fronte e lo ritira dal corrotto alimento. Costui è quasi ignudo, e s’inclina a piedi il cadavero per portarlo al sepolcro, ma ispirato da fetore si pone la mano al naso e dà segno del puzzo che esce delle membra putrefatte.“109 Die Descrizzione war 1672 wahrscheinlich bereits fertiggestellt. Siehe auch Kenneth Donahue, “The ingenious Bellori”: A Biographical Study, in: Marsyas 3 (1943/1945), S. 107–138, hier S. 124–126. 106 Valeska von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes: Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-­ poiesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissen­schaft 27 (2000), S. 171–208. 107 Von der Transformation des Zuhörers zum Zuschauer spricht Nikolaus von Mayra, zit. nach Fritz Graf: Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike, in: Boehm und Pfotenhauer 1995 (wie Anm. 104), S. 143–156, hier S. 145. Für den Zusammenhang von Ekphrasis und enargeia siehe auch Valeska von Rosen, Diletto dei sensi et diletto dell’intelletto: Bellinis und Tizians „Bacchanalien“ für Alfonso d’Este in ihrem Rezeptionskontext, in: Städel-Jahrbuch N. F. 18 (2001), S. 81–112, besonders S. 97f. 108 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 291 [Duquesnoy]; übers. von Frank Martin: „Über Brustkorb und den Brüsten fältelt sich das Untergewand so zart, dass der Stein, seiner Härte vollkommen ver­ lustig, in den Falten dünn wird und so wie beseelt erscheint und sich zu bewegen beginnt.“ 109 Ebd., S. 430 [Poussin]; übers. von Henry Keazor: „Das Mitleid und den traurigen Anblick steigert ein anderes Kind, das nicht tot ist, sondern noch atmet, das seine Hand auf die mütterliche Brust gelegt hat und den Mund der Brustwarze nähert, um Milch daraus zu saugen, aber dabei hebt es

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Die detaillierte Schilderung gilt neben der von Bellori durchgängig benutzten präsentischen Erzählform als zentrales Mittel zur Evokation wirksamer imaginärer Bildlichkeit.110 Mit einer besonders poetischen Formulierung bringt er schließlich in der Vita ­Lanfrancos das Vermögen der Malerei, auch das Gehör der Rezipienten anzusprechen und mithin synästhetische Qualitäten zu erzeugen, zur Sprache: „Nella sommità si allontanano in piú brevi giri […] tantoché la soavità del colore fa sentire la melodia celeste nel silenzio della pittura.“111

Wenn Bellori über seine wirkmächtigen Beschreibungen der Kunstwerke die Qualitäten des Visuellen in der imaginären Wahrnehmung des Lesers evoziert, zielt er darauf ab, sozusagen einen ‚Mangel‘ seines Textes auszugleichen. Denn seine Vite haben, von den Schautafeln zu Poussins Misure abgesehen, keine Illustrationen. Die Rede über Kunst bleibt also bildlos, was ihn offenkundig zu vielfältigen Kompensationsleistungen anregte. Diese haben sicherlich auch einen gattungsreflexiven Hintergrund, bedenkt man die Bedeutung des Visuellen in der Reflexion der antiken Historiografen. Sei es, dass Plutarch die Gattung der Biografik mit der Porträtmalerei analogisierte,112 sei es, dass etwa von Polybios umfassend die Rolle imaginärer Bildlichkeit für die Historio­ grafie reflektiert wurde und die Bedeutung der Kategorie der enargeia/evidentia auch für diese Gattung herausgestellt wurde und sogar mit der Kategorie der Wahrheit verknüpft wurde,113 stets ging es den Autoren um das Ziel der „augenscheinliche[n] Vergegenwärtigung der mimetisch nacherzählten Sachverhalte“114 – eben mit der Absicht, die Vorstellungskraft der Hörer respektive Leser zu aktivieren. das schlichte Gesicht zu jemandem empor, der es an der Stirn berührt und von der verdorbenen Nahrung wegschiebt. Dieser ist fast nackt und beugt sich zu den Füßen der Leiche hinab, um sie zum Grab zu tragen, aber als er den Gestank einatmet, hält er die Hand an die Nase und deutet so den Geruch an, der von den verwesenden Gliedern aufsteigt.“ Vgl. auch seine Beschreibung von Poussins Die letzte Ölung, an deren Ende es heißt: „Tanti moti e passioni dispiegò Nicolò in questo componimento patetico e dolente, che tira seco gli occhi e gli animi a gli affetti ed alle considerazioni“ (ebd., S. 435, Hervorhebung von der Autorin). 110 Murray Krieger, Ekphrasis. The Illusion of Natural Sign, London 1992. 111 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 384; übers. von Elisabeth Oy-Marra und Anja Brug: „In der Höhe entfernen sich die Figuren in (immer) kürzer werdenden Kreisen […], sodass die Zartheit der Farbe die himmlische Melodie in der Stille der Malerei hörbar macht“. Mehrere Formulierungen bezüglich der synästhetischen Qualitäten der Gemälde gibt es in der Vita Poussins; siehe ebd., S. 436 und 472. 112 Plutarch, Alexander 1, 3; siehe hierzu Tim Duff, Plutarch’s Lives. Exploring Virtue and Vice, Oxford 1999, bes. S. 14f. Bellori bezieht sich in seiner Ansprache an den Leser auf den antiken Autor, vgl. Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 7. 113 Polybios, The Histories, hg. und übers. von William Roger Paton, London 1960, VI 302 (XXXIV, 4,4); siehe hierzu Carlo Ginzburg, Veranschaulichung und Zitat. Die Wahrheit der Geschichte, in: Fernand Braudel u. a. (Hg.), Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, S. 53–102, hier S. 88. 114 Helene Harth, s. v. Geschichtsschreibung, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Darmstadt 1996, S. 834.

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Gerade hierüber bot sich Bellori aber auch die Möglichkeit, seine literarische Befähigung zu demonstrieren, denn es ist das Vermögen seiner sich quasi selbst vorführenden Sprache,115 Bilder zu formen. So strebt er eine poetische Sprache an, die „in der Wirkung einem Gemälde gleich [ist], mithin illusionistisch, täuschend in der sinnenhaften Anschaulichkeit“.116 Und dieser Anspruch manifestiert sich nicht allein in den Ekphraseis, sondern der generellen poetischen Modellierung seiner Sprache. So zielt er in der Verwendung von Metaphoriken auf eine prägnante Bildlichkeit, etwa wenn in der Vita Renis von den „angeliche forme“ des Malers die Rede ist,117 van Dyck seinen Pinsel in die „buoni colori veneziani“ taucht118 und er Domenichino die Befähigung zuschreibt, „[di] linear gli animi e colorir la vita“.119 In der Vita Sacchis benennt er das Ziel seines biografisch-historiografischen Schreibens schließlich ganz explizit, wenn er programmatisch formuliert, er wolle mit seinen Texten ‚ein Bild‘ [„imagine“] erzeugen und Namen, so wörtlich, „ins Licht setzen“ [„illustrò“]“.120

IV. Die Vite kontextualisiert. Biografik, Historiografie und Epistemologie im ausgehenden Seicento Die im vergangenen Abschnitt behandelten Künstlerviten konnten eines deutlich zeigen: Hinsichtlich der zentralen Parameter biografischen und kunsthistoriografischen Schreibens setzte Bellori andere Prämissen als gut 100 Jahre vor ihm Vasari. Elisabeth Oy-Marra hat plausibel machen können, dass Bellori hier der Vorstellung Monsignore Agucchis folgt, der zufolge es vier „Schulen“ gab (die lombardische, venezianische, flo-

115 Hierzu Heinz J. Drügh, Vorbemerkung: Ambivalente Faszination des Bildes, in: Heinz J. Drügh und Maria Moog-Grünewald (Hg.), Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, Heidelberg 2001, S. VII–XIX, hier S. XIII. 116 Maria Moog-Grünewald, Der Sänger im Schild, oder: Über den Grund ekphrastischen Schreibens, in: Heinz J. Drügh und Maria Moog-Grünewald (Hg.), Behext von Bildern? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder, Heidelberg 2001, S. 1–19, hier S. 18. 117 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 497. Von den „engelsgleichen“ Antlitzen seiner Bildfiguren oder dem „Pinsel eines Engels“ ist in der Vita Renis mehrfach die Rede, siehe Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 487 und S. 530. 118 Ebd., S. 273 [van Dyck]; übers. von Anja Brug: „[…] und so tauchte er seinen Pinsel in die guten venezianischen Farben.“ 119 Ebd., S. 306 [Domenichino]: „[…] tantoché gli altri pittori si vantino pure della facilità, della ­g razia, del colorito e dell’altre lodi della pittura, che a lui toccò la gloria maggiore di linear gli animi e di ­colorir la vita.“; übers. von Marieke von Bernstorff: „[…] so sehr sich die anderen Maler ihrer schnellen Ausführung, ihres Liebreizes, ihrer Farbgebung und anderer Qualitäten der Malerei rühmen mögen, gebührt ihm die größte Anerkennung darin, Seelenzustände zu zeichnen und das Leben mit Farbe zu schaffen.“ 120 Ebd., S. 536 [Sacchi]: „Ma fra gl’altri molti che all’età nostra si avanzarono nella pittura, un altro gran parto di Roma chiama la mia penna a riportar nuovi pregi di essa in queste carte con l’imagine d’un ornatissimo ingegno, che illustrò immortalmente la patria ed il suo nome.“; übers. von Elisabeth Oy-Marra und Anja Brug: „Aber unter all jenen, die in unserer Zeit in der Malerei Fortschritte machten, ruft mich eine weitere große Geburt zur Feder, um deren neue Stärken auf diesen Seiten mit dem Bild eines hoch gerühmten Talentes zu illustrieren […].“

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rentinische und römische), die die Kunstlandschaft Italiens prägten.121 Darüber hinaus war seine Abkehr vom cinquecentesken Mustertext auch das Produkt seiner Beschäftigung mit den vielfältigen, die Wissensdiskurse seiner Zeit spiegelnden Schriften, die ihn überprüfen ließen, wie unter den veränderten epistemologischen Bedingungen auch die von ihm gewählte Textgattung der historiografisch gerahmten Biografiensammlung neu zu konturieren war: Dies ist meine These, die es im Folgenden mittels der Kontextua­ lisierung seiner Schrift zu plausibilisieren gilt.122 Zunächst aber ein Wort zur komplizierten Genese der Vite: Wenn es auf der Grundlage von weitgehend ungesicherten Datierungen der einzelnen Biografien unredlich wäre, fixe Daten für die Arbeitsphasen Belloris zu bestimmen, so ist es doch wahrscheinlich, dass sich Bellori zunehmend von Vasaris Denkmuster einer progressiven und auf normativen Postulierungen beruhenden Fortschrittsgeschichte distanzierte. Das bedeutet, dass nicht nur die Viten der ältesten Künstler, wie diejenige Caravaggios, in den ­ersten Arbeitsphasen entstanden sein dürften, sondern auch diejenigen der beiden Flamen Rubens und van Dyck zumindest in ihren Grundzügen, was spätere Aktualisierungen und Anpassungen an die veränderte Gestalt der jüngeren Viten, etwa durch die Ein­f ügung umfangreicher Ekphraseis in die Vita des Ersteren, selbstverständlich nicht ausschließt.123 Die übrigen hier besprochenen Viten sind vermutlich nach einer Arbeitspause wohl ab den 1660er-Jahren entstanden. Doch festzuhalten ist: So wenig Bellori ab einem gewissen Zeitpunkt noch die Linearität in der Entwicklung der Künste postulierte, so wird auch seine Auseinandersetzung mit Vasaris Prämissen biografisch-historiografischen Schreibens ein dynamischer Prozess von Anziehung und Distanzierung gewesen sein, der sich seinem Text eingeschrieben hat und seine Heterogenität konstruiert. Diese Heterogenität wird in der 1672 publizierten Edition noch verstärkt durch die Montage der Idea von 1664 vor dieselbe, weil es sich bei dieser vor der Accademia di San Luca gehaltenen Rede um einen hochgradig normativ argumentierenden Text handelt.124 121 Oy-Marra 2013 (wie Anm. 68), bes. S. 193; Oy-Marra 2013 (wie Anm. 5), bes. S. 358f.; vgl. auch Donatella Livia Sparti, Copie dipinte nell’educazione artistica seicentesca in Italia, in: Marc Deramaix und Perrine Galand-Hallyn (Hg.), Les Académies dans l’Europe humaniste, Genf 2008, S. 391–423, bes. S. 399f.; Ricardo de Mambro Santos, Arcadie del Vero: Arte e teoria nella Roma del Seicento (Apeiron prospettive di storia dell’arte 6), Sant’Oreste (Rom) 2001, bes. S. 24–36. 122 Bellori steht dabei nicht allein: Insbesondere Gabriele Bickendorf hat am Beispiel der noch jungen Archäologie zeigen können, wie diese auch über die Wahrnehmung der ‚blinden Flecken‘ Vasaris initiiert wurde; siehe hierfür Gabriele Bickendorf, Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1998; vgl. auch Gabriele Bickendorf, Kunstgeschichte als historische Wissenschaft, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 7/8 (2002), S. 35–44. 123 Healy wird sich in ihrem, die Übersetzung der van Dyck-Vita flankierenden Essay (siehe Anm. 1) ausführlich mit der Frage der Entstehungszeit der Vita beschäftigen. 124 Zur Idea-Vorrede allgemein siehe Panofsky 1960 (wie Anm. 9), bes. S. 57–63; Elisabeth Cropper, L’Idea di Bellori, in: Evelina Borea, Carlo Gasparri, Luciano Arcangeli und Lucilla de Lachenal (Hg.), L’idea del bello: viaggio per Roma nel Seicento con Giovan Pietro Bellori (Ausst.-Kat. Rom, ­Palazzo delle Esposizioni, ex Teatro dei Dioscuri), Bd. 1, Rom 2000, S. 81–86; jüngst hierzu ­Sabrina Leps, Giovan Pietro Belloris ‚Idea‘ von 1664 und ihre „Praxisrelevanz“, in: Hubertus ­Busche (Hg.),

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Wie oben bereits erwähnt, besteht zwischen Vasaris und Belloris Vite in formaler Hinsicht ein markanter Unterschied: Mit annähernd 200 Künstlerbiografien zielt Vasari bei der Rekonstruktion der Entwicklung der neuzeitlichen Künste auf Vollständigkeit, und auch Belloris Zeitgenossen, Carlo Cesare Malvasia und Giovanni Battista Passeri, hielten in ihren Biografiensammlungen mit ca. 120 bzw. 35 Künstlerviten – Letzterer konzentrierte sich allein auf in Rom tätige Künstler, die zwischen 1641 und 1673 verstarben – an diesem Ziel weitgehend fest. Um dieses vor dem Hintergrund zunehmenden Wissens über Künstler und ihre Werke in den verschiedenen Regionen Italiens überhaupt noch erreichen zu können, änderten sie ihren Fokus und konzentrierten sich allein auf Bologneser bzw. eben römische Künstler. Nicht so Bellori: Mit nur zwölf Viten im ersten Band verabschiedet er sich fast demonstrativ von dem Ziel einer Vollständigkeit, setzt dabei aber bewusst auf die Überregionalität und sogar Internationalität in der Auswahl. Alle uns bekannten Informationen über die Gestalt des geplanten zweiten Bandes, der wahrscheinlich nur sieben Künstlerviten beinhalten sollte, sprechen dafür, dass sich dies auch in ihm nicht ändern sollte.125 Die Frage, nach welchen Kriterien Bellori die Künstlerauswahl vornahm, hat die Forschung beschäftigt, und insbesondere Elisabeth Oy-Marra hat überzeugend auf die Exemplarität der jeweiligen Künstler hingewiesen, die Bellori herauszuarbeiten beabsichtigt habe.126 Tatsächlich verwendet Bellori allein im „Vorwort an den Leser“ den Departure for Modern Europe: A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700), Hamburg 2011, S. 939–953; Oy-Marra 2014 (wie Anm. 15); Jörn Steigerwald, Elegante Nachahmungen der schönen Natur. Literarhistorische Anmerkungen zu Giovan Pietro Belloris „Idea“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 56 (2014), Nr. 3, S. 325–349; Thomas Leinkauf, Kunst als Produkt der Seelenbewegung: Bellori und das Kunst- und Schönheitskonzept der Frühen Neuzeit, in: Elisabeth Oy-Marra, Marieke von Bernstorff und Henry Keazor (Hg.), Begrifflichkeit, Konzepte, Definitionen: Schreiben über Kunst und ihre Medien in Giovan Pietro Belloris ‚Viten‘ und der Kunstliteratur der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2014, S. 47–75. 125 Die wichtigste Quelle ist der Brief eines Prior Michel an Claude Nicaise, französischer Priester und Gelehrter, der ausgedehnte Reisen nach Italien unternahm, vom November 1695: „[…] Tout le desordre provient du libraire qui a voulu havoir tout le manuscrit ensemble et en l’imprimant il a tout confondu et proposé les matières, de sorte qu’il faut recommancer de nouveau. Il Sig.r Gio. Pietro Bellori a cause de sa caducité n’a pu y assister, et il faut recommancer tout de nouveau. Il m’a fait voir les erreurs de ces posposition auquelles personne ne peut remedier que luy. S’il avoit les moyens, l’impression iroit plus viste, mais il faut qu’il aye recour a un amys qui luy donne ce secour. Il ma tesmoigné avoir autant d’impatience a vous envoyer son livre que vous a le recevoir. […] Il a fini l’augmentation de son livre de la vie des peintres ausquels il a adjouté les vies de l’A lbano, du Guide, de Ludovico et Antonio Caraci, du Guerchin, Andrea Sacchi, etc. et de Carlo Maratti, qu’il suspend a faire imprimer jusqu’a ce qu’il en aye les moiens. Si quelqu’un en France en vouloit faire la despance, il donneroit son ouvrage, mais il faudroit faire rimprimer tout l’ouvrage a cause qu’il a fait ses notes de nouveau avec quelque addition a la vie des autres peintres […].“ Zit. nach Previtali 1976 (wie Anm. 5), Anm. 1, S. XXVIII und Anm. 3, S. XXIX. 126 Oy-Marra 2013 (wie Anm. 68), S. 193: „Che il Bellori conoscesse bene il trattato di Agucchi risulta anche dal fatto che, nella Vita di Domenichino, ne pubblicò le prime pagine, dove l’autore parlava delle scuole. Nel breve brano scelto da Bellori vengono sottolineate anche le proprietà stilistiche delle diverse scuole. […] Nelle sue Vite il Bellori usa il concetto di scuola in modo molto selettivo perché si relaziona non a tutte le scuole italiane menzionate dall’Agucchi ma solo a quella lombarda, veneziana e romana.“ Zu Agucchi siehe oben, Anm. 121; vgl. auch Donahue 1943/1945 (wie

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Begriff „es[s]empio“ mehrfach,127 und in einer anonymen Rezension der Vite aus dem Jahr 1673 wird dieser Begriff als Signum für Belloris anderes Schreiben starkgemacht.128 Auch in den Biografien arbeitet Bellori jeweils die Besonderheiten und Stärken der einzelnen Künstler heraus, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Werke als auch ihrer künstlerischen Praxis: So überzeugte etwa Poussin vor allem in der Darstellung der Affekte, und Lanfranco kultivierte die Leichtigkeit und Mühelosigkeit in der Pinselführung.129 Es sind diese Besonderheiten, aus denen jeweils auch die oben beschriebene Partialität im Urteil Belloris resultiert. Dabei verabsolutierte er die jeweiligen Kategorien nicht, wenn er etwa in der Vita Lanfrancos andeutet, dass ein zu großes Tempo in der Ausführung auch kritisch gesehen werden könne.130 Mit einer solchen Kunstgeschichte Anm. 105), S. 108f.; Martina Hansmann, ‚Vive immagini celebri‘: Les choix du peintre et de ses ouevres dans les Vite de Giovanni Pietro Bellori, in: Matthias Waschek (Hg.), Les “vies” d’artistes (Actes du colloque international organisé par le Service Culturel du Musée du Louvre les 1er et 2 octobre 1993), Paris 1996, S. 125–147, hier S. 128 und S. 134; Montanari 2005 (wie Anm. 5), S. 1–39, bes. S. 1 und S. 18–26; Sparti 2002 (wie Anm. 6), S. 177–248, bes. S. 200; Elisabetta Neri, Uno sguardo alle fonti: presenze e assenze nel giudizio critico seicentesco, in: Walter Cupperi, ­Grégoire Extermann und Giovanna Ioele (Hg.), Scultura a Roma nella seconda metà del Cinquecento: protagonisti e problemi, San Casciano V.P. 2012, S. 299–321, hier S. 308f. 127 In der Ansprache an den Leser nennt Bellori den Begriff dreimal, die markanteste Passage ist: Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 9: „[…] rappresentando l’invenzioni e l’artificio, acciò che si sappia quale fosse l’ingegno di ciascuno e serva d’essempio quello che in loro fu più commendabile.“ Übers. von Irina Schmiedel und Anja Brug: „[…] So gebe ich die Aussagen und die Kunstfertigkeit [der Werke] wieder, damit die Begabung eines jeden bekannt werde und damit das Lobenswerteste eines jeden [Künstlers] als Beispiel dienen möge.“ Siehe auch ebd., S. 5 und S. 8. Zudem äußert er sich in einem Brief vom 16. März 1668 an Carlo Dati über seine Absichten: „Quanto [al]le Vite di Pittori che io vado scrivendo non sono queste né de’ Romani, né d’altra particolar Regione, ma ne ho scelti alcuni pochi secondo il mio debile giudicio.“ Übers. von Isabell Franconi: „Bezüglich der Viten der Künstler, die ich schreibe, [ist zu sagen,] dass es sich nicht um die der Römer und auch keiner anderen spezifischen Region handelt, sondern ich habe einige wenige mit meinem schwachen Urteilsvermögen ausgewählt.“ Zit. nach Valentino Romani, Le biblioteche di Giovan Pietro Bellori, in: Nuovi Annali della Scuola Speciale per Archivisti e Bibliotecari 12 (1998), S. 165–189, S. 165f. Für diesen und zwei weitere Briefe Belloris an Carlo Dati siehe auch Paola Barocchi, Il bibliotecario Antonio Magliabechi, Leopoldo de’ Medici, Bellori e Montfaucon, in: Francesco Caglioti (Hg.), Ad Alessandro Conti (1946–1994) (Quaderni del Seminario di Storia della critica d’arte 6), Pisa 1996, S. 171–219. 128 „Hora il Sig. Gio. Pietro Bellori hà intrapresa una simil fatica, cominciando dalla restauratione della pittura fatta da Annibal Caracci: con questa differenza però, ch’egli non vuole scriver di tutti indifferentemente: ma ne hà scelti alcuni principali morti in questo secolo, i quali posson servir d’esempio, e norma à chi vien portato dal genio a simili studij.“ Übers. von Isabell Franconi: „Nun hat Gio. Pietro Bellori eine ähnliche Bemühung auf sich genommen, beginnend mit der Erneuerung der Malerei durch Annibale Carracci: Mit dem Unterschied jedoch, dass er nicht pauschal von allen schreiben will, sondern einige bedeutende, die in diesem Jahrhundert verstorben sind, ausgewählt hat, die als Beispiel und Norm jenen dienen können, die von ihrer Begabung zu ähnlichen Studien geführt wurden.“ Vgl. Daly Davis 2008 (wie Anm. 54), S. 24. 129 Für Poussin siehe oben, Anm. 109; für Lanfranco: Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 376. Siehe hierzu ausführlich Oy-Marra 2013 (wie Anm. 68). 130 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 377 [Lanfranco]: „Certa cosa è veramente che non si debbe mai contrapensare con la lode o la prestazza o la tardanza de gli artefici […].“ Übers. von Elisabeth Oy-Marra und Anja Brug: „Mit Sicherheit darf weder die Geschwindigkeit noch die allzu große Bedächtigkeit der Künstler mit Lob aufgewogen werden […].“

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der ‚exemplarischen Lösungen‘ bietet Bellori seinen Lesern, kunstinteressierten Laien wie auch jüngeren Künstlern, Orientierung in einer immer unübersicht­licher, weil größer und internationaler werdenden Künstlerwelt. Dabei verbindet er seine Ausführungen bezeichnenderweise nicht mit der Aufforderung an die Künstler unter seinen Lesern, vermittels der Synthese der verschiedenen Aspekte nun eine neue Idealität in den K ­ ünsten zu konstruieren – sozusagen analog zu Zeuxis’ synthetisierendem Verfahren bei der Schöpfung der idealschönen Helena via imitatio der jeweils besten Teile seiner Vorbilder. Er insistiert auf der Pluralität der Möglichkeiten, die er in der Vita Renis so plastisch mittels des Vorstellungsbildes von den verschiedenen Räumen, in denen sich dessen Schüler versammelten, gefasst hatte: „conforme l’abilità de la loro principi“.131 Dieser ‚turn‘ hinsichtlich der Struktur und Zielorientierung seines Schreibens ist ein signifikanter, denn mit ihm gibt Bellori ein Ideal auf. Er schreibt Kunstgeschichte nicht mehr als mehr oder weniger stringente Entwicklung, die auf zuvor gesetzten Normen basiert. Vielmehr schreibt er eine Kunstgeschichte der Optionen für die künstlerische Tätigkeit im Seicento, und dies gerade auch angesichts der von ihm luzide wahrgenommenen Fülle an Informationen und Wissensbeständen.132 Seine Zusammenstellung liefert Exempel für künstlerische Haltungen und künstlerische Praktiken, aber es liegt in ihrer Natur als exemplarische Kunstgeschichte, dass sie kontingent ist, weil sie auch anders hätte geschrieben werden können. Sie kommt ohne Linearität aus, ja verabschiedet diese sogar demonstrativ, wenn Bellori im geplanten zweiten Band die Viten der im 16. Jahrhundert ausgebildeten Künstler Antonio und Ludovico Carracci mit derjenigen Marattas zusammenbinden wollte. Und erst recht kommt sie ohne Teleologie aus. Im Prinzip ist sie gänzlich verschieden fortsetzbar, mit welcher Reihung der Künstler auch immer. Dies bedeutet einen radikalen Abschied von der progressiven Geschichtsvorstellung Vasaris, deren Modell nicht ohne Grund letztlich die theologische Heilsgeschichte war.133 Dass Bellori Anregungen für diesen grundlegenden turn in der Auseinandersetzung mit der Historiografie und den geschichtstheoretischen Schriften seit dem Secondo Cinquecento erhalten haben wird, liegt auf der Hand. Denn, wie Thomas Leinkauf gezeigt hat, war es gerade das zentrale Anliegen der Geschichtstheorie, sich von einem theologisch induzierten Geschichtsmodell zu lösen und einen „wissenschaftlichen Begriff von Geschichte“ zu entwickeln.134 Dabei löste vor allem Francesco Patrizi in seinen im Jahr 1560 in Venedig publizierten Dieci dialoghi della historia die ‚Geschichte‘ aus dem Feld der Literatur, ihrer Parallelisierung mit Poesie und Rhetorik, in der das Kriterium der „Wahrscheinlichkeit“ leitend war, und führte sie „[…] zu einem Bereich des ,wahren Wissens‘, ja zu dem einer ,historischen Wahrheit‘, verità storica […]“, in der es vorran131 132 133 134

Siehe oben, Anm. 102. Siehe Anm. 127 und Anm. 144. Letzteres hat Gerd Blum aufgezeigt, siehe oben, Anm. 2. Thomas Leinkauf, Freiheit und Geschichte: Francesco Patrizi und die Selbstverantwortung der menschlichen Freiheit in der Geschichte, in: Enno Rudolph (Hg.), Die Renaissance als erste Auf­ klärung, Bd. 1: Die Renaissance und ihre Antike, Tübingen 1998, S. 79–94, hier 81.

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gig um die „[…] Rekonstruktion und Offenlegung der inneren, nur dem geistigen Auge zugänglichen Ursachen, Intentionen [und rational erklärbaren] Gründe“ ging.135 Damit verband sich neben dem Anspruch auf Wahrheit, der fortan auch in seicentesken Traktaten als zentrales Kriterium geführt wird,136 auch derjenige auf Objektivität.137 Bellori führt zwar in den Vite „Wahrheit“ und „Objektivität“ nicht explizit im Munde, sein Bruch mit der normativen Kunstgeschichtsschreibung Vasaris, den er im Verlauf der Arbeit an den Viten vollzog, dürfte aber auch motiviert sein von Patrizis Forderung an die Gattung, „libero di animo & di lingua“ zu schreiben;138 hiermit sind „innere Distanz“ und „Unabhängigkeit“ gemeint.139 Leinkauf hat weiterhin gezeigt, dass Francesco Patrizi (und ähnlich Jean Bodin) im 16. Jahrhundert etwas gedanklich antizipieren, was die großen Projekte des 17. Jahrhunderts sein werden, nämlich die auf der ars memorativa basierende140 Enzyklopädie als „Reservoir universellen Wissens“.141 Belloris Zusammenstellung von Biografien nur weniger Künstler, für die er sich allerdings auffallend ausführlich in der Ansprache an den Leser rechtfertigt,142 scheint 135 Thomas Leinkauf, Modelle der Geschichtsschreibung, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2001), S. 173–186, hier S. 176; siehe auch Thomas Leinkauf, Francesco Patrizi (1529–1597): Neue Philosophien der Geschichte, der Dichtung und der Welt, in: Paul-Richard Blum (Hg.), Philosophen der Renaissance, Darmstadt 1999, S. 173–187, bes. S. 174–176; Stephan Otto, Die mögliche Wahrheit in der Geschichte, in: Stephan Otto, Materialien zur Theorie der Geschichte, München 1979, S. 134–179. Jüngst Florian Neumann, Geschichtsschreibung als Kunst. Famiano Strada S.I. (1572–1649) und die ars historica in Italien, Berlin 2013, passim und hier besonders S. 29, der darauf hinweist, dass Paolo Cortesi in seinem Dialog De hominibus doctis von 1490 der Geschichtsschreibung noch keine eigene Methode zuordnet. 136 So etwa von Sebastiano Macci, De historia libri tres in quibus non solum causa materialis, formalis, efficiens et finalis scriptionis historicae apprime declaratur, sed etiam singulae eius partes diligenter examinantur, Venedig 1613; siehe hierfür Neumann 2013 (wie Anm. 135), S. 53. 137 Leinkauf 1998 (wie Anm. 134), S. 88; Leinkauf 2001 (wie Anm. 135) und Otto 1979 (wie Anm. 135). 138 Leinkauf 1998 (wie Anm. 134), bes. S. 88; er zitiert Patrizis Della Historia diece dialoghi ne’ quali si ragiona di tutte le cose appartenenti all’historia, & allo scriverla, & all’osservarla, Venedig 1560, Dial. I 4r. 139 Ebd. 140 Leinkauf 2001 (wie Anm. 135), S. 182. Zu Jean Bodins Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Paris 1566 vgl. auch Ralph Häfner (Hg.), Bodinus Polymeres: Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk, Wiesbaden 1999; Horst Günther, Geschichte, Historie IV. Historisches Denken in der Frühen Neuzeit, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 [E–G], Stuttgart 1979, S. 625–647, hier 633; Thomas Leinkauf, Systema mnemonicum und circulus encyclopaediae. Johann Heinrich Alsteds Versuch einer Fundierung des universalen Wissens in der ars memorativa, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditio­ nen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), Wien 2000, S. 279–307. 141 Ulrich Ernst, ‚Memoria‘ und ‚Ars memorativa‘ in der Tradition der Enzyklopädie. Von Plinius zur ‚Encyclopédie française‘, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne (Frühneuzeit-Studien N.F. 2), Wien 2000, S. 109–168, hier S. 111. 142 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 5–8 [Al lettore].

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nun auf den ersten Blick in maximalem Gegensatz zu allen Denkansätzen der Universalwissenschaft zu stehen. Und doch springt in ihr eine Formulierung ins Auge, die zeigt, dass Bellori die universalwissenschaftlichen Tendenzen in der Enzyklopädik seiner Zeit durchaus geläufig waren und er sich mit seinen Viten wohl zu ihnen ins Verhältnis setzen wollte. So schreibt er über seine Motivation bei ihrer Abfassung: „[…] poiché avendo già descritto l’immagini di Rafaelle nelle camere Vaticane, nell’impiegarmi dopo a scriver le vite, fu consiglio di Nicolò Pussino che io proseguissi nel modo istesso, e che oltre l’invenzione universale, io sodisfacessi al concetto e moto di ciascheduna particolar figura ed all’azzioni che accompagnano gli affetti.“143

Bellori will seinen Lesern mit seinem opus also eine „universelle“ Vorstellung geben. So interessant wie die überraschende Verwendung dieses Attributs ist seine hellsichtige Benennung der Problematik universeller Ansätze: Sie sieht er nämlich in der Fülle der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und Daten, die bei umfassender Schilderung die Gefahr der „oscurità“ und des „fastidio“, der „Dunkelheit“ und der „Ermüdung“ [des Lesers], mit sich brächten.144 Diese Bemerkung bezüglich der Darstellungsproblematik in Verbindung mit seinen ausführlichen Rechtfertigungen für die exemplarische Analyse von nur zwölf Künstlern zeigt, dass Bellori während seines Schreibens exakt an dem Problem laborierte, das eine epistemologische Grundbedingung seiner Zeit berührte, das von seinen Zeitgenossen ebenfalls vielfältig reflektiert und dem mit letztlich divergierenden Lösungen begegnet wurde: die übergroße Wissens- und Datenmenge, die es zu sichten, zu verarbeiten und zu kategorisieren galt, aus der in der Darstellung auszuwählen war und für die neue Darstellungsweisen und Ordnungssysteme entwickelt werden mussten.145

143 Ebd., S. 8. Hervorhebung von der Autorin. Übers. von Isabell Franconi: „[…] da ich bereits die Bilder Raffaels in den Räumen des Vatikan beschrieben habe, riet mir Nicolas Poussin später beim Verfassen der Viten, dass ich auf dieselbe Weise fortfahren solle und dass ich neben der universellen Vorstellung auch dem Charakter und der Verhaltensweise jeder einzelnen Person gerecht werden solle sowie den Handlungen, die mit ihren Gefühlsregungen einhergehen“. Hervorhebung von der Autorin. 144 Ebd., S. 8: „[…] ho sempre dubitato di riuscir minuto nella moltiplicità de’ particolari, con pericolo di oscurità e di fastidio, avendo la pittura il suo diletto nella vista che non partecipa se non poco all’udito.“ Übers. von Irina Schmiedel und Anja Brug: „[…] [Ich] habe stets bezweifelt, dass mir dies bei der Vielzahl von Einzelheiten sorgfältig gelingen würde, da die Gefahr von Unverständlichkeit und Lästigkeit besteht, denn die Malerei bereitet ja dem Blick Freude, was wenig mit dem Hören zu tun hat.“ 145 Allgemein zum Thema: Ann M. Blair, Too Much to Know: Managing Scholarly Information before the Modern Age, New Haven/London 2010, passim; Ann M. Blair, Reading Strategies for Coping with Information Overload, in: Journal of the History of Ideas 64 (2003), Nr. 1, S. 11–28; Daniel Rosenberg, Early Modern Information Overload: Introduction, in: Journal of the History of Ideas 64 (2003), Nr. 1, S. 1–9; auch Dirk Werle, Die Bücherflut in der Frühen Neuzeit – realweltliches Problem oder stereotypes Vorstellungsmuster?, in: Miroslawa Czarnecka (Hg.), Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster (V. Jahrestag der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wroclaw, 8. bis 11. Oktober 2008), Bern 2010, S. 469–486.

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Ohne hier nun in extenso ausführen zu können, wie in der Biografik und Historiografie des 17. Jahrhunderts darauf reagiert wurde, seien nur einige wenige Beispiele genannt, die zeigen, wie virulent das Thema auch für die historisch orientierten Disziplinen war. Wenn Famiano Strada, Geschichtstheoretiker und Autor eines der erfolgreichsten Geschichtswerke des 17. Jahrhunderts, nicht ‚den Belgischen Krieg‘ behandelte, sondern „Über den Belgischen Krieg“ (De Bello Belgico, Rom 1632) schrieb und darin explizit reflektierte, dass ein Leser seines Werks „nur in Ergänzung mit anderen Werken zu einem vollständigen Bild [!] gelangen“ könne,146 so ist das ebenfalls eine Strategie, der aus der Wissensfülle generierten Darstellungsproblematik zu begegnen, wie Belloris intensiv verteidigte Entscheidung, von vornherein nur auf eine Künstlerauswahl zu setzen. Ganz anders der Biograf Giammaria Mazzucchelli, der sich im frühen 18. Jahrhundert daran setzte, die Schriftsteller Italiens seit dem 13. Jahrhundert zu erfassen, und zwischen 1753 und 1763 allein sechs Bände über Autoren mit den Anfangsbuchstaben „A“ und „B“ vorlegte, die bereits rund 6000 umfassten.147 Wie so viele polyhistorische Unternehmungen musste es scheitern; Mazzucchelli kam nur bis zum Buchstaben „C“. Aber: So sehr Bellori sich bezüglich der selbst gewählten Beschränkung verteidigt und die Exemplarität seines Schreibens rechtfertigt: Den Anspruch auf Vollständigkeit hat er durchaus, und zwar auf der Mikroebene der einzelnen Viten. Denn wie oben erwähnt, trägt er ja am Ende einiger Viten Informationen im Modus der unkommentierten Zusammenstellung nach. Diese Ergänzungen sind darauf angelegt, Vollständigkeit zu erreichen, und, wie in der Vita Poussins, das ihm zur Verfügung stehende Material auszubreiten. Auch diese Vorgehensweise, zumindest auf der Mikroebene Vollständigkeit anzustreben, macht Bellori zum Thema, und zwar in einer knappen Bemerkung in der Vita Guido Renis: „lando riuscendo a noi quasi impossibile il proseguire tante numerose operazioni di questo maestro, ne trasferiremo una nota di tutto nel fine […].“148 Er bedient sich einer „nota“ am Ende, in der die fehlenden Informationen listenartig nachgetragen sind – „numerando brevemente“149 nennt Bellori dieses Nachtragen an anderer Stelle. Ganz ähnlich hatte Johann Heinrich Alsted in seiner Encyclopaedia eine „Scheune“ angehängt, in der er die zuvor ausgelassenen Disziplinen nachträglich aufführte.150

146 Famiano Strada, De bello belgico decades duae, Rom 1632; hierzu Neumann 2013 (wie Anm. 135), passim und das Zitat auf S. 265. Hervorhebung von der Autorin. 147 Cesare de Michelis, Biografia e autobiografia: Alle origini della storia letteraria, in: Fabio Danelon (Hg.), Un erudito bresciano del Settecento: Giammaria Mazzuchelli [Atti del Convegno di Studi, Brescia, Ateneo di Brescia, 22 maggio 2009], Travagliato (Brescia) 2011, S. 9–15. 148 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 521 [Reni], übers. von Gabriele Wimböck: „[…] und da es für uns nahezu unmöglich ist, die vielzähligen Geschäfte dieses Meisters nachzuverfolgen, werde ich eine vollständige Liste am Ende anhängen […]“. 149 Ebd., S. 561f. [Sacchi]. 150 Siehe hierfür Ulrich Johannes Schneider, Bücher als Wissensmaschinen (Einleitung), in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Seine Welt wissen: Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit (Ausst.-Kat. Leipzig, Universitätsbibliothek, Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek), Darmstadt 2006, S. 9–20, hier S. 11.

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So weit zur produktionsorientierten Kategorie der Darstellung. In der mit dem enzyklopädischen Programm verknüpften ars memorativa kommt die Seite der Rezipienten über die Frage der Wissensvergegenwärtigung ins Spiel.151 Tatsächlich lässt sich in der Künstlerbiografik des fortgeschrittenen 17. Jahrhunderts die Tendenz beobachten, mit Darstellungsformen und Dispositiven für die tektonische oder typografische Organisation für die ‚Ordnung der Dinge‘ zu experimentieren. So versucht Filippo Baldinucci in seinen Notizie dei Professori del Disegno da Cimabue in qua, die Fülle von Künstlern seit dem 13. Jahrhundert darstellungstechnisch zu bewältigen, indem er auf grafische Elemente zurückgreift und Stammbäume zur Visualisierung der Abstammung der einzelnen Künstler einfügt (Abb. 7),152 um auf diese Weise den ‚Wald von Wissen‘ zu ­lichten.153 Zugleich teilt er den Verlauf der Kunstgeschichte radikal in Dezennien ein, um den Effekt von Ordnung zu gewinnen. Joachim von Sandrart, der, wie Michael Thimann zeigen konnte, nördlich der Alpen im gleichen Zeitraum wie Bellori das Künstlerwissen in Biografien fixierte und sich hierbei typisch enzyklopädischer Metaphern wie des Vorstellungsbildes eines aus Stockwerken, Sälen und Galerien bestehenden Gebäudes der „Teutschen Academie“ bediente, folgte dem Ziel „einer systematischen Vereinigung des gesamten theoretischen, historischen und visuellen Wissens […]“154 und bediente sich hierbei ebenfalls diverser Grafiken, Tabellen und auch Merkversen. Bellori macht dies, wie gesehen, nicht; er konzentriert sich auf sein Narrativ und verzichtet auf grafische Darstellungsformen. Und doch zeigt sein Text allein durch die Vielzahl der Nennungen dieser Kategorie, dass auch er sich mit der Memorialfunktion seines Textes beschäftigt hatte. So formuliert er in einer prominenten Passage seiner Anrede an den Leser: „Quelli certamente che col mezzo delle lettere, si propongono di toglier dal sepolcro e di con­ sacrare al publico la memoria de gli uomini, debbono prendere insegnamento dalla risposta del saggio principe, e rappresentare alla vista non cadaveri ed ombre, ma le vive immagini di coloro che degni sono di durare celebri ed illustri.“155 151 Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, passim, bes. S. 130; Ernst 2000 (wie Anm. 141); Leinkauf 2000 (wie Anm. 140). 152 Ich verweise auf die im Rahmen meines DFG-Projekts entstehende Dissertation über Baldinuccis biografisch-historiografische „Notizie dei Professori del Disegno da Cimabue in qua“ von Isabell Franconi. 153 Für diese gängige Metaphorik siehe Schmidt-Biggemann 1983 (wie Anm. 151), S. 267. 154 Michael Thimann, Künstlerwissen und Enzyklopädie im 17. Jahrhundert. Joachim von Sandrarts Teutsche Academie, in: Martin Schierbaum (Hg.), Enzyklopädistik 1550–1650: Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens, Münster 2009, S. 413–455, hier S. 431; vgl. auch Michael Thimann, Gedächtnis und Bild-Kunst. Die Ordnung des Künstler­ wissens in Joachim von Sandrarts Teutscher Academie (Quellen zur Kunst 28), Freiburg im Breisgau 2007, bes. S. 24–28, zu den Grafiken, Tabellen und Merkversen S. 105–113. 155 Bellori 1976 (wie Anm. 15), S. 5 [Al lettore]; übers. von Irina Schmiedel und Anja Brug: „Sicherlich sollten jene, die sich vornehmen, anhand des geschriebenen Wortes das Andenken der Menschen dem Grabe zu entziehen und der Öffentlichkeit zu widmen, sich von der Antwort des weisen Herrschers belehren lassen und dem Blick nicht Leichname und Schatten darbieten, sondern die lebendigen Bilder derjenigen, die würdig sind, bekannt und berühmt zu bleiben.“

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7  Filippo Baldinucci, Albero dell’opera, in: Filippo Baldinucci, Le Notizie de’ Professori del ­Disegno da Cimabue in qua, Bd. 1, Florenz 1681, o. S. [den Notizie vorangestellt]

Ziel seines Textes ist es demnach, memoria zu leisten, also Erinnerung an die beschriebenen Künstler zu stiften. Das ist eine durchaus gängige Formulierung in biografischhisto­r iografischen Unternehmungen; ihre Besonderheit liegt in dem Zusatz, der nahelegt, dass sich Bellori die Frage gestellt hat, welche Wege und Techniken anzuwenden sind, um bei seinen Lesern Wissen zu vergegenwärtigen und Erinnerung zu gewährleisten. Wenn er nämlich anschließt, er wolle keine „Kadaver“ und „Schatten“, sondern „lebendige Bilder“, „vive immagini“, produzieren, wird sein Programm offensichtlich. Statt Schemata und Diagrammen bietet er seinen Lesern mentale, imaginierte Bilder. Dass er auch hier an Muster anschließt, ist wahrscheinlich. So führt Johann Heinrich Alsted in seiner Encyclopaedia von 1630 aus, „eine starke Vorstellungskraft“ [„vehemens imaginatio“] unterstütze das Erinnerungsvermögen – wie im Übrigen auch „Liebe“ [„amor“] und Bewunderung [„admiratio“] für den Gegenstand.156 Und explizit mit Bezug 156 Johann Heinrich Alsted, Encyclopaedia septem tomis distincta, Faksimile-Neudruck (Erstausgabe Herborn 1630), hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann, 4 Bde., Stuttgart 1989–1990, Bd. 4 (1990), S. 1960: „Vehemens imaginatio unit objectum cognitum et cognoscentem, ac proinde plurimùm

Wissensordnung und Darstellungsmaximen in der Biografik ‚nach Vasari‘     | 137

auf die Geschichtsschreibung erwähnt Patrizi den Gesichtssinn, weil Geschichtsschreibung von den „gesehenen Dingen“ handele. So bringt er den Terminus „historia“ mit „isoria“ in Verbindung und konstruiert so eine Beziehung von „Sehen“ und „Wissen“.157 Belloris Entscheidung, in seinen Viten statt auf bloße Diegesis auf umfangreiche Ekphraseis zu setzen, dürfte sich auch seiner Beschäftigung mit der visuell orientierten Enzyklopädik seiner Zeit verdanken, und bezeichnenderweise orientiert er sich hier analog zu einigen Historikern des Seicento. So setzt Strada in der Schilderung des Belgischen Krieges intensiv auf sprachlich-literarische Techniken der Erzeugung illusionistischer Gegenwärtigkeit und damit auf die Kategorie der enargeia/evidentia, welche darauf zielt, den Lesern das nur Beschriebene unmittelbar vor Augen zu stellen. Agostino Mascardi lässt 1674 in seinem Traktat über die ars der Geschichtsschreibung bezeichnenderweise nur eine rhetorische Virtus für den Historiker noch gelten, nämlich diejenige der evidentia, der bilderzeugenden „An-‚schau‘-lichkeit“: „Risolva dunque il prudente componitor dell’historia di porre ogni possibile industria, per illu­ minar’ i suoi componimenti con l’energia, e sappia che dove questa dal lettor non si ­t rovi, non possono gli accidenti narrati tenacemente in quegl animi imprimersi, che vinti dalla languidezza, e dal tedio, per la sola curiosità di sapere divorano la fatica di legger senza gusto ­l ’historia: dove all’incontro il buon’artefice dell’evidenza tien non pur desto, ma punto l’animo del ­leggente, e fù ch’attento sopramodo agli avvenimenti, che non di legger, ma di ­veder’argomenta, come ­osserva Luciano.“158

conducit ad memoriæ integritatem. inprimis hîc excellunt amor et amitatio rei discendæ.“ Übers. von Isabell Franconi: „Die inständige Einbildung vereinigt das bekannte und das kennenzulernende Objekt und führt demnach die Menge zur Unversehrtheit der Erinnerung. Besonders zeichnen sich Hingabe und Nachahmung bei der zu lernenden Sache aus.“ Vgl. hierzu Ernst 2000 (wie Anm. 141), S. 132, der Alsted zusammenfasst: „Als erste Regel formuliert Alsted, die Kraft des Gedächtnisses sei zweifacher Art, nämlich sich etwas fest einzuprägen und sich rasch an etwas zu erinnern, als zweite, die Ruhe des Herzens und die Abwesenheit von Affekten begünstigten die Gedächtnisleistungen, als dritte schließlich, eine starke Vorstellungskraft unterstütze die Erinnerung, besonders dann, wenn Liebe zur Sache und Bewunderung für den zu lernenden Gegenstand hinzukämen.“ 157 Hierzu Otto 1979 (wie Anm. 135), S. 155 mit Bezug auf Patrizi 1560 (wie Anm. 138), S. 14r: „Perciò che historia è quasi Isoria, & un rimiramento che altri fa con gli occhi propri.“ Übers. von Isabell Franconi: „Deswegen ist die Geschichte quasi ein Spiegel und ein ausführliches Betrachten dessen, was die anderen mit eigenen Augen machen.“ 158 Agostino Mascardi, Dell’arte historica, Venedig 1674, S. 415; übers. von Isabell Franconi: „Der umsichtige Geschichtsschreiber soll versuchen, alles zu tun, um seinen Werken Kraft zu verleihen, und er soll wissen, dass sich die erzählten Geschehnisse nicht einprägen können, wenn sich jene [Kraft] nicht beim Leser findet, da sie von der Schwäche und Langeweile überkommen wurden, denn sie nehmen die Mühe des Lesens nur aus Neugierde auf sich, ohne Gefallen an der Geschichte [zu finden]: wohingegen der gute Meister den Geist des Lesenden durch Evidenz nicht [nur] wach hält, sondern trifft, und er achtete besonders auf die Geschehnisse, und zwar nicht durch das Lesen, sondern durch das Sehen des Erzählten, wie Lukian bemerkte.“

Auswählen und Bilden. Wissensverarbeitung im 18. Jahrhundert

David Allan

Remembering Reading The British Commonplace Book in the Long Eighteenth Century

One spring morning in May 1770, the Reverend Thomas Austen, rector of All Hallows near Rochester, sat down to write a note about something which had been bothering him since the previous evening. On what appears to have been his regular daily walk around parts of his coastal parish in rural northern Kent, Austen had encountered a man and his wife and two children out in the fields. Evidently itinerants and hitherto strangers to him, they had been preparing an open fire on which to cook their supper when the parson had stumbled upon them. It was this chance meeting with a poor family that had obviously brought a number of questions to the front of the rector’s inquisitive mind, which he now realised that he might well have taken the opportunity to ask the man directly. In Austen’s words, “what was his greatest Summum Bonum, his Chiefest pleasure or delight or ambition or Happiness? & what was that peculiar and single consideration nearest to Happiness, which never fail’d to viset him every day of his Life” (plate XIII).1 The potential responses to such a query – widely discussed in the academic literature of classical moralising and Christian theology with which this bookish, Cambridge-­educated country clergyman was intimately acquainted – were, of course, intriguing in those particular practical circumstances.2 And this is probably why Austen now also allowed some of the realistic possibilities to run through his thoughts, the underlining in his note, headed “Beggars”, emphasising what seemed to him the striking character of at least one of the hypothetical answers: “perhaps”, he speculated, “a Pot of ale-house beer, a dram of Gin, or even a draught of small beer & a crust of bread”.3 Even so, Austen was convinced that this line of philosophical inquiry was very well worth pursuing with those in desperate poverty. Indeed he seems to have thought that it would afford men like him a better understanding of the aspirations and consolations of other people living in the most trying of 1 Revd Thomas Austen, Occasional meditations: compiled from various authors as they accidentally came to hand, 1770–1782, p. 56, MS Eng 613, Houghton Library, Harvard University, seq. 67, URL: http://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:14442826$67i (accessed 14 April 2016). Emphasis (underlined) in the original. 2 John Venn and John Archibald Venn (eds.), Alumni Cantabrigienses: A Biographical List of All Known Students, Graduates and Holders of Office at the University of Cambridge, from the Earliest Times to 1900, vol. 1, part 1, Cambridge 1922, p. 58. 3 Austen 1770–1782 (see note 1), p. 56, seq. 67, URL: http://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/ drs:14442826$67i (accessed 14 April 2016). Emphasis (underlined) in the original.

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conditions: “I should think on some occasions”, he added in order to remind himself of his conclusion, “we ought to condescend to Question some of them how they Live & what Hopes bore them.”4 Reverend Austen’s interest in recording his own thoughts about the mental world of the wandering poor actually saw these notes consigned to a large and densely packed manuscript volume which is today in the possession of the Houghton Library at ­Harvard University, where it forms part of a substantial collection of eighteenth-century commonplace books, several written by the rector of All Hallows himself between the early 1760s and his eventual death in 1790. In this essay I want to explore the nature of the mnemonic exercise in which Austen was engaged at this particular moment in time and also to attempt to reconstruct aspects of its original cultural context. In order to do this it will be necessary to consider the purposes for which eighteenth-century Britons often compiled commonplace books and the functions that they believed these documents served. Other questions about the contemporary fashion for producing and maintaining handwritten records of this particular type, however, will need to be addressed at the same time. Above all, under what kind of intellectual prompting were people in this period acting when setting about making commonplace books – when engaging in commonplacing, as this activity was often called? And what can we do with the resulting artefacts, which survive in significant numbers, as historical evidence for use in the enterprise of recovering aspects of past experiences of reading – in taking commonplace books, so to speak, as vivid memories, frozen in time, of literate human lives once lived? These are the major questions to be explored with the help of some extant examples drawn from the Houghton Library’s wider holdings, with which the following discussion is concerned.5

I. A commonplace book, as eighteenth-century British people would generally have understood the term, was a handwritten document in which memories of various kinds could be both captured and therefore potentially reused.6 Focused in particular on transcriptions from printed texts which a person had read and wanted to be in a position to recall for future re-examination, its contents frequently expanded outwards into other not-unrelated forms of writing, such as momentary reflections or comments on copied-out material, even extending in some cases as far as entirely self-composed texts that usually 4 Ibid. 5 Some of the Houghton examples are used here because they have recently been scanned and digitised and so can be conveniently explored online as part of the Harvard Reading Collection resource at http://ocp.hul.harvard.edu/reading/commonplace.html (accessed 14 April 2016). 6 See David Allan, Commonplace Books and Reading in Georgian England, Cambridge 2010; and Earle Havens, Commonplace Books: A History of Manuscripts and Printed Books from Antiquity to the Twentieth Century, New Haven, CT, 2001.

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had (or at least aspired to have) some sort of quasi-literary character by virtue of being entered into their creator’s own commonplace book. Another piece of note-taking by Thomas Austen perfectly illustrates the first and most characteristic application – the careful reproduction of passages from printed texts and thus of memories of reading experiences that was unambiguously seen as the core function a commonplace book ought to perform. As Austen wrote in early 1783, in replicating part of a popular old devotional text, Thomas Brooks’s The Mute Christian (1698), which the accuracy of the copying tells us must have been open in front of him at that very moment (plate XIV): “Whilst Satan is tempting thee, Christ in the Court of Glory is interceeding for thee. Luk. 22. 31, 32, ‘and the Ld Said, Simon, Simon, behold Satan hath desired to have you, that he may sift you as wheat: But I have prayed for thee, that thy faith fail not.’ (Rom. 8. 34. Jno. 2. 1. Zach 3. 1, 2, 3.) Satan stands at our Elbow to tempt us, but Christ stands at his Fathers to interceed for us: Heb. 7. 25, ‘He ever lives to make Intercession for us.’”7

Yet some things that were collected in commonplace books were not necessarily particularly literary or even textual in character at all. As the initial example of Austen’s rumination on his encounter with some beggars underlines, commonplacing could in practice encompass experiences that were not immediately generated by reading or by engagement with printed texts in any obvious way – even if Austen’s reflections on his evening walk were clearly framed and informed by his knowledge of an extensive formal literature, stretching back at least as far as Cicero, on the summum bonum. Commonplace books might alternatively contain drawings: this was the case, for instance, with the pencil-­and-watercolour sketch of an elegant contemporary man and woman in fashion­able dress that was put into his own commonplace book by Sambrooke Freeman, a prosperous Buckinghamshire gentleman, metropolitan socialite, and sometime Member of Parliament (plate XV).8 Especially by later in the century, as the real-terms price of ephemeral printed materials like newspapers and magazines fell to such a degree that at least some wealthier readers began to consider them as largely disposable items after initial use, commonplace books even began to incorporate not just handwritten ­materials made by their owners, whether textual or graphic in character, but also scissor-and-paste extracts retained from discarded printed matter – creating in effect what by the twentieth century would come to be known not as commonplace books but as ­scrapbooks. Freeman 7 Revd Thomas Austen, Collections from various eminent & learned divines […], 1783, p. 26, MS Eng 615, Houghton Library, Harvard University, seq. 31, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3707797?n=31 (accessed 14 April 2016). Emphasis (underlined) in the original. Austen is clearly working from Thomas Brooks, The Mute Christian (London 1698), p. 265, where the seventeenth-century London-based pastor had himself been quoting from Luke. After the ­Zachariah reference and before the phrase beginning “Satan stands …”, Austen had actually chosen to omit an intervening sentence by Brooks, therefore effectively editing the text as he constructed his own version. 8 Sambrooke Freeman, Commonplace book, 1737–1795, p. 37, MS Eng 1323, Houghton Library, ­Harvard University, seq. 42, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL.HOUGH:3738247?n=42 (accessed 14 April 2016).

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again provides a nice instance of this emerging practice by the 1770s and 1780s, with many pages given over to material, generally anecdotal and episodic in form and therefore more readily extractible, which he must have come across with particular pleasure when perusing the newspapers and wanted to be able to preserve, while presumably throwing away the remainder (plate XVI).9 The reasons why people like Austen and Freeman bothered to create commonplace books in the first place and then to fill them with such a range of material plainly require careful unpacking. But given that these artefacts’ most important single function was, as we have seen, to facilitate the copying out and preservation of what had been read, a key explanation for the activity must obviously lie in the primacy of text and in the associated prestige of authorship and of being literate in mainstream eighteenth-century culture. After all, in a very literal sense to manufacture a commonplace book was to write a book of one’s own and thus to demonstrate inter alia one’s own proficiency in the reading and writing of text. We surely see this motivation played out with particular clarity in the case of the delightfully named Melesinda Munbee, a girl from Suffolk around 1750, who was allegedly just “5 yrs and 5 months” when, at least according to her own title page, she began producing a commonplace book, probably, one suspects, under the active guidance of a tutor or a governess or perhaps her mother (plate XVII).10 Indeed Munbee’s beautiful copper-plate handwriting, which is unusually neat and consistent, strongly suggests that she was engaging in a formal academic exercise, supervised by an adult and intended to exhibit and confirm a young girl’s emerging talents both as a reader and a writer. But nor should we overlook the sheer practical function of transcription exercises to eighteenth-century people. For filling a commonplace book with favourite pieces of one’s reading was in many cases the only means then possible of reproducing them so that the experience of reading them could later be repeated – especially in a world where printed texts were comparatively expensive even for well-to-do book-lovers and so were frequently on temporary loan from their actual owners, institutional or individual, rather than being in the reader’s permanent possession. That this was a vital pragmatic dimension to commonplacing for many of its exponents can clearly be seen, for example, in a remark on the title-page of one of Austen’s commonplace books where he explained that the contents that would follow were “Begun to be transcribed from borrowd books, April 7th, 1760” (plate XVIII).11 Evidently the only way that he would be able to retain an adequate impression of the passages he had read in those books which he had clearly

  9 Ibid., p. 5, seq. 10, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL.HOUGH:3738247?n=10 (accessed 14 April 2016). 10 Melesinda Munbee, A collection of various kinds of poetry, 1749–1750, n. p., MS Eng 768, Houghton Library, Harvard University, seq. 5, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3196587?n=5 (accessed 14 April 2016). 11 Revd Thomas Austen, Miscellaneous poetry, 1760, 1765, 1767, p. 1, MS Eng 611, Houghton Library, Harvard University, seq. 9, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL.HOUGH:3685841?n=9 (accessed 14 April 2016).

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acquired from various lenders and would need to return – in other words, the only way for him to capture the memories of reading those books so that they could be recalled and re-experienced at his own convenience in future – would be to manufacture these careful hand-written copies of important parts of their printed texts in his own commonplace book. Yet the mere copying out of text to demonstrate literacy and thus to open up the realistic possibility of repeating the same reading experience on a regular basis was not the end of the matter. After all, eighteenth-century Britons also existed in a literate culture which encouraged them to want to tease out the full meaning and value of the texts they had read and to be sure to have taken them in and understood them correctly. This too probably entailed preserving material not only for straightforward rereading on later occasions but also for detailed re-examination and more careful and intensive analysis of the same texts. To some extent this expectation might be understood as a recognisably Protestant habit of mind encouraged by the practices of scriptural study and private meditation which had been inculcated in many Britons since at least the sixteenth-­century Reformation. More specifically it may also have been a concomitant of the characteristically Puritan emphasis, which became particularly important during the seventeenth century, on reflecting upon one’s own experiences in search of signs of personal salvation and in the hopes of developing a better knowledge and understanding of God’s inscrut­ able intentions – giving rise, as Neil Keeble has argued, to “an extraordinary mass of private letters, commonplace books, conversion narratives and diaries, many of which were subsequently printed to become classics of autobiographical writing”.12 Evidence of the crucial role of ingrained habits of reflection and meditation in the exploitation of commonplace books is again conveniently provided by Thomas Austen, for in a document called simply “Collections from Various Eminent and Learned Divines” from 1783 he wrote the telling words “For my own use, & Support & Consolation” down the lefthand margin of the opening page – strongly suggesting an intimate, practical function, providing him with succour and reassurance – alongside a main text that underlined the same essential purpose for the remainder of the volume (plate XIX): “[…] being the most remarkable Passages in their several Works, as shall be most conducive to comfort & support all sincere, but dejected Christians, under the unhappy condition of Religious melancholy, an overscrupulous Conscience, Despondency of pardon & God’s Favour, or a seeming Desertion of Heaven & Divine Mercies, & such other spiritual afflictions, as at present render their Lives very painful & discouraging, but without any other real cause but bodily Indispositions, infirmity of human nature, the devices & temptations of Satan, or the absolute & sovereign Will of Almighty God, to have it so, for their Eternal Good & benefit in the World to come.”13

12 Neil Keeble, Puritanism and Literature, in: John Coffey and Paul C.H. Lim (eds.), The Cambridge Companion to Puritanism, Cambridge 2008, pp. 309–324, here 310. 13 Austen 1783 (see note 7), n.p., seq. 4, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL.HOUGH: 3707797?n=4 (accessed 14 April 2016). Emphasis (underlined) in the original.

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For yet another striking example of a desire for the further dissection of past reading experiences clearly motivating the practice of note-taking, lending it meaning and vital purpose, we might also look at Austen once again, who in his above-mentioned commonplace book, which he began in 1770, actually stipulated that the notes which followed were to be understood as “The excursion of Fancy through the Field of Nature: or very short Occasional Meditations & Reflections on the most obvious Things” (plate XX).14 Here the explicit intermingling of “Fancy” (which is to say, eighteenth-century terminology for the creative imagination) and “meditation” (in other words, concerted inward-looking reflection) was clearly meant to be facilitated by the act of commonplacing – that is, by the exercise of writing down what had just been read and recording personal thoughts and perceptions, establishing in the process a formal memory of those experiences of reading and response, with the deliberate intention of afterwards being able to return to them in a particularly focused way and to reflect once more upon their essential meaning and significance.

II. It will probably already be obvious that underlying the systematic use of note-taking to record reading experiences and the habitual practice of subsequent reflection on those encounters with texts were some interesting epistemological assumptions – presuppositions, in other words, about what knowledge actually is, about how it is constructed, and about how it needs to be organized and preserved in order to remain both usable and useful. It is in this context that the influence of John Locke, the most important philosopher in shaping broader British culture in the eighteenth century and widely known at the time and ever since for his striking epistemological claims, appears to have been particularly pertinent in providing a congenial framework within which contemporary commonplacing practices would have flourished. For Locke’s doctrines strongly emphasised that acquired learning rather than innate nature is really what makes people what they are. Experience in the world, he maintained, was more important to the formation of the mind and to its powers of understanding than anything with which people might be born: “Let us then suppose the Mind to be, as we say, white Paper, void of all Characters, without any Ideas; How comes it to be furnished? Whence comes it by that vast store, which the busie and boundless Fancy of Man has painted on it, with an almost endless variety? Whence has it all the materials of Reason and Knowledge? To this I answer, in one word, From Experience: In that, all our Knowledge is founded; and from that it ultimately derives it self.”15

14 Austen 1770–1782 (see note 1), n.p., seq. 6, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL.HOUGH: 3294845?n=6 (accessed 14 April 2016). 15 John Locke, An Essay Concerning Humane Understanding, London 1690, p. 37. Emphasis in the original.

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This deduction, of course, gave rise to Locke’s immense impact on Enlightenment theories about education and schooling, for if a person was born, to use his famous metaphor, with a mind which was effectively a “white Paper” (or a clean slate), then education, conceived as a particularly structured and focused form of experience, was what slowly wrote all over it, gradually inscribing the mind with content and thereby progressively building up over time a person’s knowledge, values, and identity. Also crucial to Locke’s epistemology was the remarkable contention that human beings as individuals are so constructed as to make sense of their experience for themselves, in their own way, a process that necessarily meant engaging directly only with the mental artefacts – the ideas and impressions – given to them by the operations of their own sensory apparatus. As he wrote: “Every Man’s Reasoning and Knowledge, is only about the Ideas existing in his own Mind, which are truly, every one of them, particular Existences; and our Knowledge and Reasoning about other Things, is only as they correspond with those our particular Ideas.”16

In short, people’s minds naturally tend to sort and to order the incoming data received through the senses, which are their sole source of information, but do so in such a way as to allow them to make sense of the world around them and to construct knowledge, each in their own unique fashion. This associationalist epistemology, which applied to the particular experience of reading as much as to other facets of human existence, explains amongst many other things the distinctive labelling and indexing system for commonplacing that Locke specifically promoted in another of his published works, A New Method of a Common-PlaceBook, which he first wrote in exile in the 1680s.17 Here he had argued that the diligent reader should look to create an alphabetical index at the front of his or her commonplace book, every initial letter being further subdivided into five separate lines, each of which would be devoted to the next succeeding vowel. Any new entry in the commonplace book would then be assigned an appropriate title or label, which, along with the number of the page on which the note had been written, would be entered on the correct line in the index: thus someone precisely following Locke’s proposals might employ the index line “D e”, for example, to write “Death 34”, thereby indicating that an item labelled “Death” had just been copied out on page 34. Vitally, however, in Locke’s system for indexing and easily retrieving material inside a commonplace book the title or label given to a particular note was always a matter of personal choice for the individual reader. As a result, if one person considered that an extract from Edmund Burke’s political writings, for instance, that had been transcribed on page 41 could be described fairly neutrally as 16 Ibid., p. 344. Emphasis in the original. 17 John Locke, A New Method of a Common-Place-Book, Translated out of French from the Second Volume of the Bibliothèque Universelle, in: Peter King and Anthony Collins (eds.), Posthumous Works of Mr. John Locke, London 1706, pp. 311–336; Guy Meynell, John Locke’s Method of Common-Placing, as Seen in His Drafts and His Medical Notebooks, Bodleian MSS Locke d.9, f.21 and f.23, in: The Seventeenth Century 8 (1993), No. 2, pp. 245–267.

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a piece of text by Burke, it would be possible just to put the index entry “Burke 41” on the line marked “B u”. But a different reader would remain entirely free to write out exactly the same passage from Burke and to decide that for them its real significance was that it was actually about the politics of revolution or even about the philosophy of conservatism: they would be able to label it accordingly and enter either “revolution 41” on the line for “R e” or “conservativism 41” beside the index letters “C o”. This was an important technical innovation by Locke with potentially far-reaching implications for the practice of note-taking in eighteenth-century Britain. For there had been an older Renaissance approach to commonplacing and making sense of textual experiences, ably described by Ann Moss, which used fixed – usually Latin – terms as labels.18 Within this tradition readers had generally been required to fit their own notes onto blank pages preprinted with set headings: a good example would be the Pandectae Locorum Communium (1572) published by John Foxe, the great martyrologist of English Protestantism, a classic instance of the individual reader effectively being forced to classify their own experiences with printed texts under prescribed and predetermined headings already provided on each page of the empty commonplace book, invariably with a strongly religious or moralising flavour – “Adversitas”, “Afflictio”, and so forth.19 Locke’s system, by contrast, was clearly infinitely freer, and purposely so. It gave the reader full licence to assign meaning and to attribute significance entirely according to his or her own lights. And this freedom, as we have seen, closely followed his trademark philosophical argument, so central to the Enlightenment, that we each need to construct our own unique image of the world by continually engaging and re-engaging with the data presented to us by our senses – including, of course, through our own accumulating experiences as the consumers of texts. As Locke himself pointed out with specific reference to our encounters with texts and the need to be willing to revisit them with diligence and determination: “Reading furnishes the Mind only with Materials of Knowledge, ’tis Thinking makes what we read ours. We are of the ruminating kind, and ’tis not enough to cram ourselves with a great load of Collections, unless we chew them over again, they will not give us Strength and ­Nourishment.”20

18 Ann Moss, Printed Commonplace-Books and the Structuring of Renaissance Thought, Oxford 1996. 19 John Foxe, Pandectae. Locorum communium, præcipua rerum capita & titulos, iuxta ordinem eleme[n] torum complectentes […], London 1572. 20 John Locke, Some Thoughts on the Conduct of the Understanding in the Search of Truth, London 1741 (first published London 1706), p. 50.

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III. If John Locke’s epistemology seems to have provided important philosophical underpinnings for the habits of note-taking and reflection on reading during the Enlightenment, reinforced by his explicit advice directly on the practical aspects of common­placing, it appears legitimate also to ask what role these same activities might have played in ­eighteenth-century Britain in the processes of individual “self-fashioning” seminally outlined for a slightly earlier era by Stephen Greenblatt.21 In other words, how far, especially under Locke’s enormous contemporary influence, could the freedom involved in keeping a commonplace book be used by British people at this time to create a self-image and an identity as effectively the summation of all of their unique personal experiences – as a distillation of what they were and what they stood for? Even from the evidence of some of the examples at which we have so far looked this seems a particularly apposite question to ask.22 After all, in the case of Thomas Austen, as we have seen, his ­copious jottings on Christian themes, generally drawn from the familiar pages of the Bible and from important English theological writers like Thomas Brooks (plate XIV), clearly helped define him through his careful and deliberate note-taking as a learned and pious Protestant, though with what in late eighteenth-century terms were really markedly evangelical leanings (Brooks, for example, one of Austen’s favourite authors, had been a seventeenth-century Nonconformist minister ejected from the established Church of England for his radical teachings).23 And Austen was certainly not alone in employing his commonplacing, more or less wittingly, to define and refine his own identity in this way, in relation to specific institutions, beliefs, and communities. Political affiliations too could be very powerfully signalled within the pages of a slowly filling commonplace book, not merely articulating but declaring and underscoring their owner’s affinities and ideological preferences – even if they were not necessarily freely and consciously chosen. For example, little Melesinda Munbee’s note-taking, her choices almost certainly strongly influenced by decisive adult interventions, placed a particularly strong emphasis upon material demonstrating her allotted role as an admirably literate daughter but also as a patriotic young student of British poetry and an emerging supporter of the prevailing British constitution. Hence her commonplacing embraced several pieces with obvious royal associations like “Prologue & Epilogue spoken by his Royal Highness ye Prince of Wales’s Children, on their performing ye Tragedy of Cato, at Leicester-house” which includes the ideologically charged line “a Boy in England born in England bred / 21 Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare, Chicago 1980. 22 Lucia Dacome, Noting the Mind: Commonplace Books and the Pursuit of the Self in Eighteenth-­ Century Britain, in: Journal of the History of Ideas 65 (2004), pp. 603–25. 23 Austen 1783 (see note 7), p. 26, seq. 31, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3707797?n=31 (accessed 14 April 2016). See also Francis J. Bremer and Tom Webster (eds.), Puritans and Puritanism in Europe and America: A Comprehensive Encyclopedia, vol. 1, Santa Barbara 2006, pp. 34–35.

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Where freedom well becomes ye earliest state / For there ye love of Liberty’s innate,” as well as copied-out literary texts designed to confirm her attachment to the popular contemporary English canon in the form of poems by Jonathan Swift and John Dryden.24 The middle-aged politician and man-about-town Sambrooke Freeman, however, clearly cultivated a different self-image again, at least to judge from his commonplacing which, as we have already noted, often involved material cut-and-pasted from newspapers and magazines: it revealed a strong sense of humour with lots of amusing anecdotes involving celebrity figures like Oliver Cromwell, Dr Samuel Johnson, and Benjamin Franklin that he had culled from his reading (it is likely that Freeman also knew the last two men personally), creating an impression on the written page of a sophisticated conversationalist and raconteur who loved bon mots, had a fund of entertaining stories at his disposal, and prized the ostentatious display of wit (plate XVI).25 In all of these examples what was actually selected for presentation and preservation in a commonplace book appears to have allowed its owner to frame an instant memory of themselves in a very particular light – to capture an image of themselves, so to say, or a snapshot, as they wanted to be seen by themselves as well as, perhaps, by others. This naturally leads us on to a fascinating and closely related question about the intended audience for commonplacing. For while these are evidently mostly intimate documents in one sense – private spaces for recording personal experiences and for delineating the contours of individual personality – it is important to ask how far people might also have written commonplace books expressly for other people’s eyes. In some cases we can tell unambiguously that the resulting notes were meant to be read by someone else: Melesinda, for example, even addressed the question of audience directly, indicating in a prefatory section that her writing was motivated specifically with her father’s approval in mind while in some sense acknowledging his formative influence in stimulating the development of her evident literacy and literary intelligence in the first place: “The Dedication. To my Honoured Father Valentine Munbee Esq. Hond Sr. To you who first inform’d my Infant age, And taught my tongue to trace ye letterd page […]” (plate XXI).26 A similar intention was signalled by Dr Johnson’s old friend and biographer the Welsh woman Hester Thrale (later Mrs Piozzi), one of whose commonplace books was also written as a gift. We know this for sure because it contained a handwritten inscription to her nephew John Salusbury, composed by Thrale and clearly written in 1810 when she was living with her Italian husband in her neoclassical villa in rural Denbighshire. 24 Munbee 1749–1750 (see note 10), p. 7, seq. 20 (English liberty), URL: http://nrs.harvard.edu/ urn-3:FHCL.HOUGH:3196587?n=20 (accessed 14 April 2016); pp. 129–150, seqs. 135–156 (Swift), URL (seq. 135): http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL.HOUGH:3196587?n=135 (accessed 14 April 2016); pp. 150–151, seqs. 156–157 (Dryden), URL (seq. 156): http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3196587?n=156 (accessed 14 April 2016). 25 Freeman 1737–1795 (see note 8), p. 5, seq. 10, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3738247?n=10 (accessed 14 April 2016). 26 Munbee 1749–1750 (see note 10), n.p., seq. 6, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3196587?n=6 (accessed 14 April 2016).

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This explains her earnest wish that his reading and reflecting upon its miscellaneous contents would help him in due course: “Accept Dear Salusbury these collected Trifles”, she simpered, “put together to pass Time which glides too slowly in your Absence; & to convince you of my fond Esteem by throwing into your Hands the favour’d Follies of my Youth, join’d here to those you have so often witness’d – as kind Companions to my declining Years.”27 Accordingly it is clear that at least some of these things were not really private or confidential reflections after all – or not wholly private or confidential reflections in the way that they might initially have appeared. Certain examples were evidently produced with a quite different audience in mind, whose responses were therefore matters of considerable concern – Thrale’s anxieties in particular are audible – to the commonplace book’s original creator. It therefore seems only fair to ask how this might also affect our own treatment of these documents as historical evidence. For there are a series of troubling questions one should probably be willing to ask about the essential authenticity of these artefacts but which are all but impossible to answer with any degree of certainty. In particular, what allowance ought we to make for the distorting effects of showing off, of bravura, of boasting, of the desire for favourable self-presentation, not just to the commonplace book’s owner him- or herself but also to other people like their father (in little Melesinda’s case) or their nephew (in Thrale’s)? Moreover, how far should we consider notes taken down and presented in this way to be the result of artful performance, designed more or less consciously to create an impression rather than to convey an unvarnished truth? For that matter how much are any works which are meant to show their owner, fairly or not, in a positive light, capable of being trusted and taken at face value by the later historian? Like autobiographies and memoirs, those other notoriously slippery and even actively deceitful literary genres, how reliable are commonplace books really as reflections of their initial creators and users – as accurate memories, that is to say, of past lives and experiences? None of these questions can surely be ignored if we want to understand properly how commonplacing functioned for those eighteenth-­ century Britons who practised it.

IV. A final set of questions raised by the survival of so many British commonplace books from this period, almost all of which revolve centrally around handwritten transcriptions made by readers, is also worth considering. Above all, what can commonplace books tell us about the ways in which their creators handled, engaged with, and ulti-

27 Hester Lynch Piozzi, Poems and little characters, anecdotes etc. introductory to the poems, 1810– 1814, n.p., MS Eng 1280, Houghton Library, Harvard University, seq. 9, URL: http://nrs.harvard. edu/urn-3:FHCL.HOUGH:3374086?n=9 (accessed 14 April 2016).

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mately made sense of the printed texts they were using?28 What does what they chose to copy out say about canonicity and the range of reading these people were undertaking? To put this slightly differently, can the contents of commonplace books reveal anything useful about literary fashions and tastes and about what sorts of published work tended to receive in practice the seal of approval from real readers (as opposed to what critics and subsequent literary scholars have always claimed was the most important or meritorious printed material at the time)? Again these are issues which we have already seen enough to appreciate must be well worth contemplating as we try to grapple with the evidence generated by eighteenth-century commonplacing. To some extent what one finds in commonplace books accords with expectations formed by a well-established cultural historiography. There is much quotation of William Shakespeare, for instance, becoming particularly prevalent later in the century, entirely as one would predict based on what modern literary scholarship has identified as the Bard’s apotheosis as the embodiment of an increasingly self-confident Anglophone culture culminating in the Jubilee festival held at Stratford in 1769.29 There is also much that hints at the importance of political partisanship: the material entered into commonplace books makes it very clear that for many British readers the never-ending contest between Whig and Tory politics mattered a great deal. But the evidence of readers’ tastes provided by commonplacing does not always conform so neatly to expectations. For example, the preponderance of broadly religious material in commonplace books in this period – Austen and Munbee both illustrate this generalisation wonderfully – is definitely not consistent with what many ­historians of the Enlightenment, from Peter Gay to Jonathan Israel, have wanted us to see as a rational age in which the educated and the bookish were increasingly caught up in a process of progressive secularisation.30 In fact, the surviving record created by note-taking inside contemporary commonplace books strongly suggests that British men and women’s reading was much more often essentially conservative and traditional – comprising in reality far more hymns, epitaphs, extracts from devotional works, reflections on mortality and morality, and much more text in Latin, than materials which are recognisably secular, challenging, or remotely radical in nature. If we take Hester Thrale as our example once again but look instead at one of her other commonplace books in the Harvard collection, we can see quite clearly that her reading interests were very orthodox indeed, despite her having been prominently 28 See David Allan, Some Notes and Problems in the History of Reading: Georgian England and the Scottish Enlightenment, in: The Journal of the Historical Society 3 (2003), pp. 91–124, esp. 110–118; Stephen Colclough, Recovering the Reader: Commonplace Books and Diaries as Sources of Reading Experience, in: Publishing History 44 (1998), pp. 5–37; and idem., Consuming Texts: Readers and Reading Communities, 1695–1870, Houndmills/New York 2007. 29 See Christian Deelman, The Great Shakespeare Jubilee, New York 1964; and Michael Dobson, The Making of the National Poet: Shakespeare, Adaptation and Authorship, 1660–1769, Oxford 1992. 30 Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation, 2 vols., New York 1966–1969; Jonathan I. Israel, Enlightenment Contested: Philosophy, Modernity and the Emancipation of Man, 1670–1752, Oxford 2006.

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s­ ituated at the heart of late eighteenth-century London’s literary life: her commonplacing mostly comprises a thoroughly backward-looking mixture of Protestant Christianity and ancient history. As we can see from just one very typical page (plate XXII), the top left-hand corner is actually based around the potential significance of the number 8, mingling Roman political history and the “ogdoad” (eight Egyptian deities) with biblical tales on the same number, all hinting at Thrale’s interest in numerology.31 She also exhibits traditional philological interests, examining the common German exclamation “Her [sic] Jesus!” and translating it into English and Italian. Ever the devout Protestant, she discusses “monastic observances” – those classic expressions of Catholic commitments – and what they “remind me of”. There is a brief flash of cutting-edge Enlightenment interest in technological advances and scientific progress with the story of a boy who invented a new mechanism for an engine when experimenting with a “Boiler & Cylinder”. But then Thrale plunges straight back into the characteristic preoccupations of the old culture, with a Latin verse about Kabbala (that is, Jewish mysticism), a note from her reading of Voltaire which she uses to register her own anti-Catholic prejudices, and finally some more Latin poetry. Evidently a commonplace book like this can tell us something interesting about how far a reader on the one hand closely followed or on the other hand failed to respond to the avant-garde of the Enlightenment. And the evidence of even highly literate and intellectually engaged individuals like Thrale and Austen may often indicate that the speed and extent of cultural change in wider eighteenth-century society was somewhat slower and certainly much patchier than some accounts would have us believe. Lastly, it is surely necessary to consider what the study of commonplacing might be able to reveal about reading practices as such. Both Austen and Thrale, as we have already observed, have bequeathed us a smorgasbord of literary extracts in no obvious order, presumably brought together from a vastly larger amount of printed text that each of them had been working through. One of Austen’s contents pages makes this point very forcefully since it is utterly diverse in thematic character – containing disparate headings such as “on Meditation”, “on the happiness of mankind in General”, “On the Sight of some vallies, in a rural journey”, “on a traveller’s dangers, & narrow escapes”, “on the first appearance of the Spring, after a hard Winter”, “On Garden flowers”, “on the Chirping of birds”, “On Thoughts”, “on a Door Shut against Us”, and so forth (plate XX).32 It seems likely that compulsive note-takers such as Austen would actually have read texts with this enterprise in mind, always consciously on the lookout for potential extracts suitable for being preserved and remembered in their commonplace books or which might give rise to their own reflective responses. But was this in fact a widespread – 31 Hester Lynch Piozzi, Minced meat for pyes [between 1741 and 1821], n.p., MS Eng 231, Houghton Library, Harvard University, seq. 26, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3626467?n=26 (accessed 14 April 2016). 32 Austen 1770–1782 (see note 1), n.p., seq. 6, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL. HOUGH:3294845?n=6 (accessed 14 April 2016).

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even conceivably a normal – style of reading in what seems to have been the golden age of commonplacing, in the sixteenth, seventeenth, and eighteenth centuries? Roger Chartier, the eminent French historian of reading, for example, certainly thinks so. He has suggested that specific techniques for consuming texts had evolved in a note-taking culture, an approach to reading which was intended to generate appropriate extracts for copying and reflection within commonplace books and which was formally inculcated in readers through humanist pedagogy: as Chartier conjectures, commonplacing habits may have “dictated the way the majority of lettered readers organized their readings”, even if “all lettered readers did not participate in the culture of the commonplace books”.33 The possibility must therefore be entertained that the avocation of commonplacing in eighteenth-century Britain did encourage people to scan and skim texts in a peculiar way, with an eye constantly on the lookout for materials suitable for copying and subsequent consideration – perhaps an even greater number of readers than actually engaged in note-taking themselves. If this is the case, like much else we have considered in this brief exploration of the form and function of commonplace books, they might indeed be able to tell us much that we did not previously suspect about the lives and inner worlds of long-dead people as they set about deliberately trying to create a memory of their own experiences.

33 Roger Chartier, Reading Matter and “Popular” Reading: From the Renaissance to the Seventeenth Century, in: Roger Chartier and Guglielmo Cavallo (eds.), A History of Reading in the West, trans. by Lydia G. Cochrane, Cambridge 1999, pp. 269–283, here 282.

Jan Blanc

Willkürliches oder unwillkürliches Erinnern? Praktiken und Debatten um das Entlehnen in den Künsten im Großbritannien des 18. Jahrhunderts

Zu Beginn des Jahres 1775 bot Nathaniel Hone anlässlich der Jahresausstellung der Royal Academy ein ungewöhnliches Gemälde als Ausstellungsstück an (Taf. XXIII).1 Er zeigt darin einen alten Magier in Begleitung eines kleinen Mädchens. Der Magier scheint seinen Zauberstab durch die Luft zu schwingen, während über einem Feuer zahlreiche Druckgrafiken aufwirbeln. Der Maler macht keinen Hehl daraus: Das Bild ist ein direkter Angriff auf zwei Mitglieder der Royal Academy. Hinter den Zügen des kleinen Mädchens verbirgt sich Angelika Kauffmann, und der alte Magier erinnert an Sir Joshua Reynolds. Ein von der Presse verbreitetes Gerücht sagte den beiden damals eine Affäre nach. Das Werk Hones spielt allerdings auf zwei andere Angelegenheiten an. Die erste ist allgemeiner Natur: Hone zufolge wurde die Royal Academy nicht gemäß den Prinzipien eines gesunden Wettbewerbs zwischen ihren Mitgliedern geführt, sondern funktionierte durch Cliquenwirtschaft und persönliche Begünstigung. Das zweite Thema ist das künstlerische Schaffen Reynolds’ selbst, den Hone beschuldigt, ein Plagiator zu sein. So verweisen die in der Luft flatternden Druckgrafiken in Hones Gemälde auf die künstlerischen Vorbilder, deren Reynolds sich im Geheimen bemächtigt habe, um seine eigenen Porträts zu gestalten. Von rechts nach links und von oben nach unten lassen sich die verschiedenen Werke identifizieren, auf die hier angespielt wird. So erkennt man eine Heilige Margarete, die damals Raffael zugeschrieben wurde. Hone zeigt vermutlich eine von Louis Surugue in den 1730er-Jahren gefertigte Grafik, erschienen im Recueil d’estampes d’après les plus beaux tableaux et d’après les plus beaux desseins qui sont en France, genannt Recueil ­Crozat.2 1 Vgl. John Thomas Smith, Nollekens and his Times: Comprehending a Life of that Celebrated Sculptor; and Memoirs of Several Contemporary Artists, from the Time of Roubiliac, Hogarth, and Reynolds, to that of Fuseli, Flaxman, and Blake, Bd. 1, London 1828, S. 143–155; Frances A. Gerard, Angelica Kauffmann, London 1892, S. 151–157; William T. Whitley, Artists and their Friends in England: 1700–1799, Bd. 2, New York 1968 (Erstausgabe London 1928), S. 265–268; Martin Butlin, An ­Eighteenth-Century Art-Scandal: Nathaniel Hone’s “The Conjuror”, in: Connoisseur 174 (1970), S. 1–9; John Newman, Reynolds and Hone. “The Conjuror” Unmasked, in: Nicholas Penny (Hg.), Reynolds (Ausst.-Kat. London, Royal Academy of Arts), New York 1986, S. 344–354. 2 Das Bild, das sich heute im Louvre befindet (Inv. Nr. 607), wurde zweifellos von Papst Leo X. in Auftrag gegeben, und die dargestellte Heilige könnte die Schwester von Franz I., Margarete von ­Navarra, repräsentieren. Inzwischen ist man der Ansicht, dass das Werk zum größten Teil von ­Giulio Romano nach einer Zeichnung von Raffael ausgeführt wurde, obwohl es sich für einen Maler des 18. Jahr-

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1  Joshua Reynolds, Jupiter als Kind, ca. 1774, Öl auf Leinwand, 127 × 101,6 cm, Privatsammlung

Diese Figur inspirierte das Porträt von Mrs Hale als Euphrosyne, das Reynolds 1766 ­malte.3 Etwas weiter unten ist der Stich eines Jesuskinds zu erkennen, den Carlo Maratta vermutlich selbst nach seiner eigenen Komposition anfertigte und von Jakob Frey Ende des 17. Jahrhunderts veröffentlichen ließ;4 der britische Maler griff die Figur in seinem um 1774 geschaffenen Gemälde Jupiter als Kind auf (Abb. 1).5 Das leicht eingerollte Blatt unten rechts zeigt eine Grafik mit der Figur des Aminadab, die von Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt und von Adamo Ghisi in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gestochen wurde.6 Diese Figur diente dem 1773 entstandenen Ugolino als Vorlage.7 Darunter zeigt Hone den rechten Teil der Darstellung einer Jungfrau mit Kind, die von Giovanni Battista Franco gestochen wurde8 und die Reynolds um 1764

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hunderts von selbst versteht, dass das Werk Raffael zuzuschreiben ist. Zu dem Zusammenhang mit Surugues Grafik vgl. Jan Blanc, Les Écrits de sir Joshua Reynolds, Bd. 1, Turnhout 2015, S. 467. Joshua Reynolds, Mrs Hale als Euphrosyne, 1766, Öl auf Leinwand, 236 × 146 cm, Leeds, Harewood House. Vgl. David Mannings und Martin Postle, Sir Joshua Reynolds. A Complete Catalogue of his Paintings, New Haven 2000, Bd. 1, Nr. 801. (Nach) Carlo Maratta, Das Christuskind in der Krippe, umgeben von zwei Engeln und dem Johannes­ knaben, 1680–1720, Radierung, 25,4 x 26,3 cm, British Museum, London, Mus.-Nr. V,10.18. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 2098. Michelangelo Buonarroti, Aminadab, 1511–1512, Fresko, 215 × 430 cm, Sixtinische Kapelle, Musei Vaticani, Rom. 1773, Öl auf Leinwand, 125 × 176 cm, Knole House. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 2172. Giovanni Battista Franco, Jungfrau mit Kind, Kupferstich und Radierung, 24,8 × 36,9 cm, British Museum, London.

Willkürliches oder unwillkürliches Erinnern?      | 157

in seinem Porträt von Anne Lascelles und ihrer Tochter Frances aufgriff.9 W ­ eiter oben erkennt man unschwer das berühmte Porträt des Paulus Pontius von ­A nthonis van Dyck aus den 1630er-Jahren.10 Das Bild diente Reynolds als Modell für sein Porträt von Lord Cardross.11 Das große Blatt unten zeigt den Stich eines S ­ chlafenden Silen von Michel Natalis aus dem Jahr 1632 oder 1633 nach einer Komposition von ­Giovanni Francesco Romanelli12. Das Bild war der Ausgangspunkt für Reynolds’ historical portrait der drei Schwestern Montgomery von 1773.13 Die beiden Figuren auf einem Blatt neben der Grafik von Franco sind einem Detail des Parnass von Raffael entnommen – vielleicht in der von Marcantonio Raimondi zwischen 1510 und 1520 gestochenen Version14 –, und man findet sie auf dem Porträt der Schwestern Crewe wieder.15 Links erkennt man Eleasar und Mattan von Michelangelo,16 wiederum in einem Stich von Adamo Ghisi nach der Decke der Sixtinischen Kapelle; hier griff Reynolds die Pose der Figuren in seinem Bildnis der Caroline, Duchess of Marlborough, mit ihrem Kind auf.17 Die Grafik ganz unten schließlich verweist auf das Gemälde Amor entwaffnet von den Nymphen der Diana von Francesco Albani,18 aber auch auf das Porträt von Elizabeth Dashwood, Duchess of ­Manchester, und ihrem Sohn George Montagu, das Reynolds 1769 malte.19 Verständlicherweise gefiel Nathaniel Hones Darbietung dem Hängungskomitee der Royal Academy überhaupt nicht. Das hinderte den Künstler nicht daran, das Bild auf eigene Kosten in der St. Martins Lane 70 zu präsentieren. Darüber hinaus war Reynolds wahrscheinlich eine erste Version oder ein Entwurf dieses Gemäldes seit Ende 1774 bekannt, sechs Monate bevor es dem Komitee gezeigt wurde. Der Vorsitzende der Royal Academy entschied sich sogar, sich in seiner traditionellen alljährlichen Rede mit der Praxis des – wie er es nennt – „Entlehnens“ (borrowing) zu befassen:   9 Ca. 1762–1764, Öl auf Leinwand, 123 × 98 cm, Leeds, Harewood House. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 1088. 10 Anthonis van Dyck, Paulus Pontius, ca. 1630, Öl auf Leinwand, 91 × 65,5 cm, Jerusalem, Israel ­Museum,. 11 1764, Öl auf Leinwand, 91,5 × 71 cm, Kapstadt, South African National Gallery. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 585. 12 Michel Natalis nach Giovanni Francesco Romanelli, Schlafender Silen, Kupferstich, 26,1 × 34,7 cm, British Museum, London. 13 1773, Öl auf Leinwand, 233,7 × 290,8 cm, London, Tate Britain. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 1282.  14 Marcantonio Raimondi, Apoll und die Musen auf dem Parnass (nach Raffael), ca. 1510–1520, Kupferstich, 35,8 × 47 cm, British Museum, London. 15 1766, Öl auf Leinwand, 152 × 140 cm, Privatsammlung. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 450. 16 Michelangelo Buonarroti, Eleasar und Mattan, 1508–1512, Fresko, Sixtinische Kapelle, Musei Vaticani, Rom. 17 1759–1761, Öl auf Leinwand, 122 × 115 cm, Sammlung des Duke of Spencer. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 1677. 18 Francesco Albani, Amor entwaffnet von den Nymphen der Diana, ca. 1621–1633, Öl auf Leinwand, 202 × 250 cm, Musée du Louvre, Paris. 19 1769, Öl auf Leinwand, 213,4 × 151,1 cm, Wimpole, Cambridgeshire. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 1271.

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„[…]; the borrowing a particular thought, an action, attitude, or figure, and transplanting it into your own work […] will either come under the charge of plagiarism, or be warrantable, and deserve commendation, according to the address with which it is performed. There is some difference likewise whether it is upon the ancients or the moderns that these depredations are made. It is generally allowed that no man need be ashamed of copying the ancients: their works are considered as a magazine of common property, always open to the public, whence every man has a right to take what materials he pleases; and if he has the art of using them, they are supposed to become to all intents and purposes his own property.“20

Auch wenn dieser Diskurs vermutlich nicht in der Form analysiert wurde, wie er es verdient hätte,21 wird er nicht im Zentrum dieses Beitrags stehen. Ich möchte vielmehr er­­ örtern, auf welche Theorien und Praktiken des Erinnerns sich der Diskurs sowie die Werke Reynolds’ und seiner Zeitgenossen stützen. Die von Reynolds in seiner akademischen Rede letztlich angestoßene Debatte, auf die das Gemälde Hones öffentlich zu antworten versucht, dreht sich tatsächlich nicht allein um das Problem des Plagiats.22 Vielmehr versuchen beide Künstler, auf verschiedene Weise dieselbe Frage zu beantworten. Welchen Platz soll ein Künstler in der Ausübung seiner Kunst der Erinnerung zuweisen? Für Hone versteht es sich von selbst: Wenn das Erinnern die Fähigkeit ist, dank deren ein Maler lernt, die Vorbilder der großen Meister und der schönen Natur zu kennen und sich anzueignen, muss diese Aneignung einer Verarbeitung gleichkommen, die die Formen und die Struktur der Vorbilder weitgehend ändert, bis es unmöglich ist, sie wiederzuerkennen (außer im Grenzfall des Zitats). Dies entspricht dem berühmten Modell der Einverleibung, zu dessen theoretischem Entwurf Quintilian wesentlich beigetragen hat und an dem zahlreiche Dichtungstheoretiker seit dem Beginn der Renaissance festhielten. So schreibt Poliziano in einem Brief von 1491 an Paolo Cortesi: „Aber wenn du Cicero und andere gute Autoren häufig und lange gelesen hast, wenn du sie genutzt, gelernt, verdaut hast, wenn du dein Herz mit der Kenntnis vielzähliger Gegenstände gefüllt hast und wenn du bereit bist, selbst etwas zu erschaffen, möchte ich, dass du dann endlich, wie man sagt, ohne Schwimmreifen schwimmst und dir dein eigener Ratgeber bist.“23 20 Joshua Reynolds, Discourses on Art, hg. von Robert R. Wark, New Haven 1997 (Erstausgabe San Marino 1959), S. 106–107. 21 Vgl. hier Edgar Wind, „Borrowed Attitudes“ in Reynolds and Hogarth, in: Journal of the Warburg Institute 2 (1938), Nr. 2, S. 182–185; Luke Herrmann, The Drawings by Sir Joshua Reynolds in the Herschel Album, in: The Burlington Magazine 110 (1968), Nr. 789, S. 650–658; Barbara A. Buckley, Sir Joshua Reynolds, the Ladies Amabel and Mary Jemima Yorke, in: The Bulletin of the Cleveland Museum of Art 73 (1986), Nr. 9, S. 350–371; Giovanna Perini, On Reynolds’s Art of Borrowing: Two More Italian Sources, in: The Burlington Magazine 136 (1994), Nr. 1090, S. 26–29; Jörg M. Merz, Reynolds’s Borrowings, in: The Burlington Magazine 137 (1995), Nr. 1109, S. 516–517. 22 Vgl. Ernst H. Gombrich, Reynolds’s Theory and Practice of Imitation, in: The Burlington Magazine for Connoisseurs 80 (1942), Nr. 467, S. 40–45; Malcolm Warner, The Sources and Meaning of Reynolds’s “Lady Sarah Bunbury Sacrificing to the Graces”, in: Art Institute of Chicago Museum Studies 15 (1989), Nr. 1, S. 7–19; George J. Buelow, Originality, Genius, Plagiarism in English Criticism of the Eighteenth Century, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 21 (1990), Nr. 2, S. 117–128. 23 Angelo Poliziano, Brief an Paolo Cortesi (ca. 1485), hier zit. nach Perrine Galand-Hallyn und Fernand Hallyn (Hg.), Poétiques de la Renaissance: le modèle italien, le monde franco-bourguignon et leur héritage en France au XVIe siècle, Genf 2001, S. 469: „Mais quand tu auras lu Cicéron et d’autres

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Aus Hones Sicht begeht Reynolds eine doppelte Sünde. Er stützt sich auf zu viele Krücken; und er verbirgt die Tatsache, dass er ohne sie nicht vorankommt. Denn er zieht mit seinen Gemälden, zumindest teilweise, einen Nutzen aus der Größe seiner Vorbilder, die er sorgfältig in wenig bekannten Grafiken oder winzigen Details berühmter Kunstwerke sucht. Reynolds’ Haltung bezüglich dieser Frage ist freilich völlig anders und basiert auf einer ganz anderen Gedächtnistheorie, die ich hier gern näher erörtern möchte. In meiner Argumentation werde ich mich auf drei Aspekte konzentrieren. Im ersten Teil werde ich näher auf den philosophischen Hintergrund eingehen, vor dem sich die von Reynolds vertretene Theorie entwickelte. Im zweiten Teil diskutiere ich die Rolle des Gedächtnisses und der Fantasie in der künstlerischen Praxis, bevor ich mich abschließend einem dritten, in Reynolds’ Denken fast ebenso wichtigen Aspekt widme, der das Gedächtnis des Betrachters betrifft.

I.  Erinnern, Fantasie und Assoziationismus In seiner oben zitierten Rede rechtfertigt Reynolds die Praxis des Entlehnens auf zweierlei Weise. Die erste ist klassisch. Sie besteht darin, den Nutzen zu verdeutlichen, den Künstler aus der Verwendung und der Verwandlung von Modellen antiker und großer Meister ziehen können. Sie ist an ein Gedächtniskonzept gebunden, das man ,bevorratend‘ oder ,kumulativ‘ nennen könnte. Das Gedächtnis ist wie ein Speicher, aus dem ein Maler schöpfen und Stoffe ziehen kann, wie Reynolds bereits in seiner akademischen Rede von 1769 hervorhebt: „When the artist is once enabled to express himself with some degree of correctness, he must then endeavour to collect subjects for expression; to amass a stock of ideas, to be combined and varied as occasion may require. He is now in the second period of study, in which his business is to learn all that has hitherto been known and done. Having hitherto received instructions from a particular master, he is now to consider the art itself as his master. He must extend his capacity to more sublime and general instructions. Those perfections which lie scattered among various masters are now united in one general idea, which is henceforth to regulate his taste and enlarge his imagination. With a variety of models thus before him, he will avoid that narrowness and poverty of conception which attends a bigoted admiration of a single master, and will cease to follow any favourite where he ceases to excel. This period is, however, still a time of subjection and discipline. Though the student will not resign himself blindly to any single authority when he may have the advantage of consulting many, he must still be afraid of trusting his own judgment, and of deviating into any track where he cannot find the footsteps of some former master.“24 bons auteurs, beaucoup et longtemps, quand tu les auras usés, appris, digérés, quand tu auras empli ton cœur de la connaissance de nombreux sujets et quand tu seras prêt à composer quelque chose toi-même, je voudrais qu’alors enfin tu nages, comme on dit, sans bouée, et que tu sois à toi-même, une bonne fois, ton propre conseil […].“ 24 Reynolds 1997 (wie Anm. 20), S. 26. Zu Reynolds’ Gedächtniskonzept vgl. auch Vincent M. Bevilacqua, „Ut Rhetorica Pictura“: Sir Joshua Reynolds’ Rhetorical Conception of Art, in: Huntington Library Quarterly 34 (1970), Nr. 1, S. 59–78; Floyd W. Martin, Sir Joshua Reynolds’s “Invention”: Intellectual Activity as a Foundation of Art, in: Art Education 40 (1987), Nr. 6, S. 6–15.

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Diese schon sehr alte Theorie findet sich noch Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei John Locke wieder. Für den Philosophen geht es darum, das Prinzip der eingeborenen Ideen zurückzuweisen. Für ihn ist Erinnern die Fähigkeit, Erfahrungen zu speichern: „Whatever Idea was never perceived by the mind, was never in the mind. Whatever Idea is in the mind, is either an actual perception, or else having been an actual perception, is so in the mind, that by the memory it can be made an actual perception again. Whenever there is the actual perception of an Idea without memory, the Idea appears perfectly new and unknown before to the Understanding.“25

Die zweite Rechtfertigung des künstlerischen Entlehnens, die Reynolds vorschlägt, ist dagegen origineller. Sie entspricht einer neuen Definition von Erinnerung, die ab den 1730er-Jahren bei den Empiristen in Umlauf war und die man als ,assoziationistisches Erinnern‘ bezeichnen könnte.26 Für Francis Hutcheson oder David Hume ist das Gedächtnis nicht nur ein Speicherort. Sie stellen vielmehr fest, dass sich einfache Ideen dort ständig neu zusammensetzen und durch die Fantasie komplexe Ideen bilden. „When we remember any past event, the idea of it flows in upon the mind in a forcible manner; whereas in the imagination the perception is faint and languid, and cannot without difficulty be preserv’d by the mind steady and uniform for any considerable time.“27

Die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Fantasie ist zudem eher theoretischer als praktischer Natur. So ist es schwierig, eine Fantasie, die weniger eine Fähigkeit als ein Ort ist, an dem die aus dem Gedächtnis kommenden Eindrücke gesammelt und kopiert werden, davon abzuhalten, die Eindrücke nach den Prinzipien der Ähnlichkeit und der Assoziation zu neuen Fiktionen zusammenzusetzen: „Nothing is more apt to make us mistake one idea for another, than any relation betwixt them, which associates them together in the imagination, and makes it pass with facility from one to the other. Of all relations, that of resemblance is in this respect the most efficacious; and that because it not only causes an association of ideas, but also of dispositions, and makes us conceive the one idea by an act or operation of the mind, similar to that by which we conceive the other. This circumstance I have observed to be of great moment; and we may establish it for a general rule, that whatever ideas place the mind in the same disposition or in similar ones, are very apt to be confounded. The mind readily passes from one to the other, and perceives not the change without a strict attention, of which, generally speaking, it is wholly incapable.“28

25 John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Oxford 2008 (Erstausgabe London 1690), 1. Buch, Kap. 4, Par. 20. 26 Vgl. Stephen R. Ferg, The Machinery of the Mind: The Origins of Association Psychology, 1644–1749, unpubl. Diss., Cornell University, Ithaca, NY, 1977; David F. Markus, Die Associationstheorien im XVIII. Jahrhundert, Hildesheim u.a. 1985 (Erstausgabe Halle 1901); Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999; Cairns Craig, Associationism and the Literary Imagination: From the Phantasmal Chaos, Edinburgh 2007. 27 David Hume, A Treatise of Human Nature, Oxford 2009 (Erstausgabe London 1738–1740), Buch 1, Abschnitt 1, Kap. 3. 28 Ebd., Buch 1, Abschnitt 4, Kap. 2.

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Aus der Perspektive der Theorien Lockes oder Humes ist das von Hone gegen Reynolds angestrengte Verfahren nichtig. Hones Argumentation ist moralisierend und unterstellt Reynolds eine bestimmte Absicht: Er vergleicht den Präsidenten der Royal Academy mit einem einfachen Scharlatan und klagt ihn der Unredlichkeit an, indem er behauptet, dass Reynolds Vorbilder ausgewählt habe, um diese dann klammheimlich und mit Vorsatz in seine eigenen Porträts einzubauen. Nun greift diese Überlegung aber aus Sicht der empiristischen Philosophie in doppelter Hinsicht zu kurz. Zum einen sind die von Reynolds ausgewählten Vorbilder aufgrund ihres hohen Alters in „öffentlichen Besitz“ übergegangen – der Maler spricht, wie bereits erwähnt, von einem „magazine of common property, always open to the public“.29 Zum anderen liegt die Schwierigkeit der Nachahmung nicht nur in der klugen Auswahl der Modelle; sie besteht auch in der Fähigkeit des Malers, sie in geschickter Weise neu zu kombinieren. Dies deutet Reynolds etwa bezüglich der ,Entlehnungen‘ an (Taf. XXIV), die Raffael bei Figuren vorgenommen habe, die damals Masaccio zugeschrieben wurden (Taf. XXV): „[…] he has given more animation to the figure […] which is introduced in the picture of St. Paul preaching, of which little more than hints are given by Masaccio, which Raffaelle has finished. The closing the eyes of this figure, which in Masaccio might be easily mistaken for sleeping, is not in the least ambiguous in the cartoon: his eyes indeed are closed, but they are closed with such vehemence, that the agitation of a mind perplexed in the extreme is seen at the first glance; but what is most extraordinary, and I think particularly to be admired, is, that the same idea is continued through the whole figure, even to the drapery, which is so closely muffled about him, that even his hands are not seen; by this happy correspondence between the expression of the countenance, and the disposition of the parts, the figure appears to think from head to foot. Men of superior talents alone are capable of thus using and adapting other men’s minds to their own purposes, or are able to make out and finish what was only in the original a hint or imperfect conception.“30

Für Reynolds steht die Fantasie im Zentrum aller künstlerischen Praxis. Sie ist Zweck und Mittel der Kunst. Ihr Zweck, da, wie der Maler es in seiner vierten Rede ausdrückt, „[t]he great end of the art is to strike the imagination“31. Aber auch ihr Mittel, denn gerade durch die kombinatorische Tätigkeit seiner Fantasie soll ein guter Maler von seinem Gedächtnis Gebrauch machen. Was würde geschehen, wenn ein Maler sich damit begnügte, sich auf sein Gedächtnis zu verlassen? Er gliche dann dem italienischen Maler Carlo Maratta: „[…] Carlo Maratti, […] in my opinion, had no great vigour of mind or strength of original genius. He rarely seizes the imagination by exhibiting the higher excellencies, nor does he captivate us by that originality which attends the painter who thinks for himself. He knew and practised all the rules of art, and from a composition of Raffaelle, Carracci, and Guido, made up a style, of which the only fault was, that it had no manifest defects and no striking beauties; and that the principles of his composition are never blended together, so as to form one uniform body, original in its kind, or excellent in any view.“32 29 Siehe oben, Anm. 20. 30 Reynolds 1997 (wie Anm. 20), S. 220–221. 31 Ebd., S. 59. 32 Ebd., S. 85–86.

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Im Gegensatz zu Carlo Maratta, seiner Meinung nach ein Maler von ,Gemeinplätzen‘ (common-place painter), beweist Reynolds seinerseits – indem er die Komposition seines Jupiter als Kind (Abb. 1) auf Marattas Komposition des Jesuskinds33 stützt –, dass er eine einzigartige Figur erkennen, aber auch etwas anderes daraus gestalten kann. So wandelt er die ausgewogene Komposition seines Konkurrenten in eine fast furchterregende Szene um, in der die Allmacht des kleinen Gottes in seinem ungestümen Blick, aber auch in der Einheitlichkeit der Farbgebung zum Ausdruck kommt.

II. Das Gedächtnis der Maler Indem Erinnerung direkt an die Schlüsselfähigkeit der Fantasie gebunden und daher als assoziationistische Fähigkeit begriffen wird, führt diese Definition zur Revision einiger Grundlagen der Kunsttheorie und der künstlerischen Praxis, wie sie seit dem Beginn der italienischen Renaissance festgelegt worden waren.34 So sind vor jedem künstlerischen Schaffen Reynolds zufolge drei große Mythen zu kritisieren oder differenziert zu betrachten: die Neuartigkeit, die Inspiration und die Originalität. Es versteht sich von selbst, dass das Erinnern, seine Aus- und Einübung, eine Conditio sine qua non der künstlerischen Praxis darstellt: „It is indisputably evident that a great part of every man’s life must be employed in collecting materials for the exercise of genius. Invention, strictly speaking, is little more than a new combination of those images which have been previously gathered and deposited in the memory. Nothing can come of nothing. He who has laid up no materials can produce no combinations.“35

Reynolds zieht nun, und das radikal, die Konsequenzen aus dieser Bemerkung, indem er zunächst in scheinbar paradoxer Weise unterstreicht, dass die Originalität das Produkt der Nachahmung sei: „Raffaelle began by imitating implicitly the manner of Pietro Perugino, under whom he studied; hence his first works are scarce to be distinguished from his master’s; but soon forming higher and more extensive views, he imitated the grand outline of Michael Angelo; he learned the manner of using colours from the works of Leonardo da Vinci, and Fratre Bartolomeo: to all this he added the contemplation of all the remains of antiquity that were within his reach; and employed others to draw for him what was in Greece and distant places. And it is from his having taken so many models, that he became himself a model for all succeeding painters; always imitating and always original.“36

33 Siehe zu diesem Bild die Angaben in Anm. 4. 34 Vgl. Gombrich 1942 (wie Anm. 22); Ralph Dekoninck, Agnès Guiderdoni-Bruslé und ­Nathalie Kremer (Hg.), Aux limites de l’imitation: l’ ,ut pictura poesis‘ à l’épreuve de la matière (XVIe–­ XVIIIe siècles), Amsterdam 2009; Tom Huhn, Imitation and Society: The Persistence of Mimesis in the A ­ esthetics of Burke, Hogarth, and Kant, University Park, PA, 2014 (Erstausgabe University Park, PA, 2004). 35 Reynolds 1997 (wie Anm. 20), S. 27. 36 Ebd., S. 103–104.

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Wenn die Neuartigkeit nur aus einer Rekombination vorheriger Stoffe resultiert, dann speisen sich die Quellen der Erfindung (das, was wir heute in einer anachronistischen Ausdrucksweise als ,Einfallsreichtum‘ oder ,Kreativität‘37 bezeichnen würden) selbst aus anderen Quellen als denen der Inspiration oder der Originalität. Während die Erinnerung dem Bereich des Bewahrens, ja sogar des Konservativismus, angehört, verweist die Fantasie auf das Erschaffen von etwas Neuartigem und fördert die Herausbildung einer persönlichen maniera. Und so kann man sich gemäß Reynolds von den vom Inneismus geprägten Fiktionen einer quasi heiligen Inspiration lösen, die es einigen Künstlern ermögliche, die Ideen für ihre Werke allein zu finden. Reynolds führt weiter aus: „But to bring us entirely to reason and sobriety, let it be observed, that a painter must not only be of necessity an imitator of the works of nature, which alone is sufficient to dispel this phantom of inspiration, but he must be as necessarily an imitator of the works of other painters. This appears more humiliating, but it is equally true; and no man can be an artist, whatever he may suppose, upon any other terms. However, those who appear more moderate and reasonable allow that study is to begin by imitation, but that we should no longer use the thoughts of our predecessors when we are become able to think for ourselves. They hold that imitation is as hurtful to the more advanced student as it was advantageous to the beginner. For my own part, I confess I am not only very much disposed to lay down the absolute necessity of imitation in the first stages of the art, but am of opinion that the study of other masters, which I here call imitation, may be extended throughout our whole life without any danger of the inconveniences with which it is charged, of enfeebling the mind, or preventing us from giving that original air which every work undoubtedly ought always to have. I am, on the contrary, persuaded that by imitation only, variety, and even originality of invention is produced.“38

Wie soll man also erfinderisch und ,kreativ‘ sein, wenn alles schon gesagt wurde und es nichts Neues unter der Sonne gibt? Für Reynolds wurde zwar tatsächlich alles bereits gesagt, jedoch nicht auf jede erdenkliche Weise. Ein und dieselbe Quelle, aus dem Gedächtnis der Kunstgeschichte geschöpft, kann sehr verschiedene Werke hervorbringen. Das war 1773 und 1774 der Fall, einige Monate bevor Reynolds seine akademische Rede über das ,Entlehnen‘ hielt, als Benjamin West (Abb. 2) und Johann Heinrich Füssli (Abb. 3) nacheinander eine Variante des Gemäldes Der Tod des Germanicus von Nicolas Poussin (Abb. 4) präsentierten. Zweifelsohne entschied sich West zunächst aus ikonografischen und typologischen Gründen, in seinem Tod des Epaminondas auf das Bild des römischen Malers anzuspielen. So erzählen die beiden Werke eine ähnliche Geschichte: die eines familiären und politischen Clans, der sich unter den Tugenden und Werten eines sterbenden Einzelnen versammelt und erstarkt. Bei Füssli hingegen ist der Bezug ausdrücklicher. Sein Tod des Kardinals Beaufort erlaubt es ihm, eine expressivere und dynamischere neue Lesart von Poussins Gemälde vorzulegen, wie es dann auch Reynolds selbst 1789 in seiner eigenen Version des Shakespeare’schen Themas tun wird.39 37 Caroline Osborn, Pam Schweitzer und Angelika Trilling, Erinnern. Eine Anleitung zur Biographiearbeit mit alten Menschen, Freiburg im Breisgau 1997; David Mayernik, The Challenge of Emulation in Art and Architecture: Between Imitation and Invention, Farnham 2013. 38 Reynolds 1997 (wie Anm. 20), S. 95–96. 39 1789, Öl auf Leinwand, 218,5 × 157,5 cm, National Trust, Petworth House. Vgl. Mannings und Postle 2000 (wie Anm. 3), Bd. 1, Nr. 2063.

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2  Benjamin West, Der Tod des Epaminondas, 1773, Öl auf Leinwand, 222 × 179 cm, Buckingham Palace, London

Diese Neuerschaffung der Erinnerung an die großen Meister setzt paradoxerweise Zeit voraus, weil sie auf Kombinatorik basiert. Gerade aufgrund und während der Zeitspanne einer beständigen und geduldigen Arbeit mit den Vorbildern ist es dem genialen Künstler möglich, sich schrittweise von den von ihm bewunderten Quellen zu entfernen, indem er durch den Vergleich erkennt, was ihn von ihnen unterscheidet. Aus diesem Grund sind für Reynolds die Künstler, die schnell malen, oft auch diejenigen, die am häufigsten Gemeinplätze produzieren, selbst wenn sie die Illusion einer fruchtbaren und originellen Schöpfung erzeugen können.40 Jedoch liefert Reynolds keine Anleitung, wie man das Gedächtnis am besten aktiviert. Er begnügt sich allerdings auch nicht damit zu fragen, welchen Platz das Gedächtnis im praktischen Schaffen der Maler einnimmt. Er betont auch die Bedeutung, die dem Gedächtnis der Bildbetrachter zuzumessen sei. Er stellt zum Beispiel fest, dass die Bilder von Nicolas Poussin schwerwiegende formale Mängel aufwiesen. So unterstreicht er, dass in diesen Werken „there is not the least traces to make us think that what we call the keeping, the composition of light and shade, or distribution of the work into masses, claimed any part of their attention“. Trotzdem konstatiert Reynolds, dass diese Mängel zahlreiche Betrachter nicht davon abgehalten hätten, die Werke des römischen ­Meisters 40 Reynolds 1997 (wie Anm. 20), S. 214.

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3  Johann Heinrich Füssli, Der Tod des Kardinals Beaufort, 1772, Feder laviert, 65 × 81,9 cm, Walker Art Gallery, Liverpool

4  Nicolas Poussin, Der Tod des Germanicus, 1627, Öl auf Leinwand, 148 × 198 cm, The Minneapolis Institute of Arts, Minneapolis

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zu bewundern. Reynolds zufolge liegt dies daran, dass „Poussin’s works, as I have formerly observed, have very much the air of the ancient manner of painting“, die „from the association of our ideas“ und durch „the prejudice we have in favour of antiquity“ den Geschmack dazu bringe, das zu bewundern, was er anderswo verdammt hätte.41

III. Die Frage der Wirkungskraft Zwei Aspekte dieser Argumentation verdienen es, hervorgehoben zu werden. Der erste betrifft das, was man das „kollektive Gedächtnis“ des Publikums nennen könnte.42 Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen glaubt Reynolds nicht, dass das breite Publikum, selbst wenn es sich nicht aus Kennern zusammensetzt, unbedingt unwissend ist. Das Publikum ist, um hier den Philosophen Gaston Bachelard zu paraphrasieren, „so alt wie seine Vorurteile“.43 Die Frage der Vorurteile nimmt in der Theorie Reynolds’ und seiner Zeitgenossen einen besonders wichtigen Platz ein – auch wenn man betonen muss, dass der Präsident der Royal Academy seine Meinung zu diesem Thema änderte. So stellt er in seinem dritten Diskurs von 1770 fest: „The painter […] must divest himself of all prejudices in favour of his age or country; he must disregard all local and temporary ornaments, and look only on those general habits that are everywhere and always the same. He addresses his works to the people of every country and every age.“44

Hier argumentiert Reynolds mit dem Verweis auf die Nachwelt. Der wahre Maler wendet sich demnach nicht an seine Gegenwart. Vielmehr richtet er sich an die Vergangenheit, indem er, wie Nicolas Poussin, mit den antiken Künstlern in einen Dialog tritt, und er richtet sich an die Zukunft, indem er Werke schaffen möchte, die von den Launen der Mode möglichst unabhängig sind. Im Laufe der Jahre aber räumte Reynolds schließlich auch theoretisch ein, was er praktisch schon begriffen hatte. So heißt es in seinem siebten Diskurs von 1776: „Some attention is surely required to what we can no more get rid of than we can go out of ourselves. We are creatures of prejudice; we neither can nor ought to eradicate it; we must only regulate it by reason, which regulation by reason is, indeed, little more than obliging the lesser, the local and temporary prejudices, to give way to those which are more durable and lasting.“45

Die von Reynolds hier hervorgehobene Regulierung bedeutet nicht das Akzeptieren dessen, was ist. Ihre Leistung ist allerdings eher reformatorisch als revolutionär. Wie 41 Ebd., S.125. 42 Vgl. zum Konzept des kollektiven Gedächtnisses Maurice Halbwachs, La Mémoire collective, Paris 1997 (Erstausgabe Paris 1950); Georges Comet, Antoine Lejeune und Claire Maury-Rouan (Hg.), Mémoire individuelle, mémoire collective et histoire, Marseille 2008; Eviatar Zerubavel, Time Maps: Collective Memory and the Social Shape of the Past, Chicago 2003; Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-­ Seroussi und Daniel Levy (Hg.), The Collective Memory Reader, New York 2011. 43 Gaston Bachelard, La Formation de l’esprit scientifique, Paris 1993 (Erstausgabe Paris 1938), S. 14. 44 Reynolds 1997 (wie Anm. 20), S. 48–49. 45 Ebd., S. 140.

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Hans Robert Jauß mit seiner Theorie des ,Erwartungshorizonts‘ erklärt Reynolds seinen Kollegen und den Schülern der Royal Academy die Notwendigkeit, die Erwartungen ihres Publikums zu verstehen. Nur durch eine Analyse der unausweichlichen Werte des „kollektiven Gedächtnisses“ können Maler später die Erwartungen erfüllen, indem sie dem Publikum anbieten, was es vorfinden möchte; oder sie können es in seinen Erwartungen überraschen, indem sie subtil auf andere Bereiche des historischen Gedächtnisses anspielen. Am Beginn seiner Karriere orientierte sich Reynolds an der für Thomas Hudson und Allan Ramsay typischen Technik und nahm zudem häufig auf die Posen des im 18. Jahrhundert hoch angesehenen Porträtmalers Anthonis van Dyck Bezug. Mit diesem Verfahren war er bei seinen ersten Auftraggebern sehr willkommen und wurde schon in jungen Jahren zu einem der meistgeschätzten Porträtisten der Londoner Kunstszene. Dennoch gab sich der Künstler mit seinen Bildern nicht vollkommen zufrieden. Sie waren ihm zu stark an die Gemeinplätze der Gattung gebunden und zu wenig von den herausragenden Vorbildern der großen Meister geleitet. Er strebte danach, ihnen mehr Größe zu geben. So entschied er, das kollektive Gedächtnis seiner Betrachter einzubeziehen und sie dabei zugleich in ihrem Erwartungshorizont zu überraschen, indem er Vorbilder wählte, die sie kannten, jedoch nicht in einem Porträt erwarteten. Dies betrifft bekanntermaßen etwa die Pose des Apoll vom Belvedere im Porträt des Admirals Augustus Keppel46 oder, wie im Porträt der Elizabeth Gunning, Duchess of Hamilton and Argyll, die Schlichtheit des Gewands, die an einen antiken Faltenwurf erinnert, ohne direkt auf eine bestimmte Statue Bezug zu nehmen (Taf. XXVI). In keinem dieser Werke jedoch tritt Reynolds als Plagiator auf. So bindet er im Porträt Keppels die Figur des Admirals in die Szenerie einer wilden und erhabenen See ein und betont so die Funktion und den Mut seines Modells.47 Das Porträt der Lady Hamilton wiederum ist durch das dichte, konzentrierte Kolorit, das mit einem recht freien Pinselstrich aufgetragen ist, ohne jede Kälte oder Sprödigkeit. Und dennoch geht es darum, die kollektive Vorstellung zu berücksichtigen, mit der der Maler spielt: Es gelingt ihm – und das ist kein geringes Paradox –, durch eine Wiederholung etwas Neuartiges zu erzeugen.

IV. Fazit Die von Hone 1775 geäußerte Kritik an der Kunst und Kunsttheorie von Reynolds entspringt folglich entweder bösem Willen oder Unwissenheit. Im einen wie im anderen Fall beruht sie vor allem auf einem Unverständnis hinsichtlich der Funktion des Gedächtnisses in der künstlerischen Praxis des 18. Jahrhunderts. So lässt Hone drei Dimensionen unbeachtet, die ich in diesem Artikel darzustellen versucht habe. Die erste dieser Dimensionen, die allen Gedächtnisprozessen eigen sind, ist im Wesentlichen 46 1752–1753, Öl auf Leinwand, 239 × 147,5 cm, National Maritime Museum, Greenwich. 47 Blanc 2015 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 179, 183, 299, 307.

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assoziationistisch. Sie macht es einem Individuum fast unmöglich, das Produkt seiner Erinnerungen nicht umzubilden. Zugleich macht sie es auch unmöglich, die Erinnerungen nicht zusammen mit den Lebensumständen und Lebensereignissen ins Gedächtnis zu rufen, mit denen sie eigentlich verbunden waren. Die zweite Dimension ist die Erinnerungspraxis der Maler, die zum einen das einfache Wiederholen verwendeter Formeln und zum anderen die Suche nach einer unauffindbaren Originalität vermeiden soll. Und die dritte ist das Gedächtnis der Betrachter, die Conditio sine qua non, die geniale Künstler berücksichtigen müssen, wenn sie ihren Werken die notwendige Wirkungskraft verleihen möchten. Die Frage nach dem willkürlichen oder unwillkürlichen Erinnern, die der Titel dieses Beitrags stellt, scheint aus dieser Sicht überholt. In gewisser Hinsicht hat für Reynolds jedes Erinnern in der Theorie und Praxis einen unwillkürlichen oder – wie man heute sagen würde – ,reflexhaften‘ Anteil, der den Erfolg oder Misserfolg eines Werkes mitbedingt. Insofern ähnelt der Maler, wie ihn Reynolds beschreibt und wie er ihn in seiner eigenen Praxis als Porträtist und Historienmaler erschaffen wollte, kurioserweise dem Psychoanalytiker, wie ihn Sigmund Freud theoretisch entworfen hat. Er muss sich der von ihm verwendeten Vorbilder voll bewusst sein, so wie der Analytiker die Mechanismen des Unbewussten kennen und analysieren muss.48 Aber zugleich hat er gegenüber seinen Vorbildern Distanz zu wahren, vergleichbar der ,gleichschwebenden Aufmerksamkeit‘, die es dem Psychoanalytiker und seinem Patienten erlaubt, unvermittelte, unerwartete Assoziationen zu finden, die mehr sagen als lange Erörterungen und aus dem Gedächtnis ungeahnte Schätze hervorholen. Die Tür ist somit geöffnet für eine neue und letzte Assoziation – die der Funktionsweise der Erinnerung mit ihren dunklen und unbewussten Fundamenten.

48 Olivier Bonard, Le surmoi, avocat du ça. La pulsion dans le jeu des instances, in: Tribune psychanalytique 6 (2005), S. 239–252.

Michael Thimann

Gedächtnis und Gefühl Bilderbibeln im 18. Jahrhundert

Nicht die Encyclopédie, nicht Rousseaus Émile ou De l’éducation, auch nicht Kants Kritik der reinen Vernunft sind im Aufklärungsjahrhundert die meistgelesenen Bücher gewesen, sondern nach wie vor die Bibel. Dass sich die Frage nach der Rolle von Bild und Gedächtnis auch im Falle der an Bildern reichen Sprache der Bibel im 18. Jahrhundert immer wieder kritisch wie affirmativ gestellt hat, verwundert kaum. Findet sich doch in diesem Jahrhundert ein erhöhtes Bildbewusstsein in unterschiedlichen Wissensgebieten, sei es in der Altertumskunde, in der Naturkunde oder in der Darstellung moralischer Inhalte. Die Bibel blieb das Grundbuch moralischer Unterweisung und ihre Illustration der Königsweg, ein kollektives christliches Bildgedächtnis zu konstituieren. Gerade im Verlauf des späteren 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert wurde die Frage, wie die Bibel angemessen illustriert und Buchobjekte geschaffen werden können, bei denen den Bildern gar eine höhere Priorität als dem Text zukomme, intensiv erörtert.1 Insbesondere in der religiösen Kinder- und Jugenderziehung wurden Bilderbibeln in allen Konfessionen verwendet.2 Im vorliegenden Beitrag sollen Wege aufgezeigt werden, wie dabei mit dem Thema der Bilderbibel vom Gedächtnistheater hin zu einer reflektierten Neubestimmung des Materials umgegangen wurde. Damit wird das Problem fokussiert, ob im Falle der illustrierten Bibel der Wandel von einer mehr rhetorisch hin zu einer sentimental bestimmten Gedächtniskultur beschrieben werden kann.

1 Zu den Bilderbibeln, insbesondere zu Julius Schnorrs Bibel in Bildern und der Entwicklung des Buchtypus im 19. Jahrhundert, vgl. Adolf Schahl, Geschichte der Bilderbibel von Julius Schnorr von Carolsfeld, Diss. Universität Leipzig, Leipzig 1936; Irmgard Feldhaus und Jutta Assel (Hg.), Julius Schnorr von Carolsfeld. Die Bibel in Bildern und andere biblische Bilderfolgen der Nazarener (Ausst. Kat. Neuss, Clemens-Sels-Museum), Neuss 1982; Sigrid Nagy, Julius Schnorr von Carolsfelds Bibel in Bildern und ihre Popularisierung (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 70), Würzburg 1999; Michelle Grund, „Die neuen Evangelisten“. Bilderbibeln und andere christlich-religiöse Graphikfolgen des späten 19. Jahrhunderts, Berlin 2006. 2 Vgl. dazu mit der älteren Forschungsliteratur vor allem Christine Reents und Christoph Melchior, Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch (Arbeiten zur Religions­ pädagogik 48), Göttingen 2011.

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Johann Hübners Biblische Historien als Gedächtnistheater Am Beginn steht die wohl bedeutendste Bilderbibel des 18. Jahrhunderts, die bis weit in das 19. Jahrhundert gewirkt hat und immer wieder, nämlich etwa 200-mal, aufgelegt wurde. Das Bildgedächtnis des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der biblischen Historien dürfte kaum ein anderes Buch so sehr stimuliert haben wie dieses. Es handelt sich um Johann Hübners Zweymahl zwey und funffzig auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, erstmals erschienen 1714.3 Johann Hübner war ein orthodoxer Protestant und Polyhistor des 18. Jahrhunderts, der als Schulmeister zunächst in Leipzig und Merseburg, zuletzt aber am Hamburger Johanneum wirkte. Hübner war Lutheraner, und diese Position liegt auch seiner Bibeldeutung zugrunde, ohne dass hier vertieft auf den theologischen Kontext seiner Christologie eingegangen werden kann.4 Die Biblischen Historien waren als ein Kinderbuch gedacht, mit dessen Hilfe die Geschichten des Alten und Neuen Testaments als exempla in das Gedächtnis der Kinder eingeprägt werden sollten, um dann als Beispielmaterie im Katechismus-Unterricht abgerufen werden zu können. Der Aufbau der Biblischen Historien folgt daher rhetorischen Mustern, indem der Bibeltext stark verkürzt und in eine exempla-Sammlung umgewandelt wurde. In insgesamt 104 Kapitel teilte Hübner die Bibel ein und wählte die bedeutendsten Geschichten aus. Diese hat er wiederum immer nach demselben Schema strukturiert (Taf. XXVII–XXVIII). Einer kurzen Prosazusammenfassung, der abschnittsweise Fragen beigegeben sind, die sich auf Wissensinhalte des Textes beziehen, folgen „Nützliche Lehren“ als propositionale Aussagesätze und zuletzt „Gottselige Gedancken“, die wiederum einen eher empfindsamen Zugang zur Bibelweisheit eröffnen. Das Gedächtniskonzept von Hübners Biblischen Historien offenbart sich dabei vor allem in der katechetischen Frage-Antwort-Struktur. Durch Nachfragen und kurze Antworten soll sich der Gehalt des Textes im Gedächtnis der Kinder einprägen und im richtigen Moment aus der memoria hervorgeholt werden können. Sehr differenziert legt Hübner seine „Methode“ im Vorwort der Biblischen Historien dar. Jedes Kind habe vom Schöpfer ein „Gedächtnis“ empfangen, zudem noch „Verstand“ und „Willen“.5 Die Kinder sollen die Historien jedoch nicht auswendig lernen, sondern diese jeweils eine Woche lang regel3 Hier benutzte Ausgabe: Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien Aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset (Leipzig 1731). Mit einer Einleitung und einem theologie- und illustrationsgeschichtlichen Anhang, hg. von Rainer Lachmann und Christine Reents, Hildesheim/Zürich/New York 1986. Umfassend zur theologischen und religionspädagogischen Bedeutung des Werkes siehe Christine Reents, Die Bibel als Schul- und Hausbuch für Kinder. Werkanalyse und Wirkungsgeschichte einer frühen Schul- und Kinderbibel im evangelischen Raum: Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien, der Jugend zum Besten abgefasset … Leipzig 1714 bis Leipzig 1874 und Schwelm 1902 (Arbeiten zur Religionspädagogik 2), Göttingen 1984. 4 Vgl. dazu Christine Reents, Johann Hübners Biblische Historien nach ihrem erziehungs- und theologiegeschichtlichen Hintergrund, ihrem Autor und ihren theologischen Grundlagen, in: Hübner 1986 (wie Anm. 3), S. 1–22. 5 Hübner 1986 (wie Anm. 3), fol. 2v.

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mäßig lesen. Die Fragen dienen dazu, dass sich das Kind aus der Historie selbst den Rat holt und nicht stumpfsinnig die Antworten auswendig lernt. Wiederholtes Lesen habe dann die Historie dem „Gedächtnis eingedrückt“,6 doch werde das Kind durch „Memoria“ allein nicht klüger. Nun bedürfe es nämlich des „Verstandes“ in Form der nützlichen Lehren. Drei Lehren formuliert Hübner pro Historie, womit das Kind den Verstand in der Bibelhermeneutik schulen könne. Doch werde es allein dadurch noch nicht frommer: Es bedürfe des „Willens“ oder des „Herzens“ des Kindes, um es dazu zu bringen, das Gute zu erwählen.7 Hierzu dienen dann die beigegebenen Verse, nicht zuletzt weil die Poesie eine direkt zum Herzen gehende Sprache sei. Der Pädagoge Hübner begriff die Bibel als ein moralisches Lehrbuch, in dem die biblische Welt als ein christlicher Tugendspiegel aufbereitet wird. Im Neuen Testament steht daher die Figur des auf der Erde wandelnden Jesus im Zentrum, das heißt nicht der verklärte Christus, sondern die irdische Natur Jesu als Weisheitslehrer, Krankenheiler und in Gleichnissen sprechender Philosoph. Schon als Mensch, so Hübners Überzeugung, solle man dem Menschen Jesus in moralischer Hinsicht nachahmen. Hübners Biblische Historien sind ab der Ausgabe letzter Hand von 1731 immer bebildert erschienen.8 Es gab mehrere Serien, doch traditionsbildend wurde die Serie von 104 Kupferstichen, die 1731 das erste Mal erschien. Kein Wort des Autors oder des Herausgebers jedoch über die Funktion dieser Bilder. Sie waren offensichtlich eine rein verlegerische Zutat, um das Buch für den Markt attraktiver zu machen. Hübner hat sein biblisches Gedächtnistheater wohl ohne materielle Bilder gedacht. Bilder sind für ihn bei der religiösen Unterweisung nicht gänzlich uninteressant, aber gemäß protestantischer Wort- und Verstandesreligion eher als Adiaphora zu bezeichnen: als zwar nützliche, aber gleichgültige und zuletzt doch verzichtbare Nebendinge. Dennoch sind Hübners ­Biblische Historien gerade als illustrierte Bilderbibel zu Erfolg gekommen. Jede biblische Historie wird von einem Kupferstich eingeleitet, der meistens zu Beginn, gegenüber der jeweiligen Kapitelüberschrift, steht (Taf. XXIX). Es handelt sich bei den Kupferstichen um kleine Historienbilder, die teilweise unter Einsatz von Simultanszenen nicht nur den einen Moment der Historie, sondern die gesamte Narration im Bild wiedergeben. Diese Art von Sammelbildern folgt der Tradition der sogenannten argumenta, kurzer Inhaltszusammenfassungen, wie sie gerade bei Klassikerausgaben seit dem 16. Jahrhundert beliebt waren.9 Die Bilder als Beigaben fügen sich in das rhetorische Buchkonzept. Sie sind selbst exempla und dienen als Verstärker der diskursiven Unterweisung. Auch wenn

6 Ebd., fol. 3v. 7 Ebd., fol. 5r. 8 Vgl. dazu Rainer Lachmann, Bebilderungen und Bebilderungstraditionen zu Johann Hübners Biblischen Historien, in: Hübner 1986 (wie Anm. 3), S. 23–85. 9 Vgl. dazu Michael Thimann, Figura, paragone, argumentum. Zur Funktion der Illustrationen in gedruckten Ovidausgaben des 16. Jahrhunderts, in: Hannah Baader, Ulrike Müller Hofstede, Kristine Patz und Nicola Suthor (Hg.), Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München 2007, S. 335–356.

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es von Hübner nicht explizit formuliert worden ist: In der Praxis dürften vor allem die Bilder das Gedächtnis der kindlichen Leser stimuliert haben, da das simultan erfassbare Bild bekanntlich schneller an die Sinne spricht als die sukzessiv zu lesenden Worte. Deutlich wird aber, dass die Bebilderung von Hübners Biblischen Historien, so erfolgreich sie war, zentrale Probleme in kunst- und bildtheoretischer Hinsicht offenließ. Neben dem offenkundigen Qualitätsproblem der Kupferstiche blieb nämlich die Frage ungeklärt, welche die Funktion der Bilder für das Gedächtnis sein und wie Bibelkenntnis durch Bilder schneller und unmittelbarer vermittelt werden könne als durch das diskursive Medium der Sprache.

Kinder als Betrachter. Schellenbergs Biblische Geschichten 1774 bis 1779 veröffentlichte der Maler und Illustrator Johann Rudolph Schellenberg in Winterthur seine je 60 Biblischen Geschichten des alten (und neuen) Testaments in K ­ upfer 10 geäzt zu biblischen Erzählungen von Johann Caspar Lavater (Abb. 1). Das Projekt war der Versuch eines Nichttheologen, eine Bilderbibel zu schaffen, die sich explizit an ­K inder richten und dem Missstand abhelfen sollte, der sich durch Bilder von sehr geringer Qualität – hier hatte Schellenberg möglicherweise direkt die erfolgreichen Bibli­ schen Historien Johann Hübners vor Augen – verbreitet habe. Dabei ging es Schellen­ berg vor allem um die Fehler hinsichtlich des Kostüms und den Mangel an Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, welche die zeitgenössischen Bibelkupfer aufwiesen, die es aufgrund dieses Mangels nicht schafften, die Szenen aus vergangener Zeit angemessen zu vergegenwärtigen. Schellenberg kopierte und kompilierte seine Bilder aber vornehmlich aus verschiedenen Quellen der bildlichen Überlieferung.11 Der Seitenaufbau folgt dabei immer demselben Schema, wobei ein fast quadratisches Bildfeld mit der biblischen Histo­r ie von einem kurzen Prosatext begleitet wird (Taf. XXX). Man könnte tendenziell von einer Dominanz des Textes sprechen. Dabei ist zu beachten, dass Lavaters biblische Erzählungen als Text bereits vorlagen und der appellative Charakter dieser kurzen Prosa­stücke die Bildproduktion stimuliert hat. Lavaters kindlich-naiven Ton, seine Emphase mit vielen Fragen und Ausrufen sowie den teilweise bildlich-ekphrastischen Stil seiner Bibelimagination, als würde er selbst Bilder beschreiben, die er vor sich sieht, hat Schellenberg genutzt, um die Szenen zu komponieren respektive geeignete Muster auszuwählen. Wie im Falle der Geburt Jesu (Taf. XXXI) wird das Kind durch den Text auf die entscheidenden Bildelemente hingewiesen:

10 Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des alten Testamentes in Kupfer geäzt, Winterthur 1774; Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Historien des neuen Testamentes in Kupfer geäzt, Winterthur 1779. Zum Problem siehe vor allem Lachmann 1986 (wie Anm. 8), S. 50–51; Stefan Mario Huber, Für die Jugend lehrreicher. Der religionspädagogische Wandel des Bildes des Kindes in Schweizer Kinderbibeln in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 363–524. 11 Vgl. die Nachweise bei Huber 2013 (wie Anm. 10), S. 427–461.

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1  Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des neuen Testaments in Kupfer geäzt, Winterthur 1779, Titelblatt „Siehst du dieses Kind? diesen Stall? diese Armuth? – Das Kind ist Jesus! der unlängst auf dem höchsten Throne des Himmels, in höchster Herrlichkeit, von allen Engeln angebethet ward, er ist ein Menschenkind worden, [Maria hat ihn geboren; wie sie staunt, und dankt und anbethet in der tieffsten Stille ihres Herzens über die unbegreifliche Gnade, daß sie den Sohn des Allerhöchsten gebahr.] Und ihr Mann, der fromme Joseph, kann das sanft schlummernde, himmlisch-liebliche Kind nicht genug ansehen.“12

Die Bilder sollen dem Kind an die Seele sprechen und sich dem Gedächtnis einprägen. Das radierte Titelbild (Abb. 2) zeigt in einer fingierten Historienszene den pädagogischen Zweck der Unterweisung. Eine junge Frau, augenscheinlich die Mutter dreier Kinder, aber rein habituell eher eine Allegorie der Erziehung als eine natürliche ­Person, steht 12 Schellenberg 1779 (wie Anm. 10), Taf. 4.

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2  Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des neuen Testaments in Kupfer geäzt, ­Winterthur 1779, Titelblatt (Detail)

mit diesen vor der bildlichen Szene einer Kreuzigung, in deren Betrachtung die Kinder andächtig versunken sind. Wichtig ist hier der Zeige- und Redegestus der Frau, denn es ist ihre moralische Unterweisung, welche die Szene erst erhellt und ihren Gehalt dem Gedächtnis der Kinder einprägt, so wie es Schellenberg in seinem kurzen „Vorbericht“ formuliert hat.13 Er denkt sich die Benutzung einer Bilderbibel nämlich als eine gewissermaßen interaktive Bildbetrachtung, wobei die Erzieher durch Erklärungen den Bildern erst ihren spirituellen Gehalt einhauchen und gewissermaßen das Defizit des Bildes durch Sprache ausgleichen: „daß weise Väter, Mütter und Lehrer, wenn sie den Kindern diese Bilder vorweisen – Geist und Leben darein bringen und das vergüten und nachholen, was der Zeichner entweder nicht leisten konnte, oder nicht leistete.“14 Schellen­ berg hat das Verhältnis von Wort und Bild in seinen Biblischen Geschichten differenziert durchdacht und abgestimmt. Die religionspädagogische Gedächtnisschulung beruht in diesem Werk auf der Korrelation von repräsentierenden Historienbildern und empfindsamer Sprache, welche mit ekphrastischen Elementen den Bildinhalt als Wissens­inhalt verstärkt und dem Gedächtnis einprägt. Zudem hat Schellenberg den Moment der Vermittlung durch den jeweiligen Erzieher als ‚Denkraum‘ zwischen Wort und Bild, in dem die erklärende Ratio wirkt, bei der Konzeption seiner Bilderbibel mitbedacht. 13 Vgl. den dreiseitigen „Vorbericht“ in Schellenberg 1774 (wie Anm. 10), unpag. 14 Hier zitiert nach Lachmann 1986 (wie Anm. 8), S. 51.

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Lavaters Bildkritik Johann Caspar Lavater publizierte zwischen 1783 und 1786 eine bedeutende Bibeldichtung, Jesus Messias. Oder Die Evangelien und Apostelgeschichte, in Gesängen.15 Diese Messiade ist eine poetische Vergegenwärtigung der Bibel und durchweg ein Produkt der literarischen Empfindsamkeit. In ihr verbinden sich mit der religiösen Reflexion über Jesu Leben und Wirken und die Gründung der Urgemeinde immer Passagen von äußerster poetischer Dichte, in denen der knappe biblische Bericht in bilderreicher Sprache ausgearbeitet wird.16 Die Dichtung ist der vollendete Ausdruck von Lavaters gefühlsbetonter und undogmatischer Christusfrömmigkeit, wonach jeder Mensch schon im irdischen Leben die in ihm vorhandenen göttlichen Kräfte wecken und zur Christusähnlichkeit gelangen könne. Der Theologe Lavater, für den die Bibel mit Christus als deren Mitte entgegen aller aufklärerischen Vernunft allein die „Wahrheit“ verkörperte,17 war der ­festen Überzeugung, dass die Kenntnis Christi keine Sache des Kopfes, sondern allein eine Sache des Herzens sei. In stilistischer Hinsicht entsprechen dem die „schwärmerische“ Erbaulichkeit und eine Daueremphase, die eine kritische Auseinandersetzung mit Lavaters religiösen Schriften, entgegen dem anhaltenden Interesse an dem Anthropologen und Physiognomiker, für lange Zeit als theologisch unseriös erscheinen ließ. Die Kenntnis Christi als eine Sache des Herzens: In dieser Perspektive reflektiert Lavater auch intensiv über die Funktion und Gestaltung von Bildern für die Vermittlung des Evangeliums. An Lavaters Jesus Messias ist nämlich nicht nur die Unternehmung einer groß angelegten Jesus-Dichtung, die 307 Gesänge in vier Bänden zu je 16 Büchern umfasst, bemerkenswert. Hinzu kommt, dass Lavater zu dem Werk eine Folge von 72 Kupferstichen und Radierungen, vornehmlich von Daniel Chodowiecki, aber auch von Illustratoren wie Johann Heinrich Lips, Johann Rudolph Schellenberg, Daniel Berger und anderen anfertigen ließ, die er zudem selbst kritisch kommentiert hat. Teilweise handelt es sich bei den Kupfern um Nachahmungen von Gemälden berühmter Meister wie Raffael und Rembrandt, oftmals aber auch um genuine Neuerfindungen. Der Jesus 15 Johann Caspar Lavater, Jesus Messias. Oder Die Evangelien und Apostelgeschichte, in Gesängen, 4 Bde. und Tafelband, Winterthur 1783–1786. Die 72 Illustrationen von Künstlern wie Chodowiecki, Lips, Schellenberg, Berger, Gmelin u. a. sind bisher noch nicht systematisch untersucht worden; die ausführlichste Analyse ausgewählter Blätter bei Joachim Kruse (Hg.), Johann Heinrich Lips 1758–1817. Ein Zürcher Kupferstecher zwischen Lavater und Goethe (Ausst.-Kat. Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg), Coburg 1989, S. 126–135, Kat.-Nr. 60–69. 16 Zu Lavater als Theologe mit weiterführender Literatur vgl. Gerhard Sauder, Artikel: Lavater, Johann Caspar, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg im Breisgau 1996, Sp. 692; Horst Weigelt, Artikel: Lavater, Johann Caspar, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 5, Tübingen 2002, Sp. 122–123; Gerhard Ebeling: Genie des Herzens unter dem genius saeculi – ­Johann Caspar Lavater als Theologe, in: Karl Pestalozzi und Horst Weigelt (Hg.), Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 31), Göttingen 1994, S. 23–60. 17 Vgl. Johann Caspar Lavater, Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst oder des Tagebuches Zweyter Theil, Leipzig 1773, S. XIX.

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3  „Das gewöhnliche Christusbild“, in: Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 4, Winterthur 1778, o. S. (vor S. 449)

Messias ist aber keine Bilderbibel, sondern der als Anhang publizierte Tafelband wirkt eher wie eine Materialsammlung für eine mögliche Bilderbibel der Zukunft, besitzt also gewissermaßen Projektcharakter. Denn es ging Lavater keineswegs um Illustrationen zu seiner Bibeldichtung im Sinne von Gedächtnishilfen, sondern es ging ihm bei jeder einzelnen Grafik um die Frage, ob das jeweilige Bild gelungen sei, den Inhalt wiederzugeben und den Betrachter verstandes- wie gefühlsmäßig zu erreichen. Die Tafeln stehen jeweils für sich, ihnen gegenüber findet sich in der Regel ein Blatt mit Schrift, die aber nicht die jeweilige biblische Historie resümiert, sondern als etwas gänzlich Unerwartetes genuine Bildkritik liefert. Jedes Bild wird von Lavater selbst äußerst knapp, aber damit umso prägnanter charakterisiert und auf seine Wirkungsästhetik hin untersucht. Dabei geht es Lavater vor allem um Fragen des angemessenen, würdevollen und auch schönen Ausdrucks, aber auch um Grundfragen der Komposition, der Figurendarstellung und der Einhaltung des religiösen decorum. Wie kaum anders zu erwarten, kreisen die Grundgedanken Lavaters dabei vor allem um das Christusbild selbst, dessen vollendeter Ausdruck für ihn zweifellos den Endpunkt physiognomischer Wissenschaft markierte (Abb. 3).18 Die physiognomische Praxis Lavaters wird hier gewissermaßen auf die biblische Historienmalerei übertragen, wie am Beispiel der Szene „Werdet wie die Kind18 Vgl. dazu Gerhard Wolf, „…sed ne taceatur“. Lavaters „Grille mit den Christusköpfen“ und die Traditionen der authentischen Bilder, in: Claudia Schmölders (Hg.), Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996, S. 43–76; Gerhard Wolf und Georg Traska, Povero Pastore. Die Unerreichbarkeit der Physiognomie Christi, in: Gerda Mraz und Uwe Schögl (Hg.), Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater (Edition Lavater 1), Wien 1999 S. 120–137.

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lein“ (Taf. XXXII) gezeigt werden kann, ein Kernthema protestantischer Ikonografie, das einen milden, kinderfreundlichen und lehrenden Jesus in Szene setzt: „Oder: Werdet, wie dieß Kindlein – eine Chodowieckische Komposition – die besser angelegt, als ausgeführt ist. In den apostolischen Gesichtern ist Aufmerksamkeit, Schaam, Mißvergnügen, und ruhige Freude. Das Kind ist kindlich und unschuldig – aber, es könnte edler und feiner seyn. Daß der Heiland, dessen Gesicht weder groß noch klein, weder wahr noch falsch ist, – Seine Blicke weder auf das Kind, von dem Er spricht, noch auf die Apostel, mit welchen Er spricht, richtet, ist ein Fehler, der nicht vergeben werden kann, den ich aber nicht dem Zeichner schuldgegeben wissen will.“19

Lavater konzentriert seine Bildkritik in diesem Fall auf den Ausdruck der Gesichter, die für ihn eine eher mittelmäßige Lösung markieren, sowohl was den einzelnen Ausdruck als auch den Zusammenhang der Komposition angeht. Bei „Jesus und Petrus auf dem Wasser“ (Taf. XXXIII) verschiebt sich der kritische Aspekt noch stärker auf die Kunst selbst: „Eine schwere – und, genau betrachtet, eine beynahe mißglückte Vorstellung. Petrus – freylich voll Schrecken, freylich sich ziemlich gut haltend an Christus – Aber sein Gesicht, wie grob, wie roh, wie entfernt der Mund von der Nase! Wie verzeichnet! Wie bloß galiläischer Fischer! Wie nicht der erste Apostel! Und warum schaut Er nicht an den Herrn hinauf! Warum das Natürlichste – das Zusammenstimmen der Komposition und der Blicke auf einen Punkt – so selten, so beynahe nie wahrgenommen? – Viel sagendes Gebrechen der Kunst! Wie charakteristisch für unser Zeitalter! – Christus – in der Gestalt, erträglich, im Munde gut, in Nase und Aug mittelmäßig, in der Stirn hart und starrsinnig. Von den Wällen sag’ ich nichts.“20

Daniel Bergers Vorlage wird von Lavater analysiert und kritisiert. Dieses bildkritische Verfahren kennzeichnet auch seine Physiognomischen Fragmente und dient letztlich der Verbesserung der Bilder. In der Summe ist der Tafelband also so etwas wie ein Entwurf für eine Bilderbibel der Zukunft, die Lavater nur als von echten Künstlern gemacht denken kann und deren Wert er wohl weniger auf die reine Gedächtnisfunktion und Lesehilfe als auf die optimale Ausdruckskraft hin prüft. Für Lavater sind die Bilder keineswegs nur Illustrationen, sondern sie sind komplementäre Bestandteile seiner poetischen Vision des evangelischen Berichts. Und hier spielt der Aspekt der Kunst, ganz anders als im Fall von Johann Hübners Biblischen Historien, in denen kein Wort über Qualität und Funktion der Bilder fällt, eine ganz entscheidende Rolle. Religiöse Ansprache und emotionale Rührung können nur durch gute Bilder erfolgen, weshalb Lavater explizit den Grad der künstlerischen Vollendung reflektiert. Vermutlich verband sich für Lavater der Aspekt der Kunst auch auf das Engste mit demjenigen der memoria. Denn Lavater erkannte, dass die künstlerische Umsetzung, die Qualität des Bildes, auch wesentlich für die Inhaltbestimmung ist, weshalb er selbst berühmte Künstler beauftragte, Bilder zu entwerfen und diese einer kritischen Präsentation zu unterziehen. Die kritische Diskussion ist dabei Teil von Lavaters genereller Bildkritik, die sich wesentlich um das Bild Christi als das ‚Bild der Bilder‘ drehte. 19 Lavater 1783–1786 (wie Anm. 15), Taf. VIII. 20 Ebd., Taf. IV.

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Bilderbibel-Projekte nach 1800 Nach Lavaters Jesus Messias ist keine Bilderbibel erschienen, die diesen emphatischen Impetus aufgenommen hätte. Erst um 1810, mit den von Friedrich Overbeck und Franz Pforr angeführten Lukasbrüdern in Wien, wurde das Thema der Bilderbibel erneut und unter veränderten Vorzeichen, nämlich denjenigen der „Wahrheit“ und der Echtheit des religiösen Empfindens, wieder bearbeitet. Es ist nicht nachweisbar, ja sogar eher unwahrscheinlich, dass Overbeck, der in der Frühzeit am intensivsten über das Projekt einer Bilderbibel nachgedacht und am meisten nach der Bibel komponiert hat, Lavaters Jesus Messias gekannt hat.21 Doch auch er erkannte die Bedeutung des Bildgedächtnisses für die Religion und die Kindererziehung und setzte nicht wenig Energie daran, bessere Bilder zur Bibel zu entwerfen, die sich aufgrund ihrer künstlerischen Qualität und emotional erfahrbaren Intensität dem Gedächtnis besser einprägen sollten. Schon Frank Büttner hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Frühzeit der Nazarener, bei aller Heterogenität der im Lukasbund versammelten Charaktere, protestantisch geprägt war, worauf die immer wieder zur Sprache kommenden Projekte von Bilderfolgen für Schulen und für die religiöse Erbauung der Laien hinweisen.22 Erst 1836 wurde solch eine – von Overbeck allerdings schon seit 1808 anvisierte – nazarenische Bilderbibel mit Friedrich Oliviers Volks-Bilder-Bibel realisiert (Abb. 4);23 die wohl erfolgreichste nazarenische Bilderbibel des 19. Jahrhunderts, die Bibel in Bildern von Julius Schnorr von Carolsfeld, erschien sogar erst zwischen 1852 und 1860.24 Doch war die Breitenwirkung durch grafische Reproduktion eines der großen nazarenischen Projekte bereits seit der Wiener Frühzeit des Lukasbundes. Schon 1808 war Overbeck in Wien von einer lokalen Schule angeboten worden, eine Bibel mit Kupfer­ stichen zu illustrieren, die ihren Einsatz in der österreichischen Provinz finden sollte. Für dieses Projekt war bereits von 50 bis 100 Blättern die Rede, womit man sich dem Umfang von Hübners Biblischen Historien angenähert hätte.25 Daraus wurde jedoch nichts, auch können wir keine der erhaltenen frühen Zeichnungen diesem oder einem 21 Vgl. die experimentelle Konfrontation von Lavater und Overbeck hinsichtlich des empfindsamen Bibelverständnisses bei Michael Thimann, Friedrich Overbeck und die Bildkonzepte des 19. Jahrhunderts (Studien zur christlichen Kunst 8), Regensburg 2014, S. 228–233. 22 Vgl. Frank Büttner, Die klugen und törichten Jungfrauen im 19. Jahrhundert. Zur religiösen Bildkunst der Nazarener, in: Städel-Jahrbuch 7 (1979), S. 207–230. Die Vorgänge um die geplante Bilderbibel sind oft referiert worden; die frühen Projekte der Lukasbrüder mündeten erst in den Bilderbibeln von Friedrich Olivier (1836) und Julius Schnorr von Carolsfeld (1852–1860) sowie in Overbecks Darstellungen aus den Evangelien (1852–1855). 23 Volks-Bilder-Bibel in funfzig bildlichen Darstellungen von Friedrich von Olivier. Nebst einem begleitenden Text von G. H. Schubert, Hamburg 1836. 24 Vgl. zur Entstehung von Schnorrs Bibel in Bildern im Kontext der Bibelillustration des 19. Jahrhunderts v. a. Ausst. Kat. Neuss 1982 (wie Anm. 1). 25 Brief von Friedrich Overbeck an die Mutter, Wien, 25. Juni 1808, zit. in: Paul Hasse, Aus dem Leben Friedrich Overbecks. Briefe an Eltern und Geschwister, in: Allgemeine Konservative Monatsschrift 45 (1887), S. 1189–1201, hier: S. 1190.

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4  Friedrich Olivier, ­Verkündigung an die Hirten, in: Volks-Bilder-Bibel in funfzig bildlichen Darstellungen von Friedrich von Olivier. Nebst einem begleitenden Text von G. H. ­Schubert, Hamburg 1836, Taf. V

vergleich­baren Projekt sicher zuordnen, da Overbeck gerade in der Wiener Frühzeit verschiedene biblische Bildspuren parallel laufen ließ. Dazu gehört auch das 1807 ins Auge gefasste Projekt, das gesamte Lukas-Evangelium zu illustrieren.26 1811 äußert sich Overbeck in Rom explizit zu dem Gedanken, eine Bilderbibel zu schaffen: „Jetzt aber beschäftigt mich vorzugsweise die Ausarbeitung eines Planes zu einem größeren Werke, das ich zu radiren denke, nämlich: eine Folge von Darstellungen aus dem Leben Jesu, von seiner Geburt bis zu seiner Himmelfahrt in 36 Blättern, und zwar zum Gebrauch für ­Schulen, weshalb ich eine kleine Probezeichnung an Pestalozzi geschickt und ihn um seinen Rath gebeten habe. Vor Kurzem erhielt ich denn auch von dort sehr lebhafte Aufforderung diese Ideen auszuführen. Das Werk soll meinem Plane nach aus 6 Abtheilungen, jede zu 6 Blättern be­stehen … Mein Hauptaugenmerk soll sein, soweit es in meinen Kräften steht, durch ein­ fache und würdige Vorstellungen den unverdorbenen Gemütern der Kinder Bilder einzuprägen, die sie gleichsam durch ihr Leben begleiten; und von dieser Seite betrachtet erscheint mir ein ­solches Werk als ein Unternehmen von großer Wichtigkeit. Ueber die Wahl der einzelnen Gegenstände bin ich noch nicht einig mit mir selbst.“27

26 Brief von Friedrich Overbeck an den Vater, Wien, 4. März 1807, zit. in: Hasse 1887 (wie Anm. 25), S. 1063. 27 Brief von Friedrich Overbeck an Joseph Sutter, Rom, 30. Mai 1811; zit. nach Margaret Howitt, Friedrich Overbeck. Sein Leben und Schaffen. Nach seinen Briefen und andern Documenten des handschriftlichen Nachlasses, hg. von Franz Binder, 2 Bde., Freiburg im Breisgau 1886, Bd. 1, S. 171–172.

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Diesen Plan und eine Zeichnung der Auferweckung des Lazarus hatte Overbeck an den Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi geschickt, zu dem über den Schweizer Lukasbruder Ludwig Vogel ein direkter Kontakt bestand.28 Pestalozzi hat das Projekt gerade in seiner Ausrichtung auf die religiöse Erziehung von Kindern und die allgemeine Volksbildung begrüßt. Pestalozzi war sogar begeistert und überlegte selbst, den Text beizu­steuern, doch wurde nichts von diesem Projekt jemals realisiert. Overbeck und Pestalozzi trafen sich in der Hochschätzung der kindlichen Naivität als der einzigen Grundlage jeder guten Kunst. Wenn man so will, knüpfte das Projekt Overbecks und der Lukasbrüder – denn zeitweise wurde auch eine kollektive Anstrengung in die Richtung einer gemeinsamen Bilderbibel erwogen – an die Bilderbibel-Projekte des 18. Jahrhunderts an. Das protestantische Prinzip des didaktischen Bildes war für den jungen Overbeck dabei als Bildungshintergrund verbindlich. Doch verschob sich seine Intention vom Gedächtnistraining und dem rationalen Bibelwissen zunehmend auf die Emotion. Die Konzentration auf die Christuslegende in dem Bilderbibelprojekt von 1811 deutet sogar auf den sehr konkreten Plan einer Andachtsbilderfolge, die sicher von der zeitgleichen Lektüre von Thomas a Kempis’ De imitatione Christi stimuliert worden war.29 Von der Betrachtung und Einfühlung zur aktiven Nachahmung und Nachfolge, das wäre hier als moralischer Impetus der geplanten Bilderfolge zu bestimmen. In einem berühmten Brief vom April 1808 hatte Overbeck seinem Vater gegenüber „Herz, Seele, Empfindung“ postuliert, die allein einen guten Maler ausmachen würden.30 Damit hatte er programmatisch seine zukünftige Tätigkeit als Historienmaler ganz auf die Bibel abgestimmt, die, wie er schreibt, „einzig und allein den Rafael zum Rafael“ gemacht habe.31 Mit ­g roßer Konsequenz ist Overbeck diesem Lebensentwurf gefolgt. Wie bereits erwähnt, ist für die frühen Bilderbibelprojekte von 1808 und 1811 keine Zeichnung sicher identifizierbar. So entzieht es sich auch unserer Kenntnis, wie Overbecks Arbeit als Buchillustrator sich in materieller Form realisiert hätte. Wie hätte er die Aufgabe, „einfache und würdige Vorstellungen“ zu schaffen, als Zeichner bewältigt? Ein Blatt in Privatbesitz (Taf. XXXIV), dessen Datierung jedoch auch nicht eindeutig ist, kann hier eine Vorstellung von seiner Arbeit an der Bilderbibel geben.32 Format, Thematik und Komposition sprechen sehr für eine geplante Buchillustration. Es handelt sich um eine Darstellung des Scherfleins der Witwe (Lk 21, 1–4). Das Lehren Christi und 28 Vgl. zuletzt Cordula A. Grewe, Painting the Sacred in the Age of Romanticism, Farnham/Burlington 2009, S. 209–210. 29 Vgl. dazu Thimann 2014 (wie Anm. 21), S. 134, S. 250–253. 30 Brief von Friedrich Overbeck an den Vater, Wien, 27. April 1808, zit. in: Howitt 1886 (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 71. 31 Ebd., S. 71. 32 München, Privatbesitz; Bleistift, 17,7 × 12,6 cm; vgl. Andreas Blühm und Gerhard Gerkens (Hg.), Johann Friedrich Overbeck 1789–1869. Zur zweihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages (Ausst. Kat., Lübeck, Museum für Kunst und Kulturgeschichte), Lübeck 1989, S. 219–220, Nr. 103; Peter Prange und Andreas Stolzenburg (Hg.), Spurenlese. Zeichnungen und Aquarelle aus drei Jahrhunderten (Ausst. Kat. Hamburg, Kunsthalle), München 2016, S. 148–149, Nr. 55.

Gedächtnis und Gefühl     | 181

sein Sprechen in Gleichnissen standen für die Lukasbrüder im Zentrum des Interesses am religiösen Bild.33 Mit spitzem Bleistift zeichnete Overbeck die Protagonisten, die Witwe und die Reichen, wogegen er Christus und seine Jünger in einer andeutenden Skizze beließ. Zudem gliedert sich die Zeichnung in die Veranschaulichung aktiver und reflexiver Elemente, wie es für Overbecks Kunst als typisch gelten kann. Für ihn stand die Reflexion über den biblischen Gegenstand im Vordergrund seiner Illustrations­arbeit. Den Bildgegenstand schöpfte Overbeck aus dem 21. Kapitel des Lukas-Evangeliums (Lk 21, 1–4; Mk 12, 41–44). Jesus war mit den Jüngern im Tempel und sah, wie die ­Reichen ihre Gaben in den Opferkasten legten: „Er sah aber auch eine arme Witwe, die legte zwei Scherflein ein. Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr als sie alle eingelegt. Denn diese alle haben aus ihrem Überfluss eingelegt zu den Opfern, sie aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, wovon sie lebte.“

Das aus wahrem Glauben und aus dem Herzen kommende Opfer einer Bedürftigen, die als sichtbares Zeichen ihrer Caritas ein kleines Kind auf dem Arm trägt, ist der Gegenstand der Rührung, die sich auf den Betrachter überträgt. Jesus nutzt ihr selbstloses Verhalten, um den Jüngern ein Exempel wahrer Demut und Glaubensstärke vor Augen zu stellen. Jesus sitzt am rechten Bildrand und ist ins Profil gewendet, mit beiden Armen führt er rhetorische Gesten der Ansprache aus. Das von der Witwe gegebene Scherflein ist ihm anschaulicher Gegenstand des Unterrichts und entspricht damit ganz der päda­ gogischen Funktion des Bildes. Wie gesagt lässt sich das Blatt keinem der genannten Projekte Overbecks für eine illustrierte Bibelausgabe sicher zuweisen, ja auch seine Datierung ist keineswegs gesichert. Das Hochformat schließt aber eine geplante Buch­ illustration nicht aus. Die strenge Profilansicht Christi wie auch die deutlichen Hilfs­ linien für die Gesichter der Jünger lassen überdies an eine ‚frühe‘ Entstehung zwischen 1810 und 1820 denken. Das Blatt ist deshalb für den hier verfolgten Zusammenhang von exemplarischer Bedeutung, da es emotional-gefühlsmäßige Ansprache in Gestalt der mildtätigen Frauenfigur mit ihrem Kind und die Darstellung der Reflexion über das Ereignis in der Figur des lehrenden Christus miteinander verknüpft und damit eine regelrechte Anweisung zur ‚Bildlektüre‘ vorgibt. In diesem Modus könnten „einfache und würdige Vorstellungen“ zu denken sein, wie sie Overbeck für sein Bilderbibelprojekt vorschwebten. Doch sei abschließend noch einmal ein Blick auf das Briefzitat Overbecks von 1811 geworfen. Overbecks Prämisse für die bevorstehende Arbeit an den Zeichnungen war die Erzeugung von Einfachheit und Würde („einfache und würdige Vorstellungen“34). Hier wird offenbar eine genus-Frage angesprochen, welche eine Neudefinition der Bildrhetorik berührt. Denn hinter Overbecks Begriffswahl der ,einfachen Vorstellungen‘ ist, auch eingedenk aller Neubestimmungsversuche von Stil und Redekunst im 18. Jahr33 Vgl. Büttner 1979 (wie Anm. 22). 34 Siehe oben, Anm. 27.

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hundert, eine Anspielung auf die genera dicendi der klassischen Rhetorik gemäß der aptum-Lehre zu vermuten.35 Ziemlich präzise sollten seine Bilder nämlich dem genus humile (auch genus tenue, stilus simplex) entsprechen und damit dem schmucklosen niederen Stil, der besonders für Gegenstände der Belehrung verwendet wird. Traditio­ nell wurde gemäß der Zuordnung der Redestile zu den Ständen das genus humile der Landbevölkerung zugeordnet, was auch dem intendierten Bilderbibelpublikum, Kindern und einfachen Laien, entsprochen haben dürfte. Auf Figuren und Tropen, kurzum auf den Redeschmuck, wird im genus humile verzichtet, da die Sache für sich selbst sprechen kann. Spricht Overbeck von ,einfachen und würdigen Vorstellungen‘, so meint er damit wohl simplicitas und dignitas, wobei Einfachheit hier eher im Sinne von puritas, also Reinheit, und nicht im despektierlichen Sinne von Schlichtheit verstanden werden muss. ,Würde‘ hingegen ist um 1800, bei Kant und Schiller, ein ethischer Begriff für den Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. Auch in dem von Overbeck für das spezifische Problem der Bibelillustration verwendeten Begriff der ,würdigen Vorstellungen‘ ist der moralische Aspekt der Sache dezidiert angesprochen, mit dem sich Konzepte von Natürlichkeit und Naivität verbinden. Overbeck schwebte eine kunstlose Kunst vor, eine Bildersprache, in der die Sache klar verständlich und mit Würde vor Augen gestellt wird, um sich umso besser einzuprägen. Das naive Gemüt des Kindes ist dabei als eine tabula rasa zu verstehen, auf der der Maler, der selbst werden muss wie ein Kind, das entscheidende Sentiment für die religiösen Gegenstände eintragen kann. Dies durfte nicht durch schlechte Bilder geschehen, sondern, wie es Overbeck knapp brieflich definiert, durch einfache, unmittelbar verständliche, harmonisch, dabei aber ‚kunstlos‘ komponierte und zuletzt gefühlsbetonte Darstellungen. Statt „Gedächtnis“, „Verstand“ und „Willen“, wie sie Johann Hübner 100 Jahre zuvor als Grundlage seines rhetorisch organisierten Bibelverständnisses festgesetzt hatte,36 sollten „Herz, Seele, Empfindung“37 nicht nur die Bildproduktion, sondern auch die empfindsame Wahrnehmung der Bibelbilder dominieren. Das Problem der Bilderbibel wurde seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts also nicht nur als ein Problem der künstlerischen Qualität der Illustrationen reflektiert. Von den für den Autor Hübner noch unwichtigen Bildbeigaben eines rhetorisch organisierten Gedächtnistheaters für Kinder verschob sich der Akzent erkennbar auf die moralisch unterrichtende und emotional sensibilisierende Macht der Bilder.

35 Vgl. Kurt Spang, Dreistillehre, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 921–972. 36 Siehe oben, Anm. 5. 37 Siehe oben, Anm. 30.

Sehen und Verknüpfen. Künstlerische Reflexionen und Bildästhetiken des Erinnerns um 1800

Reinhard Wegner

Strategien visueller Erinnerung Karl Philipp Moritz und das Bildgedächtnis

Die von August Wilhelm und Caroline Schlegel verfasste Abhandlung Die Gemählde. Ein Gespräch von W. führt in geradezu idealtypischer Weise dem Leser Medialität und Materialität des Erinnerns um 1800 vor Augen. Die Schrift, 1799 im zweiten Band der Zeitschrift Athenäum veröffentlicht, gehört zu den Schlüsseltexten romantischer Kunsttheorie und Bildkritik.1 Neben einem weiten Spektrum von Themen zur Vergangenheit und zur Gegenwärtigkeit der Kunst gehört eine bestimmte Form des Erinnerns zum Kern der Gespräche über die Gemälde. Drei Personen, Luise, der Kunstgelehrte Waller und der Maler Reinhold, haben gerade die Gemäldegalerie in Dresden besucht und lassen sich nun über dem Elbufer mit Blick auf Stadt und Natur nieder. Im Gespräch rufen sie sich die eben betrachteten Kunstwerke ins Gedächtnis und bringen sie mit dem gegenwärtigen Blick auf die Natur in Verbindung. So treten die Landschaftsgemälde aus der Erinnerung in Konkurrenz zur realen Landschaft. Erinnerungsbild und Gegenwartsbild werden zueinander in Beziehung gesetzt. Nachdem man einen angenehmen Platz gefunden hat, führt Luise das Gespräch: „Seit ich mich mit diesen Dingen viel beschäftige, sehe ich eine wirkliche Gegend mehr als Gemählde, und ein Landschaftsstück suche ich mir zu einer wahren Aussicht zu machen.“2 Die Idee einer Zusammenführung von Kunstform und realer Natur ist ein klassischer Topos im Bilddiskurs der Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel um 1800. Tatsächlich geht sie aber wie so manches andere auf den Schriftsteller Karl Philipp Moritz zurück. Dieser veröffentlichte zehn Jahre zuvor einen ebenso kurzen wie wirkungsmächtigen Text unter dem Titel Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, in dem er hinsichtlich der Imaginationskraft konstatiert: „Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung immer mehr der bloßen Idee von den Gegenständen; das Gesicht nähert sich immer mehr der Einbildungskraft, je weiter der Gesichtskreis wird. Daher sind wir im Stande, uns die Gegend wie ein Gemälde, und das Gemälde wie die Gegend zu denken.“3

1 August Wilhelm Schlegel und Caroline Schlegel, Die Gemählde. Ein Gespräch von W., in: Athenaeum 2 (1799), 1. Stück, S. 39–151. 2 Schlegel und Schlegel 1799 (wie Anm. 1), S. 62. 3 Karl Philipp Moritz, Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 7 (1789), Teil 3, S. 81–82, hier 81.

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Moritz bindet die räumliche Distanz an die Einbildungskraft. Je weiter der Gesichtskreis, umso weiter entfernt sich das Bild von der Gegenwart und damit auch von seiner empirischen Wahrnehmung. Zeit- und Raumkontinuitäten sind eng aneinander gekoppelt. Der zitierte Text erschien im siebten Band des von Moritz mit herausgegebenen Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. In diesem Band wie in den anderen insgesamt zehn Bänden geht es um die anthropologischen Bedingungen der Erinnerungs- und Gedächtnisleistungen, vor allem um die Erkundungen frühkindlicher Erinnerung. Regelmäßig berichten Ärzte von Fällen besonders eindrucksvoller Gedächtnisleistungen, aber auch vom Versagen der Erinnerung. Die Ursachen sind vielfältig. Mehrere Berichte widmen sich den zeitweisen Beeinträchtigungen der Gehirnfunktionen, die mit kurios anmutenden Sprachfehlern einhergehen: „Beitrag zur Bestätigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedächtniß mehr dem Körper als der Seele zugehören. Der gelehrte Director S. zu C. erholte sich von einem hitzigen Fieber, und eines der ersten Dinge, die er nach wiedererlangtem Gebrauch seiner Vernunft verlangte, war Caffee. Allein er hatte in dieser Krankheit nicht nur den Buchstaben f vergessen, sondern es hatte sich statt dieses verlohren gegangenen Buchstabens, der Buchstabe z substituirt, so daß er nun nicht Caffee, sondern Kazze verlangte, und so regelmäßig in allen anderen Wörtern, die aus f mit zusammengesetzt waren, sich des z bediente. Sein Arzt und seine Wärter merkten bald aus der genaubeobachteten Versetzung des z statt f die Verwirrung, und machten den Kranken darauf aufmerksam, der alsdann auch nach und nach wieder zur richtigen Aussprache zurückkam.“4

Wenn die Sprachkompetenz auf Gedächtnisleistung beruht, dann führt der Verlust des Gedächtnisses unmittelbar zu einer Verwirrung der Sprache, die Moritz wohl nicht nur aus einem medizinischen Interesse verfolgte, sondern die ihm als Dichter auch sprachliche Experimente bescherte. Im selben Band des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde beschreibt ein Bericht des Philologen Rijklof Michaël van Goens einen weiteren Fall von Sprachverwirrung, die wiederum in engem Bezug zu den Gedächtnisleistungen der Betroffenen als eine partielle „Vergessenheit“ beschrieben wird: „Die Frau des Hrn. Hennert, sehr berühmten Professors der Mathematik zu Utrecht, welche selbst Mathematiker und Astronom wie ihr Mann war, bekam auf einmal, nach einer Krankheit, ein Vergessen oder vielmehr ein Unvermögen, eine Verwirrung der Sprache, welche der biblischen Beschreibung von der Verwirrung zu Babel, vollkommen gleich war. Nemlich, wenn sie einen Stuhl begehrte, forderte sie einen Tisch, wenn sie ein Buch haben wollte, forderte sie einen Spiegel. Und wenn man ihr das Wort, welches sie gesucht, und an dessen Statt sie ein anderes gesetzt hatte, vorsagte, konnte sie niemals dazu kommen, es zu wiederholen. Bisweilen merkte sie selbst, daß sie die Sache unrecht nannte, ein ander mal ärgerte sie sich, wenn man, da sie ihren Fächer forderte, ihr denselben brachte, anstatt der Haube, welche sie glaubte genannt zu haben. Dieses außerordentliche Derangement hat verschiedene Monathe bei ihr angehalten. Ueberhaupt war ihre Sprache verwirrt und ein wenig schwer, aber ihre Vergessenheit erstreckte sich nur auf einige Worte der Sprache. Sie hatte übrigens ein so getreues Gedächtniß, daß sie fort-

4 Johann Ernst Gruner, Beitrag zur Bestätigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedächtniß mehr dem Körper als der Seele zugehören, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 7 (1789), Teil 3, S. 12–16, hier 12.

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fuhr, ihren Haushalt zu besorgen; sie zeigte sogar ihrem Manne den Stand des Himmels auf einer Karte so richtig als bei vollkommener Gesundheit. Nach und nach ist die Frau H. wieder genesen, und hat noch verschiedene Jahre, bei dem vollkommenen Gebrauch ihrer Seelenkräfte, gelebt.“5

Die Bedeutungsverschiebungen der Begriffe mögen die Folge einer neurologischen oder psychiatrischen Erkrankung sein, die aber nach heutigen diagnostischen Kriterien keinem Krankheitsbild eindeutig zuzuordnen ist. Solche sprachlichen Manierismen erzielten bei der Leserschaft eine große Aufmerksamkeit, wobei offen bleiben muss, ob es sich um ein tatsächlich dissoziatives Vorbeiantworten oder Vorbeireden (Ganser-Syndrom) handelte oder ob nicht die Lust an sprachlichen Experimenten der Herausgeber im Vordergrund stand, die den Regelverstoß wissenschaftlich begründen konnten. Erinnerungsvermögen und Gedächtnisverlust erzielen um 1800 durchaus einen ästhetischen Gewinn.6 Über die Ansammlung populärer Anekdoten zum Verlust des Gedächtnisses hinaus setzt sich Moritz intensiv mit den Techniken und Darstellungsformen des Erinnerns auseinander. Auf sprachlicher Ebene liefern nicht nur die Berichte aus den Magazinen, sondern auch literarische Quellen und historische Abhandlungen ausreichendes Beweismaterial. Komplexer gestaltet sich aber der Umgang mit visuellen Medien. Der Hinweis auf die Überblendung von Gegenwartsbild und Gedächtnisbild führt uns zu der Frage, wie Moritz im Medium des Bildes den Prozess des Erinnerns veranschaulicht. Schließlich scheint kaum eine Kunstform dafür weniger geeignet, da die Statik des Bildlichen sich gegen die Dynamik des Zeitlichen sperrt. Zwischen 1792 und 1793 publizierte Moritz sein dreiteiliges Werk Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788.7 Dem Reisebericht in Form von ­Briefen sind vier Kupferstiche beigefügt, die Ansichten bekannter antiker Stätten ­zeigen (Taf. XXXV– XXXVIII). Drei Blätter leiten als Titelkupfer die Teile eins bis drei ein, ein vierter Kupfer­ stich befindet sich innerhalb des zweiten Teiles. Die Drucke hatte der Kupfer­stecher Daniel Berger nach Zeichnungen Peter Ludwig Lütkes angefertigt. Lütke studierte bis 5 Rijklof Michaël van Goens, Einige Beispiele von Geistes- oder Gedächtnißabwesenheit, in: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 7 (1789), Teil 3, S. 77–80, hier 78–79. 6 Vgl. Günter Oesterle, Einleitung, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 11–23, hier 11–13. 7 Die folgende Betrachtung zu den Kupferstichen in Moritz’ Werk Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 stützt sich auf zwei Beiträge des Verfassers, siehe: ­Reinhard Wegner, Die Vergangenheit im Blick. Karl Philipp Moritz und seine Strategie der Antiken-­ Darstellung in den Illustrationen zu den „Reisen eines Deutschen in Italien in den­ ­Jahren 1786 bis 1788“, in: Maren Heun, Stephan Rößler und Benjamin Rux (Hg.), Kosmos Antike. Zur Rezeption und Transformation antiker Ideen in der Kunst. Festschrift für Dieter Blume, Weimar 2015, S. 233–240, hier 235–238 und Reinhard Wegner, Augenblicke. Autonomie und Selbstreferenzialität sprachlicher Formen beim Betrachten von Bildern, in: Helmut Hühn und ­Joachim Schiedermair (Hg.), Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung, Berlin 2015, S. 83–97, hier 88–92.

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1787 als Schüler Jakob Philipp Hackerts in Italien Landschafts- und Veduten­malerei, bevor er als Ehrenmitglied der Berliner Akademie der Künste nach Preußen zurückkehrte und zwei Jahre später zum Professor für Landschaftsmalerei ernannt wurde. Seine Ansichten aus Italien erfreuten sich größter Beliebtheit. Mehrere seiner Gemälde schmückten die Räume der königlichen Schlösser in Berlin und Potsdam.8 Die von ihm entworfenen Blätter in Moritz’ Reisebericht sind nach einem gemeinsamen Prinzip gestaltet. Jedes Blatt ist etwa im Verhältnis zwei zu eins geteilt. Im größeren oberen Teil findet sich jeweils die hochrechteckige Ansicht einer antiken Ruine in einer Landschaft. Der untere Teil besteht demgegenüber aus einer schraffierten Fläche, in deren Mitte ein ovales Bild zu sehen ist, das ebenfalls eine antike Stätte zeigt. Die einzelnen Blätter werden am Ende des dritten Teiles genau beschrieben: „I. Zum ersten Theile. [vgl. Taf. XXXV] Ruinen vom Tempel der Konkordia auf dem alten römischen Forum; beim Aufgange auf den Kapitolinischen Berg. – Hinter den Bäumen ragt die Rückseite von der Wohnung des Senators und das Thürmchen von dem jetzigen Kapitolium hervor. Der Tempel der Vesta in Tivoli (S. Th. II. S. 124) in dem Hofe des Gastwirths Francesco, dicht neben dem Wasserfall des alten Anio, am Abhange eines steilen Felsen. Hinter dem Tempel zeigt sich der alte Mons Katilus, oder Monte Croce. II. Zum zweiten Theile. [vgl. Taf. XXXVI] Die Ruinen von dem Tempel des Jupiter Serapis in Puzzuolo bei Neapel. Drei Säulen stehen noch aufgerichtet – die übrigen Schäfte und Kapitäle sind umher verstreut – und der Platz zum Theil überschwemmt; einige Stufen führen zu dem erhöhten Platze, wo der Altar stand, und wo noch auf dem Boden die eisernen Ringe befestigt sind, an welche die Opferthiere gebunden wurden. Die Ruinen von dem Tempel des Merkurs bei Baja. III. Zum zweiten Theile. [vgl. Taf. XXXVII] Ruinen von einem kleinen Tempel der Isis in der ausgegrabenen Stadt Pompeja, mit der Aussicht auf die mahlerische Gegend, die sich von hier aus dem Auge darstellt. Der Molo oder Hafendamm von Neapel mit dem Leuchtthurm, und der Aussicht auf das Meer und den rauchenden Vesuv. IV. Zum dritten Theile. [vgl. Taf. XXXVIII] Der Quell der Egeria, in einer einsamen Gegend, am Fuße eines Hügels, vor der Porta St. Sebastiano in Rom. Die Ruinen von dem Grabmal der Cecilia Metella, welches jetzt Kapo di Bove heißt; ebenfalls vor der Porta St. Sebastiano in Rom.“9

Eine weitere Beschreibung des vierten Blattes, dessen obere Darstellung die Grotte der Egeria zeigt, ist im dritten Teil auch in den Haupttext eingebaut: „Herr Lütke entwarf von dieser Grotte ebenfalls an Ort und Stelle eine Zeichnung, wovon sich eine genaue Darstellung auf der hier beigefügten Kupfertafel befindet. Ich las während der Zeit in meinem Juvenal, wovon ich eine kleine Taschenausgabe bei mir trug, wie der Dichter auf die nun zerstörten marmornen Verzirungen schilt, welche dies alte ehrwürdige Denkmal entstell-

8 Vgl. zu Lütkes und Moritz’ Italienaufenthalt auch Claudia Sedlarz, „Rom sehen und darüber reden“. Karl Philipp Moritz’ Italienreise 1786–1788 und die literarische Darstellung eines neuen Kunstdiskurses, Hannover 2010, S. 57. 9 Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, Teil 3, Berlin 1793, S. 305–306.

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ten, das einen weit schönern Anblick gewähren würde, wenn der grüne Rand des Ufers in der klaren Fluth sich spiegelte, und der Marmor nicht den röthlichen Felsen verdeckte.“10

Diese Passage veranschaulicht die rhetorischen Kniffe des Autors. So nehmen nicht allein die Zeichnung und die gegenwärtige Beschreibung aufeinander Bezug, sondern zugleich wird auch die antike Quelle mit einer anderen Zeitebene, derjenigen des unzerstörten Denkmals, verschränkt. Der von Moritz zitierte Juvenal stellt mit den Mitteln der Satire den Anspruch auf räumliche und zeitliche Authentizität infrage. Die Beschreibung der Grotte der Egeria verweist auf die geheimnisvolle Grotte der Sibylle von Cumae, in der diese die Wahrheiten verkündet. So wird bereits im antiken Text die Differenz zwischen einem sagenhaft-heiligen Ort und der Gegenwart des Dichters vor den Toren Roms als eine relationale Verschiebung der Raum-Zeit-Ordnung deutlich. Die Argumentation der Bilder gestaltet sich ähnlich komplex. Auf allen vier Blättern sind die zwei unterschiedlichen Bildformate durch eine doppelte äußere Rahmenlinie verbunden; andererseits werden die obere und die untere Darstellung jeweils durch eine weiße Binnenlinie voneinander getrennt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden durch diese Rahmenstruktur genau markiert. Während die obere Darstellung mit ihrer rechteckig eingefassten Landschaftsansicht unserer Vorstellung von einer Illustration entspricht, fixiert die untere Ansicht mit der in die schraffierte Fläche gesetzten ovalen Bildform den abgebildeten Gegenstand durch eine zweite, zentrierte Bildebene. Der auf die Mitte gerichtete Blick führt hier durch einen imaginierten Rahmen, der durch die Verschattungen in der Innenseite der ovalen Einfassung eine eigene Räumlichkeit besitzt. In starkem Kontrast zu der in der oberen Ansicht angelegten Raumwirkung erzeugt die schraffierte Fläche in der unteren Ansicht explizit eine zusätzliche Ebene zwischen dem Betrachter, dem Medium Bild und der dargestellten Landschaft. Es entsteht auf diese Weise die Illusion eines weiteren Bildraumes, der nicht unmittelbar mit der Position des Betrachters übereinstimmt. Vielmehr wird der Blick des Betrachters in einer inszenierten Folge von kulissenartig aufgebauten Raumebenen über mehrere Stufen hinweg auf das eigentliche Motiv gelenkt. Mit der Zentrierung auf die Mitte in einer monofokular wirkenden Betrachtungsweise wird der Fluchtpunkt zum Sehpunkt: Der Blick auf das Sujet und nicht mehr das Sujet selbst ist der eigentliche Gegenstand der Darstellung. So bringen die beiden miteinander kombinierten Ansichtsformen zwei unterschiedliche Modi der Wahrnehmung zur Anschauung. Der naiven Betrachterperspektive im oberen Teil der Illustration wird unten eine bewusste Relation zwischen Betrachter und betrachtetem Gegenstand gegenübergestellt. Der Betrachter wird hier zum Voyeur oder zumin10 Ebd., S. 188. Moritz bezieht sich auf den folgenden Text der dritten Satire des römischen Dichters Juvenal: „in vallem Egeriae descendimus et speluncas / dissimiles veris. quanto praesentius esset/ numen aquis, viridi si margine cluderet undas / herba nec ingenuum violarent marmora tofum.“ (Juvenal, Satira III, V. 17–18). Vgl. Juvenal, Satiren. Lateinisch – Deutsch, hg., übers. u. komm. von Joachim Adamietz, München 1993, S. 36. Zur Deutung siehe u. a. Christine Schmitz, Das Satirische in Juvenals Satiren, Berlin/New York 2000, S. 51.

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dest zum Augenzeugen eines eigenen Seherlebnisses. In ähnlicher Weise lässt sich auf der sprachlichen Ebene die Referenz auf Juvenals satirische Dichtung mit den vielfältigen Beziehungen eines komplexen Raum-Zeit-Gefüges rekonstruieren. Die ovale Bildform wählte Moritz auch für die Illustration seiner Götterlehre. Diese für die Antikenrezeption um 1800 prägende Schrift zur mythologischen Dichtung der Antike, die mit 65 Kupfern nach Zeichnungen von Asmus Jakob Carstens versehen war, erschien wenige Monate vor der Publikation der Reisebeschreibungen aus Italien.11 Die Darstellungsform des Ovals war für die Illustrationen der Götterlehre insofern schlüssig, als es sich in der Regel um die Wiedergabe antiker Szenen auf Gemmen handelte – der Umriss entsprach so der äußeren Form der Artefakte. Aber zugleich zeichnete die begrenzende Linie auch den klassizistischen Gestus der Wiedergabe von Gegenständen als eine ästhetische Kategorie aus. Neben dieser allgemeinen Bedeutung der zeichnerischen Linie im Sinne des disegno spielt noch eine weitere Denkfigur eine große Rolle. Johann Joachim Winkelmann hatte den Begriff Contour in den Diskurs um die Darstellung antiker Werke eingeführt. Damit bezeichnete er nicht nur eine Grenze als materialisierte Linie, sondern auch eine metaphorisch verstandene Begrenzung des unendlichen Formenpotenzials.12 Darüber hinaus erschien die Bildform des Ovals aber auch als besonders geeignet, um die Antikenrezeption als einen Prozess der Selbstreflexion zu vergegenwärtigen. Das Bild als ein Ausdrucksmedium der Erinnerung vermittelt für Moritz die innere Anverwandlung von Vergangenem. Der poetische Anteil an dieser Rückbesinnung ist seiner Ansicht nach wesentlicher als jede Spekulation über eine historisch korrekt rekonstruierte Antike. Die ovalen Bildformate manifestieren seinen Anspruch, die Vergegenwärtigung der Antike sowohl als einen Prozess der Abstraktion wie auch als einen Prozess der subjektiven Selbstreflexion zu betrachten. Eingehend erörtert Moritz die gebogene Linie als Einfassung des Blickfeldes in seiner Schrift Die Signatur des Schönen. Ausgangspunkt dieser weiterführenden Überlegungen zur Einbildungskraft ist die Dominanz des Optischen; dem Sehsinn wird eine zentrale Bedeutung beigemessen. Intensiv beschäftigt sich Moritz mit den Wölbungen des Kopfes und den Vertiefungen der Augenhöhlen. Die ovale Bildform als eine Reproduktion der Wahrnehmung entspricht in seiner Sichtweise der Physiologie des Auges.13 „Nun gibt es aber in der ganzen Natur keine so sanften und reinen Bewegungen von Linien um und zu einander, als in der Bildung des Auges selbst, in dessen umschatteter Wölbung Himmel und Erde ruht, während daß es das Allerverschiedenste in seinen reinsten Verhältnissen in sich faßt. […] Wo das Auge, durch die höchste und tiefste seiner Spuren, Stirn und Wangen scheidend, den denkenden Ernst vom jugendlichen, lächelnden Leichtsinn sondert; indem es in 11 Karl Philipp Moritz, Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten, Berlin 1791. Vgl. auch Wegner 2015a (wie Anm. 7), S. 236–237 und Wegner 2015b (wie Anm. 7), S. 90–91. 12 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der ­Malerey und Bildhauerkunst, 2. Auflage, Dresden/Leipzig 1756, S. 16–17. 13 Vgl. hier ebenfalls Wegner 2015a (wie Anm. 7), S. 236–237 und Wegner 2015b (wie Anm. 7), S. 90– 91.

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dunkler Umschattung hinter dem Schimmer der Morgenröte hervortritt, und durch die Wölbung von oben seinen Glanz verdeckt; während daß die Scheidung des Gewölbten über ihm in den einander entgegenkommenden Augenbraunen sich sanft zu einander neigend, die Wiedervermählung des Getrennten in jedem untergeordneten Zuge vorbereitet, und der ganzen sich herabsenkenden Umgebung, bis zu den Spitzen der Zehen, die immerwährende Spur von Scheidung und von Wölbung eindrückt.“14

Bei den vier Kupferstichen in den Reisen eines Deutschen in Italien scheinen die Reflexionen zum Bildformat, wie sie in Moritz’ theoretischen Schriften und seinen Illustrationen zur Götterlehre zur Anschauung gebracht werden, ebenfalls von zentraler Bedeutung zu sein. Die Stiche verhandeln die Vergegenwärtigung der Antike im Wechsel der Darstellungsmodi; subjektive Wahrnehmung und unterschiedliche optische Bedingungen werden dem Bildbetrachter bewusst gemacht. In allen vier Blättern stehen sich im oberen und unteren Bildfeld Nah- und Fernsicht getrennt gegenüber. Die ovalen Durchblicke in den unteren Darstellungen sind auf die Ferne ausgelegt und vermitteln in komprimierter und verkleinerter Form zugleich die größere Distanz zwischen Betrachter und Gegenstand. Wird hier ein Bruch des Raumkontinuums erzeugt, zeigen die Ansichten der oberen Felder eine kontinuierliche Raumentwicklung, die den Betrachter in das Bild zu integrieren scheint. In besonderem Maße wird dies in den ersten beiden Tafeln deutlich. So laden im Titelkupfer zum ersten Band die Treppen am unteren Bildrand den Betrachter regelrecht zum Betreten der Szenerie ein; im zweiten Blatt übernehmen die vorne links zu sehenden Steinplatten diese Funktion. Moritz reflektiert mit dieser Gegenüberstellung in neuer Weise das Verhältnis vom Betrachter zum Bild, vom betrachtenden Subjekt zum betrachteten Objekt. So rückt mit dem Erkenntnisinteresse an der Antike auch das Vermittlungsproblem in den Fokus. Die unbestimmte Sphäre zwischen Betrachter und Bild, die räumliche Nähe suggeriert und doch Distanz erzeugt, wird gegen das unmittelbare Erleben der Gegenwart gesetzt.15 Hier treten also ein Erinnerungs- und ein Gegenwartsbild in unterschiedlicher Darstellungsform gegeneinander an. Dieses Muster findet sich nicht nur in den Illustrationen zum Reisebericht von Moritz, sondern auch in seinem literarischen Hauptwerk, dem Roman Anton Reiser. Im Handlungsverlauf begegnen dem Protagonisten ständig Orte und Begebenheiten aus der Vergangenheit. Die Erinnerungsbilder drängen sich wie Traumfantasien zusammen. Über seinen Aufenthalt in Erfurt heißt es: „Dieser Ort mußte es gerade seyn, der ihn durch die plötzliche Erinnerung an tausend Kleinigkeiten gerade in den Zustand wieder zu versetzen schien, worin er sich unmittelbar vor dem Anfange seines hiesigen Lebens befand. – Alles, was dazwischen lag, mußte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schatten ineinander gehen, einem Traum ähnlich werden.“16 14 Karl Philipp Moritz, Die Signatur des Schönen. Inwiefern Kunstwerke beschrieben werden k ­ önnen?, in: Karl Philipp Moritz, Werke, hg. von Horst Günther, Bd. 2, Reisen, Schriften zur Kunst und Mytho­logie, Frankfurt am Main 1981, S. 579–588, hier 586; 587. 15 Vgl. diese Betrachtung ebenfalls bei Wegner 2015a (wie Anm. 7), S. 237–238 und Wegner 2015b (wie Anm. 7), S. 91–92. 16 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Teil 1, Berlin 1785, S. 144.

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Das ,Sichzusammendrängen‘ ist eine für Moritz zentrale Denkfigur in der Darstellung der Erinnerung. Diese wird als ein fortlaufender Prozess geschildert, der die Differenz von Gegenwart und Vergangenheit markiert. Anton und der Erzähler führen das Erinnerungsbild zunächst als Vorstellungsbild aus der Vergangenheit zurück. Die Erinnerungen drängen sich zu einem Panorama so zusammen, dass die Tatsachen mit zunehmender Distanz von der Gegenwart zu Produkten der Imagination oder Einbildungskraft mutieren. Der bereits zitierte Satz von Moritz in den Grundlinien zu einer Gedankenperspektive, „Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung immer mehr der bloßen Idee von den Gegenständen“17, bringt zur Anschauung, wie eng sein bildnerisches Denken mit seinen literarischen Vorstellungen verknüpft ist. Das Medium Bild und das Medium Text operieren mit vergleichbaren Techniken einer Raum-Zeit-Konfiguration, die das Erinnern als eine ästhetische Erfahrung deklariert.

17 Siehe Anm. 3.

Miriam Volmert

„A Picture in her Hand“ Erinnerungsbilder und Souvenirformen in Faltfächern des 18. Jahrhunderts

I. Einführung Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der kulturellen Wahrnehmung und den künstlerischen Bildformen von Faltfächern und ihren Beziehungen zur Malerei im europäischen und vor allem englischen 18. Jahrhundert.1 Besondere Berücksichtigung findet die Frage, inwieweit Fächer, indem sie als Schnittflächen modischer Accessoires und Souvenirobjekte, sozial codierter Körpergesten und künstlerischer Bildformeln betrachtet werden können, als visuelle wie körperliche Erinnerungsträger und -aus­ löser fungierten. Im 18. Jahrhundert diente der Fächer als „portable Engine“2 weit über seine ,ursprüngliche‘ Grundfunktion der Kühlung hinaus in vielen sozialen Situationen als Instrument des Sichtbarmachens, des in Szene gesetzten Wahrgenommenwerdens und gegenseiti­ gen Wahrnehmens. Wenn der englische Dichter und Journalist Joseph Addison in einem satirischen Beitrag, der 1711 im Spectator veröffentlicht wurde, die potenzielle Macht einer erlernbaren Fächersprache karikiert, deutet sich an, dass Fächer in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts als ein in der gesellschaftlichen Kommunikation erstarkendes Modeaccessoire bewusst wahrgenommen wurden.3 Verschiedenste in der Literatur 1 Ich danke Hélène Alexander (Fan Museum, Greenwich, London), Marie-Luise Barisch und Günter Barisch (Deutsches Fächermuseum, Bielefeld) sowie Maryse Volet (Genf) für vertiefende Gespräche über Grand-Tour-Fächer und die Möglichkeit, ihre diversen Sammlungsstücke einzusehen. Ferner danke ich Danijela Bucher und Dagny Hildebrandt für ihre kritische Durchsicht des Artikels. 2 So werden Faltfächer in dem bezeichnenderweise unter dem Pseudonym „Ventosus“ publizierten satirischen Beitrag „Of the Modern Fans“ charakterisiert, der 1744 erschien in: The London Magazine: And Monthly Chronologer, Universal Spectator 813 (5. Mai 1744), S. 249–250, hier S. 249. 3 Joseph Addison, in: The Spectator Nr. 102 (27. Juni 1711), in: The Works of the Right Honourable Joseph Addison, hg. von Henry G. Bohn, Bd. 2, London 1873, S. 428–431. Zu Addison siehe auch weiter unten in diesem Beitrag. Von der Forschung ist hinsichtlich des oft diskutierten Themas diskreter ,Fächersprachen‘ bemerkt worden, dass trotz einer anzunehmenden allgemeinen sozialen Codierung von bestimmten Fächergesten und deren späterer werbewirksamer Inszenierung durch Fächerproduzenten wie Duvelleroy (die im 19. Jahrhundert eine Broschüre mit einer in wenigen amourösen Formeln gebannten gestischen ,Fächersprache‘ herausgaben) nicht von einer fixierten ,Fächersprache‘ ausgegangen werden kann. Vgl. u. a. Ariel Beaujot, Victorian Fashion Accessories, London 2012, S. 77; Angela Rosenthal, Unfolding Gender: Women and the ,Secret‘ Sign Language of Fans in Hogarth’s Work, in: Bernadette Fort und Angela Rosenthal (Hg.), The Other Hogarth:

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dieser Zeit geführte Diskurse darüber, wie Fächer in der Gesellschaft angemessen zu handhaben seien, lassen die kulturelle Projektion einer engen, nahezu symbiotischen Beziehung des sozialen Körpers zu seiner materiellen Ausstattung erkennbar werden.4 In der standardisierten Variabilität ihrer Erscheinungsbilder, die eine Vielzahl an zeitgenössischen Themen visualisiert, können bemalte und bedruckte Fächer zugleich, wie hier vorgeschlagen werden soll, auch als memoriale Accessoires begriffen werden, die einen normierten personalisierten Zugang zu verschiedenen gesellschaftlichen Wissens­ bereichen präsentieren. Dieser Beitrag interessiert sich insbesondere für die Rolle dieses verbreitet kultivierten Modeattributs im Kontext der Entwicklung von künstlerischen Bildtraditionen und einer damit in Verbindung stehenden Materialisierung von sozial codierten Erinnerungsformen. Fragen zur Funktion, zur Wahrnehmung und zur memorialen Bedeutung von Fächern im 18. Jahrhundert sollen dabei mit einem spezifischen Blick auf sogenannte Grand-Tour-Fächer verbunden werden, bemalte Faltfächer, die in Italien vielfach speziell für den touristischen Markt produziert wurden. Diese Fächer stellen, wie zu diskutieren sein wird, aufschlussreiche Analyseobjekte dar, wenn es etwa darum geht, die Grand Tour über die Diversität ihrer Objekte und Bilder als Erinnerungs- und Souvenirkultur zu begreifen. Zu Recht hat die Kunsthistorikerin Angela Rosenthal in ihrem 2001 publizierten Artikel „Unfolding Gender“ konstatiert, dass Fächer als „multivalent and powerful sign“ einer erstarkenden „fashionable society“ für die Untersuchung visueller Kulturen im Großbritannien des 18. Jahrhunderts von Bedeutung sind.5 In ihrem Beitrag zu der Rolle von Fächern in den Bildserien William Hogarths versucht sie, das Feld der spezialisierten Fächerforschung für kunsthistorische Perspektiven zu öffnen, die an den Wahrnehmungs- und Körperkulturen des englischen 18. Jahrhunderts interessiert sind. Dabei geht es ihr indes weniger um die Analyse spezifischer gefertigter Fächer in ihrer eigenen Bildlichkeit und Materialität als stärker um die Frage der Thematisierung von Fächern bei Hogarth, vor allem mit Blick auf ihr eigenes narratives Potenzial in einzelnen Bildsituationen.6 Aesthetics of Difference, Princeton 2001, S. 120–141, hier S. 131–132; Andrew Sofer, The Stage Life of Props, Ann Arbor 2003, S. 117–166, hier S. 124. 4 Vgl. zum Beispiel die Instruktionen zu den korrekten „Positions of the Fan“ in Matthew Towles ­Etikettenbuch The Young Gentleman and Lady‘s Private Tutor, London 1770, S. 194–195. Siehe hierzu sowie auch zur Thematisierung von Fächern in der Dichtung weiter unten in diesem Beitrag, Kap. II. 5 Rosenthal 2001 (wie Anm. 3), S. 122–123. 6 Vgl. ebd., S. 122f. Sie zeigt auf, dass der Fächer in der grafischen Bilderzählung mehrfach als verweisendes, blicklenkendes Element zum Einsatz kommt, gerade wenn es etwa darum geht, die Doppelbödigkeit des gesellschaftlichen Spieles zwischen heimlicher Beobachtung und verborgener Scheinheiligkeit der Protagonistin oder einer Nebenfigur zu entlarven. Zur Bedeutung von Kleidung und Accessoires bei Hogarth siehe auch Patricia Crown, die in einer Diskussion von Hogarths Darstellung Four Times of the Day: Morning (sie bespricht die grafische Reproduktion von 1738) kurz auch auf die narrative Bedeutung des Fächers verweist: Patricia Crown, Clothing the Modern Venus: Hogarth and Women’s Dress, in: Elise Goodman (Hg.), Art and Culture in the Eighteenth Century: New Dimensions and Multiple Perspectives, Newark/London 2001, S. 90–105, hier S. 94.

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Textil-, Mode- und Kleiderforschung nehmen in der Kunstgeschichte in rezenten ­ orschungsprojekten und grundlegenden Publikationen eine zunehmend bedeutende F Rolle ein.7 Im Zuge eines wachsenden kunsthistorischen wie interdisziplinären Interesses an den historischen Materialkulturen von Modeaccessoires dürften sich auch mit Blick auf die Fächerforschung künftige Forschungsperspektiven für die Kunstgeschichte eröffnen. Rosenthals Beitrag sowie einige weitere jüngere Publikationen, darunter etwa Christina Lindemans jüngst erschienener Artikel zu einigen Italienfächern Anna ­A malias, bilden indes den Kern einer vergleichsweise überschaubaren Zahl von Beiträgen, die speziell auf Fächer im Spannungsfeld von Kunst, Wahrnehmungs- und Materialkultur eingehen und dabei übergreifend den medialen und materiellen Transfer von Bildern ins Visier nehmen.8 Andererseits haben sich vereinzelte literaturwissenschaftliche Beiträge mit spezi7

Unter diversen Publikationen in diesen genannten Forschungsfeldern sei hier nur auf einige wenige verwiesen. Vgl. u. a. Tristan Weddigen (Hg.), Textile Studies (Buchreihe), 9 Bde., Emsdetten/Berlin 2010–; hier u. a. Philipp Zitzlsperger (Hg.), Kleidung im Bild – zur Ikonologie dargestellter Gewandung (Textile Studies 1), Emsdetten/Berlin 2010; Anna-Brigitte Schlittler und Katharina Tietze (Hg.), Mode und Bewegung. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Kleidung (Textile Studies 5), Emsdetten/Berlin 2013; vgl. auch Jan Brand und Jos Arts (Hg.), Fashion and Imagination: About Clothes and Art, Arnheim 2009; Adam Geczy und Vicki Karaminas (Hg.), Fashion and Art, London 2012; Burcu Dogramaci, Wechselbeziehungen. Mode, Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert, Marburg 2011; siehe auch jüngst Aileen Ribeiro, Clothing Art: The Visual Culture of Fashion, 1600– 1914, New Haven/London 2017; siehe zudem (neben etlichen modehistorischen Publikationen derselben Autorin) für das 18. Jahrhundert grundlegend Aileen Ribeiro, Dress in Eighteenth-Century Europe, 1715–1789, London 1984; für das 18. Jahrhundert siehe zudem diverse Publikationen von Peter McNeil, so zuletzt u. a. Peter McNeil und Giorgio Riello, Luxury and Fashion in the Long Eighteenth Century, in: Victoria Avery, Melissa Calaresu und Mary Laven (Hg.), Treasured Possessions From the Renaissance to the Enlightenment, London 2015, S. 153–160. 8 Christina K. Lindeman, Gendered Souvenirs: Anna Amalia’s Grand Tourist vedute fans, in: Jennifer G. Germann und Heidi A. Strobel (Hg.), Materializing Gender in Eighteenth-Century Europe, Farnham 2016, S. 51–65, hier S. 52. Zu Fächern im Kontext der Miniaturmalerei des 18. Jahrhunderts vgl. etwa Georgina Letourmy-Bordier, Miniature et éventail en Europe. Le XVIIIe siècle et le goût du portrait, in: Nathalie Lemoine-Bouchard (Hg.), La miniature en Europe. Des portraits de propagande aux œuvres éléphantesques, Paris 2013, S. 109–114. Siehe zudem zur Ikonografie und Kultur französischer Fächer des späten 17. und 18. Jahrhunderts die Dissertation von ­Georgina Letourmy-Bordier, La feuille d’éventail: expression de l’art et de la société urbaine, Paris 1670–1790, Diss. Université de Paris, 2006. Grundlegend zur Kultur des Fächers (auch zu verschiedenen Fächer­t ypen, Motiven auf Fächerdarstellungen und zur Produktion und Rezeption von Fächern) ist zudem die breit angelegte Dissertation von Pierre-Henri Biger, Sens et sujets de l‘éventail européen de Louis XIV à Louis-Philippe, Diss. Université de Rennes, 2015. Mit Bezug auf die Fächerkultur des 17. Jahrhunderts vgl. auch das Themenheft in Seventeenth-Century French Studies 36 (2014), Nr. 1, hg. von Katherine Ibbett in Zusammenarbeit mit dem Fan Museum, Greenwich. Zu einem Abschnitt über Fächer im breiteren Kontext europäischer Materialkulturen von der Renaissance bis zum 18. Jahrhundert vgl. Victoria Avery, Melissa Calaresu und Mary Laven (Hg.), Treasured Possessions From the Renaissance to the Enlightenment, London 2015, S. 134–139. Im kunsthistorischen Kontext der Grand Tour wird bisweilen auf Fächer im Zusammenhang der Material- und Souvenirkultur verwiesen, ohne indes ausführlicher auf die Objekte einzugehen. Siehe hier Andrew Wilton und Ilaria Bignamini (Hg.), Grand Tour: The Lure of Italy in the Eighteenth Century (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo delle Esposizioni, London, Tate Gallery), London 1996, S. 301–303; Maria Dolores Sánchez-Jáuregui und Scott Wilcox (Hg.), The English Prize. The Capture of the Westmorland, an Episode of the Grand Tour (Ausst.-Kat. Oxford, Ashmolean Museum of Art and Archaeology, New Haven, Yale Center for British Art), New Haven 2012, S. 242–243.

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fischen Beispielen literarischer Darstellungen und Funktionszuschreibungen des Fächers im englischen 18. Jahrhundert beschäftigt; dabei wurden unter anderem literarische Aspekte historischer Körper- und Materialkulturen verhandelt, jedoch zumeist ohne dass dabei ausführlicher auf die vielseitige eigene Bildlichkeit des Fächers eingegangen wird.9 Demgegenüber sind breit angelegte Publikationen zum europäischen Fächer vorwiegend im Rahmen von Sammler- und Museumskatalogen sowie wenigen Einzelstudien unternommen worden. So haben verschiedene Publikationen die Geschichte, die Verbreitung und die diversen Typen, Materialien und Bildmotive von Fächern dargelegt sowie bedeutende Sammelstücke und Ausstellungsexponate vorgestellt.10 Die folgenden Kapitel unternehmen aus einer exemplarischen Perspektive den Versuch, sich der Frage nach der Bedeutung von Fächern, vor allem hinsichtlich ihrer memorialen und wahrnehmungsbezogenen Aspekte, von mehreren Seiten aus anzunähern. So soll zunächst eine Analyse verschiedener Textquellen und künstlerischer Darstellungen erfolgen, die den visuellen Status von Fächern zwischen gestischer Körperlichkeit und eigener Bildlichkeit im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert in England verhandeln. Ein Aspekt ist hier etwa die Frage nach der (Un-)Möglichkeit einer Regulierung des Sehens und Wahrnehmens durch standardisierte Körper- bzw. Fächergesten. Die hier untersuchten Quellen, die in verschiedene literarische und künstlerische Kontexte und Gattungen eingebunden sind, können freilich die Bandbreite an Variationen, in denen Fächer produziert, gehandelt, verwendet, gesehen wurden, nur punktuell reflektieren. Sie bieten jedoch die Möglichkeit, spezifische Schnittflächen der kulturellen Wahrnehmung von Fächern zu rekonstruieren, die ihrerseits zu den ästhetischen Konzepten von Fächerblättern in Bezug gesetzt werden können. Im dritten Teil erfolgt eine Analyse von mehreren Fächern, die im Kontext der Grand Tour als Souvenirobjekte produziert wurden; der Fokus wird hier somit verengt,   9 Vgl. u. a. Stephanie Fysh, The Work(s) of Samuel Richardson, Newark/London 1997, S. 75–78; ­Susanne Scholz, Objekte und Erzählungen. Subjektivität und kultureller Dinggebrauch im England des frühen 18. Jahrhunderts, Königstein 2004, S. 143–163; Sofer 2003 (wie Anm. 3); Susan M. ­Stabile, Memory’s Daughters: The Material Culture of Remembrance in Eighteenth-Century America, Ithaca/London 2004, S. 155–163. 10 Vgl. u. a. M. A. Flory, A Book about Fans, The History of Fans and Fan-Painting, New York/London 1895; George Woolliscroft Rhead, History of the Fan, London 1910; Maciver Percival, The Fan Book, New York 1921; Nancy Armstrong, A Collector’s History of Fans, London 1974; ­Monika ­Kopplin (Hg.), Kompositionen im Halbrund. Fächerblätter aus vier Jahrhunderten (Ausst.-Kat. Stuttgart, Staatsgalerie/Graphische Sammlung, Zürich, Museum Bellerive), Stuttgart 1983; Maryse Volet und Annette Beentjes, Éventails, Genf 1987; Anna Gray Bennett, Unfolding Beauty. The Art of the Fan (Ausst.-Kat. Museum of Fine Arts, Boston), ­Boston 1988; Christl Kammerl (Hg.), Der Fächer. Kunstobjekt und Billetdoux (Ausst.-Kat. Badisches Landes­museum Karlsruhe), München 1989; ­Roberta Orsi Landini (Hg.), Ventagli italiani: moda, costume, arte (Ausst.-Kat. Florenz, ­Palazzo ­Pitti), Venedig 1990; Avril Hart und Emma Taylor, Fans, London 1998; ­Hélène ­A lexander, The Fan Museum, London 2001; Valery Steele, The Fan. Fashion and Femininity Unfolded, New York 2002; Marie-Luise Barisch und Günter Barisch, Fächer. Spiegelbilder ihrer Zeit, München 2003; Jane ­Roberts, Prudence Sutcliffe und Susan Mayor (Hg.), Unfolding Pictures: Fans in the Royal Collection, London 2005. Vgl. auch Letourmy-Bordier 2006 (wie Anm. 8); Biger 2015 (wie Anm. 8).

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um bild- und objektspezifische Fiktionen und Narrationen eines Fächertypus näher zu untersuchen, der sich durch eine besondere Beschäftigung mit typisierten Erinnerungsbildern auszeichnet. Die einem individuellen Objekt im Einzelfall zugeschriebene Bedeutung und die Geschichte seiner konkreten Gebrauchsweise können generell nur schwer rekonstruiert werden. Stattdessen aber kann eine Untersuchung der „narrative[n] Verfasstheit“11 von konkreten Objekten die in den Kompositionen selbst angelegte materialspezifische Inszenierung und Aktivierung von Erinnerungsbildern erschließen. Es wird dabei hinsichtlich der Grand-Tour-Fächer die These entwickelt, dass das dem Fächer allgemein zugeschriebene Moment (körper)bewegter Evokation im spezifischen Kontext der Grand Tour integraler Bestandteil einer eigenen Souvenirästhetik wird. Diese ist auf eine selbstreferenzielle Offenlegung der fragmentierten, assoziativ erschließbaren Vielheit konventionalisierter, intermedial gespeicherter Erinnerungsbilder angelegt.

II. Fächer als bewegte Körper(Bilder) II.1  Bemalte Faltfächer als Mode- und Bildobjekte im 17. und 18. Jahrhundert Wenceslaus Hollars 1641 angefertigte allegorische Darstellung Sommer zeigt eine Frau neben einem Tisch mit sommerlichen Früchten vor einer Fensteröffnung, die eine Aussicht auf eine weite Landschaft freigibt (Abb. 1).12 Auf Brusthöhe hält sie einen geöffneten Faltfächer, und ein zarter transparenter Schleier liegt über ihrem Haupt. Diese beiden Attribute werden in der begleitenden Inschrift mit den wesentlichen Elementen der Sommerzeit in Beziehung gesetzt – der Hitze und dem intensiven Licht. So heißt es in der englischen Fassung: „In Sumer when wee walke to take the aire Wee thus are vayl’d to keepe our faces faire And lest our beautie shoold be soyl’d with sweate wee with our ayrie fannes depell the heate.“13

11 Diesen Begriff verwenden Anna Ananleva und Christiane Holm im Zusammenhang ihrer Diskussion der Lesbarkeit entkontextualisierter Objekte, die vormals als intime Andenken verwendet wurden. Vgl. Anna Ananleva und Christiane Holm, Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit, in: Museum für Angewandte Kunst Frankfurt (Hg.), Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken (Ausst.-Kat. Frankfurt, Museum für Angewandte Kunst), Köln 2006, S. 156–187, hier S. 177. 12 Diese Darstellung wird kurz auch diskutiert in: Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), S. 9. 13 Siehe Abb. 1. Die lateinische Inschrift lautet in ähnlicher Form: „Lenes, aestivi Zephyri dum carpimus auras, / Velamen nigrum lumina nostra tegit. / Candida ne facies turpi sudore madescat / Immodicos aestus flabra levare solent.“ Ähnlich heißt es auch in einer anderen in den 1640er-Jahren entstandenen Grafik von Hollar, die ebenfalls eine Allegorie des Sommers zeigt: „How ­Phoebus, crowns our Sumer dayes / With stronger heate and brighter rayes / Her lovely neck and brest are bare, / Whilst her fann doth coole the Ayre.“ Wenceslaus Hollar, Sommer, 1644, Radierung, 266 × 182 cm, Folger Shakespeare Library, Washington.

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1  Wenceslaus Hollar, Der Sommer, 1641, Radierung, 24,5 × 17,5 cm, Rijksmuseum, Amsterdam

Während es der Schleier ermögliche, helle Gesichtshaut vor der Sonne abzuschirmen, greife man bei drohender Hitze auf den luftigen Fächer zurück. Beide Objekte werden hier mit körperbezogenen Grundfunktionen verknüpft und dabei zugleich auch mit konventionalisierten Vorstellungen von weiblicher Schönheit in Verbindung gebracht, die hier mit blasser, gekühlter Haut und einem vor klimatischen Einflüssen geschützten, müßigen Körper assoziiert wird. Im Bild wird die in der Inschrift gepriesene kühlende Wirkung des Attributs in dem sanft bewegten Schleier und dem zarten Schattenwurf des Fächers auf dem Dekolletee seiner Trägerin subtil akzentuiert. Die Grafik spiegelt die Bedeutung, die Faltfächer vor allem im Rahmen aristokratischer Konventionen im Europa seit dem 17. Jahrhundert einnahmen. Dabei spielt die Darstellung zugleich auf die traditionelle Kühlfunktion an, die bereits weit über die Einführung von Faltfächern in Europa und deren wesentlich frühere, im Mittelalter einsetzende Produktion in Japan und China hinaus bei sämtlichen Fächertypen von

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grundlegender Bedeutung war.14 Im frühneuzeitlichen Europa waren zunächst starre Fächertypen aus nicht form- oder klappbarem Material sowie Federfächer verbreitet, bevor es seit dem 16. Jahrhundert im Zuge wachsender Handelsbeziehungen zu der Einführung fernöstlicher Fächertypen auf dem europäischen Markt kam. Der aus Asien über Portugal eingeführte Typus des Faltfächers erfuhr eine rasche Verbreitung und wurde im 17. Jahrhundert neben dem Import zunehmend auch in Europa selbst hergestellt.15 Er umfasst verschiedene Unterarten von Fächern, bei denen Stäbe über einen verbindenden Bügel an ihrer unteren Seite miteinander so verbunden sind, dass das obere Ende ausfächert, wenn der Fächer geöffnet wird. Dazu gehört der hier im Fokus stehende Typus des bemalten Faltfächers, bei dem ein oft farbig verziertes, aus unterschiedlichen Materialien herstellbares Faltblatt am oberen Teil der Stäbe angebracht wird, das diese miteinander verbindet (vgl. Taf. XLI; XLV; XLVI).16 Dass das von Daniel Fenning publizierte Royal English Dictionary in seiner Auflage von 1763 unter dem Eintrag „Fan“ nicht mehr verschiedene Typen von Fächern aufführt, sondern darunter ausschließlich Faltfächer versteht,17 deutet die sich im späteren 17. und frühen 18. Jahrhundert vollziehende starke Verbreitung von Faltfächern auch in England an, die zumindest in aristokratischen Kreisen ältere Typen von Federfächern und starren Fächern verdrängte.18 Das im Eintrag des Dictionary bezüglich der Herstellung der Fächerstäbe erwähnte Elfenbein und das Schildpatt verweisen zudem auf die etablierte Verwendung kostbarster Materialien in der Fächerproduktion.19 So wurden in Europa die in spezialisierten Arbeitsschritten hergestellten Faltfächer in der materiellen Ausstattung zunehmend vielseitig und wiesen durch ihre nuancierten und aufwendig

14 So wurden diverse Arten des Zufächelns von kühlender Luft bereits im alten Ägypten etwa in Form von Hand- und Palmwedeln vor allem in wohlhabenden bzw. privilegierten Kreisen gepflegt. Vgl. Rhead 1910 (wie Anm. 10), S. 13; Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), S. 10. 15 Vgl. u. a. Flory 1895 (wie Anm. 10), v. a. S. 24–40; Rhead 1910 (wie Anm. 10), v. a. S. 87–121; ­A rmstrong 1974 (wie Anm. 10), S. 13–24; Kopplin 1983 (wie Anm. 10), S. 10–11; Kammerl 1989 (wie Anm. 10), S. 24–26; Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 10–13; Alexander 2001 (wie Anm. 10), S. 13–14; Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), S. 9–15. 16 Vgl. u. a. Rhead 1910 (wie Anm. 10), S. 116–117. Zu den verschiedenen Typen von Faltfächern sowie anderen Fächertypen vgl. insgesamt u. a. die in Anm. 10 erwähnten Publikationen, die verschiedenste Beispiele aufführen und illustrieren. 17 „A thin skin, piece of paper, taffety, or other light stuff, cut semicirculantly, plaited in such a manner that the plaits may be alternately inwards and outwards, mounted on several little sticks of wood, ivory, tortoiseshell, &c. which are joined together by a rivet at the other end, and used by the ladies to defend their complexions from the sun, or to raise wind and cool themselves, &c. Figuratively, any thing spread out in a triangular form, with a broad base, resembling a lady’s fan […]“. Daniel Fenning, The Royal English Dictionary: Or, a Treasury of the English Language, 2. Auflage, London 1763, s. v. „Fan“, o. S. 18 Neben dem Import setzen im 17. Jahrhundert zunächst vor allem in Italien und wenig später auch in Frankreich, Flandern und schließlich auch in England vermehrt Eigenproduktionen von Fächern ein. Die Einwanderungsbewegung von Hugenotten in England nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685) trug zur Ankurbelung der Fächerproduktion in England bei. 1709 wurde schließlich die Worshipful Company of Fan Makers gegründet. Vgl. Rhead 1910 (wie Anm. 10), S. 181. 19 Siehe Anm. 17.

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ausgestalteten Blätter und Stäbe eine deutlich akzentuierte Fragilität und Exklusivität auf.20 Für die in Europa hergestellten bemalten Fächerblätter wurde eine Vielzahl an neuen Bildmotiven entwickelt, darunter zunächst bis ins frühe 18. Jahrhundert vor allem mythologische und biblische Themen.21 In dezenter Weise verweist auch Hollars Grafik auf Anklänge dieser jüngeren Modeentwicklung der europäischen Fächerkultur. Der fein ausgearbeitete Faltfächer ist mit runden, blumigen Ornamentformen bemalt, die auf den Spitzenbesatz des Gewandes abgestimmt sind. Die allegorische Darstellung spiegelt so auch die Bedeutung von Faltfächern als kostbare Prestigeträger im 17. Jahrhundert.22 Im 18. Jahrhundert wurde der Fächer ein von einer breiteren bürgerlichen und aristokratischen Gesellschaftsschicht intensiv genutztes modisches Accessoire.23 Er zeichnete sich nicht mehr ausschließlich durch Exklusivität, sondern auch durch Schnelllebigkeit und eine vielseitige Experimentierfreude aus. Neben bemalten Fächern, die Kopien oder Variationen nach bekannten Gemälden und ikonografisch populären Themen zeigten (vgl. Taf. XLI), wurden auch Fächer hergestellt, die Raum für visuelle und textuelle Bezüge auf aktuelle bzw. temporäre Ereignisse boten.24 Nicht zuletzt machten es dabei neu eingeführte Druckverfahren möglich, Fächerblätter auch in schnellen Produktionen und für kurzlebige Anlässe mit Bildern zu versehen. So wurden Fächer etwa werbestrategisch zur Verbildlichung literarischer Werke eingesetzt25 oder zeigten zum Beispiel Ausschnitte aus Hogarths populären Bildserien;26 manche Fächer veranschaulichten in nuancierter Weise rezente wissenschaftliche Erkenntnisse,27 andere wurden wiederum zum spezifischen Gedenken an besondere Ereignisse produziert28 oder aber dienten in 20 Die Stäbe wurden in einfacherer Form aus Holz und Knochen, in kostbarer Fertigung aus Elfenbein, Schildpatt oder auch Perlmutt hergestellt; Perlmutt und das einfarbig helle, sogenannte blonde Schildpatt gehörten dabei zu den teuersten Materialien. Demgegenüber wurde das Fächer­blatt oft aus Vellum gefertigt, andere Materialien waren u. a. Leder, Seide, Spitze und Papier. Vgl. u. a. Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 13; 16; Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), S. 12; Alexander 2001 (wie Anm. 10), S. 15; Hélène Alexander, Fans and the Grand Tour, in: Fan Circle International (Hg.), Fans and the Grand Tour (Ausst.-Kat. Brighton Museum), Brighton 1982, S. 8. 21 Vgl. u. a. Rhead 1910 (wie Anm. 10), S. 107–203; Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 16–27; Barisch und Barisch 2003 (wie Anm. 10), S. 45–57; Ibbett und Fan Museum 2014 (wie Anm. 8). ­Siehe zur Diversität und auch zum quantitativen Verhältnis der verschiedenen Bildthemen Biger 2015 (wie Anm. 8), S. 70 ff. 22 Etliche Frauenbildnisse aus der gleichen Zeit, vornehmlich Ganzkörperporträts von Angehörigen hochrangiger aristokratischer Kreise, belegen ihrerseits die große Bedeutung von modisch bemalten Faltfächern als repräsentatives Attribut, das zunehmend mit den in den Porträtkonventionen etablierten Attributen des Handschuhs und des Spitzentaschentuchs vergleichbar wird. Siehe hier auch die einführende Bemerkung bei Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), S. 9. 23 Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 7; Bennett 1988 (wie Anm. 10), S. 20. 24 Vgl. Biger 2015 (wie Anm. 8), S. 198–210; Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 69–79; Bennett 1988 (wie Anm. 10), S. 83–111. 25 Vgl. hierzu u. a. Fysh 1997 (wie Anm. 9), S. 76–79. 26 Rosenthal 2001 (wie Anm. 3), S. 136–137. 27 Vgl. etwa einen bedruckten Faltfächer von 1792 im Victoria and Albert Museum, London (Inv.Nr. T.182-1915), dessen botanische Darstellungen der Linné’schen Klassifikation folgen. 28 Vgl. etwa einen in der Royal Collection, London (Inv.-Nr. RCIN 25244), befindlichen französischen Fächer von 1783, der in einer Vignette an den Ballonflug von Jaques Charles und Nicolas Robert am

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schnelllebiger und einfach hergestellter Form aktuellen politischen Stellungnahmen;29 und wieder andere nahmen Bezug auf temporäre gesellschaftliche Anlässe, wie dies etwa bei einem 1800 angefertigten Fächer im Victoria and Albert Museum deutlich wird, der einen Übersichtsplan der saisonalen Logenbesetzung des King‘s Theatre zeigt.30 Manch ein Fächerblatt blieb auch nichtmontiert; in einigen Fällen wurde ein loses Fächerblatt durch das Hinzufügen von Bildflächen in seiner Darstellung um weitere Bildabschnitte zu einem rechteckigen Bild ergänzt.31 Derartige Gestaltungsweisen können die komplexe Wahrnehmung und Verwendung von Faltfächern belegen. Sie wurden als modisches Accessoire getragen, beiseite gelegt, durch weitere ergänzt; in anderen Fällen aber wurden sie als Bild aufbewahrt, präsentiert und gerahmt aufgehängt. Die spezifische Bildlichkeit des Fächers als einem Mode- und Sammelobjekt, die vielfach aus künstlerischen Vorlagen schöpfte und bekannte Kunstwerke aufgriff, wurde im 18. Jahrhundert aus künstlerischer, kunsttheoretischer und maltechnischer Perspektive ambivalent reflektiert. Historische Textquellen spiegeln zwar einerseits die positive Wertschätzung von einzelnen Fächermalern;32 andererseits aber auch eine generelle Geringschätzung der Fächermalerei aus kunsttheoretischer Sicht, etwa wenn es darum geht, künstlerische Leistung im tradierten Sinne über das Konzept einer geistig kreier­ten inventio zu definieren. Horace Walpole – der in seinen Korrespondenzen mit Sir Horace Mann auch davon berichtet, dass er seinem Freund aus England mehrere Fächer sende – „the best, the most fashionable, and the prettiest I could get“33 –, hebt in seinen kunstkritischen Betrachtungen bezüglich des Porträtmalers Charles Jervas etwa hervor, seine Bilder seien generell „defective in drawing, colouring, composition, and […] likeness“ und glichen einer „light flimsy kind of fan-painting as large as the life.“34 Der Vergleich mit der Fächermalerei – das Attribut „flimsy“ mag hier für oberflächliche, leichte Malweise stehen – wird von Walpole unternommen, um spezifisch auf Jervas’

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1. Dezember 1783 erinnert. Vgl. dazu auch den Eintrag bei Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), Kat. Nr. 28, S. 86. Vgl. hierzu Elaine Chalus, Fanning the Flames. Women, Fashion, and Politics, in: Tiffany Potter (Hg.), Women, Popular Culture, and the Eighteenth Century, Toronto/Buffalo/London 2012, S. 92– 112, hier S. 101–105. The Opera Fan, 1800, bedrucktes Papier, Victoria and Albert Museum, London (Inv.-Nr. S. 1647– 2014). Vgl. hier u. a. das Beispiel eines Fächers aus den 1670er-Jahren im Victoria and Albert Museum, der die Toilette der Madame de Montespan darstellt (Inv.-Nr. P.39-1987), siehe hierzu Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 17–19. So lobte etwa Joshua Reynolds den Fächermaler Antonio Cesare Poggi für seine großen Leistungen im Bereich der Fächermalerei. Vgl. hierzu Richard Wendorf, Sir Joshua Reynolds. The Painter in Society, 2. Auflage, Cambridge, MA, 1998, S. 111. Horace Walpole, Brief an Horace Mann, 8. Mai 1771, in: George Agar-Ellis (Hg.), Letters of Horace Walpole, Earl of Orford, to Sir Horace Mann, His Britannic Majesty’s Resident at the Court of Florence, from 1760 to 1785, 2 Bde., hier Bd. 1, Philadelphia 1844, S. 292. Horace Walpole, Anecdotes of Painting in England; with some Account of the Principal Artists; and Incidental Notes on Other Arts; Collected by the Late Mr. George Vertue; Digested and Published from his Original Mss. […], hg. von James Dallaway, Bd. 4, London 1827 (erste Ausgabe London 1762), S. 18.

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Mangel an kompositioneller Differenzierung und inventiver Kraft hinzuweisen. In vergleichbarer, indes praktischerer, am späteren Nutzen orientierter Perspektive ordnet der London Tradesman, ein von Robert Campbell 1747 publiziertes Kompendium zu zeitgenössischen Berufsfeldern in England, das Tätigkeitsfeld der Fächermalerei grundsätzlich als unbedeutenden bzw. trivialen („ingenious trifling“) Zweig der Malerei ein: Fantasie und künstlerische Fertigkeit seien hier weniger gefragt, denn „a Glare of Colours is more necessary than a polite Invention“.35 Diese beiden Sichtweisen deuten an, dass Fächermalerei, auch wenn sie vielfach und variationsreich künstlerische Motive und Gestaltungsformen zur Anwendung brachte, mit der Vorstellung einer auf schnelle visuelle Reize angelegten Darstellungsweise belegt wurde. Bei dieser Wahrnehmung geht es somit weniger um die kontemplative Versenkung eines die künstlerische inventio studierenden, dem Künstler kongenialen Betrachters als um eine für die Ferne angelegte Farbwirkung für viele, die auch in der Bewegung des am Körper getragenen Objektes vermittelbar bleibt. John Gays 1714 verfasstes Gedicht „The Fan“ schildert, wie der Fächer als betörendes Verführungsinstrument von der Liebesgöttin Venus erfunden wird, nachdem der Jüngling Strephon sie um ein Geschenk für seine Geliebte Corinna gebeten hat.36 Dabei wird der Fächer in einem – ohnehin vielfach mit ihm assoziierten – erotisierenden Kontext zu einem beschwörenden, machtvollen Instrument seiner Trägerin, das ihre Gegenüber entwaffnend in den Bann zieht.37 Wenn dabei am Ende von den Göttern durch einen Vorschlag von Minerva schließlich ersonnen wird, zur Mäßigung der Fächerträgerin nur Bilder auf dem Fächerblatt zu zeigen, die in exemplarischen Narrationen vor den „follies of the female kind“ wie Eitelkeiten oder Eifersucht warnen,38 wird die Bildlichkeit auf dem Fächerblatt zu einer eigenen, der Körperbewegung des Fächers analogen Kraft. Sie kann, so suggeriert es das Gedicht, das Erscheinungsbild des Fächers verstärken, aber 35 „Fan-Painting is an ingenious trifling Branch of the Painting Business. It requires no great Fancy, nor much Skill in Drawing or Painting to make a Workman; a Glare of Colours is more necessary than a polite Invention: Though now and then, if he is able to sketch out some Emblematical Figure or some pretty quaint Whim, he has a Chance to please better than one who is not so adroit.“ Robert Campbell, The London Tradesman. Being a Compendious View of All the Trades, Professions, Arts, both Liberal and Mechanic, now practised in the Cities of London and Westminster. Calculated For the Information of Parents, and Instruction of Youth in their Choice of Business, London 1747, S. 211. 36 John Gay, The Fan (1714), in: John Gay, Poems on Several Occasions, Bd. 1, London 1753, S. 27–59. Eine mit mythologischen Anklängen versehene Narration über die ,Erfindung‘ des Fächers findet sich zu dieser Zeit auch in dem 1729 verfassten Gedicht „The Art of Dancing“ von Soame ­Jenyns. Hier wird geschildert, wie der Fächer von Aeolus, dem Gott der Winde, als Geschenk für die Nymphe Fanny ersonnen wird, die ihn um Kühlung bittet. Der nach ihr benannte Fächer, „form’d in Heav’n, how thence deduc’d to Earth“, entfaltet auch hier eine betörende Wirkmacht, die gerade in den „num’rous Uses, Motions, Charms, and Arts“ zum Ausdruck kommt. Soame Jenyns, The Art of Dancing. A Poem, In Three Canto’s, London 1729, S. 14–17. 37 Vgl. hierzu auch Scholz, die darauf verweist, dass der Fächer sich in diesem Gedicht gerade durch seine Fähigkeit auszeichne, das Gesicht und dort ausgedrückte Emotionen verbergen zu können und andererseits aber einem Gegenüber eine eigene gestische Sprache zu kommunizieren; damit gelte er als „Paradebeispiel der Dialektik des Keuschen und des Koketten“. Scholz 2004 (wie Anm. 9), S. 152. 38 Gay 1753 (wie Anm. 36), S. 50.

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auch als Bild auf die Trägerin in intensiver Weise einwirken.39 So tritt in dieser Narration eine Doppelseitigkeit des Fächers zutage, die auch in den anderen hier diskutierten Quellen von Bedeutung ist: Der Fächer ist ein Teil des gestisch sprechenden Körpers, der die Gestimmtheit in gestischen Variationen nach außen trägt. Und zugleich wird in Abhängigkeit von der performativen Dimension seines Gebrauchswertes auf dem Fächerblatt eine Bildlichkeit generiert, die auf die Fächerträger und ihre Betrachter eine in flüchtigen Formen erscheinende evokative Wirkung ausübt. Das Spannungsfeld dieser „num’rous Uses, Motions, Charms, and Arts“40 gilt es im Folgenden vertiefter anhand von Bild- und Textquellen zu diskutieren, um vor diesem Hintergrund schließlich zu überlegen, wie sich die projizierte Wahrnehmungs- und Gebrauchsweise des Fächers in der Objektgestaltung einschreibt.

II.2  Faltfächer als Instrumente sozialer Kommunikation. Visuelle und literarische Rezeptionsweisen In einer satirischen Grafik aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Titel The Morning Frolic, or The Transmutation of the Sexes, die auf einer Vorlage des englischen Künstlers John Collett basiert, nimmt ein Fächer für die Vermittlung des genderspezifischen Bildwitzes eine Schlüsselfunktion ein (Taf. XXXIX).41 In dem als amouröses Spiel betriebenen Kleidertausch, den ein junges Liebespaar im Schlafzimmer unternimmt, wird der Fächer, der anstelle des Schwertes42 nun in den Besitz des Mannes übergegan39 Vgl. hierzu auch Sofer, der anhand dieser Passage die ambivalente, einerseits Macht entfaltende, andererseits regulative Kraft des Fächers diskutiert und resümiert: „Notwithstanding its cheer­ fully sexist conclusion, Gay’s poem pinpoints the tension between two possible uses of the fan: as static emblem, whose didactic message is eternally fixed by the male poet/playwright, and as sexual semaphore, whose fluid semiosis is controlled by the female performer actress.“ Sofer 2003 (wie Anm. 3), S. 119. Sofer bringt im Folgenden dieses mit dem Fächer verbundene Spannungsfeld mit zeitgleichen Entwicklungen des englischen Theaters in Verbindung. So untersucht er, wie der Fächer in Theaterstücken als performatives Instrument gerade dann explizit thematisiert wird, als weibliche Schauspielerinnen erstmals auf den Bühnen zugelassen wurden. Er argumentiert, dass Diskurse zur Handhabung des Fächers auf der dramatischen Ebene den Versuch spiegelten, eine als ,weiblich‘ codierte Performativität in Form von festgelegten Gesten festzuschreiben; diese jedoch würden durch den fortwährend instabilen Status des Fächers im Akt der Aufführung stetig unterlaufen: „[…] the fan’s status as symbol is renegotiated by every actress who takes it up. In the struggle to turn women from theatrical objects into theatrical subjects, the fan’s contribution depends in large part on the semiotic surplus of the individual actress and her ability to shape meaning through motion.“ Sofer 2003 (wie Anm. 3), S. 164. 40 Jenyns 1729 (wie Anm. 36), S. 14. 41 Eine am Boden liegende Ausgabe der Metamorphosen von Ovid, die auf einem Stück blauen Stoffes zu liegen scheint, liest sich, zumal mit dem Zusatz „done into English“, geradezu als Kommentar der hier entfalteten Überschreitung geschlechtsspezifischer Normen der englischen Gesellschaft. 42 Wie oben bereits angedeutet, entwickelte sich der Fächer in der Porträtkultur des 17. Jahrhunderts in Analogie zu den weiblich codierten Objekten des Handschuhs und des Taschentuchs zu einem wesentlichen Attribut, das dem in Männerbildnissen vielfach zu sehenden Attribut des Schwertes gegenüberstand. Siehe oben, Anm. 22. Der 1711 im Spectator erschienene satirische Beitrag von

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gen ist und von diesem in dezenter Manier hochgehalten wird, zum zentralen Element der übertragenen weiblich codierten Körpersprache. Dabei drückt sich gerade die Bewegung dieser ,Metamorphose‘ nicht nur durch die reine Übernahme dieser Gegenstände aus, sondern vielmehr durch die damit einhergehende bzw. mit ihnen direkt verknüpfte Verinnerlichung der Gesten, denen auch der Rest der nicht getauschten Kleidung untergeordnet wird. Die Illustration reflektiert so die über modische Objekte mitgenerierten, sozial normierten geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen, wie sie auch in zeitgenössischen erzieherischen Handbüchern derselben Zeit formuliert werden. In diesen Etikettenbüchern, die darauf ausgerichtet waren, in eine Bandbreite gesellschaftlicher Verhaltensregeln einzuführen, wurde vor allem im späteren 18. Jahrhundert auch der Vermittlung der korrekten Handhabung von Fächern Bedeutung beigemessen. So widmet etwa Matthew Towle in seinem 1770 erschienenen Werk The Young Gentleman and Lady’s Private Tutor der Verwendung des Fächers, den er als „genteel and useful“ beschreibt, eigens das Unterkapitel „The Positions of the Fan“.43 Darin zeigt er sechs von Illustrationen begleitete Formen einer angemessenen Haltung für den geöffneten wie den geschlossenen Fächer in sitzenden und stehenden Posen (Abb. 2). Die Anweisungen spiegeln die Vorstellung, dass mit dem Fächer grazile Bewegungen zu machen sind, die mit dem Körper harmonieren, aber auch den richtigen Abstand zu ihm einhalten, ohne den für Bewegungen vorgesehenen Raum zu überschreiten. Der dabei mehrfach hervorgehobene Wert „genteel“44 markiert den für Etikettenbücher dieser Zeit charakteristischen Versuch, eine Gestik in das Körpergedächtnis einer Gesellschaftsschicht einzuschreiben, die ihren Status über eine möglichst natürliche, nonchalante Eleganz definierte.45 Joseph Addison über die Errichtung einer ,Fächerakademie‘ (siehe unten in diesem Beitrag) greift diese Polarisierung ebenfalls auf, wenn er am Beginn konstatiert, Frauen seien derzeit „armed with fans as men with swords“; Addison 1711 (wie Anm. 3), S. 428. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert wurden Fächer und Schwerter, wie Sofer nachgewiesen hat, auch in Bühnenstücken zunehmend polarisierende Attribute, wenn es darum ging, Geschlechterrollen normativ zu fixieren. Vgl. Sofer 2003 (wie Anm. 3), S. 123–124. 43 Towle 1770 (wie Anm. 4). Towle repetiert größere Abschnitte über die korrekte Körperhaltung beim Gehen, Stehen und Tanzen fast wortwörtlich aus der früheren Publikation von Francois Nivelon, The Rudiments of Genteel Behavior (London 1737). Bemerkenswert ist jedoch, dass innerhalb der übernommenen Passagen der Abschnitt „The Positions of the Fan“ bei Towle als neues, eigenes Unterkapitel hinzugekommen ist, das sich bei Nivelon noch nicht findet (wenngleich dort großformatige Illustrationen, die der Körperhaltung gewidmet sind, auch die Handhabung des Fächers vermitteln; vgl. z. B. Pl. 1); es mag die Intention des Autors spiegeln, die Handhabung des Fächers klarer und expliziter zur normativen Anschauung zu bringen. 44 So heißt es u. a.: „The Fan is genteel and useful, therefore it is proper that young Ladies should know how to make a genteel and proper Use of it, […] I have pointed out to them six Positions of the Fan, genteel and very becoming. […] thus you see the Fan extended and fit for Service, and the Fingers thus placed render the Hand genteel and agreeable, and the Elbows being at a proper Distance from the Side, render the whole Body agreeably genteel.“ Towle 1770 (wie Anm. 4), S. 194; 195. 45 Vgl. zu diesem vermittelten Selbstverständnis ,natürlicher‘ Gesten auch Ann Bermingham, Landscape and Ideology. The English Rustic Tradition, 1740–1860, London 1986, S. 20–25, die diesen Aspekt im Kontext der englischen Bildgattung der Conversation Pieces untersucht.

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2  George Langley Smith, Positions of the Fan, Kupferstich, Illustration in: Matthew Towle, The Young Gentleman and Lady’s Private Tutor, London 1770, o. S. [zw. S. 194 und 195]

In teils subtiler, teils offener Weise korreliert die im 18. Jahrhundert hoch diversifizierte Fächerproduktion mit dieser Thematisierung von Fächern in Etikettenbüchern, aber auch in anderen zeitgleichen Textgattungen. So wird etwa in satirischen Texten und in Gedichten auf die Entwicklungen der Fächerproduktion und -konsumption gerade mit Blick auf die Regulierung der Fächergesten und die damit verbundenen sozialen Interaktionen Bezug genommen. Jenseits der Etikettenbücher, die diese Dimension allenfalls implizit berühren, wird in anderen Texten gerade das Spannungsfeld zwischen den fixierten Handgesten beim Halten des Fächers einerseits und der starken Expressivität beim Bewegen des Fächers andererseits reflektiert, inszeniert und karikiert. Ein ­bekanntes Beispiel ist der bereits erwähnte satirische Beitrag von Joseph Addison, der 1711 im Spectator erschien und eine Annonce fingiert, in der eine ,Fächerakademie‘ zur Erlernung einer korrekten Fächersprache gemäß den „most fashionable airs and motions“ beworben wird.46 Der kurze Text spiegelt die Omnipräsenz des Fächers in der gesellschaft­ lichen Kommunikation und verhandelt in ironisierender Form das sich daraus ergebende 46 Addison 1711 (wie Anm. 3), S. 428.

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Problem einer sozial angemessenen Regulierung dieses Accessoires. In einer satirisch überspitzten Verdichtung sozialer Anpassungs- und Aneignungsprozesse, die über die Rhetorik des militärischen Drills und der befehlsgebundenen Eintrichterung funktioniert, verspricht der Autor in seiner ,Annonce‘, dass Frauen „in the use of their arms“ instruiert würden.47 Dabei würden sie sechs Grundpositionen des Fächers erlernen: „Handle your fans, Unfurl your fans, Discharge your fans, Ground your fans, Recover your fans, ­F lutter your fans.“48 Addison belegt nun allerdings diese verschiedenen Schritte mit unterschiedlichen Gewichtungen. So gibt es bestimmte Fächerhaltungen, die der Autor mit wenigen Worten als simpel und rasch erlernbar charakterisiert: Dazu zählen zum Beispiel das Ergreifen („handle“), das Niederlegen („ground“) sowie das erneute Aufgreifen („recover“) des Fächers, die alle mit einer einfachen Armbewegung verknüpft werden. Die anderen, gemäß Addison zeitaufwendiger zu erlernenden und offenbar komplexeren Bewegungen scheinen alle mit einer effektvollen, stark nach außen wirkenden und varienten­ reichen Handhabung des Fächerblattes zu tun zu haben. Dazu gehört etwa das Schließen („discharge“) des Fächers, das der Autor mit einem (zeitintensiv einzuübenden) krachenden Geräusch verbunden haben will.49 Weiterhin zählt er hierzu das Auffächern („unfurl“), das die „infinite number“ der dargestellten Bilder offenlege, sowie vor allem das „fluttering“, das die Vielzahl der möglichen Gesten des Fächerns, die „infinite variety of motions“, beinhalte.50 Das „fluttering“ als das „master-piece of the whole exercise“51 nimmt in Addisons Beschreibung den größten Raum ein. Nachdem er hier zunächst einige Varianten stimmungsgeladener Bewegungen wie das „angry flutter“, das „timorous flutter“ oder das „amourous flutter“ aufgezählt hat, steigert er sich zu der Bemerkung, dass es letztlich nahezu keine innere Emotion gebe, die nicht eine passende Fächerbewegung hervor­r ufe.52 Wenn er dabei schließlich schildert, er könne am Fächer erkennen, ob seine Trägerin gerade erröte, erscheint der Fächer als Verlängerung des Körpers, und es setzt ein Spiel mit den verschiedenen Ebenen des konventionalisierten Symbols auf der einen Seite und des körpereigenen Symptoms auf der anderen Seite ein.53 Mehr noch, in einer weite47 Ebd. Auch in anderen satirischen Texten des 18. Jahrhunderts, etwa in dem oben bereits zitierten Text „Of the modern fans“ (siehe Anm. 2) wird der Fächer in überzeichneter Form zur Waffe, und zwar ironischerweise just gegen affektierte fops. 48 Addison 1711 (wie Anm. 3), S. 428. 49 „Upon my giving the word to Discharge their Fans, they give one general crack, that may be heard at a considerable distance when the wind sits fair. This is one of the most difficult parts of the exercise […]“. Ebd., S. 429. 50 Ebd., S. 429; 430. 51 Ebd., S. 430. 52 „[…] there is the angry flutter, the modest flutter, the timorous flutter, the confused flutter, the merry flutter, and the amorous flutter.“ Ebd. Siehe den Folgesatz in Anm. 53. 53 „Not to be tedious, there is scarce any emotion in the mind which does not produce a suitable agitation in the fan; insomuch, that if I only see the fan of a disciplined lady, I know very well whether she laughs, frowns, or blushes.“ Ebd.

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ren Zuspitzung richtet sich der Fokus dann ganz auf den verkörperlichten Fächer, wenn der Autor schließlich davon spricht, einen „ärgerlichen“ oder „schmachtenden“ Fächer gesehen zu haben.54 Nur scheinbar paradoxerweise ist in dieser satirischen Umkehrung gerade die in Fleisch und Blut und auch den Fächer übergehende Regung, die Verankerung des Fächers im Körpergedächtnis, umso ausgeprägter, je „disziplinierter“ die Träge­ rin ist.55 In satirischer Überzeichnung wird so die Rolle des Fächers in Bezug auf die anzustrebende genteel und nahezu ,natürliche‘ Gestik infrage gestellt. Ist die erotisierende eigene Bildlichkeit des Fächers im starken fluttering präsent, wird sie dort von den stimmungsbezogenen Arten des Fächerns dominiert, die die Emotionen der Trägerin offenlegen. Im unfurling hingegen, das bei Addison als ein Gegengewicht zum fluttering erscheint, tritt die von der Trägerin kontrollierte visuelle Eigenmächtigkeit des Fächerblattes in Szene, deren changierende Bilder den Blick des Betrachters in den Bann ziehen. So hebt der Autor hier hervor, dass gerade das zeitaufwendig zu erlernende graduelle, verspielte Öffnen und Wiederschließen des Fächers für den Betrachter am schönsten sei, „as it discovers on a sudden an infinite number of cupids, garlands, altars, birds, beasts, rainbows, and the like agreeable figures, that display themselves to view, whilst every one in the regiment holds a picture in her hand“.56 Auch jenseits der offengelegten Ironie deutet Addisons Text Bedeutungsebenen des Fächers an, die auf die zeitgenössische Relevanz spezifischer Aspekte hinweisen: Wesentlich erscheint hier wie auch in anderen Quellen das Display des Zusammenspiels von gestischer Fächerbewegung und bewegter Eigenbildlichkeit des Fächers, seiner Zweiseitigkeit als „modish machine“ und als „picture in her hand“.57 Wie bereits weiter oben kurz skizziert wurde, wird mit dem Fächer ein Wahrnehmungskonzept verbunden, das das Moment des vielfältigen und bewegten kommunikativen Gebrauchs einschließt. Der durch den performativen Akt des Zeigens gelenkte Fächer steuert eine flüchtige assoziative Wahrnehmung und ermöglicht in diesem Modus ein soziales Teilen von dynamisch fragmentierbaren Bildern, deren stream den Betrachter vor allem hinsichtlich seiner triggernden, evokativen Kraft herausfordern kann. Es wird im Folgenden zu 54 „I have seen a fan so very angry, that it would have been dangerous for the absent lover who provoked it to have come within the wind of it; and at other times so very languishing, that I have been glad for the lady’s sake the lover was at a sufficient distance from it.“ Ebd. 55 Siehe Anm. 53. Sofer hebt hier hervor, dass gerade der inszenierte Versuch dieser absoluten Kontrolle der Fächersprache die eigentliche soziale Macht dieser Sprache spiegele. Sofer geht, im Unter­schied zu anderen Fächerpublikationen, die Addisons ,kanonischen‘ Text meist zwar nicht unerwähnt ­lassen, jedoch oft beiläufig zitieren, aus literaturwissenschaftlicher Sicht näher auf die Argumentation ein. Dabei analysiert er auch, wie Addisons Text, vor allem seine sechs ,Grund­positionen‘ des ­Fächers, in zeitgenössischen Theaterstücken zitiert wurde: In Theaterinszenierungen um 1700 wird das Accessoire des Fächers seiner These zufolge zu einem wichtigen Instrument, um geschlechtsspezifische Performativität in einer Zeit zu regulieren, in der weibliche Schauspiele­r innen erstmals auf den öffentlichen Bühnen offiziell zugelassen wurden. Vgl. Sofer 2003 (wie Anm. 3), S. 119–120; 157–163. 56 Addison 1711 (wie Anm. 3), S. 429. 57 Ebd.

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zeigen sein, wie dieses mit Fächern assoziierte Wahrnehmungskonzept in der materiel­ len Gestaltung von Fächern reflektiert werden kann, die auf das Aufrufen und Präsentieren von Erinnerungsbildern angelegt sind. Bemalte Fächerblätter von Grand-Tour-­ Fächern der zweiten Jahrhunderthälfte weisen, so die These, eine komplexe Gestaltung auf, die das flüchtige Spiel körperbewegter Bilder in eine Souvenirästhetik integriert, in der verschiedene Ebenen öffentlicher wie personalisierter Narrationen des Erinnerns miteinander verschnitten werden.

III.  Bemalte Grand-Tour-Fächer im 18. Jahrhundert In ihren posthum veröffentlichten Schriften beschreibt die britische Autorin Mary Berry (1763–1852) verschiedene Aufenthalte ihrer in den 1780er-Jahren unternommenen Italienreise. Der Tradition britischer Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts entsprechend nimmt ihr Besuch in Rom einen breiten Raum ein, und kanonisierte Stätten der Antike und der italienischen Renaissance werden ausführlich verhandelt. So schildert die Autorin etwa ihre Besichtigung des Forum Romanum, „surrounded at every turn by monuments of Roman grandeur“,58 zugleich bleiben aber auch die diversen gesellschaftlichen Begegnungen in der Kunstszene der italienischen Metropole nicht unerwähnt. Wiederholt berichtet Berry über ihre Zusammenkünfte mit Künstlern und Kunsthändlern, bei denen sie Kontakte zu weiteren Malern knüpft und Kunstwerke erwirbt. Für den 7. Januar 1784 liest man folgenden Eintrag, der die Stationen ihres Tages kurz resümiert: „Went with Mr. Moore, the painter, to Mr. Dernot’s, a history-painter, to Mr. Hamilton’s, &c., and to a painter of fans. Bought two of the ruins of Rome for a sequin apiece.“59 Berry war an dem Tag offenbar mit dem schottischen Maler Jacob More unterwegs, der seit 1773 in Italien lebte und der sie während ihres Aufenthaltes verschiedentlich durch die Stadt führte.60 Die Genitivkonstruktionen „Mr. Dernot’s“ und „Mr. ­Hamilton’s“ verweisen darauf, dass sie diese beiden Künstler – gemeint ist wohl der Maler und Kunsthändler Gavin Hamilton sowie vermutlich der britische Historienmaler James Durno61 – in ihren Geschäftsräumen aufsucht. Als letztes Glied in ihrer Aufreihung 58 Mary Berry, Extracts of the Journals and Correspondence of Miss Berry, from the Year 1783 to 1852, hg. von Theresa Lewis, Bd. 1, London 1865, v. a. S. 38–128, hier S. 64. 59 Ebd., S. 70–71. 60 Vgl. zu Mores Tätigkeit als Cicerone und Kunsthändler in Rom Patricia R. Andrew, Jacob More, 1740–1793, Diss. University of Edinburgh, 1981, v. a. S. 285–290. 61 Der schottische Maler und Kunsthändler Gavin Hamilton (1723–1798) wirkte seit den 1740er-­ Jahren (mit einer kurzen Unterbrechung Mitte der 1750er-Jahre, als er in London arbeitete) bis zu seinem Tod 1798 in Rom. Vgl. zu Hamilton u.a. Brendan Cassidy (Hg.), The Life & Letters of Gavin Hamilton (1723–1798). Artist & Art Dealer in Eighteenth-Century Rome, 2 Bde., London 2011. Bei „Mr. Dernot“ ist es am ehesten wahrscheinlich, dass Berry hier den britischen Historienmaler James Durno (ca. 1745–1795) meint und von der Aussprache irrtümlich auf eine französische Wortendung schließt. Durno lebte und wirkte ab 1774 bis zu seinem Tod in Rom. Vgl. zu Durno u. a. den Eintrag bei Edward Edwards, Anecdotes of Painters Who Have Resided or Been Born in England; With Critical Remarks on Their Productions, London 1808, S. 232–233.

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erscheint der „painter of fans“, der Fächermaler, der namenlos bleibt; er ist es jedoch, von dem sie ihre beiden „ruins of Rome for a sequin apiece“ erwirbt. In aller Knappheit verweisen diese Zeilen auf das Kunst- und Souvenirgeschäft des 18. Jahrhunderts in Rom, das, angekurbelt durch die aufblühende Grand-Tour-Kultur, aus einer Vielzahl von miteinander vernetzten Künstlern, Kunsthändlern und ihren reisenden Mäzenen und Auftraggebern getragen wurde.62 Neben Gemälden, Skulpturen und Grafiken spielte auch der Handel mit verschiedensten kunsthandwerklichen Erzeugnissen eine wichtige Rolle. Darstellungen von bekannten Ruinen, Fresken und italienischen Renaissance-Kunstwerken zierten etwa Fächerblätter, Schnupftabakdosen, Schmuckarmbänder oder Bonbonnieren, die in Rom vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im frühen 19. Jahrhundert spezifisch für den touristischen Handel gefertigt wurden.63 Fächer wurden von Italienreisenden als Geschenke, aber auch als Erinnerungstücke für die eigene Kunstsammlung erworben.64 Es ist vorstellbar, dass 62 Vgl. allgemein zur Kunstrezeption und zum Kunsthandel im Kontext der Grand Tour unter zahl­ reichen Publikationen u. a. David Marshall, Susan Russell und Karin Wolfe (Hg.), Roma Britannica: Art Patronage and Cultural Exchange in Eighteenth-Century Rome, London 2011; Rosemary Sweet, Cities and the Grand Tour: The British in Italy, c. 1690–1820, Cambridge 2012; Wilton und ­Bignamini 1996 (wie Anm. 8); Sánchez-Jáuregui und Wilcox 2012 (wie Anm. 8). 63 Es wird vermutet, dass die Fächermaler in Italien ähnlich wie Mikromosaik-Künstler in vatikan­ eigenen Werkstätten tätig waren. Vgl. Alexander 1982 (wie Anm. 20), S. 5–8, hier S. 7. Zu Mikro­ mosaiken vgl. u. a. Chiara Stefani, L’Italia in miniatura. Il mosaico minuto per l’industria di ­souvenir, tra Sette e Ottocento, in: Chiara Stefani (Hg.), Ricordi in Micromosaico. Vedute e paesaggi per i viaggiatori del Grand Tour (Ausst.-Kat. Rom, Museo Mario Praz), Rom 2011, S. 29–39. In vielen Fällen sind die Namen der in Italien tätigen Fächermaler im 18. Jahrhundert nicht überliefert. Man weiß andererseits, dass auch bekannte Künstler wie etwa Giovanni Paolo Pannini Fächerblätter anfertigten. Von Pannini ist ein Entwurf eines Fächerblattes erhalten, der ein charakteristisches Capriccio römischer Ruinen und Skulpturen zeigt (Giovanni Paolo Pannini, Capriccio mit römischen Ruinen und dem Herkules Farnese, Feder in Braun, grau laviert, 14,3 × 26 cm, Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum, New York); vgl. zu diesem Fächerblatt Kopplin 1983 (wie Anm. 10), S. 58–59. In London wiederum war der Maler Joseph Goupy auch als Fächermaler erfolgreich (vermutlich entwarf er in England auch einige italienische Fächermotive); vgl. u. a. Rhead 1910 (wie Anm. 10), S. 185–186. 64 Aus Briefen von Reisenden lässt sich rekonstruieren, dass auf Reisen erworbene Fächer weib­l ichen Familienmitgliedern mitgebracht wurden. So verspricht etwa der schottische Reisende Roger Robertson of Ladykirk seiner Mutter in einem Brief einen Fächer, während er gleichzeitig seine ­eigenen getätigten Ausgaben zu rechtfertigen versucht (Brief von Roger Robertson an seine Eltern, 6. November 1751, National Library of Scotland, Acc 12244, zit. nach Sweet 2012 [wie Anm. 62], Anm. 56). Diese Passage wird erwähnt bei ebd., S. 18. Die vor einigen Jahren unternommene, im Rahmen der Ausstellung The English Prize. The Capture of the Westmorland, an Episode of the Grand Tour gezeigte Rekonstruktion der Schiffsgüter, die auf dem Handelsschiff Westmorland vor dessen Kaperung 1779 durch französische Kriegsschiffe verschifft gewesen waren, zeigt eindrücklich die Vielfalt der erworbenen Souvenirs bzw. Kunstgegenstände, die sich jeweils in den individuellen ­K istenladungen der einzelnen Reisenden befanden. Vgl. Sánchez-Jáuregui und Wilcox 2012 (wie Anm. 8). Fächer scheinen nicht nur mitgebracht, sondern als Sammlerstücke von Grand-Tour-­ Reisenden auch aufbewahrt worden zu sein. Vgl. allgemein zu Grand-Tour-Fächern Hélène Alexander (Hg.), Fans on the Grand Tour (Ausst.-Kat. London, Fan Museum), London 1994; Alexander 1982 (wie Anm. 20); Roberts, Sutcliffe und Mayor 2005 (wie Anm. 10), S. 78–81; ­Bennett 1988 (wie Anm. 10), S. 157–165; Hart und Taylor 1998 (wie Anm. 10), S. 57–68 ; Orsi Landini 1990 (wie Anm. 10), Nr. 58–70.

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Berry, wie es oft gehandhabt wurde, bei ihrem ,Ruinenkauf‘ erst einmal nur die bemalten Fächerblätter erstand, um sie einfach als flache Grafiken nach England zu transportieren; manche Fächerblätter, die als Souvenirstücke in Italien erworben wurden, wurden erst in England mit kostbaren Stäben zu Faltfächern montiert, teilweise wurden sie aber auch als Bild aufbewahrt, gerahmt und aufgehängt.65 Bereits seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren Fächer beliebt, auf deren Fächerblättern Kopien von bekannten Gemälden, oft auch Fresken, italienischer Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts zu sehen waren. Derartige Darstellungen erstreckten sich dabei oft auf das ganze Fächerblatt: Ein auf kostbaren Stäben aus blondem Schildpatt montierter Fächer aus den 1780er-Jahren zeigt etwa eine Darstellung der Tugenden Fortitudo, Prudentia und Temperantia nach Raffaels Fresko in den Vatikanischen Stanzen (Taf. XL und XLI). Der Fächer spiegelt in seiner generellen halbrunden Form die Rundung der Lünette Raffaels. Zugleich passt er aber auch die Positionierung der Figuren diesem Rundlauf an: Es scheint, als sei die gestrecktere Platzierung der Figuren vor einem dunkleren, mit plastischen Wolken ausgestatteten Himmel auf expressive Weise den flüchtigen Bewegungen des Auf- und Zuklappens und Fächelns angepasst, sodass die Figuren sowohl isoliert wie auch sukzessive gemeinsam präsentiert werden können. Neben diesem auch in der zweiten Jahrhunderthälfte bei Reisenden beliebten Typus wurden im späteren 18. Jahrhundert für den touristischen Markt auch andere Arten von Fächern entwickelt, die neue und je nach Herstellungsort (zum Beispiel Rom, Venedig oder Neapel) entsprechend variierende Themen und Darstellungsmodi aufwiesen. Sie griffen expliziter und selbstreferenzieller auf mittlerweile topische visuelle Elemente landschaftlicher und antiker Stätten zurück. Ein nicht montiertes, in Italien gefertigtes Fächerblatt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das sich heute im British Museum befindet, besitzt eine für diese Zeit charakteristische Komposition (Taf. XLII).66 Es zeigt drei bekannte römische Ruinen in ovalförmigen Kartuschen, die über einem ornamentalen Muster verteilt sind. In der größeren mittigen Ansicht erkennt man den Konstantinsbogen an seinen charakteristischen Reliefmedaillons, links ist der Titus­ bogen auf dem Forum Romanum zu sehen, der einen entfernten Durchblick auf das Kapitol mit dem Senatorenpalast bietet, und im rechten Bild eröffnet sich ein Blick auf die Reste des Dioskurentempels,67 ebenfalls mit einer angedeuteten Aussicht auf den Senatorenpalast aus näherer Perspektive. Die Bauwerke markieren nahe beieinander 65 Vgl. Alexander 1982 (wie Anm. 20), S. 7. 66 Dieses Fächerblatt wurde früher aufgrund seiner Inschrift dem Fächermaler Goupy (siehe Anm. 63) zugeschrieben (vgl. Percival 1921 [wie Anm. 10], S. 93), was mittlerweile als widerlegt gilt. Vgl. hierzu den Eintrag auf der Seite des British Museum, der die auf dem Fächerblatt unter dem Konstantinsbogen zu sehende kleine Inschrift „Jose Goupy. 1738 NA“ als Fälschung betrachtet: http:// www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?objectId­ =1438556&partId=1&searchText=fan+arch&page=1 (letzter Zugriff am 24. Januar 2017). 67 Im 18. Jahrhundert wurden diese drei Säulen noch für die Ruine des zerstörten Tempels des Jupiter Stator gehalten. Vgl. Michael Gagarin (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Ancient Greece and Rome, Bd. 3, Oxford 2010, S. 216.

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gelegene, nahezu auf einer Achse liegende Stationen des antiken Rom. So befindet sich beim Konstantinsbogen der Zugang zur Via Sacra, die vom Kolosseum über das Forum Romanum zum Kapitol führt; der Titusbogen wird dabei direkt am Beginn passiert, während die Ruinen des Dioskurentempels sich etwa in der Mitte des Weges Richtung Kapitol befinden. Diese in der Reiseliteratur kanonisierten Stationen wurden von Reisenden bei einem Besuch des Forum Romanum oft während eines Tages gemeinsam aufgesucht und beschrieben.68 Deutlich werden auf dem Fächer in den Farbschattierungen und durch den LichtSchatten-­Einfall die einzelnen Inschriften und Reliefs dieser antiken Stätten hervorgehoben. Die zwischen den Bogen- und Säulenöffnungen jeweils angedeuteten Ausblicke machen diese kleinen Ruinenansichten gleichzeitig zu Landschaftsausschnitten. Sie rufen die größerformatigen Vedutenszenerien in zeitgenössischen Ölgemälden, Aquarellen und Druckgrafiken in Erinnerung, die von Künstlern um diese Zeit in Rom verkauft wurden. So weisen die Fächerillustrationen etwa eine auffallende Ähnlichkeit zu den von Abraham-Louis-Rodolphe Ducros in Zusammenarbeit mit Giovanni Volpato 1780 publizierten Romveduten auf: Eine Darstellung von Ducros eröffnet in der gleichen Perspektive einen Blick auf den Dioskurentempel und zeigt dabei auch im Detail – mit der pastoralen Staffage und den zur Bausicherung an den Säulen angebrachten Metallstäben – augenscheinliche Parallelen zu der Fächerdarstellung; es ist wahrscheinlich, dass der Fächermaler diese Ansicht gekannt hat bzw. als Vorlage verwendet hat (Taf. XLIII).69 Zugleich eröffnet das hinter den Ruinenansichten zu sehende ornamentale Muster auf dem Fächerblatt eine andere Wahrnehmungsebene. So erinnern die in den rechteckigen Feldern dargestellten Rankenmotive an antike Groteskenelemente in Freskenbildern, die durch die Ausgrabungen bei Pompeji und Herculaneum im 18. Jahrhundert freigelegt oder auch bei der Domus Aurea seit der Renaissance bekannt waren und andererseits durch Künstler wie Raffael zudem neu aufgegriffen worden waren.70 Es lassen sich in den floralen Ranken des Fächerblattes etwa Anklänge an die Freskenmotive der Domus Aurea erkennen, die durch die 1776 erschienene Publikation Vestigia delle terme 68 So schildert auch Mary Berry am 28. Dezember 1783, dass sie bei einem Besuch des Kolosseums den nahe gelegenen Konstantinsbogen besichtigt, bevor sie dann zum Titusbogen und weiter zum Bogen des Septimus Severus geht (der sich nordwestlich des Dioskurentempels befindet und damit noch etwas weiter Richtung Kapitol gelegen ist). Dabei beschreibt sie auch die spärlichen Überreste des Dioskurentempels (den auch sie als Tempel des Jupiter Stator identifiziert [siehe hierzu Anm. 67]): „The three admired columns of Jupiter Stator stand in the midst of much dirt; neither their base nor plinth is above ground. They have put iron round and between them, that they may as long as possible escape the injuries of time.“ Vgl. Berry 1865 (wie Anm. 58), S. 64. Die von Berry beschriebene Sicherung der Säulen durch eiserne Vorrichtungen deutet sich auch in der Illustration auf dem hier besprochenen Fächerblatt an. 69 Zu den Stäben siehe auch Anm. 68. 70 Vgl. u. a Alessandra Zamperini, Ornament and the Grotesque: Fantastical Decoration from Antiquity to Art Nouveau, London 2008, S. 31ff.; Paul G. P. Meyboom und Eric M. Moormann (Hg.), Le decorazioni dipinte e marmoree della domus aurea di Nerone a Roma, 2 Bde., Leuven/Paris/Walpole 2013. Vgl. zu anderen Fächerbeispielen mit Groteskenmotiven Hart und Taylor (wie Anm. 10), S. 62; 68; Alexander 1994 (wie Anm. 64), Nr. 74; 48.

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di Tito e loro interne pitture Verbreitung fanden (Taf. XLIV).71 Im Unterschied zu den auf dem Fächer deutlich voneinander abgegrenzten Ruinen verweisen diese ­Muster als Teil eines regelmäßig fortlaufenden, die Ruinen einbettenden Registers weniger auf ein genau spezifizierbares antikes Objekt denn auf die bewegte Vielfalt antiker Ornamente, deren Charakter sich gerade durch fortlaufende, nicht abgeschlossene Variationen auszeichnet. Beide Darstellungsschemen treten auf dem Fächerblatt in einen deutlichen, visuell unruhigen Kontrast zueinander. Im Gegensatz zu den als imaginäre römische Erinnerungsorte gestalteten, sich jeweils aus diversen bekannten Ruinen und Skulpturen zusammensetzenden Capricci, wie sie etwa Giovanni Paolo Pannini um die Jahrhundertmitte in großer Zahl schuf, fügt diese Fächerdarstellung die römischen Ansichten somit nicht zu einem szenisch umfassenden gemeinsamen Bildraum zusammen.72 Vielmehr präsentiert sie sie als partikularisierte Orte, deren Reihenstruktur über ornamentalem Hintergrund eine (auch) schematische und in der materiellen Oberfläche verankerte Verbundenheit suggeriert und andererseits das dem Objekt eigene Moment der Bewegung und des sukzessiven Entfaltens impliziert. Die Akzentuierung einzelner, perl­schnurartig aufgereihter Rombilder ruft dabei auch andere Schmuck- und Mode­ objekte der Grand Tour in Erinnerung, wie etwa Armbänder oder kleine Behälter mit dekorativ eingefassten ovalen Antikenansichten, die vor allem im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert auf den Markt kamen.73 Derartige Objekte sind zwar noch nicht der (erst im 19. Jahrhundert einsetzenden) Massenproduktion von Souvenirartikeln zuzu­rechnen, überführen jedoch die normierten Erinnerungsbilder der traditionellen, als aristokratisch codierten Grand Tour in eine diversifizierte, spielerisch bewegte Souve­nirsprache. Diese setzt auf eine Assoziationen anregende und auch von dekorativen ­Elementen getragene Kombination einzelner stereotypisierter Schlaglichter. Die Literaturwissenschaftlerin Stephanie Fysh konstatiert am Beispiel eines anderen Typs von Fächern des 18. Jahrhunderts – literarischen Fächern, die Passagen aus Samuel Richardsons Roman Pamela illustrieren –74, dass Fächerdarstellungen ihren Besitzern nicht in erster Linie als Gedächtnisstütze oder literarische Wissensquelle dienten. Vielmehr ist das Tragen der den Roman memorierenden Bilder ihr zufolge als „statement“ zu begreifen, das die spezifische Verbindung der Trägerin zu diesen Inhalten präsentiert.75 Dieser Aspekt des Statements lässt sich auch und gerade auf Souvenirfächer über­ 71 Ludovico Mirri und Marco Carloni (Hg.), Vestigia delle terme di Tito e loro interne pitture, Rom 1776, Taf. 37. Ein weiteres Vorbild für Grotesken- und Arabeskenmotive auf Fächern dürften Giovanni Volpatos und Giovanni Ottavianis Stichwerke zu Raffaels Loggiendarstellungen gewesen sein: ­Giovanni Volpato und Giovanni Ottaviani, Le loggie di Rafaele nel Vaticano, 3 Bde., Rom 1772– 1776. 72 Zu einem von Pannini überlieferten Fächerentwurf indes, der im Aufbau seinen Capricci entspricht, siehe oben, Anm. 63. 73 Vgl. zu diesen Schmuckobjekten Wilton und Bignamini 1996 (wie Anm. 8), S. 285–289; Stefani 2011 (wie Anm. 63). 74 Diese Fächer sind nicht erhalten und nur aus Annoncen bekannt, vgl. Fysh 1997 (wie Anm. 9), S. 75–76. 75 Ebd., S. 77.

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tragen, die am Körper präsentiert werden konnten oder gemeinsam mit anderen auf der Reise erworbenen Objekten eine hauseigene Grand-Tour-Sammlung konstituierten. Die Fächerblätter dieses Fächertyps weisen, wie an zwei Beispielen noch weiter ausgeführt werden soll, eine objektspezifische, auf bewegte Präsentation wie auf intensive Betrachtung angelegte Erinnerungsästhetik auf. Sehr deutlich tritt dies etwa bei Fächern der zweiten Jahrhunderthälfte in Erscheinung, die in Neapel als lokalspezifische Souvenirobjekte angefertigt wurden (Taf. XLV). Im Unterschied zu den in Rom hergestellten Fächern zeichnen sich etliche neapolitanische Souvenirfächer durch ihren Trompe-l’oeil-Charakter aus, indem auf dem Fächerblatt als lose grafische Blätter dargestellte Ansichten der Umgebung Neapels als Bilder im Bild nebeneinandergereiht sind.76 Diese Präsentationsweise lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die mediale ,Gemachtheit‘ der einzelnen Erinnerungsbilder – die in ihrer Medialität und Materialität explizit als Verbildlichungen und Verkörperungen ästhetisiert werden. Im vorliegenden Fall lässt sich auf der gemalten Landschaftsgrafik links der außerhalb von Neapel in den Phlegräischen Feldern gelegene Agnano-See mit seiner bekannten Hundsgrotte ausmachen. Daneben erstrahlt der um diese Zeit in zahllosen Gemälden und Grafiken dargestellte feuerspeiende Vesuv, der hier vor dunklem Himmel als Aussichtspanorama des Hafens effektvoll in Szene gesetzt wird; der handschrift­liche Zusatz, der auf dem Bild zu sehen ist, verweist konkret auf den Vulkanausbruch „di notte del 1767“. Die Darstellung orientiert sich an stadtspezifischen Topoi der Reiseliteratur – viele Publikationen akzentuieren die landschaftlichen Attraktionen der Stadt und kanonisieren damit verbundene Erlebnisse von Reisenden wie den Besuch der am Agnano-See gelegenen Grotta del Cane oder die Aussicht auf den rauchenden Vulkan.77 Das Blatt auf der rechten Seite, das ein als handschriftliche Notiz in Szene gesetztes Schriftstück zeigt, markiert demgegenüber eine andere Bedeutung Neapels, die eher mit städtischem pleasure zu tun hat: Das Schriftstück, das von einem weiteren, mit Blumen bemalten Blatt seitlich überlappt wird,78 ruft mit nur wenigen sichtbaren Textpartikeln die bekannte Opernkultur der Stadt ins Gedächtnis. So lassen sich die lesbaren Worte als Auszug einer Arie von Pietro Metastasios 1730 uraufgeführtem Opernlibretto Alessandro nell’Indie79 identifizieren: Das Stück, das Alexanders Eroberungsfeldzug in Indien thematisiert und 76 Der Trompe-l’œil-Charakter der neapolitanischen Fächer wurde generell in Übersichtskatalogen als Charakteristikum in Abgrenzung zu den römischen Grand-Tour-Fächern konstatiert. Siehe hierzu und mit anderen Beispielen Hart und Taylor (wie Anm. 10), S. 67; Alexander 1994 (wie Anm. 64), o. S. und Nr. 15, 22, 23; Alexander 1982 (wie Anm. 20), S. 8; 12–15. 77 Vgl. zum Beispiel Thomas Nugent, The Grand Tour; Or, A Journey through the Netherlands, Germany, Italy, and France, 3. Auflage, London 1778, S. 402–405. Vgl. auch die oben zitierte Reisebeschreibung von Berry, in der die landschaftliche Umgebung Neapels ausführlich beschrieben und topisch als „most beautiful“ gekennzeichnet wird. Siehe Berry 1865 (wie Anm. 58), S. 92. 78 Eventuell könnte es sich hier auch um ein Stück Stoff handeln, das auf die Seidenwebertradition in Neapel verweist. Vgl. Thomas Nugents Reisebeschreibung zum städtischen Handel mit Seide, Nugent 1778 (wie Anm. 77), S. 403. 79 Pietro Metastasio, L’A lessandro nell’Indie, in: Opere Drammatiche del Signor Abate Pietro Metastasio, Romano Poeta Cesareo, a spese di Carlo Giannini, Bd. 3, Rom 1751, S. 193–276.

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die Schilderung einer schrittweisen Versöhnung der feindlichen Lager mit amourösen Verwicklungen verbindet, wurde im 18. Jahrhundert in diversen Vertonungen in verschiedenen europäischen Städten inszeniert und in mehreren Versionen bzw. Vertonungen in Neapel aufgeführt.80 In der auf dem Fächer zitierten Arie des ersten Aktes (vierter Auftritt) legt Erissena, die Schwester des indischen Königs, einem Feldherren Alexanders des Großen die Symptome des Liebesschmerzes offen. Dabei deklariert sie zugleich, dass sie selbst diese nicht empfinde und keine Gefühle für Alexander hege.81 So heißt es: „T’inganni. / Chi vive amante, sai, che delira, / Spesso si lagna, sempre sospira, / Nè d’altro parla, che di morir. / Io non m’affanno, non mi querelo, [der auf dem Fächer gezeigte Ausschnitt geht anscheinend bis hier, M.V.] / Giammai tiranno non chiamo il cielo: / Dunque il mio core d’amor non pena, / O pur l’amore non è martir.“82

Auf dem Schriftstück des Fächerblattes werden – im Rahmen einer ohnehin vielfach mit dem Fächer und seinen sozialen Codierungen verbundenen amourösen Vieldeutigkeit – just die finalen Verse der Arie ausgespart, in denen Erissena explizit ausruft, dass ihr Herz nicht von Liebesschmerz betroffen sei. Im Unterschied zu den aus weiterer Ent­fernung erkennbaren, typisierten Landschaftsbildern des Fächerblattes erschließt sich dieser fragmentierte, an andere Gedächtnisformen appellierende Text auf dem Fächerblatt nur bei naher Betrachtung.83 Über das sehr spezifische Erinnerungsspiel mit der Arie hinaus kann dieses Segment auf dem Fächerblatt zugleich diverse literarisch-­ musikalische Gedächtnisorte der Opernstadt Neapel in Erinnerung rufen, die (den zeitgenössischen Reiseführern entsprechend) die landschaftlichen und historischen Stätten dieses Reiseziels ergänzen. Insgesamt wird das Fächerblatt in einer kommerzialisierten Bildsprache als personalisiertes Speicherdokument inszeniert, das verschiedene Modi des assoziativen Erinnerns in selbstreflexiver Form offenlegt und ästhetisiert. Der Modus des Trompe-l’oeil wird auf dem Fächerblatt somit auf verschiedene Weise eingesetzt, um die literarisch und künstlerisch geprägten Erinnerungsbilder medial- und materialästhetisch auf kontrastreiche Weise als Topoi sichtbar zu machen. Über die handschriftlich erscheinenden Textpassagen und Inschriften wird zugleich ein unmittel­barer, 80 So beispielsweise 1774 in einer durch Niccolò Piccinni bearbeiteten Fassung, die im Teatro San ­Carlo aufgeführt wurde. Siehe zu den diversen Aufführungen Anthony R. DelDonna, Opera, Theatri­cal Culture and Society in Late Eighteenth-Century Naples, London/New York 2016, S. 238. Zu anderen Inszenierungen in Europa vgl. Don Neville, Metastasio, in: The New Grove Dictionary of Opera, hg. von Stanley Sadie, Bd. 3, London 1992, S. 351–361. 81 Schlussendlich wird Erissena von ihrem Bruder seinem Feldherren und Freund Gandarte als Ehefrau versprochen. Siehe Metastasio 1751 (wie Anm. 79), 3. Akt, letzter Auftritt, S. 275. 82 Ebd., 1. Akt, 4. Auftritt, S. 202–203. Für eine deutsche Übersetzung vgl. die Ausgabe von 1771: „Du betrügest dich, / Der liebet, thöricht sich verwirrt, / Er seuffzet stets, und Klagen führt, / Man ­höret ihn in seinen Klagen / Nichts anders als von Sterben sagen / Ich klage nicht, kein Leiden kenne, [bis hierhin geht der auf dem Fächer gezeigte Ausschnitt, M.V.] / Den Himmel nicht tyrannisch ­nenne / So ist denn nicht verliebt mein Herz, / Oder die Liebe ist kein Schmerz.“ Pietro Metastasio, Des Herrn Abt Peter Metastasio Kayserl. Königl. Hofpoetens Dramatische Gedichte, aus dem Italiänischen übersetzt, übers. von Anonymus, Bd. 3, Frankfurt/Leipzig 1771, S. 398. 83 Ein ähnliches Blatt ist auch ganz links auf dem Fächer zu sehen; der hier zu lesende Text entstammt vermutlich auch der Opernliteratur, konnte aber von mir nicht näher identifiziert werden.

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individueller Zugang zu den aufgereihten Gedächtnismedien suggeriert. Das Fächerblatt nimmt in dieser Form die Funktion eines Gedächtnisbehälters ein, in dem die diversen Materialien, die erworbenen Bilder und eigenen Notizen gleich einem Commonplace Book gesammelt werden.84 Dabei wird auch das Potenzial der gestischen ,Fächersprache‘ visuell reflektiert. So wird die individuelle Verfügbarkeit der Erinnerungsbilder nicht zuletzt mit dem Moment der fächerspezifischen Bewegung verknüpft, indem die ge­­malten geknickten Ecken der einzelnen Blätter an der Größe und den Falzun­gen des Fächerblattes ausgerichtet sind. Die Blätter sind, so scheint es, fest in den Fächer hineingelegt, werden mit ihm zusammengefaltet und können sukzessive wieder entfaltet werden. Die imaginative Bewegung und bildkonzeptuell eingebundene Inszenierung des Fächerblattes spielt auch bei den in Rom gefertigten Fächern eine Rolle, deren Kompositionen, wie das obige Beispiel (Taf. XLII) bereits gezeigt hat, indes zunächst deutlich anders erscheinen. Ein gegen Ende des 18. Jahrhunderts produzierter Faltfächer zeigt drei über das Fächerblatt verteilte, in fliederfarbenen Bildfeldern eingebettete Ruinen­ ansichten, die von floralen Ranken umgeben sind (Taf. XLVI). Im größeren mittleren Bild ist die bekannte Ruine des Kolosseums zu sehen; flankiert wird sie links von dem in Rom westlich gelegenen Janusbogen auf dem Forum Boarium und rechts von der Ruine des Tempels des Vespasian und des Titus, der sich unweit des Kolosseums in leicht nordwestlicher Richtung auf dem Forum Romanum befindet. Den Perlmutterverzierungen der chinesischen Deckstäbe,85 die den Anspruch erkennen lassen, den Grand-Tour-­ Fächer durch eine kostbare Montur zu einem individuellen, besonderen Besitzstück zu machen, steht die schmuckstückartige Erscheinung der ,eingelegten‘ seitlichen Ruinen­ bilder gegenüber, die durch ihre rahmenden Elemente und ihre runde Form stärker als das Mittelbild in die dekorative Ästhetik des Fächers integriert erscheinen. Diese Bildchen rufen, ähnlich wie die Darstellungen des oben gezeigten anderen Romfächers (Taf. XLII), die Mikromosaikbilder in Erinnerung, die zeitgleich an anderen Souvenirgegenständen wie Schnupftabakdosen und Parfumflakons angebracht wurden und die wohl oftmals auf die gleichen Bildvorlagen zurückgriffen.86 Rom erscheint auf dem Fächerblatt als memoriale Struktur partikularisierter, assoziativ vernetzbarer Verbild­ lichungen antiker Bauwerke, Fresken und Mosaike. Auch wenn hier eine im Vergleich zu dem Neapelfächer augenscheinlich unterschiedliche Souvenirästhetik entwickelt wird, werden jedoch auch hier Erinnerungsbilder präsentiert, deren intermedial konstituierte Formelhaftigkeit selbstreflexiv offengelegt wird. 84 Zu der Kultur der Commonplace Books im 18. Jahrhundert vgl. u. a. David Allan, Commonplace Books and Reading in Georgian England, Cambridge 2010. Siehe auch David Allans Beitrag in diesem Band. 85 Vermutlich wurde der Fächer nicht in Italien, sondern erst in England montiert. Darauf weisen die aus China stammenden, kostbar gefertigten Stäbe aus mit Gold bemaltem Schwarzlack hin, die von mit Perlmutterintarsien besetzten Deckstäben bekrönt werden. Ich danke Marie-Luise Barisch und Günter Barisch vom Deutschen Fächermuseum, Bielefeld, für ihre Hinweise zu Material und Datierung dieses Fächers. 86 Siehe oben, Anm. 63.

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In dieses Konzept fügt sich auch, dass die mittige Darstellung einen in der Bild­ tradition prominenten Blickwinkel auf das Kolosseum präsentiert, der in Romansichten bereits im 17. und dann besonders im 18. Jahrhundert in Erscheinung tritt87 und sich um 1780 zu einer prototypischen Formel sowohl in Gemälden und Grafiken wie auch in diversen Souvenirgegenständen entwickelt hat. So wird das Amphitheater hier aus der Sicht des Konstantinsbogens gezeigt; damit wird nicht seine ,unversehrtere‘ Seite, sondern vielmehr seine markanteste Bruchstelle an den Außenwänden fokussiert, die einen Blick in die inneren Gewölbe der Ruine eröffnet. Gerade der hier offengelegte Kontrast zwischen diesem markanten Einschnitt und den sich daneben erstreckenden vollständigeren Teilen der Ruine wurde in Rombeschreibungen als besonderer Reiz begriffen,88 um den Vergleich gegenwärtiger und vergangener Größe im imaginativen Spiel zu erfassen. In dieser Tradition hebt etwa der englische Reisende Alan Gardner Cornwall noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem Reisetagebuch hervor, dass es gerade „the compleat beauty of one side compared with the fallen grandeur of the other“ sei, die das Kolosseum zu einer „most perfect ruin“ mache.89 Dieser kontemplative Genuss wird auf dem Fächerblatt besonders akzentuiert. Während zeitgenössische Maler das Kolosseum vielfach ebenfalls von der Bruchseite zeigen und die Ruine dabei in von Menschengruppen bevölkerte und teils auch imaginäre bzw. capriccioartige Szenerien einbinden,90 suggeriert die Fächerdarstellung die Einsamkeit einer idyllisch abgeschiedenen, nur von vereinzelten Wanderern aufgesuchten Ruine. Ähnlich wie bei dem oben diskutierten römischen Fächer, der mittig den Konstantinsbogen zeigt (Taf. XLII), deutet sich hier auch ein Bezug zu den zeitgenössischen Romansichten von Louis Ducros an. Ducros fokussiert in einem circa in den 1780er-Jahren entstandenen Aquarell in einer vergleichbaren Nahansicht ganz auf die sich vor einer einsamen Ruinenlandschaft auftuende, grün bewachsene Ruine, die nur von einzelnen Wanderern, darunter ein elegant gekleidetes Paar im Bildvordergrund, zur Besichtigung besucht wird (Taf. XLVII).91 In der Fächerdarstellung ist vorn eine kleine, leuchtend

87 Vgl. etwa Stephanie Gropp, Das Kolosseum in der Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts, Diss. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2012, S. 142–193, URL: http://hss.ulb.unibonn.de/2012/2820/2820.pdf [letzter Zugriff am 7. Februar 2017]; vgl. auch Erik Wegerhoff, Das Kolosseum. Bewundert, bewohnt, ramponiert, Berlin 2012, v. a. S. 109–147. 88 Vgl. etwa Wegerhoff 2012 (wie Anm. 87), S. 113. 89 Alan Gardner Cornwall, Journal from Pisa to Arta Cornwall (1817/1818), MS. Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University James Marshall and Marie-Louise Osborn Collection, New Haven, Sign. Osborn d424, S. 166. 90 Vgl. etwa Giovanni Antonio Canal, gen. Canaletto, Das Kolosseum, 1742/1745, Öl auf Leinwand, 27 × 36 cm, Villa Borghese, Rom, Inv.-Nr. 540; Giovanni Paolo Pannini, Ansicht des Kolosseums, Öl auf Leinwand, 74,2 × 134,6 cm, Detroit Institute of Arts, Inv.-Nr. 47.94. 91 Einzig im linken Bildvordergrund deutet eine Frauenfigur mit einem Kind, die ein Gefäß auf ihrem Kopf transportiert, die Perspektive der einfachen Bevölkerung an, die hier mit dem Besucherpaar kontrastiert. Bezeichnenderweise passiert diese Frau die Ruine lediglich, während die anderen sich auf sie zubewegen.

„A Picture in her Hand“      | 217

rot gekleidete Wanderfigur zu erkennen, die vor der Bruchstelle, genau mittig vor dem Rundbogen, die Ruine betrachtet. Auf der anderen Seite, am rechten Bildrand, scheint eine rotgewandige Figur die Szenerie wieder zu verlassen. Dieselbe Figur findet sich überdies im linken Bild vor dem Tor des Janusbogens, und so scheint es insgesamt fast, als würde eine einzelne Wanderfigur diese Ruinenabschnitte, der Bewegung des sich öffnenden Fächerblattes folgend, auf einer Fährte durchschreiten. Der Fächer greift so sowohl in den dekorativ eingebetteten Rundansichten wie auch in der mittigen Darstellung auf intermedial und intermateriell vermittelte Topoi zurück und integriert dabei zugleich ein deutlich akzentuiertes Moment der kontemplativen Reiseerfahrung, das von Betrachtern erst in der Nahsicht erschlossen werden kann. Wie Susan Stewart in ihrer Abhandlung On Longing zum Souvenir bemerkt, entfaltet das Souvenir an dem Ort seine Wirkung, an den es von seinen Besitzern mitgenommen wird. Gerade durch seinen fragmentarischen, nur partiell auf den Herkunftsort referierenden Charakter könne das Souvenir mit ausschmückenden erinnerungsstiftenden Narrationen verbunden werden.92 Die Darstellungen auf dem römischen wie dem neapolitanischen Fächer, auch wenn sie ortspezifische, eigene Themen und Präsenta­ tionsweisen entwickeln, spiegeln diesen narrativen Anspruch durch eine komplexe Souvenir­sprache, die sowohl auf Nah- wie auch auf Fernwirkung angelegt ist. Einerseits funktioniert sie gerade über ihre evokative, Assoziationen anregende Partikularisierung von einzelnen konventionalisierten Bildern bedeutender Stätten; andererseits integriert sie neben dem so suggerierten überbordenden Bilder- und Materialschatz der Grand Tour auch das – freilich stilisierte – Moment der individuellen Anschauung, das die Erinnerung der Reise als inneren Erfahrungsraum und als persönlich ausgelagerten Bildspeicher verhandelt. Die Rhythmik der gereihten Bildelemente ist dabei jeweils mit dem fächereigenen Moment des Öffnens und Entfaltens verknüpft. Sukzessive können so die Erinnerungsbilder durch das langsame, effektvolle Aufklappen des Fächers zur Erscheinung gebracht werden.

92 „Through narrative the souvenir substitutes a context of perpetual consumption for its context of origin. It represents not the lived experience of its maker but the ‘secondhand’ experience of its possessor/owner. […] Yet it is only by means of its material relation to that location that it acquires value. […]. Second, the souvenir must remain impoverished and partial so it can be supplemented by a narrative discourse, a narrative discourse which articulates the play of desire.“ Susan Stewart, On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Durham/London 1993, S. 135; 136. Dabei könne die mit dem Souvenir verbundene Narration auch mit anderen Personen geteilt werden, solange sie in einer direkten, teilnehmenden Beziehung zum Reisenden stünden: „We cannot be proud of someone else’s souvenir unless the narrative is extended to include our relationship with the object’s owner or unless […] we transform the souvenir into the collection.“ Ebd., S. 137.

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IV. Schlussbemerkung Die vorliegenden Überlegungen haben sich mit der komplexen Bildsprache von einzelnen (Grand-Tour-)Fächerobjekten wie auch mit diversen visuellen und textuellen Diskursen der Fächerkultur im 18. Jahrhundert auseinandergesetzt. Ziel dieser Zusammenführung war es, visuelle wie auch körperlich-gestische memoriale Funktionsweisen von Fächern vor dem Hintergrund ihrer sozialen wie künstlerischen Bedeutungszuweisungen möglichst vielseitig zu diskutieren. Erst im dritten Abschnitt wurde der Fokus auf die Erinnerungs- und Souvenirkulturen der Grand Tour verengt, um spezifische fächer­ eigene Souvenirformen zu untersuchen und diese zugleich mit den zuvor diskutierten quellenbasierten Betrachtungen zum Status von Fächern in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise sollten Grand-Tour-Fächer nicht allein im Kontext ihrer Bildmotive in ihrem Zusammenspiel mit anderen Objekten der künstlerisch-literarischen Reisekultur diskutiert werden, sondern auch als materielle Objekte mit dem breiteren Kontext ihrer historischen Wahrnehmungs- und Gebrauchsformen in Beziehung gesetzt werden: Die dem bemalten Faltfächer im 18. Jahrhundert vielfach zugeschriebenen, kulturell reflektierten Eigenschaften der evokativen, assoziativen Bildwirkung und (Bildkörper)-Bewegung spiegeln sich in den einzelnen Grand-Tour-Fächerobjekten auch in einer selbstreferen­ ziellen Souvenirsprache, die eine in kommerzialisierten und popularisierten Gedächtnisbildern bereits verdichtete Erinnerung an Italien als topisches und zugleich personalisiert-verfügbares Bildwissen präsentiert.

Hanneke Grootenboer

Wie man einen Kuss verwahrt Die Porträtminiatur als intimes Andenken

Um 1800 wurde, wahrscheinlich in St. Petersburg, eine Serie von drei sehr ungewöhnlichen Bildern gemalt, die sich noch heute in der Sammlung der Eremitage befindet (Taf. XLVIII–L).1 In ähnlichen Kompositionen zeigen diese Miniaturen isolierte Partien eines menschlichen Körpers: ein einzelnes Auge, einen Mund sowie zwei Hände mit einem Schriftstück, jeweils von blaugrauen Wolken umgeben.2 Die mit relativ preiswerten bronzenen Rahmen versehenen kleinen Bildanhänger sind nicht signiert, und es ist praktisch unmöglich, in diesen Darstellungen eine porträtierte Person zu identifizieren. In seiner frühen, 1824 erschienenen Biografie des Miniaturmalers Gerhard von Kügelgen (1772–1820) beschreibt Friedrich Hasse die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in St. Petersburg verbreitete Mode, an der Brust ein Medaillon zu tragen, das ein Augenporträt mit einer Haarlocke enthielt.3 Auch wenn die hier gezeigten drei Bildanhänger kein Haar einschlossen, waren sie wahrscheinlich Teil dieser Mode. Von Kügelgen, ein sehr erfolgreicher Künstler am königlichen Hof, schuf nachweisbar mindestens zwei Augenminiaturen, darunter ein Augenporträt von Fürst Adam Jerzy Czartoryski, das auch von Hasse erwähnt wird,4 sowie das bekanntere Selbstporträt, das sich auf der Rückseite des Porträts von Wilhelm Johann Zoege von Manteuffel befindet. Man kann durchaus annehmen, dass er auch Miniaturen in der Art der St. Petersburger Bildserie produzierte. Die drei Darstellungen sind offensichtlich als Ensemble konzipiert, und es liegt nahe, dass das Auge, die Lippen und die Hände zum selben Modell gehörten. Es ist unklar, ob es sich hierbei um ein Mitglied der wohlhabenden Familie Jussupow handelt, in deren Sammlung sich die Objekte befanden, bevor sie in die Eremitage gelangten; die 1 Einige Abschnitte dieses Beitrags wurden von der Autorin in englischer Sprache in folgender Publikation publiziert: Hanneke Grootenboer, Treasuring the Gaze. Intimate Vision in Late Eighteenth-Century Eye Miniatures, Chicago/London: University of Chicago Press, 2012; © 2012 by The University of Chicago. All rights reserved. 2 Vgl. auch Hanneke Grootenboer, Intimate Portraits: Eye, Mouth and Hand Miniatures, in: Nathalie Lemoine-Bouchard (Hg.), La miniature en Europe. Des portraits de propagande aux œuvres éléphantesques, Paris 2013, S. 104–108, hier 104. ­ erson 3 „Es war damals Sitte in Petersburg, ein gemaltes Auge, mit einer Locke von dem Haare der P eingefaßt, unter Glas auf der Brust zu tragen.“ Friedrich Christian August Hasse, Das Leben ­Gerhards von Kügelgen, Leipzig 1824, S. 77. 4 Ebd., S. 77.

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Miniaturen könnten auch ein Geschenk an die Familie gewesen sein. In jedem Fall aber muss es sich bei dem Ensemble um eine äußerst private Gabe an eine bestimmte Person gehandelt haben, die eine sehr spezifische Botschaft trug. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung diese Objekte, diese Launen der Miniaturmalerei hatten. Sind sie Porträt­ miniaturen grundsätzlich ähnlich oder tatsächlich etwas ganz anderes? Zumindest können sie, auch wenn es sich hier um die Porträts eines Auges und eines Mundes handelt (bezüglich der Hände bin ich mir hier weniger sicher), nicht als Bildnisse im konventionellen Sinne bezeichnet werden.5 Betrachten wir die Objekte zunächst einzeln etwas näher. Augenminiaturen sind, wie wir wissen, ungewöhnlich, jedoch nicht unüblich – so sind etwa 200 Beispiele aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in öffentlichen und privaten Sammlungen er­halten.6 Zunächst kamen sie bei der englischen Aristokratie in Mode, nachdem der Prince of Wales bei einem Opernbesuch ein Medaillon mit einem gemalten Auge ­seiner inoffiziellen Gattin Maria Fitzherbert an einem Armband getragen hatte.7 Ende der 1780er-Jahre waren sie in London bereits recht verbreitet, und von dort ausgehend entwickelte sich dieser Trend im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auch in den aristokratischen ­K reisen Kontinentaleuropas.8 So ist etwa überliefert, dass Marie-Louise von Österreich, die zweite Ehefrau Napoleons I., eine beträchtliche Sammlung besaß;9 Emma Hamilton und Horatio Nelson tauschten Augenporträts aus, und auch einige Augen Byrons zirkulierten in den 1810er-Jahren.10 Galten Augenporträts zunächst als romantisches Liebespfand – als Bild eines Blickes einer geliebten Person, der stetig auf dem Betrachter ruhte –, so dienten sie später auch als allgemeinere, jedoch stets intime Gabe. Ganze Familien ließen offenbar ihre Augen malen. Es existiert sogar ein 1802 als Geburtstagsgeschenk für König Friedrich Wilhelm III. geschaffenes ,Augen-Gruppenporträt‘, das die Augen seiner Ehefrau Königin Luise von Preußen und von vier ihrer Kinder zeigt.11   5 Vgl. Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 104.   6 Die beiden größten Sammlungen von Augenminiaturen besitzen das Philadelphia Museum of Art, Philadelphia, und das Victoria and Albert Museum, London.   7 Richard Cosway, Augenporträt von Mrs. Fitzherbert, ca. 1786, Aquarell auf Elfenbein, Privatsammlung. Vgl. dazu auch Hanneke Grootenboer, Treasuring the Gaze: Eye Miniature Portraits and the Intimacy of Vision, in: The Art Bulletin 88 (2006), Nr. 3, S. 496–507, hier 496–498; Hanneke Grooten­boer, Treasuring the Gaze: Intimate Vision in Late Eighteenth-Century Eye Miniatures,­ ­C hicago/London 2012, S. 45–47.   8 Vgl. Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 104; Grootenboer 2006 (wie Anm. 7), S. 496; Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 48–62. Vgl. auch Astrit Schmidt-Burkhardt, Sehende Bilder: Die Geschichte des Augenmotivs seit dem 19. Jahrhundert, Berlin 1992, S. 19–21.   9 Vgl. Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 61; Hubert Glaser (Hg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat (Ausst.-Kat. München, Staatliches Museum für Völkerkunde), München 1980, S. 613. 10 Vgl. Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 72; 164–168; Grootenboer 2006 (wie Anm. 7), S. 501. 11 Anonymus, Augenporträts von Königin Luise von Preußen und vier ihrer Kinder, 1802, Bleistiftzeichnung auf Karton, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Vgl. dazu Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 53–54.

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Vielleicht resultierte der größte Reiz der Augenporträts aus ihrer Anonymität: Dass die Identität des Dargestellten nur dem Besitzer des Augenporträts bekannt war, niemals aber der Außenwelt, verstärkte die Einzigartigkeit dieses Geschenks. Der oder die Liebende konnte sich am Bild eines Blickes erfreuen, dessen Ursprung nur er oder sie kannte. Manche Augen wurden auch zum Trauerschmuck, indem Kristalle oder Diamanten als symbolische Darstellung von Tränen auf dem elfenbeinernen Träger angebracht wurden (Taf. LI). Vor dem Hintergrund der Kultivierung des Weinens im Zeitalter der Empfindsamkeit, als Tränen als gegenseitiger Gabentausch betrachtet wurden, scheint das hier gezeigte gemalte Auge diamantene Tränen über seinen eigenen Tod zu weinen, während es zugleich eine unmittelbare Reaktion seines Betrachters in Form tatsächlicher Tränen hervorrufen soll.12 Im Unterschied zu den einst sehr modischen Augenminiaturen sind Mundminiaturen extrem selten. Wir wissen mit Sicherheit, dass der bekannte Miniaturenmaler Richard Cosway einmal auch die Lippen des Prince of Wales malte, als er verschiedene Augenporträts von ihm und Maria Fitzherbert schuf.13 Das St. Petersburger Medaillon gehört damit zu den wenigen erhaltenen Beispielen von Mundminiaturen, und man kann sich fragen, um was für eine Darstellung es sich hier eigentlich handelt. Ist es lediglich ein Porträt, oder trägt das Bild noch eine andere Bedeutung? Johann Caspar ­Lavater schrieb in seinen Physiognomischen Fragmenten, „[a]lles liegt in dem menschlichen Munde, was im menschlichen Geiste liegt“, und der Mund scheint ihm so noch charaktervoller als das Auge.14 Während das Auge Bilder unserer verborgenen Gemütserregungen male und als solches mehr zur Seele gehöre, betont Lavater im Hinblick auf den Mund: „Wie die ­Lippen, so der Charakter.“15 Könnte das St. Petersburger Bild also letztlich als ein Bild des Charakters einer bestimmten Person betrachtet werden? Tatsächlich mag die Mode der Augen- oder Mundporträts zum Teil von Lavaters Theorie geprägt ge­­wesen sein, dass das Wesen eines Menschen in den einzelnen Teilen des Gesichts gelesen werden könne. So könnten wir uns etwa fragen, was für geheime Gemütsbewegungen oder Charakter­züge wir in einem sehr ausgefallenen Gruppenporträt im Innern einer Schnupftabakdose entdecken können, das verschiedene Lippen- und Augenpaare vereint.16 Es ist schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass die dort dargestellten Augen und Lippen eine Sammlung verbotener Blicke und im Verborgenen zugeworfener Küsse 12 Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 104. Vgl. auch ausführlicher Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 89–111. 13 Diese Objekte wurden in einer Liste mit ausstehenden Forderungen erwähnt. Zum Inventar, in dem sich diese Liste befindet, vgl. Stephen Lloyd, The Cosway Inventory of 1820: Listing Unpaid Commissions and the Content of 200 Stratford Place, Oxford Street, London, in: The Volume of the Walpole Society 66 (2004), S. 163–218, hier 171; 197. 14 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Dritter Versuch, Leipzig/Winterthur 1777, S. 121. 15 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Vierter Versuch, Leipzig/Winterthur 1778, 260. Siehe hier und im Folgenden auch Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 106. 16 Um 1800, Privatsammlung.

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sein könnten, die das Behältnis zu einem köstlichen geheimen Souvenir eines Libertins machten. Vor diesem Hintergrund stellt sich bei dem Mund der St. Petersburger Miniatur die Frage, ob er tatsächlich die Gesichtspartie einer bestimmten Person abbildet oder ihren Charakter bezeichnet – oder ob er nicht vielmehr das Porträt eines Kusses ist, der ebenso sehr einen künftigen Kuss wie auch einen bereits geschehenen Kuss assoziiert?17 Die etwas größere dritte Miniatur des St. Petersburger Ensembles schließlich zeigt zwei Hände und ein Schriftstück mit den Worten „La vraie Amitié est le don des Dieux“ („Wahre Freundschaft ist ein Geschenk der Götter“) und ist meines Wissens einzigartig in der Geschichte der Miniaturmalerei. Wissentlich oder unwissentlich wird hier das Handmotiv einer viel älteren Miniaturtradition aufgegriffen, wie wir es in Nicholas Hilliards Porträt eines unbekannten Mannes von 1588 sehen können (Taf. LII).18 Auf diese Weise bietet das dritte St. Petersburger Bild meines Erachtens einen Schlüssel zur Bedeutung und Funktion der anderen beiden Bilder und fasst zudem das grundsätzliche Wesen der Anredestruktur von Porträtminiaturen zusammen. Hände greifen und halten, sie ergreifen und halten fest, sie geben und nehmen. Die Miniatur scheint gleichsam zum Ausdruck bringen zu wollen, dass sie sich mit der Freundschaftserklärung auf dem Schriftstück selbst in die Hände des Empfängers legt und verlangt, festgehalten, sicher verwahrt, ja als Schatz gehütet zu werden. Die dunklere, breitere und maskuliner erscheinende linke Hand, die gerade die Botschaft geschrieben hat, ist offenkundig die Hand des Schenkenden, während die elegante, längliche und feminin erscheinende Hand das Papier entgegennimmt. Das Schriftstück geht somit in andere Hände über, gleich einer Miniatur, die verschenkt wird. Ich möchte diese drei außergewöhnlichen Miniaturen als Ausgangspunkt für einige Reflexionen über das Wesen der Porträtminiatur nehmen. Gerade die Tatsache, dass Augen- und Mundporträts in den Randbereichen der Kunstgeschichte überlebt haben, als Sammlerobjekte und in den unteren Schubfächern der Museumsarchive und (daher) in kunsthistorischen und bildwissenschaftlichen Studien wenig theoretisiert worden sind, kann sich für uns als Vorteil erweisen. Als vergessene Artefakte konfrontieren sie uns als Kunsthistoriker mit einem ungewohnten Umgang mit Miniaturen. So könnten die winzigen Augen- und Mundporträts, die plötzlich in Mode kamen und wieder in Vergessenheit gerieten, auf einen Verdichtungsmoment in der Entwicklung der Geschichte der Kunst verweisen, der aus unserem Blickfeld verschwunden ist. Diesen Moment können wir rekonstruieren, wenn wir Kommunikationsweisen und Ausdrucksstrategien offenlegen, die bisher unsichtbar geblieben sind. Wie wir sehen werden, fasst die St. Petersburger Miniatur mit dem Schriftstück das Wesen der Anredestruktur zusammen, das die Porträtminiatur im Allgemeinen wie auch die Mund- und Augenminia17 Neben Porträtminiaturen von Augen und Mündern sollen auch Brüste ,im Kleinen‘ verewigt worden sein. So wurden Brustminiaturen manchmal an der Deckelinnenseite von Schnupftabakdosen angebracht, um eine sehr persönliche Gabe daraus zu machen. Derartige außerordentlich private Bilder wurden entsprechend geschützt, und es existieren nur wenige bekannte Objekte. 18 Vgl. hier und im Folgenden ebenfalls Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 106.

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turen gemeinsam haben.19 Ausgehend von diesem spezifischen Objekt möchte ich ver­ suchen, den Knoten in der Geschichte der Miniaturmalerei zu entwirren. In diesem Beitrag betrachte ich die Porträtminiatur mehr als evokatives Objekt denn als bloßes Bildnis. Tief verwurzelt in komplexen Ökonomien des Tausches – des Übergehens in andere Hände – ist sie immer eine Botschaft wie auch eine Antwort, ein Geschenk wie auch eine Einladung; ganz ähnlich wie das Schreiben eines Briefes beantwortet sie eine bestimmte Handlung und erwartet zugleich eine weitere. Es ist eine Kultur geheimer Botschaften, gestohlener Blicke und versprochener Küsse, in der die Augen- und Mundporträts zu verorten sind. Diese unterscheiden sich, so möchte ich behaupten, von Gesichtsdarstellungen, wenngleich sie in der Kunst der Miniaturmalerei verwurzelt sind: Die isolierten Körperpartien sind keine Synekdochen, sie stehen nicht für das Gesicht als Ganzes, sondern sie sind vielmehr ein vergegenständlichtes Gefühl: ein Kuss oder Blick, der greifbar gemacht worden ist.20 Um diese Art des Austausches wirklich zu verstehen, betrachten wir zunächst ­Pompeo Batonis bekanntes Doppelporträt von Sir Sampson Gideon und einem unbekannten Freund von 1767, das ein musterhaftes Beispiel für die Anredestruktur einer Miniatur bietet (Taf. LIII).21 Gideon sitzt an einem Tisch, auf dem eine Minerva-Büste zu sehen ist, und hält seinem Freund ein Medaillon zur Ansicht entgegen, das ein Miniaturporträt und eine Haarlocke enthält. Dabei dürfte es sich um ein Bildnis der späteren Gattin Gideons, Maria Eardley Wilmot, handeln, das Gideon als Bestätigung der gemeinsamen Verlobung empfangen hat.22 Sein Freund blickt das Bildnis intensiv an und erscheint gedankenversunken. Vergeblich versucht der Hund, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Das Medaillon befindet sich genau in der Mitte der Bildkomposition und zugleich auch im Zentrum der Bilderzählung: der Transaktion zwischen den beiden Protagonisten. Susan Stewart hat bekanntermaßen argumentiert, dass die Miniatur am Beginn der privaten, individuellen Geschichte stehe.23 Indem Batonis Gemälde darstellt, wie Gideon das Medaillon öffnet und das darin verborgene Porträt seinem Freund zeigt, macht es einem intendierten Publikum den privaten Blick, die private Geschichte des Geschenks öffentlich. Das Gemälde erzeugt den Eindruck der Anrede, vermittelt durch narrative Spannung: zwischen dem Bild und Gideon, zwischen Gideon und seinem Freund wie 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Für eine ausführlichere Diskussion dieses Gemäldes vgl. Angus Trumble, A Roman Holiday – Pompeo Batoni and Sir Sampson Gideon, in: Art and Australia 36 (1998), Nr. 1, S. 84–87; vgl. auch Edgar Peters Bowron und Peter Björn Kerber (Hg.), Pompeo Batoni: Prince of Painters in Eighteenth-­Century Rome (Ausst.-Kat. Houston, Museum of Fine Arts, London, The National Gallery), New Haven/ London 2007, S. 69. Siehe zu dem Porträt ebenfalls Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 25–26 und Marcia Pointon, “Surrounded with Brilliants”: Miniature Portraits in Eighteenth-Century England, in: The Art Bulletin 83 (2001), Nr. 1, S. 48–71, hier 65–66. 22 Vgl. Bowron und Kerber 2007 (wie Anm. 21), S. 69. 23 Susan Stewart, On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Durham/London 1993, S. 71.

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auch zwischen dem Freund und dem Hund. Die ernsten Gesichter der beiden Dargestellten, Gideons besorgter Blick, den er dem Freund zuwirft, und der abgewandte Blick der Minerva-Skulptur suggerieren eine erzählerische Auflösung. Der Schlüssel zur zentralen Position der Miniatur in dieser gemalten Erzählung und zum besonderen Kontrast zwischen ihrer sehr privaten Natur und ihrer allgemeinen Offenlegung liegt, wie ich denke, in der Beziehung des Porträts zu dem Brief, den Gideon in der linken Hand hält. Der Brief ist vom Medaillon genau so weit entfernt wie der Kopf des Freundes, sodass das Medaillon von beidem sozusagen eingerahmt wird. Während wir die Porträtminiatur hier buchstäblich in andere Hände übergehen sehen, ist es zugleich bemerkenswert, dass das Medaillon Gideon von seiner Verlobten nicht persönlich übergeben worden ist, sondern in einem Brief an ihn gesandt wurde. Trotz der Bedeutung, die das Medaillon für das Paar besitzt, geht es in dem Gemälde weniger um den Austausch der Miniatur zwischen den Liebenden als um die Sichtbarkeit der Miniatur für die erwarteten Betrachter des Bildes. Die Miniatur dient hier als bedeutsamer Zusatz zum Brief, dem sie beigefügt ist. Wir könnten sogar sagen, dass die Miniatur, eben weil sie Gideon nicht persönlich überreicht wurde, sich eher an ihn wendet, als dass sie ihm geschenkt wird.24 Die Praxis des Betrachtens aus nächster Nähe in relativer Abgeschiedenheit, die die Miniatur verlangt, steht in scharfem Kontrast zu der exzessiven Sichtbarkeit, die Batoni dem Medaillon verleiht, indem er es zum Fokus seiner großen Komposition macht. Aber wer, fragt man sich, interessiert sich dafür, die Übergabe des Medaillons der zukünftigen Braut in so monumentaler Größe zu sehen, abgesehen von den beiden Protagonisten dieser Gabengeschichte? Batoni legt derartiges Gewicht auf die Überreichung des Medaillons, und doch bleibt unklar, für wen sie eigentlich in Szene gesetzt wird. Wie Marcia Pointon bemerkt, legt die Analogie zwischen der Tauschökonomie der Miniaturporträts und der Intimität des Briefeschreibens einen Gefühlsdiskurs offen, in dem die Porträtminiatur nicht einfach das Geschenk einer geliebten Person ist, sondern Teil einer komplexen Konstellation imaginärer Gesten und Erwiderungen.25 Wie ein Brief nahezu immer in Erwartung einer Antwort versandt wird, setzt auch die Anrede­ struktur der Miniatur eine Antwort, eine Erwiderung voraus. In Batonis Gemälde sehen wir, dass die Miniatur als Bestätigung der Verlobung tatsächlich eine Art Erwiderung ist. Aber ihre postalische Ankunft erwartet ihrerseits eine Antwort. Genau genommen wird diese ganze Transaktion von Botschaften, die in andere Hände übergehen, in der St. Petersburger Miniatur der beiden Hände mit dem Schriftstück zusammengefasst. Wenn wir für einen Augenblick annehmen, dass Porträtminia­ turen tatsächlich, ganz ähnlich wie schriftliche Korrespondenz, Teil einer solchen Tauschökonomie der Gefühle waren, stellt sich die Frage, welche Botschaft das Ensemble der drei Miniaturen vermittelte. Bilder wie Francis Wheatleys erotisch gefärbte Komposition, die die intime Beziehung einer jungen Frau zu einer Porträtminiatur thematisiert, 24 Vgl. auch Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 26. 25 Pointon 2001 (wie Anm. 21), S. 63–67.

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suggerieren, dass diese Porträtobjekte nicht allein Gebrauchsgegenstand waren oder der Ergötzung dienten, sondern dass sie vielmehr Teil einer fortwährenden ,Konversation‘ oder ,Korrespondenz‘ waren (Taf. LIV). Eine Geliebte Lord Byrons, Lady Frances ­Webster, schrieb 1813 in einem Brief an den Dichter, dass sie sich so an die Gegenwart seines Bildes gewöhnt habe, dass es eine Art Freund und gar ein Gesprächspartner für sie geworden sei. Das Bild „[…] seems to speak to me—it speaks comfort to my wounded mind […] I cannot put it out of my sight […].“26 In einem weiteren Brief desselben Jahres hebt sie hervor: „Your picture dearest Byron is my constant Companion – I gaze at it – till every feature seems to speak.“27 Im Gegensatz zu Porträtminiaturen, die als Bildnisse bewundert, gehalten, an die Brust gedrückt und geküsst werden können, scheinen Augen- oder Mundporträts nicht zu Zärtlichkeiten einzuladen. Und dennoch scheinen sie etwas mit dem oder der Betrachtenden zu ‚machen‘, wenn sie seinen oder ihren Blick erwidern. Wenn wir auf eine um 1800 entstandene Augenminiatur blicken, müssen wir zugeben, dass es dort kaum etwas zu sehen gibt (Taf. XLVIII; LI). Es passiert sehr wenig im Hinblick auf das Augenporträt als Bild, und dennoch wird viel gesehen – aber eher auf der Seite des kleinen Bildes als auf der Seite des Betrachters. Das Augenporträt ist nicht bloß ein Seh­ objekt, eine Darstellung, die betrachtet werden kann, sondern es scheint selbst eine Art Sicht zu besitzen. Es stellt sich die Frage, wer genau hier schaut. Sind wir es, die die kleinen Bilder an­­blicken, oder sind diese gespenstischen Augen nur dazu da, uns anzusehen? Ist das Einzige, was tatsächlich in diesen winzigen Bildern geschieht, die Erwiderung unseres Blickes? Wie beim Briefeschreiben gibt es hier ein deutliches Moment der Symmetrie, indem das Augenporträt – immer – einen flüchtigen Blick beantwortet und dabei stets das zurückgibt, was der Betrachter ihm schenkt, nämlich den Blick. Sollten wir die Augenminiatur vielleicht nicht als Bildnis im traditionellen Sinn verstehen? Ist sie nicht vielmehr eine Liebesgeste, eine fortwährende Antwort auf eine vorangegangene Frage und eine Bitte um Erwiderung, eine Art von Zwinkern oder visuellem Kuss, der uns in dem Moment zugeworfen wird, wenn wir den Blick darauf richten?28 Um 1800 halten viele Porträtierte in Porträtminiaturen ganz bewusst Briefe in ihren Händen, genauso wie in Darstellungen früherer Jahrzehnte Porträtierte eine Porträtminiatur festhielten. Wenn wir Miniaturen mit Briefen näher betrachten, erhalten wir eine tiefere Einsicht in die Art dieser Korrespondenzen. Als eines von vielen Beispielen zeigt ein Bild des französischen Künstlers Jean Baptiste Soyer eine unschuldig lächelnde junge Frau vor dem stilisierten Hintergrund einer romantischen Landschaft (Taf. LV).29 26 Brief von Lady Frances Webster an Lord Byron, 25. November 1813, zit. in: Annette Peach, Portraits of Byron, in: The Volume of the Walpole Society 62 (2000), S. 48. 27 Brief von Lady Frances Webster an Lord Byron, 28. Dezember 1813, zit. in: Peach 2000 (wie Anm. 26), S. 48. 28 Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 107. 29 Vgl. zu Soyers Miniatur im Folgenden auch meine Bildanalyse in Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 26–28.

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Ihr linker Arm stützt sich auf einen Felsen, ihre linke Hand, an deren Ringfinger ein goldenes Band zu sehen ist, ist ausdrucksvoll in der Mitte des Bildes positioniert. Mit der rechten Hand umklammert sie einen Brief, den sie soeben erhalten zu haben scheint – das rote Siegelwachs ist noch auf dem Papier zu sehen. Ihre offenen Augen und ihr fröhliches Lächeln scheinen uns nach langer Abwesenheit zu begrüßen, und wir Betrachtenden mögen uns an dieser Begrüßung erfreuen, die unseren Blick empfängt – bis wir langsam gewahr werden, dass der weiche Blick und das entzückende Lächeln sich gar nicht an uns richten, sondern an die Person, deren Brief sie gerade gelesen hat. ­Völlig darauf eingestellt, gesehen zu werden, in einer Art, die ebenso narzisstisch ist wie gefällig, strecken sich die Augen und sogar der ganze Körper der jungen Frau aus, um den imaginären Blick der geliebten Person zu erwidern, an die das Bild gerichtet ist. Die Botschaft in diesem Bild wird durch ihre Körpersprache geschrieben. Ihr Lächeln und ihr intensiver Blick verraten Begehren oder sogar ein Ausgeliefertsein im Hinblick auf eine Antwort auf diesen Brief. Das Bild ist somit ihre Antwort. Und zugleich bleibt dieser Brief unlesbar für jeden mit Ausnahme des intendierten Bildbetrachters. Ganz gleich, wie sehr unser voyeuristischer Blick sich in dieses kleine Bild versenkt, die Freigiebigkeit dieser Frau besteht in einem Geschenk, das genau genommen nicht jedem gemacht werden kann. Was sie mit diesem Bild zu geben bereit ist, ist eine Art Kontakt oder Berührung über die Entfernung hinweg. Die Porträtminiatur ist nicht nur das kostbare Geschenk eines schönen Bildnisses, das bewundert werden soll, sondern ein Träger, der einen besonderen Raum erzeugt, eine intime Umgebung, in der die Dargestellte und die von ihr angesprochene Person auf gewisse Weise miteinander allein sind.30 Soyers Miniatur und andere dieser Art sind augenfällige Beispiele, in denen Briefe und Bilder im Rahmen einer Korrespondenz austauschbar werden. Der durch die exklusive Anredestruktur entworfene intime Rahmen, durch den das Porträt als Botschaft einen privaten Betrachter voraussetzt, wird noch evidenter in einem deutschen, von einem unbekannten Künstler geschaffenen Miniaturporträt der Gräfin Edling von etwa 1785 (Taf. LVI). Gräfin Edling entschied sich, die Risiken einer deutungsoffenen visuellen Kommunikation zu vermeiden. Um ihre Botschaft ohne jegliche Zweideutigkeit zu vermitteln, hält die Dargestellte ein Schriftstück in den Händen, auf dem eine handgeschriebene Botschaft an den intendierten Empfänger des Geschenks zu lesen ist: „Lebe lang und leb gesund wünscht mein Herz und spricht mein Mund.“ Trotz ihrer Bemühung, sich unmissverständlich auszudrücken, findet sich die Gräfin mit einem Paradox konfrontiert. Sie möchte über den Text einen Wunsch einfügen, der nicht im Sichtbarkeitsbereich der Miniatur zum Ausdruck gebracht oder ausgesprochen werden kann. Jedoch steht dieser Text, der artikulieren soll, was sie sagen möchte, im Widerspruch zu ihrem Bildnis, denn ihr fest geschlossener Mund spricht eben gerade nicht. Es scheint, als ob die hier versuchte Vereinigung von Porträt und Brief den Wunsch der Gräfin

30 Ebd., S. 30.

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zeigt, den Gegensatz von Wort und Bild zu überwinden.31 Diesen Gegensatz legt Chevalier ­Danceny der Marquise de Merteuil in Pierre Choderlos De Laclos’ Briefroman Les ­Liaisons dangereuses treffend offen: „Mais une lettre est le portrait de l’âme. Elle n’a pas, comme une froide image, cette stagnance si éloignée de l’amour [...].“32 Gräfin Edling wie auch Danceny waren wahrscheinlich von einer berühmten Passage aus dem bekannten mittelalterlichen Briefwechsel zwischen Héloïse und Abélard inspiriert, in der Héloïse an ihren Geliebten schreibt: „Si les portraits de nos amis absens ravivent leur souvenir et allègent le regret de leur absence par une vaine et trompeuse consolation, combien sont plus précieuses les lettres qui nous apportent de véritables empreintes de l’ami absent!“33

Porträtminiaturen mit Briefen sind, wie ich vorschlagen möchte, selbstreflexive Versuche, die Porträts von Gesicht und Herz zu vereinen, um ein vollständigeres Selbst,Bild‘ zu erzeugen, das in Erwiderung ebenso wie in Erwartung einer Liebesbezeugung geschenkt werden kann. Wenn die Briefe in diesen Porträtminiaturen inspirieren und ,sprechen‘ sollen, können wir uns fragen, welche Art der intimen Kommunikation eine Frau in einer 1789 gemalten Porträtminiatur führt (Taf. LVII): Die junge Frau auf einer Parkbank sieht gerade von einem Brief auf, den sie in ihrer linken Hand hält, um dem Empfänger des Bildes direkt in die Augen zu blicken. Mit einer Innigkeit, die an die Frau in Soyers Bild erinnert, macht ihr Körper eine Aussage, ihre Offenheit gegenüber dem Adressaten ist jedoch deutlich stärker erotisch geprägt. So deutet sich mit dem gelösten Mieder und ihrer an die Brust gelegten rechten Hand eine Angebotsgeste an. Es scheint in der Tat so, als sei ihre Antwort die Einladung zu einer intimen Begegnung, das Versprechen, ebendiese Brust zu sehen, vielleicht zu berühren.34 Es existieren einige Miniaturen dieser Art, die, so könnte man resümieren, weniger einen voyeuristischen Blick auf die Brust einer jungen Frau bieten als vielmehr das Ver­sprechen einer Berührung über die Entfernung hinweg.35 Wir können die Natur dieses Austausches noch besser verstehen, wenn wir ein noch extremeres Beispiel betrachten, das 1828 von der nordamerikanischen Miniaturistin Sarah Goodridge geschaffen wurde (Taf. LVIII). Die Darstellung zeigt, von kreppartigem Gewebe umrahmt, eine schön geformte, samtige weibliche Brust, die in leuchtenden Hautfarben auf fast transparentem Elfenbein gemalt ist. Trotz der schmalen Bildmaße hat sie eine gewisse Präsenz, ja es äußert sich geradezu ein selbstreflexives Moment. Ein kleines Muttermal in der Nähe des Brustbeins trägt umso mehr dazu bei, diese Ansicht

31 Vgl. zu dieser Bildanalyse auch Grootenboer 2012 (wie Anm. 7), S. 30–31. 32 Pierre Choderlos de Laclos, Les Liaisons Dangereuses, hg. von René Pomeau, Paris 1981 (Erstaus­ gabe Paris 1782), S. 338. 33 Héloïse et Abélard, Lettres. Traduction nouvelle par Le Bibliophile Jacob, précédée d’un travail historique et littéraire par M. Villenave. Paris 1880 (Erstausgabe Paris 1840), S. 125. 34 Vgl. auch Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 107. 35 Vgl. zum Beispiel die noch explizitere Miniatur von Anonymus, Jeune Femme au sein dénudé, ca. 1800, Paris, Musée des Arts Decoratifs, Inv.-Nr. 39719.

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als Brustporträt zu individualisieren. Was wir hier sehen, ist ein beispielloses Selbst­ porträt der Künstlerin.36 Obwohl wir, als Betrachtende, es jetzt erblicken, sollte uns klar sein, dass dieses Bild ursprünglich von niemandem gesehen werden sollte mit Ausnahme des einzigen Betrachters, für den es gemacht wurde. Eingesetzt in ein rotes Lederetui, dessen Satinfutter denselben Farbton wie die milchige Haut der dargestellten Brüste aufweist, wurde dieses Bild von der Künstlerin ihrem Freund Daniel Webster geschenkt, etwa ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung im Jahr 1828. Webster, ein verheirateter Senator aus Massachusetts, stand Goodridge in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten mindestens zwölfmal Modell, und in dieser Zeit bestand zwischen ihnen ein reger Briefwechsel. Das Bild wurde so auch als Freundschaftsgeschenk interpretiert;37 was dieses immens private Artefakt offenlegt, ist indes gerade die intime Dimension, die ihre Beziehung gehabt haben muss. Stellen wir uns vor, was dieses Schmuckstück für Webster bedeutet haben muss, wenn er das Lederetui unterwegs in seiner Tasche trug und es nur in Momenten absoluter Einsamkeit öffnete, um seinen Blick auf eine Kostbarkeit zu richten, die nur ihm gehörte. Die Brüste sind ohne Zweifel ihm angeboten, sie scheinen förmlich nur seiner zu harren. Statt an einen Moment der Intimität zu erinnern, scheinen die Brüste diesen eher zu erwarten: Dieses Geschenk ist eine Einladung zu einer Begegnung, die durchaus nie stattgefunden haben mag – dann wäre diese Miniatur ein Zeugnis unerfüllten Begehrens. Goodridge entschied sich bewusst dafür, Webster ein Bild ihres Körpers statt ihres Gesichts zu schenken. Sie wollte ihm ein Bild eines Teils von ihr geben, den niemand sehen konnte – und da sie nie heiratete, ist es wahrscheinlich, dass niemand außer ihr selbst sie je so gesehen hat. Durch das Öffnen der kleinen roten Schachtel konnte Websters Blick sich sozusagen auf eine Reise in ein unberührtes Territorium begeben und etwas sehen, zu dem niemand außer Goodridge selbst Zugang hatte. Das Geschenk dieses Bildes kann als Triebfeder des Begehrens betrachtet werden, wenn eine tatsäch­ liche körperliche Begegnung unerfüllt bleiben musste.38 Goodridge schuf dieses Selbstporträt in dem Jahr, in dem sie 40 Jahre alt wurde. Als ein Geschenk an Webster ist das Bild zugleich auch eine Ode an ihren alternden Körper und als solches eine Liebeserklärung nicht so sehr an ihren Freund wie an die Schönheit ihrer eigenen, noch immer jugendlich aussehenden Brüste. Wenn wir die Sorgfalt studieren, mit der dieses Bild gemalt wurde, die feinen Übergänge von Schnee-

36 Zu der Bildanalyse vgl. hier und im Folgenden auch Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 107–108. Zu der Miniatur vgl. auch u. a. Robin Jaffee Frank (Hg.), Love and Loss: American Portrait and Mourning Miniatures (Ausst.-Kat. New Haven, CT, Yale University Art Gallery, Charleston, SC, G ­ ibbes Museum of Art, Andover, MA, Addison Gallery of American Art), New Haven/London 2000, S. 259– 264. 37 So in einer früheren, mittlerweile indes überarbeiteten Fassung des Katalogeintrags des Metropolitan Museum of Art. 38 Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 108.

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weiß zu schattigem Grau, die subtilen Schattierungen, die die ganze Fülle ihrer Brüste zum Ausdruck bringen und sie fühlbar werden lassen, können wir nahezu ihrem eigenen zärtlichen Blick folgen, mit dem sie das Spiegelbild ihres Körpers zu streicheln scheint, während sie es malt. Vielleicht ist dies der Grund, warum die Betrachtung dieses Bildes den Eindruck erweckt, dass wir in einen privaten Raum eindringen, und wir das unbehagliche Gefühl bekommen, wir hätten das Etui nicht öffnen sollen. Auf eine bestimmte Art und Weise vermittelt dieses Bild, das heute paradoxerweise mit „Beauty Revealed“ betitelt wird, das Gefühl, dass wir zu viel sehen, dass unser Blick eine Intimität verletzt, die nicht geteilt werden will, sondern nur geraubt werden kann.39 Tatsächlich ist die Vorstellung des Intimen im Bezug auf den Blick als ein Raum definiert, in dem man vor öffentlicher Exponierung geschützt ist, in den kein voyeuristi­sches Auge eindringen kann.40 Websters exklusiver Zugang zur intimen Sphäre des Etuis, ebenso wie der flüchtige Blick auf ein Augen- oder Mundporträt, soll nicht das Sehen von Geheimnissen gestatten, sondern das Sehen im Geheimen. Indem sie eine Zone des Intimen markieren, in der das Öffentliche und das Private sich in konstanter Fluktuation befinden, schaffen Briefe, Porträtminiaturen, Augen- und Mund­porträts ebenso wie die Orte, an denen sie aufbewahrt und von ihren Besitzern betrachtet w ­ urden, einen intimen, abgeschiedenen Raum: Hier kann das Bild eines Mundes wie ein Kuss gefühlt ­werden, kann ein stummes Bildnis sprechen, die Figur im Bild nur für den Empfänger posieren und das Geschenk eines solchen ,Porträts‘ tatsächlich eine Berührung ver­ sprechen.41

39 Ebd. 40 Vgl. auch Gérard Wajcman, The Birth of the Intimate I, in: Lacanian Ink 23 (Sommer/Herbst 2004), S. 57–81, hier 75. 41 Grootenboer 2013 (wie Anm. 2), S. 108.

Patrizia Munforte

,Transcripts of features and forms ever at hand‘ Miniaturen in der nordamerikanischen Memorialkultur nach 1800

Eindringlich und zugleich eingeschüchtert wendet sich die Frau den Betrachtern zu (Taf. LIX). Sie trägt ein schwarzes Kleid mit weißen Unterärmeln und einem weißen Spitzenkragen, und ihr Haar ist, der Mode der 1850er-Jahre entsprechend, zusammengebunden und mittig gescheitelt.1 Das kühle graue Monochrom dieser nordamerikanischen Ambrotypie2 bildet einen Kontrast zu dem warmen Rouge auf ihren Wangen. Mit Goldfarbe wurden in der Aufnahme die Ohrringe und die zwei Ringe am Zeige- und Ringfinger der rechten Hand gemalt, um auf den sozialen Status der Porträtierten hinzuweisen.3 Rechts steht ein bedeckter Beistelltisch, auf dem die Frau ihren linken Arm angewinkelt ruhen und dabei die Hand über der Tischkante hängen lässt. Auf dem Schoß liegt ihre rechte Hand, die ein dunkles, rechteckiges Objekt umfasst. In den damaligen fotografischen und gemalten Porträts war es üblich, dass Porträtierte einen Gegenstand hielten. In diesem Fall ähnelt das rechteckige Objekt in der Hand der Frau einem Buch – ein Requisit, das besonders in der Porträtmalerei als Hinweis auf den gelehrten bzw. bildungsbürgerlichen Hintergrund einer porträtierten Person gelesen werden kann.4 Bei näherer Betrachtung indes enthüllt sich der Gegenstand als eine geschlossene Miniaturschatulle. Derartige Porträtaufnahmen, in denen geschlossene Schatullen gezeigt werden, sind in fotografischen Museumssammlungen selten zu finden. Konnte ein solches Objekt als Modeaccessoire gelten, und zeichnete es eine soziale Zugehörigkeit? 1 Zur Haar- und Kleidermode in den 1850er-Jahren vgl. Joan L. Severa, Dressed for the Photographer: Ordinary Americans and Fashion, 1840–1900, Kent 1995, S. 94–104. 2 Die Ambrotypie wurde in den frühen 1850er-Jahren auf dem Markt eingeführt. Sie ist ein Direktpositiv und daher ein Unikatbild. Das Negativ wird durch das nasse Kollodiumverfahren auf einer Glasplatte entwickelt. Sobald man das Bild auf einen dunklen Hintergrund legt, wird das Positiv wiedergegeben. Vgl. hierzu Bertrand Lavédrine, Photographs of the Past: Process and Preservation, Los Angeles 2009, S. 50–57. 3 Die Praxis der Handkolorierung folgte den gleichen Regeln wie in der Miniaturmalerei. Fotografen verwendeten für ihre Aufnahmen echten Goldstaub und vermengten diesen mit einem Bindemittel. Zur Anwendung der Farbe in frühen fotografischen Verfahren vgl. M. Susan Barger und William B. White, The Daguerreotype: Nineteenth-Century Technology and Modern Science, Baltimore/London 1991, S. 39; Mark Osterman, Introduction to Photographic Equipment, Processes, and Definitions of the 19th Century, in: Michael R. Peres (Hg.), Focal Encyclopedia of Photography: Digital Imaging, Theory and Applications, History, and Science, 4. Auflage, Oxford 2007, S. 36–123, hier S. 64–65. 4 Vgl. Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum: Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985, S. 118.

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Als ausschlaggebende Publikation, die sich mit den geschlossenen Etuis in solchen Aufnahmen umfassend beschäftigt hat, gilt nach wie vor Geoffrey Batchens Buch Forget Me Not aus dem Jahr 2004.5 Der Kunsthistoriker zählt diese Aufnahmen zum Genre der ‚vernacular photography‘, das sich auf die alltäglichen und am weitesten verbreiteten Fotopraktiken seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezieht, jedoch von der Foto­g rafieforschung weitgehend marginal behandelt wurde.6 Aufnahmen, in denen Porträtierte geschlossene Etuis halten, ordnet Batchen generell in einen memorialen und zugleich medienreflexiven Kontext ein.7 Einerseits nimmt er an, dass ein im Bild zu sehendes Etui leer gewesen sein könnte; das es zeigende Porträt sei dann womöglich erst nach seiner Fertig­stellung selbst in ebendieses Etui eingesetzt worden.8 Demnach fungiert die kleine Schatulle als Behälter für die Fotografie und stellt somit ein Porträtaccessoire dar. Tatsächlich waren diese Etuis besonders in Nordamerika und Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts als elegante Schutzhüllen für die zerbrechlichen und lichtempfindlichen Unikat­bilder bestimmt.9 Andererseits hält Batchen es auch für wahrscheinlich, dass in einer im Bild dargestellten geschlossenen Schatulle eine Aufnahme einer der/dem Porträtierten nahestehenden Person aufbewahrt ist. Für diesen memorialen Zweck reiche auch nur ein sichtliches ,Antippen‘ des Objekts.10 In der eingangs gezeigten Ambrotypie würde demnach die Frau mittels des geschlossenen Etuis auf eine im Bild abwesende Person verweisen, deren Präsenz durch das kleine Objekt angedeutet und dadurch substituiert wird.11 Allerdings verschwindet in dieser Aufnahme die Schatulle fast gänzlich hinter der Hand der Porträtierten, wes­wegen eine evidente Zeigegeste aussteht. Im Sinne Batchens würde das Etui dann als bloßes Accessoire im Bild fungieren. Obwohl das Objekt unauffällig wirkt, bleibt die Schatulle im Bild trotzdem erkennbar. Vergleicht man dieses Porträt mit anderen Aufnahmen, die Schatullen und fotografische Bilder ostentativ in Szene setzen, stellt sich die Frage, ob das Etui noch eine andere Bedeutungsebene vermittelt. Ein Gegenbeispiel stellt etwa die Daguerreotypie einer Frau dar, die eine große Porträtaufnahme eines elegant gekleideten Mannes direkt der Kamera vorführt (Taf. LX). Das Porträt ist in einem eleganten Etui eingefasst, und sein Aufnahmeformat verleiht dem Bild eine beträchtliche physische Präsenz im Porträt der Frau. Anhand des Umfangs   5 Forget Me Not ist zugleich der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die 2004 im Van Gogh ­Museum in Amsterdam stattfand. Vgl. Geoffrey Batchen (Hg.), Forget Me Not: Photography and Remembrance (Ausst.-Kat. Amsterdam, Van Gogh Museum), New York 2004.   6 Vgl. hierzu auch Geoffrey Batchen, Each Wild Idea: Writing, Photography, History, Cambridge, MA, 2000, S. 57–80.   7 Vgl. Batchen 2004 (wie Anm. 5), S. 12–14.   8 Vgl. ebd., S. 14   9 Zur Herstellungsgeschichte der nordamerikanischen Fotoetuis vgl. Floyd Rinhart und Marion ­R inhart, American Miniature Case Art, South Brunswick, NJ, 1969. Zu der britischen Produktion der Miniaturetuis empfiehlt sich John Hannavy, Case Histories: The Packaging and Presentation of the Photographic Portrait in Victorian Britain, 1840–1875, Woodbridge 2005. 10 Vgl. Batchen 2004 (wie Anm. 5), S. 12. 11 Vgl. ebd.

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der präsentierten eingerahmten Aufnahme lässt sich erkennen, dass diese einer sogenannten ganzen Daguerreotypieplatte mit einer Abmessung von 21,5 × 16,5 Zentimetern entspricht.12 Folgt man Batchens zweiter Annahme, so weist die Frau mit der Präsentationsweise des Porträts dezidiert auf die Abwesenheit des Mannes hin. Somit ist die Aufnahme in einem memorialen Kontext eingebettet. Nicht zuletzt lässt sich auch die Frau selbst zusammen mit dem Abwesenden erinnern, möglicherweise auch, weil sie kein gemeinsames Porträt besaß. In diesem Sinne wird in dieser Daguerreotypie der Akt des Erinnerns sowie auch derjenige des Erinnertwerdens dargestellt. Die Aufnahme unterscheidet sich von der eingangs gezeigten Ambrotypie besonders in der Vorführungsart des Etuis. Das Porträt des Mannes wird direkt den Betrachtern gezeigt, sodass das Etui nur von der Innenseite zu sehen ist. Primär soll in dieser Aufnahme das Porträt, das heißt der Inhalt des Etuis, präsentiert werden. Die Ambrotypie hingegen deutet vage auf die äußere Form der Schatulle hin, sodass der Blick auf das womöglich darin eingeschlossene Bild zurückgewiesen wird. Eindeutig wird die Inszenierung des Etuis in Aufnahmen, in denen die Porträtierten die geschlossenen Schatullen in die Kamera halten. In einer Porträtdaguerreotypie13 aus den 1850er-Jahren ist beispielsweise zu sehen, wie eine ältere Frau ein Etui mit beiden Händen an den Kanten hält und dieses den Betrachtern darbietet (Taf. LXI). Selbst wenn sich das Etui unscheinbar in der unteren rechten Ecke befindet, wird ihm dennoch durch die ostentative Präsentationsweise eine besondere Aufmerksamkeit gegeben, wodurch die Form und Materialität des Etuis bildlich an gewichtiger Präsenz gewinnen. Eine solche Präsenz des Etuis war mitunter auch in der zeitgenössischen Malerei zu finden. Als rares Fundstück gilt das Porträt des Folk-Art-Künstlers William Matthew Prior (1806–1873) aus dem Jahr 1846 (Taf. LXII). Dargestellt ist ein Kind, das ein blauweißes, schulterloses Kleid und eine rote, zweireihige Perlenkette trägt.14 In seiner rechten Hand hält es einen Strohhut, während es mit der linken ein kleines Etui an die linke Schulter anlehnt. Da der Daumen zwischen den zwei Etuihälften liegt, wird suggeriert, dass das Kind dabei ist, die Schatulle zu öffnen. Mit dieser ungelenken Bewegung wird die Sicht auf eine angeschnittene Ecke eines goldenen Passepartouts freigegeben, das eine graue Fläche umrahmt. Mittels der Farbe lässt sich klarstellen, dass das Etui eine

12 Zu den verschiedenen Formaten von Daguerreotypieplatten vgl. Osterman 2007 (wie Anm. 3), S. 104. 13 Die Daguerreotypie ist ein Direktpositiv-Verfahren und war das erste kommerziell erfolgreiche fotografische Verfahren in Nordamerika. Es wurde bis in die 1860er-Jahre ausgeführt. Daguerreotypien bestehen aus einer versilberten Kupferplatte, die mit einer lichtempfindlichen Silberjodid­ lösung beschichtet ist. Die Platte wird in eine Kamera eingesetzt, und nach der Belichtung wird das Bild mit Quecksilberdämpfen entwickelt und fixiert. Vgl. Osterman 2007 (wie Anm. 3), S. 66–67. 14 Im 19. Jahrhundert trugen Mädchen und Knaben bis zum siebten Lebensjahr schulterlose Röcke, weshalb sich das Geschlecht des Kindes in Priors Gemälde nicht identifizieren lässt. Vgl. Laurie Weitzenkorn, William Matthew Prior, Child with Straw Hat, in: Deborah Chotner (Hg.), American Naive Paintings: The Collections of the National Gallery of Art, Systematic Catalogue, Cambridge 1992, S. 296–308, hier S. 301.

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Daguerreotypie einschließt.15 Auf diese Weise wird zwar verraten, welches Bildmedium die Schatulle aufbewahrt, doch, wie bei den Aufnahmen beider Frauen mit den geschlossenen Etuis, verwehrt auch Prior die vollständige Sicht auf den Bildinhalt. Angedeutet oder augenfällig arrangiert, das geschlossene Etui in diesem Gemälde wie auch in den beiden fotografischen Aufnahmen ist, so die hier vertretene Ansicht, jeweils auch unabhängig vom darin möglicherweise enthaltenen Bild zu untersuchen. In der nordamerikanischen Memorial- und Bildpraxis stellt die kleine, rechteckige Schatulle nicht allein ein Accessoire oder Platzhalter für eine abwesende Person dar; vielmehr ist sie auch als eigenständige Akteurin zu betrachten und auf ihre materielle Beschaffenheit zu befragen. Die Frage nach dem enthaltenen oder dafür vorgesehenen Bildmedium ist zwar zu stellen, doch ist es auch entscheidend, die Schatulle aus kulturhistorischer Perspektive im Kontext einer spezifischen Bild- und Materialkultur des 19. Jahrhunderts zu verankern. Im Folgenden wird die These vertreten, dass derartige im fotografischen Bild inszenierte Etuis in der Tradition der nordamerikanischen Miniaturmalerei betrachtet werden können, die nach 1800 besonders innerhalb der Memorial- und Materialkultur Nordamerikas eine zentrale Bedeutung einnahm.16 Schatullen dieser Art wurden nicht erst nach der Markteinführung der Daguerreotypie im Herbst 1839 als deren Zubehör eingeführt. Ursprünglich diente das Etui bereits in der Miniaturmalerei als Schutz vor Stößen und Schmutz sowie als edles Gehäuse für die auf Elfenbein gemalten Porträtminiaturen.17 Im übertragenen Sinne bewahrte das Etui die kostbaren Erinnerungen auf. In Bildern inszenierte Etuis verweisen auf diese langjährige Tradition sowie auch auf eine damit assoziierte Memorialkultur. Die Darstellungsweisen des Etuis in den drei Frauenporträts und in Priors Gemälde veranschaulichen, dass traditionelle und moderne Erinnerungspraktiken eng miteinander verschränkt waren. Die geschlossene Schatulle stellt so buchstäblich eine Scharnierstelle zwischen moderner und traditioneller Erinnerungspraxis dar.

Das Miniaturetui in der nordamerikanischen Bildtradition Als Dominique François Jean Arago (1786–1853) im Januar 1839 der französischen Akademie die Erfindung von Louis Jacques Mandé Daguerre (1787–1851) vorstellte, löste die Bekanntgabe Begeisterung und zugleich Vorbehalte aus. Von Beginn an wurde eine zwiespältige Debatte geführt, in der das neue Verfahren der Daguerreotypie als hybrides Bildmedium bezeichnet wurde, das zwischen traditionellen Bildkünsten und wissen15 Vgl. ebd. 16 Vgl. hierzu Anita Schorsch, Mourning Art: A Neoclassical Reflection in America, in: The American Art Journal 8 (1976), Nr. 1, S. 4–15. 17 Vgl. Rinhart und Rinhart 1969 (wie Anm. 9), S. 17; vgl. Dale T. Johnson, An Introduction to the ­H istory of American Portrait Miniatures, in: Dale T. Johnson (Hg.), American Portrait Miniatures in the Manney Collection (Ausst. Kat. New York, Metropolitan Museum of Art) New York 1990, S. 13–26, hier S. 23.

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schaftlichem Hilfsinstrument stand. Darauf folgten zahlreiche Artikel über das neuartige Bildverfahren durch die Tageszeitungen. In Nordamerika stieß die Daguerreotypie aufgrund ihrer detaillierten und vermeintlich realistischen Bilder größtenteils auf Neugierde und Experimentierfreude.18 Um eine Grundvorstellung über das neue Verfahren zu bekommen, war Nordamerika auf die ausländische Korrespondenz angewiesen. Die Kundgebung der neuen Erfindung gelangte auf Umwegen. Erste Berichte wurden von französischen Zeitungen zunächst ins Englische übersetzt und in britischen Zeitungen publiziert, bevor sie dann schließlich in nordamerikanischen Zeitungen wiedergedruckt wurden. Bis zu ihrer Einführung in Nordamerika im Herbst 1839 konnte die Daguerreotypie nur von einzelnen Amerikanern begutachtet werden, deren Beobachtungen und Erfahrungen mit dem neuen Bildmedium in Zeitungen publiziert wurden.19 Gleich nach der Ankündigung von Daguerres Erfindung meldete auch der englische Wissenschaftler William Henry Fox Talbot (1800–1877) sein Salzpapierverfahren, das wie die Daguerreotypie ,ohne menschlichen Eingriff‘ Bilder erzeugen konnte. Die fotografischen Bilder in Talbots Verfahren waren im Gegensatz zur Daguerreotypie zwar reproduzierbar, doch wiesen sie aufgrund der unscharfen Aufzeichnungsweise einen nahezu pittoresken Charakter auf, weshalb sie nicht wie die Bilder der französischen Konkurrenz die bestehenden Sehkonventionen gänzlich brechen konnten.20 Obwohl beide Verfahren nicht mit den klassischen Bildmedien zu vergleichen waren, wurden sie gleichwohl für die bessere Vermarktung dem bestehenden Bildermarkt angeglichen. In Nordamerika wurde die Daguerreotypie formalästhetisch der traditionellen Miniaturmalerei angepasst, was bereits beim Standardformat augenscheinlich wird. Die kontinentaleuropäische Normgröße war eine sogenannte Viertelplatte mit einem Umfang von zehn mal acht Zentimetern, die in der Regel mit einem Passepartout und einem Rahmen versehen wurde. In Nordamerika und teils auch Großbritannien bestand hingegen eine mehrheitliche Nachfrage nach Sechstelplatten, die sieben mal acht Zentimeter maßen und sich somit mit dem Format des damaligen Miniaturformats deckten.21 Um die zerbrechlichen Unikate zu schützen, boten sich die bereits existierenden Miniaturetuis an. 18 Vgl. hierzu Richard Rudisill, Mirror Image: The Influence of the Daguerreotype on American Society, Albuquerque 1971, S. 49–76; Jennifer Green-Lewis, Not Fading Away: Photography in the Age of Oblivion, in: Nineteenth-Century Contexts 22 (2001), S. 559–585, hier S. 565. 19 Vgl. Marcy J. Dinius, The Camera and the Press: American Visual and Print Culture in the Age of the Daguerreotype, Philadelphia 2012, S. 13. 20 Helmut Gernsheim und Alison Gernsheim haben darauf hingewiesen, dass der mäßige Erfolg des Salzpapiers in Nordamerika auf das restriktive Patentrecht Talbots zurückzuführen ist. Vgl. ­Helmut Gernsheim und Alison Gernsheim, The History of Photography: From the Camera Obscura to the Beginning of the Modern Era, London 1969, S. 65–83. Doch auch Daguerre hatte seine Erfindung streng patentieren lassen. Der Erfolg der Daguerreotypie liegt vielmehr an der spezifischen Qualität des Verfahrens, wie etwa der einzigartigen Detailtreue. Vgl. auch Green-Lewis 2009 (wie Anm. 18), S. 567; Hans Rooseboom, What’s Wrong with Daguerre?, in: Tanya Sheehan und Andrés Mario Zervigón (Hg.), Photography and Its Origins, New York 2015, S. 29–40, hier S. 30–33. 21 Zu den verschiedenen Formaten einer Daguerreotypie vgl. Osterman 2007 (wie Anm. 3), S. 104– 105.

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Die Aufnahmen wurden in einer Etuihälfte hinter einer Glasscheibe und in einem goldenen Passepartout eingeschlossen, während die gegenübergesetzte Hälfte mit einem Kissen aus Seide oder Samt versehen war, um das fragile Bild zu schützen. Durch die Übernahme dieser rechteckigen Schatullen wurde ein bestehender und bereits etablierter Markt bis in die 1860er-Jahre gefördert und weitergeführt.22 Mediengenealogisch ist das Etui mit der Tradition der Miniaturmalerei verbunden, deren Ursprung in Nordamerika im 17. Jahrhundert zu lokalisieren ist.23 Nach Neu­ england von den ersten englischen Pilgern als kleine, transportable Andenken an die im Mutterland zurückgelassene Familie eingeführt, avancierten Porträtminiaturen Mitte des 18. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen zu einem weit verbreiteten und prestigeträchtigen Andenken. Im privaten Kontext wurden die Miniaturen meistens zu einem bestimmten Anlass angefertigt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts tauschte man in elitären Kreisen Porträtminiaturen, um sozioökonomische Beziehungen zu besiegeln.24 Besonders beliebt als Symbol für emotionale Bindungen kennzeichneten die in dekorierten ovalen Medaillons eingesetzten Bildnisse Liebesbeziehungen, familiäre Verhältnisse sowie die Erinnerung an Verstorbene.25 Zur charakteristischen Umgangsweise gehörte das geschlechtsspezifische Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie Öffentlichkeit und Privatem. Männer verbargen die an Halsketten hängenden Miniaturen in ovalen Medaillons unter der Kleidung, während Frauen die kleinen Porträts als modische Accessoires trugen, um etwa ihre emotionale Bindung zum Porträtierten öffentlich zu bekunden.26 Diese Umgangsweise veranschaulicht auch Charles Willson Peale im Porträt von Mrs. Walter Stewart aus dem Jahr 1782 (Taf. LXIII). Das Ölbild wurde von Walter Stewart in Auftrag gegeben und stellt dessen Ehefrau Deborah ­McClenachan dar. In modischer Manier trägt die elegant gekleidete Frau zwei Armbänder mit Porträtminiaturen an beiden Handgelenken. Gemäß der Kunsthistorikerin Robin Jaffee Frank führt McClenachan auf diese Weise ihre persönliche Bindung zu den Porträtierten vor: Am rechten Handgelenk bringt das Bildnis von Walter Stewart ihr Ehebündnis zum Ausdruck. Am linken Handgelenk verweist das Porträt ihres Vaters auf ihre familiäre Herkunft.27 22 Vgl. Rinhart und Rinhart 1969 (wie Anm. 9), S. 17. 23 Vgl. ebd.: In dieser Publikation wird erstmals auf die enge Wechselbeziehung zwischen Miniaturmalerei und Daguerreotypie am Beispiel der Miniaturetuiproduktion eingegangen. 24 Vgl. hierzu Anne Verplanck, Patina and Persistence: Miniature Patronage and Production in Antebellum Philadelphia, in: Sven Beckert und Julia B. Rosenbaum (Hg.), The American Bourgeoisie: Distinction and Identity in the Nineteenth Century (Palgrave Studies in Cultural and Intellectual History), New York 2010, S. 64–85, hier S. 64. 25 Vgl. Robin Jaffee Frank (Hg.), Love and Loss: American Portrait and Mourning Miniatures (Ausst.-­ Kat. New Haven, CT, Yale University Art Gallery, Charleston, SC, Gibbes Museum of Art, Andover, MA, Addison Gallery of American Art, Phillips Academy), New Haven, CT, 2000, S. 15–34. 26 Vgl. Marcia Pointon, „Surrounded with Brilliants“: Miniature Portraits in Eighteenth-Century England, in: The Art Bulletin 83 (März 2001), Nr. 1, S. 48–71, hier S. 48. Siehe auch den Beitrag von Hanneke Grootenboer im hier vorliegenden Band. 27 Vgl. Jaffee Frank 2000 (wie Anm. 25), S. 21–22.

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Einige Miniaturporträts, die zu Lebzeiten entstanden, wurden posthum als Erinnerungsbilder umgestaltet. Der aus London stammende Künstler Nathaniel Hancock (aktiv in Neuengland und Virginia von 1785 bis 1809) etwa malte das Miniaturporträt von Joseph Barrell Jr. (1765–1801), zehn Jahre bevor der Bostoner Geschäftsmann starb. Nach dessen Tod wurde dasselbe Porträt in ein größeres Medaillon eingesetzt (Taf. LXIV). Auf der Rückseite des Amuletts ist eine weitere Miniatur zu sehen, die auch von Hancock stammt (Taf. LXV). Das Bild zeigt eine Trauerszene, die komplexe symbolische Bezüge herstellt und vom beigelegten Schriftstück kommentiert wird. Die Trauerdarstellung zeichnet sich insbesondere durch den Weidenbaum mit den herabhängenden Ästen und die darunter stehende Urne aus.28 Nathaniel Hancock malte auch posthume Miniaturen, wie etwa das Porträt von Elizabeth Scott, der Ehefrau des Marinechirurgen Abijah Cheever aus Boston (Taf. LXVI).29 Die Miniatur wurde nach dem Tod der Frau im Jahr 1795 angefertigt und in ein ovales Amulett mit vergoldetem Messingrahmen eingesetzt, auf dem die Inschrift eingraviert wurde: „Elizabeth Scott Brown. 13th Nov. 1768. Married Dr. Abijah Cheever, 5th July 1789. Died July 1795“. Das Besondere an diesem Trauerporträt ist die Beigabe der drei zu Schleifen gebundenen Haarsträhnen der Verstorbenen, die auf der Rückseite des Amuletts angebracht wurden (Taf. LXVII).30 Das Beifügen von Haaren zu den Miniaturen war vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein populärer Brauch. Besonders im Kontext der Trauer ähnelt diese Praxis einem Reliquienkult, wodurch der memoriale Wert der Miniatur verstärkt werden sollte.31 Nach 1800 erhielt die Miniaturmalerei einen entscheidenden Stellenwert innerhalb der privaten und kollektiven Trauerriten. War er auch nicht der alleinige Grund, so steht der Trauerkult um George Washington (1732–1799), der nach seinem Tod am 14. Dezember 1799 einsetzte, im engen Zusammenhang mit einer zunehmenden Kultivierung der Miniaturmalerei. Um den ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten manifestierte sich eine beispiellose nationale Trauer, die von einer starken Materialkultur begleitet und gefördert wurde. Alsbald baute sich eine auf Memorialpraktiken ausge-

28 Zur komplexen Trauerikonografie in Nordamerika Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Schorsch 1976 (wie Anm. 16), insbes. S. 6. Lori Zabar weist in ihrem Aufsatz zur nordamerikanischen Miniaturmalerei kurz auf Barrells Miniaturporträt hin, äußert sich jedoch nicht zur Form des ursprüng­l ichen Etuis. Vgl. Lori Zabar, The Case of the American Portrait Miniature, in: Carrie Rebora ­Barratt und Lori Zabar (Hg.), American Portrait Miniature in the Metropolitan Museum of Art, New Haven/­ London 2010, S. 11–28, hier S. 18. 29 Vgl. Dale T. Johnson (Hg.), American Portrait Miniatures in the Manney Collection (Ausst. Kat. New York, Metropolitan Museum of Art), New York 1990, S. 130–131; vgl. Carrie Rebora Barratt und Lori Zabar (Hg.), American Portrait Miniature in the Metropolitan Museum of Art, New Haven/­ London 2010, S. 63. 30 Zur Industrialisierung der geflochtenen Haare in edlen Accessoires vgl. Helen Sheumaker, Love Entwined: The Curious History of Hairwork in America, Philadelphia 2007, S. 30–60. 31 Vgl. Davida Tenenbaum Deutsch, Jewelry for Mourning, Love, and Fancy, 1770–1830, in: The ­Magazine Antiques 155 (April 1999), S. 566–575, hier S. 566–569.

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richtete Industrie auf, die zunehmend nach tragbaren Bildern verlangte.32 Ein beliebtes Motiv für Miniaturen war die Darstellung einer Urne mit dem Porträt Washingtons, an der meistens Frauen als Allegorie der Nation um den Verlust des Pater Patriae trauer­ten (Taf. LXVIII). Die Bürger drückten ihren Patriotismus aus, indem sie derartige Darstellungen, aber auch Miniaturen mit Washingtons Porträt bei sich trugen.33 Diese Ikonografie der Trauer übertrug sich auch auf das private „mourning picture“34. Dadurch wurde eine große Nachfrage nach Darstellungen ausgelöst, in denen Hinterbliebene am Grab ihrer verstorbenen Familienmitglieder trauern. In der Miniaturmalerei kam diese Darstellungsweise Anfang des 19. Jahrhunderts stark in Mode, und die kleinen Bilder erhielten schließlich auch unabhängig von ihrer spezifischen Ausgestaltung einen festen Platz innerhalb der Trauerpraktiken.35 Als Folge eines veränderten ästhetischen Geschmacks wurde um 1830 das rechteckige Miniaturformat eingeführt. Vermehrt wurde nach „small ,oil paintings‘“36 verlangt, die sich vom großformatigen Ölbild nur in den Proportionen unterscheiden sollten. Auch wenn der Kunsthistoriker Dale T. Johnson das Format als sperrig und unhandlich bezeichnet,37 stellten sie immer noch „ambulant portraits“38 dar. Die kleinen Bilder konnten weiterhin getragen und mitgenommen werden. Geschützt im rechteckigen Etui konnte man die Miniaturen zudem entweder versteckt in der Schublade aufbewahren oder aufgestellt auf einem Möbelstück im Wohnzimmer den Gästen präsentieren. Die Etuis sollten in erster Linie die Erinnerungen vor dem Zerfall der Zeit bewahren.39 Zwischen den 1840er- und den 1860er-Jahren wurde das rechteckige Miniaturetui ebenfalls als Schutz für die fragilen fotografischen Aufnahmen eingesetzt. Durch die kulturelle Funktion der Schatulle schloss sich die Fotografie an die langjährige Tradition der nordamerikanischen Miniaturmalerei an. Diese Bildkunst war darin und darüber hinaus ein wichtiger Referenzpunkt für die Identitätsbildung der frühen nordamerikanischen Fotografie. So beschrieb man die fotografischen Aufnahmen schließlich sogar als Miniaturen, und zugleich bezeichnete man das neue Verfahren wiederum auch als lokale Kunst. Auf diese Weise schlug sich die mediale Wechselbeziehung auch im Vokabular nieder.40

32 Vgl. hierzu Martha V. Pike und Janice Gray Armstrong (Hg.), Prologue, in: Martha V. Pike und Janice Gray Armstrong (Hg.), A Time to Mourn: Expressions of Grief in Nineteenth Century America (Ausst.-Kat. Stony Brook, NY, The Museum of Stony Brook, Chadds Ford, PA, Brandywine River Museum of the Brandywine Conservancy), Philadelphia 1980, S. 11–18, hier S. 11–14. 33 Vgl. Jaffee Frank 2000 (wie Anm. 25), S. 109–111. 34 Schorsch 1976 (wie Anm. 16), S. 5. 35 Vgl. Pike und Armstrong 1980 (wie Anm. 32), S. 16. 36 Johnson 1990 (wie Anm. 17), S. 23. 37 Vgl. ebd. 38 Pointon 2001 (wie Anm. 26), S. 48. 39 Vgl. Rinhart und Rinhart 1969 (wie Anm. 9), S. 17. 40 Vgl. John Wood, The Silence and Slow Time: An Introduction to Daguerreotype, in: John Wood (Hg.), The Daguerreotype: A Sesquicentennial Celebration, Iowa City 1989, S. 1–29, hier S. 22.

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Bereits im Jahr 1849 stellte der Antebellum-Schriftsteller Timothy Shay Arthur (1809–1885) fest, die in „purple morocco“41-Etuis eingefassten Porträtaufnahmen seien eines der „American characteristics“. Sie seien eine wichtige amerikanische Kunst, die günstiger als gemalte Bilder sei und deshalb in den meisten amerikanischen Wohnzimmern ihren festen Platz gefunden habe. Entscheidend ist dabei, dass Arthur das Verfahren der Daguerreotypisten als „limning faces“42 beschreibt, womit er sich auf die alte Bezeichnung ,limner‘ bezieht, die besonders im 16. und 17. Jahrhundert in England und Nordamerika für den Beruf des Miniaturmalers verwendet wurde.43 Indem Arthur eine bewusste Parallele zwischen den Daguerreotypisten und den Miniaturmalern zieht, versteht er die Daguerreotypie als ein traditionelles nordamerikanisches Handwerk. Neben der Einordnung der Daguerreotypie in die Traditionslinie der Miniaturmalerei mittels der Wortwahl ist Arthurs Text insofern zentral, als er das neue Bildmedium als zuverlässigen Erinnerungsträger charakterisiert. Besonders dieser Aspekt wird in frühen Auseinandersetzungen mit der Fotografie wiederholt aufgegriffen. Im Folgenden sollen diese Debatten an Textbeispielen demonstriert werden, um zu veranschaulichen, wie sich mit dem neuen Medium spezifische memoriale Topoi entwickelten und verbreiteten. Aus der Zuschreibung, die Fotografie sei ein beständiges Erinnerungsmedium, gingen, wie zu zeigen sein wird, auch neue, medienspezifische Topoi hervor.44

Eingeschriebene Erinnerungen. Memoriale Diskurse in Antebellum-Amerika Gleich nach der öffentlichen Bekanntgabe im Januar 1839 machten Berichterstatter auf die andersartigen Qualitäten der Daguerreotypie aufmerksam, die sich besonders von denjenigen der etablierten Bildkünste abhoben. Insgesamt lässt sich in diesen Diskursen eine verstärkte Wahrnehmung der Aufnahmeweise und Materialität des neuen Bild­ mediums beobachten. Diese hatte nicht zuletzt Auswirkung auf die Rolle der Fotografie innerhalb der Erinnerungskultur. Noch bevor das neue Bildmedium der breiten Öffentlichkeit physisch vorlag, prägte das gedruckte Wort die Vorstellung über die Daguerreotypie.45 In diesem Sinne argumentiert die Anglistin Marcy Dinius, dass die Fotografie

41 Timothy Shay Arthur, American Characteristics: No. V.—The Daguerreoypist, in: Godey’s Lady’s Book 38 (Mai 1849), S. 352–355, hier S. 352. 42 Ebd. 43 Zur historischen Bedeutung und Wortbildung von ,limner‘ vgl. Jonathan L. Fairbanks, Portrait Painting in Seventeenth-Century Boston: Its History, Methods, and Materials, in: Museum of Fine Arts Boston (Hg.), New England Begins: The Seventeenth Century, Style, Bd. 3, Boston, MA, 1982, S. 413–479, hier S. 414; Carol Aiken, The Emergence of Portrait Miniature in New England, in: Peter Benes (Hg.), Painting and Portrait Making in the American Northeast (The Dublin Seminar for New England Folklife: Annual Proceedings 1994), Boston 1995, S. 30–45, hier S. 32–36. 44 Vgl. hierzu auch den Aufsatz zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs ,Photography‘ von Alan Trachtenberg, Photography: The Emergence of a Keyword, in: Martha S. Sandweiss (Hg.), Photography in Nineteenth-Century America, Forth Worth 1991, S. 17–47. 45 Vgl. ebd., S. 17–18.

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zunächst als Diskurs existierte.46 Im Zuge dieser Verschriftlichung entstand ein spezifisches Vokabular, das sich aus den bestehenden Terminologien der Kunstkritik speiste47 und sich gleichzeitig von der äußeren Erscheinung des neuen Bildmediums ableitete. So muss die spiegelnde Daguerreotypieplatte in einem bestimmten Winkel gehalten werden, um das darauf aufgezeichnete Positiv zu sehen. In der Spiegelung hingegen ist nur das gräuliche Negativ als Schatten zu erkennen. Aufgrund dieser Effekte wurden ,shadow‘ und ,mirror‘ zwei feste Topoi der Daguerreotypie. Die Nomen ,plate‘ und ,substance‘ sowie die Verben ,fix‘, ,secure‘ und ,fade‘ sollten das neue Bild­medium in seinem memorialen Potenzial bestätigen. In diesem Zusammenhang ist auch der Slogan „Secure the shadow, ‘ere the substance fade“48 zu verstehen, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika durch Fotografen populär wurde. Damit wurde mit nahezu drohender Gebärde um Kundschaft geworben, die jede Gelegenheit wahrnehmen sollte, um sich noch vor dem Tod fotografieren zu lassen. In diesem Sinne forderte auch der New Yorker Fotograf Andrew H. Baldwin seine Leserschaft in einer Anzeige aus dem Jahr 1873 auf, wenn möglich ein Fotoatelier zu besuchen, um „[...] having their ‚pictures made before the substance fade‘ [and] before the Great Destroyer comes, with his long train of diseases, and they are all sick-a-bed, and then swept away!“49

Die Metapher der Fixierung des flüchtigen Schattens spiegelt die Angst vor der Vergessenheit wider. Dieses Sinnbild findet sich bereits in der romantischen europäischen Literatur, die ihrerseits antike Unterweltvorstellungen des Schattenreichs aufnahm. In der Romantik galt der Schatten als Wesen und Existenzbeweis des Menschen, indem er nur bei Tageslicht bzw. auf Erden zu sehen ist. Die Inexistenz des Schattens ist analog zur Inexistenz einer Person gesetzt.50 Demnach bedeutet die Fixierung des Schattens auf der Daguerreotypieplatte ein Weiterleben nach dem Tod. Darüber hinaus wird mit dem Werbespruch auch das Verfahren der Daguerreotypie als Materialisierungsprozess verstanden. Immaterielles – der Schatten des Porträtierten – wird auf der lichtsensiblen Kupferplatte fixiert, weshalb das Flüchtige vergegenständlicht wird. Dahingehend 46 Vgl. Dinius 2012 (wie Anm. 19), S. 12–13. 47 Vgl. Trachtenberg 1991 (wie Anm. 44), S. 17–20. 48 Zit. ohne Angaben nach Beaumont Newhall, The History of Photography: From 1839 to the Present, London 1982, S. 32. Der Werbeslogan wurde auf verschiedene Weise wiedergegeben, um gerade auf das Verfahren der Materialisierung des Immateriellen hinzuweisen. Die Herkunft des Spruches ist bis heute nicht klargestellt. Beaumont Newhall wies bereits in seinem Standardwerk History of Photography auf dessen Popularität hin, jedoch führte er keine Quellen auf. Heinz K. Henisch und Bridget A. Henisch nehmen an, dass der Satz aus William Shakespeares Hamlet abgeleitet wurde, wo es heißt: „the very substance of the ambitious is merely the shadow of a dream“ (William Shakespeare, Hamlet, Prince of Denmark [1603], Cambridge 2003, hier 2. Akt, 2. Szene, 245–246, S. 141). Vgl. Bridget A. Henisch und Heinz K. Henisch, „,Secure the Shadow ere the Substance Fade‘“, in: History of Photography 28 (2004), Nr. 3, S. 211–212, hier S. 211. 49 Andrew H. Baldwins Werbeanzeige liegt nur als Ausschnitt in der Walter Johnson Collection im George Eastman Museum vor. Daher ist nicht bekannt, in welcher Zeitschrift oder Zeitung die Werbung erschien. Abrufbar ist die Anzeige unter der Katalogisierungsnummer des George Eastman Museums: 2010:1318:0041. 50 Vgl. Victor I. Stoichita, Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 122–183.

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kann man mit Arthurs Worten zusammenfassen, dass „features are caught and fixed by a sunbeam“.51 Die augenfälligste Qualität der Daguerreotypie ist die Spiegelung, die durch ­Oliver Wendell Holmes’ berühmte Metapher „the mirror with a memory“52 zur memorialen Charakteristik des Bildmediums wurde. In seinem Aufsatz „The Stereoscope and the Stereograph“53 aus dem Jahr 1859 definiert Holmes die Daguerreotypie als Erfüllung eines bereits seit der Antike ersehnten Traums, in dem der flüchtige Schatten beziehungsweise das flüchtige Spiegelbild fixiert und haptisch werden sollte.54 Der Spiegel mit einem Gedächtnis bezieht sich auf die exakte Wiedergabe des aufgenommenen Sujets, wobei gleichzeitig die Erinnerung an dieses gespeichert wird. Zwei Jahre später bezeichnet Holmes in seinem Aufsatz „Sun-Painting and Sun Sculpture“ die fixierten Bilder auf der Platte als „fossilized shadows“55 und stellt fest, „[h]ow these shadows last, and how their originals fade away!“.56 Damit legt Holmes dar, dass die Daguerreotypie das erste beständige Erinnerungsmedium sei, das die Vergänglichkeit zu überwinden weiß.57 Es lässt sich festhalten, dass die Begriffe und die daraus entstandenen Metaphern den spezifischen Prozess der Daguerreotypie nachzeichnen. Durch die präzise Bild­w ieder­ gabe wird der Schatten bzw. das Ephemere auf der Platte materialisiert bzw. fixiert. Demnach führt die Daguerreotypie ein Materialisierungsverfahren aus. Diese Terminologien bezogen sich besonders auf das Porträt, weil gerade dieses die Aufgabe hatte, Erinnerungen an den Porträtierten festzuhalten. In Nordamerika entstanden neben technischen Aufsätzen und Handbüchern schon bald zahlreiche schriftliche Plädoyers, die die Daguerreotypie als einzigartiges, beständiges Erinnerungsmedium über die traditionellen Bildkünste und das menschliche Gedächtnis stellten.58 Auch für Arthur gründet das einzigartige Potenzial der Daguerreotypie darin, dass sie Erinnerungen speichern und diese getreu wiedergeben kann. Arthur nimmt dafür Bezug auf den populären Aufruf „catching ‚the shadow‘ ere the ‚substance fade‘“59. Diese Forderung veranschaulicht Arthur mit der Schilderung eines tragischen Geschehnisses, das sich angeblich im Fotoatelier des damals renommierten und in Philadelphia tätigen Daguerreotypisten Marcus Aurelius Root (1808–1888) abspielte. Eine Frau besuchte mit 51 Arthur 1849 (wie Anm. 41), S. 352. 52 Oliver Wendell Holmes, The Stereoscope and the Stereograph, in: The Atlantic Monthly 3 (Juni 1859), S. 738–748, hier S. 739. Hervorhebung im Original. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. ebd., S. 738. 55 Oliver Wendell Holmes, Sun-Painting and Sun Sculpture: With a Stereoscopic Trip across the ­Atlantic, in: The Atlantic Monthly 8 (Juli 1861), Nr. 45, S. 13–29, hier S. 14. 56 Ebd. 57 Zu Holmes’ Artikeln vgl. Trachtenberg 1991 (wie Anm. 44), S. 37–45. 58 Vgl. hierzu das Kapitel zu „‚Porträt-Paragone‘ zwischen Malerei und Daguerreotypie“ in der unveröffentlichten Dissertation von Patrizia Munforte, Trauerbilder und Totenporträts: Materialität, Diskurs und Medialität in der nordamerikanischen Miniaturmalerei und Fotografie des 19. Jahrhunderts, Diss. Universität Zürich 2016. 59 Arthur 1849 (wie Anm. 41), S. 352.

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ihrem vierjährigen Sohn das Atelier, um ein Porträt von sich und ihrem Kind zu erwerben. Doch während die Aufnahme des Kindes gelang, war die Frau mit dem Ergebnis ihres Porträts unzufrieden. Das Angebot des Daguerreotypisten, zumindest das Bild des Kindes mitzunehmen, lehnte die Frau ab, da sie ohnehin zu einem späteren Zeitpunkt mit ihrem Sohn kommen wollte. Drei Monate später kam die Frau verzweifelt zurück ins Atelier und suchte nach dem einzigen aufgenommenen Porträt des Kindes, das in der Zwischenzeit verstorben war. Zu ihrem Unglück hatte Root bereits die Platte für eine andere Aufnahme poliert, sodass „[t]he shadow, fixed in a wonderful and mysterious manner by a ray of light, had faded also, and the only image of the child that remained for the mother was on the tablet of her memory“60. Der Schatten, der auf der Daguerreotypieplatte auf „wunderbare“ und „rätselhafte“ Weise fixiert war, ist buchstäblich entwischt, und das einzige noch verbleibende Bild des Kindes schreibt sich unfassbar und flüchtig in die Erinnerung der Mutter ein. Mit dieser Kurzgeschichte stellt Arthur das menschliche, unbeständige Gedächtnis dem technischen, beständigen Gedächtnis gegenüber. Demnach steht die Daguerreotypieplatte für Beständigkeit und Unzerstörbarkeit, die der menschlichen Vergänglichkeit entgegengesetzt sind. Die Tragweite des Verlusts des Kindes misst Arthur anhand der Inexistenz des Porträts. Den Tod betrachtet der Autor als doppelte Tragödie, da keine Aufnahme und somit keine materielle Erinnerung des verstorbenen Kindes vorhanden sind. Dieser Aspekt wurde im Jahr 1855 auch von dem New Yorker Fotografen Nathan Burgess (ca. 1814–1870) aufgegriffen. Wie Arthur mahnt auch Burgess seine Leserschaft, sich noch zu Lebzeiten fotografieren zu lassen. In diesem Sinne stellt er fest: „[H]ow often has the regret been expressed by many that they do not possess these valuable impressions of departed friends, rendered doubly so by their neglect in procuring them while in health and life. But now, alas! forever gone, and no trace left behind but their memories […]“61.

Wichtig bei Burgess ist der Stellenwert der Daguerreotypie innerhalb der Memorial­ kultur. Das Bildmedium ist zwar nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken, doch es ist keineswegs selbstverständlich. Die Quintessenz der Fotografie offenbart sich gerade nach dem Tod. „When the speaking eye and warm cheek of loved ones […] shall have passed away and left only their impress upon the tablet, then, and not till then, will this art assert its true greatness.“62

Zusammengefasst lässt sich beobachten, dass Holmes, Arthur und Burgess in ihrer Auseinandersetzung mit der Daguerreotypie das menschliche Erinnerungsvermögen dem technischen Gedächtnis gegenüberstellen. Die Befürworter der Fotografie zelebrierten das Bildmedium, indem sie die Technik als unfehlbar darstellten. Die Topoi, die die Daguerreotypie als beständiges Erinnerungsmedium definierten, blieben mit Begriffen

60 Ebd., S. 354. 61 Nathan G. Burgess, The Value of Daguerreotype Likenesses, in: The Photographic and Fine Art ­Journal 8 (Januar 1855), Nr. 1, S. 19. 62 Ebd.

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wie ,Schatten‘ und ,Substanz‘ bis in die 1860er-Jahre in den USA weiterhin im volkstümlichen Wortschatz bestehen. Zu einer einschneidenden Veränderung innerhalb der Memorialdiskurse und -praktiken führte der Sezessionskrieg, in dem von 1861 bis 1865 über 620’000 Amerikaner ihr Leben verloren.63 Der Tod war ein immanenter Bestandteil des Alltags, und die Ungewissheit über das Schicksal der vom Krieg betroffe­nen Gebiete führte dazu, dass die Nachfrage nach Porträtaufnahmen anstieg und einen neuen Höhepunkt erlebte, der unter anderem auch dank den technischen Fortschritten in der Fotografie erreicht wurde. Vor dem militärischen Einsatz ließen sich Soldaten und ihre Angehörige fotografieren, damit sie die kleinen Porträts überallhin mit­nehmen konnten.64 Aufgrund dieser Notwendigkeit entstanden zahlreiche Schriften zur memorialen Relevanz der Fotografie. Einen wichtigen Beitrag dazu hat Marcus Aurelius Root mit seinem im Jahr 1864 publizierten Traktat The Camera and the Pencil or The Helio­g raphic Art geleistet.65 Zwar gilt Roots Buch primär als erste umfassende Abhandlung zur nordamerikanischen Fotografiegeschichte, jedoch blieb bis heute seine Auseinander­setzung mit der gesellschaftlichen und memorialen Rolle der Fotografie weitgehend unbeachtet. Dabei hatte Root bereits vor dem Erscheinen von The Camera and the Pencil in zahlreichen Beiträgen den sozialen und ästhetischen Wert des Bild­mediums innerhalb der nordamerikanischen Gesellschaft wiederholt aufgegriffen.66 Zeitlebens beschäftigte sich Root mit der Frage, welche Leistungen und Gewinne die Fotografie für die junge Nation brachte und wie sich diese in der Memorialkultur auswirkten. Wie auch bei Holmes hob sich Roots schriftliches Vermächtnis von den zeitgenössischen Schriften dadurch ab, dass es sich inhaltlich mit weitaus mehr als nur technischen Fragen beschäftigte. 63 Vgl. Drew Gilpin Faust, This Republic of Suffering: Death and the American Civil War, New York 2009, S. XI. 64 Vgl. Jeff L. Rosenheim (Hg.), Photography and the American Civil War (Ausst.-Kat. New York, ­Metropolitan Museum of Art, Charleston, SC, Gibbes Museum of Art, New Orleans, New Orleans Museum of Art), New Haven/London 2013, S. 46. 65 Vgl. Marcus Aurelius Root, The Camera and the Pencil or The Heliographic Art, New York 1864. Ursprünglich sollte The Camera and the Pencil or The Heliographic Art als zweibändige Publikation erscheinen, doch der zweite Band wurde in der Druckerei bei einem Brand zerstört. Zudem erlitt Root verschiedene Schicksalsschläge und hatte gesundheitliche Probleme, weshalb er den zweiten Band nicht mehr realisieren konnte. Vgl. Clyde H. Dilley, Marcus Aurelius Root: Heliographer, in: The Daguerreian Annual (1991), S. 42–47, hier S. 46. 66 Zu Roots Publikationen vgl. die ausführliche Bibliografie von William S. Johnson, Nineteenth-Century Photography: An Annotated Bibliography, 1839–1879, Boston, MA, 1990, S. 528–531. The ­Camera and the Pencil wird bis heute generell ausgelegt als „Versuch, einen komplexen Traktat zur Fotografie und ihrer Geschichte zu verfassen“ (Dagmar Keultjes, Die unsichtbare Maske. Die korrigierende Porträtretusche auf Negativen von 1850–1900, in: Cornelia Kemp [Hg.], Unikat, Index, Quelle: Erkundungen zum Negativ in Fotografie und Film, Göttingen 2015, S. 84–100, hier S. 98, Anm. 42). Obwohl die Fotografieforschung nach einer vertieften Beschäftigung mit Roots schrift­ lichem Nachlass verlangt (vgl. etwa Tanya Sheehan, Doctored: The Medicine of Photography in Nine­ teenth-Century America, University Park, PA, 2011, S. 155, Anm. 7), stellen die von Root wiederholt aufgegriffenen Aspekte des memorialen Potenzials und der Theorie der Fotografie ein noch größe­res Forschungsdesiderat dar. Root war eine zentrale und aktive Figur der nordamerikanischen Fotoszene, besonders in Philadelphia, jedoch scheint er heute von seinen Aufnahmen illustrer Persönlichkeiten und seinem Traktat in den Schatten gestellt zu sein.

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Besonders zentral ist seine Auseinandersetzung mit dem privaten Nutzen der Porträt­ fotografie. Dieses Thema behandelt Root gleich im zweiten Kapitel von The Camera and the Pencil zu den „Uses of the Heliographic Art“67, in dem er den Stellenwert der Fotografie im Alltag beschreibt: „[H]eliography has already conferred various and important benefits to society. These benefits must be augmented, as the art progresses. […] In the order of nature, families are dispersed, by death or other causes; friends are severed; and the ‘old familiar faces’ are no longer seen in our daily haunts. By [photography], our loved ones, dead or distant; our friends and acquaintances, however far removed, are retained within daily and hourly vision. […] With these literal transcripts of features and forms, once dear to us, ever at hand, we are scarcely more likely to forget, or grow cold to their originals, than we should be in their corporeal presence. How can we exaggerate the value of an art which produces effects like these?“68

Gemäß Root gewinnt das Bildmedium seine wahre Gültigkeit, sobald man keine visuellen Erinnerungen an Nahestehende habe. In diesem Zusammenhang hebt er die Detail­ treue und materielle Beschaffenheit der Fotografie hervor, die „ever at hand“ eine „corporeal presence“ hervorrufe. Die haptische Qualität des Artefakts suggeriere somit eine unmittelbare Präsenz der „near and dear“69. Die Haptik und Materialität der Fotografie werden in dieser Passage stark hervorgehoben, da diese Eigenschaften im Kontext der nordamerikanischen Memorialpraktiken entscheidend waren. Dabei bekräftigt Root die notwendige Rolle der Fotografie besonders in Krisensituationen. Dahingehend ist auch das Traktat zeitlich zu kontextualisieren. The Camera and the Pencil erschien während des wütenden Bürgerkriegs, der notgedrungen zu einer historischen Wende innerhalb der nordamerikanischen Memorialkultur führte.70 Zusammen mit den haptischen und sozialen Qualitäten nennt Root zudem das detaillierte Aufzeichnungsverfahren, in dem durch die „transcripts of features and forms“ ein Materialisierungsprozess ausgeführt wird. The Camera and the Pencil kann als Zeitzeugnis bezeichnet werden, das belegt, auf welche Art und Weise die Fotografie in den Umbruch der öffentlichen und privaten Memorialkultur in Nordamerika maßgebend involviert war.

Konklusion Eine Analyse lokaler kunst- und materialhistorischer Traditionen der Memorialkultur in Nordamerika eröffnet den Blick für die dortige gesellschaftliche Wahrnehmung und Bedeutung der Fotografie im 19. Jahrhundert. Neben der Bildsprache der ,vernacular photography‘ und den materiellen Erzeugnissen in ihrem Umfeld waren theoretische 67 Dieses Unterkapitel ist eine erweiterte Fassung des Artikels „The Various Uses of the Daguerrean Art“, den Root im Jahr 1852 in der nordamerikanischen Zeitschrift The Photographic Art-Journal publizierte. Vgl. Marcus Aurelius Root, The Various Uses of the Daguerrean Art, in: The Photo­ graphic Art-Journal 4 (Dezember 1852), Nr. 6, S. 360–362. 68 Root 1864 (wie Anm. 65), S. 26–27. 69 Ebd., S. 27. 70 Vgl. Rosenheim 2013 (wie Anm. 64), S. 46–47.

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Abhandlungen für den hier gewählten Fokus aufschlussreich, um einen vertieften Einblick in historische Rezeptionsweisen und Zuschreibungen zu gewinnen. Diverse Abhandlungen im Umfeld von Root und seinen Zeitgenossen beschrieben metaphernreich das für die Erinnerungskultur Nordamerikas bedeutsame memoriale Potenzial der Daguerreotypie, das sie generell mit deren Beständigkeit und Unverfälschtheit und im Besonderen mit ihrer materiellen und bilddetaillierten Beschaffenheit begründeten. Das Gewicht eines fotografischen Unikats sowie die aufwendige, edle Einfassung der Miniaturschatulle lassen es zugleich zu einem haptischen Bildmedium werden, dessen Erinnerungsspeicher greifbar wird. Die Schatullen zeichneten die Aufnahmen als schließbare Erinnerungen aus, die überallhin mitgenommen und zu jeder Zeit angeschaut werden konnten. In diesem breiteren memorialen Kontext sind auch die Etui­ darstellungen in den eingangs besprochenen Porträtaufnahmen zu verorten. Vor dem dargelegten kultur­historischen und mediengenealogischen Hintergrund kann abschließend resümiert werden, dass die in den fotografischen Porträts gezeigten Etuis nicht allein im engen Zusammenhang der unmittelbaren Porträtaufnahme zu lesen sind, indem sie dort etwa auf die Fotografie selbst oder alternativ auf eine bestimmte, der/ dem Porträtierten nahestehende Person verweisen. Vielmehr sind sie – und dies durchaus analog zu den eingangs erwähnten tradierten Formeln des Gelehrtenporträts – in einem viel breiteren Sinne als bereits kulturell codierte Accessoires zu verstehen, als eine in Malerei und Fotografie konventionalisierte Bildsprache: Sie dient auch in der Modernität des neuen Mediums dazu, die porträtierte Person als Mitglied einer bürgerlichen Gemeinschaft in Szene zu setzen, deren tradierte Trauer- und Erinnerungspraktiken einen wesentlichen Teil des kulturellen Selbstverständnisses ausmachen. In diesem Sinne scheinen die im Bild gezeigten geschlossenen Schatullen als tragbare Erinnerungen die zentrale memoriale Qualität zu visualisieren, die Root hinsichtlich des fotografischen Mediums hervorhebt: „transcripts of features and forms […] ever at hand“.71

71 Root 1864 (wie Anm. 65), S. 26.

Erinnern und Gegenwart. Historienbilder im Zeichen von Transnationalität und Transkulturalität

Bettina Gockel

Angst vor dem Hai John Singleton Copleys Kunst der kulturellen Verfeinerung

„Me? Scared? Think of a time in your life when you were very brave in a frightening situation. […]“1 „The ocean remains. You cannot pump this dry; and as long as it continues in its present bed, so long all the causes which weaken authority by distance will continue.“2 „Die amerikanische Montage ist organisch-aktiv. Es ist falsch, ihr den Vorwurf zu machen, sich der Erzählung untergeordnet zu haben; im Gegenteil leitet sich das Erzählerische von dieser Konzeption der Montage ab.“3 „Wer hat für die Freiheit gearbeitet?“4

Plädoyer in zweifacher Hinsicht Der vorliegende Beitrag plädiert aus historiografischen, methodologischen sowie theoretischen Gründen sowohl im Bewusstsein um den Forschungsstand als auch in Kenntnis des heutigen ,Zeitgeistes‘ für eine präzisierte historische Verortung und aktuelle Aneignung insbesondere von Copleys Gemälde Watson and the Shark aus dem Jahr 1778, das heute in der National Gallery of Art in Washington, DC, beherbergt wird (Taf. LXIX).5 1 Museumspädagogisches Programm für Kinder zu Copleys Gemälde Watson and the Shark in der National Gallery of Art, Washington, DC, siehe das Konzept der National Gallery of Art im Internet unter https://www.nga.gov/kids/watson/watsonactivity.htm (letzter Zugriff am 23. Juli 2017). 2 Edmund Burke, Speech on Conciliation with America, 1775, in: David Bromwich (Hg.), On Empire, Liberty, and Reform: Speeches and Letters. Edmund Burke, New Haven/London 2000, S. 62–134, hier S. 93. 3 Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1, übers. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, durchges. von Karsten Witte, 7. Auflage, Frankfurt am Main 2013 (frz. Erstausgabe, Cinéma I. L’image-mouvement, Paris 1983), S. 52. 4 Andreas Eckert, Wer hat für die Freiheit gearbeitet?, in: FAZ, 5. 7. 2017, Nr. 153, S. N3. 5 Die Autorin ist Kolleginnen und Kollegen, die mündlich und schriftlich auf Vorträge zum Thema reagiert haben, in Dank verbunden. An dieser Stelle danke ich vor allem für Vortragseinladungen, die wichtige Denkanstöße lieferten, darunter u. a.: die Tagung „Aufklärung als Prozess“, Stiftung Lucerna, Luzern 2016; der internationale Workshop zum Projekt „Handwörterbuch der antiken Sklaverei“ (HAS), Klassisch-Philologisches Seminar, Universität Zürich, 2013; die Tagung „Metho­den der Aufklärung. Ordnungsmuster der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung in Literatur und Kunst“ des Graduiertenkollegs im Exzellenznetzwerk „Aufklärung – Religion – Wissen. Transformationen des Religiösen und des Rationalen in der Moderne“, Martin-Luther-­ Universität Halle (Saale), 2011; eine Vortragseinladung an der Université de Genève (Actualité de la Recherche), 2010; eine Vortragseinladung der Forschungsgruppe „Picture Act and Embodiment“,

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In der Argumentation, im Konzept sowie der Sprachführung wird dementsprechend gleichsam wie in einem Plädoyer ein offensiver Schreibstil in der Bewegung zwischen Pro und Contra, zwischen Fragen und Antworten, zwischen Erkenntnissen und Kritik bevorzugt. Die Gründe für diesen Ansatz sind a) die Tatsache, dass Copleys Bild eine ungewöhnlich lange, transnationale historiografische Auseinandersetzung entfacht hat, b) dass seine Kernkomposition Aktualisierungen erfahren hat, die ein humanistisches, durchaus auch problematisches Pathos erkennen lassen, und c) dass die visuelle und narrative Überzeugungsstrategie des Bildes dazu provoziert, sich zeitgenössische Denkund Handlungsstrategien klarzumachen, die in multimedialen, performativen Bildern und deren Bild-Betrachter-Beziehungen implementiert sind.

Edgar Winds wissenschaftliches ,Denkmal‘ für Copley Edgar Wind (1900–1971) hat 1938 in seinem Aufsatz „The Revolution of History Painting“ dem amerikanischen Maler John Singleton Copley (1738–1815) ein wissenschaftliches Denkmal gesetzt.6 Er attestierte ihm, mit seinen Gemälden eine neue Form der Historienmalerei ins Leben gerufen zu haben, und es sei ihm daran gelegen gewesen, aktuelle Ereignisse im Rahmen der akademischen Gattung zu formulieren. Bis dahin hätten sich die Bildkünste, insbesondere die Malerei, der Gegenwart und deren Erinnerung eher nicht zugewandt.7 Wie sollten solche Bilder aussehen – das war eine brisante und zugleich prekäre Fragestellung, nicht zuletzt für einen Kunsthistoriker, der vor der Bedrohung des Nationalsozialistischen Regimes in Deutschland nach England geflohen Humboldt-Universität zu Berlin, 2010; sowie die Einladung als Senior Advisor der Terra Foundation for American Art, Giverny, 2012. Zuerst entstand der Text für meine Antrittsvorlesung an der Universität Zürich im Frühjahr 2009 unter dem Titel „Kampf um kulturelle Verfeinerung. Die amerikanische Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts“. Meinen Kolleginnen und Kollegen am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich und der Philosophischen Fakultät, die Anregungen und Ermunterungen gegeben haben, danke ich von Herzen. Die kunsthistorisch umfassend die amerikanische Malerei betreffenden und die medientheoretischen sowie medienhistorischen Ausführungen des ursprünglichen Manuskripts aus dem Jahr 2009, die bis in die Filmgeschichte der Gegen­ wart reichen, werden in einer in Vorbereitung befindlichen Monografie unter dem Titel „Horror und Humanität“ enthalten sein. Meine ausführlichen Dankesworte werden sich ebenfalls in diesem Buch finden, denn die vielen Jahre, in denen mich das Thema nunmehr schon begleitet, haben so viel wissenschaftlichen Austausch hervorgebracht, dass im Rahmen dieses Aufsatzes kein Platz ist, darauf angemessen einzugehen. Für die Redaktion und für die Abklärung der Bildrechte sowie für Literaturbeschaffung bin ich Miriam Volmert sowie Patrizia Munforte, Nadine Jirka und nicht zuletzt Victoria Fleury, studentische Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte der bildenden Kunst, sehr verbunden. 6 Siehe Edgar Wind, The Revolution of History Painting, in: Journal of the Warburg Institute 2 (Oktober 1938), Nr. 2, S. 116–127; zu Wind siehe Werner Busch, Heroisierte Porträts? Edgar Wind und das englische Bildnis des 18. Jahrhunderts, in: Horst Bredekamp (Hg.), Edgar Wind: Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, S. 33–48. 7 Siehe zur Konzeption von Malerei als dezidiert zeitgenössischer Kunst, die mit Verzeitlichung und sogar mit praktischer Aktualisierung, z. B. der Anpassung modischer Details im Portrait, arbeitet: Bettina Gockel, Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Portraitmalerei, Berlin 1999, siehe dort auch eine einleitende Diskussion über Edgar Wind.

Angst vor dem Hai     | 249

war und sich sicher überlegte, welche Bilder der Gegenwart die zerstörerischen historischen Ereignisse einfangen könnten – und welche Bilder gewissermaßen zu ,Ikonen der Erinnerung‘, zu Gedächtnisikonen (nicht unbedingt zu nationalen Ikonen) würden werden können. Mit seinem Aufsatz unterstrich Wind überdies, dass er Inhalt und Form eines Kunstwerks als eine vom Kunsthistoriker zu analysierende Einheit betrachtete, womit er sich gegen den Formalismus Heinrich Wölfflins wandte.8 Das uns heute auf den ersten Blick womöglich eher marginal erscheinende Gemälde und wohl kaum mehr beunruhigende Bild Watson and the Shark von John Singleton Copley ist aufgrund seiner Wirkmächtigkeit solch eine ,Ikone‘ der Kunst des 18. Jahrhunderts geworden, ja bereits zur Entstehungszeit des Bildes war es eine solche, aber auch historiografisch kann dies für die transatlantische Forschung zur Kunstgeschichte geltend gemacht werden, und schließlich, allerdings sehr spät, erlangte das Gemälde den Status als eines der Hauptwerke der National Gallery of Art in Washington, DC.9 Eine De- und Rekontextualisierung scheint die dramatische Szene des Gemäldes in der heutigen Pressefotografie zur sogenannten Migrationskrise zu finden. Die im Boot in höchster Aufregung einen Rettungsversuch unternehmende Gruppe, ihre Anstrengungen und Handlungen sollen zusammen mit dem Haiangriff affektiv Angst auslösen, und sie thematisieren zugleich die emotionale Überwindung und Bewältigung des S ­ chreckens im Zeichen von Mitmenschlichkeit – eine ganz allgemeine Formel, die in ihrer intensiven Wirkungsästhetik eine Aktualität erlangt hat, die gerade durch Intellektuelle und Wissenschaftler wegen der plakativen Art und Weise der Gestaltung im Verhältnis zum konkreten Problem kritisiert wird.10 Die moralisierende Bedeutung von Copleys Bild wird heute auf in Booten und im Wasser um ihr Leben ringende Flüchtlinge transferiert und dabei in eine politische Problemlage verschoben, in welcher beispielsweise die   8 Vgl. Pascal Griener, Edgar Wind und das Problem der Schule von Athen, in: Horst Bredekamp, Bernhard Buschendorf, Freia Hartung und John Michael Krois (Hg.), Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, Berlin 1998, S. 77–103.   9 Siehe die Präsenz und Inszenierung von Copleys Gemälde auf der Eröffnungsseite der Website der National Gallery of Art in Washington (es ist das zweite von insgesamt sechs Bildern, die Impressionen der Sammlung und der Architektur des Museums zeigen): https://www.nga.gov/content/ ngaweb/about.html (letzter Zugriff am 11. Juli 2017). 10 Siehe den Blogbeitrag von Tanya Sheehan, in dem sie explizit auf Copleys Gemälde eingeht und dann Alternativen zur plakativen Darstellung von Migration darlegt: „Although worlds apart compositionally, these photographs both employ traditional, art-historical devices to depict refugees as vulnerable victims and to present their condition as a crisis. The picture of Alan Kurdi brings to mind the Christian tradition of the Pietà, in which the Virgin Mary cradles the dead Christ in her arms. Ponomarev’s photograph invokes canonical paintings of doomed vessels and their human cargo, like Théodore Géricault’s Raft of the Medusa (1819) and John Singleton Copley’s Watson and the Shark (1778). Neither photographer likely had these artworks in mind when they snapped the shutter. Rather, my point is that the media selects refugee photographs to solicit strong affective responses and those selections are shaped by (often Western) visual traditions. The compassion, empathy, pity, fear, outrage, or sadness that such pictures stimulate in viewers can lead to any number of actions – from quiet recognition of the humanity and vulnerability of refugees, to louder, activist gestures in support of displaced persons around the world.“ URL: https://www.fotomuseum.ch/de/ explore/still-searching/articles/30077_refugee (letzter Zugriff am 21. Juli 2017).

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Genfer Flüchtlingskonvention wie überhaupt Rechte und Gesetze gedehnt oder umgangen werden.11 In jedem Fall hat Copleys Bild und seine Wirkungsgeschichte die Kriterien erfüllt, die Aleida Assmann für die Entstehung einer „Gedächtnisikone“ aufgestellt hat.12 Es ist der in der kunsthistorischen Literatur so gut wie gar nicht thematisierte affektive Aspekt des Bildes, der den Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen zu diversen Themen bildet, die Fragen der Bildlichkeit von Humanität und der ihr zugrunde liegenden Dynamik von Konfliktbewältigung, Zivilisierung und Erinnerung aufwerfen.13 Es würde den folgenden, noch skizzenhaft angelegten Text überfrachten, wenn die gesamte Wissens- und Forschungsgeschichte zu Copley ausgebreitet werden würde – dies soll an anderer Stelle erfolgen. Für den Auftakt einer neuen Forschung über die ,Ikonen‘, die Copley geschaffen hat, soll zunächst festgehalten werden, dass Edgar Wind in äußerster Detailgenauigkeit das Umfeld, in dem die Werke des amerikanischen Künstlers entstanden, beschrieben hat und damit einen europäischen Bildungshorizont in Anschlag brachte, den sich Copley durch seine Grand Tour im Jahr 1774 angeeignet hatte.14 Die transatlantische Forschung hat in ihren Interpretationen von Copleys Kunstwerken daran angeknüpft und die schon bei Wind vorhandene enorme Detailkenntnis von Quellen und Kontexten bereichert, ohne bis vor Kurzem von der angeblichen Differenz zwischen dem amerikanischen und englischen Copley als einer fundamental ausgewechselten Identität des Malers absehen zu wollen.15 Doch das, was Wind erfasste – 11 Siehe zu einer Analyse und Kritik des Mitleiddiskurses, den Fotografien, Berichterstattung und Politik, allen voran Angela Merkels Bemerkung, dass ein Land, das nicht alle Flüchtlinge (unabhängig von ihrem gesetzlich bestimmten Status) aufnehme, nicht mehr ihr Land sei, herstellen: Dieter ­Prokop, Demokratie braucht keine Moralkeulen, in: FAZ, 24. 7. 2017, Nr. 169, Rubrik: Die Gegenwart, S. 6. 12 Aleida Assmann, Individuelles Bildgedächtnis und kollektive Erinnerung, aus: Website der Heinrich Böll Stiftung,18. Mai 2009, URL: https://www.boell.de/de/demokratie/kulturaustausch-6769. html (letzter Zugriff am 21. Juli 2017). 13 Siehe zur Diskussion des Begriffs ,Affekt‘ Isabella Augart, Anna Pawlak und Lars Zieke, Vorwort, in: Anna Pawlak, Lars Zieke und Isabella Augart (Hg.), Ars – Visus – Affectus. Visuelle Kulturen des Affektiven in der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2016, S. 7–17, v. a. S. 9–12. 14 Copleys Grand Tour führte ihn von Paris über Marseille mit weiteren Zwischenstationen nach Florenz (fünf Tage), Rom (drei Monate) und Neapel (ein Monat). Er wurde von einem englischen Künstler begleitet, der für Copley alle organisatorischen und logistischen Fragen klärte und darüber mehr als enerviert war. Die später übertragenen Tagebücher von George Carter sind in Privatbesitz und wurden von Emily Ballew Neff ausgewertet. Siehe Emily Ballew Neff, A Remembrance of What We Have Seen. Copley Takes the Grand Tour, in: Emily Ballew Neff und Kaylin H. Weber (Hg.), American Adversaries. West and Copley in a Transatlantic World (Ausst.-Kat. The Museum of Fine Arts, Houston), New Haven/London 2013, S. 118–149. Neffs Text ist eine Tour de Force einer längst überfälligen Charakteranalyse Copleys, der von ihr überzeugend als intensive Persönlichkeit beschrieben wird, die am eigenen Ruhm, an seiner Familie und an der Zukunft Amerikas als Kulturund Kunstnation interessiert war. 15 Die Ausstellungen „John Singleton Copley in America“ und „John Singleton Copley in England“ hielten 1995 an der These zum deutlichen Unterschied zwischen dem amerikanischen und englischen Werkabschnitt fest; sie wollten jedoch dem Werk als Gesamtheit insofern Rechnung tragen, als die von amerikanischer Seite her vormals als dekadent beurteilte künstlerische Leistung Copleys in England neu betrachtet wurde. Gleichwohl schwingt nach wie vor eine nationale Vereinnahmung mit, wenn Copleys Werke als Schlüsselmonumente britischer Malerei angesprochen werden. Siehe

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das historisch Neue der Gemälde Copleys, ihr quasi-dokumentarischer Charakter, ihre außergewöhnlich reichhaltige Referenzierung, ihr kunst- und medientheoretisches Erneuerungspotenzial –, ist bis heute nicht auf einer theoretischen und methodischen Ebene weiter reflektiert und ausdifferenziert worden. Im Gegenteil, es ist festzuhalten, dass die medienhistorische Bedeutung des Gemäldes, wie sie im Warburg-Kreis methodisch erstmals adressiert worden ist, als Untersuchungsansatz keine Fortführung erlangt hat. Stattdessen hat sich die Forschung in nivellierender Weise darauf geeinigt, dass Copley ein moralisches und moralphilosophisches Thema behandele, welches letztlich in christlicher Ikonografie aufgehe. Das ist teilweise richtig, nur stellt sich darüber hinaus die Frage, welche Funktion und welche medienhistorischen und populären Auswirkungen dem Bild zu eigen sind – damals wie heute. Winds bildungsmäßige, das heißt ikonologische (nicht allein ikonografische) Vernetzung der amerikanischen Erneuerer der Kunst, zu denen auch der Förderer und Konkurrent von Copley, Benjamin West (1738–1820), gehörte, mit den Größen der kontinental­ europäischen Literatur ist aus seiner Sicht strategisch nachvollziehbar – Wind ging es um die Freilegung der „Denkzusammenhänge“16 in jener Zeit, aber auch um die kunsthistorisch belegbare Prolongierung und damit Vergegenwärtigung des Humanismus­ideals Emily Ballew Neff (Hg.), John Singleton Copley in England (Ausst.-Kat. The National Gallery of Art, Washington, The Museum of Fine Arts, Houston), London 1995; Carrie Rebora und Paul Staiti (Hg.), John Singleton Copley in America (Ausst.-Kat. Metropolitan Museum of Art, New York), New York 1995. Emily Ballew Neffs Forschungen zu Copley sind auch in dem neuesten Katalog über Copley und Benjamin West bestimmend, auf den im Detail weiter unten eingegangen wird, siehe Emily Ballew Neff und Kaylin H. Weber (Hg.), American Adversaries. West and Copley in a Trans­ atlantic World (Ausst.-Kat. The Museum of Fine Arts, Houston), New Haven/London 2013. Copley hatte selbst zu der Splittung seines Lebenswerks in einen amerikanischen und einen englischen Part beigetragen, als er den amerikanischen Unverstand gegenüber den bildenden Künsten beklagte, eine Einschätzung, die wiederum dem Diskurs in seinem Heimatland, er sei eher ein fleißiger Arbeiter als ein genialer Maler, entgegengesetzt war und sein Talent für die englischen Rezipienten umso erstaunlicher erscheinen lassen sollte; siehe dazu Emily Ballew Neff, Introduction. Copley’s “Native” Realism and his English “Improvement”, in: Ballew Neff 1995 (wie Anm. 15), S. 12–22, hier S. 16f. und S. 19. Sehr wichtig für Copleys Historiengemälde ist Neffs Beobachtung, dass Copley sich in den besonders von Reynolds bestimmten Diskurs über die zivilisatorische Bedeutung und Macht der Kunst in einer dynamischen, ökonomisierten Gesellschaft einfügen wollte, siehe ebd., S. 20. Dabei ging es Copley auch um sein Heimatland, denn er erhoffte sich eine blühende künstlerische Kultur Amerikas, die durch kulturellen Austausch zustände käme und die auf beiden Seiten des Atlantiks Zivilisierung anstatt Krieg und Isolation hervorbrächte. Zivilisierung durch Kunst und Erziehung war also ein zentraler Gedanke für den Künstler Copley, der für sein Gemälde The Siege of Gibraltar (1783–1791) „a display of humanity“ in Anspruch nahm (siehe Ballew Neff 1995 [wie Anm. 15], S. 41f.). Es dürfte wahrscheinlich sein, dass er die Theorien von Adam Smith über das Verhältnis von Moral und Wirtschaft kannte, da Smiths Schriften in den Kreisen der englischen Akademiker rezipiert wurden; siehe zu Adam Smith im Umfeld der Royal Academy of Arts: ­Bettina Gockel, Bedeutungsstiftende Bildtechniken. Gainsboroughs Druckgraphik im Licht von Adam Smiths ökonomischer, moralphilosophischer und sinnesphysiologischer Theorie, in: Werner Busch (Hg.), Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 67), München 2008, S. 101–131, v. a. S. 125ff. sowie Tcho ­M baimba ­Caulker, The African-British Long Eighteenth Century. An Analysis of African-British Treaties, Colonial Economics, and Anthropological Discourse, Lanham 2009, Kap. 3, S. 72. 16 Busch 1998 (wie Anm. 6), S. 36.

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im Angesicht des Faschismus.17 Methodisch bleibt der Ansatz fragwürdig, wenn den Malern etwa bescheinigt wird, sie hätten instinktiv die Dramentheorie Racines aufgegriffen. Edgar Wind legt die spekulative Art seiner umfassend gebildeten Gedankengänge offen und benennt sie direkt – als Intellektueller sich seiner Denkvorgänge Rechenschaft ablegend –, gleichwohl will er sie aber in der Architektur seiner Argumentation ver­ ankert wissen. Dies überzeugt nicht und verweist auf das eigentliche Manko, das bereits von vielen Kunsthistorikern bestätigt worden ist, die geradezu unentwegt diverse Interpretationen der Gemälde Copleys in diesen ,Denkzusammenhängen‘ erarbeitet haben. Es ist sicherlich so, dass es auch in Zukunft neue Funde zu wichtigen Kunstwerken geben wird. Doch es bleibt die Frage bestehen, wie diese Werke methodisch und theoretisch zu erfassen sind und weshalb sie mitunter bis heute eine zentrale Position in der Forschung und in der Geschichte der Institutionen einnehmen.18 Die Alternative zu Winds wissenschaftlichem Ansatz, der in einer bestimmten kultur­historischen Kleinteiligkeit mündet, besteht heute in der theoretischen und methodischen Reflexion über Kerngehalte und ästhetische Ansätze von Copleys Gemälden, insofern sie als öffentliche mediale Bilder verstanden werden. Dabei wäre beispielsweise zu prüfen, inwieweit Watson and the Shark nicht nur eine neue Art des Historienbildes darstellt, sondern als modernes Horrorbild anzusehen wäre, ob der Maler also gleichsam eine neue Gattung propagiert hätte, die sich erst in der Filmgeschichte durchsetzen sollte. Überraschend genau folgt das Bild denn auch den in der aktuellen Literatur aufgestellten Kriterien zu diesem Medium und Genre.19 Die in diesen Unter­suchungen virulenten statistischen, neurologischen und begriffsgeschichtlichen Ansätze und Ergebnisse wer-

17 Siehe Horst Bredekamp, Götterdämmerung des Neoplatonismus, in: Kritische Berichte 4 (1986), S. 39–48. 18 Siehe exemplarisch jüngere Forschungen über Copley, die das Neue und die Neuartigkeit seiner Kunst thematisieren und dafür u. a. erzähltheoretische sowie Kulturtransfer und Interkulturalität betonende Ansätze wie auch die methodische Mythenbildung heranziehen und untersuchen: ­Jonathan Clancy, Human Agency and the Myth of Divine Salvation in Copley’s Watson and the Shark, in: American Art 26 (2012), Nr. 1, S. 102–111; Holger Hoock, Empires of the Imagination: Politics, War, and the Arts in the British World, 1750–1850, London 2010; Harald Klinke, Amerikanische Histo­r ienmalerei. Neue Bilder für die Neue Welt, Göttingen 2011; Léa Kuhn, Das ­e rste ‚amerikanische‘ Bild. John Singleton Copley und die Anfangsnarrative nationaler Kunst, Zürich/Berlin 2013; Edward Larkin, The American School of Empire, Cambridge 2016; Jennifer L. Roberts, Failure to Deliver. Watson and the Shark and the Boston Tea Party, in: Art History 34 (2011), Nr. 4, S. 674–695. Besonders hervorzuheben ist, dass fast alle diese Publikationen, vor allem Roberts und Larkin, das Dynamische, Prozesshafte von Kultur und der in ihr wirksamen Kunst thematisieren. Die Interpretation des Einzelwerks als Spiegel historischer Ereignisse und eher statisches Werk erscheint überholt in Zeiten komplexer globaler Wissens- und Erfahrungstransfers. 19 Siehe hierzu u. a. Robert C. Solomon, Real Horror, in: Steven Jay Schneider und Daniel Shaw (Hg.), Dark Thoughts. Philosophic Reflections on Cinematic Horror, Lanham/Oxford 2003, S. 230–259. John Singleton Copleys Gemälde Watson and the Shark weist zudem Strukturelemente einer organischen Montage auf, wie sie Gilles Deleuze für den amerikanischen Film, insbesondere für David W. Griffith, beschrieben hat; siehe hier Deleuze 2013 (wie Anm. 3), v. a. S. 52. Siehe andererseits zum Aspekt der Montage in Copleys Werk, auch mit Bezug auf aktuelle künstlerische Positionen in digitalen Bildkunstwerken, weiter unten in diesem Beitrag sowie Anm. 21.

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den – im Übertrag auf ältere historische Bilder – die kunsthistorische Forschung nicht ersetzen oder fundamental korrigieren, aber adäquat interdisziplinär erweitern und in Bewegung versetzen. Denn die derzeitige Spannung zwischen der ikonografisch-ikonologischen Methode und den Vorbehalten, die die amerikanische Forschung gegenüber dieser Methodik entwickelt hat, führt zu einer positivistischen Prolongierung mikroskopischer Detailsuche und ideengeschichtlicher Kontexte. Worin würden bildanalytische Ansätze bestehen, die konkret wären und sich nicht in quasi-philosophischen Konstruktionen ergehen würden? Ein gutes Beispiel für eine komparative Analyse bestünde darin, die digitalen Kreativkonstruktionen von Beate Gütschow mit Copleys Bildikonen zu vergleichen, ohne zwischen beiden eine Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte behaupten zu wollen. Copleys Gemälde sind im Prinzip nicht anders zusammengesetzt oder montiert als heutige digitale Bildkunstwerke, wie eben zum Beispiel diejenigen von Gütschow, die sich explizit auf das Studium der Landschafts- und Raumdarstellungen in der holländischen und englischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts – übrigens auch direkt auf Thomas Gainsborough, dessen Werke Copley kannte20 – beruft. Ihre künstlerischen Äußerungen sind insofern erhellend, als sie angesichts der sich nie erfüllenden Wahrnehmung des Bildes als Reiz und Kippfigur die kunsthistorische Suche nach einer ikonografisch-ikonologischen oder narrativen Entschlüsselung als Quasiersatz der künstlerischen Verweigerung des Ganzheitlichen methodisch infrage stellen. Dabei geht es keinesfalls um eine Beliebigkeit der Aussage des Bildes, sondern um variantenreiche Verschiebungen der Wahrheit, die sich mit der räumlichen und mentalen Einstellung des Betrachters ereignen und zugleich dessen Heroisierung verweigern. Die Herausforderung zur Selbstaufklärung und die Bezweiflung der Bedeutung des subjektiven Betrachters führen zu einer gewollt prekären Ästhetik und Theorie des Bildes (oder sollte man von einer Ästhetik und Bildtheorie des Prekären sprechen?), die für die Moderne so nachhaltig geworden ist. Es ist auch diese künstlerische Sicht oder Stimme, die der vorliegende Aufsatz zu vermitteln versucht.21 20 Mit Gainsborough verbindet Copley darüber hinaus das Netzwerk von Gavin Hamilton, der für seinen Patron, William Petty, 2. Earl of Shelburne, tätig war, der 1784 den Titel Marquess of L ­ ansdowne erhielt. Shelburne gehörte zum Regiment von General Wolfe und unterstützte später die Friedensverhandlungen mit den nunmehr unabhängigen amerikanischen Kolonien. Er war schließlich auch vom Konzept des Freihandels überzeugt, das die kontroverse globale Wirtschaftspolitik bis heute nachhaltig prägt. Siehe zu Hamilton und Shelburne Ballew Neff 2013a (wie Anm. 14), S. 133f. Siehe zu Shelburnes Rolle in den Friedensverhandlungen Großbritanniens mit den abtrünnigen amerikanischen Kolonien C. R. Ritcheson, The Earl of Shelbourne and Peace with America, 1782–1783: Vision and Reality, in: The International History Review 5 (1983), Nr. 3, S. 322–345. Shelburne orientierte sich an David Humes Philosophie und vertrat liberale, radikale Ansichten, die ihn, so Ritcheson, eher als visionären Staatsmann auszeichnen, weniger als gewieften Parteipolitiker. Auf seinem Landsitz Bowood trafen sich Wissenschaftler, Philosophen und Künstler zum gemeinsamen Austausch. Siehe Gockel 1999 (wie Anm. 7), Kap. III.2, besonders das Unterkapitel „Gainsborough und Priestley im Kreis englischer Reformpolitiker“, S. 141ff. 21 Gütschows Äußerungen erfolgten im Rahmen eines Künstlergesprächs an der Tagung „New Territories. Landscape Representation in Contemporary Photographic Practices“ (HU Berlin, Juni 2017).

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Der US-amerikanische Präsident Barack Obama und die Partizipation am Geschichtsbild der Zukunft Am 24. September 2016 wurde in Washington, DC, an der Constitution Avenue ein imposantes Museum mit einer symbolischen Architektur eröffnet, das Smithsonian National Museum of African American History and Culture (Taf. LXX). Es handelt sich um einen Bau, der offenkundig einen Kopfschmuck der Ife nachahmt und sich damit auf einen kulturellen Bestandteil der Volkskunst Nigerias bezieht, ohne damit konkrete nationale Inhalte aufrufen zu wollen.22 Nigeria, ein Land, dessen Geschichte bis in die Zeit des alten Ägypten zurückreicht, bildete zusammen mit der Westküste Afrikas das Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels, an dem die europäischen Kolonialmächte und afrikanische Machthaber beteiligt waren. Es war erklärtermaßen Aufgabe der Architekten, viele Assoziationen mit dem Gebäude zu wecken und die Geschichte der Versklavung und Oppression von Millionen Afroamerikanern mit einer Optimismus ausstrahlenden Ästhetik des Schönen und Monumentalen geschickt zu verknüpfen.23 Zur Eröffnung dieses ersten Museums für afroamerikanische Geschichte, dessen Realisierung seit Beginn des 20. Jahrhunderts unter den wechselnden Regierungen der Vereinigten Staaten immer wieder Thema war, aber nie die notwendige politische und finanzielle Unterstützung erlangen konnte, hielt Barack Obama eine rhetorisch geschliffene politische Rede, in der er eine methodisch durchgreifend reflektierte Geschichtsschreibung forderte.24 Seine Gestik war dabei auffallend kontrolliert und zurückhaltend, so als wollte er, wie überhaupt während seiner achtjährigen Präsidentschaft, allzu symbolische, vor allem aber tradierte Gesten vermeiden zugunsten eines elaborierten, intellektuellen Diskurses, der allerdings womöglich nicht konsequent Abstand nimmt von den Konzepten von Naturalisierung, Nation und race als legitimierenden Bestand­ teilen von Geschichtsschreibung.25 In dieser Ambivalenz, die die Forschung über Obama

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Vgl. auch Stefanie Gerke, Multiperspektivität als „symbolische Form“. Posthistoristische ­Strategien der Montage in Beate Gütschows S-Serie, in: Kunstchronik 70 (2017), Nr. 7, S. 336–344, v. a. 338– 340, Kap. „Fotomontage als Medienreflexion“. Ile-Ife ist eine legendäre Gründungsstadt der Yoruba, einer Sprachgruppe, die nie einem einzigen Staat zugehörig war. Siehe als Vergleich zu dem Gebäude (Design: Freelon Group, Adjaye Associates, Davis Brody Bond und SmithGroupJJR) einen Terracotta-Kopf, Höhe 16 cm, National Museum, Lagos, Nigeria, 79.R.6 (Ife 305). Der Rückgriff auf die eindrückliche Ästhetik der Ife-Terracotta-Köpfe führt hinein in die Kontro­ verse über die Unabhängigkeit dieser Kultur, die heute als gesichert gilt. Der Anthropologe und angesehene Afrikaforscher Leo Frobenius (1873–1938) hatte die Darstellungen noch auf eine griechi­ sche Kolonie zurückführen wollen, siehe https://africa.uima.uiowa.edu/­chapters/ancient-africa/ ife/?start=1 (letzter Zugriff am 22. Juli 2017). Siehe die Rede auf dem Youtube-Channel The Obama White House, URL: https://www.youtube. com/watch?v=xCht75HO2SI (letzter Zugriff am 10. September 2017). Im Kontrast zur zeichenhaften Gestik Donald Trumps beansprucht Obamas Gestik und Körpersprache gleichwohl politische Bedeutung. Nichts wäre irrtümlicher, als die Lässigkeit und Zurückhaltung des ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten jenseits politischer Ikonologie zu verstehen. Selbstverständlich verwendet er in seiner Inszenierung auch Gesten und Zeichen der

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hervorgehoben hat, trifft sich der Habitus des Politikers mit dem von Copley als einem inzwischen heroisierten, ersten großen amerikanischen Künstler, der sich alle Optionen amerikanischer Mythenbildung offenhielt, immer engagiert wirkte, ohne vom Moment affektiver Überzeugungsstrategie in seinem Werk und dem intensiven, persönlichen Streben nach Zugehörigkeit zum Establishment lassen zu können. Copley setzte seinerseits auf eine Doppelidentität als emotional engagierter Künstler mit „amerikanischem Herzen“26 und als Gelehrter, der akademische Bildung und theoretisches Wissen für die zukünftige Verbesserungswürdigkeit seines Heimatlandes repräsentierte. Angesichts der Bedeutung Copleys heute – für das Narrativ der Nation und für transatlantische Studien gibt es keinen Imperativ des grammatischen Tempus, in dem man über ihn schreiben könnte – sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Forschung, Verbreitung und Vereinnahmung seines Werks allgegenwärtig.27 Das Museum ist – wie die Bilder Copleys – Medium erneuerbarer Geschichtsauffassung aus der Erfahrung der Gegenwart, ein museumswissenschaftlich innovativer Ansatz, der in einer Zeit der vermeintlichen Krisen der Museen die politische Bedeutung und Unabdingbarkeit dieser Institution nicht deutlicher machen könnte. So erhoffte sich Obama, das Nationalmuseum möge dazu beitragen, eine komplexere, umfassendere Geschichte Amerikas zu erzählen, als sie derzeit besteht. Nicht nur die Heldentaten und Paradigmenwechsel einer Nationengeschichte, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert geschrieben wurden, sondern eine Geschichte, ja Geschichten – im Plural – von Millio­ nen Menschen sollen die Nation stärken. Es ist dabei im allgemeinen Diskurs immer wieder von „black history“, vor allem von „Afro-Americans“ die Rede, wobei die Sprachregelung nicht immer einheitlich ist, wenn allgemein Menschen mit afrikanischer Herkunft mit einbezogen werden. Das Projekt, die Partizipation der schwarzen Bevölkerung an der Geschichte Amerikas zu ermöglichen und historisch nachzuweisen, findet besonders im „Black History Month“ seinen Ausdruck, einem Gedenkmonat, der in der 1926 eingeführten „National Negro History Week“ seinen Ursprung hat28 – eine Formulierung, die heute sicher nicht mehr gewählt würde. In diese heikle Begriffsgeschichte sind Herrschaft und Dominanz, die womöglich angesichts der Gesamtinszenierung besonders subtil wirken. Es ist sogar erhellend, sich vorzustellen, dass Obama die Theorie der zwei Körper des Herrschers umsetzt, nämlich als partikularer, physischer und als universeller, überzeitlicher Körper aufzutreten und wirksam zu sein: „Er [Obama] ist der (partikulare) Beweis des Universalismus qua Ausnahme – seines Lebens und seines Körpers. Und so argumentiert Obama oftmals nicht aus oder mit politischen Überzeugungen, sondern aus de facto persönlichen und gleichsam physischen Gründen. Von Rasse oder Nationalität als Beleg oder Topos der Substanz und damit folglich als Kriterium der Politik wird eben nur scheinbar Abstand genommen.“ Jens Kabisch, ‚Biologismus ohne Namen‘ – Barack Obama und die Hypostase des Market State, in: Dominik Finkeld, Julia Inthorn und Michael Reder (Hg.), Normiertes Leben. Biopolitik und die Funktionalisierung ethischer Diskurse, Frankfurt am Main 2013, S. 181–203, hier S. 199–200. 26 Siehe unten, Anm. 36. 27 Den Vernunftmenschen Copley rückt eine neue Biografie ins Licht: Jane Kamensky, A Revolution in Color. The World of John Singleton Copley, New York/London 2016. 28 Siehe http://www.history.com/topics/black-history/black-history-month (letzter Zugriff am 22. Juli 2017).

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Copleys Darstellungen von Schwarzen seit den ersten zeitgenössischen Kommentaren involviert. Obama forderte nicht nur ein dominierendes, statisches Geschichtsbild heraus, sondern auch das Verständnis von Nation und Nationalität. Es ging ihm nicht allein darum, Schwarze beziehungsweise Afroamerikaner in der Geschichte Amerikas zu erinnern und dass diese Erinnerungen in dem neuen Museum gespeichert würden, sondern darum, dass deren Geschichten als wichtige, aktive Bestandteile der nationalen Geschichte verstanden werden.29 Er interessierte sich nicht so sehr für eine Geschichte, die Mitleid erregt, indem sie Leiden ausstellt, sondern für eine Geschichte von „Suffering and Delight“30– Leiden und Freude. Obama rief puritanische Werte auf, um Katharsis und Integration zu ermöglichen.31 Als Höhepunkt der Zeremonie präsentierte er ein Bild gelebter und lebendiger Geschichte, indem er eine Familie auftreten ließ, die mit ihm das Museum eröffnete und so ein Zeichen setzte gegen eine singulär männlich bestimmte Heldengeschichte. Zugleich reihte er sich in eine neue Forschungsrichtung ein, die Sklaven als politische Akteure ins Gedächtnis ruft, anstatt die Geschichte der Sklaverei als Heldengeschichte weißer Abolitionisten und Akteure zu erzählen.32 Eine fast hundertjährige Frau, Ruth Odom Bonner, stand quasi als natürliches Symbol unversehens – und für den Anspruch des Museums stellvertretend – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: ihrerseits Patronin einer Familie, deren Biografien in die Zeit der 29 Die Pluralität von Geschichtsbildern, aber auch die Frage, wer das moralische Recht hat, daran mitzuschreiben, wird aktuell heftig anlässlich der Ausstellung der Whitney-Biennale diskutiert. Siehe hierzu z. B. Andrea Köhler, Schwarzes Leid, weisser Blick, in: NZZ, 6. April 2017. Siehe auch die Diaspora-Forschung, u. a. von Tina Campt, u. a. Performing Stillness: Diaspora and Stasis in Black German Vernacular Photography, in: Qui Parle 26 (2017), Nr. 1, S. 155–170. Obama hat 2016 ein klares Zeichen für eine neuartige Geschichtsschreibung gesetzt, als er seine Sommerlektüre kundtat – den Roman The Underground Railroad von Colson Whitehead. Siehe dazu die Rezension von Andreas Eckert, Wer hat für die Freiheit gearbeitet?, in: FAZ, 5. 7. 2017, Nr. 153, S. N3. Viele haben diesen Roman als Sinnbild aktueller Rassenkonflikte in den Vereinigten Staaten gelesen. Bislang dominiert die Vorstellung, weiße, besonders aufgeklärte Bürger und Politiker hätten ,die‘ Menschenrechte für ,ihre‘ schwarzen Brüder und Schwestern durchgesetzt. Schwarze Menschen als Akteure der Geschichte und Geschichtsschreibung werden für die erste Phase der Emanzipation kaum berücksichtigt, auch wenn es spektakuläre Ausnahmen gibt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist Copley der erste Künstler, der Geschichtsschreibung aus der Sicht schwarzer Menschen propagiert. Dass er dabei in einem loyalistischen Umfeld arbeitete, ist umso interessanter. Denn er war ein Künstler und kein Politiker; Copley wollte sein Talent zum Ausdruck bringen, Geld verdienen und sozial aufsteigen. Deshalb amalgamierte er aus den loyalistischen und abolitionistischen Positionen seiner Zeit Figuren schwarzer Helden, so schön, so unindividuell, so verführerisch, dass sich ihre Statur bis in die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts verfolgen lässt. Sein Erfolgsrezept funktioniert bis heute, sicher vornehmlich für ein weißes Publikum. Aber gelten seine Bildschöpfungen nicht auch für ein schwarzes Publikum, das im Zuge der Bürgerrechtsbewegung ,black ­beauty‘ durch Bilder konstruierte? Siehe dazu Deborah Willis, Posing Beauty: African-American Images from the 1890s to the Present, New York 2009. 30 https://www.nytimes.com/2016/09/25/us/politics/obama-african-american-museum.html (letzter Zugriff am 26. Juni 2017). 31 Vgl. Brian H. Cosby, Suffering and Sovereignty. John Flavel and the Puritans on Afflictive Providence, Grand Rapids, MI, 2012. 32 Siehe Manisha Sinha, The Slave’s Cause. A History of Abolition, New Haven/London 2016.

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Sklaverei zurückreichen und deren jüngstes Mitglied, Christine, ein Mädchen ist, dem die Zukunft in aller Freiheit zu Füßen liegen soll.33 Der Siebenjährigen standen keine Tränen in den Augen, sondern sie konnte es kaum erwarten, diese – ihre – Zukunft quasi mit dem Museum zu eröffnen, und zog kräftig mit an dem Seil, mit dem die Glocke einer der ersten, 1776 von Afroamerikanern gegründeten Kirchen in Virginia geläutet wurde. Es war offenkundig, dass Obama so auch ein Zeichen für eine neue Genderpolitik innerhalb der ,Black History‘ setzen wollte, die lange Zeit von schwarzen Männern als Autoren und Akteuren dominiert wurde.34 Die Bühne mit Protagonisten dieser Art auszustatten – das erscheint wie ein Histo­ rienbild der Gegenwart und Zukunft, das Generationen umspannt. Wie wirkmächtig diese Inszenierung war, belegt die Resonanz in den Medien, wo es hieß, dieser Staatsakt habe der Gründung einer Nation geglichen. Obama verwendete in seiner historischen Rede den Begriff der Aufklärung und die Metapher des Lichts je einmal. Und in der Tat ist die Geschichte der Abschaffung der Sklaverei ohne den Prozess der Aufklärung nicht denkbar. Das Museum, so meinte er, solle für viele Generationen Licht in die komplexe Geschichte afroamerikanischer Menschen bringen. Seine Auffassung von der Funktion des Museums als Bildungsinstitution und als Speicher für Erinnerung, als Fundament von Geschichtsschreibung wie auch sein Rückgriff auf Prozessualität als Paradigma waren dabei traditionell in der Epoche der Aufklärung verankert. Er trug so auch der Einschätzung Rechnung, dass seine Präsidentschaft ohne den Abolitionismus der 1770er- und 1780er-Jahre beiderseits des Atlantiks nicht möglich gewesen wäre.

33 Die Familie Bonner und deren Geschichte soll zufällig einem Mitglied des Festkomitees des ­Museums aufgefallen sein. Wie die Washington Post am 25. September 2016 schrieb, war der Familie bis kurz vor der Zeremonie nicht klar, wie sehr sie im Mittelpunkt stehen ­w ürde: https://www.­ washingtonpost.com/news/arts-and-entertainment/wp/2016/09/25/descended-from-a-slavethis-family-helped-to-open-the-african-american-museum-with-obama/?utm_term=.7998 ddcd724d (letzter Zugriff am 22. Juli 2017). Der Vater von Ruth Bonner, Elija Odom, konnte aus der Sklaverei fliehen und wurde Mediziner und Inhaber einer Apotheke in Biscoe, ­A rkansas. Arkansas ist durch Lynchjustiz und Rassenunruhen bis in die 1950er-Jahre bekannt geworden. Der Bezug auf Kinder und Jugendliche, den Obama in seiner Rede und der Inszenierung der Eröffnungsveranstaltung sucht, lässt sich auf die wichtigen Einschnitte in der afroamerikanischen Geschichte zurückführen, in der z. B. die Little Rock Nine in Arkansas eine symbolische Rolle einnahmen – neun Jugendliche, die eine Schule nach der gesetzlichen Beendigung der Rassentrennung besuchen wollten und von einer militärischen Einheit geschützt werden mussten. Später erhielten sie Auszeichnungen für ihre Standhaftigkeit. 34 Legendär für die Heroisierung des schwarzen Mannes ist der Protagonist Kunta Kinte in Alex ­Haleys Roman Roots. The Saga of an American Family (1976) geworden. Der Roman und dessen Verfilmung erreichten weltweit ein Millionenpublikum und thematisierten erstmals afroamerikanische Geschichte in massenmedialer Aufmachung. Obama stützt sich in seiner Rede deutlich auf die Metapher der Verwurzelung, die tiefer reiche als alle Bäume an der National Mall. In der Tat zeichnet sich das Museumsgebäude durch seine tief in die Erde reichenden Untergeschosse aus. Obama naturalisiert Geschichte, weil er suggeriert, die tiefe Grabung sei mit der Länge und Bedeutung afroamerikanischer Geschichte gleichzusetzen.

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Ein „amerikanisches Herz“? Wie sah die Konstellation von Erinnerung und Geschichte im 18. Jahrhundert aus? Ist versucht worden, so wie es Obama einfordert, Geschichtsschreibung als eine komplexe Angelegenheit der Praktiken und Ideen von Künstlern, Institutionen und Millionen beteiligter Individuen zu denken? Der Prozess ,Aufklärung‘ bildet ein Klangbild aus allen diesen Komponenten. Womöglich wird es noch lange dauern, bis die in Disziplinen verhaftete Geschichtsschreibung in der Lage ist, historische Komplexität in ihrer Prozesshaftigkeit und Dynamik theoretisch und methodisch nachvollziehbar zu machen. Im Folgenden wird von Überlegungen und Verbildlichungen zur jungen Nation Amerika im 18. Jahrhundert ausgegangen. Edmund Burke (1729–1797), Theoretiker ästhetischer Theorien und politischer Autor, bezeichnete das amerikanische Volk in seiner klassisch gewordenen „Speech on Conciliation“ (22. März 1775) als junge Nation, die noch hineinwachsen müsse in ein männliches Erwachsenendasein. Burke, der sich nur Männer als Leitfiguren vorstellen konnte und bis heute allzu vorschnell als konservativer Geist eingeschätzt wird, hatte eine sehr eigene intellektuelle Agenda, die ihn auch als Liberalen erscheinen lässt.35 Über Burke, den Old Whig, und seine facettenreichen Ansichten könnte sicher ausgiebig debattiert werden, aber er hat sich – daran besteht kein Zweifel – immer wieder für Minderheiten, Gerechtigkeit und offene Möglichkeiten in der Zukunft eingesetzt, während er zugleich ein Verfechter des Naturgesetzes war, – als solcher ist er in der modernen Geschichtsschreibung und in der postmodernen Theorie durchaus nachvollziehbar einer rigiden Kritik unterworfen worden, zumal er die Französische Revolution verurteilte; sie erschien ihm als Gewaltakt, die seinen Vorstellungen einer auf dem Naturrecht basierenden Gesellschaftsbildung nicht entsprach. Dieser Autor, der multiple politische Positionen im Prozess der sich zu seiner Lebenszeit überschlagenden Ereignisse in Europa und Amerika einnahm, wie auch immer man seine diversen Schriften beurteilen mag, entschärfte die Spannungen im Konflikt zwischen dem Mutterland Großbritannien und den abtrünnigen Kolonien, indem er von jungen Menschen sprach, einer jungen Nation, der man auch Fehler zugestehen müsse. Solch eine Jugendlichkeit der Nation und die Zustände des Unfertigen, der Unentschiedenheit, der Offenheit spielten für das Werk des Malers John Singleton Copley eine ebenso wichtige Rolle wie das Motiv der Angst und ihrer Überwindung, das in Burkes Rede rhetorisch prominent zum

35 Siehe Burke 2000 (wie Anm. 2), S. 79. Roger Stein, Copley’s Watson and the Shark and Aesthetics in the 1770s, in: Calvin Israel (Hg.), Discoveries and Considerations: Essays on Early American ­Literature and Aesthetics, presented to Harold Jantz, Albany 1976, S. 85–130 (siehe auch den korrig. Reprint von ebd. unter dem gleichen Titel, Albany 1976), hat zuerst den Bogen zwischen Copleys Gemälde und Burkes Ästhetik sowie dessen politischer Auffassung geschlagen; siehe bes. S. 116– 117. Burkes Metaphorik des Versinkens, Schmelzens und des Absterbens als natürlicher Prozess der politischen Meinungs- und Positionsänderung müsste hinsichtlich der aquatischen Inszenierung Copleys weiter nachgegangen werden.

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Einsatz kommt, um der Befürwortung einer Aussöhnung mit den aufständischen Untertanen im Sinne eines Akts der Zivilisierung, der Verfeinerung der eigenen Positionen Nachdruck zu verleihen. Copley, der sich mit jugendlicher Allüre darstellte (Taf. LXXI), wird häufig als der erste wirklich amerikanische Künstler gefeiert, weil er ein unabhängiges, sehr umfassendes Werk schuf, das einerseits auf der traditionellen akademischen Kunsttheorie Europas beruht und andererseits zugleich äußerst originell und aktuell erscheint. Im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen jedoch attestierte man ihm anlässlich der Rede des britischen Monarchen zur Anerkennung der Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien am 5. Dezember 1782 ein „amerikanisches Herz“, obgleich er zu jener Zeit schon längst nicht mehr in Amerika lebte und auch nie mehr dahin zurückkehren sollte.36 Es sind drei Aspekte, die herausgegriffen werden, um zu zeigen, dass Copley Bildkonzepte entwarf, mit denen er das Historienbild nicht mehr als starres Exemplum und Erzählung einer kodifizierten Geschichte auffasste, sondern als dynamische, zeitgenössisch wirksame, unabgeschlossene und auch vom buchstäblichen Meinungsbild her nicht eindeutige Komposition, die aus dokumentarischen und fiktiven Elementen zusammengesetzt ist. 1. Copley bezieht den Betrachter als noch zu formendes Subjekt in den Handlungsraum seiner affektiv aufgeladenen Kompositionen ein, die häufig äußerst bewegt, wenn nicht sogar schwungvoll und mitunter auch druckvoll zu nennen sind. Diese Charakterisierung trifft auf die Gemälde Watson and the Shark (R.A. 1778)37 und The Death of Major Peirson (1782–84)38 (Taf. LXXVIII), die hier erörtert werden, zu. 2. Copley entwirft konflikthafte Entscheidungssituationen, die bei der Bildbetrachtung eine Partizipation, eine Interaktion mit dem dargestellten Geschehen provozieren. Solch eine offene Situation wird durch die montageartige Darstellungsweise forciert. Der

36 Die Äußerung ist von Elkanah Watson (1758–1842) überliefert, der über sein Leben Tagebuch ­führte. 1782 malte Copley Watson (Öl auf Leinwand, 149 × 121 cm, Princeton University Art ­Museum), siehe: http://artmuseum.princeton.edu/collections/objects/29121 (letzter Zugriff am 8. Juli 2017); beiden Legenden zufolge soll im Hintergrund erstmals die Flagge der nunmehr unabhängigen Kolonien dargestellt worden sein; Copley soll noch auf die offizielle Bestätigung der Unabhängigkeit gewartet haben, bevor er das Gemälde mit der Flagge der Vereinigten Staaten versah. Siehe Jeremy Dupertuis Bangs, The Travels of Elkanah Watson. An American Businessman in the Revolutionary War in 1780s Europe and in the Formative Decades of the United States, Jefferson, NC, 2015, S. 103. Vgl. Holger Hoock, Empires of the Imagination. Politics, War, and the Arts in the British World, 1750–1850, London 2010, S. 96. 37 Siehe Ballew Neff 1995 (wie Anm. 15), Kat.-Nr. 4; Jules David Prown, John Singleton Copley, Bd. 2: In England, 1774–1815, published for the National Gallery of Art, Washington, Cambridge, MA, 1966, S. 459–461. 38 Siehe Ballew Neff 1995 (wie Anm. 15), Kat.-Nr. 18; Prown 1966 (wie Anm. 37), S. 440–443.

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Betrachter wird geradezu aufgefordert, sich die Geschichte gleichsam selbst zusammenzubauen, selbst zu entscheiden, welche Facette des Dargestellten im Mittelpunkt steht. 3. Copley stellt den Typus des Nationalhelden infrage und offeriert neue Helden oder auch multiple Heldenhaftigkeit, besonders indem er in den genannten beiden Gemälden jeweils einen schwarzen Helden auftreten lässt, der weißen Protagonisten hilft bzw. diese rächt oder verteidigt. Er greift jeweils an zentraler Stelle in das Geschehen ein. Schwarze als Handlungsträger und moralische Leitfiguren darzustellen ist eine höchst ungewöhnliche Konstellation zu einer Zeit, in der die Befürwortung der Abschaffung der Sklaverei ein heftig umkämpftes Thema sowohl in Amerika wie in Europa war, mit dem zahlreiche, auch juristische Auseinandersetzungen einhergingen. Es ist, als würde Copley seinen Finger in die Wunde der Unabhängigkeitserklärung und der darin proklamierten Menschenrechte legen, die vom seinerzeit geltenden Recht her einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung ausschlossen. Insgesamt – so die These – erfüllen Copleys komplexe, auf den individuellen Betrachter ausgerichtete Geschichtsdarstellungen die Forderungen von Barack Obama nach einer umfassenden, ausgreifenden Geschichtsschreibung wie auch nach einer aktiven, subjektiven Partizipation am Geschichtsbild der Zukunft und am Verständnis der eigenen Geschichte. Es ist diese überzeitlich angelegte, auf Involvierung und affektive Ansprache ausgerichtete Konzeption, der Copleys Bilder ihre intensive Wirkung auch jenseits der spezifischen historischen Ereignisse verdanken und die sie in neuen Kontexten aktuell erscheinen lässt, in denen es um Konflikte, Menschenrechte, Gemeinschaftsbildung und um politische Fragen der Zugehörigkeit in Zeiten des Übergangs und der globalen Mobilität geht.

Watson and the Shark – Nationalepischer Nervenkitzel als Erfahrung von „repeated injuries“ und „future security“ Mit dem großformatigen Gemälde Watson and the Shark (Taf. LXIX) erlangte Copley gleich nach der Ausstellung des Gemäldes im Jahr 1778 die Aufnahme als Vollmitglied in die Londoner Royal Academy of Arts, nachdem er bereits während seiner Zeit in ­Boston mit dem Porträt A Boy with a Flying Squirrel (1765) den Kontakt zu jener ehrwürdigen, 1768 gegründeten Kunstakademie gesucht hatte.39 Copleys Mitgliedschaft in der Royal Academy of Arts ging Hand in Hand mit seinem Streben nach kommerziellem Erfolg auf dem sich Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelnden freien Kunstmarkt. Doch

39 Siehe dazu besonders Jennifer Roberts, Transporting Visions. The Movement of Images in Early America, Berkeley/Los Angeles/London 2014, hier Kap. 1, „Dilemmas of Delivery in Copley’s Atlantic“, S. 13–67. Roberts stellt überzeugend die künstlerische Kontinuität zwischen Copleys früheren Porträts und Watson and the Shark heraus.

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nicht das Gemälde, sondern die Nachstiche – im Fall von Watson and the Shark ein 1779 von Valentine Green angefertigtes Schabkunstblatt – sicherten dem Künstler seine Einnahmen, und tatsächlich konnte er mit Watson and the Shark einen finanziellen Erfolg verzeichnen, der ihn darin bestärkte, später selbst Ausstellungen zu organisieren und so das Publikum auf seine Bilder aufmerksam zu machen.40 Da auch die Royal Academy of Arts auf die Einnahmen aus den jährlichen Ausstellungen angewiesen war, geriet er in heftigen Konflikt mit dieser Institution, namentlich mit William Chambers, wobei er keine Ausnahme bildete, wenn man an die Auseinandersetzungen etwa von Thomas Gainsborough mit dem Hängungskomitee der Akademie und die selbstständigen Ausstellungen dieses Malers denkt.41 Von Copley ist überliefert, dass er im Sommer 1774 in London den im Bild als ­hilflos im Wasser treibender 14-jähriger Junge Dargestellten als längst erwachsenen und gewieften transatlantischen Protagonisten getroffen habe. Es war Brook Watson (1735–1807), der Copley auf das Jahrzehnte zurückliegende Schreckensereignis mit dem Hai aufmerksam machte. Die Idee zum Gemälde wird Copley mit auf seine Grand Tour genommen haben. Wie konnte er ein gesellschaftlich völlig unbedeutendes, allerdings spektakuläres, originelles Ereignis in ein Historienbild ummünzen? Dass Watson den 40 Copley hatte sich schon in seiner äußerst erfolgreichen Zeit als Porträtmaler in den Vereinigten Staaten nicht auf die gesellschaftliche Repräsentation eines Status quo beschränkt, sondern seiner Klientel eine Imagebildung offeriert, die fast nichts mit ihrer tatsächlichen sozialen, gesellschaft­ lichen und politischen Wirklichkeit, aber alles mit ihrem Selbstbild, ihren Ambitionen und Ansprüchen zu tun hatte, wie Paul Staiti gezeigt hat. Die Authentifizierung von Copleys künstlerischen Fiktionen erfolgte über die dann in England weiter vorangetriebene, fast gläsern zu nennende Malweise und montageartige Bildgestaltungen, die, wenn man sie genauer besieht, sogar offenlegen, dass es sich um Quasi-Dokumentationen handelt. Eben diese Mischung aus gelebter Geschichte, die seine Auftraggeber verkörperten, ihre fiktionale Aufladung in Copleys Gemälden verbunden mit seiner spezifisch unsentimentalen Malweise, ließ ihn für jene politischen Protagonisten besonders disponibel erscheinen, die sich neu, in die Zukunft eines unabhängigen Amerikas hineinerfinden wollten. Das Visionäre dieser Porträts übertrug Copley in seine Historiengemälde. Siehe Paul Staitis Ausführungen zur Fiktion in Copleys amerikanischen Porträts, besonders am Beispiel der ausgezeichneten Analyse des Porträts von John Hancock, den Copley 1765 zu einer Zeit malte, als dieser politische Ämter anstrebte (Hancock war Präsident des Kontinentalkongresses und erster Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Seine politischen Schachzüge, sein Charakter und sein Image als radikaler Patriot ließen ihn schon Lebzeiten zu einer schillernden Legende werden): Paul Staiti, Character and Class. The Portraits of John Singleton Copley, in: Marianne Doezema und Elizabeth Milroy (Hg.), Reading American Art, New Haven/London 1998, S. 12–37, hier S. 29–33. Statt Hancock in seiner Postur als modischen, Luxusgüter liebenden Gentleman zu zeigen, entwarf Copley das Image eines puritanischen, schmalbrüstigen Menschen, mit dem niemand Ausschweifungen, die Verachtung des Volks und den selbstsüchtigen Wechsel politischer Lager in Verbindung gebracht hätte: John Singleton Copley, John Hancock, 1765, Öl auf Leinwand, 124,8 × 100 cm, Museum of Fine Arts, Boston. Die Aufnahme dieses Aufsatzes, der zuerst in dem Ausstellungskatalog John Singleton Copley in America (siehe oben, Anm. 15) erschien, in diese Anthologie, die die amerikanische Kunst vom 17. bis zum 20. Jahrhundert umfasst, belegt noch einmal die kanonische Bedeutung von Copleys Werk für die amerikanische Kunstgeschichtsschreibung. 41 Vgl. u. a. Rosie Dias, “A World of Pictures”: Pall Mall and the Topography of Display, 1780–99, in: Miles Ogborn und Charles W. J. Withers (Hg.), Georgian Geographies: Essays on Space, Place and Landscape in the Eighteenth Century, Manchester/New York 2004, S. 92–113, hier S. 98.

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Maler mit dem Gemälde beauftragte, ist nicht belegt und sogar unwahrscheinlich, was in der neueren Literatur in der Regel bestätigt wird. Die Arbeit verblieb vielleicht in Copleys Besitz, obgleich auch das unsicher ist, weil der Künstler selbst eine Kopie malte, die er in seinem Atelier ausstellte.42 Es lässt sich folglich nur spekulieren, dass Watson eventuell später, als er sich in London stärker im öffentlichen Leben etabliert hatte, das Gemälde für seine Imagepflege nutzen wollte. Die frühe Provenienz des Gemäldes ist jedenfalls dunkel und verworren. Erst für das Jahr 1803 kann das in der Akademie ausgestellte Werk direkt mit Watson in Verbindung gebracht werden: Es ist das Jahr, in dem Watson am 5. Dezember zum Baronet erhoben wurde und damit fortan zur Gentry, dem niederen Adel, gehörte. Watson, der selbst früh verwaist bei seiner Tante und seinem Onkel aufwuchs, vermachte das Bild wahrscheinlich aus diesem Anlass einer Schule für verwaiste Knaben, als Exemplum für Mut, Tapferkeit und Erlösung und natürlich mit ihm selbst als großem Vorbild. Bis heute wird das Gemälde dementsprechend gern für museumspädagogische Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Zum Beispiel wird dem Geschehen in diversen Nachbildungen und -stellungen etwa durch eine Animation des Haimauls oder durch erschreckende Schreie eines Jungen ein besonderer Nervenkitzel verliehen, oder es wird dazu aufgefordert, eine Szene zu malen, in der man sehr große Angst hatte und diese zu überwinden vermochte: “Me? Scared? Think of a time in your life when you were very brave in a frightening situation. Draw a frame on a piece of paper and sketch in the most exciting moment of your story. Where were you at the time? Was it day or night? Were you alone or with other people? What was challenging to you? How did you react? Are you going to leave the viewers in suspense, or will you tell them how it all worked out? At the bottom of the picture frame draw a rectangular box, and in that space, write a few sentences to tell people about your bravery and your success, and describe what you learned from the experience.“43

Watsons Stiftung macht also bis heute das große, offenbar zeitlos pädagogische Potenzial des Gemäldes deutlich. Das Bild selbst verblieb einige Zeit im Christ’s Hospital und geriet danach zunächst weitgehend in Vergessenheit.44 Erst 1857 wurde es wieder in der 42 Die drei Fassungen des Gemäldes bedürfen sicher einer neuen, eingehenden Untersuchung. Frappierend ist, wie das Gemälde im Bostoner Museum of Fine Arts dem Original folgt, aber auch bei genauem Hinsehen Abweichungen malerischer und motivischer Art zeigt. Die Bostoner Version wirkt malerisch hier und da etwas hingeworfen. Der Hai erscheint deutlich bedrohlicher und noch klarer als das Originalgemälde auf naturwissenschaftlichen Zeichnungen oder Modellen beruhend. Wie hätte Copley eine so elaborierte Version der Zähne des Hais malen können, wenn er nicht direkt ein Modell oder eine Grafik vor Augen hatte? Warum hat er in der Kopie den Hai naturwissenschaftlich genauer und bedrohlicher dargestellt? 43 Siehe oben, Anm. 1. 44 Die Provenienz wird von der National Gallery of Art wie folgt angegeben: „Brook Watson [1735– 1807], London and East Sheen, Surrey; bequeathed to Christ’s Hospital, London; [1] purchased 1963 by NGA. [1] Watson’s will, dated 12 August 1803, states: ‘I give and bequeath my Picture painted by Mr. Copley which represents the accident by which I lost my Leg in the Harbour of the Havannah in the Year One Thousand Seven Hundred and Forty Nine to the Governors of Christs Hospital to be delivered to them immediately after the Decease of my Wife Helen Watson or before if she shall think proper so to do hoping the said worthy Governors will receive the same as a testimony of the high estimation in which I hold that most Excellent Charity and that they will allow it to be hung up

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einflussreichen „Art Treasures of the United Kingdom. Paintings by Modern ­Masters“ in Manchester ausgestellt. Heute befindet sich Copleys Gemälde, wie erwähnt, in der Sammlung der National Gallery of Art in Washington, DC, wo es prominent mit einer für das Christ’s Hospital angefertigten Inschriftentafel ausgestellt wird, auf der die Szene, die das Bild darstellt, zusammen mit der Lebensgeschichte von Watson als vorbildlich für die Erlangung privater und öffentlicher Tugend erzählt wird.45 Der Text dient vor allem der Nobilitierung Watsons und seiner Lebensstationen. Das Gemälde wurde 1963 durch die Stiftung von Ferdinand Lammot Belin (1881–1961) angekauft, seines Zeichens Diplomat, Regierungsbeauftragter unter H ­ erbert Hoover, Philanthrop, Patriot und Gründungsmitglied der 1941 eröffneten Natio­nal Gallery of Art. Eine hochformatige Version, die 1946 vom Detroit Institute of Art angekauft wurde, malte Copley 1782. Eine weitere Version im Boston Museum of Fine Arts, welche durch eine Schenkung im Jahr 1889 dorthin gelangte, dürfte die eigenhändige Kopie des Ausstellungsstücks sein, die in Copleys Familie kurzzeitig weiter­vererbt worden war, bevor sie auf den Kunstmarkt kam. So wie in der Washingtoner National Gallery of Art, so sind auch in Detroit und Boston Ankauf und Schenkung der Gemälde mit den Namen verdienter Politiker und Philanthropen verbunden.46 Die Forschung hat in der Nachfolge Edgar Winds immer wieder hervorgehoben, wie gerade amerikanische Künstler im 18. Jahrhundert das Historienbild zum Ereignisbild

in the Hall of their Hospital as holding out a most usefull Lesson to Youth.’ (Public Record Office, London; copy, NGA curatorial file). The school’s committee of almoners voted 28 September 1819 to accept the painting and place it in the great hall (minutes of a meeting of the Board of Almoners, Christ’s Hospital, 28 September 1819; extract, NGA curatorial file). The hospital was founded in London in 1553 and was moved to Horsham, Essex, in 1902; Encyclopaedia Britannica (11th ed., New York, 1910), 6: 295–296.“ Siehe: https://www.nga.gov/content/ngaweb/Collection/art-­objectpage.46471.html#provenance (letzter Zugriff am 23. Juli 2017). 45 Der Text der Inschriftentafel lautet: „This picture representing a remarkable occurrence in the life of Brook Watson was bequeathed to the Royal Hospital of Christ in London by his will. He was of a very good family in the North of England but having lost both his parents early in life was brought up by an aunt, and before the age of fourteen years manifested a strong predilection for the sea, which led to the misfortune represented in the picture. He served in the Commissariat Department of the Army under the immortal Wolfe at Louisberg in 1758. In 1759 he was established as a merchant in London and was subsequently called upon to act as Commissary General to the Army in America commanded by Sir Guy Carleton, late Lord Dorchester. On his return from that service he was elected an Alderman of the City of London and one of its representatives in parliament, and continued Member of the House of Commons till he was appointed to the situation of Commissary General to the Army under His Royal Highness the Duke of York, acting on the continent of Europe. In 1796 he was chosen Lord Mayor and in 1803 created a baronet of the United Kingdom. He died in 1807, an Alderman of the City of London, Deputy Governor of the Bank of England, &c, &c thus shewing that a high sense of integrity and rectitude with a firm reliance on an over ruling providence united to activity and exertion are the sources of public and private virtue and the road to honours and respect. The picture was painted by John Singleton Copley Esq. Royal Academician in the year 1778.“ 46 In Boston geht die Schenkung auf Maria Alice Appleton, die Ehefrau des u. a. als Marineminister ausgezeichneten George von Lengerke Meyer, zurück; in Detroit wurde der Ankauf vom Dexter M. Ferry, Jr. Fund ermöglicht. Das Detroiter Bild kam vor 1786 durch Noël Desenfans auf den englischen Kunstmarkt.

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uminstrumentierten, indem sie Themen der Zeitgeschichte verbildlichten, so wie etwa Benjamin West den Tod des General Wolfe, 1770, auf der Folie der Beweinung Christi darstellte. Copleys Bild, für das ebenfalls zahlreiche christlich-ikonografische Quellen nachgewiesen wurden,47 stellt jedoch, wie erwähnt, kein zeithistorisch relevantes Ereignis, sondern eine Episode aus der Jugendzeit Brook Watsons dar, der als Schiffsjunge auf einem britischen Schoner im Hafenbecken von Havanna schwimmen ging, wo er von einem Hai dreimal angegriffen wurde.48 Von den ihm zur Hilfe eilenden Kameraden konnte er gerettet werden, sein rechtes Bein musste jedoch unterhalb des Knies amputiert werden; er erhielt eine Prothese, die auf zahlreichen, erheblich später entstandenen Karikaturen zu einer Art Markenzeichen für den im Jahr 1796 gewählten Bürgermeister von London wurde.49 Watson konnte sich in diesem Amt nicht halten. Zeitgenossen galt Watson als eher undurchsichtige, wenn nicht umstrittene Figur, sodass er gute Gründe dafür gehabt haben dürfte, im Christ’s Hospital positive Meilensteine seines Lebens herausgestrichen zu sehen. Copleys Gemälde wurde also, gänzlich unvorhergesehen, in verschiedene moralisierende, persönliche und nationale Diskurse eingebunden, in denen ein wichtiger Aspekt darin bestand, die dargestellte Szene eindeutig als Rettungsszene zu verstehen. Das Gemälde verweigert jedoch gerade die Darstellung einer glücklichen, erlösenden ­Rettung, obgleich in zeitgenössischen und späteren Bildbeschreibungen, wie etwa in den offiziellen Texten der National Gallery of Art, durchgängig zu lesen ist, das Bild stelle eben eine solche dar.50 Demgegenüber bleibt festzuhalten: Copley hat ein Geschehnis gemalt, welches selbst zu seiner Zeit für die Allgemeinheit nicht mehr relevant gewesen sein dürfte. Deshalb sind die akademische Anerkennung wie auch der Publikums­erfolg 47 Besonders Werner Busch hat die Bedeutung der christlichen Ikonografie für Copleys Ge­mälde hervorgehoben. Siehe Werner Busch, Copley, West, and the Tradition of European High Art, in: ­T homas W. Gaehtgens und Heinz Ickstadt (Hg.), American Icons. Transatlantic Perspectives on Eighteenth- and Nineteenth-Century American Art, Santa Monica, CA, 1992, S. 34–59. 48 Siehe in kurzer Zusammenfassung u. a. https://www.nga.gov/content/ngaweb/Collection/ highlights/­h ighlight46471.html (letzter Zugriff am 12. September 2017) sowie Stein 1976 (wie Anm. 35), S. 87. 49 Siehe z. B. die Karikatur von Robert Dighton Jr, Sir Brook Watson, 1st Bt, 1803, handkolorierte Radierung, 31,6 × 25,9 cm, National Portrait Gallery, London, NPG D10764. 50 Siehe: https://www.nga.gov/content/ngaweb/Collection/highlights/highlight46471.html (letzter Zugriff am 8. Juli 2017). Da heißt es nach der Feststellung, Copley habe die dritte Attacke des Hais auf den 14-jährigen Jungen dargestellt: „The boy surfaced briefly before the shark dragged him under a second time, severing his right foot. By the time Watson surfaced again, his mates had nearly reached him. Copley depicts the boy’s climactic rescue: just as the shark zeroed in for its third strike, a determined crewmate armed with a boat hook drove it away.“ Die narrative Vervollständigung dessen, was das Bild tatsächlich zeigt, ist offensichtlich, so als sollten die Bruchstellen des Narrativen, die vielen offenen Fragen wie auch die Hybridität der Figuren überschrieben werden. Außerdem wird angesichts der bildlichen Repräsentation von „terror“ gesprochen, während Zeitgenossen und Wissenschaftler im Zusammenhang dieses Bildes eher den Begriff „horror“ verwenden. Der das Seil haltende Mann wird als „West African crewman“ identifiziert. Die Forschung hat schon früh auf die Historizität und die Harmonisierungsstrategie dieses Begriffs hingewiesen. Siehe dazu Philip D. Curtin, Image of Africa. British Ideas and Action, 1780–1850, London 1965, S. 413. 

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des Bildes erklärungsbedürftig. Worin, wenn nicht in der dargestellten Geschichte, lag die Bedeutung des Bildes für damalige Betrachter? Und worin besteht das Ereignis, ­welches das Gemälde für die amerikanische Kunst und Kultur bis heute so bedeutsam werden ließ? Das Werk wurde zu einem Zeitpunkt ausgestellt, als die Auseinandersetzung zwischen England und den amerikanischen Kolonien in aller Munde war und dieses Thema die Londoner Pamphlete als Medien öffentlicher Meinungsbildung beherrschte. 1778 lag die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zwei Jahre zurück, und das Britische Königreich sollte sich noch fünf Jahre im Krieg mit seinen überseeischen Untertanen befinden. In der Ausstellung der Royal Academy of Arts betrachteten in jenem Jahr täglich Hunderte von Besuchern Copleys Watson and the Shark und erfreuten sich womöglich an einem Schrecken, der so noch nie zuvor in einem Kunstwerk erfasst worden war, starrten sie doch im unteren Drittel des Bildes in das weit aufgerissene Maul eines Hais, drohten sie doch selbst wie der weiße Jüngling in den fast über den unteren Bildrand zu schwappen scheinenden grünblauen bis bräunlichen Wellen den Halt zu verlieren, abzutauchen in einem uferlosen amorphen Element.51 Copley bietet nur einen Ankerpunkt, die Seilschlinge im Wasser, die zu verfolgen er wie einen Ariadnefaden ausgelegt hat. Dieses Seil, eine Rettungsleine, die als Linie durch das Gemälde geführt ist – sollte sie im übertragenen Sinn beim Betrachten ergriffen und gestrafft werden, sodass sie in der Hand des Verzweifelten zu liegen käme? Sollten Zeitgenossen, wenn sie aufblickten zu dem in Untersicht dargebotenen Gesicht des Seilträgers auf dem Boot, der Schlüssel­ figur des Bildes – sollten sie am Ende das tun, was jener im Begriff ist zu tun, nämlich die Schlinge fest, entschlossen in die Hand nehmen, sodass der Jüngling zum rettenden Boot gezogen würde und die beiden Bootsjungen den seltsam transparenten Körper des Unglücklichen zu fassen bekämen? Wie auch immer das Angebot des Bildes in der Betrachtung aufgefasst werden mag: Copley stellte nicht nur ein Drama dar, sondern führte es als einen komplexen Prozess vor Augen, sodass der formalästhetische Eindruck von Bewegung und Dynamik einen rezeptionsästhetischen Effekt auslöste, der innere, gefühlsmäßige, ethische Aspekte implizierte und die Frage nach Rettung und Sicherheit auslöste. Sollte es Copley womöglich gelungen sein, auf eine überraschend subtile Weise die in der Declaration of Independence gleich zu Beginn so eindrücklich beschriebenen Menschenrechte der „Safety and Happiness“, der „future security“ und sogar der „repeated

51 Copley lässt den Betrachter geradezu eintauchen in das Wasser, während z. B. Benjamin West in The Battle of La Hogue, ca. 1778, Öl auf Leinwand, 152,5 × 214,5 cm, National Gallery of Art, Washington, DC, den Blick auf das Wasser betont. Gleichwohl nutzen beide Künstler die Dramatik und Emotionalität, die der unverstellte Anblick der See auslöst. Die Szenerie, die West entwirft, verteilt Spannung und Dramatik auf viele Figuren, Boote und Schiffe. Copley monumentalisiert dagegen und verleiht seinen Figuren so einen würdevollen Auftritt. Offensichtlich hatte sich West mit dem Werk The Battle of La Hogue für ein Entertainment entschieden, ganz im Unterschied zu seinem Gemälde The Death of General Wolfe.

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injuries“52 im Rahmen eines an sich völlig unbedeutenden Ereignisses anklingen zu lassen? Die rhetorische Konfrontation zwischen britischer Barbarei und einer herbeigesehnten ,civilized nation‘ mochte sich so manchem zeitgenössischen Betrachter vor Copleys Gemälde erschlossen haben, aber nicht als finales Statement oder klare Botschaft, sonders als offener, transnationaler, letztlich das Menschsein an sich betreffender Konflikt, zumal die amerikanischen Kolonien auf dem Feld der Barbarei nicht gerade unbedarft waren.53 Anstatt sich dem möglichen, soeben skizzierten konfliktreichen Drama auszusetzen und sich in dieses involvieren zu lassen, kann das Geschehen um die Haiattacke auch aus einer gebotenen Position der Sicherheit, mit innerer Distanz gesehen werden. Ein Schritt zurück vom Gemälde, und das Bildganze ließ sich erfassen, ohne sich auf die dargebotene Performanz des Horrors einzulassen.54 Die Involvierung in den Kampf um ein junges Menschenleben erscheint ohnehin vergeblich – oder etwa nicht? Die Frage nach einer emotionalen und vielleicht sogar ethischen Aktivierung beim Betrachten, ja auch nach der geradezu zwingend erscheinenden Interaktion zwischen dem seilwerfenden Bildakteur auf dem Boot und dem Rezipienten vor dem Werk sei vorerst beiseite gelegt, weil sie bislang in der Forschung nicht gestellt worden ist und es auf sie nicht ohne Weiteres eine Antwort gibt. Wie stellt sich das Bild aus der ästhetischen Distanz dar? Copleys Komposition ist schichtweise, in drei Teilen aufgebaut, eine Konstellation, die in der Bildmitte von einer fast pyramidal aufgebauten Menschengruppe und den vergeblich nach dem Jungen ausgreifenden Bootsjungen in Weiß locker ineinander verzahnt wird (Taf. LXXII). Allerdings schließen sich weder diese Schichten des Bildes zu einem illusionistischen oder perspektivisch nachvollziehbaren Bildraum noch die einzelnen Elemente des Bildes – Schiffe, Boote, Wasser, Figuren – zu einem Ganzen zusammen. Geometrisch und stereometrisch wird das Verhältnis der zweidimensionalen Bildfläche zur suggerierten Räumlichkeit und die Plastizität der Figuren zum Raum ausgelotet. Die zentrale formale Dreieckskonstruktion ist nach rechts aus der Bildmitte verschoben, sodass sich die 52 Declaration of Independence (1776), in: John Grafton (Hg.), The Declaration of Independence and Other Great Documents of American History, 1775–1865, Mineola, NY, 2000, S. 7. 53 Es liegt nahe zu formulieren, dass Copley den Ozean als Heterotopie versteht, als Raum neuer sozia­ ler und politischer Formationsprozesse. Indes ist diese Vorstellung des anderen Raums womöglich allzu strikt gedacht, während Copleys Bedeutungsgenerierung und -spektrum geradezu fluid zu nennen sind. Insofern entspricht sein Konzept neuen, über Foucault hinausgehenden Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Meeresforschung: Vgl. Philip E. Steinberg, Of Other Seas: Metaphors and Materialities in Maritime Regions, in: Atlantic Studies 10 (2013), Nr. 2, S. 156–169, hier S. 158. 54 Horror wird hier ganz buchstäblich verstanden, abgeleitet vom Lateinischen ,horror‘ (Erstarren, Erschauern, Erschrecken, Schaudern und Grausen). Mit dieser Reaktion arbeitet der sogenannte Horrorfilm, der häufig mit der Unheimlichkeit des Bösen resp. des Teufels arbeitet, ganz so wie Copley den Hai als Inbegriff der Hölle inszeniert. Wichtig ist auch die Oszillation zwischen Lebenden und Toten für das Horrorgenre, die Copley ebenfalls vorwegnimmt. Siehe auch Stein 1976 (wie Anm. 35), S. 92, wo mehrfach die „nightmare world of the foreground“ in Copleys Gemälde betont wird, ohne diese Beobachtung weiter zu vertiefen.

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Wucht des jungen Mannes mit der Harpune intensiviert. Nicht die Augentäuschung, sondern das Gemachtsein des Bildes als Bild, dessen künstlerische Komposition dominiert. Die Bausteine des Bildes stellen nicht die Elemente einer Erzählung dar, sondern bleiben jeweils für sich sichtbar bestehen (dies dürfte einer der wesentlichen Unterschiede zur fotografischen Adaption von Copleys Bild in den Medienbildern der Migrationskrise sein). Die formale, von messerscharfen Konturen betonte Bildsektion erfordert und erlaubt eine separierende Wahrnehmung all dessen, was Copley als gelehrte Kunstfertigkeit des akademischen Malers vorführt: die Stadtvedute, die sich über die Horizontale des oberen Bilddrittels erstreckt; die klassisch aufgebaute zentrale Gruppe, die er mit ausdrucksstarken Gesichtern und Gesten versah. Umstandslos zeigte Copley gebildeten Betrachtern, dass er mit der Grammatik des Ausdrucks, wie sie Charles Le Brun für akademische Künstler vorgelegt hatte, vertraut war. Der Vergleich des Mannes mit der Harpune mit Le Bruns Typus der „Aufmerksamkeit“ aus seiner Conférence […] sur l’expression générale et particulière, die 1734 auch in einer englischen Ausgabe erschienen war,55 verdeutlicht dies, ebenso wie auch der Vergleich der Vorzeichnung für den links im Boot sich befindenden Jungen mit der Beschreibung des Ausdrucks einfachen körperlichen Schmerzes – alles Beobachtungen, die in der bisherigen Forschungsliteratur zum Gemälde geradezu kanonisiert sind.56 Nicht zuletzt diente Copley die Figur des weißen Jungen dazu zu zeigen, dass er den nackten menschlichen Körper auf der Grundlage anatomischen Wissens darzustellen vermochte. So verankerte er sein Werk in der seit der Renaissance obligatorischen Wissens­g rundlage des Künstlers, aber auch in der zeitgenössischen Aktualität naturphilosophischer Forschung der Aufklärung. Worum könnte es Copley bei dieser Bezugnahme im Einzelnen gegangen sein? Welche Bedeutung könnte naturwissenschaftlichen Bildern und Konnotationen für Watson and the Shark beizumessen sein? Solche Fragen sind bisher nicht erwogen worden, obgleich aufschlussreiche Quellen aus den Natur­ wissenschaften bereits erhoben wurden.57

Wissen versus Angst Von Copley sind bekanntlich anatomische Zeichnungen aus den 1750er-Jahren erhalten, also noch aus der Zeit, als er in Boston lebte. Die Figuren zeigen deutlich, dass er nach dem seit der Renaissance als Standardwerk geltenden Anatomieatlas von Andreas Vesalius De Humani corporis fabrica (1543) zeichnete (Taf. LXXIII).58 Viel naheliegen55 Charles Le Brun, A Method to Learn to Design the Passions, Proposed in a Conference on their General and Particular Expression, übers. von John Williams, London 1734. 56 Siehe zu verschiedenen Vergleichen hier u. a. Busch 1992 (wie Anm. 47), S. 46ff. 57 Vgl. u. a. Emily Ballew Neff, Like Gudgeons to a Worm. John Singleton Copley’s “Watson and the Shark” and the Cultures of Natural History, in: Ballew Neff und Weber 2013 (wie Anm. 15), S. 162– 195, hier S. 181–186. 58 Andreas Vesalius, De Humani corporis fabrica Libri septem, Basel 1543.

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der wäre, dass Copley John Tinneys 1743 erschienenes Compendium Anatomicum, das in zahlreichen Auflagen bis 1842 als Handbuch für Künstler diente, konsultierte.59 Die Kupferstichtafel IV einer Écorché-Figur von Tinney nach Vesalius mag für den ambitionierten Künstler besonders inspirierend und aktuell gewesen sein (Taf. LXXIV). Besonders die Halsmuskeln, ja auch der nach hinten gelegte Kopf und die wie im Leid geöffneten Lippen mochte Copley für seine Jungenfigur übernommen haben. Tinneys Traktat dürfte auch für den Entwurf des Mannes mit der Harpune nicht unbedeutend gewesen sein. Eine männliche Écorché-Figur aus Tinneys Traktat, die einen Stock hält, wirkt wie ein Vorbild für die muskuläre Anspannung, die Copleys Figur mit den starken Waden und Oberarmen aufweist (Taf. LXXV).60 Bisher ist in der kunsthistorischen Suche nach ikonografischen Vorbildern vor allem Copleys Rückgriff auf Alte Meister – Raffael, Tizian, Rubens und deren Nachfolger – betont worden, was aufgrund der akademischen Praxis naheliegt. So wird Copley die Figur des Jungen an Raffaels (1483–1520) Transfiguration (1518–1520) angelehnt haben.61 Hier sind selbstverständlich die Themen der Erlösung und der Heilung in Anschlag gebracht worden, deren ja, im übertragenen Sinn, auch der junge Brook Watson harrt. Schließlich setzt, motivgeschichtlich gesehen, der junge weiße Bootsmann wie der Erzengel Michael in Guido Renis Gemälde von ca. 1635 dazu an, die Bestie, respektive den Satan, in die Hölle zurückzuschicken.62 Neben der Bezugnahme auf die Geschichte der bildenden Künste scheint es für Copley jedoch von ebenso großer Bedeutung gewesen zu sein, das Gemälde auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt zu sehen, wie die lehrbuchartige Betonung der menschlichen Anatomie zeigt. Eine fast zeichnerisch zu nennende Auffassung der Malerei, die Auseinandersetzung mit planimetrischen und stereometrischen Analysen, Anatomie und Ausdruckskunde und nicht zuletzt die Kenntnis wissenschaftlicher Bilder sind für das Gemälde ebenso wichtig, wenn nicht prägender als Zitate der italienischen Hochrenaissancekunst und die Bezugnahme auf christliche Motive. Zudem ließ Copley auf seiner Grand Tour eine umfassende Neugier und Beobachtungsgabe walten, wie sie im Diskurs des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich als Voraussetzung für wissen-

59 John Tinney, Compendium Anatomicum: Or a Compendious Treatise of Anatomy, Adapted to the Arts of Painting and Sculpture […], London 1743. 60 Zu überprüfen wäre noch der Bezug Copleys auf das Werk von John Francis Rigaud, der zwischen 1772 und 1815 seine Werke in der Royal Academy of Arts ausstellte und ebenfalls Tinneys Anleitung herangezogen haben dürfte. 61 Siehe die Taf. XII in diesem Band. 62 Guido Reni, Erzengel Michael, um 1635, Öl auf Leinwand, 293 × 202 cm, Santa Maria della Concezione dei Cappuccini, Rom. Vgl. hierzu Busch 1992 (wie Anm. 47), S. 40–43. Emily Ballew Neff fasst die wichtigsten, in der Forschung benannten ikonografischen Formeln in Copleys Gemälde zusammen und weist darüber hinaus auf den Stich Jonas und der Wal (De vis spuwt Jona uit op het land) von Antonie Wierix (II) nach Maerten de Vos (siehe z. B. Rijksmuseum, Amsterdam, ­R P-P-OB-9374) hin, der für Copleys Gestaltung des Haiangriffs vorbildlich gewesen sein könnte: Ballew Neff 2013b (wie Anm. 57), S. 162–195, hier S. 176f., Abb. 166.

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schaftliche Neuentdeckungen beschrieben wurden.63 In dieser Hinsicht war er ein experimenteller Avantgardist, der aber gerade aufgrund dieser Haltung in Kunstkreisen auch als verrückt, weibisch und kindlich abgetan wurde. Mit dieser Zuschreibung konnte sich sein Reisepartner jedoch langfristig nicht durchsetzen. Diese Gewichtung zugunsten wissenschaftlich-empirischer Grundlagen lässt sich anhand der Darstellung des Hais besonders gut verdeutlichen, der bis dahin im monumentalen Historienbild noch nie figuriert hatte. So verwendete Copley die vergleichsweise reiche naturkundliche, illustrierte Literatur des 17. Jahrhunderts als Bildquelle. Insbesondere Agostino Scilla kommt hier infrage, denn Scilla beharrte darauf, seine wissenschaftlichen Zeichnungen, die als Stiche 1670 zuerst erschienen (Abb. 1), als Künstler angefertigt zu haben. Er schloss damit an Leonardos Argumentation der Malerei und Zeichenkunst als wissenschaftliche Medien an. 1696 legte William Wotton der Royal Society einen Abriss von Scillas Werk vor und veröffentlichte ein Jahr später A Vindication of an Abstract of an Italian Book concerning Marine Bodies.64 Scillas Werk war ein Gegenentwurf zur bibeltreuen Naturauffassung von Athanasius Kirchers Mundus subterraneus von 1664.65 Es zeigte Vergleichbarkeiten, aber eben auch Diskrepanzen zwischen der Naturstudie und den Fossilien bzw. Versteinerungen und Abdrücken als Spuren vormaligen Lebens auf, was der Vorstellung eines unveränderlichen, universellen Naturplans göttlicher Ordnung widersprach und die Natur als veränderliche, prozesshafte Geschichte begreifbar machte. Unabhängig von Scilla hatte der dänische Anatom Niels Stensen unter der Patronage der Medici drei Jahre zuvor seine Zeichnungen einer Sektion eines für wissenschaftliche Studien gefangenen Hais publiziert, eine Abhandlung, die von Robert Hooke (1635–1703) nicht unbeeinflusst gewesen sein soll und in englischer Übersetzung dem Umkreis englischer Empiristen und Künstler zugänglich war (Abb. 2).66 63 Siehe dazu Anita Hosseini, Die Experimentalkultur in einer Seifenblase. Das epistemische Potenzial in Chardins Malerei, Leiden/Boston 2017, Kap. I.2.5., „Aufmerksamkeit und Neugier. Die Spiele der Kinder und die Experimente der Wissenschaftler“, S. 92–100 zum Diskurs über den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess sowie die grundsätzliche Bedeutung von empirischer Beobachtung und Neugierde als Auslöser für Neuentdeckungen. Die Autorin versucht, diesen naturphilosophischen Diskurs, den maßgeblich Lorraine Daston untersucht hat, mit Chardins Darstellungen des kindlichen Spiels in Verbindung zu bringen. Mit der These, Chardin habe sich die Newton’sche Wissenschaft angeeignet und in das Medium der Malerei überführt (ebd., S. 98), folgt Hosseini der Engführung von Wissenschaft und Kunst, wie sie Michael Baxandall für Chardin und Werner Busch für zahlreiche englische Künstler ebenfalls dargelegt haben. Derart direkte Aneignungen und Darstellungen wissenschaftlicher Theorien durch die Kunst lassen sich allerdings nicht überzeugend nachweisen, zumal die Bedeutung des Bildes auf diese Weise allzu statisch im Sinne eines Abbildens von Theorie verstanden wird, anstatt die mediale Aktivität, Prozesshaftigkeit, diskursive Produktivität und Erkenntnisweise der Künste in Anschlag zu bringen. 64 Siehe Paolo Rossi, The Dark Abyss of Time. The History of the Earth & The History of Nations from Hooke to Vico (ital. Originalfassung 1979), aus dem Italienischen übers. von Lydia G. Cochrane, Chicago/London 1984, S. 24. 65 Athanasius Kircher, Mundus subterraneus, Amsterdam 1664. 66 Nicolaus Steno, Elementorum Myologiae Specimen, seu Musculi descriptio Geometrica. Cui accedunt canis carchariae dissectum caput, et dissectus piscis ex canum genere, Florenz 1667. Vgl. zu Stensens

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1  Agostino Scilla, La vana speculazione disingannata dal senso. Lettera risponsiva circa i corpi marini, che petrificati si trovano in varij luoghi terrestri, Neapel 1670, Tafel XXVII

Auffallend ist, dass Copley in der Kopfhaltung des Hais und in der Art des aufgerissenen Mauls die Ikonografie dieser wissenschaftlichen Darstellungen übernimmt. Es lag ihm indes fern, eine dieser naturwissenschaftlichen Illustrationen direkt in sein Werk zu implementieren oder deren Ästhetik gänzlich zu übernehmen. Eben das erklärt die von Zeitgenossen und Kunsthistorikern beklagten Fehler der Darstellung des Hais: Copley mischt die damals bekannten, allerdings raren Bilder von Haien, malte wohl nach Hai­gebissen in anatomischen Sammlungen und fügte seinem Amalgam die ­üblichen ­Elemente von Walen und Seemonstern hinzu – besonders die ,Lippen‘ des Haies wirken übertrieben und von der Form her allzu zugespitzt, sodass sich ein wundersamer, aber doch Objektivität beanspruchender Hybride ergab.67 Diese Mixtur würde Copleys Beiträgen zur Geologie und Fossilienkunde Dominik Collet, Die Welt in der Stunde. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007, S. 181. Siehe zur Erforschung von Haien in der Frühen Neuzeit Jane P. Davidson, Early Modern Supernatural. The Dark Side of European Culture, 1400–1700, Santa Barbara/Denver/Oxford 2012, hier den Abschnitt „Shark Teeth“, S, 3–9, besonders S. 5f. zu Niels Stensen. Siehe auch Martin Schmeisser, Erdgeschichte und Paläontologie im 17. Jahrhundert: Bernard Palissy, Agostino Scilla, Nicolaus Steno und Leibniz, in: Herbert Jaumann (Hg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin/ New York 2011, S. 809–858, v. a. S. 826–843; bes. S. 843: „Man kann sagen, dass Steno durch die rationalistisch-empirisch begründete Feststellung der Geschichtlichkeit der stets im Werden und Vergehen begriffenen Erde insgesamt am Herkömmlichen rüttelt; in der Tat rückt er ‚in gefährliche Nähe zu ketzerischen Ideen […]‘.“ 67 Vgl. Emily Ballew Neffs Diskussion über die naturkundlichen Quellen zu Copleys Watson and the Shark: Ballew Neff 2013b (wie Anm. 57), S. 181–186. Die Autorin kommt zu folgenden Schlussfolgerungen, ohne jedoch die Funktion der Bezugnahme Copleys auf die damalige Naturphilosophie zu diskutieren: „In fact, Copley’s painting is the first to move away from the sea monster of mythology and toward a shark more in concert with the booming interest in natural history in Enlightenment culture of the time. […] The broad range of examples easily accessible to Copley suggests the interest and advancement of zoology and ethnography at the time. Watson and the Shark both

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2  Niels Stensen, Lamiae piscis caput, aus: Elementorum myologiae specimen: seu ­Musculi descriptio Geometrica. Cui accedunt Canis Carchariae dissectum Caput, et ­dissectus piscis ex canum genere, Amsterdam 1669, S. 140, Tafel IV

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Strategie entsprechen, das Neue – die Haidarstellung – mit Bildelementen und Allusio­ nen der Tradition zu verblenden. Alles andere wäre zu radikal und unverständlich für Zeitgenossen gewesen. Diese Beobachtung unterstützt, dass Copley an einer neuen Bildfindung arbeitete, die sicher auch die Durchschlagkraft des medial weit zu verbreitenden Stichs implizierte. Mit anderen Worten: „Bekanntlich muss sich alles – handle es sich um Dinge oder Personen – in seinen Anfängen zwangsläufig verstecken. Wie sollte es anders sein? Tauchen sie doch plötzlich in einem Zusammenhang auf, der sie noch nicht enthielt, und müssen sie doch zunächst die Gemeinsamkeiten betonen, die sie mit der Gesamtheit teilen, um nicht auf Ablehnung zu stoßen.“68

Indem Copley die sichelartige Rückenflosse darstellt und im rechten Mittelgrund die Schwanzflosse platziert und so proportional die Riesenhaftigkeit des Fisches betont, lässt er gleichwohl keinen Zweifel daran, dass er sich mit dem großen Weißen Hai beschäftigt haben muss. Der lateinische Name des Riesenfisches, Canis Carcharias, stammt aus dem 16. Jahrhundert69 und überdeckt gleichsam die mythologische Dimension des für Kinder und Jugendliche albtraumhaft beängstigenden, haiartigen und vampiristischen Seemonsters Lamia, eine Bezeichnung, die für den Weißen Hai in Italien in der Frühen Neuzeit gängig war und nicht zuletzt mit der tatsächlichen Präsenz des Monsterfisches in den mediterranen Gewässern einherging.70 Das aufgerissene Maul und die erhobene Schwanzflosse gehören zum Drohgebaren des Raubtiers, dessen Darstellung Copley zur Angsteinflößung nutzt. Zweifellos ging es Copley um eine moderne, empirisch bestimmte und zugleich archetypische Formgestaltung der Angst.71 tapped into and helped shape the popular understanding of these subjects. Copley was not a natural historian, nor was his painting practice completely transformed by the growing culture of natural history as a discipline, although surely he was aware of its enhanced role and the importance of research as he moved forward with other successful contemporary history paintings.“ Ebd., S. 183. 68 Deleuze 1997 (wie Anm. 3), S. 15. 69 Canis Carcharias wurde als wissenschaftliche Bezeichnung der Spezies bereits 1553 von Pierre Belon in seinem Werk De aquatilibus, Libri duo […] (Paris 1553) verwendet (S. 60). 70 Heute lautet die lateinische Bezeichnung Carcharodon carcharias. Lamia war der griechischen Mytho­logie zufolge eine in ein Monster verwandelte, ehemals libysche Königin, die mit Zeus Kinder hatte. Hera, Zeus’ Frau, trieb ihre Rivalin in den Wahnsinn, indem sie ihr die Kinder nahm. Ihr Sohn Acheilus war besonders schön und erregte die Eifersucht von Aphrodite, die ihn in einen kleinen Hai verwandelte. Lamia wird auch als Geist oder Vampir beschrieben. Die nach ihr benannten Lamien, blutrünstige Monster, die es besonders auf Kinder und Jugendliche abgesehen hatten, waren der Kunst und Literatur des 18. Jahrhunderts bekannt. Siehe u. a. Robert E. Bell, ­Women of Classical Mythology: A Biographical Dictionary, Santa Barbara 1991, S. 271–271; Jonathan B. Durrant und Michael D. Bailey (Hg.), Historical Dictionary of Witchcraft, 2. Auflage, Lanham/­ Toronto/­Plymouth 2012, S. 119. 71 Mit der Mischung aus Faszination und Angst wird bis heute unternehmerisch gearbeitet, wie das letztlich gescheiterte Projekt „Shark City“ zeigt, das 2017 zu Kontroversen führte und 2018 umgesetzt werden sollte. Siehe die Website der Tierschützer animal public e. V.: http://www.animal-­ public.de/kein-hai-gefaengnis-in-sinsheim/ (letzter Zugriff am 7. September 2017). Der Begründer der Sozialbiologie, Edward O. Wilson (geb. 1929), hat die Faszination von Menschen für Haie und andere Raubtiere damit zu begründen versucht, dass durch immer wieder neu hergestellte Erzählungen eine Haltung gegenüber diesen bedrohlichen Wesen entstünde, die letztlich – anders als schiere Panik – dem Überleben dient. Wilson ist heftig für seine Zurückführung moralischer und

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Wir haben es also mit einem Gemälde zu tun, das auf eine Vielzahl von Quellen zurückgreift und in der Hochkunst ebenso verankert ist wie in der wissenschaftlichen, empiristischen Illustration. Schon allein dieser Befund zeigt, wie wenig eindeutig Copley sein Werk angelegt hat. Und es besteht neben der Öffnung von Eindeutigkeit auch kein Zweifel, dass Copley sich derart als hochgebildet, virtuos und autonom hinsichtlich akademischer Regeln darstellte. Seine großen Publikumserfolge gaben ihm recht – er hatte eine Art Sensationsbild konzipiert, welches das anonyme Publikum ansprach und in seiner Quellenlage so komplex war, dass Kunstkritiker und Theoretiker ihm den Respekt nicht verweigern konnten. Der Hai, der noch Züge frühneuzeitlicher Monstren aufweist, erzeugt als künstlerisch-wissenschaftliches Mischwesen die Präsenz eines Ungeheuers, das auch staatstheoretische Inhalte aufruft. Repräsentiert es die vielfache Gefahr des bösen Staatskörpers, vor der sich die junge Gesellschaft Amerika an der Schwelle zur Staatengründung ebenso in Acht nehmen muss wie vor dem englischen Mutterland? In jedem Fall forciert das Wesen die Angst, die der Mensch zivilisatorisch zu bekämpfen, aber auch um der Gemeinschaft willen einzusetzen hat, um seine Triebhaftigkeit zu unterdrücken. Einmal mehr versteht es Copley, altes und neues Wissen, alte und neue Bilder zu verschmelzen, ohne selbst politisch Position zu beziehen. Und nur so kann er das erfüllen, was ihm so oft in der Forschungsliteratur zugeschrieben wurde, nämlich ein Bild für die Zukunft erschaffen zu haben.72 ethischer Überlegungen und Verhalten auf naturgegebene Bedingungen kritisiert worden. Allerdings kann man nicht von der Hand weisen, dass Bilder – sei es in der Malerei oder im Film ebenso wie in der Literatur – kontinuierlich derartige Erzählungen konstruieren. Wilson gilt als Kritiker des von Herbert Spencer und Charles Darwin geprägten und popularisierten Theorems ,The Survival of the Fittest‘. 72 Der Hai wäre mithin der Leviathan, bevor Hobbes aus dem „animalischen Monstrum der Bibel“ eine „Menschengestalt“ werden lässt: „Er ist Ungeheuer allein in seiner Riesengestalt: seine Formen sind die der Menschen, die ihn geschaffen haben.“ Horst Bredekamp, Behemoth als Partner und Feind des Leviathan. Zur politischen Ikonologie eines Monstrums, in: Leviathan 37 (2009), Nr. 3, S. 429–475, hier S. 455–456. Allerdings bleibt der Hai ein Mischwesen, das den irrationalen und den rational objektivierten Körper vorführt. Copleys Hai trägt das biblische Monstrum und das rationale Kalkül in sich. Zuerst hat Roger B. Stein darauf hingewiesen, dass Copleys politische Haltung „seem to have been intentionally obscure“ Stein 1976 (wie Anm. 35), S. 89; siehe zum Ausgreifen Copleys auf die Zukunft ebd. S. 97. In der großen Biografie, die Jane Kamensky Copley gewidmet hat und für die sie erstmals umfassend auch die Briefe der Familie ausgewertet hat, folgt sie dieser Sicht, wenn sie gleich eingangs feststellt, dass der Maler, wie Nelson Goodman formuliert hätte, konfligierende Wahrheiten der „revolutionary world“ darstellte und es bevorzugte, sich auf keine politische Seite zu schlagen: Kamensky 2016 (wie Anm. 27), S. 3. Die emotionale Bravour, mit der diese umfassende Biografie als Spiegel der Revolutionszeit geschrieben ist, zeigt die Bedeutung, die Copley, seiner Person und seinem Werk, weit über die kunsthistorische Forschung hinausgehend in den Ver­ einigten Staaten zukommt. Der methodische Ansatz, Copley aus seiner Zeit und auch aus seinem Familien­leben heraus zu verstehen („[…] marriage-made more than self-made.“; ebd., S. 8), zeigt die eher einseitige Ausrichtung der kunsthistorischen Forschung darauf, Künstler und Kunstwerk in den Mittelpunkt zu stellen, aber selten die gesamten sozialen und politischen Umstände zu beleuchten. Umgekehrt bleibt der unter Historikern weit verbreitete Ansatz der Autorin, Kunstwerke in ihrer selbstevidenten Wirkung gleichsam sprechen zu lassen, wiederum für Kunsthistoriker methodisch und theoretisch problematisch. Es handelt sich um sich ergänzende Wissensbereiche, die sich nicht synthetisieren lassen.

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Wahrnehmung als Differenzerfahrung Welche Rolle hat die Figur des das Seil haltenden Mannes in Watson and the Shark, und inwiefern ist die oben angedeutete ethische Entscheidungssituation, die in der Bildwahrnehmung über die Lesbarkeit hinaus evoziert wird, von Relevanz? Copley hat für diesen Protagonisten eine heute im Detroit Institute of Art befindliche Kopfstudie angelegt, ohne jedoch den mimischen Ausdruck mit den direkt den Betrachter anblickenden Augen und dem wie zum Sprechen geöffneten Mund unmittelbar in sein Gemälde zu übernehmen (Taf. LXXVI). Beide Gesichter verbindet aber eine gewisse mimische Indifferenz. Es ist auffallend, dass die Figur in Watson and the Shark, im Unterschied zu den anderen Protagonisten des Bildes, eine verhaltene, nach Le Bruns Ausdrucksgrammatik nicht ohne Weiteres zu dechiffrierende Mimik zeigt. Irritiert äußerten sich darüber bereits Copleys Zeitgenossen, die in Zeitungskritiken den Ausdruck als wie gefroren im Schreckenszustand verstehen wollten. Der Kunsthistoriker Albert Boime betonte wiederum die auffallende Eleganz der Figur.73 Damit wollte er hervorheben, wie ungewöhnlich die ganzfigurige Darstellung eines Schwarzen als Akteur ikonografisch für die Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts war. So hatte etwa Benjamin West im Gemälde Tod des General Wolfe einen Vertreter der indigenen Bevölkerung Nordamerikas trauernd an die Seite des Hauptprotagonisten gestellt. Sowohl die native americans wie die afroamerikanische Bevölkerung hatten seit dem 17. Jahrhundert in verehrender oder dienender Haltung weißen Protagonisten in Historienbildern, in monumentalen Jagdszenen wie in Porträts gegenüber oder besser zur Seite zu treten. Copley dagegen setzt den schwarzen Mann erhoben und in direkten formalen und inhaltlichen Bezug zu dem weißen Jungen, dessen Hand der des Ersteren korrespondiert. Beide blicken sich direkt in die Augen. Keiner der anderen Protagonisten hat diese formale und inhaltliche Beziehung zum weißen Jungen, auch nicht der auf Kopfhöhe mit dem Seiltragenden zum Stoß ansetzende weiße Mann, der sich auf die Tötung des Hais konzentriert. Der Protagonist mit dem Seil ist direkt in die Entscheidungssituation des Bildes involviert und übernimmt damit eine zentrale Rolle im dramatischen Geschehen. Er ist derjenige, der dem Jungen im Wasser unmittelbar helfen kann. Unter ihm, sogar zwischen diesen beiden Hauptfiguren des Bildes, hat Copley den älteren Mann direkt in die Blicklinie der zwei Hauptprotagonisten gemalt. Im ersten Entwurf zum Gemälde sollte hier ein jüngerer Mann dargestellt werden. Auch die stehende Figur des Mannes mit dem Seil trägt andere Züge, wie eine Vorzeichnung für die zentrale Figurengruppe zeigt (Taf. LXXVII). Copley hat erst im Zuge des Werkprozesses neben der Überarbeitung verschiedener Gesichtsausdrücke und Physiognomien auch 73 Albert Boime, Blacks in Shark-Invested Waters. Visual Encodings of Racism in Copley and Homer, in: Smithsonian Studies in American Art 3 (1989), Nr. 1, S. 19–47, hier S. 22.

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3  Johann Caspar Lavater, Phlegmaticus, aus: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung von Menschenkenntniss und Menschenliebe, Vierter Versuch, Leipzig/Winterthur: ­Weidmanns Erben, 1778, Tafelband, S. 53

weitere Aspekte wie Schwarz versus Weiß, Alt versus Jung in die Komposition integriert und damit die Dramatik unmissverständlich gesteigert. Der Alte zeigt einen Ausdruck ängstlicher, erstaunter Furcht, vermutlich kombiniert mit der Physiognomie des Phlegmatikers, wie in einer Profildarstellung aus Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775–1778) zu sehen, die zu der Zeit, als Copley sein Bild malte, in London kursierten (Abb. 3). Ängstlichkeit und Selbstbezogenheit als Gefühlslage des Phlegmatikers – solche Dispositionen hatte bereits Aristoteles als Inbegriff einer unethischen Haltung ansehen wollen. Insofern ist auch zu fragen: Befindet sich der Alte auf dem Rückzug, und will er einen der weiß gekleideten Jungen ins Boot zurückziehen – oder hält er ihn nur sichernd fest? Wie auch immer entschieden wird, hier deutet sich eine der Ambivalenzen des Bildes an. Und dann der Junge links am Ruder, der den Ausdruck körperlichen Schmerzes zeigt – nimmt er den Ausgang des dramatischen Angriffs durch den Hai vorweg? Der im Wasser treibende nackte Junge, dem der Hai den rechten Unterschenkel verletzt oder schon abgerissen hat – das Wasser erscheint hier blutig gefärbt –, wird so gesehen zum Opfer werden. An dieser Stelle in der Bildkomposition hängt gleichsam alles an einem seidenen Faden, an eben dem Seil, das der Junge zu fassen sucht und das ihm der Mann auf dem Boot gerade ausgeworfen hat. Die aufklärerische Thematik der Erziehung des Menschen ist in das derart dramatisch wirkende Bildgefüge offenkundig eingewoben. Denn so wie der alte Mann ganz im Sinne von David Humes These, der Mensch agiere grundsätzlich aus seinem Selbst­

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interesse heraus, dieses nun in Anschlag bringt und, anstatt sich selbst weiter der herein­ brechenden Gefahr auszusetzen, die junge Mannschaft zum Rückzug zu bewegen sucht, bleibt der das Seil tragende Protagonist die einzige Person, deren Verhalten noch nicht festgelegt erscheint. In ihrer aber unmittelbar bevorstehenden Entscheidung kann sich damit die des Betrachters spiegeln, nämlich die, trotz der schrecklichen Gefahr, entschlossen die Rettung zu vollziehen. Hier ist die Kategorie der sympathy angesprochen, die des Mitgefühls, des Mitleids, in dem sich das Selbstinteresse zugunsten der Anteilnahme am Schicksal des anderen im Sinne einer Kultivierung der eigenen Gefühle verringert. Für David Hume war diese Kategorie ebenso wie für Adam Smith besonders zentral, denn nur in der sympathy könne sich der Mensch als Mensch ausbilden.74 Smith war daran gelegen, dass der Mensch diesseits einer bildungs- und wissensbegründeten Urteilsfähigkeit eine aus seiner Sicht natürliche Eigenschaft entwickele, damit der allgemeine Naturprozess der menschlichen Gesellschaft sich zum Guten wende. Das wird von Smith, dem Autor von The Wealth of Nations, der in der Unabhängigkeitserklärung Amerikas das bedeutendste Ereignis der Weltgeschichte schlechthin sehen wollte, nicht als interesseloser Akt verstanden, sondern als Grundlage für eine Gesellschaft, die durch einen im Individuum entwickelten Gemeinsinn wirtschaftlich lukrativ und zivilisatorisch fortschrittlich sich weiterentwickeln und dem Glück entgegenstreben könne. Copleys mehrheitlich jugendliche Gemeinschaft steht an der Schwelle, sich des auf sympathy gegründeten Zusammenwirkens, des Miteinanders zu besinnen und nicht nachzugeben. Der Protagonist mit der Harpune und der Mann mit dem Seil sind die Entscheidungsträger und Handelnden, denen die anderen im Boot und mit diesen auch der Betrachter folgen sollen. Wird im Weiteren der historische Kontext des Somerset-Falls berücksichtigt, in dem Lord Mansfield letztlich entschied, dass in England kein Gesetz zur Versklavung von Menschen herrschen und daher auch ein entkommener Sklave nicht wieder in die Obhut seines ,Besitzers‘ gezwungen werden könne, so wird vorstellbar, welches Statement Copley dem eleganten Mann mit dem Seil als Held für sein damaliges Publikum mitgegeben haben könnte. Der Ort Havanna als Teil der Westindischen Inseln, welche ein Territorium des Sklavenhandels waren, der schwarze Seemann als ein Typus und Akteur, der die Sklaverei konterkarierte und zumindest auf dem Meer bestimmte festgefügte Rollen und Besitzansprüche infrage stellte, und nicht zuletzt die Eleganz und die Schönheit, die damals so populäre Figuren wie der freie und wohlhabende Afrikaner William Ansah Sessarakoo (aktiv 1736–1749) ausstrahlten, Autor von The Royal ­African: or, Memoirs of the Young Prince of Annamaboe (1750),75 – alle diese Elemente der 74 Siehe Hartmut Reck, Die Ethik des englischen Sensibilitätskultes in ihren literarischen und malerischen Manifestationen (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXVIII Kunstgeschichte 395), Frankfurt am Main/Berlin/Bonn 2003, S. 28–35, Abschnitt 2.2.2., „Sympathie als Gesellschaftsprinzip bei David Hume“. 75 Siehe Ballew Neff 2013b (wie Anm. 57), S. 171.

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Debatten und der Erfahrungen der damaligen Zeit werden von Copley zwar assoziativ aufgerufen, aber als Künstler bezieht er sich nicht eindeutig und ausdrücklich auf spezifische Quellen, und er nimmt auch nicht deutlich Partei im zeitgenössischen Diskurs. Es bleibt dem Betrachter überlassen, die Synthese des Dargebotenen formal und inhaltlich trotz der bis zu einem bestimmten Grad fragmentierten Bildelemente zu vollziehen. Unter dieser Voraussetzung hat Copley bei aller Gelehrsamkeit und Wissenschaftlichkeit seines Bildes eine mitreißende und tiefgründige Szene entworfen, die an die Frage des Menschseins schlechthin rührt. Auf diese Weise konnte sein Bild als Kunstwerk und als ethisches Lehrstück für das anonyme Publikum und also auch für diejenigen, die die dargestellte Geschichte nicht kannten, erfolgreich sein. Personen, die Copleys Werk aus einer inneren Distanz heraus lesen, werden sich dessen humanitärer Aussage nicht versichern können. Denn Copleys Kunst mit dem Hai beinhaltet die Umkehrung jener konservativen Rigidität, mit der Reynolds ,the vulgar‘, den Pöbel, aus den Ausstellungen und von der Kunstrezeption ausgeschlossen sehen wollte. Aus dessen Sicht sollte sich das ,learned eye‘, das gebildete Auge, an Gemälden voller Wissen über die Kunst erfreuen.76 Vor Copleys Bildern sollte der Betrachter jedoch darüber hinaus seiner eigenen Sinnestätigkeit gewahr werden und sich humanisieren. Aufklärung steht hier im Zeichen eines Wahrnehmungsprozesses. Die Auseinandersetzung zwischen den weißen und dem schwarzen Protagonisten des Bildes wird zur Differenzerfahrung des Bildbetrachters. Erst so wird das durch das Bild erzeugt, was es darstellt. Nicht die Trennung, sondern die Präsenz des Nichtmenschlichen und Animalischen, die Präsenz der Differenz lässt die Fragen nach und die Antworten auf Menschlichkeit und Menschenrechte lebendig bleiben. Mit Copley steht ein Künstler vor Augen, der diese Präsenz wachhält. Copley stellte sein Werk in einer Zeit aus, in der auf der Grundlage von John Lockes (1632–1704) politischer Philosophie die Menschenrechte erklärt wurden. Er scheint in seiner Kunst eine Philosophie der Menschenrechte ausgelegt zu haben, die die gesamte Moderne, ihre menschlichen Triumphe, Katastrophen und Auslassungen umfasst, wie es einzelne zeitgenössische Texte und Diskurse nicht vermochten. Für diesen essenziellen Schritt brauchte es letztlich keine akademische Bildung – darin bestand Copleys rebellisches Statement, und dies wird einer der Gründe dafür sein, weshalb das Gemälde bis heute seine aktive Wirkung entfaltet. Mit seiner Signatur auf der Innenseite des Bootes gesellte sich Copley gleichsam zu der Gemeinschaft, in die sich als humane Gesellschaft auch der Bildbetrachter fügen sollte. Wie sinnfällig die Tatsache war, dass ausgerechnet ein Künstler aus den amerikanischen Kolonien die Selbstentdeckung des eigenen Menschseins offerierte, lässt sich in den Worten John Lockes ermessen: Anfangs sei die ganze Welt ein Amerika gewe-

76 Gockel 1999 (wie Anm. 7), Kap. II. „Bedeutungsstiftung durch Wahrnehmung: Akademische und antiakademische Kunst im Widerstreit“, besonders S. 78–82 und S. 90f.

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sen.77 Die ethische Grundhaltung, die er in seinen zwischen 1680 und 1682 verfassten und 1689 anonym erschienenen Zwei Abhandlungen über die Regierung der zivilen und politischen Gemeinschaft ins Stammbuch schrieb, setzte das Erfahrungswissen ihrer selbst voraus. Auf der Tabula rasa des Selbst müsste dieser Mensch erst im Dialog von „sensation“ und „reflection“ seine ethische Grundhaltung ausbilden. Diese Theorie, die in die Unabhängigkeitserklärung einfloss, bildet Copley nicht ab. Vielmehr bietet er seine Kunst als Erfahrungsmedium an, durch das der erschauernde Betrachter sich als Mensch erst zu entdecken (und zu entscheiden) hat, aufgrund einer Differenzerfahrung, die Denken und Handeln überraschend neu in Gang setzt.78

Fiktion und Funktion 1783 vollendete Copley im Auftrag von James Boydell ein Bild, das den Überfall französischer Truppen auf der britischen Kanalinsel Jersey zum Thema hat, und stellte es im Mai 1784 täglich von 20 Uhr bis Mitternacht im Great Room am Haymarket Nr. 28 aus, nachdem es zuerst dem König und der königlichen Familie vorgeführt worden war und deren höchste Lobpreisungen erhalten hatte (Taf. LXXVIII).79 In dem tumultarti77 Wörtlich heißt es bei Locke (Kap. 5, „Das Eigentum“, Paragraf 49): „So war anfangs, und zwar weitaus mehr, als es heute der Fall ist, die ganze Welt ein Amerika, denn so etwas wie Geld war überall unbekannt.“ Walter Euchner (Hg.), John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt am Main 1977, S. 230. In Kap. 4 „Von der Sklaverei“ wendet sich Locke deutlich gegen die Sklaverei, was einer der Gründe für die Anonymisierung seiner Schrift gewesen sein dürfte, da er damit quer zur noch lange vorherrschenden naturrechtlichen und auch wirtschaftlichen Begründung von Sklaven­handel und Sklavenhaltung lag. Siehe zur problematischen Naturalisierung Amerikas durch ­Locke, der die Besiedlung aus einer Kombination von Naturrecht und Nutzen rechtfertige: Lazaros ­M ilopoulos, Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis. Politische Idee und Wirklichkeit, Wiesbaden 2007, S. 205–207. 78 Insofern ist es verkürzt, Copleys Gemälde mit der Ästhetik des Erhabenen zu erklären. 79 Siehe die Ausführungen zu diesem Bild auf der Website der Tate Britain: http://www.tate.org. uk/art/artworks/copley-the-death-of-major-peirson-6-january-1781-n00733 (letzter Zugriff am 9. Juli 2017). Statt die montageartige, den narrativen Verlauf gerade nicht eindeutig darstellende Komposition zu betonen, wird das Gemälde durchaus subtil in eine eindeutig erzählerische Beschreibung der historischen Ereignisse eingebunden. Siehe zusammenfassend zur Auftragslage Louise Downie und Doug Ford, 1781: The Battle of Jersey and The Death of Major Peirson, Jersey 2012, S. 42f. Siehe zur Ausstellungssituation und zu den zeitgenössischen Ausstellungsbesprechungen in allen namhaften Zeitungen Londons Prown 1966 (wie Anm. 37), S. 306f. Der König soll auch gerade Boydells Engagement für Kunst als öffentliches Medium gelobt haben. Die Beschreibung des schwarzen Protagonisten in The Death of Major Peirson und die Narrative, die dem Gemälde – ebenso wie Watson and the Shark – im musealen Kontext zugeschrieben werden, zeigen, dass nicht allein im Nachhinein ein gesichertes Geschichtsbild quasi belegt wird, sondern dass in unterschiedlichen Zusammenhängen ganz unterschiedliche Lesarten entstehen, die mit der kulturpolitischen oder sogar politischen Agenda von Institutionen und Personen zu tun haben. Insofern ist ein Gemälde ganz konkret und aktiv in die Steuerung von Haltungen, Meinungen, Emotionen und Geschichtsauffassungen eingebunden. Die Anthropologin Rosa De Jorio fasste die Forschung über Erinnerung, Geschichtskonstruktion und Identität wie folgt zusammen: „The process of remembering and its expressive forms orient people’s actions and emotions in the present.“ Siehe Rosa De Jorio, Narratives of the Past/Sites of Memory: Constructing Social, Religious, and Political Identities in the Postcolony: A Symposium, Introduction, in: Polar 25 (2002), Nr. 2, S. 1–4, hier S. 1.

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gen Geschehen lassen sich Bruchstücke verschiedener Phasen des historisch verbürgten Ablaufs ausmachen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass Copley eine verdichtete, in dieser Weise historisch so nicht gesicherte Szene entwirft, in der der junge, tote Major Francis Peirson (1757–1781) von seinen Kameraden in der Formel der Grablegung Christi gehalten wird.80 Sein Haar hat sich gelöst, wie das Haar des Jungen in Watson and the Shark. Ein neuer Zustand jenseits der gesellschaftlichen Rolle wird markiert, die sonst nur noch dem Jungen zugeschrieben wird, der zu der fliehenden Gruppe aus zwei Frauen und einem Säugling am rechten Bildrand gehört.81 Der tote, jugendliche Major, fast selbst noch ein halbes Kind, wenn man so will, wird in eine Sphäre gerückt, die nicht mehr eindeutig männlich konnotiert ist – ein Aspekt, der mit damaligen politischen Debatten über männliches Heldentum weiter zu untersuchen wäre.82 Copley löst damit die Polarität von Männlich/Weiblich zugunsten einer Mischform auf, was gut zu seiner auf Komplexität ausgerichteten Konzeption passt.83 80 Siehe zur Ikonografie der Gruppe Prown 1966 (wie Anm. 37), S. 305f. Copleys Figuren und Figurengruppen in Death of Major Peirson zeigen ihn einmal mehr als Künstler, der das akademische Repertoire der Bezugnahme auf klassische Vorbilder von der Antike über die Renaissance bis zur Kunst des 17. Jahrhunderts aufzurufen, zu synthetisieren und zu transformieren wusste. Die mittlere Gruppe lässt an die Ikonografie der Beweinung Christi denken, wie sie in Sandro Botticellis Werk vor Augen steht, das sich heute in der Alten Pinakothek, München, befindet und im 18. Jahrhundert in den Uffizien verwahrt wurde. Siehe Sandro Botticelli, Beweinung Christi, Pappelholz, um 1495, 140 × 207 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München. Botticellis Gemälde mit religiösen Themen teilen mit Copleys Historiengemälden den Verzicht auf Tiefenräumlichkeit zugunsten der Monumentalisierung der Figuren und Szenen. Es scheint nur ein Zufall zu sein, dass Botticelli sein Bild als Reflex auf eine Zeit der Machtumwälzungen, des Kriegs und der Weltuntergangsstimmung im damaligen Florenz malte und die radikalen Predigten Girolamo Savonarolas mit der französischen Invasion Italiens zusammenfielen; Botticelli mithin wie Copley bildlich auf eine nationale Krisenzeit reagierte. Schrecken und Leid, wie sie sich in der Mimik und Körpersprache in Copleys Gemälde ausdrücken, erinnern an die Niobiden-Gruppe, die 1769/70 nach Florenz gebracht wurde und 1638 von François Perrier als Stich veröffentlicht worden war. Auf Poussin, von dessen Gestaltung variantenreichen Ausdrucksvermögens sich Copley während seines Parisaufenthalts angetan zeigte, hatten die Statuen nachweislich großen Einfluss. 81 Zieht man Hoocks Ansicht heran, der meint, in Copleys Death of Major Peirson zeige sich in der Gruppe der Frauen mit den Kindern ein Statement gegen den Krieg, dann deutet sich die Möglichkeit an, in Copleys Bildkonzept nicht nur die affektive Note zu sehen, sondern auch den deutenden, kommentierenden, Meinung machenden Aspekt. Siehe Hoock 2010 (wie Anm. 18), S. 94–97, v. a. S. 95. 82 Copleys wie auch Wests Gemälde werden in der Forschungsliteratur auch als „death-of-the-hero pictures“ bezeichnet: Siehe Leo Costello, Turner, West, and the End of Contemporary History Painting, in: Ballew Neff und Weber 2013 (wie Anm. 15), S. 236–243, hier S. 238. 83 Vgl. Joseph Wright of Derby, The Dead Soldier, R.A. 1789, Öl auf Leinwand, 126, 4 × 162,6 cm, The University of Michigan Museums of Art and Archeology, 2006/1.156. Nachstich von James ­Heath, The Dead Soldier, Mai 1797, ausgestellt im „New Room“ des Landsitzes Mount Vernon, in dem ­George Washington seine Bildergalerie zeigte, in der 21 Gemälde und 11 Druckgrafiken zu sehen waren. Der tote Soldat in Wright of Derbys Gemälde zeigt mit dem toten Major Peirson hinsichtlich des gelösten Haars eine gewisse Ähnlichkeit. Wichtiger ist, dass der tote Held in beiden Bildern auf die kollektiven Verluste hinweist, die der Krieg fordert. Deshalb scheint George Washington die Druckgrafik, die ihm als Geschenk geschickt wurde, in den repräsentativen Raum seines Landsitzes aufgenommen zu haben.

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Die offenen Haare des Majors signalisieren die buchstäbliche Auflösung seiner Rolle, indizieren aber auch in der Art der möglichen Feminisierung des Helden eine Korrespondenz mit dem Federbusch des Schwarzen. Denn Federn als Haarschmuck galten im 18. Jahrhundert als übertriebene Details der Frauenmode. Der aufgetürmte Kopfschmuck mag Zeitgenossen auch an die Macaroni erinnert haben, die mitunter in Karikaturen auch mit militärischen Details ausstaffiert wurden. Copley, der selber gern in zeitgenössischer Mode schwelgte, wird Details solcher Art benutzt haben, um sein Gemälde als ein zeitgenössisches Werk auszuweisen. Ob es sich um eine intendierte Feminisierung des Majors handelt, muss offen bleiben. Allerdings feminisierte der Reise­gefährte Copleys 1774 den Künstler explizit, indem er ihn als weibisch und viel zu gesprächig beschrieb.84 Derartige Feminisierungen gehörten zu den Codes einer sich verändernden Politik der Geschlechterrollen. Es wäre falsch, den Einsatz dieser Codes im Einzelfall überzuinterpretieren. Vielmehr nutzte Copley ästhetisch deren performativen Zwischenraum und inhaltlich die Anmutung von Fluidität vormaliger Rollenkonzepte und Bedeutungszuweisungen. In den Vorzeichnungen und Skizzen für das Bild wird der Soldat, der den Major rächte, indem er den Schützen der tödlichen Schüsse selbst tödlich traf, zunächst nicht explizit als schwarz entworfen (Taf. LXXIX).85 Erst relativ spät – auch dies vergleichbar mit Watson and the Shark – muss sich Copley für einen schwarzen Helden entschieden haben. Unbeirrt, mit zielgerichteter Durchstreckung des gesamten Körpers legt er an und zielt. Copley eröffnet mit dieser Figur die Thematik des schwarzen Soldaten und spezifisch der an der Seite der Briten kämpfenden befreiten Sklaven, die während der amerikanischen Revolution nach Nova Scotia, auf die Westindischen Inseln und nach London verbracht wurden. Die Geschichte der ,Black Loyalists‘ wie überhaupt die Rolle der afroamerikanischen Soldaten im Unabhängigkeitskrieg ist noch wenig erforscht, nicht zuletzt weil die individuellen Geschichten und Identitäten kaum überliefert sind.86 Copley könnte die Geschichte der Kompagnie Bucks of America gekannt haben, einer Einheit, in der freie Schwarze und Sklaven dienten und die später, um 1789, von John 84 Siehe zu Copleys Grand Tour Ballew Neff 2013a (wie Anm. 14), v. a. S. 121–126. George Carter, Copleys Reisegefährte, schrieb über den Künstler: „I cannot help and take him for a Woman with Child, for he longs and wishes for every Thing [sic] he sees, and always fancies every Thing [sic] is better than that which he possesses.“ Zit. nach ebd., S. 125. 85 Vgl. die Farbabbildungen in Ballew Neff 1995 (wie Anm. 15), Kat.-Nr. 19 bis Kat.-Nr. 32. 86 Fest steht, dass Großbritannien nicht gewillt war, nach dem Krieg den Amerikanern ihr ,Eigentum‘ zurückzuerstatten. Eine zentrale Quelle für den Vorgang ist das Book of Negroes, das in drei Versio­ nen in England, Kanada und den Vereinigten Staaten aufbewahrt wird. Interessant ist, dass – im Unterschied zur Literatur über Copley – auf einer Website über das Book of Negroes der zentrale Protagonist in Copleys The Death of Major Peirson als schwarzer Soldat und Loyalist bezeichnet wird: http://notevenpast.org/black-loyalists-and-book-negroes/ (letzter Zugriff am 22. 7. 2017). Im Unterschied dazu folgt die kunsthistorische Literatur in der Regel dem zeitgenössischen Kommentar, dem zufolge der Schwarze ein Diener gewesen sei. Dass dies ungeklärt ist und auf Legendenbildung beruhen dürfte, unterstreicht Klinke 2011 (wie Anm. 18), S. 84, Anm. 228. Auch Klinke geht nicht auf die spezielle Kleidung und den Federbusch des Protagonisten ein. Vgl. insgesamt zu dem Ge­mälde The Death of Major Peirson ebd., S. 83–90.

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Hancock und seinem Sohn mit einer Flagge und einer Plakette geehrt wurde.87 George Washington konnte sich erst zu einer vollständigen Unterstützung schwarzer Rekruten bekennen, nachdem die Briten ihrerseits deren Kampfbereitschaft und Freiheitsstreben für ihre Seite zu nutzen wussten. Durch diese Auseinandersetzungen und Initiativen war die Figur des schwarzen Soldaten auf beiden Seiten des Atlantiks eine vielfache Meinungen auf sich ziehende Neuerung.88 Auch von dieser Neuartigkeit profitierte Copleys Gemälde als Ausstellungsbild in einer öffentlichen Sphäre. Mit dem Federbusch und der eleganten Kleidung ist diese Figur eine mit dem Seiltragenden in Watson and the Shark vergleichbare Erscheinung. Die physiognomische Schönheit wird offenbar auch als moralische Schönheit eingesetzt. Rettung, Rache und Verteidigung werden mit dem schönen Schwarzen, mit dem, was viel später in der Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts als ,Black Beauty‘ tituliert werden sollte, verbunden. Auch wenn der eigentliche Nationalheld Major Peirson ist, so ist doch die über die Diagonale angelegte Komposition darauf ausgerichtet, dass der Betrachter diese Figur entdeckt und über ihre Rolle nachzudenken beginnt. Entsprechend rankten sich schnell Anekdoten um diesen Soldaten, der angeblich, obgleich das in keiner Weise gesichert ist, ein Diener des Majors gewesen sein soll, wie schon in der Broschüre zur Ausstellung des Gemäldes festgehalten wurde.89 Man gewinnt den Eindruck, dass von Anfang an die Diskurse, die sich um das Gemälde rankten, dessen spektakuläres und ikonisches Potenzial herunterzudimmen hatten. Diese Legendenbildung war wohl dafür gedacht, die Rolle dieser Schlüsselfigur festzuschreiben und sie als treuen Diener zu sehen, obgleich dies der von Copley erfundenen Figur in ihrer bildlichen Präsenz nicht gerecht wird, ja dem heldenhaften Auftritt sogar widerspricht.90 Eine andere Legende will, dass Copley den Diener des Auktionators James Christie zum Vorbild genommen haben soll. In einer der Vorstudien zur zentralen Gruppe, in der über den Köpfen der Figuren deren Namen festgehalten wird, steht ausgerechnet über der rächenden Figur, die noch gar keine Darstellung eines Schwarzen zu erkennen gibt und 87 Siehe Margot Minardi, Making Slavery History: Abolitionism and the Politics of Memory in Massachusetts, Oxford/New York 2013, S. 163. 88 Siehe zur ausführlichen und differenzierten Darlegung der Beteiligung Schwarzer am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg: Karsten Fitz, The American Revolution Remembered, 1830s to 1850s. Competing Images and Conflicting Narratives (= American Studies. A Monograph Series 186), Heidel­berg 2010, S. 166–219. Ich stimme mit Fitz überein, dass Albert Boimes Analyse, Bilder als Texte zu lesen und sie als Äquivalente eines rassistischen Diskurses zu verstehen, eindimensional ist. Siehe ebd., S. 169. Auf Copleys Darstellung von Schwarzen trifft Boimes Schlussfolgerung schon deshalb nicht zu, weil der Künstler bewusst vielstimmig aufgeladene Werke schuf, die umso mehr in die Dynamik des politischen Geschehens eingebunden waren, also in der Meinungsbildung und Erinnerungspolitik eine aktive Rolle spielten. 89 Siehe Prown 1966 (wie Anm. 37), S. 303. 90 Wie problematisch die Zuschreibung als Diener ist, zeigt der Fall von Primus Hall (1756–1842), dem ein amerikanisches Gericht seine Pension, die ihm als Soldat im Unabhängigkeitskrieg zustand, mit dem Hinweis verweigerte, er habe am Krieg nur als Diener teilgenommen. In der Be­ rufung und durch Zeugenaussagen seiner Kameraden konnte er schließlich seine Rechte durch­ setzen. Zu Primus Hall siehe Minardi 2013 (wie Anm. 87), S. 63ff.

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auch keinen Federbusch trägt: „Captn Christie’s Black Servt“.91 Damit rückt die fiktive Gestalt gänzlich in die Sphäre der Kunst, denn Christie stellte Copley Ausstellungsräume zur Verfügung und unterstützte jene zeitgenössischen Künstler, die sich nicht immer reibungslos mit der Royal Academy of Arts ins Benehmen setzen wollten, vor allem, wenn es um die prominente Ausstellung ihrer Werke ging.92 Fast hat man den Eindruck, dass Copley geradezu im letzten Augenblick diese Aufsehen erregende Gestalt seinem Bild einfügte und diese dann legendenhaft authentifizieren wollte.

Strategien der Ikonizität Der Künstler, dem ein „amerikanisches Herz“ zugeschrieben wurde, offerierte Historien­ gemälde, die gezielt viele Fragen offenlassen, die historisch Gesichertes mit Fiktion verknüpfen, die christliche Ikonografie mit profanen ikonografischen Formeln mischen und anstatt der Einheit der Erzählung deren Vielheit und Offenheit darbieten. Es scheint so, dass diese Hybridität, die auch darin liegt, dass Copley Gattungen wie Gruppenporträt und Historienmalerei mischt, von der Komplexität und Diskursivität damaliger Debatten in der politischen Philosophie, in Auseinandersetzungen über den Abolitionismus, Rollenbilder der Gesellschaft und vieles mehr mit erzeugt wurde, so wie Copleys Gemälde aktiv in diesen diskursiven Feldern wirkten. Jedenfalls scheint nach 1800 und im Verlauf des 19. Jahrhunderts diese dramatische, vielstimmige Erzählweise und die dem Betrachter offerierte Geschichte mit offenem Ausgang ein Nachleben gehabt zu haben. Man denke an Géricaults Das Floß der Medusa (Taf. LXXX) oder an die Life Line (Taf. LXXXI) von Winslow Homer, die in der Forschung schon oft mit Copleys Gemälden assoziiert wurden. Während Géricault die Grande Nation an eine beschämende Episode erinnerte, die 1816 dazu geführt hatte, dass nach dem Schiffbruch der Fregatte mit dem Namen Medusa Hunderte von Menschen dem Kannibalismus anheimfielen, nachdem Rettungsboote das Seil gekappt hatten, konzentriert sich Winslow Homer auf die Essenz einer dramatischen Rettungspartie, deren Ausgang trotz des Einsatzes eines technisch neuen Rettungsseils völlig offen ist. Gerade Homers Bild scheint eine Fortführung des auf den ersten Blick künstlerisch so anders, mit viel Personal und Aktion konzipierten Historienbildes Copleys zu sein: Die Rettungsleine konfrontiert den Betrachter; wir werden übergangslos in das Geschehen gezwungen, das, wie Jules D. Prown ausgeführt

91 John Singleton Copley, Study for the central group of ,The Death of Major Peirson‘, 1782–1783, schwarze und weiße Kreide auf grau-grünem Papier, 35,6 × 57,5 cm, Tate Britain, London, NO4984; Farbabbildung in Ballew Neff 1995 (wie Anm. 15), Kat.-Nr. 21, S. 144. 92 Zu Copley als Ausstellungskünstler siehe Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und ­K arriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 28–36; zu Christie vgl. Bettina Gockel, Das Kapital der Kunst: Gainsboroughs James Christie, in: Oskar Bätschmann und Regula Krähenbühl (Hg.), Kunst und Karriere. Ein Kaleidoskop des Kunstbetriebs, Zürich 2015, S. 23–48.

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hat, unmittelbar Empathie und die Ingredienzien eines humanistischen Akts evoziert.93 Letztlich geht es in Homers Kunst um dieselben Fragestellungen, die Copley künstlerisch aufwarf: Wie lässt sich im Angesicht (durchaus auch vom Menschen) entfesselter Naturgewalt ein zivilisierter Zustand (wieder) herstellen? In Homers Kunst sind es die Kinder und Heranwachsenden, die den Balanceakt zwischen der Natur und ihrer Bewältigung spielerisch erlangen, während Erwachsene ihn sich mühsam erarbeiten müssen, dabei aber auch die Freuden des Zusammenhalts – buchstäblich in der ,Life Line‘ – wie eine erotische Begegnung erleben dürfen.94 Auch in Homers Kunst, so kann man schlussfolgern, bleibt das Konzept der Aufforderung zur Interaktion und Partizipation erhalten, solange der Künstler sich mit einem jugendlichen Optimismus und der moralischen Aufforderung zur Rückbesinnung auf entschlossenes, selbstloses Handeln in der Gemeinschaft identifizieren konnte. Für dieses durchaus pathetische Konzept eines heute vielfach kritisierten Gutmenschentums hatte Copley in den 1770er- und 1780er-Jahren die Grundlagen zugunsten eines vielstimmigen Geschichtsbildes im Sinne Barack Obamas entworfen, mit vergleichbarer ideologischer Ambivalenz, die Winslow Homer in The Gulf Stream radikal über Bord werfen sollte.95 Die Hoffnungslosigkeit und Radikalität der späten Werke Winslow Homers waren keine gute Ausgangslange für die Erschaffung von Gedächtnisikonen. Dies sollte dem geschäftstüchtig spekulativen, selbstbewussten und seismografisch die Stimmen seiner Zeit aufzeichnenden Copley vorbehalten bleiben.

93 Jules D. Prown, Winslow Homer in His Art, in: Marianne Doezema und Elizabeth Milroy (Hg.), Reading American Art, New Haven/London 1998, S. 264–279, hier S. 274. 94 Ebd., S. 276–78, hat einleuchtend darauf hingewiesen, dass der in der Life Line mitschwingende Optimismus, der auch Homers Bildern wie Snap the Whip (1872) und Breezing Up (A Fair Wind) (1876) inhärent ist – beides Gemälde, die mit Copleys Werken genauer verglichen werden müssten –, in späteren Werken wie The Gulf Stream (1899) fehlt. The Gulf Stream, ein Gemälde, das oft mit ­Copleys Watson and the Shark in Verbindung gebracht wurde, zeigt einen schwarzen Mann auf einem unkontrollierbar gewordenen Boot, bedroht von Haien. Die Darstellung enthält Prown zufolge auch deshalb keinerlei Botschaft der Hoffnung und Ästhetik der Interaktion, weil der Mann jeden Blickkontakt mit dem Mutterschiff verloren hat. 95 Winslow Homer, The Gulf Stream, 1899, Öl auf Leinwand, 71,4 × 124,8 cm, Metropolitan Museum, New York, vgl. die Abb. unter: http://www.metmuseum.org/art/collection/search/11122 (letzter Zugriff am 13. September 2017).

Anhang

Autorinnen und Autoren

David Allan ist Dozent für Geschichtswissenschaft an der University of St Andrews. Seine Forschungsschwerpunkte sind die schottische und britische Geschichte der ­Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Geistesgeschichte und der Geschichte des Buches. Seine Studien umfassen unter anderem: Commonplace Books and Reading in Georgian England (2010); Making British Culture: English Readers and the Scottish Enlightenment (2008); A Nation of Readers: The Lending Library in Georgian England (2008). Jan Blanc ist Professor für neuere Kunstgeschichte an der Université de Genève. Seine wichtigsten Forschungsgebiete sind die holländische und die britische Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts. Zu seinen jüngeren Publikationen im Kontext des hier vorliegenden Beitrags gehört unter anderem die Herausgabe der Schriften von Joshua Reynolds in französischer Sprache (Les Écrits de Sir Joshua Reynolds, 2 Bände, 2015). Bettina Gockel ist nach Forschungsaufenthalten am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, und am Institute for Advanced Study, Princeton, seit 2008 Professorin für Geschichte der bildenden Kunst und Leiterin der Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsfeldern gehören unter anderem die Geschichte der Bildkünste vom 18. bis 20. Jahrhundert, die Theorie und Geschichte der Fotografie sowie das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaft. Sie ist Autorin des Buches Die Pathologisierung des Künstlers. Künstlerlegenden der Moderne (Berlin: Akademie Verlag, 2010) und Herausgeberin der Schriftenreihe Studies in Theory and History of Photography (Berlin: Akademie Verlag/De Gruyter). Andreas Gormans ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen. Er promovierte 1999 mit der Arbeit Geometria et ars memorativa. Zur mnemotechnischen Bedeutung diagrammatischer Bildstrukturen in den Bildkünsten des Mittelalters. 2000–2004 war er Stipendiat und Mitarbeiter der VW-Forschungsgruppe „KultBild. Kulturgeschichte und Theologie des Bildes im Christentum“ (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), 2001–2004

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zu­dem Stipendiat der Fritz Thyssen Stiftung mit dem Projekt „Meisterwerke des aposto­ lischen Gedächtnisses. Die Papstgrabmäler der Frühen Neuzeit in Rom“. 2009–2011 war er DFG-Stipendiat mit dem Habilitationsprojekt „Neue Blicke auf alte perspectiven. Kirchen­innenräume in der niederländischen Malerei nach 1650“. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen: Bild, Bildwerk und Erinnerung, Sepulkralkunst der Frühen Neuzeit, Ikonografie der Technik- und Naturwissenschaften, Zeugnisse des Künstlerselbstverständnisses, Architektur im Bild, Kunst im Zeitalter der Konfessionalisierung. Hanneke Grootenboer ist Professorin für Kunstgeschichte an der University of Oxford. Sie ist die Autorin der Studie The Rhetoric of Perspective: Realism and Illusionism in Seventeenth-Century Dutch Still Life Painting (Chicago 2005). Für ihr Buch Treasuring the Gaze: Intimate Vision in Late Eighteenth-Century Eye Miniatures (Chicago 2012) erhielt sie 2014 den Kenshur Prize für die beste interdisziplinäre Studie zum achtzehnten Jahrhundert. Sie publizierte verschiedene Artikel über frühneuzeitliche Kunst und zeitgenössische Philosophie unter anderem in The Art Bulletin, Art History und im Oxford Art Journal. Derzeit beendet sie ihre Studie The Pensive Image, in der sie sich mit dem Denken in Bildern beschäftigt. Patrizia Munforte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. 2011 bis 2016 war sie Doktorandin im Doktoratsprogramm „Mediengeschichte der Künste“ an der Universität Zürich und erhielt Stipendien vom Fonds zur Förderung des akademischen Nachwuchses (FAN) des Zürcher Universitätsvereins (ZUNIV), von der Terra Foundation for American Art und der Hans und Renée Müller-Meylan Stiftung. Sie promovierte 2016 mit der Arbeit Trauerbilder und Totenporträts. Materialität, Diskurs und Medialität in der nordamerikanischen Miniaturmalerei und Fotografie des 19. Jahrhunderts. In Kürze wird ihre Doktorarbeit in Buchform erscheinen. Lisa Oberli ist seit September 2015 Mitarbeiterin in der Graphischen Sammlung Digital der Schweizerischen Nationalbibliothek. Zuvor war sie mehrere Jahre studentische Mitarbeiterin des Hochschularchivs der ETH Zürich in der ETH-Bibliothek. 2015 schloss sie ihr Studium der Kunstgeschichte, der Allgemeinen Geschichte sowie der Theorie und Geschichte der Fotografie an der Universität Zürich mit der Masterarbeit Zwischen bildhafter Evidenz und forschendem Sehen. Visuelle Rhetorik und Praxis in Robert Hookes Mikrografien ab. Seit Oktober 2016 ist sie Teilnehmerin am Weiterbildungsprogramm MAS ALIS (Master of Advanced Studies in Archival, Library and Information Studies) der Universitäten Bern und Lausanne. Katia Saporiti ist Professorin für Philosophie an der Universität Zürich. Neben den Denkern des neuzeitlichen Rationalismus und Empirismus gilt ihr Interesse Kant, Nietzsche, Frege und Wittgenstein sowie den sprachanalytischen Philosophen des 20. Jahrhun-

Autorinnen und Autoren     | 289

derts. Sie arbeitet zu systematischen Fragen aus den Bereichen der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie, der Philosophie des Geistes und der philosophischen Ästhetik. Michael Thimann ist seit 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Neuzeit an der Georg-August-Universität in Göttingen. 2010–2012 war er Professor für Kunstgeschichte/Bildwissenschaften an der Universität Passau, 2006–2011 Leiter einer Max Planck Research Group am Kunsthistorischen Institut in Florenz – MPI. 2012 habilitierte er sich an der Universität Basel mit der Arbeit Friedrich Overbeck und die Bildkonzepte des 19. Jahrhunderts (Regensburg 2014). Michael Thimann ist Mitherausgeber der Schriften von Aby Warburg (Studienausgabe) und forscht zur Kunst um 1800, zur Episte­mologie und Praxis der Handzeichnung sowie zu Künstlerbibliotheken und Künstlerbildung zwischen 1400 und 1900. Miriam Volmert ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Geschichte der bildenden Kunst am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Sie promovierte an der Universität Hamburg mit der Arbeit Grenzzeichen und Erinnerungsräume: Hollän­dische Identität in Landschaftsbildern des 15. bis 17. Jahrhunderts (ersch. Berlin 2013). In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit Grand-Tour-Porträts und Reisesouve­nirs im 18. Jahrhundert. 2014–2017 war sie zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin im SNF-Projekt „Gedächtnistransfers in Kunst und Wissenschaft, 1650–1800“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Landschaftsmalerei und Porträtkunst der Frühen Neuzeit und Vormoderne, interdisziplinäre Landschaftstheorie und historische Erinnerungspraktiken. Valeska von Rosen ist nach Stipendien der DFG, der Bibliotheca Hertziana, der Gerda-­ Henkel-Stiftung und des Wissenschaftskollegs zu Berlin Inhaberin des Lehrstuhls für allgemeine Kunstgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist Mitglied der an der FU Berlin beheimateten DFG-Forschergruppe „Diskursivierungen von Neuem“ und leitet außerdem ein Forschungsprojekt über Kunsthistoriografie und Künstlerbiografik im 17. Jahrhundert, in dessen Rahmen der Text in diesem Band entstand. Ihre jüngsten Monografien sind: Verhandlungen in Utrecht. Ter Brugghen und die religiöse Bild­sprache in den Niederlanden, Göttingen 2015; Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, 2. Auflage, Berlin 2011. Reinhard Wegner ist seit 1999 Professor für Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er forscht und publiziert unter anderem zu Jakob Philipp Hackert, Karl Friedrich Schinkel und Carl Blechen, zur Architektur, Malerei und zu Kunsttheorien des 18. und 19. Jahrhunderts. Er ist Herausgeber der Schriftenreihe Ästhetik um 1800 (Göttingen: Wallstein Verlag) und leitet gemeinsam mit Michael Gamper, Berlin, das DFG-Schwerpunktprogramm „Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne“.

Dank

Der vorliegende Sammelband ist am Lehrstuhl für Geschichte der bildenden Kunst der Universität Zürich entstanden und fokussiert den Forschungsschwerpunkt zur Geschichte der Wahrnehmung der Künste in der Frühen Neuzeit und Moderne. Das Buch enthält Forschungsbeiträge der Tagung „Memoria und Souvenir. Medialität und Materialität des Erinnerns in den Künsten, 1700–1800“, die im Dezember 2014 am Kunsthistorischen Institut stattfand. Allen Beitragenden und Teilnehmern der Tagung sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Außerdem danken wir dem wissenschaft­lichen Team des Lehrstuhls für vielfältige Unterstützung und möchten dabei besonders die studentische Assistentin Katharina Haack hervorheben. Weiterhin danken wir der Fritz Thyssen Stiftung, der Hochschulstiftung der Universität Zürich, der Vereinigung akademischer Mittelbau der Universität Zürich und dem Zürcher Universitätsverein für ihre großzügige Förderung der Tagung. Wir danken zudem dem Schweizerischen Nationalfonds für die Förderung im Rahmen des SNF-Projektes „Gedächtnistransfers in Kunst und Wissenschaft, 1650–1800“, in dessen inhaltlichem Kontext die Tagung angesiedelt ist. Die Fritz Thyssen Stiftung hat unsere Buchpublikation durch eine großzügige Druckbeihilfe unterstützt, wofür wir uns sehr herzlich bedanken möchten. Für ihr Engagement in der Redaktionsphase des Buches gilt Victoria Fleury, Dagny Hilde­brandt und ­Patrizia Munforte unser Dank. Katja Richter und Anja Weisenseel vom De Gruyter-Verlag danken wir herzlich für die gute Zusammenarbeit. Beide haben den Publikationsprozess vorbildlich betreut. Zürich, September 2017 Bettina Gockel und Miriam Volmert

Bildnachweise

Es wurde versucht, sämtliche Urheber- und Reproduktionsrechte zu ermitteln. Bei ausstehenden Ansprüchen oder Korrekturen wird um Mitteilung gebeten.

Einbandabbildungen 1  Detail aus: Robert Hooke, Fischschuppen unter dem Mikroskop, Kupferstich, aus: Robert Hooke, Micrographia; or, some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnifying Glasses, London 1665, Schema XXI, Linda Hall Library, Kansas City, Sign. QH271.H58 1665; Fotografie: Linda Hall Library of Science, Engineering & Technology, Kansas City. 2  Detail aus: Daniel Berger nach Peter Ludwig Lütke, Kupferstich, Titelkupfer aus: Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, Teil 2, Berlin 1792, Zentralbibliothek Zürich, Sign. WH 1464; Fotografie: Zentralbibliothek Zürich. 3  Anonymus, Brosche mit Augenminiatur, um 1800, Aquarell auf Elfenbein, mit Perlen und Diamanten, Victoria & Albert Museum, London; Fotografie: © bpk/Victoria & Albert Museum, London.

Einführung 1  © Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University.

Gormans 1  Rheinisches Bildarchiv Köln. 2  Elizabeth Sears, The Ages of Man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton, NJ, 1986, Abb. 10. 3  Nasjonalbiblioteket Oslo. 4  Traudl Seifert (Hg.), Die Karte als Kunstwerk. Dekorative Landkarten aus Mittelalter und Neuzeit (Ausst.-Kat. München, Bayerische Staatsbibliothek), Unterschneidheim 1979, S. 153. 5  © The Jewish National & University Library. 6  © Stanford University. 7  Ephraim Chambers, Cyclopædia: or, an Universal Dictionary of Arts and Sciences; […], Bd. 1, ­London 1728, Frontispiz.

292 |     Bildnachweise

8  Vincentius Placcius, De arte excerpendi. Vom Gelahrten Buchhalten, Liber singularis, […], Stockholm/­ Hamburg 1689, Tab. IV. 9  Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’A lembert, Encyclopédie, Ou Dictionnaire Raisonné Des Sciences, Des Arts Et Des Métiers, […], Bd. 1, Paris 1751, o. S.

Von Rosen 1  Christopher White, Peter Paul Rubens. Leben und Kunst, Stuttgart/Zürich 1994, S. 17. 2  Alejandro Vergara und Friso Lammertse (Hg.), The Young Van Dyck (Ausst.-Kat. Madrid, Museo Nacional del Prado), Madrid 2012, S. 214, Abb. 78. 3  Arnauld Brejon de Lavergnée (Hg.), Rubens (Ausst.-Kat. Lille, Palais des ­Beaux-Arts), Paris/­ Stuttgart 2004, S. 48, Abb. 17. 4  Nadeije Laneyrie-Dagen, Rubens, Paris 2003, S. 79, Abb. 38. 5a, 5b  Giovan Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni, Rom 1672, S. 456–459, digitalisiert durch das Getty Research Institute: https://archive.org/stream/ levitedepittoris00bell#page/­­n15/mode/2up [letzter Zugriff am 4. Mai 2017]. 6  Joachim Poeschke (Hg.), Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 1: Donatello und seine Zeit, ­ ünchen 1990, Taf. 226. M 7  Filippo Baldinucci, Le Notizie de’ Professori del Disegno da Cimabue in qua, Bd. 1, Florenz 1681, o. S., digitalisiert durch die Bayerische Staatsbibliothek: http://reader.digitale-­sammlungen.de/de/ fs1/object/display/bsb10050384_00015.html [letzter Zugriff am 4. Mai 2017].

Blanc 1  Fotografie: Autor. 2  Christopher Lloyd, The Paintings in the Royal Collection: A Thematic Exploration, London 1999, fig. 116. 3  Gert Schiff, Johann Heinrich Füssli, 1741–1825, Bd. 2, Zürich 1973, Abb. 440. 4  The Minneapolis Institute of Arts.

Thimann 1–2  Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des neuen Testaments in Kupfer geäzt, Winterthur 1779, Titelblatt und Detail aus dem Titelblatt, Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek. 3  Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 4, Winter­t hur 1778, o. S. Fotografie: Archiv des Autors. 4  Friedrich von Olivier, Volks-Bilder-Bibel in funfzig bildlichen Darstellungen von Friedrich von Olivier. Nebst einem begleitenden Text von G. H. Schubert, Hamburg 1836. Fotografie: Autor.

Volmert 1  Rijksmuseum, Amsterdam. 2  Matthew Towle, The Young Gentleman and Lady’s Private Tutor, London 1770, The British Library, London, Sign. 8404.bb.23. Fotografie: By permission of the British Library.

Bildnachweise     | 293

Gockel 1  Agostino Scilla, La vana speculazione disingannata dal senso. Lettera risponsiva circa i corpi marini, che petrificati si trovano in varij luoghi terrestri, Neapel 1670, Tafel XXVII. ETH-Bibliothek Zürich; e-rara.ch, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-14903. 2  Niels Stensen, Elementorum myologiae specimen, seu musculi descriptio geometrica: cui accedunt canis carchariae dissectum caput, et dissectus piscis ex canum genere, Florenz 1667, Taf. IV. ­ETH-Bibliothek Zürich; e-rara.ch, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-14787. 3  Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Vierter Versuch, Leipzig/Winterthur 1778, Tafelband, S. 53. ETH-Bibliothek Zürich; e-rara.ch, http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-1099.

Tafeln I  © Museumslandschaft Hessen Kassel. II  © bpk/Alinari Archives/Magliani, Mauro for Alinari. III  © bpk/Staatsbibliothek zu Berlin/Ruth Schacht. IV  © Österreichische Nationalbibliothek, Wien. V–IX  Linda Hall Library of Science, Engineering & Technology, Kansas City. X, LXI  Library of Congress, Washington. XI  © bpk/Kupferstichkabinett, SMB/Jörg P. Anders. XII  © bpk/Scala. XIII–XXII  © Houghton Library, Harvard University. XXIII  © National Gallery of Ireland, Dublin. XXIV  © Victoria and Albert Museum, London. XXV  © bpk/Alinari Archives. XXVI  Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection. XXVII–XXIX  Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente […], Leipzig 1731, S. 30 und Taf. 10, S. 32 und S. 62 und Taf. 18. Fotografie: Autor. XXX–XXXI  Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des neuen Testaments in Kupfer geäzt, Winterthur 1779, Nr. 4 und 5, Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek. XXXII–XXXIII  Johann Caspar Lavater, Jesus Messias oder Die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, Tafelband, Winterthur 1786, Taf. VIII, Taf. IV. Fotografie: Autor. XXXIV  Privatsammlung; Fotografie: Johannes von Mallinckrodt. XXXV–XXXVIII  Zentralbibliothek Zürich. XXXIX  Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection, New Haven. XL  © Bildarchiv Foto Marburg. XLI  © The Fan Museum, Greenwich, London. XLII–XLIII, LIV  © Trustees of the British Museum.

294 |     Bildnachweise

XLIV  Ludovico Mirri und Marco Carloni (Hg.), Vestigia delle terme di Tito e loro interne pitture, Rom 1776, Taf. 37, Digitalisat der Universitätsbibliothek Heidelberg, URL: http://katalog.ub.uni-heidelberg.de/ cgi-bin/titel.cgi?katkey=66809479 [letzter Zugriff am 9. Mai 2017]. XLV–XLVI  Deutsches Fächermuseum, Bielefeld (Fotografie: Autorin). XLVII  The Metropolitan Museum of Art, New York, Purchase, Mrs. Carl L. Selden Gift, in memory of Carl L. Selden. XLVIII–L  © Eremitage, St. Petersburg. LI–LII  © bpk/Victoria and Albert Museum, London. LIII  © National Gallery of Victoria, Melbourne. LV–LVII  © The Tansey Miniatures Foundation, Celle. LVIII  The Metropolitan Museum of Art, New York, Gift of Gloria Manney, 2006. LIX  © Patrizia Munforte. LX  George Eastman Museum, Rochester, Gift of Miss Veda L. Buker. LXII  National Gallery of Art, Washington, Gift of Edgar William and Berenice Chrysler Garbisch. LXIII  Yale University Art Gallery, New Haven, Gift of Robert L. McNeil, Jr., B.S. 1936S. LXIV–LXV  Metropolitan Museum of Art, New York, Purchase, Bequest of John R. Morron, by e­ x­change, 2007. LXVI–LXVII  Metropolitan Museum of Art, New York, Gift of Gloria Manney, 2006. LXVIII  Yale University Art Gallery, New Haven, Lelia A. and John Hill Morgan, B.A. 1893, LL.B. 1896, M.A. (Hon.) 1929, Collection. LXIX, LXXII  National Gallery of Art, Washington, Ferdinand Lammot Belin Fund. LXX  Alan Karchmer/NMAAHC. LXXI  National Portrait Gallery, Smithsonian Institution, Washington, Gift of the Morris and Gwendolyn Cafritz Foundation with matching funds from the Smithsonian Institution. LXXIII  Universitätsbibliothek Basel. LXXIV–LXXV  Wellcome Collection, London. LXXVI  Detroit Institute of Arts, Founders Society Purchase, Gibbs-Williams Fund. LXXVII  Detroit Institute of Arts, City of Detroit Purchase. LXXVIII  © Tate, London 2017. LXXIX  Yale University Art Gallery, New Haven, Lelia A. and John Hill Morgan, B.A. 1893, LL.B. 1896, M.A. (Hon.) 1929, Collection. LXXX  © bpk/RMN – Grand Palais/Michel Urtado. LXXXI  Philadelphia Museum of Art, The George W. Elkins Collection, E1924-4-15.

Bildtafeln     | 295

I  Hans Multscher und Werkstatt, Schmerzens­ mann, Ulm, um 1460, ­Lindenholz gefasst, 73 × 29 × 17  cm, ­Hessisches ­Landesmuseum, Kassel

II  Hans Memling, Darstellung Jerusalems mit der Passion Christi, 1470/71, 56,7 × 92,2 cm, Öl auf Eichenholz, Galleria Sabauda, Turin

296 |     Bildtafeln

III  Ebstorfer Weltkarte, ­Benediktinerinnenkloster Ebstorf (bei Lüneburg), D: 3,57 m, ­Zeichnung, koloriert auf Pergament (Reproduktion des 1943 in Hannover verbrannten Originals)

Bildtafeln     | 297

IV  Kosmogramm, Salzburg, um 818, Zeichnung, koloriert auf Pergament, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Cod. 387, fol. 134r

298 |     Bildtafeln

V  Johann F. Griendel, Laus, Kupferstich, aus: Johann F. Griendel, Micrographia nova […], Nürnberg 1687, Fig. III, Obs. II, Linda Hall Library, Kansas City, Sign. QH271.G74 1687

Bildtafeln     | 299

VI  Robert Hooke, Nadel, Satzpunkt und Rasierklinge, Kupferstich, aus: Robert Hooke, Micrographia; or, some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnifying ­Glasses […], ­London 1665, Schema II, Linda Hall Library, Kansas City, Sign. QH271.H58 1665

300 |     Bildtafeln

VII  Robert Hooke, Fischschuppen unter dem Mikroskop, Kupferstich, aus: Robert Hooke, ­Micrographia; or, some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnifying Glasses […], ­London 1665, Schema XXI, Linda Hall Library, Kansas City, Sign. QH271.H58 1665

Bildtafeln     | 301

VIII  Robert Hooke, Weberknecht, Kupferstich, aus: Robert Hooke, Micrographia; or, some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnifying Glasses […], London 1665, Schema XXXI, Linda Hall Library, Kansas City, Sign. QH271.H58 1665

302 |     Bildtafeln

IX  Robert Hooke, Darstellung von Haaren, Stahlkügelchen und einer Muschel, Kupferstich, aus: Robert Hooke, Micrographia; or, some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnifying Glasses [...], London 1665, Schema V, Linda Hall Library, Sign. QH271.H58 1665

Bildtafeln     | 303

X  Darstellung von Funken, Holzschnitt, aus: René Descartes, Principia Philosophiae, Amsterdam 1644, Principiorum Philosophiae, Pars Quarta, S. 237, Library of Congress, Washington, Lessing J. Rosenwald Collection, Sign. B1860 1644

304 |     Bildtafeln

XI  Peter Paul Rubens, Studienblatt (recto), vor 1600–ca. 1603, ­Federzeichnung in Braun, 20,2 x 16 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Bildtafeln     | 305

XII  Raffael Sanzio, Transfiguration, 1518–1520, Öl auf Holz, 405 × 278 cm, Musei Vaticani, Rom

306 |     Bildtafeln

XIII  Revd Thomas Austen, Occasional meditations: compiled from various authors as they accidentally came to hand, 1770–1782, p. 56, seq. 67, MS Eng 613, Houghton Library, Harvard University

Bildtafeln     | 307

XIV  Revd Thomas Austen, Collections from various eminent & learned divines […], 1783, p. 26, seq. 31, MS Eng 615, Houghton Library, Harvard University

308 |     Bildtafeln

XV  Sambrooke Freeman, Commonplace book, 1737–1795, p. 37, seq. 42, MS Eng 1323, Houghton Library, Harvard University

Bildtafeln     | 309

XVI  Sambrooke Freeman, Commonplace book, 1737–1795, p. 5, seq. 10, MS Eng 1323, Houghton Library, Harvard University

310 |     Bildtafeln

XVII  Melesinda Munbee, A collection of various kinds of poetry, 1749–1750, n. p., seq. 5, MS Eng 768, Houghton Library, Harvard University

Bildtafeln     | 311

XVIII  Revd Thomas Austen, Miscellaneous poetry, 1760, 1765, 1767, p. 1, seq. 9, MS Eng 611, Houghton Library, Harvard University

312 |     Bildtafeln

XIX  Revd Thomas Austen, Collections from various eminent & learned divines […], 1783, n. p., seq. 4, MS Eng 615, Houghton Library, Harvard University

Bildtafeln     | 313

XX  Revd Thomas Austen, Occasional meditations: compiled from various authors as they accidentally came to hand, 1770–1782, n. p., seq. 6, MS Eng 613, Houghton Library, Harvard University

314 |     Bildtafeln

XXI  Melesinda Munbee, A collection of various kinds of poetry, 1749–1750, n. p., seq. 6, MS Eng 768, Houghton Library, Harvard University

Bildtafeln     | 315

XXII  Hester Lynch Piozzi, Minced meat for pyes [between 1741 and 1821], n.p., seq. 26, MS Eng 231, Houghton Library, Harvard University

316 |     Bildtafeln

XXIII  Nathaniel Hone, The Conjuror, 1775, Öl auf Leinwand, 145 × 173 cm, The National Gallery of Ireland, Dublin

Bildtafeln     | 317

XXIV  Raffael, Die Predigt des Paulus in Athen, 1515, Deckfarbe auf Papier, auf Leinwand aufgezogen, 340 × 440 cm, Victoria & Albert Museum, London (on loan from the collection of Her Majesty the Queen)

XXV  Filippino Lippi (früher Andrea Masaccio zugeschrieben), Die Kreuzigung Petri und der Streit der Apostel Petrus und Paulus mit Simon Magus vor Kaiser Nero, ca. 1484–1485, Fresko, 230 × 598 cm, Santa Maria del Carmine, Cappella Brancacci, Florenz

318 |     Bildtafeln

XXVI  Joshua Reynolds, Elizabeth Gunning, Duchess of Hamilton and Argyll, ca. 1760, Öl auf Leinwand, 238,8 × 147,3 cm, Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection, New Haven

XXVII  Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, Leipzig 1731, S. 30 und Taf. 10

Bildtafeln     | 319

320 |     Bildtafeln

XXVIII  Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, Leipzig 1731, S. 32

XXIX  Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig auserlesene Biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, Leipzig 1731, S. 62 und Taf. 18

Bildtafeln     | 321

322 |     Bildtafeln

XXX  Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des neuen Testaments in Kupfer geätzt, Winterthur 1779, unpag., Nr. 5

Bildtafeln     | 323

XXXI  Johann Rudolph Schellenberg, 60 Biblische Geschichten des neuen Testaments in Kupfer geätzt, Winterthur 1779, unpag., Nr. 4

XXXII  Daniel Chodowiecki, „Werdet wie die Kindlein“, in: Johann Caspar Lavater, Jesus Messias oder Die Evangelien und Apostel­geschichte in Gesängen, Tafelband, Winterthur 1786, Taf. VIII

324 |     Bildtafeln

XXXIII  Daniel Berger, „Jesus und Petrus auf dem Wasser“, in: Johann Caspar Lavater, Jesus Messias oder Die Evangelien und Apostelgeschichte in Gesängen, Tafelband, Winterthur 1786, Taf. IV

Bildtafeln     | 325

326 |     Bildtafeln

XXXIV  Friedrich Overbeck, Das Scherflein der Witwe, Zeichnung, München, Privatbesitz

Bildtafeln     | 327

XXXV  Daniel Berger nach Peter Ludwig Lütke, Kupferstich, Titelkupfer aus: Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, Teil 1, Berlin 1792, Zentralbibliothek Zürich, Sign. WH 1463

328 |     Bildtafeln

XXXVI  Daniel Berger nach Peter Ludwig Lütke, Kupferstich, Titelkupfer aus: Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, Teil 2, Berlin 1792, Zentralbibliothek Zürich, Sign. WH 1464

Bildtafeln     | 329

XXXVII  Daniel Berger nach Peter Ludwig Lütke, Kupferstich, in: Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, Teil 2, Berlin 1792, o. S. [zwischen S. 66 und 67], Zentralbibliothek Zürich, Sign. WH 1464

330 |     Bildtafeln

XXXVIII  Daniel Berger nach Peter Ludwig Lütke, Kupferstich, Titelkupfer aus: Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, Teil 3, Berlin 1792, Zentralbibliothek Zürich, Sign. WH 1465

Bildtafeln     | 331

XXXIX  Anonymus, nach John Collet, A Morning Frolic, or the Transmutation of the Sexes, ca. 1780, Mezzotinto, 32,4 x 24,8 cm, Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection, New Haven

332 |     Bildtafeln

XL  Raffael, Die Kardinaltugenden, 1508–1511, Fresko, Basislänge 660 cm, Stanza della Segnatura, Musei Vaticani, Rom

XLI  Faltfächer, auf dem Fächerblatt Darstellung nach Raffael, Die Kardinaltugenden, ca. 1789/90, Fächerblatt gefertigt in Italien, Gouache, Gestell und Deckstäbe aus blondem Schildpatt mit Goldpiqué, Spannweite 50,5 cm, The Fan Museum, Greenwich, London

Bildtafeln     | 333

XLII  Unmontiertes Fächerblatt mit Ansichten des Titusbogens, des Konstantinsbogens und des Forum Romanum, 1775–1795, gefertigt in Italien, Gouache, Pergament, 28,5 × 56,4 cm, British Museum, London

XLIII  Giovanni Volpato nach Abraham-Louis-Rodolphe Ducros, Forum Romanum, ca. 1780, ­R adierung, Aquarell und Gouache, 70,8 × 52 cm, British Museum, London

334 |     Bildtafeln

XLIV  Marco Carloni nach Franciszek Smuglewicz und Vincenzo Brenna, Kupferstich, in: Ludovico Mirri und Marco Carloni (Hg.), Vestigia delle terme di Tito e loro interne pitture, Rom 1776, Taf. 37, Universitätsbibliothek Heidelberg

Bildtafeln     | 335

XLV  Faltfächer, auf dem Fächerblatt Ansichten von Neapel, ca. 1790, Fächerblatt gefertigt in Italien, Gouache, Schwanenhaut doppelt (= Lämmer- o. Ziegenhaut), Gestell und Deckstäbe gefertigt in England, Elfenbein, Spannweite 46 cm, Deutsches Fächermuseum, Bielefeld, Inv.-Nr. 2285

336 |     Bildtafeln

XLVI  Faltfächer, auf dem Fächerblatt Ansichten römischer Ruinen, ca. 1790, Fächerblatt gefertigt in Italien, Gouache, Ziegenleder, Gestell gefertigt in China, mit Gold bemalter Schwarzlack, Deckstäbe gefertigt in China, Schwarzlack mit Perlmuttintarsien, Spannweite 50 cm, Deutsches Fächermuseum, Bielefeld, Inv.-Nr. 2164

XLVII  Abraham-Louis-Rodolphe Ducros, Das Kolosseum, ca. 1785, Feder und braune Tinte, Aquarell, erhöht mit Weiß, 44,4 × 66 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York

Bildtafeln     | 337

XLVIII  Anonymus, Augenminiatur, ca. 1800, Aquarell und Gouache auf Elfenbein, D: 1,3 × 2,1 cm, Eremitage, St. Petersburg

L  Anonymus, Miniatur mit zwei Händen, die ein Schriftstück halten mit der Inschrift: „La vraie Amitié est le don des Dieux“, ca. 1800, Aquarell und Gouache auf Elfenbein, D: 4,1 cm, Eremitage, St. Petersburg

XLIX  Anonymus, Mundminiatur, ca. 1800, Aquarell und Gouache auf Elfenbein, D: 1,3 × 2,1 cm, Eremitage, St. Petersburg

338 |     Bildtafeln

LI  Anonymus, Brosche mit Augenminiatur, um 1800, Aquarell auf Elfenbein, mit Perlen und Diamanten, Victoria and Albert Museum, London

LII  Nicholas Hilliard, Porträtminiatur eines jungen Mannes, der eine Hand aus einer Wolke ergreift, 1588, Aquarell auf Pergament, (wahrscheinlich später) auf Karton montiert, Victoria and Albert Museum, London

Bildtafeln     | 339

LIII  Pompeo Batoni, Porträt des Sir Sampson Gideon mit einem Freund, 1767, Öl auf Leinwand, 275,6 × 189 cm, National Gallery of Victoria, Melbourne

340 |     Bildtafeln

LIV  Francis Wheatley (auch Rev. Matthew William Peters zugeschrieben), Die Miniatur, 1787–1788, schwarze und rote Kreide und Aquarell auf Papier, 21,9 × 18 cm, British Museum, London

LV  Jean Baptiste Soyer, Dame in weißem Kleid in felsiger Landschaft, ca. 1790, Aquarell und Gouache auf Elfenbein, D: 7,1 cm, The Tansey Miniatures Foundation, Celle

Bildtafeln     | 341

LVI  Anonymus, Gräfin Elisabeth von Edling, geb. Lanthieri, ca. 1785, Aquarell und Gouache auf Pergament, vergoldeter Metallrahmen, 11,4 × 8,7 cm, The Tansey Miniatures Foundation, Celle

LVII  Villers, Dame auf einer Parkbank, 1789, Aquarell und Gouache auf Elfenbein, ­vergoldeter Metallreif, D: 6,9 cm, The Tansey Miniatures Foundation, Celle

342 |     Bildtafeln

LVIII  Sarah Goodridge, Beauty Revealed, 1828, Aquarell auf Elfenbein, 6,7 × 8 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York

Bildtafeln     | 343

LIX  Anonymus, Porträt einer Frau, 1850er-Jahre, Ambrotypie, Sechstelplatte: 8 × 6,9 cm, im Etui: 9 × 14,7 cm, Privatsammlung

LX  Anonymus, Porträt einer Frau, die eine Porträtdaguerreotypie eines Mannes in die Kamera hält, ca. 1850, Daguerreotypie, Sechstelplatte: 8 × 6,8 cm, im Etui: 9 × 14,6 cm, George Eastman Museum, Rochester

344 |     Bildtafeln

LXI  Anonymus, Ältere Frau mit Etui, 1850er-Jahre, Daguerreotypie, Sechstelplatte: 8 × 7 cm, Prints and Photographs Division, Library of Congress, Washington

LXII  William Matthew Prior, ­ Kind mit einem Strohhut und Etui-Daguerreotypie, ca. 1846/1873, Öl auf Leinwand, 76,5 × 60,5 cm, National Gallery of Art, Washington

Bildtafeln     | 345

LXIII  Charles Willson Peale, Mrs. Walter Stewart (Deborah McClenachan), 1782, Öl auf Leinwand, 127,3 × 101,9 cm, Yale University Art Gallery, New Haven

346 |     Bildtafeln

LXIV  Nathaniel Hancock, Joseph Barrell Jr., ca. 1790 (Vorderseite), Aquarell auf Elfenbein, 4,8 × 3,8 cm (Miniaturporträt), Medaillon: 8,2 × 6,9 cm, Metropolitan Museum of Art, New York

LXV   Nathaniel Hancock, Joseph Barrell Jr., ca. 1801 (Rückseite), Aquarell auf Elfenbein, 7,6 × 6,1 cm (Memorialbild), Medaillon: 8,2 × 6,9 cm, Metropolitan Museum of Art, New York

LXVI  Nathaniel Hancock, Mrs. Abijah Cheever (Elizabeth Scott), ca. 1795, Aquarell auf Elfenbein in vergoldetem Metalletui, 5 × 3,8 cm, Metropolitan Museum of Art, New York

LXVII  Nathaniel Hancock, Haarbild auf der Rückseite des Miniaturporträt­ medaillons von Mrs. Abijah Cheever (Elizabeth Scott), ca. 1795, Haare in vergoldetem Metalletui, 5 × 3,8 cm, Metropolitan Museum of Art, New York

Bildtafeln     | 347

LXVIII  Samuel Folwell (zugeschrieben), Memorial to George Washington, ca. 1800, Aquarell und geschnittenes Haar auf Elfenbein, 4,9 × 3,5 cm, Yale University Art Gallery, New Haven

LXIX  John Singleton Copley, Watson and the Shark, 1778, Öl auf Leinwand, 182,1 × 229,7 cm, National Gallery of Art, Washington

348 |     Bildtafeln

Bildtafeln     | 349

LXX  The National Museum of African American History and Culture (NMAAHC), Smithsonian Institution, Washington, April 2016

LXXI  John Singleton Copley, Selbstporträt, 1780–1784, Öl auf Leinwand, 81,3 × 81,3 cm, National Portrait Gallery, Smithsonian Institution, Washington

350 |     Bildtafeln

LXXII  John Singleton Copley, Watson and the Shark, 1778, Öl auf Leinwand, 182,1 × 229,7 cm, National Gallery of Art, Washington (die eingezeichneten Hilfslinien verdeutlichen den kompositionellen Bildaufbau)

LXXVII  John Singleton Copley, Rescue Group, 1777–1778, schwarze Kreide erhöht mit Weiß, mit roter Kreide quadriert, auf grün-grauem Büttenpapier, 36,2 × 55,2 cm, Detroit Institute of Arts

Bildtafeln     | 351

LXXIII  Andreas Vesalius, De Humani corporis fabrica Libri septem, Basel 1543, S. 170

LXXIV  John Tinney, Male écorché, Kupferstich, in: John Tinney, Compendium Anatomicum: Or a Compendious Treatise of Anatomy, Adapted to the Arts of Painting and Sculpture […], London 1743, Pl. IV

LXXVI  John Singleton Copley, Head of a Negro, 1777–1778, Öl auf Leinwand, 53,3 × 41,3 cm, Detroit Institute of Arts

LXXV  John Tinney, ­ Male écorché holding a staff, Kupferstich, in: John Tinney, Compendium Anatomicum: Or a Compendious Treatise of Anatomy, Adapted to the Arts of Painting and Sculpture […], London 1743, Pl. VII

LXXVIII  John Singleton Copley, The Death of Major Peirson, 6 January 1781, 1783, Öl auf Leinwand, 251,5 × 365,8 cm, Tate Gallery, London

352 |     Bildtafeln

LXXIX  John Singleton Copley, Skizze für The Death of Major Peirson, ca. 1782–1784, Öl auf Leinwand (Grisaille), 69,2 × 89,5 cm, Yale University Art Gallery, New Haven

Bildtafeln     | 353

354 |     Bildtafeln

LXXX  Théodore Géricault, Das Floß der Medusa, 1819, Öl auf Leinwand, 491 × 716 cm, Musée du Louvre, Paris

LXXXI  Winslow Homer, The Life Line, 1884, Öl auf Leinwand, 72,7 × 113,7 cm, Philadelphia Museum of Art

Personenregister

Addison, Joseph  193, 205–207 Agucchi, Giovanni Battista  127 Albani, Francesco  97, 99, 117, 157 Algardi, Alessandro  115, 117 Alsted, Johann Heinrich  71, 134, 136 Arago, Dominique François Jean  233 Aristoteles 39 Arthur, Timothy Shay  238, 240f. Assmann, Aleida  14–17, 250 Assmann, Jan  15 Augustinus von Hippo  40 Austen, Thomas  141–146, 149, 152f. Bacon, Francis  59, 72, 77, 81 Baglione, Giovanni  96 Baker, Henry  76 Baldinucci, Filippo  135 Baldwin, Andrew H.  239 Barocci, Federico  96, 99, 101f. Barrell Jr., Joseph  236 Batchen, Geoffrey  231f. Batoni, Pompeo  223f. Bayle, Pierre  70f. Belin, Ferdinand Lammot  263 Bellini, Giovanni  107 Bellori, Giovanni Pietro  20, 94, 96–104, 107–136, 294 Berger, Daniel  175, 187 Berkeley, George  40 Berry, Mary  208, 210f. Blaeu, Joan  60 Bodin, Jean  132 Boime, Albert  274 Bonner, Christine  257 Bonner, Ruth Odom  256 Boydell, James  278 Brooks, Thomas  143, 149 Brueghel d. Ä., Jan  61 Burgess, Nathan  241 Burke, Edmund  147, 247, 258 Büttner, Frank  178

Byron, George Gordon Noel, 6. Baron Byron  225 Calvaert, Denys  121, 123 Campbell, Robert  202 Caravaggio (Michelangelo Merisi da Caravaggio) 97–101, 111, 117, 128, 291 Carracci, Agostino  99, 116f., 121 Carracci, Annibale  99, 101, 106f., 110, 113, 116–123, 130, 161 Carracci, Antonio Marziale  131 Carracci, Ludovico  117, 131 Carstens, Asmus Jakob  190 Cavallini, Pietro  119 Chambers, Ephraim  65, 67 Chambers, William  261 Chapman, George  83, 89 Chartier, Roger  154 Cheever, Abijah  236 Choderlos de Laclos, Pierre-Ambroise-François  227 Chodowiecki, Daniel  175, 177 Christie, James  281 Cicero (Marcus Tullius Cicero)  143, 158 Cimabue (Cenni di Pepo)  116, 118, 135, 294 Cloppenborch, Jan Evertsz.  61 Collett, John  203 Copley, John Singleton  247–253, 255f., 258–270, 272–283 Correggio (Antonio Allegri)  121 Cortesi, Paolo  158 Cosway, Richard  221 Cromwell, Oliver  150 Czartoryski, Adam Jerzy  219 Daguerre, Louis Jacques Mandé  233 D’A lembert, Jean Le Rond  67, 74 Dance, Nathaniel  7 Darwin, Charles  62 Dashwood, Elizabeth, Duchess of Manchester  157

356 |     Personenregister

Descartes, René  39, 44, 90 Diderot, Denis  67, 72 Dinius, Marcy  238 Doetechum, Johannes van  61 Domenichino (Domenico Zampieri)  112, 117, 124, 127 Dryden, John  150 Ducros, Abraham-Louis-Rodolphe  211, 216 Duquesnoy, François  112, 114, 117, 125 Durno, James  208 Dyck, Anthonis van  101, 108–112, 117, 121, 127f., 157, 167 Edling, Elisabeth von  226 Evelyn, John  83, 91 Fenning, Daniel  199 Fitzherbert, Maria Anne  220f. Fontana, Domenico  117 Foxe, John  148 Fra Bartolommeo (Bartolommeo Pagholo del Fattorino) 162 Franco, Giovanni Battista  156 Franklin, Benjamin  150 Freeman, Sambrooke  143f., 150 Freud, Sigmund  168 Frey, Jakob  156 Friedrich Wilhelm III. (Preußen)  220 Füssli, Johann Heinrich  163 Fysh, Stephanie  212 Gainsborough, Thomas  253 Galileo Galilei  65 Gardner Cornwall, Alan  216 Gay, John  202 Gay, Peter  152 George IV. (George Augustus Frederick)  220f. Géricault, Théodore  282 Ghisi, Adamo  157 Gideon, Sampson (Sampson Eardley, 1st Baron Eardley) 223f. Giotto di Bondone  116, 118 Giulio Romano  119 Goens, Rijklof Michaël van  186 Goodridge, Sarah  227f. Gottsched, Johann Christoph  70 Greenblatt, Stephen  149 Green, Valentine  261 Gunning, Elizabeth, Duchess of Hamilton and Argyll 167 Gütschow, Beate  253 Hackert, Jakob Philipp  188 Halbwachs, Maurice  15

Hamilton, Emma, Lady Hamilton  220 Hamilton, Gavin  208 Hancock, John  281 Hancock, Nathaniel  236 Happel, Eberhard Werner  64 Héloïse (Heloisa)  227 Hilliard, Nicholas  222 Hogarth, William  194, 200 Hollar, Wenceslaus  197, 200 Holmes, Oliver Wendell  240–242 Homer, Winslow  282f. Hone, Nathaniel  155–159, 161, 167 Hooke, Robert  19f., 76–79, 82–92, 269, 290 Hoover, Herbert Clark  263 Hübner, Johann  22, 170–172, 177f., 182, 295 Hudson, Thomas  167 Hume, David  18, 39, 41, 43f., 160f., 275f. Hutcheson, Francis  160 Israel, Jonathan  152 Jaffee Frank, Robin  235 James, William  43 Jervas, Charles  201 Jesaja  51 Jesus Christus (Jesus von Nazaret)  50–53, 171, 173, 175, 177, 179, 181 Johannes (Apostel)  51 Johnson, Dale T.  237 Johnson, Samuel  150 Josef von Nazaret  173 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis)  189f. Kant, Immanuel  40, 68, 169, 182 Kauffmann, Angelika  155 Keeble, Neil  145 Keere, Pieter van den  60 Kemmann, Ansgar  80 Keppel, Augustus  167 Kessel d. Ä., Jan van  61 Kircher, Athanasius  269 Klein, Christian  100 Kügelgen, Gerhard von  219 Lanfranco, Giovanni  114f., 117, 121, 124, 126, 130 Lascelles, Anne  157 Lavater, Johann Caspar  22, 172, 175–178, 221, 275, 294f. Le Brun, Charles  267 Leclerc, Sébastien  65 Leibniz, Gottfried Wilhelm  66 Leinkauf, Thomas  131f. Leonardo da Vinci  162, 269

Personenregister     | 357

Lindeman, Christina  195 Lips, Johann Heinrich  175 Locke, John  18, 21, 30, 39, 40–42, 44, 146–149, 160f., 277 Luise von Preußen  220 Lütke, Peter Ludwig  187f. Malvasia, Carlo Cesare  122, 129 Mann, Horace  201 Maratta, Carlo  96, 116, 121, 156, 161f. Maria von Nazaret  51, 173 Marie-Louise von Österreich  220 Martínez, Matías  100 Masaccio (Tommaso di Ser Giovanni di Mone Cassai) 161 Mascardi, Agostino  137 Mazzucchelli, Giammaria  134 McClenachan, Deborah  235 Memling, Hans  51f. Metastasio, Pietro (Pietro Antonio Domenico Bonaventura Trapassi)  213 Michelangelo Buonarroti  105, 107, 116, 118, 156f., 162 Montagu, George, Viscount Mandeville  157 More, Jacob  208 Moritz, Karl Philipp  12, 23, 185–192 Moss, Ann  148 Müller, Jan-Dirk  89 Munbee, Melesinda  144, 149–152 Napoleon Bonaparte  220 Natalis, Michel  157 Nelson, Horatio, 1. Viscount Nelson  220 Nikolaus von Myra  125 Nora, Pierre  15 Obama, Barack  254–258, 260, 283 Olivier, Friedrich  178 Overbeck, Friedrich  22, 178–182, 291 Oy-Marra, Elisabeth  127, 129 Pannini, Giovanni Paolo  212 Paolo Romano (Paolo di Mariano di Tuccio ­Tacconi da Sezze)  119 Passeri, Giovanni Battista  129 Patinir, Joachim  57 Patrizi, Francesco  131f., 137 Peale, Charles Willson  235 Peirson, Francis  279 Perugino (Pietro Perugino)  162 Pestalozzi, Johann Heinrich  180 Petrus (Simon Petrus)  177 Pforr, Franz  178 Philostrat 125

Pierre Abélard (Petrus Abaelardus)  227 Placcius, Vincent  70 Plancius, Petrus  61 Platon  40, 58 Plett, Heinrich  80 Plutarch 126 Pointon, Marcia  224 Poliziano, Angelo  158 Polybios 126 Poussin, Nicolas  96, 111–113, 117, 123, 125f., 130, 133f., 163f., 166 Prior, Matthew  232f. Prown, Jules D.  282 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus)  9, 158 Raffael  101–105, 113, 116–118, 121–123, 133, 155, 157, 161f., 175, 180, 210–212, 268 Raimondi, Marcantonio  157 Ramsay, Allan  167 Rath, Markus  91 Rembrandt van Rijn  175 Reni, Guido  112f., 117, 121, 123, 127, 134, 161, 268 Reynolds, Joshua  21f., 155–164, 166–168, 201, 289 Richardson, Samuel  212 Ridolfi, Carlo  96 Romanelli, Giovanni Francesco  157 Root, Marcus Aurelius  240–244 Rosenthal, Angela  194 Rößler, Hole  82 Rousseau, Jean-Jacques  169 Rubens, Peter Paul  101–104, 107f., 112, 117, 124, 128, 268, 294 Russell, Bertrand  43f. Sacchi, Andrea  112, 114, 118–121, 123, 127, 129, 134 Salusbury, John  150 Sandrart, Joachim von  135 Savery, Roelant  61 Schellenberg, Johann Rudolph  22, 172–175, 294, 295 Schiller, Friedrich  182 Schlegel, August Wilhelm  185 Schlegel, Caroline  185 Schlegel, Friedrich  185 Schnorr von Carolsfeld, Julius  178 Scilla, Agostino  269 Scott, Elizabeth  236 Sessarakoo, William Ansah  276 Shakespeare, William  152 Smith, Adam  276

358 |     Personenregister

Soprani, Raffaele  96 Soyer, Jean Baptiste  225–227 Spencer, Caroline, Duchess of Marlborough  157 Stensen, Niels (Nicolaus Steno)  269 Stewart, Susan  217, 223 Stewart, Walter  235 Strada, Famiano  134, 137 Sturt, John  65 Sulzer, Johann Georg  67 Surugue, Louis  155 Swift, Jonathan  150 Talbot, William Henry Fox  234 Thimann, Michael  135 Thomas a Kempis  180 Thrale, Hester (Hester Piozzi)  150–153 Tinney, John  268 Tizian (Tiziano Vecellio)  100, 104–111, 113, 122, 125, 268 Towle, Matthew  204 Vasari, Giorgio  20, 95–97, 99f., 102, 104–111, 113, 115–118, 120f., 124, 128f., 131f. Veronese, Paolo  121 Vesalius, Andreas  267f.

Visscher, Claes Jansz.  61 Vogel, Ludwig  180 Volpato, Giovanni  211 Von Rosen, Valeska  81, 91 Von Schlosser, Julius  98 Walpole, Horace  201 Warburg, Aby  12 Warnock, Mary  37 Washington, George  236f., 281 Watson, Brook  261f., 264, 268 Webster, Daniel  228f. Webster, Frances  225 West, Benjamin  163, 251, 264, 274 Wheatley, Francis  224 Wilmot Marowe, Maria (Lady Eardley of ­Spalding)  223 Wind, Edgar  248–252, 263, 283 Winkelmann, Johann Joachim  190 Wölfflin, Heinrich  249 Wotton, William  269 Zeuxis von Herakleia  131 Zoege von Manteuffel, Wilhelm Johann  219