Zentren der Aufklärung. IV Der dänische Gesamtstaat: Kopenhagen - Kiel - Altona [Reprint 2012 ed.] 9783110942460, 9783484175181


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German Pages 213 [224] Year 1992

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Table of contents :
Einführung: Der dänische Gesamtstaat zwischen Kopenhagen und Kiel
Dänisch und Deutsch im dänischen Gesamtstaat im Zeitalter der Aufklärung
Möglichkeiten, Grenzen und Instrumente von Reformen im Aufgeklärten Absolutismus: Johann Friedrich Struensee und Andreas Peter Bernstorff
Universität Kopenhagen und Ritterakademie Sorø
Die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung
Altona – ein Zentrum der Aufklärung am Rande des dänischen Gesamtstaats
Die Brüdergemeine als Bindeglied zwischen Deutsch und Dänisch
Religion und Geschmack. Klopstocks aufgeklärte Revision des Kirchenlieds
»... vom dänischen Ende Deutschlands«. Gerstenberg zwischen Klopstock und Herder
Der Kopenhagener Kreis und der »Nordische Aufseher«
Die musikpolitischen Aktivitäten von Johann Abraham Peter Schulz. Zur deutsch-dänischen Musikkultur im Zeitalter der Aufklärung
Die Rezeption des Volksliedes um 1800. Zur deutsch-dänischen Musikkultur im Zeitalter der Aufklärung
Eine Nachbemerkung
Personenregister
Anschriften der Autoren
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Zentren der Aufklärung. IV Der dänische Gesamtstaat: Kopenhagen - Kiel - Altona [Reprint 2012 ed.]
 9783110942460, 9783484175181

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Wolfenbiitteler Studien zur Aufklärung Herausgegeben von der Lessinß-Akademie

MiTïïlLÎIÏIilJrïïIïïiliïïl Band 18

Zentren der Aufklärung IV

Der dänische Gesamtstaat Kopenhagen · Kiel · Altona Herausgegeben von Klaus Bohnen und Sven-Aage j0rgensen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Redaktion: Claus Ritterhoff · Lessing-Akademie

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zentren der Aufltlärung. - Tübingen : Niemeyer. 4. Der dänische Gesamtstaat : Kopenhagen, Kiel, Altona / hrsg. von Klaus Bohnen und Sven-Aage Jorgensen. - 1992 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung ; Bd. 18) NE: Bohnen, Klaus [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-17518-4

ISSN 0342-5940

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechüich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Texterfassung und -bearbeitung: Lessing-Akademie, Wolfenbüttel. Gesamtherstellung: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Der dänische Gesamtstaat zwischen Kopenhagen und Kiel

ι

OLE FELDBJEK: Dänisch und Deutsch im dänischen Gesamtstaat im Zeitalter der Aufklärung

7

Möglichkeiten, Grenzen und Instrumente von Reformen im Aufgeklärten Absolutismus: Johann Friedrich Struensee und Andreas Peter Bernstorff . . .

23

SVEN-AAGE JORGENSEN:

KERSTEN KRÜGER:

F.

J. BILLESKOV J A N S E N :

Universität Kopenhagen und Ritterakade-

mie Sora DIETER LOHMEIER:

49 Die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung

69

Altona — ein Zentrum der Aufklärung am Rande des dänischen Gesamtstaats

91

PONTOPPIDAN THYSSEN: Die Brüdergemeine als Bindeglied zwischen Deutsch und Dänisch

119

LUDWIG ALBERTSEN: Religion und Geschmack. Klopstocks aufgeklärte Revision des Kirchenlieds

133

»... vom dänischen Ende Deutschlands«. Gerstenberg zwischen Klopstock und Herder

14 j

FRANKLIN KOPITZSCH:

ANDERS

LEIF

SVEN-AAGE JORGENSEN:

KLAUS

BOHNEN:

Der Kopenhagener Kreis und der »Nordische

Aufseher«

161

W. S C H W A B : Die musikpolitischen Aktivitäten von Johann Abraham Peter Schulz. Zur deutsch-dänischen Musikkultur im Zeitalter der Aufklärung

181

Die Rezeption des Volksliedes um Zur deutsch-dänischen Musikkultur im Zeitalter der Aufklärung

191

HEINRICH

NIELS MARTIN JENSEN:

KLAUS BOHNEN:

Eine Nachbemerkung

1800.

201

Personenregister

205

Anschriften der Autoren

215

Sven-Aage Jergensen Einführung

Der dänische Gesamtstaat zwischen Kopenhagen und Kiel

Die im Rahmen >Zentren der Aufklärung< schon stattgefundenen Symposien haben gezeigt, wie sehr sich die Aufklärung im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zeitlich und geographisch differenzierte. Nach dem Siebenjährigen Kriege geben Halle und Leipzig ihre Vormachtstellung ab: an Berlin, wo Schriftsteller wie Lessing, Mendelssohn, Abbt und vor allem Nicolai, an Göttingen, wo Gelehrte wie Haller, Kästner und Lichtenberg in Auseinandersetzung mit der frühen und mittleren Aufklärung andere Wege beschreiten. Später bildet sich ein anderes Zentrum in der Stadt Königsberg mit den Namen Kant, Hamann, Hippel und Herder, wenn man von einem an der Peripherie gelegenen Zentrum sprechen darf. Ich meine, daß man es darf. In einer großen Rezension der Werke Hamanns schrieb Hegel im Jahre 1828, die deutsche Aufklärung habe sich im Gegensatz zur französischen in »zwei verschiedene Charaktere« gespalten, in die Gruppe um Nicolai, Mendelssohn, Teller, Spalding usw., die in Berlin das Werk der Aufklärung betrieb, und in die Randgruppen in Königsberg, Weimar, Jena usw., wo die Werke der Aufklärung geschrieben wurden. Das ist zweifelsohne sowohl ungerecht als auch etwas boshaft, aber die heutige Tendenz, auch in der Literaturwissenschaft, die Aufklärung als eine Epoche von etwa 1680 bis 1780 und sogar darüber hinaus aufzufassen, hat, daran sollte erinnert werden, einen großen Ahnherrn. Auch ist die Erkenntnis nicht neu, daß die Aufklärung verschiedene Schwerpunkte hat und sich als Epochenbegriff betrachtet nicht griffig formulieren oder auf einen Nenner bringen läßt. Stellt man heute die Frage: Was ist Aufklärung? muß man infolgedessen bescheiden sein, keine eindeutige, sondern eine differenzierte Antwort erwarten. Man muß sich zwar nicht damit begnügen, von dem Jahrhundert der Aufklärung als von dem »Jahrhundert Friedrichs« zu sprechen, denn das hieße ja, Aufklärung als Etikett zu benutzen wie etwa >neunzehntes Jahrhundert< oder >viktorianische EpocheZärtlichkeitundeutschen Volk< auf dem Lande und mit den Reformbestrebungen im russischen Reich. Im multinationalen Gesamtstaat — es lebten in ihm Dänen, Norweger, Deutsche, Isländer, Grönländer, Färinger 1 — lagen die Verhältnisse natür-

' Eine allerdings mit Fehlern behaftete Volkszählung 1769 ergibt folgende, als etwas zu niedrig geschätzten Zahlen: Dänemark:

785 590

Norwegen:

723 141

Schleswig:

243 605

Holstein (königliche Anteile):

134 665

Oldenburg:

79071

Island:

46201

Färöer:

4754

Einführung

3

lieh ganz anders als im Baltikum, aber es gab auch hier eine deutsche bzw. deutschsprachige Oberschicht, die weitgehend Administration und Regierung prägte. Was heißt unter solchen Umständen >Patriotismus< — ein zentraler Begriff der politischen und kulturpolitischen Diskussion. Adelungs Wörterbuch definiert in der Ausgabe von 1811 einen Patrioten so: ι.

In der engsten Bedeutung, eine Person, welche das allgemeine Beste auch z u m

Nachtheil ihres eigenen Besten befördert, welche die allgemeine Wohlfahrt ihrer eigenen vorziehet. 2.

In weiterer Bedeutung wird dieses W o r t sehr gemißbraucht, indem

man schon einen jeden, welcher eine partheyische oder auf Nebenumstände gegründete Liebe für sein Vaterland, oder seinen W o h n o r t blicken lasset, und dessen auch patriotische Liebe gemeiniglich nur auf der Zunge wohnet, oder welcher gar seinen eigenen Vortheil unter dem Scheine des allgemeinen Besten einen Patrioten zu nennen pflegt.

Die aufklärerische und vornationale Bedeutung wird hier gegen eine irrationale, vorurteilsvolle Vaterlandsliebe, gegen eine jedenfalls nicht vernünftig zu begründende (»partheyische oder auf Nebenumstände gegründete«) polemisch abgegrenzt; ein solcher Patriotismus wird >hinterfragtBardengebrüllReformabsolutismusdeutschen H e r z o g t ü m e r « . Ebd., S. 20—32.

11

23

(Anm. 15), Bd. 1, S. 8. Ä h n l i c h auch: Bd. 2, S. 183.

Reformen im Aufgeklärten

Absolutismus

29

Ebene. Ü b e r den Fachministerien stand ein Rat, der sich Geheimrat, Geheimes Conseil, Ministerrat oder auch Staatsrat nannte. In der Regel w a r dieser Rat die Versammlung der Behördenchefs — man würde es heute als M i nisterrat bezeichnen —, und hier entschied der König nach Beratung durch seine Minister. Andreas Peter Bernstorff hielt diese Regierungsweise für die einzig richtige und auch dem Absolutismus angemessene. Johann Friedrich Struensee 2 4 dagegen kannte die Verwaltung nicht. E r gelangte 1768 als Leibarzt des Königs Christians V I I . — sozusagen als A u ßenseiter — zu politischem Einfluß. Verwaltung — darin zeigt sich sein aufklärerisches, kritisches Bewußtsein — stellte Struensee grundsätzlich unter den Verdacht der Vetternwirtschaft und der Ineffektivität. E r hielt an dem Grundsatz fest, den er 1763 in seiner Monatsschrift Zum Nutzen

und

Ver-

gnügen in einem Spottgedicht formulierte: 2 ' An die Fürsten Ihr heißt mit Recht die Götter unserer Erde, Denn Ihr erschafft, o schöne That! Ihr sprecht nur ein allmächtig: Werde! Schnell wird aus dem Laquay ein Rath. A m Ressentiment gegen die Verwaltung hielt Struensee fest und bestärkte auch König Christian V I I . in seinem Vorbehalt gegen das Geheime Conseil, das oberste Regierungsorgan. Darüber berichtete er selber in seiner Verteidigungsschrift, welche übrigens bereits 1772 veröffentlicht wurde und damit der europäischen Öffentlichkeit zur Verfügung stand. 2 6 4) Es herrsche überhaupt eine Anarchie, da niemand seine Autorität gebrauchen wolle noch dürfe, aus Furcht, sich zu schaden. Jeder trachte ausser seinem Fache in die übrigen Einfluß zu haben; nirgends fände man Subordination, alles liefe auf B e r a t schlagungen, Rathgeben, Untersuchungen, Modificationen und Expediens zu finden, hinaus. Die Untergeordneten, an Statt einen Auftrag auszuführen, suchten nur Schwierigkeiten, Einwendungen und Gegenvorstellungen dagegen zu machen. [...] 5) Es war dem Könige nichts embarassanter als zweymal in der Woche dem Conseil beizuwohnen, und ich glaube, der Grund davon lag darinn, daß Se[ine] M[ajestät] von Kindheit an einen gewissen Respect und Furcht vor dasselbe bekommen, welches

24

25 26

Unkritisch verherrlichend: Stefan Winkle: Johann Friedrich Struensee. Arzt, Aufklärer und Staatsmann. Beitrag zur Kultur-, Medizin- und Seuchengeschichte der Aufklärungszeit. Stuttgart 1983. - Ausgewogen: Svend Cedergreen Bech: »Johan Friedrich Struensee«. In: Dansk Biografisk Leksikon. Bd. 14. Kopenhagen 3. Aufl. 1983, S. 153 — 158. — Vgl. auch: Kersten Krüger: »Johann Friedrich Struensee und der Aufgeklärte Absolutismus«. In: Hartmut Lehmann, Dieter Lohmeier (Hrsg.): Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat /770 —1820. Neumünster 1983 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte. 16), S. 11 — 36. Kopitzsch, Grundzüge (Anm. é), S. 456. Winkle, Struensee (Anm. 24), S. 100. Hansen, Inkvisitionskommissionen (Anm. 15), Bd. 1, S. 17 ff.

30

Kersten

Krüger

durch die Länge der Zeit zur Gewohnheit geworden war. Da nun solche Gesinnung sich nicht auf ein wahres Zutrauen gründete und die inneren Empfindungen und erhaltenden Eindrücke solchen widersprachen: so konnte dieser Widerwillen leicht daraus entstehen. Der König sagte zuweilen: wenn ich anderer Meynung als das Conseil bin, so bemerke ich gleich eine Unruhe in allen Gesichtern, es erfolgen feyerliche Vorstellungen, und ich muß schweigen.

Der absolute König fühlte sich im Conseil seiner Regierungsgewalt beraubt und wollte das nicht hinnehmen. Abhilfe schuf Struensee durch eine Regierungsveränderung, nämlich durch die Regierung aus dem Kabinett. Der König traf seine Entscheidungen in seinem Arbeitszimmer — dem Kabinett — und nicht mehr im versammelten Rat; unmittelbare Befehle an nachgeordnete Behörden und Amtsträger — Kabinettsordern — sorgten für sofortige Ausführung der höchsten Entscheidung. Als Vorbild diente BrandenburgPreußen. Auch Claude Louis de Saint Germain und Peter Elias von Gähler hatten zu diesem Schritt geraten. 27 Struensee stellte diese Reformtat in der Zentralverwaltung — die Einführung der Kabinettsregierung — in wenigen Kernsätzen in seiner Verteidigungsschrift dar: 28 1) Der König wollte sich die endliche Decision in den Affären allein vorbehalten. 2) Alle Vorträge sollten schriftlich geschehen und die Resolution des Königs auf gleiche Art erfolgen. 3) Man sollte suchen, daß solche deutlich, kurz und ohne Umschweife [...] würden. 4) In den Fällen, wo der König andere zu Rath zu ziehen vor nöthig fand, wollten Se[ine] M[ajestät] entweder das Bedenken der Collegia haben, oder eine Commißion dazu ernennen [...]. 5) Die Colleg ia sollten, soviel es die Natur der Sache erlaubte, einförmig in Form, die Affairen zu behandeln und vorzutragen suchen. [...] 8) Endlich sollten die Geschäfte der Departements auseinander gesetzt werden; so daß jedes dasjenige, was seiner Natur nach ihm zukäme, allein betriebe.

Die Grundsätze dieser Verwaltungsreform führten zur Entmachtung der bisherigen leitenden Beamten und schließlich zur Auflösung des Geheimen Conseils am 10. Dezember 1770. Johann Hartwig Ernst und Andreas Peter Bernstorff wurden im September 1770 entlassen. Dann trat an die Stelle des Geheimen Conseils das Kabinett, in dem Struensee als engster Vertrauter des Königs die wichtigste Rolle spielte. Seine Karrierestationen zeigen es deutlich an: er war Konferenzrat seit Mai 1770, mit der Auflösung des Geheimen Conseils stieg er zum Maître des Requêtes auf, also zum Chef der Bittschriften. Das war nur konsequent, denn der gesamte Schriftwechsel mit den Ministerien lief über das Kabinett. Der König beriet darüber mit 27

2

L. Koch: »Struensees Parti«. In: Historisk Tidsskrift 6. R. Bd. 5. 1894-95, S. 6 3 - 1 2 0 . - E. Rancke-Madsen: »Claude Louis de Saint Germain«. In: Dansk Biografisk Leksikon. Bd. 12. Kopenhagen 3. Aufl. 1982, S. 570 ff. - Svend Cedergreen Bech: »Peter Elias von Gähler«. In: Dansk Biografisk Leksikon. Bd. 5. Kopenhagen 3. Aufl. 1980, S. 4 3 5 ff. Hansen, Inkvisitionskommissionen (Anm. 15), Bd. 1, S. 21.

Reformen im Aufgeklärten Absolutismus

31

seinem Leibarzt, dann Maître des Requêtes, und fällte die Entscheidung. Struensee avancierte weiter: im M ä r z 1771 zum Kabinettssekretär und schließlich am 14. Juli 1771 zum Geheimen Kabinettsminister mit der Berechtigung, für den König Unterschriften zu leisten — das heißt von diesem Tage an waren alle Unterschriften Struensees genauso gültig wie die des Königs. Damit eröffnete sich Struensee die Möglichkeit einer persönlichen Diktatur, von der er auch ausgiebig Gebrauch machte. Dieses war ein klarer Verfassungsbruch, ein Majestätsverbrechen nach der Lex Regia, 2 ' und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann er stürzen würde. Struensee mußte nach seiner Ernennung zum Geheimen Kabinettsminister stürzen. 25

30

Im § 26 der Lex Regia, die Struensee sicher bekannt war, heißt es: »[...] die tägliche Erfahrung und anderer Länder jammervolle Exempel [...] beweisen, wie schädlich es ist, wenn der Könige und Herren Milde und fromme Gesinnung so mißbraucht werden, daß ihnen ihre Macht und Gewalt von dem einen oder anderen, ja zuweilen von ihren eigenen nächsten und höchst vertrauten Dienern auf fast unsichtbare Weise beschränkt wird«. Krüger, »Absolutismus« (Anm. 1), S. 203. Der Sturz Struensees und seines Freundes, Enevold Brandt, fand ein lebhaftes, fast sensationslüsternes Interesse. Eine nähere Analyse dieser Schriften wäre sicher lohnend. Allein in der Kreisbibliothek Eutin sind die folgenden überliefert: Jörgen Hee: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen Enevold Brandts, wie auch zuverläßige Nachricht von seinem Betragen und Denkungsart in seiner Gefangenschaft bis zu seinem Tode auf dem Schafotte, den 28sten April 1772. [o. O.] 1773. — Balthasar Munter: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen Joh. Fried. Struensee nebst desselben eigenhändiger Nachricht von der Art, wie er zur Aenderung seiner Gesinnungen über die Religion gekommen ist. [o. O.] Neue Aufl. 1773. — Besondere Nachrichten von den Opfern der Staaten sowohl als auch von den Opfern der Gerechtigkeit dieses Achtzehnten Jahrhunderts; besonders aber von denen in Dännemark in diesem Jahre hingerichteten gewesenen Grafen Struensee und von Brandt. Pelim 1772. — Briefe eines Ungenannten an Enewold Brandt, in der Brieftasche, die er beständig bey sich trug, gefunden, [o. O.] 1772. — Ismael Nerias: Die Bücher der Chronika des Grafen Struensee, worinnen geschrieben ist, was sich zugetragen hat mit ihm und wie er verderben wolte das Volk der Dänen und den König. [o.O.] 1772. — Des ehemaligen Grafen Johann Friedrich Struensee Vertheidigung an die Königliche Commißion gerichtet und von ihm selbst entworfen. Nebst einem Schreiben des ehemaligen Grafen Brandt an gedachte Commißion. [o.O.] 1772. — Gespräch in dem Reiche der Todten, zwischen den beyden ehemaligen Grafen, Johann Friedr. Struensee, und Enevold Brand, und zwischen dem ehemaligen Dänischen Reichshofmeister Cornifitz Ulefeld, worinn die Erhebung und der Fall derselben, und die Hinrichtung der ersten beyden umständlich beschrieben ist. Kopenhagen 1772. — Lebensbeschreibung, Verhafi und Hinrichtung der beyden unglücklichen Grafen Johann Friedrich Struensee, und Enevold Brands, nebst dem Testamente des Grafen Struensee, von ihm selbst aufgesetzt. Kopenhagen 1772. — Merkwürdigkeiten bey der den ìjten Januar 1772 in Copenhagen vorgefallenen Staatsveränderung·. J. A. E. Ode über Dännemarks Errettung. Herrn Dr. Münters erste geistliche Unterredung mit dem inhaftirten Staatsverbrecher, dem unglücklichen Grafen Struensee. Verschiedene Briefe und Ermahnungen von Dr. Adam Struensee an seinen Sohn, nebst dessen Antwort darauf. Thränen der Wehmuth der bekümmerten Mutter an diesen mißrathenen, unglücklichen Sohn. [o. O. o. J.] — Schriften, die in Sachen des ehemaligen Grafen Jo-

Kersten Krüger Andreas Peter Bernstorff dagegen setzte auf den Ministerrat oder den Geheimen Staatsrat als das oberste Regierungsgremium. N o c h 1783 sagte er über die Kabinettsregierung: »Es ist eigentlicher, wahrer Despotismus, der nicht ganz selten mit guten Absichten verbunden ist, der aber allezeit dadurch strafbar wird, dass die Quelle der Macht nicht rechtmässig ist«.' 1 N a c h Struensees Fall 1772 zurückberufen und seit 1773 in Kopenhagen A u ßenminister und Chef der Deutschen Kanzlei, befand er sich wegen der fortdauernden Kabinettsregierung im Dissens mit dem H o f und bekämpfte sie während seines sogenannten ersten Ministeriums von 1773 bis 1780. Z w a r hatte man am 13. Februar 1772 das Geheime Conseil als Geheimen Staatsrat wieder hergestellt, aber daneben bildete sich ein Kabinettsrat, JI dem König Christian VII., die Königinwitwe Juliane Marie, Erbprinz

51

32

hann Friedrich Struensee bey der königl. Inquisitions-Commißton zu Copenhagen wider und für ihn übergeben sind; mit der von ihm eigenhändig entworfenen Apologie und dem über ihn gefällten Urtheile. [o. O.] 1772. — Sendschreiben des Teufels an den Grafen von Struensee. [o.O. o.J.] — Die Struensee und Brandische Kriminalsache. Mit kritischen Noten. Amsterdam 1773. — [Johann Friedrich Struensee:] An Ihro Königliche Majestät zu Dännemark, Norwegen, etc. etc. Meinen allergnädigsten König und Herrn in Christiansburg. [o.O. o.J.] — Des Grafen von Struensee Schreiben an seine Mutter. [o.O.] 1772. — Des unglücklichen Grafen Struensee Gespräch mit sich selbst und den Kerkermeister. Seine Reue, Gewissens-Angst, Bekehrung und Testament. [o.O.] 1772. — Ein Vermahnungs Brief von dem Generalsuperintendenten Struensee, an seinen Sohn dem Grafen J. F. Struensee. [o.O.] 1772. — Zufällige Gedanken über den vor kurzer Zeit durch des Königs Gnade hocherhobenen aber bald darauf durch eigene Schuld sehr tief gestürzten Grafen von Struensee. [o.O.] 1772. — Zuverläßige Nachricht von der in Dännemark von ijten Jenner 1772 vorgefallenen großen Staatsveränderung, den Lebensumständen der merkwürdigsten Personen des königlichen dänischen Hofes wie der Staatsgefangenen und den bey ihrer Gefangennehmung vorgefallenen Begebenheiten. Halle 2. Aufl. 1772. — Zuverläßige Nachricht von der letzten Staatsveränderung in Dänemark von Ihro Majestät der Königin Caroline Mathilde während Ihrer Gefangenschaft auf dem Schlosse zu Kroonenborg eigenhändig entworfen. Rotterdam 1772. — E. A. Rothe: Entdeckung der wahren Absichten und des politischen Systems der Regierung von Dännemark bey der letzten Staatsveränderung in Copenhagen. [o.O.] 1773. — Versuch einer Lebensbeschreibung der beyden Hingerichteten Grafen Struensee und Brandt. [o.O.] 1773 — Weissagung von der gewiß zu erwartenden Erfüllung des alten Sprichworts: Tandem bona caussa triumphat. [o.O.] 1773. — Die letzten Stunden Ihro Majestät der hochseligen Königin von Dännemark Caroline Mathilde in einem Brief. [o.O.] 3. Aufl. 1776. — Authentische und höchstmerkwürdige Aufklärungen über die Geschichte der Grafen Struensee und Brandt. Germanien 1788. — Marquis Ludwig d'Yves: Geheime Hof- und Staats-Geschichte des Königreichs Dänemark. Zeiten nach der Struenseeischen Revolution. Germanien 1790. Für diese Hinweise danke ich auch an dieser Stelle Ingrid Bernin-Israel in Eutin. Louis Bobé (Hrsg.): Efterladte Papirer fra den Reventlowske Familiekreds i Tidsrummet 1770 — 1827. Bd. 6. Kopenhagen 1903, S. 32. Friis, Bernstorff og Guldberg (Anm. 22), S. 8. - Edvard Holm: »Bidrag til Karakteristik af den Guldbergske Kabinetsstyrelse«. In: Historisk Tidsskrift 7. R. Bd. 5. 19041905, S. 224-293.

Reformen im Aufgeklärten

Absolutismus

33

Friedrich und Ove Hoegh-Guldberg" angehörten. Letzterer zog die Führung an sich und regierte mit einer steigenden Flut von Kabinettsordern aus dem Kabinett, vorbei am Geheimen Staatsrat und den Zentralbehörden. Vertraulich klagte Andreas Peter Bernstorff darüber 1779: »Die Kabinettsordern haben in unüberschaubarem Maß zugenommen. Alle Departements [= Zentralbehörden] — allein die meinen ausgenommen — sind ihnen absolut wie Sklaven unterworfen«. 34 Als spektakulärstes Beispiel ist in diesem Zusammenhang das Indignatsgesetz von 1776 anzuführen, das Ausländern den Zugang zu öffentlichen Amtern im dänischen Gesamtstaat verwehrte. Es kam — zur Überraschung aller Zentralbehörden und der leitenden Beamten — aus dem Kabinett; und weder der Geheime Staatsrat, noch die anderen Zentralbehörden waren vor der Verkündung befragt worden. Das Indignatsgesetz — bis heute übrigens gültig — kann kaum als Ausweis von Aufklärung im Sinne des 18. Jahrhunderts gelten. Uberhaupt zeigte sich das Kabinett nicht reformfreundlich. Im Gegenteil, es behinderte die Reformbestrebungen der anderen Behörden. Unwillig nahm Andreas Peter Bernstorff während seines ersten Ministeriums die Kabinettsnebenregierung hin, bis sich das Kabinett auch in seine Außenpolitik einmischte. Da nahm er 1780 seinen Abschied und lebte einige Jahre auf seinen Gütern in Deutschland; es war eine Art zweites Exil. Nach Kopenhagen rief man ihn 1784 zurück, als die Kabinettsregierung Guldbergs gescheitert war und nur die Rückkehr zur weniger riskanten Regierungsweise allein mit dem Geheimen Staatsrat einen Ausweg bot. Es verdient besondere Beachtung, daß die grundlegenden gesellschaftlichen Reformen, die 1784 mit Hilfe und Unterstützung des Kronprinzen Friedrich — später Friedrich VI. — einsetzten, ganz wesentlich mit dem Instrument des Geheimen Staatsrates durchgesetzt wurden. Hier saßen die Behördenchefs zusammen, diskutierten die Initiativen der Zentralbehörden und faßten nach Mehrheit die anstehenden Beschlüsse. Struensee führte seine Reformen von 1770 bis 1772 vom Kabinett aus durch. Er hatte, das zeigt schon der zeitliche Rahmen, sehr wenig Zeit: nur rund anderthalb Jahre. Dabei war er ungeduldig, rastlos, unfähig zur Diskussion mit anderen, aber insgesamt unglaublich fleißig. Es sind 1.800 Kabinettsordern überliefert, das ergibt einen täglichen Durchschnitt von drei bis vier. Wenn man berücksichtigt, daß meistens komplizierte Verwaltungsvorgänge damit verbunden waren, erkennt man den ungewöhnlichen Fleiß, aber das allein ergibt noch nicht gute Reformen. Struensees Ziel war eine umfassende Reform, ja eine Verwandlung von Staat und Gesellschaft. Es 33

34

Harald Jergensen: »Ove Heegh-Guldberg«. In: Dansk Biografisk Leksikon. Bd. 7. Kopenhagen 3. Aufl. 1981, S. 19 — 24. Friis, Bernstorffske Papirer (Anm. 21), Bd. 3, 1913, S. 599.

Kenten

34

Krüger

läßt sich kurz skizzieren, auf welchen Gebieten die Reformen angesiedelt waren: in der staatlichen Verwaltung, in der Justiz, in Gesellschaft und auch in Wirtschaft. In der staatlichen Verwaltung führte er eine Reorganisation der Zentralbehörden nach den Prinzipien der Uniformität und Effektivität durch. Er hob, wie erwähnt, das Geheime Conseil auf, dann wurden die Ministerien neu geordnet, ihre Zahl herabgesetzt — 9 statt vorher 11 — ; neue Ressorts wurden eingerichtet, im wesentlichen nach Sachprinzip. Damit kamen Prinzipien zum Tragen, nach denen auch heute moderne Ministerien eingerichtet sind. Zusätzlich ließ Struensee den Geschäftsgang innerhalb der Ministerien verbessern und vereinheitlichen. Er versuchte, eine Neuordnung der Besoldung der Beamten durchzusetzen — bei Verbot von Sportein und natürlich von Lakaismus. Er kürzte alle Stellenpläne, entließ große Gruppen von Beamten und strich Pensionen. Ein weiteres Ziel war die Trennung von Justiz und Verwaltung. Die Gerichtsbarkeit sollte neu geordnet werden. Wichtig und von bleibendem Verdienst im Sinne der Aufklärung war die Abschaffung der Folter im November 1771 und der Todesstrafe für Diebe im Mai 1771. Struensee hob die Strafen für Unzucht auf und bereitete die Beseitigung der Todesstrafe für Kindesmörderinnen vor. Im gesellschaftlichen Bereich darf die Einführung der Pressefreiheit im September 1770 als wichtigste Reform gelten. Doch ist gerechtigkeitshalber daran zu erinnern, daß es bereits seit 1755 für die Diskussion der Agrarfragen eine Vorform der Pressefreiheit gab. In Struensees Verordnung zur Pressefreiheit heißt es ganz aufklärerisch: Für »unparteiische Untersuchung der Wahrheit« sollen »alle um das allgemeine Wohl und wahre Beste ihrer Mitbürger beeyferte Patrioten [...] nach Einsicht, Gewissen und Uberzeugung frei zu schreiben, Mißbräuche anzugreifen und Vorurteile aufzudecken«, 35 berechtigt sein. Das ist ein Negativkatalog: es geht in der Hauptsache um Kritik, und es bleibt eigentlich offen, was positiv gestaltet werden soll. Wegen Mißbrauchs, das heißt wegen der Veröffentlichung zahlloser wenig aufklärerischer Schmähschriften — besonders gegen Struensee — mußte die Pressefreiheit im Oktober 1771 eingeschränkt werden. Fortan waren anonyme Schriften verboten, und die Verfasser trugen für den Inhalt die Verantwortung, so daß man sie gerichtlich belangen konnte. Im weiteren Bereich der Gesellschaft bemühte sich Struensee um die Verbesserung der Armenpflege und ließ eine Alimentationsanstalt für Findelkinder gründen. Er versuchte, die Diskriminierung unehelicher Kinder abzuschaffen. Die Verbesserung der Krankenfürsorge förderte er mit Nachdruck. Auch bemühte er sich, den älteren Policey-Begriff und die daraus "

Krüger, »Struensee« (Anm. 24), S. 27.

Reformen im Aufgeklärten

Absolutismus

35

folgende Politik zu beschränken und den Rückzug des Staates aus der Aufsicht über die Sitten einzuleiten. Sittliche Vergehen, so Struensee, sollten nur von Geistlichen bestraft werden. Im Bereich der Wirtschaft wollte Struensee möglichst große Freiheit einführen und auch hier den Staat aus der wirtschaftlichen Tätigkeit zurücknehmen. Er kämpfte gegen den Merkantilismus, hob die Protektion von Manufakturen auf, strich ihre Subventionen aus dem Staatshaushalt und beseitigte protektionistische Zölle. Allerdings — und das war die Folge, die er durchaus in Kauf nahm — entstand daraufhin in Kopenhagen eine größere Arbeitslosigkeit. Nach seiner Auffassung sollten sich die wirtschaftlichen Kräfte der Gesellschaft frei und ohne staatliche Eingriffe entfalten, doch machte er sich bei der breiten Bevölkerung damit unbeliebt, die die Lasten dieser Wirtschaftspolitik zu tragen hatte. Struensee setzte auch die begonnenen Agrarreformen fort, kam hier aber wegen seiner kurzen Regierungszeit nicht sehr weit. Immerhin verfügte er im Februar 1771 die Begrenzung der Frondienste, doch rückte er — gemäß seinen frühliberalen Wirtschaftsprinzipien — vom überkommenen Bauernschutz ab. Als Fazit ergibt sich ein weit gefächertes, unvollendet gebliebenes Reformprogramm, das durchaus radikalen, aufklärerischen Prinzipien verpflichtet war. Struensee stieß dabei allerdings auf Unverständnis und Ablehnung, wie sich bei der Pressefreiheit zeigte, die vor allem zur Veröffentlichung wüster Schmähschriften gegen Struensee und seine Politik führte. Auch im Urteil über Struensee von 1772 befand das Gericht, er habe nicht berücksichtigt, »in wie fern [...] [seine Maßnahmen] mit der Verfassung und Form der Regierung, dem Genie der Nation und den Einrichtungen und Gesetzen des Landes sowohl den bürgerlichen als Grundgesetzen, übereinkämen, oder gerade dawider stritten«. Sie [die Maßnahmen] »machten einen unglaublichen Eindruck auf die Nation, die sich vorstellete, daß sie auf einmal in eine andere und morgenländische Gegend versetzt wäre«. >6 Das war der Vorwurf orientalischer Despotie. Indirekt hatte sich Struensee vertraulich dazu sogar bekannt. In einem Brief an seinen Freund Enevold Brandt führte er 1771 aus, daß »Furcht das einzig richtige Mittel ist zur Heilung eines entnervten, schwachen Staates mit einem intriganten Hof und Publikum und einem Herrn von schwachem Ansehen und gleichem Wan-

i6

Schriften, die in Sachen des ehemaligen Grafen Johann Friedrich Struensee, bey der königlichen Inquisitions-Commißion wider und für ihn übergeben sind; mit der von ihm eigenhändig entworfenen Apologie und dem über ihn gefällten Urtheile. [ o . O . ] 1772, S. 101 f., 109. D e r dänische Text bei: Hansen, Inkvisitionskommissionen ( A n m . 15), Bd. i, S. 212, 219. Die deutsche Ubersetzung des Urteils auch bei: G e o r g Friedrich Jenssen-Tusch: Die Verschwörung gegen die Königin Caroline Mathilde und die Grafen Struensee und Brandt. Leipzig 1864, S. 349 — 367.



Kenten Krüger

kelmut wie sein Volk«.37 Sein Anspruch, daß er niemanden unglücklich gemacht habe, war realitätsfern. Aufklärerische Menschenfreundlichkeit spricht auch nicht aus seinem eben zitierten Bekenntnis. Das Urteil der Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 trifft noch immer zu: »Ein so übel zusammenhangendes Gewebe war leicht zerrissen.«38 Die Reformen Andreas Peter Bernstorffs stellen sich anders dar und sind viel schwerer greifbar, da er für ihre Durchsetzung ein anderes Instrument einsetzte als Struensee. Als Zeiträume kommen das erste Ministerium von 1772 bis 1780 und das zweite von 1784 bis 1797 in Betracht. Insgesamt läßt sich im Vergleich mit Struensee feststellen, daß Andreas Peter Bernstorff vorsichtiger und konservativer war; verpflichtet dem Prinzip der Fürsorge der älteren Policey, was nicht weniger menschenfreundlich sein mußte als Struensees Radikalismus. Auch Andreas Peter Bernstorffs Reformen betrafen die Gebiete Verwaltung, Justiz, Gesellschaft und Wirtschaft. In der Verwaltung, zumindest in der Zentralverwaltung, sah Andreas Peter Bernstorff kein Reformbedürfnis, weil er mit den Behörden, die er gut kannte, zurecht kam und weil diese Behörden keineswegs so ineffektiv arbeiteten, wie Struensee behauptete. Auch kamen im Geheimen Staatsrat gute Beschlüsse zustande. In Schleswig-Holstein verfolgte Bernstorff den sogenannten administrativen Schleswig-Holsteinismus,35 das heißt die Anerkennung der Eigenständigkeit und der unterschiedlichen Tradition der Herzogtümer. Er ließ 1774 die Einrichtung der fortwährenden Deputation als politische Repräsentation der Ritterschaft von Schleswig und Holstein zu — damit gab es unter dem Dach des strikten dänischen Absolutismus eine altständische Institution. Vorsichtig führte Bernstorff eine Angleichung und Vereinheitlichung der Verwaltung in Schleswig und Holstein durch, in deren Verlauf 1793 die Kommunalaufsicht der Zentralverwaltung verschärft wurde.40 Da er für Dänemark nicht zuständig war, betrafen seine Verwaltungsreformen nur die Herzogtümer. Eine ähnliche Einschränkung gilt für den Bereich der Justiz. Auch hier war Bernstorff als Chef der deutschen Kanzlei nur für Schleswig und Holstein tätig. Die Rechtsprechung wurde 1784 neu geordnet. Erb- und Eherecht erhielten 1778, 1779 und 1784 veränderte Fassungen, die allerdings uneheliche Kinder benachteiligten. Mit Aufklärung hatte das wenig zu tun: Bernstorff hegte konservative gesellschaftspolitische Grundauffassungen und verschärfte die Diskriminierung unehelicher Kinder; Struensee — darin 37

Winkle, Struensee (Anm. 24), S. 238. Krüger, »Struensee« (Anm. 24), S. u . 39 Friis,Bernstorffog Guldberg (Anm. 22), S. 136f. 4 ° Christian Ulrich Detlev von Eggers : Denkwürdigkeiten aus dem Leben des königlich dänischen Staatsministers Andreas Peter Bernstorff. Kopenhagen 1800, S. 152 f., 181 ff. 38

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wahrer Aufklärer — hatte sie mildern wollen. Endlich wurde auch die Folter 1796 in Schleswig und Holstein abgeschafft. 4 ' Im Bereich der Gesellschaft brachte Andreas Peter Bernstorff in Dänemark während seiner Tätigkeit in den oberen Finanzbehörden einiges in Gang: 1775 die Gründung einer Witwenkasse, 1778 eine Landesversicherungskasse, 1795 eine Brandversicherungskasse für Kopenhagen. In diesen Versicherungsgründungen kommt klar der Fürsorgegedanke zum Ausdruck: der Staat initiierte eine soziale Sicherung derjenigen, die in Not gerieten; sie wurden nicht den freien gesellschaftlichen Kräften überlassen. In Schleswig und Holstein folgten Bernstorffs gesellschaftspolitische Maßnahmen der Tradition der älteren Policey, etwa das Verbot von Luxus bei Hochzeiten 1774, die Erschwerung der Ehescheidung 1779 und — aus dem gleichen Jahr — die Verordnung zur Entdeckung heimlicher Schwangerschaften. Mit Aufklärung hatte das wenig zu tun. Näher mit Struensee verbunden war die Neuordnung der Armenfürsorge 1776, die das Gemeindeprinzip, die Zuständigkeit der Heimatgemeinden für Hilfsbedürftige verankerte. Eine Verbesserung der Krankenfürsorge gehörte ebenfalls zum Reformprogramm. 41 Bernstorff machte sich auch um den Ausbau der Universität Kiel verdient. Seit 1774 war es Pflicht aller höheren Beamten, mindestens zwei Jahre in Kiel studiert zu haben. Daraus wurden die haushaltsrechtlichen Konsequenzen gezogen: der Etat der Universität verdoppelt und viele neue Stellen geschaffen; eine dänische Professur gab es von 1781 an. Studenten sollten dort hauptsächlich lernen; man verlangte Führungszeugnisse von ihnen und verbot 1775 allgemein die Störung der Ordnung, im besonderen die beliebten Hazardspiele. Der politisch gewollte Schwerpunkt der Universität Kiel lag damit auf der Erziehung, nicht auf der Wissenschaft. 4J Aage Friis will darin nichts Fortschrittliches sehen und spottet über die erstrebte »spießbürgerliche« Moral. 44 Selbst wenn unleugbar Bernstorffs gesellschaftspolitischer Konservatismus auch gegenüber der Universität zum Tragen kam, wird man zugestehen, daß die von ihm gewünschte Erziehung zur Tugend ein aufklärerisches Ziel darstellte. Ganz deutlich verband Bernstorff Hoffnungen der Aufklärung mit der Einrichtung des Lehrerseminars in Kiel 1781. Die Absolventen sollten für eine Hebung des Bildungsstandes der Bevölkerung, auch und gerade der Bauern, sorgen. Die Ritterschaft veranlaßte Bernstorff, dem Seminar 10 000 Reichstaler Zuschuß zu bewilligen. Scharf wandte er sich gegen unwillige 41

Ebd., S. 184. Friis., Bernstorff og Guldberg (Anm. 22), S. 152. * Eggers,Denkwürdigkeiten (Anm. 40), S. 145, 157, 187 — 196. 4 ' Ebd., S. 136—158, 195. Friis,Bernstorff og Guldberg (Anm. 22), S. 136 — 144. 44 Ebd., S. 146. 4

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Kritiker wie Detlev Rantzau von Oppendorf und bekannte sich in diesem Zusammenhang z u m Begriff »éclairer« — aufklären. 4 5 Im Bereich der Wirtschaft w a r Bernstorff — seit 1768 Erster Deputierter der General-Zollkammer und Zweiter Deputierter des Kommerz-Kollegiums — zunächst durchaus Merkantilist. D i e neue Zollrolle von 1769 w a r klar protektionistisch. In seinem Ersten Ministerium setzte er sich 1773 — als Mitglied der Ober-Steuer-Direktion — für die Verstaatlichung der Assignations·, Wechsel- und Leihbank ein, des wichtigsten Kreditinstituts D ä nemarks. Im gleichen Jahr befürwortete er auch die Verstaatlichung der Lotterie, und z w a r aus fiskalischem Interesse, um den Staatshaushalt zu sanieren. A l s er 1784 Außenminister geworden war, förderte er den Handel indirekt durch seine Außenpolitik und formulierte das berühmte Prinzip: Vollkommene Unabhängigkeit, Ruhe des Nordens, intime Freundschaft mit Rußland und den Mächten, die diesem System beitreten, allgemeine Freundschaft mit den anderen, von unserer Seite gesichert durch ehrenvollstes Auftreten, der Wunsch nach Ausdehnung unseres Handels, ohne Verletzung unserer Rivalen. Das ist die Grundlage aller Pläne und Vorhaben. 46 H i e r ist daran zu erinnern, daß Bernstorff zu den Initiatoren des SchleswigHolstein Kanals gehört. 4 7 D e r Beschluß über den Bau fiel 1774. In seinem Zweiten Ministerium ging Bernstorff allmählich zur Förderung der W i r t schaft nach liberalen Prinzipien über: 1786 wurden Getreide- und Viehhandel sowie die E i n f u h r von R o h z u c k e r freigegeben. A l l e Seestädte erhielten

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»Die Einlassung des Grafen Rantzau Oppendorf gehört zu jenen, die ich in meinem Leben gesehen habe, von denen ich wünschte, sie seien nie gemacht worden. Neid und Mißtrauen sind die Quelle, aus denen er seine Ideen schöpfte. Alles dreht sich im Grunde um das Prinzip, daß es leichtfertig und gefährlich ist, die leibeigenen Bauern zu sehr aufzuklären (éclairer). Man wird darin übereinstimmen, daß die Absolventen des Lehrerseminars besser unterrichten werden und daß gegenwärtig die Untertanen des Grafen Rantzau im allgemeinen weder lesen noch schreiben können. Es ist durchaus wahr, daß die für Bauern notwendigen Kenntnisse weniger zahlreich sein können und müssen als die für Menschen in den meisten anderen Klassen (classes). Aber Gott will, daß man dafür bürgen kann, daß die für sie unverzichtbaren Kenntnisse ihnen nicht fehlen durch Schuld ihrer Herren oder der Regierung! Diese unbestreitbare Wahrheit, daß das Glück eines Staates — das heißt die moralische Vollkommenheit seiner Einwohner, der Gehorsam gegenüber den Gesetzen und die Nächstenliebe — zu einem großen Teil von der Erziehung abhängt, ist viel weniger bekannt, als sie es sein sollte. Sonst wäre es unmöglich, daß sie ebenso vernachlässigt wie oft völlig vergessen wird, wie es der Fall ist«. Andreas Peter Bernstorff an Ditlev Reventlou aus Kopenhagen am 4. Mai 1779. In: Friis, Bernstorffske Papirer (Anm. 21). Bd. 3, S. 595 f.

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Friis,Bernstorff og Guldberg (Anm. 22), S. 40 — 49, Zit. S. 49. Aage Rasch:Ejderkanalen. Apenrade 1978 (Skrifter, udgivet af Historisk Samfund for Senderjylland. 49).

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1793 das Recht auf Lagerung von Importwaren, so daß das Monopol Kopenhagens als Stapelstadt des Reiches verschwand. 4 8 Die umrißhafte Skizze der von Struensee und Bernstorff in Gang gebrachten Reformen ist zu ergänzen durch eine Betrachtung der dänischen Agrarreformen im Zeitalter der Aufklärung. Dänemark war ein Agrarland und ein Agrarexportland. Im Lauf des 18. Jahrhunderts entwickelte sich eine glänzende und aufsteigende Agrarkonjunktur, auf der einen Seite bedingt durch die Knappheit an Nahrungsmitteln aufgrund starker Bevölkerungsvermehrung überall in Europa, auf der anderen Seite begleitet von steigenden Preisen, aber auch steigenden Gewinnmöglichkeiten. Alle Zeitgenossen wußten, daß die Landwirtschaft lange nicht so produktiv war, wie der Markt es erforderte und wie die Bodengüte es eigentlich zuließ. Probleme, die Reformen geradezu herausforderten, bestanden einmal in der Agrarwirtschaft, zum anderen in der Agrarverfassung. 4 9 In den Dörfern ergab sich mangelhafte Produktivität aus der Mehrfelderwirtschaft, bei der Teile der A c k e r f l u r ständig brach lagen, und aus der nur als schlechte Weide genutzten Allmende. Die Agrarverfassung, so meinten die Kritiker, führte zu Unordnung und Faulheit. Durch Gemenglage und Flurzwang konnten Feldbestellung und Ernte nur von allen Bauern gemeinsam zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden; für individuellen Leistungswillen gab es da keinen Raum. Feudale Abhängigkeiten mit vielfältigen Pflichten — wie Frondiensten, Abgaben und Zehnt —, dazu staatliche Lasten, insbesondere Steuern, verringerten den bäuerlichen Leistungswillen noch weiter. Die Güter bewirtschafteten größere Flächen, aber hier bestand die Tendenz zu extensiver Nutzung, zumal die für den Betrieb erforderlichen Frondienste häufig unwillig geleistet wurden. Verfassungsrechtlich hatten die Güter ein umfassendes System der Grund- und Gutsherrschaft ausgebildet und übten viele staatliche Funktionen in Rechtsprechung, Besteuerung, Militär und Bildung aus. Sie waren Staaten im Staat und dabei wirtschaftlich nicht maximal produktiv. Allgemein erkannte man die Notwendigkeit und Nützlichkeit von Reformen an. Bereits seit 1755 war f ü r diesen Bereich Pressefreiheit eingeführt; und als Forum öffentlicher Diskussion dienten das von Erik Pontoppidan herausgegebene Danmarks og Norges 0konomiske Magazin und Jens Schiel48

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Christian Degn: »Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1773—1830«. In: Geschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 6. Neumünster i960, S. 163 — 398, hier S. 197f. Claus Bjern: Bonden, Herremand, Konge. Bonden i ιγοο-tallets Danmark. Kopenhagen 1981. Aus Anlaß des 200. Jahrestages der Aufhebung des Schollenbandes erscheint eine neue Geschichte der dänischen Landwirtschaft: Dansk Landbrugshistorie. Bde. 1 — 2. Kopenhagen 1988. — Vgl. auch: Degn: »Herzogtümer« (Anm. 48), S. 216 — 265.

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derup Sneedorffs Zeitschrift Den patriotiske Tiskuer. Für die anstehende Lösung der Agrarprobleme gab es mehrere konkurrierende Reformvorstellungen, so daß die Rolle des Staates nicht die eines unbeteiligten Zuschauers bleiben konnte. Vielmehr bedurfte es politischer Entscheidungen auf höchster Ebene, um Reformen, die zum Teil schon durch Eigeninitiative in Gang kamen, landesweit allgemein verbindlich zu machen und gesetzlich abzusichern. Dabei konnten die Interessen der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen sehr unterschiedlich berücksichtigt werden. 50 Im Bereich der Agrarwirtschaft herrschte Einigkeit darüber, daß die Mehrfelderwirtschaft aufzulösen und die Allmenden aufzuteilen seien, um die bebaubaren Flächen zu erweitern und damit die Produktion ansteigen zu lassen. Umstritten freilich war die optimale Betriebsgröße. Einige meinten, Großbetriebe seien am besten: ganz Dänemark sollte nur noch von großen Gütern bewirtschaftet werden, und die Bauern hätten als erwiesen unfähige Landwirte ihre Höfe aufzugeben. Andere befürworteten nach dem Vorbild Englands, mittelgroße Betriebe mit Zeitpacht einzuführen und damit einer kleinen Gruppe leistungsfähiger Bauern den Aufstieg zu mittleren Agrarunternehmern zu ermöglichen. Schließlich gab es viele Stimmen für bäuerliche Familienbetriebe: die Bauern sollten ihre Stellen behalten in ihrer Leistungsfähigkeit soweit gestärkt werden, daß sie grundlegende Reformen in der Agrarwirtschaft erfolgreich durchführen und die Produktion entsprechend den Erfordernissen des wachsenden Marktes steigern könnten. In Sachen der Agrarverfassung war man sich auch einig, daß die grundherrlichen Lasten, Frondienste, Abgaben und Zehnt aufgelöst und mit Geld abgefunden werden müßten. Auch sollten — das war ein wichtiges politisches Anliegen im Interesse des administrativen Monopols des Absolutismus — die Güter als Staaten im Staate verschwinden und ihre staatlichen Funktionen verlieren. In den Dörfern wollte man die überkommene bäuerliche Gemeinschaft auflösen, da sie als Quelle von Unordnung und unwirtschaftlicher Faulheit galt. Zwei Schlagwörter spielten eine wichtige Rolle, an denen sich die Geister schieden: Freiheit und Eigentum. Freiheit bedeutete die Freisetzung von feudalen Abhängigkeiten, Pflichten und auch Rechten; Eigentum wurde gedacht als die freie Verfügung über den agrarisch nutzbaren Boden. Wenn für die Bauern Eigentum nicht zu erlangen war, wollte man wenigstens Erbpacht als eine Ersatzform erreichen. Die Abwägung und letztlich politische Entscheidung betraf die Frage, wer Freiheit und Eigentum und in welchem Maß erhalten sollte, der Gutsherr oder der Bauer.

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° Krüger, »Absolutismus« (Anm. 1), S. 188 — 191.

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Die Reformen dauerten Jahrzehnte. Sie kamen mit der Diskussion seit 1755 in G a n g ; der erste Schritt von staatlicher Seite aus w a r die Zulassung der A u f l ö s u n g der alten Feldgemeinschaften im Jahr 1758; und als Krönung gilt im allgemeinen die A u f h e b u n g des Schollenbandes von 1788 — häufig etwas mißverständlich übersetzt als A u f h e b u n g der Leibeigenschaft —, deren A b w i c k l u n g aber bis 1800 dauerte. Gerade in den Agrarreformen gingen Struensee und Andreas Peter Bernstorff unterschiedliche Wege, wiewohl beide Reformen wünschten. Struensee löste im N o v e m b e r 1770 das ältere Generallandwesens-Kollegium auf und ersetzte es durch die personell anders zusammengesetzte Generallandwesens-Kommission. Hatte erstere sich um bäuerliches Eigentum bemüht, s ' setzte die Generallandwesens-Kommission ganz auf die Linie der Freiheit. Struensee folgte hier G e o r g C h r i stian Oeder, der 1770 formulierte: »Die Freiheit [...] fordre ich [für die Bauern], das Eigentum fordre ich nicht«. '* Dahinter stand die Erwartung, wenn der Bauer erst einmal frei sei, könnte er dem Gutsherrn durch Abwanderung entkommen, so daß sich die ländlichen Verhältnisse automatisch und ohne Staatseingriff verbessern müßten. Somit galt als politisches Ziel die Freiheit der Bauern im Sinne der Kontraktfreiheit, während das Eigentum an G r u n d und Boden den Gutsherren zukommen sollte. Die Verfolgung des formalen Prinzips der Freiheit begünstigte klar die Gutsherren, die mit der Verfügung über G r u n d und Boden wirtschaftliche Macht ausüben und da'' Eines ihrer führenden Mitglieder, Henrik Stampe, schrieb: »Soll der Bauer Lust zum Ackerbau haben, soll er weitläufige Arbeiten über sich nehmen, von welchen die Früchte öfters spät und erst nach Verlauf mehrerer Jahren eingerntet werden können, so muss er, wo nicht das Eigenthum doch wenigstens eine hinreichende Sicherheit vor sich haben und vergewisset sein, dass seine saure Bemühungen, so nicht ihm so doch seinen Kindern und Nachkommen zu statten kommen werden«. - Hans Jensen: Dansk Jordpolitik 17¡7 ~ '9'9- Bd. 1: Udviklingen af Statsregulering og Bondebeskyttelse indtil 1810. Kopenhagen 1936 (Skrifter udgivet af Institut for Historie og Samfundsekonomi. 3). Ndr. 1975, S. 62. ' 2 Ebd., S. 95 f. In den Entwurf der Instruktion für die General-Landwesens-Kommission schrieb Oeder: »§ 12. Danach soll dem Bauernstand die ihm nach Naturrecht zukommende Freiheit verschafft werden. Diese Freiheit besteht darin, daß der Pachtbauer in seinem Verhältnis zum Gutsherrn in den Stand eines Vertragspartners gesetzt wird, der bei Übernahme des Pachthofes die Erlaubnis haben muß, Nein zu den Bedingungen des Gutsherrn zu sagen, wenn sie ihm zu schlecht erscheinen. Das heißt [der Pachtbauer muß die Möglichkeit haben], seinen Geburtsort zu verlassen und bessere Bedingungen anderswo zu suchen. [...] § 13. Wäre die Sache schon auf diesem Fuß, wären Vorschriften zu Regelung der Frondienste unnötig; sie würden sich von allein regeln, und die Regierung hätte es bei diesen wie bei allen anderen Verträgen nicht nötig, ihre Autorität einzusetzen, außer wenn es von einer der vertragschließenden Parteien bei ausbleibender Erfüllung des Vertrages verlangt würde«. J. A. Fridericia (Hrsg.): Aktstykker til Oplysning om Stavnsbaandets Historie. Kopenhagen 1888. Ndr. 1973, S. 248 ff. — Poul Thestrup (Carl Christensen): »Georg Christian Oeder«. In:Dansk Biografisk Leksikon. Bd. 13. Kopenhagen 3. Aufl. 1983, S. 636 ff.

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mit die bäuerliche Freiheit wertlos machen konnten. Aber das war der gesellschaftliche Bereich, in den Struensee ja nicht eingreifen wollte. In scheinbarem Widerspruch hierzu verkündete Struensee im Februar 1771 eine Frondienstverordnung, welche die Frondienste nach Tonnen Hartkorn — dem steuerpflichtigen Landbesitz — ansetzte und damit begrenzte. Doch sollte diese Ordnung ausdrücklich nur bis zur Einführung der Freiheit gelten; sie war also als eine Ubergangsregelung gedacht, die mit der Aufhebung des Schollenbandes und damit dem Beginn der formalen Freiheit ihr Ende finden sollte. Der entsprechende Gesetzesvorschlag ging im August 1771 an das Kabinett," ist dort aber unbearbeitet liegengeblieben. Struensee stürzte, bevor er die Entscheidung fällen konnte, und man mag sich fragen, ob das nicht für den dänischen Bauernstand ein Glück war, denn die Durchsetzung des formalen Prinzips der Kontraktfreiheit ohne Bauernschutz hätte wahrscheinlich, wie in England, für viele Bauern zum Verlust ihrer Höfe geführt. In den von Andreas Peter Bernstorff geleiteten Agrarreformen kam weniger das Prinzip der Freiheit als das der Fürsorge zum Tragen, dessen Wurzeln in ältere, voraufklärerische — letztlich feudale — Denkweisen zurückreichten. Am Beginn seines ersten Ministeriums mußte Bernstorff zunächst die teilweise Rücknahme der eingeleiteten Agrarreformen mit tragen. Der Wiedereinführung ungemessener Frondienste im August 1774 sowie der Erhöhung der Militärdienstpflichten der Bauern in September 1784 54 stimmte er aus militärpolitischen Gründen zu: die nicht durch geworbene Söldner, sondern durch bäuerliche Miliz verstärkte Armee ließ sich nicht offensiv einsetzen und garantierte eine defensive Außenpolitik. " Ganz bewußt wollte er den absoluten König in seiner Entscheidungsfreiheit begrenzen und nahm höhere Lasten für die Bauern erst einmal in Kauf. Agrarreformen, deren Notwendigkeit er sah, mußten zurückstehen. Die Landwirtschaft war Andreas Peter Bernstorff seit seiner Kindheit gründlich vertraut. Er hatte ein inniges Verhältnis zur Natur — auch in ihrer durch bäuerliche Arbeit gestalteten Form —, verehrte sie und sah Gott in ihr. Daraus folgend, bekannte er sich schon 1762 in einer Abhandlung »Über Pflichten eines Gutsbesitzers« zur umfassenden Verantwortung des Grundherrn für seine Untergehörigen: er habe ihr Glück zu befördern und !3

Fridericia, Aktstykkcr (Anm. 52), S. 252 f. Friis, Bernstorff og Guldberg (Anm. 22), S. 148. - Jensen, Jordpolitik (Anm. 51), S. 104 f. — Edvard Holm: Kampen om Landboreformerne i Danmark i slutningen af 18. Aarhundrede (177J —1791)· Kopenhagen 1888. Ndr. 1974, S. 27. " Er schrieb am 9. April 1774 an Ditlev Reventlou: »Es ist wahr, daß sie [diese Truppen] absolut defensiv sind und daß es den Verlust des Landes bedeuten würde, wenn einer unserer Könige damit eine Offensive unternähme«. — Friis, Bernstorffske Papirer (Anm. 21), Bd. 3, S. 280. 54

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durch Einstellung tüchtiger Pastoren und Lehrer für ihre moralische Besserung zu sorgen.56 Hier verbanden sich traditionelle Grundsätze der Fürsorge mit Zielen der Aufklärung. Er nahm die Gelegenheit wahr, sie in die Praxis umzusetzen, als er 1764—1767 für seinen Onkel, Johann Hartwig Ernst Bernstorff, die Güter und Dörfer Gentofte, Vangede und Ordrup am Stadtrand von Kopenhagen verwaltete. Hier führte Andreas Peter erste umfassende Agrarreformen in Dänemark durch. Zunächst ließ er den Zustand aller Höfe untersuchen. Dann wurden — durch vereinbarte Geldzahlungen — die Frondienste abgelöst, gleichzeitig die Feldgemeinschaft mit ihrem lästigen Flurzwang aufgelöst und die Allmenden aufgeteilt. Das erforderte eine Neuvermessung der Flächen, die mit der Neuverteilung durch das Los 1765 und 1766 zum erfolgreichen Ende kam. Es folgte die Aussiedlung der Gehöfte aus den Dörfern, so daß die Bauern inmitten ihrer neuen Acker wohnten und möglichst kurze Wege hatten. Neue Straßen — etwa der heutige Bernstorffsvej — wurden für den Verkehr angelegt, ebenso neue Gräben für die Entwässerung des Gebietes. Schließlich ließ Bernstorff eine Kommunalverwaltung einrichten, die — mit eigener Kasse ausgestattet — für Schulwesen und Armenfürsorge sowie für Instandhaltung der "Wege und Wasserläufe zuständig war. 57 Diese privaten Agrarreformen der Bernstorffs auf ihren Gütern hatten eine nicht zu unterschätzende öffentliche Wirkung. Man konnte sie ja leicht auf einem Spaziergang von Kopenhagen aus in Augenschein nehmen. Sie wurden auch publizistisch begleitet durch Beschreibungen, wie etwa die des Landmessers Torkel Baden, der die Reformen selber mit durchgeführt hatte. Noch 1783 erschien eine Darstellung dieser privaten Agrarreformen der Bernstorffs, gewiß in politischer Absicht. " Für unseren Zusammenhang ist hervorzuheben, daß die Bauern der Bernstorffs als erstes Recht auf Eigentum oder Erbpacht erhielten, also Eigentum vor Freiheit. Insgesamt waren die Reformen ein großer Erfolg, weil die Bauern wirtschaftlich in die Lage versetzt wurden, sich zu verbessern, mehr zu verdienen, ihren Fleiß so einzusetzen, daß für alle Beteiligten — Bauern, Grundherren, Staat — mehr herauskam als im alten System der Gutsherrschaft.

57 Ebd., S. 314 ff. - Aage Friis: »Andreas Peter Bernstorff og >den nye Indretning i Landbruget< paa Bernstorff«. In: Historisk Tidsskrift, Tillasgshasfte til 8. R., 4. Bd. 1913, S. 9 8 - 1 1 4 . !8 Torkel Baden : Die neue Einrichtung in der Landwirtschaft auf Bernstorff Kopenhagen 1774. Thorkild Kjaergaard: »Torkel Baden«. In: Dansk Biografi.sk Leksikon. Bd. 3. Kopenhagen 3. Aufl. 1979, S. 349 f. " N . Hammelef: Kort Beskrivelse over Forfatningen paa Godset Bernstorff Kopenhagen 1783. — Holm, Kampen (Anm. 54), S. 45.

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Die vor Struensee begonnenen und von ihm etwas weiter geführten Agrarreformen kamen nach seinem Sturz zwar nicht ganz zum Stillstand, aber von Seiten des Staates bewegte sich sehr wenig. Erst als Kronprinz Friedrich — später Friedrich VI. — 1784 entscheidenden Einfluß auf die Regierungsführung nahm, kam neuer Schwung in die Angelegenheit. 60 Die Kabinettsregierung wurde beseitigt; fortan fielen alle wichtigen Entscheidungen wieder im Staatsrat. Initiativen der Zentralbehörden fanden dort ernsthafte Beachtung, wurden eingehend diskutiert und im Rahmen des geltenden Rechts entschieden. Absolutismus und Aufklärung ließen sich im dänischen Staatsrat vereinbaren. Selbst wenn sich seine Verhandlungen wegen schlechter Uberlieferung nicht mehr im einzelnen nachvollziehen lassen, gibt es keinen Zweifel, daß er die Reformarbeit wesentlich voranbrachte. Reformfreunde gaben den Ton an, darunter Andreas Peter Bernstorff, obwohl er als Außenminister und Chef der Deutschen Kanzlei nicht direkt mit dänischen Angelegenheiten befaßt war. 61 Institutionelle Träger der Agrarreformen waren die Kleine Landkommission von 1784, die sich — sozusagen als Modell — auf die königlichen Amter Kronborg und Frederiksborg konzentrierte, und die Große Landkommission von 1786, welche die Reformen landesweit durchsetzte und gesetzlich absicherte.62 Hier spielten Christian Detlev Reventlow modernen< Texten zusammengestellt werden. Dort haben angehende Studenten Proben vieler der neuen Genres

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und Stilarten gelesen. Voltaires Tragödie Mérope und Boissys Komödie Der Franzose in London wurden für die Schriften für 1764 übersetzt. Dort standen Tullins große Preisgedichte (1761 und 1764) und Stenersens Ode auf die Junkers-Quelle (1769). Am wichtigsten von allen aufgenommenen Stücken waren Johannes Ewalds Lykkens Tempel (»Tempel des Glücks«, 1764) und die dramatischen Meisterwerke Balden Ded (»Baldurs Tod«, 1774) und Fiskerne (»Die Fischer«, 1779). Es lag vor allem an Guldbergs entschlossener Schulpolitik, daß die SoreAufklärung und die »Geschmacksgesellschaft« einen so ausgedehnten und andauernden Einfluß bekommen sollten. Die Ritterakademie zu Sore stellte den Versuch dar, eine neue Art der Ausbildung zu schaffen, in der der gelehrte Unterricht zugunsten des Umgangs, der Urteilskraft und des Handlungsvermögens eine geringere Rolle spielte. Statt Pastoren und Schullehrer wurden Staatsmänner und Diplomaten ausgebildet. Dahinter stand wohl das französische Ideal des l'honnête homme, das mit Montaigne im 16. Jahrhundert aufkam, aber verfeinerte Formen im Hof- und Salonleben des 17. Jahrhunderts annahm. (Man sollte einmal eine größere Anzahl Akademisten beschreiben, die später einen bedeutenden Platz oder auch einen geringeren in der dänischen Geschichte erhielten.) Der Kontrast zu Kopenhagens Universität fällt immer mehr ins Auge. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich diese Universität mit immer größerer Solidität zu einer Examensschule mit dem präzisen Ziel, künftige Beamte und junge Leute auszubilden, die in freien Berufen tätig sein wollten. Es gab zwei Hauptetappen, die mit den Verordnungen von 1732 und 1788 gekennzeichnet sind. Wir fragen, wie man in Holbergs Jugend, also um 1700, Humanist, Theologe, Arzt oder Jurist wurde und wie das im Lauf des Jahrhunderts vor sich ging. Zuerst erinnern wir daran, daß das Zulassungsexamen (also das Abitur), das examen artium, an der Universität abgelegt werden mußte, und zwar bis 1835. Von den Schulen wurden die jungen Leute dimittiert, also zur Universität »abgeschickt«. Um allgemeines kulturelles Wissen bei den Studierenden zu sichern, hatte Griffenfeld durch eine Verordnung von 1675 das examen philosopbicum eingeführt. Dieses umfaßte, als Holberg es im Frühjahr 1704 bestand, die drei alten Sprachen Latein, Griechisch, Hebräisch, die Basisfächer Logik und Metaphysik, Ethik, Elementares aus den Naturwissenschaften, Arithmetik, Geometrie und Astronomie samt Geographie, wobei vielleicht noch etwas Geschichte hinzukam. 1732 wurde Geschichte selbständiges Examensfach. Guldberg reformierte 1775 das examen artium et philosopbicum. Die gelehrten Sprachen, Geschichte, Geographie etc. wurden mit dem Unterricht der Lateinschule abgeschlossen, und das neue Philosophikum umfaßte nur Mathematik und

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Physik samt theoretischer und praktischer Philosophie. Diese Ordnung wurde durch die Verfügung von 1788 bestätigt. Für Studierende zu Holbergs Zeit, die sich in der Philosophischen Fakultät qualifizieren wollten, um Professor der Fakultät zu werden, führte der Weg über die Bakkalaureus- und Magistergrade. Hierbei waren die Leistungen bei den Disputationen am wichtigsten, die zur öffentlichen Promotion führten. Holbergs Erasmus Montanus ist auf seine Bakkalaureuswürde stolz, Stygotius in Jacob von Tyboe noch mehr auf seinen Magistergrad. Eine für die Fakultät wesentliche Neuordnung geschah durch Guldbergs Verfügung von 1775, womit eine besondere Prüfung für Lehrer der Lateinschule eingeführt wurde, ein examen philologicum. Das »Große Philologikum« umfaßte außer den alten Sprachen besonders Geschichte und Geographie. Es wurde im Februar 1777 etwa von K. L. Rahbek und P. A. Heiberg abgelegt, bestand aber nur bis 1788, als einem allgemeinen Schulamtsexamen die Philosophie sowie »die natürliche und offenbarende Theologie« hinzugefügt wurden, ferner eine praktische Prüfung in Didaktik: man sollte die Kandidaten »mit ein paar Schülern der Schule gewisse vorgelegte Stücke durchgehen lassen, teils von den Autoren, teils von vorbemeldeten Wissenschaften«. (Stiftungsurkunde, § 24) Noch 1788 hatte die Philosophische Fakultät ihre Schwächen in den modernen Sprachen, in erster Linie im Französischen. 1750 hatte Angeviel de la Beaumelle die königliche Ernennung zum Professor für Französisch erhalten, jedoch ausdrücklich ohne Verbindung zur Universität. 1754 bekam Briand Crèvecoeur dieselbe Bestallung; gleichfalls Hans von Aphelen (sowohl für Französisch als auch für Deutsch) als Adjunkt an der Universität. Professor wurde von Aphelen 1759. Er starb 1779, und die Stellung als professor linguae gallicae ging 1783 an Etienne de Fumars über. In der Stiftungsurkunde von 1788 wurde keine feste Professur für lebende Sprachen bestimmt. Aber es wurde verfügt, daß Unterricht in den lebenden Sprachen mit zugehöriger Literatur angeboten werden sollte, ohne daß aber irgendein Sprachgebiet genannt wurde. Nach den beiden Verordnungen von 1732 und 1788 besaßen die vier klassischen Fakultäten eine beinahe vollständige Institutionalisierung der Amts- oder Staatsexamina. Man kann wohl sagen, daß auch die Philosophische Fakultät 1788 kraft ihres eigenen Staatsexamens den Rang einer selbständigen Fakultät auf der Ebene der drei alten »höheren« Fakultäten bekommen hatte. Mit der kommenden Entwicklung der Humaniora im Zeitalter der Romantik war der Philosophischen Fakultät eine große Zukunft gesichert. Die neuen Verpflichtungen der Lateinschule gegenüber der Muttersprache bewirkten, daß K. L. Rahbek 1790 zum außerordentlichen Professor für Ästhetik ernannt wurde, was er als dänische Literatur verstand, besonders die neuere, während sich Rasmus Nyerup als außerordentlicher

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Professor für Literaturgeschichte von 1796 an der älteren annahm. 1802 wurde Thomas Christopher Bruun (1750—1834) als außerordentlicher Professor für Englisch an der Universität angestellt. 1732 wurden unter dem Einfluß des Pietismus im theologischen Staatsexamen die Ansprüche an die Studenten in der Kenntnis der Bibel in den Originalsprachen und der Kenntnis der Kirchengeschichte angehoben. Außerdem sollte der theologische Kandidat jetzt eine Probepredigt halten. — 1788 wurde hervorgehoben, daß in allem examiniert werden sollte, was da »erforderlich ist, gut einem geistlichen Amt vorzustehen«. Daß »Dimis- oder Probepredigt« angeordnet wurde, war von großer Bedeutung. Das Kollegium der Fakultät bestand damals aus vier ordentlichen Professoren und einem außerordentlichen. Die damals herrschende rationalistische Haltung wurde von der Fakultät bis tief in das 19. Jahrhundert bewahrt. Die Examina jeder Fakultät haben ihre eigene Geschichte. Eine Medizinalverordnung von 1672 hatte festgesetzt, daß nur legitime promoti medici berechtigt sein sollten, als Ärzte zu praktizieren. Und »rechtmäßig promoviert« bedeutete hier den Doktorgrad bekommen zu haben. Aber bereits vor 1732 wurden auch Mediziner ohne Doktorgrad als Arzte zugelassen, allerdings nach einem vor der Fakultät abgelegten gesonderten Examen. 1732 wurden die Modalitäten normiert, indem die Stiftungsurkunde ein medizinisches Examen festsetzte — als Prüfung pro gradu benannt —, um den Doktorgrad zu erlangen, wobei der Kandidat eine Dissertation öffentlich verteidigen sollte. Bei weitem nicht alle schlossen mit einem Disput ab. — 1788 wurde dann deutlich bestimmt, daß das medizinische Examen ein Staatsexamen war, das einem Kandidaten das Recht zum Praktizieren gab. Die Medizinische Fakultät, die für viele Bereiche in den Naturwissenschaften Verantwortung trug, bekam einen inspirierenden Lehrer, als der Deutsche Christian Gottlieb Kratzenstein die 1753 eingerichtete Professur für Physik und Chemie — Physices experimentales — übernahm. Er wurde aus St. Petersburg nach Kopenhagen berufen. Es gehörte zu Kratzensteins Verdiensten, experimentell nachgewiesen zu haben, welchen Nutzen elektrische Behandlung in den ärztlichen Wissenschaften haben konnte. Die Medizinische Fakultät befand sich ansonsten über lange Zeit im 18. Jahrhundert in einer Periode des Niedergangs. Dagegen konnte das Hospitalwesen verbessert werden. 1756 wurde das Königliche Friedrich-Hospital (jetzt Kunstindustriemuseum) gegründet, 1764 das Allgemeine Hospital in der Amaliegade (1896 abgerissen), 1787 die Chirurgische Akademie (jetzt Medizinhistorisches Museum). Nach der Reorganisation der Universität im Jahre 1788 wurde die Stagnation der Medizinischen Fakultät überwunden, unter anderem dadurch, daß sechs außerordentliche Professoren angestellt werden konnten, die nicht Mitglieder der Fakultät waren.

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F. ]. Billeskov Jansen

Jura ist ein sehr altes Universitätsfach in Dänemark. Das Wort jura, Plural des lateinischen jus, läßt erkennen, daß es seit Olims Zeiten zwei Arten von Recht gab, das weltliche und das geistliche. Im Mittelalter mußten die leitenden Prälaten beides beherrschen, jus utrumque, Römisches Recht und Kanonisches Recht. Nach der Reformation wurde Jura, was Melanchthon zu verdanken ist, näher mit der Ethik verbunden, und im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts wurden als theoretische Basis für allgemeingültige Rechtsregeln Natur- und Völkerrechtsideen entwickelt. Die Universität Kopenhagen hatte immer eine Juristische Fakultät. Nachdem unter dem Absolutismus 1683 Dänemarks Rechtsvorschriften in Christians V. Dänischem Gesetz gesammelt worden waren, wurde es für den Jura-Professor der Universität zur wichtigsten Aufgabe, die Übereinstimmung der dänischen Gesetzgebung mit dem von Christian Reitzer (1665 — 1736) entworfenen Naturrecht nachzuweisen. 1732 wurde eine weitere Professur für Jura eingerichtet und durch eine Verordnung von 1736 ein examen juridicum eingeführt. Das bedeutete noch nicht, daß dieses Examen für Richter, Prokuratoren oder andere juristisch tätige Personen verlangt wurde. Allmählich aber setzte sich in der Praxis die Forderung eines juristischen Examens für höhere juristische Ämter durch, was 1788 dann nachdrücklich betont wurde. Doch schon 1736 spürte man die Notwendigkeit, das Niveau der juristischen Praxis anzuheben, auch in dem größeren Kreis derjenigen, die ohne Vorbereitung durch die Lateinschule das Gesetz auslegen durften. Daher wurde die Verordnung zusammen mit einem juristischen Examen für Nichtstudierte erlassen, das bis 1936 in Kraft war. »Und darf niemand«, besagt die Stiftungsurkunde von 1788, »irgendein Richteramt erhalten, auch kein Polizeimeister- [d. i. Polizeipräsidenten-] oder Vogtsamt in Norwegen, ohne zumindest das dänische juristische Examen bestanden zu haben.« — Mit ihrem Examen konnte sich die Juristische Fakultät gegen die Konkurrenz der Ritterakademie Sora durchsetzen. Trotz des zeitbedingten großen Interesses an >Naturalproduktion< und verwandten Gebieten bekam die Universität erst 1762 einen Lehrstuhl für Ökonomie, der bald vakant und dann 1765 mit Morten Thrane Brünnich (1737 — 1827) wiederbesetzt wurde, der Ökonomie und Naturgeschichte lehren sollte. Im Laufe des Jahrhunderts wurden vergebliche Versuche unternommen, die Naturwissenschaften in einer besonderen Fakultät zusammenzufassen. Georg Christian Oeder (1728 — 1791), der von 1754 an Professor für Botanik an Amalienborgs Botanischem Garten war, stellte 1762 diese Forderung, zusammen mit Peter Ascanius, Professor für Naturgeschichte am Naturalien- und Haushaltungskabinett von Charlottenborg, das 1759 eingerichtet worden war. Eine bescheidene Vermehrung der Lehrstühle

Universität Kopenhagen und Ritterakademie Sore

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f a n d d o c h n o c h v o r 1800 statt. A b e r erst seit Beginn des 19. J a h r h u n d e r t s e r h i e l t e n die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n in D ä n e m a r k einen selbständigen P l a t z i m R a h m e n der U n i v e r s i t ä t . D i e m a t h e m a t i s c h - n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e Fak u l t ä t w u r d e 1850 Realität, als H a n s C h r i s t i a n 0 r s t e d , d e r E n t d e c k e r des E l e k t r o m a g n e t i s m u s , die G r ü n d u n g d e r P o l y t e c h n i s c h e n L e h r a n s t a l t v e r a n lassen k o n n t e .

Hauptquellen Kebenhavns Universitet 1479 —1979. Kopenhagen 1979 ff., geplant in 14 Bdn. IAlmindelig historie (ungedr.); Birgit Legstrup: Kebenhavns Universitet 17)2 - 17SS. Sore. Klosteret. Skolen. Akademiet gennem Tiderne. ζ Bde. Udgivet af Soransk Samfund. Kopenhagen 1923 — 1931. K. F. Plesner: Det smagende Selskab. Selskabet til de skienne og nyttige Vtdenskabers Forfremmelse 1759 — 19S9· Kopenhagen 1959. Ole Β. Thomsen : Embedsstudiernes universitet. En undersegelse af Kebenhavns universitets fundats af ¡788 som grundlag for vores nuvtsrende struktur. With a Summary in English. i Bde. Kopenhagen 1975. Dansk Biografi.sk Leksikon. 3. Ausg. 16 Bde. Kopenhagen 1979-1984.

Dieter Lohmeier D i e Universität Kiel als Stätte der A u f k l ä r u n g

Der Zweck dieses Beitrags zum Symposion über den Dänischen Gesamtstaat als Zentrum der Aufklärung soll es nicht sein, neue Forschungsergebnisse zur Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel als einer Stätte der Aufklärung vorzulegen, sondern zusammenzufassen und nachzuweisen, was in den letzten Jahrzehnten von anderen erarbeitet worden ist. Das erklärt sich im wesentlichen aus der Tatsache, daß die landesgeschichtliche Forschung in Schleswig-Holstein sich nach dem Zweiten Weltkrieg von der Verengung ihres Horizonts auf den Nationalitätenkampf des 19. Jahrhunderts und auf dessen Parteilichkeit freigemacht hat und daß Alexander Scharff, 1 von 1952 bis 1972 Inhaber des Kieler Lehrstuhls für Schleswig-Holsteinische und Nordische Geschichte, viele seiner Schüler und sein Amtsnachfolger Christian Degn in ihren Arbeiten gerade der Blütezeit des übernationalen und reformfreudigen Gesamtstaats um 1800 besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Außerdem hat die 300. Wiederkehr der Gründung der Universität im Jahre 1965 der Erforschung der Universitätsgeschichte einigen Auftrieb gegeben,2 und auch dabei hat gerade DBL

=

Dansk Biograftsk Leksikon. 1984

3. Ausg. 16 Bde. Kopenhagen 1979 -

Gesch. CAU

=

Geschichte der Christian-Albrechts-Universität

SHBL

=

Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon

Kiel (s. A n m . 2) [Bd. 6 ff.: Biogra-

phisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck], Bd. 1 f f . N e u münster 1970 f f . SSHKg

=

Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische

ZSHG

=

Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische

Kirchengeschichte Geschichte

1

Vgl. die Sammlung seiner A u f s ä t z e : Schleswig-Holstein in der deutschen und nordischen Geschichte. Hrsg. von M a n f r e d Jessen-Klingenberg. Stuttgart 1969, sowie den N a c h r u f Jessen-Klingenbergs: »Alexander Scharff«. In: ZSHG m (1986), S. 9— 18.

2

Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665-1965. 6 Bde. N e u m ü n s t e r 1965 f f . Bisher erschienen: Bd. 1, 2: Die Christian-Albrechts-Universität in preußischer

70

Dieter Lohmeier

das Zeitalter der Aufklärung eine gewichtige Rolle gespielt, weil die Universität im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Grunde zum zweiten Mal gegründet und aufgebaut worden ist, so daß diese Phase ihrer Geschichte auch im Zeichen der Erinnerung an die erste Gründung nicht aus dem Blickfeld geraten konnte. Es gibt also eine recht große Zahl neuerer Arbeiten, die die Universität Kiel als eine Stätte der Aufklärung behandeln, und da sie zudem noch aus den Quellen selbst geschöpft sind, geben sie der weiteren Beschäftigung mit dem Gegenstand eine solide Grundlage. In ihren Anfängen 3 war die 1665 gegründete Universität Kiel die Landesuniversität des Herzogtums Schleswig-Holstein-Gottorf gewesen, und mit diesem zusammen hatte sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Niedergang erlebt. 4 A m Ende des Nordischen Krieges hatte der Herzog seinen Anteil am Herzogtum Schleswig an den zweiten Landesherrn, den König von Dänemark, verloren; schon zuvor hatten sein militärischer Ehrgeiz und die Rivalität mit dem König mehr Mittel verschlungen, als das kleine Territorium eigentlich aufbringen konnte, dann waren Krieg und Besetzung hinzugekommen, und auch seitdem waren wegen der unverändert fortbestehenden politischen Spannungen die Lasten nicht wesentlich geringer geworden, obwohl die Erträge durch den Verlust Schleswigs auf ein Drittel reduziert worden waren. Das änderte sich auch nicht, als Herzog Karl Peter Ulrich 1742 als russischer Thronfolger nach St. Petersburg berufen wurde, denn ihn interessierte in den beiden nächsten Jahrzehnten und auch nach seiner Thronbesteigung als Peter III. allein die Frage, wie er dem König von Dänemark die verlorenen Besitzungen mit Waffengewalt wieder abnehmen

3

4

Zeit. — Die Baugeschichte der Universität. — Die Universitätsbibliothek (1965); Bd. 2, 2 : Geschichte der Theologischen Fakultät. Vom Beginn der preußischen Zeit bis zur Gegenwart (1988); Bd. 3, 1: Geschichte der juristischen Fakultät 1665 — 1965 (1965); Bd. 4, 1: Geschichte der medizinischen Fakultät 1665 — 1840 (1967); Bd. 5, 1 und 2: Geschichte der Philosophischen Fakultät (1969); Bd. 6: Geschichte der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Landwirtschaftswissenschaften (1968). — Karl Jordan: ChristianAlbrechts-Universität Kiel 1665 — 1965. Neumünster 1965. — Alexander Scharff: Verfall und Wiederaufstieg der Christian-Albrechts-Universität im 18. Jahrhundert. Kiel 1967. - Walter Göbell: Geschichte c.1er Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Tl. I: Von der Gründung bis zum Ende des Dänischen Gesamtstaats. Kiel 1988 (vorhanden in der Landesbibliothek Kiel). Carl Rodenberg und Volquart Pauls: Die Anfänge der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Neumünster 1955. Gottfried Ernst Hoffmann: »Caspar von Saldern und Detlev Reventlou, die Erneuerer der Universität Kiel im 18. Jahrhundert«. In: Fschr. zum 2j5jährigen Bestehen der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Leipzig 1940, S. 30 — 47, bes. S. 32 f. — Olaf Klose und Christian Degn: Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1/21 — 18)0. Neumünster 1960 (Geschichte Schleswig-Holsteins. Bd. 6), hierin Olaf Klose: »Die Jahrzehnte der Wiedervereinigung 1721 —1773«, S. ι —159, über die Universität S. 135 — 138. — Scharff, Verfall und Wiederaufstieg (Anm. 2), S. 5 — 15.

Die Universität Kiel als Stätte der

Aufklärung

könne. 5 D i e Universität verfiel unterdessen äußerlich und innerlich immer mehr, und auch als Zarin Katharina II. 1762 die Macht übernommen hatte, blieben erste Ansätze zu einer R e f o r m zunächst noch wirkungslos. 6 A l s die Christiana Albertina 1765 die 100. Wiederkehr ihrer G r ü n d u n g hätte feiern können, unterließ sie es wohlweislich, denn sie hatte dazu nicht einmal einen brauchbaren, geschweige denn würdigen R a u m . In einem Bericht vom Januar 1765 hieß es: Die academischen Gebäude sind schon seit langer Zeit dergestalt baufällig geworden, daß eine Reparierung derselben unmöglich gewesen. Ja, bei denen beyden größeren Höresälen, dem theologischen und juristischen, ist bereits vor vielen Jahren der würkliche Einsturz erfolget, so daß man sich seitdem des einen übrig gebliebenen Flügels zur Aufbewahrung der Bibliothek und zur Versammlung des academischen Consistorii bedienen, in dem darunter befindlichen kleinen medizinischen Hörsaal aber alle Disputationen und sonsten bey der Academie vorfallende öffentliche Solemnitaeten halten müssen. Aber, so hieß es weiter, auch dieser Teil des Gebäudes w a r inzwischen unbenutzbar geworden. 7 Von den 16 Lehrstühlen waren nur zehn besetzt, und 1767 bestanden die Theologische, die Juristische und die Philosophische Fakultät praktisch jeweils nur noch aus einem Mann. N u r die Medizinische Fakultät w a r besser besetzt, doch fehlten ihr dafür alle Voraussetzungen für praktische Übungen, deren Einrichtung als immer dringlicher empfunden wurde; es gab keine Kranken- und Gebärhäuser, keinen Sektionssaal und keinen Botanischen Garten. Kiel w a r das Schlußlicht unter allen deutschen Universitäten. Kein W u n d e r also, daß die Studenten wegblieben: 1765 immatrikulierten sich im ganzen Jahr nur noch 14, 1766 waren es 17 und 1767 gar nur acht. 8 Dieses Jahr 1767 brachte jedoch die Wende, denn nun Schloß Zarin Katharina II. für ihren noch unmündigen Sohn Paul mit dem König von D ä nemark den provisorischen Tauschvertrag, der dann 1773 in Zarskoje Selo 5

6

7 8

Eckhard Hübner: Staatspolitik und Familieninteresse. Die gottorfische Frage in der russischen Außenpolitik 1741 —1773· Neumünster 1984. Hoffmann, »Caspar von Saldern und Detlev Reventlou« (Anm. 4), S. 34. - Robert Pries: Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716-177j. Neumünster 1955, S. 136 f. — Caspar von Saldern, die treibende Kraft bei der späteren Reform, formulierte seine Kritik mit der ihm eigenen Unumwundenheit: daß bisher »mit keinem hinlänglichen Ernste [...] Hand an die Sache geleget [...] sondern die Landes-Regierung selbst sich mit piis desideriis, discursen und Wünschen von Zeit zu Zeit zu amüsieren Belieben getragen« habe (Hoffmann, »Caspar von Saldern und Detlev Reventlou« [Anm. 4], S. 35). Zit. nach Hoffmann, »Caspar von Saldern und Detlev Reventlou« (Anm. 4), S. 33. Ebd., S. 35. Geringfügige Abweichungen der Zahlen bei Achelis, »Das Biennium« (Anm. 13) erklären sich aus der Tatsache, daß Hoffmann nach Kalenderjahren zählt, Achelis dagegen jeweils von Ostern bis Ostern.

Dieter Lohmeier

seine endgültige Fassung erhielt. Damit wurde nun auch der ehemals Gottorfer Anteil am Herzogtum Holstein königlich, während die jüngere Linie des Gottorf er Hauses, diejenige der Fürstbischöfe von Lübeck in Eutin, mit den Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst entschädigt und wenig später auch noch in den Rang der Herzöge von Oldenburg erhoben wurde. Da unterdessen auch der Heimfall der kleinen Besitzungen vollzogen oder zumindest geregelt war, mit denen die Sonderburger Nebenlinie des Königshauses im 16. Jahrhundert belehnt worden war, befanden sich seit 1773 die Herzogtümer Schleswig und Holstein also wieder ganz im Besitz des Königs von Dänemark, und damit konnte nun die Universität als Landesuniversität beider Herzogtümer dienen. In der Tat hatte man schon seit dem provisorischen Tauschvertrag auf Drängen Caspar von Salderns, des führenden holstein-gottorfischen Beamten, energisch begonnen, sie im Vorgriff auf die endgültige Regelung in diesem Sinne auszubauen, ' und dies wurde nun fortgesetzt im Zusammenspiel zwischen dem Kurator Detlev Reventlow und dem Staatsminister Andreas Peter Bernstorff als dem Leiter der Deutschen Kanzlei, der für die Verwaltung der Herzogtümer zuständigen Kopenhagener Behörde. 10 Das aufklärerische Programm für diese Erneuerung der Kieler Universität hatte die Zarin schon 1769 formuliert, als sie (anstelle des Kurators) ein Kuratelkollegium einsetzte: es sei ihre Uberzeugung, daß das Glück eines Staates der Vollkommenheit näher sei, wenn Wissenschaften und Künste darin blühen und wenn der Staat selbst seinen Söhnen die Mittel darbietet und erleichtert, welche zur Aufklärung des Verstandes, zur Besserung des Herzens, zur Erweiterung der menschlichen Kenntnisse gereichen und welche die Quellen eröffnen, woraus man schöpfen muß, um ein nützlicher Weltbürger zu werden. "

9

10

Hoffmann, »Caspar von Saldern und Detlev Reventlou« (Anm. 4), S. 35 — 40. — Scharff, Verfall und 'Wiederaufstieg (Anm. 2), S. 15 - 20. — »Die Erneuerung der Kieler Universität«. In: Kiel, Eutin, St. Petersburg. Die Verbindung zwischen dem Haus Holstein-Gottorf und dem russischen Zarenhaus im 18. Jahrhundert. Politik und Kultur (Ausstellungskatalog). Heide 1987, S. 97 —102. Aage Friis: Andreas Peter Bernstorff og Ove Heegh Guldberg. Kopenhagen 1899, S. 140 — 146; deutsche Fassung der einschlägigen Teile des Buchs: »Andreas Peter Bernstorff und die Herzogtümer Schleswig und Holstein ( 1 7 7 3 — 1 7 8 0 ) « . In: ZSHG 30 (1900), 5.251 — 336, bes. 291 — 301. — Hans Hejselbjerg Paulsen: »Oplysningstiden i Hertugdemmerne. (Tiden fra ca. 1 7 7 3 - 1 8 1 7 . ) Studier over Kirke- og Skoleforhold i Hertugdemmernes religi0se og nationale Brydningstid«. In: Senderjydske Aarbeger 1933, S. 39 — 100; 1934, S. 1 — 62; 1935, S. 161 — 231; 1936, S. 161 — 224; 1938, S. 1 — 50; über die Universität: 1933, S. 55 — 90. — Hoffmann, »Caspar von Saldern und Detlev Reventlou« (Anm. 4), S. 41 — 47. — Klose und Degn, Die Herzogtümer (Anm. 4), hierin Christian Degn: »Die Herzogtümer im Gesamtstaat 1 7 7 3 — 1 8 3 0 « , S. 161 — 4 2 7 , über die Universität S. 1 8 2 - 1 8 5 . — Scharff, Verfall und Wiederaufstieg (Anm. 2), S. 20 — 23.

" Zit. nach: »Die Erneuerung der Kieler Universität« (Anm. 9), S. 98.

Die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung

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Unter Katharina II. wurde der Etat der Universität 1770 auf 8 360 Reichstaler erhöht, unter dem dänischen König 1775 auf 17600 und 1783 sogar auf 20 800 Reichstaler. 11 Schon 1768 hatte man ein neues Universitätsgebäude beziehen können, und im selben Jahr war eine königliche Verordnung ergangen, wonach alle Akademiker aus den Herzogtümern, die im kirchlichen oder staatlichen Dienst angestellt werden wollten, in Zukunft von den üblichen drei Studienjahren zwei auf der Universität Kiel verbracht haben mußten. ,J Dieses Biennium zeigte sofort Wirkung: 1767 hatten sich, wie erwähnt, nur acht Studenten in Kiel eingeschrieben; 1768 waren es 59, dann wurden es wieder etwas weniger, bis 1774 die Verordnung noch einmal eingeschärft wurde, und nun stieg die durchschnittliche Zahl der jährlichen Immatrikulationen für die beiden nächsten Jahrzehnte auf 50 bzw. 60 an. Vor allem aber ist wichtig, daß im selben Zeitraum der Lehrkörper entsprechend ausgebaut wurde: 1796 gab es 20 besetzte Lehrstühle, also doppelt so viele wie 30 Jahre zuvor, und Kiel rangierte damit im Mittelfeld der deutschen Universitäten, zusammen mit Königsberg, Gießen, Rostock und Tübingen. Bemerkenswert ist dabei auch die Tatsache, daß bei den Neuberufungen, die in den beiden Jahrzehnten nach 1767 vorgenommen wurden, sehr viele junge Leute im Alter von etwa 30 Jahren auf die Lehrstühle kamen; 14 nur die Medizinische Fakultät, die offenbar erfahrene Praktiker bevorzugte, machte da eine Ausnahme. Der Lehrkörper war also verhältnismäßig jung und geprägt von einer Generation, die ganz selbstverständlich mit dem Gedankengut der Aufklärung aufgewachsen war, und auch einige der älteren Lehrer gehörten gerade nicht zu den Gegnern der Aufklärung, sondern zu deren Förderern, namentlich Johann Andreas Cramer, Martin Ehlers und Johann Nicolaus Tetens, die 1723, 1732 und 1736 geboren waren. Hier kann natürlich nicht über alle Gelehrten der Kieler Universität im Zeitalter der Aufklärung berichtet werden, sondern nur über einige repräsentative Beispiele. Sie betreffen zudem nur die Theologische und die Philosophische Fakultät, weil dies die beiden Fakultäten waren, durch die die Masse der Studenten hindurchging und geprägt wurde. An erster Stelle ist hier der eben schon erwähnte Johann Andreas Cramer (1723 —1788)15 zu 11

Die Zahlen bei Scharff, Verfall und Wiederaufstieg (Anm. 2), S. 18 und 20. Thomas Otto Achelis: »Das Biennium der Christiana Albertina zu Kiel 1768 — 1867«. In: ZSHG 81 (1957), S. 113—154. — Zur Zählweise bei statistischen Angaben vgl. oben Anm. 8. 14 Den Orientalisten Johann Ernst Faber und den Mathematiker Jons Matthias Ljungberg holte man 1769/ 70 sogar im Alter von 24 bzw. 22 Jahren aus Göttingen nach Kiel. '' DBL. Bd. 3, S. 491 f. - SHBL. Bd. 2, S. 118 f. - Wilhelm Ernst Christiani: Gedächtnisrede auf den verewigten Canzler, Herrn Johann Andreas Cramer. Kiel 1788. - Johann Otto Thiess: Gelehrtengeschichte der Universität zu Kiel. 2 Bde. Altona 1800—1803,

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Dieter Lobmeier

nennen, und zwar nicht so sehr, weil er ein ganz besonders profilierter Aufklärer gewesen wäre, sondern weil er vermutlich von allen Universitätslehrern die größte Breitenwirkung erreichte. Cramer, unter Struensee 1771 seines Amtes als deutscher Hofprediger in Kopenhagen enthoben und seitdem Superintendent in Lübeck, wurde im Jahre nach dem Vollzug des Tauschvertrages von 1773 Professor primarius der Theologie in Kiel und zugleich Prokanzler der Universität, d. h. der Leiter ihrer Selbstverwaltung. Daß in den folgenden Jahren Männer wie Ehlers oder Tetens nach Kiel geholt wurden, hat man also, wenn nicht seiner Initiative, so doch seiner Unterstützung sowie seinem Ansehen und Einfluß bei Detlev Reventlow und Andreas Peter Bernstorff zuzuschreiben. 16 In welchem Geiste Cramer als Theologe wirkte, lassen der Katechismus, den er unmittelbar vor seinem "Weggang in Lübeck als verbindliche Grundlage der dort geltenden Religionslehre veröffentlichte, 17 und der vermutlich darauf aufbauende Kurze Unterricht im Cbristenthume, zum richtigen Verstände des kleinen Catechismus Lutheri erkennen, der 1785 zuerst gedruckt und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein in allen Schulen der Herzogtümer verwendet wurde. Darin blieb in den wesentlichen Aussagen der Lehre die herkömmliche lutherische Substanz gewahrt, auch wo sie den Zeitgenossen im allgemeinen problematisch geworden war, wie bei der Lehre von der Erbsünde und vom Versöhnungstod und der Auferstehung Christi, aber sie wurden doch in eine Haltung eingebettet, die den Blick nicht so sehr auf die Christologie richtete als vielmehr auf die allgemeine Gotteslehre und die natürliche Erkenntnis Gottes. Der Kurze Unterricht im Christenthume begann mit dem Kernsatz: »Wir Menschen wünschen alle vergnügt und froh zu seyn« und erläuterte das mit der Anmerkung: »Vergnügt und froh seyn, heißt: Durch seine Sinne angenehme Empfindungen oder angenehme Gedanken in der Seele haben, die uns nützlich sind, und keinen

16

17

Bd. 2, S. 1 — 94. — Gustav Stoltenberg: »Johann Andreas Cramer, seine Persönlichkeit und seine Theologie«. In: SSHKg. R. 2. Bd. 9 (1935), S. 385 — 452. - Göbell (Anm. 2), S. 59-71· Cramers Sohn Andreas Wilhelm Cramer nennt in seiner Hauschronik, meinen Anverwandten und Freunden zum Andenken gewidmet (Hamburg 1822), S. 238, als auf den Rat seines Vaters nach Kiel berufen in der Theologischen Fakultät: Gotthilf Traugott Zachariä, Samuel Gottfried Geyser, Daniel Gotthilf Moldenhawer, Johann Wilhelm Fuhrmann und Jakob Christian Rudolf Eckermann, in der Juristischen: Adolf Friedrich Trendelenburg, Johann Daniel Heinrich Musäus, Friedrich Christoph Jensen und Adolf Dietrich Weber, sowie in der Philosophischen: Johann Christian Fabricius, Martin Ehlers und Johann Nicolaus Tetens. Das sind, mit Ausnahme seiner beiden Söhne Andreas Wilhelm und Carl Friedrich, fast alle während Cramers Amtszeit neu Berufenen. Wolf-Dieter Hauschild: Kirchengeschichte Lübecks. Lübeck 1981, S. 357f. (»J. A. Cramers Aufklärungskatechismus«).

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Schaden thun.« Das Böse, von dem jeder Mensch »befreyt zu werden« wünscht, definierte die Anmerkung zur zweiten Frage ohne jeden Anklang an die Erbsünde: »Das Böse besteht sowohl in unangenehmen und schmerzlichen Empfindungen durch unsre Sinne, als in unangenehmen Gedanken in der Seele, welche uns misvergnügt machen, und keinen Nutzen haben, sondern vielmehr schädlich sind.« 18 Im Abschnitt über die sozialen Pflichten des Christen zitierte Cramer als biblischen Beleg den Propheten Jeremias: »Suchet der Stadt Bestes, und betet für sie zum Herrn; denn wenn es ihr wohl gehet, so gehets auch euch wohl« (29, 7), legte das aber so aus, daß das Beten gegenüber der bei Jeremias gar nicht erwähnten praktischen Arbeit für den öffentlichen und privaten Wohlstand ins Hintertreffen geriet: »Christliche Bürger und Einwohner eines Ortes und Landes müssen einander lieben und ehren, für das gemeine Beste, wie für ihre eigne Wohlfahrt, sorgen, keines Andern Rechte beleidigen, und füreinander beten.« Aus solchen Uberzeugungen heraus veröffentlichte Cramer während seiner Tätigkeit in Kiel 1780 das Allgemeine Gesangbuch zum öffentlichen und häuslichen Gebrauch in den Herzogtümern Schleswig und Holstein, das ein volles Jahrhundert lang in Gebrauch bleiben sollte. 20 In ihm redigierte Cramer die überlieferten Kirchenlieder behutsam im rationalistischen Sinne; vor allem aber dichtete er selbst mehr als 250 Lieder, die von vornherein dem weltanschaulichen Horizont seiner Zeit angepaßt waren und dafür sorgten, daß das Gesangbuch >ordentlich und nützlich< alle erforderlichen Anlässe behandelte. Ein Abschnitt ist überschrieben: »Von der Glückseligkeit der Christen in diesem Leben«; der ganze 3. Teil des Gesangbuchs enthält »Lieder über die Tugendlehren des Christentums«. Kein Wunder also, daß sich mit dem theologischen Eudämonismus ein kräftiger pädagogischer Impetus verband. So ist es bezeichnend, daß Cramer an der Theologischen Fakultät 1780 ein Homiletisches Seminar einrichtete, 21 und noch wichtiger ist die Tatsache, daß er der eigentliche Begründer und erste Leiter des Kieler Schullehrerseminars war. Diese Bildungseinrichtung war zwar im strengen Sinne nicht Teil der Universität Kiel, muß hier aber erwähnt werden, weil sie in das größere bildungspolitische Reformprogramm der Regierung gehörte und ein Ausdruck der epochentypischen Bestrebungen war, die Aufklärung nicht auf die akademi18

Kurzer Unterricht im Christenthume, zum richtigen Verstände des kleinen Catechismus Lutheri. 33. Aufl. Kiel 1817, S. 7. — Vgl. Hejselbjerg Paulsen, »Oplysningstiden i Hertugdemmerne« (Anm. 10), 1935, S. 166 — 170. '' Kurzer Unterricht (Anm. 18), S. 79. 2 ° Emil Brederek: Geschichte der schleswig-holsteinischen Gesangbücher. Tl. 2: Vom Cramerschen Gesangbuch his auf die Gegenwart. Kiel 1922 (SSHKg. R. 1. Bd. 13), S. 1 — 17. 21 Walter Bülck: Geschichte des Studiums der praktischen Theologie an der Universität Kiel. Kiel 1921 (SSHKg. R . .. Bd. 11), S. 4 7 - 4 9 .

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sehen Kreise allein einzuschränken, sondern von diesen aus auch auf die übrige Bevölkerung ausstrahlen zu lassen und zur Grundlage der Verbesserung aller Lebensverhältnisse zu machen. Im Jahre 1777 hatten sich die Kieler Professoren um der Wissenschaften und um des Staatswohls willen bei der Deutschen Kanzlei für eine Reform der Lateinschulen verwandt, die Kanzlei hatte sogleich eine detaillierte Bestandsaufnahme über deren Zustand in den Herzogtümern angefordert und dann 1778 nach Beratungen mit Cramer — und also zweifellos ganz in seinem Sinne — diesen mit einer umfassenden Reform beauftragt; diese sollte nun aber nicht allein den Lateinschulen gelten, sondern in zweckmäßiger Abstufung auch die Bürger- und die Landschulen erfassen. 22 Dieser Plan war vermutlich zu weitgespannt, als daß ihn Cramer allein und in seinem Amt als Prokanzler der Universität mit vollem Erfolg hätte ins Werk setzen können, und so wurden wesentliche Teile erst eine Generation später durch Jacob Georg Christian Adler (1756—1834)25 verwirklicht, der dafür zudem als Generalsuperintendent von Schleswig und später auch von Holstein an der geeigneteren Stelle saß: einer ganzen Reihe von Schulordnungen für Städte, Flecken und Propsteien des Herzogtums Schleswig (1798 — 1808) folgten entsprechende Regelungen auch für Holstein (1810 — 1814) und schließlich 1814 eine Allgemeine Schulordnung. N u r ein wesentliches Teilstück des großen Reformprogramms hatte schon Cramer schnell bewältigen können: eben das Kieler Schullehrerseminar. 24 22

Franklin Kopitzsch: »Reformversuche und Reformen der Gymnasien und Lateinschulen in Schleswig-Holstein im Zeitalter der Aufklärung«. In: Ders. (Hrsg.): Erziehungs- und Bildungsgeschichte Schleswig-Holsteins von der Aufklärung bis zum Kaiserreich. Neumünster 1981, S. 61 — 88.

2)

DBL. Bd. ι, S. 5 9 - 6 1 . - SHBL. Bd. 6, S. 1 5 - 2 0 . - Hejselbjerg Paulsen, »Oplysningstiden i Hertugdemmerne« (Anm. 10), 1936, S. 162—182. — Ernst Erichsen und Hermann Sellschopp: Die Allgemeine Schulordnung für die Herzogtümer Schleswig und Holstein vom 24. August 1814. Zum /;o. Jahrestage ihrer Verkündung. Pädagogische Bedeutung und rechtliche Entwicklung. Kiel 1964. (Hier ist außer dem Text der Verordnung selbst S. 92 — 98 auch Adlers Authentische Nachricht von den in den letzten zwanzig Jahren in den Herzogthümern Schleswig und Holstein vorgenommenen Schulverbesserungen bis zum Jahre iSij wieder abgedruckt.)

24

H[einrich] Müller: »Von der Entstehung, Einrichtung und bisherigen Wirksamkeit des königlichen Schulmeisterseminarii in Kiel, nebst einigen Bemerkungen über die vorzüglichsten Hindernisse und Beförderungsmittel dieser Anstalt«. In: SchleswigHolsteinische Provinzialberichte 1 (1788), Bd. 1, S. 113 — 148. — Hejselbjerg Paulsen, »Oplysningstiden i Hertugdemmerne« (Anm. 10), 1934, S. 3—18. — Johann Gronhoff: Die Berufsausbildung der Lehrer und Lehrerinnen in Schleswig-Holstein von ihren Anfängen bis zur Einrichtung pädagogischer Akademien. Kiel 1963. — Franklin Kopitzsch: »Anfänge der Lehrerausbildung im Zeitalter der Aufklärung in SchleswigHolstein, Hamburg und Lübeck«. In: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung 2 0 / 2 1 (1983), S. 43 — 64.

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Es wurde 1781 auf seine Anregung als das erste im dänischen Gesamtstaat errichtet und wurde zunächst von ihm geleitet. 2 ' Wie erfolgreich diese Einrichtung war, läßt sich insbesondere an der Gestalt des Theologen Heinrich Müller (1759 —1814)26 ablesen, der der eigentliche pädagogische Leiter des Seminars und nach Cramers Tod auch dessen offizieller Nachfolger wurde. Er hat als Katechet mit seiner sokratischen Methode eine ganze Generation von schleswig-holsteinischen Pastoren und Dorfschullehrern geprägt. Gerade für die Seminaristen war das von allergrößter Bedeutung, denn sie waren zumeist junge Leute ohne formale Schulung und bedurften überhaupt erst einer Anleitung zum systematischen Lernen. Als Müller 1814 starb, sammelten seine ehemaligen Schüler für ein von C. F. Hansen entworfenes Grabmal; die Liste der Spender, die ihr Scherflein dazu beitrugen, obgleich ihnen das in der Notsituation nach der Kontinentalsperre und den Napoleonischen Kriegen gewiß nicht leicht gefallen sein dürfte, ist von eindrucksvoller Länge. Weitere Belege für die Ausstrahlung des Kieler Schullehrerseminars bieten Leben und Wirken zweier seiner Schüler aus der Anfangszeit: Johann Christian Gerhard Claussen (1750 —1801),27 den der dänische Finanzminister Ernst Graf von Schimmelmann 1785 zum Schulinspektor seiner Lehnsgrafschaft Lindenborg ernannte und der dann 1791 Erster Lehrer des ersten dänischen Schullehrerseminars Blágárd (bei Kopenhagen) wurde, sowie Claus Rixen (1764—1843), 18 von dem weiter unten noch die Rede sein wird. Auch wenn ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Wirken Cramers und mit der Gründung des Schullehrerseminars nicht nachzuweisen ist, so kann man hier als letztes wohl auch den Plan für ein in Kiel zu gründendes Bildungsinstitut für jüdische Knaben aus dem Königreich und den Herzogtümern anführen, den der in Kopenhagen geborene jüdische Aufklärer Isaac Abraham Euchel (1786 — 1804) im Jahre 1784 der Deutschen Kanzlei unterbreitete. 29 Das Institut sollte dem Mangel an Bildung abhelfen, den Euchel — unter Berufung auf die Bestrebungen von Moses Mendelssohn und Christian Wilhelm Dohm — als ein entscheidendes Hindernis auf dem Wege zu einer bürgerlichen Verbesserung« seiner Glaubensgenossen betrachtete. Das Projekt wurde in der Kanzlei allerdings nicht weiter behandelt. Daß der Geist Cramers in Kiel auch in anderen theologischen Vorlesungen verbreitet wurde, belegt die Gestalt des Samuel Gottfried Geyser *' Heinrich Müller: Cramers Verdienste um das Königliche Schulmeisterseminarium in Kiel. Kiel 1788. 26 Thiess, Gelehrtengeichichte (Anm. 15), Bd. 2, S. 532 - 3 4 0 ; S/ifiZ.. Bd. 8, S. 2 4 2 - 2 4 4 . 27 DBL. Bd. 3, S. 4 3 2 ; S H B L . Bd. 8, S. 7 9 - 8 . . 28 Vgl. Anm. 5 4 - 57· 29 Dieter Lohmeier: Isolation — Assimilation — Emanzipation. Zur Geschichte der Juden in Schleswig-Holstein 1584 — 1863 (Ausstellungskatalog). Heide 1989, S. 1 2 4 - 1 3 2 .

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(1739 —1808), 30 der 1 7 7 7 auf einen anderen theologischen Lehrstuhl berufen wurde. Was ihm die Professur einbrachte, waren offenbar nicht gelehrte A b handlungen (denn solche gab es von ihm so gut wie gar nicht), sondern seine Fähigkeiten als Lehrer. Einer seiner H ö r e r aus den 1790er Jahren, G e o r g Friedrich Schumacher, berichtet aus dem Rückblick über ihn: Geyser lehrte mit Geist und Geschmack, und, wie wir meinten, mit Gründlichkeit. Alles hörte ihn gerne. [...] E r las fast Alles, und die andern Theologen mußten es als eine Gabe annehmen, wenn er einmal ein Fach nicht anschlug, damit auch sie mal zur Sprache kämen. Seine Exegese galt vorzüglich; dann seine Kirchengeschichte, Dogmatik, Moral; kurz, was er anschlug, war gleich besetzt. [...] er war seiner Grundansicht nach liberal, oder: ein gemäßigter Rationalist, wie man jetzt etwa sagen würde. [...] Das philosophische, bescheidene ε π έ χ ε ί ν [in der Schwebe lassen] war ihm ganz eigen, und nie konnte er im dogmatischen Sinn eine Schule bilden, so wie aber auch nie einen Verächter von Religion und Bibel. Schumacher fügte dann hinzu: »Von diesen Prämissen aus müssen w i r denn auch für eine Reihe von Jahren den theologischen Standpunkt der meisten Geistlichen in den beiden Herzogthümern auffassen.« 3 1 F ü r diesen w o h l temperierten Geist der Universität ist es recht bezeichnend, daß Geysers Kollege Jacob Christoph Rudolf Eckermann (1754—1837), 3 2 der ein entschiedenerer Rationalist war, neben G e y s e r einen schweren Stand hatte. A b e r noch bemerkenswerter dürfte die Tatsache sein, daß ein M a n n wie G e y s e r überhaupt berufen wurde und daß er dann so großen A n k l a n g fand. Die Universität w a r am Ende des 18. Jahrhunderts anscheinend so sehr wie nie zuvor und erst recht nicht in der Zeit nach den Humboldtschen Reformen eine Stätte der Ausbildung zu praktischen Z w e c k e n ; sie wollte nicht so sehr Gelehrte heranziehen als vielmehr tüchtige Lehrer und Pastoren, und dafür brauchte man einen anderen Professorentyp als den Stubengelehrten Polyhistor. 3

° Thiess, Gelehrtengeschichte (Anm. 15), Bd. 2, S. 228 — 234. — Göbell (Anm. 2), S. 8 2 84. 31 Georg Friedrich Schumacher: Genrebilder aus dem Leben eines siebenzigjährigen Schulmannes. Fotomechanischer Ndr. der Ausg. Schleswig 1841. Hrsg. von Franklin Kopitzsch. Flensburg 1983, S. 166—169. — Johann Nicolaus Tetens in seinen Reisen in die Marschländer an der Nordsee (Anm. 42) sah 1788 in der Universität Kiel ein probates Mittel gegen »religieuse Empfindeley«, die sich von der Herrnhuter Siedlung Christiansfeld her in Nordschleswig auszubreiten schien: »Ein gewisser Mann sagte mir, daß in diesen Gegenden eine Versandung der Vernunft noch mehr zu befürchten sey, als ich eine Versandung des Bodens in Jütland von den Dünen befürchten könne, davon ich eben vorher mit ihm geredet hatte. Aber hierüber können wir uns, wie ich meine, beruhigen. So lange die weise Verordnung unserer Regierung besteht, daß jeder dortige Prediger und Landsbedienter in Kiel zwey Jahre studirt haben muß, hat es damit hoffentlich nichts zu bedeuten. Dieß ist ein ziemlich starker Damm gegen Mysticismus« (S. 154). 32 Thiess, Gelehrtengeschichte (Anm. 15), Bd. 2, S. 246—318.

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In der Philosophischen Fakultät in Kiel waren die Verhältnisse denn auch ganz ähnlich wie in der Theologischen. Noch einmal sei Georg Friedrich Schumacher zitiert. Er berichtet, wieder aus den 1790er Jahren, über die Fakultät: Obenan stand an Anciennität und Geltung M[artin] Ehlers. Noch auf diese Stunde ist es mir unbegreiflich, woher der Mann seinen großen Ruf bekommen, aber, er hatte ihn damals, galt hier im Lande viel, obgleich er wohl im Auslande nur obenhin als Verfasser der Schriften Über die Sittlichkeit der Vergnügungen, und: Winke für gute Fürsten, bekannt war. Ich war ihm speciell empfohlen, kam in sein Haus, aber ich erinnere nicht, Spuren von positivem Wissen oder Gelehrsamkeit in seinen Gesprächen wahrgenommen zu haben. Er hatte eine milde aber ungeheuer kalte Humanität, und ich glaube nicht, daß er je hätte böse werden können.

Schumacher fügt dann später hinzu: »Sein Lieblingsgegenstand für die Conversation war die damals noch nicht alte Amerikanische Constitution.« 33 Martin Ehlers (1732 —1800)34 hatte 1766 als Rektor der Segeberger Lateinschule mit seinen Gedanken von den zur Verbesserung der Schulen nothwendigen Erfordernissen die »erste programmatische Schrift der aufklärerischen Pädagogik« 35 veröffentlicht und war 1771 an das Christianeum in Altona berufen worden, wo er es in seiner Vorlesungsankündigung für das Schuljahr 1774/75 zu seinem pädagogischen Programm erklärt hatte, »gleichviel auf Sprach- und Sachkenntnisse zu sehen« und danach zu streben, »daß jede zur Glückseligkeit leitende Wahrheit und Lehre der Seele richtig, lichtvoll und rührend erscheine und eine lebendige und das Herz und die Handlungen lenkende Erkenntniß hervorbringe«. 36 Daß er eben dies mit Erfolg tat, daß er »seine theoretischen Kenntnisse zum Unterricht der Jugend mehrere Jahre glücklich in Übung gebracht«, 37 hatte ihm dann den Ruf auf den Kieler Lehrstuhl eingebracht. Aus der Sicht der heutigen Fachwissenschaft und ihrer Geschichtsschreibung war Ehlers »in eigentlichem Sinne kein Philosoph«, 38 aber den zeitgenössischen Vorstellungen entsprach es durchaus, wenn er »philosophiam practicam« las, Staatswissenschaftliche Aufsätze (Kiel 1791) veröffentlichte — oder auch einmal eine Abhandlung Von den Pflichten, welche Staatsbürger in Zeiten des Getreidemangels oder der Theurung gegen ihren Staat zu erfüllen haben (Kiel 1795).

33

Schumacher, Genrebilder (Anm. 31), S. 171 f. Gesch. GAU. Bd. 5, 1, S. 28f.; Kopitzsch, »Reformversuche« (Anm. 22), S. 67 —70; Ders.: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona. 2 Bde. Hamburg 1982, Bd. 1, S. 363 f., Bd. 2, S. 727 — 732. » Ebd., Bd. i , S . 363 f. 36 Zit. nach: Ebd., Bd. 2, S. 732. 37 Reventlows Eingabe an die Deutsche Kanzlei, zit nach: Gesch. GAU. Bd. 5, 1, S. 121. 38 Ebd., S. 38. 34

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Auch Johann Nicolaus Tetens (1736 — 1807)" repräsentierte in der Philosophischen Fakultät den genuin aufklärerischen Zusammenhang von Theorie und gesellschaftlicher Praxis. Er wurde 1776 von Bützow nach Kiel berufen, als Professor der Philosophie und Mathematik. Kurz zuvor hatte er sein philosophisches Hauptwerk veröffentlicht, die Philosophischen Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (2 Bde., Bützow u. Wismar 1775), die das erkenntnistheoretische Problem des Verhältnisses von Empirie und Vernunft behandelten, durch ihre Betonung der experimentalpsychologischen Methode bedeutend waren und ihrem Autor den Ehrennamen eines »deutschen Locke« sowie die Wertschätzung Kants einbrachten. Anders als Ehlers hat er deshalb auch in der Geschichte der Philosophie einen ehrenvollen Platz »in der Entwicklung vom englischen Empirismus hin zum kantischen Kritizismus«. 40 Gleichwohl veröffentlichte Tetens aber auch eine Schrift mit dem höchst bezeichnenden Titel Versuch einer Mathematik zum Nutzen und Vergnügen des bürgerlichen Lebens. Das klingt ein wenig nach unterhaltsamer >philosophie pour les damesReisen in die Marschländer an der Nordsee< und ihre Bedeutung«. In: Nordelhingen 15 (1939), S. 323 —371; Friedrich Müller und Otto Fischer: Das Wasserwesen an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste. Tl. 3:Das Festland. Bd. 1. Berlin 1955, S. 149 f. Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus. Bd. 1. Leipzig 1788, S. 114f.

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Da schwingt spürbar der Vorwurf selbstverschuldeter Unmündigkeit mit. Einige Seiten weiter heißt es dann aber: »Mitten unter den schlechten Deichen in diesen Marschen, die nichts sind als Beweise der noch rohen Kunst, die sie aufführte, stößt man auf die Deiche in dem sogenannten Desmercieren-Kog, die mit vieler Einsicht gemacht, und werth sind, als Muster aufgestellt zu werden.« Der Außendeich dieses von 1765 bis 1767 eingedeichten Koogs zeichnete sich in der Tat durch ein neues, aus Beobachtung und Berechnung der Wasserbewegung abgeleitetes sehr flaches Profil aus, das die Kraft der Wellen sich auslaufen ließ, und er bewährte sich eben dieser Neuerung wegen vorzüglich. Tetens kommentiert seinen Bericht über diesen Fortschritt mit einem Satz, der ihn und die Aufklärung aufs beste charakterisiert: »Es heitert einen denkenden Menschen auf, wenn man Beyspiele sieht, wo sich die Vernunft sichtlich macht.« 4 ' Da spürt man, wie ihm, bei aller Sprödigkeit seines Charakters und seines Gegenstands, das Herz aufgeht. In seiner Umgebung gab es offenbar genügend Leute, die ähnlich dachten und fühlten, denn sein Bericht über die Reisen in die Marschländer brachte Tetens 1789 die Berufung nach Kopenhagen ein, und zwar nicht an die Universität, sondern in die Rentkammer, wo er erst Assessor und im folgenden Jahr Deputierter im Finanzkollegium wurde. Sein Buch hatte auch praktische Folgen für die Verbesserung des Deichwesens an der schleswig-holsteinischen Westküste: für sie wurde 1803 ein Allgemeines Deichreglement erlassen. Außerdem wurden eine Versorgungsanstalt und eine allgemeine Witwenkasse gegründet, in deren Vorstand er als Fachmann einen Sitz erhielt. Fünfundzwanzig Jahre jünger als Tetens war August Niemann (1761 — 1832),44 der seit 1785 zunächst als Privatdozent an der Philosophischen Fakultät unterrichtete, 1787 Extraordinarius und schließlich 1794 Ordinarius wurde, und zwar auf dem neu eingerichteten Lehrstuhl für Statistik, Polizei- und Kameralwissenschaften, d. h. für den gesamten Komplex von Landeskunde, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Finanzwissenschaft, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts im Aufschwung befand und schnell differenzier-

43 44

Ebd., S. 119. DBL. Bd. 10, S. 520 f. - SHBL. Bd. 1, S. 2 0 8 - 2 1 0 . - H[enning] Ratjen: »August Christian Heinrich Niemann«. In: Neues Staatsbürgerliches Magazin 3 (1835), S. 1 - 2 7 . Friedrich Hoffmann: »August C. H . Niemann und die schleswig-holsteinische Landesforschung«. In: ZSHG 81 (1957), S. 2 1 9 - 2 3 0 . - Sievers, Volkskultur und Aufklärung (Anm. 49), S. 22 — 30. — Ders.: »Professor Niemann und der Spargedanke«. In: Historische Marktanalyse. Frühe Sparkassenideen: Utopie und Realität. Neustadt a. d. Aisch 1984 (Sparkassen in der Geschichte. Bd. 2), S. 157 — 73. ~~ Bärbel Pusback: »Die Kamerai- und Staatswissenschaft an der Universität Kiel bis zum Ende des 19. Jahrhunderts«. In: Norbert Waszek (Hrsg.): Die Institutionalisierung der Nationalökonomie an deutschen Universitäten. St. Katharinen 1988, S. 302-353.

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te, den Niemann in Kiel aber bis zuletzt in seinem ganzen Umfang vertrat, seit 1787 unterstützt durch den früh verstorbenen Valentin August Heinze (1758 —1801). Ihm wurde es also zum Amt, theoretische Kenntnisse zu praktischen Zwecken zu vermitteln. Das Konzept war zukunftsträchtig, doch die Gewohnheiten des herkömmlichen Universitätsbetriebs waren zunächst noch stärker: Niemanns Bemühungen, eine Prüfung in Kameralistik zum obligatorischen Bestandteil der Ausbildung der Juristen zu machen, blieben erfolglos; seine eigentlichen Hörer waren vorerst nicht die Angehörigen der Universität, sondern »einige Forst-Eleven«,4! die er in der Forstlehranstalt im Kieler Schloß und in der neu gegründeten Forstbaumschule unterrichtete. Erst im 19. Jahrhundert scheinen auch die Studenten sein Lehrangebot besser genutzt zu haben, denn in einem Nachruf auf Niemann heißt es, die meisten der in den Herzogtümern tätigen Beamten verdankten ihm ihre »staatskundige Bildung«.4Í Was Niemann erreichen wollte, sagte er schon zu Anfang seiner Lehrtätigkeit in einer Schrift Vorschläge, Hoffnungen und Wünsche zur Beförderung der Landeskunde, der Nationalbildung und der Gewerbsamkeit in den Herzogthümern Schleswig und Holstein (Flensburg und Leipzig 1786): »jeden wohlwollenden Theilnehmer und thätigen Beförderer des vaterländischen Wohls in den Stand zu sezen, über die Bildung, die Sittlichkeit, die Bevölkerung und den Wohlstand der beiden Herzogthümer ein richtiges Urtheil zu fällen, und von dem was bereits gethan ward, auf das was noch zu thun übrig ist mit partheiloser Selbstkentnis zu schließen!« (S. 17) Das politische Konzept, das dahinter stand, formulierte er später in seinem Abris der Statistik und Statenkunde (1807) mit den Worten eines russischen Politikers aus einer Denkschrift für den Zaren, in denen sehr deutlich der herkömmliche Merkantilismus gegen einen gemäßigten Liberalismus abgesetzt wird, den Niemann selbst von Adam Smith übernommen hatte: E s gab eine Zeit, w o man der Meinung war, die verschiedenen Zweige der Statswirthschaft könten nicht anders in A u f n a h m e gebracht werden, als durch eine unaufhörliche Aufsicht der Regierung über dieselben. M a n glaubte, die Regierung sei verbunden, sie zu verwalten, Vorschriften zu geben, anzuordnen, mit einem Worte die statswirthschaftliche Indùstrie [d.h. den Gewerbefleiß] unter einer A r t von beständiger Tutel zu halten. Gründliche Beobachtungen über den G a n g und die W i r k u n g des menschlichen Fleisses, so wie über die mannichfaltige Vertheilung und V e r v o l l k o m m nung seiner Produkte, haben die Unrichtigkeit dieser Behauptung dargethan, und reinere Begriffe über das Wesen der Statswirthschaft hervorgebracht. M a n hat [statt dessen] den G r u n d s a z angenommen: daß Bedürfnis Triebfedern

für die Thätigkeit

sichere Richtung

der Menschen

geben, als alle Anordnungen

45

Schumacher, Genrebilder

46

Ratjen, » N i e m a n n « ( A n m . 44), S. 1.

( A n m . 31), S. 175.

und Privatinteresse

sind und ihrer Industrie der Regierung-,

weit

mächtigere

gewis eine weit

daß diese demnach als

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blosser aufmerksamer Beobachter der mannichfaltigen Privatindüstrie sich darauf beschränken mus, eine möglichst genaue Kentnis aller Zweige derselben zu erlangen, um dann (ohne jedoch durch einen unmittelbaren Einflus den geringsten Zwang aufzulegen) nur die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die ihrem Fortkommen etwa hinderlich sein könnten. 47

Schon im Jahre 1786 hatte Niemann in diesem Sinne in Kiel eine Schleswig-Holsteinische patriotische Gesellschaft 48 gegründet. Deren Wirken scheint sich dann jedoch darauf beschränkt zu haben, seit 1787 die Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte4' herauszubringen, das bezeichnendste Publikationsorgan der Aufklärung im Lande, das Niemann selbst redigierte. Das Subskribentenverzeichnis des ersten Bandes belegt sehr schön, wie die Aufklärung hier über die Universität hinausgelangt ist, vor allem in den höheren Beamtenstand. In der Vorrede zum ersten Heft heißt es über das Programm der patriotischen Gesellschaft: »Beförderung der Landeskunde wird gewiß nicht selten Verbesserung des bürgerlichen Wohlstandes zur Folge haben. Allemal werden wir jene dann am sorgfältigsten aufklären, wenn uns Gewinn für diese am wahrscheinlichsten wird.« Der Inhalt des ersten Heftes der Provinzialberichte spiegelt diese Absicht sehr deutlich. Es beginnt mit einem Verzeichnis der Schiffe, die 1784/85 den neuen Eiderkanal passiert haben; es folgt als Nachdruck aus den Jyske Efterretninger ein kurzer Bericht über einen Lebensretter aus Seenot, also über eine jener »großen und guten Taten von Dänen, Norwegern und Holsteinern«, wie sie Ove Mailing ein Jahrzehnt zuvor im amtlichen Auftrag verewigte. 51 Dann folgt ein Bericht über die Aufhebung der Leibeigenschaft auf dem Gut Eckhof, die freiwillige Entscheidung eines Gutsherrn, noch ohne gesetzlichen Zwang, aber nach dem Vorbild, das Andreas Peter Bernstorff auf dem Gut Gentofte gegeben hatte. Damit war ein Thema angeschlagen, das angesichts der im Königreich Dänemark von der Regierung betriebenen und 1788 zum Abschluß gelangenden Bemühungen um die Aufhebung des Schollenbands auch für die Herzogtümer auf der Tagesordnung stand und bei dem Niemann und die Provinzialberichte sich, ihren aufklärerischen Prinzipien ent-

47

August Niemann .Abris der Statistik und der Statenkunde. Altona 1807, S. 24 f. Kai Detlev Sievers: »Patriotische Gesellschaft in Schleswig-Holstein zwischen 1786 und 1829«. In : Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften. Hrsg. von Rudolf Vierhaus. München 1980, S. 119 —141. 49 Kai Detlev Sievers: Volkskultur und Aufltlärung im Spiegel der Schleswig-Holsteinischen Provinzialberichte. Neumünster 1970. Sievers, »Patriotische Gesellschaften« (Anm. 48), S. 124 f. *' Ove Mailing: Store og gode Handlinger afDanske, Norske og Holstenere. Kopenhagen 1777; deutsch Kopenhagen und Leipzig 1779. — Das Werk war ein historisches Lesebuch, das zugleich als aufklärerische Tugendlehre dienen sollte. 48

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sprechend, kräftig engagierten.52 Schließlich enthielt das Heft noch einen Bericht über den Zustand der Manufakturen in Altona und einen über die Poliklinik, die die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde in Kiel eingerichtet hatte, übrigens unter kräftiger Beteiligung von Niemann und anderen Mitgliedern der Patriotischen Gesellschaft. " Der letzte Beitrag dieses ersten Heftes der Provinzialberichte ist überschrieben: »Auszug aus den Berichten des Herrn Rixen, Schullehrer und Organisten zu Großenflintbek, im Amte Bordesholm.« Dieser Claus Rixen, 54 damals gerade 2j Jahre alt, war ein Mann so recht nach dem Herzen der Aufklärer. Er kam aus kleinsten Verhältnissen vom Lande, war einer der ersten Absolventen des Kieler Schullehrerseminars und wurde zunächst Lehrer in Flintbek, wo er eine der ersten ländlichen Lesegesellschaften gründete. 1787 wurde er dann Lehrer in Altenholz im Gut Knoop und wurde dort der wichtigste Mitarbeiter der Gutsherrin Caroline Baudissin bei ihren Bemühungen, die Bauern ihres Gutsbezirks zur selbständigen Verbesserung ihrer Einkünfte anzuleiten. Im selben Jahr nennt Niemann ihn rühmlich als einen der ersten außerhalb seines akademischen Freundeskreises, der seinen Plan zu den Provinzialberichten unterstützte: »Er gab mir gleich Anfangs einige mir sehr angenehme Proben seiner Bereitwilligkeit, so wie überhaupt seines rühmlichen und bescheidenen Wirkungseifers.« " Bis 1795 schrieb Rixen insgesamt fast 20 Beiträge.' 6 Der letzte und längste von ihnen formulierte im Titel bescheiden als Frage, was in Wirklichkeit Rixens feste Überzeugung und sein Programm war: »Sollte nicht jede Dorfschule eine praktische Schule der Landwirthschaft, und jeder Dorfschullehrer Lehrer der Landwirthschaft sein?« 57 Im Text bekannte sich Rixen zum μ

"

Degn, »Die Herzogtümer im Gesamtstaat« (Anm. 10), S. 242 — 265. - Johan Hvidtfeldt'.Kämpen om ophœvelsen af livegenskabet i Slesvig og Holsten 779; — /So;. [Apenrade] 1963, 8.65 — 67, 80 — 83. — Sievers, Volkskultur und Aufklärung (Anm. 49), S. 154 — 174. — Auch andere Professoren der Universität engagierten sich für die Aufhebung, ζ. B. der Historiker Dietrich Hermann Hegewisch und der Jurist Adolf Dietrich Weber. Vom Historiker Wilhelm Ernst Christiani hieß es im Nachruf: »Leibeigenschaft und Preßzwang griff er an, wo er Gelegenheit dazu fand« (zit. nach ErhardtLucht, Französische Revolution [Anm. 63], S. 98). N u r der Jurist Ludwig Albrecht Gottfried Schräder, der zugleich Syndikus der Ritterschaft war, versuchte sich an einer Apologie des überholten Zustands (Sievers, Volkskultur und Aufklärung [Anm. 49], S. 168 f.).

Erich Graber: Kiel und die Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde 1793 — 1953· Ihr soziales, kulturelles und wirtschaftliches Wirken. Kiel 1953. 54 SHBL. Bd. 8, S. 298-300. " Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte (1787), S. 112 (»Anmerkungen des Herausgebers« zum »Auszug aus den Berichten«). ' 6 Dieter Lohmeier: »Claus Rixens Veröffentlichungen«. In: Jb. der Heimatgemeinschaft Eckernförde 42 (1984), S. 161 — 166. 17 Schleswig-HolsteinischeProvinzialberichte (1795), Bd. 1, S. 1 —19 und 148 — 169.

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mühsamen Geschäft der Belehrung und Überzeugung gerade auch der erwachsenen Bauern: »Es gehöret schon eine genaue ins Einzelne gehende Kenntnis der Landwirthschaft dazu, sie eines Bessern zu belehren. Wer hier mit ökonomischem Wind oder mit seichten Gründen fortzukommen denkt, der irrt sich sicher.« Zu den Ratschlägen, die Rixen den Bauern und Kätnern zur Verbesserung ihrer Einkünfte gab, gehörte auch die Pflege des Obstbaus. Das war naheliegend, denn als Pflanzschule für eben diesen ländlichen Obstanbau hatte die Kopenhagener Regierung 1784 in Kiel eine Fruchtbaumschule eingerichtet, '' deren Anreger und Leiter der berühmte Gartentheoretiker C. C. L. Hirschfeld (1742 —1792)" war, neben seiner Aufgabe als Professor der Philosophie und der schönen Wissenschaften an der Universität, zu der er 1770 berufen worden war. Auch hier griffen also die Universität und die Dorfschule ineinander, und auch das rechtfertigt es wohl, das Schullehrerseminar in einen Bericht über die Universität Kiel als Stätte der Aufklärung mit einzubeziehen. Da die Universität Kiel mit der Berufung Cramers gewissermaßen von oben her für die Aufklärung gewonnen worden war und da man die Philosophische Fakultät um 1770 praktisch ganz neu hatte aufbauen müssen, gab es hier allem Anschein nach fast zwei Jahrzehnte lang keine nennenswerten Widerstände gegen aufklärerische Haltungen und keine entsprechenden Richtungskämpfe; die Universität war ganz unangefochten eine Bildungsstätte der Aufklärung. Es war daher auch nicht verwunderlich, daß die Gespräche über die amerikanische Verfassung ganz selbstverständlich in engagierte Diskussionen über die Französische Revolution übergingen. Georg Friedrich Schumacher, der 1791 nach Kiel gekommen war, berichtet, daß man sich unter den jungen Akademikern schwärmerisch mit den Ereignissen in Frankreich befaßt habe: Fluch den Pallästen, Friede den Hütten! so schrieben wir als Motto in die Stammbücher, so riefen wir beim nächtlichen Nachhausegehn durch die stillen einsamen Gassen. Es lebe die Freiheit! nieder mit den Tyrannen! so brüllten wir oft durch die Nacht; aber wenn wir die Pallaste gehörig verflucht hatten, so ließen wir sie ruhig stehn, und man fand am andern Tage auch keine Scheibe an denselben geknickt; wenn wir die Tyrannen in die Unterwelt hinab gewünscht hatten, so überließen wir es ihnen selbst, sich nun den nächsten Weg dahin zu suchen, und hatten das Unsrige getan. In unserm Lande herrschte kein revolutionärer Sinn, der auf Taten ausging, es war bloß theoretischer enthusiastischer Beifall dessen, was in der Ferne geschah. Und

®8 Noch die Allgemeine Schulordnung von 1814 (Anm. 23) nennt unter den Gegenständen des Unterrichts in den Landschulen zuletzt »ausser den gewöhnlichen Schulstunden, wenn es seyn kann, auch noch practische Anleitung zur Obstbaumzucht und zum Gartenbau« (S. 88). " SHBL. Bd. $,S. 1 2 6 - 1 3 1 .

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eben weil wir bloß in den Gränzen des Phantasierens und der tönenden Redensarten blieben, ignorirte man das Ganze von oben herab. Und wie weise war das gehandelt von den Behörden! 60 M a n kann diesem Bericht Schumachers noch hinzufügen, daß die Regierung nicht nur die Studenten gewähren ließ, sondern zunächst auch die Professoren. N o c h ein letztes M a l sei Schumacher zitiert, jetzt mit einem Bericht über Johann Christian Fabricius (1745 —1808), 6 1 der schon vor N i e mann über kameralistische T h e m e n gelesen hatte, der seinen R u h m aber vor allem der Erforschung und Klassifizierung der Insekten verdankte. Schumacher berichtet, Fabricius sei zusammen mit seiner Frau im Jahr mindestens einmal in das revolutionäre Paris gefahren: zuweilen entschlossen sie sich um 12 Uhr, und um 2 Uhr fuhr der Wagen vor, die Zimmer wurden abgeschlossen, und nach einigen Monaten fanden sie die Teller vom Mittag her wieder vor, wie sie sie verlassen. [...] Beide lebten ganz in der Revolution. Die Nachricht von der Eroberung von Mainz 1794 durch Cüstine kam Abends 12 Uhr durch einen Reisenden nach Kiel. Die Frau Fabricius hörte dies Evangelium für ihr Ohr und stürmte hinaus, klopfte die Professorin Ehlers aus dem Schlaf. >Mach auf, liebe Freundin, Cüstine hat Mainz genommene Und bei einem nächtlichen Caffee feiern die beiden Damen das große Ereigniß. Solche Histörchen passirten damals jeden Tag.' 2 Freilich, so muß man hinzufügen, das Jahr 1794 bezeichnete auch den Wendepunkt. 6 5 1793 hatte sich das Konsistorium der Universität gegen das Verbot einer politischen Wochenschrift gewandt, das von der Deutschen Kanzlei unter Umgehung des Zensurrechts der Universität verhängt w o r den war. A u s dem Schreiben des Konsistoriums ist zu spüren, daß man mit besonders kritischer Aufmerksamkeit von Seiten der Regierung rechnete. Die Professoren wüßten wohl, heißt es da, daß die Universität und die ganze Stadt Kiel das Schicksal gehabt hat, in den Ruf einer übertriebenen Freyheitsliebe zu kommen. [...] daß hier jedermann über äußerliche Angelegenheiten, zumal über die großen Umwälzungen auswärtiger Staaten und Länder freymüthig sich mit andern unterhält, ist wahr, daß bisweilen Wünsche über Ab6

° Schumacher, Genrebilder (Anm. 31), S. 197. DBL. Bd. 4, S. }O6-)O8;SHBL. Bd. 2, S. 136-139-,Gesch. CAU. Bd. 6, S. 161 f. 62 Schumacher, Genrebilder (Anm. 31), S. 176. 63 Zum folgenden vgl. Otto Brandt: Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die Wende des 18. Jahrhunderts. 2. Aufl. Kiel 1927 (Ndr. 1981), bes. S. 209 — 246. — Degn, »Die Herzogtümer im Gesamtstaat« (Anm. 10), S. 286 — 290. — Renate ErhardtLucht: Die Ideen der Französischen Revolution in Schleswig-Holstein. Neumünster 1969, bes. S. 88 — 128. — Alexander Scharff: »Weltanschauliche Kämpfe in SchleswigHolstein und an der Kieler Universität in der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution«. In: Aus Reichsgeschichte und Nordischer Geschichte [Fschr. für Karl Jordan]. Hrsg. von Horst Fuhrmann, Hans Eberhard Mayer, Klaus Wriedt. Stuttgart 1972, S. 321 — 346. 61

Die Universität Kiel als Stätte der

Aufklärung

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Stellung wahrer oder geglaubter Staatsgebrechen [...] geäußert werden, hat seine Richtigkeit. [...] Aber daß hier eine ausgebreitetere, oder auch nur merkliche Unzufriedenheit mit der Königl. Regierung herrsche, daß gewaltsame Staatsveränderungen gewünscht oder auch nur in der Ferne verbreitet werden sollten, ist falsch. ' L. L. Albertsen:Das Lehrgedicht. Aarhus 1967, S. 161. J2 Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1877—1913, Bd. 31, 1889, S. 717 — 722: »Vorrede zum Hoffmannischen Gesangbuch 1795«. — Noch am Ende des 19. Jahrhunders verurteilt der Hrsg. des Bandes D N L Kürschner 31 zum Thema Das deutsche Kirchenlied des 16. und ij. Jahrhunderts Eugen Wolff dessen Abweichungen vom Geschmack (S. VI): »[...] höchst störend für den gesunden Geschmack tritt [...] äußerlich Streben nach Klingklang, innerlich Spielerei mit den erhabenen Gegenstanden hervor: kosende Verkleinerungsformen,

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Leif Ludwig Albertsen

Herder traut man ein Verständnis für alte poetische Werte zu. Für das Kirchenlied möchte er sie durch die Rücksicht auf das heute inhaltlich Adäquate relativieren und eine ästhetische Purgierung durchführen, die ihm zu langsam läuft. Herder ist gegen tändelnde Wörter wie Jesulein, Krippe, Windeln, Blut, Wunden und gegen die Verfolgung von Feinden und das Schmähen auf unser irdisches Leben. Seit Herder ist in Deutschland die Poetik des Kirchenlieds von der allgemein literarischen geschieden. Die spätere Restauration der evangelischen Klassiker führte (EKG) zum erneuten Respekt vor alten Formulierungen, wobei man auch veraltete Wortformen und metrische Tonbeugungen in sinnvollerer Weise als etwa in Dänemark hinnahm, wo das Gesangbuch (DDS) noch immer die korrekte Grammatik und Syntax anstrebt und dafür pseudoromantische Füllwörter im Stil von wohl und fürwahr (besonders dänisch grant) als poetischen Dekor dazwischenmischt. Von Klopstock blieb ein einziges Lied im heutigen deutschen evangelischen Gesangbuch stehen (EKG 484); es handelt von der Auferstehung, reimt aabbx und ist für Klopstocks mechanistische Versvariation durch Anund Abbau von einzelnen Silben charakteristisch. Auch für Klopstocks Freund J. A. Cramer blieb pietätvoll ein Beleg stehen (EKG 159), der in angeglichen pseudosapphischen Strophen die soziale Wohlfahrt und die sogenannte Ökumene, also gut aufklärerische Ideale verkündet. Seit der Aufklärung spaltete sich das Kirchenlied von der Entwicklung der deutschen Lyrik ab, aber es gelang der Aufklärung nicht, eine blühende pädagogische Zweckpoesie zu gründen. Klopstock wollte und konnte die höhere weltliche europäische Lyrik für Hunderte von Jahren durch seine Entwicklung der Freien Rhythmen zur sublimen Aussage des Privatesten steigern. Auf gleichsam niedrigerer Ebene aufgeklärt-pädagogisch für das unterentwickelte Volk Geschmack und Religion zu verbinden, gelang ihm nicht. Als Christ und als Landsmann von Kierkegaard versteht man weshalb. Daß Jesus am Kreuze starb, war ohne Geschmack, und das Christentum ist nicht einfach »eine« Religion.

Süßlichkeit u. dgl., stellenweise auch Fremdwörter erinnern uns daran, daß die Herrschaft des schlicht volkstümlichen Kirchengesangs hinzuschwinden droht.« Diese »schlichte Volkstümlichkeit« ist eine dem Volk von gescheiten Pädagogen aufoktroyierte Monumentaleinfalt! Ganz ähnlich meinen manche, das Volk habe im 18. Jahrhundert so schlicht gesungen wie Zelter »Es war ein König in Thüle«. Im Gegenteil: das Volk liebte Melismen, vgl. den in seinem guten Geschmack gekränkten Blume, Kirchenmusik (Anm. 3), S. 232: »Das kriechende Tempo verlockte die Gemeinde zu belebenden Verschnörkelungen der Melodie.«

Sven- Aage Jergensen

»... vom dänischen Ende Deutschlands« Gerstenberg zwischen Klopstock und Herder

D e r Titel meines Vortrages ist ein verstümmeltes Zitat, das die Probleme andeutet, mit welchen sich Kieler und Kopenhagener Historiker und G e r manisten mehrmals beschäftigt haben. 1 D e r junge Herder brach von Riga auf, mit sich und den Verhältnissen unzufrieden, und begab sich zu Schiff nach Nantes. E r mußte auf dieser Seereise an Kopenhagen vorbei und w a r sehr versucht, die Reise zu unterbrechen und an Land zu gehen. In Frankreich angelangt schreibt er etwas mißtröstig: Wie gut wäre es gewesen mich bei Koppenhagen zu debarquiren. Ich erinnere mich noch der himmlischen Nächte, die ich vor Koppenhagen hatte, der schönen Tage, da wir die Jagdschlößer des Königs und seine Flotte vorbeizogen, der schönen Abende, da wir seine Gesundheit im letzten guten Rheinwein trunken. Ich bin aber zu gut um mich lenken zu lassen und ich gab mein Wort ohne daß ich selbst wollte und ohne daß ich sagen kann, ein andrer habe mich dazu gezwungen. Der Geist Klopstocks hatte nicht gnug Anziehung vor mich, um über die kleinen Hinderniße der Reise zu profitiren, und so ward mein ganzer Plan vereitelt. Im folgenden malt der wankelmütige Herder sich den U m g a n g aus, den er mit den Kopenhagener Kreis um Klopstock und Johann Andreas C r a m e r hätte haben können und seinen Plan: Gerstenberg aufzusuchen, mit ihm die Barden und Skalden zu singen, ihn über seine Liebe und die Tändeleyen im Hypochondristen und wo es sey, zu umarmen, die Briefe über die Merkwürdigkeiten etc. mit ihm zu lesen, von Hamann, Störze, Klotz usw. 1

Vgl. Klaus Bohnen, Sven-Aage Jargensen und Friedrich Schmöe (Hrsg.): »Deutschdänische Literaturbeziehungen im 18. Jahrhundert«. In: Text & Kontext. Sondern Bd. 5. Kopenhagen und München 1979. — Dies.: »Dänische >Guldalderfreier Schriftsteller Kornett und später Leutnant im dänischen Heer, wobei er von seinen Vorgesetzten offenbar wegen seiner literarischen Produktion gefördert wurde, so daß er binnen weniger Jahre schon zum Rittmeister ernannt wurde. Er hatte, als ein Krieg mit Rußland 1762 drohte, weil ein Gottorper den Zarenthron bestiegen hatte, à la Gleim Kriegslieder eines Königlichen Dänischen Grenadiers bey Eröffnung des Feldzuges geschrieben und später, da aus dem Feldzug nichts wurde, ein nützliches Werk, ein Handbuch für einen Reuter verfaßt, das in der dänischen Armee benutzt wurde. Wichtiger war es, daß er unter dem Pseudonym Zacharias Jernstrup die launige Wochenschrift Der Hypochondrist herausgab — Zacharias Jernstrup ist in dieser Wochenschrift ein hypochondrischer holsteinischer Edel-

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Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausg. Hrsg. von Katharina Mommsen unter Mitarbeit von Momme Mommsen und Georg Wackerl. Stuttgart 1976, S. 117 ff. Vgl. hierzu: Albert Malte Wagner -.Heinrich 'Wilhelm von Gerstenberg und der Sturm und Drang. Bd. 1. Heidelberg 1920. Bd. 2. 1924; und Klaus Gerth: »Heinrich Wilhelm von Gerstenberg«. In: Benno von Wiese: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Berlin 1977. S. 3 9 3 - 4 1 1 .

j»... vom dänischen Ende Deutschlands«

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mann, der dem Publikum die Wechselfälle seines Lebens und seine spleenigen Reflexionen darüber mitteilt. Diese Publikation, die heute noch lesenswert ist, befestigte seinen Ruhm; Gerstenberg konnte mit weiterer Protektion rechnen und so heiratete er schon 1765 in Schleswig und siedelte mit der Aussicht nach Kopenhagen über, dort Referent für holsteinische Militärangelegenheiten zu werden. Er verbrachte die Jahre 1765 — 75 in der Hauptstadt, wo er zum Kreis um Bernstorff, zu dem deutschen Hofprediger Cramer und vor allem Klopstock Zugang gewann, der über 20 Jahre in Kopenhagen als Pensionär des Königs verlebte, um den Messias zu vollenden. Seine Zeit in Kopenhagen war außerordentlich fruchtbar. Hier gab er Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur heraus, die sogenannten Schleswigschen Literaturbriefe (1766/67), und interessierte sich im Gegensatz zu Klopstock für die dänische Kultur. Er war an einer Sämling af adskillige Skrifter til de skienne Videnskabers og det danske Sprogs Opkomst og Fremtarv (Sora 1765) beteiligt, d.h. also Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der dänischen Sprache. Er war mit verschiedenen dänischen Schriftstellern befreundet oder bekannt und verstand Dänisch. Hier entstand auch seine Tragödie Ugolino, die in manchem — stilistisch und inhaltlich — die Dramen des Sturm und Drang vorwegnimmt, wenn sie diese Dramen - zum Beispiel in den fürchterlichen Phantasien der im Turm verhungernden Familie — an expressiver Kraßheit nicht gar übertrifft. Hier veröffentlichte er das Gedicht eines Skalden und trat in seiner Literaturkritik nicht nur für Young und Ossian, sondern auch sehr nachdrücklich für Shakespeare ein als Vorbild einer neuen, echt deutschen dramatischen Dichtung. Hiermit sind einige Gründe und Gemeinsamkeiten genannt, die Herders Wunsch, in Kopenhagen an Land zu gehen, verständlich machen. Ich darf daran erinnern, daß die Aufsätze Herders über Ossian und Shakespeare in der Sammlung Von deutscher Art und Kunst, die das Manifest der Sturm und Drangbewegung wurde, für eine Weiterführung der Schleswigschen Literaturbriefe geschrieben wurden, also tatsächlich ein Gespräch mit Gerstenberg aufnehmen; nur hatte Gerstenberg zu der Zeit schon keine Lust oder Energie mehr zum Funkenschlagen, und aus dem öffentlichen Gespräch, aus der Fortsetzung der Zeitschrift wurde nichts. Uber das spätere Leben Gerstenbergs ist wenig Erfreuliches zu sagen. In der sicheren Hoffnung auf ein einträgliches Amt hatte er Schulden gemacht, der Sturz Bernstorffs und die nationale Reaktion dänischer Kreise sowohl auf die vielen Deutschen, die von Bernstorff ins Land geholt worden waren, als auch die kurze Herrschaft Struensees bewirkten, daß er statt 700 Taler jährlich nur ein Wartegeld von 150 bezog. Als A. P. Bernstorff an die Macht kam, verschaffte er Gerstenberg, dem er wegen seiner in diesen Jahren zuta-

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Sven-Aage

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getretenden — in Bernstorffs Worten — »Indolenz« nicht traute, auf Fürsprache Friedrich Leopold Stolbergs nach einigem "Widerstreben den einträglichen, ehrenvollen und wenig anstrengenden Posten eines dänischen Residenten in Lübeck, wo Gerstenberg mit der schleswig-holsteinischen Intelligenz und auch mit alten Mitgliedern des Kopenhagener Kreises Verbindung aufnehmen konnte. Nach einigen Jahren verkaufte der immer noch von Schulden geplagte Gerstenberg jedoch diesen Posten für 20000 Taler und zog nach Eutin. Er lebte dort als Privatmann ohne Amt in nächster Nähe zu Voß und zeitweilig auch zu Friedrich Stolberg, wollte jedoch gern Amtmann in Hadersleben oder Bankdirektor in Altona werden — oder nach dem Tod seiner ersten Frau jedenfalls eine vermögendere zweite Frau finden, denn seine Ökonomie blieb zerrüttet. Es gelang ihm, für einige Zeit wieder ein Wartegeld von der dänischen Regierung zu bekommen, aber er mußte sich zuletzt mit einem nicht übermäßig gut dotierten Sinekureposten an der Altonaer Lottodirektion begnügen, der ihn mit 500 Talern im Jahr zu der literarischen Tätigkeit hätte zwingen sollen, wozu ihn die Nähe Voßens und Klopstocks nicht zu ermuntern vermocht hatte. Er geriet nach und nach in Vergessenheit, erlebte jedoch, daß ihm, dem »Literaturveteranen«, 1815 die Würde eines Ehrendoktors der Universität Kiel konferiert wurde und starb 1823, 87 Jahre alt, ein Relikt einer längst vergangenen Epoche. Will man die fehlende Produktivität, ja fast die Lähmung des Schriftstellers Gerstenberg, und nicht nur des Schriftstellers, sondern auch des Beamten erklären, kommt man nicht um die These herum, daß er tatsächlich, wie der von ihm bewunderte Hamann, im Sprachgebrauch der Zeit ein >Hypochondrist< geworden war. Sehen wir hier von den somatischen Symptomen, von den körperlichen Übeln ab, können wir jedenfalls feststellen, daß er in und außer dem Hause als ein Sonderling lebte, der für längere Perioden offenbar den Kontakt mit der Außenwelt, ja auch mit den in seinem Hause lebenden Kindern fast abbrach, dafür gierig Bücher verschlang und vor fast ununterbrochenem Lesen nicht zum Schreiben kam — er war also keineswegs indolent oder faul, eher vom Zweifel geplagt, ob das Schreiben für ihn noch Sinn habe. Kehren wir nun zu der Frage zurück, ob eine Erneuerung des literarischen Lebens vom »dänischen Ende Deutschlands« ausging bzw. für noch längere Zeit hätte ausgehen können, denn daß Klopstocks Dichtung eine Erneuerung war, läßt sich kaum bestreiten — nur hatte diese Erneuerung bekanntlich nicht in Dänemark seinen Anfang genommen, und es fragt sich, ob sie nicht völlig ohne Zusammenhang mit seinem Leben in Dänemark blieb ? War Kopenhagen für den deutschen Kreis mehr als der Wohnsitz seiner deutschsprachigen Mäzene und Auftraggeber? Betrachtet man die Literaturlandschaft im 18. Jahrhundert, kann man sich fragen, ob Hegel doch nicht recht behält, wenn er meinte, daß das Werk

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der Aufklärung zwar in Berlin betrieben wurde, die Werke der Aufklärung jedoch an der Peripherie entstanden. 4 Nachdem Leipzig und Halle in der ersten Jahrhunderthälfte Zentren der Aufklärung gewesen waren, bildeten sich in der zweiten Jahrhunderthälfte wichtige Gruppen in Königsberg (Kant, Hamann, Hippel, Herder), weiter in Göttingen, wo es nicht nur die begabten Professoren Kästner, Lichtenberg, Michaelis und Heyne gab, sondern die jedenfalls dichterisch begabteren Studenten Hölty, Voß, Stolberg usw., kurz den >HainbundHainbund< sich nach englischem Vorbild betont der eigenen nationalen Vergangenheit zuwandte und sich in dieser Hinsicht mit der Gruppe um Herder und Goethe in Straßburg berührte, die sich gleicherweise von der französisch geprägten Kultur der Höfe und der älteren Aufklärung distanzierte, während man sich für den >Genfer< Rousseau, den schweizerischen Außenseiter, begeisterte. Auch wurde Shakespeare hier am Rande des deutschen Reiches als Vorbild einer echt deutschen dramatischen Dichtung gesehen. Er wurde wie die Barden und die Skalden >eingedeutschtGeistes der Literatur< dar, die durch die Symbiose deutscher und dänischer Intellektueller in Kopenhagen zu erklären ist? Klopstocks berühmte Ode Der Hügel und der Hain enthält ja in der Tat eine Absage an die antike Mythologie des Götterbergs und ein Bekenntnis zum germanischen Götterhain. In einem Brief an Gerstenberg hat Klopstock geschrieben, daß er ihm diese Hinwendung zum Nordischen verdanke; von Klopstocks Ode hatte der >Hainbund< seinen Namen, immerhin die zu der Zeit begabteste Gruppe junger Lyriker. Wenden wir uns zur Beantwortung dieser Frage dem Gerstenbergschen Gedicht zu, das oft erwähnt, aber selten analysiert wird. Das Gedicht eines Skalden besteht aus fünf Gesängen, und wenn man Gerstenbergs Tändeleyen kennt, wird man in gewissen Partien deutlich eine Verwandtschaft feststellen können, worauf ich noch zurückkommen werde. Metrisch sind die fünf Gesänge gekonnt variiert: Der erste Gesang besteht aus vierfüßigen, paarweise gereimten jambischen Versen, wirkt recht ruhig und regelmäßig, während im zweiten, unruhigeren Gesang drei bis fünfhebige Verse mit unregelmäßigen Reimbindungen vorherrschen, die an den Höhepunkten sehr unregelmäßig sind, zwischendurch aber den Charakter von vers libres annehmen können. Ahnlich der dritte Gesang, während der vierte metrisch sehr regelmäßig ist; der fünfte ist zwar durchgehend gereimt, aber metrisch sehr unregelmäßig, der Rhythmus ist sehr unruhig, mal stokkend, mal flüssig und setzt sich oft gegen das Metrum, das man gern realisieren möchte, vehement durch. Die Unruhe der Metrik entspricht dem Gang der Handlung, aber eigentlich ist sie unruhiger als die Handlung, denn worum geht es in diesem »Prosopopoema Thorlaugur Himintung des Skalden«, des Skalden mit der himmlischen Zunge, der jedoch nicht den Stabreim benutzt. 6 !

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Der verklagte Amor. V. Gesang, Vers 153. Zit. nach Christoph Martin Wieland: Werke. Hrsg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert. München 1965. Bd. 4, S. 597. Gedicht eines Skalden. Kopenhagen, Odense, Leipzig 1766. Gerstenberg mußte nicht Isländisch lernen, um Voluspá, Hávamál und Snorres Edda zu lesen, die mit lateini-

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In dem ersten Gesang begegnet uns zwar viel Altnordisches, aber keineswegs eine wilde nordische Vergangenheit, sondern heitere, mythologisch umspielte dänische Gegenwart, die durch die beigegebenen Anmerkungen genauso erläutert wird wie die damals noch ungewöhnliche Mythologie. Es tritt zwar ein Alfadur, ein Allvater auf, dieser Alfadur entpuppt sich jedoch als Friedrich V., der regierende dänische König; das mythische Vingolf ist Fredensborg, das Sommerschloß des Königs, während Gladheim, Palast der Freude, das in Hillered gelegene Schloß Frederiksborg ist. Alles spielt sich zwar in Nordseeland ab, alles muß aber nicht königlich sein: Mimers Haupt ist eine Quelle in der Nähe von Sandholm, dem Sommersitz des deutschen Hofpredigers Cramer. Dreht es sich also bloß um ein höfisches Huldigungsgedicht, in welchem der mythologische Schmuck ausgewechselt worden ist, in welchem Freia also Venus und Odin Zeus ersetzen, wenn die Tugenden und die Schönheit des Herrscherpaares gefeiert werden sollen. Nicht ganz, denn die Worte: O Wonne mich — mich neu beseelt? Heil mir Erwachten! bade ganz Den neuen Leib im Sonnenglanz.

sind ernster zu nehmen. Der alte heidnische Skalde Thorlaugur ist zum neuen Leben erweckt worden, d. h. er entdeckt jetzt, daß er auf dem alten Boden steht, sogar auf dem Hügel, wo er und sein Freund Halvard, dem er einen »Todesbund« geschworen hat, begraben liegen. Er erinnert sich an die innige Wikingerfreundschaft, die allerdings sehr empfindsam gefärbt ist, und daran, wie die beiden Freunde eine badende Göttin belauschten, die zwar behende in die Tiefe verschwand, von der der Dichter aber noch zu berichten weiß: Es schertzt um ihren Hals ihr blondes Haar, Verbirgt ihn halb, stellt halb entblößt ihn dar. Die seidnen Locken spielen mit den Lüften Und thauen herab auf Marmor-Hüften [...]

Der Skalde Gerstenberg hat seine Tändeleyen nicht vergessen, und so geht es natürlich weiter mit dem unvermeidlichen: »Der volle Busen wallt auf zarten Wogen [...].« Es ist die typische Rokokosituation des Belauschens, scher Ubersetzung ediert waren. Dr. phil. Flemming Lundgreen-Nielsen hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß das Altisländische keine Kennung: himintunga gekannt hat und daß himintungl Himmelskörper mit tungl: Mond und nicht mit tunga: Zunge zusammenhängt. Die Bemerkungen Gerstenbergs in den Briefen über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Brief 21 scheinen anzudeuten, daß er keine gründlicheren Kenntnisse der altisländischen Sprache besaß. Vgl. auch O. Oberholzer: »Heinrich Wilhelm Gerstenbergs >Das Gedicht eines Skaldenmystische< Lied ist ein hymnischer Preis der Freundschaft, von den Valkyrien oder Nomen gesungen, die das selige Leben der »in die Freude der Götter entrückten Helden« besingen, denen die Valkyrien »Einherium Ol «, das himmlische Getränk der Recken, bringen, mit dem fehlenden Umlaut: dänisch 01, Bier. Die Musen ersetzen, wie der antikisierende Wieland in seinem Gedicht befürchtet, im hohen Norden Wein oder Nektar durch »dicken Gerstensaft« — die Anspielung auf den Namen des skaldischen Dichters ist eigentlich unter Wielands Niveau. Ekstatisch schwören sich die Helden, daß sie einander nicht überleben wollen, was natürlich in dem dritten Gesang die zu erwartenden Folgen hat: Ein anderer Skalde will dem Thorlaugur die Gold- oder Mundharfe abnehmen, die ihm Halvard bei seiner Abreise nach England — wohin denn sonst? — geschenkt hat. Zwar siegt Thorlaugur, gleitet aber im Blut des Gegners aus — und gerade in diesem Augenblick erscheint Halvard, glaubt den blutbeschmierten Freund tot und stürzt sich in sein Schwert. Thorlaugur baut einen Brand-Altar und: [...] ich schwung dreymal Mein Schwert, durchstieß mein brechend Herz, Und sank vergnügt auf seinen Holzstoß nieder.

Ein Grabhügel wird aufgeworfen, der nun: Dem Wandrer süße Schwermuth winkt, Und zur Begeistrung ihn erhebt.

Der empfindsame Freundschaftskult, die süße Schwermut auf dem Friedhof, der enthusiastische Gefühlsüberschwang — all das ist reinstes 18. Jahrhundert, so daß man kaum versteht, daß der gute Thorlaugur im vierten Gesang die Gegenwart so verklärt sieht, daß er meint, in Walhalla zu sein und in Friedrich V. Alfadur zu erkennen. Oder doch, denn so wird ja ausgedrückt, daß das humane 18. Jahrhundert den Traum des edlen Skalden von einem schöneren, volleren Leben erfüllt. Ein Huldigungsgedicht muß Gegenwärtiges preisen, und so nennt der Skalde mit einem zunächst unerwarteten Wechsel der Perspektive sein »mütterliches Land [...] unfreundlich , ungeschmückt und rauh und wüste«, ja »blutig« und voll von »Graun und Meuterey«. Ein Gott hat, so meint er, diese Wildnis veredelt, und mit ihr die Menschen. Während früher auch »das Weib der Ehe mit Helm und Speer« auftrat und die Tochter noch furchterregender war als die Mutter, so

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geht diese jetzt mit ihren acht Kindern im Park friedlich spazieren, worüber sich der Skalde inniglich freut. Mit Sperrdruck folgt dann: Es horcht auf die Lieder Die Kinder Korah, Assaph stand, Und staunt', und warf den Psalter nieder, Den hohen Psalter, und empfand.

Die Forschung hat schon früh diese Zeilen identifiziert, es sind Verse aus einem geistlichen Lied Cramers, und so fragt der Skalde: Wer ist der Gott, den deine Saite singt? Wer, dessen Schauer mich Bebenden durchdringt?

Die friedvolle, harmonische, also eben christliche Gegenwart macht es ihm deutlich, daß die alten heidnischen Götter untergegangen sein müssen, und so singt er voll Nachdruck: Sie sind gefallen, die Götter, gefallen. Laßt's Erde und Himmel widerhallen. Sie sind gefallen, gefallen, gefallen.

In der Schilderung der Götterdämmerung und der letzten entscheidenden Schlacht, die ja stattgefunden haben muß, entfaltet der Skalde als ein rückwärts gewandter Prophet seine Kunst in hyperbolischen Bildern, der den Verfasser der Tragödie Ugolino verrät: Furchtbar billt aus dampfender Grotte Mit weitgeöffnetem Schlund Hinter dem fallenden Gotte Garm der Höllenhund.

In der Gegenwart erkennt er nun »den Abglanz höherer Gottheit, ihre Welt« und schließt das Gedicht mit den Zeilen: Mein schwacher Geist, in Staub gebeugt, Faßt ihre Wunder nicht, und schweigt.

Die alten blutigen Zeiten sind vorüber, aber man erinnert sich ihrer und ihres Gefühlsüberschwanges gern — und auch ihrer Todesfixiertheit. Es sind deutlich ossianische Klänge zu spüren in diesem Gedicht eines Skalden, aber ebenso deutlich sind die hier aufgezeigten Momente eines Huldigungsgedichtes an einen aufgeklärten und humanen Monarchen, einen Friedensfürsten, unter dessen Zepter auch die Künste blühen. Es ist ein Dokument einer temperiert empfindsamen und poetischen Religiosität. Das Erwachen des Heidnischen mündet also schnell ins Christlich-Aufklärerische, was nicht verwunderlich ist, denn christlich-aufklärerisch war die Welt des Kopenhagener Kreises, in der Gerstenberg lebte. Wir haben es hier keineswegs mit einer neuartigen oder originalen Deutung der nordi-

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sehen Mythologie zu tun, sondern mit einer, die grundsätzlich nicht anders ist als die von Paul Henri de Mallet, den weder Gerstenberg noch Klopstock offenbar besonders schätzte, der aber mit seinen Werken Introduction à la Histoire de Dannemarc (1755) und Monumens de la Mythologie et de la Poesie des Celtes et particulièrement des anciens Scandinaves (Kopenhagen 1756) zehn Jahre vor Gerstenberg das >Germanisch-Keltische< in der skandinavischen Vorzeit einer europäischen Öffentlichkeit vorgelegt hatte und dessen Werk von Herder gelobt worden war. Mallet unterscheidet prinzipiell nicht zwischen germanisch und keltisch, subsumiert in seinem Werk vielmehr gallische, britannische und germanische Mythologie unter den Begriff keltische Religion, die er als Gegensatz zur griechisch-römischen Religion auffaßt. Die beiden, natürlich falschen Religionen wurden später durch die wahre Religion des Christentums überwunden und von ihr abgelöst. Es ist aber so, argumentiert der Landsmann Montesquieus, daß von den beiden Religionen die keltische, die in den nord- und westeuropäischen Ländern entstanden und in ihnen heimisch war, infolgedessen unserem Klima, unserer Natur und unseren Bedürfnissen entsprach. Entsprach — aber auch immer noch entspricht, denn Spuren dieser Religion sind noch heute allenthalben zu finden, z. B. in der bis zum Fanatismus gehenden Begeisterung für das Militär, in der Uberzeugung, der Ausgang eines Zweikampfes sei ein Gottesurteil, und schließlich in der Achtung vor der Frau. Auch der Aberglaube der Europäer, meint Mallet, ist auf ihren alten Glauben zurückzuführen, ihre Hexen, Feen, Riesen und Zauberer sind als Überbleibsel der alten Religion aufzufassen und stehen uns deshalb näher als alle Nymphen und Najaden. Es ist, in Klammern, interessant zu sehen, daß Mallet die Schwierigkeit Herders in Auch eine Philosophie der Geschichte sehr wohl sieht: Wenn Gesetze, Sitten und Religion notwendig von Klima und Lebensumständen der Völker abhängen, wie kann man dann eine Sonderstellung des im Orient entstandenen Christentums begründen und seinen Universalitätsanspruch akzeptieren? Für Mallet gilt die mannigfach beobachtete Abhängigkeit auch der Religion von dem Klima und von der Natur der verschiedenen Völker einfach nur für die unwahren Religionen, deren poetischen Wert er aber keineswegs in Frage stellt, vielmehr hervorhebt. Deshalb argumentiert er: Da wir keine Römer oder Griechen sind, sondern Nachkommen der alten Kelten oder Germanen, ist die keltische Mythologie in Übereinstimmung mit unserer Natur und unserem Klima. Deshalb sollten wir uns in diese Mythologie und in die von ihr inspirierte alte Dichtung vertiefen — und nicht in Homer. Sie sollten wir zum Leben wiedererwecken. Die Barden, diese alten Poeten und Theologen unserer Väter, sollten wir befragen und ihnen in den dunklen und schauervollen Wäldern lauschen, wenn sie ihre heiligen und mystischen Lieder singen. Und wir

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können diese Vorfahren tatsächlich befragen, weil wir in der Edda ihren Glauben und ihre Dichtkunst überliefert haben. Auch die schon christlich gewordenen Isländer konnten sich keine Poesie ohne den Reichtum ihrer nationalen, angestammten Mythologie vorstellen. Sie waren in ihrer Dichtung nur konsequent und nicht so unvernünftig und geschmacklos wie spätere europäische Dichter, die Wahrheit und Dichtung vermischten und die Apostel sich mit Nymphen unterhalten ließen. Mallet sieht die gesamte Edda, sowohl die ältere Lieder-Edda als auch Snorri Sturlusons Skaldenlehrbuch als poetische und poetologische Dokumente, die aber nicht bloß von historischem Interesse sind. Im Rückgang auf die Edda kann man verkrustete moderne Formen durchbrechen, aber mehr noch: Die Dichtungen der Edda gibt »un nouveau point de vue«, läßt uns Altbekanntes neu und frisch sehen, mit eingeschlossen die »notwendigen Wahrheiten« (vérités nécessaires), die wir natürlich nicht bei den Barden suchen müssen, sondern aus unserer Philosophie und Religion schon vorher kennen. Wir haben es bei Mallet mit einem sowohl gelehrt-kritischen als auch mit einem poetischen Interesse für die nordische Mythologie bzw. mythologische Dichtung zu tun, von der er eine neue sensibilisierende Wirkung erwartet, die die griechisch-römische nicht mehr leisten kann, weil sie für uns ein bloßes Bildungserlebnis bleibt, letzten Endes fremd, da nicht in Ubereinstimmung mit unserer Natur. Die nordische Mythologie ist für Mallet weder bloßer Ersatz für eine schal gewordene antike Mythologie, eine Sammlung von literarischen Requisiten, die beliebig verwendbar sind, noch eine neue >gültige< Mythologie im Sinne der Romantiker. Sie ist vaterländisch, sie ist poetisch, erkenntnisfördernd sogar — aber sie kann weder Religion noch Philosophie ersetzen, noch sie in irgendeiner neu zu schaffenden Synthese überholen. Für Mallet bleiben diese Religion und diese Mythologie geschichtliche Vergangenheit, die aber wieder lebendig und für die Dichtung fruchtbar gemacht werden sollte. In seinem Buch Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland (Frankfurt a.M. 1973, S. 272) macht Gerhard Kaiser auf eine Anmerkung Klopstocks zu Hermanns Tod (SW IV, 362, Leipzig 1854—55) aufmerksam, in welcher es heißt: »Unsere Vorfahren, die Scythen, hatten in den ältesten Zeiten weder Untergötter noch Halbgötter. Sie verehrten einen Gott. Ihre Colonien in Europa änderten den Begriff vom höchsten Wesen durch Zusätze, obgleich nicht so sehr, als die Verehrer Zeus oder Juppiters«. Fast genau dieselben Thesen hatte Mallet schon 1755 im Hinblick auf die >skythische< Religion unserer Vorfahren formuliert: L a Religion des Scythes étoit fort simple dans les premiers terns [...]. Elle enseignoit qu'il y avoit un Dieu suprême, Maître de l ' U n i v e r s , auquel tout étoit soumis & obéis-

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sant (a). Elle l'appelloit l'auteur de tout ce qui existe, l'Eternel, l'Ancien, l'Etre vivant [...]. Elle attribuoit à ce Dieu une puissance infinie, une science sans bornes, une justice incorruptible [...] c'étoit une extravagance impie, que de lui attribuer une figure humaine [...]. D e cette Divinité suprême étoient émanées, une infinité de Divinités subalternes & de Génies [...].

Diese Gedanken sind weder in dem einen noch in dem anderen Falle besonders originell, vielmehr war die These, daß die ursprüngliche >natürliche Religion< monotheistisch gewesen war, im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Das Neue bei Klopstock war, daß er von »der adventistischen Qualität der germanischen Religion« (Kaiser op. cit., S. 273) überzeugt war, d.h.: So wie die jüdische Religion dem kommenden Messias den Weg geebnet, das auserwählte Volk auf das Kommen Christi vorbereitet hatte, so war auch die germanische Religion für die Germanen ein Weg zum Christentum gewesen. Deshalb ist sie ehrwürdig, ihr Andenken darf nicht verlöschen, ihre gewaltsame Unterdrückung durch Karl den Großen, als er die Sachsen zwangsbekehrte, war verwerflich. Mit dem Katholizismus setzte eine römische Überfremdung ein, erst Luther etabliert ein echtes, inniges und deutsches Christentum. Verwandte Gedanken finden wir später bei Grundtvig, für den die altnordischen Götter die nordischen Völker zum Christentum hin bilden. So kann Klopstock die germanische Mythologie der klassischen vorziehen, würde aber seine biblischen Dichtungen natürlich nicht als mythologisch auffassen. In der Ode Der Hügel und der Hain formulierte er das Problem so: Weck' ich aus dem alten Untergange Götter Z u Gemählden des fabelhaften Liedes auf; So haben die in Teutoniens Hain Edlere Züge für mich ! Mich weilet dann der Achäer Hügel nicht: Ich geh zu dem Quell des Hains!

Klopstock schöpft also aus »dem Quell des Hains«, aus der nordischen Mythologie, mit dem Bewußtsein, daß diese Göttergestalten anders als Apollon oder Aphrodite zu der großen nationalen Vergangenheit der deutschen, d. h. der germanischen und >keltischen< Völker gehören. Im Gegensatz zum christlichen Gott sind diese alten Götter für ihn jedoch längst untergegangen, wie auch für Gerstenberg in dem Lied eines Skalden und für Mallet, der, wie schon erwähnt, der Überzeugung war, daß schon die alten Isländer ihre >keltische Mythologie< bloß poetisch verwendeten, sie aber auch verwenden mußten, weil sie in Übereinstimmung mit ihrer Natur und ihrer nationalen Tradition dichteten. Doch scheint im nachhinein ein gewichtiger Unterschied deutlicher zu werden. Von dem Gedicht Iduna und der späten und völlig erfolglosen Minona abgesehen hat Gerstenberg nichts Bardisches oder Skaldisches drukken lassen. In einem Brief an Gleim heißt es über Das Gedicht eines Skalden :

»... vom dänischen

Ende Deutschlands

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»Es ist ein Gelegenheitsgedicht, soll von mir das erste und letzte in seiner Art bleiben; ich verlange keine Nachfolger, ich mache mir keinen Anhang«.7 Natürlich ist Gerstenberg bestrebt, Gleim etwas Verbindliches zu sagen, der kein Freund des >Bardengebrülls< war, wie der Gerstenbergforscher Wagner hervorhebt; Verbindliches muß jedoch nicht unbedingt unwahr sein. Gerstenberg schrieb nichts Skaldisches mehr. Er schrieb überhaupt weniger als erwartet, aber trotzdem darf man sich die Frage stellen, warum sich unter diesem wenigen kaum Skaldisches finden läßt, da diese mythologische Erneuerung Erfolg hatte und von dem unbestritten größten poetischen Genie Deutschlands übernommen worden war. Wie aus meinen Bemerkungen zu Gerstenbergs Gedicht eines Skalden hervorgeht, tut sich meines Erachtens eine Kluft auf zwischen dem poetischen Potential der nordischen Mythologie und dem humanen, aufgeklärten Gehalt des Gedichts. Die Diskrepanz wird kaum dadurch aus der Welt gebracht, daß der Skalde durch ein Wunder in die Zeit Friedrichs V. versetzt wird. Sein Lied soll die friedliche Gegenwart des multinationalen Gesamtstaates mythisch erhöhen, kann es aber in solcher Inszenierung nur dadurch tun, daß es die nordische Vergangenheit als eine kriegerische und grauenvolle, zwar große, jetzt aber glücklich überwundene Zeit schildert. Klopstocks Hinwendung zum Germanisch-Deutschen wurde einerseits inhaltlich viel radikaler als der Patriotismus Gerstenbergs, der, wie wir sahen, deutlich die Hauptstadt des Gesamtstaates und dessen König meinte, andererseits ästhetisch gelöster. Während Gerstenberg meinte, in Anmerkungen sein Wissen über die nordische Vergangenheit dem Leser mitteilen zu müssen, schuf sich Klopstock eine unbestimmtere Vergangenheit, einen teutonischen Bardenhain, der ihm viel mehr Spielraum ließ. Klopstock fühlte sich auf einmal als christlicher Prophet und germanischer Barde, und, obwohl bei ihm das Christliche immer dem Nationalen übergeordnet war, so tritt der Barde auch manchmal mit dem Anspruch des heiligen Sängers auf, und das teutonisch verkappte Deutsche ersetzt bei Klopstock zusehends das im alten Sinne Patriotische. 8 Der Skalde Gerstenbergs freut sich 7 8

Zit. nach Wagner, Gerstenberg und der Sturm und Drang (Anm. 3), Bd. 2, S. 258. Eine ähnliche Entwicklung vom Patriotischen zum Nationalen läßt sich bei J. Ewald, dem dänischen »Schüler« Klopstocks beobachten. Vgl. Flemming Lundgreen-Nielsen: »Mulm og Skraek og Kamp og Ded. Johs. Ewalds »Rolf Kragealtnordischen< Heroismus. In dem späteren Werk Fiskerne (1779) wird das moderne national Dänische gepriesen, was auf dem Hintergrund der in diesem Aufsatz nur angedeuteten politischen Entwicklung nicht überraschen kann.

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darüber, daß die Schlachten vorüber sind, die Thusnelda, die Frau Hermanns, in dem Bardiet Hermanns Schlacht so besingt: Purpurblumen sind auf dem Schilde Meines Hermanns ! Blühend ist seine Wange bei dem Fest, blühender in der Schlacht! Schön flammt's ihm von dem blauen Auge, wenn es Tod gebeut! Tod hat's drei Tage geboten, Ihr blutigen Eroberer, euren Tod ! Habt Ihr etwa mit Deutschlands Säuglingen und Bräuten Mitleid gehabt? ja, euren Tod drei Tage lang!

Aber auch, wo das Blutrünstig-Germanische nicht mit einem entschuldigenden Hinweis auf die Grausamkeit des Feindes heraufbeschworen wird, wo Klopstock der aufgeklärte Zeitgenosse bleibt, läßt er uns nicht daran zweifeln, daß sein Patriotismus sich auf ein deutsches Vaterland bezieht. In dem Vaterlandslied für Johanna Elisabeth von Winthem, seiner späteren Frau, heißt es im Jahre 1770: Ich bin ein deutsches Mädchen! Mein Aug' ist blau und sanft mein Blick, Ich hab' ein Herz Das edel ist und stolz und gut. Ich bin ein deutsches Mädchen! Zorn blick mein blaues Aug' auf Den, Es haßt mein Herz Den, der sein Vaterland verkennt. Ich bin ein deutsches Mädchen! Erköre mir kein ander Land Zum Vaterland, War' mir auch frei die große Wahl ! Ich bin ein deutsches Mädchen ! Mein hohes Auge blickt auch Spott, Blickt Spott auf Den, Der Säumens macht bei dieser Wahl [...]

In den Auseinandersetzungen über Begriffe wie Vaterland, Nation und Patriotismus im dänischen Gesamtstaat, die in dieser Epoche ihren Anfang nahmen, hat Klopstock eindeutig Position bezogen. Während der Schleswiger Gerstenberg mit Cramer und vielen anderen Deutschen in Kopenhagen der Ansicht waren, im Königreich Dänemark hätten sie ein Vaterland — oder hätten sich ein zweites Vaterland erkoren —, bereitete sich bei Klop-

vom dänischen Ende Deutschlands«

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stock, der länger in Kopenhagen lebte als Gerstenberg, etwas Neues vor, ein Nationalgefühl, das bei Deutschen und Dänen die weitere Existenz des Gesamtstaates und die Symbiose zwischen Deutschen und Dänen in diesem Staate auf die Dauer unmöglich machen mußte, obwohl er kaum an diese Konsequenzen dachte, als er sein deutsches Mädchen über Deutschland in dem schon zitierten Vaterlandslied singen ließ: [...] Erköre mir kein ander Land Zum Vaterland, Wär' mir auch frei die große Wahl [...]

Der vorwiegend von deutschen und schleswig-holsteinischen Adligen regierte Gesamtstaat war die Voraussetzung für den Kopenhagener Kreis — und natürlich auch dafür, daß Klopstock bis zu seinem Lebensende seine Dichtergage beziehen konnte, um die er nach dem Sturz des älteren Bernstorff bangte. Die Reaktionen der Deutschen in Kopenhagen auf die national-dänische Welle nach dem Fall Struensees sind teilweise recht überheblich und beweisen, daß sie die Parallele zur französischen Dominanz an den deutschen Höfen jedenfalls nicht zu ziehen vermochten und sich kein Gedicht vorstellen konnten, in welchem ein dänisches Mädchen mit blauen Augen ebenso entschieden ihr Dänentum verträte. Das Indigenatsgesetz, d. h. also das Gesetz, laut welchem nur Personen, die im Gesamtstaat geboren waren, Beamtenstellen bekleiden konnten, war, wie Α. P. Bernstorff meinte, ein Eingriff in die Rechte des absoluten Monarchen, der nach eigener Auffassung verpflichtet war, die besten Beamten ohne Rücksicht auf Nation und Herkunft zu wählen. Die deutschen und holsteinischen Adligen hielten sich auch nach Haegh-Guldberg für die qualifizierteren, und so schrieb etwa Fritz Stolberg, daß die Dänen ohne die Deutschen ewig zurückbleiben würden und noch Arroganteres; das sind verständliche Unmutsäußerungen einer Elite, die sich, wie alle Eliten, für unersetzlich hält. Sie fallen deshalb historisch auch weniger ins Gewicht als der deutsche Patriotismus Klopstocks, der in der folgenden Generation immer deutlicher nationalreligiös wurde, so z.B. bei Arndt, wie Gerhard Kaiser überzeugend nachgewiesen hat. Das spätere dänische Gegenstück dazu ist Grundtvigs Uberzeugung davon, daß Dänemark ein neues Palästina sei und daß die Dänen ein neues auserwähltes Volk Gottes bildeten. Die Frage, die sich hier stellt, ist natürlich, ob am Ende des 18. Jahrhunderts die fremde, dänische Umgebung die Deutschen in Kopenhagen schon deutscher machte. Einige Bemerkungen von Voß machen die damals klar zutage tretenden nationalen und sozialen Spannungen deutlich und damit auch die Bejahung der Frage wahrscheinlich. In seinem allerdings erst 1819 erschienenen Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier heißt es:

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Bernstorf hatte so viele Deutsche nach Kopenhagen gebracht, daß die Dänen sich gekränkt fühlten; durch häufige Reibungen entbrannte der noch fortlodernde Haß, der auf alles, was Deutsch heißt, überschlug. Im Kampfe der Parteien gewöhnte sich Friedrich Leopold früh an ein hohes Wir, das Anhänglichkkeit foderte, und gegenüber nur Gemeines und Verächtliches erkannte. So entstand jenes Gemisch vornehmer, sich einander verklärender Gefühle, die bald in lyrischem Tone laut wurden: Ich bin ein Deutscher! Ich ein Graf! ein Stolberg aus mythischem Alterthum!

Voß diagnostiziert ein aristokratisches deutsches Nationalgefühl bei Stolberg als Ergebnis der Auseinandersetzungen in Kopenhagen, aber es ist gewiß verfrüht, schon von einem modernen Nationalbewußtsein zu sprechen, obwohl diese Spannungen auch bei Klopstock eine weniger patriotische« und mehr >nationale< Entwicklung beschleunigt haben mögen, ohne daß es ihm wirklich bewußt wurde. Es war wohl vielmehr so, daß die anfängliche Symbiose der fünfziger Jahre bis in die siebziger Jahre den Deutschen allgemein so gelungen erschien, daß die nordische Vergangenheit ohne weiteres mit einer deutschen Vorzeit gleichgesetzt werden konnte. Kopenhagen war, um Herders Formulierung wieder aufzunehmen, immer noch das »dänische Ende Deutschlands«, das auf diese Weise — über recht rhetorisch anmutende und agierende Skalden und Barden — zum Entstehen eines geschichtlich vertieften deutschen Nationalgefühls beitrug. Ein solches Nationalgefühl gibt es bei dem Skalden Gerstenberg noch nicht — er stand einerseits dem Alten in der Gestalt des Gesamtstaates so nah, daß sein Gedicht immer noch die >Ideologie< der staatstragenden Elite ausdrückt, andererseits aber auch dem Neuen näher in der Gestalt des viel geschichtlicher denkenden Herder, der sich lebhaft für die echten Uberlieferungen der nordischen Völker interessierte, die er u.a. durch die Schleswigschen Literatur brief e kennenlernte. Die rechte Perspektive gewinnt man jedoch erst, wenn man bedenkt, daß die Erschütterung der Symbiose, die auch den Kopenhagener Kreis auflöste, so daß Klopstock, Cramer, Sturz und Gerstenberg nach Schleswig-Holstein, Hamburg, Oldenburg und Lübeck zogen oder ziehen mußten, erst ein Vorzeichen einer kommenden Entwicklung war. Die dänische Literatur der Jahrhundertwende mit den Namen Baggesen, Schack, Staffeidt, Steffens und Oehlenschläger wurde eine neue Zeit der Blüte, in welcher sich die dänische geistige Elite des Gesamtstaates nunmehr beiden Kulturen verbunden wußte, in beiden Sprachen schrieb und sich auch in Deutschland heimisch fühlte. Erst der unvermeidliche nationale Aufbruch im 19. Jahrhundert bedeutete das Ende dieser engen Beziehungen. So gehört Gerstenberg vielleicht nicht in die dänische Literaturgeschichte, jedoch zweifelsohne in eine >Geschichte der Literatur Dänemarks«.

Klaus Bohnen Der Kopenhagener Kreis und der Nordische Aufseher

I Am io. Oktober 1761 berichtet Johann Heinrich Schlegel an Gerstenberg von einem »Entwurf, in den ich recht verliebt war«, und der nun, da Gerstenberg nicht schon »diesen Winter« nach Kopenhagen hatte kommen können, sich nicht verwirklichen ließe: Außer daß wir uns beyde für uns selber hätten oft, recht oft sehen wollen, so hatte ich schon mit Herr Klopstocken und Cramern, mit Funken und mit einigen andern, die Ihnen gewiß gefallen haben würden, wenn Sie sie kennten, die Abrede genommen, daß wir wöchentlich eine Zusammenkunft halten wollten, die blos den schönen Wißenschaften und der Freundschaft geweyhet seyn sollte, da man die Gelegenheit hätte, sich, was man gelesen was man gedacht hatte, ohne durch das Geräusch der gewöhnlichen Gesellschaften gestört zu werden, mitzutheilen, seine Arbeiten vorzulesen und Kritiken von seinen Freunden zu erlangen. '

Einige Monate später spricht er von einem »Zirkel« in Kopenhagen, und zwar in bezug auf Christian Felix Weiße, für den er mit Bedauern keinen »Weg« sieht, »ihn in den unsrigen hirher nach Dänemark zu bringen«. ! Erst zwei Jahre später schließt sich Gerstenberg diesem »Zirkel« an, und in wenigen Jahren legt er dort sein literarisches Werk vor, das 1769 in Herder den Wunsch aufkommen läßt, Kopenhagen anzulaufen und mit Gerstenberg zu sprechen, um »Funken zu schlagen, zu einem neuen Geist der Litteratur, der vom Dänischen Ende Deutschlands anfange und das Land erquicke«.' Das Bewußtsein, einen literarischen >Kreis< etabliert zu haben, der sich den Königsberger, Halleschen, Leipziger oder Berliner >Zentren< an die Seite

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In: Klaus Bohnen: »Ein literarischer >Zirkel< in Kopenhagen. Unveröffentlichte Briefe von Johann Heinrich Schlegel an Gerstenberg«. In: Zs. für deutsche Philologie 99 (1980), S. 52$ f. Ebd., S. 531.

' Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Herder: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 4. Berlin 1877, S. 435.

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stellen konnte, war früh entwickelt und wurde spätestens seit den sechziger Jahren — sichtbar etwa an dem vielfach geäußerten Interesse von Literaten, Kopenhagen als kulturelles Ziel von Reisen anzuvisieren — auch von der Außenwelt anerkannt. Zwischen 1750 und 1770, verknüpft mit der Wirkungszeit des Inspirators und gesellschaftlichen Mittelpunkts, Johann Hartwig Ernst Bernstorffs, 4 hat dieser Zirkel seine Lebenskraft entfaltet und bewahrt. In dieser Zeit avancierte er zu einem Zentrum der deutschen Aufklärung, geographisch als Teil des dänisch-deutschen Gesamtstaats gewiß peripher, in seinem gedanklichen Gewicht jedoch durchaus eigenständig und als Alternative oder Korrektiv zur deutschen Entwicklung von nicht zu überschätzender Bedeutung. ! Daß dieser Kreis überhaupt dort entstehen konnte, war überraschend genug. Wir wissen von Klopstocks langem Zögern, das durch Bernstorff vermittelte Angebot Frederiks V. anzunehmen, weil ihm seine Anwesenheit in Kopenhagen — der Vorstellung der Zeit entsprechend — nicht nur als räumliches Exil vorkommen mußte, sondern ihm überdies als Versetzung in eine kulturelle Einöde geistiger Belanglosigkeit erschien. Das Urteil Ewald Christian von Kleists, der 1736 — 41 im dänischen Heer diente, in einem Brief an Ramler hatte diese Einschätzung plastisch artikuliert: »Es herrscht daselbst eine sehr stille und schlaafmachende Lebensart, und die Dummheit auf einem Throne von Eis sitzend, den Kopf auf einen Grützbeutel gestützt, gebiethet dem ganzen Lande.« 6 Seitdem hatte sich allerdings die Szene in Kopenhagen geändert, und die »Großen« litten nicht mehr an der vielbeklagten und vielbespöttelten »Schlafsucht«, registrierbar an der ausgesprochenen — und wie auch immer motivierten — Werbung um das junge (und keineswegs >etablierteInsel< auszubauen und beispielsweise Gottfried Benedikt Funk und Johann Friedrich Barisien, seine Mitarbeiter am Aufseher, an sie zu binden. Aber trotz aller Bemühungen Cramers um einen Brückenschlag zu seinem Gastland verstärkte dieser Zuzug der deutschen »witzigen Köpfe« nur den >insularen Status