Zentren der Aufklärung: II Königsberg und Riga [Reprint 2012 ed.] 9783110942484, 9783484175167


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German Pages 272 [276] Year 1995

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Table of contents :
Vorwort
Die Kultur West- und Ostpreußens in den Jahren 1772 bis 1815
Königsberg, Thorn und Danzig. Zur Geschichte Königsbergs als Zentrum der Aufklärung
Material zur Charakteristik des kulturellen Einzugsgebiets von Königsberg i. Pr. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Kant als akademischer Lehrer
Der junge Herder in Königsberg
Andrej Bolotov. Königsberg als Bildungserlebnis eines russischen Aufklärers
Christian Jakob Kraus und die Männer der preußischen Reform
Kants Tischgesellschaft nach dem Bericht von Johann Friedrich Abegg
Hippel und sein Freundeskreis
»Brücken und Fähren der Methode«. Zu Hamanns frühen Bildern als Grundlage sprachkritischer Autorschaft
Zur Geschichte des geistigen Lebens in Riga während der Aufklärungszeit
Zur Mentalität livländischer Aufklärungsschriftsteller. Der Patriotismus August Wilhelm Hupels
Georg Friedrich Parrots Tätigkeit in Riga (1795 — 1801)
Personenregister
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Zentren der Aufklärung: II Königsberg und Riga [Reprint 2012 ed.]
 9783110942484, 9783484175167

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Wolfenbiitteler Studien zur Aufklärung Herausgegeben von der Lessing-Akademie

rïrïïrïïiLiJiimrïïiïïiiiïïi

Band 16 Zentren der Aufklärung II

Königsberg und Riga Herausgegeben von Heinz Ischreyt

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Redaktion: Claus Ritterhoff · Lessing-Akademie

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zentren der Aufltlärunß. - Tübingen : Niemeyer. 2. Königsberg und Riga / hrsg. von Heinz Ischreyt. - 1995 (Wolfenbiitteler Studien zur Aufklärung ; Bd. 16) NE: Ischreyt, Heinz [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-17516-8

ISSN 0342-5940

© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Texterfassung und -bearbeitung: Lessing-Akademie, Wolfenbüttel. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

H E I N Z ISCHREYT: HENRYK RIETZ:

Vorwort

VII

Die Kultur West- und Ostpreußens in den Jahren

1772 bis 1815

ι

Königsberg, Thorn und Danzig. Zur Geschichte Königsbergs als Zentrum der Aufklärung

9

Material zur Charakteristik des kulturellen Einzugsgebiets von Königsberg i. Pr. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

29

STANISLAW SALMONOWICZ:

H E I N Z ISCHREYT:

W E R N E R STARK:

Kant als akademischer Lehrer

MARGOT WESTLINNING:

Der junge Herder in Königsberg . . . .

Andrej Bolotov. Königsberg als Bildungserlebnis eines russischen Aufklärers

51 69

ADELHEID REXHEUSER:

WILFRIED FORSTMANN:

87

Christian Jakob Kraus und die Männer der

preußischen Reform

123

Kants Tischgesellschaft nach dem Bericht von Johann Friedrich Abegg

143

RUDOLF MALTER:

JOSEPH K O H N E N :

Hippel und sein Freundeskreis

169

»Brücken und Fähren der Methode«. Zu Hamanns frühen Bildern als Grundlage sprachkritischer Autorschaft . .

191

Zur Geschichte des geistigen Lebens in Riga während der Aufklärungszeit

211

RENATE KNOLL:

HENRYK RIETZ:

VI

Inhaltsverzeichnis

Zur Mentalität livländischer Aufklärungsschriftsteller. Der Patriotismus August Wilhelm Hupeis . . . .

217

und KÄRLIS keit in Riga (1795 —1801)

237

A N N E L I E S GRASSHOFF:

JÄNIS STRADINS

Personenregister

ARONS:

Georg Friedrich Parrots Tätig-

Vorwort

Es liegt nahe, Königsberg unter die Zentren der deutschen Aufklärung zu zählen: Hier wirkten Kant, Hamann und Hippel, hier erfuhr Herder seine erste Prägung; und hier wurde die in der deutschen Historiographie so oft zitierte Definition für die Bewegung, die Aufklärung genannt wird, formuliert. Auch liegt es nahe, neben Königsberg Riga zu nennen, denn zwischen beiden Städten bestanden enge Beziehungen. In Riga suchte — freilich vergeblich — Hamann sein Glück, hier hatte Herder seine erste Wirkungsstätte, und die wichtigsten Schriften der großen Königsberger Denker wurden in Riga von ihrem Landsmann Johann Friedrich Hartknoch verlegt; ja, man kann die paradoxe Behauptung aufstellen, daß seine Handlung der einzige wirklich berühmte Königsberger Verlag gewesen sei, denn Hartknoch war nicht nur bei Kanter in die Lehre gegangen, sondern hatte sein Geschäft auch als Filiale seiner Buchhandlung gegründet. Darf man aber Königsberg bedenkenlos neben andere deutsche Zentren der Aufklärung stellen? Neben Halle und Göttingen mit ihren berühmten Universitäten, neben das wirtschaftlich blühende Leipzig, den Mittelpunkt des deutschen Buchhandels, neben Berlin, die Residenz einer der drei »aufgeklärten Monarchen« mit seiner Akademie der Wissenschaften? Und wie steht es mit Riga? Zwar war es die volkreichste Stadt und der wichtigste Handelsplatz zwischen Königsberg und St. Petersburg, doch konnte es sicher nicht den Anspruch auf den Rang eines bedeutenden Kulturzentrums im deutschsprachigen Raum erheben, ja wahrscheinlich nicht einmal ohne Einschränkung auf den Namen des wichtigsten Kulturzentrums in der ostbaltischen Region. Auch Mitau, die nahegelegene Residenz der Herzöge von Kurland, erlangte im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts durch die Academia Petrina, ein hochschulartiges Institut, an dem einige Professoren wirkten, die weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurden, einen mehr als lokalen Rang. So dachte man um die Jahrhundertwende, als für die drei baltischen Gouvernements im russischen Kaiserreich eine Landesuniversität gegründet werden sollte, — Kurland hatte inzwischen seine Selbständigkeit

Vili

Vorwort

verloren und war Rußland einverleibt worden — nicht etwa an den zentralen Standort Riga, sondern an Mitau, bevor man sich vor allem aus politischen Gründen für das livländische Dorpat entschied, das allerdings schon einmal unter schwedischer Herrschaft eine Universität gehabt hatte. Mitau war auch ein für das Land wichtiger Standort des Buchwesens und beherbergte einen — freilich nur verhältnismäßig kurze Zeit existierenden — Verlag von überregionaler Bedeutung, der von Jacob Friedrich Hinz, einem Freund Hamanns und Hartknochs, geführt wurde und eng mit dem Geschäft des letzteren zusammenarbeitete. Wichtiger war jedoch die Rolle Mitaus bei der Herausgabe volksaufklärerischer Schriften für die lettische bäuerliche hörige Bewohnerschaft durch die herzogliche Hofbuchdruckerei des aus Rügen stammenden Johann Friedrich Steffenhagen. Auch die mitauische Freimaurerloge, die eng in das Kulturleben der Stadt integriert war, brauchte den Vergleich mit den Rigaer Logen nicht zu scheuen. Vor allem aber machten die engen Beziehungen zur Berliner Aufklärung die Hauptstadt Kurlands sowohl in der deutschen Publizistik bekannt als auch zu einem beachtlichen Umschlagplatz im westöstlichen Informationsaustausch. Neben Riga und Mitau wären noch weitere wichtige Punkte auf der kulturellen Landkarte zu nennen, so die Hauptstadt des Gouvernements Estland Reval mit seinem ehrwürdigen Gymnasium und dem von Kotzebue gegründeten Theater, und dann vor allem seit 1802 Dorpat, wo eine Universität entstand, die durchaus den Vergleich mit deutschen Universitäten aushalten konnte. A m wichtigsten für die Charakteristik des ostbaltischen Kulturraums war aber die Rolle der Literaten auf dem flachen Lande: der Pastoren, Ärzte und vor allem auch der Hauslehrer. (Selbst Hamann war ja im kurländischen Grünhof Hauslehrer gewesen!) Einer der fruchtbarsten und weit über die Landesgrenzen hinaus wirkenden livländischen Aufklärungsschriftsteller August Wilhelm Hupel verbrachte den Hauptteil seines Lebens in dem — man könnte vielleicht sagen — Flecken Oberpahlen. Der wichtigste mit seinen Schriften in den lettischen Bereich hinein ausstrahlende kurländische Aufklärungsschriftsteller Gotthard Friedrich Stender war Pastor auf dem flachen Lande; und Karl von Osten-Sacken griff in deutschen Zeitschriften vom fern im kurländischen Oberland liegenden Gut Alt-Sehren in den Streit zwischen dem Oberhofprediger Starck und den Berlinern Biester und Nicolai ein. Die aufklärerischen Initiativen waren also weit gestreut, und wenn hier Riga als Zentrum genannt wird, so soll dieser Name stellvertretend für die vielen Konzentrations- und Sammelpunkte in Livland, Estland und Kurland stehen, um die originelle Rolle dieses Gebietes innerhalb der deutschen und osteuropäischen Aufklärung zu bezeichnen. Aber auch in Ost- und Westpreußen dürfte die Struktur der kulturellen Schwerpunkte derjenigen im ostbaltischen Bereich ähnlicher gewesen sein

Vorwort

IX

als der in Sachsen oder gar in Süddeutschland. Hinzu kommt, daß das politische Zentrum Königsberg zwar Universitätsstadt war, daß aber die geistigen Impulse, die von hier ausgingen, nicht unbedingt mit diesem Institut zusammenhingen. Vor allem der für das Gesicht der Königsberger und darüber hinaus der deutschen Aufklärung so wichtige Hamann stand eher in einem Gegensatz zur Universität, und selbst ihr berühmtester Lehrer Kant dürfte eine gewisse Distanz zu ihr gewahrt haben. Neben diese ohne Zweifel wichtige Institution tritt also offenbar eine mit den Strebungen der Aufklärung durchaus in Ubereinstimmung stehende schöpferische freie Verbindung sich als »Selbstdenker« verstehender Persönlichkeiten, die trotz z.T. durchaus unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Uberzeugungen und trotz gelegentlicher persönlicher Spannungen miteinander freundschaftlich verkehrten und gerade wegen dieser Gegensätze produktiv wurden. Alle diese Beobachtungen legen die Frage nach den allgemeinen, realen Bedingungen für die Aufklärung in dieser Region nahe, was umso mehr berechtigt ist, als sie ihrem Selbstverständnis nach auf Praxis gerichtet ist, obgleich sie sich zunächst als philosophisch-wissenschaftliche Bewegung darstellt. So schien es sinnvoll zu sein, sich auf diesem Symposion nicht erneut etwa mit Wirkungen der Philosophie Kants und ähnlichen Fragen zu beschäftigen, sondern den Versuch zu machen, gleichsam im Vorfeld der eigentlichen Aufklärungsforschung einige Züge des kulturellen Lebens der Region darzustellen, also ein Bild zu entwerfen, in dessen Zusammenhang die zentrale Funktion Königsbergs im Hinblick auch auf die Möglichkeiten der Aufklärungsbewegung entworfen wird. Daß die hier vorgelegten Beiträge, und vor allem diejenigen über den ostbaltischen Raum, nur Anmerkungen über unser Thema liefern würden, war unumgänglich, da weder die Quellenlage noch der gegenwärtige Forschungsstand eine umfassende Darstellung des so umfangreichen und komplizierten Stoffes im engen Rahmen einer Tagung erlaubten. Aber gerade deswegen scheint es sinnvoll zu sein, auch disparate Beobachtungen vorzulegen. Außerdem hat sich leider ihre Veröffentlichung aus Gründen die von den Herausgebern der Reihe und des Bandes unabhängig sind, um Jahre verzögert. Trotzdem haben sie sich entschlossen, die Vorträge in der ursprünglichen Form zu publizieren, zumal Ergänzungen nur Stückwerk geblieben wären. Mit neuen Erkenntnissen ist in den nächsten Jahren zu rechnen, da sich wegen der politischen Veränderungen in Nordosteuropa das historische Interesse und die Quellenlage offenbar verändert haben. Auch in diesem Zusammenhang möge die verspätete Veröffentlichung der Beiträge dieses Symposions, für dessen Zustandekommen der Werner-Reimers-Stiftung großer Dank gebührt, vor allem als Anstoß für die internationale Erforschung der europäischen Aufklärung im ostbaltischen Raum verstanden werden. Heinz Ischreyt

Henryk Rietz

Die Kultur West- und Ostpreußens in den Jahren 1772 bis 1815*

Im letzten Viertel des 18. und ersten Viertel des 19. Jahrhunderts hatten vor allem die großen Städte Danzig, Elbing, Thorn und im Osten Königsberg einen erheblichen Anteil an der kulturellen Entwicklung des Gebietes, das in der polnischen Historiographie Pomorze genannt wird und die Länder an der Ostseeküste von Hinterpommern bis Ostpreußen umfaßt. Damit soll aber nicht gesagt werden, daß die großen Städte allein das kulturelle Klima der Region bestimmt hätten, denn das gesellschaftliche und kulturelle Leben wurde auch von den kleinen Orten und von der Aristokratie und dem Kleinadel mitgeprägt. Es dominierte jedoch die ökonomisch starke Bürgerschaft, und sie war oft Initiator und Mäzen kultureller und wissenschaftlicher Vorhaben. Insbesondere boten die großen Städte auch die Voraussetzungen für die Befriedigung der intellektuellen Bedürfnisse der immer anspruchsvoller werdenden Bürger, der Beamtenschaft und des Adels. Wichtig für das geistige Leben des Gebietes waren auch seine mannigfaltigen Beziehungen. In Westpreußen unterhielten nicht nur die Polen zahlreiche persönliche Verbindungen in die polnische Republik, sondern auch die Angehörigen der deutschen Elite: Sie waren nach wie vor an den polnischen Angelegenheiten interessiert. Andererseits gingen vor allem über Danzig und Thorn starke Wirkungen der westeuropäischen, insbesondere deutschen Aufklärung aus. In Ostpreußen bestimmte Königsberg Kultur und Wissenschaft. Hier war ein Kraftfeld der deutschen Aufklärung entstanden, das über das kurländische Mitau, über Riga und Petersburg bis weit nach Rußland hinein ausstrahlte; und, besonders nach der Einbeziehung der bisher zu Polen gehörender Gebiete in den preußischen Staat, wuchsen auch die Einflüsse Königsbergs nach Polen. Nach der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 zeichnete sich eine Zweiteilung des kulturellen Lebens ab: Neben einer deutschen gab es eine polni*

Dieser Beitrag ist ein Autorreferat des Abschnittes: »Kultura Pomorza Wschodniego w latach 1772 — 1815«. In : Historia Pomorza (Bd. 1, Tl. 2) do roku 1815,red. G . Labuda. Poznan 1984, S. 764 — 820. Hier befinden sich auch Literatur- und Quellennachweise.

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Henryk Rietz

sehe Strömung. Von einem erheblichen Teil der Einwohnerschaft Westpreußens, namentlich dessen polnischen Bewohnern, wurde die Situation nicht als endgültig angesehen, und erst nach der zweiten Teilung Polens (1793) und dem Zusammenbruch des Kosciuszko-Aufstandes setzte sich die Uberzeugung von einer dauernden Herrschaft Preußens über die polnischen Gebiete durch, was die Einstellung zu den Vertretern der Verwaltung grundsätzlich veränderte. Architektur und Kunst. In der Baukunst brachte dieser Zeitabschnitt wenig Neues. Die preußischen Behörden legten das Hauptgewicht auf die Errichtung von Verwaltungsgebäuden (in Marienwerder) und militärische Bauten (in Könitz, Kulm und Graudenz). Nachdem in Königsberg die durch den großen Brand (1764) entstandenen Lücken wieder ausgefüllt worden waren, stagnierte die Bautätigkeit hier wie auch in den anderen Städten. Lediglich der Stadtplan Elbings veränderte sich erheblich durch die Errichtung eines neuen Verwaltungszentrums auf dem Platz der geschleiften Befestigungsanlagen. Große Veränderungen erfuhren außerdem die Vororte Danzigs und Thorns, weil der Verteidigung wegen und im Zuge von Kriegshandlungen deren Vorstädte, einschließlich einiger Patriziersitze, niedergebrannt worden waren. In den ländlichen Gebieten Westpreußens wurde das Bauwesen durch die politische Unsicherheit und wirtschaftliche Schwierigkeiten gehemmt. In Ostpreußen entstanden wenige neue und nur kleine Adelssitze (Arklitten, Langheim). Einige von den früher gebauten großen Herrenhäuser (Dönhoffstädt, Schlobitten, Schlodien, Gr. Steinort) wurden renoviert und modernisiert. Große Aufmerksamkeit schenkte der Adel der Anlage von Parks nach englischem Vorbild. Berühmtheit erlangten der Park der Grafen Lehndorff in Steinort, die sentimentalen Landschaftsparks in Schlobitten und Dönhoffstädt, die Parks des Fürstbischofs Ignacy Krasicki in Schmolainen und Heilsberg und der Park in Oliva, der auf Initiative des Zisterzienserabtes Karl von Hohenzollern erweitert und umgebaut worden war. Lebensbedingungen und Lebensstandart der Bevölkerung. Selbst in den großen Städten waren noch am Anfang des 19. Jahrhunderts die sanitären Verhältnisse mangelhaft und die Hauptverkehrsstraßen in der Regel ungepflastert und ohne Beleuchtung. Hingegen veränderte sich der Charakter der Häuser der wohlhabenden Kaufleute. Die bisher als Kontore und Lager genutzten Räume wurden ausgelagert, und der freiwerdende Raum diente der Vergrößerung der Wohnung. Die reichsten Bürger verließen sogar ihre Häuser im Inneren der Stadt, die hinfort nur noch der Abwicklung der Geschäfte dienten, und zogen mit ihren Familien in Villen ins Grüne am Rande der Stadt. Dem steigenden Wohnraumbedarf entsprechend, wurden zahlreiche

Die Kultur West- und Ostpreußens

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Stadthäuser, die bisher nur einer einzigen Familie als Wohnung gedient hatten, in Mehrfamilienhäuser umgewandelt. Auch das Interieur der Wohnungen, vor allem der reicheren Bürger, änderte sich. Die bisher üblichen Danziger Barockmöbel wichen Einrichtungen nach englischem Geschmack aus Danziger, Königsberger und Elbinger Werkstätten, man setzte neue und kostbare Kachelöfen und stellte in Danzig, Königsberg und Elbing hergestellte Schmuckuhren auf. Bilder, Porträts und die damals modernen Silhouetten schmückten die Wände der Zimmer, und die Repräsentationsräume wurden mit Spiegeln, Leuchtern, Porzellan und Artikeln des Kunsthandwerks ausgestattet. Viel bescheidener waren die Wohnungen der weniger begüterten Einwohner, die stets auch die Arbeitsräume enthielten; die armen Leute aber lebten in Mietwohnungen oder in den kleinen Holzhäusern der sich chaotisch entwikkelnden Vorstädte. Ahnlich stand es auch mit der Landbevölkerung. Abgesehen vom wohlhabenden Adel hatten die deutschen und holländischen Kolonisten, die in der fruchtbaren Weichselniederung siedelten (Danziger Werder, Kulmer Land), den höchsten Lebensstandard. Ihre Häuser waren verhältnismäßig groß und aus dauerhaftem Material gebaut. O f t waren die Wohnungen reich mit städtischen Möbeln, Hausgerät und schönen Gefäßen aus Fayence und Messing ausgestattet. Erheblich ärmer waren die D ö r f e r in Masuren, dem Ermland und vor allem in der Kaschubei. Die Häuser waren klein und von den Bauern selbst aus H o l z erbaut, primitiv eingerichtet aber mit FolkloreMotiven geschmückt. Das tägliche Leben spielte sich in der Dorfgemeinschaft ab, die kulturellen und geselligen Bedürfnisse konnten nur durch die Pfarrkirche und den D o r f k r u g befriedigt werden. Schulwesen. In Westpreußen und im Ermland gab es katholische, lutherische und einige wenige reformierte Bekenntnisschulen. Nach der Annexion dieser Gebiete wurde das preußische Schulgesetz eingeführt. Es sah eine Schulpflicht vor und ließ Lehrer nur zu, wenn sie eine Qualifikationsprüfung abgelegt hatten. Das N e t z der Elementarschulen wurde erheblich erweitert und vor allem die Zahl der protestantischen Schulen stark vermehrt. Die Lehrer holte man meist aus Schlesien, Sachsen und Brandenburg. Auf diese Weise wurde das Elementarschulwesen deutlich verbessert, obwohl eine gleichmäßige Versorgung aller Teile des Landes keineswegs gewährleistet war und es noch immer an qualifizierten Lehrern mangelte. In bezug auf die höheren Schulen (Gymnasien, Lateinschulen usw.) verlief die Entwicklung anders. Die Zahl ihrer Standorte verringerte sich und ihr Niveau sank. Bis zur Auflösung des Jesuiten-Ordens in Preußen im Jahr 1780 verblieben die von ihm gleiteten Gymnasien in der Regie des Ordens; im folgenden Jahr wurden sie dem »Vereinigten Westpreußischen und Erm-

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Henryk Rietz

ländischen Katholischen Schulinstitut« unterstellt. Von den acht bisher durch Jesuiten geleiteten Instituten hörten vier zu existieren auf (Marienburg 1773, Thorn 1787, Könitz 1805, Alt-Schottland 1807), zwei blieben auf dem bisherigen Niveau (Braunsberg, Graudenz) und zwei wurden in einen niedrigeren Schultyp umgewandelt (Deutsch-Krone, Rössel). Ein ähnliches Los traf auch die Kulmer Akademie, die schon 1779 zu einer Volksschule wurde. Die protestantischen sogenannten Akademischen Gymnasien in Elbing, Danzig und Thorn machten eine Reform durch. Zunächst wurde die Schule in Elbing zu einem gewöhnlichen Gymnasium umgewandelt, die Anstalten in Danzig und Thorn teilten 1817 dieses Schicksal. Wenn auch in Westpreußen noch einige weitere Institute existierten, die man den höheren Schulen zurechnen könnte, war die Situation, nicht befriedigend. Allmählich wuchs die Uberzeugung von der Notwendigkeit einer Schulreform, und diese Bestrebungen führten unter dem Eindruck der preußischen Niederlage in den Kriegen gegen Napoleon auch zu Ergebnissen. Einen wichtigen Platz im Bildungssystem nahm Königsberg ein. Auf seine Universität, die damals nicht mehr zu den führenden deutschen Hochschulen gehörte, aber durch ihren Lehrer Immanuel Kant eine gewisse Berühmtheit genoß, ging ein großer Teil der Studenten Ost- und Westpreußens. Aber auch in den Elementar- und höheren Schulen Königsbergs wurden nicht nur Kinder aus der Stadt selbst, sondern auch aus der entfernteren Umgebung unterrichtet. In Königsberg wurde auch die Schulreform zuerst sichtbar. Das Collegium Fridericianum wurde 1810 in das erste staatliche Gymnasium umgewandelt. Ein Jahr später folgte die Altstädtische Schule. Die restlichen höheren Schulen wurden zu Bürgerschulen, die aber bald bedeutungslos waren, weil ein Universitätsstudium die Beendigung eines Gymnasiums voraussetzte. Auch die Reform des Elementarschulwesens erfolgte zuerst in Königsberg und wurde dann auf die ganze Provinz ausgedehnt. Drucker, Buchhändler und Verlagswesen. In Königsberg und Danzig konzentrierte sich der Buchhandel, während er in Elbing und Thorn nur lokalen Charakter hatte. Die Königsberger Situation wurde durch die Rivalität von Gottlieb Leberecht Härtung und Johann Jacob Kanter gekennzeichnet. Während Härtung das ältere Unternehmen, bestehend aus einer Druckerei, einer Buchhandlung mit Verlag und einer Zeitung, bis 1797 führte, hatte die Buchhandlung Kanters im alten Löbenichter Rathaus vor allem unter den Literaten das größere Echo. Aber Kanters Aktivität beschränkte sich nicht nur auf Königsberg: Er gründete eine Filiale in Elbing sowie eine Druckerei in Marienwerder und versuchte seinen Buchhandel auch nach Kurland und Livland auszudehnen. Die Verzettelung seiner wirtschaftlichen Kraft auf

Die Kultur West- und Ostpreußens

S

viele Unternehmungen führte zum Verfall seiner Buchhandlung, die er 1781 aufgeben mußte, und nach Kanters Tod im Jahr 1786 geriet sein Unternehmen in Konkurs. Die verlegerische Tradition Kanters in Königsberg wurde von Matthias Friedrich Nicolovius fortgeführt, der in Riga beim ehemaligen Gehilfen Kanters Hartknoch gelernt hatte und, nach Hartknochs Tod (1789) in seine Heimatstadt zurückgekehrt, dort 1790 seinen eigenen Verlag gründete. Aber sowohl Härtung als auch Nicolovius gerieten in Schwierigkeiten. 1798 mußte die Witwe Hartungs zur Sanierung des Unternehmens die Buchhandlung verkaufen, die schließlich August Wilhelm Unzer erwarb. Nach Anfangserfolgen mußte auch Nicolovius mit wachsenden Schwierigkeiten kämpfen, zog sich zunächst auf seine Sortimentsbuchhandlung zurück und gab 1818 seine Tätigkeit ganz auf. In Danzig arbeiteten zwei Druckereien, die ehemalige Offizin Schreiber, die 1780 von dem energischen Buchhändler Daniel Ludwig Wedel übernommen wurde, und der etwas kleinere Betrieb von Müller. Unter den Buchhändlern und Verlegern machten sich der schon erwähnte Wedel, Jobst Hermann Flörke und Adolf Ferdinand Troschel, der als anonymer Herausgeber verbotener Schriften und unerlaubter Nachdrucke hervortrat, einen Namen. Das Geschäft des Letzten bestand bis 1810, während die anderen Firmen schon vorher eingegangen waren. Lediglich Heinrich Georg Brückner und seine Nachfolgter versuchten den wachsenden Schwierigkeiten die Stirn zu bieten, indem sie ihr Angebot erweiterten, u. a. durch den Verkauf von Musikalien, die aus Leipzig bezogen wurden. In Elbing gründete der aus Berlin zugewanderte Friedrich Traugott Hartmann eine Buchhandlung und eine Druckerei und erwarb sogar später die Druckerei seines bisherigen Konkurrenten. Er erhielt auswärtige Aufträge, sogar aus Königsberg, doch ging auch sein Geschäft allmählich zurück. Die Thorner Druckerei hatte nur lokale Bedeutung; sie druckte Akzidenzen, kirchliche Gelegenheitsschriften und die örtliche Zeitung. Außerdem gab es noch Druckereien in Marienwerder und Gumbinnen. Die bischöfliche Druckerei in Kulm wurde schon 1772 liquidiert und die Jesuiten-Druckerei in Braunsberg nahm ihre Tätigkeit nicht mehr auf. In den großen Städten lag auch der Schwerpunkt des Presse- und Zeitschriftenwesens. Die von der Obrigkeit unterstützten Intelligenzblätter, in denen in erster Linie Anzeigen erschienen, kamen in Danzig, Königsberg, Marienwerder, Elbing und in Thorn heraus. Das Thorner Blatt war jedoch umfangreicher als die anderen und berücksichtigte nicht nur die Bedürfnisse der Stadt, sondern auch der ganzen Region. Darüber hinaus erschienen in Danzig auch Zeitungen, die politische Nachrichten enthielten, und Zeitschriften mit literarischen und unterhaltenden Beiträgen. Das eigentliche Zentrum der Presse befand sich jedoch in Königsberg. Neben Intelligenzblättern kamen hier politische Zeitungen und Periodika mit literarischen,

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Henryk

Rietz

historischen und naturwissenschaftlichen Aufsätzen und mit Beiträgen über das Theater heraus. Der Buchhandel in West- und Ostpreußen hatte zwei unterschiedliche Arbeitsrichtungen: Einerseits mußten lokale Aufgaben erfüllt, andererseits sollte auch Handel in größerem Maßstab getrieben werden. Vor allem die Königsberger und Danziger Buchhändler entwickelten erhebliche Aktivitäten und erschienen regelmäßig auf der Leipziger Messe. Sie verlegten keineswegs nur örtliche Autoren und kalkulierten die Auflagenhöhe ihrer Verlagsprodukte im Hinblick auf den Vertrieb im ganzen deutschsprachigen Raum. Dadurch waren sie, vor allem so lange noch der Change-Verkehr wenigstens teilweise üblich war, in der Lage, auch den wachsenden Ansprüchen der örtlichen Leser gerecht zu werden. Als der Buchhandel hier in eine schwere Krise geriet, die nicht nur von dem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang, sondern auch von gesellschaftlichen und politischen Spannungen sowie einer schärfer werdenden Zensur hervorgerufen war, paßten auch die Königsberger und Danziger Verleger ihre Produktion dem lokalen Markt an und wurden provinziell. Geistesleben, Theater, Musik. Im Geistesleben der beiden Provinzen spielte die Freimaurerei eine erhebliche Rolle. Neben bedeutenden Logen in Königsberg und Danzig arbeiteten auch weniger bedeutende in Elbing, Marienburg, Graudenz und Thorn. In ihnen trafen sich Persönlichkeiten verschiedener Herkunft, Konfession und beruflicher Vorbildung im Zeichen brüderlichen Zusammenlebens. Die Logen vermittelten auch Beziehungen zu den Angehörigen auswärtiger Logen, ja sogar Auslandskontakte, und trugen so zur Erweiterung des geistigen Horizonts bei. Vornehmlich der Unterhaltung dienten die Theatervorstellungen, für die es in Königsberg und Danzig feste Häuser gab, in denen am Ende des Jahrhunderts auch italienische und französische Opern und deutsche Singspiele aufgeführt wurden. Die von Caroline Schuch und ihren Nachfolgern geführte Gesellschaft in Königsberg spielte aber nicht nur hier, sondern auch in den kleineren Städten, so in Elbing, Marienburg, Marienwerder, Thorn, Insterburg, Tilsit, Memel, Gumbinnen und sogar in Goldap. Gelegentlich kamen nach Danzig und Thorn auch Theater-Truppen aus Polen. Das Musikleben erschöpfte sich nicht in den gelegentlichen Opernaufführungen durch auswärtige Gesellschaften, sondern spielte sich vor allem im privaten Bereich entweder als Hauskonzert oder auch als Hausmusik ab. Dazu kamen Aufführungen geistlicher Musik in den Kirchen und die wöchentlichen Abonnements-Konzerte ζ. B. in Danzig, Thorn und Elbing. Gegen Ende des Jahrhunderts konzentrierte sich das Kulturleben in West- und Ostpreußen immer stärker auf Königsberg. Hier befanden sich die Universität, die höheren Schulen, die »Deutsche Gesellschaft« und die

Die Kultur West- und

Ostpreußens

7

»Physikalisch-Oekonomische Gesellschaft«; hier bildeten die Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer, Buchhändler und Künstler ein geistiges Potential, das durch den großen Kreis gebildeter Beamten, Kaufleute und Offiziere, die sich als Laien in Künsten und Wissenschaften versuchten, ergänzt wurde. Bemerkenswert war auch die Offenheit gegenüber den Nachbarvölkern: Nicht nur am polnischen Seminar der Universität wurde die polnische Sprache gepflegt, es wurden auch polnische Wörter- und Lehrbücher herausgegeben. Darüber hinaus interessierte man sich für die litauische Sprache und Volkskultur. Während sich das Kulturleben in Königsberg bis zur Jahrhundertwende durchaus befriedigend entwickelte, hatten Danzig und Thorn den schönsten und fruchtbarsten Abschnitt ihres geistigen Lebens hinter sich. Literatur und Wissenschaft wurden nicht im gleichen Maße wie in früheren Jahrzehnten gepflegt. Die akademischen Gymnasien verloren allmählich an Bedeutung, obwohl in Thorn noch ein Abglanz der großen Tradition dieser Anstalt auf das geistige Leben der Stadt fiel. Die hervorragenden Persönlichkeiten suchten sich einen anderen Wirkungsort. In Danzig bildete die immer noch aktive, traditionsreiche Naturforschende Gesellschaft eine Stelle, an der sich die geistig interessierte Elite der Stadt zusammenfand, aber es war deutlich, daß sich mit den politischen Veränderungen auch die Gewichte im Geistesleben verlagert hatten.

Stanislaw S a l m o n o w i c z

Königsberg, Thorn und Danzig Zur Geschichte Königsbergs als Zentrum der Aufklärung

Die Beziehungen zwischen Königsberg und dem königlichen Preußen, dem späteren Westpreußen, sind bisher weder für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts noch für frühere Epochen Gegenstand eingehenderer Untersuchungen gewesen. Deswegen beschränken der gegenwärtige Forschungsstand und die schlechte Quellenlage die Möglichkeiten unseres Versuchs. Neben den schwer zugänglichen Zeitschriften dieser Epoche, die manchmal überhaupt verschwunden zu sein scheinen, müßte die Korrespondenz der damals lebenden Gelehrten, Pädagogen und Theologen ausgewertet werden, aber nur von wenigen unter ihnen, wie ζ. B. Johann George Scheffner, ist der Briefwechsel einigermaßen vollständig erhalten geblieben. Das 18. Jahrhundert war die Epoche des Briefs, dessen Inhalt nicht nur für den Adressaten, sondern in der Regel auch zur Verbreitung von Nachrichten und Meinungen in weitere Personenkreise bestimmt war, daneben war es auch die Epoche der Zeitschriften, der Lesesalons und der Lesegesellschaften, die den intellektuellen Mußestunden vor allem in den bürgerlichen Kreisen dienten, aus denen neben den Gelehrten auch zahlreiche gelehrte Dilettanten kamen, die das geistige Klima der Epoche bestimmten. Privatgelehrter konnte ein jeder gebildete Bürger sein, ob er nun Arzt, Bierbrauer, Jurist oder städtischer Beamter war. Deswegen ist es heute, besonders wenn man quantitative Kriterien bevorzugt, besonders hinderlich, daß die Korrespondenz von Persönlichkeiten, die als zweitrangig angesehen wurden, oft nicht mehr zur Verfügung steht. Und diese schlechte Quellenlage betrifft besonders Königsberg, dessen Sammlungen und Archive in alle Welt zerstreut oder gar vernichtet worden sind.

Historische

Voraussetzungen

1466 wurde der ehemalige Ordensstaat in zwei Teile geteilt. Der eine Teil, der aus Gebieten bestand, die vorher zum polnischen Staat gehört hatten, bildete das Preußen königlichen Anteils, der zweite Teil wurde 1525 zum

IO

Stanistaw

Salmonowicz

Herzogtum Preußen. Trotz dieser Teilung blieb noch lange Zeit hindurch bei den Eliten beider Teile des ehemaligen Ordensstaates das Bewußtsein einer engeren rechtlichen, historischen und kulturellen Verbindung erhalten. Seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts begann allerdings dieses Gefühl in politischer Hinsicht rascher zu schwinden, und das war nicht unabhängig von der neu erworbenen Selbständigkeit des — zum großen Teil katholischen und polnischen — Adels im politischen Leben der Provinz. 1 Die protestantische Bevölkerung — meist deutscher Sprache — war, abgesehen von einigen Adelsgeschlechtern, hauptsächlich in den Städten, namentlich den größeren, also Danzig, Thorn und Elbing, ansässig, in denen sie eine, wenn auch nicht unbedingt zahlenmäßige so doch politische und soziale Überlegenheit hatte. Gerade diese städtischen Eliten hielten ohne Rücksicht auf die politischen Veränderungen an ihrer Verbindung mit Königsberg fest, wobei bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem das Kriterium der konfessionellen und nicht so sehr der nationalen Gemeinschaft maßgebend war. Noch weniger bestanden Sympathien für den absolutistischen preußischen Staat, dem die westpreußischen Städte ebenso wie der polnische Adel sicher nicht freundlich gesinnt waren. 2 Um diese für die Zeitspanne von 1772 bis 1793 so wichtige Frage nicht mehr berühren zu müssen, sei hinzugefügt, daß das Bild des preußischen Staates bei den Protestanten des kgl. Preußens seit Beginn des 18. Jahrhunderts zwiespältig war: Den einen war er der Beschützer der Dissidenten, besonders in den Kleinstädten und Dörfern, den anderen, und vor allem den Patriziern in den größeren Städten, der absolut regierende König, dem man sich nicht unterwerfen wollte. »Der Ausgangspunkt war, abgesehen von Xenophobie und konfessionellen Aufwallungen, immer eindeutig fixiert: der Kampf um eigene privilegierte Teilinteressen, i n n e r h a l b der Res publica«, 5 also im Rahmen des polnisch-litauischen Staates. 1

J. Mallek: »Das Königliche Preußen und der preußisch-brandenburgische Staat in den Jahren 1525 —1772«. In: Schlesien und Pommern in den deutsch-polnischen Beziehungen vom 16. bis 18. Jahrhundert. 14. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom 9. bis 14. Juni 1981 in Zamosc. Braunschweig 1982, S. 31 — 43.

* Dazu: Th. Schieder: Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichsellande. Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Luhliner Union bis zu den polnischen Teilungen 1569 — 1772/179}. Königsberg 1940. — S. Salmonowicz: »Preußen Königlichen Anteils und das Herzogtum Preußen als Gebiet der Begegnung zweier Kulturen vom 16. bis 18. Jahrhundert«. In: Schlesien und Pommern (Anm. 1), S. 66 — 86. Siehe auch G . Rhode: Brandenburg-Preußen und die Protestanten in Polen 1640 — 1740. Ein Jahrhundert preußischer Schutzpolitik für eine unterdrückte Minderheit. Leipzig 1941 und S. Salmonowicz: »The Toruñ Uproal of 1724«. In: Acta Poloniae Histórica 47 (1983), S. 55 — 80. J

S. Salmonowicz: »Preußen Königlichen Anteils« (Anm. 2), S. 81. A b 1657/60 begann »die größere Gefahr für den preußischen Partikularismus nicht von Seiten Polens, son-

Königsberg, Thorn und Danzig

Anders stand es jedoch mit den kulturellen und wissenschaftlichen Verbindungen. Königsberg war seit der Mitte des 17. Jahrhunderts der wichtigste Punkt für die Ausbildung von Lehrern und Predigern im kgl. Preußen. Als am Ende des 17. Jahrhunderts auch hier die große Gelehrtenbewegung begann und man sich der Erforschung der preußischen Geschichte zuwandte, wurden die gemeinsamen Wurzeln im 13. und 14. Jahrhundert für beide Teile des ehemaligen Ordensstaates entdeckt. Mit dem Wiederaufleben von Autonomiebestrebungen im kgl. Preußen während des 18. Jahrhunderts 4 knüpften Forschungen und Erklärungen immer häufiger an die gemeinsame Geschichte an, was nicht ohne Einfluß auf die Beziehungen der Provinz und deren geistiges Leben zu Königsberg bleiben konnte. Hinzugefügt sei, daß aus mancherlei Gründen am Ende der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutsche Sprache und Literatur ein größeres Interesse zu erwecken begann und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Bewußtsein, zum deutschen Sprach- und Kulturkreis zu gehören, immer lebendiger wurde, was auch zur Einschränkung des Gebrauchs der lateinischen Sprache im kulturellen und wissenschaftlichen Leben führte. Diese Prozesse mußten die Verbindungen der kulturbewußten Kreise kgl. Preußens, die sich der deutschen Sprache bedienten, zu einer Stadt enger gestalten, die eine protestantische Universität besaß und im 18. Jahrhundert ein verhältnismäßig lebendiges Kulturleben entwickelte, wie das Publikationswesen zeigt. Dennoch sollte nicht vergessen werden, daß diese Verbindung zu Königsberg nicht alle wichtigen Kreise der Provinz betraf, was öfter in der deutschen Geschichtsschreibung unberücksichtigt geblieben ist; abseits standen die katholischen kirchlichen Kreise und der katholische Adel der Provinz. Abseits stand auch das katholische Bürgertum, das meist aus ärmeren Kreisen der Bevölkerung bestand, denn für sie war Königsberg weniger eine Stätte deutscher als protestantischer Kultur. Die sarmatische, adelige und der Sprache nach polnische Kultur überwog nicht nur im Kulmer Land, sondern auch im armen kaschubischen Adel. Der sarmatische Adel kgl. Preußens studierte bis 1772 fast ausschließlich auf Jesuitenkollegien und dann vielleicht auf der Krakauer Universität. Besonders in den Jahren 1725 bis 1767 waren in kgl. Preußen die katholischen von den protestantischen Kreisen durch eine Mauer der Abneigung voneinander getrennt. Sie wurde nach dem Aufblühen der Aufklärung und der Einführung der uneingeschränkten Toleranz im Jahre 1767 abgebaut, was

4

dem von seiten des zweigliedrigen preußisch-brandenburgischen Staates zu drohen« (Mallek, »Das Königliche Preußen« [Anm. 1], S. 42. Hier ist die Besetzung Elbings durch Preußen 1699 zu erwähnen. Dazu: S. Salmonowicz: »Z dziejów walki o tzw. restauracjç autonomicznych aspiracji Prus Królewskich w X V I I I wieku«. In•. Annalecta Cracoviensia 7 (1975), S. 4 3 3 - 4 5 7 .

12

Stanislaw

Salmonowicz

aber die erste Teilung 1772 nicht verhindern konnte. Obgleich durch die Aufklärung und unter dem Einfluß der Freimaurerei allmählich die konfessionellen Schranken beseitigt wurden, führte das nicht zu einer raschen Veränderung der kulturellen Situation, zumal seit 1772 die polnische Meinung über den preußischen Staat wegen seiner Beteiligung an den Teilungen sehr negativ wurde. Die rückblickende Beurteilung der Rolle Königsbergs im 18. Jahrhundert könnte dadurch verfälscht werden, daß diese Universität vom Ende des 19. Jahrhunderts an ein antipolnisches Gesicht trug, das im 20. Jahrhundert besonders krasse Züge annahm. ! Deswegen wird zuweilen die bedeutende Rolle vergessen, die diese Stadt in der polnischen Kultur im 16., am Anfang des 17. und zum Teil auch noch im 18. Jahrhundert gespielt hat. Dieser Tatbestand erklärt dann auch, daß die polnische Wissenschaft während der letzten vierzig Jahre den Verbindungen zwischen Königsberg und Polen kein Interesse entgegengebracht hat. Hinzu kommt, daß auch die deutsche Forschung weitgehend diese Verbindungen unbeachtet ließ, aber auch, daß vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs den polnischen Historikern der Zugang zu den Königsberger Archiven erschwert wurde. Das 18. Jahrhundert war für kgl. Preußen eine sehr unruhige Epoche seiner Geschichte. Von 1700 bis 1721 tobte der 2. Nordische Krieg und von 1733 bis 1734 der Krieg zwischen August III. und Stanislaw Leszczynski um den polnischen Thron, der hauptsächlich in Pomerellen ausgetragen wurde. Während die Zeit zwischen 1735 und 1764 — abgesehen von Schwierigkeiten, die mit dem Durchmarsch russischer Truppen während des Siebenjährigen Kriegs entstanden, — etwas günstiger verlief, stürzte seit 1768 die Konföderation von Bar und die preußischen Ubergriffe das Land erneut in Schwierigkeiten. Dieser Zeitabschnitt wurde durch die Niederlage und erste Teilung Polens 1772 beendet. Danzig und Thorn waren danach die einzigen Städte, die ihren früheren Status behalten hatten. Im Zuge dieser Ereignisse wurde die Akademie in Königsberg für die Bevölkerung Westpreußens zur einheimischen Universität. Nur Danzig und Thorn behielten auch in dieser Beziehung eine größere Selbständigkeit und orientierten sich nach 1793, also nach ihrer Eingliederung in den preußischen Staat, nicht in Richtung auf das provinzielle und peripher gelegene Königsberg, sondern eher auf die Metropole, das kulturell aufblühende Berlin. Aus diesen Gründen scheint trotz des unzulänglichen Forschungsstandes die These, daß das Schwergewicht der Kultureinflüsse Königsbergs auf kgl. Preußen eher in den Jahren von 1720 bis 1772 zu suchen ist als in einer späteren Zeit, nicht allzu kühn zu sein. Übrigens war das auch die Zeit, in der 5

H . Barycz: »O wlasciwej roli i przemianach ideowych Uniwersytetu Królewieckiego«. In: Rocznik Olsztynski 2 (1959), S. 245-266.

Königsberg, Thorn und Danzig

'3

sich sowohl in Königsberg als auch in den größeren Städten kgl. Preußens kleine, für die Frühaufklärung typische Gelehrtengruppen bildeten, die mannigfache wissenschaftliche Vereine organisierten und miteinander durch Briefwechsel und Zeitschriften in Verbindung zu treten versuchten.

Einige Bemerkungen zum geistigen Leben Königsbergs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Das geistige Leben in Königsberg wurde während dieser Zeit durch den Pietismus (Heinrich Lysius, Abraham Wolff, Georg Friedrich Rogali), die Philosophie Christian Wolffs sowie das Aufblühen frühaufklärerischer Gelehrsamkeit und des Zeitschriftenwesens geprägt. Damit im Zusammenhang steht die Rolle der Universität als Ausbildungsstätte für die hochqualifizierten Persönlichkeiten in kgl. Preußen.6 Mit dem Wirken von Lysius (1670—1731) in Königsberg entstand hier neben Halle eine zweite Bastion des Pietismus im Preußischen Staat, 7 der allerdings in Pomereilen und vor allem in Danzig auf den hartnäckigen Widerstand der Orthodoxie stieß, hingegen in Thorn seinen Hauptsitz in Polen fand. 8 So ergaben sich von hieraus zahlreiche Verbindungen zu den ostpreußischen Gesinnungsgenossen. Nach und nach waren die meisten Absolventen der theologischen Seminare in Königsberg und damit auch Pastoren in Elbing und Thorn Anhänger des Pietismus, denn über die Besetzung der Pastorenstellen nicht nur in Ostpreußen sondern auch im kgl. Preußen entschieden in Wirklichkeit die Königsberger Professoren A. Wolff (1680 — 1731) und Rogali (1701 —1733). Aus den von ihnen geleiteten polnischen und litauischen Seminaren kamen vor allem auch die Prediger, die in den sprachlich gemischten Gebieten Ostpreußens und im polnisch-litauischen Staat tätig waren. ' Zwar verlor der Königsberger Pietismus in der zweiten 6

Mallek, »Das Königliche Preußen (Anm. 1), S. 34: »Interessant ist auch die Feststellung, daß in den Städten des Königlichen Preußen der Überschuß der aus dem Herzogtum Preußen stammenden Intelligenz, meist Absolventen der Königsberger Universität, als Lehrer und Pastoren eingestellt wurde.«

7

Dazu: E. Riedesel: Pietismus und Orthodoxie in Ostpreußen auf Grund cíes Briefwechsels G. F. Rogalls und F. A. Schultz an die Halleschen Pietisten. Königsberg und Berlin 1937. — W. Hubatsch: Geschichte der Evangelischen Kirche Ostpreußens. Göttingen 1968. Bd. i, S. 172 f.

8

Dazu: S. Salmonowicz: »Pietyzm na Pomorzu polskim oraz w Wielkopolsce w pierwszej polowie X V I I I wieku«. In: Roczniki Humanistyczne 27 (1979) 2, S. 95—105. ' Hier ist die Existenz des litauischen und polnischen Seminars an der Theologischen Fakultät zu erwähnen. Das polnische Seminar ist offiziell erst 1728 gegründet worden; vgl. D. H . Arnold: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergschen Universität. Königsberg 1746. Thl. I. Beylage 99, S. 474 f.; Thl. II, S. 133 f. Auch Riedesel, Pietismus (Anm. 7), S. 47 f.

M

Stanislaw Salmonowicz

Hälfte des 18. Jahrhunderts an Dynamik, jedoch wirkte er noch immer durch die zahlreichen in kgl. Preußen wirkenden Persönlichkeiten, die in Königsberg ausgebildet worden waren, vor allem in moralischer Hinsicht selbst in jene Kreise hinein, die formell nicht dem Pietismus angehörten.

Persönliche Kontakte, Zeitschriften und gelehrte Vereine Zur Charakteristik der Verbindung zwischen Thorn und Königsberg seien folgende Einzelheiten genannt: Nicht nur die führenden Thorner Pietisten, die Professoren Johann Friedrich Bachstroem und Reinhold Friedrich Bornmann sowie die Pastoren Gottlieb Kölichen und Christoph Haberkant, standen in naher Verbindung zu Königsberg, sondern auch der Danziger Johann Arndt, der einen radikal aufklärerischen Standpunkt vertrat, gegen die lutherische Orthodoxie kämpfte und deswegen seine Stellung als Gymnasialprofessor in Thorn aufgeben mußte. Er siedelte nach Königsberg über, wo er eine Zeitlang Universitätsprofessor war und ein nennenswertes Handbuch der Astronomie herausgab. 10 Pastor Kölichen unterstützte die Bestrebungen A. Wolffs und Rogalls, Pastoren in den Sprachen der Bevölkerung Ostpreußens und kgl. Preußens auszubilden, was auch in dem von ihm verfaßten kleinen Lehrbuch der polnischen Sprache zum Ausdruck kommt. 11 Es erschien 1730 in Thorn, bezog sich unmittelbar auf die Ausbildung von Predigern in dem polnischen Seminar der Königsberger Theologischen Fakultät und ist Rogali und A. Wolff gewidmet. Sein Titel lautet: Project, wie Polnische Theologiae Studiosi sich künftig mit dieser Sprache bekant und zum folgenden Officio Polon. Habiler machen konten. Einen großen Einfluß hatte auch der Königsberger Pietismus in Elbing, wo die Pietisten Christian Jakob Koitzsch (gest. 1734) und der bedeutende Gelehrte und Mitarbeiter an Königsberger Zeitschriften Georg Daniel Seyler Rektoren des Gymnasiums (letzterer von 1735 bis 1743) waren. Neben ihnen ist noch Johann Michael Hempel, Professor des Gymnasiums von 1721 bis 1743, zu nennen. 12 Aber in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestanden nicht nur sporadische Kontakte zwischen einzelnen, besonders in den Städten kgl. Preußens und Königsberg lebenden Gelehrten, sondern auch länger dauernde Verbindungen, wovon die zahlreichen für die Frühaufklärung typischen ge10

Über Arndt: S. Salmonowicz: »Mysl Kopernika w Toruniu X V I I I wieku«. In: Studia Warmiñskie 9 (1972), S. 333 — 336. " Uber Kölichen: S. Salmonowicz: Obroricy i mitos'nicy jçzyka XVI-XVIIIw.. Torun 1979, S. 2off.; generell: Ders.: »Pietyzm In-.Rocznik Torunski 13(1978), S. 185 — 197. 12 M. Pawlak:ÛZie;'e Cimnazjum Elblaskiego w latach ¡¡j; -1772.

na przelomie X V I I / polskiego w Toruniu w dawnym Toruniu«. Olsztyn 1972,8. 52 f£.

Königsberg, Thorn und Danzig

!5

lehrten und halbgelehrten Zeitschriften sowie wissenschaftlichen und Studentenvereine zeugen. Thorn möge dafür als Beispiel dienen. 13 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem in den ersten dreißig Jahren, war das dortige Akademische Gymnasium, dessen Geschichte wir heute genau kennen, der wichtigste Verbreiter der Frühaufklärung in Polen, 14 und seine Bedeutung sollte keinesfalls gegenüber der des Danziger Gymnasiums zurückgesetzt werden. Die Danziger Initiativen kamen etwas später und stützten sich auf Kreise, die mit dem Gymnasium nicht direkt zusammenhingen. Die erste Zeitschrift in kgl. Preußen, ein kurzlebiges gelehrtes historisches Periodikum, das Gottfried Lengnich 1718 in Danzig herausgab, stand nicht in unmittelbarer Verbindung zu Königsberg, hingegen die Zeitschrift des gebürtigen Brandenburgers Georg Petrus Schultz (1680 — 1748), Prorektor der Thorner Schule. Er gab 1722 Das gelahrte Preußen, das (später unter dem Namen Continuirtes Gelehrtes Preußen) bis 1725 bestand, heraus. An dieser Chronik der Thorner Schule und des Geisteslebens kgl. Preußens und anderer polnischer Gebiete, die auch über das Königsberger wissenschaftliche Leben informierte, arbeitete der prominente Königsberger Historiker Michael Lilienthal mit, der später als Herausgeber der Zeitschrift Erläutertes Preußen (1724 —1727), bekannt wurde. Aus dieser Zeitschrift wurden Texte in das Gelahrte Preußen übernommen. Irrtümlich hat man Lilienthal in der Literatur sogar als Mitredakteur der Schultzischen Zeitschrift angesehen. Außer ihm erscheinen als Mitarbeiter die Königsberger Dr. J. C. Volbrecht und der Prorektor der Domschule und Bibliothekar Theophil Siegfried Brayer. Insgesamt kann gesagt werden, daß die Königsberger, Danziger, Thorner und Elbinger Zeitschriften Mitarbeiter und Leser in allen diesen Städten hatten. Von der Bedeutung dieser ersten und nur kurze Zeit bestehenden Zeitschriften zeugt ein Anschlagzettel aus dem Jahre 1719, der das vom Danziger Philosophie- und Griechisch-Professor Gottlieb Schelwig veröffentlichte Collegium über die Königsberger Fama — die Königsbergische Preußische Fama war von 1709 —1740 eine Nachrichtenzeitung — ankündigte, wo es heißt: »Dass es heutiger Zeit einem politen [sie] Menschen höchst nötig sey die Zeitungen zu lesen und zu verstehen.«'6 G. Schelwig, den man nicht ' 5 Dazu S. Salmonowicz: »Torunskie czasopisma naukowe X V I I I wieku«. In: Rocznik Toruriski Ii (1976), S. 215 — 227. 14 S. Salmonowicz: Torunskie Gimnazjum Akademickie w latach 1681 — 1817. Studium ζ dziejów nauki i oswiaty. Poznan 1973. 15 Vgl. M. Dunajówna: »Pierwsze torunskie czasopismo naukowe w X V I I I w . >Das Gelahrte Preusseni M»* 6,8

1775 45.9 27,0

1776 46,2

II.9

1777 46,4

17 79 46,0

8,S

'3,3 11,0

32,* 13.* 8,5

3M 12,8

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100%

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O, I 100%

100%

hchreyt

1802 45,9 13,9 9,3 0,8 1,3 5,6 100%

Die absoluten Zahlen schwankten bis 1779 nur wenig um 20000, stiegen dann aber recht rasch auf 28 822 (1802) an. Die soziale Gliederung Rigas im Jahr 1782, das damals 27 856 E i n w o h n e r zählte, läßt sich folgendermaßen darstellen: 3 6 Angehörige des Rats, der Gerichtsbarkeit, Ärzte, Advokaten Angehörige der Großen Gilde, Hausbesitzer Angehörige der kleinen Gilde Gutsbesitzer und Beamte Pastoren, Kirchenbedienstete, Schullehrer Handwerksgesellen, Handlungsdiener Personen mit versch. (körperl.) Tätigkeit Dienstpersonal hörige Bauernwirte hörige Hofleute freie Hofleute unbekannt

246 ι 840 2

545 459 230 ι 906 II 527 4 399 2 168 2 158 318 60

0,9 % 6,6% 9,i % 1,7% 0,8 % 6,8% 41,4% 15,8% 7,8 % 7,7% 1,2% 0,2%

Danebengestellt sei die soziale Aufgliederung für die kurländische H a u p t stadt Mitau mit einer Einwohnerzahl von 10 062 Einwohnern, in der allerdings die G r u p p e n , entsprechend der Zählung von 1797, zusammengefaßt sind und nicht den für Riga angeführten entsprechen, dennoch aber einen Vergleich zulassen: 3 7 Adliger Stand Gelehrtenstand Beamte Kaufmannstand deutscher Nation 36 37

300 309 279 «75

2,9% 3,°% 2,7% 6,6%

Ebd., S. 135 f. Hoheisel, »Bevölkerung Kurlands« (Anm. 23), Tab. 2.

Kulturelles Einzugsgebiet von Königsberg Kaufmannstand russischer Nation Gewerke deutscher Nation Gewerke lettischer Nation Freie deutsche Leute Freie Letten Russen Freie Polen und Litauer Juden Erbleute

82 ι 856 17 J

ι 749 ι 698 l7i

1 237 ι 303 42 6

47 0,8 % 8,1 %

i,7% 17,0% 6,5%

i,7% 12,1% 12,7% 4,2 %

Die Schulverhältnisse. Mitbestimmend für die Struktur des kulturellen Einzugsgebietes von Königsberg waren die Schulverhältnisse in ihm, wobei vor allem die auf die Universität vorbereitenden Schulen zu berücksichtigen sind. Freilich wurden sie nur von einem verhältnismäßig kleinen Teil der späteren Studenten besucht, da viele von ihnen Hausunterricht erhielten. In Ostpreußen »präparierten zur Akademie« die fünf lateinischen Schulen zu Königsberg, also das Collegium Friedericianum (mit fakultativen Fächern u. a. Unterricht in polnischer Sprache), was auch auf die Altstädtische Schule zutrifft, die Kneiphöfische Dom- und Kathedralschule, die Löbenichtschule und die nicht sehr angesehene Schule des königlichen Waisenhauses, die drei Provinzialschulen in Tilsit, Lyck und Salfeld, die Stadtschulen zu Gumbinnen, Insterburg, Bartenstein und Rastenburg sowie die ehemaligen Jesuiterkollegien in Braunsberg und Rössel. Außerdem wurde in weiteren Stadtschulen Latein gelehrt, wie ζ. B. in Angerburg und Preußisch Holland, w o jeweils nur drei Lehrer tätig waren, während die Königsberger Schulen über die drei- bis vierfache Zahl von Lehrern verfügten. 58 Für Pommern sind vor allem und bei Berücksichtigung der Herkunftsorte der Königsberger Studenten die Gelehrtenschulen in Anklam und Kolberg, das Collegium illustre in Stargard und die Ratsschule in Stolp zu nennen. D e m Königsberger Niveau entsprachen in Riga die Domschule und das Lyceum. Das 1775 in Mitau gegründete Akademische Gymnasium, die Academia Petrina, hatte einen Status zwischen Universität und Gymnasium. A n dieser Anstalt lehrten 9 Professoren, die z. T. durchaus wissenschaftliche Qualifikation hatten, und 8 Lehrer. 39 Außerdem befanden sich in Kurland 38

39

Baczko, Handbuch (Anm. 9), S. 19 f. und passim, sowie Baczko: Versuch einer Geschichte {Kam. s), S. 387-411. J. Stradirjs und H. Strods: Jelgavas Pëtera Akadêmija [Die Mitauer Academia Petrina]. Riga 1975. Uber die Rigaer Domschule vgl. Bernhard Hollander: Geschichte der Domschule, des späteren Stadtgymnasiums zu Riga. Hrsg. von Clara Redlich. HannoverDöhren 1980 (Beiträge zur baltischen Geschichte. Bd. 10).

4

8

Heinz

hchreyt

nur die etwa einer ostpreußischen Stadtschule entsprechende und schon genannte Libauer Stadtschule, sonst jedoch Unterrichtsstätten, die lediglich über eine oder zwei Lehrkräfte verfügten, wie die in Bauske, Goldingen, Windau und Grobin. Kein Wunder also, wenn vor allem aus dem nahegelegenen Kurland so mancher Knabe nach einigen Jahren Hausunterricht auf die Schule nach Königsberg geschickt wurde. 40 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist immerhin von nicht weniger als etwa 55 jungen »Balten« bekannt, daß sie Königsberger Schulen besuchten. Sie bezogen anschließend meist auch die Albertina. Von den sechs baltischen Schülern in der Löbenicht- und Kathedralschule stammten 5 aus Kurland, und zwar aus dessen westlichem Teil, und nur einer aus dem fernen Dorpat. Auf dem Altstädtischen Gymnasium waren drei baltische Schüler, einer aus Riga und zwei aus Kurland. Die große Menge der Schüler aus Liv-, Est- und Kurland aber besuchte das Friedrichs-Kolleg, was u.a. damit zusammenhängen mag, daß dieser Schule auch eine Pensionsanstalt angeschlossen war, deren Zöglinge einen fakultativen Unterricht in italienischer, englischer und polnischer Sprache sowie im Zeichnen und in der Musik erhielten. 41 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren es 46 »Balten« (26 Kurländer, 17 Livländer und 3 Estländer), von denen die meisten auch in der Matrikel der Albertina auftauchen. Nach Einführung des Abiturs (1789) werden in den Abiturientenlisten einige Schüler als Ausländer geführt, die fast ohne Ausnahme als aus dem baltischen Bereich stammend nachgewiesen werden können, aber nicht immer in der Matrikel der Königsberger Universität erscheinen. Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beendeten insgesamt 453 Schüler das Friedrichs-Kolleg. 42 Mit mindestens 46 stellten die Schüler aus Liv-, Est- und Kurland mehr als 10%. Freilich ist eine gewisse Fluktuation zu bemerken: So nahm nach der Gründung der Mitauer Petrina die Zahl der Kurländer merklich ab, während mehrmals ganze Gruppen aus Riga nach Königsberg geschickt wurden. Außer den »Balten« und einigen wenigen Russen hatte das Friedrichs-Kolleg noch andere auswärtige Schüler. Bezeichnenderweise kamen sie ohne Ausnahme aus dem von uns umrissenen kulturellen Einzugsgebiet. Es waren einige wenige Danziger und etwas mehr Pommern, doch reicht deren Zahl nicht entfernt an die der Kur-, Liv- und Estländer heran. 40

O t t o , » K u r - , L i v - u n d E s t l ä n d e r « ( A n m . é), S. 338.

41

B a c z k o , Versuch einer Geschichte

42

V g l . Lehrer ¡698 — 1898.

und Abiturienten

( A n m . 5), S. 403 — 406.

des Königlichen

Friedrichs-Kollegiums

zu Königsberg

Pr.

K ö n i g s b e r g 1898 ( S c h u l p r o g r a m m b e i l a g e ) . D i e A b i t u r i e n t e n l i s t e n stim-

m e n picht i m m e r mit den E i n t r a g u n g e n in der M a t r i k e l der A l b e r t u s - U n i v e r s i t ä t überein. D a s erklärt die U n t e r s c h i e d e m e i n e r Z a h l e n a n g a b e n z u denen O t t o s ( A n m . 6), der sich n u r auf die M a t r i k e l e i n t r a g u n g e n stützt.

Kulturelles

Einzugsgebiet

von

Königsberg

49

Das von Gause in seiner Geschichte Königsbergs beschriebene Zuwanderungsgebiet und das durch das vorgelegte Material charakterisierte kulturelle Einzugsgebiet von Königsberg decken sich nur teilweise. Eine Erklärung für die Differenzen bietet sich an, wenn die Berufsgruppen der Zuwanderer berücksichtigt werden. Sie waren nämlich in der Mehrzahl Handwerker. 43 Auf eine Formel gebracht würde diese Erklärung also lauten: Man suchte sein Glück im Osten, seine Bildung aber im Westen des Kommunikationsraumes, was übrigens keineswegs nur für die Handwerker gilt, sondern ebenso für die Akademiker und Kaufleute. Abschließend kann gesagt werden, daß das vorliegende Material durchaus die Annahme eines einigermaßen beschreibbaren Gebietes bestätigt, für das Königsberg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein kulturelles Zentrum bildete. Reale Bedingungen wie die staatspolitische Ordnung, die Siedlungsweise der Bevölkerung, das Angebot von Bildungseinrichtungen und die Verkehrsverhältnisse scheinen ebenso die Ursachen dafür zu sein wie Traditionen und die Gesellschafts- und nationale Struktur des Gebietes. Auf jeden Fall dürfte das Kulturzentrum Königsberg von mehreren Zonen mit unterschiedlicher »Nähe« umlagert gewesen sein. Ein Blick auf die Liste 44 der Herkunftsorte der in den achtziger Jahren des Jahrhunderts in Königsberg lebenden 65 Schriftsteller möge das verdeutlichen. Aus Königsberg stammten 24, aus Ost- und Westpreußen 21, aus Schlesien 5 (darunter 2 aus Breslau), aus Pommern 2 und je einer aus Dresden, Halberstadt, Kopenhagen, Magdeburg, der Neumark, Neusohl in Ungarn, der Niederlausitz, Straßburg, Thüringen, Weimar und Werningerode. Der Herkunftsort eines Schriftstellers wird nicht genannt.

4

' Vgl. Friedrich Stahl: »Die Einwanderung in ostpreußische Städte 1 7 4 0 - 1 8 0 6 « . In: 2s. für Ostforschung Jg. 1 (1952), S. 5 4 4 - 553· 44 Vgl. Baczko, Versuch einer Geschichte (Anm. 5), S. 592 — 655.

Werner Stark

Kant als akademischer Lehrer *

Der Titel dieses Beitrags ist ein Zitat. Friedrich Paulsen hat in seinem populären, um die Jahrhundertwende sehr erfolgreichen Kant-Buch 1 einem Kapitel diese Überschrift gegeben. In Karl Vorländers großer Kant-Biographie ! tritt dieselbe Formulierung 1924 als Kolumnentitel auf. Dem somit gegebenen Anschein, daß dieses Thema in der Literatur hinreichend behandelt und erörtert worden sei, möchte ich hier entgegentreten und für meinen Beitrag die Leitlinie formulieren, daß die historische Forschung sich dieser Thematik bislang nur unzureichend angenommen hat. Es ist zwar manches über Kant als akademischen Lehrer geschrieben worden, von Forschungsliteratur in einem prägnanten Sinn kann m. E. aber nur bei Publikationen von Emil Arnoldt, Erich Adickes, Arthur Warda und mit Einschränkungen Arnold Kowalewski und Otto Schöndörffer die Rede sein. Die Arbeiten der Erstgenannten, sämtlich vor 1930 erschienen, sind vor allen anderen durch eine intensive, eigenständige Beachtung einschlägiger, meist handschriftlicher Quellen ausgezeichnet. Zuerst werde ich eine chronologische Einteilung von Kants Lehrtätigkeit vorstellen und im Anschluß daran auf zwei Fragen eingehen, die mein Interesse an diesem Thema beschreiben. In vielen biographischen Abrissen wird darauf hingewiesen, daß Kant rund 40 Jahre an der Königsberger Universität gelehrt hat. Selbstverständlich ist der so angesprochene Zeitraum von 1755 bis 1796 nicht gleichförmig verlaufen. Eine Vororientierung wird also nützlich sein. Aus je verschiedenen Gründen läßt sich die Zeit von Kants Lehrtätigkeit in vier Phasen untergliedern. Die erste, deutlichste Zäsur brachte der April 1770, in welchem der seit 15 Jahren lesende Magister Immanuel Kant zum ordentlichen Pro-

* Überarbeiteter und um Anmerkungen ergänzter Vortragstext. 1 Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre. Stuttgart 1 1899, S. 59 — 67. 2 Karl Vorländer: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Leipzig 1924. Bd. II, S. 55 — 59·

Werner Stark

fessor für Logik und Metaphysik berufen wurde. J Außer der Übernahme von Pflichten in der akademischen Verwaltung, wie z. B. als Dekan der Philosophischen Fakultät die Prüfung oder als Universitätsrektor die Inskription von neuankommenden Studenten, waren mit dem Antritt der Professur ab dem Sommersemester 1770 auch genau bestimmte Lehrverpflichtungen verbunden. Bis dahin konnte Kant als Privatdozent sein Lehrangebot völlig frei bestimmen; jetzt hatte er pro Jahr je eine Vorlesung über Logik und Metaphysik öffentlich, d. h. unentgeltlich, zu halten. Zur gleichen Zeit, da Kant Professor wurde, erließ der Berliner Minister von Fürst für den Vorlesungsbetrieb der Königsberger Universität zwei Neuregelungen: Erstens wurde die Verteilung detaillierter Studienordnungen für sämtliche Fakultäten eingeführt (auf den Inhalt werde ich noch eingehen), und zweitens wurden die gedruckten Vorlesungsverzeichnisse den Erfordernissen einer modernen Universität angepaßt. Das bisherige personelle Gliederungsprinzip, der Rang der Professoren, wurde ersetzt durch eine übersichtliche Sacheinteilung. Auch wurden nun die Ankündigungen der Privatdozenten in das übliche Lektionsverzeichnis aufgenommen. Zuvor hatten sie nur durch Aushänge, und zwar erst nach denen der Professoren, oder durch eigene Programmschriften auf ihr Lehrangebot aufmerksam machen dürfen.4 Kant war von dieser Reform wegen seiner Berufung zum ordentlichen Professor praktisch nicht betroffen. Eine zweite Zäsur ist im Frühjahr 1781 anzusetzen, weil Kant durch die Publikation seiner Kritik der reinen Vernunft auch bei den Königsberger Studenten an Ansehen gewann. Jetzt konnten sie erstmals5 die neue Philosophie ihres Lehrers ausgeführt lesen,6 die sie zuvor in seinen Vorlesungen 3

Die Ernennungsurkunde wird am 31. März 1770 von Friedrich II. und dem Minister von Fürst in Berlin unterschrieben, vgl. Br. 53 der Akademie-Ausg. von Kants Gesammelten Schriften (Berlin 1900 ff.). Bd. X , S. 93 f. — Verweise auf diese Ausg. im folgenden durch römische Ziffern für den Bd. und arabische für die Seiten; für die 1. und 2. Abt. (Werke und Briefwechsel) werden Exemplare der zweiten Aufl. benutzt.

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Akten des Staatsarchivs Königsberg im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (im folgenden abgekürzt als G S t A ) , X X . H A , E M 139b Nr. 25, Bd. 5, fol. 1 — 5: Anweisung an die [Königsberger!] Preußische Regierung vom 26. Mai 1770.

' In der Forschung wird heute allgemein bereits Kants dissertatio pro loco von 1770 (II, 385 — 419) mit guten Gründen als erste >kritische< Schrift angesehen; das heißt aber nicht, daß auch seine Studenten deren Tragweite erkannten, noch daß mehrere Generationen diese lateinisch geschriebene akademische Pflichtpublikation zur Kenntnis genommen haben. Bezeichnenderweise finden sich nur in denjenigen Nachschriften des Logikkollegs, deren Texte auf den Sommer 1770 oder 1771 zurückgehen, Bezüge auf Kants dissertatio; vgl. X X I V , 279, 453. 6

Die frühe und zahlreiche Nachfrage der Königsberger Studenten nach Exemplaren der Kritik der reinen Vernunft ist sicher überliefert: vgl. Kants Brief an Spener vom Ii. Mai 1781 (X, 268) und Hamanns Briefe an den Verleger Hartknoch vom 31. Mai

Kant als akademischer

Lehrer

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nur in F o r m kritischer Kommentare zu den Lehrbüchern z . B . von Feder, Baumgarten und Meier kennengelernt hatten. Zeitweilig plante Kant ein eigenes »Lehrbuch der Metaphysik [...] zum Behuf academischer Vorlesungen« ( X , 346) auszuarbeiten; dieses Projekt hat er nicht realisiert; er blieb bis zum Schluß seiner Vorlesungstätigkeit bei dem überkommenen Verfahren, seinen philosophischen 7 Kollegs die Schriften anderer Autoren zugrundezulegen. Es gibt noch einen dritten, ganz anders gearteten Einschnitt, der zeitlich leider nicht so exakt lokalisierbar ist wie die beiden vorhergehenden. E r betrifft die A r t des Vortrags. Fichte, der Montag, den 4. Juli 1791 vormittags in Kants Hörsaal hospitierte, vermerkte in seinem Tagebuch: 8 » E r [Kant] schien mir schläfrig.« A u c h die Aussagen anderer Augen- und Ohrenzeug e n ' bestätigen, daß der früher sehr lebendige, ja mitreißende Vortrag in den letzten Jahren wenig Anziehendes an sich hatte. Kant selber ist sich dessen w o h l bewußt gewesen, denn am 21. September 1791 schrieb er an Reinhold: Seit etwa zwei Jahren hat sich mit meiner Gesundheit, ohne sichtbare Ursache und ohne wirkliche Krankheit [...], eine plötzliche Revolution zugetragen, [...] wobei zwar meine körperlichen Kräfte und Empfindungen nichts litten, allein die Disposition zu Kopfarbeiten, selbst zu Lesung meiner Collégien eine große Veränderung erlitt. N u r zwei bis drei Stunden Vormittags kann ich zu den ersteren anhaltend anwenden, da sie dann durch eine Schläfrigkeit unerachtet des besten gehabten Nachtschlafs, unterbrochen wird [...]. (XI, 288) Demnach scheinen die Lehrvorträge der letzten acht Jahre gegenüber den vorhergehenden zurückzufallen. Unter zwei Fragenperspektiven wird im folgenden »Kant als akademischer Lehrer« betrachtet: D a s Interesse an der Bestimmung des Quellenwerts von erhaltenen Nachschriften Kantischer Vorlesungen stellt erstens

und 19. Juni 1781, in: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Wiesbaden 1959. Bd. IV, S. 297 und 309. 7 Für das in den Vorlesungsverzeichnissen unter »Historie* rangierende Kolleg über physische Geographie legt Kant mit regierungsamtlicher Genehmigung eigene Diktate zugrunde; vgl. die ausführliche Darstellung bei Erich Adickes: Untersuchungen zu Kants physischer Geographie. Tübingen 1911. 8 Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe. II, 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962, S. 415. ' [Mortzfeld:] Fragmente aus Kants Leben. Ein biographischer Versuch. Königsberg 1802, S. 58 f.: »Ehe der Schüler seinen Vortrag gewohnt wurde, möchte es manchem freilich schwer geworden seyn, ihn ganz zu fassen; vorzüglich in den spätem Jahren, wo er zuweilen schwer zu folgen war.« Friedrich Theodor Rink: Ansichten aus Immanuel Kant's Leben. Königsberg 1805. S. 47: »Und, zu leugnen ist es nicht, schon in den Jahren achtzig des letztvergangenen Jahrhunderts, verlor sein Vortrag zuweilen an Lebhaftigkeit in der Art, daß man hätte glauben mögen, er werde einschlummern; [...].«

Werner Stark

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die Aufgabe, eine möglichst detaillierte Vorstellung vom akademischen Lehrbetrieb in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Königsberg zu erarbeiten. Und dieses legt dann zweitens nahe, den Blick auf die zeitgenössischen Wirkungen von Kant als Akademiker zu richten.

I Zunächst zum Lehrbetrieb. Im 18. Jahrhundert waren die deutschen Universitäten weniger auf die Anleitung zu wissenschaftlicher Forschung als auf die Uberlieferung bekannten Wissensstoffes ausgerichtet. Die Philosophische Fakultät bildete als Nachfolgerin der mittelalterlichen Artistenfakultät die von allen Studienanfängern zu absolvierende Durchgangs- oder Vorbereitungsstufe für die drei oberen Fakultäten, die drei Brotwissenschaften Theologie, Juristerei und Medizin. Kant lehrte an der Philosophischen Fakultät und seine Hörerschaft bestand überwiegend aus jüngeren, manchmal noch jugendlichen Studenten, die zu Beginn ihres Studiums ein bis zwei Semester »Philosophica« belegten. Ihre Vorbildung war höchst verschieden und es scheint keinen erheblichen Unterschied gemacht zu haben, ob die Schüler bis zum Abgang auf die Universität von Privatlehrern erzogen wurden oder ob sie öffentliche Schulen besuchten. Im allgemeinen ist der Bildungsstand der Studienanfänger ziemlich niedrig gewesen. Mehrfach sind von regierungsamtlicher Seite Schritte unternommen worden, diesem Ubelstand zu begegnen. 11 Protokolle der nur im Prinzip obligatorischen Eingangsprüfung gibt es für Königsberg zwar nicht; an den verfügbaren Berichten ist aber deutlich abzulesen, daß diesen Prüfungen praktisch keinerlei Selektionsfunktion zukam. Sie waren meist bloße Formsache. 12 Erst allmählich, nachdem 1788 in Preußen das Abiturientenexamen mit abschließendem Schulzeugnis verbindlich eingeführt wurde, verschärften sich in den neunziger Jahren die Anforderungen. 15 Für die Zeit von Kants Vorlesungstätigkeit bis zum Sommer 1796 kann man also annehmen, daß die neu-

10

" 12

IJ

So eine häufige Abkürzung in den halbjährigen Berichtslisten über die Studierenden der drei oberen Fakultäten, G S t A X X . H A , E M 139b Nr. 25. Vgl. die Verordnung vom 25. Oktober 1735, Kapitel I § 5 ( G S t A X X . H A , E M 139g Nr. 14); vgl. auch den Schriftwechsel aus dem Jahr 1774, ebd., fol. j2aff. Siehe den Bericht der Universität vom 20. Oktober 1780 über das »Examen dimittendorum« durch die Mitglieder der Philosophischen Fakultät ( G S t A X X . H A , E M 139b Nr. 25, Bd. 9, fol. 112 ff.); zum allgemeinen vgl. Richard Fester: Der Universitätsbereiser Friedrich Gedike und sein Bericht an Friedrich Wilhelm II. Berlin 1905. Paul Schwanz: Die Gelehrtenschulen Preußens unter dem Oberschulkollegium (ιγ8γ — i8o6) und das Abiturientenexamen. 3 Bde. Berlin 1910—1912 (monumenta germaniae paedagogica Nrn. 46, 48, 50), Bd. III, S. 561 — 598.

Kant als akademischer

Lehrer

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aufgenommenen Studenten zuvor nur in Ausnahmefällen eine qualifizierte Erziehung genossen hatten. Eine wesentliche Aufgabe der unteren Fakultät bestand darin, dieses Niveau zu heben, so daß die Vorlesungen in den drei oberen, zu einem qualifizierten Beruf führenden Fakultäten mit Aussicht auf Erfolg besucht werden konnten. Was wissen wir nun über die alltäglichen Obliegenheiten der jungen Studenten? Als erstes mußte »sich jeder, der studienhalber nach Königsberg kam, binnen vier Tagen, spätestens aber innerhalb acht Tagen nach seiner Ankunft vom Rektor inskribieren« lassen. 14 Der Vorschrift, bei der Immatrikulation diejenige der drei oberen Fakultäten anzugeben, an der der Student nach Absolvierung der Philosophica seine Studien fortsetzen will, wurde häufig nicht nachgekommen. Durch Eidesleistung (später durch Handschlag) wurde er akademischer Bürger; damit unterstand er der universitären Gerichtsbarkeit, war von militärischer Dienstpflicht befreit und berechtigt, die Lehrveranstaltungen zu besuchen. Allerdings nahmen nicht alle Studenten sofort ihre Studien auf. Manche gingen, wie es in einem Bericht der Universität vom 7. Januar 1778 heißt, »wenn sie Landeskinder sind, gleich nach der Immatriculation« nach Hause zurück, wo sie »das erste halbe auch wohl gantze Jahr zubringen«. — »Andere, und dies ist der öftere Fall, verlassen gleich nach der Dimission [d. h. der Abschickung von der Schule zur Universität] aus Armuth die Academie, und verdienen einige Jahr hindurch sich in Conditionen [d. h. als Privaterzieher] so viel, daß sie hiernächst in spätem Jahren vom Ersparten die Kosten bestreiten können, die der Aufenthalt auf der Academie erfordert.« IS Für diejenigen, die in Königsberg blieben, begann der Studienalltag; sie erhielten ein Exemplar des gerade gültigen Vorlesungsverzeichnisses und ab dem Sommersemester 1770 zusätzlich ein Exemplar der vom Berliner Ministerium erstellten »Methodologischen Anweisungen für die Studirende in allen 4 Facultaeten«. 16 —

14

15

16

G. Erler und E. Joachim (Hrsg.) : Die Matrikel und Promotionsverzeichnisse der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. 3 Bde. Leipzig 1 9 1 0 - 1 9 1 7 . Bd. I, S. L H f. - Im folgenden wird auf dieses Werk mit dem hervorgehobenen Stichwort Matrikel verwiesen; die im Text genannten Immatrikulationsdaten sind sämtlich aus der Matrikel übernommen. G S t A X X . H A , E M 139b Nr. 25, Bd. 8, fol. 55-56; Schreiben der Universität Königsberg vom 7. Januar 1778. Enthalten in: G S t A X X . H A , E M 139b Nr. 25, Bd. 5, fol. io4ff. (daraus die folgenden Zit.) — Durch Königliches Reskript werden 1771 diese »Anweisungen« auch an die Königsberger »Hauptschulen« weitergeleitet, »damit so wohl die Lehrer als Schüler der obern Klassen davon unterrichtet werden, was leztere künftig auf der Akademie zu lernen haben«. — Falk: »Versuch einer Geschichte der Cathedralschule zu Königsberg in Ostpreussen«. 5. Tl. In:Preussisches Archiv 9 (Königsberg 1798), S. 455. In Halle werden 1781 dieselben vier »Anweisungen«, deren Ausg. an der dortigen Universität seit einigen Jahren eingestellt worden sei, nachgedruckt - [Johann Chri-

Werner

Stark

Diese Anweisungen geben für jede der vier Fakultäten sowohl eine fein gefächerte Ubersicht für die zu hörenden Disziplinen, als auch eine »Eintheilung der Wissenschaften in die academischen Jahre«. Alle vier Ordnungen sehen einen dreijährigen, d.h. sechssemestrigen akademischen Kursus vor. Für die Ordnung der philosophischen Kollegs wird in der Anweisung für die Theologen ausdrücklich, in denen für die Juristen und Mediziner implizit auf die »Anweisung wie die Philosophie, Philologie und diejenigen Wissenschaften, worin die Philosophische Facultät den Unterricht giebt, [...]« verwiesen. Die beiden Disziplinen, die Kant durch seine Professur zu vertreten hatte, werden stets für die ersten Semester dringend empfohlen. In der zuletzt genannten »Anweisung« wird inhaltlich dazu ausgeführt: Die Logic. In ihr wird nicht nur über die menschliche Erkenntniß, über ihre Mängel, Grenzen und Vollkommenheiten philosophirt, sondern auch eine A n w e i s u n g z u m gelehrten D e n k e n und Studiren gegeben; Wenn ein Student gleich im A n f a n g e eine solche L o g i c lernt, so weiß er aufs beste wie er eine jede Wissenschaft lernen muß, auf die er sich legt. Die Metaphysic

handelt die ersten Begriffe und Grundsätze aller menschlichen E r -

kenntniß ab, und ohne ihr [sie!] kan in keiner andern Wissenschaft etwas aufs möglichste erkläret und bewiesen werden. Sie erleichtert also das Erlernen aller übrigen Wissenschaften, da sie nun ausser dem von der Welt, von der N a t u r der C ö r p e r , des Menschen, und aller seiner Seelenkräfte und von G o t t handelt; so befördert sie die gründliche Einsicht in die Theologie, Jurisprudenz und Medicin.

Den Studenten stand es selbstverständlich frei, bei welchem Lehrer sie diese Disziplinen absolvieren wollten; weil Kant beide aber ab dem Sommersemester 1770 unentgeltlich zu lesen hatte, und zwar an den vier Haupttagen (Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag), die Logik jeweils im Sommer und die Metaphysik im Winter, und weil für die von den Privatdozenten angebotenen Kollegs auch dieser Disziplinen je vier Reichstaler Honorar zu zahlen waren, lag es für die Studenten nahe, diese Grundkollegien bei Kant zu hören. Die Frage, ob die Studierenden tatsächlich ihr Studium gemäß den gedruckten »Anweisungen« einrichteten, ist schwer zu beantworten. Es sprechen einige Indizien dafür, daß die Vorlesungen über Logik, das sogenannte »Fuchskollegium«, "7 von der überwiegenden Mehrzahl der Studienanfänger nach 1770 bei Kant besucht worden ist.18

stian Förster:] Kurze Anweisung

für ankommende

Studirende

auf die Universität

Hal-

le. Halle 1781. — Wenn, wie zu vermuten, die Aushändigung der »Anweisungen« an die Neuinskribierten auch in Königsberg in der Mitte der 70er Jahre eingestellt ist, die R e f o r m also nicht ganz z u m Zuge gekommen zu sein scheint, so werden die » A n w e i sungen« trotzdem eine wenigstens indirekte Orientierungsfunktion erfüllt haben. 17

Vgl. Christian W i l h e l m Kindleben: Studenten-Lexikon.

18

Einen ersten Anhaltspunkt bieten die schon genannten halbjährlichen Berichtslisten

Halle 1781, S. 89.

über die Studierenden an den drei oberen Fakultäten der Königsberger Universität an

Kant als akademischer

Lehrer

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In höheren Semestern konnten die Studenten sich auf dreierlei "Weise über die Vorlesungen informieren: durch die Aushänge des Lektionskataloges am Schwarzen Brett, die deutschsprachigen Ubersetzungen des offiziell lateinischen Vorlesungsverzeichnisses und Politischen Zeitung

in der Königsbergseben

Gelehrten-

oder in den öffentlichen Vorlesungen der Professo-

ren, weil dort nach einem Bericht der Universität vom 24. September 1784 »die Studirende sich am zahlreichsten versammlen, und eben daher die beste Gelegenheit finden, sich wegen der Privat-Vorlesungen, die sie nach ihren Bedürfnißen und nach ihrer Erfahrungs-Kenntnis von demjenigen, was jeder Lehrer gemeiniglich lieset, z u m Theil schon lange vor Ausgabe des Catalogs gewählt haben [ . . . ] « . 1 9 — U m eines von Kants Privatkollegien zu hören, mußte der Student die Vorlesung subskribieren, d. h. er ging zu Kant persönlich hin, unterschrieb dort einen »Kollegienzettel« 2 0 und verpflichtete sich so zur Zahlung des Entgelts von vier Reichstalern. Einmalige Wiederholung eines Kollegs w a r kostenfrei. Falls ein Student Bedürftigkeit nachweisen konnte, sollte der D o z e n t den Betrag ermäßigen oder völlig darauf verzichten. Kant legte G e w i c h t auf die Einhaltung dieser Regeln. Im Tagebuch des auf Stipendien und Stundengeben angewiesenen Studenten Puttlich findet sich unter dem 15. O k t o b e r 1782 folgender Eintrag: Ich ging um 9 mit dem H E . Nicolovius zu H E . Prof. Kant. Ich bat mir das Kollegium frey aus u. HE. Nicolovius pränumirirte u. subskribirte. "

die Ostpreußische Regierung; danach steigt die Zahl derjenigen Studenten, die bei Kant Vorlesungen hörten, nach Antritt der Professur stark an, vgl. G S t A X X . H A , E M 139b Nr. 25, Bde. 4 und 5. Ein weiteres Argument ergibt sich aus der Tatsache, daß relativ viele studentische Kolleghefte nach Kants Logik-Vorlesungen der Forschung bekannt geworden sind; außer den von Erich Adickes in der Akademieausg. X V I , S. VIII, aufgeführten sieben Manuskripten konnten in jüngster Zeit noch zwei unbekannte Handschriften aufgefunden werden, vgl. dazu meine Darstellung in: Reinhard Brandt und Werner Stark (Hrsg): Kant-Forschungen. Bd. I. Hamburg 1987. "

20

21

G S T A X X . H A , E M 139b, 28. Vgl. die Publikation von zwei solcher Subskriptionslisten aus dem Sommersemester 1788 durch Arthur Warda: »Die Kant-Manuscripte im Prussia-Museum«. In: Altpreußische Monatsschrift 36 (Königsberg 1899), S. 347 — 348; das Marburger Kant-Archiv (s. dazu: Information Philosophie, November 1983, S. 49 — 52) verfügt ferner über Reproduktionen von unveröffentlichten Listen aus dem Wintersemester 1773 / 74 und dem Sommersemester 1775. Das Tagebuch ist auszugsweise veröffentlicht von Arthur Warda: »Aus dem Leben des Pfarrers Christian Friedrich Puttlich«. In: Altpreußische Monatsschrift 42 (Königsberg 1905), S. 253 — 304 und 47 (1910), S. 262 — 308; das Zit.: Bd. 42, S. 275. Bei dem genannten Nicolovius handelt es sich um Georg Heinrich Ludwig Nicolovius; vgl. Adickes, Untersuchungen (Anm. 7), S. 37 ff.; woraus auch hervorgeht, daß Puttlich an der oben zit. Stelle seines Tagebuches die Vorlesung über Anthropologie des Wintersemesters 1782/83 gemeint hat.

Werner Stark



Seinem ehemaligen Schüler und späteren Kollegen Christian Jakob Kraus, der es mit dem Eintreiben der Honorare nicht so genau nahm, sagte Kant: Sie [die Studenten] werden dadurch verschwenderisch und gewissenlos f...]; wenn sie den Lehrer verabsäumen oder betrügen, so lernen sie auch andere Menschen betrügen. Der zum ordentlichen zahlen angehaltene Zuhörer wird dadurch gewissermaßen immer auch zum Fleiß genötigt; wer dagegen durch lässige Nachsicht die Privatvorlesung vernichtet, der bringt die Universität selbst in einen elenden Stand; umsonst opfert niemand in der Welt seine Kräfte auf [...].«

22

Bei Entrichtung des Betrages erhielt der Student eine von Kant eigenhändig geschriebene Quittung, 23 die auch die Funktion hatte, den Besuch der Vorlesung nachzuweisen. Für die öffentlichen Kollegien über Logik und Metaphysik wurden kurze lateinische oder deutsche Zeugnisse ausgestellt. Beim Abgang von der Universität oder manchmal auch erst Jahre später bekam der Student auf Wunsch eigens abgefaßte Testimonia. Diese enthalten keine detaillierten Benotungen; an den Formulierungen ist aber abzulesen, daß damit eine zwar summarische aber differenzierte Beurteilung verbunden war. 1 4 Eine generelle Überwachung des Studiums, wie sie heute z. B. durch Zwischenprüfungen oder Scheinerwerb geschieht, fand nicht statt, jedoch gab es verschiedene Formen der Betreuung. Wenn der Student eines der in Königsberg sehr zahlreichen Stipendien in Anspruch nahm, dann mußte er semesterweise den regelmäßigen Vorlesungsbesuch nachweisen und an besonderen wöchentlichen Übungen teilnehmen. 25 Daneben übten private Pensionsanstalten 26 für Studenten eine gewisse Kontrollfunktion aus. Eine persönliche Anleitung zum Studium erfuhren nur diejenigen, die entweder

22

Nach Johannes Voigt : Das Leben des Professors Christian Jakob Kraus. Königsberg 1819 (Bd. 8 der Vermischten Schriften von Kraus), S. 437; vgl. auch das Mahnschreiben Kants (X, 136).

25

Die Marburger Universitätsbibliothek besitzt (Ms 764) eine solche Quittung vom 9. Mai 1791; die Bayerische Staatsbibliothek in München zählt zu ihren handschriftlichen Kantiana (Hagen 27) eine weitere vom 29. Januar 1794; andere wurden 1972 und 1980 von der Autographenhandlung J. A . Stargardt verkauft.

24

Vgl. den Abdruck von Kants Entwürfen zu solchen Zeugnissen in XIII, 430, 457, 488; vgl. außerdem den Wortlaut der Zeugnisse für Eisner vom 10. Juni 1800 \n·. Altpreußische Monatsschrift 57 (Königsberg 1920), S. 140, und Trosien vom 2. September 1792 in: Arsenij Gulyga-.ImmanuelKant. Frankfurt a. M. 1985, S. 396.

21

Vgl. G. F. Härtung: Akademisches Erinnerungs-Buch für die welche in den Jahren ιγ8γ bis 181J die Königsberger Universität bezogen haben. Königsberg 1825, S. 251 f.; J. F. Goldbeck: Nachrichten von der königlichen Universität zu Königsberg in Preußen. [Königsberg] 1782, S. 34.

26

Vgl. Goldbeck, Nachrichten (Anm. 25), S. 115; zeitweilig unterhielt Ludwig von Baczko eine solche Pension, vgl. Ders.: Geschichte meines Lebens. Königsberg 1824. Bd. II, S. 14.

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unter der Aufsicht eines Universitätsdozenten studierten oder die von ihren Hofmeistern auf die Universität begleitet wurden. So geschah es manchmal, daß ein ehemaliger Student wenige Jahre später als Hofmeister eines jüngeren, reichen Studenten zur Universität zurückkehrte, und es ergab sich die »Gelegenheit, mit dem Schutzbefohlenen in die Kollegien zu gehen und auch Bekanntschaften zu schließen. Die >adeligen< Hofmeister hatten am Universitätsort meist nicht selbst zu unterrichten, sondern die Studien zu überwachen, so daß oft Zeit zur eigenen Beschäftigung blieb. [...] Die Begleitung der Studenten auf die Universität war auch deshalb beliebt, weil man das, was man etwa als armer Theologiestudent versäumt hatte, nun nachholen konnte.«17 — Auch unter Kants Hörern sind Beispiele für eine solche Studienbetreuung auszumachen. Karl Gottlieb Fischer (1745 — 1801), der spätere Pfarrer an der Königlichen Hospitalkirche in Königsberg und angesehene Prediger, wurde am 7. Oktober 1763 in Königsberg immatrikuliert. Während seines Studiums befreundete er sich mit Herder. In seinem Nekrolog wird berichtet: »Unter Anleitung Kants, damaligen noch wenig berühmten Magisters, studine er Philosophie und hörte namentlich physische Geographie und theoretische Physik bei ihm.« (237) — »Die akademischen Vorlesungen hörte er mit großer Ordnung und Aufmerksamkeit, schrieb dem Lehrer nach und vervollständigte die Nachschrift bei der Repetition.« (238) Nachdem er im Herbst 1769 für ein Jahr einen Hofmeisterposten gefunden hat, lebte er zeitweilig bei seinem Vater in Thorn, vertrat ab dem Herbst 1772 eine Pfarrstelle und wurde im Frühjahr 1773 Erzieher des einzigen Sohnes einer verwitweten Gräfin Dohna. Mit Karl Ludwig Alexander zu Dohna, der am 18. Oktober 1774 in Königsberg immatrikuliert wurde, besuchte er »abermals die philosophischen Vorlesungen Kants« (244). Während dieser Zeit wohnte er im Dohnaschen Haus in Königsberg; die Stellung als Hofmeister behielt er bis I 777> >>wo der Graf seine Studien geendet hatte« (244 f.). Anschließend wurde er zunächst Feldprediger und im Februar 1778 königlicher Hospitalprediger in Königsberg, wo er unter anderem mit Hippel und Kraus Umgang hatte.28 — Auch Kant muß ihn geschätzt haben, denn er schenkte ihm 1794 ein Exemplar seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.29 27

Ludwig Fertig: Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979, S. 53 f.; vgl. auch X I I , 247: Kant über seinen ehemaligen Amanuensis Lehmann und dessen Aufgaben als Studienbegleiter in Göttingen.

2>

Die Zit. sind entnommen der Biographie im Nekrolog der Teutschen für das 79. Jahrhundert. Hrsg. von Friedrich Schlichtegroll. Gotha 1803, Bd. II, S. 2 2 5 - 3 2 8 . Vgl. zu seiner Hofmeisterzeit die entsprechenden Art. in der Altpreußischen Biographie. Vgl. X I , 4 8 6 - 4 8 7 . Im November 1985 ist das entsprechende, undatierte Widmungsblatt aus Fischers Exemplar von der Autographenhandlung J. A . Stargardt in Marburg verkauft worden.

29

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Kraus' Biographie liefert ein weiteres Beispiel: Christian Jakob Kraus (1753 — 1807) begann nach seiner Inskription am 13. April 1771 zunächst ein theologisches Studium; relativ rasch wurde Kant auf ihn aufmerksam; nachdem Kraus am 24. September 1772 als Student den Part des Opponenten bei der Disputation des designierten Professors für Physik, Karl Daniel Reusch, übernommen hatte, wechselte er im Sommer 1773 zur Juristischen Fakultät über. Im August 17 75 opponierte er zum zweiten Mal und zwar bei der ersten Dissertation von Johann Schultz, dem nach Kants Meinung vom Februar 1772 »besten philosophischen Kopf [...] in unsrer Gegend«.'0 Schließlich wurde im Februar 1777 von Kant seine Beteiligung an beiden erforderlichen Disputationen des neu berufenen Professors für Poesie und Dichtkunst, Johann Gottlieb Kreutzfeld, ausdrücklich hervorgehoben.31 Aufgrund von Kants guten Beziehungen zum Gräflich-Keyserlingkschen Haus in Königsberg erhielt er im April 1777 dort eine sehr gut dotierte Hofmeisterstelle. Er beaufsichtigte das einzige akademische Jahr von Archibald Nikolaus Gebhard Keyserlingk (1759—1829, immatrikuliert am 3. Mai 1777). Kraus schildert seine Tätigkeit folgendermaßen: Ich habe mit meinem jungen Grafen nichts zu thun, als ihn in die Collegia des Kant zu begleiten, dann zu wiederholen, und ihn zum Lesen anzuführen, welches er ohnedem gern thut. Den ganzen Nachmittag bin ich frei und von vier Uhr an bekomme ich meinen jungen Grafen nicht zu sehen, denn es ist tagtäglich Gesellschaft hier. Für diese meine geringe Mühe bekomme ich jährlich zweihundert Thaler und freie Station.

Ji

Kraus blieb anschließend, ab April 1778, Gast im Keyserlingkschen Palais bis er im Dezember Königsberg für zwei Jahre zu einer Studienreise verließ, die ihn über Berlin nach Göttingen und Halle führte. Im Dezember 1780 wurde er als berufener Professor für Moralphilosophie erneut in die Königsberger Matrikel aufgenommen. Obwohl zu dem Stichwort »Studienalltag« noch mancher Aspekt zu beleuchten wäre — wie die Finanzierung des Studiums durch Nebenarbeiten, Kants Sorge für seine Studenten durch Vermittlung von Hofmeister- oder Informatorenstellen oder die Dauer der sogenannten Ernteferien, " die das ,0

51

32

"

X , 133; vgl. Reinhard Brandt: »Materialien zur Entstehung der >Kritik der reinen Vernunft< (John Locke und Johann Schultz)«. In: Ingeborg Heidemann und Wolfgang Ritzel (Hrsg.):Beiträge zur »Kritik der reinen Vernunft* ιγ8ι , ig8i. Berlin und N e w York 1981, S. 3 7 - 6 8 . Für die Nachweise zu dieser Darstellung von Kraus' Bildungsgang verweise ich hier auf meinen Beitrag über »Kant und Kraus« in : Kant-Forschungen (Anm. 18), Bd. I; vgl. ferner X V , S. 934. Kraus an Auerswald 4. Mai 1777, in: Voigt, Kraus (Anm. 22), S. 62. Diese Ferien lagen nicht, wie Emil Arnoldt (in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Berlin 1909, S. 279) irrtümlich vermutete, in der Pause zwischen Sommer- und Win-

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Sommersemester in zwei Teile zerlegten — breche ich hier ab und gehe auf den Lehrbetrieb etwas näher ein. Unberücksichtigt bleibt der Aspekt, wie sich der Professor Kant auf den Unterricht vorbereitet hat; denn davon werden die Studenten damals wie heute kaum etwas erfahren haben. Hier ist vor allem ein Blick auf die Quellen erforderlich, aus denen wir eine historisch getreue Vorstellung von Kant als akademischem Lehrer entwickeln können. Wegen der Tatsache, daß die wichtigen Unterlagen des Archivs der Königsberger Universität verschollen sind, muß bei der Benutzung der verbliebenen Materialien große Sorgfalt und erhebliche Mühe aufgewendet werden, um das so gegebene Manko aus den Akten des Staatsarchivs Königsberg und denen des Berliner Ministeriums34 wenigstens in etwa auffüllen zu können. Mit Bezug auf die eingangs vorgestellten vier Phasen von Kants Lehrtätigkeit ergibt sich eine ungleichgewichtige Verteilung. Durch die sechs von Kant gemäß den damaligen Gepflogenheiten in der Magister-Zeit verfaßten kurzen Einladungsschriften M sind wir zwar über die Absichten unterrichtet, die er bei seinen Vorlesungen verfolgte; weil aber — abgesehen von den wenigen Herderschen Manuskripten 36 — keine Kolleghefte oder andere, genaue Berichte aus dieser Zeit überliefert sind, können wir nicht sagen, wie Kant seinen akademischen Unterricht gestaltete. Die Tatsache, daß aus dieser frühen Zeit sonst keine studentischen Nachschriften verfügbar sind, ist m. E. dadurch zu erklären, daß ein anhaltender, traditionsbildender Bedarf an solchen Skripten erst mit Antritt der Professur entstanden ist. Erst ab 1770 war Kant prüfungsberechtigt, und die Studenten konnten damit rechnen, daß er seine Vorlesungen in regelmäßigem Turnus wiederholen würde. Aus der Zeit bis zum Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft sind jeweils mehrere Kolleghefte der Vorlesungen über Logik, Metaphysik, Moralphilosophie, Anthropologie, physische Geographie, und möglicherweise eines über Enzyklopädie erhalten, die aber eine ganze Reihe von Problemen mit sich bringen, auf die ich hier nicht 37 näher eingehen möchte. Ich nenne tersemester, sondern fielen mit den Hundstags-Ferien von vier Wochen Dauer in den Monaten Juli und August zusammen; s. X , 211, 348, 395; X X I V , 771. Alle Bemühungen des Berliner Ministeriums, diese in den Universitätsstatuten nicht vorgesehenen Ferien abzuschaffen, schlugen fehl; vgl. G S t A X X . H A , E M 139b, 28 und Vorländer, Kant (Anm. 2), Bd. II, S. 55. 34

3!

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Heute im Zentralen Staatsarchiv der D D R in Merseburg; diese Bestände kenne ich bislang nur aus der Literatur. Vgl. dazu Arnold Kowalewski: »Kants Gedanken über philosophische Geistespflege«. In: Kant-Fschr. der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Berlin 1924, S. 46 — 59. Vgl. Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler: Der Handschriftliche Gottfried Herders. Katalog. Wiesbaden 1979. Eine ausführliche Erörterung wird meine Dissertation enthalten.

Nachlaß Johann

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nur die Stichworte: Abschriftentradition, Kompilation und Datierung. Unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive sind diese Handschriften deswegen von ausgezeichneter Bedeutung, weil Kant in dieser Zeit für die breitere Öffentlichkeit praktisch stumm war. Seine studentische Zuhörerschaft hat er hingegen, so möchte ich im Gegensatz zu der vielfach58 in der Sekundärliteratur vertretenen Meinung als These formulieren, am Werdeprozeß der kritischen Philosophie teilnehmen lassen. Die gegenläufige Meinung, daß Kant die eigene Philosophie nicht in seinen Vorlesungen vorgetragen habe, weil er sich auf die Kommentierung von Lehrbüchern anderer Autoren beschränkte, verkennt den wirklichen Sachverhalt. Diese Meinung wird dem von Kant zuerst in der »Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im Winterhalbenjahre von 1765 —1766« formulierten Prinzip, daß der Schüler »nicht Gedanken, sondern denken lernen«, d. h., nicht »Philosophie lernen [...] [sondern] philosophieren lernen« (II, 306) solle, nicht gerecht. Kant hat dieses Prinzip nicht nur in der Kritik der reinen Vernunft (III, 542 — 543) wiederholt, sondern auch in seinem Logik-Kolleg vorgetragen. In einer unveröffentlichen Nachschrift, 39 die aus der Zeit der Abfassung der Kritik der reinen Vernunft stammt, heißt es: Einer der grösten Fehler aller Uebungen der Vernunft ist, wenn man ein System des Autors vorträgt, und es auswendiglernen läßt. Wir wissen die Säzze des Autors, und die Beweisstellen, wir können also durch die Säzze des Autors etwas erkennen: wenn aber der Autor irret, so weiß man sich nicht zu helfen. Es ist nur bloß die Erzählung von dem Producte einer fremden Vernunft. — [Vgl. X X I V , 797]

Diesem Prinzip folgend, blieb Kant in seinen Vorlesungen nicht bei der bloßen Auslegung eines zugrundeliegenden Textes stehen, sondern er trug seine eigenen, anhand des »Autors« entwickelten Gedankengänge vor. Die Nachschriften zu allen philosophischen Disziplinen zeigen ferner, daß der Lehrvortrag mit einer umfänglichen, eigenen Einleitung begann, in der nicht auf Paragraphen eines Handbuches Bezug genommen wurde. Im Verlauf der Vorlesung verließ Kant bei passender Gelegenheit den Gedankengang des Kompendiums sogar völlig und stellte und behandelte im Einklang mit seinem eben zitierten pädagogisch-philosophischen Prinzip die Fragen »Was ist Wahrheit?« (in der Logik) und »Wie lautet das oberste moralische Prin' 8 Die extreme, m.E. überzogene Gegenposition wird ohne ausgeführte Begründung vertreten von G ö t z von Seile: Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Würzburg 1 1956, S. 176. "

Manuskript der Universitätsbibliothek Helsinki (Sign.: D. III. 31) p. 18 f.; hier zit. nach dem Mikrofilm des Marburger Kant-Archivs. Vgl. auch Theodor Gottlieb von Hippel: Uber die Ehe. Stuttgart 1972 (Ndr. der 1. Aufl., Berlin 1774): »Das zweyte Capitel. Der Endzweck der Ehe. Eine academische Vorlesung.« Hippel imitiert den Stil eines mündlichen Vortrags und flicht dabei deutliche Hinweise auf Kant ein; z.B. S. 24.

Kant als akademischer

Lehrer

zip ?« (in der Moral). Diese an den studentischen Kollegheften beobachtbaren Eigenheiten der mündlichen Lehre korrespondieren mit den wenigen Bemerkungen von Kant selbst, die über das Verhältnis der Vorlesungen zu den Publikationen Auskunft geben.40 Wir sind also berechtigt anzunehmen, daß Kant als akademischer Lehrer in den siebziger Jahren auch seine eigene Philosophie vorgetragen hat, so daß die Nachschriften aus dieser Zeit eine unverzichtbare Quelle zur Information über Kants Philosophie werden können; vorausgesetzt ist selbstverständlich eine intensive, kritische Bearbeitung der von den Studenten >verfaßten< Texte. Für die Zeit nach 1781 ist die Quellenlage insofern verändert, als sowohl Kants Hörer wie auch die heutige Forschung vermehrt Bezüge zwischen Druckschriften und Vorlesungen herstellen konnten bzw. kann. Außer zahlreichen Nachschriften sind auch einige Schilderungen von Zeitgenossen über die Art des Lehrvortrags überliefert. Reinhold Bernhard Jachmann (1767—1843; Matrikel: 11.3.1783) der jüngere Bruder von Kants Amanuensis in den achtziger Jahren Johann Benjamin Jachmann (176$ —1832; Matrikel: 28.9.1781) schreibt zum Beispiel in seiner Kant-Biographie aus Kants Todesjahr: Seine Vorträge waren ganz frei. In vielen Stunden bediente er sich nicht einmal eines Heftes, sondern er hatte sich auf dem Rande seiner Lehrbücher einiges notiert, das ihm z u m Leitfaden diente. O f t brachte er nur ein ganz kleines Blättchen in die Stunde mit, worauf er seine Gedanken in kleiner, abgekürzter Schrift verzeichnet hatte. Die L o g i k las er über Meier, die M e t a p h y s i k über Baumgarten; aber er benutzte diese Bücher zu nichts weiterm, als daß er ihrer Haupteinteilung folgte und daß er bisweilen Gelegenheit nahm, das Unstatthafte ihrer Behauptungen zu beweisen. [ . . . ] Sein Vortrag w a r immer dem Gegenstande vollkommen angemessen, aber er w a r nicht ein memorierter, sondern ein stets neu gedachter Erguß des Geistes. 4 1

Ob das oben für die letzten Jahre des akademischen Lehramts festgestellte Nachlassen in der Lebendigkeit des mündlichen Vortrags auch am Inhalt der Vorlesungen auszumachen ist, möchte ich wegen der ungesicherten Quellenlage nicht definitiv behaupten. Es sind zwar Indizien dafür vorhanden, daß ein nichtstudentischer Zuhörer die Vorlesungen über Metaphysik, physische Geographie, Logik und Metaphysik der Sitten in relativ umfänglichen Manuskripten in den Jahren 1793 —1795 nachgeschrieben hat. Die originalen Foliobände, die als Bestandteil der Gottholdschen Sammlung in der Universitätsbibliothek Königsberg aufbewahrt waren, sind seit 1945 verschollen. Nur von zwei dieser Manuskripte sind am Ende des 19. Jahr4

° »Erklärung wegen der von Hippel'schen A u t o r s c h a f t « vom 6. D e z e m b e r 1796, in: X I I , 3 6 0 - 3 6 1 ; vgl. V I I , 115.

41

R . B. Jachmann: Immanuel

Kant geschildert

1804, hier zit. nach: Immanuel Darmstadt 1980, S. 152.

Kant.

in Briefen

an einen Freund.

Sein Leben in Darstellungen

von

Königsberg Zeitgenossen.

Werner Stark

64

hunderts Abschriften angefertigt worden. Diese sind, weil heute in Thorn und Göttingen erreichbar, in der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften ediert. 42 An keinem dieser beiden Texte, der sogenannten Metaphysik Arnoldt (K 3) und der Metaphysik der Sitten Vigilantius, habe ich eine konzeptionelle Änderung des Lehrvortrags gegenüber den 70er und 80er Jahren feststellen können. Zum Abschluß meines Versuchs, in erster Näherung eine Vorstellung von Kants akademischem Lehrbetrieb zu entwickeln, möchte ich auf zwei Desiderata der Forschung hinweisen. /. Es fehlen bislang historische 43 Untersuchungen zu den einzelnen Disziplinen, über die Kant gelesen hat. Eine kritische Analyse der Nachschriften einzelner Kollegien hat zwei erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden; die Texte müssen einigermaßen sicher datiert sein, und der Entstehungsprozeß der Manuskripte als solcher muß aufgeklärt werden. Die studentischen Kolleghefte sind zwar als Uberreste der damaligen akademischen Lehrtradition bestimmbar; wir wissen aber nicht, wie die Studenten praktisch vorgegangen sind, um diese Texte anzufertigen. 2. Auch für die Beantwortung von Fragen, die die Kolleghefte mit sich bringen, ist es von Bedeutung, zu erfahren, welche Art des Umgangs Kant mit seinen Schülern pflegte; d.h., ob in der Masse von mehreren tausend Studenten, die in seinen Hörsälen gesessen haben, ein engerer Schülerkreis auszumachen ist und wenn ja, welche besonderen Verkehrs- oder Lehrformen hier bestanden haben? Es ist sicher belegt, daß ein solcher notwendig im Laufe der Jahrzehnte anders zusammengesetzter Kreis bestand, aus dem Kant, so möchte ich vermuten, auch seine Amanuenses ausgewählt hat.

II Ich komme nun zum zweiten Abschnitt, der Frage nach den direkten zeitgenössischen Wirkungen, die Kant als Akademiker — nicht als Schriftsteller — ausgeübt hat. Doch kann ich noch nicht einmal versuchen, auf sie zu 42

4J

In den Bdn. X X V I I . 2 , 1 und X X I X . i , 2; zur Provenienz vgl. den Beitrag »Neue KantLogiken« in Bd. I der Kant-Forschungen (Anm. 18). Die richtungweisende Arbeit von Erich Adickes (Anm. 7) hat vor allem philologische Akzente gesetzt; infolgedessen fehlt den beiden Dissertationen von Wilhelm Krauss: Untersuchungen zu Kants moralphilosophischen Vorlesungen. Tübingen 1926/ 32, und Kurt Beyer: Untersuchungen zu Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre. Halle 1937, eine historisch-biographische Forschungsintention nahezu vollkommen. — Gegenwärtig arbeiten Norbert Hinske und seine Trierer Arbeitsgruppe an einer EDV-gestützten Analyse der Nachschriften des Logik-Kollegs.

Kant als akademischer

65

Lehrer

einer bündigen Antwort zu gelangen. Stattdessen möchte ich in der gebotenen Kürze zwei Wirkrichtungen aufzeigen: /. die Wissenschaftsverwaltung — 2. die Studenten. Es ist eine schon bemerkte Lücke, 44 daß Kants amtlicher Schriftwechsel nicht publiziert worden ist. Bei der Durchsicht von Beständen des Staatsarchivs Königsberg sind mir drei Vorgänge aufgefallen, die hier nur kurz genannt seien, weil sie eine intensivere Behandlung verdienen, als hier zu leisten möglich ist.

ι. Die

Wissenschaftsverwaltung

a) Besetzung der Königsberger Professur für Dichtkunst im Jahre

ιγγ6

Die schmale Personalakte 4 ' von Johann Gottlieb Kreutzfeld (1745 — 1784) zeigt folgenden Ablauf: Am 29. März starb der bisherige Inhaber und Freund von Johann Georg Hamann, Johann Gotthelf Lindner. Am nächsten Tag, damit einen Tag bevor die Universität am 31. März die Ostpreußische Regierung vom Tod des Professors unterrichtete, reichte der Königsberger Magister Michael Jaeschke seine Bewerbung um die Nachfolge ein. Die Vorschlagliste der Philosophischen Fakultät mit Gutachten über drei Kandidaten, Willamov (Petersburg), Schlegel (Riga) und Netzker (Thorn), datiert vom 17. April. Sechs Tage später bewarb Kreutzfeld sich direkt beim Senat der Universität; am 2. Mai leitete dieser den gesamten Vorgang an das Ministerium weiter, so daß durch die Universität insgesamt vier Kandidaten benannt worden sind. Auf Anfrage der Berliner Regierung übersandte die Universität am 21. Juni Druckwerke 46 als Arbeitsproben der beiden in die engere Wahl bezogenen: Schlegel und Kreutzfeld. A m 4. September unterschrieb der Minister von Zedlitz die Ernennung von Kreutzfeld. Vor dem Hintergrund, daß Kant, dies ist der einzige derartige bekannt gewordene Fall, an der öffentlichen Disputation von Kreutzfeld im Februar 1777 aktiv mitgewirkt hat 47 und der anderweitig belegten Tatsache, daß Kant und Kreutzfeld befreundet waren, 48 entsteht die Frage, ob Kant auf einem den

44

4! 46

Vgl. X I I , 420 und Kurt Forstreuter: »Pläne eines pädagogischen Seminars in Königsberg 1788 — 1793«. Preußenland 7 (Marburg 1969), S. 1 — 8. G S t A X X . H A , E M 139c IV, 90. Nicht in der Akte.

47

Vgl. XV, 903-935·

48

Vgl. Η . M. Thätigkeit. hinter den Kreutzfeld

Schletterer: Johann Friedrich Reichardt. Sein Lehen und seine musikalische Augsburg 1865, S. 67 f. Anm. - Ein weiteres Argument für ein Agieren Kulissen sehe ich darin, daß Kraus schon am 9. Mai 1776 vermutete, daß berufen werden würde; vgl. Voigt, Kraus (Anm. 12), S. 51.

66

"Werner Stark

Akten nicht unmittelbar zu entnehmenden Weg, die Entscheidung des Ministeriums für den verspäteten Bewerber Kreutzfeld beeinflußt hat.

b) Eine Zensurstreitigkeit anderer Art Kants harte Auseinandersetzung mit dem Ministerium Wöllner um die Drucklegung einer Schrift, die erst verspätet — 1798 — im Streit der Fakultäten publiziert werden konnte, ist mehrfach gründlich untersucht worden. 49 Meines Wissens hat sich aber niemand dafür interessiert, wie Kant sich selber bei den in seiner Funktion als Dekan der Philosophischen Fakultät oder als Universitätsrektor zwangsläufig auftretenden Zensurfällen verhalten hat. Dem Akt >Königlich Deutsche Gesellschaft zu Königsberg< ist zu entnehmen, daß Georg Ernst Sigismund Hennig (1749 —1809)SI sich im November 1783 um die Erneuerung der im Gründungsprivileg der Gesellschaft 1743 gewährten Zensurfreiheit an das Ministerium wandte. Hennig wies ausdrücklich auf den Fall einer möglichen Kollision mit der sonst von der Königsberger Universität auszuübenden Zensur hin. Die Privilegien der Gesellschaft wurden noch im November 1783 bestätigt. Das anscheinend seit Erneuerung der Privilegien erste ohne Universitätszensur gedruckte kurze Ehrengedicht vom 2. Mai 1788 auf einen Tribunalsrat Tuckermann führte zum Konflikt. Mit seiner Unterschrift vom 23. Mai untersagte Kant als Rektor der Universität ein derartiges Vorgehen. Hennig legte beim Ministerium Beschwerde ein. Der von dort angeforderte Bericht der Universität, datiert vom 30. Juni, entpuppte sich als ein von Kant mitunterschriebenes Gutachten, worin ein seltsam starres Festhalten am Buchstaben des Zensurprivilegs von 1743 zur Maxime der Rechtsauslegung gemacht wurde. Am 21. Juli 1788 wies das Ministerium die Universität an, »ohne Weigerung oder Wiederspruch zuzugeben, daß Schriften, welche die Gesellschaft selbst unter ihrem Namen herausgiebt, ohne weitere Censur gedruckt werden mögen« — auch hier die Frage: Wie weit ging Kants Engagement?52 49

,0

11

Arthur Warda: »Der Streit um den >Streit der Fakultäten««. In:Kant-Studien 23 (Berlin 1919), S. 385 —405; dort auch weitere Literatur. G S t A X X . H A , E M 139c IV, 9. Hennig war während seines Studiums (Matrikel: 13.10.1767) Mitglied der Gesellschaft geworden, die nach Lindners Tod (1776) fast völlig erlosch. Hennig war eine der treibenden Kräfte ihrer Wiederbelebung im Jahr 1783; vgl. Johannes Sembritzki: »Die ostpreußische Dichtung 1770 — 1800«. In: Altpreußische Monatsschrift 45 (Königsberg 1908), S. 218 ff. Vgl. dazu den Abdruck von Kants Brief an Hennig in Reinhard Brandt und Werner Stark: »Das Marburger Kant-Archiv«. In: Kant-Studien 79 (Berlin und N e w York 1988), S. 8 0 - 8 8 .

Kant als akademischer

Lehrer

67

c) Ein dritter Fall Die Personalakte von Daniel Weymann (1732 — 179$), " einem in den sechziger Jahren erfolgreich um die Gunst der Studenten werbenden Privatdozenten an der Philosophischen Fakultät, ist recht umfänglich. Es fällt auf, daß Weymann mehrere, sämtlich fehlgeschlagene Versuche unternahm, zu einer Professur zu gelangen. Im Dezember 1788 richtete er an das Ministerium ein Gesuch, das gegen ihn in den 70er Jahren wegen seiner Vorliebe für die Crusianische Philosophie ergangene Lehrverbot aufzuheben. Trotz eines eindeutig negativen Gutachtens des Senats der Universität vom März 1789, das wiederum von Kant mitunterschrieben ist, durfte Weymann ab dem Sommersemester 1789 seine Lehrtätigkeit an der Königsberger Universität wieder aufnehmen.

2. Die Studenten Ich komme zum Schluß und zu einem kurzen Resümee meines noch laufenden Versuchs, ! 4 die studentische Zuhörerschaft Kants zahlenmäßig und biographisch zu erfassen. Aus unterschiedlichen Quellen " ließen sich rund 500 Hörer von Kants Vorlesungen namhaft machen. Davon konnten bisher 90 so weitgehend recherchiert werden, daß nähere Fragen an diese Population gerichtet werden können. Diese Zahl ist für repräsentative Absichten sicher zu niedrig und durch die Quellenlage auch geographisch verschoben; dennoch läßt sich aus den 90 Biographien ein ungefähres, tabellarisches Bild von der studentischen Hörerschaft abnehmen.

"

54

"

G S t A X X . H A , E M 139c IV,i/o (3 Bde.) — Der aus Schlesien stammende Weymann war zunächst (ab 1762) Lehrer und seit 1785 Rektor an der Altstädtischen Pfarrschule; vgl. dazu: Rudolf Möller: Geschichte des Altstädtischen Gymnasiums zu Königsberg in Preussen. Königsberg 1847. Nach meiner Kenntnis stehen der Forschung nur zwei Gattungen von Quellen zur Verfügung, anhand deren die Wirkung von Kants akademischer Lehre untersucht werden kann: die Texte der studentischen Nachschriften seiner Vorlesungen und die Biographien seiner Schüler. Beide Gattungen bedürfen einer intensiven historischkritischen Analyse, ehe spezifizierte Aussagen über Kants unmittelbare Wirkung gemacht werden können. — Die Sammlung von studentischen Biographien wird im Marburger Kant-Archiv fortgeführt. Hauptsächlich die Akademie-Ausg. von Kants Gesammelten Schriften, insbesondere das Register zu Bd. X I I I und die oben in Anm. 20 genannten Beleglisten.

Werner Stark

68 Tabellen I

Studienbeginn; WS 69/70 WS 80/81

II

III

IV

Fach

Herkunft

ausgeübter Beruf

21

Theologie

21

- » SS 89

33

Jura Medizin

-»· SS 96

•S

Varia

90

7

Nicht in Matrikel

3 32 2

Summe

90

Ohne Fachangabe

Summe

30 16

Preußen

Pfarrer

30

(davon aus Kbg.) (24)

46

Jurist

22

Bait. Gebiete Schlesien Pommern

21

Lehrer Akademiker

13 11

Berlin Varia Summe

4 8 90

7 4

Mediziner >Dichter< Varia Summe1'

9 4 13 102

Bemerkenswert erscheint mir ferner die Beobachtung, daß nur drei dieser Personen von anderen Universitäten nach Königsberg kamen, hingegen 15 diese Stadt verließen, um ihre Ausbildung andernorts fortzusetzen. Der Durchschnitt des Studienanfangsalters berechnet sich auf 16,8 Jahre, mit den Extremen 13 bzw. 33 Jahre. Ein Schnitt für die Verweildauer auf der Königsberger Universität läßt sich nur grob abschätzen: etwa 8 Semester.



Die Summe ist größer als 90, weil manche der unter »Lehrer« oder »Dichter« rangierenden Personen auch in anderen Berufen tätig waren.

Margot Westlinning

Der junge Herder in Königsberg

Herders Anfänge in Königsberg darzustellen — die eigentlich erste Etappe im Bildungsweg eines der führenden Vertreter der deutschen Spätaufklärung in einem der damaligen »Zentren der Aufklärung« — seien einige Reflexionen vorausgeschickt, die Herder selbst nur einige Jahre nach dieser Zeit über die Möglichkeit eines biographischen Versuchs und über die Rolle der äußeren Bedingungen bei der Formung des persönlichen Charakters angestellt hat. Es kennt der Mensch sich selbst nur so, sagt er, »wie wir unser Gesicht kennen, anschauend, aber nicht deutlich. Wir gehen mit einem zwar lebendigen, aber verworrenen Bewußtsein unser selbst, wie im Traume einher, von dem uns nur bei Gelegenheit ein und ander Stück abgerissen, mangelhaft und ohne Verbindung einfällt. Wir werden dem anderen nie vollständig darauf antworten können: wie wir aussehen und denken [...].«' Eine Menschenseele ist ein Individuum im Reiche der Geister; sie empfindet also nach der einzelnen Bildung, und denkt nach der Stärke ihrer geistigen Organe. Diese haben durch die Erziehung eine gewisse [...] Richtung bekommen, die wieder einzeln ist nach der Lage der Umstände [...]. So wird also unsere Denkart zu einem ganz eigenen Körper geformt [...] so wird durch unendliche Modifikationen im Großen und Kleinen der Geist eines jeden zu einem einzelnen Phänomenon, das wie eine Seltenheit unser Auge beschäftigen könnte, wenn dieses fähig wäre, Geister, wie körperliche Erscheinungen zu sehen.2

Diese äußeren Bedingungen, die das »Phänomen« Johann Gottfried Herder mitgestaltet haben, und das Werden dieser Persönlichkeit sollen im Folgenden versuchsweise nachgezeichnet werden, wobei das im Eingangszitat angesprochene methodische Problem freilich noch verschärft erscheint: Was »Fragment des Entwurfs zu einer Denkschrift auf A. G. Baumgarten, J. D. Heilmann

und Th. Abbt«. In: Jobann Gottfried von Herder's Lebensbild. Hrsg. von seinem Sohne

2

Emil Gottfried von Herder (im folgenden abgekürzt: Lebensbild) Erlangen 1846, 3 Bde. Bd. I. 3. Abt. 1. Hälfte, S. 283; vgl. Herder: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 (im folgenden abgekürzt: Herder, Werke), Bd. 2, S. 257.

Ebd., Lebensbild I, 3, 1, S. 281.

Margot Westlinning



w i r über diese Lebensphase Herders wissen, ist fast ausschließlich — eine spärliche Reihe von Briefen als unmittelbare, keineswegs aber unstilisierte, Lebenszeugnisse ausgenommen — nur in der Spiegelung von Berichten seiner Zeitgenossen überliefert, die nur ein sehr diffuses Bild liefern — vielfach gebrochen und verzerrt, häufig widersprüchlich und oft ein präziseres Portrait ihrer selbst als ihres Gegenstandes entwerfend, meist aus großem zeitlichen Abstand und dem Bewußtsein von Herders seitheriger Berühmtheit verfaßt. 3 Entsprechend sind die meisten Biographen den Weg gegangen, die fragmentarische Uberlieferung anekdotisch auszubeuten bzw. die N a c h richten so gut es ging zu synchronisieren und, wie etwa H a y m , ein »lebensvolles Bild« daraus zu f o r m e n . 4 A b e r auch die Physiognomie der Stadt Königsberg läßt sich so einfach nicht erfassen. Z w a r ist es nicht schwer, historische »Data und Fakta« zu Bevölkerungsstruktur, Wirtschaft, politischer Geschichte u. ä. zu ermitteln, ' doch der spezifische Charakter, das » C o m m e r c i u m der Geister«, läßt sich ebenso nur indirekt, perspektivisch gebrochen, aus den verschiedenen Zeugnissen der damals Mitlebenden eruieren, die uns leider über vieles im unklaren lassen.

3

Als Quellen kommen in erster Linie in Frage: das vom Sohn Herders, Emil Gottfried von Herder herausgegebene Lebensbild (Anm. i), das Dokumente, Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen und Werke vereint; die von Herders Frau, Caroline Herder, verfaßten Erinnerungen (Erinnerungen aus dem Leben Job. Gottfrieds von Herder. Gesammelt und beschrieben von Maria Caroline von Herder. Hrsg. durch Johann Georg Müller. Bd. i. Tübingen 1820); der Briefwechsel Herders (Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausg. Bd. 1. April 1763 —April 1771. Bearb. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. Weimar 1977), insbes. mit Hamann (Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. 1 — 4. Hrsg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel; Bd. 5 — 7. Hrsg. von Arthur Henkel. Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955 —1979. Bd. 2, 1956), sowie eine Reihe von Werken, Gedichten, Vorlesungsmitschriften, Abhandlungen und Rezensionen, auf die jeweils an ihrer Stelle verwiesen werden wird. Uber den Nachlaß Herders, der auch ungedr. Material aus der Königsberger Zeit, insbes. Notizhefte, enthält, kann man sich jetzt informieren in: Der handschriftliche Nachlaß]. G. Herders. Katalog i.A. und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen bearb. von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler. Wiesbaden 1979 (Staatsbibliothek preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung. Hrsg. von Tilo Brandis. Zweite Reihe: Nachlässe, Bd. 1).

4

Rudolf Haym: Herder. Bd. 1. Mit einer Einl. von Rudolf Harich. Berlin 1954 (Zuerst erschienen unter dem Tit.: Rudolf Haym: Herder, nach seinem Leben und seinen Werken. Berlin 1880). Neben dieser noch immer wertvollen, material- und kenntnisreichen Darstellung ist heranzuziehen: Wilhelm Dobbek: Johann Gottfried Herders Jugendzeit in Mohrungen und Königsberg 1744 —1764. Würzburg 1961 (Marburger Ostforschungen. 16). Zur Stadtgeschichte Königsbergs vgl. vor allem Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. Bd. 2. Köln 1968; Walter Franz: Geschichte der Stadt Königsberg. Frankfurt a.M. 1979 (zuerst 1934 erschienen).

5

Der junge Herder in Königsberg

71

Herder war, als er im Mai des Jahres 1762, also fast siebzehnjährig, in Königsberg eintraf, ein außerordentlich stiller, in sich verschlossener, schüchterner und ängstlicher, durch die berühmte Tränenfistel behinderter Mensch, dem man an Kleidung und Auftreten die kleinstädtisch gedrückten und ärmlichen Verhältnisse anmerkte, aus denen er kam. Daß eine Aufnahmeprüfung, nach dem Äußeren des Kandidaten zu urteilen, »Wahrscheinlich vergeblich sein würde«, 6 soll der philosophische Dekan der Universität gesagt haben; daß er »unwissend, einfältig [...] ohne Geld und Aussicht auch nur auf 3. Wochen« 7 gewesen sei, berichtet Herder selbst in einem Brief an seine Braut. Nach dem Bericht Caroline Herders hat der Anblick der Großstadt Königsberg »die ihm wie eine halbe Welt erschien« 8 einen unvergeßlichen Eindruck hinterlassen: »Aus meinem armen stillen Mohrungen in diese große, gewerbereiche, geräusch und geschäftsvolle Stadt mit einmal versetzt! Wie staunte ich alles an! Wie groß war mit alles!«' Die ihn umgebende äußere Realität hat allerdings in seinen Schriften und Briefen nur schwache Reflexe hinterlassen, so daß man annehmen darf, daß er von ihr über der Faszination, die von der Neuheit der geistigen Erfahrungen ausging, nicht allzuviel von ihr wahrgenommen hat. »Die Welt war für uns nicht da, wir waren beisammen uns alles«, 10 schreibt sein Studienfreund Kurella über die gelehrtem Diskurs gewidmeten Stunden der Freizeit. 11 Uber Herders erste Monate in Königsberg ist wenig bekannt. Das ursprüngliche Ziel einer Ausbildung zum Chirurgen wird bald aufgegeben und mit dem Studium der Theologie vertauscht; unter Mithilfe eines 6

So der Bericht Baczkos, Lebensbild (Anm. 1) I, S. 157. Baczko, der es sich zu seiner »Lieblingsbeschäftigung« (ebd., S. 141) gemacht hatte, Nachrichten über berühmte preußische Zeitgenossen und so auch über Herder zu sammeln, ist doch auf sehr indirektem Weg in den Besitz dieser Information gelangt: »Der Schulenrath Berdau erzählt, daß es Emmerich [ein Freund Herders, der ihm bei der Immatrikulation behilflich und daher Zeuge dieser Szene war] ihm selbst mitgetheilt hätte, wie er Herdern zum philosophischen Dekan gebracht habe« etc. (ebd., S. 156).

7

Brief vom 22. Sept. 1770, (Herder, Briefe Bd. 1 [Anm. 3], S. 229). Erinnerungen (Anm. 3), S. 44.

8

» Ebd. Lebensbild I, 1 (Anm. 1), S. 93. 11 Auch die in dieser Zeit entstandenen Gedichte zeigen einen starken Hang zur Introspektion, zu »Selbstbefragung« und »Selbstbespiegelung« (Dobbek, Herders Jugendzeit [Anm. 4], S. 134). Caroline Herder weiß allerdings zu berichten, daß sich ihm auch die äußere Erscheinung der Stadt dauerhaft eingeprägt habe: »Seinem Gedächtnis waren Straßen, Plätze, das Collegium Fridericianum, die Häuser seiner Freunde und Bekannten, die großen Geschäftshäuser, der Hafen, die Plätze und Gärten noch in späten Jahren so lebendig gegenwärtig, als ob er sie gestern gesehen hätte.« (Erinnerungen [Anm. 3], Bd. ι, S. 44).

10

72

Margot Westlinning

Freundes und Aufbietung der letzten finanziellen Mittel läßt er sich am Ii. August 1762 immatrikulieren. Ein ganz Unbekannter war ja Herder der Königsberger gelehrten Welt nicht, da sein »Gesang an den Cyrus«, den er aus Mohrungen heimlich an Kanter gesandt und den dieser veröffentlicht hatte, durchaus aufgefallen war. Hamann ζ. B. schickt die Ode, die »einen Hermes zum Verfasser haben« soll, »der in Mohrungen ist« als interessante literarische Neuigkeit an Lindner. 12 Jedenfalls hat diese Verbindung dem jungen Studenten vermutlich den Zugang zum Kanterschen Laden eröffnet, wobei die Berichte darüber, daß er ursprünglich dort als Buchhandelsgehilfe habe beginnen sollen, 15 wohl nicht glaubwürdig sind: Von einem entsprechenden Angebot, das, unter gänzlich gewandelten Auspizien, Herder empört zurückweist, hören wir erst im August des Jahres 1764. 14 Zu vermuten ist jedenfalls, daß er bald zu jenen gehörte, die »verwöhnt waren« »zu einem Freitisch und offner Tafel« 15 in Kanters Buchladen; »unersättlich« habe er »Stunden, halbe, ja ganze Tage« Bücher »verschlungen« und von daher zeitlebens eine Vorliebe für das Lesen ungebundener Bücher zurückbehalten. 16 Gleichberechtigtes Mitglied der Kanterschen »Akademie«, 17 d. h. des sich unter dem im Laden präsentierten »Bildprogramm« »fast täglich« um 11.00 Uhr zu gelehrt-literarischem Austausch und Raisonnement zusammenfindenden Kreises der in der Stadt geistig Interessierten, konnte er kaum gewesen sein, da das Geschäft in dieser Form erst 1768 eingerichtet wurde. Vielleicht war er wirklich präsent, wenn an den Posttagen die ausgelegten Neuerscheinungen begutachtet, Informationen und Urteile ausgetauscht wurden, auch wenn es dafür keine wirklichen Belege gibt. ,8

12 IJ

14

16 17 18

Brief vom 16. April 1762 (Hamann, Briefe [Anm. 3], Bd. 2, S. 147). So kolportiert vom »Kriegs- und Admiralitätsrath« Bock, einem Studiengenossen Herders, der sich 1805 dieser Tatsache zu entsinnen weiß (Lebensbild I, 1, Anm. 1, S. 126 und 133). — H a y m nennt es »nur eine Sage« (Haym, Herder [Anm. 4], S. 35). Brief nach dem 10. August (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 28; vgl. Anm. 74). Brief vom 24. Januar 1780 (Hamann, Briefe [Anm. 3], Bd. 4, S. 157). Erinnerungen (Anm. 3), Bd. 1, S. 49; vgl. Lebensbild I, 1, Anm. 1, S. 126 und 133. Lebensbild I, 1, Anm. 1, S. 133. Das »Programm« bestand aus drei Reihen von Bildnissen: denen antiker Geisteshelden, denen berühmter Vertreter der Berliner Aufklärung wie Mendelssohn und Ramler, und schließlich von »progressiven« Vertretern ostpreußischer, resp. Königsberger Intelligenz wie Kant, Hippel, Hamann, Lindner, Willamov, Bock. Daß der Laden in dieser Form jedoch erst seit 1768 existierte, geht eindeutig aus einem Brief Hamanns vom August dieses Jahres hervor, vgl. Gause, Königsberg (Anm. 5). Zuvor hatte er sich in der städtischen Langgasse befunden, vgl. K. Stavenhagen: Kant und Königsberg. Göttingen 1949, S. 46. Die Schilderungen des Ladens gehen im Wesentlichen auf den Bericht Baczkos zurück, vgl. Lebensbild I, 1 (Anm. 1), S. 155.

Der junge Herder in Königsberg

73

Ob tatsächlich die »außergewöhnlichen Geistesanlagen« 19 und das Genie des jugendlichen Adepten so rasch die Aufmerksamkeit dieser Kreise auf sich zu ziehen vermochten, bleibt demnach ungewiß. Fest steht hingegen, daß er mit dem Eintritt in die Universität eine gewisse Förderung erhielt, nämlich einen Freitisch und eine Stelle, zunächst als Inspizient, am Collegium Fridericianum — eine gängige Maßnahme zur Unterstützung begabter und bedürftiger Studenten; außerdem läßt Kant ihn seine Vorlesung unentgeltlich hören. An der Schule wird er ungewöhnlich rasch befördert, zunächst zum Lehrer der deutschen Klassen, sodann auch der oberen, wo er u. a. griechisch, hebräisch, Mathematik, Latein und Poesie unterrichtete. 20 Als er im Winter 1764 Königsberg verläßt, ist er als Lehrer, als fester Mitarbeiter der Kanterschen Zeitung, als Freund einiger der hervorragendsten Geister der Stadt und als gelegentlicher Redner bei öffentlichen Anlässen eine bekannte, wenn auch in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzende Größe geworden. In welchem Rahmen vollzog sich nun dieser relativ ungewöhnliche »Aufstieg«, mit welchen äußeren und inneren Bedingungen trug die Stadt Königsberg zu seiner spezifischen Ausprägung bei? Und wieweit läßt sich dieser Einfluß mit der Rolle Königsbergs als eines Zentrums der Aufklärung in Verbindung bringen? Zentralitätsfunktion hat Königsberg, das in den ganzen ostpreußischen Raum und bis weit ins Baltikum ausstrahlte, ohne Zweifel in hohem Maße besessen, z.B., um nur beim Bildungsbereich zu bleiben, durch seine Schulen und die Universität ebenso wie durch sein Verlagswesen, seine Zeitung und durch vielfältige persönliche Verbindungen. 21 Offenheit und kulturelle Wechselbeziehungen ergab ferner der Charakter als Hafen- und Handelsstadt, der eine Fülle von Vertretern fremder Völker und Nationen, sowie von fremden Sprachen, insbesondere Polnisch, Lettisch, Litauisch und Russisch gegenwärtig sein ließ. Besonders wichtig ist hier die enge Verbindung zu England und die durch sie vermittelte Rezeption der modernen Ideen der englischen Philosophie (Empirismus, Sensualismus, Skeptizismus) wie Literatur geworden, nicht zu vergessen liberalerer bürgerlicher und ökonomischer Vorstellungen. Kennzeichnend für diese Haltung ist die enge Verbindung insbesondere der wohlhabenden Kaufmannschaft mit den aufgeschlossenen Kreisen der Intelligenz, die bei dieser Bock im Lebensbild I, 1 (Anm. 1), S. 49. 20

21

Vgl. Baczko, Lebensbild I, 1 (Anm. 1), S. 158; Dobbek, Herders Jugendzeit (Anm. 4), S. 87. Diese bestanden besonders zum Baltikum, vgl. Gause, Königsberg (Anm. 5), S. 292, 244ff.; Stavenhagen, Kant und Königsberg (Anm. 18), S. 1 1 - 3 6 . Im übrigen kam ja auch Trescho ursprünglich aus Königsberg, so daß die Anregungen, die Herder durch ihn und besonders seine Bibliothek und seinen literarischen Kommerz erfahren hatte, bereits indirekt von dorther vermittelt waren.

Margot Westlinning

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— vielleicht — gleichzeitig eine gewisse H i n w e n d u n g zur Realität, zum praktischen Leben und seinen Bedürfnissen bewirkt hat. D e r gesellige U m gang bildete sozusagen die Basis der Pflege von Kunst und Wissenschaft und stellt ihre Verbindung zur Gesellschaft her. 2 2 Leider wissen w i r nicht, zu welchen dieser »gebildeten Familien« 2 3 Herder im einzelnen Zugang hatte. Daß ein solcher gesellschaftlicher Verkehr aber stattgefunden und wie positiv er sich auf seine Entwicklung ausgewirkt hat, scheint das Zeugnis Treschos zu beweisen, der Herder, als er ihn in Königsberg wiedertrifft, wollig verwandelt findet: N u r noch wenige Spuren von Scheu und Blödigkeit im Sprechen [...] der Umgang mit feinen Menschen hatte milde und wohlthätig auf ihn gewirkt [...] Sogar die höfische, äußerst feinere und unbefangene, mit Freimuth und nicht furchtsamen Blick und Sprache begleitete Lebensmanier stand ihm zuletzt zu Befehl [...] Aber das junge Genie erhielt gleich beinahe zuviel Bewunderer und Schmeichler [...]. 24 Bezeichnend für die geistige Situation im damaligen Königsberg und für den Stand der A u f k l ä r u n g daselbst sind jedoch die verschiedenen Pole, zwischen denen sich der junge Herder bewegte: die intellektuellen, gebildeten Zirkel der Gesellschaft, der allem N e u e n gegenüber aufgeschlossene, das Raisonnement pflegende, sozusagen die literarische Öffentlichkeit repräsentierende Kreis der Kanterschen Bücherfreunde auf der einen, der konservativ erstarrte Geist pietistischer Frömmigkeit des Friedrichskollegs auf der anderen Seite. »Diese ehrliche, alte sechzigj ährige Friderike mag vormals eine Schmarre der Religion und eine Runzel der Pedanterie zu Schönfleck-

22

23 24

Vgl. Stavenhagen, Kant und Königsberg (Anm. 18), S. 43 — 64. — Gause, Königsberg (Anm. 5), S. 257 — 265. Kulturgeschichtlich interessantes Material bieten auch einige zeitgenössische literarische Zeugnisse, so z.B. Johann Timotheus Hermes' Roman: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen, der in der 2. Aufl. (6 Bde., 1774 — 1776) breite Schilderungen des Königsberger gesellschaftlichen Lebens enthält (vgl. A. von Rinsum: Sophiens Reise von Memel nach Sachsen< von J. Th. Hermes als Ausdruck der Zeit. Diss, masch. Marburg 1949). Zur musikalischen Kultur der Zeit s. J. Müller-Blattau: Hamann und Herder in ihrer Beziehung zur Musik. Königsberg 1931 ( = Sehr. d. Kgl. Dt. Ges. 6). Erinnerungen (Anm. 3), S. 53. Lebensbild I, 1 (Anm. 1), S. 49 f.; in etwas abweichendem Wortlaut auch Erinnerungen (Anm. 3), Bd. 1, S. 54. Zu einigen der Mittelpunkte des Königsberger geistigen und gesellschaftlichen Lebens, der Deutschen Gesellschaft und der Dreikronenloge, die sonst »den Neuen einen Einstieg gewähren konnten« (Stavenhagen, Kant und Königsberg [Anm. 18], S. 44), lassen sich Kontakte Herders nicht belegen, wie er auch zu Hippel und Scheffner keine näheren Beziehungen unterhalten zu haben scheint. Über Hippel schreibt er: »Mein Weg hat an den Seinen nie gegränzt, ob er mich gleich in allen meinen ersten Tritten in Königsberg genug verlacht hat« (Brief vom 9. April 1779 [Herder, Briefe (Anm.3), Bd. 4, S. 84]).

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chen gehabt haben; aber jetzt ist alle Jugend weg; und jene Schmincke läßt desto übler«, schreibt Herder im Oktober 1764 an Lindner. ! i Nicht nur, daß starrer Zwang und strikte Disziplin den Geist der Anstalt bestimmten und Andachtsübungen fast mehr Zeit als der Unterricht beanspruchten - vor allem die einseitige und pedantische, hauptsächlich auf regelgerechte »Fertigkeit im Gebrauch der lateinischen Sprache« abzielende Lehrmethode war es, was Herder schon in seiner eigenen Schulzeit als abstoßend und quälend empfunden hatte. Dabei waren die Grundsätze und Lehrbücher dieser einflußreichen Anstalt maßgebend für die pädagogische Kultur der gesamten Provinz. Von den ca. zwei- bis dreihundert Schülern kam ein guter Teil von weit her, besonders aus dem Baltikum, und viele der etwa dreißig Lehrer — meist Studenten wie Herder — übten auch später diesen Beruf in den Schulen des Landes aus und »verpflanzten [so] den Geist weiter, den sie im Friedrichskolleg empfangen hatten«. 16 Um so wichtiger wäre es gewesen, die Schulausbildung den gewandelten Bedürfnissen der Gegenwart anzupassen und einem veränderten, nicht ausschließlich religiös fundierten Menschenbild Rechnung zu tragen, 27 einen stärkeren Praxisbezug im Gegenstand und größere Anschaulichkeit in der Wissensvermittlung herzustellen. Dies war auch Herders Standpunkt, der sich ohnehin nicht recht in den strengen Ton des Collegs fügen mochte: Er trug, angeblich aus Sparsamkeitsgründen, keine Perücke, seine Katechisationen waren »feurig« und beredt, sein Unterricht führte in die Lektüre der klassischen Texte ein, ohne auf die grammatische Regelrechtigkeit eben so sehr viel zu geben, er forderte Anschauung, »Sachen statt Worte«, »Begriffe statt Zeichen«, 28 den Vorrang des Studiums der Muttersprache als der Grundlage der »Denkungsart« vor dem der toten Sprachen, die Erkenntnis des Eigenwerts und der Eigenart fremder Sprachen nach ihren je individuellen historischen Entstehungs- und Lebensbedingungen, schließlich Sprachstudium überhaupt zu dem Endzweck, die, bei der grundsätzlichen Einheit von Gedanke und Ausdruck unübersetzbaren fremdsprachigen Werke der Wissenschaft und Literatur in ihrer unverfälschten sprachlichen Schönheit wahrnehmen zu können, um so zu eigenen originären Leistungen inspiriert zu werden — »so begeistern Genies neue Genies mit fortgehenden Wundern« — all dies in einer öffentlichen Rede, die er an eben dieser Schule hielt. 29 So versucht er, neue, fortschrittliche Ideen, »Aufklärung«, in einen Bereich hineinzutragen, der aus sich heraus nicht zu einer Reform, zur Veränderung, fähig war. Ins2! 26

27 28 25

Herder, Briefe (Anm. 3), Bd. 1, S. 31. B. Schumacher: Geschichte Ost- und Westpreußens. 2. Aufl. Würzburg 1957, S. 60. Vgl. Gause, Königsberg (Anm. 5), S. 268 f. Schumacher, Ost- und Westpreußen (Anm. 26). Seite 2 (Anm. 29). »Uber den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen«. In: Herder, Werke, Bd. 1, S. 1 — 7.

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gesamt hat er seine Zeit an dieser Schule, an die auch prominente Schüler wie etwa Kant ungute Erinnerungen hegten, später sehr negativ beurteilt, er gab ihr die Schuld für eine gewisse Un- und Frühreife seines Wesens: »Meine ganze Bildung gehört zu der widernatürlichen, die uns zu Lehrern macht, da wir Schüler sein sollen«, schreibt er an Hamann und klagt, daß er »in Königsberg mit dem Zepter der Korinthischen Dionys« sich seine »Galgenfrist zu studieren habe erwuchern müßen«. 30 Wesentlicher Ort der Vermittlung von Wissen und der intellektuellen Förderung war selbstverständlich die Universität, wo Herder Theologie und »Weltweisheit« studierte. Er hörte bei Lilienthal Dogmatik und Kirchengeschichte, bei Arnold Sittenlehre, bei dem in seiner Bedeutung heute vermutlich unterschätzten Kypke Philologie, bei Knutzen Philosophie und Naturwissenschaft und bei Teske Physik. 31 Seine aus dieser Zeit erhaltenen Notizhefte geben einen Einblick in die Vielfalt, aber auch in die explosive Unordnung, mit der die Anregungen aus Lektüre und Vorlesungen auf ihn eindrangen. ,2 Die in Königsberg gelehrte Theologie allerdings war in ihrer spezifischen Mischung aus Pietismus und Rationalismus Wölfischer Prägung wenig geeignet, Herders historisches und philologisches Interesse an der »Poesie der Morgenländer« zu befriedigen; die moderne, auf geschichtliche Erklärung, Kritik und Betrachtung abzielende Richtung der Theologie, wie sie etwa Semler, Ernesti und Michaelis vertraten, mochte einen Hamann zur geistigen Auseinandersetzung herausfordern, in den akademischen Lehrbetrieb der Universität fand sie keinen Eingang. Den eigentlich bestimmenden, für sein weiters Denken maßgeblichen Eindruck empfing Herder dementsprechend vom bedeutendsten der damals dort Lehrenden, von Kant, bei dem er Logik, Metaphysik, Moral, Mathematik, Astronomie und Physische Geographie hörte. 33 Daß die erste Vorlesungsstunde — über Pneumatologie — der Herder bei dem Mann beiwohnte, von dem selbst der philosophische Laie gemeinhin weiß, daß er später wesentlich zur Bestimmung von Wesen und Grenzen der Aufklärung beigetragen hat, sich mit der Polemik gegen Gespenster, Kobolde und Poltergeister beschäftigte und dem

3

° Brief vom Juli 1765 (Herder, B r i e f e [Anm. 3], Bd. 1, S. 46).

31

Vgl. Dobbek, Herders Jugendzeit

32

Vgl. Haym, Herder (Anm. 4), S. 41. Einen besonders guten Eindruck hiervon vermitteln die Studienhefte im Nachlaß (s. Anm. 3). Eingehend, wenn auch etwas einseitig behandelt ist das Verhältnis Kant — Herder bei Haym, Herder (Anm. 4), S. 30 ff. N u r noch in den Anmerkungen berücksichtigt werden konnte: Hans Dietrich Irmscher: »Die geschichtsphilosophische Kontroverse zwischen Kant und Herder«. In: Hamann—Kant—Herder. Acta des vierten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg a.d. Lahn 1985. Hrsg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a.M. u.a. 1987 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. 34), S. i n —192.

33

(Anm. 4), S, 92 ff.

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Königsberg

77

Aberglauben natürliche Erklärungen solcher Spukgeschichten entgegenhielt, 34 mutet nur dann seltsam an, wenn man sich nicht vor Augen hält, daß noch zwanzig Jahre zuvor von pietistischer Seite an eben dieser Universität ein ideologischer Gegner mit der Behauptung hatte bekämpft werden können, daß er »ein unzulässiges pactum mit dem leidigen Satan aufgerichtet« habe. " Kant nun machte seine Hörer mit der Schulphilosophie, mit Wolff, Baumgarten, Crusius und Leibniz, aber auch mit dem englischen Empirismus und Skeptizismus, vornehmlich mit Hume und Shaftesbury, bekannt, ebenso auch mit Rousseau oder den Vertretern moderner Naturwissenschaft. Dabei war er ganz undogmatisch und ging hauptsächlich darauf aus zu zeigen, wie die verschiedenen Ansichten, nebeneinandergestellt, einander relativieren, wollte, wie es in seiner Vorlesungsankündigung vom Jahre 1765 heißt, nicht Philosophie, sondern philosophieren lehren.' 6 Entsprechend erinnert sich auch Herder noch spät, in der sechsten Sammlung der Humanitätsbriefe: »Keine Kabale, keine Sekte, kein Vorurteil [...] hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken, Despotismus war seinem Gemüte fremde.« 37 Hinzu kam die lebhafte, mitreißende Art, in der Kant vortrug, die auf Herder besondere Wirkung ausübte. »Hätte ich außer einem Kant noch Pedanten hören können, die meine Hitze hätten abkühlen; und mir Schulmethode hätten lehren sollen [...] hätte ich mehr Uniformes mit der Universität; und dem Gros meines Stabes angenommen; so würde ich vielleicht a n d e r s denken, aber auch nicht dasselbe denken«, ,8 schreibt er 176 j an Hamann. Dieser mitreißende Schwung verfehlte seine Wirkung auf Herders stets zu enthusiastischer Produktion aufgelegter Einbildungskraft also nicht — bekanntlich hat er ihn u. a. zu einem Gedicht begeistert, das die Ideen seines Lehrers von Zeit und Ewigkeit so »meisterhaft« poetisch nachvollzog, daß dieser es nicht nur seinem Auditorium nicht vorenthalten mochte, sondern Herder noch 1768 brieflich mit der Maßgabe daran erinnert, in dieser Art didaktischer Poesie, »welche die Grazie der Weisheit ist«, nach dem Vorbild Popes — dieser und Haller waren die Lieblingsdichter Kants, aus denen er 34

3!

36 37 38

»Ob außer der Seele noch andere Geister anzunehmen.« Die Mitschriften Herders sind ediert: Kant -.Aus den Vorlesungen der Jahre ij6z bis 1764. Aufgrund der Nachschriften J. G. Herders hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Köln 1964 (Kantstudien. Ergänzungsh. 88), hier S. 80. Vgl. Haym, Herder (Anm. 4), S. 44. B. Rehberg: Königsberger Zeitungen und Zeitschriften bis zum Ausgang der Epoche Kant—Hamann. Königsberg 1942, S. 65. Haym, Herder (Anm. 4), S. 52; vgl. Dobbek, Herders Jugendzeit (Anm. 4), S. 1 0 4 - 1 0 8 . Herder, Werke, Bd. 17, S. 404; vgl. Haym, Herder (Anm. 4), S. 45 f. Brief vom Juli 1765 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 46).



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in seinen Vorlesungen zu zitieren pflegte —, sehe er Herders wahres Talent. 59 Für Herder aber ist die Lyrik schon zu dieser Zeit das »erstgebohrene Kind der Poetischen Empfindung«, 40 die Lehrdichtung nur noch ihr schwacher Abglanz in einem von Vernunft und Abstraktion beherrschten »philosophischen« Zeitalter. Daher ist nicht die »Poeterey«, sondern die Ästhetik »das Feld der Deutschen«, 41 wobei für ihn schon hier — das »Fragment einer Abhandlung über die Ode«, dem diese Zitate entnommen sind, datiert noch in die Königsberger Zeit — Ästhetik nie ein abstraktes (Norm-) System bedeutet, sondern immer nur in der synchronen Entfaltung das Wiesen ihres Gegenstandes konstruieren kann. Sprache und Dichtung sind ihm ein »Proteus« unter den Nationen und Zeiten, die nur der »Zauberspiegel des Ästhetikers« und Literaturhistorikers als Einheit sichtbar machen kann. Nur ein »dichterischer Philolog«, so entwirft Herder das (Selbst-) Portrait dieses Ästhetikers, selbst Dichter (»Odengenie«), »Kenner der Bewegungshebeln der Dichterseele«, »Kenner des Alterthums« und auch »Weltweiser« 42 sei imstande, historisch-genetisch, divinatorisch wie analytisch das Wesen der Dichtung in ihren wechselnden Erscheinungsformen zu bestimmen. Dem Philosophen fehlt die Empfindungsfähigkeit, denn der »Geist der Ode ist ein Feuer, das Todte nicht fühlen«, 45 dem poetischen Enthusiasten mangelt die Fähigkeit zur Abstraktion: Lebende aber werden bis auf den Nervensaft erschüttert, und alsdenn wirds ihnen vielleicht schwer zu beobachten, und die Empfindung zu erhäschen. Man muß hier beinahe entweder ein Fels seyn, oder man wird vom Strome fortgerissen. Ist man bloß ein Philologischer Seher, und ein kalter Zergliederer: so hat man das Glück des Scheidekünstlers: man behält Waßer und Staub in der Hand; das Feuer aber zerfuhr, und der Geist verflog unsichtbar.44

Damit ist die grundsätzliche Differenz, die Herder Kant gegenüber empfinden mußte und die beide auch später nie zu einem wahren Verständnis füreinander kommen ließ, recht genau — oder eben bezeichnenderweise ungenau, mit Methaphern umschrieben — festgestellt, ist sinnliche Anschauung, empirische Erfahrung gegen den »abgezogenen«, abstrakten Begriff, konkrete Geschichte gegen das philosophische System gesetzt. 45 Ob Herder in " 40

41 42 4) 44 4!

Die Schilderung dieser Episode gibt Bock, Lebensbild I, ι (Anm. i), S. 135. Vgl. Irmscher, »Die geschichtsphilosophische Kontroverse« (Anm. 33), S. 167 f. Herder, Werke, Bd. 32, S. 83. Das Lehrgedicht hingegen »knute« durch »den Doppelstrich der Antithesen den lebensten Körper zum Gerippe« (Euphorion. Erg.H. VIII, 1909, S. 81 f.). Herder, Werke, Bd. 32, S. 82. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Ebd. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt Irmscher, »Die geschichtsphilosophische Kontroverse« (Anm. 33), S. 112 — 116.

Der junge Herder

in

Königsberg

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jener Zeit angesichts der Kantschen Metaphysik wirklich jenes Unbehagen empfand, von dem Caroline berichtet, er habe es regelmäßig nach den Vorlesungen im Freien »mit einem Dichter oder mit Rousseau oder einem ähnlichen Schriftsteller« vertreiben müssen, 46 sei mehr als dahingestellt, aber er sah sich jedenfalls durch Kant, der ihm diese Entfremdung nie verziehen und noch spät behauptet hat, Herder habe alles seinen Vorlesungen zu verdanken, in seiner Erwartung einer »menschlichen Philosophie« getäuscht. 47 »Alle Philosophie«, so schreibt er (im Mai des Jahres 1765, aber unter Verwendung »einer Menge alter Lieblingsideen«) »die des Volkes seyn soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolomäischen das Kopernikanische System war, welch neue fruchtbare Entwicklungen müssen sich hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philosophie Antropologie wird«. 48 Der Kommentar Hamanns zu diesem Aufsatz »Wie die Philosophie zum Besten des Volks allgemein und nützlich werden kann« übrigens lautete, die einzig nützliche Philosophie sei die »Furcht des Herrn«, 49 womit wiederum der Abstand, der Hamann von Herder trennte, hervorragend illustriert wäre. Damit ist auch bereits die zweite wirklich bedeutende Königsberger Persönlichkeit angesprochen, die auf Herders Werdegang entscheidend eingewirkt hat, Johann Georg Hamann. Mit ihm verband Herder eine viel persönlichere — anfangs geradezu schwärmerische — Freundschaft als mit Kant. Entsprechend unterstützt er auch im Denken die Rolle, die dem »Affekt«, den »Sinnen und Leidenschaften« zukommt, sowohl in Ursprung und Wesen der Dichtung wie überhaupt in der menschlichen Erkenntnis. Die Anfänge dieser freundschaftlichen Verbindung liegen für uns leider im Dunkeln. A m 14. März 1764 schreibt Hamann an Lindner: »Eine Rezension der Dithyramben [Willamovs] habe erhalten, die mir genüge thut« 51 — ohne Nennung des Namens des Verfassers, was eine nähere per46

Erinnerungen

47

Vgl. H a y m , Herder ( A n m . 4), S. 49; Irmscher, » D i e geschichtsphilosophische Kontro-

( A n m . 3), Bd. 1, S. 62.

verse« ( A n m . 33), S. 113. 48

Herder, Werke, Bd. 32, S. 61.

49

Brief v o m 18. M a i 1765 (Hamann, Briefe [ A n m . 3], Bd. 2, S. 331).

s

° Vgl. H a y m , Herder

( A n m . 4), S. 7 1 ; Josef N a d l e r : Johann

Der Zeuge des Corpus mysticum.

Georg Hamann.

1730 — 1788.

Salzburg 1949, S. 152 f.

N a c h dem Bericht Carolines geht die Version, nach der sich beide im Beichtstuhl kennenlernten, auf Herder selbst zurück. A b e r auch sie weiß nichts näheres über die weitere E n t w i c k l u n g dieser Freundschaft. »Genug«, so schreibt sie »sie hatten sich gefunden«. (Erinnerungen [ A n m . 3], Bd. 1, S. 64). D a die meisten Biographen weniger Askese in bezug auf Spekulation üben, seien im Text die gesicherten Daten chronologisch zusammengestellt. 51

H a m a n n , Briefe ( A n m . 3), Bd. 2, S. 243.

8o

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sönliche Bekanntschaft wohl ausschließt. A m 21. März heißt es dann kurz und trocken: »Hippel wird den Charfreitag besingen und Härder [sie!] den Oster-Montag.« 5 2 A m 2. Mai vermeldet er »Diese Woche habe das Englische mit ein paar guten Freunden angefangen«, " womit doch aller Wahrscheinlichkeit nach Herder (mit?) gemeint ist. A m 9. Mai: »Schäffner ist unterwegs, und ich vermache Ihnen hier einen guten Freund an Herder«, 5 4 am 16. Mai ist dieser »Mein lieber Herder«, dem er immerhin zutraut, eine Preisschrift Mendelssohns und Kants zu rezensieren." Der am 8. Juni verfaßte Abschiedsbrief Herders an den ins »Reich« reisenden Hamann ist im Ton enthusiastisch-liebevollster Freundschaft gehalten, SÉ im Antwortbrief ist Herder »Geliebtester Freund« und »Vertrauter«, dem er sich sozusagen im stilistischen Négligé zeigen zu können wünscht.' 7 Die Bekanntschaft beginnt also, gemessen an der Herder für Königsberg zugemessenen Zeitspanne, ziemlich spät, entwickelt sich dann aber in raschem Tempo zu einem für Hamanns Verhältnisse ungewöhnlichen gefühlsmäßigen Höhepunkt. Getreu der Rolle, die dieser für sich in den »Sokratischen Denkwürdigkeiten« entworfen hatte — nämlich im persönlichen Umgang, nicht über den anonymen Buchmarkt wirken zu wollen — wird er zum Lehrer im mäeutischen Sinne, der seinen »unbedachtsame[n] A l c i b i a d e s « n i c h t zu überzeugen — das war ja Hamanns Geschäft grundsätzlich nicht — sucht, sondern ihn an Wissensbereiche heranführt, die, insbesondere als Komplement zu den universitären Erfahrungen, befruchtend auf seinen Geist wirken mußten. So unterrichtet er ihn in der englischen Sprache und bringt ihm mit der gemeinsamen Lektüre des »Hamlet« zuerst Shakespeare nahe, ebenso wie die großen italienischen Dichter, besonders Dante, wie Milton und die Volkslieder aus Percys Sammlung »Reliques of Ancient English Poetry«. Die poetische Qualität des Ursprünglichen, die Bedeutung der Empfindung, die affektive Bewegtheit und bildhaft affektive Sprache der Poesie, die Geschichtlichkeit und Bedingtheit des Menschen und seiner A r t und Weise, sich zu entäußern, die eminente Wichtigkeit von Sprache und die Sprachgebundenheit der menschlichen Vernunft, der schöpferische Charakter des Genies — dies sind, um nur einige wenige Andeutungen zu geben wesentlich Punkte, in denen Hamannsche Anregungen auf Herder und über ihn hinaus in die deutsche Literaturgeschichte gewirkt haben. Insgesamt jedenfalls trägt Hamann mit seinem universal-vielfältigen Wissen und seiner >2 Ebd., S. 247. » Ebd., S. 253. !4 Ebd., S. 255. 55 »Sur la nature, les especes et les degrés de l'Evidence«, ebd., S. 256. >6 Brief vor dem 8. Juni 1764 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 24). 57 Hamann, Briefe (Anm. 3), Bd. 2, S. 259 f. 58 Ebd., S. 266.

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Königsberg

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reichhaltigen Bibliothek zu jenem geistigen Treibhausklima bei, über das Herder, den schon ein Königsberger Freund eine »lebende Bibliothek« " genannt hatte, dann in Riga rückblickend sagt: »Meine Studien sind wie Zweige, die durch ein Ungewitter m i t e i n e m a l ausgetrieben worden.« 60 Stilistisch wird er von der Kritik noch lange der »Hamannschen« oder »Königsberger Sekte« zugerechnet werden, der man Dunkelheit, Gesuchtheit im Ausdruck und Unverständlichkeit vorwirft. Aber auch hier, wie im Falle Kants, ist er sich schon früh seiner abweichenden Möglichkeiten und Intentionen bewußt: nämlich die hingeworfenen Samenkörner Hamannschen Denkens auszubilden, Ästhetik, Literaturgeschichte und Kritik in einem allgemeineren Zusammenhang betrieben, zu einer größeren Wirkung zu entfalten. Eng mit der Person Hamanns ist auch die — nicht sonderlich bedeutende, aber doch für seine literarischen Anfänge bezeichnende — Rolle verbunden, die Herder in der Geschichte der Königsberger Publizistik gespielt hat. Hamann seinerseits war schon einmal, 1750 mit der Daphne, 61 maßgeblich daran beteiligt gewesen, gegen eine den Schwung des Neuen längst eingebüßt habende Richtung — derjenigen Gottscheds — und nach einem moderneren Vorbild — dem der Bremer Beiträge und des »Jünglings« — eine die aktuellen Bestrebungen repräsentierende Zeitschrift zu gründen. Damals hatte sich die ältere Generation von der jüngeren durch »Neid [...] Spott [...] und neue Gedanken« verfolgt gefühlt. 62 Zu den Vertretern dieser jungen Generation gehörten neben Hamann der »Sonderling in allerhöchstem Grade«, 6 ' Lauson, ebenso wie Lindner, Scheffner und Kant. Die Wochenschrift »Karoline«, mit der man dann 1761 erneut einen kurzlebigen Versuch machte, war bereits ihrerseits wieder eine Nachahmung des »Daphne«-Konzepts — die Tatsache übrigens, daß noch 1768 der »Jüngling« eine neue Auflage bei Kanter erlebte, zeigt, wie er sein Publikum einschätzte.64

" 60 61

61 63 64

Kurella im Lebensbild I, ¡ (Anm. 1), S. 9j. Brief vom Juli 1765 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 46. Daphne. Erster Thl. Zweeter Thl. Königsberg, gedr. und verlegt von M. E. Dorn 1750. Vgl. Nadler, Hamann (Anm. 50), S. 39 — 43. Rehberg, Königsberger Zeitungen und Zeitschriften (Anm. 35), S. 84. Ebd., S. 80. »Königsberg, Mietau und Leipzig, bey Johann Jacob Kanter, 1768«. In der (1764 datierten) Vorrede verwundert sich der Verleger darüber, daß »sich eher nicht als itzt, die Notwendigkeit eräuget hat, eine neue Auflage« von »dieser vortreffentlichen Wochenschrift« zu veranstalten und begründet die »Hoffnung eines schnellern Abgangs auf die Meynung, die er für kein Vorurtheil halten kann, daß, der gute Geschmack, und die Neigung, gute Schriften zu lesen, unter den Deutschen immer ausgebreiteter und allgemeiner werde«.

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Jetzt, 1763, faßte im wesentlichen die gleiche Gruppe noch einmal den Plan, das Pressewesen durch eine »neue Königsberger kritische Zeitschrift« zu modernisieren. Kanter, der jugendliche Verleger, schreibt in seiner Supplikation an den König, er habe dieses Projekt auf »Zureden verschiedener dortiger Gelehrter, zur Verbeßerung des dortigen Geschmacks u. mehrerer Ausbreitung des Comercii litterarii, woran es in Preußen, in Rücksicht auf andere deutsche Universitäten sehr mangelt [...]« 65 in Angriff genommen, ohne allerdings zu verschleiern, daß er einer nur literarisch-gelehrten Zeitung den nötigen kommerziellen Erfolg nicht zutraut: Deshalb sollten politische und andere Neuigkeiten damit verbunden werden, »welche viele um gelehrte Zeitungen unbekümmerte Leser anlocken und zum Mittel dienen können, sie zugleich zur Lesung der gelehrten Articul, mithin zur Vermehrung ihres Geschmacks und ihrer Erkänntniße zu bringen«. 66 Am 3. Februar 1764 erschien die erste Nummer der »Königsberger Gelehrten und Politischen Zeitung« mit einem einführenden Artikel Hamanns, 67 der die redaktionelle Leitung übernommen hatte.68 Danach wollte man den Ehrgeiz, ein Muster des Geschmacks zu sein, Berlin überlassen. »Dafür wird eine gemeinnützige Kultur unsers Bodens und des einheimischen Genies die Hauptsache [...] sein«,69 wobei an den Landmann und Handwerker ebenso wie an die Frauen gedacht war. 70 Niveau und Anspruch der Hauptmitarbeiter 71 waren beträchtlich, die Kritik an der Realisation konnte daher bei dem von vornherein verwässerten Konzept und der — notgedrungen — vorwiegend kommerziellen Orientierung Kanters nicht ausbleiben. Ein Geschäft wird die Zeitung trotz der Kompromisse nicht: Nachdem es offenbar auch Hamann nicht gelungen ist, »Pränumeranten vom Lande« durch entsprechende Artikel über die Entwicklung der Landwirtschaft u. ä. 7 1 zu gewinnen, meldet er am 8. Mai Kanter seine Absicht, eine längere Auslandsreise anzutreten und schlägt Lauson als interimistischen Nachfolger bis zu

6

'

Rehberg, Königsberger

Zeitungen

und Zeitschriften

66

Ebd., S. 91 f.

67

Abgedr. in: Johann G e o r g H a m a n n : Sämmtliche

( A n m . 35), S. 91. Werke. Bd. 1 - 4 . Hrsg. von Josef

Nadler. W i e n 1949 —1957; Bd. 4, 1 9 5 2 , 8 . 267 f. 68

Vgl. den Brief v o m 1. und 4. Februar 1764 (Hamann, Briefe [ A n m . 3], Bd. 2, S. 233 ff.).

69

H a m a n n , Sämmtliche

70

Ebd., vgl. Nadler, Hamann

71

Diese waren Kant, Hippel, Scheffner, Lauson, Trescho, Lindner und v o r allem H a -

72

Vgl. den Brief v o m Juli 1764 (Hamann, Briefe

Werke ( A n m . 67), S. 268. ( A n m . 50), S. 124.

mann selbst. [ A n m . 3], Bd. 2, S. 239). »Kanter will

nichts haben als Mittel, die Bücher abzusetzen, welche er überflüßig hat, und Artikel, w o m i t man per Düttchen trödeln kann, und die alle alte Weiber auf der Fischbrücke von Rechts wegen lesen müßen. Darauf geht sein Tiefsinn, ohne daß er selbst weiß; und diese eigennützige und niedrige Absichten verheelt er sich selbst unter den prächtigsten Redensarten von G e s c h m a c k des Publici u. dgl. mehr.« (Ebd., S. 235).

Der junge Herder in Königsberg

»3

Kanters eigener Ankunft vor. 7 ' Im Mai 1764 wurde Hamann — nachdem offenbar auch Herder für diesen Posten im Gespräch gewesen war, der aber abgelehnt hatte 74 — durch Lauson ersetzt, am 15. Juni ist Kanter entschlossen, selbst die Aufsicht über die Zeitung zu führen. 7S Herder berichtet dem noch auf Reisen befindlichen Hamann voll bitterer Ironie über diese Vorgänge, wobei er sich zugleich vollständig zu der anspruchsvollen Linie Hamanns bekennt und mit seiner Kritik auch Hippel und Lauson keineswegs schont. Kanter, der in dieser Konstellation naturgemäß keine gute Presse hat, erscheint als der »Geistreiche H E Verleger, u. jetziger Zeit Geschmackvoller Aufseher« und macht sein »allerhöchst-eigenes« Direktorium »denen geöhrten Lesern« bekannt, »deren Wunsch die vorigen Zeitungen nicht genug gethan hätten. 76 Deutlich war also Kanter mit der vorherigen Redaktion unzufrieden und wünschte eine völlige Richtungsänderung, wobei sich Herder nicht nur über die Inserierung von Klatschgeschichten und seichten Rezensionen mit Lob schlechter Dichter 77 erbittert zeigt, sondern besonders darüber, daß nicht mehr wirkliche Königsberger, sondern »auswärtige Gelehrte«, die sich »nach dem Preußischen und Kurischen Geschmack« nur zu richten gehalten sind, federführend sein sollen — wobei der »Geschmack der Freunde des bisherigen gelehrten Verfassers« »nicht gänzlich ausgeschlossen«, sondern ihm »noch zuweilen« »ein Genüge« geleistet werden soll. 7 ' »Unsere Zeitungen sind also bis zum Seufzen prächtig; d. h. nach unserer Königsberger Sprache: Sie beßern sich! ja wahrhaftig! wie fett sie schon werden. Dies Quartal: und ich stehe sie nicht länger aus [...] Kurz einen Monat u. ich folge Ihnen; u. danke ab.« Sodann folgt die vielzitierte, aber aus dem geschilderten Zusammenhang heraus eher verständliche Geschichte mit den zwei Rubeln, die Kanter ihm »grob aufgedrungen«: »ich nahm sie; und warte, bis die Rubel aufs tieffste gefallen sind, um sie ihm gegen ein elend Buch mit treuen Händen zurückzubringen. Der Niederträchtige! meint: ich rede und dichte vor 1. fl?« 7 9 Die Beiträge, die Herder zu Kanters Zeitung lieferte — außer verschiedenen, sehr im »hohen Stil« 80 gehaltenen Gedichten, unter denen vornehm-

7i 74

7! 76 77 78 75 80

Ebd., S. 254. Herder, Briefe (Anm. 3), Bd. 1, S. 26: »Sie wissen, wie das Zeitungscommercium bei Ihrer Abreise blieb. Hartknoch wurde bey mir abgewiesen: u. H . Lauson füllte also noch ein paar Stücke [...].« Vgl. Rehberg, Königsberger Zeitungen und Zeitschriften (Anm. 35), S. 105. Brief nach dem 10. August 1764 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 26). Wie z. B. Hippel mit seiner »Rhapsodie« und »Dorfempfindungen« (ebd.). Ebd. Ebd., S. 27. So kennzeichnet Herder sie selbst; vgl. den Brief vom Juli 1765 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 46).

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Westlinning

lieh der »Fremdling auf Golgatha« 81 eine Erwähnung verdient — vor allem die bereits genannte Rezension der Willamovschen Dithyramben, 82 die mit ihrem historisch-genetischen Standpunkt und ihrem Aufruf zur Schaffung von Originalwerken in der Muttersprache Motive weiterführt, die schon in der Schulrede anklingen und die sozusagen damit die Literaturkritik des Sturm und Drang einleitet —, bezeichnen doch, entgegen seiner eigenen erklärten Absicht, den Beginn seiner Autorschaft und zeigen, womit er sich vorzugsweise in jener Zeit beschäftigte: mit Poesie, theoretisch und praktisch. Nach dem Zeugnis seiner Studienfreunde, Kurella und Bock, war die damals aktuelle literarische Produktion Hauptgegenstand ihrer Gespräche, insbesondere jene, die die in Deutschland noch relativ junge Disziplin einer ästhetisch-theoretisch fundierten Literaturkritik auf eine erste Höhe geführt und die ihr Forum hauptsächlich in den kritischen Journalen hatte, der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste8) und vor allem den Literaturbriefen,84 von denen es heißt, daß Herder schon damals »mit dem Vorsatz umging«, »framentarische Entwürfe zu diesem Werk zu machen«. Somit wäre denn auch der Keim zu den nachmals für die deutsche Literaturkritik so bedeutsamen »Literaturfragmenten« in seiner Königsberger Lektüre gelegt worden. 85 Neben diesen reichen auch die Entwürfe zur Odenabhandlung und die Geschichte der lyrischen Dichtkunst in diese Zeit hinein, die wichtige Positionen der Herderschen Literaturbetrachtung schon fertig ausgebildet zeigen. 86 . Als Herder sich im Herbst des Jahres 1764 mit dem Gedanken trägt, Königsberg zu verlassen, um einer Berufung an die Domschule in Riga zu folgen, hat sich seine Haltung der Stadt gegenüber, die ihm zunächst so ungemein beeindruckt hatte, grundlegend geändert. »Was für eine neue Sphäre wird sich Ihnen hier aufthun«, schreibt er an Lindner, der seinerseits Riga mit Königsberg vertauschen wollte, »hier, wo der Nebel unserer böotischen Luft so dick ist, daß er sogar Schlaftrunkene machen kann, die sich gegen

8

" Herder, Werke, Bd. 28, S. 1 - 5 .

82

Herder, Werke, Bd. i, S. 6 8 - 7 2 .

85

Hrsg. von Christian Felix Weiße. Leipzig 1 7 5 7 — 1 7 6 5 .

"4 Briefe, die Neueste Litteratur 8

betreffend.

' N a c h dem Bericht Bocks, Lebensbild

Bd. 1 — 24. Berlin und Stettin 1759 — 1765. ( A n m . 1) I, S. 134 f. Einen E i n d r u c k von dem

U m f a n g seiner damaligen Lektüre vermittelt das Verzeichnis des handschriftlichen Nachlasses ( A n m . 3), der Titellisten und Excerpte enthält. Fast alle ästhetischen » G r u n d b ü c h e r « der Zeit, einschließlich der englisch- und französischsprachigen sind, neben ausgefalleneren Werken, hier vertreten. Selbstverständlich bedeutet das nicht unbedingt, das H e r d e r sie sämtlich wirklich gelesen hat, aber der Radius seines Interesses ist hier gut dokomentiert. 86

»Fragmente einer A b h a n d l u n g über die O d e « . In: Herder, Werke, Bd. 32, S. 6 1 - 8 5 ; »Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst«, ebd., S. 8 5 - 1 4 0 .

Der junge Herder in

Königsberg

85

die Aufwecker sträuben«. 87 Er selbst habe »vor dem heiligsten Gott des Poeten, vor meinem Genie, verschworen, in Königsberg v o r m i c h nie Autor zu werden [...] ich bin zu gut, oder zu schlecht vor unser Böotisch dickluftiges Thebe«. 8 8 »Mir gefällts in der That nicht sehr sonderlich hier in Königsberg«, 89 »ich hinterlasse in meinem ganzen Lande nichts von besonderer Anziehungskraft; nichts was meine Sehnsucht zurückriefe, keine Muse, keinen Apoll, und um weiter zu kommen, muß man jederzeit da seyn, wo man ist«. In der Stadt, »wo man noch immer lieber Mosaische Arbeit, als Hagedornsche Cabinetter sieht« lebt er »abgesondert von meinen Brüdern: und auch hier wie unter Fremden«. '' In Riga dagegen hofft er, »mehr leben« und »sich brauchbarer machen« zu können. 9 2 . Was Herder Königsberg verdankt: die Ausbildung seines Geistes, seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit, das richtet er am Ende folgerichtig gegen die Sphäre, der er sich entwachsen fühlt. Die Sucht zu lesen, die Dauerreflexion und die Perpetuierung des kritischen Dialogs über Gelesenes, gemeinsames Merkmal all dieser Königsberger Intellektuellen, erscheint seiner hypochondrischen Laune schließlich als Lebensferne; »mein Bücherkreis nur eine Milbensphär« 9 3 heißt es in einem Gedicht dieser Zeit. Tatsächlich hat sich ihm dann in Riga ein weiterer, praktischerer Wirkungskreis eröffnet, als dies in Königsberg je möglich gewesen wäre: Die spezifische Mentalität dieser Stadt, des »Paradieses aller Sonderlinge«, 94 ihre Menschen und ihre Institutionen haben einerseits, durch Förderung wie Widerstand, geholfen, seine spezifische Individualität auszubilden und schärfer zu konturieren, andrerseits dennoch seinem Wesen eine unverwischbare Prägung mitgeteilt.

87 88 89 90 91 93 94

Brief vom 5. Oktober 1764 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 31). Ebd., S. 28. Ebd, S. 31. Ebd., S. 32. Brief vom 23. April/4. Mai 1765 (Herder, Briefe [Anm. 3], Bd. 1, S. 41). »An die Mitternacht«. In: Herder, Werke, Bd. 29, S. 249. So E. Th. A. Hoffmann, zit. nach Franz, Stadt Königsberg (Anm. 5), S. 175.

Adelheid Rexheuser Andrej Bolotov Königsberg als Bildungserlebnis

eines russischen

Aufklärers

Das T h e m a ist formuliert für nicht-russische Leser. In Rußland müßte es lauten: »Königsberg als Bildungserlebnis des jungen Bolotov.« Denn A n d r e j Timofeevic Bolotov ist einer der herausragenden Männer des russischen 18. Jahrhunderts. E r gilt als bedeutendster A g r o n o m der Zeit, hat außerdem eine Reihe philosophischer und geistlicher Schriften hinterlassen sowie einige literarische Werke. A u f allen genannten Gebieten gehen Abfassung eigener Werke und Ubersetzungstätigkeit dauernd parallel und, im Stile der Zeit, auch ineinander über. Von allen seinen Werken werden heute die über 4000 Druckspalten umfassenden Memoiren w o h l am höchsten geschätzt. Sie sind eine unerschöpfliche Quelle insbesondere für die Geistes- und Sozialgeschichte.

Ohne

diese M e m o i r e n 1

kann

man

über

das

russische

18. Jahrhundert eigentlich gar nicht reden.

Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines bei dem Symposion »Zentren der Aufklärung II: Königsberg und Riga« (November 1985, Bad Homburg v.d. H., LessingAkademie und Werner-Reimers-Stiftung) gehaltenen Vortrags. Der Diskussion verdanke ich manche Hinweise und Fragen, die mir geholfen haben, Bolotovs Auseinandersetzung mit der Philosophie besser zu verstehen. Außerdem wurde der Wunsch geäußert, die einschlägigen Passagen aus Bolotovs Memoiren den Nicht-Slawisten in deutscher Ubersetzung zugänglich zu machen. Ich habe diesem Wunsche entsprochen und die Ubersetzungen in die Anmerkungen gesetzt. Diese haben dadurch mehr den Charakter einer Quellensammlung, was ihre im Verhältnis zum Text unmäßige Länge entschuldigen mag. 1

Mir lag folgende Ausgabe vor: Zizn' i prikljucenija Andreja Bolotova opisannyja samim im dlja svoich potomkov 1738-1/93. T. I - I V , gedr. als Beilage zu Russkaja Starina, 1870 — 73. Bei Zitaten aus diesem Werk gebe ich nur die Bandzahl (mit röm. Ziffern) und Spaltenzahl (mit arab. Ziffern) an. Literatur: M. P. Bolotov: »A. T. Bolotov«. In: Russkaja Starina 8 (1873) 11, S. 7 3 8 753. — Brokgauz-Efron: Enciklopediceskij slovar'. T. IV. S.-Peterburg 1891, S. 318 f. — Filosofskaja énciklopedija. Moskva 1960, S. 182 f. - J. L. Rice: »The Bolotov Papers and Andrej Timofeevich Bolotov Himself«. In: Russian Review X X X V (1976) 2, S. 125 — 154. — Ders.: »The Memoirs of A. T. Bolotov and Russian Literary History«. In: A. G. Cross (Hrsg.): Russian Literature in the Age of Catherine the Great. Oxford

88

Adelheid Rexheuser

I Andrej Timofeevic Bolotov wurde 1738 in Dvorjaninovo, dem Dorf seiner Familie im Gouvernement Tula (ca. 200 km von Moskau), geboren und starb 1833 ebendort. Daß dieses lange Leben ab 1762 ein adeliges Landleben in europäischem Geiste wurde — um die Formulierung Otto Brunners zu variieren —, entschied sich in den knapp vier Jahren, die Bolotov von April 1758 bis Februar 1762 in Königsberg verbrachte. Königsberg ist das entscheidende Erlebnis, das bis ins hohe Alter seine Lebensführung bestimmt. Dem Inhalt nach ist es ein die ganze Weite der Kultur umfassendes Bildungserlebnis, an Stärke, Tiefe und Dauer der Wirkung übertrifft es alle andern Ereignisse und Erlebnisse. Bolotov selbst hat seinem Aufenthalt in Königsberg diese zentrale Bedeutung beigemessen: [...] denn da mir daraus unzähliger Vorteil und Nutzen erwuchs, sehe ich jetzt, daß es nicht durch blinden Zufall geschah, daß ich damals nach Königsberg kam, sondern daß es der göttlichen Vorsehung genehm war, mich gleichsam absichtlich in diese preußische Stadt zu bringen, auf daß ich dort lebend Gelegenheit hätte, mich selbst und kurz alles auf der Welt zu erkennen und dadurch auf das friedliche, ruhige, wohlbehaltene Leben vorzubereiten, mit dem in der folgenden Zeit mich zu segnen dem Himmel gefiel. 2

Daß die knappen vier Jahre in Königsberg so bedeutungsvoll werden konnten, hat die Bedingung seiner Möglichkeit in Herkunft, Charakter und Vorbildung Bolotovs. Sie darzustellen, wird meine erste Aufgabe sein. Danach kann ich zeigen, was im einzelnen er in Königsberg aufgenommen hat, und jeweils andeuten, wie es sein Leben ab 1762 prägt. Aus den eben genannten Lebensdaten ist zu ersehen, daß der Aufenthalt in Königsberg in Bolotovs Jugendjahre fällt. Mit neunzehn Jahren kommt er dorthin, noch nicht vierundzwanzigjährig verläßt er die Stadt. Daß sie in so nachhaltiger Weise in seinem Leben Epoche machte, hat also auch damit zu tun, daß er die Jahre seines Lebens dort verbrachte, in denen üblicherweise Denken und Lebensstil ihre entscheidende Prägung erfahren. Der junge Andrej Bolotov kam 1758 nicht aus eigenem Antrieb nach Königsberg. Er gehörte als Offizier zu den russischen Truppen, die im April 1758 im Zusammenhang des Siebenjährigen Krieges in die preußische 1976, S. 1 7 - 4 3 — J· H. Brown: A Provincial Landowner: A. T. Bolotov (ij}8-i8jj). Diss. phil. Princeton 1977 (mir bisher nicht zugänglich). - Α. von Arseniew: »Königsberger Bilder aus der Zeit der russischen Okkupation 1758-62«. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen. 12, 1937, S. 19-23. - H. Weiss: »Das Königsberg Kants in den Augen eines jungen russischen Teilnehmers am Siebenjährigen Kriege«. In: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg!Pr.. 2

Bd. XVII, 1967, S. 49-62. 1,672 f.

Andrej

Bolotov

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Hauptstadt einzogen.' Die ganze Zeit seines Aufenthaltes in Königsberg w a r Bolotov also im Dienst, anfangs als Unterleutnant, seit 1760 als Leutnant. D e r Dienst als Arbeit hat seine Königsberger Jahre geprägt, nicht so sehr die Tatsache, daß er Angehöriger einer feindlichen A r m e e in einer besetzten Stadt w a r . 4 Sein inneres Verhältnis zu Königsberg und zur deut-

' Erster Einmarsch der Russen in Königsberg im Januar 1758 (I, 623). Bolotov kam aber erst Ende April in die Stadt (I, 674). Vgl. dazu F. Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. Bd. II. Köln und Graz 1968, S. 154. 4 Wenngleich er, besonders in der ersten Zeit, solange er in der Domänenkammer arbeitete, durchaus auch Russenfeindlichkeit antraf. Die Deutschen vermieden Gespräche mit ihm nicht nur aus Arbeitsamkeit und Pflichteifer (die ihn sehr erstaunten), sie schnitten den Russen: »[...] nicht nur diese Herren, sondern alle besseren Bürger der Stadt Königsberg überhaupt hatten einen gewissen Abscheu gegenüber uns allen, den Russen, und regelrecht mit Absicht bemühten sie sich, sich von uns und dem vertrauten, offenherzigen und freundschaftlichen Umgang mit uns zurückzuziehen und zu entfernen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß, obwohl ich längere Zeit diese Aufgabe in der Kammer wahrzunehmen hatte und meinen beiden Nachbarn jede nur denkbare Höflichkeit erwies und mich auf alle Art bemühte, mit ihnen irgendwie näher bekannt zu werden, alle meine Anstrengungen dennoch vergeblich waren. Sie antworten mir nur mit ebensolchen Höflichkeiten, aber mehr konnte ich bei ihnen nicht erreichen [...]. All dies erstaunte mich anfangs [...]. Aber später, als ich das ganze preußische Volk und die Königsberger besser kennengelernt hatte, hörte ich auf, mich darüber zu wundern, und schrieb dies schon nicht mehr so sehr ihrer menschenscheuen Art zu als vielmehr ihrer allgemeinen Abneigung gegen alle Russen, denen sie äußerlich zwar jegliche Achtung erwiesen, die sie innerlich aber als ihre Feinde ansahen und mit denen sie deshalb freundschaftlichen und offenherzigen Umgang mieden; außerdem spielte auch ihre maßvolle und enthaltsame Lebensart, die fern von allem Luxus und Uberfluß war, dabei eine große Rolle.« (i, 697 — 699). In der Kanzlei Korffs scheinen solche Probleme nicht aufgetreten zu sein. Vielleicht gingen sie in der Domänenkammer auf den Einfluß Chr. Fr. Brunos zurück (vgl. Gause, s.o., S. 165). Die deutschen Kanzlisten bei Korff unterhielten jedenfalls auch außerhalb der Dienstzeit Beziehungen zu Bolotov, z. B. nahmen sie ihn mit auf Hochzeiten (I, 829, 837) und in die Kaffeegärten (I, 860). Auch in der Öffentlichkeit stieß Bolotov bisweilen auf Russenfeindlichkeit, so in den Kaffegärten: »Es ist wahr, zuerst scheuten alle Herren Preußen vor mir als einem russischen Offizier zurück und wandten sich ab, aber sobald ich anfing, mit ihnen freundlich deutsch zu reden, hielten sie mich für einen gebürtigen Deutschen und wurden sofort ganz anders und außerordentlich freundlich. Sie nahmen mich gern in ihre Gesellschaft auf und fingen nicht selten Gespräche mit mir an und sogar ausgesprochen politische Unterhaltungen. Und da ich sie gern in ihrem Irrtum beließ, mich für einen Deutschen zu halten, und sie manchmal sogar absichtlich in ihrer Täuschung bestärkte, so geschah es nicht selten, daß ich dadurch vieles erfuhr, das anders auf keine Weise zu erfahren und zu wissen gewesen wäre, insbesondere Dinge, die sich auf die damaligen Kriegsereignisse bezogen.« (I, 861) Bolotov berichtet, wie 1760 die evangelische Steindammer Kirche zur orthodoxen Kirche geweiht wurde. Daß in den Apfel auf dem Turm russische Dokumente gelegt

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Rexheuser

sehen Kultur wurde von der Kriegssituation wenig berührt. Ich kann daher diese Problematik im folgenden ausklammern. Bolotov hatte anfangs, ganz kurz, entsprechend seinem R a n g eine militärische A u f g a b e , ! sehr bald aber wurde er wegen seiner Deutschkenntnisse in die russische Verwaltung Preußens übernommen, zunächst als Schreiber in der Domänenkammer, 6 dann, noch 1758, kam er als Ubersetzer und D o l metscher in die Kanzlei des russischen Gouverneurs. 7 G u t e Beherrschung der deutschen Sprache w a r das einzige, was der junge Unterleutnant an solider Bildung nach Königsberg mitbrachte. Im Vergleich mit den Fähigkeiten der Mehrzahl seiner Kameraden w a r aber schon dies viel. Bolotov stammte aus einer wenig begüterten 8 adligen Familie in Großrußland, einem Milieu, in dem Bildung im modernen Sinne um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch selten war. Z w a r hatte Peter der Große »das Fenster nach Europa aufgestoßen«, aber aufgrund seiner Vorgeschichte und Entwicklung im 18. Jahrhundert unterschied sich Rußland um

1750

noch außerordentlich von Frankreich, England oder Deutschland. E s w a r ein Land fast ohne moderne bürgerliche Kultur, und auch die Lebensweise des Adels w a r längst nicht durchgehend europäisiert. D a s moderne Rußland w a r erst im Entstehen. ' In dem Milieu kleiner Adeliger, dem Bolotov entstammte, gab es um die Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus auch noch die

! 6 7

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9

wurden, kommentiert er, der gleichzeitig den späteren Abzug der Russen aus Königsberg erinnert, folgendermaßen: »Und daher blieb auch jetzt in Königsberg für ewig ein Monument, das anzeigt, daß wir, die Russen, es einst beherrschten und daß es unser General Korff verwaltete und diese Umwandlung durchführte.« (i, 1 000). Wachdienst beim Stadttor (I, 681 ). I,«94f. 1, 7 3 0 f f .

Einige Belege zur finanziellen Lage der Familie: »Dieser ganze lange Dienst brachte meinem Vater nicht viel Gewinn. Er mußte fast ausschließlich von seinem Sold leben, denn von seinen kleinen Dörfern, die er von seinem Vater, meinem Großvater, geerbt hatte, konnte er keine bedeutenden Einnahmen ziehen; außerdem hatte er nie Gelegenheit, in ihnen zu leben, sondern kam nur von Zeit zu Zeit für eine ganz kurze Frist aufs Dorf, hatte folglich keine Möglichkeit, sich darum zu bemühen, sie in einen besseren Zustand zu bringen. Das Einzige, was er hinzubekam, war nur, daß er durch seine Frau, d. h. meine Mutter, als Mitgift ein kleines Dörfchen oder genauer gesagt nur einen einzigen Hof im Kreis Cern' erhielt und ein kleines Dörfchen im Kreis Sack begründete.« (i, 26 f.) Die Familie hatte Mühe, die Töchter zu verheiraten, weil es unmöglich war, größere Mitgift aufzubringen (i, 37 f., 45 f.). Als der Vater im Rang eines Oberst starb, hinterließ er kaum bares Geld. Das seinem Rang entsprechende feierliche Begräbnis war ein finanzielles Problem (i, 121). Β. I. Krasnobaev: Russkaja kul'tura vtoroj poloviny XVII — nacala XIX v. Moskva 1983. — Ders.: Ocerki istorii russkoj kul'tury XVIII veka. Moskva 1972. — J. G. Garrard (Hrsg.): The Eighteenth Century in Russia. Oxford 1973. — M. Raeff: Origins of the Russian Intelligentsia, The Eighteenth-Century Nobility. New York 1966.

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Bolotov

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altrussisch kirchlich geprägte Lebensweise, die ihre Kraftquellen in der Wiederholung der Gottesdienste und Feste hatte, eine in hohem Maße mündliche Kultur, die, jedenfalls im häuslichen Bereich, fast ohne Bücher auskam. 10 Bolotovs Mutter lebte noch ganz in dieser Kultur. " Anders der Vater.12 Bolotov charakterisiert ihn als »recht aufgeklärt«. Er beherrschte eine Fremdsprache, nämlich Deutsch, hatte gute Kenntnisse in Arithmetik und Geographie, besaß »eine Kiste Bücher« und hatte offenbar ähnliche Interessen wie später der Sohn, denn er versuchte sich als Ubersetzer eines deutschen ökonomisch-historischen Werkes. 13 Während die Mutter allen alten frommen Bräuchen und Mißbräuchen zugetan ist, zeigt die Frömmigkeit des Vaters deutlich aufgeklärte Prägung. 14 Bildung und aufgeklärten Denkhabitus hatte der Vater in den Ostseeprovinzen erworben. Er war in Riga, wo der Großvater als Major diente, in die deutsche Schule gegangen und diente später selbst lange Jahre als Oberst des Archangelsker Regiments in Estland, Livland, Kurland und Finnland. Hier, bei der Truppe, wuchs auch Andrej Timofeevic im wesentlichen auf. Der Vater vermittelte ihm eine Vorliebe für alles Deutsche '' und sorgte dafür, daß er mit neun Jahren, nachdem er das Russische lesen und schreiben konnte, Unterricht in deutscher Sprache bekam, aus Geldmangel allerdings nur von einem unfähigen Unteroffizier deutscher Herkunft, der zum

10

G. Florovskij: Putì russkago bogoslovija. Paris 1937, 2. Aufl. 1982. — S. P. Luppov: Kniga ν Rossii ν poslepetrovskoe vremja 1725 — 1/40. Leningrad 1976. — A . Sidorov und S. Luppov (Hrsg.): Kniga ν Rossii do serediny XIX veka. Leningrad 1978. — H. Rothe : Religion und Kultur in den Regionen des russischen Reiches im 18. Jahrhundert. Opladen 1984.

"

I , i 4 7 ff. I, ,24 ff. »Ich erfuhr, daß mein Vater eine ganze Kiste mit Büchern besaß. Ich machte mich an sie heran wie an einen Schatz, aber unglücklicherweise fand ich dabei nur zwei für mich passende Bücher, nämlich >Extrakt der Geschichte< von Curas und die Geschichte des Prinzen Eugen.« (i, 113 f.) Es handelt sich um folgende Werke: H. Curas: Einleitung zur Universalhistorie. Berlin 1723, russ. Ubersetzung Petersburg 1747 (Rothe, Religion und Kultur [Anm. 10], S. 86 f.) und Opisanie zitija i del princa Evgenija, gercoga Savojskago. Petersburg 1740 (Luppov, Kniga [Anm. 10], S. 135, 145.) — »Ich fand einige Reste seiner Arbeiten, nämlich die Ubersetzung der livländischen Ökonomie und Geschichte dieses Fürstentums, aber es waren dies nur Fragmente.« (I, 124) Hinweis auf das deutsche Original bei Weiss, »Königsberg Kants« (Anm. 1), S. 50, Anm. 5. Sie ist vor allem Gottvertrauen, strenge, beinahe bürgerliche Moralität, Abscheu vor Aberglauben und Heuchelei (I, 124 ff.). Vgl. auch seine letzten Worte an den Sohn (I, 118 f.). »In Sonderheit aber liebte er den Umgang mit Deutschen und besonders mit den Verständigsten unter ihnen, denn er liebte mit ihnen deutsch zu sprechen und zu diskutieren [...].« (I, 126)

11 13

14

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Unterricht vom Dienst freigestellt wurde. ' 6 U n d so blieb es in den folgenden Jahren. A u s Geldmangel bekam A n d r e j Bolotov keine solide, sich kontinuierlich über längere Zeit erstreckende Ausbildung, sondern je nach sich bietenden Gelegenheiten ein Flick- und Stückwerk an Unterricht: ein Jahr in einem kurländischen Adelshaus, w o das Deutsche zu seiner täglichen Umgangssprache w u r d e , 1 7 ein Jahr in einer Petersburger Pension 1 8 und schließlich, nach längerer Unterbrechung, noch ein Dreiviertel jähr im H a u se eines Generals in Petersburg, 1 9 insgesamt also knapp drei Jahre. A u f den begabten und wissensdurstigen Jungen hatte dieser kurze, diskontinuierliche Unterricht vor allem eine W i r k u n g : er begann sehr früh, noch als Kind, sich für seine Ausbildung selber verantwortlich zu fühlen, bildete die G e wohnheit aus, immer über das Geforderte hinaus zu arbeiten und Wissen aufzunehmen, w o immer es sich ihm bot. Dies gilt sowohl für die Zeiten des Unterrichts als auch für die durch die Umstände bedingten Zwangspausen. 20 Sein Wissensdurst und Lerneifer ist nicht auf Buchwissen beschränkt, sondern schließt Künste, Handwerke, später Technik mit ein. 2 1 16

»In seinem Regiment gab es nicht nur deutsche Offiziere, sondern auch eine Menge Unteroffiziere. Aus diesen gedachte er einen etwas fähigeren herauszusuchen und mir zum Deutschunterricht beizugeben. Aber da ein großer Teil dieser Deutschen aus livund estländischen Adeligen bestand und überwiegend aus armen, die in ihrer Jugend kaum irgendwelche Wissenschaften gelernt hatten und kaum irgendetwas Ordentliches verstanden, so war es schwer, unter ihnen einen Menschen zu finden. Und nach langem Suchen blieb nichts anderes übrig, als sich mit einem Unteroffizier zu begnügen, der aus Deutschland stammte und vor einigen Jahren aus Lübeck gekommen war, um in unsern Dienst zu treten. [...] mir ist nur bekannt, daß er gar keine Wissenschaften beherrschte außer allein Arithmetik, die aber konnte er sicher; ebenso konnte er sehr gut Deutsch lesen und schreiben, weshalb ich annehme, daß er ein Kaufmannssohn gewesen sein muß, und zwar durchaus kein reicher, erzogen in einer einfachen Stadtschule, ganz einfach und niedrig.« (I, 53 f.)

17

Und zwar bei der Familie Nettelhorst, wo er mit den Söhnen des Hauses von einem Hofmeister unterrichtet wurde, der in Leipzig studiert hatte (I, 81 ff.). I, 104 f. I, 17/f. Finanziert wurde der Unterricht mit dem Geld, das sein leibeigener Diener während dieser Zeit als Arbeiter in der Petersburger Seilerei verdiente (I, 178). Die erste größere tritt 1750 ein, als der Zwölfjährige nach dem Tod des Vaters ein Jahr im heimatlichen Dvorjaninovo bei der Mutter verbringt und sich redlich müht, das Erlernte allein weiter zu pflegen, wobei sein kindlicher Eifer natürlich schließlich doch erlahmt (i, 151, 160, 169). Noch bewegender ist es, 1753 den Fünfzehnjährigen nach dem Tod der Mutter als jungen Herrn von Dvorjaninovo zu sehen, wie er, völlig frei von äußeren Zwängen, stundenlang liest, abschreibt, Geometrie und Fortifikation studiert, zeichnet (I, 2 3 3 236, 249). Was Bolotov sieht, bemüht er sich mit Selbstverständlichkeit nachzuahmen. Er lernt die Anfangsgründe verschiedener Handwerke im Hause des Schwagers (i, 213 — 216). Er macht sich, ohne es je gelernt zu haben, 1753 daran, die Wände seines Wohnzimmers mit figürlichen Darstellungen zu bedecken, wie er es beim Schwager gesehen hat

,8 19

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Bolotovs Jugend war äußerlich und innerlich sehr bewegt. Zeiten des Unterrichts wechselten mit großen Pausen. Sein Wohn- bzw. Aufenthaltsort lag bald in den baltischen Ländern, bald in St. Petersburg, bald in der russischen Provinz. Der Unterricht verschaffte ihm Vertrautheit mit der deutschen Sprache, einige Bekanntschaft mit dem Französischen, erste mathematische Kenntnisse. Während ihn der Unterricht also nach Westen wies, führten ihn 1750 und 1753—54 zwei große Pausen im heimatlichen Dorf zurück in die altrussische 22 und orthodoxe Welt. Nicht nur, daß er wieder stärker eingeschlossen wurde in den Zyklus der Gottesdienste und kirchlichen Feste, 23 als das während des Lebens beim Heer oder auch in der Zeit in St. Petersburg der Fall war. Auch seine Lektüre veränderte sich. In St. Petersburg hatte er den einen oder andern französischen Roman 2 4 gelesen. In Dvorjaninovo, im Milieu kleiner Provinzadeliger gab es dergleichen so gut wie nicht. 2! Auf der Suche nach Büchern fand er in anderthalb Jahren nur

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(I, 228). Dieser wissensdurstige Fünfzehnjährige war kein Bücherwurm und Stubengelehrter, wenn auch Bücher ihn magisch anzogen und er das Schreiben auch als Kalligraphie liebte und übte. Als der Zwölfjährige 1750 nach Dvorjaninovo zurückkehrte, befremdeten ihn die Verwandten durch ihre Kleidung wie durch ihre Unbildung: »Ihre altertümliche, seltsame und einfache Kleidung und ihr Schmuck [...] erschien mir anfangs sehr befremdlich und wundersam. Ich, der ich gewohnt war, unter Leuten von Welt zu leben, konnte mich nicht genug wundern über ihre Kaftane mit langen Schößen und über die schreckliche Länge der Armelaufschläge und alles übrige. Sie kamen mir fast wie rechte Narren vor. Als ich jedoch später erkannte, daß sie nicht ohne Verstand waren und daß nur die Armut der Grund war, daß sie so gekleidet waren, vor allem aber, daß sie mir alle wohl gesonnen waren und ich in vielen Dingen kenntnisreicher und klüger war als sie alle [...].« (i, 157). Der Memoirenschreiber stellt die Zeit auf dem Dorf stärker durch kirchliche Feste gegliedert dar. Natürlich hat die russische Armee auch in den baltischen Ländern in Feldkirchen die großen Feste gefeiert, z.T. sogar mit militärischem Zeremoniell (i, 49, 73, 93, 110, in). Aber die Feste konnten kaum das ganze Leben so prägen wie auf dem russischen Dorf (i, 43, 155). Für 1750 wie 1754 erinnert Bolotov häufigen Gottesdienstbesuch (i, 149, 255). - Weil im Text in der Hauptlinie des Gedankens die orthodoxe dörfliche Welt als positive und eigenständige Größe mit der mehr oder weniger säkularisierten westlichen Bildung kontrastiert wird, ist in der Anmerkung unbedingt einschränkend hinzuzufügen, daß damit das Dorf keineswegs als heile russische Welt dem bösen Westen gegenübergestellt wird, was auch Bolotovs eigener Darstellung völlig widersprechen würde (z. B. I, 149 f., 230). Insgesamt erwähnt er folgende Werke: 1749 las er Fénelon: Die Abenteuer des Telemach, zuerst teilweise französisch, dann ganz in russischer Ubersetzung (i, 108); vgl. zu russischen Fénelon-Übersetzungen Luppov, Kniga (Anm. 10), S. 105; Rothe, Religion und Kultur (Anm. 10), S. 75. 1752 las er eine handschriftliche Übersetzung der Histoire d'Epaminonde von Seran de la Tour (I, 181 f.). I, 232, 258. In Ermangelung anderer Bücher schreibt er ein gedr. Exemplar des Telemach, das ihm »irgendwo zu ergattern gelungen war«, ab (i, 234). Zur handschriftlichen Verbreitung des Telemach vgl. Rothe, Religion und Kultur (Anm. 10), S. 79.

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zwei, und die waren geistliche Werke (eine Sammlung von Heiligenviten und ein theologisches Werk aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts 26 ). Damit war er auf einer höheren Ebene in die Welt seiner frühen Kindheit zurückgekehrt, wo er Lesen und Schreiben an der russisch-kirchenslawischen Bibel gelernt hatte. 27 Er versuchte nun, gedanklich die religiöse Welt zu erfassen, die ihm vor allem das Dorf vermittelt hatte, denn seine religiöse Erziehung empfing er, wie viele russische Adelige bis weit ins 19. Jahrhundert, von dem Menschen, der in der Kindheit und Jugend fast immer fürsorgend um ihn war: der leibeigene Diener, djad'ka. 28 Auf einem freilich sehr bescheidenen Niveau hatte der sechzehnjährige Bolotov eine geistig-geistlich und west-östlich gemischte Bildung, wie sie um diese Zeit beim großrussischen Adel selten, eher noch in der Ukraine anzutreffen war. 2 ' Auch im Bereich des gesellschaftlichen Verhaltens hatte er verschiedene Normen aufgenommen. Neben der altrussisch geprägten Geselligkeit von Dvorj aninovo 30 hatte er den Lebensstil des baltischen Adels kennengelernt, 51 in St. Petersburg den des hauptstädtischen russischen unterhalb der Aristokratie. 32 Zwischen diesen östlichen und westlichen Leitbildern suchte der junge Herr von Dvorjaninovo seine Lebensform. Ohne zu brüskieren oder sich völlig von der Umgebung abzuschließen, lebte er entschieden auf seine eigene Art. Sein Verhalten wurde außer durch unbändigen Wissensdurst bestimmt durch eine instinktive Abneigung gegen alles Grobe, Wilde und Lasterhafte. 33 Ende 1754, Anfang 1755 rief die Dienstpflicht Bolotov wieder nach Westen. Ein sprechendes Bild der Umwandlung, die ihn erwartet, ist, daß vor der endgültigen Abreise nach Livland seine in Dvorjaninovo angefertigten Kleider von der weltkundigeren Schwester, bei der er (in der Gegend von Pskov) Station macht, modisch umgenäht werden. 34 26

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30 3

Die Ceti-Minei bekommt er vom Dorfgeistlichen; Stefan Javorski, Kamen' very, findet er bei seinem Onkel (I, 234). I, 36, 43.

1, 43, 83 f. Die geistliche Bildung, die er sich 1753 — 54 durch Lesen, Abschreiben und in Gesprächen mit dem Dorfgeistlichen aneignete (I, 230, 232 f., 249), erregte in seiner Umgebung Staunen und Bewunderung (i, 233). I, 147, 1 5 5 - 1 5 8 ·

" 1 , 7 4 , 81 ff. Im Hause des Onkels (i, 177 f.). 33 I, 249. Einzelbeispiele I, 234, 240f. 34 Der Schwester, die, mit einem reichen Gutsbesitzer verheiratet (I, 38), auch auf dem Landgut etwas mehr städtische Kultur entfalten kann (I, 204 ff.), erscheint der Bruder nach anderthalb Jahren Leben in Dvorjaninovo 1755 verbauert: »Du bist durch das Leben auf dem Dorf gleichsam ganz verwildert und hast sehr viel dörfliche Grobheit angenommen. Mit einem Wort, du bist durchaus nicht mehr der, der du vorher warst.« (I, 268).

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Bis z u m Einmarsch in Königsberg diente der noch 1755 z u m Unterleutnant beförderte Bolotov in den Ostseeländern. E r scheint kein schlechter und nicht widerwillig O f f i z i e r gewesen zu sein. D a s Exerzieren machte ihm Freude. " A b e r dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Militärdienst für ihn eigentlich nur Gelegenheit war, etwas ganz anderes zu tun: sich zu bilden. E r nutzte jede Möglichkeit zur Wiederauffrischung und Vervollkommnung seiner Deutschkenntnisse. K a m das Regiment oder er allein in die N ä h e einer größeren Stadt, so kaufte A n d r e j Timofeevic sich Bücher: 1755 i n St. Petersburg und R e v a l , 1 7 5 7 35 ,6

in Riga, 5 7 1758 in

1, 37·· Ich führe hier und in den folgenden Anmerkungen die Passagen über St. Petersburg, Reval, Riga, Thorn an, um zu zeigen, daß Königsberg als Vermittler westlicher Kultur im Leben Bolotovs nicht allein steht, sondern ihm nur gesteigert bietet, was er in den genannten anderen Städten ebenso gesucht und gefunden hatte. St. Petersburg : »Mein erster Ausgang führte mich in die Akademie, [...] um mir irgendwelche kleine Bücher zu kaufen, die damals nur dort verkauft wurden. Insonderheit begehrte ich die Argenida zu erwerben, die, als ich noch auf dem Dorf war, von meinem Alten [d. h. einem alten Adeligen, der Bolotov half, seine Deutschkenntnisse aufzufrischen; vgl. I, 258] überaus gelobt worden war und mir nicht aus dem Gedächtnis ging. Ich kaufte sie sogleich als erstes, aber da ich gleichzeitig zum ersten Male den Gil Blas zu sehen bekam, ein Buch, das damals gerade eben erschienen war und das mir sehr empfohlen wurde, trennte ich mich auch von ihm nicht. Uber diese beiden Bücher war ich so froh, als ob ich einen sehr großen Fund gemacht hätte.« (i, 321) Bolotov kaufte also Gil Blas von A. R. Lesage und Argents von J. Barclay. Reval·. »Gleich bei meiner Ankunft in dieser Stadt hatte ich nicht versäumt, sofort zu fragen, ob es dort einen Buchladen gäbe. Und da man mir sagte, es gäbe einen, so war ich bei der ersten Gelegenheit wie auf Flügeln geflogen, ihn zu suchen. Und welche Freude empfand ich, als ich einen sehr großen Laden sah voller gebundener Bücher, aber zu meinem Bedauern nicht russischer, sondern sämtlich ausländischer. Trotzdem war meine Gier nach Büchern so groß, daß ich sie gern alle gekauft hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Aber da meine Mittel beschränkt waren, begnügte ich mich damit, für den Bücherkauf nicht mehr als drei oder vier Rubel auszugeben. Die Bücher, die ich bei dieser Gelegenheit kaufte, waren deutsche, und zwar Romane, außer einem, das chiromantische und andere ähnliche merkwürdige Wissenschaften enthielt.« (I, 550 f.).

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»Anstatt an die Mühen des bevorstehenden Feldzuges zu denken und anstatt mich mit irgendetwas Notwendigem und Unentbehrlichem für einen so weiten und unbekannten Weg zu versorgen, dachte ich nur allein an Bücher und an die Befriedigung eines alten Wunsches von mir. Im letzten Herbst, als ich noch in meinem früheren Quartier bei dem Letten war, hörte ich von Herrn Müller [d. h. einem livländischen Adeligen; vgl. I, 378] über ein deutsches Buch, das er mir wer weiß wie lobte, und ich wünschte es zu haben, was es auch kosten möge. Deshalb war, kaum daß ich in die Stadt gekommen war, mein erstes Geschäft, zu Herrn Fröhlich zu laufen, dem dortigen Buchhändler, und zu fragen, ob er Der englische Philosoph oder Cleveland hätte. Denn so hieß das Buch, und als ich hörte, daß es da war, freute ich mich außerordentlich, kaufte es mir sogleich und befahl, es in bestes weißes Pergament zu binden. Mein Gott, mit welcher Freude und mit welchem Vergnügen kehrte ich damals aus der Stadt in mein Lager zurück [...]. Ich dachte damals Gott weiß was von diesem Buch,

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T h o r n . , s W a r das H e e r in Ruhe an einem festen Platz (Sommer- oder W i n terlager), so nutzte der O f f i z i e r Bolotov die freie Zeit z u m Lesen, Ubersetzen, Zeichnen, " und sogar während des Feldzuges fand er Zeit für seine während es in Wirklichkeit nichts anders als ein Roman ist und bei weitem nicht wert war, daß man sich mit solchem Eifer darum bemühte und es kaufte in einer Zeit, in der es für uns um ganz anderes ging.« (I, 421) - Es handelt sich um folgendes Werk: Der englische Zeitweise oder Historie des Herrn Clevelands, natürlichen Sohnes des Cromwels, aus dem Englischen [...]. Rostock 1777 (vgl. W. Heinsius: Allgemeines Bücher-Lexikon. Bd. IV. 2. Aufl. Leipzig 1813, zweite Paginierung, Sp. 229). N u r muß Bolotov eine frühere Ausgabe benutzt haben, die ich nicht ausfindig machen konnte. ,8 »Bei der Ankunft in dieser Stadt war meine erste Beschäftigung festzustellen, ob es dort einen ebensolchen Buchladen gäbe wie in Riga, und zu meiner übergroßen Zufriedenheit fand ich ihn. Er war zwar nicht ganz so groß wie der Rigaer, aber recht anständig, und ich konnte eine Stunde oder länger mit außerordentlichem Vergnügen dort verbringen, um Bücher zu betrachten und durchzublättern. Wenn mich nicht die Uberzeugung zurückgehalten hätte, daß ich mich auf keinen Fall mit Büchern beschweren dürfte, wenn ich nicht wieder in die Lage kommen wollte, sie weggeben zu müssen, hätte ich eine Menge gekauft [...]. Aber so sehr der erwähnte Umstand mich auch hinderte, konnte ich mich dennoch nicht trennen von einer neuen deutschen Monatsschrift, die mir damals zufällig unter die Augen kam. Sie erschien in Danzig unter dem Namen Historische Nachrichten von unserem damaligen Kriege mit allen Relationen, Plänen und Beschreibungen der Schlachten und alles übrigen. Mein ganzes Blut geriet in Wallung, als ich ein für die damalige Zeit so erstaunliches Werk sah. Ich kaufte sogleich alle Teile, die bis dahin erschienen waren, und war darüber so froh, als ob ich einen großen Schatz gefunden hätte.« (i, 652). " 1756 im Sommer-Lager bei Riga: »So verbrachte ich meine Zeit teils mit der Unterrichtung der Soldaten, teils mit meinen Büchern, die mir nie aus dem Sinn gingen. Den größten Teil meiner freien Zeit verwandte ich auf die Lektüre der Ubersetzung von irgendetwas. Ein von mir in Reval gekaufter Roman mit dem Titel Piccartus, der dem Gil Blas ein wenig ähnlich war, faszinierte mich so, daß ich den Versuch begann, ihn zu übersetzen, und ich mühte mich damit alle freien Stunden ab.« (i, 369) Offenbar hat er folgendes Werk gekauft: Der bei seiner Mutter in Irrland geborene Piccartus, nebst seinen Fatis. Dresden 1753 (vgl. Heinsius, Bücher-Lexikon [Anm. 37], Sp. 161). — 1757 im Winterquartier in Kurland: »Durch alle diese Umstände war ich gezwungen, allein zu leben und fast wie in mönchischer Klausur; diese Einsamkeit wäre mir natürlich bald langweilig geworden, wenn ich nicht eine Neigung zu den Wissenschaften gehabt hätte und es mir seit langem zur Gewohnheit gemacht hätte, mich im Lesen von Büchern und im Schreiben zu üben, und diese Gewohnheit half mir auch in diesem Falle sehr viel. [...] Ich habe schon früher erwähnt, daß ich während des Feldzuges in der freien Zeit das in Riga neugekaufte Buch über Cleveland übersetzt hatte. Und da ich von diesem Buch schon ziemlich viel fertig übersetzt hatte, nahm ich mir damals vor, diese Ubersetzung ins Reine zu schreiben, mit der besten und schönsten Schrift [...].« (l,6io). Man vergleiche, wie sich der Fünfzehnjährige Winter 1753 / 54 in Dvorjaninovo beschäftigte: »Das Abschreiben von Büchern und Heften, geometrische Notizen und Zeichnungen, die Lektüre der >Lesemenäen< und sogar das Abschreiben der besten und merkwürdigsten Viten einiger Heiliger in ein besonderes, eigens dafür gemachtes Buch waren meine Hauptbeschäftigung [...]. Mein Arbeitseifer und meine Schreiblust waren so groß, daß ich manchmal fast ganze Nächte beim Schreiben saß und meine

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Interessen. 4 0 Nach dem Einzug in Königsberg wird er zum Wachdienst beim Stadttor kommandiert. Aber was tut er? »Anstatt die Zeit dort in Müßiggang [ . . . ] zu verbringen, wie es die andern taten«, kolorierte er »eine große Menge« Veduten, die er sich gekauft hatte. 4 1 M a n kann unschwer ahnen, daß Königsberg von Andrej Timofeevic Bolotov anders erlebt wurde als von dem Gros seiner Offizierskameraden. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war, daß sich seine Dienststellung, wie schon angedeutet, gleich zu Anfang der Königsberger Zeit grundlegend änderte. 4 2 D e r Dienst in der Verwaltung zog ihn völlig aus der Umgebung seiner Regimentskameraden heraus 4 5 und brachte ihn in dauernden Kontakt mit Deutschen. In der Kanzlei des Gouverneurs K o r f f teilte er den Arbeitsraum mit zwei deutschen Kanzlisten, die kein Russisch sprachen, 4 4 war also während der Dienstzeit, und diese dauerte im Regelfall den ganzen Tag, 45 völlig in eine deutsche Sprachumgebung eingeschlossen. Als unentbehrlicher und jahrelang unersetzbarer 4 6 Dolmetscher der obersten russischen Behörde fand sich der bisher unbedeutende Unterleutnant plötzlich in einer wichtigen Position, die auch seine soziale Stellung grundlegend veränderte. E r verbrachte seine Tage am Amtssitz des Gouverneurs, im Königsberger Schloß, speiste an der Tafel der engeren Mitarbeiter 4 7 und hatte auch mit Korff selbst4® täglich zu tun. Bald befreundete er sich mit dem Adjutanten Korffs und wurde beauftragt, ihn zu vertreten alte Njanja, die mir fast immer allein Gesellschaft leistete und die hinter dem Spinnrocken in ihrer Ecke neben dem Ofen vom Sitzen müde wurde, mich nicht selten erinnern mußte, daß es längst Zeit sei, zu Abend zu essen, und daß es schon längst nach Mitternacht sei.« (i, 235). 40 41

1757 übersetzte er unterwegs seinen Cleveland (I, 431 f.). »Diese Arbeit war mir zwar etwas beschwerlich, denn ich war genötigt, sie in Uniform mit Schärpe und Offizierskragen zu machen, aber ich hatte den Nutzen, daß sie mich keine Langeweile spüren ließ, von der man, wenn man in so einem elenden Loch hauste, schließlich verblöden mußte.«(l, 681).

42

Vgl. Anm. 6 und 7.

4S

I, «93-

44

1, 736. 744·

45

I, 743, 750. Später wurde die Arbeit weniger, die Präsenzpflicht aber blieb. Bolotov begann, in der Dienstzeit Bücher zu lesen (i, 761). Es gab zwar Männer mit Deutschkenntnissen, auch mit deutscher Muttersprache in den dem Befehl Korffs unterstehenden russischen Truppen, aber diese hatten offenbar höhere Ränge und kamen für die Arbeit des Ubersetzers nicht in Frage. Vgl. z.B. I, 745. Korff suchte deshalb einen Nachfolger für Bolotov in einem andern Personenkreis: er forderte aus Moskau Studenten an. Vgl. unten Anm. 68. Da Bolotov nicht förmlich aus dem Militärdienst in den Staatsdienst überwechselte, wurde er mehrmals zur aktiven Truppe zurückbeordert, aber bis Februar 1762 wegen seiner Unentbehrlichkeit als Dolmetscher immer wieder zurückgestellt.

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I, 738.

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1, 750.

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oder zu unterstützen. E r half, in den adligen Häusern der Stadt die Einladungen zu Korffs rauschenden Festen zu überbringen, 4 5 an denen er zunächst als schüchterner Zuschauer, bald aber auch als Tänzer teilnahm. 5 0 So kam es, daß der kleine Provinzadlige Bolotov in Königsberg Gelegenheit fand, den Lebensstil der Petersburger Aristokratie k e n n e n z u l e r n e n . S e i n e Position ermöglichte ihm die Bekanntnschaft mit jungen russischen Aristokraten, und während er vorher, im Militärdienst, oft die Unbildung seiner Offizierskameraden beklagt hatte, sah er nun mit Erstaunen die vielseitige Bildung dieser Herren. ' 2 Sie hatten vollendete Umgangsformen, waren ausgezeichnete Tänzer, sprachen mehrere Fremdsprachen, kannten die zeitgenössische westliche Literatur, hatten wohl auch ein Interesse an Wissenschaft und Technik und waren schließlich genügend mit dem Theater vertraut, um in Königsberg die Liebhaberaufführung eines russischen Dramas zu planen. " Andrej Bolotov, der geborene Autodidakt, fand sich rasch in diese Welt hinein. Die Kontertänze, die er vorher nie gesehen hatte, gefielen ihm. Also hüpfte er allein in seiner Wohnung so lange herum, bis er imstande war, sich mit Erlaubnis Korffs auf das Parkett des Königsberger Schlosses zu wagen. ! 4 Theater war ihm vor der Könisberger Zeit unbekannt. N u r

I, 75«· 838. I, 828, 839, 8 4 2 . '' Der Umgang mit der Aristokratie war für Bolotov etwas völlig Neues: »Wahrhaftig, anfangs war es mir ein bißchen schwer, mich zu gewöhnen, da ich nie in so vornehmen Gesellschaften gewesen war und mich plötzlich genötigt sah, selbst mit Prinzessinnen, Gräfinnen und Baronessen zu tanzen und sogar zu hüpfen und mich zu drehen und nicht selten in einer Reihe zu stehen sogar mit unsern Generälen in ihren Bändern und Orden [...].« (I, 842) Bald jedoch »tanzte ich mit ihnen allen mit solchem Vergnügen wie mit meinesgleichen. Das aber trug sehr viel dazu bei, daß ich in den späteren Jahren meines Lebens immer erheblich kühner mit Aristokraten umging als vor dieser Zeit.« (I, 843; vgl. 742). 52 »Orlov, Grigorij Grigor'evic« und »brat ego dvorjurodnyj, gospodin Zinov'ev« (I, 840); »Fedor Bogdanovic Passek« (I, 873 876f.). Für sie hätte Königsberg niemals in dem Ausmaß Bildungserlebnis werden können wie für Bolotov. " Es sollte die Tragödie Demofont von Lomonosov aufgeführt werden (i, 879 f.). ! 4 I, 828. Seine selbst einstudierten Tanzkünste erprobt er zuerst auf einer jüdischen Hochzeit in Königsberg, zu der ihn der deutsche Kanzlist mitnimmt (I, 829 — 835), und weiteren Hochzeiten in der Stadt (I, 837). Um an den Bällen im Schloß teilzunehmen, brauchte der Unterleutnant Bolotov wegen seines niedrigen Dienstranges eine besondere Genehmigung Korffs, die ihm G. G. Orlov verschaffte (1,828, 842). Die in der Sekundärliteratur häufig geäußerte Meinung, daß während der russischen Besatzung in Königsberg die Standesunterschiede weitgehend verwischt worden seien, findet in den Memoiren Bolotovs keine uneingeschränkte Bestätigung. Korffs Bälle waren zunächst rein adelige Veranstaltungen, sowohl hinsichtlich der preußischen Teilnehmer (I, 756, 838) als auch der russischen. Bei letzteren scheint die Teilnahme zunächst auf die höheren militärischen Ränge bzw. Offiziere aristokratischer Herkunft beschränkt gewesen zu sein (i, 828). Der Mangel an Tänzern führte

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zufällig hatte er auf dem Feldzug erstmals ein russisches Drama gelesen. " Die erste Theateraufführung, die er sah, war ein Gastspiel einer Berliner Truppe im Königsberger Theater, das Korff im Winter 1758/59 arrangierte. 16 Als er aber eingeladen wurde, an der russischen Liebhaberaufführung mitzuwirken, hatte er seine Rolle als erster einstudiert. " Seine dienstliche Stellung und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Pflichten und Rechte gaben Bolotov die Möglichkeit, auch die Königsberger Gesellschaft von oben her kennenzulernen. N u r im Ausnahmefall hat ihn das, was er auf diese Weise erlebte, innerlich berührt, dann nämlich, wenn er in diesem Milieu auf etwas aus Literatur, Wissenschaft oder Technik stieß, das ihm neu war. s8 Ahnlich ist es mit jener Seite der Universität, zu der ihm die Beziehung zum Gouverneur Zugang verschaffte. Korff betraute ihn nämlich 1760 mit der Aufsicht über einen jungen russischen Verwandten, der nach Königsberg zum Studium kam. " Ein zweiter vornehmer russischer Student wurde ebenfalls seiner Obhut unterstellt. 60 Die Beaufsichtigung dieser mit ihm fast gleichaltrigen jungen Leute brachte Bolotov in Kontakt mit Professoren. Auf Grund seiner Betreuer-Rolle (und wohl auch seiner persönlichen Fähigkeiten) wurde er von diesen behandelt, als hätte er schon ein Studium hinter sich, wurde eingeladen zu den Feierlichkeiten der Universität 61 und zu öffentlichen Disputen, wo er sich auch als Diskutant beteiligte. 6i Bolotov war das nicht unangenehm. Aber all dies war nicht das Wichtigste, was er in Königsberg erlebte, nicht das, was sein Leben so stark beeinflußte. Zwar hat er sich auch die aristokratische Gesellschaftskultur des Baron Korff leichthin angeeignet und im Rahmen seiner Möglichkeiten später zu Hause eingeführt, Tanz, Theater und Musik mit seinen Kindern eifrig

später dazu, daß alle russischen Offiziere geladen wurden (I, 841). Außer den dem Adel vorbehaltenen Bällen und Maskeraden im Schloß gab Korff öffentliche Maskeraden im Opernhaus (i, 844). 55

56 57

'8

"

60 62

Und zwar 1756 ein handschriftliches Exemplar von Sumarokovs Chorev (I, 353). Vgl. hierzu Rice, »The Memoirs« (Anm. 1), S. 31 f.

1, 843· I, 881. Die Aufführung kam schließlich doch nicht zustande. Zum Beispiel im Hause eines preußischen Oberst in Königsberg, w o er als Begleitung des (gefangenen) Grafen Schwerin Zutritt fand, faszinierten ihn technische Geräte und Bücher (I, 873). I, 989. Da er den Vorgang 1760 datiert, müßte es noch Korff gewesen sein und nicht schon Suvorov, wie Weiss, »Das Königsberg Kants« (Anm. 1), S. 60 meint, denn Suvorov kam erst Januar 1761 nach Königsberg.

I, 989. 1,989. II, 57·

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gepflegt. 6 3 Zwar- hat er binnen kurzem gelernt, sich im akademischen M i lieu zu bewegen. Die G l a n z - und Feierseite der Universität w a r ihm, der alles Feierliche und Prunkvolle liebte, nicht zuwider. A b e r weder der G l a n z des Schlosses noch der G l a n z der Universität hat ihn dauerhaft angezogen. E r schaute genau hin und eignete sich an, was ihm gefiel. Ebenso wie er als allseitig interessierter Mensch die Stadt Königsberg in ihrer äußeren Gestalt wie ihren Lebensbedingungen aufs genaueste erkundete und beobachtete. 6 4 D a s vielfältige und hochentwickelte H a n d w e r k der Stadt schätzte er sehr und nahm es mehrmals für seine technischen Liebhabereien in A n s p r u c h . 6 ' D e r berühmte Garten der Familie Saturgus regte ihn dazu an, noch von K ö nigsberg aus die Umgestaltung seines heimischen Gartens zu veranlassen. 66 63

Zum Teil ließ er seine Kinder in Moskau ausbilden (Tanz), zum Teil durch Hauslehrer (Musik). Einige Belege: III, 801, 1 o u ; IV, 70f., 88; IV, 129. Theateraufführungen sahen seine Kinder gelegentlich in Moskau (IV, 88), vor allem spielte er selbst mit ihnen Theater und schrieb auch Theaterstücke. Die Aufführungen waren für die Familie und für Nachbarn, besonders aber für vornehme Gäste gedacht. Einige Belege: III, 899 — 909, 956, 962. Vgl. dazu Β. N . Aseev: Russkij dramaticeskij teatr ot ego istokov do konca XVIII veka. 2. Aufl. Moskva 1977, S. 311 f. 64 Vgl. seine Stadtbeschreibung (i, 700 — 716), aber auch, was er nebenbei, z.B. anläßlich der Beschreibung seiner vier verschiedenen Wohnungen, erwähnt (i, 677, 683 f., 759, 887 f.). Außerdem berichtet er über Spaziergänge (i, 858, 962), Kaffeegärten (I, 860; vgl. Anm. 4), Besuch von Hochzeiten in der Stadt (vgl. Anm. 54), vom Besuch der Synagoge (I, 882-887). 6 ' Zum Beispiel als er sich 1758 einen perspektivischen Kasten zum dreidimensionalen Betrachten von Bildern baute (I, 685). Die Fontänen in Königsberg regten ihn dazu an, sich eine kleine Zimmerfontäne zu konstruieren. »Der Umstand, daß ich mich damals in einer Stadt befand, die voll war von Handwerksbetrieben jeglicher Art, die imstande waren, alles herzustellen, was man ihnen nur in Auftrag gab, verstärkte diese meine Absicht noch mehr.« (i, 866). Technische Geräte konnten bei ihm eine ebenso große Begeisterung wecken wie Bücher. 1758 sah er in Königsberg erstmals optische Instrumente: »[...] ich weiß nicht, war ich auf der Erde oder anderswo in den Minuten, als er mir seine verschiedenen Sachen und Instrumente zeigte, die ich noch niemals gesehen hatte. Seine [...] Mikroskope [...] versetzten mich in Entzücken [...]. Ich war wahrhaft außer mir vor Freude und Vergnügen [...].« (i, 686 f.). Die Faszination durch die Technik hatte bei Bolotov ebenso wie seine GartenbauLeidenschaft ganz im Stil des 18. Jahrhunderts zugleich ernste und spielerische Züge. Naturwissenschaftliches Interesse war gepaart mit spielerischem Vergnügen an Maschinen und jeder Art Illusion schaffender Künstlichkeit. In Königsberg genoß er es, wenn jemand in seinem perspektivischen Kasten eine wirkliche Landschaft zu sehen glaubte (I, 86;), und freute sich wie ein Kind, wenn es ihm gelang, mit seiner Zimmerfontäne durchs offene Fester ahnungslose Passanten naßzuspritzen (I, 869). Als er sich später in Rußland als Landschaftsgärtner betätigte, gehörten Echo-Experimente (IV, 31 ff., 44) und die Errichtung von Illusionslandschaften (III, 1 148 — 1 151; IV, 28 f., 31; vgl. die Potemkinschen Dörfer, sie sind etwa gleichzeitig) selbstverständlich dazu. 66 Er hatte eine besondere Erlaubnis, diesen Garten zu jeder Zeit zu besuchen (I, 976). Seinen Garten in Dvorjaninovo ließ er in einen »regelmäßigen«, d.h. französischen, umgestalten (I, 915 ; vgl. II, 315). Bolotov pflegte Landschaftsgestaltung sein Leben lang mit ernster Hingabe und

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Aus dem Leben in Schloß, Universität und Stadt nahm er viel Weitläufigkeit mit nach Hause (u. a. die Gewohnheit, regelmäßig Zeitung zu lesen 67)> das Wichtigste aber fand er dennoch in Büchern und — schließlich — in einem ganz und gar nicht glanzvollen Winkel der Universität.

II Es ist ein weiter innerer Weg, den Andrej Timofeevic in den knappen vier Königsberger Jahren zurücklegt. Er beginnt mit einer fast blinden Liebe zum Buch als solchem und endet mit einer differenzierten Auseinandersetzung mit den philosophischen und theologischen Problemen der Zeit. Die Umstände des Dienstes brachten es mit sich, daß er Königsberg erst verlassen mußte, als er in dieser Auseinandersetzung für sich zu einer Entscheidung gekommen war und auf seinem inneren Weg einen gewissen Endpunkt erreicht hatte. Sein wichtigster Wegweiser auf diesem Wege war er selber mit seiner unbändigen Wißbegier. Es gab aber auch Menschen, die ihm direkt oder indirekt halfen. Ebenso wie die, die ihn in die aristokratische Kultur und die Glanzseite der Universität einführten, traf er diese Vermittler literarischphilosophischer Bildung im Dienst oder durch den Dienst. Nur waren es diesmal nicht Menschen, die dienstlich und herkunftsmäßig über ihm standen, sondern untergeordnete, weniger vornehme: die deutschen Kanzlisten, mit denen er in einem Zimmer arbeitete, und zehn russische Studenten, die 1759 auf Anforderung Korffs aus Moskau geschickt wurden. 6S Die relativ gebildeten69 deutschen Kanzlisten halfen ihm vor allem in seiner ersten Königsberger Zeit, sich in der Welt der Literatur zurechtzufinspielerischer Leichtigkeit als Kunst, die, ermöglicht durch adelige ökonomische Unabhängigkeit und herrenmäßige Fühllosigkeit gegenüber der N o t der Bauern, das neue Verhältnis des 18. Jahrhunderts zur Natur zum Ausdruck brachte. Die wichtigste Veränderung vollzog sich 1784, als er, dem Zeitgeschmack folgend, daran ging, seine »regelmäßigen« Gärten zu »unregelmäßigen«, »natürlichen«, d. h. englischen Gärten umzugestalten (III, ι 183). 67 68

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Königsberg: I, 700, 961. Rußland: z.B. III, 651, 824; IV, 237, 245. Eigentlich hatten zwei von ihnen Bolotovs Arbeit als Ubersetzer und Dolmetscher übernehmen sollen, aber alle hatten dafür zu wenig Sprechpraxis und setzten ihr jeweiliges Studium fort (I. 937, 938 f.). Diese Studenten, die auf staatlichen Befehl nach Königsberg kamen, waren mindestens z.T. nichtadeliger Herkunft, nämlich Popensöhne (i, 985). Die von Bolotov betreuten adeligen Studenten (vgl. Anm. 59 und 60) wurden von ihren Familien geschickt. Bolotov vergleicht die unteren russischen und deutschen Kanzleibediensteten: »Was die übrigen unteren Kanzleibediensteten betrifft, so lohnt es der Mühe nicht, sie einzeln zu erwähnen. Alle waren sie unsere üblichen russischen Amtsschreiber, alle Säufer und Taugenichtse, und unter ihnen war nicht einer, der auch nur geringer Auf-

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den. Zunächst ganz äußerlich: sie zeigten ihm den Weg zum Buchladen, 7 0 zur privaten Leihbücherei, 7 1 zur Bücherauktion. 7 2 Sie halfen ihm aber auch geistig. U n d diese H i l f e brauchte er nötig, denn er hatte bisher gelesen, was immer ihm in die H ä n d e kam, und entsprechend zufällig w a r seine Kenntnis der Literatur. 7 3 A l s er sich plötzlich in einer so großen Buchhandlung fand, wie er sie noch nie gesehen hatte, geriet er in eine A r t Freudenrausch. 7 4 D o c h bald empfand er Ratlosigkeit. D e r deutsche Kanzlist half

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merksamkeit würdig gewesen wäre; daher werde ich über sie, die nur Verachtung verdienen, auch schweigen. [...] Ganz anders waren die Deutschen, meine Genossen. Zwar hießen auch sie Kanzlisten, aber sie hatten mit unsern Schreibern nichts gemein. [...] Sie alle waren, so als wären sie besonders ausgewählt, Menschen mit gutem Benehmen und einem liebeswerten Charakter, und alle waren zu mir sanft, freundlich und entgegenkommend, und ich kann sagen, daß mir ihre Gesellschaft großen Nutzen brachte. Denn sie halfen mir nicht nur, die freie Zeit mit angenehmen und verständigen Gesprächen zu verbringen, sondern einige von ihnen waren auch recht gebildet und belesen, so daß ich mir zum Nutzen von ihnen viele Kenntnisse erwarb [...].« (i, 748). »Einer meiner deutschen Genossen nahm es auf sich, mich dorthin zu führen und mir jene entlegene und mir unbekannte Gasse zu zeigen, wo er sich befand.« (I, 762) War es Härtung oder Kanter? Vgl.Gause, Stadt Königsberg (Anm. 3), S. 233 — 235. »>Bei uns hier gibt es ein Haus, dessen Herr eine sehr große Menge der besten Bücher jeder Art hat und sie jedem zu lesen gibt, der möchte und zwar die, die derjenige wünscht. Er selbst aber nimmt dafür nur ein ganz geringes Entgelte« (I, 820 f.). »Und da jener Preuße eine sehr große Menge Romane hatte und darunter alle besten und berühmtesten waren [...]. Mein Soldat mußte oft Bücher holen, und bald kam es so weit, daß sich nicht nur die Deutschen, meine Genossen, sondern auch der Besitzer der Bücher nicht genug wundern konnte, wie schnell ich sie durchlas. Und schließlich traute er mir so weit, daß er sich nicht scheute, mir ein ganzes Dutzend auf einmal zu schicken, die viel mehr wert waren, als ich Pfand hinterlegt hatte. [...] Ich aber erhielt dadurch den Vorteil, daß ich aus der Menge der mir zugesandten Bücher auswählen konnte [...].« (I, 824). »»[...] daß ich um diese Zeit begann, meine Bibliothek schon sehr zu vergrößern. Dazu veranlaßte mich hauptsächlich der Umstand, daß ich erfuhr, daß man sie in Königsberg nicht nur durch Kauf in Läden erwerben kann, sondern auch auf sehr häufig stattfindenden Bücherauktionen und dort noch mit dem Vorteil, daß man sie um einen viel geringeren Preis bekommt und oft tatsächlich beinahe umsonst. Davon erfuhr ich von eben jenen meinen Genossen, den deutschen Kanzlisten. [...] Diese Stadt war voller gelehrter Leute und Bücherliebhaber, und da es nicht selten geschah, daß einer von ihnen starb [...] so gab das den Anlaß zum Verkauf der hinterlassenen Bücher auf dem Auktionsmarkt.« (I, 897 f.). Von der russischen Literatur erwähnt er nur für 1752 Sumarokov, Aristona (i, 200) und für 1756 Sumarokov, Chorev (I, 353). Vgl. dazu Rice, »The Memoirs« (Anm. 1), S. 30 ff.; zur westlichen Literatur s. Anm. 24, 36, 37, 39. »Der Tag, an dem ich dies erreichte, war für mich wahrhaft glückselig und äußerst denkwürdig; denn an ihm war es dem Schicksal genehm, mir zum ersten Male sozusagen die Pforte zum Tempel der Wissenschaften zu öffnen und mir ihre Reize zu zeigen. Ich kann nicht genug ausmalen, was für ein Entzücken mich ergriff beim Eintritt in den dortigen Buchladen. [...] Da ich niemals in anständigen und großen Buchläden

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ihm schließlich, einen ahnungslos zusammengekauften Bücherberg nach Qualität zu sortieren und verschaffte ihm einen gedruckten Ratgeber z u m A u f b a u einer Bibliothek, d. h. ein Verzeichnis der wichtigsten Standardwerke für alle Wissensgebiete, und empfahl ihm, mit der Lektüre von Romanen zu beginnen. 7 ! M e h r H i l f e braucht ein begabter Autodidakt nicht. Bolotov schränkte sich in allen Dingen der äußeren Lebensführung so weit wie möglich ein, um reichlich Bücher kaufen zu können, 7 6 und machte sich ans Lesen. Herbst 1758 datiert er als Beginn regelmäßiger und systematischer Lektüre. 7 7 Bis z u m Sommer 1759 hat er fast »alle besten und damals berühmtesten R o m a n e « durchgelesen. 78 Welche es waren, wissen w i r nicht, können nur vermuten, daß wohl noch Barockromane darunter waren, aber auch Werke wie Schnabels Insel Felsenburg umtaumelnde

Cavalier

und Der im Irrgarten

oder Gellerts Schwedische

Gräfin,

der Liebe

her-

noch nicht die

Romane Wielands (sie erschienen erst ab 1764). Möglicherweise waren auch ins Deutsche übersetzte Werke dabei. Die ausgedehnte

Romanlektüre,

meint der Memoirenschreiber Bolotov, habe ihm »vielfältigen N u t z e n « gebracht: eine enorme Bereicherung und Verfeinerung seiner Deutschkennt-

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77 78

gewesen war, erstaunte ich beim Anblick der schrecklichen Menge ungebundener Bücher. [...] Ich wußte nicht, wohin ich gehen und auf welches von ihnen ich meine Blicke wenden, welches ich zuerst und welches ich später betrachten sollte. Einige Minuten verbrachte ich gleichsam wie in Extase und betrachtete sie nicht, sondern verschlang sie alle mit meinen Augen. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich sie mir alle geraubt, so war ich hingerissen von diesem für mich ungewöhnlichen Anblick.« (i, 762). I, 81 s f-, 822, 823 f. Bolotov lebte von seinem Sold, der sich schon während des Feldzuges auch bei bescheidener Lebensführung als unzureichend erwies. 1758 mußte der Unterleutnant, weil ihm Geld für Pferd und Schlitten fehlte, mit den Soldaten zu Fuß gehen. Zusätzliche Einkünfte und Naturalien aus dem heimischen Besitz brauchte er dringend. Sie wurden ihm in großen Abständen von einem leibeigenen Bauern überbracht (i, 625 — 631, 972 f.). Während der Zeit in Königsberg verkaufte er sehr bald seine Pferde, die er als Ubersetzer nicht brauchte. Er war froh, daß seine leibeigenen Diener sich selbst ernährten bzw. kaum Unterhalt kosteten (I, 812 f.). Eine kleine Nebeneinnahme verschaffte er sich durch das Ubersetzen von Pässen (i, 973). »Aber all das zusammen mit dem Sold und den Rationen reichte mir kaum hin zur Beschaffung von Kleidung und Schuhwerk und zum Kauf von Büchern [...].« (I, 974) Der Mittagstisch bei Korff war für Bolotov eine wichtige finanzielle Hilfe. Um Bücher kaufen zu können, schränkte er sich u. a. im Verzehr von Obst ein, aber auch bei Gasthausbesuchen und ähnlichen Anlässen (i, 814). Wie knapp seine finanziellen Mittel in Königsberg waren, zeigte sich 1762, als er nach Petersburg versetzt wurde. Er hatte kein Geld, sich eine neue Uniform machen zu lassen, und lieh sich das Geld von seinem Leibeigenen, der in Königsberg einen Pferdehandel betrieben hatte (II, 139 f.). Vgl. Anm. 8 und 19. 1,823. L825.

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nisse, viel Weltkunde und schließlich, als das Wichtigste, die Ausbildung seiner Empfindungsfähigkeit: 7 ' Was mein Herz anbetrifft, so erfüllte es sich durch die viele Lektüre über und über mit so zärtlichen und eigenen Empfindungen, daß ich deutlich in mir eine große Veränderung empfand und mich gleichsam ganz neu geboren fühlte. 80 Bolotov hatte vor Königsberg nur wenig westliche erzählende Literatur gelesen. 81 Einzelnes, wie etwa Fénelons Abenteuer

des Telemach112

hatte ihn

stark beeindruckt. A b e r es w a r doch nur jeweils eine kurze Zeit, die von solcher Lektüre ausgefüllt und beeinflußt wurde, auch fiel sie noch beinahe in seine Kindheit. Ü b e r längere D a u e r konnte er nur in der Einsamkeit von Dvorjaninovo lesen, und was er dort neu aufnahm, waren Heiligenviten. A u s ihnen hat er nach eigenem Bekunden eine starke moralische K r a f t zu einer frommen Lebensführung empfangen, 8 5 seine Empfindungsfähigkeit konnte er an ihnen kaum bilden. 8 4 D i e W i r k u n g seiner sich kontinuierlich über beinahe ein Jahr erstreckenden Romanlektüre hat er deshalb sicher nicht mit zu starken Worten beschrieben. Ausbildung und Reflexion der Empfindungsfähigkeit bedeutete in der Tat eine tiefgreifende Verwandlung und - man muß sagen -

Verwestlichung. 8 '

Im Sommer 1759 w a r dieser Vorgang zu einem gewissen Abschluß gekommen. Die Gattung R o m a n war, jedenfalls im Moment, erschöpft, so7

> 1,826. I, 827. 81 Vgl. Anm. 24, 36, 3/, 39. 82 1749 in St. Petersburg: »Ich kann nicht genügend ausdrücken, was für einen großen Nutzen es mir gebracht hat ! Unser Lehrer nötigte mich manchmal, es zum Sprachelernen [...] zu lesen, aber ich verstand es auf Französisch wenig. Wenigstens aber begriff ich, was es damit auf sich hatte und nachdem ich von ich weiß nicht wem eine russische Ausgabe ergattert hatte, konnte ich mich daran gar nicht sattlesen. Der süße poetische Stil fesselte mein Herz und meine Gedanken und vermittelte mir Geschmack an Werken dieser Art, machte mich begierig auf Lektüre und weitere Kenntnisse. [...] Mit einem Wort, dieses Buch diente als Grundstein für das Fundament meiner ganzen zukünftigen Gelehrsamkeit [...].« (i, 108) Vgl. Anm. 25. 83 »Diese Lektüre war mir ebenso vergnüglich wie nützlich. Sie säte in meinem Herzen die ersten Samen der Liebe und Ehrfurcht vor Gott und der Achtung vor der christlichen Religion, und nachdem ich das Buch durchgelesen hatte, wurde ich viel frömmer als vorher.« (I, 233). 84 Denn ein derartiges Interesse an der menschlichen Persönlichkeit ist der alten orthodoxen Spiritualität fremd, die eine tiefe Kenntnis der menschlichen Seele niemals mit psychologischem Interesse zum Selbstzweck macht. Ich behandele die Problematik genauer in einer Studie über geistliche Briefe, die in Kürze escheinen wird. 8 ' In Parenthese sei angemerkt, daß Bolotov hier einen Prozeß durchmacht, der sich gleichzeitig in anderer Form in der russischen Poesie — die er noch nicht kannte — vollzog. Die 50-60er Jahre brachten die Ausbildung des »räsonnierenden empfindsamen Helden« {Istorija russkoj poézii T. I. Leningrad 1968, S. 103). 80

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wohl hinsichtlich ihres äußeren Bestandes als auch wohl ihrer inneren W i r kung. D e r junge M a n n suchte nach einer anderen A r t Lektüre. D e r Zufall spielte ihm Sulzers Werke »über die Schönheit der N a t u r « in die H a n d . Dies ist der Titel, den Bolotov n e n n t . u E r meint damit w o h l Sulzers Versuch einiger moralischer

Betrachtungen

Jahre 1745 und die Unterredungen

über die Werke der Natur

aus dem

über die Schönheit der Natur aus dem Jah-

re 1750. D e r durch die Romanlektüre sensibilisierte Bolotov hat die Werke begierig gelesen und w a r tief beeindruckt: Ich hatte kaum zu Ende gelesen, als sich [...] meine Augen gleichsam auftaten und ich die ganze Natur mit völlig andern Augen zu betrachten und dort Tausende von Annehmlichkeiten zu finden begann, wo ich bis dahin nicht die geringsten bemerkt hatte

Die W i r k u n g dieses Vorgangs, die der alte Bolotov mit einem feierlichen Kirchenslawismus unterstreicht, ist ungeheuer und hält das ganze Leben an. 88 1759 geht sie in drei Richtungen: Bolotov liest weitere derartige Werke. Daneben wendet er sich der Naturkunde b z w . Naturwissenschaft zu. U n d schließlich versucht er, seine Naturempfindungen in Gedichten auszudrükken. 8 ' Beinahe von selbst versteht sich, daß er Sulzer auch ins Russische übersetzt. 9 0

86

»[...] überdies fielen mir zufällig die beiden Büchlein des Herrn Sulzer in die Hände, die dieser berühmte Autor über die Schönheit der Natur schrieb.« (i, 862) - Ich zit. das Werk von Johann Georg Sulzer im folgenden nach der Ausg. Berlin 1750, in der der Versuch in zweiter Aufl. zusammen mit den neuen Unterredungen erschien, und zwar mit getrennter Paginierung.

M

1

8é3

'

»Die darin enthaltene Materie war für mich ganz neu, aber sie wurde mir so lieb, daß ich ganz gefesselt von ihr war. Mit einem Wort, diese beiden kleinen Büchlein hatten auf mich eine Wirkung, die sich auf fast alle Tage meines Lebens [na vse poeti dni iivota moego (Hervorhebung von mir. — A.R.)] erstreckte, und waren die Grundlage einer großen Veränderung, die sich danach in allen meinen Empfindungen vollzog. Sie begannen als erste, mich mit dem wunderbaren Bau der ganzen Welt bekannt zu machen und mit allen Schönheiten der Natur, die mir später so viele angenehme Minuten im Leben bescherten und zum Anlaß jener zahllosen unschuldigen Vergnügungen dienten, die später einen bedeutenden Teil meines Wohlbefindens ausmachten.« (I, 862 f., ähnlich I, 960). 8 ' »[...] in mir flammte das brennende und unersättliche Verlangen auf, mehr Bücher dieser Art zu lesen und von Stund an den ganzen Bau der Welt mehr zu erkennen.« (i, 865). 90 II, 66. — Brokgauz-Efron (Anm. 1), T. X I I A, Sp. 720 erwähnt folgende Übersetzung: Razgovory o krasote estestva. S.-Peterburg 1777. Ich nehme an, daß dies nicht Bolotovs Ubersetzung ist. Denn wenn er von Sulzers Werk spricht, übersetzt er »Natur« mit »natura«, so I, 862, 960; II, 66. Gelegentlich spricht er auch von »priroda«, z.B. I, 862. Das Substantiv »estestvo« dagegen ist mir bei ihm nicht aufgefallen, wohl aber das zugehörige Adjektiv, z.B. »estestvennye nauki«, I, 863.

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A l s er 1762 nach H a u s e zurückkehrte, zeigte sich sogleich, daß er alles mit anderen A u g e n sah. E r w a r jetzt imstande, Landschaft wahrzunehmen, und fragte sich mit Erstaunen, w a r u m sein H a u s und die seiner Verwandten so gebaut waren, daß man aus dem Fenster die herrliche Gegend gar nicht sehen konnte, sondern nur einen Blick auf H o f und Tor hatte. " Die Schönheit der N a t u r w a r für Bolotov etwas, an dem der Mensch mitwirken konnte, z. B. indem er Gärten, Parks und Grotten anlegte. 92 Die Schönheit der N a t u r trieb ihn zu genauem Beobachten, Beschreiben, Zeichnen, auch z u m E x p e r i m e n t i e r e n . " M i t der 1765 in Petersburg gegründeten »Freien ökonomischen Gesellschaft« trat er 1766 in Kontakt. 9 4 1768 bereits wurde er zum Mitglied g e w ä h l t . " E r begann für sich selbst ein agronomisches Tagebuch zu führen, das die Grundlage späterer Publikationen w u r d e . ' 6 1778 bis 1789 gab er eine agronomische Zeitschrift heraus (1778 — 79 unter dem Titel Landbewohner,

91

91

"

54

" '6

97

dann 1780 — 89 unter dem Titel Ökonomisches

Magazin).97

»Auf diese Weise war mein Herrenhaus auf allen drei Seiten von dichten und undurchdringlichen Gebäuden umgeben. Was die vierte anbetrifft, so wurde es von dieser Seite von dem anderen sogenannten hinteren Hof durch ein einfaches Gitter abgetrennt [...].« (II, 319). »[...] das Haus des erwähnten General Nikita Matveevic Bolotov befand sich gerade hinter dem Hügel und war fast ganz von einem alten Garten umgeben. [...] Der Platz, den er für das Haus ausgewählt hatte, war ebenfalls nicht einer von den besten, und die Zimmer waren so versteckt gelegen, daß aus ihnen unsere ganze herrliche Lage überhaupt nicht zu sehen war. Und unsere Altvorderen schätzten es irgendwie, nur auf ihren Hof und das vordere Tor zu schauen.« (II, 329). Vgl. oben Anm. 66. Zu Grotte s. III, 1179. Zum Beispiel untersuchte Bolotov 1766 das Verhältnis von Säweise, Bodenbeschaffenheit und Ernteertrag beim Haferanbau (II, 624), oder er bemühte sich jahrelang, neue Tulpensorten zu züchten (II, 764 f.)· Sein neues Verhältnis zur Natur und zur Landwirtschaft charakterisiert er so: »Und da ich meine ganze Wirtschaft nicht blind betrieb und nicht nach dem alten Schlendrian, sondern mit interessanten Experimenten, Beobachtungen und Notizen verband, so bereitete sie mir viele angenehme Vergnügungen.« (II, 60S f.). Er beantwortete (mit Hilfe seines Verwalters) schriftlich die 65 Fragen, die im ersten Tl. der Trudy ékonomiceskago obícestva abgedr. waren. Dazu fertigte er Zeichnungen aller landwirtschaftlichen Werkzeuge an (II, 615 — 618). Diese Arbeit Bolotovs ist auch ins Deutsche übersetzt: »Beschreibung der Beschaffenheit und Güte des Bodens in der Gegend von Kaschira, nebst andern dahin gehörigen Bemerkungen zur Antwort auf die vorgelegten Fragen«. In: Abhandlungen der fireyen ökonomischen Gesellschaft in St. Petersburg zur Aufmunterung des Ackerbaues und der Hauswirtschaft in Rußland vom Jahre 1766. Zweyter Thl. Aus dem Russischen übers. St. Petersburg, Riga, Leipzig bei J. Fr. Hartknoch 1773; Nachweis bei H. L. CHR. BACMEISTER: Russische Bibliothek. Bd. II. St. Petersburg, Riga, Leipzig 1774, S. 427. II, 6 6 7 f. 11,6x8. Einige Belege aus den Memoiren: Sel'skoj iitel', gedr. von Ridiger, III, 754 — 758, 765 f.; erstes fertiges Exemplar, III, 773; Reaktion der Leser, III, 776; Ende, III, 819. Ekono-

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Außerdem hinterließ er ein großes Manuskript über die A p f e l - und Birnensorten seiner Heimat. ' 8 Bolotov kannte keinen Gegensatz zwischen Nützlichkeitserwägungen, " ästhetischem Vergnügen 1 0 0 und frommer Andacht. 1 0 1 Sich an der Schönheit der N a t u r zu ergötzen, nennt er immer wieder eine »selige und nützliche Wissenschaft« 1 0 2 oder eine »selige Kunst«. 1 0 3 Diese Kunst ist wie andere Künste lehrbar, man kann sie üben. Bolotov hat sie später seinen Kindern, vor allem dem Sohn vermittelt, 1 0 4 und er hat 1788 ein Büchlein geschrieben — Versuch einer Anleitung lichkeiten

der Natur.™'

zur Beschreibung

der Schönheiten

und

Annehm-

M a n sieht, die Sulzer-Lektüre in Königsberg hat

vielfältige und reiche Frucht getragen. miéeskij magazin, gedr. von Novikov, III, 860; Bolotovs Quellen, III, 916; Reaktion der Leser, III, 1113, IV, 65; 2. Aufl. der beiden ersten Jahrgänge, IV, 195; Arbeit an der Zs., IV, 502, 506; Ende der Zs. im Zusammenhang mit den politischen Schwierigkeiten Novikovs, IV, 524 f., 533. '8 Darstellungen und Beschreibungen der verschiedenen Apfel- und Birnensorten, die in den Gärten von Dvorjaninovo und z. T. auch in anderen Gärten wuchsen·, gezeichnet von Andrej Bolotov 1797—1800. Der Brokgauz-Efron charakterisiert dieses Werk folgendermaßen: »Dies ist ein bemerkenswertes Werk der russischen Pomologie, dessen Bedeutung so groß ist, daß es 1861 auszugsweise im Zumal sadovodstva abgedr. wurde.« (T. IV, 1891, S. 318 f.). " Vgl. Anm. 93. 100 Etwa beim Anlegen einer Sammlung verschiedenfarbiger Sandsorten, III, 1 14$ f. 101 Der Garten ist für ihn der bevorzugte Ort des Gebets, z.B. 1763, II, 411; 1764, II, 537; die Schönheit der Natur regt ihn an, geistliche Lieder zu verfassen, 1793, IV, 1 090 — ι 097, bes. ι 093. 102 Zum Beispiel II, 59. 103 Zum Beispiel II, 66; IV, 293. Sulzer selbst spricht von den »seligen Würkungen« der Betrachtung der Natur, Unterredungen (Anm. 86), S. X X V I I . 104 Zum Beispiel IV, 293, 315. I0! IV, 303. Das Werk blieb ungedr. Der Einfluß Sulzers ist auch bereits im Titel eines anderen ungedr. gebliebenen Werkes zu erkennen: Kunstkamora duievnaja (Kunstkammer der Seele), III, 109, vgl. unten Anm. 143. Zwar ist dieser Titel auch eine Anspielung auf das berühmte 1728 in St. Petersburg eröffnete erste naturwissenschaftliche und historische Museum (vgl. Krasnobaev, Ocerki (Anm. 9.), S. 99), zugleich aber auf Sulzer: »Vor die schwachen Seelen hat GOTT ebenso gesorget, wie vor die hohen Geister. Hat er einem Leibnitz das Reich der Wahrheiten, einem Neuton das Reich der Sterne zu ihrer Belustigung vorgelegt: so hat er auch vor andere Geister solche Sachen angeordnet, aus welchen sie ein ihrer Natur angemessenes Vergnügen haben können; wie er auch die verächtlichen Würmer eben so wohl speiset, als die Löwen. Die Welt gleichet einer Kunstkammer, da die Merkwürdigkeiten in solcher Verschiedenheit sind, daß ein jeder Mensch etwas zu seiner Belustigung findet.(Sulzer, Versuch [Anm. 86] S. 37) 1793, in einer Zeit, in der Bolotov viele Gedichte und Lieder verfaßte, schrieb er auch ein langes Poem über »die Kunst, sich an den Schönheiten der Natur zu erfreuen« (IV, 1105). Es blieb zu Lebzeiten Bolotovs ungedr. und wurde erst 1897 veröffentlicht; Charakteristik dieses Poems und bibliographische Angaben bei Rice, »The

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1759 bewirkte sie zugleich den Beginn seiner Selbstfindung: Diese Büchlein waren gleichsam wie eine Lunte, die die in meinem Herzen nistende und mir selbst bis dahin unbekannte Lust zu allen physischen und anderen sogenannten Naturwissenschaften entzündete. 106 D e r Prozeß der Selbstfindung vollzog sich jedoch nicht nur auf dem durch Sulzer gewiesenen Wege. Die erste allgemeine Einführung in die A u f k l ä rungsphilosophie hat Bolotov aus Gottscheds frühen Werken bezogen. 1 0 7 Danach las er W o l f f und eine »Menge« anderer Werke, die er einzeln nicht nennt, unter ihnen auch »freidenkerische«. 1 0 8 A b e r während Sulzer in ihm auf eine verwandte Neigung traf und sie zu feuriger Begeisterung entzündete, hat Bolotov die Linie Gottsched-Wolff offenbar nur mit Interesse, wenn auch sehr weit und konsequent verfolgt. Moralische Schriften dagegen haben ihn sofort fasziniert und tief beeindruckt. Namentlich nennt er zwei

Memoirs« (Anm. 1), S. 39 f. und S. 43, Anm. 11. Möglicherweise gibt es weitere ungedr. Werke, die von Sulzer beeinflußt sind. Ich habe in diese Betrachtung nur die Werke einbezogen, die Bolotov in seinen Memoiren erwähnt. Sein ungedr. Nachlaß ist aber viel größer. Vgl. dazu Rice, »The Bolotov Papers« (Anm. 1), S. 127. 106 1,863. 107 Erste Gründe der gesummten Weltweisheit. Leipzig 1733,2 Bde. »Nicht wenig aber verdanke ich in meinem Leben [.,.] dem berühmten Leipziger Professor Gottsched. Dieser machte mich durch seine ersten Grundlagen der Philosophie nicht nur beiläufig mit allen höheren philosophischen Wissenschaften bekannt, sondern flößte mir als erster Lust zu diesen hohen Kenntnissen ein und bereitete mir mit seinen erwähnten Büchern den Weg zu weiteren Bemühungen in diesem Bereich der Wissenschaft.« (i, 959)·

»Von allen philosophischen Büchern, die ich bis zu dieser Zeit las, gefiel mir keines so wie Gottscheds erste Grundlagen der ganzen Philosophie. Dieses Buch enthielt eine kurze Darstellung oder Kurzfassung der ganzen sogenannten wölfischen Philosophie, die in der damaligen Zeit überall in allgemeinem Gebrauch war und die bei all ihren Unzulänglichkeiten damals für die beste gehalten wurde. Deshalb lehrten sie auch in Königsberg alle Professoren und Lehrer der Jugend, so daß sie, leider auch zu uns herübergekommen, auch bei uns bis heute herrscht. Und da die erwähnten Büchlein mir wegen ihrer Kürze und Klarheit so gefielen, daß ich nicht zögerte, sie sogar zu kaufen, sog ich mich, nachdem ich sie mehrere Male von vorn bis hinten durchgelesen und einen so beträchtlichen Begriff von dieser Philosophie bekommen hatte, daß ich mit Verständnis auch andere ähnliche Bücher lesen konnte, dadurch unmerklich voll mit Meinungen, die in allem mit dieser Philosophie übereinstimmten.« (I, 108

983). »Den ersten Anlaß dazu gab die wölfische Philosophie, mit der ich [...] eher bekannt wurde, als ich wußte, daß es auf der Welt Crusius gibt; denn sobald ich durch Lektüre dieser wölfischen Philosophie fähig geworden war zum Lesen und Verstehen auch von Büchern, die die wichtigsten und höchsten Materien enthielten, und zu derartiger Lektüre sehr große Lust bekommen und begonnen hatte, mir solche [Bücher] zum Lesen zu beschaffen und auszuwählen, so fielen mir irgendwie unter einer Menge anderer auch ausgesprochen freidenkerische Bücher in die Hand [...].« (II, 59 f.).

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Autoren: Johann Adolph Hofmann und den heute mehr im Zusammenhang der Literaturgeschichte bekannten Dänen Ludwig von Holberg. Hofmanns Werk Von der Zufriedenheit

las er noch 1759. 1 0 9 Mit den moralischen Wer-

ken Holbergs — wahrscheinlich den 1748 — 54 erschienenen Episteln

— so-

wie weiteren ähnlichen Werken anderer Autoren in den moralischen Wochenschriften scheint er ab 1760 bekannt geworden zu sein. 1,0 Wie schon bei Sulzers Frühschrift bleibt ihm das Gelesene kein fremder Lernstoff, er beIO

' Johann Adolph Hofmann: Zwei Bücher von der Zufriedenheit. Hamburg 1722. Vgl. dazu H. M. Wolff: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung. München 1950, Kap. 2, S. 49 — 65. — Bolotov wurde das Buch vom Apotheker der russischen Feldapotheke, einem gebürtigen Revaler, empfohlen: »Er [...] empfahl mir besonders eines und lobte es mir so sehr, daß ich es mir noch selbigen Tages im Buchladen kaufte. Diesen Tag segne ich bis heute und danke dem Schicksal für das, was damals mit mir geschah, denn dieses Buch diente mir später als Grundlage meines ganzen danach folgenden guten philosophischen Lebens und war gleichsam das Fundament, auf dem sich das ganze Gebäude meines Friedens und Glücks in diesem Leben zu gründen begann. Dieses denkwürdige Buch war das in der Welt bekannte und so berühmte Werk des Herrn Hofmann über die Seelenruhe, und es gefiel mir so sehr, daß ich es mehrere Male von Anfang bis Ende durchlas und dadurch viel echt philosophischen Geist aufnahm, was auch die Ursache war, daß ich mich von dieser Zeit an mehr darum bemühte, gute moralische [Bücher] zu lesen und mir zu beschaffen, die später alle meine Kenntnisse und Wissenschaften so sehr beförderten.« (i, 896).

110

Das Werk wurde erstmals 1741 /42 von Sergej Volckov ins Russische übers., aber erst »zwischen 1762 und 1796 in mehreren Auflagen, z.T. in einer neuen Übersetzung gedruckt«. (Rothe, Religion und Kultur [Anm. 10], S. 77). Durch seinen Aufenthalt in Königsberg nahm Bolotov, wie man an den Beispielen Hofmann und Sulzer (vgl. Anm. 90) sieht, westliche philosophische Werke auf, lange bevor sie in Rußland in Ubersetzung gedruckt wurden. In dieser Zeit waren derartige Werke nur wenigen Russen bekannt, nämlich solchen, die durch Aufenthalte im Westen und / oder besondere Positionen in Rußland Gelegenheit hatten, westliche Literatur zur Kenntnis zu nehmen. Der Hofmann-Übersetzer etwa war Sekretär und Übersetzer bei der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. »Bei allem diesem half mir sehr viel, daß mir gute moralische Werke in die Hände fielen und unter anderem die moralischen Betrachtungen des Herrn Holberg. Diesem berühmten dänischen Baron und Verfasser bin ich in meinem Leben sehr viel verpflichtet. Er hat fast als erster mir durch seine Werke die Lust zur Morallehre eingeflößt und zog mich so stark in ihren Bann, daß ich schon nach seinem Beispiel auch selber Morallehrer werden wollte. Dafür bewahre ich diesem lange verstorbenen Manne bis heute eine besondere Verehrung und schaue mit besonderen Empfindungen auf sein Porträt, das ich in einem meiner Bücher gefunden habe.« (i, 959). »Viele und verschiedene Wochenschriften, die in Deutschland zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten herausgegeben wurden, fielen mir ebenfalls in die Hände und trugen nicht nur dazu bei, meine Neigung zur Moralphilosophie zu verstärken, sondern machten mich auch mit der Ästhetik bekannt, legten das Fundament für guten Geschmack und bildeten in vielen Punkten meinen Geist wie mein Herz.« (I) 959)· - Er versuchte, Teile zu übersetzen, und beschloß, selbst dergleichen zu unternehmen. (Ebd.) Diesen Plan hatte er 1789 noch einmal gefaßt, aber nach einigen Vorarbeiten wieder aufgegeben (IV, 533).

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zieht es gleich auf sich, möchte auch Morallehrer w e r d e n 1 , 1 und beginnt damit, sich selbst zu erziehen: [Die Bücher] brachten mich dazu, mich selbst zu betrachten und alle meine Seelenbewegungen und Leidenschaften zu beobachten, und da ich unter ihnen in mir eine besondere Neigung zum Zorn und zum Aufbrausen fand, bemühte ich mich besonders, mir diese abzugewöhnen und in diesem Falle eben die Regeln zu beachten, die in den Büchern vorgeschrieben waren. Derartige Ü b u n g e n waren keineswegs nur Spielereien. A l s H e r r von zwei leibeigenen Bedienten versuchte Bolotov bald in einer kritischen Situation seine Selbstbeherrschung unter Beweis zu stellen. 115 E s zeigte sich, was Philosophie vor allem für ihn w a r : Lebenshilfe. 1760 datiert der Memoirenschreiber als Beginn seines »philosophischen Lebens«. " 4 D a m i t meint er nicht so sehr ein Leben, in dem er viele philosophische Werke las (obwohl auch das zutraf), sondern eines, in dem er kritische Situationen mit H i l f e der Philosophie bewältigte. Philosophisch leben heißt für ihn: die N o r m e n seines Verhaltens aus der Philosophie ableiten und sie erfüllen. Dabei bleiben ihm die N o r m e n nichts von außen Vorgegebenes, nicht Sätze aus einem fremden Lehrbuch. E r verinnerlicht sie vielmehr so weit, daß sie schließlich aus seinem eigenen Innern kommen und er sich dann die »Regeln« für sein Verhalten selbst gibt: Ich nahm mir vor, jeden mir unterkommenden guten Gedanken und jede gute Empfindung meiner Seele auf einzelne Zettelchen zu schreiben und mir selbst jeden Tag etwas vorzuschreiben, das ich erfüllen mußte oder nicht vergessen durfte. Und da ich mich hierin fast während der Zeit eines ganzen Jahres übte, sammelte sich eine solche Menge dieser beschriebenen Papierchen an, daß ich, nachdem ich sie alle ins Reine geschrieben hatte, aus ihnen allen ein ganzes Buch zusammenstellen und binden lassen konnte, das ebensoviele mir selbst vorgeschriebene Regeln enthielt wie Tage im Jahr.' 1 ' Bolotovs Bemühungen um die Philosophie sind bis zum Herbst 1760 ein einsames Studieren im stillen Kämmerlein. N u r selten hat er einen G e 111

Vgl. Anm. 110. 1,977Er ertappt seinen leibeigenen Diener dabei, wie dieser ihn bestehlen will, bezwingt seinen Zorn und begnügt sich mit einer ruhigen Ermahnung (i, 9/7 f.). Gemessen an den unbeschränkten Rechten des Herrn zur Bestrafung eines Leibeigenen ist das sehr viel; die Ständeordnung wird dennoch keinen Augenblick in Frage gestellt, denn Motiv des Verhaltens ist nicht Achtung vor einer allen Menschen eigenen Würde, sondern Selbstbeherrschung. Ein weiteres Beispiel für seine Fortschritte »in der Wissenschaft, sich selbst und seine Leidenschaften zu beherrschen« (I, 977), führt Bolotov I, 981 f. an. 114 »[...] ich bemühte mich [...] ein Leben zu führen, das meinen Jahren gar nicht entsprach, nämlich geradezu ein philosophisches [...].« (i, 976). " 5 1,98*.

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sprächspartner in diesen Dingen. M i t den deutschen Kanzlisten scheint er philosophische Gespräche nicht geführt zu haben. Einmal erwähnt er als Gesprächspartner den A p o t h e k e r der russischen Feldapotheke, einen gebürtigen Revaler. 1 , 6 Im Laufe des Jahres 1760 dann freundet er sich mit den zehn Moskauer Studenten an, die seit Herbst 1759 nach Königsberg kommandiert waren. " 7 Von zwei Philosophie-Studenten unter ihnen erfuhr er z u m erstenmal Details über die Philosophie an der Universität. N ä m l i c h , daß in den offiziellen Vorlesungen ausnahmslos Wölfische Philosophie gelehrt wurde, während ein gewisser Magister W e y m a n n privat die »neue crusianische Philosophie« 1 1 8 lehrte. Im Herbst 1760 machten ihn seine Landsleute mit Magister W e y m a n n bekannt, und er besuchte dessen Vorlesung bis z u m Ende seiner Königsberger Zeit Februar 1762.

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118

D e r erste und einzi-

Vgl. Anm. 109. 1 , 960 f. Vgl. Anm. 68 und 46. Zu russischen Studenten in Königsberg nach 1765 s. Gause, Stadt Königsberg (Anm. 3), S. 244. »[...] da sie schon an der Universität [d. h. Moskau] Philosophie studiert hatten, wählten sie auch hier diese selbe Fakultät, und nachdem sie mit einigen der hiesigen Professoren gesprochen hatten, begannen sie bei ihnen Vorlesungen zu hören, wie sie es getan hatten, als sie noch an der Moskauer Universität waren. So geschah es, daß jener Professor zwar, wie alle übrigen, Wolffianer war, aber unter seinen Schülern, den dortigen Studenten, einige waren, die heimlich bei dem erwähnten Magister Weymann jene neue crusianische Philosophie studierten [...] und daß diese, die sich mit unsern beiden Studenten bekannt gemacht und angefreundet hatten, so viel Gutes sowohl von dieser neuen Philosophie als auch von Weymann erzählten, daß sie auch in ihnen die Lust weckten, diese neue und so viel bessere und vorzügliche Philosophie zu studieren. Mit Hilfe jener wurden sie sogleich mit diesem Magister bekannt, und da dieser über solche neuen Liebhaber seiner Philosophie sehr froh war, lud er sie ein, des Abends zu ihm zu kommen, und nahm es gern auf sich, ihnen Privatvorlesungen zu halten, und wünschte nur, daß diese Sache heimlich vor sich ginge und so, daß es vor der Zeit jener Professor nicht erführe, bei dem sie bis dahin studiert hatten, damit er von ihm nicht irgendeine Bosheit erleiden könnte. Hierin willigten sie auch selbst gern ein.« (I, 985 f.; vgl. I, 984). Christian August Crusius: Anweisung vernünftig zu leben. Leipzig 1744, Ndr. in: Oers.·. Die philosophischen Hauptwerke. Hrsg. von G. Tonelli. Bd. 1. Hildesheim 1969. - Neuere Literatur: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 8. Berlin und New York 1981, S. 242 ff., und die Einl. von Tonelli in dem genannten Ndr. »[...] und wie unbeschreiblich erfreuten sie mich, als sie mir die Nachricht brachten, daß er es ihnen nicht nur erlaubte, sondern es sich als besondere Ehre anrechnen und sehr froh sein würde, wenn ich ihn meines Besuches würdigte [...]. Ich dachte nicht anders, als daß ich ein anständiges und gut ausgestattetes Haus vorfinden würde; aber wie erstaunte ich, als ich ein regelrechtes Elendsquartier im ersten Stock eines bescheidenen Häuschens vorfand und darin überall nur Spuren völliger Armut.« (i, 987) Einige Angaben zu Weymann finden sich bei Weiss, »Königsberg Kants« (Anm. 1), S. 59. - Nachdem Bolotov die Vorlesung lange Zeit heimlich während der Dienstzeit besucht hatte, erhielt er schließlich von seinem Vorgesetzten eine formelle Erlaubnis. (I, 988).

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ge akademische Lehrer Bolotovs in Königsberg (und damit in seinem Leben überhaupt) w a r also kein berühmter Professor, sondern ein Außenseiter, ein kleiner Magister, der seine Vorlesung in einer ärmlichen Hütte hielt. Bolotov kam zu ihm nicht unvorbereitet. E r hatte die Wölfische Philosophie studiert und weitgehend zu seiner Uberzeugung gemacht. Die von W e y m a n n vorgetragene antiwolffsche Philosophie des Leipziger Professors Christian August Crusius hat ihn dennoch sogleich angezogen. 1 2 0 E r studierte Crusius' Werke auch allein und wurde bald ein von W e y m a n n sehr geschätzter Schüler. 1 2 1 U b e r ein sehr freundliches, aber distanziertes Leh120

»Die Materie, über die zu sprechen ihnen damals oblag, war die allerfeinste und subtilste der ganzen Metaphysik. Soweit ich mich jetzt erinnere, war es über Zeit und Ort, und er behandelte sie ungeachtet ihrer Subtilität so gut, so verständlich und schmückte sie mit so vielen, sich auf beide Philosophien beziehenden Nebengedanken aus, daß ich ihm mit unbeschreiblichem Vergnügen zuhörte und von seiner Erlaubnis Gebrauch machend nicht müde wurde, ihn um des besseren Verständnisses willen bald nach dem einen, bald nach dem andern zu fragen. Und durch meine besondere Aufmerksamkeit ebenso wie durch mein Verständnis alles dessen, was er sagte, und die vollständige Beherrschung der deutschen Sprache gefiel ich ihm so, daß er, als wir weggingen und ihm dankten, mir sagte, wenn es mir nur angenehm wäre, würde er es als ein besonderes Vergnügen betrachten, wenn ich auch in Zukunft immer käme, um seine Vorlesungen zu hören, und daß er dafür nicht nur nichts fordern werde, sondern sich eine besondere Ehre daraus machen werde, mich die Philosophie zu lehren, die mir so lieb geworden sei.« (I, 987 f.).

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»Und Herr Weymann gewann mich so lieb, daß er mich für den besten von allen seinen Schülern hielt, der schneller und vollkommener als alle andern alles verstand; und er bemühte sich so sehr um Aufklärung meines Verstandes, daß ich sagen kann, daß ich diesem Menschen in meinem Leben sehr viel verdanke.« (i, 988). — Bei allen derartigen Äußerungen Bolotovs muß man sein sehr kräftiges Selbstbewußtsein in Rechnung stellen, das schon Weiss (»Königsberg Kants« [Anm. 1], S. 58) mit Recht belächelt hat. »Hierfür bin ich hauptsächlich Herrn Weymann verpflichtet, zu dem ich weiterhin fast täglich zu gehen pflegte und die von ihm vorgetragenen Vorlesungen nicht nur hörte, sondern es auch zuwege brachte, das, was er sagte, aufzuschreiben. Und ich schrieb sogar ganze Bücher. Er nahm mit uns die ganze Metaphysik durch und den größten Teil der Moral. Um darin aber so viel Fortschritte wie möglich zu machen, begnügte ich mich nicht mit den uns vorgetragenen Vorlesungen, sondern kaufte den ganzen philosophischen Kurs oder die ganze crusianische Philosophie, und nach diesen Büchern studierte ich auch zu Hause und befaßte mich damit in allen freien Stunden so viel und mit solchem Erfolg, daß selbst Herr Weymann sich nur darüber wundern konnte, daß ich mir aus dieser tiefsinnigen und hohen Philosophie so viel und in kurzer Zeit angeeignet hatte. [...] Mit einem Wort, mein Eifer war so groß, daß ich einige Teile davon, und zwar die, die mir die wichtigsten schienen, nämlich die neue Wissenschaft des Herrn Crusius über den menschlichen Willen oder die Thelematologie, um sie besser zu verstehen und zu behalten, sogar Wort für Wort auswendiglernte, aber auch damit noch nicht zufrieden, noch einen gewissen Teil in meine Muttersprache übersetzte und mich mit all diesem mit besonderem Eifer und Vergnügen einige Wochen hintereinander beschäftigte.« (II. 56 f.).

Andrej Bolotov

ΓΙ

3

rer-Schüler-Verhältnis ist die Beziehung zwischen beiden jedoch nie hinausgekommen.

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Bolotov hat die innere Krise, in die er im Verlauf seiner Phi-

losophie-Studien 1760 / 61 geriet, nicht durch Gespräche mit diesem verehrten Lehrer, sondern allein, vor allem durch Lektüre bewältigt. Erstaunlich ist, daß die Krise erst zu ihrem H ö h e p u n k t kam, als er bereits im Begriff war, sich unter Weymanns Anleitung von der Wölfischen Philosophie abzuwenden. Sie nämlich hatte den Anstoß zur Erschütterung seines Glaubens an die christliche O f f e n b a r u n g gegeben. 1 2 3 D e r Vorgang hat eine lange Vorgeschichte, die dem Memoirenschreiber im wesentlichen be122

123

Auch wenn Bolotovs Abschied von Weymann 1762 sehr bewegt war: Der Magister weigerte sich, sich den Unterricht bezahlen zu lassen. Mit Mühe brachte Bolotov ihn dazu, einen Pelzmantel zum Andenken anzunehmen. »Er küßte mich dafür und verabschiedete sich, während er die Tränen abwischte, die ihm aus den Augen rannen. So hatten wir uns aneinander gewöhnt, und so sehr war er mir die ganze Zeit über zugetan.« (II, 142). Uber die Bücher, die er im Anschluß an die Wölfische Philosophie las, (vgl. Anm. 108), sagt er: sie »begannen mir einige Zweifel an der Wahrheit der ganzen Offenbarung und der christlichen Religion einzuflößen und mich vom guten Wege abzubringen. Zu meinem besonderen Unglück waren sie vor allem von solchen Verfassern, die es verstanden, dem überall ausgestreuten Gift ein reizendes Aussehen zu geben und ihre giftigen und verderblichen Pillen, damit sie jedermann besser schlucken könnte, sozusagen mit Honig und Zucker zu umhüllen. Das aber bewirkte, daß ich, der ich mich bei meinem Wissensdurst mit übergroßer Gier an ihnen sattgelesen hatte, unmerklich auch sie geschluckt hatte und so viele, daß ich zuletzt in völligen Zweifel über die Religion verfiel und um ein Haar selbst zum völligen Deisten und Freigeist geworden wäre. Irgendwie hielt mich noch lange meine frühere Zuneigung zur Religion; aber da auch diese nicht lange standhalten und widerstehen konnte gegen die das alles widerlegenden philosophischen Scheinwahrheiten, mit denen ich mich vollgesogen hatte, so verfiel ich zuletzt in einen höchst qualvollen Zustand, den ich überhaupt nicht beschreiben und darstellen kann. Er war ein Mittelding zwischen Glauben und Unglauben und brachte mich nicht selten dahin, daß ich, wenn ich mich in Nachdenken darüber vertiefte, manchmal von solchem seelischen Leiden erschüttert wurde, daß ich fast meines Lebens nicht froh war und nicht wußte, was ich tun sollte: dem allen glauben, was man uns über die christliche Religion sagt, oder nicht glauben und all das für Fabeln, Erfindungen und List der Priester halten, wie es erwähnte Schriftsteller mir einzuflößen suchten. Dieser qualvolle Zustand dauerte, soweit ich mich jetzt erinnere, einige Wochen hintereinander, und ich brannte diese ganze Zeit gleichsam wie im Feuer und auf der Folter und kam nicht selten so weit, daß ich auf den Knien und mit zum Himmel erhobenen Händen aufs inständigste betete und meinen Schöpfer bat, mir in dieser Not zu helfen und mich auf irgendeine Weise aus diesem qualvollen Zustand herauszuführen.« (II, 60 f.). »Aber am allerwenigsten war mir damals bekannt, daß diese Philosophie viele Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheiten hatte: daß selbst die Fundamente, auf denen ihr ganzes Gebäude errichtet war, schwach und unsicher waren und daß sie überhaupt von der Art war, daß, solange ein Mensch, der ihr anhängt, ihr nur leichthin folgt und sich begnügt mit dem, was in ihr enthalten ist, er gut und außer Gefahr sein kann, sobald aber einer ihrer Anhänger seine Gedanken weiterführen und sich mehr

Adelheid

114

Rexheuser

wußt ist. 1 2 4 E r beobachtet rückschauend, wie seit seinem Eintritt in den aktiven Dienst sein Christentum sich in der puren Zugehörigkeit zur russischen orthodoxen

Kirche erschöpfte und, gedanklich nur

ansatzweise

durchdrungen, 1 2 5 auf dem Stand des Fünfzehnjährigen in Vergessenheit geriet. W i r können sehen, wie die Herauslösung aus der altrussisch-christlichen Kultur während des Aufenthaltes in Königsberg weiter befördert wird durch die Bekanntschaft mit der Petersburger Aristokratenkultur des Baron K o r f f , die westlich-säkular war, mochten K o r f f und sein Nachfolger Suvorov auch das feierliche Zeremoniell orthodoxer Gottesdienste gern öffentlich zur Schau stellen. , 2 Í Die Zeit in Königsberg gliederte sich für Bolotov nicht mehr wesentlich nach dem russischen Kirchenkalender, 1 2 7 sondern in das Wesen aller Dinge vertiefen möchte, er sehr rasch vom rechten Pfad abkommen und sich so weit verirren kann, daß er schließlich Deist, Freidenker und sogar Atheist wird und daß sehr viele im übrigen sehr verständige Leute durch sie wirklich solche Nichtsnutze wurden. [...] So wenig mir dieses bekannt war, so wenig wußte ich davon, daß vor einigen Jahren in der Welt eine neue, unvergleichlich bessere, gründlichere Philosophie aufgekommen war, die nicht nur überhaupt nicht schädlich war, sondern vor allen bisherigen noch den Vorzug hatte, daß sie jeden Menschen, der ihr anhing, auch wenn er nicht wollte, sondern fast gegen seinen Willen zu einem guten Christen macht, während im Gegensatz dazu die Wölfische auch einen guten Christen fast immer zu einem schlechten machte oder sogar zu einem Deisten und glaubensschwachen Menschen [...].« (1,983f.). 124 125

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127

II, 57-60. »[...] Sie wissen schon, daß ich schon als Kind zu lesen liebte und nicht nur zu lesen, sondern auch geistliche Bücher abzuschreiben und daß dies alles zur Folge hatte, daß ich vor dem Eintritt in den Dienst von der Religion schon mehr zu wissen glaubte, als selbst unsere Dorfgeistlichen wissen. Indessen verhielt es sich anders: Durch den Umstand, daß es damals bei uns keine guten geistlichen Bücher gab, die geeignet gewesen wären, mich mit den Wahrheiten der christlichen Religion genauer bekannt zu machen und alle von mir gelesenen Bücher der Prolog, die Lesemenäen, einige andere und schließlich der Stein des Glaubens waren, wobei letzteres noch irgendwie das bedeutendste Buch von allen war, so war all mein Wissen nicht nur dunkel und noch sehr unvollkommen, sondern auch, wie ich später sah, auf sehr schwache Fundamente gegründet, die ganz leicht erschüttert werden konnten. Mit einem Wort, ich wußte über die Religion nicht mehr als der größte Teil der besten und dem Glauben ergebensten unserer damaligen und, zu meinem Bedauern, auch der meisten heutigen Landsleute.« (II, 58) — Zu dieser Problematik vgl. Anm. 14} und Rothe, Religion und Kultur (Anm. 10), Kap. 9 und 10, besonders aber die pointierte Zusammenfassung S. 84. Für die Königsberger unübersehbare Zeremonien waren die Weihe der evangelischen Steindammer Kirche zur orthodoxen Kirche 1760 (I, 1 000) und Gottesdienste, die im Freien stattfanden wie die Wasserweihe am Erscheinungsfest (é. Jan.), über die Bolotov für 1761 berichtet (II, 35). Die verschiedenen Fasten und Heiligentage, nach denen sich für Bolotov die Zeit in Dvorjaninovo vorher und nachher gliedert, erwähnt er in den das Baltikum und Petersburg betreffenden Passagen selten, in den Kapiteln über Königsberg gar nicht. Vgl. Anm. 23.

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Bolotov

IT

5

nach säkularen Ereignissen. 1 2 8 E r besuchte z w a r den orthodoxen Gottesdienst, aber weder die immer besonders prunkvoll gefeierte Liturgie noch die »vernünftigen Predigten« scheinen ihn jemals innerlich angerührt zu haben. I 2 ' Lange bevor sein christlicher Glaube ins Wanken geriet, hatte die orthodoxe Frömmigkeit aufgehört, sein Empfinden, Denken und Handeln zu bestimmen. N u r deshalb griff er so begierig nach moralphilosophischen Schriften, nur deshalb konnte er überhaupt in die Lage kommen, aus diesen Impuls und Anleitung zur Bekämpfung seines Jähzorns zu empfangen. IJ ° Andererseits konnte er sich in dieser Situation der westlichen

Philosophie

zuwenden, weil sie ihm als Wissenschaft ein neutraler, durch keine konfessionellen Barrieren abgegrenzter, tabuisierter Bereich schien. A l s solchen hat Bolotov nämlich zunächst die westliche Theologie empfunden : [...] da alle von mir gelesenen Bücher mehr moralphilosophische, weltliche, jedoch nicht geistliche und die Religion betreffende waren, denn solche gab es überhaupt keine; ausländische Bücher dieser Art ich aber irgendwie nie in die Hand nahm in der Meinung, daß sie durchaus nicht für uns passen [...]. 1 , 1 N a c h d e m dann aber bei ihm zu der lebensmäßigen, weitgehend unbewußten Entfremdung von der orthodoxen Kirche die gedanklich-bewußte Infragestellung der christlichen O f f e n b a r u n g durch die Philosophie kam und er in eine tiefe Krise geriet, griff er 1761 z u m erstenmal nach einem westlichen geistlichen Werk. Entscheidend für seinen Entschluß, es zu lesen, wurde die Tatsache, daß er den Verfasser kannte und als Philosophen inzwischen hoch

128

129

1)0

,3

Genauer: es gibt nur noch die Folge der Ereignisse, nicht ein von ihnen unabhängiges chronologisch-geistliches Bezugssystem, das einzelne Ereignisse zugleich trägt und in ihrer Bedeutung relativiert. Wo er etwas über den Gottesdienst berichtet, fällt auf, daß er ihn vor allem unter russisch-orthodox patriotischem Gesichtspunkt betrachtet und befriedigt scheint, daß die russische Kirche sich sehen lassen kann und gesehen wird in Königsberg. Niemals erwähnt er irgendeine Empfindung oder einen Gedanken, den er selbst aus dem Gottesdienst empfangen hätte, während er sonst von so vielem berichtet, das ihn bewegt. »Und da in dieser Kirche der Gottesdienst immer sehr prächtig gefeiert wurde, mit ausgezeichneten Sängern, und da sowohl vom Archimandriten als auch von seinen Priestermönchen immer vernünftige Predigten gehalten wurden, gefiel all dies den dortigen Anwohnern so sehr, daß es fast keine Messe gab, in die nicht einige Zuschauer von dort zum Betrachten gekommen wären.« (I, 1 001) Auch die Wasserweihe 1761, von der. er voller Stolz berichtet (II, 35), beschreibt Bolotov als prächtiges Schauspiel für die Königsberger. Daß es für sein geistliches Leben von Bedeutung gewesen wäre — es ist etwa die Zeit seiner Glaubenskrise —, ist nicht zu erkennen. Wir haben hier den allgemeineuropäischen Vorgang der Säkularisierung in russischer Zuspitzung. Zuspitzung deshalb, weil die Aufklärung Kirche und Gesellschaft in Rußland in einem andern Zustand traf als im Westen. Vgl. Anm. 125.

' II, 59·

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schätzte. E s w a r Crusius. 1 5 2 Eine Predigt von Crusius über die Gefährlichkeit von Zweifeln an der O f f e n b a r u n g 1 , 3 räumte Bolotovs fundamentale Bedenken gegenüber dem Christentum aus 1 3 4 und bewog ihn zu einem ausgedehnten Studium anderer Predigten und theologischer Werke.

1)2

»Und da, als hätte es so sein sollen, geschah es, daß gerade vor mir eine deutsche Predigt lag, im Quartformat gedruckt und aus zwei oder drei Bogen bestehend. Und es mußte geschehen, daß sie mir zuerst in die Augen fiel. Meine erste Empfindung ihr gegenüber war Geringschätzung, da es eine deutsche Predigt war und ein geistliches Werk von der Art, wie ich sie niemals gelesen hatte und zu der ich am allerwenigsten eine Neigung verspürte. Aber plötzlich war es mir, als ob mir irgendetwas einen Stoß gäbe und mich veranlaßte, sie genauer zu betrachten und zu sehen, von welchem Prediger sie wäre. Und in welches Erstaunen geriet ich, als mir der unten mit großen Buchstaben gedruckte Name Crusius ins Auge fiel [...]. >[...] wie konnte ich bis jetzt nicht wissen, daß es von ihm auch geistliche Werke und noch dazu Predigten gibt. Ja, ist er etwa Geistlicher und nicht nur Philosoph sondern Theologe dazu?< [...] diese Predigt war ganz neu und erst jüngst gedruckt [...]. >Nun, ich werde sie kaufenund schauen, was wohl dieser verehrungswürdige Mann darin sagt.< Aber dieser Wunsch wurde noch größer und ich erstaunte noch mehr, nachdem ich ihren Titel gelesen hatte und sah, daß sie von der großen Gefahr handelte, in der sich die befanden, die an der Wahrheit der Offenbarung zweifelten und sich nicht bemühten, sich von ihr zu überzeugen, daß sie also genau für solche Menschen bestimmt war, die sich in einem Zustand befanden wie ich damals, daß sie folglich gleichsam extra für mich geschrieben war.« (II, 62 f.).

1,3

Den genauen Titel der Predigt konnte ich bisher nicht feststellen. Möglich ist, daß die offenbar zuerst separat gedr. Predigt in der folgenden Predigtsammlung von Crusius wieder abgedr. ist: Zwanzig Beiträge zur Beförderung der Bekehrung zu Gott und des Glaubens an unsern Herrn Jesum Christum. Leipzig 1767. »Sie war nicht so sehr theologisch als vielmehr philosophisch, und dieser große Mann konnte in ihr so gut darstellen, von wie großer Wichtigkeit es ist, sich von der Wahrheit der Offenbarung zu überzeugen, und in was für eine schreckliche Gefahr die geraten, die an ihr zweifeln und sich nicht bemühen, sich ihrer zu vergewissern, daß es mich bei der Lektüre dieses Absatzes gar von Kopf bis Fuß durchzuckte und seine Worte und Begründungen so auf meinen Verstand und mein Herz wirkten, daß ich mich damals fühlte, als ob eine Bergeslast von mir genommen würde und daß mein in mir wallendes Blut am Ende der Predigt in die angenehmste Beruhigung geriet. Ich freute mich unsäglich und rief mir selbst ergriffen zu: >Wenn sogar dieser große und in allen Hinsichten der größten Achtung würdige Mann mit solchem Feuer für die Wahrheit der Offenbarung eintritt und so hochweise und überzeugend von dem Nutzen spricht, sich selbst ihrer Wahrheit zu vergewissern, wie kann dann ich noch daran zweifeln, ich, der ich tausend Mal weniger weiß als er!«< (II, 63 f.).

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Wie Crusius empfahl, las Bolotov apologetische Werke (II, 64 f.). Mit besonderem Interesse ein Werk des Königsberger Professors Theodor Christoph L. Lilienthal: Die gute Sache der in der hl. Schrift Alten und Neuen Testaments enthaltenen göttlichen Offenharungen, bzw. die ersten Tie. dieses Werkes, das in 16 Tin. 1760 — 80 erschien (s. ADB 18 [1883], S. 650f.). N u r Zeitmangel hinderte ihn daran, die Bekanntschaft Lilienthals zu suchen (II, 123 — 125). Schließlich las er in größerem Umfange Predigten: »Mit demselben Vergnügen las ich damals auch die Predigten der in Deutschland berühmtesten deutschen und französischen Prediger, besonders aber die von Mosheim,

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Seine letzte Zeit in Königsberg verbrachte er vor allem damit, seine »Kenntnisse von der Offenbarung«, die »nicht nur äußerst unzulänglich, sondern so beschaffen waren, daß sie sogleich erschüttert werden konnten« 136 fest und sicher zu machen: ich überzeugte mich von der Wahrheit der ganzen Offenbarung und der christlichen Lehre und machte mich fest in der Religion und im Glauben. 137 Bolotov, der vorher nur ein »dunkles« 1 3 8 Wissen in geistlichen Dingen hatte, wurde in Königsberg eine » A u f k l ä r u n g « 1 3 5 zuteil, die er als gnadenvolle gottgesandte Erleuchtung empfand. M °

Jerusalem und Sack. Bis zu dieser Zeit hatte ich von wahrer Beredsamkeit und Überzeugungskraft bei Predigten durchaus keinen Begriff und erst damals erkannte ich, von welcher Schönheit die Werke sowohl dieser als auch vieler anderer vortrefflicher und berühmter Männer waren. Und ich las sie nicht nur mit dem höchsten Vergnügen, sondern einige ihrer besten Predigten übersetzte ich sogar in die russische Sprache [...].« (II, 125) Eine Predigt von Jerusalem, die er noch in Königsberg übersetzte, brachte Bolotov 1781 in Moskau bei Novikov zum Druck (III, 951, 958). Bolotov könnte folgende Ausg. benutzt haben: Johann Lorenz Mosheim: Heilige Reden. 3 Bde. Hamburg 1/32. - Von Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem erschienen außer einzeln gedr. Predigten zwei Predigtsammlungen, Braunschweig 1745 und 1753 (s. ADB 13 [1881], S. 779-783)· - Von August Friedrich Wilhelm Sack, der ab 1740 Hofprediger in Berlin war, erschienen außer separat gedr. Predigten gesammelte Predigten in 6 Tin., Magdeburg 1735-64 (s. ADB 37 [1894], S. 295-315). Offenbar hat es Bolotov nicht gestört, daß Sack in drei Dankpredigten auch die preußischen Siege bei Prag, Roßbach und Leuthen gefeiert hat. Möglicherweise war ihm Sack auch als Verfasser des Vorwortes zu Sulzers Moralischen Betrachtungen bekannt. " 6 Π, 59· " 7 II, 57· 138 II, 58; vgl. Anm. 125. 139 »[...] daß ich auf die Knie fiel und mit Tränen in den Augen dem höchsten Wesen für die mir mit allem diesen fast offensichtlich erwiesene Gnade dankte und es um meine weitere Aufklärung bat [...].« (II, 64). 140 Es wäre einer eigenen Darstellung wert zu zeigen, wie in Bolotovs Memoiren aufgeklärte und pietistische Frömmigkeit ineinander übergehen, ähnlich wie Max Geiger es in seinem Werk Außelärung und Erweckung, Zürich 1963, für die Schriften Jung-Stillings nachgewiesen hat. Bolotov stellt sein ganzes Leben dar als ein von einer göttlichen Macht bestimmtes Geschehen. Diese nennt er aufgeklärtem Sprachgebrauch folgend »Vorsehung«, »Schicksal«, dann auch »göttliche Vorsehung«, »heilige Vorsehung«, »Gott«, »Allmächtiger« und schließlich, mit deutlich pietistischem Unterton, »mein Gott«, »die unsichtbare Hand Gottes«, »Gnade meines Schöpfers« u. ä. m. Es scheint, daß Denkweise und Frömmigkeitsstil Bolotovs ihre entscheidende Prägung in Königsberg erfahren haben. Man könnte somit die fromme Stilisierung der Lebensgeschichte insgesamt als Frucht der Königsberger Jahre ansehen, auch wenn das Ausmaß des Einflusses von Crusius und anderen auf Bolotovs philosophische und geistliche Werke noch im einzelnen zu untersuchen bleibt. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie detailreich er das Wirken der göttlichen Macht in seinem Leben beschreibt, führe ich an, welche Ereignisse seiner Königsber-

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In Königsberg entschied sich, daß er den Glauben an die O f f e n b a r u n g nicht verlor. N a c h seiner Rückkehr aufs D o r f wurde er auch ins Leben der orthodoxen Kirche wieder stärker eingebettet. A b e r die entscheidende Lebenshilfe blieb für ihn die Philosophie. Immer wieder erwähnt er in den späteren Jahren, daß ihm in kritischen Situationen »seine« Philosophie geholfen habe, oder auch, daß er andern damit beigestanden habe, vor allem seinen Kindern und Verwandten. »Seine« Philosophie w a r die des Crusius, insbesondere dessen Willenslehre. 1 4 1 E r hat sie auch in eigene Worte gefaßt in dem 1784 erschienenen Buch Führer zum wahren menschlichen

Glück.141

V o r allem bei der Erziehung seiner Kinder, aber auch für sich selbst verspürte er eine Lücke zwischen dem geistlichen Leben der russischen orthodoxen Kirche und den geistigen Bedürfnissen westlicher Bildung. 1 4 3 E r hat

141

142

I4)

ger Zeit er auf sie zurückführt. Es sind dies folgende : daß er überhaupt nach Königsberg kommt (I, 672 f.); daß er durch Uberstellung in den Zivildienst den Lastern und Versuchungen des Offizierslebens entzogen wird (I, 693, 696); daß er als Ubersetzer zu Baron Korff kommt (I, 739); daß er beginnt, Philosophie zu studieren (I, 982 f.); daß ihm die Predigt von Crusius in die Hände fällt, durch die er seine Glaubenszweifel überwindet (II, 61); daß er eine günstige Möglichkeit findet, seine Bücher nach Rußland zu schicken (II, 68); daß er zum Adjutanten Korffs ernannt wird und nach Rußland zurückkehren muß (II, 137 f.). Wie stark er sich gegen Ende seiner Königsberger Zeit in pietistische Frömmigkeit eingelebt hat, kann man daran sehen, daß er auf dem Heimweg nach Rußland eine deutsche geistliche Ode auswendig lernte, die ihn damals und später offenbar sehr stärkte, so daß er sie in seinen Memoiren zweimal zit., einmal russisch (II, 152) und einmal deutsch: »Es ist ein Gott, der sorgt für mich,/Und ich, ich lebe kümmerlich,/ Und will mich selbst versorgen« (II, 249). Zwei von vielen Beispielen: 1763 überwindet Bolotov die Liebe zu einem Mädchen, das ihn nicht liebt, mit Hilfe der crusianischen Philosophie: »Ich kann sagen, daß ich in keinem Falle solchen Nutzen aus der herrlichen crusianischen Philosophie und besonders seiner neuen Wissenschaft, der Thelematologie, zog, wie in diesem. Sie half mir dieses Mal am meisten, meine ganze Liebe zu überwinden und innerhalb weniger Tage mich fast gänzlich zu beruhigen.« (II, 431) — 1788 tröstete er eine Bekannte beim Tod ihres Sohnes: »[...] und ich war genötigt, meine ganze Philosophie zu benutzen und alle Kräfte meines Geistes anzuspannen [...], und da ich nicht so leere Worte benutze, mit denen andere gewöhnlich Trauernde trösten, sondern solche, die geradewegs bis zu ihrem Herzen drangen und ihren Verstand rührten [sie!], gelang es mir, sie [...] zu trösten [...].« (IV, 292). Bolotovs Werk O hlagopolucii celoveceskom (Uber die menschliche Glückseligkeit), an dem er seit 1772 schrieb, erschien 1784 unter dem Titel Putevoditel' k istinnomu celoveceskomu scastiju (Führer zum wahren menschlichen Glück) (III, 52 f., 113, 1 136). »Übrigens kann man dieses Buch als Frucht meines Königsberger Studiums der crusianischen Philosophie ansehen, die ich ihm zugrunde legte. Vieles aber schrieb ich aus meiner eigenen Erfahrung.« (III, 109 f.). Den deutlichsten Hinweis darauf, daß er diese Lücke gespürt hat, gibt folgende Passage: 1733 sollte er zwei Nichten auf Bitten der Mutter im christlichen Glauben unterweisen: »Ich willigte gern ein und wollte ihnen zuerst den Katechismus von Piaton

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sie mündlich und schriftlich zu füllen gesucht mit Gedanken, die vor allem von Crusius und Sulzer übernommen oder angeregt waren. 144 Ungefähr zur gleichen Zeit, als in Königsberg Magister Weymann seine Lehrtätigkeit einstellen mußte, 145 begann Bolotov in der Entlegenheit der russischen Provinz, seinen Kindern und Gästen philosophische Abendvorlesungen zu halten, in denen er seine »Kinderphilosophie« kapitelweise vortrug. 146 Nachdem Bolotov in Königsberg seine Glaubenskrise überwunden hatte, kam in den letzten Monaten dort auch der Prozeß der Selbstfindung zu ei-

[d. h. Piaton Levsin, dem späteren Metropoliten von Moskau] erklären, da dies das einzige theologische Buch über die Religion war, das es bei uns gab. A b e r kaum hatte ich begonnen, fand ich, daß es sehr ungeeignet war. Ich fand, daß dort viele Dinge ausgelassen waren, die ein junger Mensch unbedingt wissen muß, und dies trieb mich dazu, eine andere Unterrichtsweise z u wählen. Ich nahm mir vor, ihnen mit meinen Worten alle notwendigsten Dinge z u sagen, die sie über G o t t , die Welt und den Menschen wissen mußten [...].« (III, 108 f.) A u s diesen Belehrungen machte er das Buch Kunstkamora duievnaja (Kunstkammer der Seele). Es blieb ungedr. Vgl. oben A n m . 105. 144

In seinen Memoiren erwähnt Bolotov folgende philosophische und geistliche Werke (zu seinem ungedruckten Nachlaß siehe Rice, »The Bolotov Papers« (Anm. 1), S. 127): ι. Detskaja filosofija (Kinderphilosophie), begonnen in Nachahmung eines derartigen westlichen Werkes 1763 (II, 443), im D r u c k erschienen Tl. I M o s k a u 1776 (III, 581), Tl. II M o s k a u 1779 (III, 863). Vgl. dazu Rice, »The Memoirs« (Anm. 1) S. 22 ff. 2. Kunstkamora duievnaja, vgl. A n m . 105 u. 143. 3. Öuvstvovanija christianina pri nacale i konce kazdago dnja ν nedele, otnosjascijasja k samomu sehe i k Bogu (Empfindungen eines Christen am Anfang und Ende jedes Tages der Woche, bezogen auf ihn selbst und auf Gott). M o s k a u 1781. Bolotov hatte lange Zeit an diesem Werk gearbeitet. A l s er 1781 von N o v i k o v gebeten wurde, ein deutsches Werk mit Abendbetrachtungen z u übersetzen, präsentierte er nach einem kurzen Ubersetzungsversuch lieber sein eigenes fertiges Werk, das dann auch noch im selben Jahr im D r u c k erschien (III, 929 f., 936 f., 952 f., 958, 1 006). Vgl. Rice, »The Memoirs« (Anm.i), S. 36 f. 4. Putevoditel', vgl. A n m . 142. 5. Geistliche Betrachtungen in Nachahmung eines Werkes Gespräche mit Gott, geschrieben ab 1787/ 88, ungedr., Teil seiner Kleinen Werke (IV, 248). 6. Geistliche Gedichte bzw. Naturgedichte (z.T. als Lieder auf bekannte Melodien), ebenfalls Teil seiner Kleinen Werke in Poesie und Prosa (IV, 1 0 9 1 - 1 099, 1 104 f.). S. oben A n m . 105.

I4!

»1755 stellte Mag. D . Weymann seine Vorlesungen ein, weil es ihm verboten wurde, über die crusianische Philosophie vorzutragen.« Weiss, »Königsberg Kants« (Anm. 1), S. 59, A n m . 19.

146

1774. — D e r R u h m dieser Vorlesungen verbreitete sich bis z u m Bischof von K o l o m n a (III, 469 ff.). In Teilen hatte Bolotov das Werk schon wesentlich früher Verwandten und Bekannten gezeigt (z.B. II, 610). Regelrechte, fortlaufende Vorlesungen scheint er jedoch erst in dieser Zeit begonnen z u haben. Leider konnte ich das Werk bis jetzt noch nicht einsehen. D a ß sich Bolotovs Abhängigkeit von Crusius auch in diesem Werk niedergeschlagen hat, ist aber mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen (vgl. II, 443).

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nem gewissen Abschluß. Er gelangte zu der Überzeugung, für die Wissenschaft geboren zu sein. Ein Leben für die Wissenschaft konnte er sich auch nach fast vier Jahren in dieser Stadt und trotz Bekanntschaft mit einer Universität für sich selbst nur als adeliges Landleben denken.147 Als Peter III. 1762 die Dienstpflicht des Adels aufhob, faßte Bolotov noch in Königsberg den Entschluß, so bald wie möglich seinen Abschied zu nehmen.148 Bolotov empfing in Königsberg seine wichtigsten Eindrücke aus Büchern. Auch die Vorlesungen des Magister Weymann vermittelten ihm letztlich etwas schon Gedrucktes. Den Habitus des Autodidakten hat er in Königsberg bis zuletzt nicht abgelegt. Wissenschaft blieb für ihn trotz des Besuches der Vorlesung eine Tätigkeit, zu der man vor allem Bücher und Ruhe, nicht so sehr Menschen braucht. Vielleicht auch deshalb ging er 1762, nachdem er eine Fuhre Bücher vorangeschickt hatte, so entschieden und selbstverständlich zurück auf sein Dorf, in der Absicht, den angestammten Lebenskreis nach den neuen Erkenntnissen umzugestalten. Königsberg war für ihn vor allem eine Gelegenheit, Bücher zu lesen, nicht ein geistiger Ort mit einem ganz bestimmten Gepräge. Aber die Gelegenheit, in diesem Umfange zeitgenössische westliche Literatur aufzunehmen, hätte er in Rußland Ende der 1750er Jahre nicht gehabt. Insofern bot ihm der Dienst in Königsberg ähnliche Bildungsmöglichkeiten, wie sie russische Zeitgenossen entweder, sehr selten, auf einer andern sozialen Etage in Rußland oder, häufiger, an andern Orten Westeuropas fanden. Die Königsberger Jahre setzten Bolotov instand, sich nach seiner Rückkehr in den 1760/ 70er Jahren in das aufblühende literarische und wissenschaftliche Leben Rußlands tätig einzufügen. Die in Königsberg von ihm ergriffenen Themen >Natur< und >Moral< blieben lebenslänglich der Inhalt seiner theoretischen und praktischen Bemühungen. Gedanken über Sprache, Staats- und Gesellschaftsordnung haben ihn nicht beschäftigt. Im Horizont seiner agronomischen Studien scheint das brennende Problem der Leibeigenschaft nie aufgetaucht zu sein. Seine moralischen Betrachtungen haben einen individualistisch-erbaulichen Grundton. Sein Verhalten gegenüber den Aristokraten über ihm wie den Bauern unter ihm ist nie charakterlos, orientiert sich aber immer an den Gegebenheiten einer ihm unumstößlich scheinenden Gesellschaftsordnung. Ob aus Paris ein anderer Bolotov heimgekehrt wäre ? Ich bezweifle es. Die konservativ-erbauliche Grundstimmung hatte er in sich. Er selbst vollzog 147

»Nachdem ich die Wissenschaften schätzen gelernt hatte und der Gelehrsamkeit anhing, war mir das laute und unruhige Kriegsleben schon lange verhaßt und ich wünschte in meinem Herzen nichts so sehr, als mich aufs Dorf zu entfernen, mich dem friedlichen und ruhigen Landleben zu widmen und meine restlichen Tage zwischen Büchern und in Gesellschaft der Musen zu verbringen [...].« (II, 133; vgl. II, 222).

148

N u r Scham hielt ihn zurück, es sofort und als erster zu tun (II, 133).

Andrej Bolotov

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in Königsberg die innere Abgrenzung von den radikalen Gedanken der Aufklärung, auf theologischem Gebiet ebenso wie im Bereich der Politik. Ich habe dargestellt, wie er vor dem Ubergang zum Deismus zurückkehrte zum Offenbarungsglauben. In seinem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft gab es keine so scharfe Wende, weil er von vornherein alle radikalen oder vermeintlich radikalen Gedanken und Beziehungen mied und in Königsberg (wie später in Moskau) die Einladung in eine Loge entschieden ablehnte. 1 4 9 Die Aufklärung, die er aus Königsberg mit nach Hause brachte, war antiwolffianisch gebrochen und hatte den spezifischen Doppelsinn von Aufklärung und Erleuchtung, der dem russischen Wort »prosvescenie« anhaftet und auch für das Wirken Novikovs, des Hauptpromotors des russischen Geisteslebens in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, charakteristisch ist.

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In Königsberg versuchte Grigorij Orlov, Bolotov zum Eintritt in die Loge zu bewegen (II, 220); in Moskau bemühte sich Novikov, der als Verleger mit Bolotov zusammenarbeitete, ihn 1781 für die Freimaurerei zu gewinnen (III, 932-935).

Wilfried Forstmann

Christian Jakob Kraus und die Männer der preußischen Reform

Meine Aufgabe ist es, über Männer zu sprechen, die, wie man bewundernd oder erschrocken zu sagen pflegte, Geschichte gemacht haben, oder — bescheidener — an Entwicklungen, die der Prozeß historischen Geschehens durchlaufen hat, maßgeblich beteiligt gewesen sind; ein methodisch nicht ganz unbedenkliches Unterfangen zu einem Zeitpunkt, zu dem strukturgeschichtliche Vorstellungen und Betrachtungsweisen keineswegs zu den Akten gelegt worden sind, im Gegenteil, unbestrittenerweise in voller Blüte stehen. Dennoch: Ereignis und Zeitraum, denen wir uns zuwenden wollen, haben — zumindest zu einem Teil — gemeinhin eine Bezeichnung erfahren, die sich durch eine personifizierende Zusammenfassung, dazu zweier Namen, auszeichnet, die Stein-Hardenbergische Reform oder Reformen. Unter diesem Signum erscheinen zudem nicht zwei mehr oder weniger pittoreske Galionsfiguren, deren Namen zwar zu einer einprägsamen Illustration eines Zeitabschnitts oder Zusammenhangs verwandt werden, die im einzelnen aber dafür nur eine diffuse Bedeutung besitzen mögen, sondern die beiden herausragenden politischen Persönlichkeiten der preußischen Geschichte während des Jahrzehnts nach dem Zusammenbruch von 1806. Es besteht kein Zweifel daran, daß die preußischen Reformen in diesem Zeitraum entscheidend von diesen beiden Ministern, ihren Absichten und Zielsetzungen, ihren charakterlichen Eigenheiten, ihrem Durchsetzungsvermögen und taktischen Gespür bestimmt und gestaltet worden sind. Dieses personalistische Moment in der preußischen Reform läßt sich darüber hinaus nicht nur auf der obersten Regierungsebene, sondern auch bei der hohen Ministerialbürokratie festmachen. Ernst Rudolf Huber bietet eine eindrucksvolle Zusammenstellung all derjenigen, die an den preußischen Reformen entwickelnd und formulierend teilgenommen haben. 1 Es entsteht somit aus den einzelnen unterschiedlichen, mosaiksteinartigen Le-

Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte. Stuttgart, Berlin u.a. Bd. ι, S. 21 ff.

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1975.

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bensläufen ein detailliertes Bild einer Reformpartei, wie Huber sie vorsichtig nennt. An dieser Stelle mag eine ergänzende Klärung zum Begriff »Reformpartei« angebracht sein. Die preußische Niederlage von 1806 hat keine völlig einheitliche Reaktion im Lande hervorgerufen. Neben Widerstand läßt sich auch zurückhaltendes Abwarten, Anpassung, ja auch zeitweise Kollaboration in der Bevölkerung mit der Besatzungsmacht erkennen. Die Reformgesinnung ist selbstverständlich ein Ausdruck von Widerstand, der aber im Gegensatz zu militantem Aktionismus und literarisch-publizistischem Aufbegehren grundsätzliche Veränderungen im Staat anstrebt, sozusagen nicht Symptome, sondern Ursachen kurieren will. Natürlich gab es zwischen der Reformgesinnung und insbesondere publizistischen Äußerungen dieser Art zuweilen eine Wechselwirkung, förderte, interpretierte ein Bereich den anderen. Nichtsdestoweniger wird in diesem Zusammenhang unter einem Angehörigen der Reformpartei nicht derjenige verstanden, der sich, wie auch immer, gegen die französische Besatzungsmacht, für einen preußischen Wiederaufstieg äußert, sondern derjenige, der unter längerfristigen Perspektiven aktiv an dieser staatlichen und gesellschaftlichen Umgestaltung Preußens teilhat, und das können zu diesem Zeitpunkt nur Angehörige der ministerialen Bürokratie sein. Lebensläufe und Werdegang der einzelnen Mitglieder der Reformpartei weisen darüber hinaus auf einen weiteren Aspekt unserer Überlegungen, nämlich ihre zeitliche Einordnung. Die Angehörigen der Reformpartei gehören den Jahrgängen von 1740—1780 an, waren vor 1806 in der preußischen Ministerialbürokratie tätig, hatten schon vor dem Zusammenbruch mit reformerischen Ansätzen sympathisiert oder sogar an ihnen mitgearbeitet. Aus dieser Konstellation personeller Kontinuität in der preußischen Beamtenschaft über das Jahr 1806 hinaus ergibt sich nahezu automatisch eine Verzahnung von reformerischen Entwicklungen: bei einer kürzerfristigen Betrachtung, wie Barbara Vogel schreibt, in dem »Bündel von Gesetzen und Verordnungen, die nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch Preußens [...] 1806/07 eine neue Verwaltungsorganisation errichteten und neue Bestimmungen und Regeln für die Beziehungen der Staatsbürger untereinander aufstellten«, und unter erweitertem Blickwinkel in »einem sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden, in Schüben verlaufenden fundamentalen Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaftsgefüge, der sich infolge der militärischen Niederlage beschleunigte und einem Kulminationspunkt zustrebte«. 2 Mit dieser zusammenraffenden Beschreibung reformerischer Ereignisse und Entwicklungen aus einem un2

Barbara Vogel (Hrsg.): Preußische Reformen Wissenschaftliche Bibliothek. 96), S. 1.

1807 — 1820. Königstein ¡.Ts. 1980 (Neue

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terschiedlichen Zeitansatz soll allerdings nicht auf Vorstellungen abgehoben werden, die einen säkularen Wandel, etwa von 1750-1850, ins Auge fassen oder gar europäische Perspektiven und Vergleiche eröffnen. Es soll vielmehr nur auf Elemente einer Kontinuität hinter einem gleichwohl als Zäsur zu betrachtenden Ereignis hingewiesen werden, ein Entwicklungsstrang hervorgehoben werden, den beispielsweise Otto Hintze so betont hat, der, wenn auch zögerlich und immer wieder unterbrochen, politisch etwa mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II. einsetzt. 3 Die preußische Reformpartei bildete insgesamt zu keinem Zeitpunkt eine homogene, gar schlagkräftige Gruppierung, wie etwa die jungtürkische Bewegung hundert Jahre später, die unter recht vergleichbaren äußeren Gegebenheiten planvoll und konspirativ Gewalt bis hin zum direkten Zugriff auf die Staatsspitze einsetzte, um ihre Modernisierungsvorstellungen zu realisieren. Von einer fest organisierten politischen Kraft kann in Preußen kaum gesprochen werden. Nein, das einigende Band für die preußische Reformpartei war allein der Wille, individuell bestehende Reformgesinnung in politische Maßnahmen, bis 1806 ja zuweilen nicht einmal so weitgehend, sondern nur in entsprechende administrative Schritte umzusetzen. Hier wäre — das sei angemerkt — ein von Kurt von Raumer betonter qualitativer Unterschied der Ergebnisse der früheren im Gegensatz zu der späteren Reformphase erkennbar, ließe sich mit Friedrich Gentz eine Unterscheidung in Verwaltungsreform vor 1806 und Regierungsreform nach 1806 vornehmen. 4 Innerhalb der Reformpartei zeigen sich zunächst zwei vom Ansatz her unterschiedliche Positionen, die sich bezeichnenderweise ebenfalls unmittelbar personalisieren lassen, nämlich auf Stein und Hardenberg. Beider Wesenszüge, Reformideen und politische Arbeit sind zu einem Kernstück historiographischer Forschung in Deutschland geworden. Steins Bindung an die so verstandenen Ideale altdeutscher Freiheit und ständischer Traditionen, das ihm vorbildhafte britische »Selfgovernment«, seine Absicht, die »Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, [...] [den] Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen, und dem der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre [...]« 5 zu befördern, 3

4

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Otto Hintze: »Preußische Reformbewegung vor 1806«. In: Otto Hintze: Gesammelte Abhandlungen. Hrsg. von Gerhard Oestreich. Bd. 3 (Regierung und Verwaltung). Göttingen ! 1967, S. 504—529. Kurt von Raumer: »Deutschland um 1800 - Krise und Neugestaltung 1789—1815«. In: Otto Brandt (Begr.), Leo Just (Hrsg.): Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 3 / 1 . Tl. ι. Wiesbaden 1980, S. 362. Gerhard Ritter:Freiherr vom Stein. Frankfurt a.M. 1983, S. 185.

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sind ebenso dargestellt und diskutiert worden wie Hardenbergs Ziel, die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen am »Zeitgeist« zu orientieren. Dieser nimmt damit Elemente zentralistisch—autoritärer Staats- und liberaler Wirtschaftsauffassung auf, wie sie sich aus der Französischen Revolution dann in der napoleonischen Staatspraxis niederschlugen, sucht »eine Revolution«, wie er in Riga schreibt, »im guten Sinne, geradezu hinführend zu dem großen Zwecke der Vollendung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsionen von innen und außen« zu gestalten.6 Diese beiden dezidierten Reformsätze, die durch die Stellung Steins und Hardenbergs als leitender Minister bzw. Staatskanzler die Grundzüge der preußischen Innenpolitik maßgeblich bestimmten, berührten bekanntermaßen insbesondere die Organisation des Regierungsapparates und der nachgeordneten staatlichen Verwaltung, führten zur Städte- und Gewerbeordnung, gaben der seit dem späten 18. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Agrarreform unter dem Stichwort »Bauernbefreiung« einen ersten breiteren juristischen Rahmen. Auch die Heeresreform und die Reform der Erziehung und Bildung sind Teil dieses Prozesses staatlicher und gesellschaftlicher Veränderungen unter der Führung Steins und Hardenbergs, besitzen aber aufgrund ihrer fachlichen Spezifika eine gewisse Sonderstellung, verbinden sich dann auch in erster Linie mit den Namen anderer herausragender Reformer, mit denen von Scharnhorst, Gneisenau oder Humboldt. So unterschiedlich die Reformansätze auch waren, denen sich Stein und Hardenberg verpflichtet fühlten, zielten beide doch darauf ab, die Krise und schließliche Niederlage, die unter der Erstarrung des spätabsolutistischen Regimes entstanden waren, zu überwinden; beide sahen auf den nämlichen Feldern ihre Aufgaben, so daß sie in ihrer Wirkung zu Recht als eine Einheit betrachtet werden können. Sind somit die beiden entscheidenden Persönlichkeiten der preußischen Reformen und ihrer Zielsetzungen angedeutet, so wird in der Literatur die Ministerialbürokratie keineswegs als apparatschikhaft, allein befehlsempfangende und ausführende Institution beschrieben. Im Gegenteil, es tritt, wie schon aus der Zusammenstellung Ernst Rudolf Hubers ableitbar, eine Reihe gewichtiger Persönlichkeiten hinzu, deren Anteil an Reformen teilweise so hoch eingeschätzt wird, daß sie als ein eigenständiges drittes Element neben Stein und Hardenberg angesehen wird. Diese Auffassung gilt insbesondere von der ostpreußischen Ministerialbürokratie, deren reformerische Zielsetzungen eine abgrenzbare Programmatik besitzen und dadurch vor dem Hintergrund der Bedeutung, die Ostpreußen und seine Hauptstadt Königsberg nach 1806 als Sammelpunkt aller Kräfte, die auf 6

Zit. nach von Raumer, »Deutschland um 1800« (Anm. 4), S. 370.

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eine Staatserneuerung hinzielten, innehat, eine zusätzliche Bedeutung verleihen. Es liegt auf der Hand, daß im Gegensatz zu den Reformvorstellungen der regierenden Stein und Hardenberg die der Ministerialbürokratie von vornherein niemals per se ein Regierungsprogramm werden konnten; andererseits ist aber zu beobachten, daß sie durch die tägliche Arbeit und Zuarbeit, die Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen, ebenso wie durch die Verwaltungspraxis, die Anwendung der Gesetze im zivilen Leben keineswegs nur bloßes Wunschdenken geblieben sind, sondern vielfältigen Eingang in die Reformgesetzgebung bzw. -praxis gefunden haben. Gerhard Ritter umreißt diese programmatische Position, indem er deren Ziel hervorhebt, einen Staat zu bilden, der seine Souveränität auf dem Gemeinschaftsund Rechtswillen freier Menschen gründet, historisch begründete Machtansprüche und daraus entstandene Rechtsbindungen ablehnt; auf die Macht der Vernunft vertrauend, möchte sie das soziale und wirtschaftliche Leben staatlicher Einflußnahme und Bevormundung entziehen, weil nur so die sittliche Kraft des einzelnen sich entwickeln und bewähren könne. 7 Keine Frage, daß diese Vorstellungen ein Bewußtsein artikulierten, das ganz auf Reform ausgerichtet war. Seitens aller ostpreußischen Kräfte, der Ministerialbürokratie, aber auch der anderen führenden gesellschaftlichen Schichten des Landes begleitete kein prinzipieller Widerspruch die preußische Reformpolitik, mit Fr. L. Schrötter, Schön und Auerswald standen drei Ostpreußen im ersten Glied der Steinschen Mitarbeiter, erwiesen sich trotz mancher Differenzen als verständnisvolle, tätige Beamte. Mit DohnaSchlobitten, Friese, Staegemann, Nicolovius und Frey lassen sich weitere herausragende Beamte nennen, die entweder selbst Ostpreußen oder durch die Aufgaben eng mit dem Lande verwurzelt waren. So zeigt sich Ostpreußen nicht allein nur von der eingetretenen politisch-militärischen Situation des Jahres 1806, sondern auch aus sich selbst heraus für die Reformbewegung bereit und aufgeschlossen, ja es bildete in diesem Stadium geradezu die Heimstatt — und das nicht nur in einem geographischen Sinne verstanden — der preußischen Reformbewegung. 8 Die Antwort auf die Frage nach den Ursachen eines historischen Tatbestandes muß auf einer hinreichenden Dimensionierung des historischen Rückblicks, sowohl der zeitlichen als auch inhaltlichen Ausrichtung, basieren. Was aber »hinreichend« erscheint, ist umstritten, nur in wenigen Fällen wirklich eindeutig zu klären. Inwieweit eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen dieser ostpreußischen Reformgesinnung »hinreichend« gegeben werden kann, will ich an dieser Stelle nicht entscheiden; bemerkens7 8

Ritter, Fm/>err vom Stein (Anm. 5), S. 197. Vgl. Hans Rothfels: »Ost- und Westpreußen zur Zeit der Reform und Erhebung«. In: Paul Blunk (Hrsg.): Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenstaat. Königsberg 1931, S. 4 1 5 - 4 3 7 .

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werterweise läßt sie sich in einem hohen Maß genauso personifizieren wie die behandelte Frage nach den Protagonisten der preußischen Reformen, insbesondere der Reformen im administrativen und gesellschaftlichen Bereich. D e r forschende Blick fällt auf Christian Jakob Kraus, wie der Titel dieses Beitrags aussagt, kein Mitglied der Reformpartei, aber jemand, der in einem besonderen Verhältnis zu ihr stand, im engeren Wortsinn ihr Kontrahent war. Dennoch wird derjenige, der sich mit den preußischen Reformen beschäftigt, eher beiläufig auf Kraus stoßen. Es heißt in der Literatur zumeist lapidar, daß er, Königsberger Universitätsprofessor für Praktische Philosophie und später Kameralwissenschaften, selbst Schüler und lange Zeit Gefährte Kants, seine Studenten, unter ihnen eine große A n z a h l A d l i ger und angehender Staatsdiener, mit den Vorstellungen A d a m Smiths vertraut gemacht habe.' In der Dogmengeschichte der Volkswirtschaftslehre erscheint er entsprechend als einer der führenden Vertreter des aufkommenden Wirschaftsliberalismus in Deutschland. 1 0 N u r ein Jahr nach seinem

* Vgl. dazu u.a. Bruno Schumacher: Geschichte Ost- und Westpreußens. Würzburg 4 1959, S. 233. - Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg. 3. Bde. Köln und Graz 1965 — 71, hier Bd. 2, S. 255. — Hans-Jürgen Belkt: Die preußische Regierung zu Königsberg 1808 — 18)0. Köln und Berlin 1976 (Studien zur Geschichte Preußens. Bd. 26), S. 14 f. — Götz von Seile: Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen. Würzburg 1956, S. 204ff. — Kurt von Räumer: Der Kantische Geist in der Erhebung von 1807//j. Königsberg 1940 (Reden zur Kant-Coppernicus-Woche der Albertus Universität zu Königsberg [Pr.]. Geisteswiss. R.), S. 19. — Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Regime zum Wiener Kongreß. München 1981 (Grundriß der Geschichte. Bd. 12), S. 55. 10 Vgl. u.a. in der älteren dogmen- bzw. wirtschaftsgeschichtlichen Literatur Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Ökonomik. München und Berlin 2 1924 (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit. Bd. 14), S. 608 — 615. — Ludolf Grambow: Die deutsche Freihandelspartei z. 2t. ihrer Blüte. Jena 1903 (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a.d.S. Bd. 38), S. 2 f. — Alfred Nahrgang: Die Aufnahme der wirtschaftspolitischen Ideen von Adam Smith in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Gelnhausen 1933 / 34 (Diss. Frankfurt a.M.). — Hugo Graul: Das Eindringen der Smithschen Nationalökonomie in Deutschland und ihre Weiterbildung bis zu Hermann. Halle a.d..S. 1928 (Diss. Halle a.d.S.). — Neueren Datums sind Marie-Elisabeth Vopelius: Die altliberalen Ökonomen und die Reformzeit. Stuttgart 1968 (Sozialwissenschaftliche Studien. Schriftenreihe des Seminars für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Η. 11). — Rudolf Walter: Exkurs: »Wirtschaftlicher Liberalismus«. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart 1982, hier S. 787 — 815. — Wilhelm Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens. Berlin und New York 1984 (Veröff. der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 56), S. 135 f. Treue geht bei der Biographie Kraus' jedoch verständlicherweise über den NDB-Art. von Fritz Milkowski nicht hinaus (vgl. Anm. 11). — Hermann Lehmann u. a.: Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland. Berl i n / D D R 1977 (Schriften des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften. Bd. 3); zur Smith-Rezeption vgl. S. 300 ff. - Eine gute, wenn auch knappe Darstellung des

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Tod, 1807, begannen seine Freunde unter der Führung von Hans von Auerswald die Sammlung seiner Werke herauszugeben, wozu schon zuvor an anderer Stelle erschienene, kürzere, sogenannte Vermischte Schriften, dann die zum ersten Mal gedruckten Vorlesungsmanuskripte — zusammengefaßt unter dem Titel Staatswirthschaft —, ferner ein längerer biographischer Abriß und Korrespondenzen gehören. 1819 war die erste Edition vollständig, in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts folgte eine zweite. Wenn später zwar eine Reihe von Spezialuntersuchungen, zumindest Erwähnungen über verschiedene Aspekte seiner politischen und ökonomischen Auffassungen folgten, so fehlt doch eine modernen Ansprüchen genügende zusammenfassende Biographie, und er blieb einem weiteren akademischen Publikum doch recht unbekannt: nicht einmal die beiden großen deutschen Konversationslexika nennen seinen Namen." Ein medaillonartiges Porträt von Kraus läßt sich in einer bekannten Bildmonographie über Hegel finden; konsequenterweise meint der Verfaser jedoch, den schwäbischen und nicht den ostpreußischen Philosophen damit abzubilden. 12 So erscheint es nicht unangemessen, aus einem biographischen Ansatz zu versuchen, seine reformerischen Vorstellungen zu entwickeln und die sich daraus ergebenden Beziehungen zur preußischen Reformpartei zu betrachten. Christian Jakob Kraus wurde 1753 im ostpreußischen Osterode geboren. Er war drei Jahre jünger als Hardenberg, vier Jahre älter als Stein, gehörte somit vom Alter her zu denjenigen, die als erste Generation sich reformerischen Überlegungen stellten und an ihnen arbeiteten. Kraus entstammte einem literarisch bestimmten Elternhaus, das allerdings materiell eher bescheiden als großzügig ausgestattet war; sein Vater war Stadtphysikus, seine Mutter eine Tochter des Bürgermeisters. Sein bisher einziger Biograph, Johannes Voigt, schildert ihn als einen empfindsamen, musischen, lernbegierigen und frühreifen jungen Menschen, der als siebzehnjähriger, also 1770, die Universität in Königsberg bezog. »Kraus war einer von den Menschen, von denen man sagen kann, sie haben fast keine Kindheit gehabt.« 13 Hatte Kameraiismus in Deutschland, seiner Vertreter und Kritiker gibt Erhard Dittrich:Dte deutschen und österreichischen Kameralisten. Darmstadt 1974 (Erträge der Forschung. Bd. 23). Kraus, sei es als Kameralist, sei es als Smithianer, allerdings fehlt. " Zu derzeit verfügbaren, unmittelbar auf Kraus sich beziehenden biographischen und ökonomisch systematisierenden Literatur s. Fritz Milkowski: »Christian Jakob Kraus«. In: NDB. Bd. 12. Berlin 1980, S. 681 f.; zu diesen »Leerstellen« s. Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 10. Wiesbaden 1970, S. 598 f.; Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 14. Mannheim 1975, S. 307. 12 Franz Wiedmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Reinbek b. Hamburg 1975, S. 47. ' 3 Johannes Voigt: »Das Leben des Professors Christian Jakob Kraus«. In: Christian Jakob Kraus: Vermischte Schriften über staatswirthschaftliche, philosophische und andere wissenschaftliche Gegenstände. Hrsg. von Hans von Auerswald. Königsberg 1819. Tl. 8, S. 20.

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er die während seiner Schulzeit in Osterode gehegte schwärmerische Vorstellung, einmal Prediger zu werden, erst zu Beginn seines Studiums aufgegeben, so trat auch während seiner Studienzeit kein anderes greifbares Berufsziel, auf das er hinarbeitete, hervor. 1 4 Es besteht kein Zweifel, daß Kraus sehr bald, nachdem er seine Studien aufgenommen hatte, sich auf die Lehrveranstaltungen Kants konzentrierte, also anfängliche Absichten, Theologie, dann aber Jura studieren zu wollen, beiseite schob, da ihm die Professoren, die in dieser Fakultät lehrten, nicht zusagten. Bewegte sich somit seine universitäre Beschäftigung ganz im Rahmen der Philosophischen Fakultät, gehörte er bald zum engeren Schülerkreis um Kant, zu dem sich sogar persönliche, zeitweise gar freundschaftliche Beziehungen entwickelten, so ist doch über seinen Bildungsgang im einzelnen nur sehr wenig belegt. Neben den Veröffentlichungen Kants gehörte die Lektüre anderer Philosophen, wie Descartes und Wolff, dann aber auch das Studium der englischen Sprache, was ihn über den sprachlichen Bereich hinaus für die englische Gedankenwelt öffnete, zu seinen Studienschwerpunkten. Hinzu trat aber auch die höhere Mathematik, Differential- und Integralrechnung, die er zeit seines Lebens als ein ebenso anregendes, wie erbauliches Pensum seines wissenschaftlichen Lebens verstand. Zweifellos bildete der Einfluß Kants — dessen moralphilosophische Vorstellungen wie auch dessen Maxime für menschliches Verhalten und Bewähren — das entscheidende Fundament seiner eigenen Betrachtungen. Auf das Studium bei Kant geht sein geschärftes erkenntnistheoretisches Bewußtsein zurück. Grundzug seines wissenschaftlichen Mühens wird die Suche nach einer gesetzförmigen Systematik in praktisch-normativer Absicht. Das Interesse für die Philosophie und die Geschichte der klassischen Antike und ihrer Sprachen bestand seit der Schulzeit. H a m a n n und Hippel gehörten zum engeren Bekanntenkreis von Kraus. Insbesondere zu H a m a n n fühlte er sich hingezogen, fand in ihm einen M e n t o r für literarische und theologische Fragen. Zu einem dritten M o m e n t , das auf seine Bildung bedeutsamen Einfluß besaß, wurde seine Neigung, aus unmittelbarer Anschauung, aus Gesprächen, ja geradezu fein gesponnenen Interviews mit Handeltreibenden, Handwerkern, Landwirten, Forstbeamten praktische Kenntnisse zu erwerben. Trotz seiner zurückhaltenden Art, ja Schüchternheit, vermochte Kraus innerhalb des Kreises seiner Studienkollegen feste Freundschaften zu schließen, u. a. mit Hans von Auerswald und Abraham Penzel, fand darüber hinaus durch die Vermittlung Kants Zugang zu führenden Vertretern der Königsberger Gesellschaft, bekleidete eine Zeitlang das A m t eines Hofmeisters im Hause des

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Ich danke Herrn W. Stark (MA), Marburg, für den Hinweis, daß Kraus sich als Student der Theologie immatrikulierte, ein biographisches Detail, das bei Johannes Voigt fehlt.

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Grafen Keyserling, wodurch er wiederum weitere Kontakte knüpfen konnte. Einige Jahre stand er als Stadtbibliothekar im Dienst der ostpreußischen Hauptstadt. '' Für den Buchhändler und Verleger Kanter übersetzte er Arthur Youngs Politische Arithmetik, eine Arbeit, die zur Ostermesse 1777 erschien. 16 War er, wenn auch selbst nicht selten von Skrupeln, depressiven und hypochondrischen Gemütszuständen geplagt, gesellschaftlich durchaus erfolgreich, konzentrierte er seine Interessen und Aktivitäten so sehr auf den akademischen Bereich, daß etwa zu diesem Zeitpunkt für ihn keine andere Lebensperspektive als eine Universitätslaufbahn in Frage kommen konnte. Die Chance jedoch, die sich 1777 auftat, eine Professur in Halle zu übernehmen, blieb ungenützt. Minister Zedlitz hatte Mendelssohn beauftragt, sich nach einem geeigneten Kandidaten umzusehen, dieser aber wollte ohne Kant keine Entscheidung treffen, Kant wiederum nannte Kraus. Kraus fühlte sich jedoch, wie er sagte, »noch nicht reif«. 17 Gleichsam um diese Scharte auszuwetzen, unternahm er 1779 eine Studienreise, die ihn nach Berlin, Göttingen und Halle führte. Von Kant mit Empfehlungsschreiben versehen, gelang es ihm auch in fremder Umgebung, Bekanntschaften zu schließen, bei einer freimaurerischen Zusammenkunft Zedlitz persönlich kennenzulernen. Mit Biester, Forster und anderen pflegte er regelmäßigen Gedankenaustausch. Empfand Kraus den Aufenthalt in Berlin als gelungen — er verlief ohne eigentliche dringende Verpflichtungen und Arbeiten —, so nahm er in Göttingen, der Universität, an der auch Stein und Hardenberg studiert und wesentliche Impulse für ihre politischen Gedanken gefunden hatten, insbesondere an den Lehrveranstaltungen Heynes und Schlözers teil, und gab seinen Studien einen historisch-philologischen Schwerpunkt. Im Herbst 1780 reiste er über Halle, wo er die Magisterwürde erwarb, und Berlin nach Königsberg zurück. Noch in Göttingen wurde er zum Professor für Praktische Philosophie in Königsberg berufen, ein Amt, das er Ostern 1781 übernahm und ein Vierteljahrhundert bekleidete. Kraus hatte sich zweifellos während seiner Studienzeit als ein brillanter Kopf erwiesen, der, wie man zu sagen pflegt, zu den schönsten Hoffnungen berechtigte; er hatte entsprechende Unterstützung seiner akademischen Lehrer, also insbesondere Kants, aber auch Heynes erfahren. Nichtsdestoweniger war er keineswegs jemand, der aus den Bedürfnissen eines Fachs heraus gezielt und konzentriert studierte, sich einseitig methodisches Rüstzeug und Wissen angeeignet hätte. Er hatte vielmehr — wie J. Voigt schreibt — in den Wissenschaften »gefreibeutert«, wobei sein Biograph sofort hinzufügt, »aber mit Geist vieles gekostet, aber mit seinem Geschmack allerlei 15 16 17

Zu Penzel und anderen Studienfreunden Voigt, Kraus (Anm. 13), S. 4 1 ff. Ebd., S. 57. Ebd., S. 69.

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gesammelt, aber mit gründlichem Urteil in der Auswahl, mit philosophischem Blick für das Wesen, die Bedeutung und den Zweck des wissenschaftlichen Stoffs.« , 8 Besaß er einerseits ein breites Fundament wissenschaftlicher Interessen, als er 1781 seine Professur antrat, so fehlte ihm doch andererseits die Vorstellung, wie er im engeren universitären Lehrbetrieb wirken sollte. Von einer eigentlichen klaren politischen Zielsetzung, gar Programmatik, die über die aufklärerischen Grundsätze und ihre ethischen Vorstellungen hinausging, allgemein einen Beitrag zur Entwicklung menschlicher Kultur, Vernunft und Bildung leisten zu wollen, konnte keine Rede sein. Dagegen gab er zuweilen einer Neigung nach, sehr emotional und drastisch Mißstände der Staats- und Verwaltungspraxis zu kritisieren. So erscheint denn auch die Thematik seiner Vorlesungen während der ersten Jahre zumindest auf den ersten Blick reichlich unsystematisch. Eher beiläufig, keineswegs kontinuierlich hatte Kraus in seinen Veranstaltungen enzyklopädische, politische und ökonomische Themen, wie sie ein Lehrstuhl für Praktische Philosophie zu Ende des 18. Jahrhunderts erfordert hätte, angeschnitten. Er beschäftigte sich mit so unterschiedlichen Wissensgebieten wie etwa der Interpretation der Werke Homers und Piatos, der Einführung in die englische Sprache und Literatur, aber auch der mathematischen Analysis und — am ehesten mit seinem Lehrfach verbunden — der historischen und deskriptiven Statistik. Dabei war er sich darüber im klaren, daß er seinem Aufgabengebiet, Praktische Philosophie zu lehren, nur unvollkommen nachkam. Dessen ungeachtet gewann Kraus, zunächst von Kant unterstützt, bald ein gefestigtes Ansehen in der Universität. Er nahm an einem regen wissenschaftlichen Austausch innerhalb der Kollegenschaft teil, beschäftigte sich eingehender auch mit unterschiedlichen, eher theoretischen philosophischen Fragestellungen wie solchen über den menschlichen Charakter oder Pantheismus, rezensierte in wichtigen wissenschaftlichen Zeitschriften wie der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung. Minister Zedlitz wollte ihm sogar eine neu einzurichtende Professur für Navigationskunde übertragen, die Kraus glücklich abzulehnen wußte. Ausdruck der geistigen Interessen und Strömungen, die Kraus wohl insbesondere von Hamann aufgenommen hatte, war seine Neigung zu ethnographischen und sprachwissenschaftlichen Themen; eine Zeitlang arbeitete er an einer Studie über Volk, Sippe und Sprache der Zigeuner, über die er Informationen aus Kurland sammelte. Aus einer familiengeschichtlichen Fragestellung entwickelte er allgemeines Interesse an Heraldik. Neben all diesen Arbeiten, aus denen jedoch niemals grundlegende, weiterführende Veröffentlichungen entstanden — Kant hatte, wie andere auch, vergeblich darauf gedrängt —, gewannen aktuelle gesell18

Ebd., S. 9 3 ff.

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schaftliche und ökonomische Probleme auf vielfältige Weise seine Aufmerksamkeit. Hatte er noch während seines Studiums, die Ubersetzungen von Young rezipierend, sich mit allgemeinen ökonomisch-theoretischen Überlegungen beschäftigt, so gelangte er nun zu unmittelbaren konkreten Handelsproblemen seiner Umgebung. Er erstellte für den Königsberger Kaufmann Jakobi ein Gutachten über Frachtrechte, die zwischen den Städten Königsberg und Elbing strittig geworden waren, und kritisierte in einem Aufsatz das preußische Seesalzhandelsmonopol. '' Intensiv arbeitete er sich bei den Besuchen auf dem Gut seines Freundes Auerswald in Fragen der Landwirtschaft ein, beschäftigte sich mit dem Landbau als solchem, aber auch mit der Agrarverfassung Ostpreußens. Dieser Blick auf die Arbeit und seine weiteren Interessen während des ersten Dezenniums seines Ordinariats zeigt ein facettenreiches Bild, das keinen persönlich bestimmten Lehr- und Forschungsschwerpunkt erkennen läßt. Der Kanon der Wissensgebiete und Lehrveranstaltungen geht in die Breite; ängstlich sucht er festlegende Aussagen, damit die Gefahr eines Irrtums und der Kritik, zu vermeiden. 20 Diese zehn Jahre, von 1781 — 1791, bilden dennoch die Basis, die unumgängliche Schärfung seines Bewußtseins, ohne die seine herausragenden Leistungen in der Folgezeit nicht möglich gewesen wären. Hervorzuheben ist darüber hinaus, daß Kraus in diesem Lebensabschnitt die Neigung entwickelte, sich von der spekulativen Philosophie, also in erster Linie den Problemen der Metaphysik, wie sie Kant dargestellt und gelehrt hatte, zurückzuziehen, und den politischen Rahmenbedingungen, die seine Gegenwart bestimmten, mehr und mehr systematische Aufmerksamkeit zu widmen. 21 Er charakterisierte sein gewandeltes akademisches Engagement, wenn er, wie 1790, darauf hinwies: »Ich studiere jetzt Naturrecht und das preußische Gesetzbuch und will mich ganz in diese Sache hineinarbeiten; denn es ist eine Amtspflicht.« 22 Ein Jahr später schrieb er: »Zehn Jahre bin ich nun schon Professor der Moral und des Naturrechts und gleichwohl habe ich in der Zeit eher alles andere, als gerade diese meine Pflichtstudien bearbeitet, wie es immer so geht, daß man Steckenpferde lieber hat als Berufssachen.« 2) Zum gleichen Zeitpunkt begann er, sich auch

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Diese beiden Gutachten sind im Wortlaut bei Kraus, Vermischte Schriften (Anm. 13), Tl. ι, S. 3 - 3 8 (»Uber den Frachthandel der Städte Königsberg und Elbing«), S. 39-68 (»Uber das Seesalz-Monopol«) abgedr. Voigt, Kraus (Anm. 13), S. 112: »Sein Grundsatz war: ein Autor müsse durchaus unwiderleglich sein.« Ebd., S. 122 ff.: Kraus kritisiert die »moderne« Metaphysik, er erklärt sie für unnütz, es müsse auf den Universitäten förmlich verboten sein, sie zu lehren. Kraus nannte »speculative« Philosophie »verlorene Zeit! Verschwendeter Fleiß!« Ebd., S. 305. Ebd., S. 325.

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vertieft in die Staatswirtschaftslehre einzuarbeiten, die schließlich sowohl im akademischen Unterricht als auch in seinen privaten Interessen die erste Stelle einnahm; eine Entwicklung, die nicht verwundern muß, stellen wir Kraus' skrupulöse Gesinnung, sein Schuldgefühl in Rechnung, den Pflichten, wie sie ein Lehrstuhl für Praktische Philosophie mit sich bringt, bisher nicht in vollem Umfang nachgekommen zu sein, aber auch sein immer wieder hervortretendes persönliches Augenmerk für gesellschaftliche und ökonomische Gegenwartsfragen, wie die Agrarverfassung. Der bewegende, weiterführende Anstoß dazu kam jedoch von außen, von außerhalb der Universität: Karl Gustav von Struensee, 1791 noch geheimer Finanzrat, nahm bei einem Besuch Königsbergs die Gelegenheit wahr, auf Kraus einzuwirken, die Staatswirtschaft und Finanzwissenschaft — also das kameralistische Moment in der Ökonomie — in seinem akademischen Lehrbetrieb nicht zu vernachlässigen. 14 Er wies auf die mangelhaften Kenntnisse hin, die der Beamtennachwuchs in diesem Bereich von den Universitäten mitbrachte, packte damit Kraus bei seinem pädagogischen Ehrgeiz und Verantwortungsgefühl. Wandte sich Struensee selbst letztlich nicht von dem friderizianischen Merkantilismus ab, so besaßen doch die dreizehn Jahre seiner Ministerzeit (1791 — 1804) den Charakter einer Ubergangsperiode, während der sich einige liberalere Formansätze, etwa in der Frage der Handelsmonopole oder Subventionen andeuteten. Es war eine Zeit, die somit Anlaß gab, überhaupt in eine intensivere Diskussion über wirtschaftspolitische Zielsetzungen und Methoden einzutreten. Kraus ließ sich überzeugen, die bisherige thematische Vielfalt seiner Vorlesungen nicht mehr fortzusetzen, sondern sich ganz — was bisher seinem Geschmack »zuwider« M war — auf die akademische Vermittlung staatswirtschaftlicher Zusammenhänge zu konzentrieren. Er glaubte, dadurch einen grundlegenden Beitrag für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung in Preußen leisten zu können. »Es ist für uns Preußen dermalen das tiefe Studium der Staatswirtschaft nöthiger wie sonst, wäre es auch nur um die Projecte, die man zum besten unseres Nationalvermögens und unserer Staatseinkünfte zur Schau stellt, richtig beurteilen zu können.« 26 Wilhelm Treue weist darüber hinaus auf ein weiteres Motiv hin, das — wenn auch nicht so unmittelbar belegt — für diesen Wandel Krausscher Interessen ebenfalls in Betracht gezogen werden könnte: die Ereignisse der Französischen Revolution, insbesondere die französischen Bodenreformen, mochten zu einem Vergleich mit der Agrarverfassung Ostpreußens herausfordern. 27 Kraus erklärte sich

24 25 26 27

Ebd., S. 317. Ebd., S. 343. Ebd., S. 358 f. Wilhelm Treue: »Adam Smith in Deutschland - Zum Problem des »politischen Pro-

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Jakob

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Kraus

zumindest mehrfach als ein unbedingter Befürworter der Französischen Revolution. 28 Er stürzte sich mit großem Elan darauf, entsprechende Vorlesungen auszuarbeiten. Sind Einzelheiten über den Verlauf des Zusammentreffens von Kraus und Struensee nicht bekannt, so kann doch festgestellt werden, daß mit ihm für Kraus der Abschnitt seiner akademischen Laufbahn begann, der ihn in die preußische Reformbewegung hineinführte, ihn zu einer entscheidenden Gestalt der Epoche werden ließ. So wie sich Struensee bei Kraus für die Kameralausbildung eingesetzt hatte, ging das Generaldirektorium bald darauf diese Frage für das gesamte Königreich an. Im Dezember 1793 befragte es über das Oberschulkollegium alle Universitäten über den Stand des Kameralstudiums. 29 Die Königsberger Universität beantwortete einigermaßen unwillig diese Frage. Sie erklärte sich mit einem geringschätzigen Unterton gegen die wissenschaftliche Pflege dieses Faches, gegen die Einsetzung öffentlicher Vorlesungen, meinte, daß die Kameralia am besten »ex usu und aus der Erfahrung« begriffen und studiert werden könnten. Sie gab damit eine Stellungnahme ab — u. a. auch von Kant unterzeichnet —, die den neuformulierten Vorstellungen von Kraus diametral entgegenstand und ihn auch persönlich treffen mußte. Der Haltung der Universität ungeachtet, entwickelte Kraus ein kameralistisches Lehrangebot, wozu er in der Folge von dem ostpreußischen Oberpräsidenten Schrötter beauftragt war. Dabei suchte er die Grundlagen der Staatswirtschaft, Finanz- und Polizeiwissenschaft eng mit unmittelbaren praktischen Wissensgebieten, etwa der Gewerbekunde oder der technischen Chemie, zu verbinden. Die Kameralistik gewann als universitäres Studienfach in Königsberg unter der Federführung von Kraus und Schrötter schnell an Bedeutung, was sich an einer steigenden Zuhörerschaft, darunter — wie erwähnt — zahlreiche Adlige, ablesen ließ. Sie entfaltete sich auf diesem Wege geradezu zu einem Modefach, was ihrer Reputation als einer aufblühenden Wissenschaft zwar förderlich war, ihr aber auch zusätzlich Mißgunst bei den Vertretern anderer Fächer, insbesondere bei den Juristen, einbrachte. Heinrich von Kleist, der sich als Student auf eine Stelle im Staatsdienst vorbereitete, schrieb 1805: Vorgestern habe ich nun auch einer finanzwissenschaftlichen Vorlesung des Professor Kraus beigewohnt; ein kleiner, unansehnlich gebildeter M a n n , der mit fest geschlossenen A u g e n , unter Gebärden, als ob er im Kreißen begriffen wäre, auf dem Katheder sitzt; aber wirklich Ideen, mit H a n d und Fuß, wie man sagt, zur Welt bringt. E r streut

fessors< zwischen 1776 und 1810«. In: Werner C o n z e (Hrsg)·. Deutschland

und

Europa.

(Fschr. für H a n s Rothfels). Düsseldorf 1951, S. m ff. 28

V o i g t , K r a u s ( A n m . 13), S. 289, 311.

29

Vgl. dazu und für das folgende Heinrich M u t h : »Preußische Kameralstudienpläne um 1800«. In -.Reich, Volksordnung,

Lebensraum.

Darmstadt 1943. Bd. 4, S. 245 — 317.

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Gedanken, wie ein Reicher G e l d aus, mit vollen H ä n d e n und führt keine Bücher bei sich, die sonst gewöhnlich, als N o t p f e n n i g , den öffentlichen Lehrern zur Seite liegen.'0

Wie sehr staatlicherseits Interesse an kameralistischer Ausbildung bestand, ging aus einer Entscheidung Schrötters hervor (1800), in Ostpreußen nur noch Beamte einzustellen, die bei Kraus Vorlesungen gehört hatten. 31 War es zu Beginn des 18. Jahrhunderts König Friedrich Wilhelm I., der die Bedeutung des kameralistischen Studiums erkannt hatte und sich bemühte, einen universitären Ausbildungsgang einzurichten, so traten nun Minister und hohe Beamte hervor, seine Basis an den Universitäten zu verbreitern. Die Universitäten standen diesen Vorstellungen jedoch weitgehend reserviert gegenüber, Debatten über Lehrinhalte und Fakultätszugehörigkeit beeinträchtigten den Wunsch, die studentische Ausbildung in Kameralistik alsbald zu vertiefen. Im Gegensatz zu den kameralistischen Fachvertretern anderer preußischer Universitäten war Kraus vermittels seiner Freundschaft zu Schrötter und Auerswald — Kammerpräsident und Universitätskurator — in der Lage, das Fach Kameralistik in Königsberg fest zu etablieren. Das gilt sowohl für den wissenschaftlichen Lehrplan als auch für die berufsbezogenen Perspektiven dieses Studiums. Kraus' Beziehungen zur reformerischen Beamtenschaft gestalteten sich so eng, daß er 1806, nachdem die Diskussion an den preußischen Universitäten über Lehrinhalte und die organisatorische Eingliederung der Kameralistik wieder aufgeflammt war, als Berater des Generaldirektoriums gutachtete. 32 Kraus teilte in seiner Denkschrift das kameralwissenschaftliche Studium in drei Vorlesungseinheiten ein: 1. Gewerbekunde, die im wesentlichen der Vermittlung der Sachkenntnisse (Was und wie wird produziert? Wie wird der Handel abgewickelt?) dient; 2. Staatswirtschaft, die sich auf der Grundlage des Systems von Adam Smith weitgehend mit volkswirtschaftlicher Theorie befaßt, und 3. Finanz- und Polizeiwissenschaft als eine Art praktischer Nutzanwendung der volkswirtschaftlichen Vorlesungen. Unverkennbar ist es, wie sehr sich Kraus mit diesem kameralistischen Lehrplan, der seinem eigenen Lehrbetrieb entsprach, von seinen früheren Lehrinhalten entfernt hatte. Seine Vorschläge wurden von dem Generaldirektorium zunächst übernommen. Hier stellte man sich sogar vor, diesen Lehrplan für alle Uni30

Kleist an Altenstein am 13.5.1805. Zit. nach H e l m u t Sembdner (Hrsg.): Heinrich Kleists Lebensspuren.

Dokumente

rich von Kleist: Gesamtausg.

und Berichte der Zeitgenossen.

von

München 1969 (Hein-

Bd. 8), S. 160.

3

" M u t h , »Preußische Kameralstudienpläne« ( A n m . 29), S. 294; Voigt, Kraus ( A n m . 13), S. 362. Kraus schrieb dazu in einer Diskussion mit Auerswald, wie das universitäre Studium aufgebaut werden sollte, »daß die künftigen Cameralisten gewisse Kenntnisse mitbringen darin, daß man diese Kenntnisse von ihnen unabbittlich fordere [...]«.

32

M u t h , »Preußische Kameralstudienpläne« ( A n m . 29), S. 294.

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I

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versitäten des Königreichs verbindlich machen zu können. Vom Kultusministerium, an dessen Spitze jetzt Minister Massow stand, wurde dieser Plan jedoch mit zahlreichen Ergänzungen versehen, von den Universitäten, insbesondere von ihren juristischen Fakultäten, erneut einer ermüdenden Kritik unterzogen, so daß zum Kriegsausbruch 1806 noch nichts entschieden war und Kraus nicht zum Vater einer preußischen — wenn man so will — »Neokameralistik« wurde. Dennoch: Kraus war bedeutsam und wirksam als Universitätslehrer der Kameralistik. Durch ihn entwickelte sich dieses Fach, zumindest in Teilbereichen, zu einem Modefach und, was wichtiger ist, einer Grundlage reformerischer Politik. Ökonomische und gesellschaftliche Probleme der Zeit, das Sinnen auf Möglichkeiten und Wege der Veränderung ergaben sich aus den Überlegungen von Kraus. Fritz Milkowski geht in seinem Urteil über den Königsberger Professor noch darüber hinaus, nennt die geistige Substanz seiner Auffassungen »revolutionär« 33 und bezieht sich dabei auf die schon genannte emotionale Kritik von Kraus an preußischen Gegebenheiten; und in der Tat lassen sich eindrucksvolle Stellen belegen, aus denen der Schluß gezogen werden muß, daß sich der Professor für einen »anderen«, durch eine Revolution veränderten Staat ausspricht. Für Kraus' faktischen Umgang mit seinem politischen Umfeld gilt das sicher nicht, mochte er sich auch über die revolutionären Ereignisse in Paris begeistern und die gesellschaftlichen Verhältnisse der Heimat kritisieren. Die Grenzen konkreter Reformen sah er dort, wo die verfassungsrechtlichen Grundfesten des preußischen Staates Friedrich Wilhelms III. gefährdet sein würden. Jakobinischen Tendenzen hat er nie das Wort geredet. Die ostpreußische Reformbewegung besaß somit eine theoretische und eine praktische Komponente. Diese spezifische Bedeutung der Kameralistik, die einst als Stütze hochabsolutistischer Verwaltungspraxis entstanden war, zeigt zweierlei: nicht nur, daß Kameralistik keineswegs lediglich eine definierte Wirtschaftsordnung oder Wirtschaftstheorie per se darstellt, wie das bis in die Gegenwart zuweilen immer wieder verlautet, sondern auch, daß es hier um den Versuch geht, Ökonomie im weitesten Sinn des Wortes für den Staat möglichst nutzbringend einzusetzen. 34 Kraus gelang es, das Reformerische, die Kritik an gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, aus denen die Reformpartei erwachsen ist, mit einer institutionalisierten Kameralistik zu verbinden, die sich diese Kritik zu eigen machte und dadurch ihre Lehre werden konnte: Kameralistik 33

34

Fritz Milkowski: Christian Jakob Kraus — Eine längst fällige Korrektur zur Geschichte der Volkswirtschaftslehre. In: Schmollers Jb. 88 (1968), H . 3, S. 278 ff. Vgl. etwa Hugo Ott und Hermann Schäfer (Hrsg.): Wirtschafts-Ploetz. Freiburg i.Brsg. und Würzburg 1984, S. 108.

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auf dem Boden der Lehre Adam Smiths, Kameralistik als eine Oppositionswissenschaft, als Opposition gegen die Praxis, eine juristische Ausbildung als Entrée für den Staatsdienst anzusehen, als Opposition gegen das hergebrachte merkantilistische Wirtschaftssystem auf einer umfassenderen theoretischen Basis, wie es sie die Physiokratie nicht hatte entwickeln können.35 Mit überschwänglichen Worten hob Kraus die Bedeutung des Werkes von Smith hervor: »Ein wichtigeres Buch als das von Adam Smith hat die Welt noch nicht gesehen, gewiß hat seit den Zeiten des Neuen Testaments keine Schrift wohlthätigere Folgen gehabt, als diese haben wird.«3é Kraus hatte den Wealth of Nations übersetzt und überarbeitet, ihn in seinen akademischen Veranstaltungen auch mit kritischen Anmerkungen, so über den Kapitalbegriff oder das Wert- und Preisproblem, seinen Hörern nähergebracht. Darüber hinaus bildeten die eigenen preußischen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse einen weiteren über Smith hinausgehenden Gegenstand seiner Überlegungen in seinen Vorlesungen, mehr noch Aufsätzen, Gutachten und privaten Äußerungen, in denen er — seinen Neigungen entsprechend — die sogenannte »Elementarlehre« verließ und konkretere Probleme anschnitt, wie etwa die Aufhebung der Erbuntertänigkeit, die optimale Größe eines Agrarbetriebes, den landwirtschaftlichen Kredit oder die Modalitäten des Handelsaustausches in Ostpreußen. Er triumphierte, wie er schrieb, »daß in ganz Deutschland ein so lehrreicher Cursus von sogenannten Kameralwissenschaften nie gelehrt worden, als hier seit Jahr und Tag«.37 Selbstbewußt verglich er sich mit dem Göttinger Kameralisten Sartorius, fügte hinzu, daß er sich noch auf Hume und Büsch stütze und Sonnenfels in seinen Lehrveranstlaltungen »refutando« behandele.'8 Neben und nach der Göttinger Georgia Augusta wurde Königsberg durch Kraus zu einem zweiten Einfallstor der Smithschen Lehre in Deutschland. Insbesondere deren freihändlerische Vorstellungen fanden in Ostpreußen, dessen wirtschaftliches Wohlergehen von ungetrübten Handelsbeziehungen nach Ost und West abhing, leicht Anklang. " Kraus war es, der Smith auf eine politische Zielsetzung hin instrumentalisierte, sozusagen »kameralisierte«, der aber nirgendwo den ökonomischen Freiraum, den er forderte, die allseitige Belebung wirtschaftlicher Tätigkeiten, die er erwartete, als den Ausgangspunkt verstand, der zwangsläufig das Ökonomische vom Staatli-

M 36 37 38

39

Vgl. dazu u. a. Lothar Kramm: Politische Ökonomie. München 1979. Voigt, Kraus (Anm. 13), S. 373. Ebd., S. 387f. Ebd., S. 372; unter dem Titel David Hume's politische Versuche hatte Kraus dessen Werk sogar übers. Abgedr. in Kraus, Vermischte Schriften (Anm. 13), Tl. 7. Gustav Hasse: Theodor von Schön und die Steinsche Wirtschaftsreform. Leipzig 1915 (Diss. Leipzig), S. 4 ff; Treue, »Adam Smith« (Anm.27), S. no.

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chen loslösen mußte, ihm politisch und wissenschaftlich ein neues, sehr bestimmendes Gewicht geben mußte. Seit 1800 verfaßte Kraus wieder eine Reihe von Gutachten, in denen er zu aktuellen handels- und finanzpolitischen Fragen Stellung nahm; er fand mit seinen Ausführungen über die Aufnahme einer Anleihe, um den französischen Kontributionsforderungen entsprechen zu können, Aufmerksamkeit und Dank des Königs. 40 In einem umfangreichen Aufsatz resümierte er ferner, angeregt durch die Kabinettsordre von 1802, seine Auffassung in der Frage der Erbuntertänigkeit, plädierte aus moralischen wie ökonomischen Gründen für ihre Aufhebung und wurde mit diesen Beiträgen immer mehr zu einem »politischen« Professor. 41 Es war schon davon die Rede, daß seine Veranstaltungen einen großen Zuspruch von Hörern erfuhren, eine Wirkung also somit gegeben sein mußte, wenn sich auch der Erfolg nicht leicht und kaum in qualitativer Hinsicht messen läßt. In den Petitionen des ostpreußischen Huldigungslandtags für Friedrich Wilhelm III., 1798, traten spezifische Vorstellungen zutage, etwa Kritik am Seesalzmonopol, an den Einschränkungen des Getreidehandels, des Transithandels überhaupt, redete, wie H. Eicke sagt, der Geist von Adam Smith — und der von Christian Jakob Kraus, läßt sich hinzufügen —, auch wenn der Landtag sich in der Frage der Erbuntertänigkeit zu keiner Empfehlung oder gar zu einer Entscheidung durchringen konnte. 42 Betonte Kraus, daß es ihm wichtiger sei, in seinen Schülern als in Büchern weiterzuleben und zu wirken — der führende Reformpolitiker Theodor von Schön war Schüler von Kraus 43 —, so ist 40

Siehe Kraus, Vermischte Schriften (Anm. 13), Tl. 1 und 2 (»Aufsätze über staatswirthschaftliche Gegenstände«), S. 6 9 - 1 4 2 (»Über den Aufkauf«), S. 1 4 3 - 1 7 2 (»Über die Auflage auf die Weizenausfuhr«), S. 2 0 3 - 2 1 4 (»Über den Leinwandhandel in Preußen«), S. 2 1 5 - 2 6 6 (»Über den inländischen Getreide-Verkehr«). Im 2. Tl., S. 3 - 2 4 (»Über das Verbot der Getreideausfuhr vom linken Rheinufer«), S. 2 5 - 4 8 (»Bemerkungen betreffend die Klage über Geldmangel in Berlin, Königsberg und anderen Plätzen unseres Staates im Jahr 1805«), S. 4 9 - 8 2 (»Über die Mittel, das [!] zur Bezahlung der französischen Kriegsschuld erforderliche Geld aufzubringen«). Hier folgen noch auf den S. 139 — 274 (»Staatswirthschaftliche Bemerkungen«). Ferner sind im ι. Tl. Überlegungen »über die Berechnung von Durchschnittskornpreisen zur Ausmittelung des Silberwerthes«, S. 267 ff., abgedr., die aber wohl von Schülern Kraus' stammen. Auf den S. 175 — 202 befindet sich als Kernstück agrarreformerischer Vorstellungen der Aufsatz »Über die Aufhebung der Privatunterthänigkeit«; zum Dank von Friedrich Wilhelm III. vgl. Henning von Borcke-Stargordt: »Aus der Vorgeschichte zu den preußischen Agrarreformen«. In: Jb. der Albertus-Universität zu Königsberg 8 (1958), S. 122 — 142, hier S. 133.

41

Treue, »Adam Smith« (Anm. 27), S. 113. Hermann Eicke: Der ostpreußische Landtag von 1/98. Göttingen 1910 (Diss. Göttingen). Theodor von Schön: Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen von Marienburg. Halle a.d.S. und Berlin 1875 — 83, hier Bd. 1, S. 6. »Kraus war mein großer Lehrer, er erfaßte mich ganz und ich folgte ihm unbedingt.«

42

43

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seine Wirkung nicht allein in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis, in einer klar umgrenzten akademischen Schulbildung zu sehen, sondern in seinem Beitrag, das politisch-geistige Umfeld insgesamt mitgestaltet, öffentlich gewirkt, auf die Kreise der Reform, die Beamtenschaft, grundlegenden Einfluß genommen zu haben. Namen wie Auerswald, Schrötter und Schön zeugen neben anderen für einen derartigen Einfluß. So wäre eine Auffassung zu revidieren, die Kant und Kraus gleichermaßen als die Lehrer der preußischen Reformbeamtenschaft apostrophiert. 44 Es besteht kein Zweifel, daß es Kants Auffassung vom Staat und der Einordnung der Menschen in ein solches Gemeinwesen war, die grundlegend für eine Wendung zu einer reformerischen Gesinnung gewirkt hat und daß sein Schüler Kraus ihm hier folgt; dennoch trennen Kant und Kraus nicht nur die Bewertung kameralistischer Studien als solcher, sondern auch ihre Umsetzung in praktische Politik, in unmittelbar greifbare Pläne und Vorstellungen zur Agrarreform oder Handelspolitik. Hier ist es Kraus und nicht Kant, der in ganz konkreter Weise als Lehrer und Reformer in Erscheinung tritt, direkte Beziehungen besitzt und mit der Lehre Adam Smiths einen anderen Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens zum Mittelpunkt seiner Betrachtungen macht. 45 Der historische Hintergrund und die Vorstellungswelt, aus der der Reformwille entstand und dann in dem Zeitraum zwischen 1807 und 1820 in einem besonderen Maße wirksam wurde, gehen über Kraus hinaus, beziehen andere Gedankengänge ein, stehen im Zug der Zeit, nehmen auf sich wandelnde Interessenlagen und politische Rahmenbedingungen Rücksicht, sind ihnen zuweilen unterworfen, wie das politische Schicksal von Stein und Hardenberg verdeutlicht. Dennoch tritt die Wirkung von Kraus zumindest in den ersten Gesetzeswerken der Reformzeit unverkennbar zutage, entsprechen diese auf frappante Weise den Ideen, die er vom Katheder, in seinen Gutachten und privaten Gesprächen geäußert hat. Es sind dies die Gesetze über die Veräußerung der Domänen (1808), die Umwandlung der Immediatinsassen auf den Domänen in Eigentümer (1808), die Aufhebung des Zunft- und Mühlenzwangs (1808), die Regelung des Vor- und Ankaufs (1810), insbesondere aber das sogenannte Oktoberedikt (1807), das Edikt, »den erleichterten Besitz und freien Gebrauch des Grundeigentums, so wie

44

4!

Vgl. dazu u. a. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Königstein i.Ts. und Düsseldorf 1981. 5 Bde., hier Bd. 1, S. 278. — Georg Winter: »Zur Entstehungsgeschichte des Oktober-Edikts und der Verordnung vom 14. Februar 1808«. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 40 (1927), S. Ii. — von Raumer, »Deutschland um 1800« (Anm. 4), S. 373 hat dagegen diese Unterschiede der Einflüsse von Kant und Kraus angedeutet. Über die Beziehungen zwischen dem ethischen Ansatz von Kant und Smith vgl. allgemein die Literatur zur Rezeptionsgeschichte der Smithschen Lehre in Deutschland. Daneben August Oncken.Adam Smith und Immanuel Kant. Leipzig 1877.

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141

die persönlichen Verhältnisse des Land-Bewohners betreffend«. Hans von Auerswald, der Herausgeber der Werke von Kraus, hat die Texte dieser Gesetze dem fünften Band seiner Staatswirthschaft, dem Teil, der sich mit preußischen Gegebenheiten beschäftigt, beigefügt46 und sie gewissermaßen Kraus und dem wirtschaftlichen Fundament, das er gelegt hat, zugeschrieben. Es bedarf keines weitergehenden Hinweises, daß aus den genannten Gründen eine solche Zuschreibung nur demonstrativen Charakter haben kann. Betrachten wir z.B. aus dem Komplex des Oktoberedikts den Weg der Verhandlungen, der zur Abfassung der Bestimmungen über den Bauernschutz bei der Aufhebung der Erbuntertänigkeit geführt hatte, wird deutlich, wie unterschiedliche Einflüsse auf das Gesetz gewirkt haben. 47 Unverkennbar aber sind Schrötter und Schön diejenigen, die Kraussche Vorstellungen in die Verhandlungen einbringen, dem alten Bauernschutz im Prinzip keine Bedeutung mehr beimessen, dafür plädieren, unter Auflagen mittelgroße, leistungsfähige Höfe zu schaffen, wie es Kraus gefordert hatte. Die endgültige Fassung des Edikts zeigt dann aber, wie eingeschränkt diese Vorstellungen im Detail zur Geltung kommen konnten. Es bedarf keines abschließenden, pointierenden Hinweises, daß die Lehre Kraus' für Preußen alles andere als ephemere Bedeutung besessen hat. Das Lebenswerk des unscheinbaren Königsberger Professors war die Basis, auf der die Reformpolitik in ihrer sozioökonomischen Ausrichtung festen Halt und Richtung fand, die Arbeit der Universität und der Ministerien miteinander verschmolz. Kraus' Anhänger suchten nach seinem Tod mit der Veröffentlichung seiner Vorlesungsmanuskripte, Aufsätze, Gutachten und Korrespondenzen diese Basis zu festigen, ja eine festgeschriebene Doktrin zu errichten. Personalpolitische Entscheidungen, wie die, Johann Gottfried Hoffmann, der unter Auerswald als Bauassessor bei der Königsberger Kriegs- und Domänenkammer gearbeitet hatte, zunächst zum Nachfolger von Kraus in Königsberg, später zum Professor für Staatswissenschaften an der neuerrichteten Berliner Universität zu ernennen, unterstrichen, diese Bestrebungen reformerischer Politik im Staat weiter zu verankern. Kämpferische Kritik ging dagegen von der sich formierenden restaurativen Partei aus, die dann auch direkt auf Kraus zielte. Einer ihrer intellektuellen Wortführer, Adam Müller, sah an ihm, trotz zugestandener Wertschätzung, epigonenhafte Züge, einen im ganzen »etwas langsamen und unfruchtbaren Kopf«, und zeichnete damit ein abschätziges Kraus-Bild, das, zumeist nicht weiter untersucht, bis in die letzten Jahre mehr oder weniger übernommen wurde.48 46 47

48

Vgl. Kraus, Vermischte Schriften (Anm. 13), Beilagen I —XIX, S. 289 — 413. Vgl. hierzu Winter, »Zur Entstehungsgeschichte des Oktober-Edikts« (Anm. 44), S. 1 - 3 3 . Reinhold Steig: Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe. Berlin und Stuttgart 1901, S. 56.

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Mit dem Sturz Hardenbergs gewann die preußische Politik wieder die bekannten restaurativen Züge, die verfassungsrechtliche Orientierung auf eine konstitutionelle Monarchie stockte, die Agrarreformen blieben unvollständig, erfuhren so im Zuge der aufkommenden Industrialisierung eine geänderte Bedeutung. Eine dauerhafte Wirkung von Kraus erscheint auf diesem Feld begrenzt. Dennoch ist gerade Preußen in Deutschland einen handels-, zoll- und später industriepolitischen Weg liberaler Maximen gegangen, einen Weg, der in Ostpreußen begann und den Kraus mit all seinen Folgen und Erfolgen gewiesen hat. Kraus war der Mann der Männer der Reform. Wie sehr er über die Grenzen Ostpreußens hinaus bei ihnen Anerkennung gefunden hat, macht eine Äußerung des Freiherrn vom Stein deutlich, der zu der genannten Kritik an der wissenschaftlichen Leistung von Kraus und damit an seinem Lebenswerk insgesamt feststellte: »Der Mann hat mehr getan und gewirkt, als diese Herren je verrichten werden. Seine Belehrung drang in alle Zweige des Lebens, in die Regierung und Gesetzgebung ein. Kraus hatte eine unscheinbare und doch geniale Persönlichkeit, die seine Umgebung mächtig ergriff, er hatte Blitze neuer Einsichten, große Anwendungen und setzte uns oft durch sein Urteil in Erstaunen.« 4 5

49 '

von Borcke-Stargordt, »Aus der Vorgeschichte zur preußischen Agrarreformen« (Anm. 40), S. 140.

Rudolf Maker

Kants Tischgesellschaft nach dem Bericht von Johann Friedrich Abegg *

Einleitung Unter dem Titel »Vom höchsten moralisch-physischen G u t « reflektiert Kant in der 1798 erschienenen Anthropologie

in pragmatischer

Hinsicht

über

das konkrete Zusammengehen von Wohlleben und Tugend. E r äußert dabei den Gedanken, daß das Wohlleben, »das mit der Tugend am besten zusammen zu stimmen scheint, [...] eine gute Mahlzeit kann, auch abwechselnder) Gesellschaft«

in guter (und wenn es sein

sei {Ak V I I , 278), 1 und daß sich

»Regeln eines geschmackvollen Gastmahls, das die Gesellschaft

animiert«

(Ak V I I , 281) angeben ließen. E r nennt die folgenden: a) Wahl eines Stoffs zur Unterredung, der Alle interessirt und immer jemanden Anlaß giebt, etwas schicklich hinzuzusetzen, b) Keine tödliche Stille, sondern nur augenblickliche Pause in der Unterredung entstehen zu lassen, c) Den Gegenstand nicht ohne Noth zu variiren und von einer Materie zu einer andern abzuspringen: weil das Gemüth am Ende des Gastmahls wie am Ende eines Drama (dergleichen auch das zurückgelegte ganze Leben des vernünftigen Menschen ist) sich unvermeidlich mit der Rückerinnerung der mancherlei Acte des Gesprächs beschäftigt; wo denn, wenn es keinen Faden des Zusammenhangs herausfinden kann, es sich verwirrt fühlt und in der Cultur nicht fortgeschritten, sondern eher rückgängig geworden zu sein mit Unwillen inne wird. — Man muß einen Gegenstand, der unterhaltend ist, beinahe erschöpfen, ehe man zu einem anderen übergeht, und beim Stocken des Gesprächs etwas Anderes damit Verwandtes zum Versuch in die Gesellschaft unbemerkt zu spielen verstehen: so kann ein einziger in der Gesellschaft unbemerkt und unbeneidet diese Leitung der Gespräche übernehmen, d) Keine Rechthaberei weder für sich noch für die Mitgenossen der Gesellschaft entstehen oder dauern zu lassen: vielmehr da diese Unterhaltung kein Geschäft, sondern nur Spiel sein soll, jene Ernsthaftigkeit durch einen geschickt angebrachten Scherz abwenden, e) In dem ernstlichen

* Erweiterte und veränderte Fassung des 1986 in Bd. X V I / X V I I (S. 5 - 2 5 ) des Jahrbuchs der Albertus-Universität Königsberg erschienenen Aufsatzes: »Königsberg und Kant im >Reisetagebuch< des Theologen Johann Friedrich Abegg (1798)«. 1 Zit. wird nach Immanuel Kant's Gesammelten Schriften. Akademieausg. (abgekürzt Ak mit Band- und Seitenangaben).

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Malter

Streit, der gleichwohl nicht zu vermeiden ist, sich selbst und seinen Affect sorgfältig so in Disciplin zu erhalten, daß wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte; wobei es mehr auf den Ton (der nicht schreihälsig oder arrogant sein muß), als auf den Inhalt des Gesprächs ankommt: damit keiner der Mitgäste mit den anderen entzweiet aus der Gesellschaft in die Häuslichkeit zurückkehre, (ebd.)

Die Berichte derjenigen zeitgenössischen Biographen, die jeweils über längere Zeitspannen Umgang mit Kant hatten, lesen sich wie Illustrationen zu diesen Überlegungen über das in der freiheitlich-toleranten Tischgesellschaft sich manifestierende höchste physisch-moralische Gut. Sie lassen uns praktisch verwirklichten aufklärerischen Geist miterleben. Jachmann schreibt über Charakter und Stimmung von Kants Tischgesellschaft: Alle Menschen, welche mit unserm Weltweisen umzugehen oder ihn in Gesellschaft zu sehen Gelegenheit hatten, haben die einstimmige Versicherung geäußert, daß Kant ihnen in keinem Verhältnis merkwürdiger erschienen wäre, als im gesellschaftlichen Umgange. Besonders Fremde, welche sich nach den tiefsinnigen Werken des kritischen Philosophen ein Bild von deren Verfasser entworfen hatten, fanden sich gewöhnlich auf die angenehmste Art überrascht, wenn sie den Mann, den sie sich als einen finstern, in sich zurückgezogenen und der Welt abgestorbenen Denker gedacht hatten, als den heitersten und gebildesten Gesellschafter kennen lernten. Kant war in dieser Hinsicht auch ein wirklich seltener Mann, er hatte zwei gewöhnlich nicht verschwisterte Eigenschaften, tiefsinnige Gelehrsamkeit und feine gesellschaftliche Politur aufs glücklichste in sich vereinigt. So wenig er seine Kenntnisse bloß aus Büchern geschöpft hatte, so wenig lebte er auch bloß für die Bücherwelt. Das Leben selbst war seine Schule gewesen, für das Leben benutzte er auch sein Wissen, er war ein Weiser für die Welt. — Und welch einen unbeschreiblichen Nutzen hat der unsterbliche Mann gerade dadurch gestiftet, daß er sich für die menschliche Gesellschaft ausgebildet hatte und daß er in ihr so gern lebte! Hier formte er die originellen Ideen seiner tiefsinnigen Philosophie in eine faßliche Lebensweisheit um und ward dadurch in dem engern Kreise des geselligen Umganges noch lehrreicher als selbst durch seine Schriften und öffentlichen Vorlesungen. Er, der als kritischer Philosoph nur wenigen Geweihten zugänglich war, er versammelte als Philosoph des Lebens Menschen aller Art um sich her und ward allen interessant und nützlich. Wer unsern Kant bloß aus seinen Schriften und aus seinen Vorlesungen kennt, der kennt ihn nur zur Hälfte; in der Gesellschaft zeigte er sich als den vollendeten Weltweisen. Lassen Sie uns ihn dorthin begleiten, damit Sie den großen Mann auch in seinem gesellschaftlichen Umgang kennen lernen. Kant besaß die große Kunst, über eine jede Sache in der Welt auf eine interessante Art zu sprechen. Seine umfassende Gelehrsamkeit, welche sich bis auf die kleinsten Gegenstände des gemeinen Lebens erstreckte, lieferte ihm den mannigfaltigsten Stoff zur Unterhaltung und sein origineller Geist, der alles aus einem eigenen Gesichtspunkte ansah, kleidete diesen Stoff in eine neue, ihm eigentümliche Form. Es gibt keinen Gegenstand im menschlichen Leben, über den nicht Kant gelegentlich sprach; aber durch seine Behandlung gewann auch der gemeinste Gegenstand eine interessante Gestalt. Er wußte von allen Dingen die merkwürdigste und lehrreichste Seite aufzufassen; er besaß die Geschicklichkeit, ein jedes Ding durch den Kontrast zu heben; er verstand es, auch die kleinste Sache, ihrem vielseitigen Nutzen und den entfernte-

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Tischgesellschaft

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sten Wirkungen nach darzustellen, unter seinen Händen war das Kleinste groß, das Unbedeutendste wichtig. Daher konnte er sich auch mit jedermann in der Gesellschaft unterhalten und seine Unterhaltung fand ein allgemeines Interesse. Er sprach mit dem Frauenzimmer über weibliche Geschäfte ebenso lehrreich und angenehm, als mit den Gelehrten über wissenschaftliche Objekte. In seiner Gesellschaft stockte das Gespräch nie. Er durfte nur aus seiner reichen Kenntnisfülle irgend einen beliebigen Gegenstand auswählen, um an ihn den Faden zu einem unterhaltenden Gespräch zu knüpfen. Kant vermied in großen Gesellschaften, selbst unter Gelehrten, Gespräche über eigentliche Schulgelehrsamkeit; am wenigsten hörte man ihn über Gegenstände seiner Philosophie argumentieren. Ich erinnere mich nicht, daß er je in der Gesellschaft eine von seinen Schriften angeführt oder sich auf ihren Inhalt bezogen hätte. Sein gesellschaftliches Gespräch, selbst wenn wissenschaftliche und philosophische Objekte der Gegenstand desselben waren, enthielt bloß faßliche Resultate, welche er aufs Leben anwandte. So wie er es verstand, geringfügige Dinge durch den Gesichtspunkt, in welchem er sie aufstellte, zu heben, so verstand er es auch, erhabene Vernunftideen durch ihre Anwendung aufs Leben zu dem gemeinen Menschenverstände herabzuziehen. Es ist merkwürdig, daß der Mann, welcher sich so dunkel ausdrückte, wenn er philosophische Beweise aus den ersten Prinzipien herleitete, so lichtvoll in seinem Ausdrucke war, wenn er sich mit Anwendung philosophischer Resultate beschäftigte. In der Gesellschaft war der dunkle kritische Weltweise ein lichtvoller, populärer Philosoph. Er vermied ganz die Sprache der Schule und kleidete alle seine Gedanken in die Sprache des gemeinen Lebens. Er führte nicht schulgerechte Beweise, sondern sein Gespräch war ein Lustwandeln, das sich bald länger, bald kürzer bei verschiedenen Gegenständen verweilte, je nachdem er selbst und die Gesellschaft an ihrem Anblick Vergnügen fand. Er war in seiner Unterhaltung besonders bei Tische ganz unerschöpflich. War die Gesellschaft nicht viel über die Zahl der Musen, so daß nur ein Gespräch am ganzen Tische herrschte, so führte er gewöhnlich das Wort, welches er aber sich nicht anmaßte, sondern welches ihm die Gesellschaft sehr gern überließ. Aber er machte bei Tische keinesweges den Professor, der einen zusammenhängenden Vortrag hielt, sondern er dirigierte gleichsam nur die wechselseitige Mitteilung der ganzen Gesellschaft. Einwendungen und Zweifel belebten sein Gespräch so sehr, daß es dadurch bisweilen bis zur größten Lebhaftigkeit erhoben wurde. Nur eigensinnige Widersprecher konnte er ebensowenig als gedankenlose Jaherrn ertragen. Er liebte muntere, aufgeweckte, gesprächige Gesellschafter, welche durch verständige Bemerkungen und Einwürfe ihm Gelegenheit gaben, seine Ideen zu entwickeln und befriedigend darzustellen. Die Art seiner gesellschaftlichen Unterhaltung war teils disputierend, teils erzählend und belehrend. Bei letzterer wurde er bisweilen durch den Andrang seiner Ideen von dem interessanten Hauptgegenstande abgezogen und dann sah er gern, wenn man ihn durch eine Frage oder durch eine Bemerkung von einer solchen Digression wieder auf den Hauptgegenstand zurückführte. Wer ihm dieses abgemerkt hatte und den Faden des Gesprächs festhielt, den schien er in der Gesellschaft gern in seine Nähe zu haben. Wenigstens ist mein Bruder, so wie ich selbst, sehr oft in der Gesellschaft von ihm aus diesem Grunde aufgefordert worden, in seiner Nähe am Tische Platz zu nehmen. Seine gesellschaftlichen Gespräche aber wurden besonders anziehend durch die muntere Laune, mit welcher er sie führte, durch die witzigen Einfälle, mit welchen er

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Rudolf Malter

sie ausschmückte, und durch die passenden Anekdoten, welche er dabei einstreute. In der Gesellschaft, w o Kant war, herrschte eine geschmackvolle Fröhlichkeit. Jedermann verließ sie bereichert mit Kenntnissen und neuen Ideen, zufrieden mit sich selbst und mit der Menschheit, gestärkt zu neuen Geschäften und gestimmt zur Beglückung seiner Mitmenschen. Wieviel w i r in seinen gesellschaftlichen Unterhaltungen für H e r z und K o p f fanden, das können Sie schon daraus schließen, daß mehrere mir bekannte M ä n n e r seine Tischgespräche jedesmal ebenso wie vormals seine Vorlesungen, zu H a u s e aufzeichneten und ausarbeiteten. S o viel ich weiß, urteilen auch alle seine Freunde ganz einstimmig, daß Sie nie einen interessanteren Gesellschafter gekannt haben als i h n . !

Wie ebenfalls aus Jachmanns Bericht (und vielen anderen zeitgenössischen Zeugnissen) hervorgeht, hat Kant, schon lange bevor er seine eigene »Ökonomie« einrichtete und bevor in seinem H a u s in der Prinzessinstraße die später von Dörstling poetisch-frei nachgestaltete Tischrunde zu einer Art fester Königsberger Institution wurde, eine Tischrunde u m sich zentriert: als gern gesehener Gast in adligen oder bürgerlichen Häusern, auch als zeitweise regelmäßiger Restaurantbesucher, bildete er über viele Jahre den Mittelpunkt eines Gesprächskreises. Nach Einrichtung des eigenen Hausstandes kamen die Gesprächsgäste zu ihm — tagtäglich fanden sie sich, jeweils k u r z vorher vom Diener Lampe eingeladen, bei ihm ein: Adelige und Bürgerliche, Kaufleute und Professoren, Männer aus dem zivilen, militärischen und kirchlichen Verwaltungsdienst, Ärzte, Pfarrer, Verleger, Schriftsteller und Künstler; fast ausschließlich eingesessene oder über lange Zeit in Königsberg tätige Personen: die Hamann, Hippel, Green, Motherby, Scheffner, Kraus, Borowski, u m nur einige wenige Namen zu nennen. Es kamen freilich auch die Besucher von weit her: Karamsin aus Moskau, Moses Mendelssohn aus Berlin, Bernoulli aus Basel und manch einer, der in den vorhandenen Dokumenten nur flüchtig auftaucht und oft nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt ist. Im ganzen läßt sich sagen: Kants Tischgesellschaft bestand aus dem festen Stamm von (mehr oder weniger häufig eingeladenen) Königsberger Mitbürgern und aus einer — auf die Jahre hin gesehen — nicht unerheblichen Anzahl von Zufallsbesuchern, die vom Wunsch getrieben waren, den berühmtesten Denker der Zeit persönlich vor Augen zu sehen. Für uns heute besteht der eigentliche Effekt der Kantischen Tischgesellschaft in den Gesprächen, die aus ihr hervorgingen, insbesondere in Kants mündlichen Äußerungen, die uns die Zeitgenossen überliefert haben. Die Auswertung solcher Aufzeichnungen ist sowohl für die biographische als auch für die philosophische Kantforschung von nicht unerheblicher Bedeutung. Bislang freilich gestaltete sich die Auswertung von Kant-Gesprächen

2

Jachmann ( A n m . 22), S. 176— 179.

Kants

Tischgesellschaft

47

umständlich und schwierig, fehlt doch noch immer die entsprechende Gesamtedition. Karl Vorländer hat auf dieses Desiderat 1924 dringend hingewiesen. Seit einigen Jahren sind die konkreten Arbeiten zur Edition (in der »Philosophischen Bibliothek« bei Meiner) im Gange, und es wird sich erst nach Abschluß der Edition die volle Bedeutung von Kants Gesprächen beurteilen lassen. Aus der Fülle der im Kontext zu edierenden, jetzt noch verstreut und oft sehr versteckt existierenden Dokumente greifen wir zur Illustration des Charakters von Kants Tischgesellschaft und speziell zur Vergegenwärtigung des biographisch wie philosophisch hohen Wertes von Kants mündlichen Äußerungen Aheggs Bericht über seinen Besuch bei Kant im Sommer ιγ$8 heraus.

I Das Tagebuch, das der reformierte Theologe Johann Friedrich Abegg auf seiner Reise nach Königsberg im Jahre 1798 verfaßt hat, war bisher nur in den Auszügen bekannt, die Hans Deiter 1909/ 10, Karl Vorländer 1913 und dann nochmals 1924 veröffentlicht hatten.' Schon die in diesen Veröffentlichungen mitgeteilten Passagen ließen den Eindruck entstehen, daß es sich bei dem Abeggschen Reisetagebuch um ein Dokument von besonderem zeit- und kulturgeschichtlichem, speziell auch philosophiegeschichtlichem Informationswert handeln müsse. Die von Walter und Jolanda Abegg in Zusammenarbeit mit Zwi Batscha besorgte erste Gesamtausgahe bestätigt diesen Eindruck. 4 ' Vgl. »Johann Friedrich Aheggs Reise zu deutschen Dichtern und Gelehrten im Jahre 1798«. N a c h Tagebuchblättern mitgeteilt von H a n s Deiter. In: Euphorion

16 (1909),

S. 732 — 7 4 $ ; 17 (1910), S. 55 — 68. — Karl Vorländer: »Kant als Politiker«. In: März (München) 7. Jg. 1913, Bd. 2, S. 219 — 225. — Oers.: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk. Leipzig 1924 (2 Bde.; 2., erw. A u f l . H a m b u r g 1977, 2 Bde. in 1 Bd., abgekürzt im folgenden: Vorl. I, Vorl. II mit Seitenangaben). D i e von Deiter und Vorländer gebotenen A u s z ü g e wurden in der Kantforschung häufiger ausgewertet (vgl. u. a. Burg, s. A n m . 42, und H e n r i c h : Kant, Gentz,

Rehberg.

Uber Theorie und Praxis.

Einl. von

Dieter Henrich. F r a n k f u r t a . M . 1967). 4

Johann Friedrich A b e g g : Reisetagebuch

von 1798. Erstausg. Hrsg. von Walter und J o -

landa A b e g g in Zusammenarbeit mit Z w i Batscha. Frankfurt a . M . 1976. 2. A u f l . 1977 (im folgenden: Reisetagebuch.

— M i t Z i f f e r n in K l a m m e r n w i r d im weiteren auf die

entsprechenden Stellen im Reisetagebuch Kant-Studien

verwiesen). Z u r Kritik dieser Edition vgl.

70 (1979), S. 339 f. Eine Überarb. A u s g . erschien 1987 als Insel-Taschen-

buch. — Vorländer hat im A n h a n g zu seiner Kantmonographie (Vorl. II, 377) die Deitersche Teiledition scharf kritisiert. A b e r auch zwischen den von Vorländer gebotenen A u s z ü g e n und den entsprechenden Passagen in der Gesamtausg. bestehen teilweise schwerwiegende Differenzen. D e r gewichtigste Fall sei genannt: Kant sagt gemäß

148

Rudolf

Maker

Johann Friedrich Ahegg, zur Zeit seiner Reise Pfarrer in Boxberg bei W ü r z b u r g , s begann seine (auf Einladung seines Bruders 6 erfolgte) Reise am 25. A p r i l 1795; sie führte ihn über G o t h a , Jena, Weimar, Leipzig, Berlin und

Gesamtausg. (S. 249): »Die Religion wird keinen Fortbestand mehr haben.« Bei Vorländer lesen wir: »[...] keinen Verlust mehr [...].« Eine Entscheidung über Richtigkeit oder Falschheit dieser Lesarten kann nur der treffen, der das Manuskript eingesehen hat. Vom lebhaften Echo, welches die Erstausg. gleich nach Erscheinen hervorrief, zeugen die recht zahlreichen und z.T. auch ausführlichen Feuilletons. Vgl. u.a. Urs Bitterli: »Begegnungen mit Kant, Abbé Sieyès, Wieland«. In: Neue Züricher Zeitung 26. / 27.2.1977. — Nino Erne: »Das alte Königsberg als Musenhof«. In: Die Welt 6.3.1977. — »Politische Gespräche mit Kant«. In: Arbeiter-Zeitung (Wien) 15.1.1977. — Werner Helwig: »Landschaften des Geistes«. In: Rheinische Post 15.1.1977. - Ders.: »Reisetagebuch von 1798«. In: Darmstädter Echo 31.1.1977. - Susanne Knecht: »Angenehm dicker Goethe«. In: Wir Brückenbauer (Zürich) 6.5.1977. — Otto Heuscheie: »Ein bedeutendes Reisetagebuch«. In: Die Tat u.3.1977. — Anton Krättli: »Reise nach Königsberg«. In: Schweizerische Monatshefte August 1977, S. 404 — 408. — E. M. Landau: »Ein Reisetagebuch von 1798«. In: Thurgauer Zeitung 25.3.1977. — Ders.: »Eine trügerische Idylle«. In: Wiesbadener Kurier, Magazin, April 1977. — Oexs.-.Einst Gesprächsstoff der Gesellschaft (zur 2. Aufl.). In: Salzburger Nachrichten 26.6.1977. ~~ V. Lehmann: Rez. in: Deutsches Arzteblatt. Arztliche Mitteilungen. H. 42 vom 20.10.1977. — Albert von Schirnding: »Zu Tisch bei Immanuel Kant«. In: Süddeutsche Zeitung 26./ 27.2.1977. — Gerhard Schulz: »Kant ließ keinen zu Wort kommen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 1.2.1977. - Ralph Rainer Wuthenow: »Klatsch aus gebildeten Zeiten«. In:Die Zeit Nr. 6, 28.1.1977. (Dem Insel-Suhrkamp-Verlag sei an dieser Stelle für die Mitteilung dieser Titel gedankt.) 5

Zur Person Abeggs vgl. die Einl. Walter Abeggs. Die wichtigsten Daten: Geb. 30.9.1765 in Roxheim bei Bad Kreuznach als Sohn des reformierten Pfarrers Johann Jakob Abegg; Studium in Halle (Theologie und Philologie); 1789 Konrektoratsverwalter am Heidelberger Gymnasium; im gleichen Jahr außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg; 1793 Pfarrer und Inspektor in Boxberg bei Würzburg; seit 1823 Erster Prediger an der HL Geist-Kirche in Heidelberg; 1816 ordentlicher Professor der Theologie; 1828 Rektor der Universität; gest. 1840 in Heidelberg. - Abegg hat nur wenig veröffentlicht; vgl. u.a. Versuch über das Allgemeine der sokratischen Lehrart. Heidelberg (Diss.) 1793. — Predigt über Römer 3, gehalten am 20. October dieses Jahres vor der Ev. Ref. Gemeinde zum Heiligen Geist. Heidelberg 1816. - De Ioanne Baptista Oratio quam dixit die XXV. M. Martii in aula nova universitatis Heidelbergensis. Heidelberg 1820. - In den Heidelberger Jahrbüchern hat Abegg eine Anzahl von Rezensionen publiziert (vgl. hierzu die weiter unten erwähnten Briefe an Scheffner). — Das Reisetagebuch war nach Abeggs ausdrücklichem Willen nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Uber die Gründe vgl. die Mutmaßungen Batschas, S. 317 f. Wenn Abegg auch ein Unbekannter geblieben ist, so stimmt die Behauptung, er habe es »zu keinerlei lexikalischem Fortleben« (Albert von Schirnding) gebracht, nicht ganz. Immerhin bringt die ADB einen Art. aus der Feder Holtzmanns (ADS, Bd. ι, S. 4 f.) und L. Abegg schreibt einen Beitrag über ihn in den Badischen Biographien (hrsg. von Friedrich von Weech. 1. Tl. Heidelberg 1875, S. 1 f.). — Vgl. auch die Vorträge auf Veranlassung des Hinscheidens des [...] Kirchenrates Dr. J. F. Abegg. Hei-

Kants

Tischgesellschaft

149

D a n z i g in ca. fünf Wochen nach Königsberg. 7 D e r Bruder w a r ihm nach Elbing bereits entgegengereist, um ihn von hier aus nach Königsberg zu geleiten. »Im H o h e n Krug, eine Meile vor Königsberg, trafen w i r die Hausgenoßen meines Bruders an, die uns hierher entgegen gefahren waren. So fuhren w i r mit 3 Chaisen in Königsberg ein, und G . Ph. führte mich in sein Haus, in das ich mit R ü h r u n g meinen Fuß setzte.« (136) Die Welt, mit der Abegg durch seinen Bruder in Berührung kommt, ist die Welt des durch Handel und heimisches G e w e r b e wohlhabend gewordenen Großkaufmannsstandes. D e r Bruder gehört zur Prominenz dieses Standes, und durch ihn macht der Besucher dann auch schnell die Bekanntschaft mit anderen kommerziell führenden Häusern. 8 E r nimmt an ihren Gesellschaften teil und kann sich über das wirtschaftliche Leben der Stadt unmittelbar informieren. Eine Selbstverständlichkeit für den in Königsberger Kaufmannskreisen Lebenden — w i r wissen dies besonders gut aus Kants und H a m a n n s Biographie — ist der direkte Kontakt zu den Intellektuellen

6

7

8

delberg 1840. - Hinweise auf die Veröffentlichungen von Ullmann und Rothe finden sich im genannten ADB-Art. Briefe Aheggs an J. G. Scheffner sind im ersten Band des Scheffner-Briefwechsels veröffentlicht (Briefe an und von Johann George Scheffner. Hrsg. von Arthur Warda. Bd. i. A —K. München und Leipzig 1918). — Vgl. zu diesen Briefen die »Würdigung der Scheffnerbriefe« durch Carl Diesch in Bd. 5 des Briefwechsels (Briefe [...]. Bd. 5. Hrsg. von Carl Diesch. Königsberg 1938. — Vgl. auch die im gleichen Band enthaltenen Anmerkungen zu den Abeggbriefen [S. 49-52], dort zu verbessern: Boxberg [statt Roxberg] und 1/98 [statt 1800] als Datum des Königsbergbesuchs). Ob die Reise nur den Zweck hatte, den Bruder zu besuchen, oder ob sie noch mit einer »Mission« (eventuell der Vereinigung der lutherischen mit der reformierten Kirche) verbunden war, wird von Batscha vorsichtig erwogen (S. 332 f.). Das Tagebuch gibt keine konkreten Hinweise. Abegg benutzte die Gelegenheit einer Reise quer durch Deutschland, um berühmte Persönlichkeiten aufzusuchen (u. a. Fichte, Goethe, Herder, Jean Paul, Sieyès, Wieland). Die Reise begann am 25. April und endete am 10. August 1798. Zum Reiseverlauf vgl. die Tafel im Reisetagebuch, S. 368. Wir gehen im folgenden nur auf die Königsberger Phase ein. Als Gesamtinformation über den Bericht tut Deiters Darstellung auch heute noch gute Dienste; vgl. auch die in Anm. 4 genannten Gesamtwürdigungen. Über den Bruder Georg Philipp Abegg vgl. die Angaben in Walter Abeggs Einleitung, S. 12, und die Daten im Personenregister, S. 353. Merkwürdigerweise erwähnt Fritz Gause in seiner Königsberger Stadtgeschichte Georg Philipp Abegg, der nach Mitteilung Walter Abeggs zeitweise immerhin »60 eigene Schiffe« besaß, »bei weiteren zwanzig beteiligt« war und das Rittergut Aweyden erworben hatte, im Kapitel über die Königsberger Kaufmannschaft des 18. Jahrhunderts nicht (vgl. Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. Bd. II.: Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Köln und Graz 1968). Im Scheffner-Briefwechsel wird er dagegen häufiger erwähnt.

15°

Rudolf

Malter

der Stadt. ' Abegg macht regen Gebrauch von der Möglichkeit, die interessantesten Figuren des Königsberger Geisteslebens kennenzulernen, mit ihnen selbst zu sprechen und über sie in den häufig stattfindenden geselligen Zusammenkünften in den verschiedensten Häusern Charakteristisches — auch Anekdoten und Klatsch — zu hören. Abegg notiert sich fleißig, wann und bei wem er eingeladen war, wie er empfangen wurde, mit wem er gesprochen hat und worüber im Frühsommer 1798 in Königsberg hauptsächlich geredet wurde. Er trifft, teils in größerer Gesellschaft, teils bei Einzelbesuchen, renommierte Männer Königsbergs: Scheffner, Kraus, Schultz, Pörschke, Borowski, Crichthon, von Baczko, Jensch, Frey, Deutsch, J. M. Hamann. Man spricht über denk- und merkwürdige Personen, die in der Stadt lebten: so vor allem über Hippel, über Hamann, Fichte (von dem der Klatsch wissen will, daß er ein Mädchen bei seinem ersten Königsberger Aufenthalt geschwängert habe), man spricht auch über die noch in der Stadt Lebenden — an erster Stelle über den greisen Kant, dann über seinen politisch zwielichtigen Universitätskollegen Schmalz, auch über einige der schon Genannten wird in Abwesenheit geredet (man lese etwa das Urteil Scheffners über Borowski oder über Schultz), man unterhält sich nicht zuletzt über die gerade aktuellen Autoren aus dem Bereich der Literatur (Jean Paul, Jung-Stilling, Biester, Claudius, Graf v. Stolberg, Voß) und über das gerade in Königsberg anläßlich der Krönungsfeierlichkeiten anwesende Königspaar. Der Königsbesuch ist politisches Hauptgespräch. 10 Abegg hat sich die einzelnen Stationen der Ereignisse meist aufgrund eigener Anschauung aufgezeichnet: 3. Juni: Ankunft des Königspaares im geschlossenen Wagen — er bemerkt die Schönheit der Königin Luise und die Verlegenheit des jungen Königs; 5. Juni: Huldigung und Feier im Moskowitersaal; Studentische Huldigung; 6. Juni: »Revue« des Königspaares und Parade; 7. Juni: Volksunterhaltung anläßlich des Ereignisses (»acrobatisches Kunstwerk«

9

Vgl. F r i t z G a u s e : »Kants Freunde in der Königsberger Kaufmannschaft«. In: Jb.

der

Albertus-Universität

Ein

Buch der Erinnerung

Königsberg

9 (1959), S. 4 9 - 6 7 ; Ders.: Kant und Königsberg.

an Kants 250. Geburtstag

am 22. April

1974.

L e e r / O s t f r . 1974,

S. 68 ff. 10

Vgl. Abeggs Schilderungen S. 153 ff. — Weiter zu diesem Ereignis: Henning: gische Ubersicht der denkwürdigsten

Begebenheiten,

Todesfälle und milden

Elbing 1803 (zit. nach Gause). — Gause, Kant und Königsberg

ChronoloStiftungen.

( A n m . 9), II, S. 2 2 1 .

-

Vgl. weiterhin die Erinnerungen Wilhelm von Brauns (»Blüten und Dornen«), die sein N e f f e M a g n u s Freiherr von Braun in seiner Autobiographie (Weg durch vier

Zeit-

epochen. A u s dem Göttinger Arbeitskreis. Veröffentlichung N r . 280, 3. A u f l . L i m b u r g o . J . [1956], S. 15 ff.) publizierte. — Vgl. auch Batscha, S. 326 f. — Krättli, »Reise nach Königsberg« ( A n m . 4) bemerkt zu Recht, daß an der Abeggschen Schilderung der Reaktion der Königsberger auf den Krönungsbesuch »die unabhängigen Stellungnahmen der Kaufleute, des Bürgertums und der Beamten von besonderem Interesse sein dürften«. (S. 408).

Kants

Tischgesellschafi

auf dem Mühldamm; Aufsteigenlassen von Luftballon und Sternrakete); 8. Juni: Feldlager mit Manöver (Kavallerie und Infanterie) und abends Ball der Landstände mit Illumination des Schloßteiches, auf dem der König und die Königin im Boot fahren. Dank der gehobenen gesellschaftlichen Stellung des Bruders kann Abegg an der Feier im Moskowitersaal teilnehmen (hier fallen ihm die vielen polnischen Magnaten auf — wie überhaupt während der Festtage eine unübersehbare Menge auswärtigen Besuchs in Königsberg weilt); auch dem Manöver kann er beiwohnen und er gehört zusammen mit dem Bruder, der ein Billet für den Landständeball bekommen hatte, zu denen, die in einem Schiff dem Boot des Königs folgen dürfen. Neben diesen Ereignissen bietet auch der Theater- und Konzertbesuch Abwechlung während des zweimonatigen Aufenthaltes. Abegg sieht im Königsberger Theater Kotzbues Wildfang und das Stück Abällius, der große Bandit, er erlebt eine Aufführung der Zauberflöte und nimmt im Theater und im privaten Zirkel an Konzert und Serenade teil. Bei Kriegsrat Bock kann er eine bedeutendere Gemäldesammlung mit Bildern von Claude Lorrain und Bernhard Rode besichtigen. Ausflüge in die Umgebung — nach Schloß Friedrichstein, nach Pillau, zu Hippels Garten — erweitern seine Landeskenntnis wie der Besuch einiger Bernsteindrehereien und einer Druckerei mit Druckmaschine ihm einen Einblick in das wirtschaftliche Leben der Stadt Königsberg vermitteln. Auch vom Universitätsbetrieb bekommt Abegg einen Eindruck: er wohnt einer Disputation in der Albertina über die Todesstrafe bei, in der Schmalz den Opponenten macht, er hört eine Vorlesung von Pörschke über Naturrecht und besichtigt mit Professor Gensichen die »Universitäts- oder Schloßbibliothek«; bei dieser Gelegenheit besteigt er »den Schloßthurm, den höchsten Thurm in Königsberg. Von der Gallerie kann man nicht allein die ganze Stadt mit all ihren Teichen und freyen Plätzen übersehen, sondern auch die Mündung des Pregels gegen das frische Haff, und dieses frische Haff gleich selbst. In der Ferne zeigt sich der höchste Berg in Preußen, welcher 5 Meilen von hier entfernt ist.« (193 f.)

II Goethebesuch in Weimar, Fichtebekanntschaft in Jena, Erlebnis der Krönungsfeierlichkeiten in Königsberg — nichts hat Abegg so berührt wie die Begegnung mit Immanuel Kant. Nicht nur durch den Bericht über seine Besuche bei dem greisen Philosophen und über die dort geführten Unterhaltungen — sie sind für den Kantforscher selbstverständlich das Wertvollste des Berichts —, auch schon durch die Aufzeichnung dessen, was die Zeitgenossen in und außerhalb Königsbergs über Kant geäußert haben (erstaunlich Heterogenes zu Person und Lehre), wird das Reisetagebuch zu einem

Rudolf

Malter

für die biographische und vor allem für die wirkungsgeschichtliche Kantforschung zu einem erstklassigen Dokument. Gewiß trifft auch hier zu, was Zwi Batscha im Nachwort generell über den Quellenwert des Reisetagebuches äußert — daß es »keine völlig neue und fundamentale Erkenntnis« (318) bringe, doch ist sicher auch hinsichtlich Kants seine Vermutung richtig, daß diese Quelle den Forscher durch »Einsichten bereichern« und ihm »Nuancen und Schwerpunkte geben kann, die weiteren Differenzierungen den Weg bereiten können«, (ebd.) Schon auf dem Wege nach Königsberg ist Kant häufigeres Gesprächsthema. In Jena hält Abegg eine Unterhaltung mit Fichte 1 1 fest, in welcher dieser von der »Dunkelheit und Verworrenheit« (60) spricht, die sich schon im Porträt Kants ausdrücke. Im gleichen Gespräch kritisiert Fichte — nun in einer wohlwollenden Hinwendung zu Kant — die an der finanziellen Behandlung Kants durch den preußischen König sichtbar werdende Geringschätzung des Philosophen durch die Macht (vgl. 60). — »Einige sehr interessante Notizen von Kant« hört Abegg in Leipzig von einem Herrn Freund, der »lange vor der Herausgabe der Kritik der reinen Vernunft in Königsberg war, und in demselben Hause, wo damalen Kant wohnte, sehr bekannt war«. (91); so notierte sich Abegg aus den Erzählungen des ehemaligen Hausgenossen: »Kant war sehr empfindlich. Wenn ihm, der 20 Jahre an der Kritik arbeitete, gesagt wurde, daß er dieses Werk doch vollenden solle, antwortete er: >Oh man hat ja so viele Störungen in diesem Hause.< Man gab ihm ein Logis in einem abgelegenen Garten: »Oh, da ist mir's zu todt, zu einsam.< — Aber ein vortrefflicher Gesellschafter und Mensch sei er übrigens.« (91 f.) Gelobt wird Kant seines Charakters wegen von Markus Herz, der allerdings zugleich feststellen zu können glaubt, daß die Kantianer nur »wenige ehrwürdige, gute Menschen hervorgebracht« hätten (104); George Meilin wird von diesem harten Urteil ausgenommen. In Königsberg kann Abegg sich mannigfache Bemerkungen über Kant aus dem Munde seiner unmittelbaren Mitbürger aufschreiben — Bemerkungen, die vor allem dann, wenn sie Kants Persönlichkeit und Charakter betreffen, immer unter dem Aspekt des Beurteilungsperspektivismus gelesen werden müssen: so behauptet der Kriegsrat Bock bei einem Gespräch über Kants Beziehung zu Hippel, Kant sei »ein fühlloser Philosoph«, und er dürfe »von Freundschaft und Liebe [...] nicht reden, er hat sich ganz darüber hinaus philosophirt« (245). Ähnliches hören wir von Abeggs häufigem Begleiter Dunker im Zusammenhang einer Unterhaltung über Kants Kontroverse mit Schlettwein; in Anbetracht der aus Kants Lehre folgenden These, man müsse auch, um nicht zu lügen, Zu Kant S. 3 3 9 ff.

Fichte im Abeggschen Reisetagebuch

vor allem S. 144; vgl. Batscha,

Kants

Tischgesellschaft

!J3

seinen Freund an einen Mörder verraten, meint Dunker: »>Kant hat sich zu hoch hinauf philosophirt, und wäre er nicht Kant, so müßte man auf Freundschaft und Liebe verzieht thun, und K. selbst mag ihrer doch eigentlich sich nicht erfreuen.0, fürchten Sie sich etwa vor dem Todte? Wie unrecht! Sehen Sie, ich fürchte ihn nicht, ungeachtet der Postwagen vor der Thüre steht.«« (147 f.) 3. Vom gänzlichen Unglauben und von der totalen Diesseitigkeit Kants spricht schließlich — mit der Versicherung, sich hier nicht zu täuschen — der ehemalige Kantschüler Pörschke: »>Aber [...] mit Kants Glaube sieht es sehr windig aus. Da ich ihn so lange kenne, sein vieljähriger Schüler gewesen bin, noch wöchentlich bei ihm esse: so glaube ich ihn hierüber genau zu kennen. Daß er manchmal so erbaulich spricht, ist ihm noch von früheren Eindrücken übrig geblieben. Er hat mich oft versichert, er sey schon lange Magister gewesen und habe noch an keinem Satze des Christentums gezweifelt. Nach und nach sey ein Stück ums andere abgefallen. Reinhold spricht auch viel von seinen Schriften: Was soll ich glauben, was soll ich hoffen? Nichts glauben, nichts hoffen! Hier deine Schuldigkeit thun, sollte man auf Kantisch antworten.« (184) In keiner bislang bekannt gewordenen Kantquelle ist so eindeutig von Kants persönlichem religiösen Unglauben die Rede wie in diesen drei Aussagen, deren historische Authentizität man mit Gründen wohl nicht bezweifeln kann. 21 Sollte Heines ironischer Verdacht, Kants Postulatenlehre verdanke sich nicht Uberzeugung und Argument, sondern heteronomen Bestimmungsgründen: Obrigkeitsangst und Mitleid mit den — in Lampe repräsentierten — (durch den Tod Gottes in der Kritik der reinen Vernunft) trostlos gewordenen Menschen, zutreffen? Doch abgesehen davon, daß — da Parallelaussagen bei Kant und bei unmittelbaren Zeugen seiner Gespräche fast fehlen — diese Stellen als Basis für den Beweis der Richtigkeit des Heineschen Verdachts zu schmal sind, täte man Kant Unrecht, die Differenzen zwischen Postulatenlehre einerseits und persönlicher religiöser Überzeugung andererseits so zu interpretieren, als sei die Postulatenlehre nur Heuchelei, weil der, der sie konzipiert hat, persönlich nicht an das glaubt, was in ihr als vernunftnotwendig gefordert wird. Wie immer ist Kant auch hier komplizierter, als es der oberflächliche Blick wahrhaben will. Es gibt nämlich ein zumindest ebenso authentisches Zeugnis wie das Abeggsche, das uns zum richtigen Verständnis dieser Differenz — nicht zu ihrer Aufhebung, sondern zur Erklärung ihrer Faktizität — führen kann. Jachmann, der tiefste der drei Kantbiographen, greift nämlich eine sachlich ähnliche Behauptung wie die von Abegg überlieferte — Kant sei persönlich

21

Wir stimmen hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen Aheggs ganz mit Vorländer (»Kant als Politiker« [Anm. 3], S. 221) überein.

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gänzlich ungläubig gewesen — a u f " und versucht unter Berufung auf ein mit Kant geführtes Gespräch, der Behauptung entgegenzutreten. Jachmann berichtet: »Wir kamen eines Tages in einem vertrauten Gespräche auf diesen Gegenstand, und Kant legte mir die Frage vor: was ein vernünftiger Mensch mit voller Besonnenheit und reifer Überlegung wohl wählen sollte, wenn ihm vor seinem Lebensende ein Engel vom Himmel, mit aller Macht über sein künftiges Schicksal ausgerüstet, erschiene und ihm die unwiderrufliche Wahl vorlegte und es in seinen Willen stellte, ob er eine Ewigkeit hindurch existieren oder mit seinem Lebensende gänzlich aufhören wolle ? und er war der Meinung, daß es höchst gewagt wäre, sich für einen völlig unbekannten und doch ewig dauernden Zustand zu entscheiden und sich willkürlich einem ungewissen Schicksal zu übergeben, das ungeachtet aller Reue über die getroffene Wahl, ungeachtet alles Überdrusses über das endlose Einerlei und ungeachtet aller Sehnsucht nach dem Wechsel dennoch unabänderlich und ewig wäre.« 2 ) Das Entscheidende für Kants Stellung zur Unsterblichkeitsfrage besteht nun darin, daß er aus dieser Abneigung gegen einen von diesem Leben gänzlich unterschiedenen, nämlich wechsellosen, immer gleichen Zustand — einer Abneigung, die sich bei ihm psychologisch sowohl aus der Angst vor aller Veränderung des Eingefahren-Bekannten einerseits und, merkwürdiges Paradox, aus dem Unbehagen gegenüber einem immergleichen und dazu noch endlos dauernden Dasein andererseits, erklärt — nicht die Konsequenz zieht, die Postulatenlehre, speziell die vernunftimmanente Forderung nach einer ewigen Fortdauer, werde hinfällig. Sondern: er konstatiert zwischen dem, was die Vernunft mit subjektiver Notwendigkeit unabdingbar fordert, und dem, was der Mensch lebensmäßig-emotional (man möchte sagen: aus Neigung) verlangt, eine Diskrepanz. Zutreffend folgert Jachmann: »Sie sehen wohl ohne mein Bemerken, daß dieses pragmatische Räsonnement mit seinem moralischen Vernunftglauben in gar keinem Widerspruch steht, denn letzteres kann etwas anzunehmen gebieten, was der Mensch selbst nicht wünschen kann.« 14 Daß bei Kant nach Jachmanns Interpretation kein Widerspruch zwischen den beiden heterogenen Aussagen vorliegt, rührt von daher, daß von ein und derselben Sache, nämlich der ewigen Fortdauer, unter zwei gänzlich verschiedenen Rücksichten gesprochen wird — einmal wird auf einen subjektiven Wunsch geblickt, ein andermal wird ein transzendental-logi11

Jachmann wird im folgenden nach der Neuausg. seiner Kantbiographie durch Felix

Gross zit. (Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund von Reinbold Bernhard Jachmann. In: Immanuel Kant. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Reprogr. Ndr. der von Felix Gross hrsg. Ausg. Berlin 1912; Darmstadt 1968).

2J 24

Jachmann, Jachmann,

S. 171. S. 172.

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sches Argument mit Anspruch auf Stringenz formuliert. Welche Seite für Kant selbst die maßgebliche ist, bleibt offen; die Frage stellt sich eigentlich auch gar nicht, denn es scheint sich hier um eine Differenz zu handeln, bei der es nicht möglich ist, durch eine philosophische Reflexion zu einer Präferenzentscheidung zu kommen; die philosophische Reflexion nämlich dürfte hinsichtlich der Unsterblichkeitsfrage für Kant restringiert sein auf die Sphäre der transzendentalen Argumentation, wie die Postulatenlehre sie darstellt. Das Problem, das Kant hier anrührt, scheint daher nicht mehr reflexiv bewältigbar zu sein. Oder sollte die von Kant gelehrte Vorgängigkeit des Vernünftig-Pflichthaften vor dem Sinnlich-Neigungshaften eine Auflösung des Problems bringen — dergestalt, daß das durch das »pragmatische Räsonnement« (welches Ausdruck der Neigung ist) Vorgebrachte dem unterzuordnen sei, was die transzendental-praktische Reflexion in der Postulatenlehre mit subjektiver Notwendigkeit argumentativ darlegt?iS Da Kant an der erwähnten Stelle lediglich die Existenz zweier verschiedener Betrachtungsweisen ein und derselben Sache konstatiert, ohne die Präferenzfrage (die zugleich die Unterordnungsfrage ist) anzuschneiden, sei als Resultat des Jachmanngesprächs festgehalten: eines ist es, mit Bezug auf die Vernunftnotwendigkeit, ein anderes, mit Bezug auf ein subjektiv-emotionales Bedürfnis von der ewigen Existenzfortdauer zu reden. Zwischen beiden Rede- und Betrachtungsweisen muß daher bei Erörterung des Themas sorgfältig unterschieden werden. Hinzu kommt noch, wie ebenfalls das Jachmanngespräch zeigt, daß es sich bei den negativen mündlichen Äußerungen über Gott und ewiges Leben um Gelegenheitsäußerungen handelt, denen eine Vielzahl von mündlichen Äußerungen entgegensteht, die gänzlich in Ubereinstimmung sind mit dem in der Postulatenlehre Gesagten.26 Die positiven Äußerungen überwiegen quantitativ und auch in ihrer Gewichtigkeit die wenigen negativen Äußerungen, zu denen auch die von Abegg überlieferten gehören. Nimmt man beides zusammen: den Umstand, daß Kant bei seinen negativen Äußerungen von einer dem genus nach andersartigen Betrachtungsweise ausgeht als 1!

Auch wenn sich diese Frage von Kant aus nicht beantworten läßt, so darf doch auf eine merkwürdige Assoziation hingewiesen werden, die sich bei der Lektüre des von Jachmann tradierten Gespräches aufdrängt: Kant scheint zu meinen, daß wir lebensund gefühlsmäßig kein Bedürfnis nach dem ewigen Leben haben; nur als Reflektierender kommt man zur vernünftigen Annahme einer ewigen Fortdauer. Das Gefühl — dies ist das Wesentliche dieser Assoziation — führt uns vom Metaphysischen weg; es ist das Prinzip der Diesseitigkeit und der Weltimmanenz. Religion des Gefühls ist bekanntlich ja etwas, was Kant immer wieder ablehnte.

16

Vgl. ζ. B. die Unterhaltungen mit Hasse {in: Der alte Kant. Hasse's Schrift: Letzte Äußerungen Kants und persönliche Notizen aus dem opus postumum. Hrsg. von Artur Buchenau und Gerhard Lehmann. Berlin und Leipzig 1925).

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bei den positiven Äußerungen der Postulatenlehre, und den Umstand, daß es sich bei den negativen Äußerungen nur um Gelegenheitsäußerungen handelt, so versteht man, daß Jachmann, der beides ins Feld führt, die im Freimütigen behauptete Ungläubigkeit Kants als Mißverständnis und Mißdeutung von Aussagen interpretiert,27 wie sie auch von Abegg über den Umweg des Hörensagens referiert wurden. Doch heißt dies nicht, daß die Jachmannsche Interpretation, die eine Rechtfertigung Kants im Auge hat, die einzig mögliche sei. Auch wenn man geneigt ist, dieser Interpretation zuzustimmen, wird sich eine Frage nicht ohne weiteres verdrängen lassen, die schon häufig an Philosophen gestellt wurde: Macht es nicht gegenüber einer mit Wahrheitsanspruch auftretenden philosophischen Lehre (wie die Postulatenlehre sie darstellt) mißtrauisch, wenn sie selbst nicht die subjektive Kraft hat, auf den sie Lehrenden so einzuwirken, daß er unerschütterlich von ihr überzeugt ist? Zeigt vielleicht das zeitweilige Zweifeln Kants an der ewigen Fortdauer (auch wenn es nur in einem »pragmatischen Räsonnement« artikuliert wird und die spezifisch philosophische Argumentation unberührt läßt) nicht an, daß die Lehre selbst gar nicht so logisch stringent ist, wie sie zu sein behauptet? Heines ironische Kritik an der Postulatenlehre weist in diese Richtung. Oder aber — dies wäre eine zweite näher zu erörternde Frage — kommt in der zeitweiligen subjektiv-emotionalen Skepsis an der theoretisch unbezweifelten Lehre ein Phänomen zum Vorschein, das die alten Theologen, man denke vor allem an Luther, als einen Grundbestandteil des religiös-praktischen Lebens kannten und in seiner Gewichtigkeit hoch einschätzten — das Phänomen der Anfechtung nämlich, das hier bei Kant in einer von allem Mythischen (Teufelsversuchung) gereinigten Form ins Spiel kommt? 28 Ob nicht das der Lebenspraxis entstammende Angefochtenwerden durch den Zweifel an der eigenen theoretisch fixierten Lehre gerade in den Fragen, in denen sich das »höchste Interesse« des Menschen ausdrückt, Lebenselement des wahren Philosophen ist? IV Nicht weniger informative Äußerungen als über Religion bringt das Tagebuch über Kants Stellung zur Politik. Was Abegg von den Königsbergern hierüber schon vor seiner unmittelbaren Begegnung mit Kant erfahren hatte, findet er bei seinen Unterredungen mit Kant bestätigt. Das Gros der Themen, die in Kants Gegenwart besprochen werden, beziehen sich auf die politische Tagesrealität und auf politisch-rechtliche 27

VgLJacbmann, S. 172.

28

Vgl. Vorl. II, 182 f.; dort scheint eine solche Interpretation angedeutet zu sein.

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Grundsatzfragen. Doch zunächst ein kurzer Überblick über die direkten Beziehungen, die Abegg zu Kant durch Brahls direkte Vermittlung aufgenommen hat. 25 Der erste Besuch erfolgte in Brahls Begleitung am i.Juni 1798; Abegg weilt dann noch viermal an Kants Tisch; zwei von Kant an ihn ergangene Einladungen konnte Abegg anderer Termine wegen nicht annehmen. Ohne Ubertreibung kann gesagt werden, daß Abegg keiner Begegnung auf seiner Reise mehr Bedeutung beigemessen hat als derjenigen mit Kant. »Den 12. Juni. Heute früh um 7 Uhr kam der Bediente des Herrn Prof. Kant und lud mich zum Mittagessen. Mein Bruder sagte es, ohne mich zu fragen, schon zu, und er hatte recht. Wie könnte ich die Ehre, die im Grunde eine höhere ist, als wenn ein Fürst mich einladet, ablehnen wollen?« (179) Die beiden Rosen, die Kant ihm beim zweiten Besuch schenkt, hat Abegg »zur lebendigen Erinnerung« an die Güte, die Kant ihm gezeigt hat, aufbewahrt (vgl. 191). Und nach dem Abschied von Kant am 5. Juli, wenige Tage vor der Abreise aus Königsberg, notiert Abegg: »Immer preise ich mich glücklich, ihn kennen gelernt zu haben, von ihm Beweise der Achtung und Wohlwollen erfahren zu haben! Zum letzten Mal habe ich ihn wahrscheinlich hier gesehen! Oft werde ich an ihn denken, ihn mir vorschweben lassen, und werde ihn wieder suchen, wenn und wo noch etwas jenseits zu suchen und zu finden ist!« (2J1) Vom Äußeren der Person Kants schreibt Abegg nur wenig, von seiner häuslichen Umgebung, Lampe ausgenommen, erwähnt er fast nichts. Ihm kommt es vor allem auf das Festhalten des von Kant und des von anderen in Kants Gegenwart Gesprochenen an. Knapp charakterisiert er ihn als Gastgeber, um dann sofort auf ihn als den Redenden einzugehen (»Kant ladet täglich einige ihm angenehme Menschen, um sich sein Mittagessen zu würzen. Seine Tafel war gut besetzt, und Kant ließ es sich gut schmecken. Es wurde rother und weißer Wein angeboten. Das beste ist Kant selbst. Uber alles spricht er gern, und mit Theilnahme von allem, was den Menschen betrifft.« [179]). Gesprächsthemen, von denen Abegg berichtet, sind Personen (u.a. Fichte, Marcus Herz, Hippel, Reuss, Schmalz, Schönberger, Starck), wissenschaftliche Gegenstände (Geschichte, Physiognomik, Bernstein); Philosophie wird nur am Rande gestreift (Kalkülisierung des Begriffs), dafür ergeht sich die Unterhaltung lange über Merkwürdigkeiten des alltäglichen Lebens (Teetrinken, Pfeifenrauchen, Schnupfen, Wein, Kohle); beiläufig wiederum nur erfährt man einiges über den Publikationsstand seiner neuesten Werke (Streit der Fakultäten, Anthropologie)·, breiter Raum dagegen wird gesellschaftlich-politischen Fragen gewidmet, denn — auch andere Zeitgenossen bestätigen dies — Zeitgeschichte und Tagespolitik interessie19

Vgl. Reisetagebuch,

S. 143 ff.

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Rudolf

Malter

ren den in Gesellschaft weilenden Kant von allen Themen am meisten, 3° und Ahegg bringt auch eine charakteristische Bemerkung Kants, die von den unmittelbaren Ereignissen ausgehendes Geschichtsverständnis zum Ausdruck bringt: »>Die Geschichte kann nie lehren, was seyn so//; dies muß man a priori gelernt haben. O, wie wechseln die Begebenheiten! Übrigens finde ich keine Geschichte lehrreicher als diejenige, die ich täglich in den Zeitungen lese. Hier kann ich sehen, wie alles kommt, vorbereitet wird, sich entwickelt. In der That höchst interessante« (182f.) Der Katalog der politischen Themen, die Kant in Abeggs Gegenwart bespricht, ist weit gefächert. Es wird ausführlich über die allgemeine politische Situation in Europa gehandelt; wir hören von Kants besonderem Interesse an Bonapartes Expedition, von seinem Eintreten für Frankreich (dem er in verein mit Preußen die Gewährung des europäischen Friedens zutraut) und von seiner Stellungnahme gegen England, von seiner Befürwortung des irischen Aufstandes und von seinem Wunsch, die Schotten möchten sich mit den Iren gegen England zusammentun; England, so Kant, werde dann »wieder blühen, ohne andere zu drücken« (248), wenn es — was »nicht unwahrscheinlich« sei — »replubikanisiert« (ebd.) werde.51 Öfter fällt der Blick auch auf den Osten: Kant redet vom Zaren Paul, seinen merkwürdigen Verordnungen und seiner sonderbaren politischen Handlungsweise; Rußland stellt nach Kants Meinung keine Gefahr für den Frieden dar: »>Denn Rußland ist zu bändigen: es hat kein Geld und kann sich nicht leicht in die auswärtigen Angelegenheiten mengen, ohne zu erfahren, daß im Innern Unruhen ausbrechen.Der Wille des Königs ist Gesetz im Preußischen, steht ja sogar in der Vertheidigungsschrift.< [sagte Kant] >Dies glaube ich nichts sagte ich >sondern stelle mir vor, daß nach dem eingeführten Gesetzbuche dieses über dem König sey0, nein, und zudem, in wessen Händen ist doch selbst dieses Gesetzbuch, wenn es auch dafür erklärt würde, daß es über dem König wäre Vgl. ebd., S. 310, 330, ι 159 f., ι 164 f.; Briefe an und von J. G. Scheffner. Hrsg. von A r thur Warda und Carl Diesch. München und Leipzig 1918ff. Bd. I, S. 2 9 4 - 3 0 0 ; Elisa von der Recke: Tagebücher und Selbstzeugnisse. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christine Träger. München 1984, S. 349 — 399.

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bindungen der Freimaurerei zwischen Berlin, Königsberg, Mitau und Riga bis nach Petersburg aufgezeigt. 20 Hippels Verbindung mit dem Maurerorden läßt erkennen, in welchem Maße auf einer Kulturinsel wie Königsberg gebildete und handlungskräftige Menschen einander suchten und einander genügen mußten, wobei die Ideale der inneren Bereicherung und Befreiung Hand in Hand gingen mit der gegenseitigen äußeren Unterstützung. Dies ist umso erstaunlicher, als im Königsberger Raum die Oberschichten in gesellschaftlicher Hinsicht zum Teil einem steifen Aristokratentum huldigten. Aufgeschlossenheit hieß nicht unbedingt auch, tolerant oder gesellschaftlich >progressiv< sein. Die Standesunterschiede ζ. B., von denen innerhalb der Loge abgesehen wurde, waren im Alltag keineswegs verwischt. Zu denken gibt des weiteren auch etwa die vom Präsidenten von Schrötter 1790 anläßlich der Neueinrichtung des Netzedistrikts in Auftrag gegebene Studie über die Eingliederung der dort ansässigen Juden, die Hippel — in der Titelformulierung an seine avantgardistische Schrift »Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber« erinnernd — am 20. Dezember 1791 ablieferte. 21 Im Gegensatz zu seinem gleichnamigen Neffen, der diesbezüglich in der Folge vieles wiedergutzumachen versuchte,42 überraschte der sonst so weitherzige Oberbürgermeister hier durch einen vorurteilsgeladenen Antisemitismus, der in erschrekkender Weise an eine Reihe grundsätzlicher Thesen nationalsozialistischer Ideologie erinnert. Und das Erstaunlichste ist, daß sein ungeliebter Vorgesetzter sich in dieser Sache mit ihm in völligem Einklang fühlte. Gegen die Judenverteidiger Broscovius, Behrend, Korckwitz und Wobeser war er sich mit Hippel einig, daß jegliche jüdischen Befreiungs- und Entwicklungsversuche innerhalb des deutschen Staatengebildes im Keime zu ersticken seien. 2 ' Eine wichtige Begleiterscheinung insularer Selbstbeschränkung war in Königsberg die große Anzahl umfangreicher Privatbibliotheken. Diese wurden meist von mehr oder weniger eigenwilligen und materiell oft benachteiligten Wißbegierigen angelegt und kamen deren Freunden dank großzügiger 20

21 22

23

Ischreyt, »Streiflichter« (Anm. 17). - Ders.: »Jakob Friedrich Hinz. Ein vergessener Buchhändler und Verleger in Mitau«. In: Nordost-Archiv Lüneburg, H. 22 — 23 (1972X S. j ff. — Ders.: »Zwischen Paris und Mitau. Die Geschichte der Verlagsbuchhandlung Lagarde und Friedrich«. In: Deutsche Studien H. 39 (1972), S. 319 — 336. — Ders.: »Die Königsberger Freimaurerloge und die Anfänge des modernen Verlagswesens in Rußland (1760—1763)«. In: Rußland und Deutschland. Stuttgart 1974 (Kieler Historische Studien. Bd. 22), S. 108 — 119. Vgl. Wilhelm Dorow:Reminiscenzen. Leipzig 1842, S. 286 — 299. Vgl. A. Kohut: »Theodor Gottlieb von Hippel [d. J.] als Vorkämpfer der Judenemanzipation«. In: Im Deutschen Reich Jg. 21 (1915), S. 24 — 27. Brief vom 27. Dezember 1791; vgl. Dorow, Reminiscenzen (Anm. 21), S. 299.

Hippel und sein

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Ausleihe zugute. Der wissenshungrige und kommunikationsfreudige Eklektiker Hippel kannte fast alle Besitzer. Zu einigen pflegte er auf unterschiedliche Weise enge Beziehungen, wobei er als in der Regel Jüngerer meist mehr der Empfangende als der Gebende war. Der wohl bekannteste solcher Bücherversessenen war der Lokalpoet Johann Friedrich Lauson. Dieser, ein skurriles Original, halb Vagabund, halb Pädagoge und Journalist, erfreute sich wegen seiner gesellig-geschwätzigen Jovialität einer allgemeinen Beliebtheit und vereinigte in seinem Wesen pietistische und aufklärerische Züge. Er war so belesen, daß er nach Herders Wort buchstäblich auf allen Auktionen herumkroch, um alte Dichter, vorwiegend preußisch-patriotische, zu erstehen, für die er sein ganzes Geld ausgab. Auf diese Weise häufte er eine für damalige Verhältnisse außerordentlich große Bibliothek von rund 8 ooo Bänden an, inmitten welcher er »wie ein glücklicher Ehemann im Kreise seiner Familie thronte« und die er, um seine mannigfachen Schulden symbolisch abzutragen, noch zu Lebzeiten seiner Vaterstadt vermachte. 24 Selbst Hamann fand dort Schätze, die er anderorts vergeblich suchte. Hippel und Lindner erlernten von diesem späten Schüler Simon Dachs die erste Anfertigung von Elegien und Trauerreden sowie das Komödienschreiben. 25 Lauson nährte Hippels hypochondrischen Hang zur Todes- und Grabesdichtung und machte aus ihm den wohl bedeutendsten Dichter der deutschen Todespoesie. Für die reiche Kaufmannsfamilie Saturgus wie auch für viele andere verfaßte er aus Sympathie oder Geldnot zahllose schwache Lobesgedichte, die jedoch seit dem Untergang Königsbergs zu kulturhistorischen Dokumenten geworden sind. 16 So hat er auf seine Weise die Bildung so mancher schriftstellernder und kunstbeflissener Zeitgenossen bereichert. Ein zweiter, frühzeitig mit Hippel bekannt gewordener Büchersammler war Lausons und Hamanns Intimfreund Johann Gotthelf Lindner. Dieser sprachlich vielseitig Begabte war zunächst Rektor an der Stadt- und Domschule zu Riga, dann Professor der Poesie an der Königsberger Albertina, daneben, wie schon erwähnt, eine der dynamischsten Kräfte der Dreikronenloge und seit 1766 amtierender Direktor der Königsberger Deutschen Gesellschaft. 27 Wie seine Brüder Gottlieb und Ehregott Friedrich, die beide 24

25

16

27

Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hrsg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955 ff. Bd. IV, S. 63. Vgl. Hippel, S W X I I , S. 107; X I V , S. 234, 238, 293, 298 f.; Schneider, Theodor Gottlieb von Hippel (Anm. 4), S. 66ff.; Kohnen: »Der Königsberger Lokaldichter Johann Friedrich Lauson«. In : Nordost-Archiv H. 81 (198 j), S. 1 —18. Vgl· Johann Friedrich Lauson: Erster und Zweyter

Versuch in Gedichten.

Königsberg

1753 f· Vgl. Kohnen: »Johann Gotthelf Lindner. Pädagoge, Literat und Freimaurer in Königsberg und Riga«. In.:Nordost-Archiv H . 76 (1984), S. 33 — 48.

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Ärzte in Kurland wurden, empfand er zeitlebens einen kulturellen Hang nach dem Osten. Auf seine Verwendung hin erhielten nacheinander Hamanns labiler Bruder Johann Christoph, der Maurerbruder Hinz und der zwanzigjährige Herder die von ihm geschaffene »Collaboratorstelle« in Riga. Kants anhaltendes Interesse an Liv- und Kurländern, das Hippel in den Lebensläufen bestätigt, sowie Hippels eigene Kenntnisse der kulturellen und politischen Situation Kurlands gehen teilweise auf ihn zurück. Hamann, der Lindners warme Freundschaft mehr schätzte als dessen reichhaltige, aber trockene Schriften, gab dennoch bis zu seinem Lebensende sehr viel auf dessen literarisches Urteil. Auch der gleich ihm in zunehmendem Maße hypochondrische Hippel wuchs ihm mit den Jahren so sehr ans Herz, daß er ihn, als er seinen frühen Tod erahnte, zum Verfasser seiner Gedenkrede in der Loge bestimmte.28 Weniger herzlich gestaltete sich Hippels Verhältnis zu Herder. Von Anbeginn ihrer Bekanntschaft im Jahre 1762 witterte der charakterlich schwierige Egozentriker hinter dem selbstbewußten und etwas anmaßend auftretenden Hippel einen vermeintlichen Feind, der ihn, wie er wähnte, aus dem Hinterhalt mit »Pasquillzetteln«, »unerträglichen Capricios« und »Spott« demütigte.29 Die Abneigung ging so weit, daß er Ende der siebziger Jahre, als zwischen ihm und Hamann ein reger Briefwechsel über den unbekannten Verfasser der Lebensläufe entstand, die Autorschaft Hippels radikal abstritt, weil er demselben ganz einfach eine solche Leistung nicht zutraute.30 Als Herder Königsberg verließ, war die Gelegenheit einer engeren Beziehung endgültig dahin. Hippel hat, wie der Briefwechsel mit Scheffner verdeutlicht, Herders krankhaften Argwohn stets bedauert. Wir finden in seinen Briefen niemals ein verletzendes Wort. Er begegnete ihm vielmehr mit Respekt und Mitgefühl und sprach mit Anerkennung von dessen literarischem Werk, so von den Fragmenten und den Kritischen Wäldern, die er mit Entrüstung gegen »elende Skribenten« wie Klotz, Weiße und Riedel in Schutz nahm.51 Auch hatte er mit Herder die tiefe, grüblerische Religiosität gemein, die beide als wesentlichen Lebenskern der osteuropäischen Volksseele verstanden. Als Dichter der Lebensläufe nach aufsteigender Linie teilte er Herders durchdringendes Erfassen des kurländischen Landlebens mit seiner herben Wirklichkeit sowie den Sinn für die Frömmigkeit und die einfachen Freuden der Landbevölkerung. Wie Herder zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe fürs Volkslied und die Sprache der Bibel sowie ein tiefgrün-

28

Ebd., S. 45 f.; Hippel, SWX, S. 2 5 5 - 2 8 0 ; Kohnen,Hippel, S. 6 1 9 - 6 2 8 . ' Vgl. Schneider, Theodor Gottlieh von Hippel (Anm. 4), S. 124 f.; Otto Hoffmann: Herders Briefe an Johann Georg Hamann. Berlin 1889, S. 24, 35, 56, 143. ,0 Kohnen, Hippel, S. 1 9 6 - 2 2 1 ; Hamann, Briefwechsel (Anm. 24), S. 40, 84. 3 " Hippel, S W X I I I , S. 62, 76, 91, 130.

2

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diges Interesse an der Sprache und Dichtung der sogenannten unteren Volksschichten. Dennoch lassen gerade die Lebensläufe darauf schließen, daß Hippel sich in dieser Frage letzten Endes noch mehr an Hamann orientierte und auch hier in Gegensatz zu Herder geriet. Während dieser nämlich zur Erklärung der Entstehung der Sprache die Autonomie menschlichen Handelns betonte und sich darum bemühte, einen biologischen Evolutionismus gegen theologische Aspekte zu verteidigen, sah Hippel mit Hamann in der Sprache eine unmittelbare Emanation des Göttlichen. In den Lebensläufen sind die Eltern Alexanders zu Demonstrationsfiguren solcher Auseinandersetzungen geworden.51 Hippel legte sich allerdings nicht mit derselben Entschiedenheit fest wie Hamann. Das wahrheitssuchende Wort, vor allem das Gebet, bringt bei ihm den Menschen nur »fast bis zum Schauen«. 33 Daß er in erkenntnistheoretischer Hinsicht unsicher blieb, gesteht er dadurch, daß er gezielt versuchte, den Gegensatz zwischen der erlernten »Kunst-« oder »Philosophiesprache« einerseits, und der angeborenen Dichtersprache andererseits, weitgehend aufzulösen. Alexander, der Sohn des Pastorenpaars der Lebensläufe nach aufsteigender Linie, ein harmonisch-gereiftes Produkt stark gegensätzlicher Elternteile, also eine Art dichterische Synthese, wirkt im letzten Band lediglich als Zuhörer der langen Streitgespräche der erwachsenen Wahrheitssucher. Wie ein unbeteiligter Berichterstatter notiert er gleichsam die oft reichlich dunklen Aussagen der Gesprächspartner für den Leser. Andererseits mutet es an wie Ironie des Schicksals, wenn Herder in seinen Stimmen der Völker in Liedern bezüglich der lettischen Sprache neben einem von J. J. Harder übernommenen Kommentar auch Gedanken aus dem eben erschienenen ersten Romanteil des ungeliebten und ihm unbekannten Autors übernahm.34 Kurz nach der Ausgabe des zweiten Bands der Lebensläufe paraphrasierte er zusätzlich sogar drei lettische, in die sogenannte »Beilage A« eingefügte bäuerliche »Garben«-Lieder, die Hippel selbst in Prosa übersetzt hatte,35 die aber in die Sammlung nicht aufgenom32 33 34

3!

Ebd., SWI, S. 6 — 28; IV, S. 40 ff., 91, 95 ff. Ebd., II, S. 92. Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1975 (Reclam Nr. 1371 [6]). Zweiter Thl., Zweites Buch (Einl.): »Zu den lettischen Liedern«, S. 237 — 240; Hippel, SWI, S. 48ff.; Leonid Arbusow: »Herder und die Begründung der Volksliedforschung im deutschbaltischen Osten«. In: Im Geiste Herders. Kitzingen a.M. 1953 (Marburger Ostforschungen. Bd. I), S. 178. Vgl. Hippel, SW II, S. 389, 390, 392; Arbusow, »Herder« (Anm. 34), S. 78 f. Es sind jene lyrischen Miniaturen, die mit den Worten: »Komm, Schwesterchen, komm auf den grünen Kirchhof, da liegt mein Mutterchen, dein Mutterchen«, »Ha! du, du, die Baumschänderin !« und »In das kleine Gesträuch jenseits des Flusses kam ein Sturmwind aus dem Flusse« beginnen. Die Herderschen Umdichtungen sind seit Redlichs

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men wurden. Lediglich zwei Gesänge sind von der Stoffwahl wiedererkennbar. Jedenfalls hat Hippel auf diese Weise zur Verbreitung des baltischen Volkslieds beigetragen. Es sei auch vermerkt, daß in den ersten Jahren ihres Erscheinens die von Kanter mit viel Aufwand herausgegebenen Königsberger Gelehrten und Politischen Zeitungen in Lauson, Lindner, Hamann, Herder und Hippel ihre bedeutendsten Mitarbeiter hatten. Die Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften bezeichnete die Beiträger als »Königsberger Sekte« und verdammte sie ins Ketzer-Lexikon. Klotz und Konsorten verhöhnten gezielt den Königsberger »Provinzialismus« und sprachen, da sie in Hamann den hellsten Kopf witterten, in boshafter Weise von den talentlosen lokalen »Hamännchen«. Am Tische Kants nahm Hippel genau wie im Salon der Gräfin Keyserling als Dirigierender Bürgermeister den Ehrenplatz ein. Da man in Gesellschaft Kants gut aß, fragte er den Gastgeber einmal, wieso er nicht auch eine »Kritik der Kochkunst« verfaßt habe.36 Hippel hat vielleicht als erster erkannt, daß die heitere Kategorie des gesellschaftlichen Gesprächspiels ein wichtiges Element neuerer deutscher Romanschreibung sein konnte. Als philosophischer Laie und als anonym schreibender Dichter notierte er nämlich in Gesellschaft regelmäßig das für ihn Interessanteste heimlich mit, um es später in seinen Schriften zu verwerten, und wohl nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit scheint er häufig eine Art Advocatus Diaboli zu eigenem Vorteil gewesen zu sein. Als er im zweiten Band der Lebensläufe mit einer langen Kritik der Grundsätze Kantscher Erkenntnisphilosophie einsetzte, 37 wählte er mit feiner Ironie als zu widerlegende Demonstrationsfigur keinen andern als Kant selbst. Dieser bemüht sich in der gutmütig-ältlichen Gestalt des Professors »Großvater« vergeblich, aus dem Labyrinth des abstrakten Rationalismus herauszufinden. Auch erfolgt Hippels negatives Urteil in Form eines ungezwungenen Zwiegesprächs, eines philosophischen »Picknicks«, das trotz der Schwierigkeit des angegangenen Stoffs durch allerlei amüsante Beigaben bis zum Schluß in aufgelockerter Stimmung abläuft. Es ist überhaupt bezeichnend, daß die Vorbehalte gegen Kants erkenntnistheoretisches Gebäude zuallererst von verschiedenen seiner Tisch-

36

37

Erwähnung verschollen. Den ι. Tl. der Lebensläufe hatte Herder bereits im Oktober 1778, den 2. Tl. im Mai 1779 gelesen. Hippel widmete den Roman als »Denkmal« »der lettischen Muse«. Vgl. GK II, S. 249. - Fritz Gause:Kant und Königsberg. Leer, Ostfr. 1974, S. 80. - L. E. Borowski: »Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants«. In: Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und E. A. Ch. Wasianski. Hrsg. von Felix Gross. Berlin [1912], S. 55. — Kohneri,Hippel, S. 304 — 315. Hippel, SWII, S. 141-168.

Hippel

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genossen ausgingen, obschon Kant, wie wir wissen, in Gesellschaft nur ungern über seine Schriften diskutierte. Mit den Jahren gewann Hippel den Eindruck, daß Kant selbst seinem System mit einer gewissen Unsicherheit gegenüberstand.>8 Jedenfalls hat sich die Einstellung heiter-kritischer Toleranz gegenüber den Ideen und den wissenschaftlichen Angriffen Andersdenkender im Königsberg der Kant-Zeit allgemein bewährt. Sowohl Hippel als Hamann, und bis zu einem gewissen Grade auch Herder, haben von teils unterschiedlichen Standpunkten aus Kants Philosophie scharf angegriffen, ohne daß diese Gegnerschaft das gute persönliche Einvernehmen mit Kant in Frage stellte. Was Hippel anlangt, so hat er viele Jahre lang dank seinem einflußreichen Amt als Stadtpräsident und juristischer Mitarbeiter am »Allgemeinen preußischen Landrecht« den vielen fähigen Schülern, die Kant ihm empfahl, beim beruflichen Aufstieg weitergeholfen. Dennoch war das gemeinschaftliche Freundschaftsverhältnis der Tischrunde Kants ein anderes als das, welches zwischen einzelnen Mitgliedern derselben bestand. Hippel selbst entwickelte zu Kant eine ganz besondere Freundschaft, die einerseits auf dem beiderseitigen Respekt gegenüber der beruflichen und gesellschaftlichen Stellung beruhte, andererseits von rein persönlichen Interessen und Bedürfnissen bestimmt war. Er liefert uns darüber in aller Bescheidenheit kurze, aber wertvolle Mitteilungen. Wenn beide sich in ihrem jeweiligen Zuhause aufsuchten, und dies geschah unzähligemal, so nahm ihr Gespräch häufig eine tiefernste Note an. Oft speisten sie, berichtet Hippel, »von Mittags um ι bis Abends 8 Uhr« zusammen, »nicht aber um des Leibes, sondern um der Seele zu pflegen«. 3 » Sie sprachen dann über Gott, Jenseits und Unsterblichkeit, und besonders über das Gebet, wobei »dieser exemplarische Philosoph«, der im herkömmlichen Sinne »nicht beten wollte«, 4° durch eine ihm eigne »Frömmigkeit« 41 beeindruckte. Kants Bejahung des moralischen Gesetzes und sein wiederholtes Eingeständnis, die religiöse Erziehung seiner Mutter habe tiefe Spuren bei ihm hinterlassen und ihn vor allem die Bewunderung der Güte und Weisheit der Vorsehung und des Schöpfers aller Dinge gelehrt, 42 brachten Hippel zu dem Schluß, daß Kants agnostizistisches Denken keineswegs mit dem christlichen Glauben unvereinbar sei. Noch in der 4. Auflage seines Ehebuchs lesen wir: Herr Kant, unser Deutscher Plato und Aristoteles in Einer Person, hat, wie Alexander, den Gordischen Knoten nicht gelöset, sondern zerhauen; gleich gut, das Orakel 38

"

40 41 42

Vgl. H a m a n n , B r i e f w e c h s e l (Anm. 24), Bd. VI, S. 228. Hippel, SWXII, S. 35. Ebd., S. 9 ff. Ebd., Briefe. In: S W X I V , S. 367; Borowski, »Darstellung« (Anm. 36), S. 19, 90f. R. B. Jachmann: »Immanuel Kant«. In:Kant Immanuel (Anm. 36), S. 162 f., 169-172.

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ist erfüllt. Da seine Philosophie Sachen enthält, welche der Stifter der christlichen Religion nicht so ins Reine brachte (obwohl das Neue Testament, rechtverstanden und von Menschensatzungen geläutert, Winke der reinen theoretischen und praktischen Vernunft in sich faßt), so ist Herr Kant ein Christ, wie selten ein Philosoph vor ihm, und seine Lehre wird erst, wenn sie aus den Büchern ins Leben eingegangen, stärken, kräftigen, gründen.

E r fügt allerdings einschränkend hinzu: »Für uns, meine Herren, ist es nun freilich nicht eben das Trostreichste, wenn diese christliche Lehre herrschend wird; denn wenn die Kantische und andere philosophische Bergpredigten ins T h a l des gemeinen Lebens treten, so wird es schlecht und recht mit uns aussehen.« 4 ' Einen Leitstern, und somit einen Gesinnungsgenossen, fand Hippel bei seiner Auseinandersetzung mit dem Kantschen Rationalismus in Hamann. (Viele Jahre lang hat er übrigens H a m a n n und seiner Familie dank seiner einflußreichen A m t e r finanziell unter die Arme gegriffen und ihnen mit seinem Rat zur Seite gestanden.) Trotz der gesellschaftlichen und charakterlichen Kluft führte sie vieles Gemeinsame zusammen: die bescheidene Herkunft, die pietistisch gefärbte Erziehung, eine weitgefächerte Bildung und Belesenheit, ein tief melancholischer Hang zur Hypochondrie und zugleich ein scharfer, zur Ironie neigender Verstand, die Liebe zur Bibelsprache, der sprunghafte, metaphernreiche und oft dunkle Stil — kurz all das, was sie in beinahe mystischer Annäherung dem Geheimnis Gottes zutrug, wodurch sie notwendig zu Gegnern des nüchternen Denkens Kants wurden. D e r Gottesglaube war für sie kein Werk von Vernunft und Verstand, sondern der empfangsbereiten Seelen. 4 4 Nach H a m a n n mußte der Mensch durch unaufhörliches Buchstabieren im hieroglyphischen Buch der Natur die Sprache, die er durch den Sündenfall verlernt hat, wiedererlernen. D i e wichtigste G e w ä h r des Glaubens aber liefert für den abendländischen Wahrheitssucher die charismatische Figur Christi, ohne dessen reine Lehre die Existenz des Menschen sinnlos wäre. D a die unvollkommene Kreatur in ihren Aufnahmemöglichkeiten beschränkt sei, solle der gläubige Christ die historischen Wahrheiten, die durch die Apostel und im Laufe der Jahrhunderte durch die Uberlieferung der unvollkommenen Menschen verdunkelt wurden, nicht kritisch untersuchen, sondern mit der D e m u t des Herzens hinnehmen. Gemeinsam mit H a m a n n stellte sich Hippel in diesem Kontext gegen jene aufklärerischen Strömungen, die die traditionellen Glaubenswahr43

Hippel, SW V, S. 58 f. In den Lebensläufen ergänzte er schon: »Selten ist ein Professor Großvater ein Religionsfreund. Woher, Freunde? Weil er das Wahre in seiner Lehre aus Gottes Wort geschöpft hat, und weil er einsiehet, daß, wenn er seine Wissenschaft auf's Volk herabstimmen solle, man nicht anders lehren würde, als Christus, der Professor des ganzen menschlichen Geschlechts«; Hippel, SW IV, S. 258 f.

44

Vgl. Kohnen, Hippel,

S. 1 008 - 1 026.

Hippel und sein

Freundeskreis

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heiten, die Bibelberichte und vor allem die Christusfigur einer oft sehr kritischen Untersuchung unterzogen. Auch unterschieden beide wie Lichtenberg und Lessing zwischen der sogenannten christlichen Religion und der Religion Christi. So ruft Hippel aus: »Obgleich Menschensatzungen die Religion Jesu so sehr verdunkelt, daß, wenn Christus herabkäme, er die Christen nicht kennen würde; sagt, ist sie nicht noch jetzt, so wie sie da liegt, vortrefflich ? Ist sie nicht die einzige, die den Menschen zum Gnadenreiche, zum Stande der Gnaden, zu bringen Kraft und Stärke hat?« 4S Als wirklichkeitsgebundener Mensch vertrat er allerdings eine optimistischere Zukunftsvision als der lebensfremde Hamann und entwarf sogar Vorschläge im Hinblick auf eine tatsächliche Besserung der Menschheit. Obschon auch seiner Meinung nach Christus auf Erden keinesfalls ein christliches Reich gründen wollte, sah er im Stifter der christlichen Religion ein »Urbild des vollkommensten Menschen im Staate« und im Preußischen Staat mit seiner Monarchie, der der Despotismus fremd sei, den nach der Lage der Dinge bestmöglichen Staat, der als Schule und Vorstufe zu besseren Regierungsformen und somit zur Verwirklichung wahrer Aufklärung zu werten sei. Er stimmte mit Kants loyalem Obrigkeitsverständnis überein 46 und rückte damit in diesem Punkt ab von Hamanns Haß gegen den von französischen Freigeistern irregeführten »Salomon de Prusse«, dessen Hauptstadt nach Hamann ein gott- und menschenverachtendes Babel war und dessen Verwaltung sich letztlich nur unwesentlich vom Despotismus anderer Despoten unterschied. Alles in allem aber begegneten die scharfsinnigen Denker Hippel und Hamann der Vernunft und dem Verstand mit grundsätzlichem Mißtrauen. Sie betonten nicht nur die Grenzen menschlichen Auffassungsvermögens und stellten den Optimismus der Aufklärung in Frage, sondern sie befürchteten darüber hinaus als glaubensbedürftige Gottsucher, daß die aufklärerischen Begeisterungswellen mit ihrem Eigendünkel und ihrer oft rücksichtslosen Überheblichkeit den Glauben auf universaler Ebene erschüttern könnten. Für Hamann war dies das größtmögliche Verbrechen. 47 Dies erklärt die Verbissenheit und Aggressivität ihrer Ironie im 4!

46

47

Vgl. Hippel, SW IV, S. 165; Johann Georg Hamann: Golgotha und Scheblimini. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausg. Hrsg. von Josef Nadler. Wien 1949 ff. (im folgenden Hamann, Werke), Bd. III, 1951, S. 293 ff. Vgl. hierzu: Rudolf Malter: »Kant und Hamann oder Das geistige Antlitz Königsbergs«. In: Nordost-Archiv H. 7 j (1984), S. 44—50; Hamann, Briefwechsel (Anm. 24), Bd. V, S. 2 8 9 - 2 9 2 ; Oswald Bayer: »Selbstverschuldete Vormundschaft. Hamanns Kontroverse mit Kant um wahre Aufklärung«. In: Wirklichkeitsanspruch von Theologie und Religion. Ernst Steinbach zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Henke, Günther Kehrer, Gunda Schneider-Flume. Tübingen 1976,'S. 3 - 3 4 . Hamann: Ueber die Auslegung der Heiligen Schrift. In: Hamann, Werke (Anm. 45), Bd. I, S. 5: »Der Gipfel der Atheisterey und die größte Zauberey des Unglaubens ist daher die Blindheit, Gott in der Offenbarung zu erkennen, und der Frevel, dies Gna-

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Kampf gegen den Kantschen Dogmatismus und den Rationalismus allgemein, wobei Hippel trotz seines krankhaft behüteten Schriftstellergeheimnisses sich nicht scheute, in seinem Hauptwerk den älteren, erfahreneren Freund bis in den Wortlaut nachzuahmen und so gleichsam zu seinem Echo zu werden. Ohne sich die Rolle eines »bestallten Richters« oder »Gesetzgeber[s] der menschlichen Vernunft«48 anzumaßen, übten sie nach Hamanns Wort »Metakritik«, d. h. Kritik der Kritik, und gaben so Aufklärung über die Aufklärung. Der »Professor Großvater«, der merkwürdige »Sterbegraf«, der Pastor aus Kurland und dessen Gesprächspartner von G. sind in den Lebensläufen die dichterischen Wortführer dieser Auseinandersetzung. Wenn Hamann die rationalistische Philosophie mit Katzenaugen verglich, die vor lauter Licht 49 blind seien und mit »Waffen des Lichts das Reich der Finsternis und Barbarei« ausbreiteten,50 so waren für Hippel in ähnlichem Sinne die Rationalisten hochgelehrte Nichtswisser und Gaukler, die nichts anderes als Rätsel aufgeben und auch dies auf rätselhafte Weise tun. !1 Eine typische Erscheinung der Zeit war in diesen Kreisen schließlich auch die merkwürdige Gestalt des Hippeischen Intimfreunds Johann George Scheffner. Entgegen älteren Darstellungen52 entwickelte die neuere Forschung von ihm ein sehr negatives und sicherlich richtiges Bild, demgemäß dieser vom Leben Begünstigte — übrigens ein entfernter Verwandter Gottscheds — sich als ein trocken-eigennütziger Schönredner erweist, der in allen Unternehmungen seine Persönlichkeit gezielt neben diejenige der berühmtesten Zeitgenossen zu rücken versuchte, um gleichsam als deren »Nebensonne« auf die Nachwelt überzugehen." Tatsächlich hat Scheffner nachweisbar dreißig Jahre lang das aus tiefster Seelennot erwachsende Freundschaftswerben Hippels mit bewußt zurückhaltender Sprödigkeit angehört, um dann nach dessen Tod den Ruhm voll auszukosten, dessen bedenmittel zu verschmähen«; Hippel, SW II, S. 151 f.; Hamann: Kritik der reinen Vernunft. In: Hamann, Werke (Anm. 45), Bd. III, S. 277-280. 48 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Kant, Gesammelte Schriften (Anm. 2), Bd. 3, S. j2éf., A 839/B 867; A 840/B 868. 49 Vgl. Bayer, »Selbstverschuldete Vormundschaft« (Anm. 46), S. 19; Brief an Chr. J. Kraus vom 18. Dez. 1784 in: Hamann, Briefwechsel (Anm. 24), Β. V, S. 289-292. Hamann, Kritik der reinen Vernunft. In: Hamann, Werke (Anm. 45), Bd. III, S. 280. " Hippel, SWIII, S. 153; IV, S. 3. 52 Vgl. Rudolf Reicke: »Aus dem Leben Scheffner's«. In: Altpreußische Monatsschrift Bd. I, H.i (1864), S. 3 1 - 5 8 ; Paul Stettiner: »Johann Georg Scheffner. Ein Lebensbild aus dem Zeitalter von Deutschlands Erhebung«. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 13 (1904), H. 4, S. 200 — 217. " Schneider, Theodor Gottlieb von Hippel (Anm. 4), S. 148-155; Arthur Plehwe: Johann George Scheffner. Königsberg 1936; Joh. Sembritzki: »Scheffner-Studien. In·. Altpreußische Monatsschrift 48(1911), S. 3 7 0 - 3 7 7 ; Briefe an und von J. G. Scheffner (Anm. 19), Bd. II, S. 3 — 312.

Hippel und sein

Freundeskreis

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vorzugter Vertrauter gewesen zu sein, zugleich jedoch in das vernichtende Urteil vieler rachsüchtiger Zeitgenossen einzustimmen. Seine eigenen zotenhaften Gedichtsammlungen veröffentlichte er anonym, scheute sich aber nicht, des Freundes ängstlich gehortetes Autorschaftsgeheimnis am Ende zu verraten. Die Freimaurerei, zu der er nie ein tieferes Verhältnis erlangte, wertete er als eine Mode der Zeit und benutzte sie zu persönlichen Vorteilen. 54 Anfangs gab er sich wie Schubart als Erzfeind des »entarteten Geschlechts« der Fürsten, " strebte dann jedoch nach fürstlichen Freundschaften, um im Alter sogar zum vertrauten Gesellschafter der Königin Luise, der Fürstin Radziwill und der Prinzessin Friederike von Solms zu werden und sie wie auch Friedrich "Wilhelm III. mit überschwenglichen Huldigungsgedichten und kulturpolitischen Ratschlägen zu versorgen,56 die letzten Endes nur offene Türen einrannten. Jahrelang bemühte er sich auch vergeblich, mit Hilfe der verlegerischen Tätigkeit Lagardes zum, wie er glaubte, besten deutschen Montaigne-Ubersetzer zu werden, dies, obschon seine vorhergegangenen Ubersetzungen fast ausnahmslos vernichtende Kritiken erfahren hatten. In seiner Selbstbiographie schließlich offenbarte er sich als ein Meister des Verschweigens, denn überall dort, wo es seiner Persönlichkeit Einbuße hätte tun können, ließ ihn das Gedächtnis im Stich, während er ansonsten allzeit bereit war, nach J. Sembritzkis Worten »jedem gern einen Hieb zu versetzen«. 57 Seine geistige Mittelmäßigkeit und generelle Oberflächlichkeit zeigt ihn als den Typus des intellektuellen deutschen Dilettanten, wie es ihn damals weitverbreitet gab. Kulturhistorisch ist Scheffner der Aufklärung zuzurechnen, doch wäre es zu hoch gegriffen, wollte man ihn im Königsberger Raum im Schnittpunkt der Einflußsphären Kants, Hamanns, Herders oder auch Hippels sehen. Zwar orientierte ihn der >Fortschrittsglaube< deutlich zu den neuesten Erscheinungen geistigen Lebens hin, aber sein emotionsfreier Charakter erwies sich als unfähig, die tieferen Geheimnisse seelischen Innenlebens zu ergründen. Lediglich eine große Belesenheit muß man ihm bescheinigen. Der »Magus aus Norden« blieb für ihn stets »das unverständliche Hamannchen«. 58 Herders Fragmente sah er mit den Maßstäben des rationalistischen Aufklärers als eine Sammlung »von richtigen Grundsätzen« und »Regeln« zu praktischer Benutzung für Kritiker und Dichter, die er als »höhere« und 54

Vgl. K o h n e n , H i p p e l , S.374-390; Hippel, SWXIV, S. 80, S. 98 ff. " Vgl. Plehwe,Johann George Scheffner (Anm. 53), Nachlaß: »Die Fürsten«. 56

Kohnen, Hippel, S. 127 f. — Briefe an und von Scheffner

(Anm. 53), Bd. III, S. 485 — 513.

— Reicke, »Aus dem Leben Scheffner's« (Anm. 52), S. 31 — 58. — Plehwe,

57

George Scheffner (Anm. 53), S. 109— 113. Plehwe, Johann George phie Scheffners«.

Scheffner

Johann

(Anm. 53): »Zusammenfassendes. Die Selbstbiogra-

Briefe an und von Scheffner (Anm. 53), Bd. III, S. 391.

ι86

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Kohnen

»philosophische Sprachkunst« einschätzte, wobei der Begriff »philosophisch« die intellektuelle Tätigkeit betonte, während Herder über die Erkenntnisse des Intellekts hinaus das Schöpferische in der Sprache aus den Tiefen des Seelischen heraus ergründen wollte. " Auch Hippels Schriften, deren Entstehungsgeschichte er oft bis in die letzten Einzelheiten verfolgen konnte, nahm er mehr oder weniger gefühllos auf. Kant bezeichnete er wiederholt als »faul«, womit vielleicht die Vermutung zu verknüpfen wäre, daß dieser eine literarische Zusammenarbeit mit ihm ablehnte. Er fühlte sich auf dessen Seite, doch hat auch hier im wesentlichen der Wunsch mitgespielt, als Freund desselben in die Unsterblichkeit einzugehen, was sich auch später in seinen Bemühungen um dessen endgültige Grabstätte zeigte, 60 während er Hippels Grab verfallen ließ. Er erkannte die Gegensätzlichkeit des großartigen Kantschen Gedankensystems und der theologisch ausgerichteten Philosophie Herders oder auch des dunklen, mystisch gefärbten Irrationalismus Hamanns, ohne in die grundsätzlichen Unterschiede vorzudringen. Für ihn war, wie sein Biograph A . Plehwe bemerkt, schon die Beschäftigung mit den philosophischen Fragen der Aufklärung Philosophieren. In religiösen Fragen vertraute er auf die »Lernfähigkeit«, d. h. auf die Vervollkommnung des Menschen kraft des Verstands und des Willens, die durch das Erscheinen Christi, des weisen Lehrers der Menschheit, in die richtigen Bahnen gelenkt worden sei. Da er im Gegensatz zu den grüblerischen Ergründungsversuchen Hippels und Hamanns alle Erkenntnis auf den Bewußtseinsraum des Menschen einschränkte, wurde die Gottheit Christi prinzipiell abgelehnt, desgleichen die göttliche Kraft der Sakramente und der Bibel, die der große Prophet angesichts der Schwächen der menschlichen Natur lediglich als pädagogische Einrichtungen hinterlassen habe. Typisch für seinen egoistischen Pragmatismus ist der platte, resümierende Ausspruch: »Im Glauben an Christum liegen also große Vorteile für den Menschen«. Das Christentum lief für Scheffner auf eine Morallehre hinaus, zu der in seinen Augen die Freimaurerei eine willkommene Ergänzung abgab/' Wie sehr sein Fortschrittsglaube eine Schablone war, in deren Zeichen er wie so viele andere auf dem Modestrom der Zeit mitsegelte, zeigt seine späte Auseinandersetzung mit Hippel über das Wesen und die gesellschaftliche Stellung der Frau. Als letzterer 1792 in seiner Abhandlung Ueber die bürgerliche Verbesserung der Weiber den Frauen eine wesentliche Beteiligung an "

60 61

Königsbergsche Gelehrte und Politische Zeitungen 1767, S. 17, Anlage S. 127; S. 18, Anlage S. 129; S. 241, Anlage S. 129; Briefe an und von Scheffner (Anm. 53), Bd. I, S. 267, 270, 271; Bd. II, S. 327 f.; Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877 —1933. Bd. 1, 1877, S. 397. Vgl. Kohnen, Hippel, S. 129 f.; Briefe an und von Scheffner (Anm.53), Bd. I, S. 263, 271. Vgl. Plehwe, Johann George Scheffner (Anm. 53), S. 70 ff.

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Hippel und sein Freundeskreis

den Staatsgeschäften einräumte, äußerte sich Scheffner, der schon vorher das Manuskript in Händen gehabt hatte, so abfällig, daß es zu einer schweren »Dispüte« kam und H i p p e l von ihm sein Widmungsexemplar zurückforderte. A l s Scheffner sich dann kurz darauf im Vorbericht zur zweiten Ausgabe seiner Gedichtsammlung Aehrenlese

vom Calenderfelde

auch noch

über den Einsatz voll »ritterlicher Schwärmerey« und dichterischer » A u s drucks- und Gedanken-Eleganz« seines Freundes lustig machte und nicht ohne Boshaftigkeit dessen Autorgeheimnis der Neugierde der Öffentlichkeit preisgab, w a r der kranke H i p p e l so aufgebracht, daß er die dreißigjährige Freundschaft in einem dramatischen Briefwechsel aufkündigte. 6 2 Scheffner, der selbst eine liebenswürdige Gattin besaß, führte Hippels Frauenfreundlichkeit auf das Beispiel einiger großer Fürstinnen sowie auf den U m g a n g mit verschiedenen weiblichen Königsberger Persönlichkeiten zurück, die er ironisch als »aufgeschossene Naturspargel« bezeichnete. 6 ' Prinzipiell wehrte er sich gegen die sogenannte »grassierende Seuche der Weiber«, »eine öffentliche politische Rolle zu spielen«, 64 wobei für ihn der Begriff »politisch« der gesellschaftlichen Emanzipation gleichkam. 6 ' U n t e r Berufung aufs A l t e Testament, auf die von der N a t u r gewollte Andersartigkeit des weiblichen Körperbaus mit der daraus erwachsenden schwächeren Konstitution und dem angeborenen weiblichen Schutzbedürfnis, auf das G e f ü h l geistigen Unterlegenseins und nicht zuletzt auf das »schwache oder 62

63

64 65

Vgl. F. J. Schneider: »Theodor Gottlieb von Hippels Schriftstellergeheimnis«. In: Altpreußische Monatsschrift 51 (1914), S. 16 ff. - A. Warda: »Der Anlaß zum Bruch der Freundschaft zwischen Hippel und Scheffner«. In: Altpreußische Monatsschrift 52 (1915 f.), S. 269 — 281. — Hans Deiter: »Theodor Gottlieb von Hippel im Urteile seiner Zeitgenossen«. In: Euphorion 17 (1910), S. 312 f. — Kohnen, Hippel, S. 374 — 390. Deiter, »Hippel im Urteile seiner Zeitgenossen« (Aran. 62), S. 312; Kohnen, Hippel, S. 3 7 7 f.; 381 f. Schneider, »Hippels Schriftstellergeheimnis« (Anm. 62), S. 19. Er glaubte, »daß Mann und Männin, aus der respektiven Erde und Ribbe, als zwei Parallelen hervorgegangen; daß, so lange sie ihren geraden Weg fortlaufen, und nur durch gewisse Queerbänder an einander befestigt sind, alles treflich gehe; wenn eine Linie aber sich zur andern hinüber zu biegen anfängt, sie bald auf den Punkt treffen, wo sich die Linien durchschneiden müssen; und daß da, wo ein solcher Durchschnitt sich ereignet, hinter selbigem die Linien immer weiter aus einander gehen, der Abstand immer größer werde, und ein Leeres in der Mitte entstehe, das in Leid- und Freudenfällen, eine Linie der andern zu helfen hindert. — Ist aber wohl bey solcher stets zunehmenden Divergenz, wenn sie gleich durch die anfängliche Neigung der einen Linie zur andern entstand, und befördert wird, ein kluges Ende zu erwarten? Wäre es nicht besser, wenn jedes Geschlecht aufrichtig zum andern spräche: Ich kann nicht alles, du kannst nicht alles; laß uns laufen jedes in seiner Bahn, und so dicht neben einander, daß wir uns stets die Hand hülfreich bieten können ! Dann blieb' der Frau das Haus, dem Manne blieb' der Staat und Staats- und HausDienst fänd im Nothfall Hülf und Rath —.« Zit. nach Warda, »Bruch der Freundschaft« (Anm. 62), S. 271.

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Joseph Kohnen

verdorbene geistige Verdauungsvermögen«, das die »Gelehrten und Mächtigen unter den Frauen« in der Regel »zu Pedantinnen« werden lasse, versuchte er die Hauptgedanken der Hippeischen Frauenschriften systematisch zu widerlegen.6' Er anerkannte lediglich, anders als etwa Brandes, Mauvillon und Gieseler,67 daß Hippel seine für die Zeit utopisch anmutenden Ideen ehrlich meinte. Man kann sich folglich vorstellen, daß er die Forderungen einer Mary Wollstonecraft, die zur gleichen Zeit die gesellschaftliche und politische Emanzipation der Frau sogar mit Gewalt herbeiführen wollte, oder einer Auguste Fischer-Venturini, die, auf den Hippeischen Überlegungen fußend, über dieselben hinaus mit Ungestüm auch die sexuelle Gleichberechtigung forderte, nur ablehnen konnte.68 Selbst Scheffners Beiträge zur Hebung der preußischen Volksbildung und zu den großen Verwaltungsreformen bestachen mehr durch den äußeren Aufwand als durch echte Leistungen. Nach Hamanns Zeugnis69 unterhielt er sich schon in den achtziger Jahren mit Hippel eingehend über die Rochowschen Schulprojekte, die der Freund offen mit Skepsis bedachte. Als Gutsbesitzer versuchte er nach der Jahrhundertwende aus der Aufklärungspädagogik Friedrich Eberhard Rochows (1734—1805) bestimmte Punkte, die die Erweiterung der Naturkenntnis betrafen, in Sprintlack zu verwirklichen. Er trug besonders Sorge für die Bildung der Lehrer. Doch soll er nach Plehwe auch diesbezüglich nur »Hand- und Spanndienste« geleistet haben, da er einmal mehr das »Ideale mit dem Nützlichen« geschickt zu verbinden verstand, indem er beispielsweise die Schulbauten, zu deren Errichtung er als Gutsherr ohnehin verpflichtet war, zugleich als Wohnungen für Dienstleute benutzte, die Lehrer nur nach den in Preußen üblichen »mittleren Sätzen« besoldete und kostenfreie theologische Bücher jeweils nur zum Teil zur Verfügung stellte, unter der Bedingung, daß die fehlenden aus den Kirchenkassen beschafft würden. Entgegen dem Rochowschen Vorschlag, Lehrer durch Seminare an besonderen Anstalten auszubilden, hielt er lange daran fest, dieselben in den Dorfschulen durch Ortsgeistliche zu instruieren.70 Er trat ein für die Verbreitung der Unterrichtsbücher von Teller, Schubert, Riemann und Lorenz. Rochows Kinderfreund (.Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen) überarbeitete er im Geist der Aufklärung, ohne allerdings originelle Gedanken hinzuzufügen, und gab ihn mit Erfolg

66 67 68

69 70

Ebd., S. 272 f. Vgl. Kohnen,Hippel, S. 7 8 0 - 8 4 7 . Vgl. Christine Touaillon: Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Enid Gajek. Ndr. der Ausg. Wien und Leipzig 1919. Bern und Frankfurt a.M. u.a. 1979, S. 578 — 629. Hamann, Briefwechsel (Anm. 24), Bd. V I I , S. 135. Plehwe, Johann George Scheffner (Anm. 53), S. 73 ff.

Hippel und sein

Freundeskreis

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heraus.71 Seine Schulpläne wurden 1808 von Stein berücksichtigt. Als im darauffolgenden Jahr der württembergische »Edukationsrat« Karl August Zeller nach Preußen berufen wurde, um vorwiegend als Regierungs- und Schulrat in Königsberg ein sogenanntes Normalinstitut zu schaffen, das auf den Erfahrungen der Pestalozzi-Methode beruhen sollte, wurde ihm Scheffner als Mitglied einer königlich-preußischen Elementarunterrichtskommission beratend an die Seite gestellt. Zielstrebig suchte er den Kontakt zu den Reformern der Stunde: zu Stein, Hardenberg, Auerswald, die ihm auch wohlgesinnt waren, wobei er vielleicht wiederum durch das Beispiel Hippels angeregt wurde. (Hippels Nachlaß enthielt eine Reihe juristischer Schriften, die zum Teil als Beiträge zur Reform des »Allgemeinen preußischen Landrechts« bestimmt gewesen waren.) Zur Staatswirtschaft von Christian Jakob Kraus (1808) schrieb Scheffner eine Vorrede. Er verteidigte ihn auch gegen die Angriffe Adam Müllers in Kleists Berliner Abendblättern. Die Aufhebung der Erbuntertänigkeit bedachte er mit einem langen Gedicht, 72 und in bezug auf die Frage der Beseitigung von »Patrimonial-Jurisdiction« und »Gutsherrlicher Polizeigewalt« veröffentlichte er einen Aufsatz mit der Billigung Steins.73 Aber man merkt doch bei all diesen Einsätzen nur zu deutlich, daß es ihm im wesentlichen darauf ankam, mit den großen Männern der Zeit genannt zu werden.

Hippel war als Jurist und Lokalpolitiker ein Mann, der, wie Schlichtegroll sagt, jedem Amte, das er bekleidete, Ehre machte, so daß sich viele Jahre hindurch in der Hauptstadt Ostpreußens fast nichts ohne ihn bewegte. Seine schillernde Persönlichkeit, die mit den unterschiedlichsten Menschen in Berührung kam, offenbart ebenso zahlreiche Seiten des Königsberger Geisteslebens. Auch wenn es abwegig wäre — trotz regelmäßiger Empfänge im Hause der Saturgus, Keyserling, Schrötter und Staegemann —, von einer wahren gesellschaftlichen Institution intellektueller Salons etwa nach fran71

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73

Allein 3 000 Exemplare wurden von der Ostpreußischen Spezial-Kirche und Schulkommission aufgekauft. Das Buch erlebte in der Folge in ganz Deutschland zahlreiche Nachahmungen. Plehwe, Johann George Scheffner (Anm. 53), S. 102 ff., 116 ff.; Chr. J. Kraus: Staatswirtschaft. Königsberg 1808, S. III—XII; Max von Schenkendorf-Studien. H. 1. Berlin 1808, S. 8iff. Fr. Rühl: Briefwechsel des Ministers und Burggrafen von Marienhurg Theodor von Schön mit G. H. Pertz und J. G. Droysen. Leipzig 1896, S. 40; »Merkwürdige Unterredung«. In: Königlich Preußische Staats-, Kriegs- und Friedenszeitung. Berlin 1808, S. ι 330ff.; Plehwe, Johann George Scheffner (Anm. 53), Anhang, Nr. 1 2 3 7 - 1 243.

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zösischem Muster zu sprechen, so haben doch persönliche Kommunikations- und Bildungsbedürfnisse auf dieser Kulturinsel die häufigen Zusammenkünfte gebildeter Menschen im Rahmen ihrer jeweiligen materiellen Möglichkeiten mehr als anderswo gefördert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielten solche Begegnungen auch im bescheideneren bürgerlichen Kreise eine immer größere Rolle; zuweilen hatten sie gar geistesgeschichtliche Bedeutung. Im Falle Hippels kamen sie dem angeborenen Wissensdrang des vielseitigen, schriftstellernden Oberbürgermeisters in reichem Maße zugute, ließen aber auch — und dies bestätigen die Berichte Abeggs, Borowskis und Scheffners — fruchtbare Ideen auf seine Gesprächspartner übergehen. Die Zugehörigkeit dieser Freunde zu Universität, Handel, Wirtschaft, Lokalpolitik, Provinzregierung und Freimaurerei begünstigte den Geist der Vielfalt und Toleranz, der sich in Hippels vielseitigem und bezeichnenderweise vom Gedanken des Philanthropismus und Kosmopolitismus getragenem Schaffen widerspiegelt. Dabei fällt auf, daß Hippel ganz verschieden ausgerichteten Kreisen angehörte, während die Mitglieder derselben sich oft nur auf bestimmte wenige Gruppierungen beschränkten. Als stoffhungriger Zuhörer und >Herausforderer< nahm er zweifellos mehr auf, als er gab, was die regelmäßigen Protokolle freundschaftlicher Unterredungen im Nachlaß bestätigten wie auch der Umstand, daß er in seinem museumähnlichen Stadtpalast nur selten empfing und also darauf aus war, seinen eigenen engeren Lebensraum nicht zu einem Sammel- und Austauschplatz zu gestalten, sondern vielmehr nutznießend bei anderen zu verkehren. Von großer Ausstrahlung bei ihm zu sprechen, wäre somit fehl am Platz; aber Hippel war sicherlich, wie Kant bezeugte, ein »Centrai-Kopf«. 74

74

Vgl Kritischer Anzeiger der neuesten Literatur. Königsberg 1796, S. 141.

Renate Knoll

»Brücken und Fähren der Methode« Zu Hamanns frühen Bildern als Grundlegung sprachkritischer Autorschaft

In der breiteren Öffentlichkeit unserer von technischer Rationalität geprägten Gegenwart hat Johann Georg Hamann relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden. Weitgehende Unkenntnis herrscht jedoch nicht nur über seine Gestalt und sein Werk, sondern auch über den geographisch-historischen Umkreis der zentralen Stätte seines Wirkens: Königsberg in Preußen. Wer war H a m a n n ? Seine umfangreiche Korrespondenz zeigt ihn in vielfacher Weise in Auseinandersetzung mit dem Denken der Aufklärung, den Problemen ihres Selbstverständnisses, den Aufgaben ihrer Praxis. War er ein »Schwärmer«, ' wie die vermeintlich kritischen Zeitgenossen ihn ablehnten? Ein Vertreter der »Gegenaufklärung« 2 oder doch genauer jener dezidierte Gegner der Aufklärung, der seit Ungers großer und noch immer für den Forscher unentbehrlichen Darstellung 5 im allgemeinen wissenschaftlichen Bewußtsein vage fortlebt ? Das Rahmenthema bietet die Gelegenheit, konkreter als Unger zu fragen, historisch-mißtrauisch gegenüber der Leistung seiner methodisch vorgegebenen Ismen und ihren Konstruktionen mit dem Resultat von Hamann als irrationalistischem Vorläufer der R o m a n t i k 4 — textkompetenter seit der ' Vgl. in Anschluß an A. Hauser (Sozialgeschichte der Kunst und Literatur) und W. Lepenies zuletzt Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des iS. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, insbes. das Schlußkap.: »Schwärmer, Melancholiker, Genies« (S. 270-292), das im Zitat-Abriß über Hamanns Hypochondrie (S. 279 ff.) Herder mit Hamann verwechseln kann. Vgl. Lewis W. Beck: Early German Philosophy. Kant and his Predecessors. Cambridge, Mass. 1969: »The Counter-Enlightenment. Hamann: >The Magus of the NorthLeser und KunstrichterAvis au peuple sur sa santé< in Nordosteuropa«. In: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 79. Jahrhundert. Hrsg. von E. Amburger, M. Ciesla und L. Sziklay. Berlin 1976 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa. Bd. III).

Der Patriotismus August Wilhelm Hupeis

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erhielten und unter den harten Leibeigenschaftsverhältnissen nur notdürftig ihr Dasein fristeten. »Um diesen Menschen gute Ratschläge zu erteilen«, mußte er zur Feder greifen, Privatinitiative eines Arztes gegen die Misere im Bildungswesen. Für Wilhelm Christian Friebe, den Verteidiger neuer ökonomischer Theorien, war die »Undurchlässigkeit der Schichten« der Ausgangspunkt, mit seinen Handbüchern für Jedermann aufklärerisches Gedankengut über die feudalen Standesgrenzen hinweg in die Mittel- und Unterschichten zu tragen.,6 Das bornierte geistige Leben in den baltischen Provinzstädten, von Vorurteilen und Sonderinteressen beherrscht, hemmte patriotischen Gemeingeist. Franz Christoph Jetze, Hauslehrer in Estland und späterer Mathematikprofessor, suchte die provinzielle Enge durch die Beteiligung an Preisfragen und Mitarbeit an Zeitschriften u. a. m. zu überwinden, um »Vorschläge zur Aufnahme und zum Flor Ehstlands« einzusenden. 17 Garlieb Merkel bezeichnete es als eine »patriotische Idee«, die Widersprüche innerhalb des bestehenden Leibeigenschaftssystems in ganz Europa »publik« zu machen, um »dahin zu wirken, daß es in mancher Rücksicht besser werde«.18 Er betonte angesichts der besonderen geographischen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Notwendigkeit, »vielseitig zu werden in der Schriftstellerei«, da in allen Bereichen des Lebens ein Mangel an Aufklärung herrsche. Ein livländischer Schriftsteller mußte gleichzeitig Publizist, Historiker, Dichter, Kritiker, Ökonom und Statistiker sein, um, »was man für wahr, gerecht und nützlich erkennt«, in »jedem Ton und jeder Form zu sagen«. '» Sonntag schrieb 1796 nach der Lektüre der Letten an den Verfasser: »Was anerkannter guter Zweck, darauf muß Jeder hinwirken; aber Jeder darf, ja soll es auf seine Weise und nach seiner Lage. Und da sehen Sie ohne mein Erinnern, wie mir mein Standpunkt manches verbeut, was der Ihre mehr als bloß begünstigt.«20 Man war zwar zu Zugeständnissen an die jeweilige »Lage« und die Abhängigkeiten im Lande bereit, hielt aber an der Idee gemeinsamen patriotischen Handelns fest: »Doch wer nur will als Mensch, kann auch als Bürger viel.«21 Patriotismus war also nicht an eine bestimmte Klasse oder einen Stand gebunden, vielmehr eine neue Mentalität, auf die Praxis des Alltags Einfluß 16

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18

W. Ch. Friebe: Liv-, Est- und Kurländischer Briefsteller für junge Kaufleute in Rücksicht auf Eingeborene und Auswärtige. Riga 1/95. - Grundsätze zu einer theoretischen und praktischen Verbesserung der Landwirtschaft in Livlandf...]. Riga 1802, u.a. Uber Jetze vgl. A . Lauch-Grasshoff: »Das Petersburger Vergleichende Wörterbuch und die Erarbeitung des nationalen Geschichtsbildes der Esten. Jetzes estnische Beiträge zum >Universal-Glossarium« Katharinas II.« In: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Bd. 3. Berlin 1968, S. 455 — 469.

Merkel, Darstellungen (Anm. é), S. 217. "» Ebd., S. V I I . 2 ° Zit. nach Merkel, Darstellungen (Anm. 6), S. 228. 21 Ebd.

222

Annelies Grassboff

zu nehmen, eine staatsbürgerliche Haltung, die zwar noch nicht vom Begriff der Nation oder der nationalen Wiedergeburt getragen wurde, aber in dem Zusammengehörigkeitsgefühl zu einer nationalen Gemeinschaft fest verankert war. Aufklärung hatte nicht nur zu erleuchten, sondern eine »patriotische« Funktion, jene fortschreitende gesellschaftliche Gemeinsamkeit entwickeln zu helfen. Ausdrücklich verwahrten sich die patriotischen Schriftsteller gegen die im 18. Jahrhundert ansteigende Flut von Reisebüchern und -berichten, die flüchtige Eindrücke auf allgemeine Wesenszüge des Volkscharakters, der Sitten und Kultur übertrugen. Man wird den »unbestochenen Augenzeugen«, »Männern, die den größten Teil ihrer Lebenszeit unter dem hiesigen Landvolk zuzubringen und mit ihm auf einem vertrauten Fuß umzugehen veranlaßt sind«, mehr glauben als den Reiseschriftstellern, heißt es bei Hupel. 2 2 »Nur wer die hiesige Landes-Art kennt«, konnte über die gesellschaftlichen Verhältnisse urteilen, und nur aus der Nähe zum Volk gewann man die geistige Rüstung für die praktische Wirkungsmacht der Aufklärung. »Während die Ostpreußen Lindner, Hartknoch, Hamann und Herder«, schrieb Caroline Herder, »in den Ideen der Aufklärung und des Kosmopolitismus lebten und webten, Pflege und Verbreitung derselben zum Mittelpunkt ihrer gesamten livländischen Tätigkeit machten«, 23 wandten Gadebusch, Hupel, Jannau und andere ihre »mächtige Arbeitskraft« der Aufgabe zu, nach Möglichkeiten ihrer A n w e n d b a r k e i t zu suchen, d.h. Aufklärung ins Landesbewußtsein zu tragen. Patriotisches Nützlichkeitsstreben stellten sie abstrakter Geisteserhebung fordernd gegenüber. Die Unzulänglichkeit einer Daseinsordnung nicht nur zu kritisieren, sondern an deren Verwandlung tätigen Anteil zu nehmen, wurde zum wesentlichen Inhalt ihres neuen patriotischen Denkens. Hupeis Schriften, auch sein weitverzweigter handschriftlicher Nachlaß sind in dieser Hinsicht noch wenig ausgewertet worden. Schon allein seine Zeitschriften Nordische und Neue Nordische Miscellaneen (1781 — 1791, 1792 — 1798), das Zentralorgan der livländischen Aufklärung, bilden eine Fundgrube, wie der Begriff des Patriotismus in ein neues Bedeutungsfeld hineinwuchs. Hupeis Lebensweg sei kurz umrissen.' 4 1737 in Buttelstedt im Herzogtum Sachsen-Weimar geboren, studierte er nach dem Unterricht am Weima22 23

24

A. W. Hupel: Nordische Miscellaneen. 24. und 25. St. Riga 1790, S. 296 f. Vgl. R. Müller: »Zu Herders Auffassung von Wesen und Geschichte der Kultur«. In: Johann Gottfried Herder. Zur Herder-Rezeption in Ost- und Südosteuropa. Berlin 1978, S. 29 — 46. Zur Biographie Hupeis vgl. J. F. Recke und Κ. E. Napiersky: Allgemeines Schriftsteller· und Gelehrten-Lexikon. Bd. 2. Mitau 182g, S. j6j —j6y. — J. G. Meusel\Das gelehrte Teutschland. Bd. 3. 5., verb. Aufl. Lemgo 1797, S. 472 f. — Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 13. Berlin 1881, S. 422 f. — Jahresverhandlungen der kurländischen Gesell-

Der Patriotismus August

Wilhelm

Hupeis

rer Gymnasium Mathematik, Naturkunde und später Theologie an der Universität Jena. Auffallend war schon in jenen Jahren seine Neigung zum Studium fremder Sprachen; er lernte Italienisch, Englisch und Französisch. 1757 erhielt er eine Hauslehrerstelle in Livland, 1760 wurde er als Pfarrer nach Ecks (unweit von Dorpat), 1763 als Prediger nach Oberpahlen berufen, wo er bis zu seiner Amtsniederlegung im Jahre 1804 lebte; danach hielt er sich bis zu seinem Tode (1819) in der benachbarten kleinen Stadt Weißenstein auf. In Oberpahlen widmete sich Hupel ausgiebig der wissenschaftlichen Arbeit und sozialen Hilfstätigkeit und gründete Bibliotheken und Lesegesellschaften auf dem Lande. Er war Mitglied der Freien Ökonomischen Gesellschaft in Petersburg, von der er die »große silberne Medaille« erhielt, seit 1797 zählte er zu den Ehrenmitgliedern der Livländischen Ökonomischen Sozietät, 1803 verlieh ihm die Universität Dorpat den Titel »Doktor phil.«. Er war — ähnlich wie die meisten Aufklärer seiner Epoche — gleichzeitig Übersetzer, Herausgeber und Verfasser zahlreicher Schriften zur Statistik, Geographie, Geschichte und Linguistik Livlands und Rußlands und befaßte sich mit Problemen der Demographie, Medizin, Zoologie, Botanik, des Handels, der Haushaltung und Landwirtschaft. 15 Neben seinen Nordischen Miscellaneen seien hier genannt: die Topographischen Nachrichten von Liefland und Ehstland (3 Bde., 1774 — 1782), Ait Ehstnische Sprachlehre (1780) und der Versuch, die Staatsverfassung des Russischen Reichs darzustellen (2 Tl., 1791 und 1793). Er war eifriger Rezensent an der Hallischen und Jenaer Literaturzeitung, am Historischen Portefeuille, an H. L. Ch. Bacmeisters Russischer Bibliothek und Friedrich Nicolais Allgemeiner deutschen Bibliothek. 26 Ihm angetragene höhere Ämter, wie das Oberpastorat in Reval, Schaft für Literatur

und Kunst. Bd. 2. Mitau 1822, S. 47 — 50. — A . Lauch-Grasshoff:

»Russische Wissenschaft und Kultur im Spiegel der a l l g e m e i n e n Deutschen Bibliothek»«. In: Zs. für Slawistik

Bd. X , H . 5, S. 737 — 746. - E. Donnert: »August Wilhelm

Hupeis >Nordische< und >Neue Nordische Miszellaneen« als Quelle zur Geschichte des Baltikums und Rußlands«. In: Zs. und Zeitungen

des ¡8. und 19. Jahrhunderts

in

Mittel- und Osteuropa. Berlin 1986 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen. Bd. VIII), S. 1 0 9 - n é . 25

Vgl. Donnert, »August Wilhelm Hupeis [...]« ( A n m . 24) und die Studie von J. Bartlitz: »Ein Polyhistor des Ostbaltikums. Z u m Wirken von August Wilhelm Hupel ( 1 7 3 7 - 1 8 1 9 ) « . In: Gesellschaft

und Kultur Rußlands

in der 2. Hälfte des 18.

Jahrhun-

derts. T l . 2. Hrsg. von E. Donnert. Halle 1983 (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wiss. Beiträge. 21 (1983). — L. Loone: Agrarnyj strenija protivorecij

i krizisa feodal'nogo

vopros ν Estonii ν period obo-

sposoha proizvodstva

(1790 — 1820 godu). Issle-

dovanija po istorii ékonomiceskoj mysli Diss, masch. Tallinn 1964. 26

Vgl. Lauch-Grasshoff, »Russische Wissenschaft« ( A n m . 24). — Dies.: »Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai und sein livländischer Rezensent der A l l g e m e i n e n deutschen Bibliothek» August Wilhelm Hupel«. In: Zs. für Slawistik

Bd. 32, 1987, H . 4,

S. 489 — 509. — U b e r Bacmeisters Russische Bibliothek vgl. Dies.: Wissenschaft und kulturelle Beziehungen Berlin 1969.

in der russischen Aufklärung.

Zum Wirken H. L. Ch.

Bacmeisters.

Annelies

224

Grasshoff

das Predigeramt an der Petrikirche in St. Petersburg oder die livländische Generalsuperintendentur, wurden von ihm abgelehnt. Er blieb bei seiner Gemeinde in Oberpahlen, hatte hier seine Aufgabe gefunden und durch seine weit über die Landesgrenzen hinausgehende schriftstellerische Tätigkeit zugleich den übergreifenden Standpunkt eines »Weltbürgers« bezogen. Seine Publikationen und Rezensionsarbeit förderten Kontakte mit Verlegern und Buchhändlern, 27 er übernahm Pränumerationen für Verlage, die Weiterleitung von Büchern und steuerte thematisch vielseitige Beiträge den Kompendien anderer Zeitgenossen bei. H. Ischreyt bezeichnete Hupel als einen Schriftsteller, der auch Pfarrer war, und Jakob Lange als einen Pfarrer, der auch Schriftsteller war. In der Tat war Hupel Zeit seines Lebens bemüht, die seelsorgerische Tätigkeit mit seinem modernen Lebensgefühl und Weltverhältnis in Einklang zu bringen. Schriftstellerische Arbeit und allgemein-nützliche Betätigung verbürgten ihm geradezu den Sinn und Zweck seines Amtes. In seiner Ubersicht der Prediger-Arbeiten in Liefland28 nannte er im »Pflichtenkatalog« eines Landpfarrers, dessen Gemeinde weit verstreut siedelt, neben den »ermüdenden Amtsgeschäften« und dem Unterhaltserwerb aus eigener Wirtschaft vor allem die Notwendigkeit der Lektüre: Wenn der Prediger viel Nutzen stiften, kein Fremdling in der Wissenschaft werden, sich in Achtung erhalten, und in Gesellschaft keine auffallende Rolle spielen will, so muß er die Leetüre lieben, und sein Studieren fortsetzen. Freilich kann der Prediger eines kleinen Kirchspiels nicht viel an neue Bücher wenden, aber dann suche er eine Art von Lesegesellschaft zu stiften, so wird er dadurch in seiner Gegend guten Geschmack und Aufklärung befördern, ohne sich den alten dummen Vorwurf zuzuziehen, daß er dereinst nur Bücher und Kinder hinterlassen werde. Wenn er — wie es Pflicht ist, die Wissenschaft liebt, so wird er seinem Schlaf manche Stunde entziehen. 19

Auch Hupeis Lesegesellschaften waren Selbsthilfeeinrichtungen. Lektüre war für ihn nicht Zeichen des »Müßiggangs«, sondern ein wichtiges Moment gesellschaftlicher Kommunikation, »Nutzen zu stiften« und »Zutrau27

Vgl. u.a. Ischreyt, »Zu den Wirkungen von Tissots Schrift« (Anm. 15). - Ders.: »Zur Rezeption Lavaters in Kurland und Livland«. In: Nordost-Archiv. Zs. für Kulturgeschichte und Landeskunde 17 (1984), H. 73. — Henryk Rietz: »Vertrieb und Werbung im Rigaer Buchhandel des 18. Jahrhunderts«. In: Buch- und Verlagswesen im 18. und ¡9. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa. Hrsg. von H. G. Göpfert, G. Kozielek, R. Wittmann. Berlin 1977 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa. Bd. IV), S. 253-262. Ders.: »Buchhändler und Verleger als Vermittler zwischen russischen und deutschen Wissenschaftlern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts«. In: Geschichte und Kultur Rußlands in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Anm. 25), Tl. 2, S. 2 1 6 - 2 3 1 .

28

Hupel, Nordische Miscellaneen (Anm. 22), S. 399 — 421. Ebd., S. 416.

29

Der Patriotismus August Wilhelm Hupeis

en zu erwerben«. Als Prediger hatte er zu prüfen, was die Leute lesen »und was ihre Kinder lesen«. »Diese Arbeit ist eine der schwerlichsten, aber auch der nützlichsten.« 30 Spezifisch aufklärerisch war dabei die außerordentlich hohe Bewertung des pädagogischen Faktors. Wie andere livländische Aufklärer betrieb auch Hupel Lesepädagogik, private in seinen Schriften und öffentliche in seinen Predigten. Der in der Kirche spontan bekundete Beifall gab ihm die Gewähr, daß die Predigt, die er in zwei Sprachen sorgfältig vorbereitete, als lebendige Alltagsrede verstanden wurde. 31 Hupel machte es sich zur Aufgabe, sonderlich mit den einfachen Bauern »recht offenherzig umzugehen« 32 und deren Selbstgefühl zu erhöhen. Aus dieser Nähe zum Volk erschloß sich ein wichtiges sozialpsychologisches Motiv seines Patriotismus. In breiter Skala sammelte und beschrieb er Volkssitten und nationales Brauchtum, beschäftigte sich mit den kulturellen Traditionen und der »vaterländischen Geschichte«, lobte die Handwerke, die »Emsigkeit« und »Nationaltugenden« der Bauern, ohne in die romantische Idylle abzugleiten. Die »Wirkursachen« seines Schreibens sah er stets in »2facher Rücksicht«:' 3 einerseits nationale Vorurteile zu entkräftigen, da Livland »eben so gut, als manche andre Länder eine nähere und richtigere Bekanntmachung« verdiene, »nachdem man sich lange genug mit unvollständigen und fehlerhaften Nachrichten hat behelfen müssen«, 34 und andererseits, um über die Verbreitung von Fachwissen und in der Förderung von Schulen und Lesegesellschaften, Anleitung zum Handeln zu geben. Trug sich Herder mit Plänen, »die ins Große gingen«, »den G e i s t der Nation zu ehren«,35 so richtete sich Hupeis patriotischer Eifer auf die agitatorische Tagesarbeit, »einem bisherigen Mangel abzuhelfen« und sowohl den »Einheimischen als ankommenden Fremden nützlich zu seyn«. 36 Die estnische Sprachlehre war nicht nur als ein Hilfsmittel für die hier tätigen Pfarrer, Kaufleute, Gelehrten usw. gedacht, sich auf die notwendige »Nationalsprache« »gehörig vorzubereiten«, sondern sollte auch nützlich »für hiesige Bauern« sein, »die weder Seminar noch Akademien für ihre

30 31

Ebd., S. 411. A . W. Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. Tl. 3. Riga 1783, S. 136. Hupel, Nordische Miscellaneen (Anm. 22), S. 296. »Ich mußte aber vorzüglich auf meine Landesleute sehen« (Hupel, Topographische Nachrichten [Anm. 31], S. 7).

33

34 3!

36

A . W. Hupel: Idiotikon der deutschen Sprache in Lief- und Estland. Riga 1795, S. V I und XIII. Hupel, Topographische Nachrichten (Anm. 31), Bd. 1, Riga 1774 (Vorrede). J. G . Herder: »Politische Seeträume«. In: Journal meiner Reise im Jahre 1769 (Herder: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1878. Bd. 4). Ehstnische Sprachlehre für beide Hauptdialekte [...] nebst einem vollständigen Wörterbuch. Hrsg. von A . W. Hupel. Riga und Leipzig 1780. Vorerinnerung.

226

Annelies

Grasshoff

künftigen Nationallehrer haben«. v Hupel wehrte den Vorwurf ab, ein Wörterbuch als »pöbelhaft« abzutun, weil er es für Liv- und Estländer »von allerley Ständen und Fähigkeiten« zusammengestellt habe, »ein Wörterbuch über eine Sprache«, »die nur ein noch unausgebildetes Volk redet«. ,8 Er halte es seiner Pflicht »für angemessen«, »im gesellschaftlichen Umgange« sich der livländischen und estländischen Sprache zu bedienen. " Mehr noch. Hupel forderte »gute Bücher« für die unteren Volksschichten in der jeweiligen Landessprache. Da »die Leetüre immer mehr Liebhaber ebenso sehr auf dem Lande als in den Städten« fände und gegen Ende des Jahrhunderts »nun die meisten Bauern >lesen könnten 36, 4°> 45; S> 7°, 72, 74. 7éf.,79-83, 130, 132, 146, 149, 169, 171,175, 177-186, 188, 191-210, 222 Hamann, Johann Michael 150 Hardenberg, Karl August Freiherr von 123, 12jff., 129, 131, 140, 142, 189 Harder, Johann Jakob 179 Hartknoch, Johann Friedrich Vllf., 5 36, 52, 83, 173, 213, 222, 232 Hartmann, Carl Johann Gottfried Hartmann, Friedrich Traugott Hartmann, Johann Georg

213

5, 25

2 109

Holstein-Beck, Friedrich Karl Ludwig Herzog von Homer

173

132

Horaz, Quin tus Flaccus

192

Hoyer, Matthias Gottfried Hube, Johann Michael

173

23

Hufeland, Christoph Wilhelm Huhn, Otto von

Humboldt, Alexander von Hume, David

Hehn, Johann Martin

126, 242

77, 138, 153

Hupel, August Wilhelm

VIII, 2 1 7 - 2 3 5

63

Jachmann, Reinhold Bernhard 226

Hempel, Johann Michael

129

195, 197,

200, 205f., 209 14

206

27, 63,

157-160, 162 Jacobi, Friedrich Heinrich

157, 160

Hemsterhuis, François

250

254^

Jachmann, Johann Benjamin 159

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Heine, Heinrich

Graf von

Holberg, Ludwig von

4f., 25,

102, 173 Hasse, Gottfried

109

205

200

Härtung, Gottlieb Leberecht

85

141

Hohenzollern-Hechingen, Johann Karl

77

Hamann, Johann Georg

249

Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus

Jacobi, Johann Konrad Jaeschke, Michael

65

133, 173

2Ö0

Personenregister

Jannau, Johann Heinrich von

219, 222,

Knutzen, Martin

16, 76

Kölichen, Gottlieb

229 Javorski, Stefan Jean Paul

14

Koitzsch, Christian Jakob

94

siehe Richter, Johann Paul

Koll?taj, Hugo

K o r f f , Nikolai von

Friedrich Jensch, Christian Friedrich

150, 1 jjff-,

165

14

26 89t., 97-99, 101, 103,

114, 118 Korckwitz, Ernst Wilhelm von

Wilhelm

Kraft, Johann Gottfried

117

Jetze, Franz Christoph

176

Kotzebue, August (Friedrich)

Jerusalem, Johann Friedrich

23

Kraus, Christian Jakob

221

Jung-Stilling, Johann Heinrich

150

VIII, 151

j8ff., 123-142,

146, 150, 153, 184, 189, 200 Krause, Johann Wilhelm von

Kaatzky, Christian Friedrich

41

Krasicki, Ignacy

Kainein, Friedrich Stanislaus Leopold Graf von

173

Kant, Immanuel

Kreutzfeld, Johann Gottlieb Krickende, Samuel

VII, IX, 4, 16, 19, 22,

Kries, Johann Albinus Kügelgen, von (Dorpat)

76-82, 128, 130-133, 135, 140, 143-167,

Kühn, Heinrich

i6y{., 178, 180-186, 190, 192L 196, 200f,

Kupfer, Adolf

204Í., 208

Kurella, Ernst Gottfried

Kanter, Johann Jacob

25

60, 6jf.

23

24Í., 2éf., 29Í., 33, 35, 37, 51-68, 7 2ff.,

Kanter, Daniel Christoph

241

2

22 253

17 237 71, 84

Kurtzenbaum, Georg Samuel

VII, 4Í., 24Í., 42,

Kypke, Johann David

40

21, 76

72, 8.ff., 102, 131, I73ÍÍ., 180, 232 Karamsin, Nikolai Michailowitsch Karsch, Anna Luisa

146

22

Katharina II., die Große, Kaiserin von Rußland

172, 218, 221

Lagarde, François Théodore de Lalande, Joseph Jeroime de Lampe, Martin

213

Lange, Jakob

Keyser, Hendrik von

171

Lauson, Johann Friedrich

Gebhard

60

Keyserling(k), Gräfin Charlotte Amalie von

175, 180

Keyserling(k), Heinrich Christian Graf von 131, 173, 189 Kiesewetter, Johann Gottfried Karl Christian 33 Kimmel, J. A. (Drucker in Königsberg und Thorn) 25 Kleist, Heinrich von 135f., 189 Kiesel, C. D. (Prediger in Königsberg und Thorn) 23 Kleuker, Johann Friedrich 204 Klopstock, Friedrich Gottlieb 24 Klose, Friedrich 23 Klotz, Christian Adolph 178, 180

247

155, 157, 161

Keil, Georg Friedrich

Keyserling(k), Archibald Nikolaus

42, 174,

185

45, 224

Laval, Jean-Claude

81 ff., 177, 180

173

Lavater, Johann Kaspar

194

Lavoisier, Antoine Laurent

242

Leeuwenhoek, Antony van

206

Lehnhoff, Grafen von (Steinort) Leibniz, Gottfried Wilhelm

2

77, 107,

M3. ' 9 2 Lengnich, Gottfried 15 Lenz, Emil 237 Leo, George Friedrich 173 Lesage, Alain-René 95 Lesczynski, Stanislaw 12 Lessing, Gotthold Ephraim 22, 24, 183 Levsin, Piaton 119 Lichtenberg, Georg Christoph 183 Lilienfeld, von (Kammerherr in Livland) 234

261

Personenregister Lilienthal, Michael

ijf., 19/f., zcif.

Lilienthal, Theodor Christoph L.

76,

116 Lindner, Ehregott Friedrich Lindner, Gottlieb

177

Lindner, Johann Georg

Neumann, David

174

Nicolai, Friedrich

VIII, 223, 234, 241

25, 36, 65f., l8o

>

Nicolovius, Matthias Friedrich Nikuta, Marcin

248ff.

Nowosilzew, Nikolai Nikolajewitsch

98

Lorenz, Johann Friedrich Lorrain, Claude

247, 254

188 Orlow, Grigori Grigor

151

Ludwig X V I . , König von

98, 121, 174

Osten-Sacken, Karl von

VIII

Parrot, Georg Friedrich

237-255

165

Luise, Königin von Preußen, Gemahlin Friedrich Wilhelms III.

150, 185

Parrot, Friedrich

Luc, Jean André de

252

Paul I., Zar

Lullus, Raymundus

203

Penzel, Abraham

Luther, Martin

160, i98f.

Lysius, Heinrich

36, 162, 242, 252ff.

Percy, Thomas

13

237 130, 173 80

Perthes, Friedrich

33

Peter I., der Große, Zar Marum, Martin van

252

Peter III., Zar

Massow, Julius Eberhard von Mauvillon, Jakob Mellin, George

137

188

Pfeffer, Wilhelm Plato

53, 63

249

72, 80, 131, 146,

16, 12.Í.

132

Pörschke, Karl Ludwig

152

Mendelssohn, Moses

42, 90

120, 174

Pisanski, George Christoph

Meier, Georg Friedrich

isof., 153-157

Poggendorff, Johann Christian

249

Poniatowski, Stanislaw August, König

'95 Merkel, Garlieb

215, 2i8f. 221, 230, 241,

53

Michaelis, Johann David

76, 210

80

Montaigne, Michel de Motherby, Robert

146, 153, 173

Müller (livländischer Adliger)

95

Müller (Druckerei in Danzig)

5

141, 189

Napoleon Bonaparte 251

162

16

Pope, Alexander Prätorius, Karl G.

77, 205 25

Preyss, Georg Christoph

171

242, 252

Prove (Prowe), Christoph Gottlieb

iiéf.

Müller, Julius Conrad Daniel

von Polen

Priestley, Joseph

153, 198

Mosheim, Johann Lorenz

Negretti, G.

117,

119, 121

60

Wassiljewitsch

Müller, Adam

5, 25

Nowikow, Nikolai Iwanowitsch

27

Lomonossow, Michail

Milton, John

57,

26

Nollet, Jean Antoine

I97ÍÍ., 202, 205, 208, 222

2

247

127, 156

75. 79» 81 f., 84» 173ft·, 177*·. Link (Inspektor in Elbing)

92

23^, 65

Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig

198

197

Lindner, Johann Gotthelf

Frankreich

Netzker, Johann Jakob

Nikolai I. Pawlowitsch, Zar

177

Lindner, Gottlob Immanuel

Locke, John

Nettelhorst (Familie in Kurland)

213

Puttlich, Christian Friedrich

27

57

Radziwill, Friederike Luise Dorothea Philippine, Prinzessin von Preußen

185

Rambach, Johann Jakob Ramler, Karl Wilhelm Recke, Elisabeth von der

198 72 175

262

Personenregister

Reichardt, Johann Friedrich Reil, Johann Christian

23, 65

Reimmann, Jacob Friedrich Reinhold, Karl Leonhard Rekuc, Jerzy

Schlettwein, Johann August

146Í., 250 202f.

Friedrich

53, 157

16

Reusch, Karl Daniel Reuß, Maternus

60 21

156

Schmerling, Karl

153

150,

253

Richter, Johann Paul Friedrich, gen. Jean 149L 178

Riemann, Karl Friedrich Ritter, Johann Wilhelm

127,

-39ff· 161

Schott, Andreas 188

103

Schön, Heinrich T h e o d o r von Schönberger

Riedel, Friedrich Just

18

Schnabel, Johann Gottfried

Richter, O t t o Magnus Johann von

23

Schreiber (Druckerei in Danzig)

244

5

Schrötter, Friedrich Leopold Freiherr

R o c h o w , Friedrich Eberhard Freiherr von

131

Schlosser, Johann G e o r g 151, 155, 161, ¡64Í.

Rhode, Christoph Eduard

Paul

154, 189

Schlözer, August Ludwig

Schmalz, T h e o d o r A n t o n Heinrich

161

Richardson, Samuel

152

Schlichtegroll, A d o l f Heinrich

188

von

127, 135Í., i4of., 173^, 176, 189

Schubart, Christian Friedrich

Rode, Bernhard

1s1

Daniel

Rogali, G e o r g Friedrich

16

Rousseau, Jean-Jacques

77,79,195

R u b i n k o w s k i (Familie in Krakau) Ruffmann, Wilhelm Ludwig

185

Schubert, Johann Ernst Schuch, Caroline 20

173

188

6

Schultz, G e o r g Petrus Schultz, Johann

15 f.

6o, 150, 154^, ié4f.

Schwerdtmann (Familie in Krakau)

20

Schwerin, W i l h e l m Friedrich Karl Graf Sack, August Friedrich Wilhelm Sand, Johann David Sartorius, G e o r g

117

243

138 100,

173» '77, 189

41

Earl of

77

Shakespeare, William

Scharnewsky (Czarnowski), Johann 41

80

Sieyès, Emmanuel Joseph C o m t e Sivers, von (Familie in Livland)

Scharnewsky (Czarnowski), Johann 41

Sivers, August Friedrich von

126

Scheele, Karl Wilhelm

242

Scheffner, Johann George

254

Smith, A d a m

128, 134, 136, 138ff.

Sniadecki, Jan

26

Sokrates 9, 21-25, 74>

Solms, Prinzessin Friederike von Sonnenfels, Joseph von

138

175, 178, 184-190

Sonntag, Karl Gottlieb

219, 235

Schelwig (Schelguigius), Gottlieb Schelwig (Schelguigius), Samuel Scherer, Alexander N i k o l a u s 36, 65

15 16

252

239

206

8off., 146, I49Í., I54Í., 165, 169, 173,

Schlegel, G o t t l i e b

149 239

Sivers, Karl Magnus A d o l p h von

Scharnhorst, Gerhard Joahnn David von

235

14, réf.

Shaftesbury, A n t h o n y A s h l e y C o o p e r

252

Scharnewsky (Czarnowski) (Familie in

Gottfried

173

76

Seume, Johann Gottfried Seyler, G e o r g Daniel

Saussure, Horace Benedict de

Georg

99

Semler, Johann Salomo

Saturgus (Familie in Königsberg)

Libau)

von

Schwinck (Familie in Königsberg)

Spener, Johann C a r l Philipp

185

52

Stägemann, Friedrich August von

127,

154» 189 Starck, Johann August

VIII, 161, 175

Personenregister

263

Steffenhagen, Johann Friedrich

VIII,

Voltaire, François-Marie Arouet, gen.

Steidel, August Wilhelm

Stein, Karl Freiherr vom und zum

Wald, Samuel Gottfried

zu

VIII, 4 1 ,

27

Wedel, Daniel Ludwig

j

Weichmann, Joachim

18

Weiße, Christian Felix

150

84, 178

Weitzier, Georg Christoph

247

Strauss, M . (Lehrer in Danzig) Strimesius, Johann Samuel Stroband, Heinrich

Werner, Jakob Friedrich Weymann, Daniel

18

Sulzer, Johann Georg

23

Wendland (Lehrer in Thorn)

24

16

Struensee, Karl Gustav von

24

173

67, 11 iff., 1 i^f.

Weymarn, Hans Heinrich von

134^

105, io7ff., 1 1 7 ,

Wieland, Christoph Martin

234 24, 103,

149, 166

119 Sumarokow, Alexander Petrowitsch

99,

102

Wilde, Peter Ernst

219L 22-25, é 5>

Willamov, Johann Gottlieb

Suvorov, Alexander Wassiljewitsch 1 1 4 , 174

99,

72, 7% 84 Willmann, Friedrich Wilhelm (von) Wobeser, Jacob von

Teller, Wilhelm Abraham

188

Teske, Johann Gottfried

Wöhler, Friedrich

76

Tetsch, Christoph Ludwig Tetsch, Ludwig

24

Weber, Daniel Ludwig

Stolberg, Friedrich Leopold Graf Storch, Piaton

150

123,

I 2 j f f . , 129, 1 3 1 , 140, 1 4 2 , 189 Stender, Gotthard Friedrich 226

zoo

Voß, Johann Heinrich

173

Wolff, Abraham

40 173

Wolff, Christian von

251

26

13, 26, 7éf., 108,

1 1 1 - 1 1 4 , 1 2 1 , 130, 153, 192

Trescho, Sebastian Friedrich

22, 73^,

82

Wollstonecraft, M a r y Woltschkow, Sergej

Troschel, Adolf Ferdinand

188 109

Wrede, Ernst Friedrich

5

Tuckermann, Friedrich Ferdinand Unselt, Samuel F.

66

I3f.

Wolff, August Ferdinand

Toussaint, Jean-Claude Traube, Ludwig

245

Wöllner, Johann Christoph von

40

66

Wulf, Johann Young, Arthur

23

Unzer, August Wilhelm

5

Verpoorten, Wilhelm P.

23

Voigt, Johann Heinrich

245, 2 4 7 , 252

243

18 131, 133

Zedlitz, Karl Abraham Freiherr von

Voigt, Johannes

226

176

I3.f.

1 2 9 , 1 3 1 , 153

Volbrecht, Johann Christoph

Zeller, Karl August

189

Zimmermann, Johann G e o r g 15

Zollikofer, Georg Joachim

172 194

65,