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German Pages 204 Year 2014
Kristóf Nyíri Zeit und Bild
Sozialphilosophische Studien Herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers | Band 4
Editorial Die Reihe Sozialphilosophische Studien siedelt sich auf einem Problemfeld an, das durch das Soziale im weitesten Sinne markiert ist – auf einem offenen Feld, auf dem sich Überschneidungen und Konvergenzen, Konfliktzonen und Kritikpotenziale mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen begegnen. Sozialphilosophie, wie sie die Reihe vertritt, versteht sich demnach nicht als eine philosophische Disziplin unter anderen, sondern als Querschnittsprogramm. Wie »die Kultur« in den Kulturwissenschaften, so ist »das Soziale« ein Operator und kein Gegenstand: Das Soziale lässt sich nicht sagen, sondern es zeigt sich in seinen Vollzugsformen. Entsprechend werden in der Reihe sowohl grundlegende systematische Studien zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Sprechens über das Soziale als auch materiale Untersuchungen publiziert, an denen sich Erscheinungsweisen und Strukturformen des Sozialen ablesen lassen. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers.
Kristóf Nyíri ist Professor für Philosophie an der Technischen Universität Budapest. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie, Kommunikationsphilosophie, Wittgenstein und Heidegger.
Kristóf Nyíri
Zeit und Bild Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens
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Inhalt
Einleitung | 7 1 Verbildlichung und der Horizont des wissenschaftlichen Realismus | 25 2 Ernst Gombrich über Bild und Zeit | 47 3 Bild und Metapher in der Philosophie Wittgensteins | 73 4 Bilder in der natürlichen Theologie | 99 5 Bild und Gebet | 127 6 Die konservative Zeitanschauung | 141
Zur Metaphysik der Zeit | 142 Geschichte und Zeitbewußtsein | 171 Heroischer Konservatismus | 187 Register | 195
Einleitung
Bild und Bildbedeutung wurden erst im zwanzigsten Jahrhundert zu philosophischen Themen. Die Ursache ist eindeutig eine kommunikationstechnologische. Etwa bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts entbehrte Europa jeglicher Technik zur Vervielfältigung von Bildern, die genaue bildliche Darstellung der Wirklichkeit war vor dem Zeitalter der Photographie unmöglich, mit Bildern umzugehen war schwieriger als mit Wörtern, der Philosoph kommunizierte in Wörtern über Wörter. Demgegenüber sind im 20. Jahrhundert binnen weniger Jahrzehnte befriedigende – wenn auch von der philosophischen Öffentlichkeit bis heute noch vorwiegend zurückgewiesene – Antworten auf die Grundfragen der Bildphilosophie entstanden. Für bestimmend halte ich hier das Werk von Ernst Gombrich, und für vielsagend den Weg, den er vom Ende der 1960er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre gegangen ist. In seinem 1969 veröffentlichten Aufsatz »The Evidence of Images« hob er noch hervor, daß Bilder ohne Wörter nicht eindeutig sind, auf jenen Text, mit dem Dürer seine Graphik »Tod und Landsknecht« (1510) begleitete, mit der Erklärung hinweisend, daß hier doch selbst der Künstler das Bild durch Verse – »Vnd thu stetz noch gnaden werben / Als soltestu all stund sterben« – zu verdeutlichen suchte; in seinem Essay »Bild und Kode« (1978) argumentierte er indessen bereits für den Gedanken, daß Bilder selbstverständliche natürliche Zeichen sein können. Demgegenüber scheint das Problem der Zeit seit den Formeln von Aristoteles, daß nämlich »die Zeit Zahl der Bewegung ist nach dem Vor und Nach«, wobei aber man zweifeln könnte, ob »wenn nicht wäre die Seele,
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wäre die Zeit oder nicht«,1 trotz aller Bergsonschen, Heideggerschen oder gar Einsteinschen Genialität nicht der Lösung näher gekommen zu sein. Nach meiner Auffassung aus dem Grunde nicht, weil jede angemessene Zeitphilosophie eine angemessene Bildphilosophie voraussetzt. Zeit und Bild weisen aufeinander hin, und insbesondere für die Wirklichkeit der Zeit läßt sich nur von der Unmittelbarkeit der Bildbedeutung ausgehend argumentieren. Dieses Buch möchte erste Schritte in der Richtung einer solchen Argumentation darstellen. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich mich sowohl in bildphilosophischer als auch in zeitphilosophischer Hinsicht gegen den Strom bewege; Mut schöpfe ich weniger aus der Philosophie, als aus des russischen Filmregisseurs Andrej Tarkowskis Begriff des Zeitdrucks und seiner Vorstellung einer Zeit, die »unabhängig und mit eigener Würde« abläuft.2 Der Gedanke, daß Zeitphilosophie und Bildphilosophie irgendwie aufeinander angewiesen sein könnten, nahm mich im Herbst 2005 gefangen, während ich mit den Nacharbeiten meines Kirchberger Vortrags »Time and Communication«3 beschäftigt war. Eine erste Gelegenheit, diesem Gedanken nachzugehen, bot die Einladung zur Leibniz-Gastprofessur der Universität Leipzig, im WS 2006/07. Ich hielt eine Lehrveranstaltung mit dem Titel Zeit und Bild, wobei meine ursprünglichen Zielsetzungen, aus meiner heutigen Perspektive gesehen, recht bescheiden waren. Ich hatte vor, auf drei Ebenen zu argumentieren. Erstens auf einer systematischen, wo ich beweisen wollte, daß statische Bilder Extremfälle von bewegten – sich in der Zeit abspielenden – Bildern, genuine Bilder also zeitliche Ereignisse sind; und daß die Zeit nur bildlich – metaphorisch –, das Bild aber eben nur als sich in der Zeit verwirklichend begriffen werden kann. Zweitens wollte ich zeigen, daß in der Geschichte der Philosophie die genannten Zusammenhänge sich immer wieder merkbar machten – insbesondere Augustinus, Kant, Bergson, Heidegger und Wittgenstein schienen durchaus eine Verbindung zwischen Zeitlichkeit und Bildlichkeit zu sehen. Drittens meinte ich das Thema Zeit und Bild in dem umfassenden kulturphilosophischen Rah-
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Aristoteles: Physik, 220a25, 223a22-23, Übers. Weiße. Andrej Tarkowski: Zapeþatlënnoe vremja (1984), deutsche Ausgabe: Die versiegelte Zeit, Leipzig 1989, 135 u. 137.
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Erschienen in: Friedrich Stadler u. Michael Stöltzner (Hg.): Time and History, Frankfurt/M. 2006.
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men eines – wie ich es nannte – Entfremdungsrückgangsdiskurses diskutieren zu können: War doch die Zeit ursprünglich, als Zeit der Natur, als natürliche Zeit, »zƯt«, eine objektive nicht-entfremdete Zeit, nämlich Tageszeit, Jahreszeit, Lebensalter, die aber allmählich zur objektiven entfremdeten Uhrzeit wurde – ich erinnerte an Simmels Anfang des 20. Jahrhunderts gegebene Beschreibung eines »die genaueste Pünktlichkeit« verlangenden »feste[n], übersubjektive[n] Zeitschema[s]«4 – und waren doch Bilder die fundamentalen, anthropologisch ursprünglichen Denk- und Kommunikationsinstrumente, die aber während der Jahrtausende der überwiegenden Schriftkultur des Abendlandes in eine völlig untergeordnete Rolle gedrängt wurden. Das zwanzigste Jahrhundert, meinte ich, brachte da eine Befreiung, einen Entfremdungsrückgang. Mit Film und Video, und letztlich mit der Verbreitung von Handys mit integrierten Kameras, wurden Bilder wieder natürlich und selbstverständlich; bewegte Bilder befreien von der Einseitigkeit der Wortsprache. Handys bedeuten eine Art Befreiung auch von der Herrschaft der Uhr: Meine persönliche Zeit und Deine persönliche Zeit – wann wir uns sprechen, wann wir uns treffen – können ohne Bezug auf die objektive Uhrzeit aufeinander abgestimmt werden. Daß der obige Entwurf durchaus nicht abgerundet war, davon haben mich meine Leipziger Studenten binnen Wochen überzeugt. Ich würde, warfen sie mir vor, die Hauptfrage, nämlich die Frage nach dem metaphysischen Status der Zeit vermeiden. Ist die Zeit objektiv, ist sie wirklich? Es wurde ein für mich quälendes, aber auch äußerst lehrreiches Semester. Ich verließ Leipzig mit dem Entschluß, am Thema Zeit und Bild intensiv weiterzuarbeiten. Ein von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderter Deutschlandaufenthalt, 2008/2009, und insbesondere die Vorbereitungen für den während dieses Aufenthalts an der Fernuniversität in Hagen gehaltenen Vortrag »Zeit und Bild beim frühen Heidegger«5 brachten deutliche Fortschritte; und es war mein Gastgeber in Hagen, mein verehrter Freund Kurt Röttgers, der mir das Angebot machte, zum Thema Zeit und Bild eine Arbeit von mir in der Serie Sozialphilosophische Studien zu veröffentli-
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Ich zitiere diese Simmel-Stelle ausführlich im Kap. 6 des gegenwärtigen Bandes, siehe S. 186.
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Siehe www.hunfi.hu/nyiri/Nyiri_Hagen_2008_Dez_11_mit_Randbemerkungen.ppt, bzw. www.fernuni-hagen.de/videostreaming/ksw/forum/20081211.shtml.
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chen. Ohne seine ständige Ermutigung und Unterstützung wäre dieses Buch nicht entstanden. Das Buch geht von der Grundvoraussetzung aus, daß das menschliche Denken sich nicht bloß in Wörtern, sondern auch – wesentlich – in kinästhetisch fundierten mentalen Bildern vollzieht, und schreitet zur These fort, daß unsere alltäglichen Zeitmetaphern bildlich vermittelten leiblichen Erfahrungen – vor allem der Erfahrung der Druck der Zeit – entsprechen und zu einer Common-Sense-Auffassung der Wirklichkeit der Zeit führen, welche von der Philosophie nicht widerlegt, sondern gerechtfertigt werden sollte. Ich möchte nun einige einleitende Hinweise auf die Problemkreise Bild und Metapher bzw. Druck der Zeit machen.
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Das Umgehen mit wirksamen Metaphern setzt ein aktives Mitspielen von mentalen Bildern voraus. In meinem im Juli 2009 an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vortrag »Die Verräumlichung der Zeit«6 führte ich zum Abschluß ein Zitat von Tarkowski an: »Der Rhythmus [des Films] konstituiert sich [...] aus dem Zeitdruck innerhalb der Einstellungen. [...] die verschiedenen möglichen Formen zeitlichen Spannungsdrucks [sind] metaphorisch gesprochen [:] [...] Bach, Fluß, Strom, Wasserfall und Ozean.«7 Worauf ich an jener Stelle nicht ausgesprochen hingewiesen habe, aber als Teil meines Arguments stillschweigend als selbstverständlich annahm, war die Einsicht, daß die Wörter »Bach, Fluß, Strom, Wasserfall und Ozean« hier doch eindeutig die Funktion haben, mentale visuelle Bilder zu erwecken, und daß eben durch die Besinnung auf diese Bilder die von Tarkowski verwendeten Metaphern für uns eine Bedeutung vermitteln. Es war anläßlich des Vortrags an der Freien Universität, daß ich John Krois – 2010 verstorben und bitter vermißt – kennenlernte, und von ihm den Hinweis bekam auf
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Siehe http://www.hunfi.hu/nyiri/Nyiri_FU_2009.htm.
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Tarkowski: Die versiegelte Zeit, 135, 138. Übers. korrigiert: für »metaphorisch« steht in der deutschen Ausgabe irreführenderweise »symbolisch«.
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einen Aufsatz von George Lakoff, 2006 veröffentlicht,8 in welchem letzterer vom vergessenen Einfluß berichtete, den Mitte der 1970er Jahre das Buch Visual Thinking (1969) von Rudolf Arnheim auf das Entstehen seiner konzeptuellen Metapherntheorie ausübte. Der Anstoß zu Lakoffs Auffassung bildlicher Sprache kam also von Arnheims Bildbejahung. Mein vager Gedanke, daß im Hintergrund von Sprachbildern eben visuelle Bilder stehen, bekam allmählich schärfere Umrisse, und wird im gegenwärtigen Buch in den Kapiteln 3 und 4 weiter ausgeführt. Die frühe Lakoff-Johnsonsche Theorie, wie sie 1980 im Buch Metaphors We Live By 9 dargelegt wurde, war eine Metapherntheorie, in der die Idee des Visuellen nur ganz im Hintergrund auftritt. Eine Weiterentwicklung der konzeptuellen Metapherntheorie liefert Johnson in seinem 1987 erschienenen Buch The Body in the Mind,10 in welchem der Autor auf die Problematik von image schemata und deren kinästhetischen Grundlagen stößt und sowohl Kants Schematismus-Lehre als auch Arnheimsche Ideen und Arnheimsche schematische Zeichnungen11 in seinen Erörterungen verwertet, sich aber keineswegs mit visuellem Denken in Arnheims Sinn auseinandersetzt. »Johnson«, formulierte Krois, »wollte keine Bildtheorie entwickeln, sondern eine Begriffstheorie.«12 Dieselbe Formulierung ließe sich auch auf Lakoff beziehen, der sich in seinem ebenfalls 1987 veröffentlich-
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George Lakoff: The Neuroscience of Form in Art, in: Mark Turner (Hg.): The Artful Mind: Cognitive Science and the Riddle of Human Creativity, New York 2006.
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George Lakoff u. Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1980. Deutsche Übersetzung: Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg 1997.
10 Mark Johnson: The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987. 11 Entnommen Arnheims Art and Visual Perception: A Psychology of the Creative Eye, Berkeley 1974 (umgearbeitete Ausgabe des ursprünglich 1954 erschienenen Buches). 12 John M. Krois: Tastbilder: Zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, in: Alexandra Kleihues, Barbara Naumann u. Edgar Pankow (Hg.): Intermedien: Zur kulturellen und artistischen Übertragung, Zürich 2010, 228f.
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ten Women, Fire, and Dangerous Things13 noch eingehender als Johnson, aber offensichtlich unter dessen Wirkung, mit der Bildschemen-Thematik beschäftigt. Der Grundgedanke der konzeptuellen Metapherntheorie, wie sie im Buch Metaphors We Live By dargestellt wird, ist die Einsicht, daß Metaphern nur nebenbei »Mittel der poetischen Einbildung und rhetorische Schnörkel« sind, ihre hauptsächliche Funktion dagegen darin besteht, daß sie das »Verstehen und Erfahren von einer Art von Dingen im Bezugssystem einer anderen Art von Dingen« ermöglichen. Lakoff und Johnson betonen, daß das Metaphorische nicht so sehr für die Sprache an sich kennzeichnend ist als vielmehr für das sämtliche Denken und Tun: »die menschlichen Denkprozesse sind größtenteils metaphorisch«, aber auch unsere Handlungen werden gleichsam durch Metaphern strukturiert. 14 Der Gedanke, daß in der metaphorischen Verflechtung von Wörtern Bildern eine vermittelnde Funktion zukommen kann, spielt in der konzeptuellen Metapherntheorie eine wichtige Rolle; 15 in Metaphors We Live By steht dieser Gedanke allerdings noch keineswegs im Mittelpunkt. Auf die aristotelische Metaphernauffassung wird zwar als die klassische hingewiesen,16 nicht aber auf die Verbindung, die Aristoteles zwischen Gleichnissen/Bildern einerseits und Metaphern andererseits sieht (țĮ IJ IJȠȚĮ૨IJĮ ʌȐȞIJૃ İੁțȩȞİȢ İੁıȓȞ. Įੂ įૃ İੁțȩȞİȢ
13 George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind, Chicago 1987. 14 Lakoff u. Johnson: Metaphors We Live By, 3-6. Vorläufer der konzeptuellen Metapherntheorie waren I. A. Richards und Max Black. In Metaphors We Live By werden weder Richards noch Black erwähnt, in der von Johnson ein Jahr später herausgegebenen Textsammlung (Philosophical Perspectives on Metaphor, Minneapolis 1981) und seiner dazu verfaßten Einleitung nehmen indessen beide Gestalten einen wichtigen Platz ein, sowie auch, unter anderen, Paul Ricœur. 15 Ich bin Zoltán Kövecses, einem der führenden Forscher auf dem Gebiet der konzeptuellen Metapherntheorie ganz besonders verbunden für gar manche wertvolle Gespräche, die ich mit ihm über einschlägige Fragen führen durfte. 16 Lakoff u. Johnson: Metaphors We Live By, 190.
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IJȚ ȝİIJĮijȠȡĮȓ, İȡȘIJĮȚ ʌȠȜȜȐțȚȢ17); Ricœur wird gleich am Anfang des Buches angeführt, unerwähnt bleibt jedoch dessen in die Fußstapfen von Aristoteles tretender Versuch, dem Metaphernbegriff mittels Begriffen wie Ähnlichkeit und das Ikonische näherzukommen.18 Dennoch taucht der Aspekt des Bildlichen bereits in Metaphors We Live By in einem hochinteressanten Zusammenhang auf. Die Autoren erörtern hier »zwei Unterarten« der DIE ZEIT GEHT AN UNS VORBEI-Metapher. In dem einen Fall, schreiben sie, »bewegen wir uns, und die Zeit steht still; in dem anderen bewegt sich die Zeit, und wir stehen still«. Diese beiden Metaphern sind, wie sich die Autoren ausdrücken, »nicht konsistent (das heißt, sie setzten sich nicht zu einem einzigen Bild zusammen)«, aber sie sind dennoch kohärent, sie »passen zusammen«.19 Die Idee, daß Metaphern visuelle Bilder erwecken können,20 ist im Buch Metaphors We Live By zweifellos gegenwärtig;21 kein Versuch wird hier indessen gemacht, eine systematische Verbindung zwischen Metapher und Bildlichkeit zu ermitteln. Der Begriff von Bildschemen ist im Buch Metaphors We Live By noch nicht vorhanden, erhält dann aber eine wesentliche Rolle, wie oben bereits angedeutet, sowohl in Johnsons The Body in the Mind als auch in Lakoffs Women, Fire, and Dangerous Things. Johnson und Lakoff meinen hier Bildschemen eindeutig in einem Kantschen Geiste aufzufassen,22 als Sinnlichkeit und Vernunft verbindend.23 Bei Johnson wird dabei insbesondere die kinästhetische Grundlage von Bildschemen betont. Er spricht von unse-
17 Aristoteles: Rhetorik, 3. Buch, 11. Kap., 13. Abschnitt, 1413a14. In der Übersetzung von Adolf Stahr: »Alles dieses sind lauter Gleichnisse: daß aber die Gleichnisse Metaphern sind, ist schon mehrmals gesagt.« 18 Paul Ricœur: Die lebendige Metapher (1977), übers. von Rainer Rochlitz, München 1986, s. bes. 168-208. Ich komme weiter unten im Kap. 3, S. 94, kurz auf Ricœur zurück. 19 Lakoff u. Johnson: Metaphors We Live By, 44. 20 Siehe z. B. ebd., 168. 21 Auf Lakoff und Johnson komme in diesem Zusammenhang zurück weiter unten im Kap. 6, S. 169. 22 Siehe Johnson: The Body in the Mind, 21 und 24, und Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things, 453. 23 Siehe bes. Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things, 440.
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rem »leiblichen Erleben« von Kräften,24 die auf uns wirken bzw. die wir ausüben; von an »motorische Programme« gebundenen »verkörperlichten Schemen«,25 aus denen eben » ›bildschematische‹ Bedeutungsstrukturen« erwachsen.26 Ein solches Bildschema ist etwa das des Zwanges, das Johnson durch ein Diagramm darstellt.27 Johnson hebt hier einerseits hervor, daß dieses Schema nicht nur einen physischen Zwang, sondern auch Zwang in einem übertragenen, metaphorischen Sinne repräsentiert: »kraftvolle körperliche Erfahrungen lassen bildschematische Bedeutungsstrukturen entstehen, die man umwandeln, ausdehnen und weiterführen kann auch in solchen Bedeutungsfeldern, die nicht streng an den Körper gebunden sind«.28 Andererseits unterstreicht er aber, daß »alle Schemendiagramme irreführend sind; sie bewegen uns dazu, verkörperlichte Schemen mit besonderen detailreichen bzw. mentalen Bildern gleichzusetzen«.29 Daß Johnson eine scharfe begriffliche Trennungslinie zwischen allgemeinen – schematischen – und konkreten Bildern zieht, ist um so auffallender, als er, worauf ich eingangs bereits hinwies, im Buch The Body in the Mind gar manches von Arnheim übernimmt – aber eben nicht die Idee der Kontinuität zwischen konkreten und abstrakten Bildern. Bildschemen sollen, betonen Johnson und Lakoff immer wieder, nicht mit tatsächlichen geistigen Bildern verwechselt werden. Allerdings spielen auch Bilder der letzteren Art eine zunehmend wichtigere Rolle in der konzeptuellen Metapherntheorie. Das Thema rückt durchaus in den Vordergrund im Buch Women, Fire, and Dangerous Things, in bemerkenswertester Weise in der Besprechung von Redewendungen, welche Lakoff als imageable idioms – »verbildlichbare Idiome« – bezeichnet,
24 Johnson: The Body in the Mind, 13. 25 Ebd., 20. Johnson führt hier Ulric Neissers Cognition and Reality (1976) an. 26 Johnson: The Body in the Mind, 19. 27 Eine Nachzeichnung des Johnsonschen Diagramms findet sich weiter unten auf S. 170 im Kap. 6. 28 Johnson: The Body in the Mind 44f.: »forceful bodily experiences give rise to image-schematic structures of meaning that can be transformed, extended, and elaborated into domains of meaning that are not strictly tied to the body«. 29 Ebd., 23: »all diagrams of schemata are misleading; in particular, they tend to make us identify embodied schemata with particular rich images or mental pictures«.
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d. h. Idiome, die auf »konventionellen Bildern« beruhen. Lakoff bietet eine ausgearbeitete Analyse des Idioms »jemanden auf Abstand halten«, wobei die deutsche Wendung wohl weniger bildlich ist als die englische: to keep someone at arm’s length. »Ich habe Hunderte von Leuten gefragt«, schreibt Lakoff, »ob sie ein Bild mit diesem Idiom assoziieren. Fast jeder tut das, und fast immer ist es das selbe Bild.«30 Zwei Jahre später, im Band More than Cool Reason von Lakoff und Turner, taucht dann der Begriff »image metaphor« auf. André Bretons Zeilen »My wife […] Whose waist is an hourglass«31 zitierend sprechen die Autoren von einem »Überlagern des Bildes einer Sanduhr auf das Bild einer Frauentaille aufgrund ihrer gemeinsamen Form. […] die Metapher ist konzeptuell; es sind nicht die Wörter selbst. […] der Ort der Metapher ist ein geistiges Bild.«32 Das Buch schließlich Philosophy in the Flesh von Lakoff und Johnson (1999) enthält ein Unterkapitel über »Metaphorical Idioms and Mental Imagery«. Hier wird ein kognitives Muster beschrieben, wo Wörter solche Bilder aufrufen, die Träger eines spezifischen, konventionellen Wissens sind.33 Ich komme nun zu Lakoffs 2006 veröffentlichtem Aufsatz »The Neuroscience of Form in Art«. Als er an diesem Aufsatz zu arbeiten begann, berichtet eingangs Lakoff, ging er durch die eselsohrigen Seiten seines Exemplars von Arnheims Visual Thinking. Er hatte das Buch 1975 gelesen und erlebte nun eine Überraschung. Während er die Anfänge seines eigenen Metaphernverständnisses auf 1978 datierte, fand er jetzt folgende Passage in Arnheims Buch angemerkt: »Der Wert der Sprache für das Denken kann […] nicht auf einem Denken in Worten beruhen. Es muß sich vielmehr um Hilfeleistungen handeln, deren sich das Denken bedienen kann, während es in einer geeigneteren Materialsphäre, etwa mit Vorstellungsbildern, arbeitet.« Gleich zitiert dann Lakoff auch diese anschließende Stelle bei Arnheim:
30 Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things, 447. 31 Übersetzung aus dem Französischen von David Antin. 32 George Lakoff u. Mark Turner: More than Cool Reason: A Field Guide to Poetic Metaphor, Chicago 1989, 90, siehe noch 93. 33 George Lakoff u. Mark Johnson: Philosophy in the Flesh: The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought, New York 1999, 67ff.
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»Aus der Sprachwissenschaft ist uns bekannt, daß Wörter, die in ihrer späteren Form nicht auf unmittelbare Wahrnehmungen hinzuweisen scheinen, dies ursprünglich taten. Viele sind noch immer unverkennbar bildlich. Das in den modernen europäischen Sprachen für ›Tiefgründigkeit‹ verwendete Wort profund enthält das lateinische Wort für ›Grund‹, fundus. Man beschreibt also auch heute noch die Tiefe eines Brunnens und die eines Gedankens mit den gleichen Worten, und S. E. Asch hat in einer Untersuchung über Metaphern gezeigt, daß sich vergleichbare Beispiele von solch ›naiver Physik‹ in den bildlichen Ausdrücken höchst verschiedener Sprachen vorfinden. In diesem allgemeinen Sprachgebrauch spiegelt sich natürlich der psychologische Vorgang wider, der ›unanschauliche‹ Begriffe von anschaulichen ableitet. Der Begriff der Tiefgründigkeit stammt eben tatsächlich von dem Erlebnis der physischen Tiefe ab; ja man kann sagen, daß die Tiefe nicht nur ein handlicher bildlicher Ausdruck zur Beschreibung des gemeinten geistigen Phänomens, sondern überhaupt die einzige Art und Weise ist, sich das Phänomen vorzustellen. Geistestiefe läßt sich nicht begreifen ohne eine Vorstellung von physischer Tiefe. Daher denn der bildliche Charakter aller theoretischen Sprache[...]« 34
Der bildliche Charakter aller Sprache also, die sich über das an unserem Körper und in unserer Umgebung konkret-unmittelbar Gegebene erhebt. Dadurch auch der bildliche Charakter aller Metaphorik.
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Der Philosoph, zu dessen Auffassung Tarkowskis Ansichten eine offensichtliche Parallele zeigen, ist selbstverständlich Bergson. Es ist mir hier allerdings wichtig hervorzuheben, daß wesentliche Verbindungen bestehen zwischen Bergson und William James. James hatte, sich auf Hugo Münsterberg stützend, fundamentale Aussagen gemacht über den Zusammenhang von Zeitsinn und Muskelgefühl;35 daß Le Poidevin in seinem Buch The
34 Ich zitiere hier aus der deutschen Ausgabe von Visual Thinking. Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken: Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1972, 8. Auflage 2001, 219. 35 Ausführlich dazu siehe weiter unten Kap. 6, S. 162 und 165f.
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Images of Time36 James ohne den Aspekt des Motorischen in Betracht ziehend bespricht, bzw. Münsterberg überhaupt nicht erwähnt, spielt gewiß eine Rolle darin, daß er sich schließlich gegen die Idee des zeitlichen Werdens und für die McTaggartsche Zeitauffassung entscheidet. James wurde sehr früh von Bergson rezipiert. Bereits Bergsons erstes Hauptwerk, das 1889 erschienene Buch Versuch über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewußtseins,37 deutsch unter dem Titel Zeit und Freiheit verlegt, enthält mehrere Hinweise auf James, allerdings nicht auf den Aufsatz »The Perception of Time«, mit welchem es doch wichtige Gemeinsamkeiten hat. James wurde seinerseits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein begeisterter Verehrer Bergsons. Die übliche Auffassung, laut der die beiden »aufgrund verschiedener Fragestellungen und größtenteils unabhängig voneinander zu ähnlichen Überzeugungen gekommen [sind]«38, unterschätzt m. E. die Wirkung von James auf Bergson, womit ich keineswegs die Originalität des letzteren bezweifeln möchte. Bergson ist der entschiedenste Kritiker der Verräumlichung der Zeit, er entwirft die gewaltigsten Bilder zur Veranschaulichung der raumunabhängigen Dauer, eines Zeitbegriffs, der diametral jenem entgegengesetzt ist, welcher in der abendländischen Philosophie trotz aller inneren Unterschiede eindeutig und einheitlich vorherrscht. Ich zitiere aus Bergsons Schrift Einführung in die Metaphysik, 1903 erschienen. »Die reine Dauer«, betont Bergson, »schließt jeden Gedanken an Nebeneinanderstellung, an ein gegenseitiges Außereinander und an Ausdehnung aus.« Man solle sich »nur von der Bewegung selbst Rechenschaft [...] geben, von dem Akt der Spannung [...], kurz von der reinen Bewegtheit. [Dadurch] werden wir ein treueres Bild von der Entwicklung unseres Ich in der Dauer haben. – Und dennoch wird dieses Bild noch unvollständig sein, wie übrigens jeder Vergleich ungenügend sein wird«, welcher »das Sichabrollen unserer Dauer« wiederzugeben versucht. »Das innere Leben«, schreibt Bergson, »läßt sich nicht durch Bilder darstellen. – Aber noch weniger läßt es sich darstellen durch Begriffe – d. h. durch abstrakte oder allgemeine oder einfache Ideen. Zweifellos wird kein Bild völlig das ur-
36 Robin Le Poidevin: The Images of Time: An Essay on Temporal Representation, Oxford 2007. 37 Henri Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889. 38 Erik Oger: Einleitung, in: Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, XLIV.
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sprüngliche Gefühl wiedergeben, das ich vom Verlauf meines Selbst habe. [...] Kein Bild wird die Intuition der Dauer ersetzen«, wiederholt Bergson, aber vielleicht werden es »viele verschiedene Bilder, die ganz verschiedenen Sachreihen entlehnt sind«, doch andeuten können.39 Die Schrift Einführung in die Metaphysik bietet dann auch in der Tat eine Verkettung von beeindruckenden Metaphern. »Die innere Dauer«, schreibt etwa Bergson, »ist das fortlaufende Leben einer Erinnerung, welche die Vergangenheit in die Gegenwart fortsetzt, mag die Gegenwart das unaufhörlich wachsende Bild der Vergangenheit deutlich enthalten, oder mag sie vielmehr durch ihren fortwährenden Qualitätswechsel von der immer schwerer werdenden Last zeugen, die wir hinter uns her schleppen und die in dem Maße zunimmt, in dem wir altern. Ohne dies Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart gäbe es keine Dauer, sondern nur Augenblicks40
existenz.«
Man sollte sich, sagt uns Bergson, nicht mit »eine[r] bloße[n] Ansicht von der verfließenden Realität«41 begnügen, aber auch nicht mit dem Bild eines Flusses »ohne Grund, ohne Ufer, der ohne angebbare Kraft in einer nicht zu bestimmenden Richtung fließt«; im Gegenteil, man solle sich »durch eine Aufbietung der Intuition in den konkreten Verlauf der Dauer« versetzen;42 wir haben ein »Bewußtsein [...] von unserer eigenen Person in ihrem kontinuierlichen Verlauf«43. Und noch eine Reihe von Bergson-Passagen, diesmal aus dem 1907 erschienenen Werk Schöpferische Entwicklung: Wenn die »positive Wissenschaft« von Zeit spricht, heißt es hier, wird bloß das Zählen von Gleichzeitigkeiten gemeint; man befaßt sich aber nicht »mit dem Fluß [...], der von einer Gleichzeitigkeit zur anderen geht«. Was die Wissenschaft über die Zeit sagt, deckt sich »[m]it dem Werden in seiner Bewegtheit [...] so wenig, wie die je und je über einen Fluß geworfenen Brücken dem Wasser nachfließen, das unter ihnen hinströmt. [...] Wenn das Nacheinander, als vom bloßen Nebeneinander Unterschiedenes, keine reale Wirkungskraft besitzt, wenn die Zeit nicht eine Art von Kraft ist, warum
39 Henri Bergson: Einführung in die Metaphysik, Jena 1909, 8-10. 40 Ebd., 27f. 41 Ebd., 29. 42 Ebd., 38. 43 Ebd., 40.
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dann rollt«, lautet Bergsons dramatische Frage, »das Universum seine nacheinanderfolgenden Zustände mit einer Geschwindigkeit ab, die in den Augen meines Bewußtseins etwas wahrhaft Absolutes ist? Warum mit dieser bestimmten Geschwindigkeit, warum nicht mit irgendeiner anderen? Warum nicht mit unendlicher Geschwindigkeit? Warum mit anderen Worten ist nicht alles auf einmal gegeben wie auf dem kinematographischen Film?«44 In seinem 1922 erschienenen Buch Dauer und Gleichzeitigkeit zog Bergson eine Art Trennungslinie zwischen einerseits Einstein und andererseits jenen Vertretern der Relativitätstheorie, die die Lorentz-Transformation in einem wissenschaftsphilosophischen Sinne instrumental auffaßten.45 In einem erweiterten Sinne ist für Bergson allerdings jede Wissenschaft, ja der menschliche Intellekt überhaupt instrumental, nämlich nicht kontemplativ, sondern praktisch.46 Die »Rolle des Intellekts« ist es, heißt es in der Schöpferischen Entwicklung, »Handlungen vorzustehen«, der Intellekt steht im Dienste der Praxis, und die einzig praktische Methode ist eben die kinematographische, denn auf ein »stetes Fließen« kann sich kein geistiger Akt
44 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, 339-342. 45 Vgl. Timothy S. Murphy: Beneath Relativity: Bergson and Bohm on Absolute Time, in: John Mullarkey (Hg.): The New Bergson, Manchester 1999, 68. »Nous croyons avoir atteint notre objet«, schrieb etwa Bergson, »qui était de déterminer les caractères d’un temps où il y a réellement succession. Abolissez ces caractères; il n’y a plus succession, mais juxtaposition. Vous pouvez dire que vous avez encore affaire à du temps, – on est libre de donner aux mots le sens qu’on veut, pourvu qu’on commence par le définir, – mais nous saurons qu’il ne s’agit plus du temps expérimenté; nous serons devant un temps symbolique et conventionnel, grandeur auxiliaire introduite en vue du calcul des grandeurs réelles. C’est peut-être pour n’avoir pas analysé d'abord notre représentation du temps qui coule, notre sentiment de la durée réelle, qu'on a eu tant de peine à déterminer la signification philosophique des théories d’Einstein, je veux dire leur rapport à la réalité.« (Henri Bergson: Durée et simultanéité: A propos de la théorie d’Einstein, zweite Ausgabe, Paris 1923, 85f.) 46 »Eine statische Anschauung des Realen drängt sich auf: alles scheint mit einem Mal, scheint in Ewigkeit gegeben«, es sollte jedoch »versucht werden, zu sehen um zu sehen, nicht mehr zu sehen um zu handeln« (Bergson: Schöpferische Entwicklung, 302).
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richten, es gilt »die fließende Kontinuität des Wirklichen in diskontinuierlichen Bildern zu verfestigen«, »der Geist bleibt darauf eingestellt, starre Ansichten des Unstarren aufzunehmen«47. »[D]er Mechanismus unseres gewöhnlichen Denkens«, schreibt Bergson, »ist kinematographischen Wesens. – An dem rein praktischen Charakter dieses Verfahrens ist kein Zweifel möglich.«48 Nun kann aber in der Wirklichkeit – dies ist das stets wiederkehrende Argument Bergsons – keine Bewegung aus »Unbewegtheiten« entstehen, Zenons Paradox des fliegenden Pfeiles, wie auch seine anderen Paradoxe, beruhen auf dem Irrtum, auf die Bewegung zu übertragen, was nur für den durchlaufenen Weg zutrifft: nämlich die Teilbarkeit.49 »In Wahrheit aber ist die Bewegung«, lautet eine glückliche Formulierung in der Schöpferischen Entwicklung, »genau so einfach, genau so – als Bewegung – unzerlegbar, wie die Spannung des Bogens, die den Pfeil abschnellt. [...] Denke Dir ein Gummiband«, sagt Bergson, »das von A nach B gezogen wird – wie wolltest Du seine Spannung teilen? Eben aber diese Spannung ist der Flug des Pfeiles.«50 Daß »die Sophismen der Eleatischen Schule« aus einem »Zusammenwerfen der Bewegung mit dem vom Bewegten durchlaufenen Raume« entstanden sind, betont Bergson bereits in Zeit und Freiheit,51 deren erster einleitender Absatz, also die Passage, mit der sich Bergson der philosophischen Welt überhaupt vorstellt, wie folgt lautet: »Wir drücken uns notwendig durch Worte aus und wir denken fast immer räumlich. [...] die Sprache zwingt uns, unter unsern Vorstellungen dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen. Diese Assimilation ist im praktischen Leben von Nutzen und in der Mehrzahl der Wissenschaften notwendig. Es ließ sich jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die unübersteiglichen Schwierigkeiten, die gewisse philosophische Probleme bieten, daher kommen, daß man dabei beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, im Raume neben einander zu ordnen«
47 Ebd., 302, 310, 303, 306f. 48 Ebd., 309. 49 Ebd., 311-313. 50 Ebd., 312. 51 Henri Bergson: Zeit und Freiheit: Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen (1889), Jena 1911, 88.
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– die »Dauer mit der Ausdehnung« zu vermengen.52 Eine Erscheinung allerdings, die sich zweifellos »im Raum entfaltet« und welche auf den ersten Seiten von Zeit und Freiheit von Bergson ausführlich diskutiert wird, ist jene der Muskelanstrengung.53 Bergson beruft sich insbesondere auf einen 1880 erschienenen Aufsatz von William James, um darzulegen, daß Muskelempfindungen immer mit tatsächlichen Muskelbewegungen verbunden sind, ja daß »[e]ine große Anzahl psychologischer Zustände«, die auf den ersten Blick nichts mit Muskelgefühlen zu tun haben, »tatsächlich von Muskelkontraktionen und peripheren Empfindungen begleitet« werden.54 Ein solcher psychologischer Zustand, wie, in die Fußstapfen von James tretend, ich es in diesem Buch zeigen möchte, ist das Gefühl des Vergehens der Zeit, mal unaufhaltsam, mal willkommen, bzw. unseres Vorgehens in der Zeit, mal mühsam, mal unbehindert.
AUFBAU
DER
ARGUMENTATION
Im ersten Kapitel, »Verbildlichung und der Horizont des wissenschaftlichen Realismus«, stelle ich die philosophische Theorie dar, gegen welche dieses Buch gerichtet ist: Die Theorie der vierdimensionalen statischen Raumzeit. Ich versuche hier zu beweisen, daß da das menschliche Denken auf eine unausweichliche visuelle Komponente angewiesen ist, und da die vierdimensionale Raumzeit sich nicht verbildlichen läßt, diese schlicht undenkbar sei, und dadurch im wissenschaftsphilosophischen Sinne als eine bloß instrumentelle Theorie, also als keine reale Weltbeschreibung verstanden werden sollte. Im zweiten Kapitel, »Ernst Gombrich über Bild und Zeit«, strebe ich danach, eine feste Grundlage für die Überzeugung zu schaffen, daß Bilder natürliche Bedeutungsträger sind; was das Bild abbildet, ist in einem wesentlichen Sinne unmittelbar wahr; Bilder können einen zeitlichen Ablauf darstellen, weil die Zeit in der Tat nicht stillsteht. Im dritten Kapitel, »Bild und Metapher in der Philosophie Wittgensteins«, setze ich mich einerseits mit der Meinung auseinander, daß der spätere Wittgenstein keine selbständigen Bildbedeutungen zuließ, glaube aber auch zeigen
52 Ebd., 1. 53 Ebd., 17ff. 54 Ebd., 22.
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zu können, daß es Wittgenstein nicht schaffte, seine Bildphilosophie zu einer Metapherntheorie zu entwickeln, und dadurch auch unfähig war, zu einer angemessenen Philosophie der Zeit zu kommen; Wittgensteins therapeutische Warnungen dürfen uns nicht daran hindern, eine Metaphysik der werdenden Zeit auszuarbeiten. Im vierten Kapitel, »Bilder in der natürlichen Theologie«, versuche ich zu zeigen – und dies hoffe ich als einen zentralen Schritt in meiner Argumentation aufzufassen dürfen –, daß motorisch fundierte innere Bilder zu abstrakten Vorstellungen führen und damit gewissermaßen die verbale Begrifflichkeit ersetzen können; dieser Gedanke wird weitergeführt und mit der Zeitproblematik verbunden im fünften Kapitel, »Bild und Gebet«. Kapitel sechs schließlich, »Die konservative Zeitanschauung«, soll eine philosophische Strategie zusammenfassen, die von der Erfahrung des Druckes der Zeit über die motorische Basis von inneren Bildern und über die Rolle von inneren Bildern in der Formulierung von Common-Sense-Metaphern zu der Schlußfolgerung führt, daß diese Metaphern eben die Wirklichkeit der Zeit widerspiegeln. Ich habe dieses Kapitel auch zum Anlaß genommen, meine vor vielen Jahrzehnten unternommenen Forschungen über den historischen Wandel des Zeitbegriffes von den traditionellen Gesellschaften bis zur postmodernen Gesellschaft mit meinen jetzigen metaphysischen Untersuchungen zu verbinden. Der hier geschilderte Aufbau entspricht ungefähr den Vorstellungen, die ich mir bei der Planung des gegenwärtigen Buches vor einigen Jahren gemacht habe. Freilich ist dies, wie eingangs gesagt, bloß ein erster Anfang; ich hoffe am Thema weiter arbeiten zu können. Fünf der sechs Kapitel wurden ursprünglich als Konferenzvorträge verfaßt – man erhält Einladungen, und versucht dann die vorgesehene Arbeit irgendwie mit den gegebenen Gelegenheiten zu verbinden. Eine erste Version von Kapitel 1 wurde auf Englisch im Mai 2008 in Fünfkirchen (Ungarn) vorgetragen, die deutsche Übersetzung jener frühen Version erschien in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, 2008/5. Kapitel 2 ist eine Übersetzung meines 2009 in Chemnitz gehaltenen Vortrages »Gombrich on Image and Time«, erschienen in dem online Journal of Art Historiography (http://arthistoriogra phy.wordpress.com/number-1-december-2009), Nr. 1 (Dezember 2009) und in Klaus Sachs-Hombach und Rainer Totzke (Hg.): Bilder – Sehen – Denken: Zum Verhältnis von begrifflich-philosophischen und empirisch-psychologischen Ansätzen in der bildwissenschaftlichen Forschung, Köln 2011. Kapitel 3 ist eine Übersetzung von »Image and Metaphor in the Philosophy
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of Wittgenstein«, erschienen in Richard Heinrich et al. (Hg.): Image and Imaging in Philosophy, Science and the Arts, Proceedings of the 33rd International Ludwig Wittgenstein Symposium, Bd. 1, Heusenstamm bei Frankfurt 2011. Die ursprüngliche kürzere englische Version von Kapitel 4 wurde anläßlich eines in Glasgow im April 2010 gehaltenen religionsphilosophischen Seminars verfaßt und erscheint in Russell Re Manning (Hg.): The Oxford Handbook of Natural Theology, Oxford 2012. Kapitel 5 ist in Christoph Dohmen und Christoph Wagner (Hg.): Religion als Bild – Bild als Religion (Regensburg 2012) veröffentlicht. Kapitel 6 wurde für den gegenwärtigen Band geschrieben.
1 Verbildlichung und der Horizont des wissenschaftlichen Realismus
Die gültige Beschreibung der Welt wird von den Naturwissenschaften geliefert. Kann man aber wohl jede naturwissenschaftliche Theorie als eine Beschreibung der Welt auffassen? Handelt wohl tatsächlich jede einzelne – in abstrakte mathematische Form gekleidete – Theorie etwa der heutigen Elementarteilchenphysik von der wirklichen Welt? In der Wissenschaftsphilosophie herrscht seit jeher bis zum heutigen Tage mehr oder weniger die Auffassung (bei Ernst Mach und den Logischen Positivisten mit der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Metaphysik vermengt), daß die Antwort hier irgendwie durch das Kriterium der Beobachtbarkeit gegeben wird, und zwar durch das Kriterium der indirekten Beobachtbarkeit: wenn man auf Grund der Hypothesen einer Theorie zu diesen oder jenen meßbaren/experimentellen Beobachtungen kommen kann, und diese Beobachtungen dann in der Tat eintreten, dann bestehen die von dieser Theorie behaupteten Phänomene und Zusammenhänge wirklich. Demgegenüber möchte ich in diesem Kapitel – dessen erste Fassung ich anläßlich der im Mai 2008 in Fünfkirchen (Ungarn) gehaltenen RortyErinnerungskonferenz vorgetragen habe – dafür argumentieren, daß die Demarkationslinie, jenseits welcher wissenschaftliche Theorien nicht als wahre Beschreibungen der Welt aufgefaßt werden sollten, sondern als mathematische Instrumente, mit deren Hilfe man zu richtigen praktischen Voraussagen kommt, nicht die Grenze von im Prinzip beobachtbar/nicht-beobachtbar ist, sondern vielmehr die Grenze zwischen dem, was wir uns als perzeptuelle Bilder vorstellen können, und dem, was sich bloß durch abstrakt-symbolische Ausdrücke formulieren läßt. Das Kapitel ist in drei Ab-
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schnitte gegliedert. Die beiden ersten – ziemlich kurzgehaltenen – Abschnitte, unter den Titeln »Begegnung mit Rorty« und »Bilder von Sellars«, sollen in Form von einigen persönlichen Erinnerungen und Reflexionen das Szenario für mein Hauptargument aufbauen, das ich im dritten, etwas längeren Abschnitt »Glaub’, was Du Dir verbildlichen kannst« entfalten werde.
B EGEGNUNG MIT R ORTY Es war zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt im Leben von uns beiden, als ich Rorty persönlich kennenlernte. Ich traf ihn, zum ersten und zum letzten Mal, 2004, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Am 5. Mai holte ich ihn und seine Gattin in Budapest am Bahnhof ab, wo sie von einem Besuch in Pécs ankamen. Ich fuhr sie zu ihrem Hotel, und wir besprachen einige organisatorische Fragen bezüglich des Vortrages, den Rorty am folgenden Tag an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften halten sollte. Er sah müde aus; wir trennten uns nach einer kurzen Zeit. Ich erinnere mich lebhaft an den nächsten Morgen. Wir hatten noch einige Minuten bis zu Beginn seines Vortrages, die Sonne schien strahlend; wir gingen ein paar Schritte von dem Hauptgebäude der Akademie zur Donau – zur Kettenbrücke – und plötzlich hörte ich mich eine Frage stellen. Was hält er, fragte ich ihn, von der sich in der Philosophie abspielenden bildlichen Wende (»pictorial turn«)? Offenbar mußte diese Frage ziemlich eigentümlich klingen für einen, dessen Name seit Mitte der 1960er Jahre eng mit dem Ausdruck »linguistic turn«1 verbunden war, und dessen 1979 erschienenes Buch Philosophy and the Mirror of Nature eine einzige ausgedehnte Attacke auf »okulare« oder »visuelle« Metaphern in der Philosophie ist2 – auf die »Zuschauer-
1
Den Ausdruck selbst schreibt Rorty Hugo Bergmann zu, vgl. die Einleitung des Herausgebers in Richard Rorty (Hg.): The Linguistic Turn: Recent Essays in Philosophical Method, Chicago 1967, 9.
2
Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, Oxford 1979, passim, aber siehe bes. 11, 39 u. 371.
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theorie des Wissens«3. Aber hatte sich denn nicht W. J. T. Mitchells Aufsatz »The Pictorial Turn«, 1992, unmittelbar auf Rortys Arbeit bezogen,4 und meinte denn nicht letzterer, spätestens seit 1990, daß die zur analytischen Sprachphilosophie gehörenden Probleme kurios geworden seien? Rortys Reaktion, auf der Stelle, war peinlich: Er hatte den Ausdruck »pictorial turn« niemals gehört, konnte sich darunter auch nichts vorstellen, und war völlig entgeistert von meinem hastigen, rudimentären Erklärungsversuch. Dennoch wurde das Thema wieder angeschnitten später am Tag, während des Abendessens, zu dem ich das Paar in ein Restaurant in meinem Heimatdorf am Donauknie einlud. Ich glaube, ich versuchte etwas zu sagen über die philosophischen Folgen der imagery debate in der Kognitionswissenschaft, und darüber, wie die Leichtigkeit, mit der man im neuen digitalen Medium auf Bilder Zugriff hat, ja Bilder schafft, nicht nur die Art und Weise beeinflußt, in der wir kommunizieren, sondern auch unsere Denkweise. Diesmal zeigte sich Dick interessiert, wie auch Mary; sie waren empathisch, inspirierend, und freilich absolut charmant; wir beschlossen, in Kontakt zu bleiben, und das Thema weiter zu diskutieren. Es kam nicht mehr dazu. Noch ergab sich eine Gelegenheit für mich, mit Rorty über die drei Philosophen eine Unterhaltung zu führen, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, unsere gemeinsamen Helden waren. Ich rede von Heidegger, Wittgenstein und Wilfrid Sellars, und es ist klar, daß Rorty und ich im Laufe der Zeit zu weit auseinandergehenden Ansichten in bezug auf diese kamen. Für den Autor von Philosophy and the Mirror of Nature war Heidegger, zunächst und zuletzt, ein Feind »der Auffassung von Wissen als genauer Darstellung«,5 ein Philosoph, dessen Anliegen es war »to explore the way in which the West became obsessed with the notion of our primary relation to objects as analogous to visual perception«.6 Mein Eindruck ist, daß diese Dimension von Heideggers Denken niemals ihre primäre Bedeutung für Rorty verloren hat. Ich selbst kam, demgegenüber, all-
3
Ebd., 41. Die Erwartung, daß »the traditional ›spectatorial‹ account of knowledge« bald umgestürzt werden könnte, sprach Rorty bereits in The Linguistic Turn aus, siehe seine Einleitung, 39.
4
Siehe W. J. T. Mitchell: Picture Theory, Chicago 1994, 11. Vgl. weiter unten, Kap. 3, S. 84.
5
Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, 6.
6
Ebd., 162f.
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mählich zu der Ansicht, daß der Heidegger der 1920er Jahre etwas Grundlegendes zu sagen hatte über unsere Begegnung eben auch mit der visuellen Welt. Seine Schrift Kant und das Problem der Metaphysik ist das Werk, in dem sich Heidegger mit dem Problem einer Versöhnung des Begrifflichen mit dem Perzeptuellen auseinandersetzt. Die Kantsche Einbildungskraft bezieht sich auf »alles nicht wahrnehmungsmäßige Vorstellen im weitesten Sinne: das Sichdenken, Ausdenken, […] Einfälle haben und dergleichen«.7 Wie sich Heidegger ausdrückt: »das rechte Verständnis des sinnlichen Charakters der Einbildunsgkraft« muß einhergehen mit der »Einsicht in den primären Vorstellungscharakter des Denkens«.8 Heidegger betont nicht nur, daß die Einbildungskraft ein Vermögen ist, das in der Tat Bilder hervorbringt,9 sondern bietet auch eine kurzgefaßte, glänzende Analyse der grundlegenden Fragen von bildlicher Darstellung: was Ähnlichkeit ist, und wie allgemeine Bilder möglich sind.10 Heideggers Kantbuch, und insbesondere die von mir hier angeführten Abschnitte, standen nie im Rampenlicht.11 Es ist verständlich, daß sich Ror-
7
Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Frankfurt/M.: 1991, 129.
8
Ebd., 148.
9
Ebd., 129.
10 Die folgenden Zeilen können vielleicht einen Eindruck von Heideggers einschlägigen Analysen vermitteln: »Von einem […] Abbild […], z. B. einer Totenmaske, läßt sich ein Nachbild (Photographie) herstellen. Das Nachbild kann nun direkt das Abbild nachbilden und so das ›Bild‹ (den unmittelbaren Anblick) des Toten selbst zeigen. Die Photographie der Totenmaske ist als Nachbild eines Abbildes selbst ein Bild, aber dies nur deshalb, weil sie das ›Bild‹ des Toten gibt, ihn zeigt, wie er aussieht bzw. aussah. […] – Die Photographie kann nun aber auch zeigen, wie so etwas wie eine Totenmaske überhaupt aussieht. Die Totenmaske wiederum kann zeigen, wie überhaupt so etwas wie das Gesicht eines toten Menschen aussieht. Aber das kann auch ein einzelner Toter selbst zeigen. Und so kann auch die Maske selbst zeigen, wie eine Totenmaske überhaupt aussieht, imgleichen die Photographie nicht nur das Photographierte, sondern wie eine Photographie überhaupt aussieht«, ebd., 93f. 11 Hinweise auf das Kantbuch und auf Heidegger als Bildphilosophen finden sich bei Gottfried Boehm (Die Wiederkehr der Bilder, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, 15) und bei Sybille Krämer (Operative Bild-
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ty kein Bild von dem Bildphilosophen Heidegger machen konnte. Es is gleichermaßen verständlich, daß er sich der Beschäftigung Wittgensteins mit bildlicher Darstellung nicht bewußt war. Wie sich Rorty in Philosophy and the Mirror of Nature ausdrückte: »you can’t recognize a picture of X as a picture of X without being familiar with the relevant pictorial conventions«.12 Während der Blütezeit der Sprachphilosophie wurde der spätere Wittgenstein gleichsam mit Goodmans Augen gelesen.13 Die unangefochtene Ansicht war, daß Bilder nicht abbilden, nicht durch Ähnlichkeit bedeuten; sie bezeichnen – genau, wie die Wörter der Wortsprache. Und was sie bezeichnen, wird von Regeln bestimmt, die wir lernen müssen. Nun ist das überhaupt nicht die Ansicht, die Wittgenstein allgemein vertrat. Im sogenannten »Teil II« der Philosophischen Untersuchungen etwa skizziert er Fälle, wo das Verstehen von Bildern ganz und gar unabhängig vom Sprachgebrauch ist. Er führt das Beispiel des »Bildgesichts« ein und bemerkt: »Ich verhalte mich zu ihm in mancher Beziehung wie zu einem menschlichen Gesicht. Ich kann seinen Ausdruck studieren, auf ihn wie auf den Ausdruck des Menschengesichtes reagieren. Ein Kind kann zum Bildmenschen, oder Bildtier reden, sie behandeln, wie es Puppen behandelt.« Man muß allerdings zugeben, daß solche Bemerkungen in Wittgensteins gedruckten Wer-
lichkeit: Von der »Grammatologie« zu einer »Diagrammatologie«? Reflexionen über erkennendes »Sehen«, in: Martina Heßler u. Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen: Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, 109). In meinem an der Fernuniversität in Hagen 2008 gehaltenen Vortrag Zeit und Bild beim frühen Heidegger (vgl. oben, Einleitung, S. 9) habe ich den von Heidegger verwendeten Begriff des »Bild-Schemas« (Kant und das Problem der Metaphysik, 97) als eine Art von Vorwegnahme des in der heutigen kognitiven Psychologie bzw. Linguistik eine große Rolle spielenden Begriffs vom image schema bezeichnet, allerdings aber auch – ziemlich ausführlich – darauf hingewiesen, daß die Tatsache dieser von Heidegger geleisteten Vorarbeit in der Kognitionswissenschaft völlig unbekannt ist. Berührt wurde die Bildproblematik auch in Heideggers Vorlesungen Augustinus und der Neuplatonismus (SS 1921), Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles – Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 1921/22) und Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (SS 1924). 12 Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, 25. 13 Vgl. weiter unten, Kap. 3, S. 80 und 82.
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ken, wie sie zwischen den 1950er Jahren und den 1990er Jahren zugänglich waren, nur selten auftauchen. Das gedruckte Korpus vermittelt nur teilweise den Reichtum, die Komplexitäten, die Kontinuitäten und Wandlungen von Wittgensteins Ideen über bildliche Darstellung. Erst mit der Veröffentlichung der Bergen Electronic Edition (2000), also des gesamten Nachlasses, konnte sich in vollem Ausmaß Wittgensteins Engagement für die Idee zeigen, daß Bilder und Wörter gemeinsam, einander durchdringend funktionieren.14
B ILDER VON S ELLARS In der »Einleitung« zu dem Band The Linguistic Turn legt Rorty eine Reihe von Alternativen für die Zukunft der Philosophie dar. Eine von diesen Alternativen, schreibt er, faßt nicht mehr die Auflösung der philosophischen Probleme ins Auge, sondern »rather the creation of new, interesting and fruitful ways of thinking about things in general«. Aus dieser Sicht würden Philosophen wieder die Rolle spielen, die ihnen herkömmlicherweise zugeschrieben wurde: »men who gave one a Weltanschauung – in Sellars’ phrase, a way of ›understanding how things in the broadest possible sense of the term hang together in the broadest possible sense of the term‹ «.15 Die von Rorty hier zitierte Formel, aus Sellars’ »Philosophy and the Scientific Image of Man«, hatte damals, in den späten 1960er Jahren, eine prägende Wirkung auf die Entwicklung meines eigenen Denkens.16 Sellars war mein erster und wichtigster philosophischer Mentor. Wir haben uns niemals persönlich kennengelernt – in jenen Zeiten war es Ungarn selten erlaubt, das Land zwecks eines wissenschaftlichen Besuchs in den Staaten zu verlassen
14 Vgl. meinen Aufsatz Wittgensteins Philosophie der Bilder, in: Wilhelm Lütterfelds (Hg.): Erinnerung an Wittgenstein, Frankfurt/M. 2004, 127-148. 15 Rorty: The Linguistic Turn, 34. 16 Der vollständige Abschnitt: »The aim of philosophy, abstractly formulated, is to understand how things in the broadest possible sense of the term hang together in the broadest possible sense of the term. Under ›things in the broadest possible sense‹ I include such radically different items as not only ›cabbages and kings‹, but numbers and duties, possibilities and finger snaps, aesthetic experience and death.« (Wilfrid Sellars: Science, Perception and Reality, London 1963, 1.)
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– aber wir führten einen Briefwechsel, und er versah mich großzügig mit Vorab- und Sonderdrucken. Am meisten beeindruckt war ich von jener besonderen Art von wissenschaftlichem Realismus, den Sellars vertrat: Von der Ansicht, daß die Wissenschaft »in Kontinuität mit dem Common sense«17 sei, und der Idee, daß theoretische Entitäten zwar postuliert, aber dennoch wirklich seien. Diese Idee fasziniert mich nach wie vor. Während meiner rudimentären Versuche, gewisse notorisch schwierige Probleme der Philosophie der Zeit handhaben zu können, fand ich den Sellars’schen Gedanken, laut dem die Zeit den Status einer »quasi-theoretischen Entität« hat,18 besonders hilfreich.19 Nun betont der wissenschaftliche Realist Sellars, daß es natürlich die Physik, oder vielmehr die zukünftige Entwicklung der Physik, und nicht die Metaphysik ist, die letzten Endes darüber entscheidet, worin die Natur der theoretischen Entität Zeit besteht.20 Ich werde im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels darlegen, warum ich an diesem Punkt von Sellars glaube abweichen zu müssen – warum ich denke, daß wir eine Art deskriptiver Metaphysik brauchen, um die Rechte des Common-Sense-Realismus gegenüber einem übertriebenen wissenschaftlichen Realismus zu verteidigen. Wie ich eingangs andeutete, wird sich meine Argumentation um die Rolle von Bildern in unserem Denken drehen. Sellars will eine solche Rolle nicht wahrhaben. Im Aufsatz »Philosophy and the Scientific Image of Man« betont er, daß »all attempts to construe thoughts as complex patterns of images have failed, and, as we know, were bound to fail«21, daß »association of thoughts is not association of im-
17 Wilfrid Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes (Abschnitte XI. bis XV., Übersetzung aus Empiricism and the Philosophy of Mind, 1956), in: Peter Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Ts. 1981, 189. 18 Wilfrid Sellars: Time and the World Order, in: Herbert Feigl u. Grover Maxwell (Hg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Bd. III, Minneapolis 1962, 551. 19 Ein erstes einschlägiges Experiment von mir entlang Sellars’schen Linien ist mein Aufsatz Time and Communication, in: Friedrich Stadler u. Michael Stöltzner (Hg.): Time and History, Frankfurt/M. 2006, 301-316, hier: 302f. 20 Sellars: Time and the World Order, 593. 21 Sellars: Science, Perception and Reality, 15.
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ages«22, und daß »however intimately conceptual thinking is related to sensations and images, it cannot be equated with them, nor with complexes consisting of them«23. Aber es ist nicht einfach so, daß Sellars Gedanken mit mentalen Bildern nicht gleichsetzt; er schließt letztere aus dem Reich der ersteren regelrecht aus. Wie das z. B. aus seinem klassischen Aufsatz »Empiricism and the Philosophy of Mind« hervorgeht, sind mentale Episoden für ihn immer bloß sprachliche Episoden, Vorstellungen immer bloß »Wortvorstellungen« (verbal imagery)24 – während er gleichzeitig, im selben Aufsatz, eine Theorie entwickelt, in deren Rahmen er den Status von mentalen Bildern leicht hätte erklären können. Laut dieser Theorie sind Gedanken theoretische Entitäten, die in prähistorischen Zeiten anhand der Analogie von offenen sprachlichen Episoden konstruiert worden sind. Sellars findet in diesem Erklärungsrahmen einen Platz für Eindrücke – nicht aber für mentale Bilder.25 Sellars-Experten könnten erwidern, der Begriff
22 Ebd., 16. 23 Ebd., 32. Ich finde den Anfang dieses letzten Abschnittes besonders vielsagend: »one scarcely needs to point out these days that however intimately conceptual thinking is related to sensations and images, it cannot be equated with them«. 24 Vgl. Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, 184f., bzw. Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind (1956), in: Sellars: Science, Perception and Reality, 177f. 25 Eine kognitionspsychologische Theorie, die gleichsam in die Sellars’sche Richtung weist, wurde von Allan Paivio entwickelt, in seinem Imagery and Verbal Processes (New York 1971), einer der ersten Beiträge zu der sogenannten imagery debate. Mentale Bilder sind in Paivios Sicht »postulierte Prozesse«, »theoretische Konstrukte«, »inferentielle Begriffe«, d. h. im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie vorausgesetzte Entitäten bzw. Ereignisse, die an sich nicht beobachtbar sind, jedoch beobachtbare Aspekte bzw. Folgen haben. Introspektives Erleben visueller Vorstellungen einerseits und objektives Erfassen neuraler Erscheinungen andererseits sind verschiedenartige empirische Beobachtungen, die sich auf das einheitliche theoretische Konstrukt »mentales Bild« beziehen. Paivio stellt seine eigene Methodologie »dem klassischen Ansatz in bezug auf imagery« gegenüber, in welchem »der Ausdruck image [mentales Bild, Vorstellung] auf bewußt erlebte mentale Prozesse angewandt wurde« (Imagery and Verbal Processes, 6-11). Ich komme noch zurück auf Paivio im gegenwärtigen Kapitel.
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der »Abbildung« (picturing) stünde allerdings im Mittelpunkt in seinem Aufsatz »Truth and ›Correspondence‹ «, wie auch im Kapitel »Picturing« in seinem Buch Science and Metaphysics. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, daß Abbildung für Sellars nichts anderes bedeutet, als ein Verhältnis zwischen Konfigurationen von Gegenständen in der Welt einerseits, und sprachlichen Konfigurationen andererseits,26 wobei aus seinen Hinweisen auf Wittgensteins Traktat die Botschaft der Abschnitte 4.016 und 4.02 vollkommen fehlt. Das ist nämlich, was Wittgenstein dort schrieb: »Um das Wesen des Satzes zu verstehen, denken wir an die Hieroglyphenschrift, welche die Tatsachen die sie beschreibt abbildet. – Und aus ihr wurde die Buchstabenschrift, ohne das Wesentliche der Abbildung zu verlieren. – Dies sehen wir daraus, daß wir den Sinn des Satzzeichens verstehen, ohne daß er uns erklärt wurde.« All dies ist erstaunlich, denn Sellars hatte ganz gewiß einen Sinn für Bilder. Wie dies aus einem Blick auf seinen posthum veröffentlichten Band Kant and Pre-Kantian Themes: Lectures by Wilfrid Sellars27 klar wird, liebte er in seinen Lehrveranstaltungen Zeichnungen und Diagramme zur Erklärung philosophischer Probleme zu skizzieren. Und die Situation wird noch verblüffender, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Mitte der 1930er Jahre, als Sellars in Oxford Philosophie studierte, sein Tutor jener H. H. Price war,28 dessen 1953 erschienenes Buch Thinking and Experience zweifellos das grundlegende philosophische Werk im zwanzigsten Jahrhundert über die Rolle von mentalen Bildern ist. Um zum Ende des jetzigen Abschnittes dieses Kapitels zu kommen, erlaube ich mir, eine Passage aus jenem Buch zu zitieren. »Nachdem eine Dame sich eine Vorlesung über ›Bilderloses Denken‹ angehört hatte«, erzählt Price, »schritt sie zum Vortra-
26 Der Titel des Buches von Joseph C. Pitt: Pictures, Images and Conceptual Change: An Analysis of Wilfrid Sellars’ Philosophy of Science, ist fast ein Streich, wird doch in diesem Buch »picture« geradezu als ein »linguistic item intimately tied to the concepts of a matter-of-fact and truth« definiert (Dordrecht 1981, 10). 27 Atascadero, CA 2002, hrsg. v. Pedro Amaral. 28 Siehe die Autobiographical Reflections von Sellars, in: Hector-Neri Castañeda (Hg.): Action, Knowledge, and Reality: Critical Studies in Honor of Wilfrid Sellars, Indianapolis 1975, 285. Sellars weist hin auf Price auch in seinem Empiricism and the Philosophy of Mind, in: Science, Perception and Reality, 162.
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genden und fragte mit verwunderter Stimme: ›Aber Herr Professor, denken können Sie doch, nicht wahr?‹ «.29
G LAUB ’,
WAS
D U D IR
VERBILDLICHEN KANNST
Ein berühmter Wissenschaftler, von dem wohl keiner annimmt, daß er nicht fähig war zu denken, war Albert Einstein. Nun war Einstein ein ganz und gar visuell veranlagter Denker. Der Leser kennt natürlich die oft zitierten Zeilen, in dem Schilpp-Band und in dem Hadamard-Buch, wo er darauf bestand, daß in seiner kreativen Arbeit das Perzeptuelle die allergrößte, während das Verbale nur sekundäre Bedeutung hatte. »Wörter oder Sprache in schriftlicher oder gesprochener Form«, wie Einstein Hadamard sagte, »scheinen keine Rolle in meinem Denkmechanismus zu spielen. Die psychischen Gebilde, die als Elemente des Denkens zu dienen scheinen, sind bestimmte Zeichen und mehr oder weniger deutliche Vorstellungsbilder[…] – […] [Diese] Elemente sind […] von visueller und […] muskulärer Art. Nach konventionellen Wörtern oder anderen Zeichen kann ich erst in einer zweiten Phase suchen[…]«.30 Oder die Passage aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen: »Wenn […] Erinnerungsbilder auftauchen, so ist das noch nicht ›Denken‹. Wenn solche Bilder Serien bilden, deren jedes Glied ein anderes wachruft, so ist dies auch noch kein ›Denken‹. Wenn aber ein gewisses Bild in vielen solchen Reihen wiederkehrt, so wird es […] zu einem ordnenden Element für solche Reihen, indem es an sich zusammenhanglose Reihen verknüpft. Ein solches Element wird zum Werkzeug, zum Begriff.«31 Wir können davon ausgehen, daß die visuellen
29 H. H. Price: Thinking and Experience, London 1953, 234. – Eine kurze Zusammenfassung des Price’schen Standpunktes in bezug auf Bilder lieferte ich in meinem Aufsatz Bildbedeutung und Kommunikation, in: Kristóf Nyíri: Vernetztes Wissen: Philosophie im Zeitalter des Internets, Wien 2004, 134f. 30 Jacques Hadamard: The Psychology of Invention in the Mathematical Field, Princeton 1949, hier zitiert nach der Übersetzung in Antonio Damasio: Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn (1994), vierte Auflage, Berlin 2006, 154. 31 Paul Arthur Schilpp (Hg.): Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, Stuttgart 1955, 2.
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Gedankenexperimente, mit deren Hilfe Einstein seine spezielle Relativitätstheorie zu erklären pflegte, ziemlich genau eben jenen Gedankengängen entsprachen, durch welche er ursprünglich zu seinen Entdeckungen kam. Ausgehend davon, was er sich vorstellte – was er sich verbildlichte –, hat Einstein eine Theorie dessen entwickelt, was denn die Zeit wirklich sei. Ich teile nicht die Ansicht von Arthur Fine, der in seinem wichtigen Essay »The Natural Ontological Attitude« (ein Essay, den Rorty anscheinend kongenial fand32) Einsteins 1905 veröffentlichtem Aufsatz einen instrumentalistischen Standpunkt zuschreibt;33 ich bin vielmehr mit Thomas Sattig einverstanden, für den »Einsteins ursprüngliche Formulierung der speziellen Relativitätstheorie«, im Gegensatz zu der Formulierung, die er sich unter dem Einfluß von Minkowski zu eigen machte, »metaphysisch eine Theorie des gewöhnlichen Raumes und der gewöhnlichen Zeit« war.34 Nun ist es eben die Deutung, die Minkowski 1908 vorlegte, der sich Sattig selbst verpflichtet. Wie er schreibt: »Spacetime points and regions are not just mathematical metaphors; they are among the most fundamental entries in our ontological inventory. The realistic interpretation was adopted by Minkowski […] as well as [after 1908] by Einstein.«35 Ich möchte in diesem Kapitel eine Argumentationsrichtung andeuten, die Zweifel in bezug auf die Wirklichkeit der Minkowskischen Raumzeit erwecken könnte. An dieser Stelle trenne ich mich also von Sattig und schließe mich Arthur Fine an, laut dem »für die vierdimensionale Raumzeit-Mannigfaltigkeit […] echte Wirklichkeit zu beanspruchen« soviel heißt, wie Ideen zu akzeptieren, »bei denen […] nicht nur der durchschnittliche Mensch auf der Straße stutzig wird […], sondern auch die meisten zeitgenössischen wissenschaftlichen Geister«. Wie Fine die Lage sieht: »die Mehrheitsmeinung von tätigen, sachkundigen Wissenschaftlern« ist, daß die Relativitätstheorie ein »mächtiges Instrument« sei, nicht aber als ei-
32 Siehe Rortys Studie Pragmatism, Davidson and Truth (1986), in seinem Band Objectivism, Relativism, and Truth, Cambridge 1991. 33 Fine: The Natural Ontological Attitude (1984), neu abgedruckt in Martin Curd u. J. A. Cover (Hg.): Philosophy of Science: The Central Issues, New York 1998, 1194. 34 Thomas Sattig: The Language and Reality of Time, Oxford 2006, 44. 35 Ebd.
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ne echte Grundlage für »realistische Existenz- und Nichtexistenzforderungen« zu verstehen ist.36 Warum glaube ich nun, daß man bei dem Begriff einer vierdimensionalen Raumzeit, ungeachtet der zahlreichen für diesen Begriff eintretenden glänzenden philosophischen Ausführungen, in der Tat stutzig werden muß? Ich komme zu meinem eigentlichen Argument. In seinem Essay »Philosophy and the Scientific Image of Man« schrieb Sellars: »it is a familiar fact that not everything that can be conceived can, in the ordinary sense, be imagined«.37 Der Standpunkt, für den ich mich hier einsetze, eine Tradition von Platon über Hume bis Titchener, Bartlett, Arnheim, Russell, H. H. Price und Allan Paivio vertretend,38 behauptet im Gegenteil, daß nichts vorgestellt werden kann, das in dem alltäglichen – wenn auch ganz weit verstandenen – Sinne nicht bildhaft gedacht, verbildlicht ist. Oder, um es etwas weniger radikal zu formulieren: Wissenschaftliche Aussagen, die keinerlei Übergang zu bildlichen Vorstellungen bieten, sollten nicht als Beschreibungen der Wirklichkeit verstanden werden. Mit dem Ausdruck »Übergang« beziehe ich mich hier auf etwas, was Wittgenstein mit dem Wort »überfüh-
36 Fine, a. a. O., 1194f. – Sowohl wissenschaftsphilosophische als auch religionsphilosophische Überlegungen anführend, nimmt William Lane Craig, gut fünfzehn Jahre später, einen ähnlichen Standpunkt ein: »A good many philosophers of science think of the four-dimensional, geometrical representation of spacetime, not realistically, but instrumentally, that is to say, as an elegant and handy way of presenting the Special Theory of Relativity or the General Theory of Relativity[…]« (Craig: Time and Eternity: Exploring God’s Relationship to Time, Wheaton, IL 2001, 95). Gegen den Begriff eines zeitlosen Gottes argumentierend, meinte folgerichtig bereits Brentano (vgl. weiter unten, Kap. 6, S. 191), daß die Idee, daß »die Zeit die vierte Dimension des Raumes« sei, bestenfalls eine unschädliche Fiktion ist (Franz Brentano: Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum, hrsg. v. Stephan Körner u. Roderick M. Chisholm, Hamburg 1976, 113ff. u. 207ff., Diktate aus 1915 und 1917). 37 A. a. O., 5. 38 Vgl. meinen Aufsatz Kritik des reinen Bildes: Anschauung, Begriff, Schema, in: H. Lenk u. R. Wiehl (Hg.): Kant Today – Kant aujourd’hui – Kant heute, Münster 2006, 77ff., sowie meinen Vortrag Wörter und Bilder, in: Humboldt-Nachrichten – Berichte des Humboldt-Vereins Ungarn, Nr. 29, Dezember 2007, 30f., digital zugänglich unter www.humboldt.hu/HN29/HN29_Woerter_und_Bilder.pdf.
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ren« meinte, als er im §449 der Philosophischen Untersuchungen schrieb: »Man bedenkt nicht, daß man mit den Worten rechnet, operiert, sie mit der Zeit in dies oder jenes Bild überführt.« Die maßgebliche Theorie darüber, wie Wörter und Bilder zusammenhängen, ist meines Erachtens Paivios Dualkodierungsansatz, zuerst in seinem 1971 veröffentlichten Buch Imagery and Verbal Processes dargelegt. Paivio bemerkt, daß während »die von Piaget, Bruner und Werner inspirierten Entwicklungsstudien alle die Voraussetzung enthielten, daß sich mentale Bilder spezifisch zur Darstellung von konkreten Gegenständen eignen, während die Funktion der inneren Sprache auf abstrakte Probleme, Begriffe und Verhältnisse gerichtet ist«, diese funktionelle Unterscheidung nicht streng aufrechterhalten werden kann, wie das »die offensichtliche Entwicklung von verhältnismäßig abstrakten (schematischen) Bildern und die Konkretisierung von abstrakten Ideen in der Form von spezifischen Bildern« zeigen. Paivio betont, daß gewöhnlich »weder Bilder noch Wörter selbständige Prozesse bilden«; vielmehr stehen sie in einer ständigen Wechselwirkung.39 Wenn aber nun in der Tat das der wirkliche Ablauf ist – und ich schließe mich durchaus dieser Auffassung an –, dann können wir zur Einsicht kommen, daß Wörterreihen, die nicht zu einem ständigen Fluß von geistigen Bildern führen, sich streng genommen auf nichts beziehen; sie mögen symbolische Werkzeuge sein, die die Ableitung von Folgerungen erleichtern, aber sie spiegeln in keinem Sinne die Welt wider. Es besteht eine wesentliche Verbindung zwischen dem Visuellen einerseits und dem Motorischen und Taktilen andererseits. Paivio berichtet über frühere Untersuchungen, die darauf deuteten, daß in reife bildliche Vorstellungen »die impliziten motorischen Komponenten von imitativen Akten« eingehen, und zeigt seinerseits, daß »eine (implizite oder explizite) motorische Komponente für mentale Bewegungsbilder und für Transformationen allgemein kennzeichnend zu sein scheint, die in der Entstehung von integrierten figuralen Bildern eine Rolle spielen, bzw. für die Lösung von komplexeren Problemen, die visuelles Denken voraussetzen. Die motorische Komponente erleichtert irgendwie den Übergang von einem substantiellen Gedankenfluß zum anderen.«40 Man ist erinnert an Arnheims Analyse von deskriptiven Gebärden, den »Vorläufer[n] der Linienzeichnung«, in
39 Paivio: Imagery and Verbal Processes, 27 u. 32. 40 Ebd., 30f. – Zum Thema des Motorischen vgl. weiter unten, Kap. 4, S. 125f.
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seinem 1969 erschienenen Buch Visual Thinking. Wie er dort schreibt: »die Anschauungsqualitäten von Form und Bewegung [sind] in den Denkvorgängen selber enthalten […], die sich in den Gebärden abbilden, ja […] diese Qualitäten [sind] selber das Medium […], in dem sich das Denken abspielt. Natürlich handelt es sich hier nicht immer nur um visuelle Eigenschaften. Die Muskelempfindungen beim Stoßen, Ziehen, Vordringen und Widerstandleisten sind ein wesentlicher Bestandteil des Gebärdenspiels.«41 Man ist erinnert auch an John M. Kennedys 1993 veröffentlichtes Werk Drawing and the Blind,42 welches eine detailliert ausgearbeitete neue Theorie von visueller und taktiler Wahrnehmung bietet. Und man ist erinnert an Hackings Beharren in seinem Essay »Experimentation and Scientific Realism«, daß nicht Beobachtbarkeit, sondern vielmehr die Möglichkeit, Gegenstände zu manipulieren, die Garantie von Wirklichkeit ist.43 Die Lehre, die ich aus Hackings Essay ziehe: Die Möglichkeit von Verbildlichung und die Möglichkeit von Greifbarkeit sind eng miteinander verflochten, daher ist die Möglichkeit von Verbildlichung ein geeignetes Wirklichkeitskriterium. Doch kehren wir zurück zu Minkowski. So lautete der Anfang seines berühmten Vortrages 1908 in Köln: »Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell-physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund’ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.«44 Bereits einige Zeilen später erfolgt der aus meiner jetzigen Sicht entscheidende Schritt. Minkowski verkündet, daß er »die Verhältnisse graphisch zu veranschaulichen suchen« werde. Er beginnt ein Diagramm zu zeichnen (drei weitere folgen noch während seines Vortrags) und sagt: »Ich könnte mit kühner Kreide vier Weltachsen auf die Tafel werfen.« Dem fügt er sogleich hinzu, daß wegen der »Anzahl 4« das Verständnis des
41 Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken: Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1972, 8. Auflage 2001, 116ff. 42 New Haven, CT. 43 Ian Hacking: Experimentation and Scientific Realism (1982), neu abgedruckt in Curd u. Cover (Hg.): Philosophy of Science, 1157. 44 Hermann Minkowski: Raum und Zeit. Vortrag, gehalten auf der 80. Naturforscher-Versammlung zu Köln, am 21. September 1908. Leipzig u. Berlin 1909, 1.
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Diagramms freilich eine beträchtliche Abstraktion voraussetzt, die aber »dem Mathematiker nicht wehe [tut]«. Durch das Zeichnen des Diagramms, fährt er fort, »erhalten [wir] alsdann als Bild sozusagen für den ewigen Lebenslauf des substantiellen Punktes eine Kurve in der Welt, eine Weltlinie[…]«.45 Nun besteht der Trick natürlich darin, daß das »Bild«, welches wir erhalten, überhaupt kein Bild ist, denn – der Leser möge mir verzeihen, wenn ich das Selbstverständliche erkläre – ein vierdimensionales Diagramm läßt sich weder zeichnen, noch im Geiste verbildlichen, noch vorstellen.46 Ich vermute, daß dies bereits unzählige Mal gesagt wurde; ich möchte hier nur auf den 1965 veröffentlichten Aufsatz »Some Problems about Time« von Peter Geach hinweisen, in dem gewisse Seltsamkeiten der von Minkowski angewandten graphischen Darstellung erwähnt werden, bzw. ich möchte einige Zeilen zitieren aus dem Vorwort des Herausgebers des Bandes, in welchem der Aufsatz von Geach abgedruckt wurde. »Geach edges his common sense with logic«, schrieb der Herausgeber, nämlich P. F. Strawson, »to attack some fanciful theorizing – claiming to derive respectability from physics – which, in place of our ordinary conception of objects undergoing change, advocates thinking of a three-dimensionalobject-at-a-time as a ›temporal slice‹ of a four-dimensional object. He presses his criticisms by urging the lack of analogy, the radical differences,
45 Ebd., 2. 46 Freilich gibt es Methoden n-dimensionaler Visualisierung in der Mathematik. Eine spektakuläre – und wahrscheinlich die bekannteste – solche Methode ist das Parallelkoordinatensystem von Alfred Inselberg. Aber Inselberg hat niemals behauptet, daß seine Visualisierungen irgendwie Abbildungen der wirklichen Welt wären. In einem aufschlußreichen einleitenden Absatz seines unlängst erschienenen Buches Visual Multidimensional Geometry and Its Applications wies er auf den 1917 gehaltenen Aufatz In What Way Does it Become Manifest in the Fundamental Laws of Physics that Space has Three Dimensions? des Physikers Paul Ehrenfest – übrigens ein naher Freund von Einstein – hin, in welchem u. a. gezeigt wurde, daß »planetary orbits are stable only in space of dimension 3. Higher-dimensional planetary systems, if they ever existed, would have a short career due to the orbits’ instability, which offers an interesting hypothesis for the dimensionality of our habitat« (Alfred Inselberg: Parallel Coordinates: Visual Multidimensional Geometry and Its Applications, Dordrecht 2009, 2).
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between spatial and temporal order.«47 Das Geach-Strawson Paar entlockte J. J. C. Smart einige verärgerte Kommentare, der in einem Aufsatz aus dem Jahr 1972 betonte, daß obwohl »in populärer Darlegung« Minkowski in der Tat eine graphische Verbildlichung versucht hatte, »sein Argument nicht in der Analogie mit dem graphisch Dargestellten besteht. Sein Argument besteht im Zeigen dessen, daß nur raumzeitliche Entitäten invariant sind.«48 Aber das ist ja eben der springende Punkt. Minkowski hat ein mathematisches Instrument entworfen, das er aber als eine wahre Beschreibung der wirklichen Welt präsentierte. Wie Arnheim in seinem Buch Visual Thinking schrieb: Während man zum Verständnis der Zeitauffassung der speziellen Relativitätstheorie näherkommt, wenn man sich zwei alternierende Systeme veranschaulicht, »eines, für das der Gegenstand in Bewegung, und ein anderes, für das er in Ruhe ist«, ist jene später postulierte »vierte Raumdimension« eine für unsere Einbildungskraft unfaßbare »rein mathematische Konstruktion«.49
47 P. F. Strawson (Hg.): Studies in the Philosophy of Thought and Action, London 1968, 5. 48 J. J. C. Smart: Space-Time and Individuals, in: Richard Rudner u. Israel Scheffler (Hg.): Logic & Art: Essays in Honor of Nelson Goodman, Indianapolis 1972, 7. Mein Eindruck ist, daß Smart hier von seinem Standpunkt in seinem Buch Philosophy and Scientific Realism abgerückt ist. Dort schrieb er: »many of the puzzles and paradoxes of relativity […] can most easily be resolved by drawing diagrams of Minkowski space-time, in which most of [the] at first sight counterintuitive facts will at once look quite obvious« (London 1963, 136f.). 49 Arnheim, a. a. O., 271 u. 273. »Eine vierte Raumdimension ist wahrscheinlich deshalb nicht vorstellbar«, schreibt Arnheim weiter, »weil die Geometrie es mit Beziehungen zu tun hat, für die der sinnliche und physische Raum bis zur dritten Dimension eine willkommene Verbildlichung liefern kann, darüber hinaus aber nicht. Jenseits dieser Grenze müssen sich geometrische Operationen – wie alle vieldimensionalen Berechnungen, etwa die der Faktoranalyse in der Psychologie – mit bruchstückhafter Anschauung begnügen oder ganz ohne diese auskommen. Und das bedeutet vermutlich, daß auch das Verständnis […] mit bloßen Teilvorstellungen, statt eines wirklichen Erfassens, auskommen muß. – Tatsächlich aber behauptet die moderne Physik keineswegs, daß eine vierte Raumdimension existiert. Es handelt sich da, nach Arthur Eddington, um eine ›fiktive Konstruktion‹ « (ebd., 274f.). Die Schrift, auf die Arnheim hier hinweist, ist das
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Ich komme sogleich zurück auf Minkowski und Smart, vorher möchte ich aber noch zwei berühmte Passagen zitieren von einem anderen großen deutschen Mathematiker, einem Erben der Einstein-Minkowskischen Tradition: Hermann Weyl. Die erste Passage stammt aus seinem ursprünglich 1918 erschienenen Buch Raum – Zeit – Materie: »[D]er Schauplatz der Wirklichkeit«, schrieb Weyl, ist »nicht ein dreidimensionaler Euklidischer Raum […], sondern die vierdimensionale Welt, in der Raum und Zeit in unlöslicher Weise miteinander verbunden sind. So tief die Kluft ist, welche für unser Erleben das anschauliche Wesen von Raum und Zeit trennt – von diesem qualitativen Unterschied geht in jene objektive Welt, welche die Physik aus der unmittelbaren Erfahrung herauszuschälen sich bemüht, nichts ein. Sie ist ein vierdimensionales Kontinuum, weder ›Raum‹ noch ›Zeit‹; nur das an einem Stück dieser Welt hinwandernde Bewußtsein erlebt den Ausschnitt, welcher ihm entgegenkommt und hinter ihm zurückbleibt, als Geschichte, als einen in zeitlicher Ent50
wicklung begriffenen, im Raume sich abspielenden Prozeß.«
Die zweite Passage führe ich aus Weyls 1927 veröffentlichtem Werk Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften an. Wie Weyl hier schrieb: »Die objektive Welt ist schlechthin, sie geschieht nicht. Nur vor dem Blick des in der Weltlinie meines Leibes emporkriechenden Bewußtseins ›lebt‹ ein Ausschnitt dieser Welt ›auf‹ und zieht an ihm vorüber als räumliches, in zeitlicher Wandlung begriffenes Bild.«51 Was Richard Gale über diese Passage sagt, trifft genau so gut für die erstere zu: daß man sie nämlich als eine Metapher verstehen muß, denn buchstäblich genommen wäre sie absurd.52 Ich möchte hier jedoch zwei Bemerkungen machen. Erstens: Ob buchstäblich genommen oder nicht, sind diese Passagen metaphy-
Kapitel Spherical Space in Eddingtons The Expanding Universe (1933); Arnheim zitiert anhand der Sammlung Milton K. Munitz (Hg.): Theories of the Universe: From Babylonian Myth to Modern Science, Glencoe, IL 1957. 50 Hermann Weyl: Raum – Zeit – Materie (1918), fünfte, umgearbeitete Auflage, Berlin 1923, 218. 51 Hermann Weyl: Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften, 7. Aufl., München 2000, 150. 52 Richard M. Gale (Hg.): The Philosophy of Time: A Collection of Essays (1967), London 1968, 298f.
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sische Aussagen, die nicht aus den mathematischen Ausführungen folgen, in welchen sie scheinbar begründet sind. Dies ist besonders auffallend bei der Formulierung von 1927, die im Buch auf eine lange, parteiische Argumentation folgt. Die zweite Bemerkung: Metaphern sind bedeutungslos, wenn sie sich nicht verbildlichen lassen, wie dies im Fall Weyl offenbar der Fall ist. Meine Schlußfolgerung ist, daß die Minkowski-Weylsche Deutung von Raumzeit rein instrumentalistisch sei. Und ich meine, daß dem wissenschaftlichen Realismus Einhalt geboten werden muß und der CommonSense-Realismus verteidigt werden sollte, sobald die Grenze überschritten ist, wo die Mathematik nicht mehr durch Bildlichkeit unterstützt wird. Nun ist freilich Mathematik größtenteils durch Bilder unterstützt. Arnheim selbst, im Kapitel »Das Denken mit reinen Formen« seines Buches Visual Thinking, betonte, daß nicht nur »Geometrie durch Augenschein«, sondern auch Arithmetik und Algebra eine durchaus »anschauliche Grundlage« haben: »[e]lementarer als das Zählen ist das wahrnehmungsmäßige Erfassen von Gruppen«, und »Zahlen sind Wahrnehmungsdinge; sie sind visuell und häufig taktil und akustisch«.53 Jüngere Entwicklungen weisen darauf hin, daß die Visualisierungsangst in der Mathematik und in der Philosophie der Mathematik, kennzeichnend für das 19. und das frühe 20. Jahrhundert, nunmehr dahinschwindet. In seinem Buch Visual Thinking in Mathematics argumentiert Marcus Giaquinto dahingehend, daß man durchaus »Allgemeingültigkeit erreichen kann, wenn man in einzelnen Bildern denkt«54 – ein geometrischer Beweis kann und wenn möglich soll bildlich verfahren; daß »unser Wissen über einfache Summen keineswegs sprachbedingt ist, vielmehr scheint es eine Art Fingerwissen zu sein«55, und es sowohl in der Arithmetik als auch in der Zahlentheorie visuelle Beweise
53 Arnheim, a. a. O., 210f., 202 u. 204. Auf Seite 204 weist Arnheim auf Marguerite Lehrs hochinteressante Einleitung zu Catherine Sterns einflußreichem Buch Children Discover Arithmetic: An Introduction to Structural Arithmetic hin (London 1953). Catherine Stern war, an der New School for Social Research von 1940 bis 1943, Forschungsassistent von Max Wertheimer, einem der Gründer der Gestaltpsychologie. 54 Marcus Giaquinto: Visual Thinking in Mathematics: An Epistemological Study, Oxford 2007, 151. 55 Ebd., 123.
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gibt;56 daß in der Algebra »Substitution, Verlegung, Kopieren, Streichen und Einfügung« – das heißt, die »Hauptklassen von Symbolmanipulation« – typisch »in der visuellen Vorstellung durchgeführt werden, wo man gegebene Ausdrücke oder Formeln in andere überführt. Es ist wahrscheinlich, daß in einigen Fällen, insbesondere im Falle der Symbolverlegung, das Visualisieren ein motororisches Element hat«;57 und daß sogar in der Analysis Möglichkeit und Bedürfnis nach Verbildlichung bestehen – Giaquinto erwähnt und erörtert die Schrift »Post-script on Pictures« des berühmten Mathematikers J. E. Littlewood. Littlewood, betont Giaquinto, war durchaus der Überzeugung, daß »ein Diagramm den Beweis für ein analytisches Theorem liefern könnte«.58 Der Punkt nun, an dem Verbildlichung in der Mathematik gänzlich versagt, ist der Punkt, wo es vorgegeben wird, die Zeit als eine vierte Dimension vom Raum darzustellen. Dies ist der Punkt, an dem der CommonSense-Realismus eingreifen muß. Den Common-Sense-Realismus zu verteidigen heißt, gewisse entscheidende Common-Sense-Metaphern zu erklären, ohne sie wegzuerklären. So beginnt nun der Aufsatz »The River of Time« von J. J. C. Smart, 1949 veröffentlicht:
56 Dazu siehe auch Michael D. Resnik: Mathematics as a Science of Patterns, Oxford 1997, vgl. insb. 229ff. 57 Giaquinto, a. a. O., 203. 58 Ebd., 163. – Wie Littlewood in dem Abschnitt Post-script to Pictures, im Band Littlewood’s Miscellany (Cambridge 1953, repr. 1986, 54) schreibt: »My pupils will not use pictures, even unofficially and when there is no question of expense. This practice is increasing; I have lately discovered that it has existed for 30 years or more, and also why. A heavy warning used to be given that pictures are not rigorous; this has never had its bluff called and has permanently frightened its victims into playing for safety. Some pictures, of course, are not rigorous, but I should say most are (and I use them whenever possible myself).« Littlewood und Wittgenstein waren Freunde. Sie haben sich zuerst in Manchester kennengelernt und verbrachten dann gemeinsame Jahre in Cambridge. Der größere Teil von Wittgensteins zahlreichen Zeichnungen in seinen Manuskripten hat mit den Grundlagen der Mathematik zu tun; und eine Hauptbotschaft von Wittgensteins Philosophie der Mathematik ist, daß sich mathematische und physische Tatsachen überschneiden; Bilder physischer Tatsachen können also durchaus mathematische Wahrheiten vermitteln.
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»Es gibt gewisse Metaphern, die wir uns normalerweise zu verwenden gezwungen fühlen, wenn wir über Zeit sprechen. Wir sagen, daß wir durch die Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft voranschreiten, ähnlich wie ein Schiff sich über die See in unbekannte Gewässer vorwärtsbewegt. Manchmal schwebt uns wieder die Vorstellung vor, daß wir selbst stillstehen und die Zeit vergehen sehen, so als ob wir auf einer Brücke stünden und den Blättern und Zweigen zuschauen könnten, die unter uns vorbeitreiben. […] Statt also von unserem Fortschritt durch die Zeit zu sprechen, sprechen wir oft von dem Fließen der Zeit. […] Diese metaphorischen Ausdrucksweisen sind in einer Weise philosophisch bedeutsam, wie es die meisten metaphorischen Redeweisen nicht sind. Sie […] sind für uns irgendwie natürlich. Auf den ersten Blick ist jedenfalls schwer zu sehen, wie wir sie vermeiden könnten.«
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Schwer oder nicht, Smart hat sein Bestes versucht, um die Illegitimität dieser Common-Sense-Metaphern zu zeigen. Demgegenüber bin ich der Überzeugung, daß wir eine philosophische Strategie aufbauen sollten, die diese Metaphern geradezu rechtfertigen würde. Eine solche Strategie werde ich im Abschnitt »Zur Metaphysik der Zeit« im Kapitel 6 zu skizzieren versuchen. Zum Abschluß des jetzigen Kapitels kommend, bleiben noch drei Fragen. Die erste, welche die ganze Zeit hindurch im Hintergrund meines Gedankenganges stand: Was heißt »Vorstellbarkeit« im Sinne von bildlicher Vorstellung? Beschränkt sich Vorstellbarkeit auf das, was wir in unserer Welt, wie sie uns tatsächlich gegeben ist, wirklich bildlich vorstellen können? Sollten wir nicht, vielmehr, mit dem auf Helmholtz hinweisenden Reichenbach behaupten, daß die »anschauliche Vorstellung« einer Welt, die von der unseren verschieden ist, soviel bedeutet, »daß man sich eine Reihe von Sinneswahrnehmungen vorstellt, die man haben würde, wenn man in einer solchen Welt lebte«; und daß »menschliche Wesen, die in einer nichteuklidischen Welt lebten, eine Fähigkeit zur Anschauung entwickeln würden, die sie die Gesetze der nicht-euklidischen Geometrie als ebenso notwendig und evident betrachten ließen, wie uns die Gesetze der euklidischen Geometrie erscheinen«.60 Meine Einstellung hier gleicht der von Ramsey,
59 J. J. C. Smart: Der Fluß der Zeit, in: Walter Ch. Zimmerli u. Mike Sandbothe (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, 106. 60 Hans Reichenbach: Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, in: Schilpp (Hg.): Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, 198 u. 205.
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der den Traktat kommentierend sagte: »Was man nicht sagen kann, kann man nicht sagen, und man kann es auch nicht pfeifen.« Was man sich nicht vorstellen kann, kann man sich nicht vorstellen, und man kann es auch nicht pfeifen. Sphärische Geometrie können wir uns vorstellen, weil wir sie uns verbildlichen können, obwohl dieselbe eine Art nicht-euklidischer Geometrie darstellt. Aber wir können uns in keinerlei Weise etwa eine Raumzeit von elf Dimensionen vorstellen, wie sie die Stringtheorie postuliert; hier sollten wir den Physikern nicht erlauben, uns am Gängelband zu führen, und sollten eine eindeutig instrumentalistische Stellung beziehen. Zweitens: Wo würde ich meinen Standpunkt in der wissenschaftsphilosophischen Szene aufgrund der Ansichten einordnen, die ich hier vorgebracht habe? Ich fühle mich immer noch zum Realismus-Lager gehörend, im Einverständnis mit Grover Maxwells Auffassung, daß es einen »kontinuierlichen Übergang von Beobachtbarkeit zu Nichtbeobachtbarkeit« gibt, was aber überhaupt keine Relevanz in bezug auf die Existenz/Nichtexistenz-Problematik hat;61 im Einverständnis mit Hackings Ansicht, wonach der Experimentator notwendigerweise, und mit Recht, von der Wirklichkeit von gar manchen unbeobachtbaren Entitäten überzeugt ist;62 und freilich im Einverständnis mit Sellars’ Glauben an der Macht der Wissenschaft, ständig richtigere Bilder der Welt entwerfen zu können. Aber ich nehme auch die warnenden Worte ernst, die Sellars immer wieder aussprach: daß nämlich, was die zeitgenössische Wissenschaft bietet, zu einem großen Teil in Schuldscheinen besteht. Der Standpunkt, den ich einzunehmen versuche, scheint mir einen glücklichen Kompromiß zwischen dem Common-Sense-Realismus und dem wissenschaftlichen Realismus darzustellen. Es gibt allerdings eine Variante des wissenschaftlichen Realismus, mit der ich mich offensichtlich nicht anfreunden kann: der strukturelle Realismus – obwohl anscheinend gerade diese Variante sowohl von vielen Realisten als auch von Anti-Realisten als »die am meisten verteidigbare Form vom wissenschaftlichen Realismus«63 betrachtet wird. Der strukturelle Rea-
61 Grover Maxwell: The Ontological Status of Theoretical Entities (1962), neu abgedruckt in: Curd u. Cover (Hg.): Philosophy of Science, 1057. 62 Hacking, a. a. O., 1154f. 63 Siehe den Anfangssatz von James Ladymans ausgezeichneter Zusammenfassung in dem Stanford Encyclopedia of Philosophy Artikel Structural Realism (http:// plato.stanford.edu/entries/structural-realism, zuerst veröffentlicht Nov. 2007),
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list meint, daß wir uns allein den mathematischen oder strukturellen Inhalten unserer Theorien epistemisch verpflichten sollten. Mein Standpunkt demgegenüber ist, daß wir uns, zunächst und zuletzt, eben den verbildlichbaren Inhalten derselben verpflichten dürfen. Abschließend komme ich nun zu meiner dritten, ganz kurzen, und etwas emotionellen Frage: Hätte jenes erhoffte nächste Treffen mit Rorty stattgefunden – wie wäre es verlaufen? Gewiß hätten wir uns darauf einigen können, daß die Wortsprache im allgemeinen, und insbesondere die Sprache der Theorien, nicht abbilden; sie sind von der menschlichen Sprachgemeinschaft angewandte konventionelle Instrumente. Aber das alltägliche Denken und Mitteilen, wie auch wissenschaftliche Theorien, beinhalten weit mehr als bloß die Wortsprache. Sie beinhalten auch Bilder. Sie beinhalten Verbildlichungen, ja sie sind wesentlich auf Verbildlichungen angewiesen. Und könnte man nicht sagen, daß die Bilder, die von unseren erfolgreichsten Theorien vorausgesetzt bzw. nahegelegt werden, sozusagen Bilder der Natur sind? Ich glaube, Rorty hätte diese Idee interessant gefunden. Vielleicht hätte sie ihm sogar gefallen.
siehe auch Ladymans frühere Arbeit Understanding Philosophy of Science, London 2002, sowie das unveröffentlichte, aber vielzitierte Kapitel The Scientific Realism Debate in Ioannis Votsis’ PhD-Dissertation aus dem Jahr 2004.
2 Ernst Gombrich über Bild und Zeit
Bild und Zeit weisen eine enge, ja wesentliche Beziehung zueinander auf. Bildbedeutungen sind ergänzungsbedürftig, sofern es nicht um bewegte Bilder geht – sofern sie sich also nicht in der Zeit abspielen. Andererseits kann die Zeit nicht anders auf den Begriff gebracht werden, als durch Metaphern – letzten Endes durch Bilder – von räumlicher Bewegung. Daß allein das bewegte Bild ein vollwertiges sei, wurde von Ernst Gombrich vollkommen erkannt und erläutert.1 Und freilich besaß Gombrich eine reiche und ausgewogene Auffassung von dem Zusammenhang von bildlicher und verbaler Repräsentation. Als ein Gegenmittel gegen den unglücklichen Einfluß
1
Ich war mir über diesen besonderen Aspekt von Gombrichs Arbeit nicht im Klaren, als ich meinen Aufsatz The Picture Theory of Reason schrieb (vorgetragen anläßlich des 23. Internationalen Ludwig Wittgenstein Symposiums, Kirchberg am Wechsel, 2000, veröffentlicht in: Berit Brogaard u. Barry Smith (Hg.): Rationality and Irrationality, Wien 2001). Der Aufsatz stand stark unter der Wirkung des Oxforder Philosophen H. H. Price (vgl. oben, Kap. 1, S. 33f.); ihm folgend hielt ich fest, daß mentale Bilder nicht statische, sondern dynamische Repräsentationen seien, daß Stehbilder als Grenzfälle von dynamischen Bildern aufgefaßt werden sollten, sowohl im Falle seelischer Bilder als auch, mit der Entwicklung der visuellen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts, im Falle der Bilder in der uns umgebenden Welt – man denke an Film und Video. H. H. Price hatte in seinem 1953 erschienenen Buch Thinking and Experience den Gedanken formuliert, daß während statische Bilder, wegen deren grundsätzlicher Vieldeutigkeit, der Interpretation bedürfen, »kinematographische« Bilder weitgehend eindeutig sind.
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Goodmans2 verdient Gombrich, insbesondere in Deutschland, als die Gestalt wiederentdeckt, ja entdeckt zu werden, dessen Werk, ergänzt durch jenes von Rudolf Arnheim3 und vielleicht von Hans Belting,4 sich ideal dazu
2
In seinem Buch Languages of Art meinte Nelson Goodman deutlich in die Fußstapfen von Gombrich zu treten. Doch näherte sich letzterer, wie ich darauf in The Picture Theory of Reason hinwies, während der Jahre nach der Veröffentlichung seines Werkes Art and Illusion, 1960, einer eher naturalistischen Bildauffassung, in Goodman allmählich einen extremen Relativisten oder Konventionalisten erblickend.
3
Gombrich und Arnheim waren Rivalen, und das zweifelhafte Lob, das ersterer letzterem erteilte (Kunst und Illusion: Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin 2002, 21f.), wurde von manchen bissigen Kritiken seitens Arnheim erwidert in mehreren Besprechungen, die er über Gombrich veröffentlichte (über Art and Illusion, in Art Bulletin 44 (März 1962); über The Sense of Order, in The New Republic, 10. März 1979; und über die Sammlung The Image and the Eye, in Times Literary Supplement, 29. Oktober 1982). Doch aus heutiger Perspektive scheinen die Parallelen zwischen den Werken des beiden viel wichtiger zu sein als die Unterschiede (dies ist auch die Sicht von Ian Verstegen, in seinem Aufsatz Arnheim and Gombrich in Social Scientific Perspective, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 34 (2004). Zwei Ideen, die im Werk Arnheims wesentlich ausgeprägter sind als in jenem Gombrichs, sind die Uranfänglichkeit des Bildlichen, und die Möglichkeit von generischen Bildern; man kann kaum bezweifeln, daß es hier für Gombrich eine Bereicherung wäre, durch Arnheim ergänzt zu werden. Andererseits erweist sich ein scheinbar vielversprechender Weg zum besseren Verständnis der Ähnlichkeiten zwischen Gombrich and Arnheim, nämlich die Hervorhebung dessen, daß beide dem Werk von Wolfgang Köhler verpflichtet sind, als eine Sackgasse. Arnheim studierte unter Köhler und Max Wertheimer – Köhler diente früher als Versuchsperson für Wertheimers Experimente zur scheinbaren Bewegung –, und es ist offenbar, daß Arnheims Vorstellungen über das Sehen im allgemeinen und das bewegte Bild im besonderen durchaus in der Wertheimer-Köhlerschen Gestalttradition wurzeln. Nun hat Gombrich tatsächlich einen von Köhler gehaltenen Universitätskurs in Berlin in den 1930er Jahren besucht, traf letzteren nach dem Krieg in Princeton, und wies auf ihn in seinen Schriften, angefangen mit Art and Illusion, wiederholt hin. Doch die beiden hatten (anderslautenden Andeutungen zum
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eignet, als das Gründungsparadigma für eine wirklich erfolgreiche Bildphilosophie zu dienen.
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ENTDECKEN
Bis zum heutigen Tag ist Gombrich in erster Linie als der Autor des zuerst 1960 verlegten Buches Art and Illusion bekannt. Obwohl nun in diesem Buch, wie ich das im gegenwärtigen Kapitel zu zeigen versuchen werde, die Anfänge dessen, was wir Gombrichs Bildphilosophie nennen können, zweifellos vorhanden sind, waren es eine Reihe von in den 1960er und 1970er Jahren geschriebenen Studien, in welchen jene Philosophie tatsächlich ausgearbeitet wurde.5 Ich zähle hier die von mir als die wichtigsten erachteten auf. 1964 erschien das Essay »Der fruchtbare Moment: Vom Zeitelement in der bildenden Kunst«,6 von zentraler Bedeutung zum Thema
Trotz) niemals eine enge Beziehung zueinander, und Köhlers Ideen hinterließen in Gombrichs Arbeit keine wirklichen Spuren. 4
Gombrichs Bemerkung über einen bearbeiteten Totenschädel aus Jericho, um 6000 v. Chr. (Kunst und Illusion, 93), seine gelegentlichen Hinweise auf die Maske (siehe z. B. seinen Aufsatz Visual Discovery through Art, in: Arts Magazine (November 1965), wiederabgedruckt in: James Hogg (Hg.): Psychology and the Visual Arts, Harmondsworth, Middlesex 1969, 227, und insb. sein Kapitel The Mask and the Face: The Perception of Physiognomic Likeness in Life and Art, in: E. H. Gombrich et al.: Art, Perception, and Reality, Baltimore 1972) und auf die »Kunst des Makeups« als »eine der ältesten Formen der visuellen Kunst« (siehe seinen Aufsatz The Evidence of Images, in: Charles S. Singleton (Hg.): Interpretation, Theory and Practice, Baltimore 1969) schließen sich gewiß zu keiner Anthropologie der Bilder im Sinne von Belting zusammen. Siehe Beltings Buch Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001 (zum Thema bearbeiteter Totenschädel bei Belting vgl. S. 159f., Kap. 6 weiter unten im gegenwärtigen Band).
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An dieser Stelle möchte ich meinen Dank aussprechen gegenüber Professor Richard Woodfield, Gründer des online Gombrich Archivs, für seine kontinuierliche und unerschöpfliche Unterstützung meiner einschlägigen Forschungen.
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E. H. Gombrich: Moment and Movement in Art, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XXVII (1964), 293-306.
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Bild und Zeit. Der Aufsatz »Visuelle Entdeckungen durch die Kunst« (1965),7 von Gombrich als eine erneute Bestandsaufnahme der im Buch Art and Illusion behandelten Fragen und als eine Formulierung gewisser nachträglichen Gedanken zu denselben präsentiert, ist ein ganz wichtiger Schritt vorwärts auf dem Weg zur Behandlung von den Problemen des bildlichen Realismus, der generischen Bilder und des visuellen Kontexts. Im längeren Aufsatz »The Evidence of Images«, 1969 – wo der Ton durch ein auf Brentano, Bergson, and James hinweisendes Zitat von Ulric Neisser angegeben wird, mit Neisser betonend, daß »die Mechanismen der visuellen Vorstellung eine Fortsetzung von denen der visuellen Wahrnehmung sind«8 – fügt Gombrich wesentlich neues Material jenen Betrachtungen von Art and Illusion hinzu, in denen er die visuelle Wahrnehmung als stets von Bewegungen abhängig darstellt. Der Aufsatz »Maske und Gesicht: Die Wahrnehmung physiologischer Ähnlichkeit im Leben und in der Kunst«,9 Gombrichs Thalheimer-Vorlesung 1970, geht Ideen aus dem Kapitel über Karikatur in Art and Illusion wieder durch, ist aber auch ein weiterer bedeutender Versuch, mit dem Thema Zeit und Bild zurechtzukommen. Das Essay »Das Bild und seine Rolle in der Kommunikation«, 1972, argumentiert für eine gemeinsame Verwendung der Medien Wort und Bild, kommt aber zu der folgenschweren Formulierung, daß »[d]er wirkliche Wert eines Bildes [...] in der Möglichkeit der Übermittlung von Informationen [liegt], die sich in kein anderes Zeichensystem übertragen lassen«.10 1972 erfolgte Gombrichs erster direkter Angriff auf Goodman.11 Die zwei wichtigsten Aussagen hier: erstens »scheint Goodman zu glauben, daß das Auge streng stationär sein muß«, wo doch »keine stationäre Sicht uns vollständige Informationen vermitteln kann«, und zweitens entspricht die bildliche Technik
7
Gombrich: Visual Discovery through Art, siehe Anm. 4 oben.
8
Gombrich: The Evidence of Images (siehe Anm. 4 oben), 40.
9
Ursprünglich Gombrich: The Mask and the Face, siehe Anm. 4 oben.
10 Ursprünglich: E. H. Gombrich: The Visual Image, in: Scientific American 227 (Sept. 1972), 3 (Sondernummer über Kommunikation), hier zitert nach Gombrich: Bild und Auge: Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung (Übers. d. Bandes Image and the Eye, vgl. Anm. 3 oben), Stuttgart 1984, 140. 11 E. H. Gombrich: The »What« and the »How«: Perspective Representation and the Phenomenal World, in: Richard Rudner u. Israel Scheffler (Hg.): Logic & Art: Essays in Honor of Nelson Goodman, Indianapolis 1972.
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der perspektivischen Darstellung Beziehungen, die wesentlich natürlich und objektiv sind – diese Technik muß nicht gelernt, die Darstellung nicht dekodiert werden.12 Der zweite, vernichtende, Angriff kam sechs Jahre später, mit Gombrichs Aufsatz »Bild und Kode: Die Rolle der Konvention in der bildlichen Darstellung«,13 wo die common-sense Vorstellung von Bildern als natürlichen Zeichen verteidigt und der kontroverse Begriff Ähnlichkeit durch den Begriff Äquivalenz des Reagierens ersetzt wird.14 Wie Gombrich hier folgenschwer formuliert: »es [gibt] zumindest in der Natur Bilder [...], die nicht wie die Wörter der menschlichen Sprache konventionelle Zeichen sind, sondern mit dem, was sie darstellen, eine echte visuelle Ähnlichkeit besitzen, und zwar nicht nur für unsere Augen oder für unsere Kultur, sondern auch für Vögel und sonstige Tiere«.15 Schließlich der Aufsatz »Kriterien der Wirklichkeitstreue: Der fixierte und der schweifende Blick«, 1980 veröffentlicht, verfolgte weiter das entscheidende Thema von Sehen und Beweglichkeit, betonend, daß »[d]ie Wahrnehmung von Bewegung [...] sich prinzipiell von der Betrachtung eines statischen Motivs [unterscheidet]«.16
12 Ebd., 133, 136 u. 148. 13 Ursprünglich: Image and Code: Scope and Limits of Conventionalism in Pictorial Representation, gehalten anläßlich eines Symposiums 1978, veröffentlicht in: Wendy Steiner (Hg.): Image and Code, Ann Arbor 1981. 14 Bild und Kode, im Band Bild und Auge, 274, 279 u. 282. Auf Seite 279 wird »equivalence of response« als »Äquivalenz oder Entsprechung« wiedergegeben – da hat sich m. E. jemand beim Tippen schlicht verlesen. 15 Ebd., 282. Dies ist die Einstellung, auf die sich Arnheim in seiner Rezension im Times Literary Supplement bezieht (siehe Anm. 3 oben) wenn er schreibt: »Gombrich wächst zu der Verteidigung des visuellen Bildes empor und zu dessen inhärenten Wahrhaftigkeit, auf die selbst Tiere reagieren – ein Bild freilich gestaltet durch Vereinfachung und Abstraktion, und durch die Konventionen von bildnerischen Stilen, aber trotzdem die Botschaft der Natur. [...] Es dürfte diese solide Basis sein, auf der Gombrichs zukünftige Arbeit weitergebaut werden könnte.« 16 Gombrich: Kriterien der Wirklichkeitstreue, im Band Bild und Auge, 262. Der ursprüngliche englische Aufsatz Standards of Truth: The Arrested Image and the Moving Eye erschien in: W. J. T. Mitchell (Hg.): The Language of Images, Chicago 1980.
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Mein Eindruck ist, daß Gombrichs Leser die in den obigen Schriften vorgelegten Ideen niemals voll aufgenommen haben. Ich liefere hier einige Beispiele, vielleicht etwas zufällige, die sich aber insgesamt zu einem Bild zusammenfügen dürften. Der prominente amerikanische Filmtheoretiker David Bordwell ist eindeutig ein Bewunderer Gombrichs. In seinem Buch On the History of Film Style, 1997, spricht er von Gombrichs »vor Geist sprühender Laufbahn«17 und sieht sich selbst als »das filmische Gegenstück der Frage stellend, die E. H. Gombrichs Art and Illusion einleitet: Woher kommt es, daß die Kunst eine Geschichte hat?«.18 Sein früheres Buch Narration in the Fiction Film ist ebenfalls merkbar unter dem Einfluß von Gombrich verfaßt. Bordwell weist hier nicht nur immer wieder auf Art and Illusion hin, betonend, hauptsächlich, die Elemente von Konvention und Konstruktion im Verstehen eines Bildes,19 sondern bezieht sich auch auf verschiedene andere Studien von Gombrich, insbesondere auf den Aufsatz »Bild und Kode«, zu dem er meint: »There is, Gombrich points out, a continuum between natural skills and acquired ones. It seems evident that the ability to comprehend ›scientific‹ perspectival images is much more easily acquired than, say, the ability to read a language. Perhaps perspectival cues build upon some natural skills, such as the organisms’s ability to detect surfaces and edges.«20 Trotz aber seiner Vertrautheit mit dem Aufsatz »Bild und Kode«, schreibt Bordwell Gombrich den Standpunkt zu, daß »jedes Bild inhärent vieldeutig ist«21 – wobei doch, wie oben bereits angedeutet, Gombrich eben in jenem Aufsatz die stärksten Argumente für den Standpunkt anführt, daß Bilder die Rolle eindeutiger natürlicher Zeichen spielen können. Ein vor wenigen Jahren erschienenes Buch des berühmten Wissenschaftsphilosophen Bas van Fraassen, Scientific Representation: Paradoxes of Perspective, kann nicht umhin, gewisse Fragen anzusprechen, die im Mittelpunkt des Interesses in Gombrichs Arbeit standen. Van Fraassen er-
17 David Bordwell: On the History of Film Style, Cambridge, MA 1997, 150. 18 Ebd., 3. 19 David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Madison, WI 1985, 33 (siehe Anm. 16 auf Seite 343) u. 102 (siehe Anm. 9 auf Seite 347). 20 Ebd., 107, wo Anm. 24 dort auf 17-21 hinweist von Image and Code in: Wendy Steiner (Hg.): Image and Code (279-282 im Band Bild und Auge). 21 Ebd., 102.
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wähnt Gombrich nur ein einziges Mal, zwar ganz am Anfang des Buches,22 aber in einem ziemlich zufälligen Zusammenhang. Er übernimmt aus Art and Illusion einen Absatz, in dem Gombrich ein älteres Zitat anbringt über den Wettbewerb von Phidias und Alkamenes,23 wo Phidias im Gegensatz zu Alkamenes erkannte, daß in der Kunst Verzerrungen nötig sein können, um wahrheitsgetreue Wiedergabe zu erreichen. Van Fraassen setzt dann fort mit einer Diskussion von Karikatur und Entstellung – ein Lieblingsthema Gombrichs – und betont, daß »Ähnlichkeit« ein schwer definierbarer Begriff sei; daß Ähnlichkeit immer selektiv ist.24 Doch dies ist ein Schnitzer, den van Fraassen durch eine aufmerksamere Gombrich-Lektüre hätte vermeiden können. Wie Gombrich es in »Bild und Kode« detailliert zeigte, kann der Begriff von Ähnlichkeit aus jenem der visuellen Äquivalenz abgeleitet werden. Nicht Ähnlichkeit ist selektiv, sondern Äquivalenz. Ähnlichkeit ist selektive Äquivalenz.25 Werfen wir nun einen Blick auf die deutsche Szene. Ich erwähne zunächst Gottfried Boehm und Oliver Scholz. Seinen Vortrag »Bild und Zeit« einleitend, weist Boehm auf sein seit langem bestehendes Interesse für das Problem der Zeit hin.26 In dem Vortrag erwähnt er, ganz kurz, Gombrichs Aufsatz »Vom Zeitelement in der bildenden Kunst«, und macht dann noch einen flüchtigen Hinweis, in einer Anmerkung, auf Kunst und Illusion.27 Wenn man sich die Weite und Tiefe von Gombrichs Arbeit über die Probleme von Bild, Bewegung und Zeit vergegenwärtigt, scheint Boehms sparsame Verwendung von Gombrichs Ergebnissen etwas überraschend zu sein. Und ganz merkwürdig ist die Art, wie Gombrich von Scholz behandelt wird in seinem Bild, Darstellung, Zeichen. Er bezeichnet Art and Illusion als eine »epoche-machende Untersuchung«28 und zählt Gombrichs Ar-
22 Bas C. van Fraassen: Scientific Representation: Paradoxes of Perspective, Oxford 2008, 12f. 23 Gombrich: Kunst und Illusion, 161f. 24 Van Fraassen: Scientific Representation, 18, 33, 57 u. passim. 25 Gombrich: Bild und Kode, 279 u. 282. 26 Gottfried Boehm: Bild und Zeit, in: Hannelore Paflik (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, 1, einleitende Anmerkung. 27 Ebd., 8, Anm. 13. 28 Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen: Philosophische Theorien bildlicher Darstellung. 2., vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt/M. 2004, 2.
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beit (zusammen mit den Schriften von Barthes und Goodman) zu den »Initialzündungen« in den Diskussionen um bildliche Darstellung,29 erwähnt ihn im weiteren aber nur sehr gelegentlich, meistens herabsetzend, und praktisch ohne Bezugnahme auf seine nach 1960 entstandenen Studien.30 Eine Ausnahmestellung in der zeitgenössischen deutschen GombrichRezeption nimmt Klaus Sachs-Hombach ein, der in seinem Buch Das Bild als kommunikatives Medium eine aufschlußreiche und ausgewogene Beschreibung von Gombrichs Resultaten liefert. Gombrichs wirklicher Beitrag zu der Bildtheorie, betont Sachs-Hombach, besteht darin, daß er zeigt: in der Bildwahrnehmung spielen sowohl Ähnlichkeit als auch kulturelles Konditionieren eine Rolle.31 Gombrich ist kein Konventionalist im Sinne von Goodman, aber er glaubt auch nicht, daß das Streben nach Ähnlichkeit notwendigerweise den Versuch zum Erwecken einer Illusion bedeuten würde.32 Gombrich findet es bedeutend, daß es in der Natur Bilder gibt, die ihre Rolle auch dann erfüllen, wenn sie keine vollkommene Ähnlichkeit aufweisen. Wie Sachs-Hombach schreibt: »der Erfolg beim Einsatz von Attrappen – wie auch bei den verschiedenen Formen der Mimikry im Tier- und Pflanzenreich – [ist] keineswegs daran gebunden, dass die Bilder möglichst naturalistisch sind; vielmehr eignen sich in der Regel am besten schematisierte Darstellungen, die neben der ungefähren Wiedergabe der Größe und 33
der Gestalt vor allem ein wesentliches arttypisches Merkmal aufweisen müssen[...]«
Auch von Menschen gemachte Bilder können selbständig – ohne Hilfe von Konventionen – durchaus eindeutige Bedeutungen tragen; dies trifft besonders auf bewegte Bilder zu. »[M]it der zeitlichen Dimension des Films«, schreibt Sachs-Hombach, »[erfolgt] eine Disambiguierung der Darstellung
29 Ebd., 4. 30 Die einzige Ausnahme ist ein Hinweis, in Anm. 51 auf Seite 168, auf Gombrichs Aufsatz Vom Bilderlesen (1961). Ich komme zurück auf Scholz weiter unten im Kap. 3, siehe bes. S. 80 und 82. 31 Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium: Elemente einer allgemeiner Bildwissenschaft, Köln 2003, 135-139. 32 Ebd., 194. 33 Ebd., 268, hinweisend auf Gombrichs Visuelle Entdeckungen durch die Kunst, in: Bild und Auge, 25f.
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[...], die viele Unbestimmtheiten ausräumt und zu einem unmittelbareren – also sehr wahrnehmungsnahen – Erkennen des Bildinhaltes führt«.34 In Gombrichs Werk, zeigt Sachs-Hombach, sind Bedeutung, Bild und Zeit eng miteinander verbunden.
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Während Gombrich die kommunikative Kraft von Bildern anerkennt, ist er sich, wie ich darauf oben bereits hingewiesen habe, der Rolle der Sprache in der bildlichen Darstellung – den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Wort und Bild – völlig bewußt. Im Buch Kunst und Illusion sprach er gerne von der » ›Linguistik‹ bildlicher Darstellungen« und der »Sprache der Kunst«,35 doch sind dies metaphorische Ausdrucksweisen: Was er im Sinn hatte, waren angeeignete graphische Formeln – das Vokabular und die Grammatik von Bildschemen.36 Die wirkliche Problematik von Bild und Wort ist jene, die Gombrich am Anfang von Kunst und Illusion mit dem
34 Ebd., 229. 35 Gombrich: Kunst und Illusion, 7. 36 »Everything points to the conclusion«, schreibt Gombrich, »that the phrase ›the language of art‹ is more than a loose metaphor, that even to describe the visible world in images we need a developed system of schemata« (Art and Illusion, London 1960, 76 – die entsprechende Passage ist in Kunst und Illusion, 76, etwas ungenau übersetzt). Was Gombrich hier meint, ist klar – er wendet eine Metapher an, wenn auch keine »lockere« – aber es ist dennoch lehrreich, sich eine andere Textstelle in Kunst und Illusion anzuschauen, wo er auf Hogarth hinweist, nach dessen Auffassung der Künstler » ›die Sprache der Dinge‹ erlernen und womöglich eine Grammatik erfinden [müsse], die auf sie passe«. Gombrich fügt erklärend hinzu: Der Künstler müsse sich also »einen möglichst umfassenden Schatz von Schemata aneignen« (Kunst und Illusion, 296). In diesem Sinne sagt er dann auch, in dem abschließenden Abschnitt des Kapitels über Karikatur: »Ob der Künstler seinen Blick nach außen wendet oder nach innen, es gibt nur einen Weg zum Ausdruck: Er muß zuerst ein Bild schaffen, und er kann nur dadurch eine Entsprechung erzielen, daß er aus einer schon entwickelten Formensprache die nächsten Äquivalente auswählt für das, was ihm vorschwebt« (ebd., 303).
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Hinweis einführt, daß er durch seine frühe, gemeinsame Forschung mit Ernst Kris, über das Wesen der Karikatur, zuerst mit der Frage konfrontiert wurde, »wovon es eigentlich abhänge, daß man ein Bild als dem Abgebildeten ähnlich empfinde«.37 Das Problem der Ähnlichkeit in der Karikatur ist freilich nur ein besonderer Fall des Problems der Ähnlichkeit in Bildern – in Porträts, aber auch etwa in Landschaftsbildern. Es ist eine triviale Beobachtung, daß zweidimensionale Bilder – ob Linienzeichnungen, Gemälde oder Photographien, farbig oder schwarz-weiß – überhaupt nicht dem gleichen, was sie darstellen. Es ist indessen möglich, wie darauf Gombrich aufmerksam macht, gewisse Identitäten bzw. Äquivalenzen zu schaffen und zu entdecken, die das Bild und dessen Gegenstand eben doch verbinden. »Voraussetzung für die Erfindung der Porträtkarikatur«, schreibt er, »ist die theoretische Unterscheidung zwischen Ähnlichkeit und Äquivalenz.«38 Oder allgemeiner: »Alle Entdeckungen auf dem Gebiete der Kunst sind nicht Entdeckungen von Ähnlichkeiten, sondern von Äquivalenzen oder Entsprechungen, die uns ermöglichen, die Realität aus der Sicht des Bildes und ein Bild aus der Sicht der Realität zu sehen. Dabei ist wesentlich, daß diese Äquivalenz nicht so sehr auf einer Ähnlichkeit der einzelnen Elemente beruht als auf der Gleichheit unserer Reaktionen auf gewisse 39
Relationen und Verhältnisse.«
Hier finden wir also den Keim der Idee, die in vollentwickelter Form im Aufsatz »Image and Code« 1987 zutage treten wird. Äquivalenzen sind augenfällig, aber die bildliche Information, welche sie vermitteln, kann gege-
37 Ebd., IX. 38 Ebd., 291. 39 Ebd., 292. Ich mußte die Übersetzung dieser zentralen Passage, so wie sie in der deutschen Ausgabe steht, an entscheidenden Stellen korrigieren. Dort wird »likeness«, vollkommen irreführend, als »Übereinstimmung« übersetzt (die englischen Textteile lauten: »discoveries not of likenesses but of equivalences«, bzw. »this equivalence never rests on the likeness of elements so much as on the identity of responses to certain relationships«; auch findet sich dort die Formulierung »die Realität als ein Bild und ein Bild als Realität zu sehen«, was wohl kaum dem englischen »to see reality in terms of an image and an image in terms of reality« entspricht.
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benenfalls nicht gedeutet werden in der Abwesenheit von verbalen Hinweisen, wie Benennungen, Schilder, Etiketts, Beschriftungen, Auf-, Über- bzw. Unterschriften.40 Nur mit der zu dem Bild gehörenden Bezeichnung wird Constables Gemälde von Wivenhoe Park »eine ganze Menge über die Aussicht mitteilen[...], die wir gehabt hätten, wenn wir an einem Sommertage des Jahres 1816 neben Constable gestanden hätten, als er den Landsitz malte«;41 nur zusammen mit der Unterschrift »Was hast Du mit Dr. Millmoss angefangen?« wird die Zeichnung James Thurbers (»in seiner reizenden Art«) ihre traurige Nachricht erzählen (Abbildung 1).42 Und nur die besondere VerbinAbbildung 1: James Thurber: »What have you done with Dr. Milmoss?« (1934)
Quelle: Gombrich: Kunst und Illusion, 302
dung von Zeichnung und Text erschafft das eigenartige Erlebnis, welches die Töpffersche Variante der »Bildgeschichte«, ein Vorläufer des heutigen comic strip, liefert.43 Trotz der oft entscheidenden Rolle von verbalen Er-
40 Siehe bes. ebd., 59f., 64 u. 77. 41 Ebd., 252. 42 Ebd., 302. 43 Ebd., 286ff. Die Passagen, die Gombrich hier von Töpffer zitiert, sind äußerst lehrreich: »Geschichten kann man auf zweierlei Arten schreiben. Entweder in Kapiteln, Sätzen und Worten, das nennt man ›Literatur‹; oder eine Folge von Bildern, und das nennen wir eine ›Bildergeschichte‹. [...] Die Bildergeschichte [...] hat zu allen Zeiten einen großen Einfluß ausgeübt, ja sogar einen größeren als das geschriebene Wort. Nicht nur weil mehr Leute Bilder verstehen als lesen
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klärungen müssen Bilder aber auch für sich selbst sprechen. In dem Vorwort zur zweiten Ausgabe von Art and Illusion, 1962, betont Gombrich, daß »die unleugbare Subjektivität des Sehens objektive Kriterien des Sehens nicht ausschließt«, und daß »in unserem westlichen Kulturkreis zu gewissen Zeiten Bilder, die nicht naturgetreu waren, den Menschen nicht mehr genügten«.44 Hier war die Entdeckung der perspektivischen Darstellung, die eine »Gleichung« anstrebte, ein großer Schritt vorwärts.45 Gombrich kehrt zu diesem letzteren Thema im Aufsatz »Visuelle Entdeckungen durch die Kunst« zurück. Es ist überhaupt nicht der Fall, betont er, daß die mathematische Perspektive » ›bloße Konvention‹ « sei, »ein willkürlicher Kode, der sich von der Art, wie wir die Welt wirklich sehen, grundsätzlich unterscheidet«. Wie er schreibt: »wir [wissen] sehr genau [...], ob ein Bild ›richtig‹ aussieht oder nicht. Ein Bild, das nach den Gesetzen der Perspektive aufgebaut ist, löst im allgemeinen im Beschauer sofortiges und müheloses Erkennen aus, und zwar so vollkommen, daß es den Eindruck der Wirklichkeit erweckt[...].«46 Das Bedürfnis, welches zur Erfindung der Perspektive im 15. Jahrhundert führte, war religiöser Natur: das Verlangen, daß man »die heiligen Legenden und Mythen anschaulich [...] erzählen [solle]. [...] Je mehr sich der angewandte Kode dem Eindruck der vertrauten Realität näherte, desto leichter wurde es den Gläubigen, die heiligen Szenen als Zuschauer mitzuerleben und die handelnden Personen zu identifizieren.«47 Das Thema Wort und Bild steht im Mittelpunkt von jenem Essay Gombrichs, das er für die Sondernummer über Kommunikation (1972) der Zeitschrift Scientific American verfaßte. »Wir leben in einem visuellen Zeitalter«, schreibt hier einleitend Gombrich, und fährt fort:
können, sondern weil sie besonders stark an Kinder und die Masse des Volkes appelliert[...] Mit den zwei großen Vorzügen, die sie vor der geschriebenen Geschichte voraus hat, nämlich denen größerer Knappheit und entsprechend größerer Klarheit, müßte die Bildergeschichte imstande sein, unter gleichen Voraussetzungen die geschriebene Geschichte zu verdrängen, da sie sich mit größerer Lebendigkeit an eine größere Zahl von Personen wendet[...]« 44 Gombrich: Kunst und Illusion, XI. 45 Ebd., 217, siehe auch 281. 46 Gombrich: Bild und Auge, 19. 47 Ebd., 21 u. 23.
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»Schon morgens beim Frühstück bringt uns die Zeitung Bilder[...] Auch bei der Arbeit können wir selten ohne bebilderte Informationen [...] auskommen. Entspannen wir uns abends vor dem Fernseher, so bringt uns der Bildschirm Bilder der Freude oder des Schreckens ins Heim. [...] Es wird sogar behauptet, daß wir gegenwärtig in einer Zeit leben, in der das Bild das geschriebene Wort verdrängt. Angesichts dieser Meinung müssen erst einmal alle Möglichkeiten ausgelotet werden, die das Bild für die Kommunikation hat. Das heißt, wir müssen klären, was das Bild besser kann als 48
das gesprochene oder geschriebene Wort und was nicht.«
Bilder sind der Sprache unterlegen, wenn es um logische Verhältnisse, Zeitverhältnisse und Modalität geht. Wie Gombrich schreibt, »ohne Unterstützung hat das Bild […] überhaupt keine Chance, der Darstellungsfunktion der Sprache zu entsprechen«.49 Um voll verstanden zu werden, muß das Bild in kulturellen Konventionen eingebettet und durch verbale Anleitungen ergänzt werden. »Die Chance für eine richtige und sinngemäße Erfassung des Bildes«, schreibt Gombrich, »hängt im wesentlichen von drei Variablen ab: vom Kode, von der Inschrift und vom Zusammenhang. […] Die Möglichkeit einer richtigen Rekonstruktion ist [...] durch das gleichzeitige Vorhandensein der beiden Medien Wort und Bild verbessert.«50 Gombrich zeigt ein Mosaik, im Eingang eines Hauses in Pompeji gefunden (Abbildung 2). Das Mosaik stellt einen Kettenhund dar, mit der Inschrift Cave Canem (»Achtung vor dem Hund«). Ohne die Inschrift, macht Gombrich aufmerksam, würde die durch das Mosaik beabsichtigte Botschaft unklar bleiben.
48 Gombrich: The Visual Image (siehe Anm. 10 oben), in: Bild und Auge, 135. 49 Ebd., 136. Das Wort »Darstellungsfunktion« ist in der deutschen Übersetzung etwas unglücklich gewählt, im englischen Original steht »statement function«. 50 Ebd., 139. Dem Gombrich noch hinzufügt: »die gegenseitige Ergänzung von Sprache und Bild [erleichtert] die Erinnerung. Die Benutzung von zwei unabhängigen Informationskanälen garantiert eine leichte Rekonstruktion.«
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Abbildung 2: Cave Canem. Mosaik aus Pompeji
Quelle: Gombrich: Bild und Auge, 137
Andererseits können aber Bilder Informationen vermitteln, die keine verbale Deskription liefern würde. Bilder als natürliche Zeichen besitzen eine primordiale Kraft, »Lebewesen [sind] ›programmiert‹ [...] auf bestimmte visuelle Signale in einer Weise zu reagieren, die der Erhaltung der Art nützlich sind«,51 Bilder berühren uns. Diese Betrachtungsweise wird besonders ausgeprägt im Aufsatz »Bild und Kode«. Das Mosaik aus Pompeji ist hier wieder abgedruckt, wobei Gombrich betont, daß um zu begreifen, daß der abgebildete Hund drohend ausschaut, wir nicht spezifische stilistische Konventionen lernen müssen; insbesondere, »daß wir das Wissen über Zähne und Krallen nicht in derselben Weise erwerben müssen, wie wir eine Sprache lernen«.52 Sogar Tiere reagieren doch auf Bilder. Wie Gombrich, gegen Goodman argumentierend, schreibt: man gebraucht
51 Ebd., 137. 52 Gombrich: Bild und Auge, 281. Hinweisend auf John M. Kennedy: A Psychology of Picture Perception: Images and Information, San Francisco 1974, macht Gombrich, einige Seiten früher, die Bemerkung: »Tatsächlich hat man in jüngster Zeit auch die weitverbreitete Ansicht in Zweifel gezogen, daß das Element der Konvention naive Menschen, zum Beispiel Angehörige primitiver Volksstämme, daran hindere, Photographien zu verstehen. Eine Photographie lesen zu lernen scheint jedenfalls etwas ganz anderes zu sein als die Erlernung eines will-
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»ja schon von jeher Attrappen, um Tiere anzulocken oder abzuschrecken. Beim künstlichen Lockvogel und bei den raffinierten künstlichen Ködern der Angler handelt es sich ja um nichts anderes als um Nachbildungen, auf die man von dem jeweiligen Tier mit Sicherheit eine bestimmte Reaktion erwartet. […] der Fisch, der nach der künstlichen Fliege schnappt, [befragt] nicht erst einen Logiker [...], in welcher Hinsicht sie einer wirklichen Fliege ähnlich ist und in welcher sie von ihr 53
abweicht.«
Gegen Ende des Aufsatzes »Visuelle Entdeckungen durch die Kunst« kehrt Gombrich zu der mehrdeutigen »Hase oder Ente?« Figur zurück, die er im Buch Kunst und Illusion besprochen hat. Wir können alternative Deutungen veranlassen durch Beschriftungen, d. h. wörtliche Beschreibungen, »aber es wäre vielleicht noch wirkungsvoller, diese Deutung visuell zu steuern«. Wie er schreibt, hat er zwar keine Experimente unternommen, aber wäre überzeugt, daß man die gewünschte geistige Haltung durch »visuelle Anhaltspunkte« hervorrufen könnte, und zwar entweder durch den räumlichen Kontext – etwa die Zeichnung eines Ententeichs oder eines Kaninchenstalls neben die Figur stellend – oder durch den zeitlichen Kontext, »indem man der Versuchsperson vorher eine Reihe von Kaninchen beziehungsweise Enten zeigt«.54 Die Idee einer Bilderreihe, bzw. die von sich in der Zeit verändernden Bildern, ist von höchster Wichtigkeit – und überleitet mich zu den beiden weiteren Abschnitten des gegenwärtigen Kapitels, zu jenen über Bild und Bewegung, und Bewegung und Zeit.
kürlichen Kodesystems. Ein besserer Vergleich wäre vermutlich der mit der Handhabung eines optischen Instruments. Es erscheint mir sehr wahrscheinlich, daß ein Angehöriger eines primitiven Stammes, dem man eine Photographie in die Hand gibt, zunächst nicht wissen wird, was er damit anfangen soll oder wie man so etwas anschaut, aber ich nehme an, er würde nicht viel anders reagieren, wenn man ihm einen Feldstecher gäbe. Auch der Gebrauch eines Fernglases muß gelernt sein« (Bild und Auge, 278). 53 Ebd., 281f. 54 Gombrich: Bild und Auge, 36.
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Wie bereits angedeutet, waren die inhärenten Verbindungen zwischen Sehen und Bewegung für Gombrich seine ganze Laufbahn hindurch von zentralem Interesse. In Kunst und Illusion wies er auf »die Mehrdeutigkeit einäugigen statischen Sehens«55 hin, betonend, daß »der Schluß aus der Bewegung« entscheidend ist, wenn es um das Auflösen von Ungewißheiten im visuellen Feld geht. »Immer wenn wir unserer Sache nicht ganz sicher sind und unseren Augen nicht ganz trauen«, schrieb er, »bewegen wir den Kopf und beobachten die Verschiebung der Gegenstände zueinander.«56 Die Illusion, die ein Stilleben erzeugen kann, neigt zu verschwinden, sobald wir uns bewegen; in der Eliminierung falscher visueller Annahmen spielen Bewegungen, unsere eigenen und die der Objekte, eine vitale Rolle.57 Bilder können uns als unnatürlich erscheinen, wenn der Aspekt der Bewegung fehlt. »[E]ine genaue Nachbildung der Wirklichkeit [muß nicht] immer jenen Eindruck der frappanten Ähnlichkeit hervorrufen«, betonte Gombrich, »den wir an einer gelungenen Karikatur oder einem guten Porträt bewundern. Wenn dem so wäre, hätten wir viel mehr Aussicht, beim Drauflosknipsen mit dem Photoapparat ein gutes Bild eines Freundes zustande zu bringen. In Wirklichkeit sind wir aber nur selten mit einem solchen Bild zufrieden. Meist erscheint es uns uncharakteristisch und fremd, ja komisch, nicht etwa weil die Linse verzerrt, sondern weil der zufällige Ausschnitt, den wir aus der Melodie des Ausdrucks aufgefangen und fixiert haben, nicht denselben Eindruck macht [...] wie der lebendige Ausdruck, der die Physiognomie des Freundes beseelt. Denn im wirklichen Leben beruht das Aussehen eines Menschen und sein charakteristischer Ausdruck mindestens ebensosehr auf Bewegung wie auf statischen Faktoren[...]«
Demgegenüber ist die photographische Momentaufnahme das Mittel, »eine Bewegung festzuhalten und für immer zu fixieren«.58 Die Herausforderung für die Kunst ist dann: mit statischen Bildern die Andeutung von Bewegung zu schaffen, wie dies Velázquez gelungen ist, der nicht etwa die Speichen
55 Gombrich: Kunst und Illusion, 330. 56 Ebd., 232. 57 Ebd., 234, 177 u. 278. 58 Ebd., 292ff.
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des sich schnell drehenden Rades malte (vgl. Abbildung 3), sondern »die verwischten Nachbilder, die rasche Bewegung im Blickfeld zurückläßt«, ein Effekt welches heute »bei Zeichnern von Comics, Karikaturen und derAbbildung 3: Velázquez: Die Spinnerinnen, Ausschnitt
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gleichen eine täglich gebrauchte Selbstverständlichkeit ist. Es gibt wohl kaum einen Bildstreifen, in dem eine schnelle Bewegung nicht durch ein paar nach rückwärts gehende Striche angedeutet würde, die wie negative Pfeile anzeigen, wo sich der Gegenstand einen Augenblick früher befunden hat.«59 Gombrich war ein großer Verehrer des Psychologen J. J. Gibson. Im Vorwort zu Kunst und Illusion betonte er den Einfluß, den dessen Buch The Perception of the Visual World, 1950 erschienen, auf ihn ausübte; im Aufsatz »The Evidence of Images« setzt er sich mit Gibsons Werk The Senses Considered as Perceptual Systems auseinander, 1966 veröffentlicht. Gibsons Werk, meint hier Gombrich, »hat eine Art kopernikanischer Revolution in der Wahrnehmungsforschung eingeleitet«. Indessen weigert sich Gom-
59 Ebd., 191. Der Ausdruck »negative Pfeile« verweist auf eine Passage auf derselben Seite: »Es scheint, daß man das Bild eines Pfeils oder einer zeigenden Hand meist nicht genau lokalisiert, sondern in der Richtung der angedeuteten Bewegung verschiebt. Wenn wir nicht diese Tendenz besäßen, durch die Erwartung von Bewegung Bewegung zu sehen, [...] wären Künstler außerstande, in stationären Bildern den Eindruck von Geschwindigkeit zu erwecken.«
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brich, Gibsons »radikale Trennung zwischen der Deutung von Bildern und der Wahrnehmung der Welt« zu akzeptieren, auch wenn Gibson etwa recht haben könnte in seiner Annahme, daß »wenn man entlang einer Straße spaziert oder fährt, man Informationen auf einer ganz anderen Ebene erhält als wenn man einer Momentaufnahme ausgeliefert ist – wir könnten also die invariante Gestalt der Straße, der Häuser, und die Textur der Straße ohne Mehrdeutigkeit wahrnehmen«. Aber er schließt sich voll Gibsons Grundposition an, daß nämlich »visuelle Wahrnehmung mit Bewegung verkoppelt ist«. Gombrich gibt Gibson zu, daß »die statische Sicht eines Zimmers durch ein stationäres Auge viele Deutungen zuläßt«, und nimmt dessen Auffassung an, daß nämlich sobald wir unsere Haltung bzw. Standort ändern, »die Transformation der optischen Reihe« eindeutig wird: »there is one and only one configuration which fits it. What matters in real life is not that textbook abstraction, the stationary image on one retina, but the succession of stimuli which we experience as we are walking toward a room.«60 Auf das Buch The Senses Considered as Perceptual Systems wird erneut hingewiesen im Aufsatz »Maske und Gesicht«. Dank Gibsons Arbeit in der Psychologie der Wahrnehmung, schreibt Gombrich, »sind wir uns über die entscheidende Rolle, die der kontinuierliche Informationsfluß in unserem gesamten Umgang mit der sichtbaren Welt spielt, zunehmend klarer geworden«.61 Die Idee des Flusses, jener der statischen Beständigkeit entgegengesetzt, erweist sich hier als äußerst bedeutsam, sie verhilft Gombrich zu folgenschweren Beobachtungen. Die Momentaufnahme, schreibt er, hat nicht bloß »das Porträt verwandelt«, sie hat auch »das Problem der Ähnlichkeit deutlicher vor Augen geführt, als frühere Jahrhunderte es zu formulieren vermochten. Sie hat die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie gelenkt, daß Wirklichkeit in einem Einzelbild eingefangen und das Spiel der Gesichtszüge in einem angehaltenen Augenblick, dessen wir uns im Strom der Ereignisse vielleicht nie bewußt geworden wären, eingefroren wird.«62 Dem fügt er noch die ganz entscheidende Passage hinzu:
60 Gombrich: The Evidence of Images (siehe oben, Anm. 4), 45, 47 u. 44. 61 Gombrich: Maske und Gesicht (vgl. Anm. 4 oben), übersetzt im Band Bild und Auge, die zitierte Stelle dort auf Seite 115. 62 Ebd., 114f.
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»Wenn anstelle des Meißels, des Pinsels oder auch der photographischen Platte die Filmkamera der erste Registrator menschlicher Physiognomien gewesen wäre, hätte sich das Problem, das die Sprache weise das ›Treffen‹ der Ähnlichkeit nennt, unserem Bewußtsein niemals in gleichem Maße aufgedrängt. Die Filmaufnahme kann niemals so auffallend mißlingen wie eine Momentaufnahme, denn selbst wenn sie die Person beim Blinzeln oder Niesen festhält, erklärt die Abfolge der Bilder die dabei entstehende Grimasse, die bei einer Momentaufnahme vielleicht uninterpretierbar bleibt. So gesehen, besteht das Wunder nicht darin, daß einige Momentaufnahmen einen nicht-charakteristischen Aspekt einfangen, sondern darin, daß sowohl die Kamera als auch der Pinsel von der Bewegung abstrahieren und dennoch ein überzeugendes Abbild schaffen können, und zwar nicht nur von der Maske, sondern 63
auch vom Gesicht, dem lebendigen Eindruck.«
Gibson wird nochmals heraufbeschworen im Aufsatz »The ›What‹ and the ›How‹ «. Es ist Gibsons Ansatz, meint hier Gombrich, der am vollsten erklärt, wie »unsere eigene Bewegung« zusammen mit unserer sich ständig bewegenden »Erscheinungswelt« eine »fluktuierende Folge von Bildern« erzeugen, und wie »dieser Strom von Ereignissen« im »Fluß der Information« erfaßt wird. Kein Wunder, daß das Kino im allgemeinen unmittelbarer realistisch ist als das Stehbild: »Im Film kann das rasche Größerwerden eines Gegenstandes uns dazu bringen, daß wir uns ducken.«64 Und es ist ganz im Geiste Gibsons, wie Gombrich, in seinem Aufsatz »Bild und Kode«, das fundamentale Element des zweidimensionalen Bildes, die Kontur erklärt. »Man hat oft behauptet«, schreibt hier Gombrich, »Konturen seien Konventionen, da die Objekte unserer Umwelt nicht von Linien begrenzt werden. [...] [Doch die] Dinge in unserer Umgebung sind tatsächlich von ihrem Hintergrund abgehoben, oder – genauer – sie heben sich ab, sobald wir uns bewegen. Die Kontur ist das Äquivalent dieser Erfahrungstatsache.«65 In seinem Essay »Kriterien der Wirklichkeitstreue: Der fixierte und der schweifende Blick« erinnert Gombrich daran, wie Gibsons Theorien aus seiner Arbeit während des Krieges erwachsen sind. Er wurde beauftragt, »die visuelle Information zu studieren, die einem Flieger, der sich mit großer Geschwindigkeit zu landen anschickt, zur Verfügung steht. [...] [es
63 Ebd., 115f. 64 Gombrich: The »What« and the »How« (siehe Anm. 11 oben), 137 u. 139. 65 Gombrich: Bild und Auge, 279.
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ist] irreführend [...], beim Studium der visuellen Wahrnehmung mit einer Analyse des Bildes zu beginnen, das auf der Netzhaut eines stationären Auges entsteht. [...] Was es dem Flieger ermöglicht, Abstand und Lage des Landungsstreifens entsprechend zu schätzen, ist nicht ein [...] statisches Bild, sondern die Masse der Information, die auf ihn einströmt«, durch die er in der Lage ist, »die unveränderlichen Komponenten seiner Umgebung zu erkennen, und diese Invarianten sind es, die er für sein Überleben braucht.«66 Dem fügt Gombrich später im Essay hinzu: »unser peripheres Sehen [nimmt] zwar Formen und Farben nur sehr ungenau wahr[...], aber [reagiert] auf Bewegung außerordentlich stark[...] Wir bemerken sofort jede Veränderung in dem vagen Durcheinander von Formen außerhalb des fovealen Bereiches und sind jederzeit bereit, eine solche unerwartete Verschiebung sofort scharf ins Auge zu fassen. [Wir] können [...] das sich bewegende Objekt verfolgen, [...] 67
während das übrige Gesichtsfeld in den Hintergrund unseres Bewußtseins tritt.«
Der Standpunkt, den hier Gombrich vertritt, wurde zuerst vom Physiker, Physiologen und Psychologen Hermann von Helmholtz im 19. Jahrhundert skizziert. »Durch die Beweglichkeit des Auges«, zitiert Gombrich Helmholtz, »wird es [...] möglich, nach einander jeden einzelnen Punkt des Gesichtsfeldes genau zu betrachten. Da wir zu einer Zeit doch nur einem Gegenstand unsere Aufmerksamkeit zuwenden können, ist der eine deutlich gesehene Punkt ausreichend, sie voll zu beschäftigen, so oft wir sie auf Einzelheiten lenken wollen; und wiederum ist das große Gesichtsfeld trotz seiner Undeutlichkeit geeignet, die Hauptzüge der ganzen Umgebung mit einem schnellen Blicke aufzufassen, und neu auftau68
chende Erscheinungen an den Seiten des Gesichtsfeldes sogleich zu bemerken.«
Die »artifizielle Situation der fehlenden Bewegung« analysierend, macht Gombrich im Aufsatz »Maske und Gesicht« nochmals darauf aufmerksam, daß wenn es zum Verstehen von Bildern kommt, es genau die Bewegung ist, die uns in erster Linie dazu verhilft, »unsere vorläufigen Interpretati-
66 Gombrich: Kriterien der Wirklichkeitstreue (siehe Anm. 16 oben), in: Bild und Auge, 247. 67 Ebd., 262. 68 Ebd., 260.
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onen oder Erwartungen zu bestätigen oder zu widerlegen«. Dadurch ist »unsere Deutung statischer Bilder in der Kunst großen Schwankungen und widersprüchlichen Interpretationen unterworfen«. Es ist eben die »zeitliche Dimension, die uns bei der Interpretation eines ruhenden Bildes fehlt«. Demgegenüber sind wir im »wirklichen Leben« ausnahmslos unterstützt »durch den Effekt des Ablaufs in der Zeit«.69 Bildliche Bedeutung kann nicht erörtert werden ohne eine Bezugnahme auf Bewegung; und das Thema des bewegten Bildes führt unausweichlich zum Thema der Zeit.
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Gombrich liefert eine fokussierte Diskussion der Problematik Zeit in seinem Essay »Der fruchtbare Moment: Vom Zeitelement in der bildenden Kunst«. Es gibt freilich wiederkehrende Hinweise zum Thema im Buch Kunst und Illusion,70 sowie einige Andeutungen im Aufsatz »The Evidence of Images«,71 aber es ist in seinem Essay von 1964, in dem er tatsächlich die
69 Gombrich: Bild und Auge, 124. 70 Die interessantesten vielleicht auf Seite 293, im Kapitel »Das Experiment der Karikatur«, wo Gombrich bemerkt, daß der Künstler den Verlust der Zeitdimension dadurch ausgleichen muß, »daß er alle Information, die zur Erzeugung des gewollten Eindrucks notwendig ist, in einen einzigen zeitlosen Aspekt [im Original: »one arrested image«] zusammenfaßt« und, Houbraken paraphrasierend, die Frage formuliert: »wie stelle man es an, schnelle Bewegungen, etwa Laufen, Fliegen oder Springen, nach der Natur darzustellen? Bevor man noch zu einem Federstrich angesetzt habe, sei das Ganze ja schon vorüber. [...] [und wie ahmt man nach] ›den Ausdruck menschlicher Leidenschaften‹[?] [...] [auch] echter Ausdruck [...] spiele [...] sich in der Zeit ab.« Die erste Anmerkung im Aufsatz »Vom Zeitelement in der bildenden Kunst« verweist auf »in der Literatur verstreut [auffindbare] interessante Bemerkungen« zum Problem »des Zeitmoments und [der] Darstellung der Bewegung«, aufzählend, u. a., Arnheims Art and Visual Perception, Kap. VIII, aber auch Gombrichs eigenes Buch Art and Illusion (mit der Anleitung: »Siehe unter ›Bewegung‹ im Sachregister«). 71 In einem etwas Bergsonschen Ton schreibt hier Gombrich: »We process the successive frames of the film as information about movement[...] We see movement, not a succession of stills.« Einige Absätze weiter akzeptiert er »the hypo-
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Umrisse einer Psychologie der Zeit, ja einer Philosophie der Zeit darstellt. Es war die Art und Weise, »wie das Problem des Zeitablaufs in der bildenden Kunst herkömmlicherweise gefaßt wurde«, die womöglich, schreibt Gombrich, dazu führte, daß »die Antworten relativ unergiebig ausfallen mußten«72 – eben weil diese Antworten auf einer falschen Zeitauffassung gründeten, auf einer Auffassung, die die Existenz eines punctum temporis voraussetzte, wie sie von James Harris formuliert wurde in seinem einflußreichen Three Treatises (1744), durch Shaftesbury vorweggenommen in den Characteristics (1714); Shaftesbury sprach von dem ganz bestimmten Zeitpunkt oder Augenblick (»determinate Date or Point of Time«, »single Instant«), den der Maler wählen muß, wenn er ein gewisses Geschehnis der gegebenen Geschichte abbilden will. Der Gedanke wurde dann von Lessing in seinem Laokoon übernommen. Er schrieb: »Die Malerei kann [...] nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.«73 Darauf, daß ein solcher Augenblick nicht zu existieren scheint, macht Gombrich zunächst durch einen Hinweis auf die Frühgeschichte der Photographie aufmerksam. Muybridges Momentaufnahmen des Pferdegalopps zeigten überhaupt nicht jene Melodie der Bewegung, die die Maler zu sehen glaubten, wobei eben die Momentaufnahme als unwirklich anmutete. Es ist also nicht von ungefähr, daß die Standfotos, »die wir vor den Kinos ausgestellt oder in Büchern über die Filmkunst reproduziert finden, [...] nur in seltenen Fällen vergrößerte Einzelbilder aus dem Film selbst [sind]. Sie werden meist eigens gemacht und oft nochmals gestellt, nachdem die Aufnahme beendet ist.« Man kann mit Sicherheit behaupten, schreibt Gombrich, »daß wir das, was uns eine Momentphotographie enthüllt, nie sehen, denn wir fassen Bewegungsabfolgen zusammen und sehen niemals statische Konfigurationen. Was für das Sehen der Wirklichkeit gilt, gilt auch von bildlichen Darstellungen. Auch das
thesis that the isolation and reconstruction of an object is an operation in time which for all its rapidity is certainly complex«, dem noch hinzufügend: »the reading of a picture is indeed a reaction in time« (The Evidence of Images, 57, 61 u. 63). 72 Gombrich: Bild und Auge, 40. 73 Ebd., 41f.
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›Lesen‹ eines Bildes ist ein Prozeß, der in der Zeit vor sich geht, und zwar braucht er sehr viel Zeit. [...] wir tasten [das Bild] mit unseren Augen ab. Photographierte Augenbewegungen lassen vermuten [...], wie das Auge den Sinn des Gesehenen zu er74
fassen sucht[...]«
Auf der philosophischen Ebene legt uns Gombrich nahe, daß wir eigentlich ein petitio principii begehen, wenn wir die Frage stellen, »was zu einem bestimmten Zeitpunkt ›wirklich vor sich geht‹ «. Denn wir »unterstellen damit, daß das, was Harris ein punctum temporis genannt hat, wirklich existiert, oder, noch schärfer gefaßt, daß das, was wir tatsächlich wahrnehmen, eine unendliche Reihe solcher statischen ›Zeit-Punkte‹ ist. Wenn diese Annahme einmal konzediert ist, folgt das übrige von selbst, wenigstens wenn das Ziel ›Mimesis‹ sein soll. ›Statische Zeichen‹, so lautet das Argument, ›können nur statische Augenblicke darstellen und niemals Bewegungen, die sich in der Zeit abspielen.‹ In der Philosophie kennt man dieses Problem unter dem Namen Zeno-Paradox[...] Logisch betrachtet, führt die Idee, daß es einen ›Moment‹ gibt, in dem keine Bewegung stattfindet, und daß dieser Moment vom Künstler – oder auch vom Photoapparat – ergriffen und festgehalten werden kann, geradewegs zum Zeno-Paradox. Selbst die kürzeste Momentaufnahme hält Bewegungsspuren fest, eine Abfolge von Ereignissen, sei sie auch noch so kurz. Aber die Idee eines punctum temporis ist nicht nur logisch absurd, sie ist noch viel absurder vom psychologischen Standpunkt.«
75
Um mit dieser psychologischen Absurdität fertigzuwerden, erinnert Gombrich einerseits an den introspektiven Bericht des heiligen Augustinus in seinen Bekenntnissen, nach dem sowohl Erinnerung als auch Erwartung irgendwie anwesend sind in dem Bewußtsein der Gegenwart, und andererseits an die moderne Entdeckung, daß »unsere Sinneseindrücke während einer kurzen Zeit ›greifbar‹ bleiben. Wir nennen diesen Zeitraum die Gedächtnisspanne oder die scheinbare Gegenwart« – wo Gombrich das letztere Resultat mit dem Begriff des Arbeitsgedächtnisses verbindet.76 Seine
74 Ebd., 44 u. 50. 75 Ebd., 45. 76 Ebd., 47. Gombrich verwendet den Ausdruck »unmittelbares Gedächtnis«, und weist in Verbindung mit dem Begriff scheinbare Gegenwart (»specious present«) nicht ausdrücklich auf William James hin, aber es kann kein Zweifel darü-
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Schlußfolgerung ist, daß »der Augenblick, von dem der Theoretiker spricht, der Moment, in dem die Zeit stillsteht, eine unberechtigte Extrapolation ist – ungeachtet der trügerischen Plausibilität, die die Momentaufnahme dieser alten Idee verliehen hat«.77 Die Zeit steht nicht still, wenn wir uns ein Bild anschauen. Wir bauen das Bild »über eine Zeitspanne auf«, schreibt Gombrich, »und halten die einzelnen Teile in Bereitschaft, bis sie sich zu einem vorstellbaren Objekt oder Vorfall zusammenschließen«; wir schweifen »in Raum oder Zeit vorwärts und rückwärts«. Und »wir [können nicht] den Ablauf der Zeit auf einem Bild schätzen, solange wir nicht das darauf dargestellte Ereignis gedeutet haben«.78 Um diesen letzteren Punkt zu illustrieren, macht Gombrich einige Bemerkungen in bezug auf die Ikonographie des Themas Mariä Tempelgang. Er weist, u. a., auf Tizians Gemälde hin (Abbildung 4): einerseits ist auf dem Bild die Distanz, die Maria von ihrer Familie zum wartenden Hohepriester zurückzulegen hat, eine besonders große, andererseits Abbildung 4: Tizian: Mariä Tempelgang
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ber bestehen, wovon er spricht (zum James’schen Begriff vgl. weiter unten, Kap. 6, S. 163). 77 Ebd., 52f. 78 Ebd., 51.
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schauen die Anwesenden nicht auf die zentrale Gruppe, sondern blicken sich gegenseitig an: all dies erweitert die Zeitspanne. Ein anderer Hinweis Gombrichs gilt Tintorettos Arbeit (Abbildung 5), hier hebt er die »steile Kurve der Treppe« hervor, die wiederum den dynamischen – zeitlichen – Effekt verstärkt.79 »Wenn nicht sowohl die Wahrnehmung der Realität als auch die Abbildung 5: Tintoretto: Mariä Tempelgang
Nach Gombrich: Bild und Auge, 56
Wahrnehmung der Bilder zeitliche Prozesse wären«, schreibt Gombrich zum Abschluß, »und noch dazu recht langsame und komplexe Prozesse, könnten statische Bilder in uns nicht Erinnerungen an und Vorwegnahmen von Bewegungen hervorrufen.«80 Eine passende Formel zur Zusammenfassung seiner Theorie von Bild und Zeit.
79 Ebd., 53 u. 57. 80 Ebd., 61.
3 Bild und Metapher in der Philosophie Wittgensteins
B ILDBLINDHEIT : P ROLOG ZUR W ITTGENSTEIN -F ORSCHUNG Wenn es um die Charakterisierung der Ansichten des späteren Wittgenstein über die Rolle von Bildern im Denken und Mitteilen geht, ist gut fünf Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der Philosophischen Untersuchungen die meistzitierte Passage immer noch §115, in der Regel zusammen mit §116 angeführt: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen. – Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ›Wissen‹, ›Sein‹, ›Gegenstand‹, ›Ich‹, ›Satz‹, ›Name‹ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? – Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre all1
tägliche Verwendung zurück.«
Der 2004 erschienene Band Wittgenstein’s Lasting Significance2 taugt als ein Beispiel wie jedes andere. Viel wird da gesagt über die frühe Bildthe-
1
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953), in: Ludwig Wittgenstein: Schriften, Frankfurt/M. 1960.
2
Max Kölbel u. Bernhard Weiss (Hg.): Wittgenstein’s Lasting Significance, London 2004.
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orie der Sprache, aber praktisch nichts über die Bildphilosophie des späteren Wittgenstein, während die Wendung »being in the grip of a picture« immer wieder auftaucht. Über Bilder zu reden, scheint es hier, heißt über Wörter zu reden. Oder nehmen wir Anja Weibergs Aufsatz vom selben Jahr, » ›Ein Bild hielt uns gefangen‹: Die Kraft der Metapher«,3 wo die Verfasserin unter »Bild« fast ausnahmslos Sprachbild versteht. Die einzige nennenswerte Ausnahme ist ein kurzer Hinweis auf die Erscheinung des Sehen-als, welche Erscheinung Weiberg allerdings sogleich als eher in sprachlicher als in außersprachlicher Erfahrung gründend deutet.4 Nun trifft es freilich offenbar zu, daß Wittgenstein in §115 an kein visuelles Bild dachte, und die alltägliche Sprache erlaubt durchaus, und mit gutem Grund, das Wort »Bild« im Sinne von Ansicht, Idee, Auffassung zu gebrauchen. Wittgenstein sagt hier, daß unsere hauptsächlichen überkommenen philosophischen Begriffe uns ursprünglich durch bestimmte Redewendungen nahegelegt wurden und durch eben diese immer wieder bestärkt werden. Es ist aber keineswegs der Fall, daß der spätere Wittgenstein ausnahmslos auf verbale Formeln hinwies, wenn er über Bildern sprach. Im Gegenteil, er entwickelte, wie ich das oben im Kapitel 1 bereits angedeutet habe und hier ausführlich zu zeigen versuchen werde, eine Vielfalt von interessanten Ideen darüber, wie Bilder funktionieren, wie visuelle Gestalten Bedeutungen vermitteln, und auf welche Weisen das Verbale und das Bildliche unterschieden, aber auch miteinander verbunden sind – wenn es ihm auch nicht gelungen ist, diese Ideen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen. Es ist ihm auch nicht gelungen, jenen alltäglichen Sprachgebrauch zu beschreiben, auf den er im §116 hindeutete – den ursprünglichen paradigmatischen Gebrauch, zu dem er die Sprache der Metaphysik zurückzuführen gedachte. »Bei primitiven Sprachen über konkrete Gegenstände«, sagte Wittgenstein 1935, »gibt es keine Schwierigkeiten. […] Ein Substantiv wird in unserer Sprache in erster Linie für einen materiellen Körper verwendet, und ein Verb für die Bewegung eines solchen Körpers. Dies ist die einfachste Anwendung der Sprache, und diese Tatsa-
3
Anja Weiberg: »Ein Bild hielt uns gefangen«: Die Kraft der Metapher, in: Ulrich Arnswald, Jens Kertscher u. Matthias Kroß (Hg.): Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, 115-135.
4
Weiberg: »Ein Bild hielt uns gefangen«, 128.
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che ist von höchster Bedeutung. Wenn wir Schwierigkeiten haben mit der Grammatik unserer Sprache, bedienen wir uns bestimmter primitiver Schemata und versu5
chen, ihnen eine umfassendere Anwendung zu verleihen, als möglich ist.«
Wittgenstein mußte gewiß die Tatsache erkennen, mit der er jedoch anscheinend nicht zurecht kommen konnte, daß die alltägliche Sprache sich niemals auf denjenigen Typus von primitiven Sprachen beschränkte, den er hier anspricht. Die alltägliche Sprache entbehrte niemals Metaphern, und kann sie nicht entbehren. Forschungen über Wittgensteins Bildphilosophie sind im Laufe der Zeit zwar entstanden, aber diese schließen sich zu keiner kontinuierlichen Geschichte zusammen, vielmehr bilden sie eine Reihe von vereinzelten Versuchen. Als ich 2000-2001 meine ersten Aufsätze zum Thema ausarbeitete,6 war meine Kenntnis von diesen Versuchen ziemlich unvollständig. Die Studien, auf welche ich hinwies, waren die von Gombrich,7 Wollheim,8 Kenny,9 Genova,10 Mitchell,11 Roser.12 Heute würde ich jener Nar-
5
»Wir könnten sagen: Die Philosophie«, lautet die Passage weiter, »ist nichts weiter als die Erkenntnis, daß der Zeitbegriff keine größeren Schwierigkeiten bereitet als dieser Stuhl hier.« Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen 1930-1935, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989, 299f.
6
Kristóf Nyíri: The Picture Theory of Reason (2000), in: Berit Brogaard u. Barry Smith (Hg.): Rationality and Irrationality, Wien 2001, 242-266; Kristóf Nyíri, Pictures as Instruments in the Philosophy of Wittgenstein (2001), in: Rudolf Haller u. Klaus Puhl (Hg.): Wittgenstein and the Future of Philosophy: A Reassessment after 50 Years, Wien 2002, 328-36; Kristóf Nyíri: Wittgenstein’s Philosophy of Pictures (2001), in: Alois Pichler u. Simo Säätelä (Hg.): Wittgenstein: The Philosopher and his Works (Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, no. 17, 2005), 281-312 (wiederabgedruckt: Frankfurt/M. 2006, 322-353); Kristóf Nyíri: Wittgensteins Philosophie der Bilder, in: Wilhelm Lütterfelds (Hg.): Erinnerung an Wittgenstein, Frankfurt/M. 2004, 127-148.
7
Ernst H. Gombrich: Art and Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London 1960.
8
Richard Wollheim: Art and Its Objects: An Introduction to Aesthetics, New
9
Anthony Kenny: Wittgenstein, Harmondsworth, Middlesex 1973.
York 1968.
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rative der Wittgenstein-Forschung, von den frühen 1960er Jahren bis zu den späten 1990er, die Namen Aldrich,13 Kjørup,14 Blich,15 Scholz,16 Biggs,17 Boehm18 und, mit Einschränkungen, Lüdeking hinzufügen.19 Ich stelle nun diese Narrative in aller Kürze vor.
10 Judith Genova: Wittgenstein on Thinking: Words or Pictures?, in: Roberto Casati u. Graham White (Hg.): Philosophy and the Cognitive Sciences, Kirchberg am Wechsel 1993, 163-167. Siehe auch ihr Buch Wittgenstein: A Way of Seeing, London 1995. 11 W. J. T. Mitchell: Picture Theory, Chicago 1994. 12 Andreas Roser: Gibt es autonome Bilder? Bemerkungen zum grafischen Werk Otto Neuraths und Ludwig Wittgensteins, in: Grazer Philosophische Studien 52 (1996/97), 9-43. 13 Virgil C. Aldrich: Pictorial Meaning, Picture-Thinking, and Wittgenstein’s Theory of Aspects, in: Mind 67 (1958), 70-79. 14 Søren Kjørup: Wittgenstein and the Philosophy of Pictorial Languages (1980), in: Kjell S. Johannessen u. Tore Nordenstam (Hg.): Wittgenstein – Aesthetics and Transcendental Philosophy, Wien 1981, 159-173. 15 Baruch Blich: »Natural Kinds« As a Kind of »Family Resemblance«, in: Ota Weinberger, Peter Kollee u. Alfred Schramm (Hg.): Philosophy of Law, Politics and Society, Proceedings of the 12th International Wittgenstein Symposium, 1987, Wien 1988, 284-289. 16 Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen: Philosophische Theorien bildlicher Darstellung, 2., vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt/M. 2004, erste Ausgabe 1991. 17 Michael A. R. Biggs: A Source Catalogue of the Published Diagrams, in: Michael Biggs u. Alois Pichler Wittgenstein: Two Source Catalogues and a Bibliography, Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, no. 7, 1993, 91-143; Michael A. R. Biggs: The Illustrated Wittgenstein: A Study of the Diagrams in Wittgenstein’s Published Works, PhDDissertation, University of Reading, UK, 1994; Michael A. R. Biggs: Graphical Problems in Wittgenstein’s Nachlaß, in: Kjell S. Johannessen und Tore Nordenstam (Hg.): Culture and Value: Philosophy and the Cultural Sciences, Kirchberg am Wechsel 1995, 751-761. 18 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, 11-38.
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Am Anfang seines 1958 veröffentlichten Aufsatzes zitiert Aldrich aus Teil I der Philosophischen Untersuchungen Passagen, in denen Wittgenstein das Wort »Bild« in erster Linie im Sinn von »Anschauung«, »Idee«, und nur mittelbar in einem visuellen Sinn verwendet. Aber er weist auch auf §295 hin, bemerkend, daß Wittgenstein die »subtile Beobachtung« macht, laut der »das im imagistischen Sinn genommene Bild« (»the picture as an image«) durch einen Ausdruck hervorgerufen werden kann,20 und kommt später im Aufsatz21 auf Teil II, Abschnitt XI zu sprechen, die Zeichnung des Hasen-Enten-Kopfes erwähnend und die Begriffe »Aufleuchten eines Aspekts«, »Bildgegenstand« und »etwas als etwas sehen« erörternd. Schließlich liefert aber Aldrich noch nicht einmal eine rudimentäre Analyse von Wittgensteins Ansichten über Bilder, er erklärt auch nicht, was er mit seiner einleitenden Aussage »Wittgenstein has a theory of pictorial meaning and picture-thinking« meint, und es ist nicht von ungefähr, daß der Aufsatz tatsächlich einen größeren Einfluß auf die Forschungen zum Thema Wittgenstein und die Metapher22 als auf jene zum Fragenkreis Wittgenstein und die Bilder hatte.23 Demgegenüber hätte Ernst Gom-
19 Karlheinz Lüdeking: Picture-Theory of Language and Language-Theory of Pictures, in: Rudolf Haller und Johannes Brandl (Hg.): Wittgenstein – A Reevaluation. Proceedings of the 14th International Wittgenstein Symposium, 1989, Bd. III, Wien 1990, 312-316. 20 Aldrich: Pictorial Meaning, 71. 21 Ebd., 73f. 22 Davon zeugen das Buch von Marcus B. Hester: The Meaning of Poetic Metaphor: An Analysis in the Light of Wittgenstein’s Claim that Meaning Is Use, The Hague: Mouton, 1967, und Rüdiger Zills Aufsatz: Der Vertrakt des Zeichners: Wittgensteins Denken im Kontext der Metapherntheorie, in: Wittgenstein und die Metapher (siehe Anm. 3 oben). Wenn auch der Ausdruck »Metapher« in Aldrichs Aufsatz nicht vorkommt, wurde dieser durchaus passend wiederabgedruckt in dem Band Warren A. Shibles (Hg.): Essays on Metaphor, Whitewater, WI 1972, 93-103. 23 Siehe allerdings den kurzen Verweis auf Aldrich in Emmanuel Alloa: Seeing-as, Seeing-in, Seeing-with: Looking through Images, in: Richard Heinrich et al. (Hg.): Image and Imaging in Philosophy, Science, and the Arts. Proceedings of the 33rd International Ludwig Wittgenstein Symposium, Bd. 1, Heusenstamm bei Frankfurt 2011, 180.
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brichs Hinweis auf das Vexierbild Hase-Ente und auf dessen Auftauchen in den Philosophischen Untersuchungen, am Anfang des einleitenden Kapitels seines doch so einflußreichen Werkes Art and Illusion (1960),24 die Forschung sehr wohl auf den Gedanken bringen können, daß Wittgenstein etwas Wichtiges zu sagen hatte über das Problem der Bildbedeutung. Dennoch hatte Gombrich, anscheinend, überhaupt keine Wirkung auf die frühe Phase der Wittgenstein-Forschung, wie auch, eigenartigerweise, Richard Wollheims Buch Art and Its Objects (1968) nicht, in welchem der Autor den Wittgensteinschen Begriff vom »Sehen-als« ausdrücklich verwertete und weiter ausarbeitete. Noch ereignete sich ein Durchbruch mit Anthony Kennys 1973 veröffentlichtem Buch Wittgenstein, in welchem der Autor die Kontinuität zwischen Wittgensteins frühem und späterem Werk hervorhob und insbesondere betonte, daß, wenn auch die frühe Abbildtheorie vervollständigt werden muß, sie dennoch nicht falsch sei: »die Theorie der Bedeutung als des Gebrauchs [ist] eine Ergänzung, kein Konkurrent der Abbildtheorie«.25 Allerdings läßt sich Kennys Wahl des Wortes »Ergänzung« keineswegs so verstehen, als ob er in Wittgensteins Spätphilosophie eine Bildtheorie entdeckt und überlegenswert gefunden hätte. Tatsächlich hatte er in jenem Buch überhaupt nichts zu sagen zu den Ansichten des späteren Wittgenstein über physikalische oder mentale Bilder.26 Fast ein ganzes Jahrzehnt verging, bevor die erste Studie erschien, die sich in der Tat auf die Versuche
24 Siehe Anm. 7 oben, vgl. auch Kap. 2, S. 61 im gegenwärtigen Band. 25 Kenny: Wittgenstein, Frankfurt/M. 1974, 263. 26 Im selben Jahr in welchem sein Wittgenstein-Buch veröffentlicht wurde hat Kenny die Übersetzung der sogenannten Philosophischen Grammatik beendet. Wie man inzwischen weiß, ist die Philosophische Grammatik eine Fehledition von Wittgensteins TS 213 (die »Große Maschinenschrift«), durch Rush Rhees bewerkstelligt. Ich würde die Hypothese wagen, daß Kenny hier allzusehr unter die Wirkung der Wittgensteinschen Formel »Alles kann ein Bild von allem sein: wenn wir den Begriff des Bildes entsprechend ausdehnen« geraten ist (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Grammatik, Frankfurt/M. 1969, 163). Wittgenstein selbst hielt an dieser Formel nicht mehr lange fest; 1936 taucht sie zum letzten Mal in seinen Manuskripten auf. Kenny indessen ist von derselben noch 1993 beeinflußt, nämlich in seinem Buch über Aquinas, vgl. weiter unten, Kap. 4, S. 113.
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Wittgensteins bezog, eine Theorie von Bildern zu entwickeln: Søren Kjørups »Wittgenstein and the Philosophy of Pictorial Languages«, ein 1980 gehaltener Vortrag.27 »Pictures«, schrieb Kjørup, »always played an important role in the philosophical thought of Ludwig Wittgenstein. [...] Wittgenstein never went so far as to formulate an explicit philosophy of pictures or philosophy of pictorial languages in its own right. […] But from his many asides on pictures and his many examples drawn from our use of and experience with pictures one does get a rather clear impression of his implicit conception of pictorial languages. […] And at certain points he even discusses pictures so 28
straightforwardly and extensively that we come very close to an explicit theory.«
Kjørup schenkt in seinem Aufsatz ernsthafte Aufmerksamkeit Wittgensteins Versuchen – in den Philosophischen Untersuchungen, Teil II, Abschnitt XI – mit dem Umstand zurechtzukommen, daß Bilder in der Tat abbilden, daß sie durch natürliche Ähnlichkeit repräsentieren. Wittgenstein, wie sich Kjørup ausdrückt, leugne in den Philosophischen Untersuchungen keineswegs, daß es »eine Verbindung gibt zwischen Bildobjekten und wirklichen Objekten«; im Gegenteil, er behaupte, daß man sich etwa zu einem »Bildgesicht« in manchen Beziehungen so verhält, wie zu einem menschlichen Gesicht – Kjørup zitiert jene Wittgensteinsche Passage, die wir im gegenwärtigen Band bereits kennengelernt haben:29 » ›Ein Kind kann zum Bildmenschen, oder Bildtier reden, sie behandeln, wie es Puppen behandelt.‹ « Wittgenstein, meint Kjørup, »schreibt hier über unsere sehr unmittelbare und lebendige Beziehung zu Bildern: ›Wenn ich das Bild eines dahinjagenden Pferdes sehe, – weiß ich nur, daß diese Bewegungsart gemeint ist? Ist es Aberglaube, daß ich es im Bilde dahinjagen sehe?‹ « Wittgenstein, fährt Kjørup fort, »betont den Unterschied zwischen dem wirklichen Erleben eines Bildes und einem bloßen ›Lesen‹ desselben, wie etwa wenn man sagt: ›Von dem, der die Zeichnung als dies Tier sieht, werde ich mir manches andere erwarten, als von dem, der nur weiß, was sie darstellen
27 Siehe oben, Anm. 14. 28 Kjørup: Wittgenstein..., 159. 29 Vgl. oben, Kap. 1, S. 29.
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soll.‹ «30 Nachdem er aber diese Bemerkungen Wittgensteins einer eingehenden Prüfung unterzogen hat, findet Kjørup dieselben letzten Endes verfehlt. Demgegenüber begrüßt er die Wittgensteinsche Richtung, gemäß der »das Theoretisieren über Bilder sich nicht auf ›müßige‹ Bilder richten soll, sondern auf Bilder im Gebrauch«.31 Jener Philosoph, betont Kjørup, dessen Ansatz am meisten damit übereinstimmt, was dem späteren Wittgenstein wirklich vorschwebte, ist Nelson Goodman;32 und was dem späteren Wittgenstein wirklich vorschwebte, war die Ausarbeitung einer Gebrauchstheorie der Bilder. Die Perspektive, die Kjørup hier gewählt hat, beherrscht heute noch die Wittgenstein-Forschung.33 Der erste, der eine alternative Perspektive vorgeschlagen hat, scheint Baruch Blich gewesen zu sein, in seinem 1987 gehaltenen Kirchberger Vortrag » ›Natural Kinds‹ As a Kind of ›Family Resemblance‹ « .34 Die Richtung von Blichs Gedankengang wird gleich am Anfang des Vortrags durch einige ziemlich detaillierte Hinweise auf das Buch von William Ivins, Prints and Visual Communication35 bestimmt: Ivins macht auf die entscheidende Rolle aufmerksam, die die bildliche Darstellung in der wissenschaftlichen Erläuterung und Argumentation spielt, und auf die einseitige verbale Einstellung, an welcher die Philosophie jahrtausendelang gelitten hat, besaß sie doch keine visuellen Instrumente, und hatte folglich auch keine Möglichkeit, sich auf solche zu besinnen. Blich unterstreicht die Tat-
30 Kjørup, a. a. O., 168, vgl. Philosophische Untersuchungen, in: Ludwig Wittgenstein: Schriften, Frankfurt/M. 1960, 513 u. 516. 31 Kjørup, a. a. O., 171. – Wittgenstein spricht von »müßigen« Bildern in Teil I, §291, der Philosophischen Untersuchungen. 32 Kjørup, a. a. O., 167f. u. 172. 33 Kjørup hat hier tatsächlich einen Einfluß ausgeübt. Scholz, einer der führenden Vertretern der Idee, daß man Wittgenstein eine Gebrauchstheorie der Bilder zuschreiben sollte, weist in seinem Buch Bild, Darstellung, Zeichen (vgl. Anm. 16 oben) auf zwei Aufsätze Kjørups hin: George Inness and the Battle at Hastings, or Doing Things With Pictures, in: The Monist 58 (April 1974), 216235, und Pictorial Speech Acts, in: Erkenntnis 12 (1978), 55-71, allerdings ohne den Aufsatz Wittgenstein and the Philosophy of Pictorial Languages zu erwähnen. 34 Vgl. Anm. 15 oben. 35 William M. Ivins, Jr.: Prints and Visual Communication, Cambridge, MA 1953.
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sache, daß der spätere Wittgenstein, im Laufe seiner philosophischen Erörterungen, Bilder nicht nur verwendet, sondern auch verwertet: »sein Gebrauch der bildlichen Darstellung is weit mehr, als bloße Illustration, und ist gründlich eingebettet in seine philosophische Ausrichtung«.36 So wie Blich die Sache sieht, kann Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit uns zum Verständnis dessen helfen, wie denn ein abgebildeter Gegenstand und das Bild, das den Gegenstand abbildet, einander ähnlich sein können: »Language games and family resemblance […] play […] an important role, because only with the help of such understanding of language are we able not only to create a given context for identifying vague elements of pictures, but by expanding the language game we stretch our reality to include new things. […] Unless we could extend our language and apply words to pictures, one would not be able to grasp their relevance for reality, and this is true of simple pictures as well as of sophisticated pictures such as caricatures, impressionist paintings, cubist paintings etc.«
Dem fügt Blich noch eine durchaus folgenreiche Beobachtung hinzu, bemerkend, daß Wittgensteins »idea of language games and their place in constituting new meanings, new concepts etc. in a given language, can account for new and unconventional generalizations. Practically it means that a prediction or a generalization […] can from now on be expressed even by metaphorical expressions, similes and the like, not to mention pictures as such.«37 Blichs 1987 vorgetragener Aufsatz, obwohl von entscheidender Wichtigkeit, blieb ohne Wirkung.38 In einem Vortrag, den zwei Jahre später Karlheinz Lüdeking in Kirchberg hielt,39 berichtete er über die auffallenden Parallelen, die er zwischen Wittgenstein einerseits und René Magritte andererseits fand, letzterer »the one painter of classical modernity with a conspicuously Wittgensteinian attitude«.40 Lüdeking besprach Magritts »Les
36 Blich: »Natural Kinds«, 285. 37 Ebd., 288. 38 Der einzige Hinweis auf Blich, der mir bekannt ist, ist derjenige von Dieter Mersch, in seinem Wittgensteins Bilddenken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (Dezember 2006), 939, Anm. 2. 39 Siehe Anm. 19 oben. 40 Lüdeking: Picture-Theory, 312.
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mots et les images«, vorführend und analysierend eine beträchtliche Anzahl von Wörter-mit-Bildern Graphiken aus jener kleinen Abhandlung (aber keine Bilder aus Wittgensteins Werk); er präsentierte Magritte als einen Vorläufer von Goodman und stellte praktisch die Behauptung auf, daß die Ansichten des späteren Wittgenstein über bildliche Bedeutung ganz ähnlich denen von Goodman seien. Wittgenstein, schreibt Lüdeking, unterscheidet bereits in seiner Besprechung des Bildes der beiden Fechtenden41 zwischen dem, »what the picture shows from what it stands for. And what the picture stands for, he indicates, is not determined by its own structure but by our use of the picture. […] In a modified form we find the same thought in a much later remark about a picture of a different fighting sport in the footnote to paragraph 22 of the Philosophical lnvestigations. The picture shows a boxer, but what it represents, and even that it represents anything at all, can only be inferred from our use of it.«42 Lüdekind scheint nichts zu sagen zu haben in bezug auf Wittgensteins Analysen über die direkte, unvermittelte Wirkung, die Bilder auf uns ausüben können – Analysen, wie sie insbesondere in den Blue and Brown Books43 und eben in Abschnitt XI, Teil II, der Philosophischen Untersuchungen zutage treten. Ähnlich Oliver Scholz, der in seinem – insgesamt durchaus lohnenden – Buch Bild, Darstellung, Zeichen (1991)44 Wittgenstein eindeutig eine Gebrauchstheorie der Bilder zuschreibt, obwohl er ausführlich auf Passagen in dessen Schriften hinweist, die einem sehr wohl eine andere Konklusion nahelegen könnten. Nach Blichs Vortrag von 1987 ereignete sich mit Judith Genovas 1993 gehieltenen Kirchberger Vortrag »Wittgenstein on Thinking: Words or Pictures?«45 die nächste Möglichkeit eines wirklichen Durchbruchs. Den kognitionspsychologischen Hintergrund ihrer Wittgenstein-Deutung zusammenfassend, schrieb dort Genova: »From an evolutionary perspective perhaps pictures represent an older form of thinking, one surpassed but never eliminated by words. […] Whatever the history, neither language nor think-
41 Lüdeking weist hier auf Wittgensteins Tagebucheintrag vom 29. 9. 1914 hin. 42 Lüdeking: Picture-Theory, 316. 43 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M. 1970, siehe bes. 64, 153, 179 u. 252-266. 44 Vgl. Anm. 16 oben. 45 Vgl. Anm. 10 oben.
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ing can do without their supplement of pictures. To the extent that we think in language, we think in pictures.«46 Und so leitete sie ihren Vortrag ein: »contemporary epistemologists take words and pictures to be opposites. [...] most would concur that thinking is discursive, not pictorial. [...] Is thinking visual or verbal? – Wittgenstein’s radical response is neither or either[...] In one sense, thinking is neither picturing nor speaking, but something else again. […] In another sense, however, thinking is either picturing or speaking. There is a family resemblance between the activities allowing for an exchange between them.«
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Wörter, sagte Genova, rufen notwendigerweise Bilder hervor. Wie sie sich ausdrückte: »Pictures suffuse the speaking process. [...] they make meaning possible by wedding the abstract word to a sensory embodiment.«48 Wie auch Blichs früherer Vortrag, blieb Genovas Vortrag von 1993 ohne Echo.49 Im selben Jahr veröffentlichte das Bergener Wittgenstein-Archiv die als Meilenstein zu erachtende Zusammenstellung von Michael Biggs, »A Source Catalogue of the Published Diagrams«,50 eine Arbeit, die zum ersten Mal darauf aufmerksam machte, in welchem Ausmaß Wittgenstein »nicht-textuelles Material« verwendete.51 Der Katalog identifizierte 479 »graphische Elemente« in den bis zu jenem Zeitpunkt gedruckten Schriften Wittgensteins; der 1995 erschienene Aufsatz von Biggs, »Graphical Prob-
46 Genova: Wittgenstein on Thinking, 166. 47 Ebd., 163. 48 Ebd., 164. 49 Noch erweckte ihr 1995 erschienenes Buch Wittgenstein: A Way of Seeing nennenswerte Aufmerksamkeit. Ich fand es erfreulich, daß anläßlich des Kirchberger Wittgenstein-Symposiums 2010 Marianne Richter wiederholt auf Genovas Buch hinwies in ihrem Vortrag Methodologische Aspekte des Bildgebrauchs bei Wittgenstein, veröffentlicht im Band Elisabeth Nemeth, Richard Heinrich u. Wolfram Pichler (Hg.): Bild und Bildlichkeit in Philosophie, Wissenschaft und Kunst, 33. Internationales Wittgenstein Symposium, Kirchberg am Wechsel 2010, 271-273. 50 Vgl. Anm. 17 oben. 51 Die Doktorarbeit von Biggs, The Illustrated Wittgenstein, ein Werk reich an neuartigen Ideen und wichtigen bibliographischen Hinweisen, ist in Fachkreisen bedauerlicherweise unbekannt geblieben.
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lems in Wittgenstein’s Nachlaß«, brachte die Summe der veröffentlichten und unveröffentlichten graphischen Elemente auf 2500. Gegen Mitte der 1990er Jahre hätte das Bewußtsein dessen, daß der spätere Wittgenstein ein Philosoph nicht nur der Wortsprache, sondern auch der Bilder war, gewiß entstehen können. Tatsächlich entstand kein solches Bewußtsein. Der einflußreiche Autor W. J. T. Mitchell konnte in seinem 1994 erschienenen Buch Picture Theory immer noch von »Wittgensteins Ikonophobie und der allgemeinen Angst der Sprachphilosophie in bezug auf visuelle Darstellung« sprechen, diese allerdings als »ein sicheres Zeichen dessen« deuten, daß »eine piktorielle Wende stattfindet«, und auf Wittgenstein hinweisend vom »anscheinenden Paradox einer philosophischen Laufbahn« reden, »die mit einer ›Bildtheorie‹ der Bedeutung begann und mit dem Erscheinen einer Art von Ikonoklasmus endete, mit einer Kritik des bildlichen Denkens [imagery], welche ihn zum Aufgeben seines früheren Piktorialismus führte«.52 Demgegenüber sieht Gottfried Boehm in seinem im selben Jahr veröffentlichten wichtigen Aufsatz »Die Wiederkehr der Bilder«53 das von ihm als »ikonische Wendung« bezeichnete Ereignis als eine Folge eben des Werkes des späteren Wittgenstein. Es war letzten Endes Wittgenstein, betont Boehm, der, durch die Entdeckung des im Verbalen verborgenen Bildlichen, von der linguistischen Wende zu einer ikonischen fortschritt.54 Entscheidend ist Boehms Erkenntnis, daß der Wittgensteinsche Begriff der Familienähnlichkeit eine unvermeidlich visuelle Konnotation hat: Ähnlichkeiten springen ins Auge.55 Zum Ende dieser vorläufigen Narrative kommend möchte ich noch auf Andreas Rosers Aufsatz von 1996, »Gibt es autonome Bilder? Bemerkungen zum grafischen Werk Otto Neuraths und Ludwig Wittgensteins«56 hin-
52 W. J. T. Mitchell: Picture Theory, Chicago 1994, 12f. 53 Vgl. Anm. 18 oben. 54 »Wittgensteins Theorie bedeutet in der Geschichte der ›ikonischen Wendung‹ einen vorläufigen Endpunkt und insofern einen Durchbruch, als es die Befragung der Sprache war, welche der ihr innewohnenden Bildpotenz Nachdruck verschaffte, den linguistic turn in einen iconic turn überleitete« (Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, 14). 55 »Ähnlichkeiten stimulieren eine vergleichende Wahrnehmung, sie appellieren stärker ans Auge, als an den abstrakten Verstand«, ebd. 56 Vgl. Anm. 12 oben.
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weisen. Dieser Aufsatz trug wesentlich zum Erwecken meines Interesses für die Bildphilosophie des späteren Wittgenstein bei. Wittgensteins Methode, philosophische Fragen mit Hilfe von Diagrammen zu beleuchten, betont Roser, hätte keinen Sinn gehabt, wenn er wirklich der Meinung gewesen wäre, daß Bilder bloß durch eine wortsprachliche Interpretation eine eindeutige Bedeutung erhalten können. Rosers Argument ist, daß man nicht von verschiedenen Anwendungen desselben Bildes sprechen könnte, wenn man nicht zwischen dem Bild und seiner Anwendung unterscheiden würde. Natürlich ist bildliche Bedeutung nicht unabhängig von dem, wie wir Bilder gebrauchen. Sie ist aber auch nicht unabhängig von den fundamentalen Äquivalenzen zwischen einerseits der Struktur des Bildes und andererseits der Struktur dessen, was das Bild abbildet.
W ITTGENSTEINS B ILDPHILOSOPHIE Was ich in meinen 2000-2001 geschriebenen Aufsätzen über Wittgensteins Ansichten zu der Rolle von Bildern zu zeigen versuchte, war genau, daß diese Ansichten mit der Erkenntnis von Bildern als natürlichen Bedeutungsträgern verknüpft waren – also die Perspektive, die Kjørup 1980 in Erwägung zog und dann ablehnte. Ich wies, neben anderen Passagen in Wittgensteins veröffentlichten Schriften, auf jene im Blauen Buch hin, wo Wittgenstein auf die Möglichkeit von Bildern aufmerksam macht, die wir – wie er sich ausdrückt – nicht deuten, um sie zu verstehen, sondern die wir verstehen, ohne sie zu deuten. Es gibt, schreibt er, »Bilder, von denen wir sagen würden, daß wir sie deuten, das heißt, wir übersetzen sie in eine andere Art von Bild, um sie zu verstehen; und es gibt Bilder, von denen wir sagen würden, daß wir sie unmittelbar verstehen, ohne jede weitere Deutung.«57 Ich verweilte länger bei einigen entscheidenden Passagen im Braunen Buch, wo Wittgenstein, das Thema der Gesichtsausdrücke berührend, uns auffordert »den Ausdruck eines Gesichtes [zu] betrachten, das primitiv in dieser Weise gezeichnet ist«58:
57 Wittgenstein: Schriften, Bd. 5, 64. 58 Ebd., 251.
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Wir sollten dieses Gesicht, schreibt Wittgenstein, »einen Eindruck« auf uns machen lassen. Wir werden dann sagen: »Ich sehe doch nicht nur bloße Striche; ich sehe ein Gesicht mit einem bestimmten Ausdruck.« Wittgenstein will hier hervorheben, daß wir nicht wirklich zu erklären fähig sind, worin denn dieser bestimmte Ausdruck besteht. Wie er es formuliert: » ›Worte können es nicht genau beschreiben‹, sagt man manchmal. Und doch hat man das Gefühl, daß das, was man den Ausdruck des Gesichtes nennt, etwas ist, was man von der Zeichnung des Gesichts trennen kann. Es ist, als ob wir sagen könnten: ›Dieses Gesicht hat einen bestimmten Ausdruck, nämlich diesen‹ (indem man auf etwas zeigt). Doch wenn ich an dieser Stelle auf etwas zeigen müßte, so müßte es die Zeichnung sein, die ich ansehe.« Man hat hier ein Erlebnis, legt uns Wittgenstein nahe, das durch Worte nicht mitgeteilt werden kann; dasselbe kann jedoch vermittelt werden, wenn man auf eine Zeichnung zeigt. Es scheint, daß unser Kommunikationssystem unvollständig ist, wenn Bilder keine Rolle darin spielen.59 Wittgenstein beschreibt dann noch zwei andere Fälle, wo wir daran festhalten würden, daß wir nicht »bloße Striche« oder »bloßes Gekritzel« sehen. Erstens, wenn wir sagen »Dies ist ein Gesicht, und nicht bloße Striche«, unterscheidend, z. B.,
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Zweitens den Fall des Bilderrätsels, wenn z. B. »was beim ersten Blick als ›bloße Striche‹ erscheint, später als ein Gesicht erscheint. Wir sagen in solchen Fällen: ›Nun sehe ich es als ein Gesicht‹.« Wittgenstein betont, daß dieses »als ein Gesicht sehen« nicht irgendwelche Illusionen andeutet; im Gegenteil, es muß »verglichen werden mit dem Sehen dieser Zeichnung
59 Diese Schlußfolgerung wird einige Seiten später ausdrücklich ausgesprochen, siehe ebd., 266.
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entweder als einen Würfel oder als eine ebene Figur, die aus einem Quadrat und zwei Rhomben besteht.«60 Einige Seiten später experimentiert Wittgenstein mit der Idee, daß anstatt zu sagen, »Ich sehe dieses als ein Gesicht«, man eigentlich sagen sollte: »Ich sehe dieses nicht als ein Gesicht, ich sehe es so«. Man sollte nicht verbal beschreiben, worauf man einfach zeigen kann.61 Was in die verbale Sprache hier hätte eintreten sollen, ist ein nichtverbales, bildliches Zeichen. Dies ist die Schlußfolgerung, zu welcher der Gedankengang des Braunen Buches in der Tat führt. Und wir können jetzt erkennen, daß Wittgenstein in dem sog. Teil II der Philosophischen Untersuchungen eben zu diesem Gedankengang zurückkehrte. Nimmt man ein gemeinsames Studium von Teil II der Philosophischen Untersuchungen und vom Braunen Buch vor, kann man sich ein ziemlich gutes Bild davon machen, wie denn Wittgensteins Philosophie der Bilder hätte ausschauen können. Was nun Teil I der Philosophischen Untersuchungen betrifft, befand sich §450 unter den Passagen, die ich besonders hervorhob. Wittgenstein setzt hier das Vorstellen dessen, wie jemand ausschaut, mit einem Nachahmen der betreffenden Person in Parallele. Da das Nachahmen eine Art Sich-Erinnern an Ähnlichkeit ist, und da die Fähigkeit des Nachahmens in wesentlichen Aspekten grundlegender als die Fähigkeit des Sprechens ist, behauptet Wittgenstein hier eigentlich wieder einmal, daß gewisse visuelle Repräsentationen auch ohne Begleitung von Wörtern Bedeutungen vermitteln können. Ich habe auch auf das Auftauchen des Wortes »Bild« in dem 1945 verfaßten Vorwort der Untersuchungen aufmerksam gemacht: er hat ein Album hervorgebracht, schreibt dort Wittgenstein, das aus immer neuen Bildern derselben Punkte besteht.62 Das Wort »Bild« ist hier eine Metapher; aber diese Metapher, die in der 1938er Variante des Vorwortes noch gänzlich fehlte, ist durchaus ausgearbeitet – der Autor bezeichnet sich als einen schwachen Zeichner, spricht vom Beschneiden von Bildern und
60 Ebd., 252f. u. 266. 61 Ebd., 262. 62 Das Wort »Bild« kommt in dem hier erörterten Abschnitt zweimal vor, die englische Ausgabe – die doch in der Geschichte der Wittgenstein-Rezeption entscheidend war – übersetzt aber nur die zweite Stelle als »picture«. Die erste Stelle, »immer neue Bilder entworfen«, wird als »new sketches made« wiedergegeben.
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von Landschaftsskizzen. Ich finde es signifikant, daß in MS 130, wo auf S. 22 der Ausdruck »Album« das erste Mal vorkommt, auf die entsprechende Passage sogleich eine interessante Reihe von Bildern folgt: Zeichnungen, die sich auf das Problem des Sehen-als beziehen (siehe Abbildungen 1 und 2). Abbildung 1: »Verschiedene Auffassungen einer Figur«
Quelle: Wittgensteins Nachlaß, MS 130, 22
Abbildung 2: »Eine Reihe charakteristischer Auffassungen derselben Figur«
Quelle: Wittgensteins Nachlaß, MS 130, 23
Dies ist eines der unzähligen Stellen, wo ein Blick auf den Kontext im handschriftlichen Nachlaß dem eine zusätzliche Bedeutung hinzufügt, was Wittgenstein in der gedruckten Version sagt. Wittgensteins gedruckte Schriften bieten eine reiche Sammlung von wichtigen Gedanken in bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Bilder, auf bildliche Bedeutung und bildliche Kommunikation. Diese Gedanken schließen sich aber, wie ich dies in meinen Aufsätzen 2000-2001 zu zeigen versuchte, zu keiner einheitlichen Philosophie der Bilder zusammen, wie ja der spätere Wittgenstein in keiner Phase seines Schaffens überhaupt eine einheitliche Philosophie besaß. Er hatte bedeutsame Einsichten, jedoch keine klaren Ansichten darüber, worin denn seine Probleme in der Tat bestanden, bzw. was er denn eigentlich erreichen wollte. So kam es, daß er oft Ideen verwarf, welche seine heuti-
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gen Interpreten für vielversprechend halten können; während gar manche Ideen, zu denen er immer wieder zurückkehrte, niemals in gedruckter Form veröffentlicht wurden. Keiner, der aus Wittgensteins Einsichten eine wirkliche Philosophie der Bilder aufzubauen bemüht ist, kann es sich leisten, den vollständigen Nachlaß außer acht zu lassen; und ich habe 2000-2001 auch einige Beispiele dafür gegeben, wie denn ein Arbeiten mit dem Nachlaß aus dieser Perspektive ausschauen könnte. Es gibt allerdings einen Block des Wittgensteinschen Korpus, den ich in Betracht hätte ziehen müssen, dies aber nicht tat: Nämlich die von Cyril Barrett herausgegebenen Gesprächsnotizen aus dem Jahr 1938.63 Ich habe hier keinen Raum, diese Unterlassung wiedergutzumachen. Aber ich erlaube mir auf zwei wirklich außerordentliche Stellen aufmerksam zu machen. Erstens die Passage »Ich erinnere mich daran, wie ich auf einer Straße entlang ging und mir sagte: ›Ich gehe jetzt genau wie Russell.‹ Man könnte sagen, das war eine kinästhetische Empfindung. Sehr seltsam. – Jemand, der eines anderen Gesicht imitiert, tut das nicht vor einem Spiegel.«64 Imitieren, eine Ähnlichkeit erzeugen, legt Wittgenstein seinen Studenten nahe, ist eine primordial motorische Angelegenheit. Sie hat ganz gewiß nichts zu tun mit Regeln oder Konventionen.
63 Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, hrsg. v. Cyril Barrett, übersetzt v. Ralf Funke, Frankfurt/M. 2000. Es war der Titel des Vortrags von Martin Kusch: The Concept of Picture in Wittgenstein’s »Lectures on Religious Belief«, wie angekündigt im Vorschau auf das Kirchberger Symposium 2010, das mich aufmerksam machte auf die Relevanz dieses Bandes für ein vollständigeres Verständnis von Wittgensteins Bildphilosophie. 64 Wittgentein: Vorlesungen und Gespräche, 58. In Wittgensteins Manuskripten kommt zwei Jahre später die Formulierung vor (MS 123, 20 r/v): »Wissen wie jemand geht: es sich vorstellen können – aber auch: es nachmachen können. Muß man sichs vorstellen, um es nachzumachen? Und ist es nachmachen nicht ebenso stark, als es sich vorstellen?« Gegen 1944 lautet dies dann (MS 129, 181f., vgl. den Hinweis auf PU §450 oben): »Wissen, wie jemand geht /ausschaut/: es sich vorstellen können – aber auch: es nachmachen /ahmen/ können. Muß man sich’s vorstellen, um es nachzumachen? Und ist es nachmachen /ahmen/ nicht ebenso stark, als es sich vorstellen?«
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Die zweite Passage: Das Eingeständnis dessen, daß es beim Abbilden letzten Endes doch selbstverständlich um Ähnlichkeit geht. Wie in aller Welt könnte sonst die Abbildung funktionieren? Wittgenstein überlegt sich, wodurch denn unsere Gedanken sich auf die Person beziehen, an die wir denken – wenn ich an meinen Bruder in Amerika denke, wodurch wird mein Gedanke zu einem Gedanken an meinen Bruder? – und ob wohl Porträts sich dadurch auf die dargestellte Person beziehen, daß sie der Person ähnlich sind? »Wenn ich die Angelegenheit des Ähnlichsehens [als Kriterium] aufgebe, dann begebe ich mich in einen schlimmen Schlamassel, denn dann kann, eine bestimmte Methode der Projektion vorausgesetzt, alles sein Portrait sein. […] Wenn du gefragt wirst: ›Woher weißt du, daß es ein Gedanke über dies und das ist?‹, dann ist der Gedanke, der dir sofort kommt, der eines Schattens, eines Bildes. Man denkt nicht an eine kausale Relation. Die Art von Relation, an die du denkst, kann am besten mit ›Schatten‹ oder ›Bild‹ ausgedrückt werden. – Das Wort ›Bild‹ «
– macht hier Wittgenstein die Zwischenbemerkung – »ist sogar ganz richtig, in vielen Fällen ist es sogar selbst im gewöhnlichsten Sinn ein Bild. Man könnte meine eigenen Worte in ein Bild übersetzen. – Aber der Punkt ist: angenommen du würdest [dieses Bild] zeichnen, wodurch weiß ich, daß es mein Bruder in Amerika ist? Wer sagt, daß er es sei – es sei denn dies ist eine gewöhnliche Ähnlichkeit?«65
M ETAPHER : D ER S TOLPERSTEIN VON W ITTGENSTEINS S PÄTPHILOSOPHIE Eine hochinteressante Zeichnung Wittgensteins befindet sich auf S. 159 von MS 107, eine Bemerkung am 10. Nov. 1929 zu Papier gebracht illustrierend:
65 Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche, 90f. Für »Ähnlichsehen« steht im englischen Original: »being like«. Die zwei letzten Sätze der zitierten Passage fehlen in der deutschen Ausgabe.
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»Das Unmittelbare ist im ständigen Fluß. (Es hat tatsächlich die Form eines Stroms.) – Es ist ganz klar, daß wenn man hier das Letzte sagen will man eben auf die Grenze der Sprache kommen muß, die es ausdrückt.« Es ist bemerkenswert, daß Wittgenstein sich in der Lage fand, etwas in einer Zeichnung zumindest anzudeuten, wovon er uns nahelegte, daß man darüber nichts sagen könne. Was er allerdings in dieser Übergangsphase seiner Philosophie als eine Grenze der Sprache sah, betrachtete er bald einfach als eine Verlockung derselben. Wie Wittgenstein 1932 seinen Studenten in Cambridge sagte, bloß weil ein Satz »englisch klingt«,66 halten wir ihn für sinnvoll: »So reden wir z. B. vom Fluß der Zeit und halten es für verständlich, wenn man, der Analogie mit den Flüssen folgend, vom Fließen der Zeit spricht. […] Aus der Erörterung des ›Flusses der Zeit‹ geht hervor, wie philosophische Probleme entstehen. Philosophische Schwierigkeiten werden dadurch verursacht, daß man die Sprache nicht praktisch verwendet, sondern sie […] erweitert. […] Wir bilden Sätze und fra67
gen uns dann, was sie wohl bedeuten mögen.«
Ähnlich im Braunen Buch, wo – die Frage vom Fluß der Zeit kommentierend – Wittgenstein sagt: »It is clear that this question most easily arises if we are preoccupied with cases in which there are things flowing by us, – as logs of wood float down a river. […] We then use this situation as a simile for all happening in time and even embody the simile in our language, as when we say ›the present event passes by‹ (a log passes
66 Wittgenstein’s Lectures: Cambridge, 1932-1935, hrsg. v. Alice Ambrose, Oxford 1979, 13. 67 Wittgenstein: Vorlesungen 1930-1935 (siehe Anm. 5 oben), 163 u. 165.
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by), ›the future event is to come‹ (a log is to come). We talk about the flow of events; but also about the flow of time – the river on which the logs travel.«
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Eine Erweiterung der Sprache durch das Anwenden von Analogien und Gleichnissen – das Problem, das Wittgenstein hier umkreist, ist das Problem der Metapher. Die Metapher des Flusses der Zeit, meint er, ist eine philosophisch gefährliche, die wir vermeiden können, wenn wir uns nicht von der alltäglichen – »praktischen« – Sprache entfernen. Doch scheint hier Wittgenstein nicht wirklich überzeugend zu argumentieren. Weder beweist er, daß diese Metapher unumgänglich philosophische Gefahren birgt, noch zeigt er, daß die alltägliche Sprache keinen spontanen Gebrauch von ihr macht.69 Und ich glaube, daß dieses Beispiel symptomatisch für Wittgen-
68 Wittgenstein: The Brown Book, 107f. Und eine hochinteressante Nachlaß-Passage, die ungefähr zur selben Zeit verfaßt wurde: »wenn uns beim Nachdenken über die Zeit das Bild des Vorüberfließens gefangen hält[...] Wie etwa, wenn wir an einem Fluß stehen auf dem Holz geflößt wird: die Stämme ziehen an uns vorüber; die, welche vorüber sind, sind alle rechts von uns, die noch kommen, sind links. [...] Wir sprechen vom Lauf der Ereignisse, aber auch vom Laufe der Zeit, – des Flusses, auf dem die Stämme vorbeischwimmen. (›Die Zeit ist da‹, ›die Zeit ist längst vorbei‹, ›es kommt die Zeit‹, etc., etc.) Und so kann mit dem Wort ›Zeit‹ das Bild eines ätherischen Flusses untrennbar verbunden sein, mit den Worten ›Vergangenheit‹ & ›Zukunft‹ das Bild von Gebieten, Ländern, aus deren einem die Ereignisse in das andre ziehen. Und doch können wir natürlich keinen solchen Strom finden & keine solchen Örter. Die Grammatik unserer Sprache läßt eben Fragen zu, zu denen es keine Antwort gibt. Und sie verleitet uns zu ihnen durch die Bildhaftigkeit des Ausdrucks. Eine Analogie hat unser Denken gefangen genommen & schleppt es unwiderstehlich mit sich fort« (MS 115, 172). 69 Glänzend argumentiert hier Walter Mesch. Wie er schreibt: »die Rede vom Vergehen, Verrinnen oder Verfliegen der Zeit [findet] bereits in der gewöhnlichen Sprache in vielen Varianten Verwendung[...] Dies dürfte kaum zu verstehen sein, wenn darin nicht irgendwelchen Erfahrungen Ausdruck verliehen wäre, die man im gewöhnlichen Leben machen kann. […] Bei der Rede vom Fluss der Erscheinung oder Zeit scheint es sich nicht um eine falsche Verwendung der Sprache handeln zu können, die erst dann auftritt, wenn wir philosophieren. Wenn hier etwas zu kritisieren ist, scheint die Kritik auch auf den gewöhnlichen
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steins Lage ist. Wie ich darauf am Anfang des gegenwärtigen Kapitels hingewiesen habe, stellt, allgemein gesprochen, die Metapher ein Problem dar, mit dem der spätere Wittgenstein letzten Endes nicht zurecht kommen konnte. Die Literatur über Wittgenstein und die Metapher ist reich, aber befremdend diskontinuierlich. Aus der Sicht des gegenwärtigen Kapitels ist die wichtigste Arbeit hier das 1967 erschienene Buch von Marcus Hester, The Meaning of Poetic Metaphor: An Analysis in the Light of Wittgenstein’s Claim that Meaning Is Use.70 Hester liefert eine geschichtliche Übersicht der Metapherntheorie, beginnend freilich mit Aristoteles, mit Ausblick auf, unter vielen anderen, I. A. Richards, René Wellek, Austin Warren, Max Black, und Rom Harré. Er bemerkt, daß Wittgenstein »fast nichts über die Frage der Metapher geschrieben hat«71 (dies ist eine Beobachtung, die die spätere Wittgenstein-Forschung ausnahmslos und wiederholt machen wird, sie ist aber tatsächlich falsch, insbesondere wenn der ganze Nachlaß in Betracht gezogen wird); er nimmt zur Kenntnis (und übertreibt, wie die Hauptströmung der Wittgenstein-Forschung es bis zum heutigen Tag tut) Wittgensteins »Angriff auf innere Bilder«72, wobei er allerdings dahingehend argumentiert, daß sich Wittgenstein an diesem Punkt irrt: Die Sprache, und nicht bloß die poetische Sprache, beruht durchaus auf visuellen geistigen Bildern.73 Hesters Standpunkt: aufbauend einerseits auf Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung und andererseits auf die Erkenntnis, daß zum Sprachgebrauch tatsächlich auch das Hervorrufen von
Sprachgebrauch bezogen werden zu müssen; und dies kann für jemanden, der seine Hauptaufgabe darin sieht, gegen die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten des philosophischen Sprachgebrauchs auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch zu verweisen, keineswegs unproblematisch sein. Es sieht so aus, als drohten sich Wittgensteins Einsichten gegen ihn selbst zu wenden.« (Mesch: Die Metaphern vom Vergehen und vom Fluss der Zeit: Überlegungen im Anschluss an eine Bemerkung Wittgensteins, in: Wittgenstein und die Metapher [vgl. Anm. 3 oben], 273 u. 277.) 70 Vgl. Anm. 22 oben. 71 Hester: The Meaning of Poetic Metaphor, 31. 72 Ebd., 37ff., siehe auch 34. 73 Ebd., 69, 92, 96 u. bes. 133ff.
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Bildern gehört,74 kann eine Metapherntheorie verteidigt werden, die an der Rolle des imagistischen Denkens festhält,75 indessen aber anscheinend unannehmbar für Wittgenstein wäre.76 Hesters Ansichten, wie er sie Mitte der 1960er Jahre formuliert hatte, mußten einen durchaus exotischen Eindruck auf die Philosophengemeinschaft gemacht haben. Mein Eindruck ist, daß sein hervorragendes Buch größtenteils ohne Einfluß geblieben ist. Es gab eine bemerkenswerte Ausnahme: Paul Ricœur, in seiner Arbeit La métaphore vive,77 1975, besprach eingehend, und akzeptierte sogar zu einem gewissen Grad, die von Hester zwischen Bild und Metapher entdeckte Verbindung. Und Ricœurs Werk wurde freilich in einem weiten Kreis gelesen und zitiert. Seine Hinweise auf Hester blieben indessen unbemerkt. Jerry Gill, in seinem Buch Wittgenstein and Metaphor78 anerkennt zwar Ricœur, ist sich aber Hesters nicht bewußt. Er betont, daß obwohl Wittgenstein offensichtlich keine explizite Metapherntheorie besaß, »es ebenso offensichtlich ist, […] daß seine Schriften eine implizite Ansicht enthalten über die Natur und Signifikanz der metaphorischen Rede«. Hintergrund dieser impliziten Ansicht ist, daß der Begriff der Sprache, wie in den Untersuchungen dargelegt, »is congenial to the notion of metaphoric meaning by reason of its stress on the flexibility and functionality of linguistic phenomena. […] Wittgenstein’s use of metaphor embodies a view of metaphor as both primordial and cognitive.« Und dennoch, schreibt Gill, »the literature on the role of metaphor in Wittgenstein’s Philosophical Investigations is virtually non-existent«.79 Die hauptsächliche Bedeutung von Wittgensteins Werk für die Philosophie, meint Gill, »lies in his suggestion that at the most fundamental level philosophy is a metaphorical enterprise«. Aber Gill behauptet auch, und er scheint hier keine Spannung zu empfinden, daß »Wittgenstein relies most
74 Ebd., 98f. u. 113. 75 Ebd., 39, 111 u. 176f. 76 Ebd., 23f., 96, 108, 113 u. 191. 77 Deutsche Ausgabe: Die lebendige Metapher, München 1986. 78 Jerry H. Gill: Wittgenstein and Metaphor (1981; neue und verbesserte Ausgabe, Atlantic Highlands, NJ 1996). Ein erster Entwurf war Jerry H. Gill: Wittgenstein and Metaphor, in: Philosophy and Phenomenological Research 40 (1979), 272284. 79 Gill: Wittgenstein and Metaphor, 82.
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heavily upon the metaphoric mode, especially as it constitutes the heart of everyday speech, because it is at the practical level of existence that we are closest to the bedrock of our form of life«.80 Während Gill nicht von Hester wußte, wissen die Autoren des 2004 erschienenen Bandes Wittgenstein und die Metapher81 weder von Hester noch von Gill. Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort schreiben: Obwohl das Thema der Metapher in der analytischen Philosophie umfangreich diskutiert wurde und obwohl die Geisteswissenschaften dem Gebrauch der metaphorischen Sprache in den Texten von manchen führenden Philosophen des 20. Jahrhunderts eine detaillierte Aufmerksamkeit widmeten, wurde nichts Ähnliches in bezug auf Wittgensteins Philosophie versucht. Auch weisen die Herausgeber darauf hin, daß es zwar zahlreiche Stellen in Wittgensteins späteren Schriften gibt, die für seine Philosophie durchaus die Frage aufwerfen, wie man denn die Grenze zwischen eigentlichem und übertragenem sprachlichem Gebrauch ziehen solle, man »[e]ine Theorie der Metapher oder Ansätze dazu […] in Wittgensteins Werk […] vergeblich suchen [wird]«.82 Einer der Autoren des Bandes, Matthias Kroß, in seinem Kapitel »Die Selbstverständlichkeit der Metapher: Wittgensteins Entspannung eines sprachphilosophischen Problems«, bemerkt wieder einmal, daß sich »Wittgenstein so gut wie niemals explizit zur Metapher geäußert hat«, während seine Überlegungen zum Sprachspiel und zur Familienähnlichkeit von Begriffen eine deutliche Implikation haben: es »verbietet […] sich, in einem grundsätzlichen Sinne noch von einer ›originären‹ und einer ›abgeleiteten‹ Bedeutung eines sprachlichen Elements zu sprechen«. Einige Seiten später kommt Kroß zu der Feststellung, daß »Wittgensteins Ausgangsthese« eben dies ist: »die seit ihrem Bestehen unlösbar gebliebenen Probleme der Philosophie auf eine sprachliche Fehlleistung zurückzuführen, die in einer spezifischen Übertragung eines Sprachgebrauchs von einer Sphäre in eine andere besteht«.83 Doch an dieser Stelle, mich dem Schluß des gegenwärtigen Kapitels nähernd, kann ich nicht vermeiden, die Frage dazwischenzuwerfen: Warum sollte denn jene Übertragung als eine Fehlleistung gelten? Kroß zeigt hier sozusagen einen Widerspruch in Wittgensteins Spät-
80 Ebd., 99, 108f., 128 u. 130. 81 Vgl. Anm. 3 oben. 82 Wittgenstein und die Metapher, 11f. 83 Ebd., 31f. u. 34.
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philosophie auf; aber er scheint nicht zu merken, daß er das tut. Zwei Autoren desselben Bandes, die diesen Widerspruch wohl sehen, sind Walter Mesch, der Wittgensteins Behandlung der Metapher vom Fluß der Zeit nicht überzeugend findet,84 und Rüdiger Zill,85 hinweisend auf eine frühe Studie von Warren Shibles, in welchem dieser auf die Unstimmigkeiten in Wittgensteins Haltung in bezug auf das Problem Metapher aufmerksam machte.86 Shibles stimmt der Ansicht zu, daß die Sprache in erster Linie metaphorisch ist. Wittgenstein meint allerdings, wie Shibles schreibt, daß »während sich ein Sprachspiel verändern kann, wir versuchen müssen, bei den buchstäblichen, ursprünglichen Sprachspielen zu verharren, die wir gelernt haben. […] Wittgenstein spielt den Begriff der Metapher herunter, und konzentriert sich stattdessen darauf, die Sprache auf die Gestalt zurückzuführen, die er ›alltägliche‹ Sprache nennt. Dies Herunterspielen der Metapher stimmt allerdings nur mit seinen expliziten Aussagen überein. In der tatsächlichen Praxis ist Wittgenstein, wie wir das anhand seines Präsentations- und Argumentierungsstils erkennen können, ein Meister der Erkenntnisgewinnung durch den Gebrauch von Analogie, Metapher, und 87
verblüffenden Nebeneinanderstellungen.«
Shibles empfindet hier Spannung auf zwei Ebenen. An der Oberfläche sieht er eine Spannung zwischen einerseits der Tatsache, daß Wittgenstein der Metapher keine theoretische Bedeutung zuspricht und andererseits Metaphern überreich verwendet. Auf einer fundamentaleren Ebene zeigt sich der glatte Widerspruch zwischen Wittgensteins Behauptung, daß die alltägliche Sprache einen primordial buchstäblichen Charakter hat, und der Betonung der Vielfalt und Flexibilität von Sprachspielen.88 Es ist nun überhaupt nicht
84 Vgl. Anm. 69 oben. 85 Vgl. Anm. 22 oben. 86 Zills Hinweis auf Shibles findet sich auf Seite 162f. des Bandes Wittgenstein und die Metapher. 87 Warren A. Shibles: Wittgenstein, Language and Philosophy, Dubuque, IA 1969, 2f. 88 Dies ist die »Inkompatibilität«, glaube ich, auf die Joachim Schulte letzten Endes hinweist in seinem Aufsatz Wittgenstein’s Notion of Secondary Meaning
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der Fall, daß das Problem der Metapher Wittgenstein nicht beschäftigte. Besonders MS 150 (1935-36), MS 152 (1936) und die späteren Teile von MS 115 (1936) bieten ein reiches Material zum Fragenkreis »eigentliche Bedeutung« und »übertragene Bedeutung«. 1947 trug Wittgenstein eine vielsagende Passage in sein Notizheft ein: »Es ist aber doch wichtig, daß […] man die Sorge mit den Worten beschreiben kann ›Ewiges Düstre steigt herunter‹. Ich habe vielleicht die Wichtigkeit dieses Paraphrasierens nie genügend betont. – Man stelle die Freude dar durch ein lichtumflossenes Gesicht, durch Strahlen, die von ihm ausgehen.«89 Wittgensteins Problem war, daß es ihm nicht gelungen ist, seine Gedanken über Metaphern, ja seine Gedanken über Metaphern und Bilder, mit der Haupttendenz von TS 227 (dem sogenannten »Teil I« der sogenannten »Philosophischen Untersuchungen«) in Einklang zu bringen. Es war diese Unstimmigkeit, glaube ich, die es ihm unmöglich machte, seine Spätphilosophie abzurunden.
and Davidson’s Account of Metaphor – a Comparison, in: Grazer Philosophische Studien 36 (1989), 145. 89 MS 134, 52. Der erste Teil dieser Passage wurde als §517 von Zettel veröffentlicht.
4 Bilder in der natürlichen Theologie
E INLEITUNG Im Hintergrund dieses Kapitels steht die Schlüsselvoraussetzung, daß das menschliche Denken sowohl eine verbale als auch eine perzeptuelle Dimension hat, wobei die perzeptuelle, in erster Linie die visuelle Dimension die ursprüngliche und grundlegende ist. Ich werde für diese Voraussetzung hier nicht argumentieren, habe ich das doch in zahlreichen früheren Aufsätzen getan. Von diesen erlaube ich mir an zwei, im gegenwärtigen Band bereits des öfteren angeführte Studien zu erinnern: Erstens an meinen im Jahre 2000 gehaltenen Vortrag »The Picture Theory of Reason«,1 wo ich einerseits die Ergebnisse der zeitgenössischen Kognitionspsychologie, insbesondere den sog. Dualkodierungsansatz von Allan Paivio verwertete, andererseits aber jene Argumente, die H. H. Price ausgearbeitet hatte in seinem Thinking and Experience, ein selten erwähntes Buch dieses ansonsten wohlbekannten Oxforder Philosophen. Zweitens an meinen Aufsatz »Wittgensteins Philosophie der Bilder«,2 in welchem ich gegen die Hauptströmungsansicht Stellung nahm, laut der Bilder in des späteren Wittgensteins Sicht nur kraft verbaler Interpretation eine Bedeutung gewinnen. Wittgenstein, versuchte ich zu zeigen, war der Auffassung, daß mentale Tätigkeit sowohl mit Wörtern als auch mit visuellen inneren Bildern zu tun hat, daß
1
In: Berit Brogaard u. Barry Smith (Hg.): Rationality and Irrationality, Wien 2001, 242-266.
2
In: Wilhelm Lütterfelds (Hg.): Erinnerung an Wittgenstein, Frankfurt/M. 2004, 127-148.
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verbale und visuelle Vorstellungen miteinander verflochten funktionieren, und daß es durchaus Fälle gibt, wo das Verstehen eines Bildes vom Sprachgebrauch völlig unabhängig ist. Die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts machte kurzen Prozeß mit Bildern, ob mentale oder physische. Und das Nachsinnen über die unentbehrliche Rolle der Bilder im menschlichen Erkennen war freilich niemals eine charakteristische Beschäftigung von Religionsphilosophien in der jüdisch-christlichen Tradition. Allerdings gab es und gibt es bemerkenswerte Ausnahmen. Thomas von Aquin übernahm und entwickelte die Aristotelische These, laut der »die Seele niemals ohne Vorstellungsbilder [ijĮȞIJȐıȝĮIJĮ] denkt«,3 und ich gehe davon aus, daß eine enge Verwandtschaft besteht zwischen dem Phantasma-Begriff des Thomas und unserem Begriff von mentalen Bildern.4 Augustins Idee von geistigen Bildern, die – ich verwende hier eine Formulierung Heideggers – teils »von den materiellen Körpern außen«, teils »vom eigenen Leibinneren« kommen,5 wurde zu einem der Kernbegriffe von Meister Eckharts Denken.6 Und wie Luther sagte: wir können »nichts ohne Bilder denken noch verstehen«.7 Näher unserem eige-
3
Aristoteles: De anima, 431a. Hier zitiert nach Aristoteles: Über die Seele, über-
4
Wie sich Anthony Kenny ausdrückt in seinem Aquinas on Mind: »Clearly a
setzt v. Willy Theiler, Berlin 1986, 61. phantasm is something like a mental image«, wenn auch »the two do not seem to be entirely equivalent« (London 1993, 37). Oder wie Eleonore Stump schreibt: »phantasms are similitudes of particular things«, wodurch Thomas zur Aussage berechtigt ist, daß » ›when something appears to us in accordance with phantasia, we are as if we were regarding something in a picture‹ « (Stump: Aquinas, London 2003, 257 u. 259). 5
Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, Gesamtausgabe Bd.
6
Vgl. Meister Eckhart: Werke I, Frankfurt/M. 2008, 907ff.
7
Osterpredigt 1532, siehe D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe,
60, Frankfurt/M. 1995, 183.
Bd. 37, Weimar 1910, 63. Ich bin Gábor Ittzés verbunden für wertvolle Auskünfte in bezug auf den Kontext und die genaue Datierung dieser Predigt. Wichtige Erörterungen zu Luthers Bildauffassung enthält die im Erscheinen begriffene Studie von Ittzés Üdvképek, szentségek és a szentek közössége: Teológiai súlypontok Luther meghalásra felkészítĘ sermójában [Gnadenbilder, Sakramente und die Gemeinschaft der Heiligen: Theologische Schwerpunkte in Luthers
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nen Zeitalter deutet Kardinal Newman, in seinem zuerst 1870 erschienenen Grammar of Assent, Erinnerungsbilder als »reflections of things in a mental mirror«, als »facsimiles of facts«,8 und weist darauf hin, daß mentale Bilder eine psychologische Macht besitzen, die bloße Begriffe nicht haben. Der anglikanische Theologe und Philosoph Austin Farrer, in seinem 1943 veröffentlichten Buch Finite and Infinite den Begriff der Phantasmen aufgreifend, interpretierte das »konkrete Phantasma« als »ein konkretes Bild, wenn auch skizzenhaft«, unterstrich jedoch, daß es »Fälle gibt, wo das Bild so explizit ist wie nur irgend möglich«.9 Romano Guardini, einer der einflußreichsten katholischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts, betont in seinem 1950 erschienenen Essay Die Sinne und die religiöse Erkenntnis die Rolle, welche Bilder »in der Tiefe des Unbewußten« spielen, in einer Weise der »Bereitschaft«: »eine kurze Berührung mit der äußeren Wirklichkeit genügt, um sie sich bilden zu lassen«. Der Mensch, schreibt Guardini, ist entscheidend auf Bilder angewiesen, »sein inneres Wesen kann im Letzten […] nur aus Bildern leben«.10 Ein anderer führender katholischer Denker, Karl Rahner, hielt 1983 einen Vortrag über die Theologie der Bilder, in welchem er auf die Formel conversio ad phantasma des Thomas zurückweisend hervorhob, daß »die traditionelle christliche Anthropologie immer und immer deutlicher daran festgehalten [hat], daß Sinnlichkeit und geistige Erkenntnis im Menschen eine Einheit bilden, daß auch alle geistige Erkenntnis, so sublim sie sein mag, immer nur ursprünglich in Gang gesetzt, mit Inhaltlichkeit erfüllt wird von der sinnlichen Erfahrung her«.11 Der russisch-orthodoxe Theologe Paul Evdokimov unterstrich in sei-
Sermon von der Bereitung zum Sterben] in der Zeitschrift Református Szemle (2012/2). 8
John Henry Newman: An Essay in Aid of a Grammar of Assent, London 1881, 23f.
9
Austin Farrer: Finite and Infinite: A Philosophical Essay, Westminster 1943, 125.
10 Romano Guardini: Die Sinne und die religiöse Erkenntnis, Würzburg 1950, 65. 11 Karl Rahner: Zur Theologie des Bildes, in: Halbjahreshefte der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst (München) 3 (1983), 5, 2-8, hier: 2; siehe auch die umgearbeitete Fassung in Karl Rahner: Sämtliche Werke, Bd. 30, Anstöße systematischer Theologie: Beiträge zur Fundamentalontologie und Dogmatik, Freiburg 2009, hier: 472.
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nem 1972 veröffentlichtem Buch L’Art de L’Icône, »daß das Visuelle und das Intelligible eine innige Einheit miteinander bilden; daß das Wort und das Bild aufs Engste verbunden sind«.12 Von lutheranischer Seite erinnerte Rainer Volp in seinem Eintrag »Das Bild als Grundkategorie der Theologie« in der Theologischen Realenzyklopädie, 1980, an Schleiermachers Ansicht, laut der »in jedem wirklichen Denken Bilder mitgesetzt sind«.13 Eine jüngere Arbeit mit lutheranischem Hintergrund ist Sigurd Bergmanns Buch In the Beginning Is the Icon. »Die Theologie«, schreibt hier Bergmann, »muß es lernen, die Einzigartigkeit und Autonomie des visuellen Mediums zu verstehen. Das Bild besitzt eine einzigartige Kraft/Macht, die darin besteht, daß es mit äußeren Mitteln innere Bilder schaffen kann und so unsere Fähigkeiten zur Einbildung/Imagination und zum Handeln im Spannungsfeld zwischen inneren Landschaften und äußeren Umgebungen beeinflussen kann.«14 Und in einem vor wenigen Jahren erschienenen Band, David Gelernters Judaism: A Way of Being, trifft man auf folgende Formulierung: »Images are the stuff of thought. […] we spend much of our mental lives […] wrapped up in imagery, beyond the reach of language.«15 Nun sind Judaismus und Christentum freilich Buchreligionen. Man hat Grund zur Annahme, daß die religiösen Gefühle und Erfahrungen von Gläubigen, die in einer Welt von heiligen Texten erzogen wurden, durch verbale Bilder gefärbt, ja gestaltet sind; hier werden visuelle Perzeption und innere Bilder notwendigerweise von früheren textuellen Erlebnissen beeinflußt, filtriert und modifiziert. Demgegenüber sollte jene primordiale religiöse Erfahrung, auf die sich besonders William James konzentrierte,16 ja
12 Paul Evdokimov: L’Art de L’Icône: Théologie de la Beauté, Paris 1972, hier angeführt nach der Übersetzung The Art of the Icon: A Theology of Beauty, Redondo Beach, CA 1990, 32. 13 Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin 1980, 558. 14 Sigurd Bergmann: In the Beginning Is the Icon: A Liberative Theology of Images, Visual Arts and Culture, London 2009, 99. Das Buch wurde zuerst auf schwedisch veröffentlicht, 2003. Für die deutsche Übersetzung der zitierten Passage bin ich dem Verfasser verpflichtet. 15 David Hillel Gelernter: Judaism: A Way of Being, New Haven, CT 2009, 3 u. 20. 16 William James: The Varieties of Religious Experience: A Study in Human Nature (The Gifford Lectures on Natural Religion Delivered at Edinburgh in 1901-
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auch Calvins sensus divinitatis, »jenes einfache und ursprüngliche Wissen, zu dem der bloße Gang der Natur uns hätte leiten können, falls Adam standhält«,17 grundsätzlich mit inneren mentalen Bildern zu tun haben, aber auch mit spezifischen Bildern der uns umgebenden Welt, bzw. mit Bildern und Statuen als Artefakte. Es sind die Natur und die Vielfalt von solchen Bildern, und ihre Rolle auf der Ebene der nicht-geoffenbarten Religion, denen dieses Kapitel nachgehen soll. Zunächst erlaube ich mir aber noch kurz im Bereich der geoffenbarten Religionen zu verweilen.
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Die Rolle von Bildern in den Buchreligionen ist ein wohlrecherchiertes Thema im Fall des Judaismus, und noch deutlicher im Fall des Christentums, wo die beiden Hauptfragen wie folgend lauten: Wie kann das Unsichtbare durch das Sichtbare vertreten werden – die grundlegende Antwort hier ist, daß Gott in Christus Fleisch wurde18 –, und können Bilder als eine biblia pauperum dienen, d. h. den des Lesens Unkundigen die Narrative der Schrift vermitteln?19 Die Literatur ist gewaltig, und ich kann hier selbstver-
1902), London 1902. Deutsche Ausgabe: William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit: Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, übers. von Georg Wobbermin, Leipzig 1907. 17 Jean Calvin: Institutio Christianae religionis (1559), Buch I, Kap. 2. 18 Es gibt ein »element in the early Christian and Byzantine arguments«, schreibt Freedberg, »that informs all subsequent Christian thought[...] It revolves round the Incarnation of Christ, and it pertains to religious imagery. The problem, simply put, is this: If God is divine, not material and uncircumscribable, how is it possible – indeed, how can it be legitimate – to represent him in material and circumscribed form? This is the argument used by all those who are hostile to images; but the counterargument depends on the fact that Christ, the image of his Father, was made incarnate as man.« (David Freedberg: The Power of Images: Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, 402f.) 19 Freedberg, a. a. O., 162ff., bietet einen ausgezeichneten Überblick des Themas. Ich zitiere hier seine Wiedergabe der Auffassung von Thomas, in den Kommentaren des letzteren zu dem dritten Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus
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ständlich nicht ins Detail gehen.20 Um aber für mein Hauptargument gleichsam die Bühne einzurichten, möchte ich auf einige spezifische Aspekte des Problems hinweisen. Erstens die vielleicht minder bedeutende Beobachtung, daß sogar in den Buchreligionen, und sogar im Fall von Schreibern und Gelehrten, die mit der Abschrift und Neugestaltung von heiligen Texten zu tun hatten, die Empfänglichkeit für Bilder, der Impuls zum Bilderschaffen, überwältigend werden konnten. Wie Freedberg bemerkt, Beispiele von arabischer Kalligraphie und diverser jüdischer Manuskripte abdruckend (Abbildungen 1 und 2): »Even in […] Islam and Judaism […] with […] an apparent emphasizing of word over image, of the written over the figured, the will to image figuratively – even anthropomorphically – cannot be suppressed.«21
dargelegt. In der Sicht von Thomas, schreibt Freedberg, »there was ›a threefold reason for the institution of images in the Church: first, for the instruction of the unlettered, who might learn from them as if from books; second, so that the mystery of the Incarnation and the examples of the saints might remain more firmly in our memory by being daily represented to our eyes; and third, to excite the emotions which are more effectively aroused by things seen than by things heard‹ «. In einem meiner früheren Aufsätze hatte ich Gelegenheit, auf Freedbergs hier anschließende Anführung von ähnlichen Formulierungen Bonaventuras hinzuweisen: »Der heilige Bonaventura faßte ein Jahrhunderte altes Argument über die Institution von Bildern in der Kirche zusammen, als er sagte, daß erstens die des Lesens Unkundigen anhand von Statuen und Bildern wie aus Büchern lernen können, und daß zweitens diejenigen, die nicht zur Andacht bewegt sind, wenn sie von Christus’ Taten hören, wenigstens dadurch erfaßt werden könnten, daß sie dieselben in Gestalten und Bildern sehen« (Kristóf Nyíri: Bildbedeutung und Kommunikation, in: ders.: Vernetztes Wissen, Wien 2004, 155). 20 Eine ganz ausgezeichnete Zusammenfassung und auch Bereicherung des Themas stellt der 2007 erschienene erste Band des von Reinhard Hoeps herausgegebenen Handbuch der Bildtheologie dar (Band I: Bild-Konflikte, Paderborn 2007). 21 Freedberg, a. a. O., 55.
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Abbildung 1: Basmala in der Form eines Papageis (Iran, 1250/1834-35)
Quelle: Freedberg: The Power of Images, 57
Abbildung 2: Impressum des Zeichners, Kennicott Bible, La Coruña (1476)
Quelle: Freedberg: The Power of Images, 57
Zweitens, daß – wie sich Victoria Harrison vor einigen Jahren ausdrückte – allgemein gesagt die religiöse Sprache »gesättigt von Bildern und Metaphern ist«.22 Des Näheren sind sowohl im Alten als auch im Neuen Testament Bilder in Hülle und Fülle vorhanden, nicht bloß in dem Sinne, daß sie eine Sprache reich an Metaphern verwenden – Metaphern funktionieren,
22 Victoria Harrison: Religion and Modern Thought, London 2007, 153.
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wie ich dies im gegenwärtigen Buch wiederholt zu zeigen versuchte, letzten Endes durch ihre Verbindung mit mentalen Bildern –, sondern auch in jenem Sinne, daß sie, ganz unmittelbar, lebendige visuelle Bilder heraufbeschwören.23 »Judaism«, schreibt Gelernter, »is in fact passionately attached to images; they are its favorite means of expression. – Even a quick glance at the Bible makes it plain that Jewish thought luxuriates in vivid imagery. [...] Much of medieval art is a celebration of biblical imagery. The medieval Christian artist translates biblical images directly from words into paint, sculpture, tapestry, glass.«24 Was Gelernter hier sagt, ist natürlich nichts Neues; dasselbe wurde ausführlich demonstriert durch den lutheranischen Philosophen und Theologen Johann Gottfried Herder gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, und durch Austin Farrer in den 1940er Jahren. Herder erblickt in der Bibel einen Text – ich stütze mich hier auf von Balthasars Herrlichkeit: Eine theologische Ästhetik –, der in »naturhafter Bildersprache« geschrieben ist,25 einen Text also, der »nur als Bilderwelt nachvollziehbar«26 sei. Der Engel der Apokalypse, so Herder, »spricht nicht, verbirgt nicht, sondern deutet in Bildern an[…] Die Bilder müssen also bedeutend, durch sich selbst verständlich gewesen sein.«27 Farrer, in seinem 1948 veröffentlichten Buch The Glass of Vision – der Titel ist eine Anspielung auf den ersten Brief an die Korinther (13,12) – spricht von den »tremendous images«28, den gewaltigen Bildern im Neuen Testament, ohne derer, wie er schreibt, »the teaching would not be supernatural revelation, but instruction in piety and morals. It is because the spiritual instruction is
23 Wie es Evdokimov formuliert: »In the Bible, the word and the image are in dialogue, they call to one another and express complementary elements of one and the same Revelation«, The Art of the Icon, 32f. 24 Gelernter, a. a. O., 17. 25 Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit: Eine theologische Ästhetik, Bd. I: Schau der Gestalt (1961), 3. Aufl. Einsiedeln 1988, 82. 26 Ebd., 79. 27 Ebd., 80. 28 Diese Formel erinnert natürlich an eine Passage bei Hume: »we find the tremendous images to predominate in all religions« (David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion and Other Writings, hrsg. v. Dorothy Coleman, Cambridge 2007, 100).
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related to the great images, that it becomes revealed truth.«29 Eine erschütternde Enthüllung, das überzeugende Aufzeigen von etwas bisher Verborgenem – so verstehe ich Farrer – braucht mehr als bloße Wörter, ist auf Bilder angewiesen. Wenn Farrer von Bildern spricht, meint er in erster Linie die figürliche Sprache; allerdings gehören Metaphern und visuelle Bilder eben zu einem einzigen Kontinuum, und man findet zahlreiche Stellen, an denen Farrer in der Tat auf visuelle geistige Bilder anspielt, z. B. wo er auf eine Vision des Johannes hinweist: der Sohn Gottes erscheint als »ein Lamm; er sah aus wie geschlachtet und hatte sieben Hörner und sieben Augen«.30 Sowohl Edmond Cherbonnier, 1953, als auch Ian Barbour, 1976, meinten Farrers Auffassung in dem Sinne verstehen zu müssen, daß dieselbe sich eindeutig auf visuelle geistige Bilder bezieht. »Perhaps both phi-
29 Austin Farrer: The Glass of Vision, Westminster 1948, 42f. »That God’s mind towards his creatures is one of paternal love«, fährt Farrer fort, »is a truth almost of natural religion and was already a commonplace of Judaism. That God’s paternal love takes action in the gift of the Kingdom through the death of the Son of Man, this is supernatural revelation.« 30 Ebd., 48. Und eine vielsagende Passage aus Farrers 1949 veröffentlichtem Buch A Rebirth of Images: »An image thrown in isolation on the screen means nothing, because it may mean anything[…] In a long concatenation of images, each fixes the sense of the others, and is itself determined by them. […] we feel the new image emerging out of the hidden mind under the evocation of the images already in place, as St John saw the figure of the Beast come out of the deep when the Dragon’s feet touched the sand of the sea.« (Austin Farrer: A Rebirth of Images: The Making of St. John’s Apocalypse [1949], Eugene, OR 2006, 18.) In den beiden Kapiteln allerdings, die er einige Jahre später in dem Band Faith and Logic: Oxford Essays in Philosophical Theology veröffentlichte (hrsg. v. Basil Mitchell, Boston 1957), vermied Farrer in auffälliger Weise das Wort »Bild« zu verwenden, wobei er eine zentrale Rolle dem Begriff der Parabel zuweist. In demselben Band gebraucht auch I. M. Crombie, in seinem Kapitel The Possibility of Theological Statements, den Ausdruck »Bild« eindeutig im Sinne von Parabel, wenn er sagt: »we know what the words in the predicates of theological statements mean, and this we know because we take these statements as human images of divine truths«. So kann er z. B. schreiben: »The sense the words bear within the image or parable is drawn from thoughtful experience of human life« (Faith and Logic, 72).
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losophers and theologians«, schreibt doch Barbour, »in concentrating on verbally-stated propositions, have tended to neglect the role of images in human thought.«31 Barbour hebt Farrer als einen von den seltenen löblichen Ausnahmen hervor – verweisend, im selben Zusammenhang, auch auf H. H. Price. Auf der anderen Seite steht Cherbonnier Farrer kritisch gegenüber. Er zergliedert »Austin Farrer’s […] attempt to replace a ›theology of the word‹ with visual images as the primary medium of Christian truth«, und kommt zur folgenden Schlußfolgerung: »the biblical revelation could be apprehended through images only on one condition – that God had embodied his revelation, not in words, but in a book of pictures. Is the fact that he has not done so only accidental or, on the contrary, is it of the highest significance for the understanding of both man and God that he has in fact revealed himself by his Word?«32 Ich komme zurück auf Cherbonniers Argument im nächsten Abschnitt dieses Kapitels. Gegenwärtigen Abschnitt schließe ich mit einem Hinweis auf Newman. In seinem Buch A Grammar of Assent stellt Newman der Religion von zutiefst frommen katholischen Bevölkerungen, für die »das Höchste Wesen, unser Herr, die heilige Jungfrau, Engel und Heilige, Himmel und Hölle, dermaßen gegenwärtig sind als ob sie Gegenstände des Sehens wären«33, die von ihm so bezeichnete englische »Bibelreligion« gegenüber, welche »nicht in Riten und Glaubensbekenntnissen« besteht, sondern »hauptsächlich im Bibellesen in der Kirche, im Familienkreis, und allein«.34 Wie Newman schreibt: »[r]eading, as we do, the Gospels from our youth up, we are in danger of becoming so familiar with them as to be dead to their force, and to view them as a mere history«. Und eben an dieser Stelle kommt ins Spiel »die Praxis der Meditation über die Heilige Schrift […] welche in so hohem Ansehen bei den Katholiken steht«.35 Meditation ist im Wesentlichen ein Prozeß, durch den die Gläubigen mentale Bilder aufbauen, um mit ihnen die verbale Repräsentation der heiligen Geschehnisse zu begleiten und lebendiger zu gestalten. In seinem bereits angeführten Buch liefert Da-
31 Ian G. Barbour: Myths, Models and Paradigms, San Francisco 1976, Kap. 2. 32 Edmond La B. Cherbonnier: The Theology of the Word of God, in: Journal of Religion XXXIII (1953), 1, 22. 33 Newman, a. a. O., 55f. 34 Ebd., 56. 35 Ebd., 79.
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vid Freedberg eine wunderbare Zusammenfassung davon, wie die christliche Meditation, vom Mittelalter bis zum siebzehnten Jahrhundert, auf dem Abbildung 3: Passionis Jesu Christi via contemplationis et meditationis quadruplex (Holzschnitt, Einblattdruck, ca. 1477)
Quelle: Freedberg: The Power of Images, 176
Zusammenwirken von geschriebenem oder rezitiertem Text und geistigem und physischem Bild – Holzschnitte, Radierungen, Drucke – beruhte.36 (Vgl. Abbildung 3) Für Newman war die Präsenz spontan entstehender oder sich durch Meditation entwickelnder mentaler Bilder geradezu eine Vorbedingung des echten Glaubens – des »echten Bejahens«, real assent, wie er es nannte.
36 Freedberg: The Power of Images, Kap. 8: Invisibilia per visibilia: Meditation and the Uses of Theory.
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Bilder erfüllen also eine wesentliche Rolle in den geoffenbarten Religionen. Es ist indessen klar, daß Bilder an sich die Botschaft der Offenbarung nicht vermitteln können. Für jene, die die Narrative des Neuen Testaments nicht kennen oder nicht für glaubwürdig halten, ist Christus am Kreuz die Abbildung eines leidenden menschlichen Wesens. Wie dies Hans Belting prägnant in seinem Buch Bild und Kult formuliert: »Das Bild ist […] nur verständlich, wenn man es von der Schrift her wiedererkennt. Es erinnert daran, was die Schrift erzählt.«37 Oder wie es Rahner erklärte: »das Bild [bedarf] einer verbalen Auslegung […], um als ausdrücklich christlich vom Beschauenden erkannt zu werden[...] Es gibt ja selbstverständlich keine anschauliche Wirklichkeit, an der als solcher allein ihre christliche Bedeutung abgelesen werden könnte.«38 In seinem 1802 veröffentlichten klassischen Werk über natürliche Theologie bietet Paley ein etwas verwandtes, allerdings verdrehtes Argument. Gegen Ende des Buches kommt er zur Ansicht, daß da die Kontemplation der göttlichen Natur »unsere Fähigkeiten überschreitet«, wir »vor der schmerzhaften Abstraktion […] in sinnliche Bilder flüchten«, und dadurch der Götzenverehrung anheimfallen können, eine Gefahr, die zu vermeiden uns die Offenbarung hilft: bleibt die Autorität der Schrift unbezweifelt, dürfen wir uns »ein Herablassen zur Beschaffenheit unserer Fähigkeiten« leisten.39 Indem er Bildern und visuellen Vorstellungen eine bloß zusätzliche Funktion zuschreibt, ist Paley einer falschen Philosophie des Geistes verhaftet. Es ist indessen wichtig zu betonen, daß nur in dem Bereich der natürlichen Religion Bilder eine mehr oder minder autonome Rolle spielen können. Und dies ist genau der Punkt, den Cherbonnier, Farrer kritisierend, hervorhob. Letzterer, schrieb Cherbonnier, räumte freilich ein, daß »the object of faith is […] not the images themselves but rather the reality beyond them, to which they point«. Dann kann aber die Frage gestellt werden: »Is it possible to say anything about this reality, or must we remain content to apprehend it simply by gazing at the
37 Hans Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, 20. 38 Rahner: Zur Theologie des Bildes, in: Sämtliche Werke, Bd. 30, 481. 39 William Paley: Natural Theology: Or, Evidences of the Existence and Attributes of the Deity (1802), zwölfte Auflage, London 1809, 442f.
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images? […] if the answer is that the reality behind the images can be expressed in words, then ipso facto the spoken word has been reinstated as the basis of revelation, thereby rendering the images unnecessary.«40 Aus dieser Sackgasse versuchte Farrer, schreibt Cherbonnier, mit einem Verweis auf die natürliche Theologie zu entkommen. Cherbonnier nennt das eine verzweifelte Entscheidung.41 Aus der Sicht meines gegenwärtigen Gedankenganges aber machte Farrer gerade den geeigneten Schritt. Ich konzentriere mich hier auf die entscheidende Stelle seiner Argumentation. Bilder, behauptet Farrer, haben eine wesentliche Funktion in Hinsicht auf die »natürliche Erkenntnis Gottes«. Es soll mir erlaubt sein, hier aus seinem Buch The Glass of Vision länger zu zitieren: »neither in revelation nor in rational theology can we point away from the image to that which the image signifies: in both we must be content to refer to the reality by understanding what the image tells us. Nevertheless, rational analogies and revealed images concerning God do not function in the same way: […] the rational analogies are natural images: the revealed figures are not […] natural. – The rational analogies are natural […] in the sense that they may be, and originally are, spontaneous: unless finite things put themselves upon us as symbols of deity we can have no natural knowledge of God. […] The stars may seem to speak of a maker, the moral sense of a law-giver: but there is no pattern of being we simply meet, which speaks of Trinity in the Godhead[…] Rational analogies are natural in a second sense: the analogy which the natural symbol appears to bear to God is founded on a real relation in which it stands towards God. […] Whereas revealed images are commonly just par42
ables.«
Wir treffen auf Bilder, sagt also Farrer, auf Bilder in der Natur und auf Bilder der Natur, die an sich fähig sind, in uns einen Eindruck höherer Wirklichkeit zu erwecken; visuelle Bilder sind, des weiteren, natürliche Bedeutungsträger, da sie durch Ähnlichkeit bedeuten, während die Bedeutung von Redefiguren auf Konvention beruht. »Are those Christian minds really so rare«, fragt Farrer, »whose nearest gate into the invisible world is
40 Cherbonnier, a. a. O., 21. 41 Ebd., 22. 42 Farrer: The Glass of Vision, 93-95.
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a simple awe at natural fact?«43 Der Text, mit dem er das erste Kapitel von The Glass of Vision beginnt, ist ein Zitat aus dem Brief an die Römer: »Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn Gottes unsichtbares Wesen […] wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt[…]« (1,19-20). Diese Bibelpassage ist für Farrer eine Richtschnur auf dem Gebiet nicht der geoffenbarten, sondern der natürlichen Theologie. »For the moment«, sagt er an der Stelle, die uns hier beschäftigt, »we are discounting supernatural revelation, and considering natural religion: by which we are, therefore, bound to understand our own apprehensions of God through nature[…] […] Natural theology […] provides a canon of interpretation which stands outside the particular matter of revealed truth.«44 Was ich in diesem Kapitel zu tun versuche, nämlich eine skizzenhafte Übersicht der Funktionsweisen von Bildern in der natürlichen Religion zu geben, ist gewissermaßen ein Nachtrag zur Farrers Philosophie der heiligen Bilder. Auch ist es eine Art Protest gegen die Hauptströmung der zeitgenössischen natürlichen Theologie, die bekanntlich weder für Bilder, noch für visuelle Vorstellungen eine Verwendung hat. Die Theorie der Phantasmen des Thomas wird gänzlich zurückgewiesen von Swinburne;45 der Schritt von den Phantasmen zu mentalen Bildern wird nur halbherzig unternommen von Kretzmann;46 und die Rolle von visuellen Vorstellungen in der religiösen Erfahrung wird als unwesentlich beurteilt von Alston.47 In einem unmittelbareren Sinn ist mein Gedankengang eine Reaktion auf George Pattisons 1991 erschienenes Buch Art, Modernity and Faith: Restoring the Image. Während ich Pattisons allgemeine Behandlung von visueller Theologie lehrreich und anregend finde, halte ich seine summarische Ablehnung der natürlichen Theologie für übertrieben. Ich glaube es ist ungerecht zu behaupten, wie Pattison dies tut, daß die natürliche Theologie
43 Ebd., 96. 44 Ebd., 98 u. 111. 45 Richard Swinburne: Revelation: From Metaphor to Analogy (1992), zweite Ausgabe, Oxford 2007. 46 Norman Kretzmann: The Metaphysics of Creation: Aquinas’s Natural Theology in Summa Contra Gentiles II, Oxford 1999. 47 William P. Alston: Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience (1991), Ithaca, NY 1993.
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des Neo-Thomismus vollkommen unfähig war zur Ausarbeitung eines theologischen Vokabulars und theoretischen Rahmens zur Untersuchung des Problems von Glaube und Visualität,48 und ich finde es schwer, ihm zu folgen, wenn er etwa Ruskin zunächst mit Empathie analysiert und dann gänzlich ablehnt. »The overall structure of Ruskin’s argument«, schreibt Pattison, »resembles the familiar pattern of natural theology, for its prevailing assumption is that the works of God in creation provide a timeless and universally accessible testimony to their divine origin. The artist is gifted with the ability to see and to represent in his work a truthful image of that testimony and so to be able to direct the less perceptive to see it for themselves.«49 Ich bin der Ansicht, daß man der Idee eines »universal zugänglichen Beweises« gegenüber skeptisch sein kann, und dennoch den Aufbau einer Phänomenologie von solchen spontanen religiösen Gefühlen versuchen darf, welche als Antwort auf spezifische visuelle Erfahrungen entstehen. Es sind die Umrisse eben einer solchen Phänomenologie, die zu skizzieren ich im folgenden unternehme.
V ERBILDLICHUNG
DES
U NSICHTBAREN
Thomas’ Ansichten in bezug auf die Frage erörternd, ob man sich Bilder von unkörperlichen Dingen bilden könne, bemerkt Kenny, daß auf jeden Fall »das Bild eines nicht-körperlichen Dinges nicht dadurch ein Bild sei, daß es seinem Gegenstand ähnelt«, dem noch hinzufügend: »Allerdings haben wir guten Grund zur Annahme, daß das, was ein Bild von X zum Bild von X macht, niemals dessen Ähnlichkeit mit X ist, auch dann nicht, wenn X körperlich ist.«50 Letztere Anmerkung ist offensichtlich ein Echo von Wittgensteins Bemerkung »Alles kann ein Bild von allem sein: wenn wir den Begriff des Bildes entsprechend ausdehnen«, abgedruckt im Nachlaßband Philosophische Grammatik.51 Den Band hat Kenny ins Englische übersetzt. Nun wird diese Bemerkung gewiß nicht Wittgensteins entspre-
48 Siehe z. B. George Pattison: Art, Modernity and Faith: Restoring the Image (1991), zweite, erw. Ausgabe, London 1998, 52f. 49 Ebd., 54. 50 Anthony Kenny, a. a. O., 98f. 51 Frankfurt/M. 1969, 163.
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chenden Ansichten in der Philosophischen Grammatik gerecht, und noch weniger jenen Ansichten, die einem der Nachlaß im Ganzen nahelegt.52 Es ist eben nicht Nelson Goodman, für den Wittgenstein den Weg ebnete. Ernst Gombrich, mit seiner Betonung der Rolle von Ähnlichkeit in bildlicher Repräsentation,53 oder Richard Wollheim, mit seinen Begriffen »sehen-als« und »sehen-in«54 als Erklärungen für unser Erlebnis von Bildbedeutung, können mit mehr Recht als Erben Wittgensteins bezeichnet werden. Eine Variante des Begriffes von »sehen-in« erscheint bereits beim frühen Husserl;55 das, was wir in das Bild »hineinschauen«, wird von Husserl das »Bildobjekt« genannt, und Husserl macht die wichtige Bemerkung, daß es einen wesentlichen »Widerstreit« gibt zwischen dem »Bildding« (etwa das Bild wie es an der Wand hängt) und dem »Bildobjekt«:56 das letztere weist, charakteristischerweise, von sich weg,57 wie das das Bildding nicht tut, auf das »Bildsujet« – weist darauf, was das Bild abbildet, repräsentiert. Das von sich wegweisende Bild kann auch unter einem anderen Aspekt gesehen werden. In seinem Buch Painting and Reality macht Etienne Gilson eine Unterscheidung zwischen Bilder (»pictures« bzw. »images«) einerseits, und Gemälde (»paintings«) andererseits. Es gibt, schreibt er, eine »radical difference between a painting, whose meaning is in itself, and a
52 Siehe meinen Aufsatz Wittgensteins Philosophie der Bilder, angeführt oben in Anm. 2. 53 Siehe Kapitel 2 oben, bes. S. 51, 53, 56 und 62. 54 Wo der zweite Begriff in der Ausgabe von 1980 des Wollheimschen Buches Art and Its Objects den ersten ersetzt. Den Begriff »sehen-als« hatte Wollheim, in Wittgensteins Fußstapfen tretend, in der ersten Ausgabe von Art and Its Objects (1968) entwickelt. 55 Husserl verwendet den Ausdruck »Hineinschauen«, siehe Edmund Husserl: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung: Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigung. Texte aus dem Nachlass (1898-1925), hrsg. v. Eduard Marbach, The Hague 1980, 53. Zum ganzen Problemkreis siehe bes. das Unterkapitel Wittgenstein – Wollheim – Husserl in Göran Sonesson: Pictorial Concepts, Lund 1989, 270-276. 56 Siehe z. B. Husserl: Phantasie, 489f. u. 493f. 57 Siehe z. B. ebd., 34 u. 37. Verwandte Ausdrücke sind hier noch: über sich hinausweisen, hindurchweisen, hinwegweisen.
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picture, whose function is to point out something else«.58 Das Wesentliche am »picturing«, wie er sich ausdrückt, »is to represent, or imitate«. Gilson räumt ein, ja betont, daß »[i]mages are among the oldest products of the fabricative activity of man«, daß sie »inseparable from domestic life« sind, und daß »[c]hildren delight in looking at picture books«,59 aber macht klar, daß seiner Ansicht nach Bilder, und zwar auch religiöse Bilder, gleichsam nichts Erhabenes repräsentieren können. Demgegenüber ist das »Endziel« von Gemälden »to achieve a fitting object of contemplation«; »creative painters […] feel that there is still another reality hidden behind the appearances of nature«, und so ist »[a]ll truly creative art […] religious in its own right«.60 Einen ziemlich ähnlichen Ansatz formuliert Hans-Georg Gadamer in seiner Wahrheit und Methode. Er stellt dem Bild das Abbild gegenüber. Wie er schreibt: »Im Wesen des Abbildes liegt es, daß es keine andere Aufgabe hat, als dem Urbild zu gleichen […] indem es aufgrund seiner Ähnlichkeit auf das Abgebildete verweist« (Gadamers Lieblingsbeispiele hier sind das »Paßfoto« oder die »Abbildung in einem Verkaufskatalog«). Andererseits, im Falle des Bildes, ist es »selber das Gemeinte[…] […] man [wird] nicht einfach von ihm fortverwiesen […] auf das Dargestellte. Die Darstellung bleibt vielmehr mit dem Dargestellten wesenhaft verbunden, ja, gehört zu ihm hinzu.« Wie es Gadamer betont, bleibt die »Identität und Nichtunterscheidung von Bild und Abgebildetem […] ein Wesenszug aller Bilderfahrung«; und er kommt zur Schlußfolgerung, daß genau »das religiöse Bild die eigentliche Seinsmacht des Bildes erst voll hervortreten [läßt]«.61 Die Idee des von sich wegweisenden Bildes wurde mit äußerster Bedeutsamkeit formuliert von Rahner.62 »Zunächst […] könnte es scheinen«,
58 Etienne Gilson: Painting and Reality, New York 1957, 267. 59 Ebd., 260-262. 60 Ebd., 266, 296 u. 294. 61 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960), Tübingen 1986, 143f. u. 147. 62 »Bild« bedeutet für Rahner, genau wie dies bei seinem Lehrer Martin Heidegger der Fall war, sowohl das Bild als Artefakt als auch das Bild, das sich für uns auftut wenn wir in unsere Umgebung schauen. »Der Ausdruck ›Bild‹ «, schrieb Heidegger, »ist hier in dem ursprünglichsten Sinne zu nehmen, gemäß dem wir sagen, die Landschaft bietet ein schönes ›Bild‹ (Anblick)«; aber derselbe Aus-
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schrieb er, »daß die Schau steckenbleibt bei dem unmittelbar geschauten und begrenzten Gegenstand«. Indessen »[kann] man […] die Grenze und Eigenart des direkt Geschauten überhaupt nur erfahren, indem der Blick immer auch über diese Grenze in die Weite des ungeschauten Schaubaren hinauszielt. Es gibt also auch bei der Schau […] eine Art sinnlicher Transzendenzerfahrung.« Und so kann »auch ein Bild, das nicht unmittelbar ein religiöses Thema hat, grundsätzlich ein religiöses Bild sein […], wenn es in seiner Anschauung durch eine […] sinnliche Transzendenzerfahrung jene eigentliche religiöse Transzendenzerfahrung anregt und mitkonstituiert«.63 Jene Bilder, die wir hier im folgenden zu beschreiben und zu präsentieren versuchen, könnte man als transzendierende Bilder bezeichnen. Wir nehmen von diesen Bildern an, daß sie fähig sind, neben ihren schlichten Bedeutungen, und über ihre schlichten Bedeutungen hinaus, auf erweiterte Bedeutungen hinzuweisen, auf Bedeutungen, die sie andeuten, aber nicht zeigen. Der gewöhnliche und freilich selbstverständliche Bereich, in dem man nach solchen Bildern Ausschau hält, ist die uns umgebende Welt der Natur. »Alle erschaffenen Dinge der sinnlichen Welt«, schrieb Bonaventura, »führen den kontemplierenden Geist und den weisen Menschen zum ewigen Gott. […] diese sind die göttlich gegebenen Zeichen […], vor unsere […] sinnlich orientierten Geister gesetzt, so daß durch die sinnlichen Dinge, die sie sehen, sie zu den intelligiblen kommen, die sie nicht sehen können.«64 Oder denken wir an Thomas, der in seiner natürlichen Theolo-
druck ist auch im Sinne von Ähnlichkeit gebräuchlich, z. B. wenn wir von einer Photographie sprechen. (Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik [1929], Frankfurt/M. 1998, 90f. u. 93.) Ich bin meinem Freund Prof. István M. Fehér verbunden für seine Hinweise auf einige entscheidende Elemente der Heidegger-Rahner Verbindung, siehe seinen Aufsatz Karl Rahner szellemi gyökereihez: Heidegger és a XX. századi teológia – Zu den geistigen Wurzeln Karl Rahners: Heidegger und die Theologie des 20. Jahrhunderts, in: István Boros (Hg.): Karl Rahner emlékülés: Az ige meghallója – Der Hörer des Wortes: Karl Rahner, Szeged, 1996, 43-91. 63 Rahner, a. a. O., in: Sämtliche Werke, Bd. 30, 479f. 64 Zitiert nach David Freedberg, a. a. O., 165. Diese Passage, kommentiert Freedberg, ist »an unmystical […] attempt to explain the process of ascent from the visible to the invisible«, dem er noch hinzufügt: »Since all created things lead the meditative mind to God, all pictures of them must do so too«, ebd., 166.
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gie die These hochhielt, daß »alle erschaffenen Dinge irgendwie Bilder von […] Gott sind«65 und in Summa Theologica die entscheidende Aussage machte: »Unkörperliche Dinge, von denen es keine Phantasmen gibt, sind uns durch Vergleich mit sinnlichen Körpern bekannt, von denen es Phantasmen gibt.«66 Alister McGrath baut auf eine ehrwürdige Tradition, wenn er in seinem unlängst erschienenen Buch A New Vision for Natural Theology von »nature as a legitimate, authorized, and limited pointer to the divine« spricht.67 Das auffallendste natürliche Bild des Göttlichen ist das Licht. In der Serie der von William James untersuchten elementaren religiösen Konversionen sind das Sehen von einem »Lichtstrom«68 oder »a bright blaze of light«69, Erlebnisse wie »das helle Licht« oder das »Strahlen von Licht und Glanz«, und so weiter und so fort, entscheidende Vorkommnisse.70 Das Erschaffen des Lichtes findet sich am Anfang von verschiedenen alten Kosmogonien, das Alte Testament selbstverständlich miteingeschlossen. Auch in Herders Deutung des letzteren steht das Bild des Lichtes im Mittelpunkt. »Die urälteste, herrlichste Offenbarung Gottes«, schrieb er, »erscheint dir jeden Morgen als Tatsache, grosses Werk Gottes in der Natur! […] Licht ist das erste: seine Offenbarung, in der alles gesehen und verstanden werden kann[…] […] Das Licht! Licht, das Vorbild der allenthüllendsten Demonstration Gottes[...]«71 Als John Martins Gemälde »The Celestial City and River of Bliss« (Abbildung 4) zum ersten Mal an der Royal Academy 1841 gezeigt wurde, wurde es zusammen mit den Zeilen aus Miltons Paradise
65 Summa Contra Gentiles, III. 19. 66 Summa Theologica, I. 84. 67 Alister E. McGrath: The Open Secret: A New Vision for Natural Theology, Malden, MA 2008, 5. 68 William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit (vgl. oben, Anm. 16), 65. 69 William James: The Varieties of Religious Experience (vgl. oben, Anm. 16), 215, die entsprechende Passage würde sich auf Seite 209 der deutschen Ausgabe befinden, wurde aber in der Übersetzung weggelassen. 70 William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 214 u. 238. 71 Ich zitiere hier Herder nach Hans Urs von Balthasar, a. a. O., 81.
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Abbildung 4: John Martins Gemälde »The Celestial City and River of Bliss«
Quelle: Wikipedia
Lost, »Thee, Author of all being, / Fountain of Light, thy self invisible«72 ausgestellt. Pattison, in seinem Kapitel »Icons of Glory«, bietet eine ausgezeichnete Diskussion von der »Theologie des Lichtes«, betonend, daß von der östlich-orthodoxen Perspektive das Licht »not merely a symbol or image of divinity« ist; »it is divinity«.73 Uns an Gadamers Terminologie erinnernd: das was hier das Bild des Lichtes als seine erweiterte Bedeutung andeutet, ist vom Bild nicht-unterschieden. Quelle des Lichtes in unserer physischen Welt ist die Sonne. Hume, in seiner Natural History of Religion, Abschnitt 7, weist auf den Gott der alten Persier hin, der »die Sonne als sein Bild in das sichtbare Universum setzte«. Und es gab in der Geschichte der Religionen freilich unzählige Versionen von Sonnenkulten, wie sie ja auch in heutigen menschlichen Kulturen auffindbar sind. Ich wähle hier eine Religion aus, die Sigurd Bergmann in seinem bereits erwähnten Buch In the Beginning Is the Icon berührt. Dies ist die synkretistische peruanische Religion, in welcher, wie Bergmann schreibt, »Christian-Catholic ideas are integrated into the worldviews of the native peoples, and the native religious belief systems have in turn brought about a new understanding of Christian ideas«.74 Bergmann erzählt von einer katholischen Kongregation in einer Kleinstadt in den An-
72 Buch 3, Zeile 374. – Auf dieses Gemälde hat mich der Kunsthistoriker László Beke aufmerksam gemacht, ich bin ihm für seinen Hinweis verbunden. 73 Pattison, a. a. O., 126. 74 Bergmann, a. a. O., 123.
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den, wo zwei Missionsschwester die Mitglieder dazu anregten, »ihr Glauben visuell auszudrücken«,75 d. h. zu zeichnen und zu malen. Bergmann druckt einige der resultierenden Bilder. Zwei von diesen verbindet er ausdrücklich mit »Mutter Erde«, die »zentrale Gottheit in der Andenreligion«.76 (Abbildungen 5 und 6) Was mir aber besonders auffällt: In beiden Abbildung 5: Von in den Anden lebenden katholischen Gläubigen angefertigte Zeichnung
Quelle: Sigurd Bergmann: In the Beginning is the Icon, 124
Abbildung 6: Von in den Anden lebenden katholischen Gläubigen angefertigtes Bild
Quelle: Sigurd Bergmann: In the Beginning is the Icon, 125
75 Ebd., 124. 76 Ebd.
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spielt auch die Sonne eine unverkennbare Rolle. Berge, wie das in dieser Region nicht überraschen kann, sind ebenfalls gegenwärtig. Wobei ich bemerken möchte, daß das Bild des Berges freilich eine überragende religiöse Signifikanz hat; ich komme zu derselben gleich zurück. Das Licht kann verschleiert werden. Das Bild des Schleiers hat tiefe religiöse Konnotationen; man denke nur an Pauls Worte: »Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt.« (2 Kor 3,18). Ich habe hier keinen Raum, auf eine Analyse dieses Bildes einzugehen, statt dessen muß ich mich darauf beschränken, zwei physische Phänomene zu erwähnen, die unseren Blick verschleiern bzw. das Licht vor uns verschleiern können: erstens Dunst und Nebel, und zweitens Wolken. Ein berühmtes Gemälde, das ersteres zum Thema hat, ist Caspar David Friedrichs »Der Wanderer über dem Nebelmeer« (1817-18). Das Gemälde zeigt eine einsame Gestalt, die dem Anblick der Natur mit anscheinend tiefer Ehrfurcht gegenübersteht. Wir sollten aber merken, daß dieser Anblick noch etwas beinhaltet, nicht nur den Nebel unten, sondern auch die hohen Berge in der Distanz. – Ein anderes Gemälde von Friedrich, »Sonnenaufgang bei Neubrandenburg« (1835), vermittelt ein Gefühl von den die Quelle des Lichtes verschleiernden Wolken in einer Weise, die andeutet, daß da sich etwas Höheres, aber Unsichtbares, hinter dem Sichtbaren verbirgt – eine Andeutung, für welche der Mensch wohl seit Beginn der Zeit empfänglich war und welche von Künstlern in zahllosen Bildern vermittelt wurde. Solche Bilder – Gemälde, Photographien – können durchaus dramatisch sein, wie etwa die Illustration auf dem Titelblatt der neuen Ausgabe von Farrers The Making of St. John’s Apocalypse.77 Während Wolken dadurch Transzendenz andeuten können, daß sie unsere Sicht verschleiern, tun Berge dasselbe dadurch, daß sie unseren Blick in unergründbare Höhen heben. McGrath weist auf »the biblical emphasis upon the importance of mountains in relation to divine revelation« und erinnert an »the metaphysical poet Henry Vaughan’s frequent use of mountain imagery to denote the human longing for ›the world beyond‹ «.78 Pattison zitiert John Baggleys Erörtetung zu Rubljevs »Dreifaltigkeit«, laut wel-
77 Siehe oben, Anm. 30. 78 McGrath, a. a. O., 61f.
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cher der Berg »a symbol of an event of profound significance« sei.79 Berge fehlen gewiß nicht aus James’ Sammlung von tiefen religiösen Erfahrungen; ein charakteristischer Bericht: »Ich habe mehrmals gefühlt, daß ich eine Zeitlang in vertrautem Verkehr mit der Gottheit stand. Diese Erlebnisse kamen unerbeten und unerwartet[...] Einmal hatte ich ein solches Erlebnis, als ich auf dem Gipfel eines hohen Berges stand; ich erblickte eine [...] Landschaft, die sich in die weite, gewölbte Fläche des Ozeans verlor, der bis zum Horizont reichte; und unter mir sah ich nichts, als eine unendliche Masse weißer Wolken[...] Ich hatte die Empfindung, als hätte ich mein eignes Selbst verloren; begleitet aber war diese Empfindung von einer inneren Erleuchtung, die 80
mich einen tieferen Sinn des Lebens erkennen lehrte.«
In seinem Band von Essays The Unknown God zollt Kenny Anerkennung dem »greatest of the Victorian mountain writers, John Ruskin«. Wie Kenny schreibt, »Ruskin’s love of mountains knew no bounds: for him, all natural beauty, all moral goodness, was to be judged by its proximity to or distance from the ideal serenity of the high peaks. For him the mountains were the great cathedrals of the earth.«81 Kenny bemerkt, daß »there were links between the Victorian passion for mountains and the Victorian ambivalence about religion. […] Those who gave up belief in the eternal God of Abraham, Isaac and Jacob were glad to retain a sublime object of awe in the everlasting snows of Mont Blanc, Monte Rosa and the Matterhorn. John Tyndall, the agnostic President of the Royal Society«82, fährt Kenny fort, »thus describes the view from the summit of the Weisshorn: ›An influence seemed to proceed from it direct to the soul; the delight and exultation experienced were not those of Reason or Knowledge, but of BEING: I was
79 Pattison, a. a. O., 129. Der Hinweis bezieht sich auf Baggleys Buch Doors on Perception, 1987. 80 William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 65f. 81 Anthony Kenny: The Unknown God: Agnostic Essays, London 2004, 156. 82 Tatsächlich war Tyndall Präsident nicht der Royal Society, but vom Royal Institute. Ich schulde John Haldane Dank, mich auf diesen Lapsus aufmerksam gemacht zu haben.
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part of it and it of me, and in the transcendent glory of Nature I entirely forgot myself as man.‹ «83 Ein Gemälde von Albert Bierstadt, »Sunrise on the Matterhorn«, bringt mehrere unserer Themen zusammen: Licht, Nebel, und Berge. Den Vordergrund des Bildes nimmt eine Gruppe von Bäumen ein. Wenn auch nicht ein derart grandioses Symbol wie das des Berges, das Bild des Baumes hat ebenfalls transzendierende Aspekte. Für Baggley ist der Baum ein Symbol für »life and spiritual growth«.84 Gewiß kann etwa Caspar David Friedrichs »Eiche im Schnee« (1820er Jahre) uns als ein solches Symbol berühren. Auf einer bescheideneren Ebene ist das Bild jeder Pflanze ein Symbol des Wachstums, aber auch des Überganges, Verfalls und der Wiedergeburt. Heinrich Rombach erblickt »in der Grunderfahrung Pflanze die fundamentale Möglichkeit der Religion«.85 Die beiden peruanischen Bilder, die wir
83 Kenny: The Unknown God, 160f. 84 Siehe Pattison, a. a. O., 129. 85 Heinrich Rombach: Leben des Geistes: Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg 1977, 77. – Aus dem Reichtum von Rombachs Beobachtungen sollen hier zwei weitere hervorgehoben werden: Die erste bezieht sich auf das Zeitalter der Höhlenmalerei und weist auf die transzendierende Qualität des Höhlenerlebnisses selbt hin. »Die Höhle«, schreibt Rombach, »muß für den frühen Menschen eine tiefe Bedeutung gehabt haben, ja überhaupt die Bedeutung der Tiefe[…] […] diesen Menschen [kam es] auf den Übergang an […], auf den Wechsel […] aus dem Offenen ins Verborgene, aus dem Gängigen ins Besondere. Der Übergang war Verwandlung. Es ist unmöglich, im Labyrinth einer Höhle nicht angerührt und verwandelt zu werden« (Rombach, a. a. O., 58f.). Die zweite bezieht sich auf die Menhire, mit der Andeutung, daß zwischen den gewichtig-enormen Steinen und den gewichtig-enormen Gefühlen eine mögliche Parallele bestehen könnte (ebd., 99f.). Freedberg liefert eine nützliche geschichtliche Einführung in den archaischen Problemkreis der durch ungeformte oder fast ungeformte Gegenstände aus Stein oder Holz erweckten Ehrfurcht (siehe z. B. The Power of Images, 36, in bezug auf »the felt relationship between simple and rudimentary form on the one hand and divine inherence on the other«). Die unvollständige Form weist sozusagen über sich hinaus; das Erfahren des Mangels kann gewissermaßen an sich zu einem transzendierenden Erlebnis werden.
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vor kurzem diskutierten, die Bilder, welche Bergmann mit »Mutter Erde« verbindet, deuten gewiß auf eine solche Verbindung. Wenn Pflanzen an Verfall und Wiedergeburt erinnern, können Blumen, ob naturalistisch oder stilisiert dargestellt, ein Gefühl der friedlichen Schönheit der erschaffenen Welt erwecken. Pattison weist hin auf »Monet’s many series of paintings of his garden at Giverny. […] With each treatment of the subject«, schreibt Pattison, »Monet seems to be moving further and further away from conventional concepts of imitation into the pure play of coloural presences. […] These paintings assure us, in an irreducibly pictorial way, that the world is a good place to be, that it is holy ground, that we may trust ourselves to the particularity of our carnal situatedness.«86 Wir sind wiederangelangt bei der Idee, daß jede echte Kunst religiös sei. An einer früheren Stelle in seinem Buch zitierte Pattison Tillich: »Expressionism […] has a mystical, religious character, quite apart from its choice of subjects. It is not an exaggeration to ascribe more of the quality of sacredness to a still-life by Cézanne or a tree by Van Gogh than to a picture of Jesus by Uhde.«87 Ein Baum von Van Gogh – oder gar ein Schuh von ihm. Es gibt bekanntlich eine Reihe von Bildern, die Van Gogh von Bauernschuhpaaren gemalt hat. Heidegger diskutiert sie; Freedberg druckt eines von ihnen (Abbildung 7). Indem ich mich diesem Thema zuwende, verlasse ich das Gebiet der Naturschönheit und nähere mich dem Abschluß Abbildung 7: Vincent van Gogh: »Schuhe«
Quelle: Freedberg: The Power of Images, 441
86 Pattison, a. a. O., 149. 87 Ebd., 108.
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dieses Kapitels. Das Bild eines leeren, ungebrauchten Schuhpaares, schreibt Heidegger, würde uns wenig sagen. Van Goghs Bauernschuhe teilen indessen eine bedeutsame Botschaft mit. »Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. […] Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. […] In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns«, aber unumgänglich ist auch, fügt dem Heidegger hinzu, eine Andeutung des »Zittern in der Umdrohung des Todes« dabei.88 Was Heidegger hier sagt, heißt für mich: die leeren Schuhe deuten dadurch den Tod an, das sie etwas nicht zeigen – nämlich die Person, die sie zu tragen pflegt, oder vielleicht zu tragen pflegte. Sie weisen, um eine Wendung von Rombach zu gebrauchen, »ein Bild der Leere« auf.89 Natürlich gehört zu jedem Bild, wie dies bereits gesagt wurde, die wesentliche Spannung zwischen dem Abwesenden und dem Gegenwärtigen. Und vielleicht ist diese Spannung nirgends extremer als im Fall von einem der fundamentalsten Bilder, oder gar des uranfänglichen transzendierenden Bildes: die Totenmaske, aus Stein oder Ton (Abbildung 8), dem verwesenden Gesicht des Toten aufgesetzt,90 von ihrem unveränderlichen Ausdruck wegweisend zu der geliebten Person, die es in dieser Welt nicht mehr gibt. Abbildung 8: Links Kalksteinmaske, Nakal Hemar, cca. 7000 v. Chr.; rechts Steinmaske, Hebron, cca. 7000 v. Chr.
Quelle: Belting: Bild-Anthropologie, 154f.
88 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36), in: Heidegger: Holzwege, Frankfurt/M. 1980, 18f. 89 Rombach, a. a. O., 73. 90 Siehe Hans Belting: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, bes. 17 u. 37, und das Kapitel Bild und Tod.
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AUSBLICK Die Voraussetzung, die ich zu Beginn dieses Kapitels formuliert habe, war streng genommen eine vereinfachende. Man kann durchaus behaupten, daß in der menschlichen kognitiven Entwicklung und Tätigkeit das Visuelle grundlegender als das Verbale sei. Beiden geht allerdings die motorische Dimension voraus – Muskelspannungen, kinästhetische Erfahrungen, Körperbewegungen.91 In meinem Aufsatz »Film, Metaphor, and the Reality of Time«92 hatte ich Gelegenheit hinzuweisen auf Rudolf Arnheims 1954 erschienenes Buch Art and Visual Perception und auf seine meisterhafte Zusammenfassung einer früheren substantiellen Forschungstradition, welche bewies, daß unseren Muskelempfindungen schematische innere Bilder entsprechen, Bilder der Stellung des körperlichen Selbst im Verhältnis zu dessen Umgebung.93 Und seit den 1980er Jahren liefert die konzeptuelle Meta-
91 Die definitive Darlegung hier ist Jerome Bruners Studie On Cognitive Growth, in: Bruner et al.: Studies in Cognitive Growth, New York 1966. 92 New Review of Film and Television Studies 7 (2009), 2, 109-118. 93 Rudolf Arnheim: Art and Visual Perception: A Psychology of the Creative Eye, Berkeley 1954. Deutsche Übersetzung: Kunst und Sehen: Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin 2000. Zu den Vorläufern seiner Auffassung zählt Arnheim hier auch William James, hinweisend auf dessen The Principles of Psychology (1890), Kapitel VI. Er hätte auch auf Kapitel XV desselben Buches hinweisen können, auf das Kapitel The Perception of Time, wo James zu der Behauptung kommt, daß wir Zeitlängen durch Gefühle in den Augen-, Ohren-, aber auch in den Kopf- und Nackenmuskeln usw. schätzen. Wie er sich ausdrückt: »Muskelgefühle können uns sowohl den Gegenstand ›Zeit‹ als auch sein Maß geben«. Ich finde es faszinierend, diese Behauptungen von James mit einer Passage zu vergleichen, die er in seinem Werk The Varieties of Religious Experience formuliert: »Es gibt einen nur den Frommen bekannten Gemütszustand«, schreibt er dort, »in welchem der Wille, sich selbst zu behaupten und durchzusetzen, der Bereitschaft gewichen ist, zu schweigen und ein Nichts in den Fluten und Wasserbächen Gottes zu sein. In dieser Gemütsverfassung ist das, was wir am meisten fürchteten, für uns zur Erlösung geworden, und die Stunde unsres moralischen Todes hat sich in die Geburtsstunde unsrer Seele verwandelt. Die Zeit der Spannung in unsrer Seele ist vorüber; sie ist dem Zustande glücklicher Ruhe, tiefbefriedigten Aufatmens und dem Gefühl der Ewigkeit ge-
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pherntheorie94 immer detailliertere Beschreibungen davon, wie kinästhetische Wahrnehmungen zu sog. Bildschemen führen. Jene Bilder in unserem Unbewußten, über welche Guardini sprach, werden anscheinend durch unbewußte motorische Erlebnisse erzeugt. Unter den unbewußten motorischen Erlebnissen kommt Augenbewegungen eine besonders wichtige Rolle zu. Ich möchte hier die Aufmerksamkeit auf eine 1980 erschienene, sehr einflußreiche Studie von Wallace Chafe lenken,95 wo der Verfasser eine Parallele aufbaut zwischen einerseits verbalen Prozessen und andererseits dem Sehen im allgemeinen und Augenbewegungen im besonderen. Wie Jana Holšánová, in die Fußstapfen von Chafe tretend, in einer Serie von Studien unlängst demonstrierte, bilden Augenbewegungsmuster und Denkmuster einander ab.96 Was Bonaventura über unsere »sinnlich orientierten Geister« sagte, daß nämlich diese »durch die sinnlichen Dinge, die sie sehen, zu den intelligiblen kommen, die sie nicht sehen können«, scheint vollkommen bestätigt zu werden durch die heutige führende Kognitionsforschung.97
wichen, das keine Angst um eine drohende Zukunft mehr kennt« (James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 43). 94 Vgl. dazu oben, Einleitung, S. 11f. 95 Wallace L. Chafe: The Deployment of Consciousness in the Production of a Narrative, in: Chafe (Hg.): The Pear Stories: Cognitive, Cultural and Linguistic Aspects of Narrative Production, Norwood, NJ 1980. 96 Siehe bes. Jana Holšánová: Discourse, Vision, and Cognition, Amsterdam 2008. 97 Gegenwärtiger Band lag bereits in Fahnen vor, als mir das Buch Antje Wüpper: Wahrnehmen lernen – Aspekte religionspädagogischer Bildbetrachtung am Beispiel religiöser Kunst des Expressionismus, Münster 2000, zur Kenntnis kam, bzw. ich mir das Buch besorgen konnte. Das Buch ist aus meiner Sicht höchstrelevant, höchstinteressant, mit einer wirklich überwältigenden Fülle an Literatur. Ich hoffe auf dasselbe in meiner zukünftigen Arbeit ausführlich Bezug nehmen zu können.
5 Bild und Gebet
Es geht mir in diesem Kapitel um die Frage der Rolle von visuellen inneren Bildern beim geistigen Umgang mit Zusammenhängen, die in der buchstäblichen Sprache nicht faßbar sind und in charakteristischer Weise durch figürliche Rede angedeutet werden. Mit solchen Zusammenhängen ringt die Metaphysik – man denke etwa an Aussagen in der Philosophie der Zeit über die Zukunft, die auf uns zukommt, oder die Gegenwart, die vergeht – und natürlich das religiöse Denken, sowohl auf der Ebene der theologischen Reflexion als auch im schlichten Glaubensleben. Ich kann Reinhard Hoeps durchaus folgen, wenn er in seiner Einleitung zum ersten Band des von ihm herausgegebenen Handbuch der Bildtheologie auf die wesentliche Verflochtenheit hinweist von einerseits Bildern und andererseits Sprachbildern, »deren uneigentliche Rede nicht auf eine Ebene der eigentlichen Bezeichnung zurückgeführt werden kann«.1 Ich knüpfe hier unmittelbar an das vorausgehende Kapitel »Bilder in der natürlichen Theologie« an. Ich habe in dem Kapitel wiederholt auf das Zusammengehören von Metaphern und visuellen Bildern hingewiesen. So habe ich der Formulierung von Victoria Harrison, daß nämlich die religiöse Sprache »gesättigt von Bildern und Metaphern ist«2, wobei sie unter religiöser Sprache sowohl »die in den religiösen Texten verwendete Sprache (Parabeln, Geschichten, Mythen und so fort) als auch die von Gläubigen in Gebet und Anbetung usw. verwendete Sprache« verstand, gleich hinzugefügt, daß Metaphern durch ihre Verbindung mit mentalen Bildern funktionieren.
1
Reinhard Hoeps (Hg.): Bild-Konflikte, Paderborn 2007, 7.
2
Victoria Harrison: Religion and Modern Thought, London 2007, 153.
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Metaphern und innere visuelle Bilder, meinte ich, gehören zu einem einzigen Kontinuum, wobei sich innere und äußere Bilder freilich gegenseitig bedingen. Metaphern, versuchte ich darzulegen, können eben dadurch auf etwas Transzendentes hinweisen, daß die visuellen Bilder, die ihren Stoff ausmachen, fähig sind, neben ihren schlichten Bedeutungen, über ihre schlichten Bedeutungen hinaus, auf etwas Höheres hinzuweisen, auf Bedeutungen, die sie andeuten, aber nicht zeigen. Was im vorausgehenden Kapitel nicht angesprochen wurde, war die Frage, wie denn dieses Höhere irgendwie persönliche Züge annehmen kann – wie Bilder, glaubwürdig, etwas andeuten können, zu dem man beten kann. Dieser Frage möchte ich im gegenwärtigen Kapitel näher kommen. Den Hintergrund des vorigen Kapitels bildete eine Voraussetzungskette, laut der das menschliche Denken sowohl eine verbale als auch eine perzeptuelle Dimension hat, wobei die perzeptuelle, in erster Linie die visuelle Dimension die ursprünglichere und grundlegende ist, beiden allerdings die motorische Dimension vorausgeht. Wir sind von unbewußten motorischen Erlebnissen beherrscht, von Erlebnissen, die eben jene inneren Bilder in uns erzeugen, mittels welcher wir die Wirklichkeit eigentlich deuten; und unter den unbewußten motorischen Erlebnissen kommt bekanntlich Augenbewegungen eine ausgezeichnete Rolle zu. Die Auffassung, daß es so etwas wie visuelles Denken gibt, kann sich auf eindeutige kognitionswissenschaftliche Resultate berufen – im Abschnitt »Leibliches Beten, bildliches Beten« weiter unten werde ich noch auf solche Resultate hinweisen –, und es kommt also nicht von ungefähr, daß die Idee des visuellen Denkens in der Geschichte der Philosophie, auch in jener der christlichen Philosophie, immer wieder auftaucht.
D AS P ARADOX
DES
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Die Überschrift dieses Abschnittes ist dem Titel einer der Universitätspredigten entlehnt, die Paul Tillich Anfang der neunzehnhundertfünfziger Jahre hielt.3 In jener Predigt gibt Tillich eine Deutung von Römerbrief 8, 2627, ich zitiere die Stelle in dem von ihm gewählten Wortlaut: »[…] der
3
Paul Tillich: Das Paradox des Gebets, in: Tillich: Religiöse Reden, Berlin 1987, 296-299.
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Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen […], sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit Seufzern, die zu tief sind für Worte. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinn sei[…]«. Das von Tillich beschriebene Paradox besteht offenbar darin, daß man Gott ja eigentlich nicht anreden kann, wobei man aber auf das Beten nicht zu verzichten vermag. Tillich versucht das Paradox zu lösen, indem er darauf hinweist, daß die Formel »Gott […] ›erforscht die Herzen der Menschen‹ « die »heutige Erkenntnis« vorwegnimmt, laut der »das kleine Licht des Bewußtseins sich erhebt über einem großen Dunkel unbewußter Triebe und Bilder«. Worte gebrauchen wir »mit Bewußtsein«: deshalb, sagt Tillich, können sie nicht »das Wesen des Gebets« ausmachen. Ich fühle mich von der Lösung, die hier Tillich vorschlägt, durchaus angesprochen, und ich komme auf dieselbe weiter unten zurück; inzwischen möchte ich aber das Paradox des Gebets noch von einer anderen Seite berühren, nämlich aus der Perspektive des Gegensatzes zwischen geoffenbarter Religion und aufgeklärtem Denken. Ich beginne mit einem Hinweis auf das Buch The Unknown God: Agnostic Essays, 2004, von Anthony Kenny.4 Kenny studierte in Rom in den neunzehnhundertfünfziger Jahren, wurde katholischer Priester, verlor aber allmählich seinen Glauben. Er schied aus dem Priesterstand aus, übersiedelte nach Oxford als Philosophielehrer, wurde dann gewissermaßen Anhänger der Ideen Wittgensteins und schließlich auch sein literarischer Nachlaßverwalter. Für einen Agnostiker, schreibt nun Kenny, ist Gott in jeder Hinsicht unfaßbar und unvorstellbar. Das heißt aber nicht, daß man zu Gott nicht beten könnte. Wie er sich ausdrückt: »An agnostic’s praying to God whose existence he doubts is no more unreasonable than the act of a man adrift in the ocean, or stranded on a mountainside, who cries for help though he may never be heard[…]«.5 Zweitens möchte ich auf das klassische Werk von William James, The Varieties of Religious Experience, 1902, zurückgreifen, wo der Autor die Bemerkung macht, daß wenn man »alle kirchlichen und theologischen Streitfragen beiseite [läßt], so besteht die Religion […] als Tatsache innerer Erfahrung überall und in allen ihren Entwickelungsstufen in dem Bewußtsein eines Verkehrs zwischen dem Einzelmenschen und der höheren Macht […], an die er sich gebunden fühlt«,
4
Vgl. oben, Kap. 4, Anm. 81.
5
Kenny: The Unknown God, London 2004, 19f.
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zu welcher Bemerkung er noch hinzufügt: »die Überzeugung, daß durch das Gebet reale Wirkungen ausgelöst werden, ist eben der tiefinnerste Wesenskern aller lebendigen Religion. Welcher Art freilich diese Wirkungen sind, darüber sind die Meinungen stets sehr geteilt gewesen. Man hat den unsichtbaren Mächten Betätigungen zugeschrieben [...], die heute kein Gebildeter mehr glauben kann.« Und hier folgt bei James nun ein Hinweis, der unmittelbar unseren gegenwärtigen Gedankengang berührt. Er beruft sich auf folgende Äußerung eines zeitgenössischen Altphilologen und Philosophen: »Auf die Frage […], zu wem wir beten sollen, muß man, so seltsam das klingen mag, antworten, daß darauf recht wenig ankommt.« Diese Äußerung, meint James, »mag uns zeigen, wie unabhängig der Gebetstrieb von der kirchlichen Lehrtradition ist«.6 Der Glaube der Gebildeten, Unabhängigkeit von der kirchlichen Lehrtradition – das sind Begriffe, die uns an einen ganz bestimmten Typus insbesondere der christlichen Religiosität denken lassen: an den von Ernst Troeltsch beschriebenen Typus des modernen Mystikers. Troeltsch spricht von »drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee: die Kirche, die Sekte und die Mystik«. Die Kirche ist die Institution, »die Massen aufnehmen und der Welt sich anpassen kann«, die Sekte ist die »freie Vereinigung strenger und bewußter Christen«, während »die Mystik [...] die Verinnerlichung und die Unmittelbarmachung der in Kult und Lehre verfestigten Ideenwelt zu einem rein persönlich-innerlichen Gemütsbesitz« ist. »Die Mystik«, unterstreicht Troeltsch, »hat Wahlverwandtschaft zur Autonomie der Wissenschaft und bildet das Asyl für die Religiosität wissenschaftlich gebildeter Schichten[...]«.7 Die Frage des gegenwärtigen Abschnitts dieses Kapitels könnte dann auch so formuliert werden: was geht aus kognitionsphilosophischer Sicht vor im Geiste des modernen Mystikers, was kann da vorgehen, wenn er betet? Was da nicht vorgeht, das wissen wir ja ungefähr. Die Religiosität des Philosophen Ludwig Wittgenstein, den ich soeben im Zusammenhang mit dem Agnostiker Kenny erwähnte, kann uns hier als geeignetes Beispiel die-
6
William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit: Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, übers. v. Georg Wobbermin, Leipzig 1907, 429f.
7
Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Ges. Schr., Bd. I, Tübingen 1923, 967, vgl. weiter unten Kap. 6, S. 179f.
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nen. Vorwiegend jüdischer Abstammung, väterlicherseits lutheranisch, mütterlicherseits katholisch, wurde Wittgenstein von seinen Freunden immer wieder als ein irgendwie zutiefst religöser Mensch dargestellt; gewiß war er aber kein praktizierender Christ. »I could not possibly bring myself to believe all the things that they believe« – sagte er von zwei seiner Schüler, die zum Katholizismus übertraten.8 Und was unser jetziges Thema des Näheren berührt: folgendes wurde in den unter dem Titel Vorlesungen über religiösen Glauben herausgegebenen Gesprächen mit Wittgenstein aufgezeichnet: »Nehmen wir ›Gott erschuf den Menschen‹. Bilder von Michelangelo, die die Erschaffung der Welt darstellen. Im allgemeinen gibt es nichts, was die Bedeutung von Wörtern so gut erklärt wie ein Bild, und ich vermute, daß Michelangelo so gut war, wie irgendjemand nur sein kann, und daß er sein Bestes gab, und hier ist nun das Bild von der Gottheit, die Adam erschafft. – Wenn wir es sähen, würden wir bestimmt nicht glauben, es mit der Gottheit zu tun zu haben. Das Bild muß in einer ganz anderen Art gebraucht werden, wenn wir den Mann in dem merkwürdigen La9
ken ›Gott‹ nennen sollen und so weiter.« (Vgl. Abbildung 1)
Abbildung 1: Michelangelo: Die Erschaffung Adams (1508-1512)
Quelle: Wikipedia – Sixtinische Kapelle, Rom
8
Norman Malcolm: Ludwig Wittgenstein: A Memoir, London 1958, 72, vgl. auch Malcolms posthum veröffentlichtes Buch Wittgenstein: A Religious Point of View?, London 1993.
9
Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, übersetzt v. Ralf Funke, Frankfurt/M. 2000, 87.
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Tillichs Ansicht, laut der Worte nicht das Wesen des Gebets ausmachen, war seinerzeit ganz offensichtlich eine Herausforderung gegenüber der Hauptströmungsposition der Gebetstheologie, welche Herausforderung aber, wenn ich die Lage richtig überblicke, im Wesentlichen bis heute ohne Wirkung geblieben ist.10 Die Formel im Eintrag »Dogmatische Probleme gegenwärtiger Gebetstheologie« in Band 12 der Theologischen Realenzyklopädie, 1984, laut der der »Mensch [...] sprachlich verfaßt [ist]. Er kann sprechen, also auch beten«, scheint mir nach wie vor den herrschenden Standpunkt zusammenzufassen. Demgegenüber bietet Heilers 1918 erschienenes klassisches Werk Das Gebet immer noch wichtige Anregungen zu einer alternativen Auffassung. Zwar werden innere oder gar äußere Bilder auch bei Heiler praktisch nicht erwähnt – »Bild« bedeutet für ihn immer nur Sprachbild, etwa wenn er den »Bilderreichtum [...] mancher primitiver Gebete« erwähnt, oder darüber berichtet, daß » ›[d]er Neger [...] sehr gern in Bildern [spricht]‹ « und es » ›[n]ichts Seltsameres gibt [...], als den Ansprachen der eingeborenen (christianisierten) Prediger zuzuhören, die den pittoresken Zug Ihrer Umgangssprache treu bewahren‹ «11 – aber er hat einen ausgeprägten Sinn für das Vor-Schriftliche und überhaupt das Vorsprachliche. »Die schriftlich fixierten Worte«, betont Heiler, »decken sich [...] nicht vollständig mit dem im [spontan ursprünglichen] Gebet gesprochenen. Die Aufzeichnung bringt bereits eine Stilisierung der echten Gebetsworte mit sich; was im wirklichen Gebet wortloses Fühlen, Sehnen und Vorstellen ist, wird in Worte gekleidet, das stimmungsgemäß Erlebte in die allen verständliche Sprache übersetzt.«12 Auch schenkt Heiler dem Thema Gebetshaltung und Gebetsgestus eine besondere Aufmerksamkeit. Bereits ganz am Anfang seines Buches findet sich ein Hinweis auf das Kapitel »Gebärden des Gebetes« in Sittls Werk Die Gebärden der Griecher und Römer, wo der Verfasser ja die Beobachtung macht, daß »auf der ganzen
10 Vgl. allerdings Peter Haigis: Beten – über Worte hinaus: Überlegungen zu Paul Tillichs Gebetstheologie, in: Werner Schüßler u. A. James Reimer (Hg.): Das Gebet als Grundakt des Glaubens, Münster 2004, 49-76. 11 Friedrich Heiler: Das Gebet: Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung (1918), 5. Aufl., München 1923, 53. 12 Ebd., 28.
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Welt die Beter ihre Hände zum Himmel emporstrecken«, und daß dies »ein Gemeinplatz der alten Theisten gewesen zu sein [scheint], der wirklich für alle Völker der alten Welt seine Richtigkeit hat«, bzw. daß die »Richtung Abbildung 2: Antike Gebetshaltung
Quelle: Sittl: Die Gebärden der Griecher und Römer, 187
der Arme [...] durch die des Blickes bedingt [wird]; sah also der Betende zum freien Himmel, wo er die Götter dachte, auf, dann streckte er auch die Hände dorthin in die Höhe«.13 (Vgl. Abbildung 2) »Wie die Rede«, betont dann auch Heiler, »nur eine von den Ausdrucksfunktionen des Psychischen ist und ihr stets die Körperhaltung, die Miene und Geste zur Seite gehen, so besteht auch das Gebet nicht nur in gesprochenen Worten, sondern ist immer begleitet von einer bestimmten Körperhaltung, bestimmten Körperbewegungen, einem bestimmten Mienenspiel. Ja, wenn es richtig wäre, daß die ›Gebärdensprache‹ älter ist als die ›Lautsprache‹, so könnten wir annehmen, daß der Gebetsgestus älter ist als das Gebetswort, daß das Gebet ursprünglich nur in bestimmten Gebärden bestand, denen erst später, nach 14
dem Fortschritte der Sprache, die Laute und Worte zur Seite treten.«
Worauf Heiler immer wieder die Aufmerksamkeit lenkt, ist das schier Körperliche beim Beten: das Gebet als Herzschlag und Seufzen, wie es bei Luther steht, das Zucken, Leben und Weben, von dem Sebastian Franck spricht,15 und freilich die Anweisung, die Meister Eckhart gibt: » ›Also kräftiglich soll man beten, daß alle die Glieder des Menschen und Kräfte,
13 Karl Sittl: Die Gebärden der Griecher und Römer, Leipzig 1890, 187. 14 Heiler, a. a. O., 98. 15 Ebd., 224.
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beide, Augen und Ohren, Herz, Mund und alle Sinne dazu gekehrt wären[...]‹ «.16 Heilers Hellhörigkeit für das Vorsprachliche weist einerseits zurück in die Urzeiten der Gebetstheologie und nimmt andererseits entscheidende Entwicklungen in der Kognitionsphilosophie des zwanzigsten Jahrhunderts vorweg. Ich erinnere an Tertullians Über das Gebet: »Es beten ja auch die Engel alle, es betet jegliche Kreatur, es betet das Vieh und die wilden Tiere. Auch sie beugen ihre Knie, und wenn sie aus ihren Ställen oder Höhlen herauskommen, so blicken sie nicht untätigen Mundes gen Himmel empor, sondern lassen den Hauch sprühend ausgehen in ihrer Weise. Die Vögel nehmen, wenn sie sich vom Neste erheben, die Richtung gen Himmel, breiten anstatt der Hände die Flügel in Kreuzform aus und lassen Laute hören, die als Gebet gelten können.«
Die maßgebliche kognitionswissenschaftliche Theorie von Allan Paivio, eine Theorie über den Zusammenhang von Wörtern, Bildern, und das Motorische, aber auch Arnheims Theorie der deskriptiven Gesten, dürften hier zu einleuchtenden Erklärungen führen.17 Paivios Begriff von schematischen Bildern, Arnheims sehr detaillierte Untersuchungen über abstrakt-allgemeine Bilder – mentale Bilder, denen man etwa auch durch jene spontanen Kritzeleien näherkommen kann, »mit denen Lehrer und Vortragende auf der Tafel Konstellationen aller Art versinnbildlichen«18, bzw. mit Zeichnungen, die Versuchspersonen anhand von entsprechenden Anweisungen anfertigen – aber auch die analytisch-philosophischen Argumente des H. H. Price in seinem 1953 erschienenen Thinking and Experience19 über flüchtige, verwischte und eben dadurch generische Bedeutungen vermittelnde geistige Bilder sind also das Instrumentarium, mit Hilfe von welchem ich einen – zugegebenerweise in den allerersten Anfängen steckenden – Antwortversuch für meine eingangs formulierte Frage vorschlagen möchte. Die Frage lautete: Wie können Bilder, glaubwürdig, etwas andeuten, zu dem man beten kann? Inzwischen konnte ich vielleicht deutlich machen, daß sich hier der Ausdruck »glaubwürdig« auf
16 Ebd., 286. 17 Vgl. oben, Kap. 1, S. 37f., bzw. weiter unten, Kap. 6, S. 166. 18 Arnheim: Anschauliches Denken (vgl. oben, Einleitung, Anm. 34), 116. 19 Vgl. oben, Kap. 1, Anm. 29.
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das Glauben bzw. das kritische Denken der modernen, aufgeklärten, wissenschaftlich gebildeten Person bezieht. Und meine rudimentäre Antwort heißt: die sinnvolle Möglichkeit des Gebets zu einem transzendenten, anthropomorphen Wesen läßt sich nachvollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Gebet, wie jede geistige Tätigkeit, aus leibhaft-motorischen, bildlichen und verbalen Komponenten besteht, die miteinander in der engsten Verflochtenheit funktionieren, und wo also das Motorische und das Bildliche gegebenenfalls eine – wenn ich hier dieses Wort verwenden darf – Kohärenz ermöglichen, die sich auf der bloß verbalen Ebene nicht einstellen könnte. In seinem oben im Kapitel 4 bereits angeführten Buch Aquinas on Mind äußert sich Kenny über geistige Bilder folgendermaßen: »the power […] to have visual imagery depends on the power to see«, und unter »imagination« dürfen wir »simply the ability to call up mental images« verstehen: »an ability which you can exercise now simply by shutting your eyes and imagining what I look like, or by sitting in silence and reciting the Lord’s Prayer to yourself. Some behaviourist philosophers have denied the existence of this power, but obviously wrongly; it is a power which is very generally shared by members of the human race.«20 Das Vaterunser ist freilich das Grundgebet des Christentums, zurückreichend auf die Psalmen und bis auf die Uranfänge der jüdisch-semitischen Tradition. Vielleicht wäre es nicht absurd, ja sogar möglich, Vermutungen darüber anzustellen, was denn die typischen mentalen Bilder waren, die das Rezitieren des Vaterunsers im Laufe der Jahrtausende im menschlichen Geiste begleiteten. Aber die Fragestellung des gegenwärtigen Kapitels ist eine andere. Wonach ich suche – und ich hoffe, ich habe hier ein mehr oder minder klares Bild von meinen eigenen Absichten –, sind innere Bilder, die einerseits irgendwie dem Gefühl der Andacht, andererseits aber auch einer gewissen demythologisierenden Einstellung entsprechen. Solche innere Bilder mochten Franz Grillparzer vorschweben, als er 1825 den Versuch unternahm, zu Joseph Führichs Das Gebeth des Herrn: Neun Bleistiftzeichnungen zum Vaterunser ein Begleitgedicht zu verfassen (vgl. Abbildungen 3 und 4). Das Gedicht blieb ein Fragment, abbrechend bei der Zeile »Gib uns heut unser tägliches Brot«. Die Zeichnungen selbst sind von einer schlichten biblischen Naivität geprägt; die von Grillparzer
20 Anthony Kenny: Aquinas on Mind, London 1993, 38f.
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gewählten Sprachbilder weisen da offenbar in die Richtung einer abstrakteren Deutung. So stellt etwa die Zeichnung mit der Bildunterschrift »Vater Unser« Gott über den Wolken thronend dar, in ein Gewand gehüllt, Abbildung 3: Joseph Führich: Vater unser, Bleistiftzeichnung zum Vaterunser Blatt 1, vor 1829
Quelle: Führich
das Wittgensteins Hohn vermutlich ebenso geweckt hätte, wie das »merkwürdige Laken« auf dem Bild Michelangelos. Hierzu Grillparzer: Hör uns, Gott, wenn wir rufen! Wir alle deine Kinder! Eingehüllt im Mantel deiner Liebe, Hingelagert zu den Füßen deiner Macht, Angeschmiegt an deine Vaterbrust: Wir alle deine Kinder! Vater unser!
Grillparzers rettende Idee hier ist das abstrakte Bild Mantel der Liebe, begleitet von anschaulicheren Bildern wie Das Rufen des Menschen; Der Mensch als Kind; Das Kind schmiegt sich an die Vaterbrust. Eine Heraus-
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forderung anderer Art stellt dann Führichs Zeichnung mit der Bildunterschrift »Gib uns unser tägliches Brod« dar, wo beim Bestellen des Ackers Abbildung 4: Joseph Führich: Vater unser, Bleistiftzeichnung zum Vaterunser Blatt 5, vor 1829
Quelle: Führich
überraschenderweise ein Engel mithilft. Ich gehe davon aus, daß die Zeile »Unser tägliches Brot gib uns heute« die am leichtesten durch innere Bilder veranschaulichbare Formel des Vaterunsers ist; Grillparzer muß hier aber eben etwas zu der gegebenen Szene sagen. Die entsprechende Strophe lautet dann: Der Mensch ist nicht schlimm, Obwohl leider auch nicht gut, Aber die Sorge für das Nächste Macht ihn für den Nächsten blind, Was eisern alle Wesen bedingt, Die Selbsterhaltung, beschränkt ihn Und hält ihn nieder am Boden, Statt aufwärts zu dir und den Brüdern entgegen. Befrei uns, Herr, von der Sorge! Gib uns heut unser tägliches Brot.
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Hier meine ich im Bild Aufwärts zu Dir die Wendung erblicken zu dürfen, die einerseits auf die Körperhaltung – gleichsam eine Gebetsgeste – der Männerfigur in der Zeichnung, und andererseits auf das grundsätzliche innere Körperbild beim Beten überhaupt – auf das fundamentale Körpergefühl des Betens – hinweist.
G EBET , Z EIT , E WIGKEIT Ich habe im gegenwärtigen Kapitel eingangs die Philosophie der Zeit als ein Gebiet erwähnt, wo man ja ebenfalls nicht ohne figürliche Sprache auskommt, und versuche in diesem Buch immer wieder zu zeigen, daß sich Sprachbilder letzten Endes immer auf innere mentale Bilder, und damit aber auch auf spezifische kinästhetische Empfindungen stützen. Ich möchte hier abschließend zwei im vorausgehenden Kapitel bereits zitierte Passagen von William James anführen. »Es gibt einen nur den Frommen bekannten Gemütszustand«, schrieb er in The Varieties of Religious Experience, »in welchem der Wille, sich selbst zu behaupten und durchzusetzen, der Bereitschaft gewichen ist, zu schweigen und ein Nichts in den Fluten und Wasserbächen Gottes zu sein. In dieser Gemütsverfassung ist das, was wir am meisten fürchteten, für uns zur Erlösung geworden, und die Stunde unsres moralischen Todes hat sich in die Geburtsstunde unsrer Seele verwandelt. Die Zeit der Spannung in unsrer Seele ist vorüber; sie ist dem Zustande glücklicher Ruhe, tiefbefriedigten Aufatmens und dem Gefühl der Ewigkeit gewichen, das keine Angst um eine drohende Zukunft mehr 21
kennt.«
Wir wollen nun diese Passage zusammen mit jener aus den Principles of Psychology betrachten, wo James einen Zusammenhang andeutete zwischen dem Vergehen der Zeit einerseits, und spezifischen körperlichen Gefühlen – Muskelspannungen – andererseits. Die Schlußfolgerung, die sich da abzeichnet, leuchtet ein. Es ist eben unser Kampf gegen das Vergehen der Zeit – gegen den Druck der Zeit –, ein körperlicher, angespannter Kampf, der sich in entsprechenden sprachlichen Bildern ausdrückt. Das Gebet kann – teilweise, zeitweise – zu einer Suspendierung dieses Kampfes
21 James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, 43, vgl. oben, S. 125f.
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führen. Damit gewinnt der Mensch den Eindruck, in das Reich der Ewigkeit – teilweise, zeitweise – eingetreten zu sein. Metaphern gehen auf innere Bilder, innere Bilder auf kinästhetische Gefühle zurück. Unsere Beziehung zur vermeintlichen Ewigkeit drückt sich dann eben in Metaphern der Entspannung aus, in metaphorischen Verwendungen von Ausdrücken wie »Aufgehen«, »Versinken« und dergleichen, wobei da die entsprechenden Bilder nicht zuletzt Bilder der Natur sind, denen wir uns hingeben, die wir verinnerlichen. Man versinkt im Anblick von erhabenen Bildern des Naturschönen; man fühlt da eine Beziehung zur Ewigkeit zu gewinnen.
6 Die konservative Zeitanschauung
Was bewahrt der Konservative? Das Leben – sein eigenes Leben. Doch das Leben ist endlich, die Zeit vergeht. Was der Konservative jenseits seines eigenen Lebens bewahren kann und bewahrt, ist die Möglichkeit des Lebens der folgenden Generationen. Daher die Verpflichtung des Konservatismus für den Wert der Familie; für die Bewahrung einer unbeschädigten Natur; für die Bewahrung der eigenen Kultur; und die Bewahrung jener Religion, ohne welche die eigene Kultur nicht fortbestehen kann. Die Geschichte kennt keine Kultur, die ohne eine erhaltende Religion fortbestanden wäre; noch freilich eine solche Kultur, die ihren Fortbestand bewahrt hätte, obwohl ihre Mitglieder die Werte einer anderen Kultur zu vertreten begonnen hatten. Gegen die »Demagogie der unbeschränkten Demokratie« argumentierend, gegen jene argumentierend, »die einen Anteil aus dem Reichtum unserer Gesellschaft für sich verlangen, ohne sich der Disziplin zu unterwerfen, die die Grundlage dieses Reichtums ist«, schrieb F. A. von Hayek: »Der Einzelne wird dadurch ein Mitglied der Gesellschaft und wird dadurch zu Ansprüchen berechtigt, daß er die Regeln der Gesellschaft befolgt. Gänzlich widersprechende Ansichten mögen ihm Rechte in anderen Gesellschaften geben, aber nicht in unserer. Für die Wissenschaft der Anthropologie mögen alle Kulturen oder Sitten gleich gut sein, wir aber halten unsere Gesellschaft dadurch aufrecht, daß wir die anderen als weniger gut betrachten.«1
1
Friedrich August von Hayek: Law, Legislation and Liberty, Bd. 3, London 1979, 172.
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Es gilt seit Heidegger als ein Gemeinplatz, daß das Seinsproblem ein Zeitproblem ist. Die Analyse der konservativen Seinsauffassung ist zugleich eine zeitphilosophische Herausforderung. So wie unser eigenes Leben im Flusse der Zeit vergeht, findet die Aufeinanderfolge der Generationen im Flusse der Zeit statt. Wenn der Konservative das Leben bewahrt, steht er zugleich mit der Macht der Zeit im Kampf. Die konservative Weltanschauung läßt sich nur zusammen mit der konservativen Zeitanschauung verstehen. Im Folgenden versuche ich eine Charakteristik dieser Zeitanschauung zu erstellen.
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1.1 Zeit als Illusion? In der Geschichte der Zeitphilosophie herrscht seit zweieinhalbtausend Jahren – von den Anfängen bis heute – der Gedanke, daß das Vergehen der Zeit nichts Wirkliches, sondern bloßer Schein sei. Diesen Gedanken vertraten Platon, Augustinus, Kant, aber auf eigene Art auch Wittgenstein oder gar Heidegger; und freilich McTaggart und alle, die im zwanzigsten Jahrhundert nach ihm kamen. Platon schreibt Heraklit die Worte zu, daß »alles davongeht und nichts bleibt«, daß »alles Seiende einem strömenden Flusse« gleiche und daß man »nicht zweimal in denselben Fluß steigen« könne,2 er ergreift indessen ihm gegenüber Partei für Parmenides, als er hinter der Erscheinungswelt der Veränderung eine andere Welt, jene der zeitlosen Ideen postuliert. An den Gegensatz zwischen Heraklit und Parmenides wird wiedererinnert in den ersten Sätzen des 1999 erschienenen Buches Das Ende der Zeit des Physikers Julian Barbour, heute wohl der extremste Fürsprecher des Gedankens einer unbeweglichen Welt. Barbour weist auf das Gemälde Schneesturm mit Dampfschiff vor Hafeneinfahrt von William Turner hin (Abbildung 1), das für ihn eine dramatische bildliche Repräsentation des heraklitischen Stromes und zugleich eine Widerlegung der heraklitischen Auffassung ist. Dieses Bild, betont Barbour, ist ein statisches; seit es geschaffen wurde, hat
2
Platon: Kratylos, 402a.
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es sich an keinem Punkt verändert; es ist unbeweglich, erweckt aber die Illusion der Bewegung.3 Die aus dem Turner-Gemälde zu ziehende Lehre Abbildung 1: J. M. W. Turner: Steamer in a Snowstorm, 1842
Quelle: Wikipedia – Tate Gallery, London
verallgemeinernd, schreibt Barbour: »Die Aufgabe besteht nicht darin, die Zeit zu studieren, sondern in dem Aufzeigen dessen, wie die Natur den Eindruck der Zeit erzeugt.« Unser Gehirn, nimmt Barbour an, repräsentiert die zeitlose Welt jederzeit gleichsam mittels mehrerer Standfotos, die die Welt in verschiedenen Anordnungen zeigen; ihre abweichenden Inhalte miteinander vergleichend erleben wir diese Standfotos insgesamt als bewegte Bilder – unser Gehirn führt ein Kino für uns vor. Platon, meint Barbour, hatte geradezu recht, als er das Sein als wirklich, das Werden aber als bloßen Schein darstellte.4 Wenn auch von der verkehrten Seite, berührt Barbour mit seinem Turner-Hinweis doch einen wesentlichen Zug unseres Zeitbegriffs: Daß nämlich unsere Zeitvorstellung in fundamentaler Weise auf gewisse unserer Bilderlebnisse aufbaut. Wir können uns von der Zeit nur mittels Metaphern einen Begriff bilden, vor allem mittels Metaphern der räumlichen Bewegung, d. h. letzten Endes mittels Bilder der räumlichen Bewegung.5 Platon
3
Julian Barbour: The End of Time: The Next Revolution in Our Understanding of
4
Ebd., 17, 29 u. 45.
5
Andererseits bauen unsere Bilderlebnisse – wie ich das im Kap. 2 oben anhand
the Universe (1999), London 2000, 1.
von Gombrich ausführlich erörterte – in fundamentaler Weise auf die Zeitlichkeit der Bilder. Stehbilder sind keine eindeutigen Bedeutungsträger, bewegte Bilder können indessen durchaus eindeutig sein; d. h. nur das in der Zeit gesche-
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betrachtete die Zeit selbst als ein Bild: Laut seiner vielsagender Formulierung ist die Zeit ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit.6 Acht Jahrhunderte später stellt Augustinus der Unvergänglichkeit, der Ewigkeit, wieder die Metapher der fließenden Zeit gegenüber, als er schreibt, daß »eine lange Zeit nicht lang werde als nur durch viele vorübergehende Augenblicke, die nicht zugleich verfließen können«, daß aber »in der Ewigkeit nichts vorübergehe, sondern in ihr alles stets gegenwärtig sei; dagegen keine Zeit ganz gegenwärtig sei«,7 oder daß wir die Zeit kurz nennen können, »wenn in der Vergangenheit etwa zehn Tage verflossen sind«8. Aber diese fließende Zeit scheint für Augustinus letzten Endes begrifflich unfaßbar zu sein. Wie er in der wohl meistzitierten Passage der Philosophie der Zeit sagt: »Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht jedoch kann ich wenigstens sagen, daß ich weiß, daß, wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die Vergangenheit Übergänge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart nur darum zur Zeit wird, weil sie in die Vergangenheit übergeht, wie kön9
nen wir da sagen, daß sie ist[…]«
Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht. Laut dem heutigen kognitionswissenschaftlichen Standpunkt, den Platon im Philebos übrigens eindeutig vorwegnahm,10 hat das menschliche Denken so-
hende Bild ist vollständig. Und unsere Augen tasten freilich auch Stehbilder in der Aufeinanderfolge der Zeit ab. 6
Timaios, 37d.
7
Bekenntnisse, Buch XI, Kap. XI, übers. Otto F. Lachmann.
8
Bekenntnisse, Buch XI, Kap. XV, übers. Alfred Hofmann.
9
Bekenntnisse, Buch XI, Kap. XIV, übers. Otto F. Lachmann.
10 Vgl. meine Leipziger Antrittsvorlesung Wörter und Bilder, in: Humboldt-Nachrichten – Berichte des Humboldt-Vereins Ungarn, No. 29, Dezember 2007, 31.
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wohl eine verbale als eine visuelle – allgemeiner: eine perzeptuelle – Dimension.11 Und wenn in unserem Zeitdenken eben die perzeptuelle Dimension die bestimmende ist, so ist die Verlegenheit von Augustinus verständlich: Denn er besaß zwar gewisse sich auf die Zeit beziehende perzeptuelle Vorstellungen, verfügte aber nicht – ebenso wenig wie wir heute – über eine in Wörtern faßbare, genaue Definition der Zeit. Die Lösung, die Augustinus in dieser Lage wählte, war die Verneinung des äußerlich-objektiven Seins der Zeit, die Auffassung derselben als ein bloß inneres Erlebnis: »In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten[…] […] der Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen, bleibt auch, wenn sie vorübergegangen sind, und ihn messe ich, wenn ich die Zeiten messe.«12 Eine Art augustinischen Subjektivismus kennzeichnet auch jenes – sowohl im neunzehnten als auch im zwanzigsten Jahrhundert stark wirkende – zeit- und raumphilosophische Paradigma, welches Kant ausgearbeitet hatte, um die menschliche Erkennbarkeit der von Naturgesetzen geregelten Welt des von ihm derart bewunderten Newton zu erklären. Naturgesetze sind in der Auffassung von Kant allgemeingültige und notwendige Wahrheiten, zu deren Entdeckung die auf das bloß Einzelne und Zufällige gerichtete sinnliche Wahrnehmung durchaus unzureichend ist. Die Naturgesetze können wir laut Kant dadurch erkennen, daß wir selbst die grundlegenden ordnenden Prinzipien – wie z. B. das Kausalprinzip, und vornehmlich die allgemeinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit – auf den Gegenstand der Erkenntnis projizieren. »Die Zeit ist nichts Objektives und Reales«, schreibt Kant bereits in seiner Inauguraldissertation aus dem Jahre 1770, »sondern eine subjektive, durch die Natur des menschlichen Geistes notwendige Bedingung, wonach alles Sinnliche nach einem bestimmten Gesetze einander beigeordnet wird. Sie ist eine reine Anschauung.«13 Obwohl allerdings die Zeit subjektiv ist, ist sie dennoch die Grundlage jeder Objektivität, jeder Gegenständlichkeit; sie ist überhaupt der Rah-
11 Vgl. oben, Kap. 4, bes. S. 99ff. und 125. 12 Bekenntnisse, Buch XI, Kap. XXVII, übers. Otto F. Lachmann. 13 »Tempus non est obiectivum aliquid et reale, […] sed subiectiva condicio per naturam mentis humanae necessaria, quaelibet sensibilia certa lege sibi coordinandi, et intuitus purus.« (Immanuel Kant: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, §14, Punkt 5.) Die deutsche Übersetzung entnehme ich Eislers Kant-Lexikon.
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men, in dem für uns die Gegenstände erscheinen können. Kant geht bereits 1770 die ersten Schritte auf jenem Weg eines Seiltanzes ohne Seil der labilschillernden begrifflichen Unterscheidungen, der dann zum Schwindel der Kritik der reinen Vernunft14 führt. Die Inauguraldissertation fährt dann so fort: »Obgleich nun die Zeit, an sich und absolut gesetzt, eine Einbildung [ens imaginarium] ist, so ist sie doch […] ein höchst wahrer Begriff und die über alle möglichen Gegenstände der Sinne ins Unbegrenzte sich erstreckende Bedingung anschaulicher Vorstellung.«15 Entsprechende Passagen aus der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft: »Die Zeit ist eine nothwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. […] Die Zeit ist nicht etwas, was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als objective Bestimmung anhinge, mithin übrig bliebe, wenn man von allen subjectiven Bedingungen der Anschauung derselben abstrahirt[…]«16 Auch Kant nimmt einen Zusammenhang zwischen Zeit und Bild wahr. Laut einer vielzitierten Formulierung von ihm können wir an die Zeit nicht denken, ohne in Gedanken eine gerade Linie zu ziehen (»die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll«).17 Und der Zeitaspekt spielt eine Hauptrolle im sozusagen bildphilosophischen Kapitel der Kritik der reinen Vernunft – im berühmt-berüchtigten Schematismus-Kapitel.18 »Das reine Bild [...] aller Gegenstände der Sinne [...] überhaupt«, schreibt hier Kant, »[ist] die Zeit«,19 und das heißt: wenn wir uns von Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge nicht irgendein abstraktes Bild machen können, so können wir auch von der Ordnung der gegenständlichen Welt keine Vorstellung haben. Auch taucht an dieser Stelle die Fluß-Metapher auf: »Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Daseyn des Wandelbaren.«20 In einem späteren Teil der Kritik der reinen Vernunft trägt dieselbe
14 Erste Ausgabe (A) 1781, zweite Ausgabe (B) 1787. 15 De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, §14, Punkt 6. 16 B 46 und B 49. 17 B 154. 18 Eine ausführlichere Erörterung der Problematik des Schematismus-Kapitels liefere ich in meinem Beitrag Kritik des reinen Bildes: Anschauung, Begriff, Schema, in: Hans Lenk u. Reiner Wiehl (Hg.): Kant Today – Kant aujourd’hui – Kant heute, Münster 2006, 71-84. 19 B 182. 20 B 183.
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Metapher eine entgegengesetzte Aussage: »die Zeit aber, mithin alles was im inneren Sinne ist, [fließt] beständig«.21 Ob wir allerdings die Zeit nun als fließend oder eben als unwandelbar betrachten müssen, ist dieselbe in der Philosophie Kants eine Dimension nicht der Welt an sich, sondern bloß der gegenstandsschaffenden Tätigkeit unseres erkennenden Ichs. Auf Kant werde ich, die Fluß-Metapher der Zeit analysierend, in Punkt 1.3 dieses Kapitels noch zurückkommen. Und diese Metapher erinnert uns natürlich an die im Kapitel 3 bereits zitierte Tagebucheintragung Wittgensteins: »Das Unmittelbare ist in ständigem Fluß begriffen. (Es hat tatsächlich die Form eines Stroms.)«22 Obwohl sich Wittgensteins Bemerkung auf unsere Bewußtseinsprozesse bezieht, läßt sich dieselbe auch aus zeitphilosophischer Sicht verwerten – insbesondere die Zeichnung, die er dieser Bemerkung hinzufügt, und die ich weiter unten im 3. Punkt erörtere. Man muß indessen sehen, daß sich Wittgensteins Denken nicht so sehr auf die Natur der Zeit richtet als vielmehr auf die Frage, welche Mißverständnisse es denn sind, die die Philosophie überhaupt dazu bringen, sich mit der Zeit zu beschäftigen? »[M]an [kann] nicht sagen«, schreibt er, » ›die Zeit fließt‹, wenn man mit ›Zeit‹ die Möglichkeit der Veränderung meint.«23 Die Zeit als Träger oder Medium der Veränderung ist eine Illusion; und bereits 1932 faßt Wittgenstein die Fluß-Metapher als einen zu solcher Illusion führenden Irrweg auf. Mit der Beschreibung der Fluß-Metapher beginnt und mit ihrer Zurückweisung wird fortgesetzt der klassische, gegen die Wirklichkeit der Zeit argumentierende Aufsatz von J. J. C. Smart aus dem Jahre 1949.24 Der Gedankengang von Smart stand möglicherweise unter dem Einfluß von Wittgenstein,25 und gewiß unter dem Einfluß von McTaggarts 1908 erschiene-
21 B 291. 22 MS 107, 159, vgl. oben, S. 90f. 23 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen (1930), §52. 24 Smart: The River of Time, in: Mind, Neue Folge 58, Nr. 232, 483-494, deutsche Übersetzung in Walter Ch. Zimmerli u. Mike Sandbothe (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, 106-119. Vgl. oben, Kap. 1, S. 43f. 25 Typoskripte des Blue Book und des Brown Book waren in den 1940er Jahren im angelsächsischen Sprachgebiet ohne allzu große Mühe zugänglich.
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ner Schrift »Die Irrealität der Zeit«.26 McTaggarts Argumentation ist von peinlicher Einfalt. Im Kern zusammengefaßt: Wenn die Zeit wirklich ist, dann sind die in ihr stattfindenden Ereignisse einerseits vergangen, gegenwärtig und zukünftig (die McTaggartsche sogenannte »A-Reihe« der Zeit), andererseits stehen sie im Verhältnis von »früher« und »später« (die sogenannte »B-Reihe«). Die B-Reihe allein reicht nicht aus, um die Natur der Zeit auszudrücken, sie muß begrifflich durch die Unterscheidung vergangen/gegenwärtig/zukünftig ergänzt werden, wobei aber laut McTaggart letztere Unterscheidung zum Widerspruch führt. » ›Vergangen‹, ›gegenwärtig‹ und ›zukünftig‹ «, schreibt er, »sind inkompatible Bestimmungen. Jedes Ereignis muß entweder das eine oder das andere sein, aber kein Ereignis kann mehr als eines sein. [...] Wenn M vergangen ist, ist es gegenwärtig und zukünftig gewesen. Wenn es zukünftig ist, wird es gegenwärtig und vergangen sein. Wenn es gegenwärtig ist, ist es zukünftig gewesen und wird vergangen sein. Demnach sind alle drei inkompatiblen Terme prädizierbar für jedes Ereignis, was offensichtlich im Widerspruch dazu steht, daß sie inkompatibel 27
sind[...]«
Folglich, behauptet McTaggart, sei die Zeit unwirklich. Obwohl gegenüber McTaggarts Argumentation immer wieder vernichtende Kritiken veröffentlicht wurden,28 ist diese bis zum heutigen Tage von entscheidendem Einfluß auf die angelsächsische und deutsche analytische Philosophie. Dieser Einfluß ist kaum bloß jener – zweifellos eigenartigen – mentalen Einstellung
26 J. Ellis McTaggart: The Unreality of Time, in: Mind, Neue Folge, Jg. 17, Nr. 68, 457-474, deutsche Übersetzung in Zimmerli u. Sandbothe (Hg.), 67-86. Auf den Strom der Zeit weist McTaggart in einer Fußnote hin: »insofern man sich das Selbst überhaupt als in Bewegung vorstellt […] stellt man sich das Selbst als ein solches vor, das sich zusammen mit dem Punkt der Gegenwärtigkeit den Strom der Ereignisse von ›vergangen‹ zu ›zukünftig‹ entlang bewegt« (Zimmerli u. Sandbothe, Hg., 81). 27 Ebd. 78f. 28 Einen Überblick dieser Kritiken liefere ich in meinem Aufsatz Hundred Years After: How McTaggart Became a Thing of the Past, in: T. Czarnecki et al. (Hg.): The Analytical Way: Proceedings of the 6th European Congress of Analytic Philosophy, London 2010, 47-64.
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zuzuschreiben, von welcher die in der analytischen Subkultur sozialisierten Philosophen meistens gekennzeichnet sind. Ich selbst kann mir denselben in erster Linie mit der – zufälligen und scheinbaren – geistesgeschichtlichen Parallele erklären, die zwischen McTaggarts Auffassung einerseits und der Minkowskischen Interpretation der speziellen Relativitätstheorie andererseits entstanden ist.29 Und auf den in die Fußstapfen Minkowskis tretenden Hermann Weyl wies interessanterweise auch Heidegger anerkennend hin in seinem Aufsatz Der Begriff der Zeit, 1924: »Weil die Relativitätstheorie sich auf die Fundamente der Zeitbestimmung besinnt, muß in ihrer Arbeit ›die Zeit‹ selbst scharfer sichtbar werden. Insbesondere zeigen die Arbeiten von H. Weyl, der bei seinen grundsätzlichen Überlegungen durch die Phaenomenologie geschult ist, eine Tendenz, die Mathematik immer ursprünglicher nach dem Zeitphaenomen zu richten.«30 Nach dem Zeitphänomen? Konnte Heidegger Weyl mißverstanden haben? Wie wir sogleich sehen werden, ist hier keinesfalls von einem Mißverständnis die Rede. Der Autor von Sein und Zeit hat die Minkowski-Weylsche Deutung der Relativitätstheorie in der Tat akzeptiert, ja in die Grundlagen seiner Zeitphilosophie eingebaut. In den Schriften des jungen Heidegger wird die Relativitätstheorie immer wieder erwähnt. So bereits in seinem 1915 gehaltenen Vortrag »Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft«, wo sich der – mathematisch ganz und gar nicht ungebildete31 – Autor auf Einsteins 1905er Arbeit beruft, die zeitphilosophische Relevanz der Relativitätstheorie allerdings noch bezweifelt: bei dieser Theorie, meint er hier, handelt es sich nicht um die Zeit an sich, sondern um »das Problem der Zeitmessung«, und die Darstellung der Zeit als gleichsam eine vierte Raumdimension bestärkt nur die Anschauungsweise der klassischen Physik, die »die eigentliche Zeit in ihrem Fluß [zerstört] und sie erstarren [läßt]. Der Fluß gefriert, wird zur
29 Siehe dazu meinen Aufsatz Film, Metaphor, and the Reality of Time, vgl. oben, Kap. 4, S. 125, Anm. 92. In bezug auf Minkowski siehe oben, Kap. 1, S. 35 und 38f. 30 Martin Heidegger: Der Begriff der Zeit (1924), Frankfurt/M. 2004, 79, Anm. 9. 31 Vgl. István M. Fehér: Martin Heidegger: Egy XX. századi gondolkodó életútja [Martin Heidegger: Der Lebensweg eines Denkers im zwanzigsten Jahrhundert], 2., erw. Ausgabe, Budapest 1992, 18f., Anm. 3.
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Fläche, und nur als Fläche ist er zu messen.«32 Demgegenüber heißt es am Anfang seines Vortrages »Der Begriff der Zeit«, 1924: »Das Interesse dafür, was die Zeit sei, ist in der Gegenwart neu geweckt durch die Entwicklung der physikalischen Forschung[…] […] Der jetzige Stand dieser Forschung ist fixiert in der Einsteinschen Relativitätstheorie. Einige Sätze daraus: Der Raum ist an sich nichts; es gibt keinen absoluten Raum. […] Auch die Zeit ist nichts. Sie besteht nur infolge der sich in ihr abspielenden Ereignisse. Es gibt keine absolute Zeit, auch keine absolute Gleichzeitigkeit. – Man übersieht leicht über dem Destruktiven dieser Theorie das Positive, daß sie gerade die Invarianz der Gleichungen, die die Naturvorgänge beschreiben, gegenüber beliebigen Transformationen 33
nachweist.«
Daß diese Passage grundsätzlich nicht als eine ironische betrachtet werden darf,34 soll ein Zitat aus Heideggers 1925er Marburger Vorlesungen belegen: »In der Physik kam die Revolution durch die Relativitätstheorie, die keinen anderen Sinn hat als die Tendenz, den ursprünglichen Zusammenhang der Natur, so wie er unabhängig von jeder Bestimmung und Befragung besteht, herauszustellen. Die Theorie, die sich als Relativitätstheorie bezeichnet, ist eine Theorie der Relativitäten, d. h. eine Theorie der Zugangsbedingungen und Auffassungsweisen, die so gestaltet werden sollen, daß in diesem Zugang zur Natur, in bestimmter räumlich-zeitlicher Messungsart, die Unveränderlichkeit der Bewegungsgesetze gewahrt bleibt. Sie will keinen Relativismus, sondern umgekehrt: Ihre eigentliche Absicht ist gerade, das
32 Siehe Martin Heidegger: Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik 161 (1916), neu abgedruckt in Heidegger: Frühe Schriften, Frankfurt/M. 1978, 423f. Noch 1919 tritt Heidegger als Vertreter des »Ansich des strömenden Erlebens des Lebens« auf, siehe Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, Frankfurt/M. 1987, 116. 33 Martin Heidegger: Der Begriff der Zeit, gehalten aufgrund des oben in Anm. 30 angeführten längeren Aufsatzes, die zitierte Passage siehe auf Seite 109. 34 Auch dann nicht, wenn Der Begriff der Zeit folgende Formulierung ebenfalls enthält: »Dieses Rechnen mit der Zeit macht sie aber nie zum ›Raum‹. Zeit läßt sich nicht verräumlichen« (ebd., 79).
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An-sich der Natur zu finden, auf dem Umwege über das Gravitationsproblem, kon35
zentriert als Problem der Materie.«
Sowohl im Begriff der Zeit als auch im Sein und Zeit wird die FlußMetapher der Zeit von Heidegger bereits konsequent und scharf zurückgewiesen, und zwar sowohl als eine philosophische (»theoretische«) Formel, als auch als eine das alltägliche Leben leitende Anschauung. Die für die alltägliche Anschauung wie es heißt »natürliche« Auslegung läßt uns sagen: »die Zeit vergeht«; die alltägliche Anschauung sucht die Zeit im Jetzt, das aber »fließt und flieht«; für den alltäglichen Mensch besagt: »[v]ergangen [...]: jetzt nicht mehr; zukünftig: jetzt noch nicht«.36 Dieser Anschauung entspricht laut Heidegger auch der traditionell gewordene philosophische Zeitbegriff als »abfließende[s] Nacheinander«,37 als die »theoretische Vorstellung eines kontinuierlichen ›Jetzt-Flusses‹ «.38 Für »das vulgäre Zeitverständnis« zeigt sich die Zeit »als eine Folge von ständig ›vorhandenen‹, zugleich vergehenden und ankommenden Jetzt. Die Zeit wird als ein Nacheinander verstanden, als ›Fluß‹ der Jetzt, als ›Lauf der Zeit‹.«39 Diesem Zeitverständnis gegenüber faßt Heidegger die Zeit als »Erstreckung«, »Erstrecktheit«,40 als »Spanne«41 auf, die »Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart« aber als gleichsam Nebeneinandergeordnetheiten, Ek-stasen der Zeitlichkeit.42 Wie sich William Barrett in seinem grundlegenden Aufsatz ausdrückt, ist für Heidegger die Zeit im wesent-
35 Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Frankfurt/M. 1979, 3., durchgesehene Auflage 1994, 5. Hier zieht also Heidegger die Resultate der allgemeinen Relativitätstheorie bereits ebenfalls in Betracht. 36 Der Begriff der Zeit, 77. Im Manuskript steht am Seitenrand: »Fluß der Zeit«. 37 Ebd., 79. 38 Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), Tübingen 1967, 410. 39 Ebd., 422. 40 Siehe bes. ebd., 374 u. 409. 41 Ebd., 409. Heidegger verwendet hier auch die Ausdrücke »Spannweite« und »Gespanntheit«, letzteren Ausdruck aber nur in der Bedeutung von ausgespannt, nicht von Spannung. 42 Siehe bes. ebd., 328f. u. 422f.
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lichen ein Zeitfeld, die ekstatische Zeitlichkeit ist in Wirklichkeit eine horizontale Zeitlichkeit.43 Sprechen wir es aus: die ekstatische Zeit ist in Wirklichkeit eine statische Zeit; für Heidegger vergeht die Zeit nicht; die Vorstellung der vergehenden Zeit ist für Heidegger eine Wahnvorstellung.
1.2 Das Weltbild der Zeitlosigkeit Heidegger sieht einen Zusammenhang zwischen der Vorstellung der vergehenden Zeit – dem alltäglichen Zeitverständnis – und dem alltäglichen, üblichen, die Wirklichkeit des Seins nicht zur Kenntnis nehmenden menschlichen Leben. Der Mensch, der ein solches Leben lebt, wird von Heidegger dem authentischen Menschen gegenübergestellt und als »uneigentlich«, inauthentisch, bezeichnet. Der inauthetische Mensch flüchtet vor der Endlicheit der Zeit, nämlich vor seiner eigenen Endlichkeit, vor dem Tode; er will sich möglichst viel von jener Zeit zusammenraffen, »die noch kommt und ›weitergeht‹ «; aber er hat eben niemals für nichts genügend Zeit,44 er zerstreut die Zeit.45 Demgegenüber »bleibt es die Auszeichnung der Zeitlichkeit eigentlicher Existenz, daß sie in der Entschlossenheit nie Zeit verliert und ›immer Zeit hat‹ «.46 Das authentische Leben ist sich im klaren über den auf ihn wartenden Tod, sein Sein ist durch das klare Bewußtsein des kommenden Todes gekennzeichnet, seine Taten sind bereits jetzt gleichsam durch die Rahmenbedingungen jener gewissen Zukunft bestimmt: das Werk Sein und Zeit, wie ich darauf unten im Punkt 2.2 noch zurückkomme, vertritt eine Art innerweltlicher Eschatologie. Laut Heidegger bildet die FlußMetapher der Zeit die Weltanschauung des uneigentlichen Menschen ab. Dieser Gedanke Heideggers wird ausgezeichnet paraphrasiert – aber wie ich dies im Punkt 3 andeuten werde, auch zurückgewiesen – von William Barrett:
43 William Barrett: The Flow of Time, in der von Richard M. Gale herausgegebenen Sammlung The Philosophy of Time: A Collection of Essays, London 1968, 356f. 44 Sein und Zeit, 425 u. 410. 45 Ebd., 390. 46 Ebd., 410.
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»The inauthentic individual […] cowering before his own possibilities, lets time slip away and experiences it only as a passive flow of his being. Here [...] time is seen as a sequence, and one before which the individual stands impotent. In its flow it sweeps the individual away with it. Or else it seems to flow too sluggishly and then he restlessly counts off the slow heavy minutes. He turns away from its brutal flow in diversion [...], and so for a short time he can […] forget that the flow is always there, whether threatening in its speed or frightful in its sluggishness. Like a man on shipboard looking out over the stern at the foaming wake, he has turned his back on the future and he sees time as a wave rushing backward into the past.«
47
Die eschatologische Zeitlosigkeit ist keine Zeitlosigkeit der Ewigkeit. In Heideggers statischer Zeitauffassung hat nicht nur das Nacheinander der Augenblicke, sondern auch der statische Augenblick keinen Platz: »der traditionelle Begriff der Ewigkeit in der Bedeutung des ›stehenden Jetzt‹ (nunc stans)« entspringt ebenso dem »vulgären Zeitverständnis«, wie die Vorstellung der vergehenden Zeit.48 In der Geschichte der Zeitphilosophie ist dieser Standpunkt eine Ausnahme: dem Schein vom Vergehen der Zeit – wir konnten das bereits bei Augustinus beobachten – wird üblicherweise die Wirklichkeit der ewigen Zeit, eben die Ewigkeit gegenübergestellt. So auch bei McTaggart, der ein Jahr vor dem Erscheinen seines Mind-Aufsatzes49 einen Vortrag vor einer kalifornischen philosophischen Gesellschaft mit dem Titel »Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit« hielt. »All existence which presents itself as part of our ordinary world of experience«, schrieb hier McTaggart, »presents itself as temporal. But […] we have reason to believe that some reality which exists, exists timelessly – not merely in the sense that its existence endures through unending time, but in the deeper sense that it is not in time at all. […] I do see a possibility of showing that the timeless reality would be, I do not say unmixedly good, but very good, better than anything which we can now experience or
47 Barrett, a. a. O., 363. 48 Sein und Zeit, 427. 49 Siehe oben, Anm. 26.
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even imagine. I do see a possibility of showing that all that hides this goodness from 50
us – in so far as it is hidden – is the illusion of time.«
Dies ist also der weltanschauliche Hintergrund, gegen dem die einleitende Passage des Mind-Aufsatzes gedeutet werden muß: »zu allen Zeiten [hat sich] der Glaube an die Irrealität der Zeit als einzigartig verlockend erwiesen. – In der östlichen Philosophie und Religion stellen wir fest, daß diese Doktrin von zentraler Bedeutung ist. Und im Westen, wo Philosophie und Religion weniger eng verbunden sind, stellen wir fest, daß die gleiche Doktrin sowohl bei Philosophen als auch bei Theologen immer wiederkehrt. Die Theologie hält sich nie über einen längeren Zeitraum von der Mystik fern, und beinahe jede Mystik leugnet die Realität der Zeit.«51 Ich habe im gegenwärtigen Band wiederholt die Passage angeführt, in welcher – sieben Jahre vor dem Erscheinen von McTaggarts Mind-Aufsatz – der amerikanische Philosoph-Psychologe William James folgendermaßen über die religiöse, und des näheren über die mystische Erfahrung schreibt: »Es gibt einen nur den Frommen bekannten Gemütszustand in welchem der Wille, sich selbst zu behaupten und durchzusetzen, der Bereitschaft gewichen ist, zu schweigen und ein Nichts in den Fluten und Wasserbächen Gottes zu sein. In dieser Gemütsverfassung ist das, was wir am meisten fürchteten, für uns zur Erlösung geworden, und die Stunde unsres moralischen Todes hat sich in die Geburtsstunde unsrer Seele verwandelt. Die Zeit der Spannung in unsrer Seele ist vorüber; sie ist dem Zustande glücklicher Ruhe, tiefbefriedigten Aufatmens und dem Gefühl der Ewigkeit gewichen, das keine Angst um eine drohende Zukunft mehr kennt.«
52
Im Kapitel 4 habe ich auch jenes von James abgedruckte Bekenntnis zitiert, in welchem als ein Beispiel des mystischen Gefühls das Erleben der Erhabenheit der Natur dargestellt wird.53 Die Weltanschauung der Zeitlosigkeit,
50 The Relation of Time and Eternity, im Band J. Ellis McTaggart: Philosophical Studies, hrsg. v. S. V. Keeling, London 1934, 135. 51 McTaggart: Die Irrealität der Zeit, a. a. O., 67. 52 William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit: Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens (1902), übers. v. Georg Wobbermin, Leipzig 1907, 43, vgl. oben, S. 125f. und 138. 53 Siehe oben, S. 121.
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Abbildung 2: Caspar David Friedrich: »Wanderer über dem Nebelmeer« (1818)
Quelle: Wikipedia – Hamburger Kunsthalle
das Erlebnis der ewigen Gegenwart,54 steht hier in der Gestalt der Erhabenheit der Natur, des Erlebnisses des Naturschönen vor uns. Doch während es
54 Die Ewigkeit wird als die existentiale Form der Zeit behandelt bei dem orthodoxen Theologen Pavel Nikolaevich Evdokimov in seinem Buch Die Kunst des Ikons. »Die Ewigkeit«, schreibt er, »können wir erleben im Augenblick, in der ›ewigen Gegenwart‹ «, welches Erlebnis aber eben nicht identisch ist mit dem Erlebnis der »angehaltenen Zeit«: »Die angehaltene Zeit ist das fürchterlichste Bild.« Als die beiden anderen Formen der Zeit erwähnt er die zyklische Zeit, »deren graphisches Bild der geschlossene Kreis ist, die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt«, bzw. die geschichtliche Zeit, »deren Bild die endlos weitergehende Linie ist« (Paul Evdokimov: L’Art de L’Icône: Théologie de la Beauté, Paris 1972, hier nach der amerikanischen Ausgabe zitiert: The Art of the Icon: A Theology of Beauty, Redondo Beach, CA 1990, 129). Auf die Frage der geschichtlichen Zeit komme ich weiter unten in Punkt 2.3, auf den Begriff der zyklischen Zeit in Punkt 2.1 zurück. Fundamentale Analysen zum letzteren Begriff liefert die Ägyptologie. Zyklische Zeit, »das drohende Stehenbleiben der Zeit«, und eine Art Ewigkeit sind die Themen von László Kákosy: Az egyiptomi idĘfogalom [Der ägyptische Zeitbegriff, 1974], neu abgedruckt in Kákosy: Az alexandriai idĘisten: Válogatott tanulmányok (1957-1998), Budapest 2001, 137-144; das Verhältnis von zyklischer und linearer Zeit wird tiefschürfend ana-
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nicht schwierig ist, zum zitierten Erlebnis eine künstlerische Darstellung zu finden – man denke nur an Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer« (1818 – siehe Abbildung 2) – kann diese Darstellung gewiß nicht als eine gleichsam unmittelbare Metapher der Ewigkeit bezeichnet werden in dem Sinne, in welchem die sich vorwärtsbewegende Linie als eine unmittelbare Metapher der vergehenden Zeit bezeichnet werden kann. Findlay hat zweifellos recht, wenn er schreibt, daß »the constant striving towards timetranscendence in the thought of metaphysicians and logicians [...] bears witness to the partial understanding of something that they cannot hope to illustrate«.55 Die Betonung fällt bei Findlay allerdings nicht auf die NichtIllustrierbarkeit der Ewigkeit, sondern auf deren partielle Erfaßbarkeit: »The notion of an experience in which all time, without loss of order, and without precise anticipation of later stages in earlier ones, can be compressed into a single luminous instant, is a notion towards which we are constantly tending. We know obscurely, and if only by analogy, what sort of state it would be. [...] Eternity, of whose perfection Time is the ever imperfect image. […] The arguments of Parmenides and McTaggart may be invalid, but what they seek to establish may at some level be significant and true.«56
Diesen Begriff der Ewigkeit, bei dem er gegen Ende seines Aufsatzes anlangt, setzt Findlay zwei anderen Deutungen der Ewigkeit gegenüber, die er am Anfang des Aufsatzes berührt: einerseits der Auffassung von Ewigkeit als »unbegrenzt langer« Zeit – diese Ewigkeit, meint er, wäre aus philosophischer Sicht ziemlich uninteressant – und andererseits jener Auffassung, gemäß der die Ewigkeit etwas wäre, »in which there is no earlier or
lysiert von Jan Assmann in seinem Ägypten: Eine Sinngeschichte (1996), Frankfurt/M. 1999, siehe bes. 26-31; grundlegend zum Thema ist freilich auch Assmanns früheres Buch Zeit und Ewigkeit im alten Ägypten: Ein Beitrag zur Geschichte der Ewigkeit, Heidelberg 1975. Eine auch aus bildphilosophischer Sicht inspirierende Darlegung der Problematik des ägyptischen Zeitbegriffes liefert Attila Márton Farkas: Filozófia elĘtti filozófia: Szimbolikus gondolkodás az ókori Egyiptomban [Philosophie vor dem Zeitalter der Philosophie: Symbolisches Denken im alten Ägypten ], Budapest 2003. 55 J. N. Findlay: Time and Eternity, in: The Review of Metaphysics, 1978-79, 11. 56 Ebd., 10f. u. 13.
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later, no past and no future, and no long drawn out process of development or persistence, but only what is wholly other than Time, and of which we have not had the slightest experience, and can form not the most indefinite conception«.57 Die moderne Physik, unterstreicht Findlay, hat jedenfalls keine solchen Entdeckungen gemacht, die uns dazu zwingen würden, unsere Auffassung über das Zukünftige, das Gegenwärtige und das Vergangene zu ändern, oder diese als »bloß psychologisch oder subjektiv« zu sehen. »[E]ven the researches of Einstein«, schreibt Findlay, »do not forbid us to talk in terms of local time.«58 Von Einstein ist übrigens bekannt, daß obwohl er die Minkowski-Weylsche Umdeutung seiner Theorie akzeptierte, er sich mit derselben emotionell nur schwer identifizieren konnte. Anfang der 1950er Jahre in Princeton gab er dem Philosophen Carnap zu, daß »das Problem des Jetzt« ihm ernsthafte Sorgen macht. »Die Erfahrung des Jetzt«, erklärte er, »bedeutet etwas Besonderes für den Menschen, etwas wesentlich Verschiedenes von der Vergangenheit und der Zukunft, aber diesen wichtigen Unterschied gibt es innerhalb der Physik nicht, und kann es auch nicht geben.«59 Carnap spricht von einer schmerzhafter Resignation Einsteins; doch diese Resignation scheint bald zu eine Art Beruhigung geworden zu sein. Wie er 1955, aus dem Anlaß des Todes seines Jugendfreundes Michele Besso, und einige Wochen vor seinem eigenen Tod, der Familie schrieb: »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion. [...] [Michele] ist [...] mir [nun] auch mit dem Abschied von dieser sonderbaren Welt ein wenig vorausgegangen. Dies bedeutet nichts[…]«60 Die Vertreter der Weltanschauung der Zeitlosigkeit – ausgenommen, nochmals, die Vertreter der eschatologischen Zeitlosigkeit – versuchen auch im allgemeinen einen Seelenzustand der Ruhe und der stillen Gelassenheit auszustrahlen. Wie Donald C. Williams in seinem Aufsatz »The Myth of Passage« – eine klassische philosophische Kritik der Lehre der
57 Ebd., 3. 58 Ebd., 6 u. 3. 59 Paul Arthur Schilpp (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap, La Salle, IL 1963, 37. 60 Einsteins Brief zitiere ich hier anhand Stefan Klein: Zeit: Der Stoff aus dem das Leben gemacht ist: Eine Gebrauchsanleitung (2006), Frankfurt/M. 2008, 266.
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vergehenden Zeit – schreibt, ist die statische vierdimensionale Raum-ZeitAuffassung nicht nur »the true and literal description of what the enthusiastic metaphors of passage have deceptively garbled«, dieselbe befreit uns auch von »that sad anxiety to keep going futureward«.61 Äußerst lehrreich sind die Betrachtungen von Derek Parfit, zitiert von Richard Gale in seinem Aufsatz »Time, Temporality, and Paradox«. Parfit postuliert »a passive, contemplative sort of chap, named ›Timeless‹ who is not concerned with being an agent but only with finding a psychologically satisfying way of viewing the world around him. Timeless is someone ›who takes life’s pleasures as they come. And, to the extent that we are like this […] we would be happier if we lacked the bias towards the future. We would be much less depressed by aging and the approach of death. If we were like Timeless, being at the end of our lives would be more like being at the beginning. At any point within our lives we could enjoy looking either backward or forward to our whole lives. […] I have claimed that, if we 62
lacked the bias towards the future, this would be better for us.‹ «
Ähnlich äußert sich der am Anfang dieses Kapitels erwähnte Julian Barbour. »At the personal level«, sagt er, »thinking about these things has persuaded me that we should cherish the present. That certainly exists, and is perhaps even more wonderful than we realize. Carpe diem – seize the day[...] […] Immortality is here. Our task is to recognize it.«63 Und wieder ähnlich der ebenfalls theoretische Physiker Paul Davies, der in seinem Artikel »Jener geheimnisvolle Fluß« diese Frage stellte: »what if science were able to explain away the flow of time? Perhaps we would no longer fret about the future or grieve for the past. Worries about death might become as irrelevant as worries about birth. Expectation and nostalgia might cease
61 Donald C. Williams: The Myth of Passage (1951), neu abgedruckt in dem von Gale herausgegebenen Band The Philosophy of Time (siehe oben, Anm. 43), 109 u. 112. 62 Richard M. Gale: Time, Temporality, and Paradox, in ders. (Hg.): The Blackwell Guide to Metaphysics, Oxford 2002, 75f. Gale zitiert hier aus Parfits Band Reasons and Persons (Oxford 1984, 176f.). 63 Barbour, a. a. O., 15 u. 335.
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to be part of human vocabulary. Above all, the sense of urgency that attaches to so much of human activity might evaporate.«64
1.3 Zeit als Wirklichkeit Doch die Wissenschaft kann uns schwerlich davon überzeugen, daß wir dem Dahinschwinden der Gegenwart in die Vergangenheit keine Bedeutung beimessen sollten. Unser Kampf gegen die Vergänglichkeit ist eine primordiale menschliche Reaktion; die Sorge um die Zukunft und die Trauer um das Vergehen sind primordiale menschliche Zustände. In den uralten Kulturen ist der Tod kein Schicksalsereignis des Einzelnen, sondern – wie es Belting formuliert – »ein Schicksal der Gemeinschaft, die sich vor ihrer Dekomposition schützt«.65 Und Belting hebt hervor, daß insbesondere die seßhaft werdende ackerbauende Kultur des Neolithikums sich durch die Konservierung des Toten zum Bild – mit der konservativen Tätigkeit des Bildermachens – gegen jene Störung des gemeinschaftlichen Lebens schützte, die der Tod des Einzelnen bedeutete: der mit dem Augenblick des Todes zum bloßen Bild des Toten gewordene Leichnam – das verwesende Bild – wurde durch ein bleibendes Bild ersetzt, das in der Gemeinschaft der Zurückgebliebenen von jetzt ab den Toten vertrat.66 Ein solches Bild ist der bearbeitete Schädel (Abbildung 3), aber auch die Steinmaske, die das Gesicht des Toten bis zum Eintritt der völligen Verwesung (also bis zum Zeitpunkt, wo der Schädel bearbeitbar wurde) bedecken konnte;67 und ein solches Bild ist freilich die Mumie.68
64 Paul Davies: That Mysterious Flow, in: Scientific American 16 (2006) 1 (Sondernummer: A Matter of Time), 11. 65 Hans Belting: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, 147. 66 Ebd., 145f. u. 155, siehe insb. die Formulierung auf Seite 146: »Das Bildermachen war [...] wohl wichtiger als das Bilderhaben, weil man damit aktiv auf eine Störung in der Lebensgemeinschaft reagierte und gleichsam die Naturordnung wiederherstellte.« 67 Ebd., 153, vgl. oben, Kap. 4, S. 124. 68 »Die Mumie war […] ein Bild«, schreibt Belting, »in das die Leiche verwandelt wurde, seit den Ägyptern in der vierten Dynastie die chemische Konservierung
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Abbildung 3: Totenschädel, Jericho, ca. 7000 v. Chr.
Quelle: Belting: Bild-Anthropologie, 146
Die Bearbeitung des Totenschädels ist eine gegenwärtige Tätigkeit, die darauf abzielt, daß eine vergangene Person eine zukünftige Rolle soll spielen können. Die gegenwärtige Verknüpfung der in unseren Erinnerungen lebenden Vergangenheit mit der vorgestellten Zukunft bedeutet eine kontinuierliche seelische Aufgabe; hierin zu scheitern wäre ein Zeichen der Krankheit der Seele. In seinem eine beträchtliche psychiatrische Literatur zusammenfassenden philosophischen Aufsatz »Können wir in der Zeit glücklich sein?« hebt Theunissen hervor, daß »das Zusammenhalten von Zukunft und Vergangenheit in jedem Augenblick [Anstrengung] kostet«, und daß während die depressive Person sich der Zeit ausgeliefert fühlt, scheinen Schizophrene sich von der Zeit gleichsam abzuschneiden, die Zeit als Raum zu erleben.69 Der von Theunissen wiederholt angeführte amerikanischer Psychiater, Frederick Melges, zitiert in seinem Buch einen an Schizophrenie erkrankten, wie es heißt hervorragend intelligenten Physiker in seinen Dreißigern: »Time has stopped; there is no time. [...] The past and future have collapsed into the present, and I can’t tell them apart.«70 Die
des Leichnams gelang. […] In ihrer Herrichtung bot die Mumie das Bild eines unzerstörbaren Körpers«, ebd., 161. 69 Michael Theunissen: Können wir in der Zeit glücklich sein?, in: ders.: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M. 1991, 60 u. 47f. – Theunissen stützt sich hier u. a. auf Franz Fischers Aufsatz Zeitstruktur und Schizophrenie (1929), in welchem letzterer ausdrücklich darauf hinweist, daß in der Schizophrenie die Zeit »objektiviert« erscheint (siehe Theunissen, a. a. O., 68). 70 Frederick Towne Melges: Time and the Inner Future: A Temporal Approach to Psychiatric Disorders, New York 1982, xix.
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statische Auffassung der Zeit ist, aus der Sicht des Psychiaters, ein Symptom der Schizophrenie. Der Bericht, den der Patient von Melges lieferte, war offenbar gefärbt von Schriften, die er als Physiker gelesen hatte, und laut denen die Relativitätstheorie eine die Wirklichkeit der vierdimensionalen Raum-Zeit beweisende Weltbeschreibung sei. Doch sind solche Schriften irreführend. Denn wenn auch die Minkowski-Weylsche Deutung der ursprünglichen Theorie Einsteins heute Teil der wissenschaftlichen Allgemeinauffassung ist, beruht diese Deutung nur scheinbar auf naturwissenschaftlichen Grundlagen.71 Ich möchte da nur auf das Argumentationsmuster von Julian Barbours bereits mehrmals zitiertem Buch hinweisen. Die Hypothesen und tatsächlichen Argumente von Barbour bewegen sich nicht in den Dimensionen von Erfahrung und Experiment, sondern eben in denen der abstraktesten mathematischen Physik; und er selbst betont, daß es sich hier vorläufig in der Tat nur um Hypothesen handelt, deren Mathematik noch weitgehend unausgearbeitet ist. Und im Hintergrund von Barbours Formulierungen steht, wie wir gesehen haben, Platons Ideenlehre. Das heißt es kann hier keine Rede sein von einem naturwissenschaftlichen Beweis der Zeitlosigkeit. Es geht um mathematische Hypothesen, um ein mathematisches Instrumentarium, zu deren Interpretation der Physiker-Mathematiker aus der Philosophie seine Weltanschauung entlehnt. Aber das war ja schon die Situation bei Hermann Weyl selbst. In seiner ursprünglich 1928 erschienenen klassischen Arbeit Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaften taucht die berühmte Aussage – »Die objektive Welt ist schlechthin, sie geschieht nicht«72 – in einem ganz und gar philosophischen Kontext auf, sie gehört nicht zur Physik, sondern eben zur Metaphysik.73
71 Wie darauf in seiner oben zitierten Bemerkung über Einstein auch Findlay aufmerksam macht. 72 Vgl. oben, Kap. 1, S. 41. 73 Wie Barrett in seinem oben zitierten Aufsatz bemerkt: »If it were only the popularizers who were at fault, their conclusions would not much matter; but eminent scientists as well, on holiday from their strict calling, are still pleased to ride roughshod over direct experience. ›The first step in explaining relativity theory‹, writes Hermann Weyl, ›must always consist in shattering the dogmatic belief in the temporal terms past, present, future‹ « (Barrett, a. a. O., 370).
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Es steht also kein naturwissenschaftliches Hindernis im Wege der Ausarbeitung einer philosophischen Strategie, welche die alltägliche Auffassung der Wirklichkeit der Zeit – des wirklichen Vergehens der Zeit –, die auf das Vergehen der Zeit bezogene alltägliche Metaphorik, nicht lächerlich machen, sondern eben in ihre Rechte wiedereinzusetzen bemüht ist. Diese Strategie, die doch bereits durch ihre common-sense Ausrichtung eine konservative ist, dürfte auf vier theoretische Hauptpfeiler gegründet werden: auf die James-Münsterbergsche Psychologie, gemäß deren Ausrichtung wir das Vergehen der Zeit gleichsam als leibliches Gefühl erleben; auf Arnheims Bildtheorie, welche Verbindungen sieht zwischen unseren leiblichmotorischen Empfindungen, unseren Gesten, unserer inneren Bilderzeugung und schließlich unseren sprachlichen Bildern; auf die in wesentlichen Hinsichten in Arnheims Fußstapfen tretende Lakoff-Johnsonsche Metapherntheorie; und auf C. D. Broads in den 1920er/30er Jahren ausgearbeiteten, in letzter Zeit insbesondere durch John Perry durchaus überzeugend vertretenen zeitphilosophischen Standpunkt, laut dem die Zukunft, gegenüber der tatsächlichen Wirklichkeit der Gegenwart und der in ihren Wirkungen und in unseren Erinnerungen lebenden Wirklichkeit der Vergangenheit, eine bloß vorgestellte Wirklichkeit besitzt – die Zukunft gibt es noch nicht. Der Aufsatz »Die Wahrnehmung der Zeit« von William James ist 1887 erschienen74 und wurde 1890 als Kapitel XV des Bandes Principles of Psychology in leicht überarbeiteter Form wiederabgedruckt. Die Zeitwahrnehmung als ein Resultat von körperlichen Empfindungen behandelt James im Unterkapitel »We Have No Sense for Empty Time«; das Kapitel selbst beginnt mit einer Analyse der Erscheinung vom Bewußtseinsstrom.75 Unser Bewußtsein, schreibt hier James, schrumpft niemals zu einem einzigen Punkt zusammen, »[i]mmer ist die Kenntnis [knowledge] von irgendeinem anderen Teil des Bewußtseinsstroms – vergangen oder zukünftig, nah oder abgelegen – mit unserer Kenntnis von dem gegenwärtigen Ding verbunden. [...] Dieses Nachklingen der alten Objekte und das Heranströmen der neuen sind die Keime von Erinnerung und Erwartung, der
74 In der Zeitschrift Journal of Speculative Philosophy, Jg. 1886. 75 Eine ausführliche Diskussion dieser Erscheinung liefert bereits ein früheres Kapitel (The Stream of Thought) des Bandes, siehe William James: The Principles of Psychology, New York 1890, Bd. 1, 224-290.
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retrospektive und der prospektive Zeitsinn [sense of time]. Sie verleihen dem Bewußtsein jene Kontinuität, ohne die es nicht ein Strom genannt werden könnte.«
76
Der Hinweis auf den »retrospektiven« bzw. den »prospektiven« Zeitsinn überleitet bereits zum Begriff der »scheinbaren Gegenwart«, specious present, den zwar nicht James prägte, aber zweifellos er allgemein verbreitet gemacht hat. Dieser Begriff soll ausdrücken, daß die als ausdehnungslos vorgestellte Gegenwart eine philosophische Abstraktion ist, der in unserer unmittelbaren Erfahrung nichts entspricht. Wie James schreibt, die FlußMetaphorik nunmehr mit zwei ganz anderen Bildern ergänzend: »Die praktisch erkannte Gegenwart ist keine Messerschneide, sondern ein Sattelrücken mit einer gewissen ihm eigenen Breite, auf den wir uns gesetzt finden und von dem aus wir nach zwei Seiten in die Zeit hineinblicken. Die Einheit des Aufbaus unserer Zeitwahrnehmung ist eine Dauer [duration], die einen Bug und ein Heck – gewissermaßen ein rückwärts- und ein vorwärtsblickendes Ende – hat. Nur innerhalb dieses Dauer-Blocks wird die Relation der Sukzession [...] wahrgenommen.«77 Der von James eingeführte Begriff eines »retrospektiven« und »prospektiven« Zeitsinns hatte eine eindeutige und entscheidende Wirkung auf Husserls Zeitauffassung.78 Wie es an einer zentralen Stelle der 1913 erschienenen Ideen zu einer reinen Phänomenologie heißt: »Jedes Erlebnisjetzt hat notwendig seinen Horizont des Vorhin. Das kann aber prinzipiell kein leeres Vorhin sein[…] […] die Erlebnisvergangenheit ist kontinuierlich erfüllt. Jedes Erlebnisjetzt hat aber auch seinen notwendigen Horizont des Nachher, und auch das ist kein leerer Horizont[...] […] Der Erlebnisstrom ist eine unendliche Einheit, und die Stromform ist eine alle Erlebnisse eines reinen Ich notwendig umspannende Form[...] [die] drei Dimensionen des Vorher, Nachher, Gleichzeitig[…]
76 Ich zitiere hier anhand der deutschen Übersetzung des Aufsatzes Die Wahrnehmung der Zeit, in Zimmerli u. Sandbothe (Hg.), 31-66, hier 32. 77 Ebd., 35. 78 Zu unserem Thema gehört auch die Wirkung, und diese scheint durchaus bedeutend zu sein, die James auf Bergsons Zeitphilosophie ausgeübt hat, siehe oben die Einleitung zum gegenwärtigen Band, S. 16f.
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[…] [sind eingebunden in] den ganzen, seinem Wesen nach einheitlichen und in sich 79
streng abgeschlossenen Strom zeitlicher Erlebniseinheiten.«
Husserl hat sich jahrzehntelang mit der Fluß-Metapher abgequält, ist diese doch mit dem Paradoxon behaftet, daß man immer die Frage stellen kann, mit welcher Geschwindigkeit denn der Fluß der Zeit fließt.80 Einer seiner Lösungsversuche: »Dieser Fluß«, schreibt er, »ist [...] nichts zeitlich ›Objektives‹. Es [...] hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ›Fluß‹ zu Bezeichnenden[...] Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das fehlen uns die Namen.«81 Wir kommen nun zum Unterkapitel »We Have No Sense for Empty Time« des Buches Principles of Psychology. Die These von James: wir haben nicht »so etwas wie einen Spezialsinn für reine Zeit[...] Man sitze«, schrieb James, »mit geschlossenen Augen da und richte, vollkommen von der Außenwelt abstrahierend, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Verlauf der Zeit[...]« Was nehmen wir wahr? Keine »reine Reihe von Zeiträumen«, keine »leere Dauer«, sondern »[u]nsere Herzschläge, unsere Atmung, die Pulsschläge unserer Aufmerksamkeit, Fragmente von Wörtern oder Sätzen, die durch unsere Phantasie ziehen«. Wir nehmen Prozesse und Rhythmen wahr. Ein »Bewußtsein von Veränderung ist [...] die Bedingung, von der unsere Wahrnehmung des Fließens der Zeit abhängt; aber es gibt keinen Grund zur Annahme, daß die Veränderungen der leeren Zeit ausreichend sind, um das Bewußtsein von Veränderung zu erwecken. Die Veränderung muß in irgendeiner Weise konkret sein: eine äußerlich oder inner-
79 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Neue, auf Grund der handschriftlichen Zusätze des Verfassers erweiterte Auflage, hrsg. v. Walter Biemel (Husserliana, Bd. III), Haag 1950, 199ff. 80 Wie Kurt Röttgers in seinem Buch Kritik der kulinarischen Vernunft schreibt: »Die Paradoxie gerinnt in der Formel vom ›urtümlich stehenden Strömen‹ (Husserliana XV. Den Haag 1973, 637), in der das zeitkonstituierende Bewußtsein zugleich als unzeitlich und als zeitlich gesetzt sein muß, wenn man einen unendlichen Regreß vermeiden will[…]« (Bielefeld 2009, 14). 81 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (18931917), hrsg. v. Rudolf Boehm (Husserliana, Bd. X), Haag 1966, 75.
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lich wahrnehmbare Reihe oder ein Prozeß der Aufmerksamkeit bzw. des Wollens.«82 Im Text des The Principles of Psychology folgt hier eine neu eingefügte Anmerkung: James weist auf Hugo Münsterbergs 1889 veröffentlichte Untersuchungen über den Zeitsinn hin, laut denen, falls zwischen zwei Sinneseindrücken weniger als eine drittel Sekunde vergeht, wir die Zeit entlang der Verblassung des Erinnerungsbildes des ersten Eindrucks empfinden; längere Zeitabschnitte hingegen ausschließlich mittels Gefühlen von Muskelspannungen und -entspannungen um und in unseren Augen, Ohren, im Kopf, im Hals, usw.83 »Spannungsempfindungen in den verschiedensten Organen, ausgelöst durch wirklich erfolgende Muskelkontraktionen oder durch die Erinnerung an solche«, schrieb Münsterberg, »sind der einzige Maßstab, der unserem unmittelbaren Zeitgefühl zu Gebote steht.«84 Wie James sich ausdrückt: muscular feelings can give us the object »time« as well as its measure, »Muskelgefühle können uns sowohl den Gegenstand ›Zeit‹ als auch sein Maß geben«.85 Man braucht freilich keine Laboratoriumsbedingungen, um die Muskelspannungen zu erfahren, die unseren Kampf gegen die Zeit anzeigen. In seinem 2006 erschienenen Buch Zeit: Der Stoff aus dem das Leben gemacht ist, gibt Stefan Klein eine anschauliche Beschreibung jener Art von Situation, welche wir alle kennen. »Sie sitzen im Taxi zum Flughafen. [...] Ihr Wagen steht eingekeilt im morgendlichen Berufsverkehr vor einer Ampel. [...] Ihr Puls beschleunigt sich, Ihre Hände werden feucht. Grün. ›Fahren Sie‹, herrschen Sie den Taxichauffeur an. Dabei sehen Sie doch selbst, daß er nicht kann. – […] Sie wären jetzt bereit, aus dem Taxi zu springen und zu rennen. […] Menschen [reagieren] nicht nur auf das, was sie wahrnehmen; sie malen sich überdies die Zukunft aus. […] Und selbst ein Blick auf den Kalender und ein kurzer Gedanke daran, was bis zum Urlaubsbeginn noch alles zu
82 William James: Die Wahrnehmung der Zeit (siehe oben, Anm. 76), 44ff., vgl. Wlliam James: The Principles of Psychology, 619f. 83 William James: The Principles of Psychology, 620f. 84 Hugo Münsterberg: Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 2: Zeitsinn – Schwankungen der Aufmerksamkeit – Augenmass – Raumsinn des Ohres, Freiburg i. B. 1889, 20. 85 William James: The Principles of Psychology, 637, vgl. oben, Kap. 4, S. 125.
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erledigen bleibt, kann genügen, um uns in einen Zustand handfester Panik zu verset86
zen.«
Bereits ein Blick auf den Kalender genügt, um in uns besondere Muskelspannungen zu erzeugen. Der von Muskelspannungen zu höheren kognitiven Prozessen führende Weg ist das große Thema vom späteren Werk des Kunstpsychologen Rudolf Arnheim. Arnheim ist freilich durchaus bekannt als ein bahnbrechender Kritiker der sog. linguistischen Wende in der Philosophie und Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinem zuerst 1954 erschienenen Buch Art and Visual Perception87 wird eine hochinteressante Forschungstradition zusammengefaßt und weitergebaut, welche Zusammenhänge zwischen Muskelempfindungen und spezifischen inneren kinästhetischen Körperbildern untersucht; in seiner Arbeit Visual Thinking88 zeigt er die inneren Bilder als die Grundlagen der sprachlichen Bedeutung auf. Wie er hier schreibt: »Der Wert der Sprache für das Denken kann […] nicht auf einem Denken in Worten beruhen. Es muß sich vielmehr um Hilfeleistungen handeln, deren sich das Denken bedienen kann, während es in einer geeigneteren Materialsphäre, etwa mit Vorstellungsbildern, arbeitet.«89 Dieser Sphäre läßt sich näherkommen, zeigt Arnheim, mit Hilfe der deskriptiven Gebärden, welche ihrerseits als die Vorläufer von Linienzeichnungen betrachtet werden können. Arnheim hebt hervor, daß deskriptive Gebärden, wie auch Linienzeichnungen, die Träger nicht nur konkreter, sondern auch durchaus abstrakter Bedeutungen sein können. Solche Zeichnungen sind z. B. jene »schematischen Kritzeleien«, schreibt er, »mit denen Lehrer und
86 Klein, a. a. O. (siehe oben, Anm. 60), 207f. 87 Rudolf Arnheim: Art and Visual Perception: A Psychology of the Creative Eye, Berkeley 1954. Erw. und rev. Ausgabe 1974. Deutsche Übersetzung: Kunst und Sehen: Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin 2000. Vgl. oben. Kap. 4, S. 125. 88 Vgl. oben, Kap. 5, Anm. 18. 89 Arnheim: Anschauliches Denken, 219. Dies ist die von mir in meiner Einleitung zum gegenwärtigen Buch bereits angeführte Passage, die Lakoff zitiert, als er in einem 2006 veröffentlichten Essay über die grundlegende und dann verdrängte Wirkung berichtet, die Arnheims Visual Thinking in den 1970er Jahren auf ihn hatte, vgl. oben, S. 11 und 15.
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Vortragende auf der Tafel Konstellationen aller Art versinnbildlichen – physikalische oder soziale, psychologische oder auch rein logische.«90 Arnheim bat in mehreren Experimenten seine Studenten zu versuchen, durch spontane Kritzeleien bestimmte Begriffe darzustellen. Eine Gruppe hatte die Aufgabe, die Begriffsdreiheit Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft zu zeichnen. Ich stelle hier drei der Zeichnungen dar (Abbildung 4), die ersten beiden mit Kommentierungen von Arnheim. Abbildung 4: »Zeit« – Kritzeleien von Arnheims Studenten
Quelle: Arnheim: Anschauliches Denken, 121
Die erste Zeichnung: eine kontinuierliche Linie. Sie deutet eine »geradlinige und vielleicht leere Vergangenheit« an, schreibt Arnheim, »große und ausdrucksvolle Formen für die Gegenwart und kleinere, unbestimmtere für die Zukunft. [...] Hier ist also das Leben als ein ununterbrochener Zeitverlauf dargestellt.« Die zweite: ein Muster, das – in der Deutung von Arnheim – »eine allmähliche, unten mit dem Augenblick der Geburt beginnende Entfaltung« beschreibt. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart läßt sich eine klare Scheidung beobachten, aber »der große Umfang des Gegen-
90 Ebd., 116, zu dem Thema der deskriptiven Gesten vgl. oben, Kap. 1, S. 37f. und Kap. 5, S. 134.
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wärtigen ist doch wenigstens teilweise als die Wirkung des vorausgehenden Wachstums begriffen. Die richtungslose Rundheit der Gegenwart unterbricht zwar die Gerichtetheit des Zeitvektors, doch kann man sagen, daß die statische Situation in der Mitte der Zeichnung [...] von einer Bewegung durchquert wird, die in der Vergangenheit entspringt und in die offene Zukunft führt, so wie ein Fluß durch einen See strömt.« Die dritte Zeichnung ist strukturell ganz anderer Art, und die Erklärung wird vom jungen Zeichner selbst gegeben: »Die Vergangenheit ist kompakt und vollendet, beeinflußt aber noch die Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart ist vielfältig und nicht nur das Resultat der Vergangenheit und der Zugang zur Zukunft, und überschneidet sie also beide, sondern besitzt auch ein ihr eigenes Wesen[...] Die Zukunft ist am wenigsten begrenzt, aber doch von Vergangenheit und Gegenwart beeinflußt. – Eine Linie läuft durchs ganze, denn alle drei haben ein gemeinsames Element: die Zeit.«91 Arnheim behauptet also nicht bloß, daß unsere verbalen Konstruktionen – unmittelbare Bezeichnungen, Idiome, Metaphern – dadurch eine Bedeutung besitzen, daß sie mentale Bilder vermitteln, sondern auch, daß jene Bilder aus leiblichen, physischen Erfahrungen entstehen, aus unserer physischen Berührung mit der Wirklichkeit. Die Kritzeleien, die den Fluß der Zeit abbilden, erraten eben etwas davon, was die Zeit wirklich ist. Damit geht Arnheim einerseits viel weiter, als sich Lakoff und Johnson später jemals vorgewagt haben – ich komme auf die letzteren gleich zurück –, andererseits gibt er mit der Hervorhebung der offenen Zukunft gleichsam eine anschauliche Illustration einer der zentralen Thesen der C. D. Broadschen Zeitphilosophie. Broad, der ab 1923 in Cambridge McTaggarts nachfolger war, gilt zugleich als einer der wirksamsten Kritiker von McTaggarts Zeitphilosophie. »When an event, which was present, becomes past«, schreibt Broad, »it does not change or lose any of the relations which it had before; in simply acquires in addition new relations which it could not have before, because the terms to which it now has these relations were then simply nonentities. – It will be observed«, fährt Broad fort, »that such a theory as this accepts the reality of the present and the past, but holds that the future is simply nothing at all. Nothing has happened to the present by becoming past except that fresh slices of existence have been added to the total history of the world.« Diesen Anwachs der »the sum total of existence« nennt
91 Ebd., 121f.
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Broad Werden [becoming].92 »[T]he laws of logic«, betont Broad, »apply to a fixed universe of discourse[…] But the universe of actual fact is continually increasing through the becoming of fresh events; and changes in truth, which are mere increases in the number of truths through this cause, are logically unobjectionable.« Entgegengesetzt zu dem, was McTaggart dachte, sagt Broad, »no event ever does have the characteristic of futurity«, und daraus folgt, daß sich der Satz des ausgeschlossenen Dritten auf zukünftige Ereignisse nicht bezieht.93 In ihrer Arbeit Metaphors We Live By94 besprechen Lakoff und Johnson – ich wiederhole hier einige in der Einleitung zum gegenwärtigen Band bereits angeführte Formulierungen95 – zwei Unterarten der DIE ZEIT GEHT AN UNS VORBEI Metapher. In dem einen Fall »bewegen wir uns, und die Zeit steht still; in dem anderen bewegt sich die Zeit, und wir stehen still«.96 Diese beiden Metaphern sind »nicht konsistent (das heißt, sie setzten sich nicht zu einem einzigen Bild zusammen)«, aber sie sind dennoch, schreiben die Autoren, kohärent, sie »passen zusammen«.97 Der Gedanke, daß Metaphern zu visuellen Bildern führen können,98 daß aber »ein einziges konsistentes
92 C. D. Broad: Scientific Thought, London 1923, 66f. 93 Ebd., 83 u. 81. – Broads Standpunkt wird durch eine glänzende Argumentation wiederbelebt durch John Perry in seinem Aufsatz How Real Are Future Events?, in Friedrich Stadler u. Michael Stöltzner (Hg.): Time and History, Frankfurt/M. 2006, 13-30. 94 George Lakoff u. Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago 1980. 95 Vgl. oben, S. 13. 96 Lakoff u. Johnson: Metaphors We Live By, 44. Eine ähnliche Beobachtung taucht bereits bei Kant auf. Diese Formulierung findet sich in seinem Nachlaß: »Von der Zeit haben wir die laufende (gegenwartige), die verlaufene, verflossene (vergangene) und die kommende (künftige) Zeit. Hier fließt die Zeit, die Dinge sind stehend. Aber: ein Ding dauert, es hat verlebt etc. etc., setzt die Zeit als ruhig voraus. Ewigkeit. Das Daseyn entweder überhaupt oder eines Dinges. Ein Ding legt viel Zeit zurück und hat viel vor sich. Es kann sein Daseyn in der Zeit nicht bevestigen, es geht im Fluge durch sie, oder die Zeit flieht.« (Akademie-Ausgabe, Bd. XVIII, 152.) 97 Lakoff u. Johnson: Metaphors We Live By, 44. 98 Siehe z. B. ebd., 168.
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konkretes Bild«99 nicht notwendigerweise entstehen wird, wenn sich verschiedene »kohärente aber nicht konsistente« Metaphern überschneiden,100 kehrt in Metaphors We Live By häufig zurück. Und Lakoff und Johnson hoben bereits in diesem Band hervor, daß die letzte Quelle unserer fundamentalen Metaphern die an physische Gegenstände, insbesondere die an unseren eigenen Körper knüpfenden Erfahrungen sind.101 Einige Jahre später wurde diese Betonung der Bewegungsempfindung, des Motorischen, noch prägnanter. In seinem Buch Women, Fire, and Dangerous Things weist Lakoff darauf hin, daß »ein großer Teil mentaler Bilder kinästhetisch« sei, und daß dies in noch höherem Maße im Fall der sogenannten Bildschemen (»image schemas«) zutrifft.102 Der Begriff des Bildschemas wird von Johnson in seiner Arbeit The Body in the Mind mit der Formel »a recurring, dynamic pattern of our perceptual interactions and motor programs« eingeführt,103 wobei das Schema ZWINGENDE KRAFT als Beispiel dient (vgl. Abbildung 5) und Johnson unterstreicht, daß der Begriff von »Kraft« aus unserer körperlichen Erfahrung der Kraft stammt, der Erfahrung der Hindernisse, die wir antreffen und die Kraft auf uns ausüben, aus der Erfahrung »of being moved by external forces, such as wind, water, physical objects, and other people«,104 aus der Erfahrung, daß etwa »[w]hen a crowd starts pushing, you are moved [...] by a force you seem unable to resist«,105 und aus unAbbildung 5: Zwingende Kraft
Quelle: Johnson: The Body in the Mind, 45
99
Ebd., 105.
100 Ebd., 94. 101 Ebd., 25. 102 George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things: What Categories Reveal about the Mind, Chicago 1987, 446. 103 Mark Johnson: The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987, xiv. 104 Ebd., 45. 105 Ebd.
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serer Erfahrung, daß auch wir fähig sind auf die uns widerstehenden Gegenstände Kraft auszuüben, manchmal sogar sie durchzudringen. Ich meine, daß auch die Erfahrung des Vergehens der Zeit das Erfahren irgendeiner äußeren Kraft bedeutet. Wir alle kennen das Erlebnis, welches man ohne Übertreibung als das Gefühl von rohen Muskelspannungen in unserem Kampf gegen die Zeit nennen kann.106 Zum Schema ZWINGENDE KRAFT könnte diese Metapher wohl gut passen: DAS VERGEHEN DER ZEIT IST EINE PHYSISCHE KRAFT. Das Vergehen der Zeit heißt, daß die Gegenwart zur Vergangenheit wird und die Zukunft zur Gegenwart. Doch wie wir gesehen haben, ist die zweite Hälfte dieser Formel irreführend. Die Zukunft, streng genommen, existiert ja nicht. Statt zu sagen: die Zukunft wird zur Gegenwart, sollten wir uns vielmehr – Broad folgend – so ausdrücken: es entstehen immer wieder neue Gegenwarten, oder noch genauer: wir erschaffen, aus der Sicht unseres eigenen Lebenslaufs, immer wieder neue Gegenwarten. Aus dem Erschaffen neuer Gegenwarten besteht unser Kampf mit der Zeit. Das Herbeiführen der Zukunft benötigt physische Kraft. Das Bild vom Fluß der Zeit ist eine besondere, zusammengesetzte Metapher, die in einer einzigen Synthese vereinigt einerseits die Erfahrung des Vergehens der Zeit als eine physische Kraft, und andererseits jene Erfahrung, daß die Gegenwart allmählich in die Vergangenheit weiterzieht. Beide Erfahrungen sind real. Die Metapher Fluß der Zeit bildet eine eigenartige und wesentliche Dimension der Wirklichkeit selbst ab.
2 G ESCHICHTE
UND
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In seinem bereits zitierten Aufsatz schreibt Theunissen: »Darin, daß wir uns von Zeit beherrscht fühlen, wird uns ihre Realität erfahrbar. […] [es besteht eine] Unauflöslicheit des Zusammenhangs von Zeit und Zeiterfahrung. […] Es ist die Zeit, die eine Zeit, die über uns herrscht. Deren Pluralisierung mißversteht als Verschiedenheit von Zeiten, was in Wahrheit bloß ein Un-
106 Ich behandele diese Frage ausführlicher in meinem Vortrag Film, Metaphor, and the Reality of Time, in: New Review of Film and Television Studies 7 (2009), 2, 109-118. Der Text des Vortrags ist auch über meine Homepage erreichbar: http://www.hunfi.hu/nyiri/Nyiri_Bristol_Film_and_Time.pdf.
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terschied in der Wahrnehmung der einen und selben Zeit ist.«107 Die Zeit ist unabhängig von unserer jeweiligen Lebenswelt, unsere Zeiterfahrung jedoch nicht. Unser Kampf mit der Zeit bedeutet in je verschiedenen geschichtlichen Zeitaltern die Beantwortung von je verschiedenen Herausforderungen. Die Bewahrung des Lebens weist eine jeweils andere Aufgabe dem konservativen Menschen zu in den vormodernen – traditionalen – Gesellschaften, in der von dem Gedanken des Fortschritts durchdrungenen modernen bürgerlichen Gesellschaft, und in dem eines Zukunftsbildes ermangelnden postmodernen Zeitalter. Im weiteren versuche ich, das Zeitbewußtsein von diesen drei Zeitaltern kurz zu charakterisieren, und auch ein drittes – sich in keinem Zeitalter zu Hause fühlendes – Zeitbewußtsein zu berühren: das eschatologische Zeitbewußtsein.
2.1 Die Zeit der Tradition Dem kaum als einfach anmutenden Problemkreis der Tradition läßt sich zunächst am besten durch schlichte Wörterbuchdefinitionen näherkommen. Die Ausdrücke »Überlieferung« und »Tradition« werden ausführlich erläutert im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm. »Überlieferung«, erfahren wir hier, bedeutetete urspünglich Übergabe, etwa im Sinne von »überliferung der geisel in ire heimet Xylander Polybius (1574)«, bekam aber später einen spezifischeren Sinn: »mündliche mittheilung von geschlecht zu geschlecht, entsprechend dem theol. begriffe der tradition, der schriftlichen entgegengesetzt«. Auf der anderen Seite wird Goethes Formulierung zitiert »von gedruckten überlieferungen«. Ein weiteres Goethe-Zitat: »indem wir nun von überlieferung sprechen, sind wir unmittelbar aufgefordert, zugleich von autorität zu reden, denn genau betrachtet, so ist jede autorität eine art überlieferung«. Das Wort »Tradition« gab es im Deutschen vor dem 16. Jahrhundert nicht, und bis zum 18. Jahrhundert beschränkte sich dessen Gebrauch fast ausschließlich auf die religiöse Sphäre: »im kampf der reformation gegen die katholische kirche ins deutsche aufgenommen; anfänglich meistens von der einzelnen religiösen vorschrift oder einrichtung, die in confessioneller polemik als zusatz zu dem göttlichen gebot hingestellt wird«. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts bekam der
107 Theunissen, a. a. O. (siehe oben, Anm. 69), 42.
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Ausdruck seinen sekulären Sinn von »mündlich und schriftlich überlieferte kunde von geschichtlichen begebenheiten« und im 19. Jahrhundert die breitere Bedeutung »das herkömmliche in haltung und handlung, das sich in socialen und geistigen gemeinschaften, in culturellen überlieferungszusammenhängen aller art fortpflanzt«. Johnson, in seinem Dictionary of the English Language, 1755 abgeschlossen und hier anhand der Ausgabe von 1832 zitiert, führt zunächst diese Bedeutung an: »The act or practice of delivering accounts from mouth to mouth without written memorials; communication from age to age« (mit einer lehrreichen Hooker-Illustration: »To learn it, we have tradition; namely, that so we believe, because both we from our predecessors, and they from theirs, have so received«); und zweitens: »Any thing delivered orally from age to age.« Laut dem 1864 neu herausgegebenen Webster heißt tradition: »The act of delivering into the hands of another«, sowie: »The unwritten or oral delivery of opinions, doctrines, practices, rites, and customs, from father to son, or from ancestors to posterity; the transmission of any opinions or practice from forefathers to descendants by oral communication, without written memorials.« Als die theologische Bedeutung des Ausdrucks gibt der Webster: »That body of doctrine and discipline, or any article thereof, supposed to have been put forth by Christ or his apostles, and not committed to writing.« Und schließlich einige hauptsächliche Bedeutungen laut Oxford English Dictionary: »The action of handing over (something material) to another; delivery, transfer«, »Delivery, esp. oral delivery, of information or instruction. Now rare«, und »The action of transmitting or ›handing down‹, or fact of being handed down, from one to another, or from generation to generation; transmission of statements, beliefs, rules, customs, or the like, esp. by word of mouth or by practice without writing.« Und als eine »mehr vage« Bedeutung gibt OED: »A long established and generally accepted custom or method of procedure, having almost the force of a law; an immemorial usage; the body (or any one) of the experiences and usages of any branch or school of art or literature, handed down by predecessors and generally followed.« Wir wollen hier auch noch die von Acton gegebene Definition anführen: »A tradition is a belief or practice transmitted from one generation to another and accepted as authoritative, or deferred to, without argument.«108
108 H. B. Acton: Tradition and Some Other Forms of Order, in: Proc. of the Ar.
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Die lateinischen Ausdrücke »traditio« und »tradere« kommen an etwa fünfhundert Stellen der Vulgata vor. Zwei lehrreiche Passagen: »Denn vor allem habe ich euch überliefert [tradidi], was auch ich empfangen habe« (1 Kor 15,3), und: »Seid also standhaft, Brüder, und haltet an den Überlieferungen [traditiones] fest, in denen wir euch unterwiesen haben, sei es mündlich, sei es durch einen Brief« (2 Tess 2,14). Die Bibel macht keinen terminologischen Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung. Tatsächlich ist aber diese Differenz fundamental; das OED verfährt durchaus richtig, wenn es zwischen den engeren und weiteren Bedeutungen von »Tradition« unterscheidet; und Johnson hat die glückliche Wahl getroffen, als er die mündliche Überlieferung als die grundlegende Dimension der Tradition darstellte. Kein Einwand dürfte die Formel treffen, die Hartland in seinem Aufsatz »Folklore« gab: »It is now well established that the most civilized races have all fought their way slowly upwards from a condition of savagery. Now, savages can neither read nor write; yet they manage to collect and store up a considerable amount of knowledge of a certain kind. [...] The knowledge, organization, and rules thus gathered and formulated are preserved in the memory, and communicated by word of mouth and by actions of various kinds. To this mode of preservation and communication, as well as to the things thus preserved and communicated, the name of Tradition is given.«
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Wir dürfen indessen nicht außer acht lassen, daß Hartland (wie auch das OED) nicht nur von durch Wörter vermittelten Traditionen spricht, sondern auch von der Überlieferung von Organisationen, Regeln und »Sachen«. Regeln, Verfahrungsweisen, Materialien und Gegenstände zu tradieren heißt: praktisches Wissen zu überliefern. Bildliche Darstellungen können der Überlieferung sowohl von praktischem als auch von theoretischem Wissen
Soc., N. S. III, 1953, 2. – Es sind größtenteils die hier zitierten Definitionen, mit denen ich in meinem Band Tradition and Individuality: Essays (Dordrecht 1992) das Kapitel »Tradition« and Related Terms: A Semantic Survey einleitete. 109 Edwin Sidney Hartland: Folklore: What Is It and What Is the Good of It? (1899), wiederabgedruckt in R. M. Dorson (Hg.): Peasant Customs and Savage Myths, London 1968, Bd. I, 231.
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dienen – auf das Verhältnis von Bildlichkeit und Konservatismus werde ich im gegenwärtigen Kapitel wiederholt zurückkommen. Die primäre – ausgezeichnete und eigenartige – Funktion der mündlichen Tradition hingegen ist eben die Bewahrung von theoretischem Wissen unter den Verhältnissen der präliteralen Gesellschaften. Um diese Funktion erfüllen zu können, muß sich der überlieferte Text gewissen Anforderungen fügen, die der besseren Memorisierbarkeit der gesprochen-flüchtigen Rede dienen: einerseits muß sie eine erzählerische, sich in Melodie, Rhythmus und Reim kleidende Form annehmen, andererseits darf ihr Wahrheitsgehalt nicht bezweifelt werden – würde doch der Zweifel eben jene unvermittelte Hingabe des Zuhörers zerstören, ohne welche das Einschärfen des Gehörten nur unvollkommen erfolgen könnte.110 Die Unbezweifelbarkeit des übermittelten Textes wird durch die Fiktion einer unveränderten Weitergabe von Generation zu Generation, ja eines letzten Endes göttlichen Ursprungs legitimiert. Tatsächlich ist aber eine unveränderte Weitergabe der Tradition ganz und gar dysfunktionell – eine funktionelle Tradition muß sich in ihrem Gehalt an die Gegenwart anpassen. Das heißt, daß die Tradition kein objektives Bild der Vergangenheit vermitteln kann, ja eine geschichtliche Vergangenheit als solche überhaupt nicht kennt. Havelock schreibt von einer »gegenwärtigen Tradition, die in die Vergangenheit und, wie angenommen, auch in die Zukunft reicht: die Ausdrucksweise, in der die drei Perioden beschrieben werden, begründet ihre Identität, nicht ihre Differenz.«111 Das »Individuum in einer nicht-literalen Gesellschaft«, schreiben Jack Goody und Ian Watt in ihrer klassischen Studie, »[sieht] die Vergangenheit fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart«.112 Die grundlegende wissensspeichernde und -abrufende Tätigkeit von primär mündlichen Gesellschaften besteht im Zitieren – d. h. im Wiederholen – von Texten. Wiederholen heißt noch einmal durchleben: die Erfahrung der Zeit im Me-
110 Ich übernehme hier einige Formulierungen aus meinem Aufsatz Historisches Bewußtsein im Informationszeitalter, in: Dieter Mersch u. Kristóf [J. C.] Nyíri (Hg.): Computer, Kultur, Geschichte: Beiträge zur Philosophie des Informationszeitalters, Wien 1991, siehe 66f. 111 Eric Havelock: The Muse Learns to Write: Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present, New Haven, CT 1986, 58. 112 Jack Goody u. Ian Watt: Konsequenzen der Literalität, in: Jack Goody (Hg.): Literalität in traditionalen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1981, 54.
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dium der primären Mündlichkeit ist zyklisch, nicht linear.113 Und eine zyklische Auffassung der Zeit wird dem Menschen nahegelegt durch die tägliche Bewegung der Sonne, die Mondphasen, die Jahreszeiten, und die Aufeinanderfolge der Generationen in der Natur (vgl. Abbildungen 6a und 6b). Die Idee der linearen Zeit wird erst im Zeitalter der vollendeten SchriftlichAbbildung 6a: Mäander-Muster, nach dem Heidegger-Studenten Heinrich Rombach. Wie Rombach schreibt: »Der Mäander findet sich fast überall, wo Ackerbau getrieben wird. […] er […] symbolisiert […] die Ahnenfolge (die Tradition).«
Quelle: Rombach: Leben des Geistes: Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg: Herder, 1977, 83
Abbildung 6b: Peruanisches Gewebe aus einem Grab (ca. 1000 n. Chr., nach Rombach). Rombachs Deutung von diesem »Mäander«Muster: »Je zwei Streifen, von unten nach oben (hell) gelesen, ergeben einen Zweig mit Blättern. Leben, Wachstum. Von oben nach unten (dunkel) gelesen: Untergang und Tod. Nur beides zusammen, Leben und Tod, ergibt das Ganze.«
Quelle: Rombach: Leben des Geistes: Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg: Herder, 1977, 83
113 Die breiteren Aspekte des Themas behandele ich ausführlicher in meinem Aufsatz Time and Communication, in: Friedrich Stadler u. Michael Stöltzner (Hg.): Time and History / Zeit und Geschichte, Frankfurt/M. 2006, 301-316.
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keit, also im Zeitalter des Buchdrucks – in der europäischen Neuzeit, im »modernen« Zeitalter – bestimmend, wenn auch nicht alleinherrschend. Die vormoderne konservative Aufgabe heißt noch nichts anderes, als die Bewahrung der Unbeschädigtheit des Kreislaufs des Lebens. Jan Assmann beschrieb in einer meisterhaften Zusammenfassung114 die gleichzeitige und dennoch ungleichmäßige Gegenwart der zyklischen und linearen Zeitauffassungen im mittelalterlichen Christentum (wo die Kirche in der zum Heil führenden sakralen linearen Geschichte eine Hauptrolle spielt, während die diesseitigen Ereignisse einem zyklischen Muster folgen), im alten Mesopotamien (mit immer wieder auftauchenden Versuchen retrospektiver politischer Chroniken), und freilich in Ägypten (wo die Königslisten seltene und unbedeutende Episoden waren innerhalb einer überwiegend zyklischen Weltanschauung). Den Ägyptern, wie auch den Mesopotamiern, standen lineare Schriftsysteme durchaus zur Verfügung; doch der schriftkundige Ägypter war zur gleichen Zeit von einer Welt bildhafter Gestalten umgeben, von einer Welt von Bildern und Ideogrammen (Hieroglyphen). Was diese Bilder darstellen, ist die Idee der sich wiederholenden Zeit, wie ja auch der kanonische, durch Jahrtausende bewahrte Stil der ägyptischen Kunst115 ebenfalls die Idee einer keine Veränderung bringenden Zeit nahelegte: die Verbindung mit der Vergangenheit bedeutete Wiederholung, nicht Kontinuität. Wir wollen kurz die Frage aufwerfen: liegt es wohl in der Natur der bildlichen Kommunikation selbst, daß diese eher das Bild der zur Bewegungslosigkeit zu erstarren scheinenden, als das der vorwärtstreibenden Zeit stärkt? Bekannt ist die Auffassung, laut der das in Bildern Überlieferte eine größere Macht besitzt, als das in Texten Tradierte; daß eine Kultur, in der das Bild über den Text herrscht, sozusagen fügsamer ist, weniger bereit im Muster der Ereignisse Veränderungen einzuleiten, als jene, in der das Bild dem Text gegenüber eine untergeordnete Rolle spielt. Wir müssen allerdings auch bemerken, daß sich die Ägypter regelmäßig der Möglichkeit der sequentiellen bildlichen Darstellung – gleichsam der Bilderreihe – bedienten. Nun kann freilich eine Reihe von Bildern durchaus geeignet sein zum Erzählen nicht nur von in der Zeit sich wiederholenden, sondern auch von in der Zeit vorwärtsschreitenden Ereignissen – zum Er-
114 Assmann: Ägypten: Eine Sinngeschichte (siehe oben, Anm. 54), 27-38. 115 Siehe Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 171-174.
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zählen progressiver Narrativen –, ja sogar zum Darstellen sich miteinander vermengender Zeitebenen. Wozu indessen eine Bilderreihe kaum geeignet ist, ist das Andeuten der eschatologischen Zeitauffassung.
2.2 Eschatologisches Zeitbewußtsein Die eschatologische Zeitauffassung – jene Auffassung, gemäß der die letzte Zukunft bereits dermaßen hier mit uns ist, daß sie tatsächlich den bestimmenden Rahmen des gegenwärtigen Lebens liefert – muß sich kein Bild machen von einer eigentlichen zeitlichen Veränderung. Weiter oben habe ich den jungen Heidegger erwähnt als den Vertreter von einer Art innerweltlicher Eschatologie. Ich möchte hier auf Heideggers im Wintersemester 1920/21 gehaltenen religionsphänomenologischen Vorlesungen hinweisen, insbesondere auf das Kapitel »Charakteristik der urchristlichen Lebenserfahrung«. Wenn der 1924er Aufsatz Der Begriff der Zeit116 von der Heidegger-Forschung – mit Recht – als die Urfassung vom Sein und Zeit bezeichnet wird, so kann dieses Kapitel geradezu als der Schlüssel zum frühen Hauptwerk betrachtet werden. Heidegger zitiert aus dem ersten Brief an die Korinther: »Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat[...] […] Die Zeit ist kurz. Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht [...], wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht.«117 Die Inhalte des Lebens bleiben, schreibt Heidegger, aber sollen anders gesehen werden: etwas hat sich radikal verändert. Nicht das Was zählt nunmehr, sondern das Wie. »[D]er Christ«, sagt Heidegger, »lebt ständig im Nur-Noch[…] Die zusammengedrängte Zeitlichkeit ist konstitutiv für die christliche Religiosität: ein ›Nur noch‹; es bleibt keine Zeit zum Hinausschieben.«118 Es ist nicht zu übersehen, daß gerade diese Formel der »zusammengedrängten Zeitlichkeit« im Begriff »Sein zum Tode« des Buches Sein und Zeit erscheint. Der Übergang ist im
116 Siehe oben, Anm. 30. 117 1 Kor 7,20, 1 Kor 7,29-31. 118 Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1995, 116 u. 118f.
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Vortrag »Der Begriff der Zeit« ganz klar zu erkennen. »Bin ich selbst das Jetzt und mein Dasein die Zeit?« – fragt hier Heidegger,119 und die Antwort ist bejahend. »Das Ende meines Daseins, mein Tod«, schreibt er, ist »die äußerste Möglichkeit [m]einer selbst[…] […] Diese äußerste Seinsmöglichkeit ist vom Charakter des Bevorstehens in Gewißheit[…] […] Dieses Vorbei, zu dem ich als dem meinigen vorlaufen kann, ist kein Was, sondern das Wie meines Daseins schlechthin.« Unsere Zukunft ist in unserer Gegenwart gegenwärtig; sie ist bereits geschehen. Die Verhältnisse anders sehen und eben dadurch radikal zu verändern: dies ist der Grundgedanke jener innerweltlichen Eschatologie, die die Arbeit Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács vertritt. Lukács beginnt seinen Gedankengang mit einer Formel, die der junge Marx 1843 zu Papier gebracht hat: »Es wird sich [...] zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen.«120 Im zentralen Aufsatz von Geschichte und Klassenbewußtsein – im Aufsatz »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats« – kehrt die Formel in dieser Gestalt wieder: »Nur wenn das Bewußtsein des Proletariats jenen Schritt zu zeigen imstande ist, dem die Dialektik der Entwicklung objektiv zudrängt, ohne ihn jedoch kraft der eigenen Dynamik leisten zu können, erwächst das Bewußtsein des Proletariats zum Bewußtsein des Prozesses selbst, erscheint das Proletariat als das identische Subjekt-Objekt der Geschichte, wird seine Praxis ein Verändern der Wirklichkeit.«121 Lukács hat sehr gründlich das Werk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von Ernst Troeltsch studiert. In seinem Exemplar hob er betont jene Formulierung von Troeltsch hervor, laut der die mittelalterlichen Sekten, eine Art absoluten Naturrechts vertretend, »den Kompromiß mit der Welt [verwerfen]«. Das absolute Naturrecht »kann die Ungleichheit der Menschen einschließen an Stellung, Beruf, Einfluß, Besitz und die Ungleichheiten nur in der Liebe, in einem […] Liebeskommunismus auslöschen. Es kann aber auch die
119 Martin Heidegger: Der Begriff der Zeit (siehe oben, Anm. 33), 111, 116 u. 117. 120 Brief aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, zitiert in Lukács’s Schrift Was ist orthodoxer Marxismus? (1923), siehe Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied 1968, 172. 121 Ebd., 385.
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Gleichheit und Gleichberechtigung aller Individuen bedeuten und dann zu demokratisch-kommunistischen Ideen führen. So oder so steht das neutestamentliche Gottesgesetz und absolute Naturrecht im Gegensatz gegen die bestehenden Verhältnisse« – und nimmt die Idee der »demokratischsozialistischen Revolution« vorweg.122 Durch die Arbeit von Troeltsch zieht als ein Hauptgedanke die Gegenüberstellung der eschatologisch-revolutionären Sekte und der mit der Welt sich notgedrungen aussöhnenden, konservativen christlichen Kirche. Nur die Kirchen sind fähig, heißt es, eine Massenwirkung auszuüben, indem sie Kompromisse zwischen den christlichen Idealen und der diesseitigen Ordnung aufbauen und aufrechterhalten. Die Askese der Sekten ist revolutionär, besteht aber bloß in einem Sich-Abgrenzen von der Welt; gegenüber jener »heroischen« Askese, schreibt Troeltsch, die eine besondere Leistung von einigen außergewöhnlichen Mitgliedern der Kirche ist.123
2.3 Bürgerlich-konservatives Zeitbewußtsein Zur alltäglichen Askese der mittelalterlichen Kirche gehörten die auch nachts und bei Tagesanbruch streng ausgeführten klösterlichen Gebete. Die Ordnung ihres Einhaltens wurde durch die im dreizehnten Jahrhundert erfundene mechanische Uhr unterstützt. Anfangs noch ohne Zifferblatt, war doch diese Uhr, wie es Landes formuliert, eigentlich eine »automatisierte Glocke«,124 die die Zeit im Raum des Klosters und später im öffentlichen Raum der mittelalterlichen Stadt mitteilte. Das vierzehnte Jahrhundert ist das Zeitalter der Verbreitung von Glockentürmen, die zunehmend zum Leben der städtischen Gesellschaft gehörten. »Die regelmäßigen Glockenschläge«, schreibt Mumford, »brachten eine neue Regelmäßigkeit in das Le-
122 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Tübingen 1923, 379. (Zu Troeltsch vgl. oben, S. 130.) 123 »[…] nicht heroische, ihrem Wesen nach auf Einzelfälle sich beschränkende Sonderleistung eines besonderen Standes und Mortifikation der Sinnlichkeit im Interesse einer Unterstützung des höheren religiösen Aufschwungs, sondern einfach im alten biblischen Sinne Zurückhaltung von der Welt«, ebd., 373. 124 David S. Landes: Revolution in Time: Clocks and the Making of the Modern World, 2. Aufl., Cambridge, MA 2000, 81.
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ben des Arbeiters und des Kaufmanns«, das Nachsinnen über die Ewigkeit wurde durch die mit der Zeit kalkulierende Praxis ersetzt.125 Mumford unterscheidet zwischen »mechanischer Zeit« und »organischer Zeit«. Wie er sich ausdrückt: »[M]echanical time is strung out in a succession of mathematically isolated instants[…] [While] mechanical time can […] be speeded up or run backward, like the hands of a clock or the images of a moving picture, organic time moves in only one direction – through the cycle of birth, growth, development, decay, and death[...]«126 Die Zeiger der mechanischen Uhr gehen im Kreis umher, die neue Zeitwirtschaft legt aber bereits die Idee der linearen Zeit nahe. Es ist diese Idee, die durch das Wiederaufleben der Schriftlichkeit im mittelalterlichen Europa vorbereitet, und dann durch den Buchdruck bestimmend gemacht wird. Newtons Vision vom kontinuierlichen linearen Fluß der Zeit, und freilich die begeisterte Unterstützung dieser Vision seitens Locke, wäre unvorstellbar gewesen ohne das Bild jener »konstanten und regelmäßigen Aufeinanderfolge« von »Ideen«,127 welches durch das Lesen einer gedruckten Zeile charakteristischerweise entsteht. Zugleich war es die Kultur des Buchdrucks, in der sich der Begriff des Fortschritts und das moderne historische Bewußtsein gestalteten. Die Kultur der Mündlichkeit vermittelt kein objektives Bild der Vergangenheit; nur durch die Schrift trennen sich Legende und Faktum, beginnt der Sinn für die geschichtliche Entfernung zu entstehen. Die Handschriftenkultur – mit dem Phänomen des lauten Lesens und mit den durch das manuelle Kopieren verursachten unvermeidlichen Textverschlechterungen – bewahrt allerdings noch ihre Nähe zur Kultur der Mündlichkeit. Die volle Entfaltung des historischen Bewußtseins spielt sich erst im Zeitalter des Buchdrucks ab. Wie Elizabeth Eisenstein schrieb: »Bevor man die Idee des ›Fortschritts‹ zu erklären versucht, sollte man sich näher den Vervielfältigungsprozeß ansehen, welcher nicht bloß eine Folge von verbesserten Editionen ermöglichte, sondern auch eine kontinuierliche Ansammlung von festgehaltenen Aufzeichnungen. […] der Kommunikationswandel geht dem Anfang des modernen historischen Bewußtseins um gut ein Jahrhundert voraus. Die Vergangen-
125 Lewis Mumford: Technics and Civilization, 2. Aufl., New York 1963, 14. 126 Ebd., 16. 127 John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 2000, II, xiv, 12.
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heit konnte nicht in eine feste Entfernung gesetzt werden, solange ein einheitlicher räumlicher und zeitlicher Rahmen noch nicht aufgebaut worden war.«
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Oder wie Sven Birkerts doch so mitreißend formulierte: »unser Sinn der Vergangenheit […] ist in irgendeiner wesentlichen Weise durch das Buch und die physische Ansammlung von Büchern in Bibliotheksräumen vertreten. Durch den Anblick eines einzigen Bandes oder einer Masse von Bänden bauen wir ein Bild der vergangenen Zeit als eine wachsende Ablagerung von Sedimenten; wir erfassen einen Sinn ihrer Tiefe und Dimensionalität.«129 Der dem Gedankensystem des Fortschritts verpflichtete moderne Bürger konnte noch der Meinung sein, daß er ein klares Zukunftsbild besitzt; seine Taten waren von der Überzeugung geleitet, daß indem man jenem Gedankensystem folgt, sich die Fortschrittsideale in die Wirklichkeit umsetzen lassen. Demgegenüber bestand die konservative Aufgabe im bürgerlichen Zeitalter eben im Aufzeigen dessen, daß der lebendigen Praxis abstrakte Theorien aufzuzwingen katastrophale Folgen haben kann; daß die Gestaltung der Zukunft aus einer genauen Kenntnis der Gegenwart und vielmehr noch der Vergangenheit, die auf die Gegenwart wirkt, hervorgehen muß. Bekannt ist die Formulierung »At once to preserve and to reform«, vom klassischen Vertreter des bürgerlichen Konservatismus, Edmund Burke. Diese Formulierung steht in seiner Arbeit Reflections on the Revolution in France, in jenem langen Abschnitt, wo Burke die Vorzüge der von der Zeit vorangebrachten langsamen Umgestaltung, bzw. des »slow but well-sustained progress« betont und auf Umsicht und Vorsicht als Bestandteile der Weisheit hinweist.130 Um es nochmals hervorzuheben: das historische Bewußtsein, das heißt – wir wollen hier auch die Formeln von J. H. Plumb anführen – die Fähigkeit »to see things as they were in their own time«, »the conciousness of
128 Elizabeth Eisenstein: The Printing Press as an Agent of Change: Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe, Cambridge 1979, Bd. I, 124 u. 301. 129 Sven Birkerts: The Gutenberg Elegies: The Fate of Reading in an Electronic Age, Boston 1994, 129. 130 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France (1790), Oxford 1993, 196-198.
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a different past«, der »wish to understand the past in its own terms«,131 konnte sich nicht ausbilden vor der allgemeinen Verbreitung des gedruckten Buches, d. h. vor dem siebzehnten Jahrhundert. Und kaum dreihundert Jahre später, mit dem Aufkommen von telegraphischen Zeitungsberichten, läßt sich bereits der Abbau dieses Bewußtseins feststellen. Das historische Bewußtsein setzt eine bestimmte zeitliche Sicht voraus. Bis zu den 1860er Jahren herrschte auch noch in der Tageszeitung die Spalte über die Nachrichten; die Zeitung vermittelte irgendwelche zeitliche Perspektive. Danach aber wurde die Zeitung, um McLuhan zu zitieren, »a mosaic of unrelated scraps in a field unified by a dateline. [...] there can be no point of view in a mosaic of simultaneous items«, nämlich in einem Mosaik von telegraphischen Nachrichten.132
2.4 Postmodernes Zeitbewußtsein Das Telegraph veränderte die Zeiterfahrung auch in einer ganz unmittelbaren Weise. Die genaue Bestimmung der geographischen Länge und die Anfertigung von Weltkarten setzte ursprünglich den Transport von hochgenauen Zeitmessern voraus. Nach 1866, als das erste transatlantische Kabel gelegt wurde, wurde es möglich, Uhren zu synchronisieren, die voneinander in großer Entfernung waren. 1880 waren bereits alle bewohnten Kontinente miteinander durch Kabel verbunden.133 Lokalzeiten wurden zu Elementen im umfassenden Rahmen der Globalzeit; es entstand die Praxis von fastechtzeitlicher Kommunikation zwischen zu verschiedenen Zeitzonen gehörenden Menschen. Das von Castells beklagte Phänomen der »Vermengung von Zeitebenen«134 nahm mit der Telegraphie seinen Anfang, mit dem Medium, das als erstes eine Trennung zwischen der Bewegung von Information und der Bewegung von Menschen ermöglichte. Das zweite derartige
131 J. H. Plumb: The Death of the Past, London 1969, 82 u. 118f. 132 Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964, 249. 133 Peter Galison: Einstein’s Clocks, Poincaré’s Maps: Empires of Time, London 2003, 132-144. 134 Manuel Castells: The Rise of the Network Society (Castells: The Information Age: Economy, Society and Culture, Bd. I), Oxford 1996, 433.
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Medium ist die Telefonie, durch die eine tatsächlich echtzeitliche Fernkommunikation entsteht und die enge Bandbreite des Telegraphs durch die weit größere Bandbreite der menschlichen Stimme abgelöst wird. 1895 führten die Gebrüder Lumière ihren Kinematograph vor. Damit entstand eine neue, sehr kräftige neue Metapher vom Weitergehen der Zeit.135 Bergson hat sie grundlegend angewendet; Wittgenstein war, in den frühen 1930er Jahren, in dieselbe geradezu vernarrt. In Bergsons Werk Schöpferische Entwicklung nimmt etwa 40 Seiten die Argumentation ein136 laut der, wie es heißt, man durch die Kinematograph-Metapher (»der kinematographische Film [...] [rollt] sich auf [...] und [bringt] die verschiedenen Photographien des Schauspiels dazu [...], sich Stück für Stück aneinanderzufügen«) eine Erklärung für unsere Unfähigkeit findet, hinter der Reihe von Momentaufnahmen das zeitliche Werden zu entdecken; man zu einer einleuchtenden Deutung der platonischen unbeweglichen Ideen kommt; und man freilich auch für den Bergsonschen Begriff der durée Stellung nehmen kann, ich wiederhole hier eine in der Einleitung des gegenwärtigen Buches bereits zitierte Passage: »wenn die Zeit nicht eine Art von Kraft ist, warum […] ist nicht alles auf einmal gegeben wie auf dem kinematographischen Film?«137 Jene implizite Erfahrung der Zeit, die der Film vermittelte – sei es der stumme oder der Tonfilm –, war zweifellos nicht die durch die geschriebene und insbesondere die gedruckte Sprache gegebene. Was die expliziten filmischen Zeiterfahrungen betrifft, wohlbekannt sind freilich die Techniken der verlangsamten und beschleunigten, oder gar rückwärts laufenden Aufnahme. Das Fernsehen, mit den immer schnelleren Schnitten, zersetzt weiter die geordnete Aufeinanderfolge der Zeit. Und als Resultat des Satellitenfernsehens »TV’s electronic time zones are competing increasingly with […] our internal biological clocks to determine our sense of time«.138 Was mit dem Telegraph begonnen hat und mit dem Kurzwellenradio und Ferngespräch fortgesetzt wurde – das Aufeinanderprallen von ver-
135 Douwe Draaisma: Why Life Speeds Up As You Get Older: How Memory Shapes Our Past, Cambridge 2004, 57-59. 136 Henri Bergson: L’évolution créatrice, Paris 1907. Ich zitiere hier anhand der Ausgabe Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, 307-348. 137 Ebd., 309 u. 342. 138 Jack Ofield: Television, in: Samuel L. Macey (Hg.): Encyclopedia of Time, New York 1994, 593.
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schiedenen Lokalzeiten – trat mit dem globalen Fernsehen in eine neue Phase. Die letzte Phase bedeutet, offenbar, das Entstehen von Computernetzwerken. Ich muß hier allerdings bemerken, daß der Rechner bereits vor dem Erscheinen des Weltnetzes unsere Zeiterfahrung umgeformt hat.139 In einem der fundierenden Analysen des Themas hieß es bei Bolter, daß für den Computerprogrammierer die Zeit endlich, diskret, und – man denke an die Schleifen – zyklisch wird.140 Dem füge ich hinzu, daß sich auch in der Welt des einfachen Computerbenutzers gewisse zeitliche Erlebnisse verändern. Eine besondere Bedeutung kommt hier den Auswirkungen der Textverarbeitung zu. Das gesprochene Wort ist geschmeidig, verflüchtigt sich jedoch im Moment des Aussprechens. Die geschriebene Sprache, und noch mehr die gedruckte, ist zwar bleibend, dafür aber starr. Demgegenüber ist der im Computer gespeicherte Text sowohl aufgehoben als auch veränderlich. Der abgerufene Text als solcher ist immer gleichzeitig, entbehrt jeder Geschichtlichkeit. Uralte Dokumente, im Computer aufbewahrt, tragen keinen Stempel der Zeitlichkeit. Bilder, einer CD abgerufen oder vom Netz heruntergeladen, können gegebenenfalls über ihre eigene Geschichte erzählen, doch in ihrer digitalisierten Form sind sie Teil des Hier und Jetzt; zwischen Original und Kopie besteht kein Unterschied. Es läßt sich kaum annehmen, daß eine Umgebung zeitloser Dokumente ohne Wirkung auf unser Zeitgefühl sei. Das postmoderne Zeitbewußtsein – das Bewußtsein der Formbarkeit und Mehrebenenstruktur der Zeit – wird heute grundlegend gestaltet durch das Mobiltelefon.141 Die Macht der öffentlichen objektiven Zeit war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kaum mehr anders erlebbar, als eine Tyrannei der Uhr. Wie Georg Simmel in seinem berühmten Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben«, 1903, schrieb:
139 Vgl. meinen Aufsatz Historisches Bewußtsein im Informationszeitalter, siehe oben, Anm. 110. 140 David J. Bolter: Turing’s Man: Western Culture in the Computer Age, Chapel Hill 1984, 100-123. 141 Vgl. meinen Aufsatz Time and the Mobile Order, in: Kristóf Nyíri (Hg.): Mobile Studies: Paradigms and Perspectives, Vienna 2007, 101-111.
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»Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters pflegen so mannigfaltige und komplizierte zu sein [...], daß ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde. – Wenn alle Uhren in Berlin plötzlich in verschiedener Richtung falschgehen würden, auch nur um den Spielraum einer Stunde, so wäre sein ganzes wirtschaftliches und sonstiges Verkehrsleben auf lange hinaus zerrüttet. – Dazu kommt [...] die Größe der Entfernungen, die alles Warten und Vergebenskommen zu einem gar nicht aufzubringenden Zeitaufwand machen. – So ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne daß alle Tätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema ein142
geordnet würden.«
Und in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Herrschaft der Uhr geradezu dysfunktional auf vielen Gebieten der dezentralisierten Massengesellschaft, d. h. der postmodernen Gesellschaft. In seinem Buch The Mobile Connection erinnert Richard Ling daran, daß durch die Entwicklung von neuen Verkehrs- bzw. Transportsystemen und die zunehmend größer werdende Differenzierung der gesellschaftlichen Rollen die praktisch sofortige Koordination von kleineren, geographisch zerstreuten Gruppen immer notwendiger wurde.143 Das Verlangen nach einer Möglichkeit der häufigen Zeitplanveränderung scheint in der postmodernen Welt bereits entstanden zu sein, als das Mobiltelefon, das vornehmliche Gerät der Programmveränderung unterwegs, auf den Schauplatz trat. Das Handy hat, zu einem nicht geringen Maß, nunmehr tatsächlich die Funktionen der Uhr übernommen. Die Koordination des gesellschaftlichen Zusammenwirkens in der Zeit beruht heute oft eher auf Mobilverhandlung, als auf dem Einhalten von vornherein bestimmten Zeitordnungen.144 Die Folge
142 Georg Simmel: Die Grosstädte und das Geistesleben, in: Th. Petermann (Hg.): Die Großstadt: Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Bd. 9, 1903, 185-206. 143 Richard Ling: The Mobile Connection: The Cell Phone’s Impact on Society, San Francisco 2004, 62. 144 Richard Ling u. Birgitte Yttri: Hyper-Coordination via Mobile Phones in Norway, in: James E. Katz u. Mark Aakhus (Hg.): Perpetual Contact: Mobile Communication, Private Talk, Public Performance, Cambridge 2002, 143-144. Siehe auch Lyn-Yi Chung u. Sun Sun Lim, From Monochronic to Mobile-
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ist, schreibt Ling, daß »we move away from a type of linear conception of time in which meetings [...] and assignments [...] are fixed […] at various time points«.145
3 H EROISCHER K ONSERVATISMUS Die Mobilzeit schafft eine neue Synthese zwischen der mechanischen Zeit (ich erinnere an Mumfords Terminologie) und der organischen Zeit; die Lebensnähe der Mobilzeitökonomie bricht die Alleinherrschaft der mechanischen Zeit. Uns in der Mobilzeit bewegend, entbehren wir allerdings in beträchtlichem Maße jener Möglichkeiten der Planbarkeit, Vorhersehbarkeit, welche sowohl die Naturzeit – mit ihrem Kreislauf – als auch die mechanische Zeit – mit ihrer Linearität – irgendwie doch darbietet. Die Benutzer des Mobiltelefons werden ständig von neuen Informationen erreicht, die sie zur Umgestaltung des Programms der nächsten Minuten/Stunden zwingen. Die Verhältnisse der Mobilzeitökonomie widerspiegeln wie ein Tropfen im Meer die Lage des postmodernen Konservativen: daß er nämlich über seinen jeweiligen der Bewahrung des Lebens dienenden nächsten Schritt unter solchen Umständen entscheiden muß, wo er bloß in der ständigen Veränderung der Lebensbedingungen sicher sein kann. Der Weg, den er beschreiten muß, ist nicht vorgezeichnet. Die abstrakten Ideale von Demokratie, Freiheit und Gleichheit weisen nunmehr in keine Richtung; der Beständigkeit des Bestehenden zu vertrauen wäre eine Torheit; die konservative Zeitanschauung ermangelt notwendigerweise jeglichen von vornherein gegebenen Zukunftsbildes.146
chronic: Temporality in the Era of Mobile Communication, in dem von mir herausgegebenen Band A Sense of Place: The Global and the Local in Mobile Communication, Wien 2005, 267-280. 145 Ling: The Mobile Connection, 76. 146 Ich bin Petra Aczél verbunden für die Gespräche, die ich mit ihr über die Themen des gegenwärtigen Kapitels führen durfte. Ihr verdanke ich die »Zeitbild«/»Zeitanschauung« Gegenüberstellung. Der postmoderne Konservative kämpft tätig mit der Zeit: er empfängt nicht sosehr das Bild der Zeit, sondern schafft vielmehr deren immer wieder neue Anschauung.
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Ein wirksames Zukunftsbild ist in der Tat und im strengen Sinne des Wortes eine Anschauung. In seinem bereits zitierten Buch lenkt Melges die Aufmerksamkeit, unter anderem auch Paivios kognitionswissenschaftliche Resultate anführend, auf die Bedeutung der visuellen Vorstellung zukünftiger Möglichkeiten147 – darauf, daß »by seeing an array of sequences all at once the person may be in a better position to look ahead. Rather than his going through the sequences step by step, an overall picture of the sequences could be seen simultaneously as a pattern. [...] Thus the simultaneous imaging of sequences may be basic to the process of anticipation.«148 In jenen akuten psychotischen Zuständen, die Melges mit der Metapher »past, present, and future […] mixed up in a kaleidoscopic whirl« charakterisiert149 – mit einer Metapher, die für uns nunmehr sozusagen das postmoderne Zeiterleben signalisiert – erweist sich gerade das visuelle Trennen zeitlicher Dimensionen als unmöglich. Die Verbindung von Konservatismus und Bildlichkeit habe ich im gegenwärtigen Kapitel bereits mehrmals berührt. Ich wage jetzt den Versuch, diesen Problemkreis ganz kurz zu summieren. Unsere mentale innere Bilderwelt und die uns umgebende Welt des Sichtbaren bestehen aus bewegten Bildern; unbewegte Bilder sind Extremfälle von bewegten Bildern. Das unbewegte Bild ist konservativ in dem Sinne, daß es eine gegebene Vorstellung, Gestalt, uraltes und neueres Wissen150 in unabänderlicher Lage und mit unabänderlichem Inhalt festhält. In seinem Buch Augustus und die Macht der Bilder liefert Zanker eine faszinierende Beschreibung dessen, wie das Eindringen der griechischen bildenden Kunst in die römische Gesellschaft, ab dem 2. Jahrhundert v. Chr., die traditionellen Verhältnisse zersetzte; er zeigt aber auch, wie die zur Zeit der
147 Melges, a. a. O. (siehe oben, Anm. 70), 17: »complex visual imagery of future possibilities«. 148 Ebd., 27. 149 Ebd., 4. 150 In seinem Buch The Creative Explosion analysiert John Pfeiffer die Werkzeugrevolution des oberen Paleolithikums. Wie er hier schreibt, hatten die Höhlenzeichnungen nicht einfach eine rituell-religiöse oder gar künstlerische, sondern vielmehr eine wissensbewahrende Funktion. (John E. Pfeiffer: The Creative Explosion: An Inquiry into the Origins of Art and Religion, Ithaca, NY 1982, siehe bes. 121ff. u. 185ff.)
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neuen, konsolidierten Macht entstehende visuelle Welt dann zum anhaltenden Frieden des Reiches beigetragen hat.151 Die Mobilrevolution der vergangenen Jahre kommentierend schrieb 2005 der Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking: »The real future, the future future, mostly depends on which wins out, image or logic. If mobiles increasingly transmit pictures, they will be conservative[...] Incorporating pictures in mobiles is a wholly regressive movement, for it tries to re-install us in what is at present real, namely bodies in visual space.«152 Kaum ein Jahr später, als Zeuge der Pariser Straßenunruhen, machte Hacking bereits die Beobachtung, daß als Folge der ins Netz gestellten Videos die Polizei weniger aggressiv vorging153 – das bewegte Mobilbild wurde zur mobilisierenden Kraft… Gegenüber der begrenzten logischen Ausdrucksfähigkeit des isolierten Stehbildes können Bilderreihen, Aufeinanderfolgen von Bildern, Animationen, das bewegte Bild, als in der Tat vollwertige Bedeutungsträger aufgefaßt werden. Das bewegte Bild hält fest und zeigt, macht aber auch Aussagen. Zur Zeit von Burke konnte sich der Konservatismus noch leisten, mentale Bilder und überhaupt das Bildliche nicht in Betracht zu ziehen;154 für den postmodernen Konservativen ist das lebenserfüllte
151 Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder, München 1987. – Die sich in naturalistische Richtung entwickelnde griechische bildende Kunst (wie später auch die Kunst der europäischen Renaissance) war freilich durchaus bemüht, mit unbewegten Gestalten den Eindruck von Bewegung zu erwecken, wie ja man andererseits auch das unbewegte Bild nur mit bewegter Sicht aufnehmen kann (siehe oben, S. 143, Anm. 5). 152 Ian Hacking: Genres of Communication, Genres of Information, in dem von mir herausgegebenen Band Mobile Understanding: The Epistemology of Ubiquitous Communication, Wien 2006, 29. 153 Persönliche E-Mail-Mitteilung Hackings, 27. März 2006. 154 Auf die seelische Bilder nicht beanspruchende Bedeutungstheorie von Burke weise ich hin in meinem Vortrag Tradition and Practical Knowledge (1985), in: Kristóf [J. C.] Nyíri u. Barry Smith (Hg.): Practical Knowledge: Outlines of a Theory of Traditions and Skills, London 1988, wiederabgedruckt in meinem Band Tradition and Individuality: Essays, Dordrecht 1992, siehe dort 54. – Mit zum Thema »Bildlichkeit und Konservatismus« gehört offenbar die oft gemachte Beobachtung, daß Zeichnungen, Gemälde und insbesondere Photographien auch solche gegenständliche Details Jahrtausende, Jahrhunderte und
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Bild und insbesondere das bewegte Bild, welches die unbekannte Zukunft probeweise zum Leben erweckt, ein unentbehrliches Medium des praktisch-theoretischen Denkens. Der postmoderne Konservative kann sich in vielerlei Typen verkörpern, diese Typen sind gleichsam durch Familienähnlichkeiten verknüpft. Ich möchte hier jenen postmodernen Konservativen betrachten, der den Begriff »Familienähnlichkeit« zu einem philosophischen Begriff gemacht hat: Ludwig Wittgenstein. Zweifellos ist Wittgenstein ein die Modernität zurückweisender, sich in vormoderne Zeiten zurücksehnender Vertreter des Konservatismus; wenn ich ihn dennoch als einen postmodernen – postliteralen – Konservativen zu deuten wage, meine ich darin die Rechtfertigung zu finden, daß sich seine ganze spätere Philosophie gegen die Einflüsterungen der vollendeten Schriftlichkeit richtet; auf einer noch uranfänglicheren Ebene aber – in der Rolle eines neuen Philosophen der Bildlichkeit – gegen die Einflüsterungen der vollendeten Verbalität.155 Wittgenstein war kein Kirchgänger, doch war sein Leben von einer Art tiefer Religiosität durchdrungen.156 An Gott als Schöpfer der Welt glaubte er nicht,157 umso mehr aber
Jahrzehnte hindurch für den Beschauer bewahren, die der damalige Künstler bzw. Photograph bewußt überhaupt nicht festzuhalten trachtete. Das Bild ist, in diesem Sinne, tatsächlich zutiefst konservativ. 155 Ich habe mich während der Jahrzehnte in zahlreichen Schriften mit Wittgenstein beschäftigt, kehrte zu seinem Werk immer wieder zurück, vgl. oben, Kap. 3, Anm. 6. Aus der Sicht des gegenwärtigen Gedankenganges erlaube ich mir nur auf folgende meiner Veröffentlichungen hinzuweisen: Das unglückliche Leben des Ludwig Wittgenstein, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1972, 585-608; Wittgenstein’s New Traditionalism, in: Acta Philosophica Fennica 28 (1976), 1-3, 503-512; Konservative Anthropologie: der Sohn Wittgenstein (in meinem Band Am Rande Europas: Studien zur österreichisch-ungarischen Philosophiegeschichte, Wien 1988); Post-Literacy as a Source of Twentieth-Century Philosophy, in: Synthese, 2002, 185-199; Wittgenstein’s Philosophy of Pictures (2001), in Alois Pichler u. Simo Säätelä (Hg.): Wittgenstein: The Philosopher and his Works, Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, no. 17, 2005, 281-312, wiederabgedruckt in Pichler und Säätelä (Hg.): Wittgenstein: The Philosopher and his Works, Frankfurt/M. 2006, 322-353. 156 Vgl. oben, Kap. 5, S. 130f.
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an Gott als einen strengen Richter. Er lebte in selbstauferlegter Armut, in einer Art Askese, das Leben war für ihn Pflicht und Aufgabe, und die mehreren zehntausend Seiten seines handschriftlichen Nachlasses können nicht anders aufgefaßt werde, als ein Gestaltungsversuch im Dienste der von ihm mit derartigem Pessimismus betrachteten Zukunft. Obwohl seine spätere Zeitphilosophie von der Auffassung geprägt ist, daß das Zeitproblem ein scheinbares sei, hat Wittgenstein dem Kampf mit der Zeit keineswegs ausweichen können; und sein handschriftlicher Nachlaß zeugt davon, daß er manchmal auch aus philosophischer Sicht des eigenartigen Drucks der Zeit bewußt wurde. »Dass uns die Zeiten übereinstimmend mit der Uhr einfallen; dass wir die Zeit schätzen können; ist ein Grund, warum, was die Uhr misst, die Zeit, so wichtig ist.«158 Und gerade von Wittgenstein stammt eine Zeichnung (die ich im dritten Kapitel oben bereits vorgestellt und auf welche ich am Anfang des gegenwärtigen Kapitels erneut hingewiesen habe), die meines Erachtens in durchaus geeigneter Weise das Bild des mit der Gegenwart beginnenden und in die Vergangenheit weiterströmenden Zeitflusses vergegenwärtigt (Abbildung 7): Abbildung 7: Der Strom der Zeit
Quelle: Wittgensteins handschriftlicher Nachlaß: MS 107, 159
157 D. h. er glaubte nicht daran, daß die Welt irgendwann einen Anfang hatte. Aus dieser Sicht würde religionsphilosophisch die Zeitlichkeit Gottes folgen, und kosmologisch freilich die Bezweiflung des Urknalls. Für die Zeitlichkeit Gottes argumentiert Franz Brentano in seiner postum verlegten Schrift Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum, hrsg. v. Stephan Körner u. Roderick M. Chisholm, Hamburg 1976 (vgl. oben, Kap. 1, S. 36, Anm. 36). Die Theorie des »Big Bang« wurde unlängst wieder einmal vom Physiker Sean Carroll in Zweifel gezogen, siehe sein Buch From Eternity to Here: The Quest for the Ultimate Theory of Time, New York 2010. 158 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen: Kritisch-genetische Edition, hrsg. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 2001, 517f.
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Die Gegenwart wird auf dieser Zeichnung durch eine scharfe, senkrechte Linie symbolisiert; was von der Linie rechts liegt, die Zukunft, kann nicht dargestellt werden, doch vom Druck ihres kontinuierlichen Entstehens empfangen wir geradezu eine leibliche Empfindung: der optischen Strömung der nach links ziehenden Linien widerzustehen, die senkrechte Linie an der gegebenen Stelle festzuhalten, erfordert eine ständige körperliche und seelische Kraftäußerung. In der Terminologie Heideggers – aber uns Heidegger nicht anschließend – können wir aus der Perspektive des postmodernen Konservatismus die Formel aufstellen, daß der authentische Mensch eben der sich gegen den Druck der unbekannten Zukunft für das Leben der zukünftigen Generationen einsetzende Mensch ist. Wie Barrett schrieb: »We do in fact encounter time as passage in some of the most authentic of our experiences.«159 Der authentische Mensch ist eben der konservative Mensch. Wittgensteins Kulturpessimismus hatte starke Tolstojsche-Dostojewskische Quellen. Die Brüder Karamasoff hatte Wittgenstein im russischen Original gelesen – unzähligemal. Bekannt ist die Charakterisierung, die Dostojewski im Roman von den beiden Arten des Heldentats gibt: einerseits von der »in kurzer Zeit vollbrachten«, »schnellen«, andererseits von der langsamen Heldentat. Es gibt junge Leute, heißt es, die »sich nach einer Heldentat sehnen, und zwar »mit dem unbedingten Wunsch«, für diese »womöglich alles, selbst das Leben zu opfern. Nur sehen diese Jünglinge leider nicht ein«, schreibt Dostojewski, »daß das Opfer des Lebens in den meisten Fällen vielleicht das leichteste von allen Opfern ist, und daß, zum Beispiel, von seinem in Jugend schäumenden Leben fünf oder sechs Jahre schwerem, mühsamem Studium der Wissenschaft zu opfern – und wenn auch nur, um in sich die Kraft [...] zur Ausführung derselben Heldentat, [...] die zu erfüllen man sich vorgenommen hat, zu verzehnfachen –, daß solch ein Opfer 160
vielen von ihnen weit über ihre Kräfte geht.«
Die beiden Arten der Heldentat setzt Dostojewski in eine Parellele zu zwei Arten der Liebe: zu der »werktätigen« und der »schwärmerischen« Liebe. »[D]ie werktätige Liebe«, schreibt er,
159 Barrett, a. a. O. (siehe oben, S. 152, Anm 43), 375. 160 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasoff, übers. von E. K. Rahsin, München 1923, 36.
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»ist im Vergleich zur schwärmerischen Liebe etwas grausames und abschreckendes. Die schwärmerische Liebe lechzt nach einer schnellen Heldentat, die man in kurzer Zeit vollbringen kann[...] Dabei kommt es tatsächlich so weit, daß man bereit ist, das Leben hinzugeben, wenn es nur nicht lange dauert, sondern schnell vollbracht ist, wie auf der Bühne, und alle es sehen und loben. Die werktätige Liebe dagegen, das 161
ist Arbeit und Ausdauer, für einige sogar eine ganze Wissenschaft.«
Wittgensteins Konservatismus kann mit recht als ein heroischer Konservatismus aufgefaßt werden im »langsamen« Sinne des Heldentums. Wir müssen aber erkennen, daß obwohl sich der postmoderne Konservative in vielerlei Typen verkörpern kann, der postmoderne Konservatismus, unvermeidbar, immer ein heldenhafter, heroischer Konservatismus ist. Denn, um noch für einen Augenblick bei der Dostojewskischen Charakterisierung bleibend, bringt der postmoderne Konservatismus notwendigerweise Opfer für das »mühsame Studium«, für die »Wissenschaft« – braucht derselbe doch eine vollkommene wissenschaftliche-theoretische Rüstung, und breite technische Kenntnisse, um den aus der unbekannten Zukunft auf die Gegenwart zuströmenden immer neuen Herausforderungen gegenüber wirksame praktische Antworten ausarbeiten zu können. Der postmoderne Konservatismus, im Gegensatz zum klassischen bürgerlichen Konservatismus, kann sich überhaupt keine Theoriefeindlichkeit leisten. Aber der postmoderne Konservatismus ist ein heroischer auch in dem Sinne, daß derselbe dem Paradox der Traditionsbewahrung in einer widersprüchlicheren Lage als je zuvor Herr werden muß. Vom konservativen Philosophen Hermann Lübbe stammt die Formulierung, laut der »Traditionen [...] erfahrungsbewährte Lebensformen [sind], die kraft generationenüberdauernder Geltung schließlich den Status kultureller Selbstverständlichkeiten gewinnen«.162 Man könnte diese Formulierung die breite Definition von Tradition nennen; als eine Definition von Tradition im engeren Sinne des Wortes habe ich oben die Formel wissensbewahrende Institution in präliteralen Kulturen eingesetzt. Nun behält zwar die Tradition im breiteren Sinne auch im heutigen postmodernen Zeitalter ihre gemeinschafterhaltende Funktion; doch unter den Verhältnissen des Multikulturalismus zeigt sich schärfer jenes Dilemma – ich erinnere an Gadamers einschlägige Hinweise in seinem Werk
161 Ebd., 96. 162 Hermann Lübbe: »Neo-Konservative« in der Kritik, in: Merkur, 1983, 624.
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Wahrheit und Methode, sowie an die Diskussion zwischen Gadamer, Apel und Habermas im Band Hermeneutik und Ideologiekritik –, daß nämlich »[d]ie reflektierte Aneignung der Tradition die naturwüchsige Substanz der Überlieferung bricht[; d]ie transparent gemachte Vorurteilsstruktur kann nicht mehr in der Art des Vorurteils fungieren«.163 Wie sich seinerzeit Carl August Emke ausgedrückt hat in seinem Essay »Zur Philosophie der Tradition«: die traditionsbewahrende Elite ist, verantwortungsvoll und bewußt, eher flexible en raison, als firme en coeur, ihre Traditionsverehrung ist im Schillerschen Sinne sentimental, nicht naiv.164 Der postmoderne Konservative steht vor der Aufgabe, eine elastische Vernunft und zugleich ein festes Herz zu bewahren; seine Verpflichtung dem Leben gegenüber muß vermittelt-bewußt und zugleich unvermittelt-innerlich erlebt sein.165 Auf das Bewältigen dieser Herausforderung kann man sich generell vorbereiten – durch Lernen, Arbeit, entschlossene Freundschaften – doch zur Lösung der jeweiligen konkreten Aufgaben gibt es keine Formel. Wir müssen unsere authentische Zeitanschauung bewahren.
163 Das sind die Worte von Habermas. Er fährt fort: »Gadamers Vorurteil für das Recht der durch Tradition ausgewiesenen Vorurteile bestreitet die Kraft der Reflexion, [...] daß sie den Anspruch von Traditionen auch abweisen kann.« (Karl-Otto Apel et al.: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M: 1971, 47-49.) Wie Scheler bereits wesentlich früher bemerkte: »Bewußte ›Erinnerung‹ stellt die Auflösung, ja die eigentliche Tötung der lebendigen Tradition dar.« (Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt 1928, 29.) Oder wie Josef Pieper 1958 schrieb: »Sobald ich ein traditum annehme als etwas von mir selbst Nachgeprüftes und kritisch Gewußtes, verliert es, für mich, seinen Überlieferungscharakter.« (Pieper: Über den Begriff der Tradition, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen – Geisteswissenschaften, Heft 72, Köln 1958, 16.) 164 Siehe H. Wenke (Hg.): Geistige Gestalten und Probleme, Leipzig 1942, 256. 165 Hayek mußte diesem Paradox immer wieder in die Augen schauen, am bewegendsten vielleicht in seinem Essay »Individualism: True and False« (1945) wo er sich dahingehend äußerte, daß die »freie Gesellschaft« nicht Funktionsfähig ist, wenn seine Mitglieder nicht bereit sind, sich aus freiem Willen der Autorität von »Traditionen und Konventionen« zu unterwerfen. (F. A. Hayek: Individualism: True and False, in: Hayek: Individualism and Economic Order, London 1949, siehe bes. 23 u. 26.)
Register
Dieses Register besteht aus einer Auswahl an Personen, Begriffen und Vorkommen im Text und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Acton, H. B. 108 Aczél, Petra 187 Ähnlichkeit 13, 28f., 50f., 53f., 56, 62, 64f., 79, 81, 84, 87, 89f., 111, 113-116 in der Karikatur 53, 56, 62 und Äquivalenz 51, 56 Aldrich, Virgil C. 76f. Alloa, Emmanuel 77 Alston, William P. 112 Apel, Karl-Otto 194 Arbeitsgedächtnis 69 Aristoteles 7f., 12f., 93, 100 Metaphern bei 12f., 93 phantasmata 100f., 112, 117 Arnheim, Rudolf 11, 14ff., 36ff., 40ff., 48, 51, 67, 125, 134, 162, 166ff. deskriptive Gebärden bei 37, 134, 166f. Wirkung auf Lakoff 11, 15f., 162, 166 Assmann, Jan 156, 177
Augenbewegungen 69, 126, 128 und Denkmuster, einander abbildend 126 Augustinus 8, 69, 100, 142, 144f., 153 Baggley, John 120ff. Balthasar, Hans Urs von, 106, 117 Barbour, Ian G. 107f. Barbour, Julian 142f., 158, 161 Barrett, Cyril 89 Barrett, William 151ff., 161, 192 Barthes, Roland 54 Bartlett, F. C. 36 Belting, Hans 48f., 110, 124, 159f. Bergmann, Hugo 26 Bergmann, Sigurd 102, 118f., 123 Bergson, Henri 8, 16-21, 50, 163, 184 über den Fluß der Zeit 18
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Kinematographie-Metapher bei Bergson 19f., 184 Muskelempfindungen bei 21 Biggs, Michael 76, 83 Bild und Bewegung 17, 20, 37f., 47f., 50f., 53, 62-69, 71, 79, 125f., 128, 133, 142f., 168, 177, 189 Filmkamera 65 Momentaufnahme 62, 64f., 68ff., 184 Unzulänglichkeit des statisches Sehens, 8, 51, 62, 64, 66ff. Bild und Metapher 10-16, 18, 21f., 26, 42, 47, 105, 107, 127f., 139, 143, 164, 168171 bei Wittgenstein 74, 87, 94, 97 Bildbeschriftungen 57, 59, 61 Bilder 7, 11ff., 15, 27-30, 37, 42f., 46f., 50, 54, 57f., 64, 71, 78f., 81f., 85, 99-104, 106, 109-116, 131, 159, 177 als Abbild 28, 65, 115 abstrakt-allgemeine 14, 28, 37, 42, 48, 50f., 54, 134, 146 anthropologisch ursprünglich 9, 49 bewegte 8f., 47f., 143, 188ff. als vollwertige Bedeutungsträger, 47, 54, 143, 188f. und figürliche Sprache/Rede 15f., 74, 102, 107, 111, 127, 132, 135f., 138
mentale/innere 10, 14f., 32ff., 37, 44f., 47, 78, 93, 99103, 107ff., 112, 125f., 127f., 134f., 138f., 168, 188f. motorisch fundiert 10, 22, 37, 125f., 138f., 162, 166, 168, 170 durch physische Berührung mit der Wirklichkeit 168 als natürliche Zeichen 7, 21, 51f., 60, 85, 87 über sich hinausweisend 111, 114-118, 120, 123f., 128, 139 transzendierende 116, 120, 122, 124, 128 und Wörter 7, 10, 12, 15f., 29f., 34, 37, 51, 55, 57ff., 82f., 85, 99, 102, 104, 106f., 109f., 131, 134 Bilder der Zeit 155, 177, 187 von Arnheims Studenten gezeichnet 167f. Bilderreihe 34, 57, 61, 63, 65, 107, 177f., 189 bildliche Wende, ikonische Wende 26f., 84 Bildschemen 55 bei Heidegger 29 in der konzeptuellen Metapherntheorie 11-14, 29, 126, 170 Schema ZWINGENDE KRAFT bei Johnson 14, 170
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Bildphilosophie 7f., 22, 28f., 49, 74f., 85, 89, 146, 156 als Grundlage der Zeitphilosophie 8 Bildtheologie 104, 112, 126f. Bildwissenschaft 22, 49, 54, 124 Birkerts, Sven 182 Black, Max 12, 93 Blich, Baruch 76, 80f. Boehm, Gottfried 28, 53, 76, 84 Bolter, David J. 185 Bonaventura 104, 116, 126 Bordwell, David 52, Brentano, Franz 36, 50, 191 Broad, C. D. 162, 168f., 171 Werden (becoming) bei Broad 169 Bruner, Jerome S. 37, 125 Buchdruck und historisches Bewußtsein 181ff. Burke, Edmund 182, 189 Calvin, Jean 103 Carnap, Rudolf 157 Carroll, Sean 191 Castells, Manuel 183 Chafe, Wallace L. 126 Cherbonnier, Edmond La B. 107f., 110f. Common-Sense-Realismus 31, 42f., 45 Craig, William Lane 36 Damasio, Antonio 34 Davies, Paul 158f. Dohmen, Christoph 23 Dostojewski, F. M. 192f.
Draaisma, Douwe 184 Druck der Zeit 8, 10, 16-21, 138, 165f., 191 Dürer, Albrecht 7 Eddington, Arthur 40f. Einstein, Albert 8, 19, 34f., 39, 41, 149f., 157, 161 Eisenstein, Elizabeth 181f. Emke, Carl August 194 eschatologische Zeitlosigkeit 153, 157, 172, 178f., 180 innerweltliche Eschatologie bei Heidegger 152, 178f. bei Lukács 179 Evdokimov, Pavel Nikolaevich 101f., 106, 155 Ewigkeit 19, 125, 138f., 144, 153f., 155f., 169, 181 und Bilder des Naturschönen 139, 155 bei McTaggart 153, 166 Farkas, Attila Márton 156 Farrer, Austin 101, 106ff., 110ff., 120 Fehér, István M. 116, 149 Findlay, J. N. 156f., 161 Fine, Arthur 35f. Fluß der Zeit 10, 18, 43f., 64f., 91f., 142, 148ff., 158, 162ff., 168, 181 Fluß-Metapher 44, 91ff., 96, 142, 146ff., 163f., 171, 191f. und uneigentliches Leben bei Heidegger 151f.
198 | Z EIT UND B ILD
Freedberg, David 103ff., 109, 116, 122f. Friedrich, Caspar David 120, 122, 155f. Führich, Joseph 135ff.
Handys mit integrierten Kameras 9 von der Herrschaft der Uhr befreiend 185ff. Harré, Rom 93 Harrison, Victoria 105, 127 Hartland, Edwin Sidney 174 Havelock, Eric 175 Hayek, Friedrich August von 141, 194 Heidegger, Martin 8f., 27ff., 100, 115f., 123f., 142, 149-153, 176, 178f., 192 Heiler, Friedrich 132ff. Helmholtz, Hermann von, 44, 66 Heraklit 142 Herder, Johann Gottfried 106, 117 Hester, Marcus B. 77, 93ff. Hoeps, Reinhard 104, 127 Hogarth, William 55 Holšánová, Jana 126 Hume, David 36, 106, 118 Husserl, Edmund 114, 163f.
Gadamer, Hans-Georg 115, 118, 193f. Gale, Richard M. 41, 152, 158 Galison, Peter 133 Geach, Peter 39f. Gebärdensprache 37f., 133f., 162, 166 Gebet motorisch und bildlich 135 Gebetstheologie 128f., 132, 134 verbal voreingenommen 132 Gebetshaltung und Gebetsgestus 132ff. Gelernter, David Hillel 102, 106 Genova, Judith 75, 82f. Giaquinto, Marcus 42ff. Gibson, J. J. 63f. Gill, Jerry H. 94f. Gilson, Etienne 114f. Gombrich, Ernst 7, 21f., 47-71, 75, 78, 114, 143 Goodman, Nelson 29, 48, 50, 54, 60, 80, 82, 114 Goody, Jack 175 Grillparzer, Franz 135ff. Guardini, Romano 101, 126
imagery 32, 84, 102f., 106, 120, 135, 188 imagery debate 27, 32 Inselberg, Alfred 39 Ittzés, Gábor 100 Ivins, William M., Jr. 80
Habermas, Jürgen 194 Hacking, Ian 38, 45, 189 Hadamard, Jacques 34 Haldane, John 121
James, William 16f., 21, 50, 69f., 102f., 117, 121, 125f., 129f., 138, 154, 162-165
R EGISTER | 199
Johnson, Mark 11-15, 162, 168ff. Johnson, Samuel 173f. Kákosy, László 155 Kampf mit der Zeit 138, 142, 159, 165, 171f., 191 als das Erschaffen neuer Gegenwarten 171 Kant, Immanuel 8, 11, 13, 28, 142, 145ff., 169 über den Fluß der Zeit, 169 Schematismus-Lehre 11, 146 Karikatur 50, 53, 55f., 62f., 67 Kennedy, John M. 38, 60 Kenny, Anthony 75, 78, 100, 113, 121f., 129f., 135 kinästhetische Erfahrungen 10, 89, 125f., 138f., 165f., 170f. bei Arnheim 38, 125, 166 bei Bergson 21 bei James 16, 21, 138 zu Bildern/Bildschemen führend 10f., 13, 138f., 165, 170 Kino als unmittelbar realistisch 54f., 65 Kjørup, Søren 76, 79f., 85 Klein, Stefan 157, 165f. Köhler, Wolfgang 58f. Konservatismus 22, 141f., 162, 180, 192f. bürgerlicher, 172, 181f. 189, 193 heroischer 193
postmoderner, 172, 183, 185ff., 189f., 193f. vormoderner 159, 172, 175ff. und Bildlichkeit 159, 175, 177, 188ff. Konturen als naturgegeben 65 konzeptuelle (kognitive) Metapherntheorie 11-16, 125, 162, 169f. Kövecses, Zoltán 12 Krämer, Sybille 28 Kretzmann, Norman 112 Kris, Ernst 56 Kritzeleien 134, 166ff. Krois, John 10f. Kroß, Matthias 74, 95 Kusch, Martin 89 Ladyman, James 45f. Lakoff, George 11-15, 162, 166, 168ff. Landes, David S. 180 Le Poidevin, Robin 16f. Lehr, Marguerite 42 Ling, Richard 186f. Littlewood, J. E. 43 Locke, John 8, 181 Lübbe, Hermann 193 Lüdeking, Karlheinz 76f., 81f. Lukács, Georg 179 Luther, Martin 100, 133 Mach, Ernst 25 Malcolm, Norman 131 Martin, John 117f. Marx, Karl 179 Maxwell, Grover 45
200 | Z EIT UND B ILD
McGrath, Alister E. 117, 120 McLuhan, Marshall 183 McTaggart, J. Ellis, 17, 142, 147ff., 153f., 156, 168f. Meister Eckhart 100, 133 Melges, Frederick Towne 160f., 188 Mersch, Dieter 29, 81 Mesch, Walter 92f., 96 Metapher als das ungelöste Problem in Wittgensteins Spätphilosophie 90, 9297, 147 Minkowski, Hermann 35, 3842, 149, 157, 161 Mitchell, W. J. T. 27, 75f., 84 Mobilrevolution 189 Motorik 14, 17, 22, 37, 43, 89, 125f., 128, 134f., 162, 170 Mumford, Lewis 180f., 187 Münsterberg, Hugo 16f., 162, 165 Muybridge, Eadweard J. 68 n-dimensionale Visualisierung 39 Neisser, Ulric 14, 50 Newman, John Henry 101, 108f. Newton, Isaac 145, 181 Ofield, Jack 184 Paivio, Allan 32, 36f., 99, 134, 188 Paley, William 110 Paradox der Traditionsbewahrung 193
Parfit, Derek 158 Parmenides 142, 156 Pattison, George 112f., 118, 120-123 Perry, John 162, 169 Pfeiffer, John E. 188 Photographie 7, 28, 56, 60f., 68, 116, 184, 189 Pieper, Josef 194 Platon 36, 142ff., 161 Plumb, J. H. 182f. Price, H. H. 33f., 36, 47, 99, 108, 134 punctum temporis, Illusion des 68f. Rahner, Karl 101, 110, 115f. Ramsey, Frank P. 44 Reichenbach, Hans 44 Relativitätstheorie 19, 35, 40, 149ff., 161 Resnik, Michael D. 43 Richards, I. A. 12, 93 Richter, Marianne 83 Ricœur, Paul 12f., 94 Rombach, Heinrich 122, 124, 176 Rorty, Richard 25ff., 29f., 35, 46 Roser, Andreas 75f., 84f. Röttgers, Kurt 9, 164 Russell, Bertrand 36 Sachs-Hombach, Klaus 22, 54f. Sattig, Thomas 35 scheinbare Gegenwart (specious present) 69, 163
R EGISTER | 201
Scheler, Max 194 Scholz, Oliver R. 53f., 76, 80, 82 Schulte, Joachim 75, 96, 191 Sellars, Wilfrid 26f., 30-33, 36, 45 theoretische Entitäten bei 31f. Zeit als quasi-theoretische Entität 31 Shibles, Warren A. 77, 96 Simmel, Georg 9, 185f. Sittl, Karl 132f. Smart, J. J. C. 40f., 43f., 147 sprachliche Wende (linguistic turn) 26, 84, 166 statische Zeitauffassung als schizophrenes Symptom 160f. Stern, Catherine 42 Strawson, P. F. 39f. Stump, Eleonore 100 Swinburne, Richard 112 Tarkowski, Andrej 8, 10, 16 Tertullian 134 Theunissen, Michael 160, 171f. Thomas von Aquin 78, 100, 135 Tillich, Paul 123, 128f., 132 »Das Paradox des Gebets« 128f. Titchener, Edward B. 36 Töpffer, Rodolphe 57 Totenmaske 28, 124, 159 von Belting gedeutet 159 als Beispiel bei Heidegger 28 Totenschädel als zeitloses Bild 49, 159f. Traditionsbegriffe 172-175, 189, 193f.
Tradition als wissensbewahrende Institution in präliteralen Kulturen 175, 193 mündliche und schriftliche Überlieferung 174 transzendierende Bilder 116, 122, 124 Troeltsch, Ernst 130, 179f. Turner, J. M. W. 142f. Turner, Mark 11, 15 Tyndall, John 121 Van Fraassen, Bas C. 52f. Van Gogh, Vincent 123f. Vaterunser und innere Bilder 135ff. verbildlichbare Idiome 14f., 168 Verräumlichung der Zeit, Vortrag an der FU Berlin 10 Verstegen, Ian 48 vierdimensionale Raumzeit 21, 35f., 40, 42 Visualisierung in der Mathematik 39, 42f. visuelles Denken 11, 21, 34f., 37f., 42f., 99f., 102, 110, 125, 128, 144f. Votsis, Ioannis 46 Wagner, Christoph 23 Warren, Austin 93 Watt, Ian 175 Weiberg, Anja 74 Wellek, René 93 Weltanschauung der Zeitlosigkeit 154, 157
202 | Z EIT UND B ILD
Werner, Heinz 37 Werden 17 bei Bergson 18, 184 bei Broad 169 bei Platon laut Julian Barbour 143 Wertheimer, Max 42, 48 Weyl, Hermann 41f., 149, 157, 161 Williams, Donald C. 157f. wissenschaftlicher Realismus 21, 25, 31, 38, 40, 42, 45f. struktureller 45f. Wittgenstein und die Metapher, Band hrsg. v. Arnswald et al. 74, 77, 93, 95f. Wittgenstein, Ludwig 8, 21ff., 27, 29f., 33, 36, 43, 73-97, 99, 113f., 129ff., 136, 142, 147, 190-193 Wittgenstein-Forschung, Bildblindheit der 73-85 Wittgensteins Bildphilosophie 22, 74f., 85-90 Familienähnlichkeit und Bildlichkeit 81, 84, 95 Wollheim, Richard 75, 78, 114 Woodfield, Richard 49 Wörter und Bilder, Leipziger Antrittsvorlesung 36, 144 Wüpper, Antje 126 Zanker, Paul 188f.
Zeit in traditionellen Gesellschaften 22, 175f. Fiktion unveränderter Weitergabe 175 natürliche 9 entfremdete 9, 152 zyklische/lineare 155, 176f., 181, 187 organische und mechanische, bei Mumford 181, 187 Wirklichkeit der Zeit 8f., 22, 35, 125, 138, 147f., 154, 162, 168, 171, 184 Common-Sense-Auffassung der 10, 42ff. statisch-horizontale/vierdimensionale 21, 35f., 38, 40ff., 142f., 149f., 152f., 158, 160f. Zeit als Spanne bei Heidegger 149-153 Zeit und Bild beim frühen Heidegger, Hagener Vortrag 9, 29 Zeit und Bild, Lehrveranstaltung in Leipzig 8f. Zeiterfahrung 171f. filmische 184 und Mobiltelephonie 185ff. und Rechner 185 und Satellitenfernsehen 184 und Telegraphie 183 zeitlicher Kontext und Bildbedeutung 61, 67
R EGISTER | 203
Zeitmetaphern 10, 13, 143f., 146f., 151f., 156, 164, 169, 171, 184, 188 auf Bildern der Bewegung gründend 8, 10, 47, 143 Zeitphilosophie 7f., 16ff., 22, 31, 44, 67f., 75, 127, 138, 142-145, 147, 149, 153, 162f., 168, 191
Zeitsinn 16, 163, 165 retrospektiv/prospektiv, bei James und Husserl 163 Zeitvorstellung auf Bilderlebnissen gründend 143, 146, 177 Zenon 20, 69 Zill, Rüdiger 77, 96
Sozialphilosophische Studien Thomas Bedorf Andere Eine Einführung in die Sozialphilosophie 2011, 210 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1710-8
Thomas R. Eimer, Kurt Röttgers, Barbara Völzmann-Stickelbrock (Hg.) Die Debatte um geistiges Eigentum Interdisziplinäre Erkundungen. Rechtswissenschaft – Politikwissenschaft – Philosophie 2010, 212 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1570-8
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