Wohltatigkeit im antiken und spatantiken christentum (Patristic Studies, 16) (German Edition) 9042944293, 9789042944299

Wohltatigkeit gilt als eines der wichtigsten Merkmale des antiken und spatantiken Christentums. Im evangelischen Umfeld

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German Pages 166 [169] Year 2021

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Table of contents :
Die Geschichte der „Diakoniegeschichte“ der Alten Kirche vom 19. bis ins 21. Jahrhundert
Exegetische Anmerkungen zum semantischen Feld „Wohltätigkeit“
Euergetismus und christliche Wohltätigkeit. Überlegungen zu ihrem Vergleich
Misericordia secundum naturam?
Philanthropy and the Repertoire of Christian Gifts in Early Byzantium
Zu Perspektiven und Methoden der „Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung“
Menschenfreundlich Gott nahe kommen – Wohltätigkeit bei Gregor von Nazianz
Wohltätigkeit und Liturgie bei Basileios von Kaisareia
Wohltätigkeit in spätantiken stadtrömischen Märtyrerlegenden
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Wohltatigkeit im antiken und spatantiken christentum (Patristic Studies, 16) (German Edition)
 9042944293, 9789042944299

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Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum herausgegeben von A. Müller

PEETERS

WOHLTÄTIGKEIT IM ANTIKEN UND SPÄTANTIKEN CHRISTENTUM

Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft (SPA) herausgegeben von Johannes van Oort et alii  1. J. van Amersfoort & J. van Oort (Hrsg.), Juden und Christen in der Antike (1990)  2. J. van Oort & U. Wickert (Hrsg.), Christliche Exegese zwischen Nicaea und Chalkedon (1992)  3. E. Mühlenberg & J. van Oort (Hrsg.), Predigt in der Alten Kirche (1994)  4. J. van Oort & J. Roldanus (Hrsg.), Chalkedon: Geschichte und Aktualität (1997)  5. J. van Oort & D. Wyrwa (Hrsg.), Heiden und Christen im 5. Jahrhundert (1998)  6. C. Markschies & J. van Oort (Hrsg.), Zwischen Altertumswissenschaft und Theologie – Zur Relevanz der Patristik in Geschichte und Gegenwart (2002)  7. J. van Oort & D. Wyrwa (Hrsg.), Autobiographie und Hagiographie in der christlichen Antike (2009)  8. O. Hesse & J. van Oort (Hrsg.), Christentum und Politik in der Alten Kirche (2009)  9. H.C. Brennecke & J. van Oort (Hrsg.), Ethik im antiken Christentum (2011) 10. J. van Oort & W. Wischmeyer (Hrsg.), Die spätantike Kirche Nordafrikas im Umbruch (2011) 11. W. Kinzig, U. Volp & J. Schmidt (Hrsg.), Liturgie und Ritual in der Alten Kirche. Patristische Beiträge zum Studium der gottesdienstlichen Quellen der Alten Kirche (2011) 12. C. Markschies & J. van Oort (Hrsg.), Zugänge zur Gnosis (2013) 13. M. Wallraff (Hrsg.), Geschichte als Argument? Historiographie und Apologetik (2015) 14. P. Gemeinhardt (Hrsg.), Was ist Kirche in der Spätantike? (2017) 15. L.H. Westra & L. Zwollo (Hrsg.), Die Sakramentsgemeinschaft in der Alten Kirche (2019)

Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum

herausgegeben von Andreas Müller

PEETERS LEUVEN – PARIS – BRISTOL, CT

2021

A catalogue record for this book is available from the Library of Congress. © 2021. Peeters, Bondgenotenlaan 153, B-3000 Leuven D/2021/0602/123 ISBN 978-90-429-4429-9 eISBN 978-90-429-4430-5 All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without the prior permission of the publisher.

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Andreas Müller Die Geschichte der „Diakoniegeschichte“ der Alten Kirche vom 19. bis ins 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Bart J. Koet Exegetische Anmerkungen zum semantischen Feld „Wohltätigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Hartmut Leppin Euergetismus und christliche Wohltätigkeit. Überlegungen zu ihrem Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Ulrich Volp Misericordia secundum naturam? „Christliche Anthropologie“ und spätantike Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Daniel F. Caner Philanthropy and the Repertoire of Christian Gifts in Early Byzantium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Bernhard Schneider Zu Perspektiven und Methoden der „Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Nadja Heimlicher Menschenfreundlich Gott nahe kommen – Wohltätigkeit bei Gregor von Nazianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Johann Lehmhaus Wohltätigkeit und Liturgie bei Basileios von Kaisareia . . . . .

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Hans Reinhard Seeliger Wohltätigkeit in spätantiken stadtrömischen Märtyrerlegenden

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VORWORT

Vom 2. bis 5. Januar 2019 fand im Plöner Schloss, das sich in der näheren Umgebung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel befindet, die üblicherweise zu Jahresbeginn alle zwei Jahre abgehaltene Tagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft statt. Diese ist bereits im Jahr 1957 in Heidelberg begründet worden. 62 Jahre liegen also bereits hinter ihr. Zu einer Zeit, in der wohl die meisten Kolleginnen und Kollegen die Ferien zu Jahresbeginn genießen und vielleicht einfach nur ruhen und schlafen, wacht die Patristik und ist mehr als aktiv. Auf den Tagungen treffen sich sowohl etablierte Patristikerinnen und Patristiker als auch der sogenannte patristische Nachwuchs und pflegen einen intensiven Austausch, der im vorliegenden Band dokumentiert wird. Thema war in diesem Jahr die „Wohltätigkeit“ im antiken und spätantiken Christentum, die auch mit Termini wie „Diakonie“ oder „Caritas“, „Liebestätigkeit“ oder „Wohlfahrt“, ja selbst „Barmherzigkeit“ attribuiert werden kann. Hier sind nahezu alle Beiträge der Tagung aufgenommen worden. Ein christlich-archäologischer Beitrag zur Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum konnte aus Krankheitsgründen nicht gehalten werden und fehlt in dem vorliegenden Band. Die Zahl der Beiträge war durch den zeitlichen Rahmen der Tagung beschränkt, so dass wichtige Themen wie das Verhältnis von jüdischer und christlicher Wohltätigkeit in der Spätantike nicht behandelt werden konnten. Gleichwohl bieten die Beiträge einen guten Überblick über zentrale Themen des Forschungsfeldes „Wohltätigkeit in der Spätantike“, das sich im Verlauf der Tagung als ein äußerst bedeutsames und oft vernachlässigtes Feld der Kirchengeschichtsforschung herausstellte. Ergänzend wurde ein Beitrag von Bart Koet zur Terminologie von Wohltätigkeit respektive Barmherzigkeit aufgenommen. Die Idee dazu entstand im Zusammenhang einer Lektüregruppe, die er auf der Tagung leitete. Erstmals werden in einem Band der Patristic Studies auch Ergebnisse und Überlegungen aus einer Lektüregruppe dokumentiert, die im konkreten Fall Reinhard Seeliger und Wolfgang Wischmeyer geleitet haben. Dadurch findet auch der hagiographische Aspekt des Themas seine Berücksichtigung. Ihnen und allen anderen Beiträgern sei herzlich gedankt. Für die Möglichkeit der Durchführung einer solchen Tagung ist ferner zahlreichen Institutionen und Personen zu danken. Dass das Treffen in

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VORWORT

dem wohl schönsten Tagungshaus des Landes Schleswig-Holstein stattfinden konnte, verdankt die Arbeitsgemeinschaft zu allererst der FielmannAkademie, der die Räumlichkeiten gehören. Zu danken ist dabei vor allem dem Kieler Ehrendoktor und Ehrenprofessor des Landes SchleswigHolstein Günther Fielmann, der der Durchführung der Tagung an diesem Ort zu ganz besonderen Konditionen zugestimmt hat. Ohne die Vermittlung des Patristikers Dr. Matthias Wünsche, einst Stadtpfarrer an St. Nikolai zu Kiel, wäre es dazu wohl nicht gekommen. Die Mitarbeitenden der Fielmann-Akademie standen immer mit Rat und Tat in einer herausragenden Weise zur Verfügung. Zu danken ist auch der Diakonie Schleswig-Holstein und dem inzwischen emeritierten Landesbischof Dr. h. c. Gerhard Ulrich, ferner dem Theologischen Dezernat der Nordkirche und den Alumni der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel für jeweils großzügige finanzielle Unterstützung. Letztlich ermöglichten die Verlage Brill, de Gruyter und insbesondere Peeters die Durchführung der Tagung, der zuletzt genannte auch die Drucklegung des vorliegenden Bandes. Abschließend sollen mit großem Dank die Mitarbeitenden am Kieler Institut für Kirchengeschichte genannt werden: Meine immer zuverlässige Sekretärin Birgit Perlick hat die Herausforderungen der Verwaltung und der Anmeldung des Kongresses hervorragend gemeistert. Meine beiden damaligen studentischen Hilfskräfte Katharina Bluhm und Ellen Rehder haben alle offenen logistischen Probleme gelöst. Besonderen Dank schulde ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Johann Lehmhaus. Ohne seine Unterstützung hätte die Tagung nicht durchgeführt werden können! Kiel, im November 2020

Andreas Müller

Die Geschichte der „Diakoniegeschichte“ der Alten Kirche vom 19. bis ins 21. Jahrhundert ANDREAS MÜLLER (Kiel)

Diakonie, Caritas oder Wohltätigkeit machen wesentliche Aspekte des christlichen, ja auch des kirchlichen Lebens aus. In der Ekklesiologie der Nordkirche, auf dessen Territorium die hier dokumentierte Tagung stattfand, stellen sie sogar – neben der einen Säule der Gemeindearbeit als Arbeit in den Ämtern und Werken – die zweite zentrale Säule kirchlicher Tätigkeit dar. Diakonische Einrichtungen nehmen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Prägung des Profils des Christentums in der modernen Gesellschaft ein. Sie sind darüber hinaus auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der kirchlichen Welt.1 Christliche Wohltätigkeit hat unsere Gesellschaft stark geprägt. Einrichtungen wie die modernen Krankenhäuser sind ohne deren christliche Vorgeschichte nicht zu denken. Das Menschenbild, das selbst Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz ausmacht, ist von einer christlichen Vorgeschichte her erklärbar.2 Es ist daher erstaunlich, dass die Geschichte der christlichen Wohltätigkeit in der Forschung bisher eine deutlich untergeordnete Rolle spielte. Hier sind durchaus noch zahlreiche Forschungsfelder unbearbeitet. Den vorliegenden Band einleitend, möchte 1

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Institutionen wie die von Bodelschwinghschen Anstalten, das Johanneswerk oder die Neuendettelsauer Diakonie verfügen über ähnlich große Haushalte wie die der Landeskirchen, auf deren Boden sie liegen. So hat z.B. die Nordkirche nach freundlicher Auskunft von Diakonie-Landespastor Heiko Nass einen Haushalt von knapp 500 Millionen Euro, die Diakonie allein in Schleswig-Holstein auf dem Gebiet der Nordkirche einen Umsatz von 1,5 Milliarden Euro. In seinem Leitsatz stellt das DRK den „hilfsbedürftigen Menschen“ in den Mittelpunkt karitativer Aktivitäten. Diesem sei mit Menschlichkeit zu begegnen und seine Würde zu fördern, vgl. den im Internet präsentierten Leitsatz https://www.drk.de/ das-drk/auftrag-ziele-aufgaben-und-selbstverstaendnis-des-drk/leitlinien/; eingesehen am 25.10.2020. Vgl. ähnlich auch die Grundsätze des Internationalen Roten Kreuzes von 1986, in denen ebenfalls „Menschlichkeit“ bzw. die Vermeidung von Leid und der Erhaltung der Würde größte Priorität innehat, so https://www.drk.de/das-drk/ auftrag-ziele-aufgaben-und-selbstverstaendnis-des-drk/die-grundsaetze-des-roten-kreuzesund-roten-halbmondes/; eingesehen am 25.10.2020.

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ANDREAS MÜLLER

ich zunächst den status quaestionis der Geschichte der Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum erheben, bevor in den weiteren Beiträgen Perspektiven auf den Forschungsgegenstand eröffnet werden. KLASSISCHE ANSÄTZE IN

DER

„DIAKONIEGESCHICHTSSCHREIBUNG“

Erst im 19. Jahrhundert ist die „Diakoniegeschichtsschreibung“ infolge der institutionellen Neuaufbrüche sogenannter „Diakonie“ im Bereich der evangelischen Kirchen stark gefördert worden. Angesichts von innovativen großen diakonischen Einrichtungen blühte in dieser Zeit die Beschäftigung auch mit den vermeintlichen Grundlagen dieser Institutionen in der Antike auf. Auch die Entwicklung der „Inneren Mission“3 generell führte zur Frage nach der Geschichte des diakonischen Gedankens. Diese Frage wurde besonders von konservativen lutherischen Theologen verfolgt. Ein Beispiel dafür bietet Gerhard Uhlhorn. Er wurde nach eigenen Aussagen durch Theodor Fliedner selbst dazu angeregt, sich mit der Geschichte der christlichen Liebestätigkeit zu beschäftigen.4 Gerhard Uhlhorn (1826–1901) Bereits die Biographie Gerhard Uhlhorns macht seinen Einsatz für die von ihm sogenannte „praktische Liebesthätigkeit“ verständlich.5 In Göttingen studierte er nämlich vor allem bei den Friedrich Schleiermacher (1768–1834) nahestehenden Vermittlungstheologen Friedrich Lücke (1791–1855) und Friedrich A.E. Ehrenfeuchter (1814–1878).6 Durch sie 3

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Auch die Geschichte der „Inneren Mission“ wurde seit dieser Zeit intensiv behandelt. Vgl. als eine Frucht dieser Beschäftigung etwa Martin Hennig, Quellenbuch zur Geschichte der Inneren Mission, Hamburg 1912. Die dort präsentierten Quellen umfassen zwar auch Texte Luthers, vor allem aber solche des 19. Jh.s. Vgl. Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Darmstadt 21959 (ND der Ausgabe von 1895), 3. Zur Biographie Uhlhorns vgl. im Überblick Klaus-Gunther Wesseling, Art. Gerhard Uhlhorn, in: BBKL 12 (1997), 820–837; Hans Otte, Art. Uhlhorn, Gerhard, in: TRE 34 (2002), 242–244; die ausführlichste Biographie zu Uhlhorn hat dessen eigener Sohn verfasst: Friedrich Uhlhorn, Gerhard Uhlhorn, Abt zu Loccum. Ein Lebensbild, Stuttgart 1903. Einen Überblick über Literatur zu Uhlhorn bietet Hans Otte, Gerhard Uhlhorn. Nachlass und Bibliographie (Veröffentlichungen aus dem Landeskirchlichen Archiv Hannover 6), Hannover 2002, 8–12. Vgl. die Einleitung von Martin Cordes/Hans Otte (Hgg.), Gerhard Uhlhorn. Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990, 19–21.

DIE GESCHICHTE DER „DIAKONIEGESCHICHTE“ DER ALTEN KIRCHE

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lernte er die in seiner Studienzeit stark aufblühende „Innere Mission“ kennen.7 Daneben entwickelte er ein ausgeprägtes Interesse für das Christentum in der Antike, das in einer Habilitation über Tertullian gipfelte.8 In der Folge setzte er sich besonders mit den Thesen Ferdinand Christian Baurs (1792–1860) zum frühen Christentum auseinander. Uhlhorn führte Entwicklungen in der frühen Christentumsgeschichte anders als Baur nicht nur auf die Konflikte zwischen einer juden- und einer heidenchristlichen Partei zurück. Er vermutete vielmehr, dass sich die frühe Kirche insbesondere durch göttliche Führung entwickelt habe.9 Dabei wehrte Uhlhorn aber Geschichtskonzepte aus dem Bereich der Erweckungsbewegung ab.10 Ab 1860 engagierte er sich als in der kirchlichen Verwaltung tätiger Konsistorialrat zunehmend im diakonischen Bereich.11 Er war sehr stark bei der Gründung des für karitative und soziale Arbeit zuständigen Evangelischen Vereins in Hannover involviert, dessen Vorstandsvorsitz er allerdings erst 1883 übernahm.12 Ferner wurde Uhlhorn seit 1860 als Hausgeistlicher im neu gegründeten Diakonissenmutterhaus Henriettenstift in Hannover tätig.13 Damit übernahm er in erster Linie die geistliche Leitung des Hauses in Gottesdiensten und Ansprachen. Uhlhorn war in dieser Funktion auch bei der Gründung anderer diakonischer Einrichtungen beteiligt.14 Der Hausgeistliche war nicht nur in den folgenden Jahren ein bedeutender Kirchenpolitiker, dem an der Parochialgemeinde als einem wesentlichen Fundament kirchlicher Arbeit gelegen war. Er entwarf vor allem auch grundlegende Konzepte zu diakonischer Arbeit. In der Diakonie sah er eine Art „Vorfeldorganisation“ der Kirche.15 Diese ist seiner Meinung nach in der Lage, freier zu arbeiten als die verfasste Kirche.16 Diakonie 7 8 9

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Vgl. Cordes/Otte, Uhlhorn (s.o. Anm. 6), 21. Vgl. Gerhard Uhlhorn, Fundamenta chronologiae Tertullianae, Göttingen 1852. Heilsgeschichtliche Ansätze finden sich auch in Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s.o. Anm. 4), z.B. 137. Vgl. Otte, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 242. Vgl. ebd., 242. Vgl. Cordes/Otte, Uhlhorn (s.o. Anm. 6), 24. Vgl. ebd., 24f.; ferner Otte, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 242. Vgl. Otte, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 242. Vgl. ebd., 243. Vgl. hierzu a. Hans Otte, Liebestätigkeit – Christlich oder kirchlich? Gerhard Uhlhorns Bedeutung für die Ortsbestimmung der Diakonie im Kaiserreich, in: Theodor Strohm/ Jörg Thierfelder (Hgg.), Diakonie im deutschen Kaiserreich (1871–1918) (VDWI 7), Heidelberg 1995, 334–355.

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ANDREAS MÜLLER

oder besser noch „Liebesthätigkeit“ stellt dementsprechend eine Art christliche Uraufgabe dar. Der soziale Referenzrahmen ist in diesem Fall das Reich Gottes selbst.17 In Freiheit und individueller Verantwortung ist „Liebestätigkeit“ auch gegenwärtig als Antwort auf die soziale Frage der Zeit zu praktizieren. Eine Art Sozialreform ist nach Uhlhorn gleichsam nötig, damit die Gesellschaft überhaupt noch „christliche Persönlichkeiten“ hervorbringen kann.18 Die Kirche hatte jedenfalls durch die Förderung des christlichen Lebens zu solch einer Sozialreform beizutragen. Kirchliche Armenpflege hat dabei zwischen der staatlichen Fürsorge und der privaten Wohltätigkeit zu vermitteln.19 Durch die religiös orientierte Förderung der Aktivitäten des Einzelnen vermag sie die Lösung der sozialen Probleme mitzugestalten. Das religiös-sittliche Leben hat also selbst Auswirkungen auf die Wirtschaft eines Volkes. Letztlich hat Uhlhorn somit die Christen bzw. die Kirche „nachdrücklich in die Verantwortung gegenüber der sozialen Frage gerufen“.20 Diesen Gedanken entfalte Uhlhorn vor allem in seinem 1882–1895 verfassten Hauptwerk, das die neuesten kulturgeschichtlichen Kenntnisse seiner Zeit berücksichtigte21 und den Titel Die christliche Liebesthätigkeit trug.22 Als Leitidee zieht sich durch dieses Werk, dass mit der Menschwerdung Gottes „die Liebe rastlos am Werk [ist], jeder Zeit sich anpassend, jeder neuen Not gegenüber selbst neu, doch in aller Wandlung dieselbe [...]“.23 Letztlich ist es also die Liebe Gottes, die sich trotz aller historischen 17

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Vgl. Cordes/Otte, Uhlhorn (s.o. Anm. 6), 28. Demnach erweisen sich die Christen nicht zuerst als Glieder der Kirche, wenn sie Liebe üben, sondern als Glieder des Gottesreiches. Kirche ist nur noch ein „gesellschaftlicher Teilbereich“, in dem Christen entsprechend agieren. Vgl. hierzu auch Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s.o. Anm. 4), 36f. Vgl. Otte, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 243. Vgl. ebd., 243. Cordes/Otte, Uhlhorn (s.o. Anm. 6), 27. Vgl. Otte, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 243. Das Werk entstand in mehreren Phasen. Zunächst gab Uhlhorn 1882 einen Band über die Alte Kirche heraus, der noch im selben Jahr in zweiter Auflage erschien. Es folgte einer über die Liebetätigkeit im Mittelalter 1884. 1895 erschien in einer zweiten überarbeiteten Auflage beider Bände eine Gesamtausgabe. Bei dieser wurde auf Fußnoten verzichtet. Sie wurde 1959 nachgedruckt. Im Folgenden wird diese Ausgabe zitiert: Uhlhorn, Liebestätigkeit (s.o. Anm. 4). Uhlhorn, Liebestätigkeit 21959, 4. Präzise zusammengefasst findet sich die Kernidee Uhlhorns auch bei Wesseling, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 822f.: „ ‚Liebesthätigkeit‘ als praktische Barmherzigkeit begründet U. aus dem Wesen des Christentums, das sich in der Christusgemeinschaft verdichtet und dessen Signatur die in Freiheit praktizierte Nächstenliebe ist; dies impliziert, daß ‚Liebesthätigkeit‘ gerade auch in der Konstatierung gegenwärtig veränderter Rahmenbedingungen (am Beispiel der ‚Kirchlichen[n]

DIE GESCHICHTE DER „DIAKONIEGESCHICHTE“ DER ALTEN KIRCHE

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Entwicklungen wie ein roter Faden durch die Geschichte durchzieht. Sie initiiert erst eine karitative Tätigkeit, die die antike Gesellschaft so nicht gekannt hatte. Uhlhorn geht davon aus, dass die Liebe erst durch das Christentum richtig in die Welt gekommen sei.24 Er macht ferner in seiner Ausführungen über die Alte Kirche vor dem Hintergrund einer klassisch lutherischen Verfallstheorie deutlich, dass die „freie“ Liebe25 durch die zunehmende Institutionalisierung der Wohltätigkeit, die keineswegs erst,26 aber vor allem mit der „konstantinischen Wende“ sich durchzusetzen begann, in gewisser Weise erkaltet wäre.27 Am Anfang des Christentums bestanden nämlich Gemeinden mit familiären Strukturen, in denen „Liebe“

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Armenpflege in ihrer Bedeutung für die Gegenwart‘ [...] sind dies kirchliche Verfassungsstrukturen und staatliche Sozialgesetzgebung) ihren Ort zwischen Freiheit gerade auch von kirchlichen Strukturen und einem notwendigen gewissen Organisationsgrad zu suchen hat.“ Eine ausführliche Würdigung des diakoniewissenschaftlichen Ansatzes Uhlhorns bietet Axel Makowski, Diakonie als im Reich Gottes begründete Praxis unbedingter Liebe. Studien zum Diakonieverständnis bei Gerhard Uhlhorn (Theologie interaktiv 3), Münster 2000. Vgl. bereits Uhlhorn, Liebestätigkeit (s.o. Anm. 4), 7, wo er sich zunächst auf Joh 13,34, dann aber auch auf Laktanz bezieht. Uhlhorn unterscheidet hier die „Liebe“ von einzelnen Akten des „natürlichen Mitleids“, die es in der „vorchristlichen Welt“ natürlich auch gegeben habe. Er präzisiert dann weiter ebd., 8: „Nicht daß die Christen hie und da einem Armen eine Gabe reichten, daß sie hie und da einem Notleidenden halfen, war das Neue, der Welt bisher Unbekannte, es bestand vielmehr darin, daß in den christlichen Gemeinden eine geordnete Liebestätigkeit vorhanden war, darauf berechnet, nicht bloß dem Armen sein Elend auf einen Augenblick zu erleichtern, sondern die Armut selbst zu bekämpfen und Keinen Mangel leiden zu lassen. Denn was in dieser Beziehung in der heidnischen Welt seitens des Staates oder einzelner Besitzenden geschah, trägt doch einen ganz anderen Charakter. Eine eigentliche Armenpflege, was wir darunter verstehen, hat die alte Welt nie und nirgends gekannt.“ Im Weiteren führt Uhlhorn dann die Unterschiede zwischen Liberalität, die sich nicht an der Bedürftigkeit orientiert, und der caritas auf (vgl. ebd., S. 9). Vgl. zu dem Gedanken der freien Liebe in einer Art Familienverbund u.a. ebd., 46; zur Freiheit der Almosen ferner ebd., S. 51; 71f. Ebd. S. 53 charakterisiert er die frühe Liebesthätigkeit der Christen als eine „ganz freie an kein Amt gebundene Privatwohltätigkeit“. Noch im zweiten und dritten Jahrhundert nimmt Uhlhorn „Gemeindearmenpflege“ neben „Privatwohltätigkeit“ wahr, vgl. ebd., 81. Vgl. ebd. 120f. Demnach kam es zu ersten Trübungen der anfänglichen Liebe, zu einer „Verflachung des Christentums“ bereits im zweiten Jahrhundert, weil als „höchstes Heilsgut“ zunehmend nicht mehr die „Vergebung der Sünden“ angesehen wurde. Vgl. u.a. ebd. 48: „Solche, die dazu Gaben und Liebe hatten, thaten von selbst, was sonst den Diakonen zukam, und erst später, wenn das Wachstum der Gemeinden es nötig machte, wurde aus der freien Bethätigung der Gabe ein geordnetes Amt.“ Vgl. ferner ebd., 70. Von dem Erkalten der Liebe ist bereits bei Cyprian die Rede, vgl.

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ANDREAS MÜLLER

selbstverständlich gelebt worden sei.28 „Gesunde sittliche Anschauungen von Arbeit und Eigentum“ haben nach Uhlhorn in dieser Zeit zu einer „gesunden Liebesthätigkeit“ geführt.29 Schon bald gab es ein dafür zuständiges Personal, nach Konstantin auch die entsprechenden übergemeindlichen Institutionen.30 Allerdings beurteilt Uhlhorn diese Entwicklung nicht einfach nur negativ, sondern sieht sie auch als eine Notwendigkeit der veränderten Zeit an: „Es bedurfte der Anstalten.“31 Wohltätigkeit wurde ferner – nach Uhlhorn – immer stärker mit einer gesetzlichen Auffassung respektive Werkgerechtigkeit verbunden.32 Das Motiv des Lohnes wurde nun immer dominanter.33 Almosen dienten endgültig im 4. Jahrhundert unhinterfragt der Sündentilgung.34 Uhlhorn verortet sie „helfend und tröstend am Sterbebette der alten Welt“, aber auch „helfend und dienend an der Wiege der neuen Zeit“.35 Er stellt fest, dass insbesondere jetzt in dieser Zeit des untergehenden römischen Reiches die christliche caritas eine „bedenkliche Ähnlichkeit mit der antiken liberalitas“ bekommt.36 Almosen wandeln sich obendrein von einer „sittlichen“

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ebd., 91. Zur „konstantinischen Wende“ vgl. ebd., 130–146. Zum Erkalten der Liebe in der postkonstantinischen Zeit vgl. a. ebd., 164f. Vgl. ebd., 21; 36; 44; bes. 45: „Die Gemeinde bildete einen Bruderbund, in dem ‚keiner von seinen Gütern sagte, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein‘ (Ap.-Gesch. 4,32)“. Ebd., 149 definiert er die ursprünglichen Gemeinden als „Bruderbund der Gläubigen“. Ebd., 74. Verfallstheorien finden sich u.a. bei Uhlhorn, ebd., 44f. Zusammenfassend wird der Weg zu „massenhaftem Almosengeben“ und „anstaltlicher Wohlthätigkeit“ ebd., 129 dargestellt; vgl. ferner ebd., 146, wo dieser Weg als ein Weg „der in massenhaftes Almosengeben sich auflösenden Liebesthätigkeit“; ebd., 150. Ebd., 194. Vgl. ebd., 122. Die Tendenz hin zur Werkgerechtigkeit findet sich demnach schon im Zweiten Clemensbrief. Vgl. ebd. 165. Zur Zeit Jesu hat es nach Uhlhorn den Gedanken, dass Almosen der Sündentilgung dienen würde, so nicht gegeben, vgl. Liebesthätigkeit (s.o. Anm. 4), 43. Sonst hätte Jesus sich für den „pharisäischen Irrtum“ ausgesprochen, den er „bekämpft“. An Stellen wie diesen werden zumindest deutliche Ressentiments Uhlhorns gegenüber dem (Früh-)Judentum deutlich. Schon zur Zeit des Tertullian wird aus den Almosen als Dankopfer ein auf die Erlangung der Gnade gerichtetes Werk, vgl. ebd., 89. Bereits vorkonstantinisch lässt sich der Sündentilgungscharakter der Almosen auch deutlich beobachten, vgl. ebd., 123. Zu dem entscheidenden Bruch in konstantinischer Zeit vgl. ebd., 129. Allerdings stellte Almosengeben auch dann keinen Freibrief dar, „ungestört zu sündigen“, ebd., 168. Ebd., 138. Ebd., 161.

DIE GESCHICHTE DER „DIAKONIEGESCHICHTE“ DER ALTEN KIRCHE

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zu einer „religiösen“ Pflicht.37 Das Geben selbst wurde nach Uhlhorn nun – unter anderem bei Ambrosius von Mailand – zu einer Tugend: „Je mehr jemand giebt, desto vollkommener ist er.“38 Erst die Reformation hat sich bezüglich der Almosen auf die Anfänge zurückbesonnen und die alte Kraft der Liebe zu repristinieren versucht, den Zusammenhang „von Glauben und Liebe als dessen Bethätigung im Leben“ wiedergefunden.39 Uhlhorn geht also tendenziell stark von einer fortlaufenden Entwicklung aus. Obwohl er regionale Unterschiede durchaus gelegentlich bemerkt, entwickelt er dabei keine den regionalen Pluralismus berücksichtigende Darstellung.40 Vielmehr entwickelt sich die Liebesthätigkeit in großen, global zu beobachtenden Schüben. Insbesondere die sehr umfangreiche Quellenkenntnis macht Uhlhorns Ausführungen bis heute zu dem diakoniegeschichtlichen Standardwerk, das obendrein breit rezipiert worden ist. Selbst epigraphische Belege wertet Uhlhorn gründlich aus.41 Sogar Ernst Troeltsch hat die Gedanken Uhlhorns wohl breit rezipiert.42 Seine Diakoniegeschichte, besonders aber seine praktischen Aktivitäten als bedeutender Kirchenvertreter sorgten dafür, dass sich die institutionelle Diakonie eigenständig neben der Kirche weiterentwickelt hat. Adolf von Harnack hat auf die Darstellungen Uhlhorns zum Thema der Wohltätigkeit deutlich zurückgegriffen, dabei aber noch einmal leicht andere Akzente gesetzt: Adolf von Harnack (1851–1930) Harnack43 ging bekanntlich – ähnlich wie bereits Uhlhorn – von einer Verfallsgeschichte im Christentum aus. Dabei idealisierte er in gewisser Weise die Zeit der ersten drei Jahrhunderte und konstatierte kritisch 37 38

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Vgl. ebd., 171. Ebd., 183. – Uhlhorn fällt dazu ein klares Urteil: „Gesund ist diese Liebesthätigkeit nicht mehr.“ Vgl. a. ebd., 189. Ebd. 191. Uhlhorn charakterisiert z.B. das Morgenland als byzantinisch verknöchert, das zur Mumie wird, vgl. ebd., 212. Das Mönchtum sei dementsprechend dort zu „unnatürlicher Askese“ erstarrt. Vgl. u.a. ebd., 192f.; 199. Vgl. Otte, Art. Uhlhorn (s.o. Anm. 5), 244. Zur Biografie Harnack vgl. u.a. die Überblicke von Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Art. Adolf von Harnack, in: TRE 14 (1985), 450–458; Friedrich Wilhelm Bautz, Art. Harnack, Adolf von, in: BBKL 2 (1990), 554–568.

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einen zunehmenden Transformationsprozess desselben in eine philosophisch und dogmatisch überformte Religiosität. Ähnlich wie Uhlhorn geht also auch er von einer zunehmenden Vermischung antiken und christlichen Gedankenguts aus.44 Harnack war nicht nur als Theologe, sondern auch als politischer Berater in Berlin tätig, der sich seit 1918 entschieden für die soziale Demokratie engagierte.45 Insgesamt ist er dabei von bürgerlich-liberalen Wertvorstellungen geprägt. Seine traditionskritische Persönlichkeitsreligion enthält starke soziale Ideale, die er – ähnlich wie Gerhard Uhlhorn – im urchristlichen Reich Gottes-Gedanken verwirklicht sah. Auch innerweltlich habe der Christ dementsprechend seinen Dienst am Gemeinwesen wahrzunehmen.46 Mit seinem Interesse an Sozialreformen einerseits, mit der Kritik an dogmatischer Tradition und der starken Orientierung an sozialen Idealen andererseits wird deutlich, wie sich Harnack von kulturprotestantischen Leitlinien her auch dem Thema der Wohltätigkeit näherte. Er tat dies zum einen in eigenständigen Abhandlungen. Zu nennen ist vor allem Die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte von 1894.47 Darüber hinaus hat sich Harnack – in Anlehnung an Ernst Troeltsch – dem Thema auch in Ausführungen zur Geschichte der christlichen Ethik geäußert, so zum Beispiel in seiner Abhandlung über Das Urchristentum und die sozialen Fragen von 1908.48 Besonders bemerkenswert ist letztlich, dass er die Caritas in seinem Buch über die Mission und Ausbreitung

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Vgl. zu Harnacks klassischer These von der Hellenisierung des Christentums u.a. Eginhard P. Meijering, Die Hellenisierung des Christentums im Urteil Adolf von Harnacks (MNAW.L 128), Amsterdam u.a. 1985; William V. Rowe, Adolf von Harnack and the Concept of Hellenization, in: Wendy E. Hellemann (Hg.), Hellenization Revisited. Shaping a Christian Response within the Greco-Roman World, Lanham u.a. 1994, 69–98. Generell zum Thema Hellenisierung des Christentums vgl. Christoph Markschies, Hellenisierung des Christentums. Sinn und Unsinn einer historischen Deutungskategorie (ThLZ.F 25), Leipzig 2012. Zur politischen Einstellung Harnacks vgl. Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930, Tübingen 2004. Vgl. die sehr treffenden Formulierungen auf https://unichor.hu-berlin.de/de/antike zentrum/abaz/informationen/altertumswissenschaften/altertumswissenschaftler/harnack, eingesehen am 19.8.2019. Vgl. Adolf Harnack, Die Evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte der Kirche, in: Ders., Reden und Aufsätze II, Gießen 1904, 25–76. Vgl. Adolf Harnack, Das Urchristentum und die sozialen Fragen, in: PrJ 131 (1908), 443–459.

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des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten thematisiert.49 Hier formuliert er mehrere seiner zentralen Erkenntnisse. Dazu gehört unter anderem, dass 1. Uhlhorn zwar eine gründliche, zugleich aber dem „Heidentum“ gegenüber „ungerechte Darstellung“ geliefert hätte. Harnack betont, dass auch die Griechen und Römer sehr wohl die Philanthropie gekannt hätten.50 Nun blendet aber auch Uhlhorn den Euergetismus in der Antike nicht aus, stellt selbst vereinzelt philanthropische Aktionen aus Mitleid heraus im paganen Umfeld fest, unterscheidet aber tatsächlich konsequent solche Formen der Philanthropie von der von ihm idealisierten „Liebesthätigkeit“ der frühen Christen.51 Harnack legt seine Kritik also tatsächlich an einem zentralen Punkt Uhlhorns an. 2. Harnack in Mt 25 einen Schlüsseltext für die christliche Liebes- und auch Missionstätigkeit sieht. Er behauptet dabei sogar: „Diese Worte Jesu haben in seiner Gemeinde mehrere Generationen hindurch so hell geleuchtet und so kräftig gewirkt, daß man die christliche Missionspredigt auch als Predigt der Liebe und Hilfeleistung bezeichnen kann. Ja von hier aus erscheint die Verkündigung vom Heiland und von der Heilung nur als ein Ausschnitt, wie denn auch die Worte: ‚Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht‘, ein Glied in jener Kette von Sprüchen sind.“52 Für den Kulturprotestanten Harnack sind also gerade die Aufforderungen zu karitativem Handeln zentrale Grundlagen des missionarischen Erfolgs des Christentums. Deswegen handelt er die Caritas auch in einer Missionsgeschichte ab. 3. Harnack in der Ermahnung zur Brüderlichkeit und zur „dienenden Liebe“ den Kern der Predigt Jesu sieht. Er betont dabei einerseits, dass dienende Liebe Gleichheit zwischen Geber und Empfänger beinhaltet, andererseits aber auch immer Liebe zu Gott ist. Die Sprache der Liebe in diesem Sinne ist für Harnack die „neue Sprache, die den Christen auf die Lippen gelegt wurde.“53 4. Harnack bezeichnet das Evangelium sogar als „soziale Botschaft“. Es führe wesentlich zur „Assoziation“, indem es allerdings die Sehnsucht nach zwischenmenschlichen Beziehungen vergeistigt und in den 49

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Vgl. Adolf von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924. Vgl. Harnack, Mission (s.o. Anm. 49), 170f. Anm. 3. Vgl. o. S. 5. Harnack, Mission (s.o. Anm. 49), 171. Ebd., 173.

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Bereich des sittlich Notwendigen ziehe. Harnack spricht in diesem Zusammenhang vom Sozialismus, der auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet ist.54 Er thematisiert die frühchristliche Caritas also im Ringen um eigene zeitgenössische Gesellschaftskonzepte, im Ringen um einen christlichen Sozialismus als Alternative zum materialistischen Kommunismus. In diesem Gesellschaftskonzept bildet sich eben schon ein Stück weit das Reich Gottes ab. 5. Harnack sich in seiner Darstellung auf das, „was wirklich auf dem Gebiete der Liebestätigkeit und Hilfeleistung geschehen ist“, konzentriert.55 Er fokussiert also trotz meiner bisherigen Ausführungen nicht die Predigt und die Ermutigung zur Hilfeleistung, sondern vielmehr deren Umsetzung.56 Über Uhlhorn hinaus schrieb Harnack die Diakoniegeschichte der „Alten Kirche“ nicht nur mit Blick auf die innerkirchlichen Konsequenzen,57 sondern noch viel stärker mit Blick auf die Folgerung für die gesamte Gesellschaft. Indem er in der Liebestätigkeit der frühen Christenheit ein wichtiges Element des „Wesens des Christentums“ sah, ja dieses gegenüber dem Dogma sogar deutlich hervorhob, ging Harnack jedenfalls einen noch stärker gesellschaftspolitisch geprägten diakoniegeschichtlichen Weg als Uhlhorn. Hendrik Bolkestein (1877–1942) Ein einschlägiges Buch bei der Beschäftigung mit der antiken Wohltätigkeit stellt Hendrik Bolkesteins „Wohltätigkeit und Armenpflege im 54

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Ebd., 174: Er folgert: „Das Evangelium, hat man mit Recht gesagt, ist im Tiefsten individualistisch und im Tiefsten sozialistisch zugleich. Seine Tendenz auf Assoziation ist nicht eine zufällige Erscheinung in seiner Geschichte, sondern ein wesentliches Element seiner Eigenart. Es vergeistigt den unüberwindlichen Trieb, der den Menschen zum Menschen zieht, und erhebt die gesellschaftliche Verbindung der Menschen über die Konvention hinaus in den Bereich des sittlich Notwendigen. Es steigert damit den Wert des Menschen und schickt sich an, diese gegenwärtige Gesellschaft umzubilden, den Sozialismus, der da ruht auf der Voraussetzung widerstreitender Interessen, umzuwandeln in den Sozialismus, der sich gründet auf dem Bewußtsein einer geistigen Einheit und eines gemeinsamen Zieles.“ Ebd., 176. Zur grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis in der Caritas vgl. Harnack, Evangelisch-Soziale Aufgabe (s.o. Anm. 47), 36. Er betont dabei, dass die Theorie in der Praxis keineswegs immer zur Umsetzung fand. Vgl. u.a. ebd., 69.

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vorchristlichen Altertum“ dar.58 Bolkestein publizierte seine Ausführungen in den Kriegswirren 1939 in Utrecht. Der 1877 geborene Klassische Philologe engagierte sich bereits als Student stark, unter anderem in der Redaktion der Wochenzeitung Propria Cures, die zu seinen Zeiten einen marxistischen Einschlag hatte. 59 In seiner wissenschaftlichen Beschäftigung wandte er sich immer mehr der Alten Geschichte zu. Er promovierte 1906 mit einer Arbeit über den „römischen Bauern“.60 Sein soziales Engagement wird auch in dieser Arbeit deutlich, da Bolkestein unter anderem Vergleiche zu der Rechtsstellung zeitgenössischer Arbeiter herstellte. Ab 1915 unterrichtete er als Hochschullehrer für Alte Geschichte in Utrecht. Hier widmete sich der Sozialdemokrat Bolkestein insbesondere ökonomischen und sozialen Themenstellungen in der Antike. Sein Hauptwerk stellt das bereits erwähnte, 1939 publizierte Buch über die Wohltätigkeit und Armenpflege dar. Bolkestein, der von Haus aus Calvinist war, hatte zur Zeit der Abfassung des Buches seinen christlichen Glauben bereits verloren.61 Hendrik Bolkestein wandte sich – sicher auch seiner sozialistisch-antikirchlichen Einstellung entsprechend – vor allem gegen die gängige Position, dass die Umwelt des jungen Christentums, nicht nur die pagane, sondern auch die jüdische,62 eine „Welt ohne Liebe“ gewesen sei, auf deren dunklem Hintergrund sich „die Erscheinung der Liebe in Jesu Christo“ umso heller abheben ließ.63 Er betonte vielmehr – ähnlich wie 58

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Vgl. Hendrik Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem „Moral und Gesellschaft“, Utrecht 1939 (ND Groningen 1967). Zur Biografie Bolkesteins vgl. Hans Kloft, Art. Bolkestein, Hendrik, in: Peter Kuhlmann/Helmuth Schneider (Hgg.), Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon, Der Neue Pauly Supplemente. Band 6, Stuttgart/Weimar 2012, 125 f.; Herman van der Hoeven, Art. Bolkestein, Hendrik (1877–1942), in: Biografisch Woordenboek van Nederland 1 (1979), online: http://resources.huygens.knaw.nl/ bwn1880-2000/lemmata/bwn1/bolkestein, eingesehen am 25.10.2020. Eine ausführliche Biographie findet sich bei J.[ürges] H.[endrik] Thiel, Levensbericht H. Bolkestein, in: Jaarboek Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, 1942–1943, Amsterdam 1943, 185–208. Vgl. Hendrik Bolkestein, De Colonatu Romano ejusque origine, Amsterdam 1906. Vgl. Hoeven, Bolkestein (s.o. Anm. 59). Vgl. Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s.o. Anm. 4), 35. So die Überschriften der Kapitel 1 und 3 in Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s.o. Anm. 4), 7; 36. Zusammenfassend zu der Position Bolkesteins vgl. Wilhelm Schneemelcher, Der Diakonische Dienst in der Alten Kirche, in: Herbert Krimm (Hg.), Das Diakonische Amt der Kirche, Stuttgart 21965, 61–105, hier. 64f., an dessen Darstellung ich mich orientiere.

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Harnack – , dass es auch im „vorchristlichen Altertum“ durchaus Liebestätigkeit gegeben habe. Dabei machte er insbesondere zwei Motive für eine solche Liebestätigkeit aus: die „gelebte Moral“ und die „gepredigte Moral“ auch jenseits der Grenzen von Religion.64 Beide hätten zur Pflege der Wohltätigkeit in privater, religiöser und staatlicher Sphäre geführt. Bolkestein untersucht den Weg von der gelebten und der gepredigten Moral in zwei von ihm unterschiedenen Kulturkreisen: Nämlich dem Orient mit Ägypten und Israel auf der einen Seite und dem Okzident mit Griechenland und Rom auf der anderen Seite.65 Er arbeitet dabei heraus, dass der Gegensatz im Blick auf die Pflege der Wohltätigkeit keineswegs zwischen Heiden- und Christentum besteht, sondern vielmehr zwischen Abendland und Morgenland im Altertum.66 Die „Grundgedanken der christlichen Liebestätigkeit“ seien weder ursprünglich christlich noch ursprünglich jüdisch, sondern „allgemein orientalisch“.67 Im Umfeld der orientalischen Kultur haben sich die gepredigte Aufforderung zur Liebestätigkeit in Form der jüdischen Midrasch-Interpretation von Ps 118,19 oder der darauf basierenden christlichen in Form von Mt 25,35–39 entwickelt.68 Im antiken Abendland hätte es solche Aufforderungen hingegen nicht gegeben. Dementsprechend hätten auch große Unterschiede zum Beispiel im Blick auf die Armenpflege beziehungsweise die Wohltätigkeit existiert. Bolkestein unterschied zwischen der orientalischen Moral, die die Beziehungen zwischen Reichen und Armen fokussierte, und der abendländischen, die die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch thematisierte und entsprechend dem Ideal 64 65 66

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Bolkestein, Wohltätigkeit (s.o. Anm. 58), IX. Vgl. ebd., IX. Vgl. Bolkestein, Wohltätigkeit (s.o. Anm. 58), VIIIf., wo die Kernsätze lauten: „Das Problem gewinnt für den Historiker besonders dann ein anderes Gesicht, wenn er das Christentum vorläufig beiseitelässt, in seine Untersuchung der Völker des vorchristlichen Altertums auch die orientalischen einbezieht und dann natürlich nicht nur von der Religion ausgeht, sondern in sein Studium des sozialen Problems, das die Armenpflege ist, auch Moral und Politik aufnimmt. Am besten wird er das vorhandene Material historisch verstehen, wenn er darin eine Antwort auf die Frage sucht, welche Stellung die Armen in der sozialen Moral, der sozialen Politik und der Religion eingenommen haben, erst bei einigen orientalischen Völkern, deren geistige Hinterlassenschaft eine solche Untersuchung ermöglicht, den Ägyptern und Israeliten, und dann bei den abendländischen Völkern, Griechen und Römern. Dann ergibt sich als Problem ein ganz anderer Gegensatz als der zwischen Christentum und Heidentum, der Gegensatz nämlich zwischen Morgenland und Abendland im Altertum.“ Vgl. ebd., 417. Vgl. ebd., 446f.

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der Philanthropia das Gemeinschaftsgefühl zwischen allen Menschen gefordert habe.69 Im Zeitalter des Hellenismus hätte sich eine Entwicklung angebahnt, die die ursprünglich zu unterscheidenden Begründungen von Wohlfahrt zunehmend aufgehoben hätten.70 Das Abendland hätte sich nämlich immer mehr der orientalischen Gesellschaft und damit auch ihrer Moral angeglichen. Dies hätte auch „die Stellung der Armen in Sozialpolitik, sozialer Moral und Religion“ betroffen.71 Gerade das Christentum hätte einen starken Anteil an der „Orientalisierung“ des Abendlandes gehabt.72 Die christliche Wohltätigkeit unterscheidet sich nach Bolkestein allerdings dadurch von der altorientalischen, dass hier nun eine spezifisch religiöse Begründung für den Dienst am bedürftigen Nächsten mitgeliefert wird. Barmherzigkeit wird in der Liebe zum Nächsten begründet, die wiederum in der Liebe zu Gott ihr Fundament hat.73 Wenn Bolkestein seine Thesen auch in erster Linie sozialgeschichtlich begründet hat, konnte die Vorstellung von der Orientalisierung des Abendlandes durch das Christentum in der Zeit des Nationalsozialismus natürlich auch vollkommen anders interpretiert werden, das Christentum als letzter Ausfluss der Orientalisierung der abendländischen Gesellschaft zum Feindbild gemacht werden. Dies gilt nicht nur für die Sozialdemokraten der Zeit. Die Orientalisierung der Gesellschaft, die sich nicht an dem heldischen Menschenbild des Nationalsozialismus orientierte, sondern gerade den Bedürftigen und Leidenden im menschlichen Miteinander im 69 70 71 72

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Vgl. ebd., 421. Vgl. ebd., 467. Vgl. ebd., 467. Bolkesteins Gedanken gipfeln am Ende des Buches in der Feststellung ebd. 483f.: „Die Entwicklung von dem antiken, griechisch-römischen zu dem christlichen Gedanken ist also in der vielzitierten Definition FÉNÉLONS richtig wiedergegeben: la charité est la philantropie animée par l’amour de Dieu. Dieses Wort beleuchtet allerdings nur eine Seite ihres historischen Aspekts. Um der anderen gerecht zu werden, muß man sagen: Die altchristliche caritas, die Liebestätigkeit, ist die antike φιλανθρωπία, die Menschenliebe, in der eingeschränkten Bedeutung von φιλανθρωπία, der Liebe zu den Armen. Diese Einschränkung des Begriffs war eine unvermeidliche Folge der gewaltigen Verarmung, die seit dem III. Jahrhundert in der Menschheit immer weiter um sich griff. In diesen schweren Zeiten hat die christliche Kirche die Aufgabe übernommen, durch Predigung der caritas und Organisation der Armenpflege, den Notleidenden, die der Staat ihrem Schicksal überlassen hatte, wohltätige Unterstützung zu gewähren und so als Trösterin zu wirken am Sterbebett einer untergehenden Welt, in der zum ersten Mal das Elend die Massen gegriffen hatte.“ Vgl. Bolkestein, Wohltätigkeit (s.o. Anm. 58), 439. Vgl. dazu auch nochmals Schneemelcher, Dienst (s.o. Anm. 63), 66.

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Blick hatte, konnte als eine dem abendländischen, genauer dem deutschen Wesen nicht entsprechende historische Entwicklung interpretiert werden. Die Rezeption des Ansatzes von Bolkestein in dieser Richtung ist noch nicht aufgearbeitet worden. Durch Bolkestein ist in jedem Fall die Frage nach dem Verhältnis zwischen christlicher und pagan-antiker Wohlfahrt noch einmal neu und verstärkt thematisiert worden. Er hat dabei ein starkes Nachwirken auch auf Kirchenhistoriker wie den nun zu behandelnden Wilhelm Schneemelcher gehabt.74 Wilhelm Schneemelcher (1914–2003) Wilhelm Schneemelcher hat keinen großen Entwurf zur Diakoniegeschichte geschrieben. Allerdings wird sein eigenständiger Ansatz in einem ausführlichen Aufsatz über die Diakonie in der Alten Kirche deutlich, den kurz zu reflektieren sich lohnt.75 Schneemelchers Beschäftigung mit der Diakonie ist in erster Linie der Tatsache zu verdanken, dass er Kirchengeschichtler beziehungsweise Patristiker war und sich so auch der Geschichte eben der Diakonie zu widmen hatte. Seine Äußerungen zum Thema „Diakonischer Dienst in der Alten Kirche“ finden sich in einem 1965 in einer in zweiter Auflage herausgegebenen Publikation über das Diakonische Amt in der Kirche. Schneemelcher hebt dabei zwei Punkte besonders hervor, die für die weitere Forschung zum Thema beachtenswert sind: 1. sei eine Unterscheidung zwischen der „Geschichte des Diakonischen Dienstes, der Liebestätigkeit der Kirche in weitem Sinn“ und der „Geschichte des Diakonats als Amt und als Institution“ zu machen.76 Schneemelcher betont dementsprechend, dass zum Nachzeichnen der Geschichte des Diakonischen Dienstes der Blick auf das diakonische Amt in der Alten Kirche keineswegs ausreicht. Vielmehr muss der Diakonische Dienst auch in anderen Bereichen des Christentums gesucht werden, zum Beispiel in der privaten christlichen Wohlfahrtspflege. Es geht also um den „Dienst in der Kirche in ihrer Gesamtheit“.77 Schneemelcher versteht diesen Dienst – ganz in der Tradition seines Lehrers Hans Lietzmann und auch Adolf von Harnacks – als ‚Nach74

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Schneemelcher rezipiert Bolkestein grundsätzlich positiv, sieht bei ihm aber die Singularität der christlichen Botschaft zu stark relativiert, vgl. ebd., 67. Vgl. Schneemelcher, Dienst (s.o. Anm. 63). Vgl. ebd., 61. Vgl. ebd., 61.

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folge des Herrn‘. Inhaltlich definiert Schneemelcher ihn in der Nachfolge als „das Handeln der Kirche an der Welt“.78 Der Dienst an der Welt beschränkt sich nach Schneemelcher allerdings nicht nur auf den Dienst an den Bedürftigen in der Tat, vielmehr ist dieser von der Wortverkündigung nicht zu trennen. Diese Tendenz bereits in der Alten Kirche ist jüngst durch die Doktorarbeit von Susanne Barth über das Verständnis von Wohltätigkeit bei Gregor dem Großen noch einmal deutlich unterstrichen worden.79 2. Schneemelcher betont, dass die Geschichte des Diakonischen Dienstes der Kirche in die gesamte Kirchengeschichte einzubetten ist. Diese versteht er als den „Weg des Evangeliums, das dieser Welt verkündet wird und sich in den verschiedenen Lebensäußerungen der Kirche Gestalt gibt.“80 In Anlehnung an Martin Schmidt81 sieht Schneemelcher auch in der Geschichte der Diakonie die Geschichte der „Gestaltwerdung des Wortes“, allerdings als eine „Gestaltwerdung in dieser Welt und mit Mitteln dieser Welt“.82 Bei dieser Gestaltwerdung des Wortes habe sich der Mensch der „Mittel dieser Welt“ zu bedienen. Die im Uhlhornschen Ansatz eher negativ gesehene „Verweltlichung“ der Kirche wird bei Schneemelcher also durchaus positiv gedeutet. Er sieht trotz aller Verweltlichung immer wieder auch ein Festhalten an Gottes Wort selbst bei der „Veranstaltlichung“ von Diakonie. Einen „geradliniegen Abfallprozess“ kann er so – anders als Uhlhorn, Harnack und auch die dialektischen Theologen – in der Diakoniegeschichte jedenfalls nicht feststellen.83 Damit geht Schneemelcher wesentlich über die vorherigen Ansätze hinaus. Er betont dabei – ähnlich wie Bolkestein –, dass die Formen der Wohltätigkeit keine Erfindung des Christentums sind.84 Das Christentum habe aber die Liebestätigkeit beziehungsweise die Sorge um die Armen in einem bisher nicht dagewesenen Maß gefördert.85 78 79

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Vgl. ebd., 61. Vgl. Susanne Barth, Tätige Nächstenliebe in Werk und Wirken Gregors des Großen (STAC 122), Tübingen 2021. Schneemelcher, Dienst (s.o. Anm. 63), 62. Vgl. Martin Schmidt, Art. Kirchengeschichte I, in: RGG3 3 (1959), 1421–1433, hier 1424. Schneemelcher, Dienst (s.o. Anm. 63), 62. Vgl. ebd., 98. Vgl. ebd., 97. Nach Schneemelcher, ebd., 97f., hat „die Diakonie im Vollsinn dieses Wortes, in einem ungeheuren Maß und einer ungeahnten Kraft übernommen ..., weil die Christen wußten, daß sie an den Nächsten gewiesen sind, für den Christus auch gestorben

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Herbert Krimm (1905–2002) Herbert Krimm ist für die deutschsprachige Diakoniegeschichtsschreibung von großer Bedeutung, weil er ihr wichtige Hilfsmittel zur Verfügung gestellt hat. Voraussetzung dafür war eine eigene Institution, die Krimm in Heidelberg mit aufgebaut hat: Das Diakoniewissenschaftliche Institut.86 Nach dem Zweiten Weltkrieg war er zunächst als Hauptgeschäftsführer in das Zentralbüro des Hilfswerks der EKD nach Stuttgart berufen worden.87 Das Hilfswerk bemühte sich um die Linderung von Not, die durch die Folgen des Krieges Deutschland prägte. Insbesondere die Flüchtlingsbetreuung spielte dabei eine wichtige Rolle. Ab 1952 war der in Leipzig habilitierte Krimm als Privatdozent in Praktischer Theologie an der Universität Heidelberg tätig, wo er bereits 1954 die Gründung eines eigenen Diakoniewissenschaftlichen Institutes vorantrieb.88 Dieses wurde unter anderem durch das Hilfswerk der EKD mit getragen. Sieben Jahre später, das heißt im Jahr 1961, wurde Krimm schließlich als Ordinarius für Diakoniewissenschaft nach Heidelberg berufen.89

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und auferstanden ist, und weil sie glaubten, daß auch in dem neuen Äon, in dem sie als Christen lebten, das Gebot der Liebe und der Wohltätigkeit galt, ja noch mehr galt als im alten Zeitalter. Dabei hat die Kirche nicht eine soziale Neuordnung verfolgt, sondern hat einfach den Armen helfen wollen.“ Vgl. zur Geschichte des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Volker Hermann (Hg.), 50 Jahre Diakoniewissenschaftliches Institut. Ergebnisse und Aufgaben der Diakoniewissenschaft, Heidelberg 2005; zum Profil des Instituts vgl. Herbert Krimm, Diakonie – Diakoniewissenschaft – Diakoniewissenschaftliches Institut (1969), wiederabgedruckt in: Volker Hermann (Hg.), Liturgie und Diakonie. Zu Leben und Werk von Herbert Krimm (DWI-Info Sonderausgabe 3), Heidelberg 2003, 95–98, online: https://www.dwi.uni-heidelberg.de/imperia/md/content/fakultaeten/theologie/dwi/ dwi-info_sonderausgabe_3.pdf, eingesehen am 25.10.2020. Zur Biographie Herbert Krimms vgl. u.a. Matthias Wolfes, Art. Krimm, Herbert, in: BBKL 25 (2005), 739–750; Paul Philippi, Um eine reale Präsenz der Gemeinde in der säkularisierten Gesellschaft – Ein Lebensbild des Professors Dr. Herbert Krimm (1905–2002), in: Volker Hermann (Hg.), Liturgie und Diakonie. Zu Leben und Werk von Herbert Krimm (DWI-Info Sonderausgabe 3), Heidelberg 2003, 29–36, online: https://www.dwi.uni-heidelberg.de/imperia/md/content/fakultaeten/theologie/dwi/ dwi-info_sonderausgabe_3.pdf, eingesehen am 25.10.2020; in dem Band findet sich auch im Anhang auf S. 172 ein biographischer Überblick. Zu Krimms Tätigkeit im Hilfswerk vgl. ebd., 32f. Krimm hat auch selbst eine Autobiographie verfasst unter dem Titel: Ders., Im zweiten Glied. Ereignisse und Erinnerungen aus drei Vierteln eines Jahrhunderts niedergelegt für Kinder und Enkel, Manuskript [Heidelberg], [ca. 1995]. Vgl. Philippi, Präsenz (s.o. Anm. 87), 33. Vgl. ebd., 34.

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Ab 1946 hat Krimm zahlreiche Arbeiten zu diakoniewissenschaftlichen Themen publiziert. Von besonderer Bedeutung für die diakoniegeschichtliche Wissenschaft sind unter anderem drei Quellenbände, die er bereits im Vorfeld seiner Berufung zum Ordinarius zu publizieren begonnen hat, nämlich die 1960 bis 1967 herausgegebenen Quellen zur Geschichte der Diakonie.90 Diese Sammlung, die Krimm vor allem für diejenigen Leser schrieb, die über die Geschichte der Diakonie zu unterrichten haben,91 baute auf Vorarbeiten des Hamburger Pastors und Direktors des Rauhen Hauses Dr. Martin Hennig (1864–1920) auf.92 Hennig hatte bereits 1912 ein Quellenwerk zur Geschichte der Inneren Mission veröffentlich, das allerdings nur die Zeit ab der Reformation umfasste.93 Die von seinen Nachkommen an Krimm übergebenen Fragmente für den ersten Quellenband einer Geschichte der christlichen Liebestätigkeit bildeten den Grundstock für Krimms Quellensammlung. Darüber hinaus publizierte er bereits im Vorfeld der Institutsgründung zum ersten Mal 1953 Das diakonische Amt der Kirche als eine Art Gesamtüberblick zum diakoniewissenschaftlichen Forschungsstand.94 In diesem Werk war auch der bereits behandelte Aufsatz von Schneemelcher abgedruckt. Die Arbeiten Krimms waren grundlegend für jegliche weitere Beschäftigung mit der Diakoniegeschichte. Viele seiner Veröffentlichungen haben dabei einen deutlichen Praxis-Bezug. Die Ausbildung am diakoniewissenschaftlichen Institut zielte dementsprechend auch besonders auf künftige Leiter und Mitarbeiter diakonischer Einrichtungen. Durch die Arbeiten des Instituts ist die Diakoniegeschichte zum einen materialiter stark bereichert, zum anderen aber auch die Frage nach der Motivation diakonischen Handelns vertieft gestellt worden. In jüngerer Zeit ist diese Frage diakoniegeschichtlich allerdings weniger verfolgt worden. Im Zentrum stand vielmehr die Diskussion um den Begriff „Diakonie“.

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Vgl. Herbert Krimm (Hg.), Quellen zur Geschichte der Diakonie I-III, Stuttgart 1960–1966. Vgl. Krimms Vorwort in Krimm, Quellen I (s.o. Anm. 90), 10. Vgl. ebd., 7. Eine neue Quellensammlung dieser Art wurde jüngst veröffentlicht von Gerhard K. Schäfer/Wolfgang Maaser (Hg.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Von den biblischen Ursprüngen bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2020. Eine Untersuchung darüber, in welchem Verhältnis diese Sammlung zu derjenigen Krimms steht, muss noch geschrieben werden. Vgl. o. Anm. 3. Vgl. Herbert Krimm (Hg.), Das Diakonische Amt der Kirche, Stuttgart 1953, 21965.

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DIE DISKUSSION UM DIE BEGRIFFE „DIAKONIE“ UND CARITAS Eine Grundsatzfrage an alle bisher vorgestellten Entwürfe ist die Frage nach dem Begriff, mit dem sie das Phänomen der Wohltätigkeit umreißen. Dass mit „Diakonie“ das Phänomen der Wohltätigkeit keineswegs korrekt bezeichnet ist, haben nach den bisherigen Ausführungen bereits die Feststellungen von Wilhelm Schneemelcher deutlich gemacht. Seit den Forschungen des römisch-katholischen Melbourner Wissenschaftlers John Collins95 aus den frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ist immer wieder betont worden, dass die gegenwärtige Verwendung des Begriffs διάκονος im Sinne vom „Dienst an den Armen“ insbesondere durch Theologen des 19. Jahrhunderts geprägt worden ist.96 Im Rahmen des Aufblühens von Wohltätigkeitseinrichtungen knüpfte man terminologisch an die vermeintliche Wiederentdeckung des Diakonenamtes im reformierten Umfeld der Reformation an und sprach fortan im Protestantismus von kirchlicher Diakonie in einem stark modifizierten Sinn. Ähnliches gilt für die Verwendung des Begriffes caritas, der bereits lange vor Collins 1948 von Hélène Pétré in seiner ganzen semantischen patristischen Vielfalt analysiert worden ist. In diesem Band geht sie auch auf die gesamte karitative lateinische Terminologie ein.97 Zuletzt ist die Genese des Begriffs caritas in einem von Michaela Collinet herausgegebenen Band kritisch beleuchtet worden.98 Zum Diakonie-Begriff folgten 95

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Vgl. insbesondere John Neil Collins, Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources, New York/Oxford 1990; Ders., A Monocultural Usage: διακον- words in Classical, Hellenistic, and Patristic Sources, in: VigChr 66 (2012), 287–309; Ders., Diakonia-Studies. Critical Issues in Ministry, New York 2014; ferner u.a. eher auf die Gegenwart hin anwendungsorientiert John Collins, Deacons and the Church. Making Connections between Old and New, Leicester/Harrisburg 2002. Vgl. zu dem Ansatz von Collins auch kritisch Hans-Jürgen Benedict, Beruht der Anspruch der evangelischen Diakonie auf einer Missinterpretation der antiken Quellen? John N. Collins Untersuchung „Diakonia“, in: PTh 89 (2000), 343–364. Zur Terminologie vgl. Bernhard Schneider, Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen, Freiburg u.a. 2017, 20f. U.a. sprach Georg Ratzinger von „kirchlicher Armenpflege“, Gerhard Uhlhorn von „christlicher Liebestätigkeit“, Wilhelm Liese von „Caritas“ und Herbert Haslinger von „Diakonie“ und „sozialer Arbeit der Kirche“. Schneider selber spricht im Anschluss an Richard Völkl in theologischer Perspektive von „karitativer Diakonie“, allgemeiner von „christlicher Armenfürsorge“, vgl. a.a.O., 23. Vgl. Hélène Pétré, Caritas. Étude sur le vocabulaire latin de la charité chrétienne (SSL 22), Louvain 1948. Vgl. Andreas Müller, Caritas im Neuen Testament und in der Alten Kirche, in: Michaela Collinet (Hg.), Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament

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eine ganze Reihe von gelegentlich sehr substantiellen Untersuchungen. Zu nennen wären etwa die Arbeiten von Anni Hentschel,99 Esko Ryökäs, Bart J. Koet,100 Kari Latvus101 und auch von mir.102 Sogar ganze Kongresse sind zu dem Thema abgehalten worden, so zum Beispiel in Rom am Institutum Patristicum Augustinianum der Lateransuniversität in Zusammenarbeit mit der Tilburg-Universität im Jahr 2009.103 Hier ging es in erster Linie darum, den Charakter und die Funktionen des altkirchlichen Diakonats zu erheben beziehungsweise die Theologie dieses Amtes zu umschreiben.104 Generell ist dabei festzuhalten, dass das Amt des Diakons und auch der Diakonisse in Antike und Spätantike grundsätzlich stärker ein allgemeines kirchliches Leitungsamt dargestellt hat, das keineswegs nur auf wohltätiges Handeln beschränkt geblieben ist. In diesem Sinne wurde der Diakonen-Begriff in der jüngeren Forschung an zahlreichen Stellen reflektiert. Dies möchte ich im Blick auf drei neuere Arbeiten deutlich machen: DIE FOKUSSIERUNG AUF DAS AMT DES DIAKONS UND DER DIAKONISSE IN DER ANTIKE Das Amt des Diakons ist nicht nur in dem Tagungsband aus Rom breit diskutiert worden. Vielmehr sind auch ganze Monografien zu dem Thema bis ins späte 20. Jahrhundert (Religion – Kultur – Gesellschaft 2), Münster 2014, 17–47. 99 Vgl. Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen (WUNT 2. Reihe 226), Tübingen 2007; eine Kurzfassung von Hentschels Ansatz findet sich u.a. in dies., Diakonie in der Bibel, in: Klaus-Dieter Kottnik/Eberhard Hauschildt (Hgg.), Diakoniefibel. Grundwissen für alle, die mit Diakonie zu tun haben, Gütersloh 2008, 17–20. 100 Einen guten Überblick über die Forschungen von Bart Koet und Esko Ryökäs bietet der u.a. von ihnen herausgegebene Band: Bart Koet/Edwina Murphy/Esko Ryökäas (Hgg.), Deacons and Diakonia in Early Christianity (WUNT 2. Reihe 479), Tübingen 2018. 101 Vgl. Kari Latvus, Diaconal Ministry in the Light of the Reception and Re-Interpretation of Acts 6, in: Diaconia 1 (2010), 82–102; ferner Ders., Diaconia as care for the poor? Critical perspetives on the development of caritative diaconia (Kirkon Tutkimuskeskuksen verkkojulkaisuia 53), Tampere 2017. 102 Vgl. Andreas Müller, Diakonia in the Ancient Church – A Reply to Kari Latvus, in: Johannes Eurich/Ingolf Hübner (Hgg.), Diaconia against Poverty and Exclusion in Europe. Challenges – Contexts – Perspectives (VDWI XLVIII), Leipzig 2013, 214– 226. 103 Vgl. Istituto Patristico Augustinianum (Hg.), Diakonia, Diaconiae, Diaconato. Semantica e storia nei padri della chiesa (SEAug 117), Rom 2010. 104 Vgl. Diakonia (s.o. Anm. 103), I.

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entstanden. Zu denken ist im deutschsprachigen Bereich insbesondere an die Studie des Elsässers Gottfried Hammann, der seit 1986 als Professor für Reformations- und neuere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät Neuchâtel tätig war.105 Ein patristischer Schwerpunkt ist seinen Forschungen nicht zu entnehmen. Dementsprechend legt auch sein 2003 in deutscher Übersetzung erschienenes Buch mit dem Titel Die Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit einen deutlichen Akzent auf die Frühmoderne.106 Bemerkenswert ist, dass die Reformation für Hammann den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung markiert. Seine zeitliche Begrenzung begründet Hammann damit, dass „die christliche Diakonie und das (eingesetzte oder ‚geweihte‘) Diakonenamt in ihrer ekklesialen Besonderheit gerade in den verschlungenen Bahnen des 16. Jahrhunderts versandeten.“107 Hammann geht es insbesondere um eine „historiographische Untersuchung“ der christlichen Diakonie.108 Er möchte aufzeigen, „wie in der Theologie und der Praxis des gelebten Glaubens versucht worden ist, sei es in der Kirchenleitung, sei es im Kirchenvolk, den spezifischen Anforderungen der christlichen Diakonie [...] im Verlauf der Jahrhunderte und in den jeweiligen Zeitumständen Genüge zu leisten.“109 In diesem Zusammenhang reflektiert Hammann sowohl die Grundlagen als auch die Frage nach der Bedeutung des Amtes des Diakons in der Geschichte. Hammann geht davon aus, dass mit der Reformation Diakonie neu definiert worden ist. Es geht ihm letztlich darum, „einem bestimmten historiographischen Leitgedanken zu folgen, der um die Frage der Verwässerung und Abnahme der Bedeutung eines kirchlichen Amtes kreist, das ursprünglich zu der besonderen Eigenart des Christentums gehörte.“110 Ich möchte hier – gerade auch angesichts der bereits kommentierten tiefgehenden Reflexionen des Diakonie-Begriffes in der Antike – das Konzept Hamanns nicht weiter diskutieren. Da es in der deutschen Theologie erstaunlich stark rezipiert worden ist, sollte es Erwähnung finden. Zur Geschichte der Wohltätigkeit in der Spätantike hat Hammann allerdings wenig zu bieten. 105

106

107 108 109 110

Zur Biografie Hammanns vgl. Marc Lienhard, Art. Hammann, Jean Geoffroy dit Gottfried, in: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne 48 (2007), 5103. Vgl. Gottfried Hammann, Die Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit, Göttingen 2003. Ebd., 16. Vgl. ebd., 11. Ebd., 11. Ebd., 17.

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Zum weiblichen Diakonat in der Spätantike sind unter anderem im Kontext der Diskussion um die (Wieder-)Einführung dieses Amtes in den orthodoxen und der römisch-katholischen Kirche einige Arbeiten entstanden.111 Beachtliche substantielle Untersuchungen zu den Frauen in der frühchristlichen Diakonie finden sich allerdings bereits in den Publikationen der Grazer Ökumenikerin und Patristikerin Anne Jensen (1941–2008), die ich eigens kurz erwähnt haben wollte.112 NEUERE INSTITUTIONENGESCHICHTLICHE ZUGÄNGE Institutionengeschichtlich habe ich selbst an verschiedenen Punkten neue Vorstöße zu machen versucht. Dabei habe ich zunächst die altkirchlichen „Diakonien“ in Rom näher untersucht.113 In Anlehnung an ältere Ansätze, unter anderem an die Arbeiten von Henri-Irenée Marrou114 und unter kritischer Auseinandersetzung unter anderem mit einem ausführlichen Aufsatz von Raimund Hermes115 habe ich dabei deutlich zu machen versucht, dass die altkirchlichen Diakonien tatsächlich Funktionen übernommen haben, die in den Kapitalen des römischen Reiches die AnnonaStationen innehatten. Trotz der kritischen Anfragen und differenzierenden Bemerkungen zu solchen funktionalen und insbesondere terminologischen Sukzessionen unter anderem von Thomas Sternberg,116 halte ich grundsätzlich an der Transformation antiker Einrichtungen wie der annona oder der frumentatio im antiken Rom durch das Christentum fest. 111

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Vgl. u.a. Andrea Biernath, Mißverstandene Gleichheit. Die Frau in der frühen Kirche zwischen Charisma und Amt, Stuttgart 2005, bes. 103–108; Marcel Metzger, Pages féminines des Constitutions apostoliques, in: Hans-Jürgen Feulner (Hg.), Crossroad of cultures. Studies in Liturgy and Patristics in Honor of Gabriele Winkler (OCA 260), Rom 2000, 515–541; ferner den klassischen Artikel von Adolf Kalsbach, Art. Diakonisse, in: RAC 3 (1964), 917–928 und stärker unter konfessionskundlichem Aspekt Heinz Ohme, Frauen im niederen Klerus und als Ehefrauen von Klerikern in den Östlichen Traditionen, in: Kanon 16 (2000), 167–189. Vgl. Anne Jensen, Gottes selbstbewußte Töchter. Frauenempanzipation im frühen Christentum?, Freiburg u.a. 1992. Vgl. Andreas Müller, Die Christianisierung staatlicher Wohlfahrtsinstitutionen im spätantiken Rom am Beispiel von S. Maria in Cosmedin, in: ZKG 120 (2009), 160–186. Vgl. Henri Irénée Marrou, L’origine orientale des diaconies romaines, in: MAH 57 (1940), 95–142. Vgl. Raimund Hermes, Die stadtrömischen Diakonien, in: RQ 91 (1996), 1–120; ferner Ugo Falesiedi, Le Diaconie. I servizi assistenziali nella Chiesa antica, Roma 1995. Vgl. Thomas Sternberg, Der vermeintliche Ursprung der westlichen Diakonien in Ägypten und die Conlationes des Johannes Cassian, in: JAC 31 (1988), 173–209.

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Eine andere Form der Transformation antiker Wohltätigkeitseinrichtungen lässt sich bei der Basileias in Kaisarea beobachten.117 Ich denke, überzeugend nachgewiesen zu haben, dass Basileios dort institutionell über die ägyptischen Klöster auf antike Strukturen hat zurückgreifen können, nämlich unter anderem auf die römischen Valetudinarien. Ähnliches gilt auch für die zahlreichen Stätten christlicher Heilungswunder. Auf die Transformationen antiker Traditionen wie zum Beispiel jene der Asklepieia hat nicht nur Christoph Markschies118 hingewiesen – ein ausführlicher Aufsatz aus meiner Feder über die Anagryren hat diese Form von institutioneller Transformation ebenfalls noch einmal vor Augen gestellt.119 NEUERE SOZIALGESCHICHTLICHE ZUGÄNGE Interessante Entwicklungen im Bereich der Geschichte christlicher Wohltätigkeit hat es in den letzten Jahren besonders im Umfeld sozialgeschichtlicher Forschungen gegeben. Ein wesentlicher Impuls ging dabei von Peter Brown aus.120 Nach ihm soll die Vorstellung von der „Sorge für die Armen“ sogar dazu beigetragen haben, die Rolle der christlichen Kirche in der spätantiken Gesellschaft zu bestimmen.121 In dieser Richtung haben auch Schüler Browns und Averil Camerons weiter argumentiert: Die letzte größere Monografie zu einem Spezialthema aus dem Bereich der Geschichte christlicher Wohltätigkeit veröffentlichte Richard Finn im Jahr 2006.122 Dabei konzentrierte er sich auf das Almosenwesen in 117

118

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Vgl. Andreas Müller, „All das ist Zierde für den Ort...“ Das Diakonisch-karitative Großprojekt des Basileios von Kaisareia, in: ZAC 13 (2009), 452–474 Vgl. Christoph Markschies, Gesund werden im Schlaf – einige Rezepte aus der Antike, in: Hugo Brandenburg u.a. (Hgg.), Salute e guarigione nella tarda antichità. Atti della giornata tematica dei Seminari di Archeologia Cristiana (Roma – 20 maggio 2004), Città del Vaticano 2007, 165–198. Vgl. Andreas Müller, Gott – Götter – Heilige. Die Anargyroi als eine Trägergruppe der Wohlfahrt in der Spätantike, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongreß für Theologie (11.–15. September 2011 in Zürich) (VWGTh 38), Leipzig 2013, 459–474. Vgl. u.a. Peter Brown, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire, Hanover NH/London, 2002; vgl. ferner ders., Between Syria and Egypt. Alms, Work and the ‚Holy Poor‘, in: Andrea Sterk/Nina Caputo (Hgg.), Faithful Narrative. Historians, Religion and the Challenge of Objectivity, Ithaca/London 2014, 32–46.227–231. Vgl. Brown, Poverty (s.o. Anm. 120), 31. Vgl. Richard Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire. Christian Promotion and Practice 313–450 (Oxford Classical Monographs), Oxford 2006.

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der Spätantike. Die besondere Stärke der Arbeit liegt darin, dass sie sich nicht auf einen institutionsgeschichtlichen oder ideengeschichtlichen Zugang zu dem Thema beschränkt, sondern es in unterschiedlichen Dimensionen entfaltet. Auch Finn bemüht sich darum, insbesondere die Parallelen und Interdependenzen der Konzepte des Almosengebens mit denen in der paganen Umwelt zu erheben. Dementsprechend geht er unter anderem erneut der Frage nach, inwiefern Almosen ein distinktes christliches Ideal darstellen beziehungsweise an welchen Stellen pagane moralische Sprache in diesem Zusammenhang adaptiert worden ist.123 Über Brown hinausgehend präzisiert er die Rolle des Bischofs in der spätantiken Gesellschaft. Das Almosenwesen habe grundsätzlich – ganz im Sinne der antiken liberalitas – zur Steigerung der Ehre der Geber beigetragen. Eine einfache Gleichsetzung von Almosengeben und klassischem Ehrgewinn ist allerdings nach Finn nicht möglich. Mehrere Kirchenväter hätten Almosengeben und antiken Ehrgewinn durch den Euergetismus geradezu kontrastiert.124 Almosengeben war für den Bischof nicht nur eine Möglichkeit, seine geistliche Autorität auszubauen, sondern auch öffentliche Unterstützung zu erwirken.125 Dennoch spielt die Konkurrenzsituation gerade auch gegenüber dem traditionellen Euergetismus nach Finn für den Ausbau der christlichen Wohltätigkeitspraxis eine entscheidende Rolle. Finn fokussiert nicht nur die bischöfliche Praxis,126 sondern insbesondere diejenige von Mönchen und Privatpersonen.127 Im Mittelpunkt stehen dabei die konkreten Formen der Aufforderung zum Almosengeben.128 So analysiert Finn direkte Ermahnungen dazu zum Beispiel in der geistlichen Begleitung, aber auch in der Poesie, in Briefen, in eigens zu diesem Thema verfassten Büchern, Abhandlungen, Kirchenordnungen, und in der hagiographischen Vita- und Acta-Literatur. Damit löst er sich von einer stärker auf die Institutionen fixierten Blickweise und wendet sich mehr der inhaltlichen Begründung des Almosens zu. Ausführlich analysiert Finn dabei Predigten aus verschiedenen Regionen unter anderem von Augustin,129 Johannes Chrysostomos,130 Petrus Chrysologus und 123 124 125 126 127 128 129 130

Ebd., 2f. Vgl. ebd., Vgl. ebd., Vgl. ebd., Vgl. ebd., Vgl. ebd., Vgl. ebd., Vgl. ebd.,

207. 208f. 35–67. 90–115. 116–175. 147–150. 150–155.

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Leos des Großen131 und hebt deren rhetorische Strategien hervor.132 Biblische Begründungsmuster, aber auch ein neues Verständnis von Armut, in dem die Armen sogar als „Wohltäter“ bezeichnet wurden, arbeitet Finn in innovativer Weise heraus. Die Spender von Almosen werden als Träger christlicher Tugenden, ja sogar im Sinne der munificentia tätig verstanden.133 Almosengeben diente nach Finn in erster Linie der Führerschaft des Bischofs über Witwen134 und andere Almosenempfänger.135 Es gab dabei – ähnlich wie bereits von Bolkestein beobachtet – im Gegensatz zur klassischen Praxis kein gegenseitiges und exklusives Abhängigkeitsverhältnis von Patron und Klient. Der Zirkel von Gabe und Gegengabe von Menschen aus derselben gesellschaftlichen Schicht ist beim Almosen durchbrochen136 und somit das klassische Modell der Philanthropie stark modifiziert. Anhand von Basileios von Kaisarea thematisiert Finn Kompetenzkonflikte zwischen Gebern und der gesellschaftlichen Führung. Gerade durch seine Doppelrolle als christlicher Würdenträger und Euerget scheint Basileios mögliche Konkurrenten um Ehre stark irritiert zu haben.137 Konflikte um die Basilias sind wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Gründung mit Hilfe fremder Almosen durchgeführt, andererseits aber als persönliche Philanthropie und Munifizenz verstanden werden konnte – sie führte daher gleichsam zu „gestohlener Ehre“.138 Da eine solche ‚neue Art von Spielen‘ nur noch christlichen Führern offen stand, konnte dieser Weg, Ehre zu erlangen, als religiöse Konkurrenz betrachtet werden.139 Hieronymus hingegen nahm einen stärker kontroversen Standpunkt in Sachen Almosen ein: Er argumentierte mit antiken Tugenden allenfalls, um eine distinkte christliche Stadt zu zeichnen.140 131 132 133 134

135 136 137 138 139 140

Vgl. ebd., 155. Vgl. ebd., 160–168. Vgl. ebd., 176–220. Neuere Literatur zum Thema Witwen und Waisen findet sich auch anderswo in der Altertumswissenschaft. Eine wegweisende Studie stellte dabei die Untersuchung von Jens-Uwe Krause über Witwen und Waisen im Frühen Christentum von 1995 dar (Jens-Uwe Krause, Witwen und Waisen im Römischen Reich. 4. Witwen und Waisen im frühen Christentum [Heidelberger althistorische Beiträge und Studien], Stuttgart 1995). Vgl. Finn, Almsgiving (s.o. Anm. 122), 213. Vgl. ebd., 215. Vgl. ebd., 226. Vgl. ebd., 229. Vgl. ebd., 230. Vgl. ebd., 257.

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Erste Ansätze finden sich bei Finn auch zum Vergleich christlicher und jüdischer Almosenpraxis. Dabei wird deutlich, dass insbesondere im Blick auf die von ihm festgestellte Konkurrenzsituation noch gründlicher gearbeitet werden müsste.

DER NEUESTE ANSATZ: BERNHARD SCHNEIDERS FOKUSSIERUNG DES CHRISTLICHEN WERTEDISKURSES IN DER SPÄTANTIKE Die jüngste umfangreiche Monographie aus dem Umfeld der Geschichte christlicher Wohltätigkeit stammt aus der Feder des römisch-katholischen Kirchenhistorikers Bernhard Schneider.141 Die Studie ist im Rahmen des Trierer Sonderforschungsbereichs 600 Armut und Ausgrenzung entstanden. Da Schneider seinen Ansatz im vorliegenden Band selbst noch vorstellen wird, kann ich mich auf einige wesentliche Grundlinien konzentrieren: Im Zentrum der – seit Hammanns Publikation 1984 ersten und wesentlich umfangreicheren – Überblicksdarstellung steht nicht die Wohltätigkeit an sich, sondern speziell der Umgang mit Armut. Dabei bietet Schneider nicht im engeren Sinne eigenständige Forschungen. Vielmehr geht es ihm um einen umfangreichen Forschungsüberblick. In einem historischgenetischen Längsschnitt fokussiert er vor allem die Frage, wie Christen in 1500 Jahren „in Auseinandersetzung mit der biblischen Botschaft und den sozialen und politischen Realitäten ihrer jeweiligen Zeit Armut und Arme wahrnahmen, wie sie darüber dachten und sprachen und nicht zuletzt, wie sie auf diese Armut als wahrgenommene Not reagierten.“142 Schneider fokussiert also nicht eine allgemeine Sozialgeschichte der Armut, sondern in verschiedenen Epochen jeweils prägende „Semantiken und Diskurse, nicht-diskursive Praktiken und Formen der Institutionalisierung“.143 Anders als die Studien aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, verfolgt der Kirchenhistoriker Schneider kein „normatives Prinzip“. So will er auch nicht beurteilen, „was richtige Hilfe ist und wie theologisch richtig über Arme und Armenfürsorge zu sprechen ist“.144

141 142 143 144

Vgl. Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 96). Ebd., 13f. Ebd., 14. Ebd., 18.

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Schneider geht davon aus, dass die frühen Christen ihre karitative Diakonie in tiefer Verbindung mit der jüdischen Tradition entwickelt haben.145 Bereits im Neuen Testament ist entscheidend, dass Armen Würde zugesprochen wird, nicht der Armut.146 Schon hier findet Schneider auch unter anderem in 1 Tim 6,17–19 Bezüge zu dem Modell der Euergesie im griechisch-römischen Raum.147 Das frühe Christentum konnte darüber hinaus an die pagane Vereinspraxis anknüpfen.148 Bei seiner Darstellung der altkirchlichen Wohltätigkeit fokussiert Schneider dann vor allem Diskurse um Arme und Reiche beziehungsweise Armut und Reichtum sowie die Pflichten der Liebe,149 ferner um Kranke und Krankheit150 und mögliche Grenzen der Hilfe.151 Die Institutionalisierung der karitativen Tätigkeit versteht er schließlich in Anlehnung an Alfons Fürst als „entscheidende Innovation des Christentums“.152 Auch hier konstatiert Schneider Anlehnungen an das antike Klientelwesen.153 Er selbst fasst seine Erkenntnisse zum frühen Christentum charakteristisch zusammen: „Das Christentum hat das karitativ-diakonische Engagement nicht erfunden, es hat aber auf ‚sozialem Gebiet neue Werte‘ in den Vordergrund gerückt und ihnen eine zuvor nicht gegebene Beachtung geschaffen. Das bedeutete freilich nicht, dass auch in der nichtchristlichen Welt geschätzte Werte (Gerechtigkeit; Mildtätigkeit; Freigebigkeit) im sozialen Bereich einfach verschwunden wären, vielmehr fließen sie in die theologischen Diskurse ein und wurden mehr oder weniger christianisiert [...]“.154 KONSEQUENZEN FÜR DIE WEITERE FORSCHUNG Überblickt man die von mir vorgestellten Grundtendenzen der Forschung, so sind meines Erachtens insbesondere folgende Fragestellungen weiter zu verfolgen: 145 146 147 148 149 150 151 152 153

154

Vgl. ebd., 25. Vgl. ebd., 32. Vgl. ebd., 42. Vgl. ebd., 46. Vgl. ebd., 50–55. Vgl. ebd., 55–58. Vgl. ebd., 59–64 Ebd., 64. Vgl. ebd., 65, wo er auf das Klientelverhältnis der Armen gegenüber den Bischöfen hinweist. Ebd., 79.

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1. Die Frage nach dem Verhältnis spätantik-christlicher Wohltätigkeit zum paganen Euergetismus und auch zur jüdischen Praxis sind noch immer nicht abschließend behandelt. Zumindest der ersten Frage geht im vorliegenden Band unter anderem Hartmut Leppin weiter nach. Daniel Caner stellt Überlegungen zum Philanthropie-Konzept in der spätantiken respektive frühbyzantinischen Zeit vor. 2. Die Terminologie für Wohltätigkeit in der Spätantike ist noch keineswegs abschließend analysiert. Dies wird nicht nur durch den soeben erwähnten Beitrag deutlich, sondern auch durch die Überlegungen von Bart Koet, die im vorliegenden Band mit aufgenommen wurden, obwohl sie auf der Plöner Tagung nicht unmittelbar vorgetragen wurden. Einige Ideen äußerte Koet im Rahmen einer Lektüregruppe. Der umfangreiche Artikel über das semantische Feld „Barmherzigkeit“ dürfte zur weiteren analytischen Durchdringung der antiken und spätantiken Terminologie beitragen. 3. Die christliche Wohltätigkeit zeichnet sich sicher nicht dadurch aus, dass die Christen die Liebe neu in gesellschaftliche Diskurse eingebracht hätten. Vielmehr sind besondere Entwicklungen im Bereich der spezifischen Anthropologie und in den entsprechenden Wertediskursen zu sehen. Die Beiträge von Bernhard Schneider und Ulrich Volp eröffnen diesbezüglich neue Erkenntnisse für den Wohltätigkeitsdiskurs. 4. Bisher in der Forschung eher stiefmütterlich behandelt ist die Frage nach den Realia spätantik-christlicher Wohltätigkeit. Während institutionengeschichtlich bereits mehrere Ansätze in den Forschungsdiskurs eingeflossen sind, fehlen sowohl im Bereich christlicher Archäologie als auch spätantiker Kunstgeschichte gründlichere Studien. Für den vorliegenden Band war ein entsprechender Beitrag geplant, der aber nicht umgesetzt werden konnte. An dieser Stelle besteht ein dringendes Desiderat der Forschung. 5. Kaum Beachtung fand in der Erforschung spätantiker Wohltätigkeit bisher die Beziehung der kirchlichen Praxis der „Diakonie“ zu anderen kirchlichen Handlungsfeldern wie insbesondere der „Liturgie“. Johann Lehmhaus präsentierte als einer der Nachwuchswissenschaftler*innen auf der Tagung seine Überlegungen zu einem Promotionsprojekt über die Relation zwischen liturgischen und karitativen Ansätzen bei Basileios von Kaisarea. Im vorliegenden Band sollen bewusst auch Ansätze des wissenschaftlichen Nachwuchses aufgenommen werden – dazu zählt auch der Beitrag von Nadja Heimlicher über Philanthropie bei Gregor von Nazianz.

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Neben der Liturgie ist auch die Relation zwischen „Diakonia“ und „Martyria“ zu berücksichtigen. Reinhard Seeliger bietet Einblicke in dieses Feld durch einen Rückblick auf eine Lektüregruppe zu den frühchristlichen Märtyrerakten. 6. Es fehlen bisher auch weitgehend Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte spätantiker Ansätze zu christlicher Wohltätigkeit. Einige wenige Ausblicke finden sich ebenfalls im Beitrag von Dan Caner bei der Behandlung von Geschenken in der frühbyzantinischen Zeit. Einige wenige Perspektiven des Bandes mögen damit schon angedeutet sein. In jedem Fall dürfte Leserinnen und Lesern deutlich werden, dass die Beschäftigung mit der Wohltätigkeit in der Spätantike für die Patristik ein Forschungsfeld darstellt, in dem viele Teilbereiche noch einer vertieften Behandlung harren.

Exegetische Anmerkungen zum semantischen Feld „Wohltätigkeit“1 BART J. KOET (Utrecht/Tilburg)

1. EINFÜHRUNG Vor einigen Jahren habe ich eine Rezension eines Buches geschrieben, das die Didaktik und Pädagogik der griechisch-römischen Literatur mit denen des lukanischen Doppelwerkes vergleicht.2 Es war ein solides deutsches Buch, und so beginnt der Autor mit einigen Definitionen von Pädagogik und Didaktik. Er gibt sogar zuerst eine Definition einer Definition.3 Bei der Aneignung, Analyse und Ordnung von Wissen sind Definitionen ein wichtiges Mittel zum Verständnis. Dies gilt in fast allen naturwissenschaftlichen Disziplinen und sicherlich auch in der Mathematik. Allerdings stehen nicht allen Wissenschaften endgültige Definitionen zur Verfügung. Um Einblicke in menschliche Werte und göttliche Attribute zu gewinnen, wandten die jüdischen Schriftsteller biblischer Schriften einen anderen Prozess an. Um ein bestimmtes Konzept klarzustellen, tun sie etwas, das dem, was in der heutigen Bildung als „Wortspinne“ bezeichnet wird, sehr ähnlich ist. Auf den (Digi-)Tafeln vieler Schulen wird oft eine visuelle Darstellung eines bestimmten Begriffs gemacht. Wenn ein Lehrer mit einem Wort ein neues Thema ansprechen möchte, können Kinder (und sogar Schüler) alle Arten von Wörtern erwähnen, die sie an dieses Wort erinnern. Auf diese 1

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Dieser deutsche Artikel verwendetet teilweise Material aus meinem niederländischen Artikel: Bart J. Koet, Barmhartigheid in veelvoud, in: Communio 41 (2016), 4–16. Er ist aber neu in Bezug auf Perspektive und Ausarbeitung. Herzlichen Dank für sprachliche Korrekturen schulde ich Leo van den Bogaard und Andreas Müller. Burkhard Orth, Lehrkunst im frühen Christentum. Die Bildungsdimension didaktischer Prinzipien in der hellenistisch-römischen Literatur und im lukanischen Doppelwerk (BEBB 7), Frankfurt a.M. u.a. 2002; Die Rezension findet sich in: Bijdragen. International Journal of Philosophy and Theology 67 (2006), 93f. Orth, (s.o. Anm. 2) 17–19.

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Weise entsteht ein Netzwerk von Wörtern auf der Tafel, die mit Linien mit dem Thema verbunden werden können, was ein Netz von Assoziationen ergibt. Diese Arbeitsweise wird als Arbeiten mit einer „Wortspinne“ bezeichnet.4 Ziel ist es, die Kinder auf ein neues Thema vorzubereiten, indem Vorkenntnisse aktiviert und die Ausgangssituation bestimmt werden. Wenn die verschiedenen Aussagen zusammengenommen werden, ergibt sich oft ein erster allgemeiner Überblick über das zu behandelnde Thema. Ein Beispiel für eine Strategie, die diesem Wortspiel ähnelt, findet man am Anfang der Sprüche Salomos. Wenn er umreißt, was der Zweck dieser Schrift ist, verwendet er verschiedene Wörter wie Weisheit, Bildung und Einsicht. Zusammen erinnern sie an ein Konzept von „Wissen“.5 Die Übersetzungen dieser Wörter sind sehr unterschiedlich, wie ein Blick in die Septuaginta, die Vulgata oder die deutschen Übersetzungen zeigt. Die Tatsache, dass die Bibel keine Definitionen liefert (oder kennt), sondern durch den Gebrauch verschiedener Wörter und das Erzählen von Geschichten etwas klarstellt, ist auch dann zu berücksichtigen, wenn wir das betrachten, was im jüdischen und (früh-)christlichen semantischen Wortfeld darüber ausgesagt wurde, was im Konferenztitel „Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum“ genannt wurde.6 Aber was genau ist „Wohltätigkeit“? Es ist ein etwas altmodisches Wort, aber es besteht darin, die Bedürftigen zu entlasten, entweder durch Spenden oder durch bestimmte Aktivitäten. Es scheint impliziert zu sein, „Gutes zu tun“, „sich um den Nächsten zu kümmern“, um andere Menschen. In den protestantischen Kreisen in Deutschland, aber auch in den Niederlanden und Skandinavien wird diese Sorge um den Nächsten im heutigen Sprachgebrauch auch mit dem Wort „Diakonie“ bezeichnet oder zusammengefasst.7 4

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Vgl. Tony Buzan/Barry Buzan, The Mind Map Book. Unlock your Creativity, Boost your Memory, Change your Life, London 22000. Vgl. Spr 1,2–3: ‫וּמוּסר ֜ ְל ָה ִ֗בין ִא ְמ ֵ ֥רי ִב ָינֽה׃‬ ָ֑ ‫ ָל ַ ֣ד ַעת ָח ְכ ָ ֣מה‬2 ‫ישׁ ִ ֽרים׃‬ ָ ‫וּמ‬ ֵ ‫מוּסר ַה ְשׂ ֵכּ֑ל ֶ ֥צ ֶדק וּ֜ ִמ ְשׁ ֗ ָפּט‬ ֣ ַ ‫ ָ ֭ל ַק ַחת‬3 Siehe auch: Oliver Freiberger u.a., Werke. Gute, in: TRE 35 (2003), 623–648 (Überblick). Es muss gesagt werden, dass in anderen Ländern wie beispielsweise den Niederlanden und in englischsprachigen Ländern seit den 1960er und 1970er Jahren zunehmend auch Katholiken und sogar Anglikaner diesen Begriff ohne jegliche Kritik übernommen haben. Brodd beschreibt den Gebrauch des Wortes „diaconia“ im Englischen als durch die deutsche Verwendung beeinflusst, nicht als originär englisch benutztes Wort. Sven-Erik Brodd, Caritas and Diakonia as Perspectives on the Diaconate, in: Gunnel Borgegård/Christine Hall (Hgg.), The Ministry of the Deacon. 2 Ecclesiological Explorations, Uppsala 2000, 23–69, hier 26f. Dies spricht für die Überzeugungskraft der deutschen Theologie, aber nicht immer für die kritische Beurteilung von

ANMERKUNGEN ZUM SEMANTISCHEN FELD „WOHLTÄTIGKEIT“

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In katholischen Kreisen in Deutschland wird noch immer das Wort caritas verwendet, um eine mehr oder weniger ähnliche Fürsorge zu beschreiben. In den katholisch geprägten Ländern Südeuropas ist dieser Begriff auch ein ganz selbstverständlicher Begriff für das, was in deutschen protestantischen Kreisen Diakonie genannt wird. Es ist aber zu beobachten, dass in den letzten Jahrzehnten auch viele katholische Theologen und Pastoren das Wort „Diakonie“ verwenden, um die Fürsorge für ihren Nächsten zu charakterisieren. In anderen religiösen Traditionen wird jedoch auf die gleiche Sorgfalt hingewiesen, mit anderen Worten. In der jüdischen Tradition wird das Wort ‫( ֶח ֶסד‬chesed) oft verwendet oder ein Begriff wie ‫( גְּ ִמילוּת ֲח ָס ִדים‬gemilut chasadim).8 Aber das sind keineswegs die einzigen Wörter, die in religiösen Traditionen gebraucht werden, um die Fürsorge für den Nächsten zu bezeichnen.9 Es gibt ein ganzes semantisches Feld von Wörtern und Konzepten, die an soziale Fürsorge erinnern. Diese Wörter sind wie Mottos, aber

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Wissenschaftlerinnen, die einen deutschen, sehr spezifischen Begriff zu leicht in einen ganz anderen Diskurs einbezogen haben. Ein Beispiel für die Verwendung des Begriffs „diakonischer“ im englischsprachigen Kontext bietet David B. Clark, Breaking the Mould of Christendom – Kingdom Community, Diaconal Church and Liberation of the Laity, Peterborough 2015; zu meiner kritischen Rezension dieses Buches, vgl. Bart J. Koet, Book review, in: Bijdragen. International Journal of Philosophy and Theology 67 (2006), 469–471. In diesem Zusammenhang ist der Titel von Klaus Müllers Buch interessant: Klaus Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer Verantwortung in jüdisch-christlichem Gespräch (VDWI 11), Heidelberg 1999. Obwohl er also „Diakonie“ im Titel verwendet, gebraucht er den Begriff „Soziale Verantwortung“ als den eigentlich typischen Begriff. Bemerkenswert ist, dass einige englischsprachige Bücher über die Fürsorge für den Nächsten in rabbinischen Schriften den englischen Standardbegriff Charity (natürlich abgeleitet von Caritas) verwenden; siehe zum Beispiel Gregg Gardner, The Origins of Organized Charity in Rabbinic Judaism, New York 2016; und Yael Wilfand, Poverty, Charity and the Image of the Poor in Rabbinic Texts from the Land of Israel (SWBA 2/9), Sheffield 2014. Siehe auch Andreas Nissen, Gott und der Nächste im antiken Judentum. Untersuchungen zum Doppelgebot der Liebe (WUNT 15), Tübingen 1974 und nun auch Kengo Akiyama, The Love of Neighbour in Ancient Judaism. The Reception of Leviticus 19:18 in the Hebrew Bible, the Septuagint, the Book of Jubilees, the Dead Sea Scrolls, and the New Testament (AJEC 105), Leiden 2018. Es ist unmöglich, in einem Artikel wie diesem das gesamte semantische Feld „Sorge für die Nächsten“ begriffs-geschichtlich abzudecken. Ein aktuelles Beispiel mit einer Reihe von Artikeln über verschiedene Begriffe findet man in: Michaela Collinet (Hg.), Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie. Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert (Religion – Kultur – Gesellschaft: Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des Christentums in Neuzeit und Moderne 2), Berlin 2014.

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welche Wörter sind das? Woher kommt ein solches Wort? Woher kommt es zum Beispiel aus einer biblischen Tradition oder aus der griechischen Tradition? Eine Frage ist auch, was dann die Praxis ist, die ein solches Wort beschreibt. Es ist ferner wichtig zu prüfen, wer von der Sozialfürsorge profitieren kann. Nur die Brüder und Schwestern der gleichen Tradition? Oder wie in einige jüdischen Gemeinschaften auch die Nichtjuden, oder wie in der jüngsten Vergangenheit mit den Schwestern von Mutter Teresa, die sich von Anfang an um alle gekümmert haben? Die These des vorliegenden Beitrags ist, dass im Laufe der christlichen Geschichte verschiedene Wörter und Konzepte verwendet wurden, um die christliche Fürsorge für den Nächsten zu bezeichnen, und dass diese Wörter und Konzepte auch verschiedene Aspekte dieser Fürsorge wiedergeben und sich gegenseitig ergänzen können.10 Neben den bereits erwähnten Wörtern wie Diakonie und caritas findet der Leser dieses Sammelbandes auch einige andere Wörter. Hartmut Leppin behandelt den Begriff Euergetismus in der Antiken Welt und im Christentum und in Dan Caner’s Aufsatz werden die Wurzeln des griechischen Wortes Philanthropie behandelt, ferner das Wort ἐλεημοσύνη.11 In einem Vortrag während der hier dokumentierten Konferenz wurde das deutsche Wort Wohlfahrt als Oberbegriff für die Sorge für den Nächsten eingeführt.12 Mein Ausgangspunkt sind zwei Wörter, die im Neuen Testament vorkommen, eines mit hauptsächlich biblischen Wurzeln, das 10

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In diesem Artikel wird nicht im Detail darauf eingegangen, dass auch in anderen religiösen Traditionen die Fürsorge für den Nächsten mit anderen Begriffen bezeichnet wird. Ein solche Vielfalt zeigt auch, dass unterschiedliche Grundlagen bei der Verwendung vorausgesetzt werden. Im Islam zum Beispiel haben die Armen in gewissem Sinne das Recht, Hilfe von den Reichen zu erhalten. Deshalb wird diese Pflege auch als ‫( َز َكا ُة‬zakāt) bezeichnet: Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass die Armen das Recht auf Hilfe haben, ist auch im Judentum und im Neuen Testament ein wichtiger Gedanke. Für eine Darstellung der verschiedenen Haltungen im Protestantismus, Katholizismus, Judentum und Islam, vgl. Bart J. Koet/Erik Sengers (Hgg.), Chesed, caritas, diaconie, zakaat, ‘Zorg voor de naaste’ in jodendom, christendom en islam, Delft 2010. Vgl. die Terminologie im Aufsatz von Nadja Heimlicher in diesem Band S. 138. Für einen (natürlich nicht vollständigen) Überblick über das semantische Feld von Liebe, Anziehung und Mitgefühl im Neuen Testament, siehe Johannes P. Louw/ Eugene Albert Nida (Hgg.), Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains, New York 21988–1989. Die Begriffe sind auch konfessionell gebunden. Vgl. Mihai Valică, Eine heutige Philanthropiewissenschaft und Diakonietheologie im Kontext der Orthodoxen Lehre und der Tradition der Rumänisch-Orthodoxen Kirche. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Freiburg i. Br. 2007 (online einzusehen: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/5713/pdf/FreiDok.pdf, eingesehen am 25.10.2020).

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andere vornehmlich mit Wurzeln in der eher klassischen griechischen Welt: Das erste Konzept „Barmherzigkeit“ wird ausführlicher behandelt als das zweite, „Philanthropie“. Ich werde skizzieren, wie diese Worte auf ihre je eigene Weise kontextualisiert werden können und wie sie auch verschiedene Aspekte der Sorge für den Nächsten hervorheben können. Bei der Diskussion über das erste Wort werde ich auch zu zeigen versuchen, wie in Übersetzungen – unfreiwillig und unvermeidlich – Bedeutungsverschiebungen auftreten. So wird dieser Beitrag zu einem begrenzten Hilfsmittel bei der Reflexion der verschiedenen Konzepte, die im Alten Testament und Judentum, im Neuen Testament und in der frühchristlichen Literatur verwendet werden. Hoffentlich wird dies auch implizit dazu beitragen, über alte, manchmal oft sogar altmodische Worte nachzudenken, die heute (noch) zur Bezeichnung der Fürsorge für den Nächsten verwendet werden.13 Das erste Konzept, „Barmherzigkeit“, ist in den anderen Beiträgen dieser Publikation weniger hervorgehoben worden. Es ist immer sehr wichtig gewesen, um christliche Sorge für den Nächsten zu reflektieren. In diesem Beitrag werde ich zunächst ausführlich auf die vielfältigen Wurzeln des Wortes Barmherzigkeit im Alten und Neuen Testament eingehen. Ich spreche über die Barmherzigkeit Gottes (2.1), diejenige Jesu (2.3) und die der Menschen untereinander (2.4). Es gibt auch eine Reihe von Texten, die sich mit Barmherzigkeit befassen, ohne ein Wort zu verwenden, das mit „Barmherzigkeit“ übersetzt werden kann. Darum werde ich auch das Thema „Barmherzigkeit“ (2.5) diskutieren. Im nächsten Paragrafen (3) werde ich kurz zeigen, wie Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, in besonderer Weise den klassischen Begriff als φιλανθρωπία in sein Werk aufnimmt, das im Altgriechischen eine gewisse Sorge für den Nächsten beschreibt. 2.1. Die Barmherzigkeit Gottes im Alten Testament In diesem Paragraf werde ich mich daher auf ein Wort näher konzentrieren und zeigen, dass es bei der immer schwierigen Übersetzung von einer Sprache in eine andere, in diesem Fall vom Hebräischen und Griechischen in andere Sprachen (wie Latein und Deutsch), zu einer gewissen Verschiebung gekommen ist. Wenn wir, wenn auch nicht zu technisch 13

Es wäre aber auch zu reflektieren, welche neuen Wörter verwendet werden könnten. Denn manchmal scheint es, dass Wörter, die auf die Fürsorge für den anderen hinweisen, eher altmodisch sind. Für viele (junge) Menschen mag es scheinen, dass nicht nur das Wort, sondern auch das Konzept altmodisch ist.

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und allgemein, zu den ursprünglichen hebräischen und griechischen Wörtern übergehen, so scheint es, dass diese biblischen Wurzeln uns helfen können, das Wort „barmherzig“ in eine neue Perspektive zu stellen. Wenn wir den Begriff der Barmherzigkeit erforschen, können wir uns nicht auf ein oder zwei hebräische oder griechische Wörter beschränken.14 Da es unmöglich ist, all diese Worte hier zu behandeln, nehmen wir als Ausgangspunkt das Wort ‫רחוּם‬,ַ ein Wort, das oft als „barmherzig“ übersetzt wird und das der Beziehung Gottes zum Menschen vorbehalten zu sein scheint. Es ist eine der vielen Qualifikationen (oder Attribute) Gottes.15 Neh 9,17 sagt: „Aber du bist ein Gott der vergibt, gnädig, barmherzig (‫)רחוּם‬, ַ geduldig und von großer Güte und verließest sie nicht“.16 Diese Eigenschaften sind nicht nur hier, sondern auch anderswo in einem größeren Zusammenhang, besonders in dem der Beziehung Gottes zu seinem Volk, zu seinen Geschöpfen, zu finden. Dieses Bund kommt in der Schrift auf verschiedene Weise zum Ausdruck. An vielen Stellen in der Schrift geht es um die Beziehung Gottes zu den Menschen. Zuerst ist er der Schöpfer des Menschen, der Ursprung, er ist der Töpfer und Ps 2,7 im Hebräischen könnte vielleicht sogar übersetzt werden, um Gott als derjenigen/diejenigen zu beschreiben, der/die ein Kind gebiert. Tatsächlich geht die kreative Tätigkeit immer weiter. Gott ist am Anfang des Lebens nicht allein. Die Tatsache, dass er sich auch nach der Schöpfung weiterhin um die Menschen kümmert, wird in den Schriften auf verschiedene Weise beschrieben. Er ist wie eine Mutter, die sich um ihre Kinder kümmert (vgl. Jes 42,14; 49,15; 66,13), wie ein Adler, der seine Jungen beschützt und einen sogar auf seinen Flügeln trägt (Dtn 32,11). Gott ist auch ein Richter, er kann nach Ex 32 so wütend sein, dass er sein Volk vernichten und dann mit Mose ein neues Volk gründen will. Aber Gott bleibt nicht wütend. Dank eines wunderbaren Zusammenspiels von Moses diplomatischen Gaben auf der einen Seite und Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit auf der anderen Seite erhält das Volk eine neue Chance.17 14

15

16

17

In der revidierten Lutherbibel von 1984 wird sowohl ‫( ֶח ֶסד‬chesed) als auch ‫ַרחוּם‬ (rachum) mit „barmherzig“ übersetzt. Für einen Überblick über dieses Wort und verwandte Wörter, siehe Kronholm, T., Art. ‫ר ֶחם‬,ֶ in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament VII s.v., 460–482. Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017. Mit Apokryphen, Stuttgart 2016, 490. Einer der arabischen Namen Gottes, ‫( ٱلر َّۡح َم ٰ ُن‬ar-Raḥmān), hat natürlich die gleiche Wurzel wie das Hebräische ‫רחוּם‬.ַ Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind nicht nur in der Bibel, sondern auch in der übrigen theologischen Tradition sehr eng miteinander verflochten. In diesem Zusammenhang kann ich diese Kohärenz jedoch nicht weiter bearbeiten.

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Wenn Gott als barmherzig beschrieben wird, zum Beispiel in der Zürcher Bibel, in der „Neuen Lutherbibel“ von 2009 und in der Einheitsübersetzung, ist es oft eine Übersetzung des hebräischen Wortes ‫רחוּם‬.ַ 18 Dieses Wort gehört zum Nomen ‫ר ֶחם‬.ֶ Es ist fast ausschließlich als Hinweis auf den Mutterleib verwendet (vielleicht sogar im metaphorischen Sinne in Hi 38,8). Das sind Gefühle, die den Schoß der Mutter betreffen.19 Obwohl wir im Deutschen den schönen Ausdruck „Schmetterlinge im Bauch“ für ein heftiges Gefühl der Liebe kennen, sind in unserer Sprache die meisten Bauchgefühle nicht immer positiv. In der Bibel ist der Unterleib, der Schoß der Mutter, nicht nur der Hinweis auf den Schoß einer Mutter, sondern oft auch eine Metapher für Mit-leben oder noch besseres Mit-fühlen oder sogar wörtliches Mit-leiden.20 Dies gilt sicherlich für den Plural ‫ר ֲח ִמים‬.ַ Ein solcher Plural wird auch im Hebräischen als Intensivum verwendet. Ein gutes Beispiel ist Gen 43,30, wo Josephs Eingeweide/Unterbauch völlig warm werden/wird, wenn er seinen kleinen Bruder Benjamin wiedersieht.21 Tatsächlich deutet die Verwendung dieses Wortes ‫ ַ;רחוּם‬darauf hin, dass, wenn in den meisten unserer Übersetzungen Gott seine Hand über sein Herz streichelt und barmherzig ist, er im Hebräischen tatsächlich eine Art Schmerz in seinem Bauch hat. Mütterlicher oder väterlicher Schmerz in seinem Bauch der Liebe übrigens. So berührt ihn das Leiden der Menschen körperlich. Hier und anderswo zögert die Schrift nicht, Gott sehr menschlich darzustellen, als einen, der leidet, dem das Leiden seines Volkes weh tut, der sozusagen körperlich mit seinem Volk verbunden ist. Augustinus hatte damit als Ex-Manichäer manchmal Probleme. Selbst moderne Menschen finden das gelegentlich unangemessen. Wir stoßen hier auf ein interessantes theologisches Problem. Kann Gott leiden? Hier lassen wir das theologische Problem beiseite. In Ex 34,6f. wird sehr deutlich von Gott in emotionaler Hinsicht gesprochen und damit zeigt dieser Text, dass der Ewige als „Gott des Gefühls“ bezeichnet wird. 18 19

20 21

In der Vulgata wird ‫ ַרחוּם‬oft mit misericors übersetzt. Auch in akkadischer Sprache, vgl. Wolfram von Soden, Akkadisches Handwörterbuch II, Wiesbaden 1972, s.v. rēmu(m) I und rêmu(m), 970–971. Vgl. auch The Assyrian Dictionary of the Oriental Institute of the University of Chicago 14, Chicago, Ill. 1999, s.v. rēmu und rêmu, 259–265. Vgl. sympathisch, was ursprünglich auch mit-leiden bedeutet. Im Lateinischen: Eingeweide, vgl. aber Evangelisch-Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich / Kirchenrat, Zürcher Bibel, Zürich 22008, 64: „Dann aber eilte Josef weg, denn sein Herz (sic! ) war tief bewegt beim Anblick seines Bruders […].“ (Gen 43,30).

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Wenn es also auf Hebräisch heißt, dass Gott sein Volk so sehr liebt, dass er Schmerzen in seinem Bauch hat, dann wird das auf Deutsch (und in vielen anderen Sprachen) hauptsächlich als barmherzig übersetzt. Wir haben gesehen, dass es nach „Barmherzigkeit“ bedeutet, dass man den Geist des Mitgefühls hat. Die Bedeutung „Mitleiden“ beschreibt auf sachliche Weise, was die Metapher im Hebräischen so prägnant ausdrückt. Jemand, der barmherzig ist, leidet unter dem Leiden eines anderen, aber der Schmerz hat sich sozusagen vom Unterleib zum Herzen bewegt. Ich neige dazu, diese Entwicklung hauptsächlich meinem Lieblingsbibelübersetzer Hieronymus, zuzuschreiben. Das Wort „barmherzig“ ist eigentlich eher eine wörtliche Übersetzung der lateinischen misericors, das Wort beschreibt wie Hieronymus Wörter wie ‫ ַרחוּם‬zu übersetzen pflegte. Wer misericors ist, hat ein Herz (cor) für die Armen (miser).22 Das „b“ von barmherzig stammt wahrscheinlich von einem Präfix. Auch in diesem lateinischen Wort (misercors/misericordia) klingt es so, dass derjenige, der misericors ist, körperlich leidet, aber der Schmerz scheint sich hier vom Unterleib zum Herzen zu bewegen. Es scheint mir, dass es dadurch etwas weniger körperlich geworden ist. Herzschmerzen aufgrund des Leidens einer anderen Person können weniger penetrant sein als Schmerzen im Bauch. Es ist vielleicht möglich – aber das ist hier eigentlich eine Nebenstraße –, dass die Übersetzung von Hieronymus in den Kontext der theologischen Diskussionen der damaligen Zeit über die Unmöglichkeit des Leidens Gottes gehört.23 Hieronymus übersetzt nicht nur ‫רחוּם‬,ַ sondern auch mehrere andere Wörter wie das Wort ‫( ֵחן‬Gnade, Geschenk) und das Wort ‫ ֶח ֶסד‬mit misericors oder misericordia.24 Für ihn werden diese Worte zu einer Art Zusammenfassung aller Arten von menschlichen und göttlichen Formen der Beziehungen zwischen den Protagonisten der Bibel und vor allem als Zeichen für Liebe und Fürsorge. Die Tatsache, dass Hieronymus ohne Furcht sowohl Gott als auch die Menschen misercors sein lässt, zeigt, dass für ihn die Eigenschaft nicht 22

23

24

Vgl. Duden: Herkunft von Barmherzig: „mittelhochdeutsch barmherze(c), althochdeutsch barmherzi, durch Einfluss von: irbarmen (erbarmen) aus älterem armherzi, nach (kirchen)lateinisch misericors = mitleidig, eigentlich = ein Herz für die Armen (habend)“ – (online einzusehen: https://www.duden.de/rechtschreibung/barmherzig; eingesehen am 25.10.2020). Für das theologische Problem der anthropomorphen Eigenschaften Gottes und insbesondere, ob Gott leiden kann, siehe Marcel Sarot, God, Passibility and Corporeality (StPT 6), Kampen 1992. Einige deutsche Übersetzungen folgen diesem Trend. Vgl. die Einheitsübersetzung (die es nicht tut) mit der revidierten Lutherbibel von 1984 (die es tut).

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unbedingt nur göttlich ist, wie manchmal behauptet wird. Das wird bereits in der hebräischen Bibel deutlich, wo Ps 112 beschreibt, wie derjenige, der den Herrn fürchtet (Ps 112,1) ‫ ַרחוּם‬und ein zaddik (‫)צ ִדּיק‬, ַ barmherzig und gerecht, ist. Das Profil, das dieser Psalm skizziert, wird teilweise von Jesus in die Praxis umgesetzt. Wir werden in einem nächsten Absatz sehen, dass der Grieche des Neuen Testaments das Mitgefühl Jesu in einer ganz besonderen Weise als Mimesis sieht. Er versteht ihn als Nachahmer von Gottes Mitgefühl mit seinem Volk. Bevor wir uns diesem Gedanken zuwenden, werden wir über die Tatsache nachdenken, dass Barmherzigkeit ein Beziehungswort ist. 2.2. Intermezzo: „Barmherzig“ als ein Beziehungswort In den Wörtern Barmherzigkeit und misericordia, wie in den hebräischen Wörtern ‫ ַרחוּם‬und ‫ ַר ֲח ִמים‬wird ein Teil des menschlichen Körpers verwendet, um eine Haltung der Fürsorge zu charakterisieren, aber das Bild wird vom Unterbauch zum Herzen bewegt. Schmerzen im Bauch aus Sympathie für das Leiden anderer und eine Hand über dem Herz halten wegen jemand anderem haben etwas gemeinsam. Beide sind Haltungen, die etwas über eine Beziehung aussagen, und in beiden Fällen ist die Sorge mehr oder weniger ein körperliches Erleben. Darüber hinaus kann es um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen sowie zwischen Menschen untereinander gehen, und genau deshalb ist Barmherzigkeit so wichtig. Göttliche Attribute erweisen sich als menschlich und umgekehrt können sich Menschen wie Gott verhalten. Ich wiederhole, dass Gottes Fürsorge für Menschen und die Fürsorge der Menschen füreinander unmöglich unter einer Überschrift oder in einem Wort zu fassen ist. Im Originaltext, in den klassischen Versionen der Schrift und in den aktuellen Übersetzungen wird diese Sorgfalt durch unterschiedliche Wörter und Bilder angezeigt. Wir bekommen keine einfachen Definitionen. Das mag damit zu tun haben, dass die Fürsorge für den Nächsten in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedlich sein kann und wir weiterhin nach der richtigen Einstellung suchen müssen. Als ich meine Arbeit an der Universität mit der Arbeit als Justizpastor in einem der kompliziertesten Gefängnisse der Niederlande verband, erfuhr ich, dass Gefangenen viel mehr geholfen wird, wenn man sie als gleichwertig betrachtet.25 Vielleicht kann man diese Menschen sogar 25

Ich habe darüber geschrieben; vgl. Bart J. Koet, Waar blijft de „diakonia van het Woord“? Kanttekeningen bij het Handboek diakoniewetenschappen, in: Bijdragen. International Journal of Philosophy and Theology 67 (2006), 72–87.

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eher als Lehrer ansehen, als zu versuchen, ihnen etwas beizubringen. Die Betreuung des Nächsten im Rahmen eines Gefängnisses könnte daher bedeuten, möglichst viele Häftlinge als unabhängige Denker wahrzunehmen und dann zum Pastor-Schüler unter den Schülern zu werden. Die Pflege des Nächsten in einem Hospiz hingegen bedeutet, dem Gesprächspartner helfen zu müssen. Man wird irgendwann die Menschen dort ernähren, waschen und auf die Toilette bringen müssen. Es gibt noch einen weiteren Punkt. Gottes Gefühl für sein Volk ist immer mit verschiedenen Worten verbunden, mit seiner Barmherzigkeit, aber auch mit seiner Gerechtigkeit. All diese verschiedenen Worte, Metaphern und Konzepte, die notwendig sind, um Aspekte der Fürsorge Gottes auszudrücken, scheinen eines gemeinsam zu haben. Sie sind, noch mehr als viele andere Wörter, Beziehungswörter. Wenn es um die Fürsorge für den Nächsten geht, geht es um eine Beziehung, von Gott zum Volk, aber auch von Menschen untereinander. Nachfolgend fahren wir mit diesem einen Begriff barmherzig fort, denn er macht in besonderer Weise deutlich, dass Gott und Jesus, um es ein wenig ungelenk auszudrücken, die gleiche Ausgangsposition haben. Ein griechischer Begriff widerspiegelt in ganz besonderer Weise, dass Jesus in besonderer Weise den physischen Bündnissen Gottes folgt – ein Begriff, den wir im nächsten Absatz besprechen werden. 2.3. Jesu körperliche Berührung durch seine Sorge um seinen Nächsten Ein griechisches Wortfeld aus dem Neuen Testament, das oft mit „barmherzig“ übersetzt wird, ist das, in dem der Stamm ἐλε- enthalten ist: ἐλεέω, ἐλεήμων, ἐλεημοσύνη usw. Das Wort ist wahrscheinlich aus den letzten Überresten des Griechischen in der (katholischen, aber auch lutherischen) Liturgie bekannt: kyrie eleison.26 Das Wort ἐλεημοσύνη ist auch das Wort, das schließlich zum Wort „Almosen“ führte!27 26

27

Für einen Überblick über das semantische Feld der Liebe, Anziehungskraft und des Mitgefühls im Neuen Testament siehe Louw/Nida (s.o. Anm. 12). Ich bedaure, dass sie das Verb nicht in diese Beschreibung aufnehmen. Aber siehe Louw/Nida (s.o. Anm. 12) sub verbo ἐλεέω, ἐλεημοσύνη, ἐλεήμων, ἔλεος κτλ. §§ 88.76, 88.77, 88.79. In einem Artikel diskutiert Alain Mattheeuws, L’évangile de la miséricorde avec saint Luc, in: Nouvelle Revue Théologique 137 (2015), 529– 541, nur die Texte bei Lukas, wo er Barmherzigkeit sieht, aber er diskutiert nicht die Terminologie. Kenner werden das Wort Almosen in diesem Wort erkennen. Dies ist eines der vielen griechischen Wörter, die manchmal nicht ins Lateinische übersetzt wurden und somit

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Es gibt aber auch ein anderes Wort aus dem griechischen Neuen Testament, das oft mit Barmherzigkeit übersetzt wird, um eine Beziehung anzudeuten, die von der Sorge um den anderen zeugt. Das ist das Verb σπλαγχνίζομαι und das Substantiv το σπλάγχνον. In diesem Artikel gehe ich hauptsächlich darauf ein, weil es auf besondere Weise zeigt, dass Wörter manchmal sogar ihre Bedeutung so ändern können, dass sie fast zu einem anderen Wort werden.28 Es kennzeichnet die Beziehung Jesu zu den Menschen an verschiedenen Orten im Neuen Testament. Dieses Verb und sein Substantiv werden im klassischen Griechisch verwendet, um die Innereien eines Opfertieres zu bezeichnen. Das Substantiv bezieht sich auf die edleren Eingeweide (Herz, Leber, Lunge, Nieren), die während eines Opferfestes gegessen wurden.29 Diese Bedeutung des Verbs findet sich manchmal in der Septuaginta zum Beispiel in 2 Makk 6,8 (vgl. 2 Makk 6,7.21; 7,42). An anderen Stellen in dieser Tradition ist es jedoch überraschenderweise eine Übersetzung des Hebräischen ‫ ֶר ֶחם‬und so ändert es seine Bedeutung.30 Es kann sich auf die körperliche, liebevolle oder fürsorgliche Betreuung zum Beispiel eines Vaters für sein Kind beziehen (Weish 10,5 und Sir 30,7; siehe auch Spr 12,10).

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nicht übersetzt, sondern in anderen Sprachen übertragen wurden. Eine gewisse Bedeutungsänderung lässt sich nicht immer vermeiden. Vgl. dazu bereits Wikipedia: „Ein Almosen (von griechisch ἐλεημοσύνη […] ‚Mitleid, Mildtätigkeit, Erbarmen‘, daher auch ‚milde Gabe‘ genannt) ist eine materielle Gabe an einen bedürftigen Empfänger ohne Erwartung einer materiellen Gegenleistung dieses Empfängers. Es unterscheidet sich von einer Spende durch den Beweggrund des Mitleids mit dem Empfänger. Je nach Kultur oder Religion kann sich mit einem Almosen die Erwartung eines geistlichen Vorteils oder das Ableisten einer Buße verbinden, sodass in diesem Fall weniger das Verhältnis von Geber und Beschenktem im Vordergrund steht, sondern die Beziehung zwischen dem Almosengeber und einer höheren Macht.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/ Almosen; eingesehen am 25.10.2020). Tatsächlich geschah dies auch im Deutschen mit dem Begriff „Diakonie“. Es wandelte sich von einem Wort, das ein Mandat, eine Aufgabe im allgemeinen Sinne bezeichnete, zu einem Begriff, der nur auf die Fürsorge an den Armen bezogen war. Vgl. Henry George Liddell/Robert Scott/Henry Stuart Jones (Hgg.), Greek-English Lexicon, Oxford 91996, 1628; Umfangreicher und auch stärker auf die biblische Tradition ausgerichtet, siehe Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, VII, Art. σπλάγχνον, κτλ., 548–559, hier 548. Für diesen Bedeutungswandel, vgl. zum Beispiel Evan C.B. Maclaurin, The Semitic Backgrond of Use of „En Splanchnois“, in: Peq 103 (1971), 42–45. Siehe auch Takamitsu Muraoka, A Greek-Hebrew/Aramaic Two-way Index to the Septuagint, Leuven 2010, 108, s.v. σπλάγχνα.

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Eine ziemliche Verschiebung also von den Eingeweiden des Opfertieres zu den rastlosen Magenkrämpfen liebender Eltern! Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament stellt fest, dass diese Bedeutung im profanen Griechisch überhaupt nicht vorkommt.31 Im letzten Sinne der Verwendung in der Septuaginta beginnen die Evangelien mit der Verwendung dieses Verbs. Das Wort wird zwölfmal in den Evangelien benutzt, und neunmal bezieht es sich auf ein Gefühl Jesu: Mt 9,36; 14,14; 15,32; 20,34; Mk 1,41; 6,34; 8,2; 9,22 und Lk 7,13. Eine der Stellen ist die berühmte Passage über die Schafe ohne Hirten. Mk 6,34 sagt in wenigen Worten, dass Jesus die Menge sieht und Schmerzen in seinem Bauch bekommt und dann beginnt er, sie zu lehren! Die Parallele in Matthäus ist etwas anders. In Mt 9,35 wird gesagt, dass Jesus als Heiler, als Therapeut, handelt. Dann sieht er die Menge und bekommt Schmerzen in seinem Bauch. Sie sind wie Schafe ohne Hirten. Jesus bittet seine Jünger dann, zum Herrn der Ernte für die Arbeiter im Weinberg zu beten. In beiden Texten steht natürlich Ez 34 im Hintergrund, die Passage über Gott als Hirte. Jesus wird in den verschiedenen Evangelien oft durch den Anblick der Menschenmengen berührt, manchmal auch durch einen individuellen Notfall. Hier geschieht etwas Besonderes: Ein Wort, das im profanen Griechisch vor allem die konkreten Eingeweide, zum Beispiel eines Opfertieres, bezeichnet, ist im Neuen Testament fast ausschließlich einer Haltung Jesu vorbehalten. Es ist ein körperliches Gefühl, das dem ähnelt, was im Alten Testament durch das hebräische Wort ‫ ֶר ֶחם‬bezeichnet wird. Jesus, der seinem Vater folgt, wird in seinem Kontakt mit Menschen körperlich berührt, in einer Situation, in der Menschen leiden. 2.4. Die Barmherzigkeit unter den Menschen Die Wörter für Barmherzigkeit (σπλαγχνίζομαι / το σπλάγχνον), die im Griechischen Unter- und Obertöne des Wortes des Bauchnervs im hebräischen Quelltext bewahrt haben, scheint Jesus selbst vorbehalten. Es scheint, aber es ist nicht ganz richtig. Eine der großen Ausnahmen ist der barmherzige Samariter. Es steht von ihm geschrieben, dass er von der Erscheinung eines Menschen am Straßenrand körperlich berührt wird (Lk 10,33). Der Vater des verlorenen Sohnes leidet auch unter seiner väterlichen Liebe, wenn er seinen Sohn zurückkommen sieht (Lk 15,20). 31

ThWNT VII, Art. σπλάγχνον, κτλ. 548–559, hier 549.

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Das andere Wortfeld der Barmherzigkeit (ἐλεέω und Varianten) wird auch verwendet, um Menschen zur Barmherzigkeit zu rufen. In einer Reihe von Texten im Matthäusevangelium wird ἐλεέω als charakteristisch für das Leben der Anhänger Jesu dargestellt. Wichtig ist Mt 5,7: „Selig sind die Barmherzigen; denn die Barmherzigkeit wird zu ihnen kommen.“ Die Tatsache, dass Barmherzigkeit hier in einer Reihe von verwandten Einstellungen (Friedenstiften, Hungern nach Gerechtigkeit und so weiter) enthalten ist, zeigt (wieder), dass die angepriesenen Qualitäten Variationen eines Themas sein. Es scheint, dass Matthäus wusste, wie man eine „Wortspinne“ erstellt. In den Seligpreisungen geht es auch um die Barmherzigkeit Gottes. Ist die göttliche Barmherzigkeit eine Voraussetzung für das Menschliche? Was ist die Beziehung zwischen den beiden? In den Seligpreisungen scheint dies noch offen zu sein, aber in Mt 18,23–35 und besonders in Mt 25,31–46 scheint die Ausführung der Werke der Barmherzigkeit zu einer Art Bedingung zu werden (vgl. Mt 18,27 mit 18,33). Hier geht es nicht mehr um die Barmherzigkeit Gottes, sondern um die der Menschen. Es gibt eindeutig eine Spannung und eine Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.32 Dies ist ein Gerichtsverfahren, in dem Menschen nach ihrem Handeln beurteilt werden und daher Gerechtigkeit herrschen muss. 2.5. Barmherzigkeit üben Wir haben bereits die Werke der Barmherzigkeit in Mt 25 erwähnt. Oben haben wir besonders von den verschiedenen Worten gehört, die im Neuen Testament für Barmherzigkeit verwendet werden können. Aber die Aufzählung ist noch nicht vollständig. An verschiedenen Stellen in der Bibel wird auch darüber gesprochen, Barmherzigkeit zu tun, ohne jeweils das Wort Barmherzigkeit zu verwenden. Einer der offensichtlichsten Stellen, an denen dies geschieht, ist Mt. 25,35–36: „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen“.33 Diese 32 33

Siehe die Parallele zwischen beiden Wörtern in Mt 5,6 und 5,7. Siehe auch Ps 40,10–12. Neue Lutherbibel von 2009; siehe auch Revidierte Lutherbibel von 1984 und die Lutherbibel revidiert, von 2017.

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Serie ist nicht spezifisch für Matthäus. Wir können Variationen in allen Arten von biblischen und anderen jüdischen Quellen finden, zum Beispiel in Jes 58,6–8.34 Die Reihenfolge von Matthäus ist die Grundlage für die sieben Werke der Barmherzigkeit. Wenn der Meister von Alkmaar die sieben Werke der Barmherzigkeit malt, sind es die sechs von Matthäus, ergänzt durch die Beerdigung der Toten, ein gutes Werk, dass vor allem von der Liste im Buch Tobit 1,16–18 inspiriert sein könnte.35 Lukas gründet die menschliche Barmherzigkeit auf die göttliche: „Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36; Neue Lutherbibel von 2009). Obwohl Griechisch ein anderes Wort für „barmherzig“ verwendet wird, nämlich οἰκτίρμων, scheint es, dass die Barmherzigkeit Gottes das Modell für die Barmherzigkeit der Menschen ist. Auf eine sehr spezifische Weise wird diese Idee in einem jüdischen Midrasch ausgearbeitet. Der Midrasch verwendet Geschichten, die nahe am Originaltext bleiben, um das Skript zu erklären, zu vertiefen und zu aktualisieren. Es gibt mehrere Midraschim darüber, wie Gott selbst die Werke der Barmherzigkeit (im Hebräischen ist es gemilut chasadim) als Beispiel für das Volk getan zu haben scheint, und im babylonischen Talmud Sota 14a wird erklärt, dass wir Gott nicht nahe kommen können, weil er ein verzehrendes Feuer ist. Aber wir können seinem Vorbild folgen, sagt der Midrasch. Die ganze Thora ist von einem Werk der Barmherzigkeit umrahmt. Am Anfang der Thora steht, dass Gott die Nackten kleidet (vgl. Gen 3,21) und am Ende sagt er, dass Gott Mose in einem Tal begraben hat (vgl. Dtn 34,6).36

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Siehe schon Alfred Wikenhauser, Die Liebeswerke im dem Gerichtsgemälde Mt 25,31– 46, in: BZ 20 (1932), 366–377. Eine ähnliche Liste wie in Mt 25 findet man in Jes 58,6–8, aber überall in den Schriften werden nur ein oder zwei Werke der Barmherzigkeit erwähnt, an die erinnert oder die praktiziert werden. Bei Matthäus gibt es nur noch sechs Werke der Barmherzigkeit. Die Bestattung der Toten als Fürsorge für den Nächsten fehlt. Unter dem Einfluss von Tobit wurde zum siebten Werk, das zu den sechs Werken nach Matthäus hinzugefügt wurde, die Bestattung von Toten. In diesem Artikel kann ich nicht darauf eingehen, wie diese sieben Werke zu einem Paradigma geworden sind. Zur Geschichte der Art und Weise, wie diese Werke seit dem zwölften Jahrhundert dargestellt werden, siehe Ralf van Bühren, Die Werke der Barmherzigkeit in der Kunst des 12.–18. Jahrhunderts. Zum Wandel eines Bildmotivs vor dem Hintergrund neuzeitlicher Rhetorikrezeption (StKG 115), Hildesheim u.a. 1998. Vgl. b.Sota 14a.

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Während in der jüdischen Tradition die Bibel hauptsächlich mit Geschichten erklärt wird, die man hören kann, werden in der christlichen Tradition oft Bibelerklärungen gegeben, die man sehen kann. Im Midrasch wird gesagt, dass Gott Mose begräbt. In einer wunderschönen, mittelalterlichen Kathedrale (Sainte Marie-Madeleine [12. Jahrhundert]) in Vézelay wird auf dem Judaskapitell gezeigt, dass Jesus auch wusste, dass die Bestattung der Toten ein Werk der Barmherzigkeit ist. Dort sehen wir nebeneinander die Figur von Judas, die am Strick an einem Baum hängt und Jesus, der ihn begräbt. In der christlichen Tradition ist die Barmherzigkeit daher zu einem der wichtigsten Begriffe geworden, wenn es darum geht, den Nächsten in all seinen Formen zu pflegen. 3. WIE φιλανθρωπία, EIN KLASSISCHER BEGRIFF FÜR DIE SORGE UM DEN NÄCHSTEN, „BIBLISCH“ WIRD Barmherzigkeit ist sicherlich nicht der einzige Begriff für die Fürsorge für den Nächsten in biblischen und christlichen Traditionen. Wir haben oben gesehen, wie Barmherzigkeit als gebräuchlicher Begriff für Wohltätigkeit eine Geschichte hat, der einige Wandlungen erfahren hat. Wir sahen, dass sogar ein griechischer Begriff aus einem Opferzusammenhang in einen Begriff umgewandelt wurde, der göttliches Mitgefühl zum Ausdruck bringen konnte. In diesem Abschnitt werde ich kurz darauf eingehen, wie ein Fachbegriff für die Sorge um den Nächsten im Altgriechischen seinen langsamen Einzug in ein Buch aus dem Neuen Testament gefunden hat, nämlich in die Apostelgeschichte, die Fortsetzung des Lukasevangeliums. Es handelt sich um den Begriff φιλανθρωπία. Der Begriff wird in diesem Band von Dan Caner an anderer Stelle in seiner weiteren Geschichte genauer untersucht.37 Apg 27 erzählt die Geschichte, wie Paulus als Gefangener nach Rom reisen muss, weil dort sein Appell an den Kaiser behandelt werden muss. Als entschieden war, dass „wir (scil. Paulus und seine Begleiter) nach Italien abreisen sollten“, übergab man Paulus und einige andere Gefangene einem Hauptmann der kaiserlichen Kohorte (Apg 27,1).38 Der Mann, der die Aufgabe hat, die Gefangenen nach Rom zu bringen, ist ein gewisser 37 38

Vgl. seinen Aufsatz in diesem Band S. 93–107. Dies ist eine der berühmtesten Wir-passagen. Das Phänomen kann hier natürlich nicht diskutiert werden.

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Julius. Es ist dieser Julius, der von Lukas als menschenliebend (φιλανθρώπως; Apg 27,3) bezeichnet wird, denn in Sidon, der ersten Station auf dem Weg nach Rom, erlaubt er Paulus, zu Freunden zu gehen, die er anscheinend in dieser Stadt hatte. Von ihnen kann er dann betreut werden. Die Vulgata übersetzt φιλανθρώπως hier mit humane, was vielleicht genau der Bezeichnung entspricht, die wir heutzutage für die Behandlung eines Gefangenen verwenden würden. In Apg 28,2 wird das Substantiv φιλανθρωπία verwendet. Jetzt ist es eine Charakterisierung der Art und Weise, wie die Bewohner der Insel Malta (auch bekannt als barbaroi) die schiffbrüchigen Menschen empfangen. Sie machen ein Feuer und nehmen sie angesichts der Kälte und des Regens gastfreundlich auf. Lukas scheint hier Begriffe zu kennen und dann anzuwenden, die für die Einstellung der Menschen zu Ausländern im griechischen Kontext wichtig waren. Es geht nicht um Nachfolger Jesu, die sich in den Fußstapfen Jesu in irgendeiner Form um Bedürftige kümmern, sondern um einen sozial hochgestellten Römer, der einen Gefangenen menschlich behandelt, und um Fremde, die sich um eine gestrandete Gruppe von Reisenden kümmern, zu der auch bedürftige Nachfolger Jesu gehören.39

4. REZEPTIONSGESCHICHTLICHE PERSPEKTIVEN Wenn es um die Fürsorge Gottes für sein Volk geht, wird an mehreren Stellen in der hebräischen Bibel erwähnt, dass er in seinem Inneren berührt wurde. Der Ewige spürt es in seinem Bauch und wird so sehr menschlich. Damit wird er zum Modell und zu einem Vorbild für Menschen. Göttliche Liebe wird zu einer (teilweise) realisierbaren Option für Menschen. 39

Dies passt zur Strategie des Autors des lukanischen Doppelwerks. Während zu Beginn des Evangeliums die semitische Sprache und die Betonung des jüdischen Kontextes vorherrschen (siehe zum Beispiel Lk 1–2), stellt Lukas mit dem Traum des Paulus in Apg 16,8–10 die Welt des Paulus zunehmend auch in den hellenistischen Kontext. In Apg 15,1–29 ist es klar, dass die Heidenmission von den judenchristlichen Autoritäten gebilligt ist. Nun soll diese Mission auch legitim werden für die Nicht-Juden. Lukas beschreibt, dass Paulus seine Wende von Asien nach Europa drei göttlichen Interventionen, aber vor allem einem Traumgesicht verdankt. Ungefähr in der Mitte der Apostelgeschichte (Apg 16,9) benutzt Lukas das pagane Muster einer durch einen Traum bedingten Wende, siehe Bart J. Koet, Im Schatten des Aeneas. Paulus in Troas (Apg 16,8–10), in: Bart J. Koet (Hg.), Dreams and Scriptures in Luke-Acts. Collected Essays (CBET 42), Leuven u.a. 2006, 147–172.

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Wenn Jesus diesem Beispiel folgt, ist er das Gesicht dieses menschlichen Gottes. Diese göttliche Menschlichkeit ist zugleich das Modell für uns Menschen. Auf den Spuren des barmherzigen Samariters sind die Jünger aufgerufen, etwas von der göttlichen Menschlichkeit in dieser Welt zu erkennen. Die Fürsorge für Witwen, Waisen und Arme ist in verschiedenen biblischen Worten und Konzepten beschrieben. In ihrer göttlichsten Form verletzt sie den Bauch sogar körperlich. Es ist vor allem, aber nicht ausschließlich, Jesus, der dieser Form der Menschlichkeit Gestalt geben kann. Es gibt auch weniger physische, aber nicht weniger wertvolle Formen. In diesem Buch werden einige dieser Worte und Konzepte diskutiert oder erwähnt. Einige dieser Worte gehen auf die Bibel zurück, andere auf einen anderen Kontext. Manche sind zu einer Metapher für die Fürsorge für den Nächsten geworden sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie im Mittelalter, zum Beispiel in Frankreich, aber auch in England, das Wort „Maison Dieu“ als Hinweis auf ein Krankenhaus oder einen Ort, an dem Pilger übernachten konnten, verwendet wurde. 5. FAZIT In diesem Artikel haben wir gesehen, dass das Wort „Barmherzigkeit“ eines von vielen ist, das einen Aspekt christlicher Nächstenliebe beschreiben will. Wir haben aber auch gesehen, dass dieses Wort mehrere Deutungen in sich vereint. Im Alten Testament hat es mit Schmerzen im Unterleib zu tun, der in Relation zu einem Mitmenschen steht. Im Neuen Testament wird Jesus in seinem Kontakt zu Menschen körperlich berührt, in einer Situation, in der Menschen leiden. Andererseits gibt es eindeutig auch eine Spannung und eine Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Beide sind etwas, das man nicht nur hat, sondern auch verwirklichen kann und soll. Auf unterschiedlichste Weise können wir Menschen der Barmherzigkeit Gestalt geben, auch wenn wir das Wort nicht verstehen. Während eines Gottesdienstes, den meine Frau kürzlich in einer psychiatrischen Einrichtung gehalten hat, verwendete sie das Wort „barmherzig“ in ihrer Predigt. Einer der Patienten gab grimmig zu, dass er das Wort nicht wirklich begriffen habe. „Deshalb spreche ich von ‚Warmherzigkeit‘“, sagte er. Damit zeigte er, dass er das Wort, obwohl er es nicht wirklich kannte, gut verstanden hatte.

Euergetismus und christliche Wohltätigkeit. Überlegungen zu ihrem Vergleich HARTMUT LEPPIN (Frankfurt a.M)

Die römische Gesellschaft der Kaiserzeit war eine Gesellschaft der Armut und der prekären Lebenslagen, so prachtvoll sich die Paläste ausnehmen, so glanzvoll die Thermen vor uns stehen, so weit sich das römische Straßennetz erstreckt.1 Wie die meisten vormodernen Gesellschaften kannte auch der antike Mittelmeerraum enorme ökonomische und soziale Ungleichheit. Auf der einen Seite standen unermesslich reiche Menschen, deren Besitz sich zuweilen über mehrere Regionen des Römischen Reiches verteilte. Viele von ihnen gehörten dem Senatorenstand an und mussten dafür einen Mindestzensus von 1.000.000 Sesterzen vorweisen, andere waren Ritter, die mindestens 400.000 Sesterzen schwer sein mussten.2 Auf der Gegenseite standen Bettelarme, die nur mühsam ihr Leben fristeten. Doch auch Bauern mit kleinem Besitz erlebten Not: Gerade im Frühjahr, wenn die Vorräte aufgebraucht und kaum noch Nahrung in der Natur zu finden war, muss es für viele schwierig gewesen sein, über die Runden zu kommen; jede Missernte bedrohte die Existenz. Groß war der Unterschied zwischen den Städten, deren Bevölkerung oft von Spenden und dergleichen profitierte, und dem Land. Zwar hören wir nur selten von der Armut, da dies unsere überwiegend aus den Eliten stammenden Quellenautoren nicht interessiert, aber Hunger und unbehandelte Krankheiten müssen viele Menschen gequält haben. Viele wussten kaum, wie sie ihre Kinder durchbringen sollten. So wurden zahlreiche Neugeborene ausgesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Die meisten dieser Säuglinge werden jämmerlich gestorben sein. Glück hatte, wen ein Sklavenhändler auflas und aufzog, um ihn dann zu Geld zu machen – für ein Leben in der Unfreiheit. Für dieses namenlose Elend 1

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Für Hilfe und Korrektur danke ich Andreas Müller (Kiel), Anne Schaefer und Sebastian Weinert (Frankfurt am Main). Nach wie vor grundlegend für die römische Sozialgeschichte Géza Alföldy, Römische Sozialgeschichte, Stuttgart (1975) 42011.

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bilden die christlichen Texte, die Armut nicht lediglich klischeehaft oder topisch thematisieren, eine wichtige Quelle.3 Statusinkonsistenzen waren ebenfalls charakteristisch: Sklaverei konnte, wie eben angedeutet, gegenüber freier Geburt eine gewisse ökonomische Sicherheit im Sinne des schieren Überlebens bedeuten, denn der Besitzer hatte ein Interesse daran, dass ihm arbeitsfähige Sklaven erhalten blieben. Überhaupt besagt die bloße Bezeichnung als Sklave noch nicht sehr viel: Zählten die einen, die in der Nähe ihrer Herren tätig waren, bisweilen zu deren Vertrauten und mochten sogar am reichen Lebensstil partizipieren, so mussten andere in Bergwerken, unter der Erde angekettet, dahinvegetieren – und starben rasch, einsam und elend. Kaiserliche Sklaven wiederum waren in der Lage, den Zugang zu ihrem Herrn zu kontrollieren, und erschienen so situativ mächtiger als Senatoren. Dazwischen erstreckt sich ein weites Spektrum an Möglichkeiten eines Sklavenlebens. Das zeigt sehr deutlich: Es gab ständische und beachtliche ökonomische Unterschiede, die oft miteinander korrelierten, aber nicht immer. In nicht wenigen Fällen bestand eine Divergenz zwischen Reichtum und Stand, etwa im Falle der überaus reichen Freigelassenen – übrigens konnten auch Senatoren leicht aus ihrem Stand herausfallen, wenn sie etwa zu viele Kinder hatten; gewöhnlich wurde das Erbe auf die Kinder aufgeteilt. Symbolisch besaß der Stand eine höhere Bedeutung als der Reichtum, so waren Senatoren und Ritter auch durch ihre Tracht aus der gewöhnlichen Gesellschaft herausgehoben, doch auch demonstrativer Konsum spielte eine große Rolle, den allerdings Angehörige der Eliten bei Rangniederen als austössig brandmarkten. Was hielt diese spannungsreiche Gesellschaft zusammen? Hier ist zunächst eines in Erinnerung zu rufen: Die Vorstellung, zu große Unterschiede unter den Menschen seien ungerecht und man habe dafür zu sorgen, eine gewisse wirtschaftliche Gleichheit herzustellen, ist modern. Gewiss gab es Unruhen, wenn die Not zu groß wurde, doch die Forderung nach Besitzverteilung war selten, geschweige denn, dass man sich an kommunistischen Utopien orientierte. Und gerade den Ärmsten der Armen auf dem Lande, die alljährlich von Hunger bedroht waren, fehlte eine Stimme, mussten sie doch ohnehin um das tägliche Überleben kämpfen. Mindestens drei Faktoren des Zusammenhalts lassen sich angesichts der überaus inhomogenen Gesellschaft namhaft machen: Patronage, 3

Zu Thema dieses Beitrags s. auch Hartmut Leppin, Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin, München (2018) 32021, insbes. 186–196, 335–344. Es versteht sich, dass ich angesichts der Weite des Themas aus der Literatur nur eine begrenzte Auswahl treffen konnte.

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Aufstiegsmöglichkeiten und, hier im Zentrum, Euergetismus. Die Patronage bildete ein System wechselseitiger Verpflichtungen zwischen Patron und Klient, die sich mit emotionalen Nahbeziehungen verbinden konnten. Wer mächtig war, sah sich mit der Erwartung konfrontiert, dass er als Patron Schwächeren, seinen Klienten, helfe, durch materielle Unterstützung, aber auch durch Protektion vor Gericht und in anderen Konflikten. Das galt aber nicht als ein Akt einseitiger Zuwendung, sondern beruhte auf Gegenseitigkeit, denn der Klient schuldete seinerseits dem Patron Loyalität, wenn dieser seine Rolle in der Öffentlichkeit stärken wollte. Indem der Klient im Hause des Patrons oder in seinem Geleit erschien, trug er dazu bei, dessen Sichtbarkeit zu erhöhen. Persönliche Verbindungen überwanden so ökonomische wie juristische Schranken und verstärkten den Zusammenhalt in der so ungleichen Gesellschaft. Im Principat war der Kaiser der oberste Patron, doch andere Patronatsverhältnisse bestanden weiter, oft über mehrere Stufen hinunter.4 Aufstiegsmöglichkeiten waren im Fall der Sklaven besonders eindrucksvoll, denn viele hatten eine reale Chance auf die Freilassung, durch die sie, was im interkulturellen Vergleich höchst bemerkenswert ist, auch das römische Bürgerrecht erhielten, allerdings eingebunden in Patronatsverpflichtungen. In der Unfreiheit konnte man ein Handwerk erlernen und Kontakte knüpfen, die sich in der Freiheit bezahlt machen; einige wenige gelangten zu einem märchenhaften Reichtum und zogen dann leicht Spott auf sich wie im Falle des von Petronius in seinem Satyricon karikierten Trimalchio, bis heute Inbegriff eines ungehobelten Aufsteigers. Wir lesen den Text oft als die berechtigte Kritik an einem unsympathischen Parvenu, doch ist es vor allem eine Geschichte der brutalen sozialen Exklusion durch Angehörige der traditionellen römischen Eliten, da Petronius deutlich macht, dass das Fehlen einer angemessenen Sozialisation durch nichts wettzumachen war.5 Gleichwohl: Auch gewöhnliche Einwohner des Reiches konnten sich emporarbeiten, besonders günstige Möglichkeiten bot der Dienst in der Armee. Die Veteranen erhielten am Ende ihrer Dienstzeit Zahlungen, die sie vergleichsweise wohlhabend machten. Als Angehöriger 4

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Vgl. Angela Ganter, Was die römische Welt zusammenhält. Patron-Klient-Verhältnisse zwischen Cicero und Cyprian (Klio Beih. NF 26), Berlin/Boston 2015; Elke Hartmann, Ordnung in Unordnung. Kommunikation, Konsum und Konkurrenz in der stadtrömischen Gesellschaft der frühen Kaiserzeit, Stuttgart 2016, 89–121. Vgl. Elisabeth Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung in der griechisch-römischen Welt (SA 15), Hildesheim 2009; Heinz Heinen u.a. (Hgg.), Handwörterbuch der Antiken Sklaverei (HAS), 4 Bde., Stuttgart 2006–2012; Peter Hunt, Ancient Greek and Roman Slavery, Hoboken, NJ/Chichester/Malden, MA 2018.

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der Hilfstruppen konnte man zudem das römische Bürgerrecht erwerben. Diese Aufstiegsmöglichkeiten sind oft als Ventile interpretiert worden, zumal die intergenerationelle Mobilität tatsächlich dazu führen konnte, dass der Enkel eines Soldaten zum Senator wurde.6 Verbreitet war noch ein weiterer Mechanismus, der auf den ersten Blick an die christliche Wohltätigkeit erinnerte: Seit Paul Veynes grundlegendem Werk Le pain et le cirque hat sich dafür der schon in der früheren Forschung verwendete Neologismus des Euergetismus durchgesetzt7, in Anlehnung an das griechische Verbum εὐεργετεῖν, Wohltaten erweisen. Von den wohlhabenden antiken Eliten wurden Leistungen für die Gemeinschaft erwartet. Das konnte Spenden einschließen, aber auch Bauwerke oder diplomatische Aktivitäten. Je höher man stand, umso größer wurden die Erwartungen; die höchsten Erwartungen richteten sich an den Princeps. Römische Kaiser stifteten Bauwerke in Rom und im ganzen Reich, sie verteilten Geschenke, vor allem Nahrungsmittelspenden für die stadtrömischen Bürger, und sie veranstalteten glanzvolle Spiele. Paul Veynes Titel spielt auf berühmte Verse des römischen Satirikers Juvenal an: „Schon längst, seitdem wir niemandem mehr unsere Stimmen verkaufen, hat das Volk seine Pflichten preisgegeben. Denn das Volk, das einst Oberbefehl, Amtsbefugnis, Legionen, alles vergab, beschränkt sich jetzt und wünscht sich nervös nur zwei Dinge, Brot und Spiele [panem et circenses].“8 Diese Verse enthalten das traditionelle politikgeschichtliche Interpretament des kaiserlichen Euergetismus: Das Wohltätertum dient der Entpolitisierung des Volkes. Doch die Dinge, so wie sie etwa im Modell des Akzeptanzsystems beschrieben werden, liegen komplexer. Denn gerade die Spiele waren nicht einfach ein Ort des zynischen Entertainments, sondern enthielten durchaus politische Botschaften. So inszenierten sie die Bestrafung von Verbrechern im Rahmen eines religiösen Rituals in der Arena, aber auch den harten Kampf der Gladiatoren, die Sieghaftigkeit des Kaisers, sein Durchsetzungsvermögen und seine Gerechtigkeit. 6

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Dazu Paul Erdkamp (Hg.), A Companion to the Roman Army, Oxford 2007; Ian Haynes, Blood of the Provinces. The Roman Auxilia and the Making of Provincial Society from Augustus to the Severans, Oxford 2013. Vgl. Paul Veyne, Le pain et le cirque, Paris 1976 (dt. Darmstadt 1990). Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung Sabine Colpaert, Euergetism and the Gift, in: Filippo Carlà/Maja Gori (Hgg.), Gift Giving and the „Embedded“ Economy in the Ancient World (Akademie-Konferenzen / Heidelberger Akademie der Wissenschaften 17), Heidelberg 2014, 181–202. Juvenal, Sat. 10,77–81 (124 Clausen).

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Umgekehrt war das Publikum nicht einfach passiver Empfänger kaiserlicher Wohltaten, sondern konnte durch sein Verhalten, seine Zwischenrufe und durch Sprechchöre seine Auffassungen kundtun.9 Es war ein reziprokes Verhältnis, bei dem der Kaiser (wie Euergeten sonst auch) natürlich der weitaus Stärkere war, aber nicht unbedingt am längeren Hebel saß. Ein Akzeptanzverlust konnte zum Sturz und physischen Ende des Princeps führen, wie mehrere Beispiele des ersten Jahrhunderts lehrten. Eindrucksvoll ist die Liste der Bauten, die durch Senatoren, Ritter, Dekurionen und andere finanziert wurden (vom Kaiser ganz abgesehen): Bäder, Tempel, Säulenhallen, Wasserleitungen und vieles mehr stifteten die Eliten. Darüber hinaus konnten die Wohltaten der Vornehmen auch Nahrungsmittel oder öffentliche Vergnügungen einschließen. Auch Geldschenkungen wurden vorgenommen, bei denen typischerweise die Angehörigen der höchsten Stände am meisten erhielten – nicht die Bedürftigsten. Private Ressourcen wurden keineswegs uneigennützig eingesetzt, denn der Euergetismus bildete eben eine reziproke Beziehung, bei der der Schenkende Dank und Unterstützung erwartete.10 Das Ergebnis konnte dann doch im Sinne des Gemeinwohls sein. Zwei kaiserzeitliche Inschriften aus ganz verschiedenen Teilen des Reiches, auch aus ganz unterschiedlichen Welten mögen einen Einblick in Formen des kaiserzeitlichen Euergetismus geben, deren ganze Vielfalt an dieser Stelle nicht abgehandelt werden kann:11 9

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Dazu: Donald G. Kyle, Spectacles of Death in Ancient Rome, London/New York (1998); Uwe Walter, Schöne Wunde, verachteter Tod. Zur Funktion der Gladiatorenkämpfe in der römischen Kaiserzeit, in: GWU 55 (2004), 513–520. Grundlegend für das Konzept des Akzeptanzsystems: Egon Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (Campus Historische Studien 7), Frankfurt/New York 22019. Zu Recht betont von Mark Beck, Der politische Euergetismus und dessen vor allem nichtbürgerliche Rezipienten im hellenistischen und kaiserzeitlichen Kleinasien sowie dem ägäischen Raum (Pharos 35), Rahden/Westf. 2015. S. etwa Philippe Gauthier, Les cités grecques et leurs bienfaiteurs (BCH Suppl. XII), Paris 1985; Arjan Zuiderhoek, The Politics of munificence in the Roman Empire. Citizens, Elites, and Benefactors in Asia Minor, Cambridge/New York 2009; Anne Bäumler, Zwischen Euergetismus und Ostentation. Konsum und Vergesellschaftung bei Festen in der frühen römischen Kaiserzeit, in: Hermes 142 (2014), 298–325, insbes. 316–324; Marietta Horster, Urban Infrastructure and Euergetism Outside the City of Rome, in: Christer Bruun/Jonathan Edmondson (Hgg.), The Oxford Handbook of Roman Epigraphy, Oxford 2015, 515–536. Konzeptionell wichtig: Guy M. Rogers, Demosthenes of Oenoanda and Models of Euergetism, in: JRS 81 (1991), 91–100. Zu Spannungen, die aus Euergetismus erwuchsen, Stefan Frass, Der Euergetismus als

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Plinius der Jüngere (*62, gest. um 114 n. Chr.), ein Consul des Jahres 100, ist vor allem durch seinen berühmten Christenbrief an Trajan bekannt.12 Mit seinem Vermögen von 20 Millionen Sesterzen war er für einen Senator nicht herausragend reich, und doch unendlich viel reicher, als die meisten seiner Zeitgenossen. Im oberitalischen Como, seiner Heimatstadt, hat sich eine ungewöhnlich detaillierte Inschrift erhalten, die seinen Euergetismus rühmt. Sie dokumentiert zunächst seinen langen cursus honorum mit seinen vielfältigen Funktionen. Dann heißt es: „Testamentarisch hat er den Bau von Thermen [...] verfügt, zusätzlich [eine Summe] von 300.000 Sesterzen zur Ausschmückung und darüber hinaus [ein verzinsbares Kapital] von 200.000 Sesterzen für deren Unterhalt gestiftet.“13 Gerade der letzte Punkt ist wichtig. Die Stiftung von Bädern konnte ja eine Last für die Kommune sein, waren doch für den Betrieb Wasser, Holz für die Heizung, Angestellte und vieles mehr zu bezahlen. Aber Plinius hatte umsichtig vorgesorgt, und nicht nur dafür, wie die Inschrift berichtet: „Ebenso hat er für den Unterhalt seiner Freigelassenen – insgesamt 100 Menschen [ein verzinsbares Kapital von] 1.866.666 Sesterzen14 der Gemeinde ausgesetzt, dessen Ertrag nach seiner Willenserklärung später zur Speisung der städtischen Plebs verwandt werden sollte.“ Bemerkenswert ist die präzise Angabe des Empfängerkreises: Zunächst einmal geht es um Plinius’ eigene Freigelassene, die eine gewisse Absicherung erhalten, dann, wohl nach deren Ableben, um die städtische Plebs,

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Kunst, es allen recht zu machen: Konflikte um die Gemeinsinnigkeit wohltätiger Leistungen, in: Martin Jehne/Christoph Lundgreen (Hgg.), Gemeinsinn und Gemeinwohl in der römischen Antike, Stuttgart 2013, 99–118. Zu seiner Selbstdarstellung Sven Page, Der ideale Aristokrat. Plinius der Jüngere und das Sozialprofil der Senatoren in der Kaiserzeit (SAG 24), Heidelberg 2015; zum Hintergrund: Isabelle Künzer, Kulturen der Konkurrenz. Untersuchungen zu einem senatorischen Interaktionsmodus an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n. Chr. (Antiquitas I 68), Bonn 2016; mit einer Fokussierung auf literarische Quellen, zu Plinius schwerpunktmäßig 177–248; vgl. zu seiner Rolle als Wohltäter John Nicols, Civic Patronage in the Roman Empire (MnS 365), Leiden 2014, 131–147; Jacqueline M. Carlon, You Can Go Home Again. Pliny the Younger Writes to Comum (BICS 61), London 2018, 56–65, 63f. CIL V 5262 = ILS 2927, übersetzt von Leonhard Schumacher. Zur Inschrift s. auch Page 2015 (s.o. Anm. 12), insbes. 42, 112–114, 205–210. Richard Duncan-Jones, The Finances of a Senator, in: Roy Gibson/Christopher Whitton (Hgg.), The Epistles of Pliny, Oxford 2016, 89–106 (= Ders., The Economy of the Roman Empire, Cambridge 19822, 17–32), 103 (30) vermutet, dass sich die Summe aus den Kosten von 70–85 Sesterzen pro Mann errechne. Vielleicht wurden die verschiedenen Freigelassenen aber nach Geschlecht oder Alter unterschiedlich taxiert.

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das heißt die Bürger der Stadt, die nicht zur Elite gehören. Und nicht nur als Erblasser war Plinius großzügig: „Außerdem hat er der städtischen Plebs zu Lebzeiten für den Unterhalt von Kindern beiderlei Geschlechts 500.000 Sesterzen gestiftet sowie eine Bibliothek und [eine Summe von] 100.000 Sesterzen für deren Unterhalt.“ Bei den Kindern, um die es hier geht, dürfte es sich um Waisen handeln oder um solche, deren Eltern nicht in der Lage waren, für einen Unterhalt zu sorgen. Nicht allein an prachtvolle Bauten hatte Plinius mithin gedacht, sondern auch an die Armen – sofern sie aus der städtischen Plebs von Como stammten. Wer Bürger dieser Stadt war, durfte sich glücklich schätzen, einen Mitbürger wie Plinius zu haben, der sich dann auch auf einer großen Inschrift seiner Wohltaten rühmen durfte. Wer aber nicht Bürger war, ging bei dieser Großzügigkeit leer aus und durfte sich allenfalls an den Bauwerken erfreuen. Der Euergetismus ist mithin kein Instrument des sozialen Ausgleichs, er hat kein universalistisches Ziel, er dient außer der Repräsentation der Eliten der Stärkung der Bürgeridentität und begünstigt prononciert diejenigen, die dem Stifter nahestehen. Das andere Beispiel für Euergetismus führt in eine ganz andere Gegend, nach Oinoanda im Südwesten Kleinasiens.15 Oinoanda war eine nicht besonders bedeutende Stadt in der Provinz Lycia et Pamphylia, die seit Claudius (reg. 41–54 n. Chr.) auch formell zum Römischen Reich gehörte. Berühmt ist die Stadt vor allem wegen der Inschrift des epikureischen Philosophen Diogenes. Bemerkenswerterweise hat sich hier noch eine andere wichtige Inschrift gefunden. Sie bezeugt den Euergetismus eines wohlhabenden Bürgers, der den Namen des großen klassischen Redners Demosthenes trug und der auch das römische Bürgerrecht besaß; er hieß vollständig Gaius Iulius Demosthenes. Dieser Demosthenes – kein Senator, sondern nur ein Ritter und später lykischer Bundespriester, also eher ein Angehöriger der regionalen Eliten – stiftete unter Hadrian (reg. 117–138 n. Chr.) ein Fest, die Demostheneia, für die er ein großzügiges Kapital zur Verfügung stellte. Darüber berichtet ein umfangreiches Dossier von Inschriften: Es sollten alle vier Jahre Wettkämpfe 15

Vgl. SEG 38, 1462. Grundlegend Michael Wörrle, Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien. Studien zu einer agonistischen Stiftung aus Oinoanda (Vestigia 39), München 1988, dazu: Stephen Mitchell, Festivals, Games, and Civic Life in Roman Asia Minor, in: JRS 80 (1990), 183–189; Rogers (s.o. Anm. 11), der davor warnt, die Spannungen, die mit der Einrichtung eines solchen Festes verbunden waren, zu unterschätzen; noch stärker in diese Richtung Frass (wie Anm. 11), 113–116; zu Demosthenes Denise Reitzenstein, Die lykischen Bundespriester. Repräsentation der kaiserzeitlichen Elite Lykiens (Klio Beih. NF 17), Berlin 2011, 187f.

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stattfinden, für die Preise ausgesetzt wurden, ferner Prozessionen veranstaltet werden und vieles mehr. Dazu finden sich in der Stiftungsinschrift detailreiche Ausführungen.16 Bei den Prozessionen, auch bei manchen Wettkämpfen war klar, dass den Bürgern von Oinoanda eine besondere Stellung zukam. Wie Plinius dachte Demosthenes von der städtischen Gemeinschaft her. Bezeichnenderweise umfasst die Inschrift aber nicht nur Demosthenes’ Regelungen für das Festprogramm, sondern auch das Bestätigungsschreiben des Kaisers (1–6) – es musste ja geprüft werden, ob das Kapital tatsächlich auf Dauer für die Kosten des Fests ausreichte. Hier deuten sich die Probleme finanzieller Überlastung der Städte an, die durch die vielen Großzügigkeiten entstanden. Der Gesetzgeber drängte die Eliten, lieber Reparaturen vorzunehmen als neue Gebäude zu errichten, doch entzogen die vornehmen Herren sich offenbar gerne diesen weniger ruhmbringenden Aufgaben. In vielen Städten müssen prächtige Neubauten neben maroden Altstiftungen gestanden haben. Die vielen prachtvollen Tempel, mehr noch die zahlreichen Spiele und Wettkämpfe, belasteten die Ressourcen stark. Zudem gingen immer mehr Ressourcen in den Kaiserkult, der prestigeträchtiger war als die lokalen Kulte. Die Folgekosten des Euergetismus waren oft nicht mehr finanzierbar. So hat sich gezeigt, dass ein Großteil der Agonistik, des aufwändigen überregionalen Wettkampfwesens, schon im 3. Jahrhundert zurückging, lange bevor irgendwelche Verbote christlicher Kaiser kamen, die das Spielwesen betrafen. Der Hintergrund waren ökonomische Probleme, aber auch eine selbstverschuldete Überlastung der Eliten, überdies das sichtbare Bestreben, sein Wohltätertum durch neue Leistungen und nicht durch Bestandsicherung unter Beweis zu stellen.17 Der Euergetismus, der so wesentlich war für den Zusammenhalt der römischen Gesellschaft, hatte mithin durchaus dysfunktionale Folgen für die Städte, da, im heutigen Sprachgebrauch, ein Nachhaltigkeitskonzept fehlte. Doch aus der Sicht der Zeitgenossen war das zunächst anders: Wer so großzügige Stiftungen vornahm, bewies Tugenden, die in der antiken Welt Hochschätzung genossen: Großzügigkeit, Loyalität gegenüber den Mitbürgern, Heimatliebe und vieles mehr. Es konnte auch von Philanthropia, Menschenliebe die Rede sein, wenngleich es hauptsächlich um Bürger ging, nicht um Menschen insgesamt. Die Ärmeren freuten sich 16 17

Vgl. SEG 38, 1462, 14–30. S. Sofie Remijsen, The End of Greek Athletics in Late Antiquity, Cambridge/New York 2015.

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an den Gaben, und der Stifter erntete Ruhm; er blieb der Nachwelt positiv in der Erinnerung, da Inschriften, wie die hier zitierten, dies dann ja in der Tat nachhaltig sicherten. In Stein gemeißelt war, was die Männer für ihre Heimat geleistet hatten. Auch wenn die Wohltäter Ruhm gewannen, handelten sie nicht ganz aus freien Stücken. Mit der Bekleidung von Ämtern war die Erwartung verbunden, dass die Inhaber euergetisch tätig würden. Bisweilen stellten die Gemeinden bestimmte Summen zur Verfügung, doch ging man davon aus, dass sie von den Amtsinhabern großzügig ergänzt, „gematcht“ wurden. Geschah dies nicht, so verlor der Amtsinhaber sein Ansehen und die weiteren Karriereaussichten. Zudem waren viele von einer kompetitiven Haltung geprägt und suchten daher andere an Wohltätigkeit zu übertreffen. Doch manch andere handelten auch unabhängig von Ämtern als Euergeten. Etliche Freigelassene betätigten sich auch als (oder wie?) Euergeten und demonstrierten damit ihren Anspruch auf einen hohen sozialen Status, immer in Gefahr, dass dies ins Lächerliche gezogen wurde, von Menschen, die sich durch ihre freie Geburt als etwas Besseres fühlten. Für viele Angehörige der lokalen Eliten aber konnte der Euergetismus zum persönlichen Ruin führen. Das minderte mancherorts die Bereitschaft und die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden. Die bisher gemachten Beobachtungen verdeutlichen, inwieweit die Institution des Euergetismus die soziale Ordnung stabilisierte und die ökonomische wie rechtliche Ungleichheit erträglicher machte. Zum einen verbesserte sich die tatsächliche soziale Situation der Bürger jener Städte: Die begünstigten Kinder wuchsen unter besseren Bedingungen auf, es gab die Bibliothek, die Thermen, das Fest, Dinge, an denen man sich erfreuen durfte. Das konnte man nicht anders sehen als mit Dankbarkeit und Respekt gegenüber der Großzügigkeit der Stifter. Diese wiederum banden diejenigen an sich, die ihnen zu Dank verpflichtet waren. Die Ungleichheit der sozialen Ordnung war erträglich, wenn der Euergetismus einen begrenzten Ausgleich und wechselseitige Bindungen schuf. Allerdings profitierte man nicht entsprechend der Bedürftigkeit, sondern dann, wenn zufällig ein großzügiger Mann (oder, angesichts der Geschlechterverhältnisse viel seltener) eine Frau auftrat, die solche Stiftungen vornahm – und wenn man zu der typischerweise auf die Bürger beschränkte Gruppe der Begünstigten gehörte.18 Das wirkt auf viele in der Moderne wieder ungerecht, scheint aber in der Antike wenig Anstoß 18

Zu Ausnahmefällen Beck (s.o. Anm. 10), der zugleich deutlich macht, wie eng begrenzt diese waren.

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erregt zu haben. Viel stärker nahmen die römischen Statthalter die Dysfunktionalitäten des Euergetismus wahr, von denen auch die Rede war, und denen sie entgegenzusteuern suchten – allerdings vergebens. Vor diesem Hintergrund ist das Aufkommen christlicher Wohltätigkeit zu sehen, doch war sie keineswegs eine Antwort auf die Krisen des Euergetismus, sondern ein Phänomen, das sich zunächst abseits davon entwickelte, sich aber mit ihm verbinden konnte und ihn in weiten Teilen ersetzte.19 Die christliche Wohltätigkeit gehört zunächst sozial in eine andere Welt als der klassische Euergetismus, nicht in jene der Eliten, sondern in die niederen und mittleren Schichten, die das frühe Christentum trugen. Was Jesus bei Matthäus (25,35–40) als Liebeswerke verkündete, war nicht so ungewöhnlich: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen und Gefangene besuchen; das waren Regeln zwischenmenschlicher Solidarität, wie sie in Familien und kleinen Gemeinschaften verlangt wurden, aber sie erheben sich jetzt zu einer allgemeinen Forderung, die das Leben tragen sollte. Hinzu kam die eigene Sorge um die Zukunft nach dem Tode: Man sammelte für einen Schatz im Himmel, von dem Jesus gegenüber dem reichen Jüngling spricht (Mk 10,21par). Manche ließen sich vielleicht von der Drohung einer Höllenstrafe beeindrucken: Wer auf seinen Reichtum setzt und sich gegenüber Witwen und Waisen knauserig zeigt, wird auf scharfe, glühende Kieselsteine geworfen, so malt es sich der Autor der griechischen Apokalypse des Petrus aus (30 f.). Es ging hier, soweit wir sehen, zunächst nicht um eine prunkvolle Selbstdarstellung und die Etablierung einer reziproken Beziehung wie 19

Klassisch: Nicht ohne Nutzen sind nach wie vor Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Stuttgart 1895 (ND Darmstadt 1959); Hendrik Bolkestein, Wohltätigkeit und Armenpflege im vorchristlichen Altertum. Ein Beitrag zum Problem „Moral und Gesellschaft“, Utrecht 1939 (ND Groningen 1967); zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung s. Andreas Müller in diesem Band S. 2–7; 10–14; Richard Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire. Christian Promotion and Practice (313–450), Oxford/New York 2006, der grundsätzlich die Unterschiede zwischen christlicher Wohltätigkeit und klassischem Euergetismus betont, 221–257 allerdings Verbindungen von Christian und Classical aufzeigt; für die Spätantike Peter Brown, Through the Eye of a Needle. Wealth, the Fall of Rome, and the Making of Christianity in the West, 350–550 AD, Princeton NJ 2012 (dt. 2017); einführend Peter Brown, From Civic Euergetism to Christian Giving, in: Peter Eich/Eike Faber (Hgg.), Religiöser Alltag in der Spätantike, Stuttgart 2013, 23–30; Lellia Cracco Ruggini, From Pagan to Christian Euergestism, in: Filippo Carlà/Maja Gori (Hgg.), Gift Giving and the “Embedded” Economy in the Ancient World, Heidelberg 2014.

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im Falle der römischen Euergeten, sondern man zielte auf die Fürsorge für den Einzelnen, der Not litt, und hoffte, für sich Gnade vor Gott zu finden. Und: Nicht allein der Wohlhabende war gefragt, sondern ein jeder. „Du sollst an dem Tag, an dem du fastest, nur Brot und Wasser genießen; und nach dem Wert der Speisen, die du verzehren wolltest, berechne die Höhe des Beitrags, den du an jenem Tag ausgeben wolltest, leg es beiseite und gib es einer Witwe oder einem Waisenkind oder einem Armen. Und so sollst du dich demütigen, damit der Beschenkte mit deiner Demut seine Seele sättige und für dich zum Herren bete“, heißt es bei Hermas.20 Ungefähr zur gleichen Zeit empfiehlt Sextus in seiner Sammlung knapper Lebensweisheiten, für die Ernährung der Bedürftigen auf Essen zu verzichten.21 Wie weit die Großzügigkeit bei frühen Christen dann reichte, steht dahin – viele bewahrten sich einen zureichenden Besitz, doch kein Zweifel besteht, dass viele etwas abgaben. Auf jeden Fall wurde der Kreis der Wohltäter entgrenzt und war nicht auf den Kreis der Wohlhabenden beschränkt. Da Gott als der entscheidende Adressat galt, konnte auch eine kleine Spende viel gelten. Vorhanden war allerdings auch eine Variante des Gedankens der Reziprozität: Der Beschenkte soll für den Schenkenden beten, dessen Vorteil am Ende im Zentrum steht, wenngleich nicht in einer allein diesseitigen Perspektive. Entgrenzt wurde auch der Kreis derer, die von den Wohltaten profitieren sollten: Es ging nicht mehr um die Bürger einer Stadt, sondern um jene, die in der Sprache der Christen als Christus selbst oder als der Nächste daherkamen, und es ging darum, wessen diese bedurften. Naheliegend war es, sich vorrangig um die Angehörigen der eigenen Gruppe zu kümmern, und oft genug konzentrierte sich die Fürsorge auf die eigene Gemeinde. Vielleicht hatte die Fürsorge in der Gemeinde auch eine kompensatorische Note: So spielte es vor dem Hintergrund des antiken Euergetismus auch eine Rolle, dass dessen Wohltaten oft im Kontext von Ritualen ergingen. Zur Feier des Demosthenes gehörten, wie bereits erwähnt, Prozessionen; auch die öffentlichen Speisungen waren oft in religiöse Rituale mit umfänglichen Tieropfern eingekleidet, die strenge Christen mieden.22 Ähnlich mochte die Gründung von eigenen Grabbezirken Christen helfen, sich aus der Selbstverständlichkeit traditioneller Rituale zu lösen. Manchen der Bedürfnisse, die christliche Gemeinden 20 21 22

Hermas, Sim. V, 3,7 (55,1–7 Whittaker). S. 267 (p. 270 Wilson), vgl. Finn (s.o. Anm. 19), 1–5. Dazu Leppin (s.o. Anm. 3), 84–92.

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gegenüber den Schwächeren erfüllten, wandten sich Vereine zu, die in der Regel auch einen gemeinsamen Kult pflegten.23 Aber die andere, universalistische, auf die Gesamtheit der Armen bezogene Deutung stand ebenfalls im Raum. Während der klassische Euergetismus die Wohltaten typischerweise Angehörigen und Bürgern zukommen ließ und dabei die soziale Hierarchie abbildete, war der Anspruch vieler Christen universal und orientierte sich durchaus nicht am Bürgerrecht. Bei einer Seuche soll Cyprian seine Gemeinde dazu aufgerufen haben, den Erkrankten ohne Ansehen ihres Glaubens zu helfen.24 Euseb betont, dass Christen während einer Seuchen- und Hungerkatastrophe Ruhm gewonnen hätten, weil sie allen halfen.25 Auch hier gilt: Was tatsächlich geschah, wissen wir nicht, aber der Anspruch war hoch. Die christliche Wohltätigkeit führte somit potenziell zu einer Entgrenzung in zweierlei Hinsicht: in Hinsicht auf den Kreis der Begünstigten und in Hinsicht auf den Kreis der Gebenden. Sie bedeutete Hilfe für viele Einzelne. Für manche implizierte sie auch eindrucksvolle Verzichtsleistungen. Aber sie setzte keineswegs eine Kritik an der Gesellschaft voraus, trotz extremer ökonomischer Ungleichheit und trotz der rigorosen ständischen Gliederung. Selbst die Institution der Sklaverei wurde kaum einmal in Frage gestellt, auch wenn man sie weithin kritisierte.26 Vielmehr ging es allein um den Einzelnen in seiner physischen und in seiner seelischen Not. Dass Not eintreten würde, galt indes als Teil der Lebensrealität im Diesseits. Erst für das Jenseits mochte man Besseres verheißen. So wurde Ungerechtigkeit als Teil der von Gott geschaffenen Ordnung hingenommen. Gerade als Orte sozialer Fürsorge entfalteten die frühchristlichen Gemeinden Attraktivität für die Zeitgenossen, wie selbst manche Gegner zugeben mussten. So spottet Lukian über die in seinen Augen naive Freigebigkeit von Christen.27 Es ist bezeichnend für seine Perspektive, dass es dem Autor unverständlich bleibt, wie jemand ohne den Gedanken des Nutzens im Diesseits etwas geben kann.

23

24 25 26

27

Zur kontroversen Diskussion über die Rolle von Vereinen Benedikt Eckhardt, The Eighteen Associations of Corinth, in: GRBS 56 (2016), 646–662; John S. Kloppenborg, Associations, Christian Groups, and the Place in the Polis, in: ZNW 108 (2017), 1–56. Vgl. Pontius, Vita Cypriani 9 (VS 3, 22,1–24,19 Bastiaesen). Vgl. Eusebius von Caesarea, HE VIIII 8,13f. (GCS 922, 824,24–826,8 Schwartz). S. dazu Ilaria Ramelli, Social Justice and the Legitimacy of Slavery: The Role of Philosophical Asceticism from Ancient Judaism to Late Antiquity, Oxford 2017. Vgl. Lukian, Peregr. 13 (OCT, 192,11–29 Macleod).

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Pointiert wandten die Christen sich hingegen den Armen und Schwachen zu, unabhängig von deren bürgerlichem Status und von deren Möglichkeiten, eine für das im Hier und Jetzt relevante Gegenleistung zu erbringen – das Ideal war jenseitsbezogen. Inbegriff dieser Haltung war die Fürsorge für Witwen und Waisen, die besonders verletzlichen Gruppen in dieser patriarchalischen Gesellschaft, die eines männlichen Schutzes entbehrten.28 Die Syrische Didaskalie ging dabei sehr weit: Ein Christ ohne Kinder soll einen Waisenjungen annehmen, einer mit einem Sohn ein Waisenmädchen, mit der Perspektive einer späteren Heirat.29 Kranke der antiken Welt mochten auf eine Heilung durch ein Wunder hoffen, doch oft konnten sie froh sein, wenn sich überhaupt jemand um sie kümmerte – viele werden in dieser Welt irgendwo verreckt sein, wenn sie keine Familie hatten, die für sie sorgte. In solchen Fällen sprangen manche Christen ein – nicht um einem abstrakten Gleichheitsideal zu genügen, sondern um die Gebote ihres Gottes zu erfüllen. Doch schon früh waren Christen vor Trittbrettfahrern auf der Hut, so heißt es in der Didaché um 100: „Jedem, der dich bittet, gib und fordere es nicht zurück, denn der Vater will, dass allen gegeben wird von seinen Gnadengaben. Selig, wer gibt gemäß dem Gebot; denn untadelig ist er. Wehe dem, der nimmt. Denn zwar, wenn jemand aus Mangel nimmt, wird er untadelig sein; wer aber keinen Mangel hat, wird Rechenschaft ablegen müssen, weshalb er genommen hat und wofür. In Haft genommen, wird er verhört werden hinsichtlich dessen was er getan hat, und er wird nicht hinauskommen von dort, bis er den letzten Heller bezahlt hat.“30 Die letzte Bemerkung bezieht sich natürlich nicht auf ein irdisches Gericht. Andere forderten nüchtern, dass arbeiten solle, wer arbeiten könne (2Thess 3,10). Origenes wendete sich allerdings dagegen, Hilfe unterschiedslos zu gewähren. Es sei zwischen streng und weich Erzogenen zu unterscheiden, nach Geschlecht, nach Alter sowie nach der Fähigkeit, sich selbst zu helfen, und schließlich seien auch die Nachkommen in die Pflicht zu nehmen.31 Der Theologe stellt gleichsam im Sinne eines Subsidiaritätsprinzips die Frage nach der eigenen Verantwortung für die Armut und nach verwandtschaftlicher Hilfe. 28

29 30 31

Vgl. Jens-Uwe Krause, Witwen und Waisen im Römischen Reich (HABES 16–19), 4 Bde., Stuttgart 1994/5. S. Syrische Didaskalie (176,13–18 Vööbus = 17, 87,13–19Fl). Didaché 1,5 (FC 1, 100,11–102,6 Schöllgen). S. Origenes, Comm. Matth. Ser. 61 (GCS 38, 142 Klostermann/Treu).

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Die Forderung, großzügig zu geben, und das nicht nur einmal, richtete sich besonders an Reiche, wenn sie denn zu den Christen stießen. Über deren Rolle reflektiert etwa Clemens von Alexandria, der in seiner Schrift mit dem verdeutschten Titel Welcher Reiche wird gerettet werden? das Gleichnis vom reichen Jüngling interpretiert. Ausdrücklich will Clemens die Reichen von ihrer Angst vor dem Verlust des Seelenheils befreien.32 Ja, es sei auch für sie möglich, ins Reich Gottes zu gelangen, aber schwieriger als für andere. Man solle, so sagt er wie manch ein anderer antiker Philosoph auch, Herr, nicht Sklave seines Vermögens sein und brauche gar nicht alles zu verkaufen. Armut sei kein Wert an sich, sondern nur, wenn sie im Dienste Gottes gewählt werde. So hätten sich ja schon NichtChristen aus philosophischen Gründen oder aus Eitelkeit in freiwillige Armut begeben. Entscheidend sei es, das Ziel des ewigen Lebens im Auge zu behalten (q.d.s. 11). Wenn Clemens feststellt, dass auch Nicht-Christen Besitz preisgaben, so denkt er an die ruhmgetriebenen Euergeten, aber auch an den demonstrativen Besitzverzicht der Kyniker. Dieser Verzicht war philosophisch begründet, jedoch für den christlichen Vordenker nichts wert im Vergleich zu den Lehren des wahren Glaubens. Für reiche Christen bilden großzügige Gaben den geeigneten Weg, sofern diese auf Dauer angelegt sind und sich nicht in einzelnen Akten der Wohltätigkeit erschöpfen (q.d.s. 32): So kann ein Reicher ins Himmelreich gelangen. Cyprian legte an vielen Stellen und sogar in einer speziellen Schrift Über Gutestun und Almosen in frühchristlicher Tradition dar, dass ein Christ ohne Rücksicht auf die eigene Zukunft oder seine Kinder oder den Wunsch, sich Klienten zu schaffen, indes im Vertrauen auf Gott, reichlich geben solle, und diese Aufforderung richtete sich an die Armen genauso wie an die Reichen. Wichtiger als ein reiches Erbe sei für die Kinder das väterliche Vorbild.33 Ganz deutlich ist, wie sich der Autor vom Konzept des Euergetentum absetzen will, wobei es vor allem um dessen Motiv – das Streben nach Ruhm – geht. Sein Denken richtet sich auf die Erlangung des Heils, und auf diesem Weg können Almosen die Buße ersetzen. Bemerkenswerterweise verwendet Cyprian das Wort munus, das den Akt des Euergeten bezeichnen kann, mehrdeutig, so dass die christliche Botschaft in eine Semantik der Euergesie gekleidet wird.34 32 33 34

Vgl. Clemens von Alexandrien, q.d.s. 3,1 (GCS 173, 161,10–16 Stählin). Vgl. Cyprian, Eleem. 19 (CCSL 3A, 67,374–394 Simonetti/Moreschini). Vgl. dazu im Einzelnen Andreas Müller, Do ut des – evangelische Caritas bei Cyprian von Karthago, in: Jan Lohrengel/Andreas Müller (Hgg.), Entdeckungen des Evangeliums. FS für Johannes Schilling (FKDG 107), Göttingen 2017, 27–46, inbes. 36–38.

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Zugleich bedeutete dies, dass sich die Möglichkeiten für Reiche, ihr ökonomisches Kapital innerhalb der Gemeinden in soziales Kapital umzusetzen, reduzierten. Schon der Jakobusbrief trat Ansprüchen von Reichen entgegen und warnte davor, diese zu bevorzugen (2,2-4). Insgesamt gelang es Christen zumindest in den ersten Jahrhunderten angesichts der Bedeutung anderer Formen der Autorität offenbar weitgehend zu verhindern, dass sich ökonomischer Vorrang in eine herausragende Stellung in Gemeinden ummünzen ließ. So waren andere Kriterien bei Bischofswahlen ausschlaggebend – obwohl man etwa im Falle Cyprians wohl seine Wohlhabenheit auch im Blick hatte und er später seine materiellen Ressourcen, die ihm irgendwie geblieben waren, gerne nutzte.35 Wohltätigkeit wurde im Laufe der ersten Jahrhunderte nicht nur die Sache des Einzelnen, sondern ganzer Gemeinden. Wenn es darum ging, die Möglichkeiten des Einzelnen einzuschränken, über Reichtum an Prestige in den Gemeinden zu gewinnen, war die Bildung von Gemeindekassen ein geeignetes Mittel. Sie gelangten im Zuge des Prozesses der Sazerdotalisierung typischerweise unter die Kontrolle des Bischofs und erlaubten die Unterstützung der Ärmeren und Bedrängten, schufen ihm aber auch eine Anhängerschaft, die man mit den Klientelen vergleichen kann, die der klassische Euergetismus hervorbrachte.36 Ausführlich äußert sich Tertullian im Apologeticum zur Rolle gemeindlicher Kassen, sicherlich in idealisierender Form. Dabei bildet nicht das Euergetentum den Kontrast, sondern gewöhnliche Vereine, deren Funktionäre bei Amtsantritt Gebühren zahlen mussten und wo kräftig gefeiert wurde: „Auch wenn es eine Art von Kasse gibt, wird sie nicht aus Amtsantrittsgebühren zusammengebracht, als wäre Glaube käuflich. Ein bescheidenes Scherflein steuert ein jeder bei an einem bestimmten Tag im Monat oder, wann er will und falls er überhaupt will und falls er überhaupt kann. Denn niemand wird gezwungen, sondern man zahlt aus freien Stücken. Dies sind gewissermaßen Depositen der Frömmigkeit. Denn davon wird nichts für Schmausereien und Trinkgelage oder unnütze Fressereien ausgegeben, sondern für den Unterhalt und das Begräbnis Bedürftiger, für Jungen und Mädchen, die kein Geld und keine Eltern 35

36

Hartmut Leppin, Zu den Anfängen der Bischofsbestellung, in: Andreas Fahrmeir (Hg.), Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen. Institutionen, Semantiken, Praktiken (HZ Beih. 70), Berlin/Boston 2017, 33–53. S. Peter Brown, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire, Hanover 2002; vgl. Susan R. Holman, The Hungry are Dying. Beggars and Bishops in Roman Cappadocia, Oxford/New York 2001, die auch die Grenzen bischöflicher Handlungsmöglichkeiten betont.

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mehr haben, dann für alt gewordene Diener, ebenso für Schiffbrüchige und für diejenigen, die in Bergwerken oder auf Verbannungsinseln oder in Gefängnissen – vorausgesetzt, sie sind dort wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft Gottes – zu Pflegekindern ihres Bekenntnisses werden.“37 Tertullian betont, welche große Zahl von Aufgaben christliche Gemeinden zu schultern suchten, verweist aber auch auf eine Organisation mit einem regelmäßigen, wenn auch nicht zwingenden Zahlungstermin. Übrigens sorgten klassische Vereine ebenfalls oft für Bestattungen und bisweilen für Familienangehörige. Als auch die politisch Mächtigen sich als Christen definierten und sich damit die Sichtbarkeit der Christen deutlich verstärkte, änderte sich vieles. Namentlich bestimmte Bischöfe nutzten hergebrachte Praktiken der Eliten stärker als zuvor. Viele profilierten sich als Wohltäter und banden damit Menschen an sich. Sie gaben sich als Vertreter und Freunde der Armen; das System der Patronage war auch bei ihnen gegenwärtig: Sie schützten andere und verlangten von ihren Klienten Treue. Insofern bewegten sie sich in der Tradition des Euergetismus: Sie stärkten ihre Macht durch eine öffentlich erkennbare Großzügigkeit, die teils auf privatem Eigentum beruhte, teils auf lang angesammelten, aber oft den Bischöfen zugerechneten Kirchenbesitz, teils auf Spenden. In nicht wenigen Fällen konnten sie auf vorhandene Institutionen aufsetzen.38 Dabei entstanden auch neue Institutionen, dauerhafte Fürsorgereinrichtungen für Fremde und Kranke, in denen diesen sogar, für die Antike ungewöhnlich, medizinische Hilfe zuteil wurde.39 Basileios von Caesarea errichtete die groß dimensionierte Basileias, die in einem klösterlichen Kontext gleichermaßen für Fremde, Kranke und Arme sorgte.40 Und es gab durchaus, etwa im Umfeld Rabbulas von Edessa, die Forderung, allein solche Bauten statt Kirchen zu errichten.41 Auf diese Art und Weise wurde die christliche Wohltätigkeit noch fester an die Institution der Kirche gebunden. Der altvertraute Mechanismus, mit Großzügigkeit Loyalität zu erwerben, funktionierte weiterhin, auch unter christlichem Vorzeichen, und er führte oft auch dazu, dass Gegner ausgeschlossen wurden, trotz aller universalen Ansprüche. Eine 37 38

39 40

41

S. Tertullian, Apol. 39, 5 f. (CCSL 1, 150,19–151,31 Dekkers u.a.). Vgl. Andreas Müller, Die Christianisierung staatlicher Wohlfahrtsinstitutionen im spätantiken Rom am Beispiel von S. Maria in Cosmedin, in: ZKG 120 (2009), 160–186. Vgl. Finn (s.o. Anm. 19), 82–88. Dazu Andreas Müller, „All das ist Zierde für den Ort...“ Das Diakonisch-karitative Großprojekt des Basileios von Kaisareia, ZAC 13 (2009), 452–474. Vgl. Anonymus, Vita Rabbulae 38 (p. 56 Phenix Jr./Horn).

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Rhetorik der Wohltätigkeit bestimmte viele bischöfliche Predigten, und dem korrespondierte in einem gewissen, schwer bestimmbaren Umfang auch die Praxis. Doch änderte dies nichts an der gravierenden strukturellen Armut im Römischen Reich, deren Beseitigung auch gar nicht das Ziel der Hilfe war. Christliche Konfessionen rangen darum, wer am besten christliche Werte verkörperte. So betont im sechsten Jahrhundert Johannes von Ephesos, der zu den Bischöfen der verfolgten Konfession der Miaphysiten gehörte, dass seine Leute die besten Spitäler in Konstantinopel betreuten.42 Dieses Wohltätertum ließ sich übrigens als Philanthropia benennen, so wie die Haltung der nicht-christlichen Euergeten. Sie ließ sich jetzt mit dem Wunsch begründen, Gnade vor Gott zu erlangen, einen Schatz im Himmel zu gewinnen. Manche Stifter verzichteten darauf, ihren Namen zu nennen. Andere inszenierten vor einem christlichen Hintergrund ihre soziale Überlegenheit. Ein zentrales Element des Euergetismus war die Errichtung von religiösen Gebäuden. Kirchenbau ist bekanntlich eine späte Entwicklung unter Christen. Was immer Hauskirchen waren, sie bedeuteten nicht, dass der Besitzer des Hauses (oder Raumes), wenn es denn mehr als Provisorien waren, dann auch zwingend Gemeindeleiter wurde. Doch im dritten Jahrhundert wuchs die Zahl der spezifisch und kontinuierlich für christliche Gottesdienstzwecke genutzten Gebäude, insofern die Zahl der Kirchen, die oft auch wertvolles liturgisches Gerät und andere mobile Güter bargen, wie man aus den Berichten der Verfolgungszeit ersieht. Konstantin begann mit der Stiftung von Kirchenbauten in Rom und anderswo, vor allem im Heiligen Land und stattete die Kirchen großzügig aus und seine Nachfolger taten es ihm nach. Auch andere wohlhabende Christen stifteten Kirchen und ließen das in Inschriften feiern. All das schloss an den klassischen Euergetismus an. Daher erscheint es auch, das sei am Rande erwähnt, problematisch, aus Kirchenbauten auf die Zahl der Gläubigen zu schließen. Es konnte hier um die Erfüllung von Repräsentationsbedürfnissen gehen.43 Aufschlussreich sind die Entwicklungen beim Umgang mit wertvollem liturgischen Gerät, das viele reichere Christen stifteten. Erinnert sei etwa an Ambrosius von Mailand oder an Rabbula von Edessa: Beide Bischöfe, 42 43

Vgl. Johannes Ephesinus, Historia Ecclesiastica III 2,15 (76,28–77,3 Br). Dazu Graydon Snyder, Ante Pacem: Archaeological Evidence of Church Life Before Constantine, Mâcon (1985) 22003; Sible de Blaauw, Art. Kultgebäude C. Christlich, in: RAC 22 (2008), 261–393.

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so unterschiedlich sie waren, drangen in bestimmten Situationen darauf, das vorhandene liturgische Gerät einzuschmelzen, um den Ertrag für caritative Zwecke zu nutzen. Dagegen erhob sich jeweils massiver Widerstand vonseiten der Vornehmen. Im Falle des Ambrosius spricht vieles dafür, dass er homöische Stifter aus dem Gedächtnis tilgen wollte; Rabbula hatte vermutlich die Absicht, gegen die immens starke aristokratische, wohl tendenziell bardasainitische Tradition an seinem Bischofssitz anzugehen.44 Hier zeigt sich das interessante Phänomen, dass die Tradition des Euergetismus innerhalb des kirchlichen Kontextes mit den Ansprüchen des Bischofs kollidiert, und zwar einerseits in konfessioneller Hinsicht, andererseits in machtpolitischer: Kirchlicher Euergetismus erlaubte es nicht-klerikalen Eliten, in Kirchen sichtbar zu werden, was von Bischöfen als Konkurrenz wahrgenommen werden konnte. Für viele Christen war es offenkundig nicht schwierig, die Tradition des ruhmbringenden Euergetismus mit kirchlichen Interessen zu verbinden; dieselbe Person konnte im Sinne klassischer Euergesie und christlicher Mildtätigkeit aktiv sein.45 Aber das war ein vornehmlich spätantikes Phänomen. Meine Ausführungen, so holzschnittartig sie notgedrungen waren, haben aber vielleicht doch deutlich gemacht, dass man christliches Wohltätertum und bürgerschaftsbezogenen Euergetismus deutlich unterscheiden muss, in Hinblick auf – sozialen Kontext (der Euergetismus war ein Elitenphänomen, das christliche Wohltätertum breit gelagert) – soziale Funktion (Euergetentum dient der sozialen Repräsentation und der Akzeptanz der Eliten, christliches Wohltätertum ist auf das Ergehen von Individuen bezogen) – Rechtfertigungen und Motive (Diesseitsbezogenheit gegen Jenseitsbezogenheit). Performative Ähnlichkeiten begründen noch keine funktionale Äquivalenz, wenngleich sich zeigt, dass beide Phänomene zusammenkommen konnten und sich wechselseitig beeinflussten46; doch blieb, was dem 44

45 46

Vgl. Thomas Sternberg, „Aurum utile“. Zu einem Topos vom Vorrang der Caritas über Kirchenschätze seit Ambrosius, in: JbAC 39 (1996), 128–148; Anonymus, Vita Rabbulae 19 (p. 31 Phenix Jr./Horn). Betont von Brown (wie Anm. 19). Diesen Aspekt betont Michele Renee Salzmann, From a Classical to a Christian City: Civic Euergetism and Charity in Late Antique Rome, Studies in Late Antiquity 1 (2017), 65–85.

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Euergetismus glich, aus der Sicht christlicher Wohltätigkeit plausibel kritisierbar und war dann doch etwas ganz anderes als zuvor. Die Motivlage des Einzelnen war gewiss komplex, und es ist unmöglich, Eitelkeit, Machtanspruch, Gewissensnot und eine Haltung der Wohltätigkeit im Einzelfall zu trennen. Faktisch wird an vielen Stellen weiterhin Wohltätertum der Stabilisierung von Ungleichheit gedient haben und schlossen Bischöfe an das System der Patronage an, so dass sie von ihren Gemeindegliedern durchaus auch im Diesseits Treue erwarteten. Viele Christen werden die hohen ethischen Ansprüche ihrer Lehren nicht erfüllt haben. Schreckliche Armut blieb, wie gesagt, bestehen. Und dennoch: Die christliche Lehre, die in autoritativen Texten niedergelegt war, blieb für Jahrhunderte ein Stachel im Fleisch einer wohlhabenden, mit den Eliten wohlintegrierten Kirche und sie facht immer neu die Frage nach der Universalität christlicher Gaben an. Sollte Bedürftigkeit im Zentrum stehen oder aber sozialer Status oder gar ethnische bzw. religiöse Zughörigkeit, wie es intuitiv für viele nahelag? Nachdem die christlichen Argumente in der Welt waren, ließ sich diese Frage schwerer beantworten als in einer Welt, die von Bürgeridentitäten her dachte.

Misericordia secundum naturam? „Christliche Anthropologie“ und spätantike Wohltätigkeit

ULRICH VOLP (Mainz)

„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe.“1

1. EINLEITUNG Der Hannoversche Hofprediger, Oberkonsistorialrat und Loccumer Abt Gerhard Uhlhorn beginnt sein 1882 erstmals erschienenes Werk zur „Christliche[n] Liebestätigkeit“ mit einem Verweis auf das Herrenwort Joh 13,34: „Unser Herr nennt das Gebot der Liebe, welches er seinen Jüngern gibt, ein neues Gebot (Joh 13,34). Das war es, denn die Welt vor Christo ist eine Welt ohne Liebe. Mit vollem Bewußtsein hebt Lactanz, der in der Zeit schrieb, als das Christenthum nach Jahrhunderte langem Kampfe den Sieg errungen, diesen Unterschied zwischen der christlichen und heidnischen Welt hervor. ,Die Barmherzigkeit und die Humanität sind Tugenden, die den Gerechten und Verehrern Gottes eigentümlich sind. Davon lehrt die Philosophie nichts‘2.“3

Das Herrenwort von der Bruderliebe und das frei formulierte Kirchenvaterzitat des Laktanz belegen beide nach Uhlhorn, dass die Antike eine Welt ohne Nächstenliebe gewesen sei. Erst das Christentum habe mit seiner neuen Sicht auf Gott und die Menschen die Wohltätigkeit, um die es in diesem Band geht, in die Welt gebracht. Aus heutiger Sicht ist dieses Bild zweifellos zu einfach.4 Uhlhorn selbst musste einen erheblichen Aufwand betreiben, um die grundsätzliche Verschiedenheit von 1 2 3

4

Joh 13,34a. Vgl. Lact., Inst. VI 10. Gerhard Uhlhorn, Christliche Liebestätigkeit, Stuttgart (1882) 21895 = Nachdr. Darmstadt 1959, 3. Vgl. kritisch zu Uhlhorn den Beitrag von Andreas Müller in diesem Band, 2–7.

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antikem Euergetismus beziehungsweise Philanthropie und christlicher Nächstenliebe zu erläutern. Er findet die Differenz schließlich in der Anthropologie, dem Blick auf den Menschen an sich. Dies sei die entscheidende Frage, in der sich christliche Theologie und heidnische Philosophie diametral voneinander unterschieden: „Alle Liebesthätigkeit setzt voraus, daß der Mensch, dem man Liebe erweist, für sich etwas ist und zwar nicht vorübergehend nur, sondern ewig, nicht als Exemplar der Gattung, sondern als Persönlichkeit, die als solche etwas bedeutet, was keine andere bedeutet. Erst als im Christentum der unendliche Wert jeder Menschenseele erkannt war, daß jede einzelne mehr wert ist, als die ganze Welt, da war der Boden gegeben, aus dem eine wirkliche Liebesthätigkeit erwachsen konnte.“5

Es wäre mindestens eines eigenen Aufsatzes würdig, diese Aussage Uhlhorns genauer auf ihre Wurzeln und Wirkungen hin zu untersuchen. Adolf von Harnacks berühmte Formulierung vom „unendlichen Wert der Menschenseele“ in seinen späteren Vorlesungen zum „Wesen des Christentums“6 mag man schon genauso mithören wie reformatorische Differenzierungen vom Menschsein des Menschen als „Christperson“ und als „Weltperson“ im Anschluss an Luthers Definition von der Freiheit eines Christenmenschen.7 An dieser Stelle soll es aber darum gehen, einen Blick auf das Verhältnis von Anthropologie und Wohltätigkeit bei den Kirchenvätern und in der Alten Kirche zu werfen. Dies kann nur in exemplarischer Weise geschehen, umso mehr, als die lebhaften Diskussionen über die Väteranthropologie und die antike christliche Ethik gerade der letzten Jahre noch einmal die Komplexität und Vielgestaltigkeit der Fragestellung deutlich gemacht haben.8 Es soll also nicht um die Beantwortung der Frage gehen, die Uhlhorn oder später etwa Henry Chadwick9 5 6

7 8

9

Uhlhorn (s.o. Anm. 3), 26f. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, hg. von Claus-Dieter Osthövener, (Leipzig 1900) Tübingen 32012, 43–51. Martin Luther, Von der Freyheyt eyniß Christen menschen (WA 7, 20–38). Vgl. z.B. (mit weiterer Lit.) Ulrich Volp, „Binde die Gebote auf Deine Seele“. Zum Einfluss anthropologischer Begrifflichkeiten der Septuaginta auf die patristische Ethik, in: Johan Cook/Martin Rösel (Hgg.), Toward a Theology of the Septuagint, Stellenbosch Congress of the Septuagint, 2018 (SCS 74), Atlanta 2020, 397–420; Ders., Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche (SVigChr 81), Leiden/ Boston 2006; Ders., Der Mensch. Kirchen- und theologiegeschichtliche Perspektive, in: Jürgen van Oorschot (Hg.), Mensch (ThTh 11), Tübingen 2018, 105–140. Vgl. dazu nur etwa Henry Chadwick, Christentum und Humanität, Tübingen 1992; Ders., Art. Humanität, in: RAC 16 (1994) 663–711.

MISERICORDIA SECUNDUM NATURAM?

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umgetrieben hatte, ob das Christentum die antike Welt wirklich besser gemacht hat. Vielmehr sollen die folgenden Beispiele aus der Vätertheologie helfen, eine angemessene Frage zu formulieren, unter der das Verhältnis von Anthropologie und Wohltätigkeit in der christlichen Spätantike sinnvoll untersucht werden kann. Gibt es vielleicht sogar so etwas wie einen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Perspektive, unter der der Mensch in einer christlichen Wohltätigkeitsethik in Theologie und Praxis verstanden wurde? Ich will mit zwei lateinischen Autoren beginnen, Laktanz und Ambrosius, die sich, von ähnlichen geistigen und gesellschaftlichen Überlieferungen geprägt, ausführlich mit Fragen der Anthropologie und der (Sozial-)Ethik auseinandergesetzt haben. Es folgt der Versuch, diese anthropologischen Grundeinsichten in Quellen zur gemeindlichen Praxis wiederzufinden, und schließlich erlaube ich mir als eine Art „Gegenprobe“ einen Blick auf den Versuch Julians, mit seiner Wiederbelebung des paganen Kultes so etwas wie ein Gegenmodell zur institutionalisierten christlichen „Wohltätigkeitsreligion“ zu entwerfen. 2. „ANTHROPOLOGIE“ UND WOHLTÄTIGKEIT 2.1. Laktanz (ca. 250–325) Es ist kein Zufall, dass Gerhard Uhlhorn seine apologetisch motivierte Geschichte der christlichen Liebestätigkeit mit Laktanz beginnen lässt, denn jede Abhandlung zu diesem Thema wäre ohne Laktanz unvollständig. Seine anthropologischen Ausführungen in De opificio Dei und in den Institutionen gehören zum Kern seiner Apologie des Christentums und der religio überhaupt. Seine Theologie gilt manchen10 als die erste westliche theologische Anthropologie. Der Mensch unterscheidet sich für Laktanz von den Tieren durch seine Vernunft, durch die Sprache, durch seine Fähigkeit zu Abwägung und Überlegung, durch seinen aufrechten Gang (status rectus), der ihn zum Himmel schauen lässt, durch die Fähigkeit zur Unterscheidung von Gut und Böse und damit zum wohltätigen Handeln und zur religio, der wahren Gottesverehrung: „Deshalb ist das höchste Gut des Menschen nur in der Religion zu finden. Denn alle anderen Dinge, selbst solche, die man für Eigentümlichkeiten des Menschen hält, entdeckt man auch bei den übrigen Tieren [Sprache 10

So sinngemäß Jacques Fountaine im Vorwort zu der Studie von Michel Perrin, L’homme antique et chrétien: L’anthropologie de Lactance, 250–325 (Théologie historique 59), Paris 1981, 9.

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und Konversation, Lachen, Brautwerbung, Vorratshaltung, intelligenter Selbstschutz, List, Haus- und Festungsbau, Befehlsstrukturen etc.] … Kann ihnen irgendjemand Vernunft absprechen, wenn sie sogar den Menschen selbst täuschen können? … Also ist es unsicher, ob er diese Dinge, die dem Menschen zugeschrieben werden, nicht mit anderen Lebewesen gemein hat. [Die anderen Lebewesen] haben aber mit Sicherheit keinen Anteil an der Religion … Daraus ergibt sich, dass [der Mensch] Gott erkennt, der damit [dem Menschen] gewissermaßen in Erinnerung ruft, woher er stammt.“11

Und weiter: „Ich habe gesagt, was man Gott schuldet. Nun werde ich sagen, was man dem Menschen zu geben hat, obwohl genau das, was man dem Menschen gibt, Gott gegeben wird, denn der Mensch ist Bild Gottes. Jedenfalls ist die erste Pflicht der Gerechtigkeit (iustitia) Vereinigung mit Gott, die zweite – mit dem Menschen. Aber die erste nennt man Religion, die zweite nennt man Barmherzigkeit (misericordia) oder Menschlichkeit (humanitas).“12

Das richtige Verhältnis der Menschen untereinander besteht für Laktanz aus gegenseitiger Unterstützung, die nicht auf einen altruistischen Überlebensreflex zurückgeführt werden darf, denn sie basiert auf Gottes Schöpfungswillen. Wohltätigkeit darf nicht Mittel zum Zweck sein, es reicht auch nicht aus, sie als Elitetugend für angehende Politiker neben Klugheit, Integrität und clementia zu stellen, wie man das zum Beispiel Cicero unterstellt hat,13 auf den sich Laktanz immer wieder bezieht.14 Nichts anderes als humanitas und iustitia machen für Laktanz die schöpfungsgemäße Existenz der Christen aus: „Deshalb ist die Menschlichkeit (humanitas) zu bewahren, wenn wir mit Recht ,Menschen‘ genannt werden wollen. Denn was sonst meint die 11

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Summum igitur hominis bonum in sola religione est. nam cetera, etiam quae putantur esse homini propria, in ceteris quoque animalibus reperiuntur … potest aliquis negare illis inesse rationem, cum hominem ipsum saepe deludant? … incertum igitur est utrumne illa quae homini tribuuntur communia sint cum aliis uiuentibus, religionis certe sunt expertia … ex quo efficitur ut is agnoscat deum, qui unde ortus sit quasi recordetur. Lact., Inst. III 10 (CSEL 19, 202,3–5.19–203,2.12–14 Brandt). Dixi quid debeatur deo: dicam nunc quid homini tribuendum sit; quamquam id ipsum quod homini tribueris, deo tribuitur, quia homo dei simulacrum est. sed tamen primum iustitiae officium est coniungi cum deo, secundum, cum homine. set illut primum religio dicitur, hoc secundum misericordia uel humanitas nominatur. Lact., Inst. VI 10 (CSEL 19, 514,6–11 Brandt). Vgl. z.B. bereits pointiert Max Schneidewin, Die antike Humanität, Berlin 1897, 445, der von der „Lebensansicht und [dem] Gesinnungsprogramm der Elite der römischen Gesellschaft von den Scipionen bis auf Cicero“ spricht. Vgl. dazu etwa Cicero, De officiis I 21f. u.ö. Lact., Inst. V 14f. u.ö.

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Bewahrung der Menschheit, außer einen anderen Menschen zu lieben, weil er Mensch ist und genauso ist, wie wir selbst sind? … Deshalb muss es naturgemäß sein, anderen Menschen nützlich zu sein. Derjenige, der dies nicht tut, beraubt sich nämlich der rechtmäßigen Bezeichnung ,Mensch‘, denn es ist eine Pflicht der Menschlichkeit (humanitas), der Bedürftigkeit und Gefährdung von Menschen abzuhelfen … Deshalb ist die Sentenz des Plautus zu verabscheuen: ,Wer dem Bettler etwas zu essen gibt, verdient Böses, denn das, was er gibt, verschwindet, und es bringt für jenen ein Leben zum Elend hervor‘15.“16

Hendrik Bolkestein17 hat auf die Bedeutungsverschiebung hingewiesen, die der humanitas-Begriff bei Laktanz bewusst gegenüber Cicero erfährt. Cicero ist ausdrücklicher Bezugspunkt für Laktanz,18 und so wird aus der zivilisierten Milde, Billigkeit, Höflichkeit, Freundlichkeit, Freigebigkeit, die Cicero mit humanitas verbindet,19 bei Laktanz etwas, was geradezu synonym mit der δικαιοσύνη der Bergpredigt ist. Wie sehr diese ethische Zielvorgabe mit seiner Anthropologie vermengt ist, zeigt schon die Schwierigkeit, beides voneinander zu trennen,20 wobei das Nebeneinander von biblischen und paganen Überlieferungen keineswegs zu einer einheitlichen Linie führt.21 15 16

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Plautus, Trinummus II 2,58. Conseruanda est igitur humanitas, si homines recte dici uelimus. id autem ipsum, conseruare humanitatem, quid aliut est quam diligere hominem, quia homo sit et idem quod nos sumus?... prodesse igitur homini secundum naturam sit necesse est. quod qui non facit, hominis se appellatione despoliat, quia humanitatis officium est necessitati hominis ac periculo subuenire … hinc est illa Plauti detestanda sententia: male meretur qui mendico dat quod edat: nam et illut quod dat perit et illi producit uitam ad miseriam. Lact., Inst. VI 11,1 (CSEL 19, 519,3–6.9–12.520,8–12 Brandt). Hendrik Bolkestein, Humanitas bei Laktanz, in: Theodor Klauser (Hg.), Pisciculi. Studien zur Religion und Kultur des Altertums. FS Franz Joseph Dölger (AuC.E 1), Münster 1939, 62–65. Z.B. Lact., De ira Dei 7f.; De opificio Dei V 6 u.ö. Dabei lässt sich im Werk Ciceros auch eine gewisse Entwicklung seines Gerechtigkeitsund Humanitätsbegriffs feststellen, ausgehend von der dem Kulturbegriff verschriebenen Schrift De inventione, in der die Gerechtigkeit als Ergebnis des pflichtgemäßen Gebrauchs der menschlichen ratio erscheint, über die Gerechtigkeit als militärische Führungstugend in Pro Roscio Amerino und der Entfaltung eines politischen Gerechtigkeitskonzeptes in De re publica bis hin zum Tugendprogramm des Spätwerks De officiis. Ganz deutlich ist das in der Arbeit von Michel Perrin (s.o. Anm. 10), dem Herausgeber von De opificio Dei in den Sources Chrétiennes 213f. Ziel des Buchs ist ursprünglich eine isolierte Herausarbeitung der laktantischen Anthropologie, aber letztendlich ist dabei eine Studie über seine Ethik herausgekommen. Für Antonie Wlosok war auf Seiten der dualistischen Aussagen neben der klassischen Bildungstradition auch leibfeindliches gnostisches Gedankengut am Werk: Antonie

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Laktanz zufolge befähigt die menschliche ratio zur Gotteserkenntnis. Dies beweist ihre göttliche Herkunft, denn Gleiches kann Gleiches erkennen, so kann das Göttliche das Göttliche erkennen. Im Gegensatz zu Cicero, der ebenfalls davon ausging, nur der Mensch habe Kenntnis (notitia) von Gott, ergibt sich das logisch aus der göttlichen Herkunft der ratio.22 Ort der ratio aber ist die Seele (anima), die ihr „Woher“ nur und ausschließlich in Gott hat: „Der Körper kann wohl von einem Körper geboren werden, weil beide Teile etwas dazu beitragen; von den Seelen aber kann die Seele nicht stammen, weil sich von etwas Immateriellem und Unverstehbarem nichts abscheiden kann. So fällt die Macht zur Bildung der Seelen einzig und allein Gott zu.“23

Die Seele ist nicht nur göttlicher Herkunft, sondern auch unsterblich: „Weil es notwendig ist, dass alles, was lebendig ist und immer durch sich selbst bewegt wird und weder gesehen noch berührt werden kann, ewig ist.“24

Damit ist auch das Wohin des Menschen klar und eindeutig. Während die Lehren der Philosophen ohne überzeitliche Folgen blieben, habe die christliche Lehre mit der Unsterblichkeit, die der christliche Gott alleine gewähren kann, einen klaren Zielpunkt.25 Den Philosophen mangelte es an der göttlichen Offenbarung, durch die die wahre Religion erkannt werden kann.26 Nur mit Hilfe des menschlichen Körpers können Tugend und Wohltätigkeit ermöglicht und kann damit Unsterblichkeit durch den Menschen erworben werden.27 All dies gehört zur Ausübung von religio, zu der der Mensch verpflichtet ist, wie er durch seine ratio erkennen kann: Religio, pietas und iustitia gehören genauso zusammen wie

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Wlosok, Laktanz und die philosophische Gnosis. Untersuchungen zu Geschichte und Terminologie der gnostischen Erlösungsvorstellung (AHAW.PH 1960/2), Heidelberg 1960. Vgl. zusammenfassend Volp, Würde (s.o. Anm. 8), 210–219. Lact., De ira Dei 7. Corpus enim ex corporibus nasci potest, quoniam confertur aliquid ex utroque, de animis anima non potest, quia ex re tenui et inconprehensibili nihil potest decedere. Itaque serendarum animarum ratio uni ac soli deo subiacet. Lact., De opificio Dei XIX 2–3 (SC 213, 208,5–9 Perrin). Quoniam quidquid uiget moueturque per se semper nec uideri aut tangi potest, aeternum sit necesse est. Lact., De opificio Dei XVII 1 (SC 213,198,3–200,5 Perrin). Vgl. zu diesem Erkenntnisweg etwa Serafino Prete, Der geschichtliche Hintergrund zu den Werken des Laktanz, in: Gym. 63 (1956) 365–382.486–509. Lact., Inst. I 1,6; Inst. I 1,19; Inst. II 3,21–23; Inst. III 27,15; Inst. III 30,7. Lact., Inst. II 12,6f; VII 5,27 u.ö.

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der Glauben an den Schöpfergott und seine Verehrung durch seine Geschöpfe. Hier ist gewissermaßen eine „römische“ Wendung der Anthropologie zu beobachten: Der Mensch ist zur religio verpflichtet auf Grund seines Verhältnisses zu Gott. Es ist eine Beziehung, die der zwischen Sohn und pater familias in der römischen Sozialstruktur entspricht.28 Laktanz verwendet regelmäßig die Gottesprädikation pater et dominus als die christliche Gottesanrufung. Damit wird die Anthropologie paränetisch gewendet:29 „Erste Aufgabe der Gerechtigkeit aber ist es, Gott zu erkennen, ihn als Herrn (dominus) zu fürchten und als Vater (pater) zu lieben. Denn derselbe Gott, der uns geschaffen hat, der uns mit belebendem Geist beseelt hat, der uns nährt und erhält, hat gegen uns nicht bloß als pater, sondern auch als dominus die licentia zur Züchtigung und die potestas über Leben und Tod; daher schuldet ihm der Mensch eine doppelte Ehre, und zwar Liebe mit Furcht. Zweite Pflicht der Gerechtigkeit ist es, dass wir den Menschen als Bruder anerkennen. Wenn derselbe Gott uns gemacht hat und alle universal unter gleicher condicio zur Gerechtigkeit und zum ewigen Leben geschaffen hat, so sind wir durch brüderliche Zusammengehörigkeit miteinander verbunden. Wer diese nicht anerkennt, ist ungerecht.“30 28

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Dies hat eine Parallele in dem römischen Verständnis des Zusammenhangs zwischen der Wohlfahrt des Staates und einem Kaisertum, das sich um einen wahren, richtigen und korrekten (christlichen) Kult sorgt, wie es beim späten Laktanz zutage tritt. Religio, pietas und iustitia gehören genauso zusammen wie der Glauben an den Schöpfergott und seine Verehrung durch seine Geschöpfe. Vgl. dazu Antonie Wlosok, Römischer Religions- und Gottesbegriff in heidnischer und christlicher Zeit, in: AuA 16 (1970), 39–53 (danach zit. = Dies., Res humanae. Res divinae. Kleine Schriften hg. von Eberhard Heck und Ernst A. Schmidt (BKAW.NF 2/84), Heidelberg 1990, 116–136); Eberhard Heck, ΜΗ ΘΕΟΜΑΧΕΙΝ oder: Die Bestrafung des Gottesverächters, Frankfurt/ Bern 1987; Wolfram Kinzig, Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der alten Kirche bis Eusebius (FKDG 58), Göttingen 1994, 508–517. Vgl. dazu vor allem Wlosok, Laktanz (s.o. Anm. 21), 236 u.ö., während Perrin (s.o. Anm. 10) diesen Aspekt ebenso wie den wichtigen Abschnitt Lact., Opif. 19, erstaunlicherweise kaum berücksichtigt. Vgl. dazu außerdem ausführlich Wolfram Winger, Personalität durch Humanität. Das ethikgeschichtliche Profil christlicher Handlungslehre bei Laktanz. Denkhorizont – Textübersetzung – Interpretation – Wirkungsgeschichte (Forum Interdisziplinäre Ethik 22), 2 Bde. Frankfurt u.a. 1999. Primum autem iustitiae officium est deum agnoscere eum que metuere ut dominum, diligere ut patrem. idem enim qui nos genuit, qui uitali spiritu animauit, qui alit, qui saluos facit, habet in nos non modo ut pater, uerum etiam ut dominus licentiam uerberandi et uitae ac necis potestatem, unde illi ab homine duplex honos, id est amor cum timore debetur. secundum iustitiae officium est hominem agnoscere uelut fratrem. si enim nos idem deus fecit et uniuersos ad iustitiam uitam que aeternam pari condicione generauit, fraterna utique necessitudine cohaeremus: quam qui non agnoscit, iniustus est. Lact., Ep. Inst. 54,2 (CSEL 19, 735,11–20 Brandt. Übers. nach Aloys Hartl, BKV2 36, 194).

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Ich fasse zusammen: Laktanz steht für den apologetisch motivierten Versuch, mit Hilfe einer philosophisch-theologischen Anthropologie das christliche Konzept von religio neu zu begründen. Sie basiert auf einem Schöpfungsglauben und einer Ethik der Humanität, die beide fast ohne konkrete biblische Bezüge auskommen.31 Zur religio ist der Mensch auf Grund seines „Wohers“ in der göttlichen Schöpfung und der Zugehörigkeit zu Gott als pater familias verpflichtet. Diese Verpflichtung wird erfüllt in der vom Menschen geleisteten iustitia, die einerseits Hinwendung zu Gott, andererseits aber auch Hinwendung zum hilfsbedürftigen Mitmenschen (angesichts des gemeinsamen „Wohins“ im ewigen Leben) bedeutet. 2.2. Ambrosius (337–397) Ambrosius gilt manchen als Begründer der christlichen Soziallehre.32 In zahlreichen Werken beschreibt der Mailänder Bischof in der Tat modellhafte Wohltätigkeit oder er sucht nach Begründungen für das Gebot der Wohltätigkeit in der Schrift.33 Auch frühe naturrechtliche Überlegungen finden sich als Grundlage.34 Ich nenne für all das nur sein Porträt des verstorbenen Bruders Satyrus in den beiden Leichenreden,35 seine Briefe an die Bischöfe Constantius36 und Simplician,37 an Kaiser Valentinian II.38 und an seine Schwester Marcellina,39 die große Auslegung 31

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Biblische Texte (z.B. Gen 1 oder Ps 33) spielen offenbar durchaus eine Rolle, aber werden in der Regel nicht zitiert oder benannt und treten oft in ihrer Prominenz hinter pagane Referenztexte zurück. So schreibt Laktanz etwa in den Institutionen: „Platon sagt, dass die Welt von Gott erschaffen wurden. Die Propheten sprechen ebenso und das Gleiche wird offenbar in den Versen der Sibylle.“ Factum esse a deo mundum dixit Plato: idem prophetae locuntur idemque Sibyllae carminibus apparet. Lact., Inst. VII 7,8 (CSEL 19, 607,14f. Brandt). Dies gilt etwa für den prominenten Marianisten Vincent R. Vasey S.M., der in seiner Studie, The social ideas in the works of St. Ambrose. A study on De Nabuthe, Rom 1982, die Herkunft der katholischen Soziallehre im Wesentlichen auf Ambrosius zurückführt. Vgl. zum folgenden Volp, Würde (s.o. Anm. 8), 220–227. Vgl. z.B. Ambr., Ep. 73 oder das Hexaemeron. Ambr., De excessu fratris. Vgl. zu den Leichenreden zuletzt Ulrich Volp, „Wer könnte tränenlos reden?“ Die antike christliche Leichenrede zwischen Diskurs und Affekt, in: Thomas Wabel/Torben Stamer (Hgg.), Zwischen Diskurs und Affekt. Vergemeinschaftung und Urteilsbildung in der Perspektive Öffentlicher Theologie (ÖTh 35), Leipzig 2018, 167–187 (mit Lit.). Ambr., Ep. 2. Ambr., Ep. 10. Ambr., Ep. 17 und 24. Ambr., Ep. 41.

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des Schöpfungsberichts im Exaemeron und die frühere Arbeit De paradiso, seine Psalmen- und Lukasauslegungen, das wichtige Werk De officiis, sowie seine verschiedenen Auslegungen der Geschichte von Nabots Weinberg.40 Lässt sich nun ein Zusammenhang zwischen der theologischen Anthropologie in diesen Schriften und seinen Ansichten zur gebotenen christlichen Wohltätigkeit nachweisen? Ein Blick auf Ambrosius ist auch deshalb interessant, weil er als ein typischer Vertreter einer spätantik-westlichen dichotomen Anthropologie gelten muss, der, anders als Laktanz, als Exeget diese Trennung von Körper und Seele biblisch zu plausibilisieren suchte. Die Trennung existierte für Ambrosius im Urzustand noch nicht, sondern sie ist genauso wie das mangelnde Tugendstreben erst eine Folge des Falls: „Man kann auch auf das Fleisch und die Seele blicken … Der Zwiespalt zwischen ihnen drang durch die Untreue des ersten Menschen in die Natur ein, so dass sie sich nicht mehr im gleichen Tugendstreben begegneten.“41

Ambrosius unterschied den geistigen und „wahren“ Menschen, das menschliche nos, vom nostra und vom circa nos, also vom äußeren Menschen (Körperteile, Sinne) und jenen Dingen, die den meisten Menschen besonders wichtig sind, die aber nicht mit dem eigentlichen Menschsein verbunden sind, also etwa Geld, Sklaven und Güter.42 Unsere Seele (anima) ist „… nach dem Bild Gottes. In ihm bist du ganz, Mensch, denn ohne es bist du nichts, sondern du bist Erde und wirst in Erde aufgelöst.“43

Der Begriff der Seele ist für Ambrosius der Schlüssel für sein Bild vom Menschen, der ein „Woher“ und „Wohin“ in Gott hat: „Jene Seele wird von Gott gemalt, die in sich die strahlende Schönheit der Tugend und den Glanz der Frömmigkeit trägt. Jene Seele ist gut gemalt, die das Bild der göttlichen Schöpfung widerspiegelt. Jene Seele ist gut 40

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1 Kön 21, dazu v.a. Ambr., De Nabuthe (386–396, vermutlich 389). Vgl. aber auch Ambr., Contra Auxentium 17f (386).; Ep. 10 ad Simplicianum (386); De officiis II 5,17 und III 9,62f.; Exp. ev. secundum Lucam IX 25 und IX 32f. (vor 389); Exhortatio virginitatis V 30 (394); Explanatio Ps. 36,1 (390) und 37,43 (396). Possunt etiam uideri caro atque anima … dissensio per praeuaricationem primi hominis in naturam uerterit, ut nequaquam sibi paribus ad uirtutem studiis conuenirent. Ambr., Exp. ev. Luc. VII 141 (CChr.SL 14, 263,1521–1523 Adriaen). Ambr., Hex. VI 42–46. … ad imaginem dei est. In hac totus es, homo, quia sine haec nihil es, sed es terra et in terram resolueris. Ambr., Hex. VI 43 (CSEL 32/1, 234,13–16 Schenkl). Vgl. auch noch Ambr., Exp. ev. Luc. II.

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gemalt, worin der Abglanz der Herrlichkeit und das Bild der Wesenheit des Vaters strahlt … So ist also unsere Seele nach dem Bild Gottes.“44

In dem vernünftigen Seelenteil der ratio blieben auch nach dem Sündenfall Reste des „Ebenbildes Gottes“ übrig:45 Diese anima rationalis befähigt den Menschen, durch Verwirklichung der Tugend weiterhin Anteil an der Vollkommenheit Gottes zu haben. Es ist schwer vorstellbar, dass hier nicht auch implizit das Prohairesiskonzept46 der antiken philosophischen Ethik am Werk war, das etwa in den ethischen Überlegungen eines Clemens von Alexandrien,47 Origenes48 oder Johannes Chrysostomus49 explizit benannt wird und für die Ethik eines Aristoteles50 oder Epiktet51 grundlegend war: Tugendhaft sind danach nur freie, durch die ratio verantwortete Entscheidungen angesichts von Handlungsalternativen. Die biblisch fundierte Verknüpfung von Ebenbildlichkeit und 44

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Illa anima a deo pingitur, quae habet in se uirtutum gratiam renitentem splendoremque pietatis. Illa anima bene picta est, in qua elucet diuinae operationis effigies, illa anima bene picta est in qua est splendor gloriae et paternae imago substantiae … anima igitur nostra ad imaginem dei est. Ambr., Hex. VI 42f (CSEL 32/1, 233,26–234,14 Schenkl. Übers. nach Johannes Niederhuber, BKV2 17, 264f.). Zur Rolle dieses Themas in der HexaemeronLiteratur insgesamt vgl. Jacobus C. M. van Winden, Art. Hexaemeron, in: RAC 14 (1988) 1250–1269. Ambr., Ep. 21; Ep. 34; Ep. 14; Exp. ps. 118,8,23; Exp. ps. 118,10,15f. Vgl. dazu etwa den Überblick bei André Laks, Art. Prohairesis, in: HWPh 7, 1451– 1458. Zum Gebrauch bei Aristoteles vgl. außerdem z.B. Charles Chamberlain, The Meaning of Prohairesis in Aristotle’s Ethics, in: Transactions of the American Philological Association 114 (1984) 147–157. Zu Epiktet vgl. z.B. Robert Dobbin, Prohairesis in Epictetus, in: Ancient Philosophy 11 (1991), 111–135; Anthony Arthur Long, Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002. Ein ausführlicher Vergleich des Gebrauchs bei Aristoteles und Epiktet findet sich bei Myrto DragonaMonachou, Η προαίρεσις στον Αριστοτέλη και στον Επίκτητο. Μια συσχέτιση με την έννοια της πρόθεσης στη φιλοσοφία της πράξης (Prohairesis in Aristotle and Epictetus. A Comparison with the Concept of Intention in the Philosophy of Action), in: Φιλοσοφία 8f. (1978f.): 265–310. Zum Verhältnis zur biblischen Überlieferung der Septuaginta vgl. zuletzt Volp, Septuaginta (s.o. Anm. 8). Z.B. Clemens Alexandrinus, Str. I 13,58,1–4 und IV 38,3–4. Z.B. Origenes, Hom. Jer. 4,3. Bei Origenes kommt der Begriff der προαίρεσις an mindestens 164 Stellen des erhaltenen Werkes vor. Z.B. Chrys., Hom. Gen. 19 (CPG 4409); Stat. 16,2 (CPG 4330); Catech. illum. 1,14 (CPG 4330); Catech. ult. 3,6 (CPG 4462); Diab. 1,5 (CPG 4495/34) u.ö. Der durch seine ethisch drängenden Predigten bekanntgewordene Johannes Chrysostomos verwendet den Begriff προαίρεσις häufiger als alle anderen Kirchenväter: Fast 800 Erwähnungen finden sich allein in den erhaltenen Schriften. Aristoteles, NE III 4,1112a; IV 2,1139ab u.ö. Epictetus, Diatr. I 17,21–4,29,39; IV 5,12 u.ö.

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Tugend trifft sich hier also mit der Hochschätzung der durch die ratio getroffenen Entscheidungen, die alleine zu iustitia, beneficentia52 und humanitas53 führen, also zu all dem, was man im Sinne der eingangs getroffenen Definition mit „christlicher Wohltätigkeit“ wiedergeben darf.54 Ähnliches gilt für Klugheit, Tapferkeit und Weisheit.55 Der Mensch, der dagegen der anima irrationalis folgt, sich selbst mit weltlichen Gütern Befriedigung verschafft und keine Wohltätigkeit übt, verliert seinen Anteil an der Gottebenbildlichkeit und damit auch das Recht, im Anschluss an Gottes Schöpfungswerk über die Natur zu herrschen. Wer aber der imago Dei entsprechend lebt, wer sich als „neugeschaffener Mensch“ erweist, den kann man als summa operis, als Krone der Schöpfung verstehen: „Deshalb ist der recht neugeschaffene [Mensch] gewissermaßen die Zusammenfassung des Schöpfungswerkes, sozusagen der Grund der Welt; um seinetwillen sind alle Dinge geschaffen worden.“56

Es bedarf des Gebrauchs des vernünftigen Seelenteils und der Nächstenliebe, um sich dieser Würde ad imaginem Dei zu bedienen, um Tugend zu üben. Die am besten anthropologisch zu begründende forma virtutis aber ist die Barmherzigkeit (misericordia). In dieser anthropologisch begründeten Zuneigung zum Nächsten ist der menschgewordene Gott, Jesus Christus, Vorbild: „Lasst uns jenen lieben, der schon wegen der körperlichen Einheit (corporis unitas) mit der Hilfsbedürftigkeit des Nächsten Mitleid empfindet! Denn nicht Verwandtschaft (cognatio), sondern die Barmherzigkeit schafft den Nächsten. Die Barmherzigkeit ist naturgemäß; denn nichts ist so naturgemäß als demjenigen, der die Natur mit uns teilt, zu helfen.“57 52

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„Die Gesellschaft ruht nämlich auf zweifachem Grund, der Gerechtigkeit und der Wohltätigkeit, was man auch Freigebigkeit und Wohlwollen nennt.“ (Societatis enim ratio diuiditur in partes duas, iustitiam et beneficentiam, quam eamdem liberalitatem et benignitatem uocant. Ambr., De officiis I 28,130 (CChr.SL 15, 47,2–4 Testard). Ambr., De officiis II 21,107 und De officiis III 3,16. S. zum Begriff Otto Hiltbrunner, Art. Humanitas (φιλανθρωπία), in: RAC 16 (1994) 711–752. Vgl. Ders., Vir gravis, in: Hans Oppermann (Hg.), Römische Wertbegriffe (WdF 34), Darmstadt 1967, 402–419. Vgl. dazu oben die Einleitung von Andreas Müller. Ambr., De officiis I 24–49. Ganz ähnlich rekurriert auch Gregor von Nyssa auf die platonischen Grundtugenden, insbesondere die Weisheit. Vgl. dazu Evangelos G. Konstantinou, Die Tugendlehre Gregors von Nyssa im Verhältnis zu der antikphilosophischen und jüdisch-christlichen Tradition, Würzburg 1966, 125–159. Recte ergo novissimus quasi totius summa operis, quasi causa mundi propter quem facta omnia. Ambr., Ep. 43,19 (CSEL 82/1, 206,240f Faller/Zelzer). Diligamus eum qui inopiae alterius corporis unitate conpatitur. non enim cognatio facit proximum, sed misericordia, quia misericordia secundum naturam; nihil enim tam

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Die Barmherzigkeit entspricht also der Schöpfungsnatur des Menschen und darauf weist Jesus Christus hin. Der negative Verweis auf die cognatio ist vielleicht ein impliziter Widerspruch zu den überkommenen römischen sozialen Normen, wonach Verwandtschaft oder auch die Zugehörigkeit zur Peer Group das helfende Handeln bestimmten.58 Ich fasse zusammen: Die Anthropologie des Ambrosius ist geprägt von seiner Genesisauslegung im Anschluss an heilsgeschichtlich interpretierende Vorbilder, und deshalb auch von einer eschatologischen Perspektive. Dies ist meines Erachtens eine wichtige Pointe der häufigen Rede von der „Seele“ (anima). Sie verweist auf das „Woher“ und das „Wohin“ des Menschen. Sie verweist aber auch auf den göttlichen Auftrag, der in der Herrschaft der Vernunft über die weltlichen Dinge und über die Natur liegt. Richtiger Vernunftgebrauch führt konkret zu einem Leben der iustitia, beneficentia und humanitas. Ein solches Leben der Wohltätigkeit ist auch anthropologisch zu begründen. Die Wohltätigkeit gilt universal und ist allen Menschen gegenüber zu üben. Man mag diese Konzeption für wenig originell halten, denn die Kardinaltugenden finden sich schon bei Platon59, die Beschreibung des Zustandekommens eines solchermaßen ethisch guten Lebens bei Aristoteles60, dies und die Hochschätzung von ratio und virtutes in der Stoa61, die Begrifflichkeit der humanitas und das von Ambrosius beschriebene Verhältnis zwischen Menschen und Tier bei Cicero62 und Laktanz63, die Auslegung der Schöpfungsgeschichte teilweise wortgleich bei Philo.64 Der Synthese und der Zusammenführung dieser Ideen durch einen Bischof, der all das in

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secundum naturam quam iuuare consortem naturae. Ambr., Exp. in Lc. VII 84 (CSEL 32/4, 316,16–19 Schenkl). Als juristischer Begriff spielt cognatio eine Rolle im Hinblick auf das Erbrecht oder der Zugehörigkeit zum iudicium domesticum, aber auch der Pflicht um die Sorge der Bestattung o.ä.: Digesta XXXVIII 8,1 u.ö. Vgl. Rudolf Leonhard, Art. cognatio, in: PRE 4 (1900), 204–206. Unabhängig von dem Bemühen antiker Juristen um eine genaue juristische Definition der mit cognatio bestimmten Personenkreise findet sich etwa bei Cicero auch eine übertragene Bedeutung im Sinne der durch gemeinsame (Elite-)Tugenden verbundenen Peer Group, die Laktanz hier vielleicht auch im Blick hat: Cic., Verr. II 4, 81 u.ö. Platon, Resp. IV 423a–448e; Leg. I 630–634 u.ö. Arist., NE I 6,1098a; II 5,1106a–1109b u.ö. S. z.B. Diog. Laert., Vit. VII 1,101; Cic., De finibus bonorum et malorum IV 16,43. Cic., Off. I 11–14 u.ö. Lact., De ira 7; Opif. III. Z.B. Phil., Quaest. in Gen. I 94.

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Briefen und Predigten unter die Menschen brachte, gebührt jedoch eine zentrale Stelle in der Geschichte der antiken christlichen Wohltätigkeit. Ambrosius steht mithin für eine enge Verzahnung anthropologischer Reflexion und der Aufforderung und Etablierung des Gedankens christlicher Wohltätigkeit. 2.3. Theorie und Praxis: Gottesdienst und Bestattung Es war freilich nicht nur die Predigt und der intellektuelle Austausch, über welche die Etablierung einer bestimmten Anthropologie und des Wohltätigkeitsgedankens in den antiken christlichen Gemeinden denkbar war. Im Gottesdienst, etwa im Zusammenhang mit der Taufe, wurde das Menschsein des Menschen und damit die Anthropologie Gegenstand der gemeinsamen Reflexion. Eine offenbar verbreitete heilsgeschichtliche Verbindung von Schöpfung, Fall, Inkarnation und Taufgeschehen durchdringt die theologischen Äußerungen zur Taufe von Justin über Tertullian bis hin zu Johannes Chrysostomus. Gegenstand der Taufe, der rituell vollzogenen „Wiedergeburt“, wie sie in den Quellen genannt wird,65 ist der Mensch, der der Taufe auf Grund seiner anthropologischen Konstitution bedarf.66 Man findet aber auch eine anthropologische Reflexion im Zusammenhang mit der Frage nach dem richtigen Verhalten im Gottesdienst und beim Gebet. Ich will dafür zwei Beispiele zitieren. So schreibt Clemens von Alexandrien: „Deshalb heben wir auch den Kopf in die Höhe und strecken die Hände zum Himmel empor und stellen uns bei dem gemeinsamen Sprechen der Schlussworte des Gebets auf die Fußspitzen, indem wir so dem Streben des Geistes empor in die geistige Welt zu folgen suchen.“67

Origenes fordert: „Heilige Hände muss der Betende aufheben68 dadurch, dass er einem jeden von denen, die sich an ihm vergangen haben, vergibt, die leidenschaftliche Erregung aus seiner Seele tilgt und niemandem grollt. Ferner muss man, 65 66

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Z.B. bei Justin, IApol. 61. Vgl. auch die die Taufe betreffenden Schriften von Kyrill von Jerusalem, Johannes Chrysostomos, Theodor von Mopsuestia und Ambrosius von Mailand. Ταύτῃ καὶ προσανατείνομεν τὴν κεφαλὴν καὶ τὰς χεῖρας εἰς οὐρανὸν αἴρομεν τούς τε πόδας ἐπεγείρομεν κατὰ τὴν τελευταίαν τῆς εὐχῆς συνεκφώνησιν, ἐπακολουθοῦντες τῇ προθυμίᾳ τοῦ πνεύματος εἰς τὴν νοητὴν οὐσίαν. Clem. Al., Str. VII 40,1 (GCS 172, 30,19–22 Stählin; Übers. Otto Stählin, BKV2 2.R. 20, 46). Vgl. 1 Tim 2,8.

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damit der Verstand nicht durch andere Gedanken getrübt wird, alles, was außerhalb des Gebets zu der Zeit liegt, in welcher jemand betet, vergessen.“69

Die Aussage des Origenes wurde von Virginia Noel als Beweis für eine angeblich fehlende „Leibfeindlichkeit“ ins Feld geführt.70 Ihm geht es aber hier wohl eher nicht um „Leibfeindlichkeit“ oder „Leibfreundlichkeit“, sondern darum, dass der Mensch und seine einzelnen Teile im Gottesdienst das richtige Verhältnis zum Schöpfer reflektieren. Der Rekurs auf die Hände und auf die menschliche Vernunft nimmt Bezug auf gut eingeführte Topoi der anthropologischen Debatten um den Unterschied zwischen Mensch und Tier; die leidenschaftsferne Konzentration auf die vernünftigen Seelenteile zielen auf die Verwandtschaft der menschlichen Vernunft mit Gott. Es handelt sich also um einen Versuch, Anthropologie, Heilsgeschichte und das angemessene körperliche Verhalten in der Frömmigkeit in Übereinstimmung zu bringen. Gleichzeitig war der Gottesdienst Ort ethischer Weisung unter anderem in der Predigt. Nicht wenige der in diesem Aufsatz geschilderten anthropologischen und ethischen Überlegungen wurden im homiletischen Kontext formuliert.71 Der Gottesdienst war aber auch durch die Kollekte und die liturgische Rolle der mit wohltätigen Aufgaben betrauten Gemeindeglieder Dreh- und Angelpunkt der konkreten Fürsorge antiker Gemeinden. Es wird geschätzt, dass im späten vierten Jahrhundert ein Viertel des kirchlichen Einkommens in die Armenfürsorge wanderte.72 Die antiochenische Gemeinde des Johannes Chrysostomus unterstützte damit nach eigener Aussage täglich 3000 alleinstehende Witwen und Jungfrauen, außerdem noch zahlreiche Bettler, Gefangene, Kranke, Fremde und Menschen mit körperlichen Behinderungen.73 Vielleicht am 69

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ἐπαίρειν δεῖ ὁσίας χεῖρας τὸν εὐχόμενον διὰ τοῦ ἀφιέναι ἑκάστῳ τῶν εἰς αὐτὸν πεπλημμεληκότων, τὸ τῆς ὀργῆς πάθος ἐξαφανίσαντα ἀπὸ τῆς ψυχῆς καὶ μηδενὶ θυμούμενον. πάλιν τε δεῖ ὑπὲρ τοῦ μὴ ἐπιθολοῦσθαι τὸν νοῦν ὑπὸ ἑτέρων λογισμῶν πάντων ἐπιλελῆσθαι τῶν ἔξω τῆς εὐχῆς κατὰ τὸν καιρὸν, ἐν ᾧ τις εὔχεται. Or., Orat. IX 1 (GCS 3, 317,29–318,4; Übers. nach Koetschau, BKV2 48, 34). Virginia L. Noel, Nourishment in Origen’s On Prayer, in: Orig. 5 (1992; BETL 105) 481–487. Vgl. dazu Volp, Würde (s.o. Anm. 8), 340. Das gilt etwa für die aus Predigten hervorgegangenen Texte des Exameron des Ambrosius von Mailand. Chadwick, Humanität (s.o. Anm. 9), 694. Vgl. Georg Klingenberg, Art. Kirchengut, in: RAC 20 (2004) 1023–1099. Καὶ ἵνα μάθης αὐτῶν τὴν ἀπανθρωπίαν, ἑνὸς τῶν ἐσχάτων εὐπόρων καὶ τῶν μὴ σφόδρα πλουτούντων πρόσοδον ἡ Ἐκκλησία ἔχουσα, ἐννόησον ὅσαις ἐπαρκεῖ καθ᾽ ἑκάστην ἡμέραν χηραῖς, ὅσαις παρθένοις· καὶ γὰρ εἰς τὸν τῶν τρισχιλίων ἀριθμὸν ὁ κατάλογος αὐτῶν ἔφθασε. Μετὰ τούτων τοῖς τὸ δεσμωτήριον οἰκοῦσι, τοῖς ἐν τῷ

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wichtigsten aber war die von Gegnern des Christentums immer wieder ins Spiel gebrachte, von ihnen lächerlich gemachte Zusammensetzung der gottesdienstlichen Versammlungen: Die Gemeinden waren sozial heterogen, es trafen Menschen aus prekären sozialen und finanziellen Verhältnissen mit wohlhabenden Christinnen und Christen zusammen. Man darf wohl kaum annehmen, dass neutestamentliche Aufforderungen zur gemeindlichen Integration unterschiedlicher Menschen wie Gal 3,2874 oder Jak 2,1–975 stets ohne Konflikte befolgt wurden.76 Die pagane Kritik an der Undifferenziertheit und sozial niedrigen Herkunft vieler Gemeindeglieder liefert starke Anhaltspunkte dafür, dass diese Heterogenität zur gottesdienstlichen Grunderfahrung vieler Christen gehörte: „Aus der untersten Hefe des Volkes sammeln sich da die Ungebildeten und die leichtgläubigen Weiber, die wegen der Beeinflussbarkeit ihres Geschlechtes ohnedies auf alles hereinfallen […] eine obskure, lichtscheue Gesellschaft,

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ξενοδοχείῳ κάμνουσι, τοῖς ὑγιαίνουσι, τοῖς ἀποδημοῦσι, τοῖς τὰ σώματα λελωβημένοις, τοῖς τῷ θυσιαστηρίῳ προσεδρεύουσι, καὶ τροφῆς καὶ ἐνδυμάτων ἕνεκεν, τοῖς ἁπλῶς προσιοῦσι καθ’ ἑκάστην ἡμέραν· καὶ οὐδὲν αὐτῇ τὰ τῆς οὐσίας ἠλάττωται. „Damit du aber auch einsiehst, wie lieblos man ist, erwäge, wie viele Witwen und Jungfrauen jeden Tag von der Kirche unterstützt werden, obgleich sie nur das Einkommen eines sehr mäßig Begüterten, keineswegs eines Reichen hat. Die Liste derer, die unterstützt werden, hat schon die Zahl 3000 überschritten. Dazu kommen noch Gefangene, Kranke in den Spitälern, Gesunde, Fremde, Krüppel, diejenigen, welche an den Stufen der Altäre auf Nahrung und Kleidung warten, sowie die gelegentlichen Bettler, und doch nimmt das Vermögen der Kirche dadurch nicht ab.“ Chrys., In Matthaeum hom. LXVI 20,3 (PG 58, 630,24–33; Übers. Johannes Chrysostomus Baur, BKV2 26, 347). οὐκ ἔνι Ἰουδαῖος οὐδὲ Ἕλλην, οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλεύθερος, οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ· πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.“ Gal 3,28 (NA28; Übers. Luther 2017). Ἀδελφοί μου, μὴ ἐν προσωπολημψίαις ἔχετε τὴν πίστιν τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ τῆς δόξης ... Εἰ μέντοι νόμον τελεῖτε βασιλικὸν κατὰ τὴν γραφήν· ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν, καλῶς ποιεῖτε· εἰ δὲ προσωπολημπτεῖτε, ἁμαρτίαν ἐργάζεσθε ἐλεγχόμενοι ὑπὸ τοῦ νόμου ὡς παραβάται. „Haltet den Glauben an Jesus Christus … frei von allem Ansehen der Person ... Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, so tut ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter.“ Jak 2,1.8f. (NA28; Übers. Luther 2017). Darauf deuten bereits die frühesten Kirchenordnungen hin, in denen unterschiedliche Strategien der innergemeindlichen Konfliktbewältigung deutlich werden. Vgl. zu den frühesten Zeugnissen auch etwa Stefan Koch, Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum (WUNT 2/174), Tübingen 2004.

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stumm in der Öffentlichkeit, in Winkeln geschwätzig […] selbst bemitleidenswert, … selbst halbnackt, verachten sie Würden und Purpur.“77

Die Anwesenheit von sozial Schwachen in den Gemeinden ist wichtig für die Fragestellung. Die Kenntnis und das Wissen um die Hilfsbedürftigen und das Wahrnehmen ihrer Situation gehört zum Kontext der Botschaft der Wohltätigkeit. Die pagane Kritik an der christlichen Praxis führt mich zu einer weiteren Beobachtung. Sie betrifft den Umgang in den Gemeinden mit den Toten, eine Praxis, die von Außenstehenden als auffällig wahrgenommen wurde. Die christliche Totenfürsorge wurde von ihnen als überflüssig, als bauernfängerisch, irrational, undifferenziert, neu und die antiken Reinheitsvorstellungen verletzend kritisiert.78 Für die vorliegende Fragestellung genügt es, alleine die Tatsache in den Blick zu nehmen, dass sich christliche Gemeinden für die Bestattung auch ärmerer Gemeindeglieder verantwortlich fühlten. Die Finanzierung der eigenen Bestattung und des anschließenden Totengedenkens war in der römischen Antike für große Bevölkerungsschichten ein erhebliches Problem. Ihm wurde spätestens unter Augustus mit der Einrichtung der seit Theodor Mommsen vieldiskutierten collegia funeraticia begegnet.79 Mitgliedschaft und regelmäßige Zahlungen an diese Kollegien sicherten auch etwas ärmeren Bewohnern Roms eine angemessene Bestattung und ein Totengedenken, für das sich sonst niemand zuständig fühlte. Dazu kamen gesellige Zusammenkünfte, offenbar auch außerhalb von Bestattungen und Totengedenkfeiern. Es kann 77

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Qui de ultima faece collectis inperitioribus et mulieribus credulis sexus sui facilitate labentibus […] latebrosa et lucifugax natio, in publicum muta, in angulis garrula; […] honores et purpuras despiciunt, ipsi seminudi. Minucius Felix, Octavius VIII 4 (BSGRT2, 6,32–7,5 Kytzler; Übers. nach Bernhard Kytzler, Minucius Felix. Octavius, Stuttgart 3 1993, 67–69). Vgl. die Kritik des Kelsos: Ἐπακούσωμεν δὲ τίνας ποτὲ οὗτοι καλοῦσιν· ὅστις, φασίν, ἁμαρτωλός, ὅστις ἀσύνετος, ὅστις νήπιος, καὶ ὡς ἁπλῶς εἰπεῖν ὅστις κακοδαίμων, τοῦτον ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ δέξεται. „Nun lasst uns hören, was für Personen diese [Christen] einladen! Wer ein Sünder ist, sagen sie, wer unverständig, wer unmündig und wer mit einem Wort unglückselig ist, den wird das Reich Gottes aufnehmen.“ Origenes, Contra Celsum III 59 (SC 136, 136,10–138,13 Borret; Übers. nach Paul Koetschau, BKV2 52, 272). Vgl. dazu Ulrich Volp, Tod und Ritual in den christlichen Gemeinden der Antike (SVigChr 65), Leiden/Boston 2002, 240–263. Theodor Mommsen, De collegiis et sodaliciis Romanorum, Kiel 1843. Vgl. dazu Volp, Tod (s.o. Anm. 78), 81f., 93 (mit Quellen und Lit.), außerdem zuletzt u.a. Hans Gerhard Kippenberg, „Nach dem Vorbild eines öffentlichen Gemeinwesens“. Diskurse römischer Juristen über private religiöse Vereinigungen, in: Ders./Gunnar Folke Schuppert (Hgg.), Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaften, Tübingen 2005, 37–64,

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kaum bestritten werden, dass christliche Gemeindeglieder und mancherorts sogar ganze Gemeinden schon früh solche Aufgaben übernahmen, was auch von den Gegnern des Christentums bemerkt wurde.80 Tertullian vergleicht in seinem Apologeticum die christlichen Gemeinden mit solchen collegia funeraticia, auch wenn die entsprechenden Beiträge81 „… gewissermaßen ,Spareinlagen‘ der Frömmigkeit sind. Denn es wird nichts davon für Schmausereien und Trinkgelage oder unangemessene Restaurants ausgegeben, sondern für den Unterhalt und das Begräbnis Bedürftiger, für Jungen und Mädchen, die kein Geld und keine Eltern mehr haben, und für arbeitslose alte Hausdiener, auch für Schiffbrüchige und für die, die sich in Bergwerken, in Strafkolonien oder in Gefängnissen befinden.“82

Giovanni Battista De Rossi führte diese und andere Texte (unter anderem Inschriften in den Katakomben) zu seiner These, die christlichen Gemeinden hätten die rechtliche Privilegierung der collegia funeraticia genutzt, um in den Zeiten der Unsicherheit und Verfolgung des dritten Jahrhunderts sich selbst eine anerkannte Rechtsform zulegen und ungestört zusammenkommen zu können.83 Wenn man die Wohltätigkeit antiker Christengemeinden von außen sowieso schon als ihr wichtigstes Kennzeichen ansah, dann lag es nahe, die juristisch vorteilhafte Konstruktion der collegia gleich ganz auf die eigenen Gemeinden anzuwenden. Wer sich der Bestattung seiner Mitglieder in einem collegium annahm, erwarb 80 81

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Vgl. etwa Juln., Ep. 84 (s.u.). Bei dem Begriff stipes handelt es sich um einen Fachterminus der Kollegienordnungen. S. dazu bereits Gerda Krüger, Die Rechtsstellung der vorkonstantinischen Kirchen (Kirchliche Abhandlungen 115/116), Stuttgart 1935 = Amsterdam 1961, 159. Vgl. zur Stelle zuletzt Wiebke Bähnk, Von der Notwendigkeit des Leidens. Die Theologie des Martyriums bei Tertullian (FKDG 78), Göttingen 2001, 261f. Haec quasi deposita pietatis sunt. Quippe non epulis inde nec potaculis nec ingratis uoratrinis dispensatur, sed egenis alendis humandis que et pueris ac puellis re ac parentibus destitutis, [iam que] domesticis senibus iam otiosis, item naufragis, et si qui in metallis et si qui in insulis uel in custodiis... Tert., Apologeticum XXXIX 6 (CChr.SL 1, 151,25–30 Dekkers). Vgl. zur Stelle noch Andreas Bendlin, Eine Zusammenkunft um der religio willen ist erlaubt...? Zu den politischen und rechtlichen Konstruktionen von (religiöser) Vergemeinschaftung in der römischen Kaiserzeit, in: Kippenberg/Schuppert (s.o. Anm. 79), 65–107, 102f.; Kippenberg, Diskurse (s.o. Anm. 79), 52f.; Jörg Rüpke, Aberglauben oder Individualität? Religiöse Abweichung im römischen Reich, Tübingen 2011, 87–92; John M. G. Barclay, Money and Meetings. Group Formation among Diaspora Jews and Early Christians, in: Andreas Gutsfeld/Dietrich-Alex Koch (Hgg.), Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien (STAC 25), Tübingen 2006, 113–128, 123; Richard Ascough, Voluntary Associations and the Formation of Pauline Churches: ebd., 149–184, 151. Giovanni Battista De Rossi, I collegii funeraticii famigliarie loro denominazioni, in: Amici, Commentationes philologae in honorem Theodori Mommseni, Berlin 1877, 705–711.

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damit schließlich auch das Recht auf regelmäßige Zusammenkünfte.84 De Rossis berühmte Korrespondenzpartner Mommsen und Duchesne überzeugte diese Theorie nicht.85 Sie war lediglich deshalb naheliegend, weil die Fürsorge für die Bestattung ärmerer Gemeindeglieder ganz wesentlicher Teil dessen war, was christliche Wohltätigkeit in der Antike ausmachte. Dies sehen auch andere christliche Autoren so. Minucius Felix etwa verteidigt die christliche Bestattungspraxis ausdrücklich, die von Nichtchristen bereits als außergewöhnlich wahrgenommen wurde.86 Origenes sieht diese Form der Wohltätigkeit offenbar als begründungspflichtig an. Er kommt dieser Pflicht nach, in dem er eine Verbindung mit der Anthropologie herstellt. In seiner Verteidigung gegen Kelsos spricht er von einer spezifisch christlichen Einstellung zur Bestattung, die durch die Würde des Menschen begründet wird: „Nach unserer Lehre wird nämlich allein die vernünftige Seele geehrt, während ihre (leiblichen) Organe nach den bestehenden Gebräuchen ehrenvoll dem Grab übergeben werden. Denn es würde sich nicht geziemen, die Behausung der vernünftigen Seele ähnlich wie die der unvernünftigen Tiere auf den ersten besten Ort schimpflich hinzuwerfen, besonders, wenn nach dem Glauben [der Christen] die Würde, welche man dem Körper erweist, in dem eine vernünftige Seele gewohnt hat, auf die Person zurückfällt, die eine Seele in sich aufgenommen hat, welche vermittelst eines solchen (leiblichen) Organs einen schönen Kampf durchführen konnte.“87

Eine ganz ähnliche Behauptung, man müsse den menschlichen Körper im Zusammenhang mit der Bestattung mit Würde (τιμή) behandeln, 84

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Vgl. das vor 136 n.Chr. verabschiedete Senatus Consultum, das sich z.B. in der Inschrift von Lanuvium widerfindet. CIL 14.2112. Vgl. dazu Frank M. Ausbüttel, Untersuchungen zu den Vereinen im Westen des römischen Reiches (FAS 11), Frankfurt 1982, 22–33; Jonathan S. A. Perry, Death in the Familia: The Funerary Colleges of the Roman Empire, Chapel Hill 1999, 11–21. Vgl. dazu die intelligente Schilderung von Jonathan S. Perry, G.B. de Rossi and the collegia funeraticia, in: Christoph F. Konrad (Hg.), Augusto Augurio: Rerum Humanarum et Divinarum Commentationes in Honorem Jerzy Linderski, Stuttgart 2004, 105–122. Min. Fel., Oct. XXXIV 10. ψυχὴν γὰρ λογικὴν τιμᾶν μόνην ἡμεῖς ἴσμεν καὶ τὰ ταύτης ὄργανα μετὰ τιμῆς παραδιδόναι κατὰ τὰ νενομισμένα ταφῇ· ἄξιον γὰρ τὸ τῆς λογικῆς ψυχῆς οἰκητήριον μὴ παραῤῥιπτεῖν ἀτίμως καὶ ὡς ἔτυχεν ὁμοίως τῷ τῶν ἀλόγων, καὶ μάλιστα ὅτε οἱ [Χριστιανοὶ] τὴν τιμὴν τοῦ σώματος, ἔνθα λογικὴ ψυχὴ ᾤκησε, πεπιστεύκασι καὶ ἐπ᾿ αὐτὸν φθάσαι δεξάμενον καλῶς ἀγωνισαμένην διὰ τοιούτου ὀργάνου ψυχήν. Or., Cels. VIII 30 (SC 150, 238,27–240,37 Borret; Übers. Paul Koetschau, BKV2 53, 334). Vgl. zur Stelle Ulrich Volp, Origen’s Anthropology and Christian Ritual, in: Orig. 9 (2009; BETL 228), 493–502.

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findet sich auch in den Apostolischen Konstitutionen.88 Johannes Chrysostomos sieht in einer durch die Gemeinde begleiteten Bestattung den Ausdruck des richtigen Verständnisses vom Menschen, wenn es sichtbares Zeichen des Auferstehungsglaubens ist.89 Wenn sich Menschen ihrer Sterblichkeit bewusst werden, soll das ein Zeichen der Erinnerung des Menschen an seine vom Schöpfer verliehene Unsterblichkeit sein,90 wozu bei Christen noch die Erinnerung an die Auferstehung Jesu Christi und die fürsorgliche Bestattung durch die Frauen am Grab hinzutreten sollte.91 Nicht nur das anthropologische „Woher“, sondern auch das „Wohin“ begründet die Pflicht zur Wohltätigkeit. Eine letzte Beobachtung aus dem Bereich der Praxis will ich an dieser Stelle zur Diskussion stellen. Ich frage mich, ob es nicht einen Zusammenhang zwischen diesen Überlegungen und dem auffälligen negativen archäologischen Befund gibt, dass es offenbar im christlichen spätantiken Kontext keine künstlerische herabwürdigende Darstellung von Armut, Krankheit und Behinderung gibt.92 Seit hellenistischer Zeit und verstärkt seit dem ersten Jahrhundert vor Christus finden sich in der antiken Kunst realistische und nicht-idealisierte Darstellungen von Menschen mit körperlichen Defekten. Die Kleinkunst produzierte bis zur konstantinischen Wende tausende kleine Bronzefiguren, die Menschen mit Behinderungen und teils grotesken Verstümmelungen darstellen.93 Auch großformatigere 88

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Const. App. VI 30,5–7. Vgl. latD 61,32–34. Vgl. zur Stelle Volp, Würde (s.o. Anm. 8), 344. Vgl. in diesem Sinne seine Genesisauslegung, in der die Unterschiede zwischen Mensch und Tier ausführlich thematisiert werden. Chrys., Hom. in Gen. XVf. Chrys., Hom. in Tim. XIV 5 beschreibt in idealisierter Weise klösterliche Bestattungen als ein liturgisch geordnetes „Vorausschicken“ (προπομπή) der Gestorbenen in die ursprünglichere Existenz. Wenn die Bestattung nicht der Ehre Gottes, sondern repräsentativen Zwecken oder der Vergrößerung des Ansehens gegenüber anderen Menschen dienen soll, so verurteilt Chrysostomus unangemessenen Aufwand in aller Schärfe: Chrys., In Io. hom. LXXXV u.ö. Chrys., Hom. in Gen. XVII. Chrys., In Matthaeum hom. LXXXVIII 27,3. Vgl. zur Frage des antiken Umgangs mit Menschen mit Behinderungen Josef N. Neumann, Art. Missbildung (Behinderung), in: RAC 24 (2012) 926–963; Ders., Behinderte Menschen in Antike und Christentum. Zur Geschichte und Ethik der Inklusion (Standorte in Antike und Christentum 8), Stuttgart 2017 (zur Darstellung von Behinderung in der antiken Kunst 85–96); Volp, Würde (s.o. Anm. 8), 297–323. Ausführlich untersucht wurde diese Kunstgattung zuerst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. nur z.B. Félix Régnault, Les figurines antiques devant l’art et la médecine: Medicina 4 (1907), 1–15.21–28. Vgl. dazu zuletzt etwa Alexandre G. Mitchell, The

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Plastiken von Menschen mit Buckeln oder Verwachsungen sind erhalten geblieben.94 Bevorzugte Motive sind Menschen aus gesellschaftlichen Randgruppen, also etwa Bettler, Gaukler, Hetären und so weiter. Die früheste christliche Kunst griff dagegen auf sehr positive, oft idealisierte Körperdarstellungen zurück. Gerade die oft abgebildeten Heilungswunder hätten doch eine gute Gelegenheit abgegeben, die antike Bildtradition der kranken, verkrüppelten Menschheitsdarstellung fortzuführen.95 Auch andere literarische Texte hätten Anlass zur Darstellung menschlicher Deformation gegeben, ich denke etwa an die fast schon jugendgefährdenden Krankheitsbeschreibungen des Laktanz in De mortibus persecutorum.96 Mir ist jedoch keine einzige christliche Darstellung aus dem dritten bis fünften Jahrhundert bekannt, die einen Menschen in unwürdiger oder herabwürdigender Pose porträtiert hätte, im Gegenteil.

Abb. 1: Der Tod des Hananias (Apg 5). Lipsanothek von Brescia97

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Hellenistic Turn in Bodily Representations. Venting Anxiety in Terracotta Figurines, in: Christian Laes (Hg.), Disability in Antiquity, London/New York 2016, 182–196; Ders., Disparate Bodies in Ancient Artefacts. The Function of Caricature and Pathological Grotesques among Roman Terracotta Figurines, in: Christian Laes/Chris Goodey/M. Lynn Rose (Hgg.), Disabilities in Roman Antiquity (Mnemosyne. Supplementum 356), Leiden 2013, 275–298. Zahlreiche Beispiele finden sich auch bei Lisa Trentin, The hunchback in Hellenistic and Roman art, London u.a. 2013. Z.B. die Plastik eines Buckligen in der Sammlung der Villa Albani. Vgl. dazu Neumann, Behinderte Menschen (s.o. Anm. 92), 94–96. Zu denken wäre hier z.B. an die Darstellung der Heilung der blutflüssigen Frau (z.B. Fresco in Marcellinus-Peter-Katakombe, Rom oder Mosaik in der Nordwand von S. Apollinare, Ravenna). Auch die Szene aus Apg 5 mit dem grausamen Tod des Hananias wird erstaunlich friedlich und positiv dargestellt (Lipsanothek von Brescia aus dem späten vierten Jahrhundert; dazu grundlegend Johannes Kollwitz, Die Lipsanothek von Brescia (Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 7), Berlin/Leipzig 1933). Z.B. Lact., Mort. pers. V (Tod des Valerianus), XXXIII (Fäulnis des Körpers des Galerius) oder XLIX (Tod des Maximinus). Abb. entnommen aus Kollwitz (s.o. Anm. 95), Taf. 5.

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Die Gründe für das Verschwinden der vorher so populären Darstellung menschlicher Deformation und Behinderung aus der Kunst waren sicher unterschiedlicher Art. Kleinplastiken aus Bronze oder Terracotta von „marginal people“98 wurden als Glücksbringer oder apotropäische Amulette getragen, eine Praxis, die unter Christen stark zurückging. Auch ist der unterschiedliche Kontext der christlichen und nichtchristlichen Kunst zu berücksichtigen. In der Sepulkralkultur oder im Inneren von Kirchengebäuden wurde zweifellos anderes als angemessen angesehen als in anderen Kontexten. Insofern muss offen bleiben, ob das Verschwinden solcher Darstellungen beziehungsweise ihre fehlende Akzeptanz unter den Christen nicht auch in einem Zusammenhang stehen könnte mit den hier vorgestellten anthropologischen Überlegungen und der Zuwendung der christlichen Gemeinden zu diesen gesellschaftlich marginalisierten Menschen. Hatte vielleicht in einem gemeindlichen Kontext, in dem das „Woher“ und „Wohin“ des Menschen, die Rede vom Menschen als Bild Gottes und die Menschwerdung Gottes zentraler Gegenstand täglicher Katechese und Predigt war, auch der künstlerisch ausgedrückte Spott über den Menschen generell keinen Platz mehr? 2.4. Die andere Sicht: Julian, Epistula 89b Die kurze Regierungszeit des Kaisers Julian in den Jahren 360–363 steht für den Versuch, das durch Konstantin und seine Nachfolger privilegierte Christentum zurückzudrängen. Julian wollte der alten römischen und der griechischen Religion sowie den Mysterienkulten durch staatliche Förderung wieder eine Vormachtstellung verschaffen.99 In einem erhalten gebliebenen Brieffragment skizziert Julian seine Vorstellung von einer erneuerten paganen Tempelreligion. Der Brief wird zumeist in die Zeit der Abfassung von Contra Galilaeos datiert, also ins Frühjahr 363 oder in den Winter davor.100 Julian entwirft darin eine pagane Klerikerethik, die manche vielleicht an die spätere Programmschrift De sacerdotio des 98

Simone Voegtle, A Grotesque Terracotta Figurine of the First Century C.E. from Muralto, Ticino, Switzerland. Function, Use, and Meaning, in: Les Carnets de l’ACoSt 15 (2016), 1–19, 6. 99 Vgl. dazu etwa den ausführlichen Überblick bei Theresa Nesselrath, Kaiser Julian und die Repaganisierung des Reiches. Konzept und Vorbilder (JbAC.E 9), Münster 2013. 100 Vgl. Matilde Caltabiano, L’epistolario di Giuliano imperatore: saggio storico, traduzione, note e testo in appendice (Studi e testi di Koinōnia 14), Napoli 1991, 123–126. 180.261, Anm. 2; Peter Van Nuffelen, Deux fausses lettres de Julien l’Apostat, in: VigChr 56 (2002), 131–150, 143, Anm. 66.

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Johannes Chrysostomus denken lässt.101 Es ist klar, dass Julian sich wünschte, der althergebrachten Tempelreligion eine Art Revival zu bescheren mit institutionellen und ethischen Anleihen an jenes Christentum, das er in seiner Jugend kennengelernt hatte. Für unser Thema sind die frappierenden Übereinstimmungen etwa mit den anthropologischethischen Gedankengängen eines Laktanz interessant, ebenso wie die terminologischen Differenzen: „Als erstes müssen wir Gottesverehrung predigen. Denn es ist gebührlich, dass wir unseren Gottesdienst an die Götter so verrichten, als seien sie mit uns zusammen anwesend und sähen uns an und könnten, obwohl sie von uns nicht gesehen werden, ihren Blick, der kraftvoller ist als jedes Licht, bis in unsere geheimen Gedanken lenken ‚[...und Apollons] scharfer Blick durchdringt selbst feste Felsen. [...] Ich erfreue mich an gottesfürchtigen Menschen‘.“102

Julian ruft hier also zu einer religio auf, wie sie wohl auch Laktanz vor Augen gestanden haben dürfte. Eine solche Verbindung von Ethik und Kult kennt aber kaum Analogien in den älteren griechischen oder römischen Traditionen. Eine solch implizierte Klage von nichtchristlicher Seite, die ungewollt den Erfolg der gemeindlichen Ethikplausibilisierung anerkannte, verdeutlicht das noch einmal. Der Brief Julians ist aber noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Er verrät nämlich sehr offen, wie man sich den Kern einer solchen neuen paganen, im Kult zu thematisierenden Ethik vorzustellen hat: „Üben musst Du nun vor allem die Wohltätigkeit (φιλανθρωπία). Dieser folgen nämlich viele und andere gute Dinge, am herausgehobensten und größten aber das Wohlwollen (εὐμένεια) der Götter. Genauso, wie diejenigen, die mit ihren Herren in Übereinstimmung über Freundschaft und Wertschätzung und Liebe sind, mehr geliebt werden als ihre Mitknechte, so ist anzunehmen, dass die Gottheit, die von Natur aus wohltätig (φιλάνθρωπος) ist, die Wohltätigen unter den Menschen lieben wird …

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Entstanden in der Zeit zwischen 378 und 392. Zur umstrittenen genauen Datierung vgl. zuletzt Michael Fiedrowicz in: Ders./Ingo Schaaf/Claudia Barthold (Hgg.), Johannes Chrysostomus. De sacerdotio. Über das Priestertum. Mit einer Studie zu Werk und Rezeption, Fohren-Linden 2013, 30–33. Ἀρκτέον δὲ ἡμῖν τῆς πρὸς τοὺς θεοὺς εὐσεβείας. Οὕτω γὰρ ἡμᾶς πρέπει τοῖς θεοῖς λειτουργεῖν, ὡς παρεστηκόσιν αὐτοῖς καὶ ὁρῶσι μὲν ἡμᾶς, οὐχ ὁρωμένοις δὲ ὑφ’ ἡμῶν, καὶ τὸ πάσης αὐγῆς ὄμμα κρεῖττον ἄχρι τῶν ἀποκρυπτομένων ἡμῖν λογισμῶν διατετακόσιν [...] καί τε διὰ στερεῶν χωρεῖ θοὸν ὄμμα πετράων [...] εὐσεβέσιν δὲ βροτοῖς γάνυμαι. Iulianus imp., Epistula 89b (ed. Joseph Bidez, L’empereur Julien. Œuvres complètes 1/2, Paris 21960, 167,5–9.15.21).

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Man muss seine Güter mit allen Menschen teilen, … denn wir geben es der Menschheit [als solcher] und nicht einem individuellen Charakter.“103

Nicht nur die eingeforderte paränetische Predigt im Kult und die eingeforderten ethischen Standards für den Klerus, auch die anthropologische Begründung von Wohltätigkeit verbindet Julians Programm mit dem Christentum des vierten Jahrhunderts. Die gewählte Begrifflichkeit der φιλανθρωπία/φιλανθρωπεία findet sich bei den Kirchenvätern bis zur Zeit Julians erstaunlich selten, und wenn, dann in der Regel als φιλανθρωπεία θειοῦ, die Gott zum Beispiel durch den Erlösertod Jesu Christi den Menschen gegenüber erweist.104 Der Begriff wurde bereits bei Aristoteles anthropologisch mit der Verwandtschaft aller Menschen untereinander begründet.105 Weder die Septuaginta noch die neutestamentlichen Schriften106 haben ihn sich jedoch zu eigen gemacht, er blieb eine Begrifflichkeit paganer Elitentugend. Der Juliantext verdeutlicht, warum das so ist. Es ist nicht das Wissen um das „Woher“ und das „Wohin“ des Menschen, das die Wohltätigkeit motiviert, sondern das angenommene Macht- und Patronageverhältnis zwischen Mensch und Gottheit. Der (wohl nicht von ihm selbst formulierte)107 Julianbrief Ep. 84 bezeichnet die christlichen ξενοδοχεία (Herbergen)108 und die christliche 103

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Ἀσκητέα τοίνυν πρὸ πάντων ἡ φιλανθρωπία· ταύτῃ γὰρ ἕπεται πολλὰ μὲν καὶ ἄλλα τῶν ἀγαθῶν, ἐξαίρετον δὲ δὴ καὶ μέγιστον ἡ παρὰ τῶν θεῶν εὐμένεια. Καθάπερ γὰρ οἱ τοῖς ἑαυτῶν δεσπόταις συνδιατιθέμενοι περί τε φιλίας καὶ σπουδὰς καὶ ἔρωτας ἀγαπῶνται πλέον τῶν ὁμοδούλων, οὕτω νομιστέον φύσει φιλάνθρωπον ὂν τὸ θεῖον ἀγαπᾶν τοὺς φιλανθρώπους τῶν ἀνδρῶν. … Κοινωνητέον οὖν τῶν χρημάτων ἅπασιν ἀνθρώποις … τῷ γὰρ ἀνθρωπίνῳ καὶ οὐ τῷ τρόπῳ δίδομεν. Juln. Ep. 89b (Bidez [s.o. Anm. 102], 156,16–22.158,10.14f.). Erst in der Zeit des Johannes Chrysostomus scheint sich das zu ändern. Vgl. etwa Chrys., Hom. in Mt. 52,4f (CPG 4424). Aristot. NE VIII 1,1155a u.ö. Einen Überblick über die Begriffsgeschichte bietet Herbert Hunger, Philanthropia. Eine griechische Wortprägung auf ihrem Wege von Aischylos bis Theodoros Metochites (AÖAW.PH 1/1963), Graz 1963. Lediglich in der Apostelgeschichte (φιλανθρώπως ὁ Ἰούλιος τῷ Παύλῳ χρησάμενος: „Julius verhielt sich freundlich gegen Paulus“ Apg 27,3 [NA 28]; οἵ τε βάρβαροι παρεῖχον οὐ τὴν τυχοῦσαν φιλανθρωπίαν ἡμῖν: „Die fremden Leute da [auf Malta] erwiesen uns nicht geringe Freundlichkeit“ Apg 28,2 [NA28]) und im Titusbrief (ὅτε δὲ ἡ χρηστότης καὶ ἡ φιλανθρωπία ἐπεφάνη τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands…“ Tit 3,4 [NA28]) begegnet er. In einem Herrenwort oder einer paränetischen Weisung kommt φιλανθρωπία nicht vor. Vgl. die Analyse bei Van Nuffelen (s.o. Anm. 100). Vgl. zu den Xenodochien Bernhard Schneider, Christliche Armenfürsorge von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner

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Sorge für die Bestattung armer Menschen ohne Rücksicht auf Loyalitätsund Abhängigkeitsverhältnisse als gefährlich, weil sie ohne erwartbare Gegenleistung bleiben.109 Vielmehr seien wohltätige Maßnahmen für die „eigenen Leute“ (οἱ ἡμέτεροι) zu organisieren und für niemanden sonst.110 Man mag einwenden, dass der Unterschied wohl nicht groß sei. Auch Laktanz konnte, wie ich zu zeigen versucht habe, sich ein Stück weit der römischen Terminologie sozialer Abhängigkeitsverhältnisse bedienen. Zwischen pater et filii („Vater und Söhne“)111 und δεσπότης καὶ δουλοῖ („Herr und Sklaven“)112 bleibt aber ein Unterschied, auch wenn er nicht so massiv und universal erscheinen mag, wie ihn Uhlhorn zu Beginn seiner apologetischen Geschichte der christlichen Liebestätigkeit auszumachen versuchte. 4. FAZIT Gab es nun einen klaren Unterschied zwischen antiker Philanthropie und Euergetismus auf der einen Seite und antiker christlicher Wohltätigkeit auf der anderen Seite? Gab es einen Unterschied, der sich mit einem anderen Menschenbild, einer gewandelten Anthropologie im christlichen Denken erklären ließe? Die Frage ist wohl zu verneinen, wenn man damit unterstellen wollte, die Vätertheologie habe ein völlig neues anthropologisches Konzept erarbeitet, das dann die Bischöfe und Gemeinden in Wohltätigkeit überführt hätten. Nicht einmal die unmittelbare theoretische

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Grenzen, Freiburg/Basel/Wien 2017, 123–128 u.ö.; Otto Hiltbrunner, Art. Herberge, in: RAC 14 (1988) 602–626. τί οὖν ἡμεῖς οἰόμεθα ταῦτα ἀρκεῖν, οὐδὲ ἀποβλέπομεν, ὡς μάλιστα τὴν ἀθεότητα συνηύξησεν ἡ περὶ τοὺς ξένους φιλανθρωπία καὶ ἡ περὶ τὰς ταφὰς τῶν νεκρῶν προμήθεια καὶ ἡ πεπλασμένη σεμνότης κατὰ τὸν βίον; … αἰσχρὸν γάρ, εἰ τῶν μὲν Ἰουδαίων οὐδεὶς μεταιτεῖ, τρέφουσι δὲ οἱ δυσσεβεῖς Γαλιλαῖοι πρὸς τοῖς ἑαυτῶν καὶ τοὺς ἡμετέρους, οἱ δὲ ἡμέτεροι τῆς παῤ ἡμῶν ἐπικουρίας ἐνδεεῖς φαίνοιντο. „Warum also denken wir, dass das ausreichend sei? Warum bemerken wir nicht, dass ihre Wohltätigkeit gegenüber Fremden, ihre Fürsorge für die Gräber der Toten, und die fabrizierte Heiligkeit ihres Lebens am meisten die Vermehrung der Gottlosigkeit unterstützt hat? … Denn es ist schändlich, wenn kein Jude je bettelt und die gottlosen Galiläer nicht nur ihre eigenen Armen, sondern auch unsere unterhalten, es aber für unsere Bedürftigen wohl keine Hilfe von uns zu geben scheint.“ Juln., Ep. 84 (Bidez [s.o. Anm. 102], 144,12–16.145,17–20). Vgl. auch die Kritik in Juln., Misopogon 363AB. Vgl. dazu die zahlreichen Belege bei Wlosok, Laktanz (s.o. Anm. 21), 232–246. Juln., Ep. 89b (s.o. Anm. 103).

MISERICORDIA SECUNDUM NATURAM?

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Verbindung von Anthropologie und φιλανθρωπεία beziehungsweise humanitas lässt sich in den Quellen durchgängig nachweisen. Die patristischen Anthropologien entwickelten sich in einem komplexen Spannungsfeld zwischen biblischen und philosophischen Anthropologien. Auch waren diese biblischen Anthropologien selbst, das hat die Exegese der letzten Jahre gezeigt, weniger einheitlich, als es noch die Kommentare der 1970er Jahre zuweilen unterstellten.113 Gleichwohl gibt es offenbar doch so etwas wie einen gemeinsamen Nenner, der etwa für die Christen des vierten Jahrhunderts eine keineswegs unscharfe Grenze zu den Überlieferungen ihrer nichtchristlichen Vorfahren markierte: Eigentlich alle christlichen Traktate, Briefe und Predigten der großen Väter sind von einer unerschütterlichen Gewissheit um das „Woher“ und das „Wohin“ des Menschen durchdrungen. Diese Überzeugung von einem gemeinsamen Schöpfer- und Erlösergott mag nicht alle Christen zu besseren Mitmenschen gemacht haben. Kritik an der Geldgier des Klerus findet sich in der Antike genauso wie Berichte über große Werke nichtchristlicher Philanthropie.114 Was sich aber in den christlichen Quellen nicht findet, hat eine eigene Signifikanz. Wohltätigkeit wird nicht mehr mit erwartbaren Gegenleistungen in einem Patronagesystem begründet.115 Es fehlt auch der Gedanke, dass Wohltätigkeit als Ausweis besonderer Bildung oder hoher gesellschaftlicher Stellung zu verstehen ist, wie es tendenziell doch dem humanitas-Ideal bei Cicero mit seinem Bildungsziel hin zur humanitas116 oder der φιλανθρωπεία als Herrschertugend in der antiken Panegyrik117 entsprochen hätte. Bettler und Arme zu erniedrigen und zu 113

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Ich denke hier, was das Alte Testament betrifft, an die älteren Arbeiten von Hans Walter Wolff (v.a. Anthropologie des Alten Testaments, München 1973 = Gütersloh 2010; vgl. zur Forschungsgeschichte zuletzt Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments: Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 5–19) im Vergleich mit den neueren Studien von Andreas Wagner (Menschenverständnis und Gottesverständnis im Alten Testament, Göttingen 2017) oder Jürgen van Oorschot (zusammengefasst in Jürgen van Oorschot [Hg.], Mensch, Tübingen 2018, 17–64, mit Lit.). Auch die Septuagintaforschung hat hier einen neuen Blickwinkel eingebracht, vgl. dazu etwa Martin Rösel, Die Geburt der Seele in der Übersetzung, in: Andreas Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (FRLANT 232), Gütersloh 2009, 151–170. Vgl. dazu den Beitrag von Hartmut Leppin in diesem Band. Dies wird etwa bei Clemens von Alexandrien gerade deswegen deutlich, weil bei ihm die Frage der Würdigkeit bestimmter Empfänger offenbar als Streitthema in der Gemeinde vor Augen steht. Clem. Al., Quis dives salvetur 33,2. Vgl. zur Entwicklung der Inklusion Schneider (s.o. Anm. 108) 59–64. Cic., Arch. IV. Vgl. die zahlreichen Beispiele bei Hiltbrunner (s.o. Anm. 53), insbes. 716–718.

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verspotten, wird nicht mehr als Ausweis der eigenen sozialen Stellung oder fortgeschrittener Rationalität toleriert.118 Vielleicht scheut christliche Kunst sogar überhaupt vor verächtlichen Darstellungen von Menschen zurück. Der nichtangemessenen Entsorgung von Leichen werden erhebliche eigene Anstrengungen für (Armen-)Bestattungen entgegengestellt. Die christlichen Xenodochien gewährten anders als die einer bestimmten Gruppe von Nutzern vorbehaltenen vorchristlichen Valetudinarien allen kranken und bedürftigen Menschen Zugang.119 Vielleicht ist es aber auch der universale Anspruch christlicher Theologie und Predigt, in dem der eigentliche Beitrag der theologischen Anthropologie zur Geschichte der christlichen Wohltätigkeit zu sehen ist. Es ist dies eine „Anthropologie“, die, um mit Laktanz120 zu sprechen, dem Menschen in Erinnerung rief, woher er stammt und wohin er geht.

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S. dazu oben die von den Kirchenvätern zitierten Plautus oder Kelsos und deren Kritik bei Laktanz und Origenes. Vgl. dazu die Übersicht bei Otto Hiltbrunner, Art. Krankenhaus, in: RAC 21 (2006) 882–914. Lact., Inst. III 10.

Philanthropy and the Repertoire of Christian Gifts in Early Byzantium DANIEL F. CANER (Bloomington)

The following article is on two things. First, the early Christian notion of philanthropy, and second, certain gift ideals devised to fulfill it in the Roman Empire of the East from the fourth to the seventh centuries. I want to argue, first, that Christian philanthropy actually differed little from Greco-Roman philanthropy, except in scope; second, that Christian monotheism gave the classical concept a universality that was partly expressed by Jesus’ command to “Give to all who ask of thee” in the Gospel of Luke (Lk 6,30; cf. 5,42), and third, that early Byzantine authorities took that command sufficiently seriously to devise not only a variety of institutions like hospitals and poor houses but a distinct set of individual gift-giving options to fulfill it. I will spend little time discussing the more familiar institutional solutions, because I want to focus on some less known gift-giving ideals that emerged in this period, especially, but not only, within monastic culture. Besides alms and charity, the gifts in question include another, called a blessing, as I translate the Greek word, εὐλογία. By the end of my article, I hope to have clarified how early Byzantine authorities differentiated these gifts in terms of their purpose, the materials from which they were supposed to derive, and the different relationships they did or did not imply. These different gifts, I maintain, provided options for meeting the universal challenge of Christian philanthropy on an individual level, complementing the solutions that hospitals and poor houses provided on an institutional level.1 Such issues have received renewed interest among Anglophone scholars over the past twenty years, thanks largely to Peter Brown’s 2002 monograph, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire. As you may 1

I wish to thank Andreas Müller for kindly inviting me to present this paper at the Patristic Conference in Plön 2019. Its ideas are drawn from a monograph I was finishing at the time at Dumbarton Oaks Research Library in Washington D.C. This monograph, The Rich and the Pure: Philanthropy and the Making of Christian Society in Early Byzantium, will be published by the University of California Press in 2021.

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recall, Brown argues that episcopal ambitions for civic leadership resulted in the extension of philanthropy to people previously ignored by the classical euergetism traditionally practiced in Greco-Roman cities, as well as (even if less so) Jewish benefactions.2 Today however I will stress the similarity between Christian and classical notions of philanthropy in one crucial aspect. It is an important, but often neglected fact that in classical and early Christian tradition the Greek word φιλανθρωπία usually did not just mean “love for humanity” or “kindness done for human beings.” Instead, it consistently implied extending kindness to people despite the fact that such people might not deserve such kindness, or despite the fact that it was not obligatory or even justified to show it to them. I call this the “concessive dimension” of ancient philanthropy, and believe that it is important to emphasize, because it gave the ancient concept its potential for universal outreach in both pagan and Christian traditions alike. Indeed, I submit that this concessive element of philanthropy turned the ancient concept, from a lofty ethical ideal, into a provocative and potentially burdensome challenge. What I am saying is perhaps more obvious, as well as more controversial, than it may first sound. As classicists know, the concessive aspect I am attributing to ancient philanthropy is especially prominent in its earliest attestations.3 When the word first appears in the fifth and fourth centuries BCE, we find it applied either to deities like Prometheus and Hermes who –unlike other deities – were consistently helpful to humanity, or to animals like horses, dogs and dolphins which – unlike other animals – were dependably kind to humans. All were considered philanthropic because they consistently defied expectations of callousness or cruelty associated with their kind. Over time the word became a technical term in Athenian legal parlance to describe clemency toward criminals and in Hellenistic and Roman courts to describe the pardon shown to debtors or miscreants. Thus, clemency or indulgence remained central to the classical concept. Yet patristic scholars have rarely acknowledged this facet of ancient philanthropy when discussing early Christian philanthropy. As Richard Finn wrote in his 2006 book, Almsgiving in the Later 2

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Peter Brown, Poverty and Leadership in the Late Roman Empire, Hanover/London 2002. On the range and mechanisms of Jewish caritative practices, see now Gregg Gardner, The Origins of Organized Charity in Rabbinic Judaism, Cambridge 2015. E.g., O. Hiltbrunner, Humanitas (φιλανθρωπία), in: RAC 16 (1994), 711–752, and H. Hunger, ΦΙΛΑΝΘΡΩΠΙΑ. Eine griechische Wortprägung auf ihrem Wege von Aischylos bis Theodoros Metochites, in: DÖAW 100 (1963), 1–20.

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Roman Empire, “royal philanthropia, [meaning] the exercise of clemency towards the defeated and guilty [was] ... far removed from the care of beggars.”4 I have two responses to such views. First, it is true that classical discourse nowhere explicitly refers to showing kindness to beggars or strangers. Nonetheless, classical discourse regularly does use the term to justify giving to all people universally, no matter what their social class or perceived merit. Diogenes Laertius, for example, recognizes that “helping everyone who suffers misfortune” was one of its basic manifestations, while Lucian writes that Timon, the famous fictional misanthrope of Athens, was ruined by showing “philanthropy and pity towards each and every one in need.”5 Such examples show that classical philanthropy always potentially meant doing good to anyone in need, no matter who they were. My second response is that the so-called royal notion of philanthropy, with its ideal emphasis on clemency, is nowhere as explicit as in early Christian literature itself. This is shown above all in the twelfth of the so-called Ps.-Clementine Homilies, which in their present condition probably date from the late third or early fourth century.6 This homily includes a lecture that Peter the Apostle allegedly gave to Clement, the future early bishop of Rome, after Clement had mentioned that his mother had shown extraordinary philanthropy to a poor widow who had earlier helped his mother after she had been shipwrecked. Peter objected to Clement’s use of the word to describe his mother’s generosity, arguing that it could only count as such if his mother had extended such help to someone whom she knew to actually be her enemy. While conceding that her act might count as merciful, he nevertheless maintained that mercy (ἔλεος) was not identical to philanthropy (φιλανθρωπία). Philanthropy [he explains] is part male and part female. Its female side is called “almsgiving” [ἐλεημοσύνη] and its male side “charity [ἀγάπη] to our neighbor.” Now... Humanity includes both the good and the bad, people 4

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Richard Damian Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire. Christian promotion and practice (313-450), Oxford 2006, 216; cf. Jürgen Kabiersch, Untersuchungen zum Begriff der Philanthropia bei dem Kaiser Julian, Wiesbaden 1960, 26–49. Diog. Laert., vitae Phil. 3.98; Lucian, Tim. 8. The complications and uncertainties surrounding this literature are notorious: see Nicole Kelley, Knowledge and Religious Authority in the Pseudo-Clementines: Situating the Recognitions in the Fourth Century (WUNT 213), Tübingen 2006, 1–27 and Stanley Jones, The Pseudo-Clementines. A History of Research, in: SecCen 2 (1982), 1–33, 63–99.

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who are friendly and people who are hostile. Anyone who wished to emulate God’s philanthropy must do good both to the righteous and to the unrighteous alike, just as God bestows sun and rain on all in the present world [cf. Mt 5,45]. Indeed, if you want to benefit [only] good people and not bad people – or to punish the bad – then you are undertaking the work of a judge, not striving for philanthropy.7

This is a very interesting ancient Christian analysis of philanthropy.8 I will return to its definition of charity and almsgiving as male and female aspects of philanthropy in a moment. For now I want to point out three things: first, it categorically defines Christian philanthropy as an act of clemency done to people who did not deserve it; second, it invokes Mt 5,42, where Jesus commands Christians to give to all, imitating God who sends his rain indiscriminately to the just and the unjust alike, and third, it tries to harmonize this universal notion of philanthropy with acts of charity and almsgiving, presented here as subcategories of the universal ideal. Admittedly, Ps.-Clement is unusual in stressing so explicitly the concessive aspect of philanthropy and distinguishing it so emphatically from mercy and almsgiving. His analytical distinction may reflect classical influence: as David Konstan observes, Aristotle reserved the Greek terms ἔλεος and ἐλεημοσύνη for acts of kindness shown to people within one’s own social class or circle, saving philanthropy for kindness to people more generally.9 But it is also likely that Ps.-Clement was inspired by the usage in the New Testament itself. As specialists know, the New Testament uses φιλανθρωπία only three times. Two of these come in the Book of Acts, which uses it once to describe how a Roman guard philanthropically allowed Paul to leave prison to visit his friends (Acts 27,3), and another 7

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Hom.Clem. 12.26.6–8 (GCS 42.187–188, Rehm/Strecker): φιλανθρωπία ἐστὶν ἀρρενόθηλυς, ἧς τὸ θῆλυ μέρος ἐλεημοσύνη λέγεται, τὸ δὲ ἄρρεν αὐτῆς ἀγάπη πρὸς τὸν πλησίον ὠνόμασται· πλησίον δὲ ἀνθρώπῳ ἐστὶν ὁ πᾶς ἄνθρωπος, οὐχ ὅ τις ἄνθρωπος· ἄνθρωπος γάρ ἐστιν καὶ ὁ κακὸς καὶ ἀγαθὸς καὶ ὁ ἐχθρὸς καὶ ὁ φίλος. χρὴ οὖν τὸν φιλανθρωπίαν ἀσκοῦντα μιμητὴν εἶναι τοῦ θεοῦ εὐεργετοῦντα δικαίους καὶ ἀδίκους, ὡς αὐτὸς ὁ θεὸς πᾶσιν ἐν τῷ νῦν κόσμῳ τόν τε ἥλιον καὶ τοὺς ὑετοὺς αὐτοῦ παρέχων. εἰ δὲ θέλεις ἀγαθοὺς μὲν εὐεργετεῖν, κακοὺς δὲ μηκέτι ἢ καὶ κολάζειν, κριτοῦ ἔργον ἐπιχειρεῖς πράττειν, οὐ τὸ τῆς φιλανθρωπίας σπουδάζεις ἔχειν. To my knowledge the only extensive scholarly discussion is in George H. van Kooten, Pagan, Jewish, and Christian Philanthropy in Antiquity: A Pseudo-Clementine Keyword in Context, in: Jan Bremmer (Hg.), The Pseudo-Clementines (Studies on early Christian Apocrypha 10), Leuven 2010, 36–58, which draws different inferences than I do here. Hiltbrunner, Humanitas (s.o. Anm. 3), 744, mentions it, but only as an example of what he calls a theory of “reine Philanthropia.” David Konstan, Clemency as a Virtue, in: CP 100 (2005), 337–346.

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to describe the “unusual” philanthropy that Paul received from local barbarians after being shipwrecked on Malta (Acts 28,2).10 Note that both instances use philanthropy to refer to an act of kindness done by someone from whom one would not expect it. But more important for later Christian tradition is its use in the Pauline Letter to Titus 3,4. In order to persuade Christians to show “courtesy to every person,” the letter notes how God’s philanthropy had made him merciful toward humanity, despite its bad behavior: For once we were foolish, but when the kindness and φιλανθρωπία of God our Savior appeared, He saved us, not because of works of righteousness we had done, but according to His mercy (ἔλεος).11

Note that the Pauline Letter imagines God’s philanthropy in precisely the same manner ascribed to Hellenistic kings and Roman emperors, namely as a willingness to show mercy to people who had done nothing to deserve it. This letter confirms that clemency or indulgence was essential to Christian as well as classical philanthropy from the very beginning and at the highest level. I emphasize this to help us appreciate the scale of the practical challenge that the ideal of philanthropy implied, especially after Constantine’s conversion. Originally conceived in the relatively insular social world of the Greek polis, it was now being espoused by a monotheist religion that held all of humanity in its purview, including all sorts of strangers and poor people who had previously been a concern only if they were citizens of a certain city. That Christians themselves were expected to understand what philanthropy meant in both theory and practice, can be illustrated by three prominent discussions taken from the fourth to sixth centuries. The first is offered by Gregory of Nazianzus (329–390) in his fourteenth oration, conventionally known since antiquity as De pauperibus amandis, “On Love of the Poor.” Convention aside, I think it would be better to call it either De clementia or Περὶ φιλανθρωπίᾳ, because it is the fullest account of philanthropy to survive from antiquity, using the 10

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Acts 27,3: φιλανθρώπως τε ὁ Ἰούλιος τῷ Παύλῳ χρησάμενος ἐπιτρεψεν πρὸς τοὺς φίλους πορευθέντι ἐπιμελείας τυχεῖν... 28,2: βάρβαροι παρεῖχον οὐ τὴν τυχοῦσαν φιλανθρωπίαν ἡμῖν. Tit 3,2–4: πᾶσαν ἐνδεικνυμένους πραύτητα πρὸς πάντας ἀνθρώπους. Ἦμεν γὰρ ποτε καὶ ἡμεῖς ἀνόητοι ... μισοῦντες ἀλλήλους. ὅτε δὲ ἡ χρηστότης καὶ ἡ φιλανθρωπία ἐπεφάνη τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ, οὐκ ἐξ ἔργων τῶν ἐν δικαιοσύνῃ ἃ ἐποιήσαμεν ἡμεῖς ἀλλὰ κατὰ τὸ αὐτοῦ ἔλεος ἔσωσεν.

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word over eighteen times, more than any other single work from either Christian or classical traditions. Focused not on poor people in general but more specifically on the plight of lepers, Gregory wrote the speech to persuade fellow Christians to adopt what he calls τὸ φιλάνθρωπον, a “philanthropic disposition” toward lepers and their plight. In antiquity lepers were the most ostracized of all human beings. “To them,” Gregory observes, “a person is philanthropic not so much when he attends to their needs as when he does not drive them away.”12 Virtually everyone considered such cruelty towards them acceptable: when it came to lepers, Gregory says, “even the most philanthropic people are exceedingly callous.”13 It was against such ingrained prejudice that Gregory invokes the concessive force of φιλανθρωπία, imploring Christians not to ignore the lepers in their midst: “Before you lies the challenge of philanthropy, even if the devil tries to divert you.”14 Like other preachers of the day, Gregory justifies his appeal by reminding audiences that they shared a common nature with lepers. Yet it is precisely his emphasis on showing kindness to people whom they were accustomed to ignore or revile that makes his speech the clearest and most sustained articulation of philanthropy to survive from antiquity. My second example is from John Chrysostom (ca. 340–407). Of course, Chrysostom mentions philanthropy thousands of times in his surviving sermons, including his famous series on Lazarus and on Almsgiving. Usually he mentions philanthropy in close connection to mercy, as if the words were virtually synonymous, and the vast majority of his instances refer to the philanthropy of the deity. When however he refers to philanthropy in his Lazarus and Almsgiving sermons, he does so for the specific purpose of persuading listeners themselves to show mercy to beggars concessively, by giving even to those whom they suspected of being frauds. “Now is the time for philanthropy, not strict judgment,” Chrysostom says. “If we demand an account from our fellow humans [about their merit for alms], then we’ll never attain the philanthropy that comes from above.”15 He even claims that God put Lazarus in front of the rich man’s gate to challenge his capacity for philanthropy. “Give to all who ask of you” (Lk 6,3), Chrysostom says in another sermon. “Since you ask God to forgive and forget your own sins, do not dwell on a 12 13 14 15

GNaz., or. 14.12 (PG 35.872D–873A). GNaz., or. 14.11 (PG 35.872B), cf. 14.10 (869B). GNaz., or. 14.27 (PG 35.896A). Chrys., Laz. et div. 2.5–6 (PG 47.989–991).

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beggar’s sins, even if they’re dreadful. For this is the time for φιλανθρωπία, not close examinations; this a time for mercy, not reckoning.”16 Thus Chrysostom, like Gregory of Nazianzus, invoked philanthropy when trying to convince fellow Christians to be clement to people whom they might otherwise want to neglect or ignore. My third example comes from Barsanuphius, a monk of sixth-century Palestine. Barsanuphius lived near Gaza, a city known for viticulture and wine trade. Barsanuphius served as a spiritual advisor to local laypeople as well as bishops and monks. One letter he wrote is addressed to a layman who had asked if he should let some Jewish neighbors use his winepress. In response, Barsanuphius alludes to Matthew 5,45, answering that if God made rain fall on Christian land but ignored the Jewish lands, then there was no need to share with them. If however, he reasons, “[God] philanthropically sends rain to both the righteous and the unrighteous alike, then why,” he asks, “should you be inhumane?”17 Thus, like Ps.-Clement, Barsanuphius alludes to Mt 5,45 to exemplify philanthropy and make clear its implication that serious Christians should not distinguish between deserving and undeserving recipients of their generosity. In sum, all these examples explicitly invoked the concept of philanthropia expressly to persuade people to show mercy to those whom they were inclined to despise or ignore, ranging from decrepit lepers to deceitful beggars to neighboring Jews. Again, my reason for pointing this out is to emphasize the universal scale of the challenge posed by early Byzantine philanthropy, so as to make clear the need for solutions that might make it possible to fulfill this challenge on a practical level. So it’s to solutions that I now turn. Of course, one solution was by institutionalizing philanthropy through the poor houses, hospitals and hospices mentioned earlier. But rather than talk about these institutions, innovative though they were, I will focus instead on solutions developed for individual givers. In particular, I want to focus on solutions developed by monastic authorities, since it was on monks and their resources that the burden of universal philanthropy arguably weighed most heavily. The solutions I have in mind were based on the creation of a range of 16 17

Chrys., In Heb. 11.10 (PG 63.95); cf. compunct. 1.4, In Mt. 35.4–5, In Phil. 1.5. Bars. et Jo., resp. 686 (SC 468.122–124, Neyt/Regnault): Εἰ δὲ φιλάνθρωπός ἐστιν εἰς πάντας καὶ βρέχει ἐπὶ δικαίους καὶ ἀδίκους, διὰ τί σὺ θέλεις εἶναι ἀπάνθρωπος, καὶ μὴ μᾶλλον οἰκτίρμων ὡς αὐτός φησι· “Γίνεσθε οἰκτίρμονες ὡς ὁ Πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος;”

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different Christian gifts, each distinguished by its purpose, appropriate set of recipients and the material resources from which they derived. I have three types of gifts in mind: first a gift of alms (ein Almosen) by which I translate ἐλεημοσύνη; second, a gift of charity (ein Geschenk der Nächstenliebe) by which I translate ἀγάπη; and third, a gift called a blessing (ein Segen), by which I translate the Greek word εὐλογία. It has been my experience that few scholars differentiate between these gift ideals, perhaps because they assume them to be synonymous or that the distinctions are too minute to matter. On the following pages I will sketch out their differences and how they responded to different gift-giving situations and purposes. One conclusion of recent anthropology on gift-giving that has been particularly illuminating is that gift ideals tend to be born out of contrast with other, preexisting notions of gift-giving or exchange.18 That is certainly true with these three Christian gifts: not only does each seem to have a secular or Jewish antecedent, but each also seems to have gained definition over time through contrast with one of the others. I begin my discussion with alms and charity. As Ps.-Clement demonstrates, early Christian authorities had a nuanced understanding of both. As mentioned above, he claimed that almsgiving represented the feminine side of philanthropy, while charity represented its male side. Such almsgiving, he goes on to say, is exemplified by helping whoever falls into misfortune, whether by feeding the hungry, clothing the naked, visiting sick people and prisoners. Charity, on the other hand, is exemplified by showing someone else exactly as much forgiveness as you would want to receive yourself. That’s all that Ps.-Clement has to say on the matter. Clearly he thought that the alms and charity were akin, but differed in degree of identification with the person in misfortune. Apart from that, what did he mean? Here we gain insight from gender studies: as is now well known, the ancient Greeks tended to consider a female to be an incomplete or not fully formed version of a male. I believe this was what Ps.-Clement was trying to convey about gifts of alms and mercy in relation to gifts of charity and love: that the former were incomplete versions of the latter. Certainly that would be consistent with what other authorities say. John Chrysostom, for example, discusses alms as a means of instilling charity, 18

See in particular Jonathan Parry/Maurice Bloch, Introduction, in: Dies. (Hgg.), Money and the Morality of Exchange, Cambridge 1989, 1–32, and Ilana F. Silber, Echoes of Sacrifice? Repertoires of Giving in the Great Religions, in: Albert I. Baumgarten (Hg.), Sacrifice in Religious Experience (SHR 93), Leiden 2002, 291–312.

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calling it “the fountain by which charity is watered, for nothing so much nurtures charity, as when a person is merciful.” In fact he goes on to claim that God had ordained almsgiving so that people might become bound to each other by charity.19 Similarly we find ascetics like Isaiah of Gaza (d. 489) asserting that “informed almsgiving begets foresight, and leads to charity.”20 So in what other respects did these authorities think that a gift of alms was akin to, but different from, a gift of charity? The essence of almsgiving was, of course, mercy, and as Chrysostom remarks, nothing was supposed to be “so characteristic of a Christian, as almsgiving.”21 It is hard to reduce such a far-ranging practice and concept to a precise definition. Almsgiving could be done in a number of ways, including through the mediation of the church, and could consist of kind words and gestures as well as material gifts. One reason for its relative lack of precision may be that the New Testament nowhere defines exactly what constitutes alms, except to indicate that it is not supposed to be associated with pride (Mt 6,1–4). Nonetheless three elements are regularly emphasized, at least by Chrysostom, that distinguish alms from other Christian gift ideals. In the first place, it implied an asymmetrical relationship between people who were not friends or peers and differed in terms of material circumstances and need. Of course, paradoxes were constructed upon this basic asymmetry, including that of the wealthy giver who was not physically needy, yet still more in need than his needy recipient (an argument dear to Chrysostom and Augustine alike, and rooted in an old Stoic paradox about the worries brought on by wealth). But the fact remained that almsgiving always entailed some sort of asymmetry in which one person who had more to give to another who had less. Perhaps this essential fact made it inevitable that almsgiving became increasingly identified with a rich person’s atonement for sins against the poor, especially for sins related to πλεονεξία, meaning not just greed but an unjust effort to take and possess more than what one actually needed. Redemptive almsgiving is a familiar concept, but we must note that such redemption is not similarly associated in early Byzantine tradition with 19

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Chrys., In Act. 22.4 (PG 60.175): δι’ ἧς ἀγάπης τὸ φυτὸν τρέφεται. Οὐδὲν γὰρ οὕτως ἀγάπην τρέφειν εἴωθεν, ὡς τὸ ἐλεήμονα εἶναί τινα. Cf. In 1 Cor. 32.9 (PG 61.271), In Tit. 6.3 (PG 62.698). Isaac. Scet., log. 15.55 (CSCO 293.295, Draguet): ἡ ἐν γνώσει ἐλεημοσύνη τίκτει τὸ προορᾶν, καὶ ὁδηγεῖ εἰς τὴν ἀγάπην. Cf. Evagr. Pont., Exp. in Prov. (SC 340.104, Géhin), Ps.-Ath., renunt. (PG 28.1412). Chrys., In Heb. 32.3 (PG 63.224): Οὐδὲν οὕτω χαρακτηριστικὸν Χριστιανοῦ, ὡς ἐλεημοσύνη· οὐδὲν οὕτω καὶ ἄπιστοι καὶ πάντες θαυμάζουσιν, ὡς ὅταν ἐλεῶμεν.

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the gifts of either charity or blessings, and we must appreciate the redemptive logic associated with almsgiving itself: the more one had unjustly seized from the poor, the more one had to give back as mercy in terms of both quantity and effort, in order to purify the gift and win forgiveness from the poor.22 This emphasis on penitential effort in almsgiving leads to a further distinct aspect of the early Byzantine ideal, namely contact between those in need and those not in need. To be sure, not all early Byzantine preachers recommended direct almsgiving, but John Chrysostom did, and this seems to have been connected to the emphasis he placed on the transformative power of almsgiving. He describes direct almsgiving as a diakonia, a ministration, illustrated by Abraham’s personal feeding of the three strangers in Genesis 18,1–18. Abraham was exceptional in that all his wealth was considered righteous wealth, but for Chrysostom he exemplified a humble condescension that was respectful of and sensitive to the needs of strangers.23 As he saw it, the primary benefits of such almsgiving was that it taught wealthy or fortunate Christians compassion by bringing them into contact with the sufferings of people in need and distress. Such contact – when initiated in the proper, merciful spirit – had the effect of humbling the almsgiver, making him experience what pride otherwise prevented him from seeing or feeling.24 Needless to say, such temporary humiliation made almsgiving also effective as an act of penance. That is all I will say for now about the distinct characteristics associated with almsgiving in early Byzantine tradition: its distinct features include temporary, asymmetrical relationships, gifts derived from unjust surplus resources and the acquisition of humility and compassion through direct interaction between the fortunate and less fortunate. These features distinguish an ordinary gift of alms from a gift of charity. 22

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The scriptural exemplar was Zacchaeus (Lk 19,1–10): Bas. Caes., r. brev. 271 (PG 31. 1269B); Chrys., In Jo. 88.3 (PG 59.482), In Mt. 41.4 (PG 57.451). Chrys., In Rom. 21.3 (PG 60.606), In 1 Tim. 14.2 (PG 62.573) In Gen. 41.6 (PG 53. 382); in general, Otto Plassmann, Die Almosen bei Johannes Chrysostomus, Münster 1960, 26–30 Chrys., In Jo. 81.3 (PG 59.442); In Eph. 18.4 (PG 62.125); In 1 Cor. 30.4–5 (PG 61. 255). For the patristic view of the general need of humans to be trained in compassion, Paul M. Blower, Pity, Empathy, and the Tragic Spectacle of Human Suffering. Exploring the Emotional Culture of Compassion in Late Ancient Christianity, in: JECS 18 (2010), 1–27 and Susan Wessel, Passion and Compassion in Early Christianity, Cambridge 2016.

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I already mentioned that almsgiving and charity were thought to be akin, yet different. Early Byzantine authorities usually imagined this difference as a hierarchy in which almsgiving led to charity, which itself was conceived as a higher, more advanced type of merciful giving – thus, all gifts of charity were also gifts of alms, but not all gifts of alms qualified as gifts of charity. The differences between the two were especially articulated in ascetic discourse: Dorotheus of Gaza (d. ca. 565), for example, describes several different types of almsgiving practices, each of which he accepted as good, while considering some more pleasing to God than others: foremost were alms given out of compassion, a capacity that caused one to recognize one’s neighbor’s interests as one’s own. To give for this reason, Dorotheus explained, fulfilled Jesus’ command, “love one’s neighbor as oneself” (Mt 22,39).25 Guided by this and Jesus’ definition of love as the willingness to give one’s life for another (Joh 15,13), such writers defined charitable giving as a willingness to give what was most precious or essential for another person’s benefit. This concept of charity was exemplified not only by the scriptural pericope of the widow and her two mites (Mk 12,41– 44, Lk 21,1–4), but by a later monk’s willingness to stake his own soul on atoning for someone else’s sins, a practice called burden-bearing (cf. Gal 6,2). The letters of Barsanuphius and John of Gaza offer many examples of this relationship.26 Among its common features are the explicit identification of burden-bearing with charity, close association of such charity with compassion, an avowed willingness to give one’s soul for another, and a consistent expectation of varying degrees of cooperation in prayers and penance, moving from an asymmetrical relationship, such as existed between Barsanuphius and novice monks, to a nearly symmetrical, lasting relationship between virtual peers, as existed between Barsanuphius, John of Gaza, and other advanced anchorites who spent their time thinking about and praying for each other’s salvation.27 As the letters they exchanged indicate, such monks sacrificed everything for the eternal benefit of all who asked – the result being not just the highest expression of mercy, but also the highest expression of love. 25 26

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Doroth. Gaz., log. 14.154 (SC 92.432–434, Regnault/Préville). Bruria Bitton-Ashkelony, The Necessity of Penitence, ‘Bear One Another’s Burdens’ (Gal 6,2), in: Buria Bitton-Ashkelony/Aryeh Kofsky (Hgg.), The Monastic School of Gaza (SVigChr 78), Leiden 2006, 145–156; and Alexis Torrance, Standing in the Breach. The Significance and Function of the Saints in the Letters of Barsanuphius and John of Gaza, in: JECS 17 (2009), 467–469. These studies do not discuss the conceptualization of the practice as a gift of charity, however. E.g., Bars. et Jo., resp. 270 (SC 450.254, Neyt/Regnault).

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There are several reasons why such authorities generated these gift ideals and the distinctions between them that had little to do with philanthropy. Certain scriptural passages, a desire to clarify the relation between Christian love and mercy, as well as an early Byzantine concern for penance, all conspired to inspire. But the distinction also arose from the pressure exerted on Christian monks to give to all who asked. This command weighed especially heavily on anchoretic monks who practiced ἀκτημοσύνη, “freedom from possessions.” It is no surprise that most of the evidence for gifts of charity are found in anchoretic discourse, such as the letters of Barsanuphius and the Apophthegmata patrum. At least in theory, such solitaries never possessed more than they needed, so that anything they gave by definition had to derive from their most essential goods, whether material or spiritual. Thus in theory every gift from an anchorite might have constituted a gift of charity. Conceptualizing gift-giving this way perhaps encouraged a willingness to make such a sacrifice. Yet there remained of course a practical dilemma as to how to give easily, without always having to make such a sacrifice. This was especially challenging if, as a monk, you did not want to acquire more than what you needed – thereby technically committing the sin of pleonexia yourself – or to form a lasting relationship with the beneficiaries of your generosity, as charity implied. What other solution was there? This brings me to the last of the gifts I will discuss here, the Christian blessing. Gifts called by this name are known from a number of early Byzantine sources, including papyri and those preserved in the form of clay ampullae stamped, EULOGIA, “Blessing,” that were dispensed at pilgrim shrines. While scholars have usually referred to such items accurately as eulogiai – blessings – they have usually also described them inaccurately as pilgrim souvenirs, apparently unaware of the full significance of the early Byzantine term.28 We are best informed about that original significance by hagiography. Let me summarize a story from the seventhcentury Life of Theodore of Syceon. Theodore was a monk in northwestern Asia Minor who had a practice of spending Lent each year fasting in an iron cage outside his monastery, dressed in a hairshirt and a suit of iron weighing almost 50 kilograms. In this state he attracted visitors, including, 28

For more extensive discussion from which this is drawn, see Daniel Caner, Towards A Miraculous Economy. Christian Gifts and Material ‘Blessings’ in Late Antiquity, in: JECS 14 (2006), 328–377; and Ders., Alms, Blessings, Offerings. The Repertoire of Christian Gifts in Early Byzantine Hagiography, in: Michael L. Satlow (Hg.), The Gift in Antiquity, Malden 2013, 25–44.

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we are told, a bear that came three years in a row to receive a blessing to eat from Theodore’s own hand. One year a terrifying wolf appeared on the scene instead. Upon seeing him Theodore’s attendant tried to chase him away, but the saint intervened, saying, He’s only come in search of food. Don’t drive him away, but take this eulogia and give it to him, so that God’s command, “Give to all who ask of thee” [Mt 5,42] will be fulfilled not only with humans but even with wild beasts.29

So the attendant went to a basket where Theodore kept his eulogiai – his blessings – that he dispensed to visitors, and gave a piece of bread to the wolf, which skulked around until he also was given a slice of apple, then went away. I summarize this vignette to draw attention to its simultaneous depiction of Theodore’s philanthropic challenge and his practical solution. The challenge lay in Jesus’ command “Give to all who ask of thee.” Though few of us might be inclined to take this command literally today, Theodore’s hagiographer George of Syceon insists that it meant giving to animals as well as humans, leaving no room whatsoever for a narrower, more casual or exclusive interpretation. He then indicates that this challenge had a distinct solution, repeatedly using the word εὐλογία to designate the small gifts that were to be given to the wolf, which, upon receiving them, departed, evidently returning no more. Were this the only such story in which an unknown visitor unexpectedly arrived at a monastery and was given a small gift of food called a blessing, we might think little of it. But in fact, it exemplifies an early Byzantine topos typically found in hagiography about monks. Inspired by Gospel stories of Jesus’ Feeding of the Multitudes (Mt 14,13–21, Mk 6,31–44, Lk 9,12–17, Joh 6,1–14), this topos usually involves a disciple or steward who doesn’t think his monastery has enough to feed its unexpected guests, only to be proven wrong once the resident holy man directs him to give whatever they had, leading the disciple to discover that they had enough to feed all and have something leftover. Common to such stories is the challenge of providing something for all 29

Georg. Syc., v.Theod. Syc. 30 (SHG 48.27–28, Festugière): λαβὼν ἐξένεγκε αὐτῷ, ἵνα μὴ μόνον ἐπ’ ἀνθρώπων, ἀλλὰ καὶ ἐπὶ τῶν ἀγρίων ζῴων ἡ ἐντολὴ τοῦ θεοῦ πληρωθῇ ἡ λέγουσα· “παντὶ τῷ αἰτοῦντί σε δίδου”. Λαβὼν οὖν ὁ ὑπηρέτης ἄρτου κλάσμα καὶ κόμμα μήλου, ἐξ ὧν εἰώθει διδόναι εὐλογίας ὁ ἁγιώτατος τοῖς παραγινομένοις ... τότε ἔρριψεν αὐτῷ καὶ τὸ τοῦ ἄρτου κλάσμα, καὶ εὐθέως ἀνεχώρησε δρόμῳ· καὶ οὕτως εἰσῆλθεν ὁ ὑπηρέτης ἀπαγγέλλων τὴν τοῦ θηρίου ἀναίδειαν.

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who came, with the solution presented as that of providing gifts that are never called alms or charity, but always called blessings, eulogiai, as in Theodore’s story.30 Historians might be inclined to dismiss Theodore’s story as a hagiographical conceit. But in fact it did not merely reflect a literary topos. Letters and travelogues in this period frequently refer to small monastic gifts given to visitors called blessings, and a broader range of sources indicate that such gifts were given and received not only by monks but also by lay people. Such gifts tended to be small, cheap, negligible things like a slice of apple or piece of bread, as in Theodore’s story. Indeed, Theodore’s story recalls practical advice that Barsanuphius himself had given when monks asked him whether they really had to give to all who came asking at their monastery in sixth-century Palestine. Barsanuphius replied that even if the visitor was a thief or a professional beggar, they should give him a blessing and even a little more to send the unwanted visitor on his way.31 Note this is exactly how Theodore’s disciple was told to deal with their unwanted wolf, first by giving it a piece of bread called a blessing, then a slice of apple called a blessing, after which the wolf went away and apparently left them alone. Thus there was a remarkably consistent early Byzantine discourse pertaining to gifts called blessings. One reason for its consistent presentation is that it was grounded in a detailed scriptural passage, namely Second Corinthians 9,5–12. In this passage, Paul describes the type of gifts he wishes to the Corinthians to give in support of the Christian saints in Jerusalem. Paul not only refers to such gifts as blessings but describes them in a way meant to distinguish them from other gifts. First and foremost, he emphasizes that they had nothing to do with pleonexia, compulsion or greed; second, he indicates that they were supposed to derive from whatever materials might be superfluous from those which God had supplied for a Christian’s necessities. In other words, they could come from any useless leftover, unneeded surplus or scrap, a condition that facilitated giving them away in a manner pleasing to God. And whether Paul intended this or not, their superfluous nature meant that such gifts imposed little pressure for reciprocity or lasting relationships between their givers and receivers. 30

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For examples and discussion, Daniel Caner, Wealth, Stewardship, and Charitable ‘Blessings’ in Early Byzantine Monasticism, in: Susan R. Holman (Hg.), Wealth and Poverty in Early Church and Society, Grand Rapids 2008, 221–242. Bars. et Jo., resp. 587–589 (SC 451, Neyt/Regnault).

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Indeed, from the fifth century onward, blessings were regularly depicted as divine gifts bestowed by God through human donors. This idea not only invested them with a higher value than their materials might have suggested, but it also implied that they were not meant to create lasting relationships or reciprocal obligations, since all were credited ultimately to God. Thus a blessing was an impersonal gift, implying benevolence without reciprocity, taken from leftover, God-given goods. Unlike a gift of alms derived from ill-gotten gains, it was thought to come from a pure, Godgiven abundance, and unlike a gift of charity, it could be easily given away, without requiring sacrifice or lasting reciprocation. Thus, from a monk’s perspective, a Christian blessing was the perfect gift. If this gift is no longer familiar today, it is not only because most of us are not monks, but also because we no longer inhabit a world that is defined, on the one hand, by compulsory gift-giving on every level in the secular or worldly sphere of our lives, and, on the other hand, by a religious principle of philanthropy that requires everyone to give to all who ask indiscriminately, even if those who ask do not deserve it. Of course, early Byzantine blessings themselves depended on the receipt and proper handling of an assortment of offerings, as would take more time to discuss. But I hope I have said something illuminating on early Christian philanthropy and the material gifts invented to fulfill it.

Zu Perspektiven und Methoden der „Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung“ BERNHARD SCHNEIDER (Trier)

Will man in Deutschland werbend die Bedeutung der Kirchen und allgemein des Christentums herausstreichen, fällt rasch der Hinweis auf die Leistungen im Bereich von Caritas / Diakonie. Dafür lassen sich in der Gegenwart unschwer Beweise anführen, denn die institutionalisierten kirchlichen Hilfsdienste in Gestalt von Deutschem Caritasverband und Diakonie Deutschland zählen zu den größten Arbeitgebern in Deutschland (Diakonie 525.707 Hauptamtliche; 658.785 berufliche Mitarbeiter/innen bei der Caritas) und erbringen millionenfache Leistungen in vielen Feldern. Zudem sind sie auch medial präsent, sei es im Internet oder auch mit ihren Plakatkampagnen.1 Zugleich gilt diese Handeln kirchlicher Akteure in der theologischen Reflexion als ein zentrales Wesensmerkmal von Kirche überhaupt.2 Vor diesem aktuellen Hintergrund lässt sich auch plausibel begründen, warum man sich in den historisch arbeitenden Wissenschaften mit Caritas / Diakonie beschäftigen kann, soll und muss. Zugleich kann man noch immer die Aussage wagen, dass die wissenschaftliche Kirchengeschichtsschreibung sich dieser Thematik kaum in einer seiner Bedeutung entsprechenden Intensität gewidmet hat. Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner langjährigen Arbeit an diesem Themenkomplex im 2012 erfolgreich beendeten Trierer Sonderforschungsbereich „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“3 und meinen laufenden Forschungen. 1

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Vgl. nur die informativen Homepages der beiden Institutionen: www.diakonie.de/ bzw. www.caritas.de/ (Zugriff am 25.10.2020). Vgl. Herbert Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche (UTB 8397: Soziale Arbeit, Diakonie), Paderborn 2009; Heinz Rüegger/Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich 2011. Vgl. den Abschlussbericht unter www.fze.uni-trier.de/wp-content/uploads/2017/10/ SFB600_Abschlussbericht1.pdf sowie den Überblick über Programm und Teilprojekte unter www.fze.uni-trier.de/presse-service/archiv/sfb/ (Zugriff am 25.10.2020).

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Diese knappe Skizze versteht sich als Anregung und Versuch und erhebt auch in der genannten Literatur keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Zur Terminologie sei im Vorgriff auf das folgende Kapitel hier nur kurz angemerkt, dass es keine feststehende Begrifflichkeit für den Untersuchungsgegenstand gibt, vielmehr mit historisch gewachsenen und mehr oder weniger lange bestehenden Traditionen zu rechnen ist. Die Rede von „Caritas“ bzw. „Diakonie“ entspricht konfessionellen Vorlieben, Konventionen und Traditionen, ohne dass sich wissenschaftlich zwingend Argumente ergeben, die den Verzicht auf einen der beiden Zentralbegriffe nach sich zögen. Ich selbst bevorzuge mittlerweile den Begriff „karitative Diakonie“, da er den grundlegenden Dienstcharakter kirchlichen Handelns generell (Diakonie) auf ein spezifisches Handlungsfeld hin konkretisiert (die verschiedene Formen annehmende Hilfe in Notlagen) oder spreche von „christlicher Armenfürsorge“, um die spezifisch auf religiöser Basis erfolgenden Hilfen zu adressieren.4

1. GRUNDLEGUNGEN Meine Grundannahme ist – und sie war zugleich die Grundlage für die gesamten Forschungen im erwähnten SFB 600 –, dass Armut mehr ist als das bloße Vorhandensein von existentieller Not. Dahinter steht die Beobachtung, dass Armut als eine soziale Beziehung zu sehen ist, die dadurch entsteht, dass Gesellschaften Notlagen und Mangelsituationen registrieren und bearbeiten.5 Dies erfolgt aus unterschiedlichen und wechselnden Perspektiven und geschieht durch Prozesse ineinandergreifender Inklusionen und Exklusionen. „Armut kann dabei sowohl als Ursache wie als Folge von Exklusion beschrieben werden.“6 Umgekehrt ist Armenfürsorge dann zu verstehen als das Resultat von Inklusionsvorgängen, die ebenfalls unterschiedliche Modi aufweisen, zum Beispiel 4

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Vgl. dazu Bernhard Schneider, Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen, Freiburg i.Br. 2017, 20–24. Vgl. Lutz Raphael, Armut zwischen Ausschluss und Solidarität. Europäische Traditionen und Tendenzen seit der Spätantike, in: Herbert Uerlings/Nina Trauth/Lukas Clemens (Hgg.), Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2011, 23–31. Herbert Uerlings, Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, in: Herbert Uerlings/ Nina Trauth/Lukas Clemens (Hgg.), Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2011, 13–22: 14.

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durch den gemeinsamen Glauben und religiöse Argumentationsmuster und Semantiken (unter anderem Nächstenliebe; Gottebenbildlichkeit aller Menschen). Insoweit ist Armut eine Konstruktion und dementsprechend können in einer caritas-/diakoniegeschichtlichen Forschung nicht zuletzt die Konstruktionsprozesse und nicht allein die jeweiligen konkreten Notlagen und Hilfsmaßnahmen im Fokus der Analyse stehen. Armut und Armenfürsorge (karitative Diakonie) sind ein Thema langer Dauer: Über in der historischen Lehre und Forschung etablierte Epochengrenzen hinweg lässt sich der Umgang mit Armut und Armen beobachten. Dabei ist es möglich und auch Ziel, langfristigen historischen Wandel ebenso wie mögliche langlebige Armutsbilder, Semantiken und konkrete Modi von Inklusion/Exklusion herauszuarbeiten. Zum anderen kann man gezielt auf mögliche Umbruchphasen schauen, um Dynamiken (beschleunigter) Veränderungen zu erfassen. Armut als soziale Beziehung und Konstruktion zu verstehen, richtet den Blick einer Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung auf verschiedene Analysefelder. • Akteure • Diskurse / Begriffe • Institutionen • Räume Jedes dieser Analysefelder eröffnet spezifische Perspektiven für die caritas-/diakoniegeschichtliche Forschung. Mit der Akteursperspektive widmet sich diese Forschung über die Frage nach dem Handeln der einen oder anderen historischen Person hinaus gezielt auch komplexen Aushandlungsprozessen. Es geht um Aushandlungsprozesse zwischen Armen und Trägern verschiedener Inklusionsangebote (private Wohltäter, philanthropische Organisationen/Vereine, Kirchen, Kommunen und Staat), die zugleich Vertreter von (institutionalisierter) Exklusionsgewalt waren. Arme verschiedener Epochen und gesellschaftlicher Formationen werden so auch als Personen beziehungsweise Gruppen sichtbar, die aktiv und (teils) mit gezielter Strategie eigene Interessen vertraten. Sie kommen zugleich auch, aber eben nicht nur als Objekte obrigkeitlicher Maßnahmen oder karitativ-wohltätigen Handelns in den Blick. Dementsprechend wird auf diese Weise auch eine „klassische“ institutionen- oder organisationsgeschichtliche Forschung in den Gesamthorizont einer Caritas-/ Diakoniegeschichtsschreibung eingebunden. Mit dieser Perspektive lassen sich neuere, in den historisch arbeitenden Kulturwissenschaften erprobte Zugänge verknüpfen. So lässt sich vor dem Hintergrund des

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sogenannten „performative turn“7 nach der Ausgestaltung der Handlungsabläufe beim Hilfesuchen wie bei den Hilfshandlungen fragen. Welche Haltungen nehmen Arme ein, um Hilfe zu erlangen? Welche Gesten führen sie aus? Umgekehrt gilt das auch für die Spender: Wie geben sie? Antworten auf diese Fragen können nicht zuletzt Bildquellen liefern, die zumindest die Stilisierung solcher Handlungen und Haltungen durch die Bildproduzenten vor Augen führen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.8 Es zeigt sich, dass Handlungen im Bereich der Armenfürsorge teils hochgradig ritualisiert waren. Ausgeprägt lässt sich das im monastischen Bereich zeigen, doch übernahmen auch Bruderschaften oder Herrscher derartige rituelle Praktiken. Die Benediktsregel und ihre Ausleger entwarfen ein detailliertes Ritual der Aufnahme und Versorgung der Armen. Teils war das Geschehen direkt mit der Liturgie verbunden, wofür sich die Fußwaschung und Armenspendung am Gründonnerstag anführen lassen.9 Mit diesen Hinweisen sei nur knapp angedeutet, dass Forschungen zur christlichen Armenfürsorge ohne weiteres auch anschlussfähig sind an die Forschungen zur symbolischen Kommunikation, die nicht zuletzt der frühere Münsteraner Sonderforschungsbereich „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution“ etabliert hat.10 Armut und Armenfürsorge als Konstruktions- und Selbstverständigungsprozesse zu verstehen, macht es leicht verständlich, dass Begriffe und Diskurse bedeutende Felder einer Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung sein müssen. Schon das Programm der hier dokumentierten Tagung „Wohltätigkeit im antiken und spätantiken Christentum“ signalisiert diese Dimension, wenn der verantwortliche Organisator Andreas Müller auf die abweichenden Begriffe für den Tagungsgegenstand in den verschiedenen Konfessionen hinweist und sich selbst auf den neutral anmutenden Terminus „Wohltätigkeit“ zurückzieht. Die Relevanz der Begriffe 7

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Vgl. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hgg.), Geschichtswissenschaft und  »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Norm und Struktur 19), Wien 2003, 1–32. Vgl. unten Kap. 3. Vgl. Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 4), 110 f., 128–131, 224, 233, 269. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriff, Thesen, Forschungsperspektiven, in: ZHF 31 (2004), 489–527; Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale (Historische Einführungen 16), Frankfurt a.M. 2013; Barbara Stollberg-Rilinger/Thomas Weißbrich (Hgg.), Die Bildlichkeit symbolischer Akte (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 28), Münster 2010.

ZU PERSPEKTIVEN DER „CARITAS-/DIAKONIEGESCHICHTSSCHREIBUNG“ 113

zeigt auch das Ringen in der Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung selbst um die passenden Titel. Georg Ratzinger schrieb eine „Geschichte der kirchlichen Armenpflege“11, sein protestantischer Konkurrent Gerhard Uhlhorn eine „Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit“12, Wilhelm Liese eine „Geschichte der Caritas“13 und Robert Herrmann gab seiner Darstellung den Titel „Die Kirche und ihre Liebestätigkeit“14. Ich selbst habe mein Buch „Christliche Armenfürsorge“ überschrieben und das nicht ohne Bedenken.15 In solchen Titeln spiegelt sich zum einen die bevorzugte Semantik der jeweiligen Zeit und eine gewisse Konjunktur bestimmter Vokabeln. „Caritas“ war zum Beispiel im 19. Jahrhundert weithin ungebräuchlich, gewann dann aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasch an Popularität.16 Auch der Fürsorgebegriff ist nicht schlicht neutral, sondern hat seine Geschichte und erntete seit den 1960er Jahren Kritik vor allem wegen der mit ihm assoziierten bevormundenden Tendenz fürsorgerischen Handelns. Aktuell erfährt er besonders über den Umweg des englischen „care-Begriffs“ eine Art Renaissance und Rehabilitation.17 Die Wortwahl war aber mehr als bloßes Produkt historischer Zufälligkeit. Die Semantik steht in enger Verbindung mit Vorstellungen über richtiges und falsches Handeln angesichts der jeweils vorhandenen verschiedenen Formen von Not und kann damit normative Wirkung entfalten. Im Feld der karitativen Diakonie lässt sich die Persistenz einer überkommenen 11

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Georg Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege, Freiburg i.B. 21884 (Ndr. Freiburg i.Br. 2001). Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit, Stuttgart 1882–1890. Bd. 2 und Bd. 3 liegen jetzt in einer neuen Edition vor: Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit. Zweiter Teil: Die christliche Liebesthätigkeit im Mittelalter. Dritter Teil: Die christliche Liebesthätigkeit seit der Reformation. Hg. und bearb. von Inge Mager (Gesammelte Schriften / Gerhard Uhlhorn 2), Hannover 2006; 2012 (Neuausg. 2., verb. Aufl. 1895) (hg. und bearb. von Inge Mager). Wilhelm Liese, Geschichte der Caritas, Freiburg i.Br. 1922. Robert Herrmann, Die Kirche und ihre Liebestätigkeit vom Anbeginn bis zur Gegenwart (Lebendig Caritas 1), Freiburg i.Br. 1963. Vgl. Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 4), 23f. Vgl. Antje Bräcker/Michaela Collinet/Ingmar Franz/Christian Schröder, Vom Almosen zur Solidarität. Begriffe und Konzepte des Helfens im Katholizismus von der Aufklärung bis ins späte 20. Jahrhundert, in: Michaela Collinet (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert (Religion – Kultur – Gesellschaft 2), Berlin 2014, 161–185: 164f., 172f. Vgl. Christa Schnabl, Gerecht sorgen. Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge (SThE 109), Freiburg/Schweiz 2005; Gert Melville/Gregor Vogt-Spira/Mirko Breitenstein (Hgg.), Sorge (Europäische Grundbegriffe im Wandel 2), Köln u.a. 2015.

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religiösen Semantik auch über massive gesellschaftliche und politische Veränderungen hinweg nachweisen.18 Noch neuere öffentliche Debatten zehren davon und nutzen eine in der Bibel grundgelegte Begrifflichkeit (zum Beispiel Barmherzigkeit; Almosen).19 Über die Begriffsgeschichte hinaus eröffnet die historische Diskursanalyse einen methodischen Zugang, der gerade auch epochenübergreifend bemerkenswerte Resultate erbringen kann.20 Hinzuweisen ist etwa auf die wahrlich bemerkenswerte Karriere von 2 Thess 3,10 (Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen). Diese Bibelstelle ist seit der Kirchenväterzeit bis hin zur Debatte um die Harz IV-Gesetze oder auch die Tagung eines linken AStA an der Universität Bamberg zu finden, wenn es um die Frage der Unterstützungswürdigkeit und der bedingungslosen oder eben an das Kriterium der Arbeitswilligkeit geknüpften Hilfeleistung geht.21 Historische Diskursanalyse macht auch sichtbar, dass die vor allem aus Spätmittelalter und Früher Neuzeit bekannten und zum Teil bis heute wirkmächtigen Argumentationen zur differenzierten Beurteilung von Bedürftigen eine bis in die frühchristliche Zeit zurückreichende Tradition haben und sich in unterschiedlichsten Kontexten nachweisen lassen. Sie nahm mit der Figur des „starken Bettlers“ (mendicus validus) regelrecht den Charakter eines (Hetero-)Stereotyps an, womit sich an die historische Stereotypenforschung anschließen lässt.22 Mit Fremdheit und Kriminalität gekoppelt war dies ein zentrales Exklusionsstereotyp, das in profanen 18 19

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Vgl. dazu die Studien in Collinet, Caritas (s.o. Anm. 16). Vgl. etwa Ulrich Greiner, Die Würde der Armut, in: Die Zeit Nr. 47 (12.11.2009), sowie die Replik des protestantischen Theologen Johann Hinrich Claussen. Johann Hinrich Claussen, Das Elend ist konkret. Nicht der Armut kommt Würde zu, sondern nur den Armen, in: Die Zeit Nr. 48 (19.11.2009). Vgl. einführend Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse (Historische Einführungen 8), Tübingen 32008. Grundlegend zur Theorie Reiner Keller (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Wiesbaden 2001/2003. Vgl. Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 4), 60, 177, 229; Simon Dudek, „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ Zur Kultur- und Sozialgeschichte der Arbeitslosigkeit, www. hsozkult.de/conferencreport/id/tagungsberichte-7322 (Zugriff am 3.6.2019); Katharina Schuler, Hartz IV. Arbeiten für Essen, www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner (Zugriff am 3.6.2019). Zum „starken Bettler“ vgl. Katrin Dort, ,Caritas‘ und Fürsorge in mittelalterlichen Quellen, in: Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie (2014), 49–77; Sebastian Schmidt, Die Begriffe Caritas – Barmherzigkeit – Diakonie in der Frühen Neuzeit, in: Michaela Collinet (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie, Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert (Religion – Kultur – Gesellschaft 2), Berlin 2014, 79–114.

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(Literatur; Recht) wie in theologischen Diskursen (zum Beispiel in Luthers Adelsschrift oder seiner Vorrede zum Liber Vagatorum) begegnet. In den Debatten um die (angeblich) arbeitsscheuen, die Fürsorgesysteme betrügerisch ausnutzenden Migranten zeigt sich die Aktualität dieses Stereotyps. Umgekehrt begegnet in der Figur der Mutter mit kleinen Kindern das regelrechte Idealbild des unterstützungswürdigen armen Menschen, das dann in die bildliche Darstellung der Figur der Caritas einfloss.23 Die historische Diskursanalyse verbindet sich dementsprechend methodisch gut mit der historischen Stereotypenforschung.24 Der sogenannten „spatial turn“ ist ein weiterer der vielen „turns“ in den Kulturwissenschaften allgemein und auch in der Geschichtswissenschaft.25 Er ist mehr als eine bloße Modeerscheinung und vermittelt ebenfalls fruchtbare Perspektiven auf das Thema „Wohltätigkeit“ / „Armenfürsorge“, die in der bisherigen Forschung allerdings erst ganz punktuell ausgelotet wurden. Das Feld „Raum“ öffnet der Forschung zu Armut und Armenfürsorge den Blick auf Orte und Lebenswelten der Armen. Ein Beispiel ganz moderner Methodik bietet die vom Lehrstuhl für Geschichtliche Landeskunde an der Uni Trier entwickelte digitale Armutskarte zur Sozialtopographie Triers um 1832.26 Aus der Kirchengeschichte lässt sich die Beobachtung anschließen, dass es einen auffälligen Zusammenhang von Sakralraum und Armen gab. Die Kirchengebäude waren, blieben und sind teilweise noch immer ein Ort der Armen – in mehrfacher Weise. Da sind die bettelnden Armen zu nennen, die sich teils dauerhaft am Kirchenportal aufhielten, zumal dann, wenn sie körperlich behindert waren. Spätmittelalterliche städtische Ordnungen wiesen ihnen bei der Reform des Almosenwesens dort sogar gezielt ihren Platz an.27 Sie wurden nicht immer gerne gesehen und geduldet. 23

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Zahlreiche Darstellungen dieses Bildmotivs bieten die Kataloge Uerlings/Trauth/Clemens, Armut (s.o. Anm. 5); Christoph Stiegemann (Hg.), CARITAS. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Petersberg 2015. Vgl. zur Theorie Hans Henning Hahn (Hg.), Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde (Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft 2), Oldenburg 1995. Vgl. einführend Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt a.M. 2013. Online zugänglich unter www.armenkarte1832.uni-trier.de/de/ (Zugriff am 25.10. 2020). Vgl. Pierre-André Sigal, Pauvreté et charité aux XIe et XIIe siècles d’après quelques textes hagiographiques, in: Michel Mollat (Hg.), Études sur l’histoire de la pauvreté (Publications de la Sorbonne, Série „Études“ 8), Paris 1974, 141–162: 145f. Von Fremden und Obdachlosen, die in den Säulengängen der Kirchen ihr Nachtquartier

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Heiligenviten berichten davon, dass Kirchendiener sie in eine (abgelegene) Ecke der Kirche verbannten oder ganz der Kirche verwiesen, zum Beispiel weil sie so stark rochen.28 Dann gab es die vielerlei Arten von kranken Armen, die zeitweilig zu Kirchen kamen, weil sie als Stätten wundertätiger Heiliger galten und ganz allgemein Pilger anzogen. Die mittelalterlichen Wundererzählungen wissen oft davon zu berichten.29 Schließlich waren Arme in nicht wenigen Kirchen auch bildlich präsent. Figuren(gruppen) an einem Portal, Glasgemälde und Wandmalereien oder auch Altarbilder zeigten sie als Teil der dargestellten Szene, sei es als Hintergrundfigur oder auch zentral, wenn es um das Thema der Werke der Barmherzigkeit und das Almosengeben ging.30 Bei diesen Darstellungen kommt eine Dimension zum Tragen, die in verschiedenen Zweigen der Kulturwissenschaften vermehrt Beachtung findet: Körper und Emotion/Gefühl.31 Auf das Thema Arme/Armenfürsorge übertragen, wäre in dieser Perspektive danach zu fragen, wie der Körper der Armen und der Gebenden dargestellt beziehungsweise beschrieben wird, welche Emotionen auf Seiten der Armen wie der Reichen thematisiert werden. Schon die berühmte Szene der Mantelspende in der Martinsvita des Sulpicius Severus zeigt in stilisierter Form eine Fülle von Körperlichkeit und Emotionen. Er beschreibt die klirrende Kälte, den dem Erfrieren nahen nackten Bettler, die hartherzigen Vorübereilenden und gleichermaßen den großzügigen, mitleidvollen Katechumenen Martin.32 Auch darauf ist noch näher einzugehen.33 In den Quellen tauchen schmutzige, zerlumpte, verkrüppelte oder von Geschwüren entstellte Gestalten auf, denen sich heiligmäßige Menschen liebend und ohne den zu erwartenden Ekel zuwenden. Man denke nur an Franz von Assisi, der einen Leprakranken küsst, oder an ähnliche Szenen in

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hatten, spricht z.B. die Vita Annonis. Vgl. Vita Annonis minor. Die Jüngere Annovita: Lateinisch – Deutsch (Siegburger Studien 10), Siegburg 1975, 23 (= 1. Buch VIII, 1). Zu den spätmittelalterlichen Ordnungen vgl. Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 4), 325–331. Vgl. Sigal, Pauvreté (s.o. Anm. 27), 149. Vgl. a.a.O., 146–148. Vgl. Hinweise bei Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 4), 374. Vgl. Barbara H. Rosenwein, Generations of feeling. A History of Emotions 600–1700, Cambridge 2016; Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850) (Histoire 41), Bielefeld 2013. Vgl. Sulpicius Severus, Vita Sancti Martini / Vie de Saint Martin (SC 133–135), Paris 1967–1969, hier Bd. 1, 256–259. Vgl. unten Kap. 3.

ZU PERSPEKTIVEN DER „CARITAS-/DIAKONIEGESCHICHTSSCHREIBUNG“ 117

den Lebensbeschreibungen der Elisabeth von Thüringen. Quellen berichten von der Dankbarkeit der Armen, aber auch von Geiz und Gier der Reichen.34 Was bisher als exemplarische Perspektiven aufgezeigt wurde, lässt sich noch stärker systematisieren. Die verschiedenen Felder oder Dimensionen des Themas stehen nämlich nicht isoliert voneinander, sondern lassen sich auch aufeinander beziehen. Neben den oben genannten Feldern hat die Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung es auch mit verschiedenen Kategorien zu tun, von denen hier ohne Anspruch auf abschließende Vollständigkeit genannt seien: • Geschlecht • Ideen / Konzepte / Theologie • Kirchengeschichte • Kultur • Recht • Wirtschaft und soziale Verhältnisse Koppelt man nun Felder (Akteure bis Räume) und Kategorien (Geschlecht bis Wirtschaft), so lässt sich eine komplexe Matrix möglicher Perspektiven, Fragestellungen und damit zu verbindender methodischer Zugänge entwickeln.

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Vgl. Schneider, Armenfürsorge (s.o. Anm. 4), 99f., 109, 174, 228.

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Für jedes Feld lässt sich mit der Matrix ein inhaltliches Programm aufzeigen. Exemplarisch darstellen möchte ich das mit den folgenden Grafiken, die jeweils auch nur einzelne mögliche Aspekte benennen und nicht als abschließende, vollständige Listen zu lesen sind.

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Soziale (nicht-diskursive) Praktiken einzelner Akteure oder auch Gruppen und Organisationen kommen bei einer solchen Forschungsmatrix ebenso in den Blick wie Semantiken und Diskurse, seien sie textlicher oder bildlicher Art. Der wechselseitigen Verschränkung von Praktiken, Semantiken und Diskursen ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken – sofern sich das von der Quellenlage her realisieren lässt. Wie sonstiger geschichtswissenschaftlicher Forschung auch, geht es caritas-/diakoniegeschichtlicher Forschung schließlich darum, Innovation und Wandel, Diskurse und Praktiken in ihrem Verhältnis näher zu bestimmen. Mit diesen Diagrammen sollte deutlich geworden sein, dass das vielfältige und komplexe Phänomen Armut/Armenfürsorge eine Fülle von Forschungsoptionen bereithält. Es ist allerdings nicht durch die Betrachtung nur eines Feldes und einer Kategorie umfassend zu beschreiben. Zugleich zeigen die Diagramme, wie Spezialstudien zu einem Feld und einer Kategorie sich in diesem Gesamtgefüge verorten lassen, wodurch sie nichts an ihrem Erkenntnisgewinn verlieren, jedoch in der Reichweite ihrer Aussagen eine Begrenzung erfahren. 2. KONKRETION: REFORMATION UND ARMENFÜRSORGE Diese Perspektiven und die vielen Zugänge, die sich aus der vorgestellten Matrix ergeben, lassen sich am Beispiel der Armenfürsorge in der Reformation sehr gut veranschaulichen.

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Mit der Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade und aus dem Glauben an die Erlösung durch den Kreuzestod Jesu Christi kam ein neuer Diskurs auf, der auch das Verständnis der praktizierten Nächstenliebe tangierte.35 Wesentliche theologische Begriffe wie Nächstenliebe, 35

Eine aktuelle umfassende Geschichte der Armenfürsorge zur Zeit der Reformation fehlt. Ich arbeite aktuell an einer Gesamtdarstellung zur neuzeitlichen christlichen Armenfürsorge mit ausführlichen Kapiteln zur Reformation. Diese Überlegungen fließen hier ein. Einer Gesamtdarstellung kommt für den lutherischen Raum am ehesten

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Barmherzigkeit oder auch lateinisch caritas blieben gängig, doch war ihr theologisches Profil ebenso neu zu bestimmen wie das von Almosen, Lohn und Verdienst oder auch das Verhältnis von Glaube und Liebe.36 Die praktische Nächstenliebe verlor im reformatorischen Diskurs ihre Heilsrelevanz, denn die für fromme Werke karitativer Diakonie gewährten Ablässe wurden diskreditiert und verschwanden. Ebenso waren Stiftungen für die Armen im Kontext der Heilsvorsorge und des Totengedächtnisses nun theologisch entbehrlich geworden. Armut wurde theologisch partiell entwertet, die besondere Würde der freiwilligen Armen negiert und mit den Hausarmen eine Gruppe der unterstützungswürdigen Armen besonders profiliert. Arbeit und ihr Wert für die Gesellschaft wurden im Gegenzug betont, die Arbeitstätigkeit als „Beruf“ und als Werk der Nächstenliebe theologisch aufgewertet.37 Der Bettel wurde parallel zunehmend moralisch diskreditiert und durch ganze Serien von Mandaten und Bettelordnungen kriminalisiert, was praktische Konsequenzen hatte (Verfolgung; Bestrafung) und neue Orte der Disziplinierung entstehen ließ (Arbeitshaus). Traditionelle institutionelle Orte der Armenfürsorge wurden dagegen als Konsequenz der reformatorischen Theologie beseitigt (Klöster; Bruderschaften).

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nahe: Tim Lorentzen, Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge (SMHR 44), Tübingen 2008. Vgl. als knappe Überblicke Michael Klein, Der Beitrag der protestantischen Theologie zur Wohfahrtstätigkeit im 16. Jahrhundert, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hgg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas. Bd. 1: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert (VDWI 22), Heidelberg 2004, 146–179; Sebastian Schmidt, Perspektiven auf Armut im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung, in: Irene Dingel/Ute Lotz-Heumann (Hgg.), Entfaltung und zeitgenössische Wirkung der Reformation im europäischen Kontext (SVRG 216), Gütersloh 2015, 302–317; Christopher Spehr, Armut und Armenfürsorge im Kontext der Reformation, in: Ralf Koerrenz/Benjamin Bunk (Hgg.), Armut und Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven (Kultur und Bildung 5), Paderborn 2014, 51–73. Für Calvin vgl. Jeannine E. Olson, Calvin and social welfare. Deacons and the Bourse française, Selinsgrove Pa./ London/Cranbury, NJ 1989; Bonnie L. Pattison, Poverty in the Theology of John Calvin (PTMS 69), Eugene 2006. Für Zwingli vgl. Lee Palmer Wandel, Always among us. Images of the poor in Zwingli’s Zurich, Cambridge/New York 1990. Zur Begrifflichkeit vgl. Schmidt, Begriffe (s.o. Anm. 22) sowie zur späteren protestantischen Entwicklung Thomas K. Kuhn, Barmherzigkeit, Fürsorge und Diakonie. Zum Wandel der sozialfürsorgerischen Semantiken im neuzeitlichen Protestantismus, in: Michaela Collinet (Hg.), Caritas, Barmherzigkeit, Diakonie Studien zu Begriffen und Konzepten des Helfens in der Geschichte des Christentums vom Neuen Testament bis ins späte 20. Jahrhundert (Religion – Kultur – Gesellschaft 2), Berlin 2014, 115–169. Vgl. zu wirtschaftsethischen Aspekten André Biéler (Hg.), Calvin’s economic and social thought, Geneva 2005; Hans-Jürgen Prien, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992.

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Manchen für die Reformation gewonnenen Christen schienen vor diesem Hintergrund die traditionellen Werke der Barmherzigkeit überflüssig zu sein und sie verzichteten auf die Almosenspenden, zum Schaden der Armen(fürsorge), was die Reformatoren wieder zu neuen theologischen Klärungen in Begrifflichkeit und Konzeption zwang. Die Zuständigkeit für Arme und Kranke war in Aushandlungsprozessen neu zu regeln und brachte so neues Recht, nicht zuletzt in Gestalt von Kasten- oder Kirchenordnungen. Damit verbanden sich institutionelle und personelle Veränderungen (Kastenverwaltung; Diakone). Räume wie Klostergebäude oder Einrichtungen für Pilger wurden umgewidmet, teils direkt zugunsten der Armen- und Krankenfürsorge, indem sie fortan als Hospitäler eine neue Verwendung fanden. Bettler verschwanden aus dem Kirchenraum und seinem Umfeld – zumindest sollten sie es. Das Verhältnis von Außen und Innen, Fremden und Einheimischen, wurde durch entschiedenere Grenzziehungen (Raum) reguliert. All das beeinflusste das soziale Gefüge (Soziales und Wirtschaft) in den für die Reformation gewonnenen Städten und Territorien: die Sonderstellung des Klerus wurde abgebaut, die wirtschaftlichen Privilegien entfielen, die Konkurrenz zwischen kirchlichen Amtsträgern und weltlichen Amtsträgern mit Vorteilen für Letztere entschärft. Weiter aufgewertet wurden die städtischen und territorialen Obrigkeiten als Träger und Gestalter der Armenfürsorge. Ebenso wurde die produktive Ökonomie gestärkt, die Ökonomie der Verschwendung38 abgebaut (Wegfall Feiertage et cetera). Das wirkte wieder auf das Bild von Armut und Armen und das Verhältnis von Arbeitenden und NichtArbeitenden zurück. So richtig diese Beobachtungen sind, so sind sie gerade unter der Perspektive von Wandel und Kontinuität und der Bedeutung von (theologischen) Ideen für gesellschaftliche Prozesse noch nicht eindeutig. Das nun schon mehr als ein Jahrhundert andauernde Ringen der „Diakoniegeschichtsschreibung“ um den Zusammenhang von Spätmittelalter, Humanismus und Reformation macht dies deutlich.39 Die Bedeutung der Reformation für die Armenfürsorge wurde lange hoch veranschlagt. Je nach konfessioneller Lesart galt sie als ein erfolgreicher Neubeginn oder als Zerstörung einer etablierten und funktionierenden christlichen Armenfürsorge (so die Klassiker Georg Ratzinger beziehungsweise Gerhard 38

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In Anlehnung an Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg i.Br. 2006. Vgl. Volker Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: GeGe 9 (1983), 480–512.

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Uhlhorn im späten 19. Jahrhundert). Die Sozialgeschichtsschreibung relativierte seit den 1970er/1980er Jahren eine herausgehobene Bedeutung der Reformation und ordnete die Veränderungen des 16. Jahrhunderts in langfristige Prozesse ein, die bereits im 14. Jahrhundert begonnen hätten.40 Dieses Narrativ stellten dann insbesondere protestantische (Kirchen-)Historiker wieder mehr oder weniger in Frage,41 und jüngere Sozialhistoriker bemühen sich neuerdings verstärkt um eine vermittelnde Position.42 Jüngst kommt Julia Mandry in ihrer monumentalen Studie zur Armenfürsorge im thüringischen Raum zu einem sehr differenzierten Ergebnis.43 Sie macht aufgrund der Auswertung vieler nicht-normativer Quellen deutlich, wie sehr auch bei der Armenfürsorge (theologischer) Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfielen. Die Reformation war wichtig für die Entwicklungen in der Armenfürsorge, doch nahm sie „keine alles andere überragende Position ein“. Der als Identifikationssymbol reformatorischen Armenwesens angesehene „Gemeine Kasten“ war bedeutsam, „aber es muss zugleich auf sein Scheitern in Bezug auf die Abschaffung existentieller Nöte und anderweitiger Unterstützungsnotwendigkeiten verwiesen werden“.44 Gegenüber einer allzu schematischen Rede vom Gemeinen Kasten als Institution lutherischer Armenfürsorge vermag die Autorin überzeugend nachzuweisen, dass die Kästen lokal recht verschieden strukturiert waren und vielfach nicht dem von Tim Lorentzen aufgezeigten Idealmodell45 entsprachen.46 Die im Idealkonzept 40

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Vgl. z.B. Helmut Bräuer, Kampf um den Gemeinen Kasten in Zwickau: städtische Armenversorgung in der Auseinandersetzung zwischen Ratstisch, Gasse und Kanzel, in: HerChr 28/29 (2004/2005), 55–87; Hunecke, Überlegungen (s.o. Anm. 39). Vgl. etwa Ole Peter Grell, The Protestant imperative of Christian care and neighbourly love, in: Andrew Cunningham/Ole Peter Grell (Hgg.), Health care and poor relief in Protestant Europe, 1500–1700, London/New York 1997, 43–65; Tim Lorentzen, Öffentliche Fürsorge in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Sabine Arend/Gerald Dörner (Hgg.), Ordnungen für die Kirche – Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts (SMHR 84), Tübingen 2015, 203–232. Vgl. Schmidt, Perspektiven (s.o. Anm. 35); Sebastian Schmidt, Caritas und staatliche Armenfürsorge in der frühen Neuzeit, in: Christoph Stiegemann (Hg.), CARITAS. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, Petersberg 2015, 276–287. Vgl. Julia Mandry, Armenfürsorge, Hospitäler und Bettel in Thüringen in Spätmittelalter und Reformation (1300–1600) (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 10). Köln u.a. 2018. A.a.O., 782. Vgl. Lorentzen, Öffentliche Fürsorge (s.o. Anm. 41), 214. Vgl. Mandry, Armenfürsorge (s.o. Anm. 43), 563–569.

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des Gemeinen Kastens angelegte Zentralisierung aller Armenfürsorge blieb aus, so dass es neben ihm weitere Träger der Armenfürsorge (städtischer Haushalt; Hospitäler; private Stiftungen) gab. Hilfen boten Versorgungseinrichtungen, vor allem Hospitäler, nicht nur in den Städten, sondern in einem überraschenden Ausmaß auch auf dem Land, was sich nur dank der gründlichen Recherchen der Autorin in verschiedenen Quellengruppen erkennen ließ. Die hohen Erwartungen von Reformatoren wie Martin Luther oder Wenzeslaus Linck, mit dem Gemeinen Kasten und der Beschränkung der Hilfe auf die heimischen „würdigen“ Hausarmen (Heimatprinzip) das Bettelwesen beseitigen und in jeder Gemeinde eine funktionierende Armenfürsorge einführen zu können, ließen sich nicht erfüllen. Die Unterstützungsbedürftigen waren angesichts unzureichender Leistungen aus dem Gemeinen Kasten weiterhin zwingend darauf angewiesen, auf andere Ressourcen zurückzugreifen – bis hin zum Betteln selbst der „würdigen“, in das Gemeinwesen integrierten Armen. Galt das Bettelverbot vielfach als zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen protestantischen und katholischen Territorien, so verdeutlicht Mandry eindrucksvoll, dass Betteln auch in den erstgenannten zur Alltagsrealität gehörte und die hilfsbereiten Menschen dieses auch durchaus anerkannten. „Letztlich lösten sich die alten Bitt- und Spendentraditionen sowohl in der Verwaltung als auch beim einzelnen Bürger nicht auf; das reformatorische Kastensystem erreichte keine grundlegende Wende im Armenunterhalt und die althergebrachte, obgleich auf ein neues theologisches Fundament gestellte Almosen- als auch Bettelpraxis blieb notwendiger Gesellschaftsbestandteil.“47 Wie dieses Beispiel zeigt, gewinnt die Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und die dadurch begünstigte Erschließung einer möglichst breiten Quellenbasis, die über die theologische Höhenkammliteratur und die normativen Quellen hinausgeht.

3. KONKRETION: DER „ICONIC TURN“

UND DIE

WOHLTÄTIGKEIT

Konkretisieren lässt sich der Ertrag eines solchen Zusammenwirkens auch im Kontext der visuellen Repräsentation von Armut und Armenfürsorge. Das war ein wichtiger Untersuchungsstrang des Trierer SFBs 600 47

A.a.O., 782.

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„Fremdheit und Armut“.48 Etliche Tagungen und damit verbundene Publikationen49, eine vom SFB getragene Sektion beim Konstanzer Historikertag 2006 sowie die große vom SFB 600 verantwortete Ausstellung „Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft“ 50 haben sich Bildern und komplexen Bildprogrammen gewidmet, die Arme, Armut und Armenfürsorge zeigen. Es ging um die bildliche Repräsentation von Armut und Wohltätigkeit im Wissen darum, dass auch diese Darstellungen selbstverständlich konstruierte Wirklichkeit sind, Deutungen vornehmen und Deutungsabsichten verfolgen. Sie wollen dem Betrachter Botschaften übermitteln, Emotionen auslösen und ihn gegebenenfalls zu bestimmten Handlungen veranlassen. Ergänzend zu und in Kombination mit anderen Quellen weiten die bildlichen Darstellungen die Perspektive auf die Wahrnehmung von Armut und Armenfürsorge in historischen Konstellationen.51 Der übliche Bildkontext für die Darstellung von Armen und Wohltätigkeit ist bis in die Frühe Neuzeit ein religiöser, näherhin ein hagiographischer. Es geht um einen Heiligen und sein Wirken. Das verbreitetste Motiv ist dabei das der Mantelteilung des heiligen Martins. Es begegnet uns in zahlreichen Formen und Materialien (Statuen, Reliefs, Fresken, Ölgemälde, Holzschnitte et cetera) und es zeigen sich dabei – wie auch bei anderen ähnlichen Darstellungen von Wohltätigkeit durch Heilige – gewisse Muster und Stereotypisierungen, die allerdings nicht statisch sind.52 Sie sind Ausweis bestimmter Diskurse und Entstehungskontexte. 48

49

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52

Vgl. Lutz Raphael, Repräsentation der Wohltätigkeit. Der Akt des Gebens und Nehmens im Bild (Europa, 13.–20. Jahrhundert), Einleitung, in: AKuG 89 (2007), 253–255; Philine Helas, Repräsentation der Wohltätigkeit. Der Akt des Gebens und Nehmens im Bild zwischen dem 13.–20. Jahrhundert, in: Lutz Raphael/Herbert Uerlings (Hgg.), Zwischen Ausschluß und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike, Frankfurt a.M. 2008, 37–63. Vgl. exemplarisch Philine Helas/Gerhard Wolf (Hgg.), Armut und Armenfürsorge in der italienischen Stadtkultur zwischen 13. und 16. Jahrhundert. Bilder, Texte und soziale Praktiken (Inklusion, Exklusion 2), Frankfurt a.M. 2006. Vgl. Uerlings/Trauth/Clemens, Armut (s.o. Anm. 5). Vgl. die Überlegungen in Sebastian Schmidt, Religiöse Bildprogramme als Ausdruck kollektiver Einstellungen? Zu widersprüchlichen Repräsentationen des Almosenspendens und ihrer politischen Funktion in der Frühen Neuzeit, in: AKuG 89 (2007), 283–300: 283f., 300. Siehe auch Mandry, Armenfürsorge (s.o. Anm. 43), 712–716. Vgl. Philine Helas, Darstellungen der Mantelspende des Heiligen Martins vom 12. bis zum 15. Jahrhundert als Indikator der Veränderung sozialer Praktiken, in: AKuG 89 (2007), 257–281; Philine Helas, Martins Mantel und der Bettler. Das Heiligenbild im Horizont sozialer Praktiken, in: Herbert Uerlings/Nina Trauth/Lukas Clemens (Hgg.), Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Begleitband zur Ausstellung,

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Über größere Zeit- und Untersuchungsräume hinweg analysiert, ergeben sich bemerkenswerte Einsichten. So differieren die Martinsdarstellungen im 15. Jahrhundert etwa zwischen dem nordalpinen Raum und Italien gerade im Blick auf die Figur des Bettlers. In der Kunst des deutschsprachigen Raums sind dessen Gebrechen auffällig intensiv dargestellt, während italienische Darstellungen eher dem Ideal des schönen Körpers folgen. Nicht in der Einzelbetrachtung, sondern erst im Vergleich offenbart sich, „dass sich die konkrete Darstellung des Armen im Laufe der Zeit und entsprechend der differenzierteren [gesellschaftlichen; BSch.] Bettlerbetrachtung wandelte“.53 So führt die zeitgenössische Kritik am Bettel um 1500 im nordalpinen Raum zu einer ikonografischen Erweiterung der Szene um einen zweiten Bettler.

Die Darstellung bleibt als Altarbild in einem religiösen Deutungskontext, die Spende bleibt ein von Christus legitimiertes verdienstvolles Werk (vergleiche die Erscheinungsszene im linken Bildhintergrund).

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Darmstadt 2011, 161–169. Vgl. auch Mandry, Armenfürsorge (s.o. Anm. 43), 713f. Zur Verteilung der verschiedenen Motive und der Dominanz des Motivs der Mantelspende vgl. für den thüringischen Raum Mandry, Armenfürsorge, 718. A a.O., 715.

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Zugleich verschiebt die überarbeitete Szene die Wahrnehmung der Gabe entscheidend. Nicht jeder Bittsteller ist ein „würdiger Armer“ und legitimer Empfänger des an sich verdienstvollen Almosens, was der dreiste und kaum als wirklich arm zu erkennende linke Bettler symbolisiert. Das verweist auf die um 1500 fragwürdig gewordene ungeprüfte Almosenspende an jeden armen Bettler und die wachsenden Bemühungen, Bettler zu prüfen und zu kategorisieren. Hilfe gebührt nur dem wirklich Bedürftigen, nicht dem unverschämten, arbeitsfähigen „starken Bettler“.54 Ebenso eindrucksvoll kann die bekannte Szene verändert werden, um sie in andere Dimensionen zeitgenössischer Kontexte der Armenfürsorge einzubinden. Dadurch geraten mitunter institutionelle Aspekte und eine spezifische Spendenpraxis ins Bild. Das visualisiert eine Darstellung des späten 15. Jahrhunderts (1491–1492) aus Ferrara. Hier wird die Rolle

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Vgl. Abbildung und Kommentar des Budapester St. Martin in Uerlings/Trauth/Clemens, Armut (s.o. Anm. 5), 13–22: 376f. sowie Stiegemann, CARITAS (s.o. Anm. 23), 482f.

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einer Bruderschaft unter dem Martinspatrozinium in Szene gesetzt, die sich der verschämten Armen, der poveri vergognesi, annimmt. Nicht mehr um den im Bild jetzt fehlenden Bettler und seine Beziehung zum Heiligen geht es, sondern um die Bruderschaft und ihre Tätigkeit. Sie tritt vermittelnd zwischen den Heiligen und die Empfänger der Gabe. Dieser ist nun nicht mehr der exkludierte Arme außerhalb der Stadt, sondern der zur städtischen Gemeinschaft gehörende, durch unglückliche, nicht schuldhaft herbeigeführte Umstände verarmte Bürger. Nicht mehr der Mantel ist die Gabe, sondern das in die vom Almosensammler der Bruderschaft hingehaltene Sammelbüchse geworfene Geld.55 In Literatur und Kunst verändern sich im Kontext der Reformation Darstellungen des frommen Handelns. Manche Motive wie die Befreiung der armen Seelen aus dem Fegefeuer durch die tätigen Werke der Barmherzigkeit wurden im protestantischen Raum problematisch. Die Werke der Barmherzigkeit als solche blieben dagegen präsent, handelt es sich doch um biblisch abgesicherte Motive (Mt 25,31–46). Sie wurden aber christologisch zugespitzt und durch Bibelverse betont biblisch abgesichert. Die Bildmotive sollten weiterhin für die Praxis der Spende werben, kamen durch die reformatorischen Änderungen in der Armenfürsorge jedoch in einen neuen Kontext und fungierten nun als sogenannte Kastenbilder, warben also für den Gemeinen Kasten. Anführen lässt sich Hans Schäufelins Darstellung aus Nördlingen, die einen Übergang bildet, da sie reformatorische Bildelemente mit einer vorreformatorischen Theologie verknüpft, denn die in das Bild eingefügten Texte legen ein altgläubiges Verständnis der Gabe (Sündentilgung) zumindest nahe.56 Spannend ist, dass auch ein reformatorisches Kastenbild wie die sogenannte Schleusinger Almosentafel eines unbekannten protestantischen Künstlers von 1545/46 aus Thüringen die Almosengabe an fremde durchreisende Arme auf offener Straße darstellt und so gegen die normativen Vorgaben verstößt. Das Bild zeigt einen gut gekleideten, vermögenden Bürger in direkter Zuwendung zu einer Gruppe von Bettlern außerhalb einer Stadt, der einer Frau ein Geldalmosen reicht. Christus im Hintergrund schließt die 55

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Abbildung in Uerlings/Trauth/Clemens, Armut (s.o. Anm. 5), 184. Vgl. zur Interpretation Helas, Darstellungen (s.o. Anm. 52), 275f. sowie Monika Escher-Apsner/Philine Helas, Bruderschaften. Selbstverständnis und Selbstinszenierung, in: Herbert Uerlings/Nina Trauth/Lukas Clemens (Hgg.), Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2011, 178–185: 185. Abbildung und Erklärung Stiegemann, CARITAS (s.o. Anm. 23), 537.

ZU PERSPEKTIVEN DER „CARITAS-/DIAKONIEGESCHICHTSSCHREIBUNG“ 129

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BERNHARD SCHNEIDER

Gruppe gleichsam in seine Arme ein und verweist zugleich mit einem Zeigegestus auf sie als seine Repräsentanten, was das Bibelzitat aus Mt 25,40 dann auch noch als Text unterstreicht. Die Handlung des Bürgers wird so doppelt als legitim ausgewiesen, zumal die Bettler durch die starke Betonung der körperlichen Gebrechen und das Alter als wirklich Bedürftige charakterisiert sind.57 Auf der anderen Seite der Tafel ist als Kontrast die Hilfe im Hospital dargestellt. Reiche Bürger, darunter auch zwei Frauen, besuchen das Spital. Dort ruht ein Kranker auf einem Strohbett, ein weiterer Bedürftiger bittet die Eintretenden kniend um eine Gabe und ein Dritter wird sichtlich als alter Mann, also arbeitsunfähiger Mensch, präsentiert. Christus ist wieder im Zeigegestus präsent und verweist die Bürger auf den hilfebedürftigen Kranken. Möglicherweise soll damit die Hilfe für die würdigen einheimischen Armen in der wohl wichtigsten Institution der Armen- und Krankenfürsorge in Städten und Gemeinden gezeigt werden, dem Hospital.58 Ob es exklusiv um Hilfe für Einheimische geht, ist aber fraglich. Aufzeigen lässt sich also die konfessionsübergreifende Persistenz von traditionsreichen Bildprogrammen, die aber im veränderten Kontext doch einzelne bemerkenswerte Verschiebungen / Nuancen erfuhren (Entkopplung der Gabe aus dem Kontext der Heiligendarstellung). Zudem rückten im 16. und 17. Jahrhundert manche Darstellungen insbesondere in protestantischen Kontexten die Armenfürsorge und die Armenfürsorgeinstitutionen 57

58

Vgl. dazu Mandry, Armenfürsorge (s.o. Anm. 43), 732f., 740f., 745, 761. Abb. einer Schauseite in Farbe auf dem Umschlag des Bandes. Detailaufnahmen und auch Abb. der Rückseite a.a.O., 913f. Vgl. a.a.O., 740, 745.

ZU PERSPEKTIVEN DER „CARITAS-/DIAKONIEGESCHICHTSSCHREIBUNG“ 131

klar in den Kontext städtisch-bürgerlicher Hilfe ein und aus der kirchlichreligiösen Sphäre heraus.59 Diese Dimension zeigten die beiden letzten Bilder, die eine bürgerlich-kommunale Spende in Augsburg (1537) bzw. das bürgerliche Leitungspersonal des Amsterdamer Armenhauses (1676) repräsentativ in Szene setzen. Am Ende dieses Beitrags, der methodisch-theoretisch Überlegungen und eine Konkretion verbindet, sei nachdrücklich dafür geworben, gerade innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung das leider immer noch zu wenig beachte Feld der Caritas-/Diakoniegeschichtsschreibung verstärkt in den Blick zu nehmen. Hier ergeben sich durchaus Chancen, sowohl interdisziplinär als auch öffentlich wahrgenommen zu werden und der großen Zahl der in den karitativ-diakonischen Einrichtungen tätigen Menschen dabei zu helfen, sich ihrer eigenen Arbeit und deren Verortung in den Kirchen zu vergewissern. Illusionen über das in diesen Einrichtungen anzutreffende Interesse an der Geschichte darf man sich nach den eigenen Erfahrungen allerdings nicht machen.

59

Vgl. neben Schmidt, Bildprogramme (s.o. Anm. 51) auch Ders., Neue Formen der Armenfürsorge in den geistlichen Kurstaaten der Frühen Neuzeit, in: Lukas Clemens/ Alfred Haverkamp/Romy Kunert (Hgg.), Formen der Armenfürsorge in hoch- und spätmittelalterlichen Zentren nördlich und südlich der Alpen (Trierer historische Forschungen 66), Trier 2011, 309–331; Ders., Religiöse Bildprogramme als Ausdruck kollektiver Einstellungen?, in: Herbert Uerlings/Nina Trauth/Lukas Clemens (Hgg.), Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Begleitband zur Ausstellung, Darmstadt 2011, 206–214.

Menschenfreundlich Gott nahe kommen – Wohltätigkeit bei Gregor von Nazianz NADJA HEIMLICHER (Bern)

1. HINFÜHRUNG Der Titel dieses Beitrages mag vielleicht zunächst erstaunen. Denn nach traditionellem Verständnis ist Gregor von Nazianz in erster Linie Theologe. Er ist bekannt für seine Abhandlungen über die Trinitätslehre, für seine hervorragende Bildung und für seine brillanten sprachlichen und rhetorischen Fähigkeiten. Seine sozialethischen Ansichten sind bis heute weniger beachtet worden.1 Im Folgenden soll Gregors Haltung gegenüber einer christlich motivierten Wohltätigkeit dargestellt werden. Dabei stehen zwei grundsätzliche Fragen im Zentrum. Erstens: Wie begründet Gregor wohltätiges Handeln theologisch? Und zweitens: Wie wirkt sich das wohltätige Handeln des Menschen auf dessen Beziehung zu Gott aus? Hinweise auf Gregors Einstellung zur Wohltätigkeit finden sich über seine gesamten Reden verstreut. Die wichtigste Quelle dazu ist jedoch seine Rede „Über die Liebe zu den Armen“ (Περὶ φιλοπτωχίας),2 die er um das Jahr 368 herum verfasste.3 Die gängige Forschungsmeinung war 1

2 3

Ansätze finden sich bei Ernst L. Fellechner, Askese und Caritas bei den drei Kappadokiern, Diss., Heidelberg 1979; Stanley S. Harakas, Ethical Teaching in Saint Gregory the Theologian’s Wrintings, in: The Greek Orthodox Theological Review 39, Nr. 2 (1994), 141–150; Tasos Sarris Michopoulos, Μιμισόμεθα Νόμον Θεοῦ. Gregory the Theologian’s Ontology of Compassion, in: The Greek Orthodox Theological Review 39, Nr. 2 (1994), 109–121; Susan R. Holman, Healing the Social leper in Gregory of Nyssa’s and Gregory of Nazianzus’s „περὶ φιλοπτωχίας“, in: HTR 92, No. 3 (1999), 283–309. Gregor von Nazianz, or. 14 (PG 35, 857–909 Migne). Ich folge dem Datierungsvorschlag von John Anthony McGuckin, Saint Gregory of Nazianzus. An intellectual biography, Crestwood/New York 2001, 145–146. Frühere Untersuchungen, wie etwa Philipp Haeuser/Manfred Kertsch, Erläuterungen zum Autor und zum Text, in: Gregor von Nazianz, Reden. Über den Frieden. Über die Liebe zu den Armen, München 1983, 67–75 datieren die Rede ins Jahr 373, also in die

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lange, dass Gregor die Rede anlässlich der Eröffnung der sozialen Werke des Basilius in Caesarea verfasst habe. Allerdings fällt darüber in der ganzen Rede kein Wort. Gregor dürfte die Rede also eher zu verschiedenen Anlässen und an unterschiedlichen Orten gehalten haben, um Spenden für das wohltätige Engagement der Kirche einzutreiben – zum Beispiel an christlichen Festtagen, wenn sich viele Menschen in den Städten versammelten und er ein großes Publikum erreichte.4 Die Wohltätigkeit (φιλανθρωπία), zu der Gregor in or. 14 auffordert, umfasst neben der geistlichen Zuwendung zu den Armen vor allem auch materielle Spenden. 2. WARUM DER MENSCH GUTES TUN SOLL a) Gleich vor Gott Warum also soll ein Christ, eine Christin Wohltätigkeit üben? Gregor begründet die Notwendigkeit des wohltätigen Miteinanders unter den Menschen theologisch auf zweifache Weise. Die erste Voraussetzung, unter der er seine Aufforderung zur Wohltätigkeit entfaltet, ist die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Gregor ist überzeugt, dass alle Menschen unterschiedslos auf Gott und seine Güte angewiesen und damit vor Gott gleich sind. Er stellt zu Beginn seiner Rede „Über die Liebe zu den Armen“ fest: […] arm sind wir nämlich alle, und auf die göttliche Gnade angewiesen […].5

Deutlicher noch bringt er die Gleichheit aller Menschen vor Gott im weiteren Lauf seiner Rede zum Ausdruck: Diese [d.h. die Aussätzigen], […] haben die gleiche Natur erhalten wie wir; sie, die aus dem gleichen Lehm wie wir geformt worden sind, aus dem wir am Anfang entstanden sind; sie, die aus Muskeln und Knochen zusammengesetzt sind, genau wie wir auch; sie, die wie alle mit Haut und Fleisch bekleidet sind […]. Mehr noch, sie haben wie wir das Ebenbild Gottes erhalten, […] auch wenn sie, was die Körper betrifft, verunstaltet wurden. Sie haben ihrem innerlichen Menschen denselben Christus angezogen, und ihnen ist dasselbe Geschenk des Geistes anvertraut worden wie uns. Sie haben an denselben Gesetzen,

4 5

Zeit nach der Eröffnung der sozialen Institutionen von Basilius bei Caesarea. McGuckin, 145–146, Anm. 218 merkt richtigerweise an, dass Gregor ausdrücklich von leprakranken Armen spricht, die sich ohne Dach über dem Kopf in den Straßen aufhalten, vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,12 (PG 35, 872.27–873.21 Migne). Vgl. McGuckin (s.o. Anm. 3), 145–148. Gregor von Nazianz, or. 14,1 (PG 35, 857.61–860.1 Migne): […] πτωχοὶ γὰρ ἅπαντες, καὶ τῆς θείας χάριτος ἐπιδεεῖς […].

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Lehren, Verträgen, Versammlungen, Sakramenten und Hoffnungen Anteil wie wir. Für sie ist Christus gleichermaßen gestorben, der die Sünde der ganzen Welt hinweggenommen hat.6

Alle Menschen, so Gregors Überzeugung, sind in gleicher Weise Geschöpfe Gottes und teilen miteinander ihre materiell-biologische Beschaffenheit.7 Allen Menschen gemeinsam ist auch das Ebenbild Gottes, das sie in sich tragen, mag es auch nicht bei allen gleich deutlich in Erscheinung treten.8 Alle, egal ob reich oder arm, gesund oder krank, sind Teil von derselben Gesellschaft und derselben Gemeinschaft der Kirche. Schließlich, so ist Gregor überzeugt, haben auch im Blick auf ihre Erlösung alle Menschen dieselben Voraussetzungen: Alle sind gleichermaßen erlösungsbedürftig und erlösungswürdig. Entscheidend sind letztlich ihr Bekenntnis zu Christus, die Ausrichtung ihres Lebens auf Gott und damit die Beziehung zu Gott.9 Zu der durch die Schöpfung bedingten Gleichheit aller Menschen vor Gott hinzu kommt der Glaube an die geschwisterliche Gemeinschaft von Christinnen und Christen. Gregor verweist auf das Bild vom einen Leib und den vielen Gliedern, dessen Haupt Christus ist (Röm 12,3–8). Wie es dem einen Körperteil nicht gleichgültig sein kann, wenn ein anderer verletzt oder krank ist, so kann es auch keinen Christen, keine Christin unberührt lassen, wenn ein anderer in Not gerät und leidet.10 Beides zusammen, die Gleichheit der Menschen aufgrund ihrer Geschöpflichkeit und die Verbundenheit von Christinnen und Christen in ihrem Herrn, stellt den ersten Grundpfeiler von Gregors Begründung von menschlichem, solidarischem Handeln dar.11 6

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8

9 10 11

Gregor von Nazianz, or. 14,14 (PG 35, 876.1–23 Migne): Οὗτοι […] τὴν αὐτὴν ἡμῖν λαχόντες φύσιν, οἱ ἐκ τοῦ αὐτοῦ πηλοῦ διηρτισμένοι, ἐξ οὗ τὸ πρῶτον γεγόναμεν, οἱ νεύροις καὶ ὀστέοις ἐνειρμένοι παραπλησίως ἡμῖν, οἱ δέρμα καὶ κρέας ἐνδεδυμένοι πᾶσιν ὁμοίως[…]· μᾶλλον δὲ […] οἱ τὸ κατ’ εἰκόνα καὶ λαχόντες ὁμοίως ἡμῖν, […] εἰ καὶ τὰ σώματα διεφθάρησαν· οἱ τὸν αὐτὸν ἐνδεδυμένοι Χριστὸν κατὰ τὸν ἔσω ἄνθρωπον, καὶ τὸν αὐτὸν ἡμῖν πιστευθέντες ἀῤῥαβῶνα τοῦ Πνεύματος· οἱ τῶν αὐτῶν ἡμῖν μετασχόντες νόμων, λογίων, διαθηκῶν, συνάξεων, μυστηρίων, ἐλπίδων· ὑπὲρ ὧν Χριστὸς ὁμοίως ἀπέθανεν ὁ παντὸς αἴρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου· In Anlehnung an den zweiten biblischen Schöpfungsbericht spricht Gregor hier davon, dass alle Menschen aus demselben Lehm geformt worden sind, vgl. Gen 2,7 LXX. Hiob zitiert er, wohl aus dem Gedächtnis, aus Hi 10,9–11 LXX. Die Bekleidung des inneren Menschen mit Christus, dem vollkommenen Bild Gottes, als Ausdruck für die Ebenbildlichkeit, ist eine Anlehnung an Paulus (Gal 3,27). Gregor zitiert aus Röm 8,17. Vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,8 (PG 35, 11–21 Migne). Zu Gregors Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott vgl. Tasos Sarris Michopoulos, Μιμησόμεθα Νόμον Θεοῦ. Gregory the Theologian’s Ontology

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b) Unendlich beschenkt Die zweite Voraussetzung, mit der Gregor seinen Aufruf zur Wohltätigkeit begründet, ist seine Überzeugung, dass der Mensch von allem Anfang an ganz grundsätzlich von Gott beschenkt und auf Gott angewiesen ist: Niemals wirst du die Freigebigkeit Gottes übertreffen, auch, wenn du alles gibst, was du hast, und auch, wenn du noch alles dazugibst, was du selbst bist. Denn auch das ist ein Empfangen: sich Gott hinzugeben. Wie viel du auch entrichtest, immer ist das, was dir bleibt, noch mehr. Und nichts von dem, was du geben wirst, [gehört] dir selbst, denn alles [hast du] von Gott.12

Als Geschöpf Gottes hat der Mensch alles, was er hat und ist, von Gott empfangen: Seinen Körper, Nahrung, Wohnung und, noch grundlegender, die Welt, in der er lebt, die Ordnung der Zeit, den Rhythmus von Tag und Nacht und den Jahreszeiten. Gregor ruft deshalb dazu auf, die von Gott anvertrauten Güter umsichtig zu verwalten und auf übermäßigen Luxus zu verzichten.13 Doch nicht nur das Geschaffensein des Menschen selbst und der Schöpfung, die ihm als Lebensgrundlage dient, sind Geschenk und Gnade Gottes. In Gregors Verständnis gipfelt das Heilsgeschehen, das in der Schöpfung seinen Anfang genommen hat, in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Dadurch, dass Gott selbst in seine Schöpfung

12

13

of Compassion, in: The Greek Orthodox Theological Review 39, Nr. 2 (1994), 109–121. Dieser findet Gregors denkerisches Vorbild in dieser Hinsicht bei Origenes, macht aber einen bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Theologen aus: Bei Origenes ergebe sich die Gleichheit aus der Tatsache der Geschaffenheit des Menschen, könne aber nicht aus seiner Trinitätslehre abgeleitet werden, da Origenes nicht von einer vollkommenen Gleichwertigkeit der göttlichen Personen ausgehe. Hingegen liege bei Gregor der Grund für die Gleichheit der Menschen in der Gleichheit der trinitarischen Personen. Letzteres steht auf keinen Fall in einem Widerspruch zu Gregors Denken und lässt sich als impliziter Schluss aus seinen Schriften ableiten. Als Argument für die Gleichheit der Menschen findet es sich hier aber meines Erachtens nicht. Gregor von Nazianz, or. 14,22 (PG 35, 885.37–42 Migne): Οὐδέποτε νικήσεις μεγαλοδωρεὰν Θεοῦ, κἂν πάντα πρόῃ τὰ ὄντα, κἂν τοῖς οὖσι σεαυτὸν προσθῇς. Καὶ τοῦτο γάρ ἐστι λαβεῖν, τὸ τῷ Θεῷ δοθῆναι· ὅσον ἐὰν εἰσενέγκῃς, πλεῖον ἀεὶ τὸ λειπόμενον· καὶ οὐδὲν δώσεις ἴδιον, ὅτι τὰ πάντα παρὰ Θεοῦ. Vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,24 (PG 35, 889.5–33 Migne); or. 14,16–17 (PG 35, 876.47–880.26 Migne). Unter dieser Voraussetzung ist menschlicher Besitz – konsequent zu Ende gedacht – eigentlich gar nicht möglich. So weit geht Gregor jedoch nicht, möglicherweise, weil er selbst die Vorzüge eines gewissen Lebensstandards kennt, oder aber, weil er sein Publikum, dessen Wohlwollen er ja zu gewinnen sucht, nicht vor den Kopf stossen will.

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eintritt, in der Schwachheit und Armut Wohnung nimmt, und den Menschen so den Weg zu sich selbst eröffnet, zeigen sich Gottes Liebe und Barmherzigkeit gegenüber dem Menschen in allerhöchstem Mass.14 So spricht Gregor in der Grabrede auf Basilius (or. 43) von der überweltlichen Natur, die die Schöpfung nicht zu fassen vermag, die aber aufgrund der Menschenfreundlichkeit doch unter uns kommt, um uns zu sich hin zu ziehen […].15

Es versteht sich von selbst, dass der Mensch bei Gott niemals wettmachen kann, was ihm geschenkt wurde. Und doch, oder besser gesagt: gerade deswegen, sieht Gregor es als Aufgabe des Menschen, mit seinen beschränkten Möglichkeiten Gott entsprechend zu handeln und selbst Mitleid und Wohltätigkeit zu üben: Er [d.h. Gott] schuf [den Menschen] und führt ihn, nachdem er [ihn] losließ, wieder [mit sich] zusammen; sieh also auch du nicht über den Gefallenen hinweg! 16

Der Mensch soll die von Gott empfangene Gnade und Barmherzigkeit, die sich in der Schöpfung und in der Menschwerdung Gottes manifestieren, weitergeben. Gregor verwendet dazu an zahlreichen Stellen in seinen Schriften den Begriff „nachahmen“ (μιμέομαι).17 So, wie Gott 14

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Vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,15 (PG 35, 876.24–34 Migne). Vgl. auch Gregor von Nazianz or. 2,24 (SC 247, 120 Bernardi). In Gregor von Nazianz or. 44,2 (PG 36, 609.4–5 Migne) bezeichnet Gregor das Leben und Sterben Jesu Christi als Ausdruck von Gottes Philanthropie, die es vermag, den Menschen umzubilden, also nach dem Bild Gottes neu zu schaffen. Gregor von Nazianz, or. 43,45 (SC 384, 222 Bernardi): […] φύσιν τὴν ὑπερκόσμιον, ἣν οὐδὲ χωρεῖν ἡ κτίσις δύναται, κἂν μεθ’ ἡμῶν τι γένηται λόγῳ φιλανθρωπίας, ἵν’ ἡμᾶς ἑλκύσῃ πρὸς ἑαυτὴν […]. Gregor von Nazianz, or. 14,27 (PG 35, 893.3–4 Migne): Ὁ μὲν ἐποίησε, καὶ λύσας συνάγει πάλιν· σὺ δὲ πεσόντα μὴ παρίδῃς. Die Übersetzung von λύσας ist schwierig: Aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass es dabei um den Sündenfall geht. Allerdings handelt es sich um ein aktives Partizip, das Gott als Handelnden und den Menschen zum Objekt hat. Aus Gregors Sicht ist die Trennung von Gott und Menschen jedoch immer eine Bewegung, die vom Menschen ausgeht. Ich wähle als deutsche Übersetzung „loslassen“, da dieses Verb die Möglichkeit, dass die Initiative zur Loslösung vom Menschen ausgeht, zulässt, selbst wenn Gott der Handelnde ist. So etwa in Gregor von Nazianz, ep. 77,12 (Gallay [Hg.], Bd. 1 1964, 97); ep. 140,3 (Gallay [Hg.], Bd. 2 1964, 29); ep. 147,1 (Gallay [Hg.], Bd. 2 1964, 137); or. 17,9 (PG 35, 976.44–45 Migne); or. 19,11 (PG 35, 1056.37–40 Migne); or. 24,2 (SC 284, 42 Mossay); or. 40,31 (SC 358, 270 Gallay); or. 43,6 (SC 384, 264 Bernardi). Über Basilius sagt Gregor lobend, dieser habe die Diakonie Christi nachgeahmt, vgl. or. 43,35 (SC 384, 204 Bernardi).

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dem Menschen durch seine eigene Menschwerdung Barmherzigkeit erwiesen und so, wie Jesus Christus ein menschenfreundliches, dienendes Leben vorgelebt hat, so sollen auch die Menschen miteinander umgehen.18 Wie die Gleichheit beziehungsweise Brüderlichkeit vor Gott gründet für Gregor auch das Beschenktsein des Menschen einerseits im Schöpfungsgeschehen und andererseits im Heilswirken Gottes in Jesus Christus. Und wie dort ergibt sich für Gregor die Aufforderung, selbst Menschenfreundlichkeit und Barmherzigkeit zu üben, auch hier aus beiden Ausdrucksformen göttlicher Gnade.19

3. WOHLTÄTIGKEIT DES MENSCHEN UND FOLGEN FÜR DESSEN BEZIEHUNG ZU GOTT Wie aber wirkt sich das wohltätige Handeln des Menschen nun auf dessen Beziehung zu Gott aus? Aus der Gleichheit aller Menschen vor Gott und aus der Erfahrung, beschenkt zu sein, ergibt sich nach Gregors Verständnis zwangsläufig das erste und wichtigste der Gebote, das Doppelgebot der Liebe: Der Mensch soll Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst.20 Will der Mensch also in einer guten Beziehung zu Gott stehen, dann muss er seinen Nächsten Liebe und Mitgefühl entgegenbringen. 18

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Gregor verwendet das Wort „Mitknechte“ (ὁμόδουλοι); darin klingen wiederum die Gleichheit aller Menschen vor Gott und die ihnen gemeinsamen Bedingungen innerhalb des irdischen Lebens mit, vgl. Gregor von Nazianz, or. 19,13 [PG 35, 1060.16 Migne]. Gregor fordert bzw. lobt die menschliche Wohltätigkeit als Entsprechung zu Gottes Handeln an mehreren weiteren Stellen in seinen Reden. So spricht er etwa in der Grabrede für Basilius, or. 43,56 (SC 384, 244 Bernardi), davon, dass der Mensch zu der Menschenfreundlichkeit Gottes (Θεοῦ φιλανθρωπία) Hand bieten soll. Vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,5 [PG 35, 864.25–30 Migne]; vgl. Mk 12,28–31, wo es heisst: ποία ἐστὶν ἐντολὴ πρώτη πάντων; ἀπεκρίθη ὁ Ἰησοῦς ὅτι πρώτη ἐστίν· ἄκουε, Ἰσραήλ, κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν κύριος εἷς ἐστιν, καὶ ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου ἐξ ὅλης τῆς καρδίας σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς ψυχῆς σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς διανοίας σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς ἰσχύος σου. δευτέρα αὕτη· ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν. μείζων τούτων ἄλλη ἐντολὴ οὐκ ἔστιν. (Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Das zweite ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Höher als diese beiden steht kein anderes Gebot.) Parallelstellen: Mt 22,34–40; Lk 10,25–28.

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Denn diese Eigenschaften, so ist Gregor überzeugt, entsprechen Gott in innigster Weise: Durch nichts wird Gott nämlich so sehr geehrt wie durch die Barmherzigkeit; 21

Während sich Gott den Menschen in unermesslicher Freundlichkeit und niemals versiegender Barmherzigkeit zuwenden will, haben jene verschiedene Möglichkeiten auf die Gnade Gottes einzuwirken und auf sie zu reagieren: Wenn jemand auf die erfahrene Freundlichkeit Gottes seinerseits mit Güte gegenüber seinen Mitmenschen reagiert, ist ihm die Barmherzigkeit Gottes gewiss.22 Auch durch das Bekenntnis seiner Sünde und durch aufrichtige Busse – etwa durch Tränen oder Fasten – kann der Mensch das Erbarmen Gottes für sich gewinnen.23 Hingegen weist der Mensch die Barmherzigkeit Gottes durch Sünden und Bosheit, oder wenn er sie nicht weitergibt, von sich.24 Daran, wie der Mensch auf die von Gott erfahrene Barmherzigkeit reagiert, entscheidet sich wesentlich seine Beziehung zu Gott. Für Gregor ist klar: Durch nichts hat der Mensch so sehr Anteil an Gott wie durch das Wohltun.25

Das wohltätige Miteinander der Menschen ist also eng verbunden mit der asketischen Lebenspraxis, die Gregor empfiehlt und fordert: Wer selbst bescheiden lebt, läuft weniger in Gefahr, sich durch die Anhäufung von Luxusgütern und durch einen ausschweifenden Lebensstil an seinen Mitmenschen und an Gott schuldig zu machen.26 Gregor sieht die Barmherzigkeit als ein Mittel an, mit dem der Mensch dem Bösen in der Welt entgegentreten kann.27 Doch darüber hinaus trägt der Mensch mit seiner Wohltätigkeit auch aktiv zu seinem eigenen 21

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Gregor von Nazianz, or. 14,5 (PG 35, 864.30–34 Migne): Οὐδενὶ γὰρ οὕτω τῶν πάντων, ὡς ἐλέῳ, Θεὸς θεραπεύεται […]. Vgl. Gregor von Nazianz, or. 16,19 (PG 35, 691.21–22 Migne). Vgl. Gregor von Nazianz, or. 2, 59 (SC 247, 168170 Bernardi); or. 16,6 (PG 35, 941.4448 Migne); or. 16,17 (PG 35, 957.25-35 Migne); or. 17,3 (PG 35 968.39–47 Migne); or. 39,17 (SC 358, 188 Gallay). Vgl. or. 16,12 (PG 35, 949.35–38 Migne); or. 17,1 (PG 35, 965.3–5 Migne); or. 22,7 (SC 270, 234 Mossay/Lafontaine). Gregor von Nazianz, or. 14,27 (PG 35, 892.46–893.1 Migne): Οὐδὲν γὰρ οὕτως, ὡς τὸ εὖ ποιεῖν, ἄνθρωπος ἔχει Θεοῦ· Vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,16–18 (PG 35, 876.47–881.10 Migne), wo Gregor Armut und Reichtum einander bilderreich gegenüberstellt. Vgl. or. 5,37 (SC 309, 370 Bernardi). Hinter diesem Gedanken dürfte Röm 12,21 stehen, wo es heißt: μὴ νικῶ ὑπὸ τοῦ κακοῦ ἀλλὰ νίκα ἐν τῷ ἀγαθῷ τὸ κακόν. (Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute).

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Heil bei. Im Bestreben, sich selbst zu reinigen, um dem Reinen, Gott, näher zu kommen, kommen dem Mitgefühl und der Barmherzigkeit eine entscheidende Rolle zu: Reinigen wir uns also, indem wir Barmherzigkeit zeigen, waschen wir mit dem guten Kraut den Schmutz und die Flecken von den Seelen! Werden wir weiß wie Wolle oder wie Schnee, entsprechend dem Maß des Mitgefühls.28

Je mehr der Mensch bereit ist, Wohltätigkeit zu üben, desto reiner wird seine Seele und desto näher gelangt er zu Gott. Dabei denkt Gregor nicht an eine Art Werkgerechtigkeit oder an einen religiös motivierten Aktivismus, bei dem der Mensch mit jeder guten Tat einen Schritt vor, mit jeder Verfehlung aber einen zurück macht. Vielmehr ist die menschliche Barmherzigkeit, die sich auch in der materiellen Zuneigung zu Bedürftigen zeigt, Ausdruck der richtigen Entscheidung darüber, was im Leben wirkliche Bedeutung hat und was nicht. Weil das Geschick der Menschen nämlich erfahrungsgemäß höchst unstet ist und sich jeden Tag, jede Stunde komplett wenden kann,29 ist es, so Gregors Überzeugung, nichts als weise, sich auf das, was Bestand hat – nämlich Gott und das zukünftige Leben – zu verlassen: Suchen wir die Ruhe dort [d.h. im Jenseits], werfen wir hiesigen Überfluss von uns! Nur, was an ihm gut ist, wollen wir gewinnen; machen wir uns unsere eigenen Seelen durch Barmherzigkeit zu eigen! Geben wir von unserem Besitz den Armen, damit wir dort reich werden! Gib auch der Seele einen Teil, nicht nur dem Fleisch! Gib auch Gott einen Teil, nicht nur der Welt.30

Die Prioritäten im Leben richtig zu setzen, bedeutet für Gregor, keinen irdischen Gütern anzuhängen. Der Mensch kann und soll getrost alles, was er nicht zwingend braucht, abgeben. Auf diese Weise werden die Freundlichkeit und Zuwendung zum Nächsten zu einem Opfer für Gott.31 So zeigt sich der Mensch solidarisch gegenüber seinen Mitgeschöpfen, antwortet auf die erfahrene Gnade Gottes seinerseits mit Wohltun und übt im Sinn eines asketischen Lebens immer weiter die Ausrichtung auf 28

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Gregor von Nazianz, or. 14,37 (PG 35, 908.1–4 Migne): Καθαρθῶμεν οὖν ἐλεήσαντες, ῥύψωμεν τῇ καλῇ πόᾳ τὰ τῶν ψυχῶν ῥύπη τε καὶ μολύσματα· καὶ λευκανθῶμεν, οἱ μὲν ὡς ἔριον, οἱ δὲ ὡς χιὼν, κατὰ τὴν ἀναλογίαν τῆς εὐσπλαγχνίας. Vgl. Gregor von Nazianz, or. 14,16-18 (PG 35, 881.13–884.27 Migne). Gregor von Nazianz, or. 14,22 (PG 35, 885.24–30 Migne): ζητήσωμεν τὴν ἐκεῖθεν ἀνάπαυσιν, ῥίψωμεν τὴν ἐντεῦθεν περιουσίαν· ὃ καλόν ἐστι ταύτης, τοῦτο μόνον κερδάνωμεν, κτησώμεθα τὰς ἑαυτῶν ψυχὰς ἐν ἐλεημοσύναις, μεταδῶμεν τῶν ὄντων τοῖς πένησιν, ἵνα τὰ ἐκεῖθεν πλουτήσωμεν. Δὸς μερίδα καὶ τῇ ψυχῇ, μὴ τῇ σαρκὶ μόνον· δὸς μερίδα καὶ τῷ Θεῷ, μὴ τῷ κόσμῳ μόνον· Vgl. Gregor von Nazianz, or. 17,10 (PG 35 977.3–12 Migne).

MENSCHENFREUNDLICH GOTT NAHE KOMMEN

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Gott ein. Gregor ist überzeugt: Wer sich seinem Nächsten mitfühlend und barmherzig zuwendet, darf als Lohn nichts Geringeres erwarten als die ewige Ruhe bei Gott.32 4. FAZIT Gregor begründet die Notwendigkeit des wohltätigen Handelns auf zweifache Weise. Einerseits betont er die Gleichheit aller Menschen vor Gott: Alle sind sie gleich geschaffen, alle teilen sie die gleiche Natur, zu der ihre materielle Beschaffenheit ebenso gehört wie ihre Ebenbildlichkeit Gottes. Entsprechend haben sie auch alle gleichermaßen Anteil an der Erlösung durch Jesus Christus und sind durch ihn als Geschwister verbunden. Die Gleichheit vor Gott aufgrund der Beschaffenheit aller Menschen sowie deren Geschwisterlichkeit im Blick auf Jesus Christus muss nach Gregors Verständnis unbedingt zu einer liebevollen, solidarischen und barmherzigen Haltung der Menschen untereinander führen. Andererseits ist der Mensch in Gregors Augen in elementarster Weise von Gott beschenkt: Nichts von allem dem, was er zum Leben braucht, kann sich der Mensch selbst geben; alles hat er aus Gottes Fülle erhalten. Diese Einsicht muss beim Menschen unweigerlich ebenfalls zu einer Haltung der Großzügigkeit und Freigiebigkeit führen. Nach Gregors Verständnis gründet die Wohltätigkeit des Menschen nicht nur in dessen Beziehung zu Gott, sondern wirkt sich ihrerseits wieder direkt auf diese aus. Gregor ist überzeugt, dass die Menschenfreundlichkeit so sehr zu Gott gehört wie sonst kaum eine Eigenschaft. An der Wohltätigkeit, die der Mensch gegenüber seinen Nächsten übt, entscheidet sich deshalb auch sein Verhältnis zu Gott: Je menschenfreundlicher der Mensch ist, desto ähnlicher und damit näher ist er dem menschenfreundlichen Gott. Wohltätigkeit gehört damit vielleicht nicht zu Gregors zentralsten theologischen Themen, im Blick auf die Lebensführung von Christinnen und Christen jedoch klar zu seinen Kernanliegen. 32

Sehr ähnlich wie in or. 14,22 argumentiert Gregor in or. 19,11 (PG 35, 1056.22–23; 1056.37–1057.1 Migne) an den Steuerbeamten Julian. Auch hier gibt er der Hoffnung Ausdruck, Lohn für die Barmherzigkeit in diesem Leben möge die Ruhe „im Schoss Abrahams“ (ἐν κόλποις Ἀβραὰμ) sein. Stärker als in or. 14,22 betont er hier, dass das Verschenken des Besitzes während des irdischen Lebens zu Reichtum im anderen, jenseitigen Leben führt. Während sie in or. 14,22 nur leise anklingt, bezieht Gregor sich hier auch ausdrücklich auf die Aufforderung Jesu in Mt 6,19–20, der Mensch solle nicht auf der Erde, sondern im Himmel Schätze sammeln.

Wohltätigkeit und Liturgie bei Basileios von Kaisareia JOHANN LEHMHAUS (Kiel)

1. EINLEITUNG Das Verhältnis von Liturgie und Wohltätigkeit ist ein bisher wenig erforschtes Feld. Dennoch werden beide Aktivitäten mit dem Kern kirchlichen Lebens assoziiert. Als Beispiel dafür kann Basileios von Kaisareia dienen. Er gilt bekanntlich als einer der wichtigsten Theologen des 4. Jahrhunderts. Für die gegenwärtige protestantische Theologie sind wohl seine Rolle und sein Beitrag zu den trinitätstheologischen Debatten des 4. Jahrhunderts am bedeutungsvollsten. Darüber hinaus haben seine Klosterregeln, die als „Basilius-Regeln“ zusammengefasst werden, bis heute einen großen, bleibenden Einfluss auf das Klosterwesen der Ostkirche.1 Sie erlangten sogar über ihre Rezeption in der Benedikts-Regel und den sogenannten „Mischregeln“ Bedeutung für das westliche Mönchtum.2 Ein Drittes ist noch hinzuzufügen: Sein soziales Engagement, das er praktisch umsetzte und theoretisch reflektierte.3 Um das soll es hier auf der einen Seite gehen. Auf der anderen Seite ist er durch eine ihm zugeschriebene Liturgie bekannt, die bis heute – zwar in differierenden Gestalten – in den Ostkirchen in Gebrauch ist.4 Gegenwärtig beschäftige ich mich in meinem Dissertationsvorhaben mit der Verbindung der beiden letztgenannten Punkte: Liturgie und Wohltätigkeit bei Basilius und die mögliche Durchdringung der Liturgie von Basilius Ideen des karitativen Handelns. 1

2 3 4

Vgl. Karl Suso Frank, Basilius von Caesarea. Mönchsregeln, St. Ottilien 22010, 72f.; Wolf-Dieter Hauschild, Basilius von Caesarea, in: TRE 5 (1980), 301–313, hier 311. Vgl. Frank (s.o. Anm. 1), 73f.; Hauschild (s.o. Anm. 1), 312. Vgl. Hauschild (s.o. Anm. 1), 308. Vgl. Michael Schneider, Die göttliche Liturgie. Eine theologische Hinführung zur Liturgie unserer Väter unter den Heiligen Basilius und Johannes Chrysostomus (Edition Cardo 121), Köln 22005, 9f..; Georg Kretschmar, Abendmahlsfeier I: Alte Kirche, in: TRE 1 (1977), 229–279, hier 265.

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2. DIE BISHERIGE FORSCHUNG AN DER BASILEIOS-ANAPHORA Als Pionier der neueren Forschung an der Basileios-Anaphora kann Hieronymus Engberding gelten. Er vollzog die Entwicklung der Anaphora mithilfe der Methode der sog. Komparativen Liturgie nach, die von Anton Baumstark entwickelt worden war.5 Dazu erstellte er eine Synopse der verschiedenen Traditionslinien der Anaphora: griechisch, syrisch, armenisch, georgisch und ägyptisch, die sich ihrerseits noch weiter ausdifferenzieren. Mittels dieser Methode erstellte Engberding ein Stemma, das die Entfaltung einer „Ur-Basilianischen-Anaphora“ aus Kaisareia zeigt. Von dieser sei erstens eine ägyptische Gestalt abhängig, die dicht an der Urgestalt bliebe. Basileios redigierte zweitens die Urgestalt, von der dann drittens eine armenische und eine syrisch-byzantinische Familie abhängen.6 Mit seiner Untersuchung korrigierte er die Annahme, dass sich die Liturgie vom Längeren zum Kürzeren entwickelt habe. Diese These war bereits in der Proklos von Konstantinopel zugeschriebenen „Erklärung über die Tradition der göttlichen Liturgie“ formuliert worden.7 Die Redaktionen des Basileios sah Engberding in der Hinzufügung von Schriftzitaten und Formulierungen, die sich in den Werken des Redaktors wiederfinden.8 Von Engberdings Arbeit ausgehend konnte die literarkritische Forschung Fahrt aufnehmen. Nach kurzer Diskussion über Engberdings Thesen schlossen sich die meisten nachfolgenden Arbeiten an ihn an. Der Quellenbestand wurde in der folgenden Zeit beträchtlich erweitert und die Methoden spezifiziert, sodass die Erforschung der Anaphora immer weiter verfeinert werden konnte. Neben vielen wegweisenden Arbeiten sind in jüngerer Zeit Heinzgert Brakmann, Robert Taft und Gabriele Winkler zu nennen.9 Jüngste umfangreiche Arbeiten haben Achim Budde und Ciprian Streza vorgelegt. Die Methode für die Erhebung der basileianischen Redaktion war der Vergleich der Fassungen mit den Aussagen des Basileios zur Trinitätslehre. Streza konnte die bisherigen Ergebnisse 5

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7 8 9

Anton Baumstark/Baernhard Botte, Liturgie comparée. Principes et méthodes pour l’étude historique des liturgies chrétiennes (Collection Irénikon), Chevetogne 31953. Hieronymus Engberding, Das Eucharistische Hochgebet der Basileiosliturgie. Textgeschichtliche Untersuchungen und kritische Ausgabe (Theologie des christlichen Ostens. Texte und Untersuchungen 1), Münster 1931, LXXXVIf. S. Procl. CP, tract. (PG 65, 849B–852B). Vgl. Engberding (s.o. Anm. 6), LXXVI. Ein Überblick über die Forschungsgeschichte findet sich bei: Achim Budde, Die ägyptische Basilios-Anaphora. Text – Kommentar – Geschichte (JThF 7), Münster 2004, 20–34.

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über die Verbindung von den basileianischen Trinitätsaussagen und der Anaphora mit der technischen Hilfe des Thesaurus Linguae Graecae bestätigen.10 Budde konnte zusätzlich die Hand des Basileios auch in der ägyptischen Rezension erklären, indem er zunächst von einer bloßen Sammlung und Verschriftlichung des dem Basileios überkommenen Materials ausgeht, das nach Ägypten gelangte und sich dort entwickelte.11 Nach diesem Modell ist Basileios dann als Redaktor seiner aus der Tradition zusammengestellten Anaphora aufgetreten. Insgesamt lässt sich sagen, dass für die Forschung eher die Textgenese im Vordergrund stand und bis vor wenigen Jahren kaum das theologische Interesse, das die Redaktion des Basileios erkennen lässt. Die Theologie diente methodisch der Erhebung der Textgeschichte und nicht umgekehrt. Dies änderte sich bei Budde und Streza, die ihren literarkritischen Beobachtungen noch theologische Kommentare beigaben. Besonders Buddes Arbeit stieß im Großen und Ganzen auf breite Zustimmung.12 Seitdem ist es allerdings still um die Basileios-Anaphora geworden. 3. BASILEIOS UND DIE PHILANTHROPIE Nachdem die Verbindung der basileianischen Trinitätstheologie mit der Basileios-Anaphora deutlich aufgezeigt worden ist, können diese Erkenntnisse mit weiteren Aspekten der Theologie ihres Redaktors erweitert werden. Denn Basileios’ großer Verdienst liegt eben auch in seinem Bemühen um christliche Wohltätigkeit, die φιλανθρωπία. Dazu wenige Beispiele: Zu beachten sind die Schriften, in denen Basileios von der Nächstenliebe und ihrer praktischen Umsetzung, der Fürsorge spricht. Hinzu kommen Schriften, in denen er diese mit dem Wesen der Kirche verbindet. 10

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Vgl. Ciprian Ioan Streza, Anaforaua euharistică a Sfântului Vasile cel Mare. Istorie – text – analiză comparată – comentariu teologic, Sibiu 2013. Vgl. Budde (s.o. Anm. 9), 577. Positiv äußern sich: Marcel Metzger, Rez. Budde, Achim, Die Ägyptische BasiliosAnaphora. Text – Kommentar – Geschichte (JThF 7), Münster 2004, in: JbAC 47 (2004), 185–188; Clemens Leonhard, Rez. Budde, in: ThRv 101,5 (2005), 401–403; Martin Illert, Rez. Budde, in: ThLZ 131,1 (2006), 100–102. Kritisch hingegen äußern sich: Gabriele Winkler, Die Basilius-Anaphora. Edition der beiden armenischen Redaktionen und der relevanten Fragmente, Übersetzung und Zusammenschau aller Versionen im Licht der orientalischen Überlieferungen (Anaphorae Orientalis 2), Rom 2005, 30–37; Bryan D Spinks, Rez. Budde, in: JThS 57,1 (2006), 303f.

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An mehreren Stellen äußert sich Basileios über die Liebe als eigentümliches Merkmal der Christen, so etwa in De fide: „Die Liebe, die den Christen kennzeichnet (χαρακτηρίζω)“.13 Sie unterscheide wahre Christen von Heuchlern.14 Das kann in Bezug auf Mt 7,15f.15 und Joh 13,2516 ausgesagt werden. In diesem Sinne kann Klaus Koschorke die ἀγάπη bei Basileios als nota ecclesiae betrachten.17 Generell argumentiert Basileios in vielen Briefen und Predigten mit der christlichen Nächstenliebe. Die Umsetzung von Mt 25,35f.18 fordert er eindringlich, die konsequente Umsetzung mache sogar erst eine Vergemeinschaftung möglich: „Von mehreren können auch leichter mehrere Gebote beobachtet werden, von einem einzelnen aber niemals. Denn wenn er das eine Gebot erfüllt, ist er an der Beobachtung des anderen verhindert. Der Besuch eines Kranken verhindert auch die Aufnahme eines Fremden. Wenn einer Lebensmittel austeilt – besonders wenn der Dienst lange Zeit beansprucht – ist er an eifriger Arbeit verhindert. Deshalb bleibt das größte und zum Heil wesentliche Gebot unbeachtet. Denn weder wird der Hungrige gespeist, noch der Nackte bekleidet. Wer möchte nun ein müßiges und unfruchtbares Leben dem Leben vorziehen, das Frucht trägt und den Geboten des Herrn entspricht.“19

In seinen Moralia erklärt er den Willen Gottes „zum alleinigen Massstab des ‚Christ‘-Seins und zur ausschliesslichen Richtschnur kirchlichen 13 14 15

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[…] ἀγάπην, τὴν χαρακτηρίζουσαν τὸν Χριστιανόν […]. Bas., fid. 5 (PG 31, 688C). S. Bas., moral. 28 (PG 31, 748AB). „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln?“ „Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon.“ Vgl. Klaus Koschorke, Spuren der alten Liebe. Studien zum Kirchenbegriff des Basilius von Caesarea (Par. 32), Freiburg/Schweiz 1991, 17. „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.“ Καὶ αἱ ἐντολαὶ δὲ ὑπὸ μὲν τῶν πλειόνων επὶ τὸ αὐτὸ ῥᾳδίως γίνονται πλείους, ὑπὸ δὲ τοῦ ἑνὸς οὐκέτι· ἐν γὰρ τῇ ἐργασίᾳ τῆς μιᾶς ἐμποδίζεται ἡ ἄλλη. Οἷον, ἐν ἐπισκέψει τοῦ ἀσθενοῦντος ἡ ὑποδοχὴ τοῦ ξένου, καὶ ἐν τῇ μεταδόσει καὶ κοινωνίᾳ τῶν χρειῶν (καὶ μάλιστα, ὅταν διὰ μακροῦ αἱ διακονίαι γίνωνται), ἡ περὶ τὰ ἔργα σπουδή· ὥστε ἐκ τούτου τὴν μεγίστην καὶ σύντονον πρὸς σωτηρίαν ἐντολὴν ἐλλιμπάνεσθαι· μήτε τοῦ πεινῶντος τρεφομένου, μήτε τοῦ γυμνοῦ περιβαλλομένου. Τίς ἂν οὖν ἕλοιτο τὴν ἀργὴν καὶ ἄκαρπον ζωὴν τῆς ἐγκάρπου καὶ κατ’ ἐντολὴν τοῦ Κυρίου ἐπιτελουμένης προτιμῆσαι; Bas., reg. fus. 7,1 (PG 31, 929B); übers. Frank (s.o. Anm. 1), 110.

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Handelns.“20 Beides, nämlich Nächstenliebe als Gotteswille, verbindet sich im Liebesgebot von Mt 5,44f. Dass etwa die Fürsorge für die Armen und das Teilen des eigenen Besitzes jedem Christen obliegt, wird in hom. 6 über Lk 12,18 („Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen – Über die Habgier“)21 deutlich. Fürsorge geht folglich alle Christen etwas an, da alle in der Nachfolge Christi leben sollen,22 im Mönchtum können dafür nur bessere Voraussetzungen durch die Gemeinschaft geschaffen werden. Basileios setzte die Nachfolge selbst konsequent um. So berichtet Gregorios von Nazianz: „Basilius aber liegen die Kranken und die Wundenheilung und die Nachahmung [μίμησις] Christi am Herzen.“23 Für Basileios gehört zur Nachahmung Christi – in der Darstellung des Gregorios – die Zuwendung zu den Kranken. Und das nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch: „Er reinigt zwar nicht mit dem Wort, sondern mit der Tat den Aussatz.“24 Deutlich wird dies in seinem diakonischen Großprojekt, die Basileias. Andreas Müller beschreibt sie auf Grundlage der Briefe des Basileios folgendermaßen: Sie „stellte nicht nur ein Krankenhaus, eine Gästeherberge und ein Kloster dar. Man muss sich auch Einrichtungen für das tägliche Leben, Bäder und Werkstätten auf dem Gelände vorstellen. Der spätere Bischof sah darin einen Beitrag, die unter wirtschaftlicher Not und mangelnder Besiedlung leidende Region wieder aufzubauen.“25 Basileios nahm seine Christusnachfolge so ernst, dass er diese sogar auf eine institutionelle Ebene hob und professionalisierte. Hier lässt sich auch Basileios’ enge Verbindung zum Mönchtum sehen. Denn Andreas Müller sieht unter anderem die ägyptischen Pachomianerklöster als Vorbild für die Anlage, da sie ähnliche Funktionen der Fürsorge übernahmen. Basileios konnte sie möglicherweise während seiner Reise nach Alexandreia kennengelernt haben.26 In den Regeln für das monastische Leben tauchen an verschiedenen Stellen Aufforderungen zum karitativen Handeln auf. Neben der bereits zitierten regula fusius 20 21 22 23

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Koschorke (s.o. Anm. 17), 39. S. Bas., hom. 6,2 (PG 31, 264C–265B); ebd., 6,7 (PG 31, 276B–277A). Vgl. Koschorke (s.o. Anm. 17), 325. [...] Βασιλείου δὲ οἱ νοσοῦντες καὶ τὰ τῶν τραυμάτων ἄκη καὶ ἡ Χριστοῦ μίμησις […]. Gr. Naz., or. 43,63 (SC 384, 264,43f. Bernardi). […] οὐ λόγῳ μέν, ἔργῳ δὲ λέπραν καθαίροντος. Ebd., 43,63 (SC 384, 264,44f. Bernardi). Andreas Müller, „All das ist Zierde für den Ort…“. Das diakonisch-karitative Großprojekt des Basileios von Kaisareia, in: ZAC 13,3 (2010), 452–474, hier 454f. Vgl. ebd., 460–463.

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tractatae ließen sich noch viele weitere Stellen anführen. Zwischen Mönchtum und Weltchristen macht Basileios allerdings keine Unterschiede bei der Anforderung, nach der vita evangelica zu handeln.27 Beide sind gleichermaßen ermutigt, dem Willen Gottes entsprechend zu handeln. Bezogen auf das karitative Handeln gehört die imitatio Christi nach Basileios genuin zum Christsein, und zwar für alle Glaubenden. Auch in seiner eigenen Biographie wird die Verbindung zwischen Christsein und Philanthropie mehr als deutlich. Es geht ihm um ein „fruchtbares“ Christentum, nicht um ein theoretisches. Beim Thema der Philanthropie ist auch, wie im Zitat der Regel zu sehen, das Mönchtum nicht weit. Hier verbinden sich zwei außerordentlich prägende Themen für Basileios. Sein großes Bestreben war eine geistliche Erneuerung der Kirche, um zum einen die Einheit der in der Trinitätsfrage zerstrittenen Kirche wiederherzustellen und zum anderen die Befolgung des Gotteswortes wieder in Kraft zu setzen. Den Verfall prangerte er in de iudicio Dei scharf an.28 Einheit hinsichtlich der Schriftauslegung und das Handeln nach dem Gotteswort müssen beiderseits wieder in der Kirche erreicht werden. 4. DIE FRAGESTELLUNG Wenn Basileios das ihm überkommene liturgische Material hinsichtlich einer aus seiner Sicht orthodoxen Trinitätslehre redigierte, warum sollte er die für ihn so wichtige Forderung nach einem fruchtbaren Christentum nach dem Wort Gottes nicht auch in irgendeiner Form mitaufgenommen haben? Beides gehört gleichermaßen zum Reformprogramm. Ist in der Anaphora etwa bloß die Liebe zu Gott wichtig oder gelangt die Liebe zu den Menschen ebenfalls im Gebet vor Gott in den Blick? Es wäre meines Erachtens durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass sich Basileios in seiner Redaktion nicht nur auf die Trinität beschränkt hat, sondern dass auch andere Aspekte seines theologischen Wirkens Eingang in das Formular gefunden haben. So möchte ich nach einer Verklammerung von himmlischem Lobpreis in der Liturgie und irdischem Handeln fragen. Sind die Ausdrucksformen der Kirche λειτουργία und διακονία/φιλανθρωπία in irgendeiner Hinsicht aufeinander bezogen oder stehen sie nebeneinander? Sind der Dienst in der Kirche und der Dienst außerhalb der Kirche getrennte Bereiche? Am Ende möchte ich 27 28

Vgl. Koschorke (s.o. Anm. 17), 325. S. Bas., jud. 2 (PG 31, 653C–656C).

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herausarbeiten, was die Verbindung von beidem oder ihre konsequente Trennung im liturgischen Geschehen für das Gottesdienstverständnis des Basileios aussagt und davon das Verhältnis der beiden Themen zueinander ableiten. Darüber hinaus lassen sich die Ergebnisse über den Umfang der Redaktion verfeinern, indem die Analyse der Anaphora hinsichtlich der anthropologischen und philanthropischen Aussagen um mehr Material erweitert wird. Dafür sind zunächst die Aussagen über Wohltätigkeit und Anthropologie aus dem Quellenmaterial zu erheben, um dann die Anaphora auf dazu passende Elemente zu untersuchen. 5. BEISPIELE Am Schluss soll eine kleine Beobachtung stehen. Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem anaphorischen Fürbittgebet in dem sich folgende Ausschnitte finden lassen: „Ernähre die Säuglinge, erziehe die Jugend, stärke das Alter, tröste die Kleinmütigen, sammle die Zerstreuten, führe die Irrenden zurück und vereinige sie mit Deiner katholischen und apostolischen Kirche“ 29. Später: „[Gedenke] all derer, die deine große Barmherzigkeit bedürfen“30. Zusammengefasst wird der Abschnitt mit „Denn du bist, Herr, die Hilfe der Hilflosen, die Hoffnung der Hoffnungslosen, der Retter derer, die vom Sturm getrieben werden, der Hafen der Seefahrenden, der Arzt der Kranken. Werde du uns selbst allen alles […].“31

Alle diese Ausschnitte finden sich in einem Abschnitt, den nur die armenische, byzantinische und syrische Redaktion der Basileiosliturgie enthalten. Die Redaktionen, die nach Engberding von einer basileianischen 29

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[…] τὰ νήπια ἔκθρεψον, τὴν νεότητα παιδαγώγησον, τὸ γῆρας περικράτησον· τοὺς ὀλιγοψύχους παραμύθησον, τοὺς ἐσκορπισμένους ἐπισυνάγαγε, τοὺς πεπλανημένους ἐπανάγαγε καὶ σύναψον τῇ ἁγίᾳ σου καθολικῇ καὶ ἀποστολικῇ ἐκκλησίᾳ […]. Frank Edward Brightman, Liturgies Eastern and Western. The texts orginal or translated of the principal liturgies of the church, on the basis of the former work by C.E. Hammond, Vol.1: Eastern, Oxford 1896, 334.11–18; Übers. Fairy v. Lilienfeld, Die göttliche Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus mit den besonderen Gebeten der BasiliusLiturgie im Anhang, Heft A: Griechisch-Deutsch (Oik. 2A), 219. […] μνημόνευσον ὁ Θεὸς καὶ πάντων τῶν δεομένων τῆς μεγάλης σου εὐσπλαγχνίας […]. Brightman (s.o. Anm. 29), 334.29–31; Übers. Lilienfeld (s.o. Anm. 29), 219. […] σὺ γὰρ εἶ Κύριε ἡ βοήθεια τῶν ἀβοηθήτων, ἡ ἐλπὶς τῶν ἀπηλπισμένων, ὁ τῶν χειμαζομένων σωτήρ, ὁ τῶν πλεόντων λιμήν, ὁ τῶν νοσούντων ἰατρός· αὐτὸς τοῖς πᾶσιν τὰ πάντα γενοῦ […]. Brightman (s.o. Anm. 29, 335.17–23; Übers. Lilienfeld (s.o. Anm. 29), 221.

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Redaktion abhängen. Auch andere Anaphoren kennen diese Bitten nicht. Folglich lässt sich hier die Hand des Basileios vermuten. Inhaltlich geht es um die Sorge Gottes für den Menschen als Ernährer, Lehrer, Tröster, Helfer und Arzt. Ähnliches Handeln am Menschen fordert Basileios aber auch vom Menschen selbst, da es von Gott geboten ist. Vorbild für dieses Handeln ist Jesus Christus, dem es nachzuahmen gilt, also Gott selbst. In diesem Sinne funktioniert auch Basileios’ eigenes karitatives Handeln in Form der Basileias, in der Kranke, Arme und Reisende gespeist und geheilt wurden, ihnen Hilfe zu Teil wurde und sie somit getröstet wurden. In Anspielung auf das Handeln des Paulus (1 Kor 9,19–22) wird Gott abschließend gebeten, allen alles zu werden; nämlich das, was der hilfesuchende Mensch in seiner individuellen Situation benötigt. Es geht um umfassende Fürsorge, zu der nach Basileios auch jeder Mensch vom Willen Gottes her beauftragt ist. Ohne das Handeln Gottes, das hier erbeten wird, gäbe es auch kein entsprechendes Handeln des Menschen, der das Handeln Gottes in Christus nachahmen soll. Basileios könnte diesen Abschnitt im Blick auf die Aufgabe der Fürsorge für den Menschen eingefügt haben. Da es sich um ein anabatisches Gebet zu Gott handelt, kann der Mensch nicht direkt angesprochen werden. Es findet sich aber im Anspruch dessen wieder, der hier auf gleiche Weise handelt. Eines möchte ich noch ergänzen: die Verbindung der Fürsorge mit der Bitte um Einheit der Kirche. Beides hängt zusammen. „Ernähre die Säuglinge, erziehe die Jugend, stärke das Alter, tröste die Kleinmütigen, [parallel zu] sammle die Zerstreuten, führe die Irrenden zurück und vereinige sie mit Deiner katholischen und apostolischen Kirche“.32 Im Sinne Koschorkes ist die Fürsorge so wichtig wie die Einheit der Kirche und kann parallel zu ihr genannt werden. In dieser Bitte verbindet sich Ekklesiologie deutlich mit Fürsorge für den Menschen.

32

S.o. Anm. 29.

Lektüre Wohltätigkeit in spätantiken stadtrömischen Märtyrerlegenden HANS REINHARD SEELIGER (Tübingen/Düsseldorf)

Immer wieder werden in den späten Märtyrerlegenden Roms die Aktivitäten der römischen Gemeinde in der Armenfürsorge herausgestellt oder werden Mitglieder der senatorischen Oberschicht als besonders wohltätig dargestellt. Als Beispiele dienen hier zwei Abschnitte aus der Passio Clementis (1–3) und der Passio Syxti, Laurentii et Yppoliti (6–8). Die Textgrundlage bildet die im Entstehen begriffene zweisprachige, kommentierte Ausgabe der Legendae martyrum urbis Romae / Märtyrerlegenden der Stadt Rom, an der der Verf. zusammen mit Wolfgang Wischmeyer arbeitet und die in der Reihe der „Fontes Christiani“ publiziert wird. Die dafür getroffene Auswahl der sämtlich bislang ins Deutsche unübersetzten Texte, die mit dem Martyrium Petri des Pseudo-Linus beginnt und der Passio Gallicani endet, ergibt ein Lesebuch, dem zu entnehmen ist, wie sich die gebildete römische, oft asketisch lebende Oberschicht des 5./6. Jahrhunderts die glorreiche Frühgeschichte der römischen Kirche vorstellte. Die Texte gehören überwiegend dem Genus der „epischen Legenden“ (Hippolyte Delehaye1) an und sind durch ihre zahlreichen Anachronismen leicht als späte literarische Produkte identifizierbar. Die Editionslage ist teilweise schlecht, was einerseits daran liegt, dass die Texte in sehr vielen Handschriften vorliegen – jedes Kloster, Stifts- und Domkapitel verfügte über ein Passionar! – sie andererseits aber als „legendarische“ in jüngerer Zeit kein besonderes Forscherinteresse weckten. Teilweise müssen noch die alten Ausgaben in den Acta Sanctorum der Bollandisten heran gezogen werden, die aber mit den Texten im Supplement 1

Hippolyte Delehaye, Les passions des martyrs et les genres littéraires (SHG 13B), Brüssel 21966, 171–226.

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zu den Acta Sanctorum von Narbey,2 der hauptsächlich Handschriften aus Paris mit gallischer Provenienz berücksichtigt, verglichen werden können, sowie den Texten des aus spanischen Handschriften rekonstruierten Pasionario hispánico.3 1. PASSIO CLEMENTIS Das älteste Martyrium Clementis ist lateinisch (BHL 1848) und griechisch (BHG 350) überliefert, wobei, wie Franchi de᾿Cavalieri gezeigt hat,4 die griechische Version eine Übersetzung des lateinischen Textes darstellt; die Forschungen von Franz Paschke haben dies nochmals bestätigt.5 Den lateinischen Text bezeugen 225 Handschriften.6 Die maßgebliche Edition erstellte Franz Diekamp 1913 für die Neuauflage der Funk᾿schen Patres Apostolici.7 Zusätzlich herangezogen werden kann der Text im Suppl. ActaSS 2, 332–336 sowie im Pasionario hispánico 2, 40–46. Der Text berichtet, dass der zu den nobiles zählende römische Bischof Clemens das Keuschheitsgelübde der Domitilla, einer Nichte des Kaisers Domitian und Braut des illustris Aurelian, sowie der Theodora, der Frau des illustris Sisinnius, entgegengenommen habe. Dieser folgt nun seiner Frau in einen Gottesdienst des Clemens und wird für das unerlaubte Eindringen in die Kirche mit Taubblindheit geschlagen. Auf Bitten seiner Frau wird er von Clemens wieder geheilt, zeigt sich aber auf Grund eines Missverständnisses undankbar und hält das Wunder für Magie. Theodora erscheint der Apostel Petrus, und Sisinnius bereut. Theodora 2

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C. Narbey (Hg.), Supplément aux Acta sanctorum pour des vies de saints de l’époque mérovingienne 1–2, Paris 1899–1900. Ángel Fábrega Grau (Hg.), Pasionario hispánico 1–2 (MHS.L 6), Madrid/Barcelona 1953–1955. Pio Franchi de᾿Cavalieri, La leggenda di S. Clemente papa e martire, in: Ders., Note agiografiche 5 (StT 27), Rom 1915, 3–40. Vgl. dazu Franz Xaver Risch (Hg.), Die Pseudoklementinen 4: Die Klemens-Biographie, Epitome prior, Martyrium Clementis, Miraculum Clementis (GCS N.F. 16), Berlin/ New York 2008, XXI; der Band enthält 135–163 eine neue Edition des griechischen Texts des MClem. Vgl. Franz Paschke, Die beiden griechischen Klementinen-Epitomen und ihre Anhänge. Überlieferungsgeschichtliche Vorarbeiten zu einer Neuausgabe (TU 90), Berlin 1966, 114–119 und Cecile Lanéry, Hagiographie d’Italie (300–550) – I: Les passions latines composées en Italie, in: Guy Philippart (Hg.), Hagiographies V (CC Hag 5), Turnhout 2010, 15–369, hier 90f. Patres Apostolici. Editionem Funkianam novis curis in lucem emisit Franz Diekamp 2, Tübingen 1913, 51–81.

WOHLTÄTIGKEIT IN SPÄTANTIKEN STADTRÖMISCHEN MÄRTYRERLEGENDEN 153

wendet sich erneut an Clemens und dieser bekehrt Sisinnius, der sich mit samt seinem Haus, 423 Personen, taufen lässt. Da dies der Anfang der Bekehrung vieler weitere illustres ist, zettelt der comes sacrorum Tarquatianus einen Aufstand gegen die Christen und ihren Bischof an. Dieser wird vom römischen Stadtpräfekten Mamertinus gerichtlich verhört, ohne dass eine Schuld festgestellt werden kann. Durch ein Reskript Kaiser Trajans vor die Alternative Götteropfer oder Exil in Cherson gestellt, wählt Clemens dieses und findet dort mehr als zweitausend zur Zwangsarbeit verurteile christliche Confessoren vor, die an Wassermangel leiden. Auf wunderbare Weise, wobei Christus als Lamm erscheint, erschließt Clemens eine Quelle. Dies wird zum Anlass der Bekehrung von mehr als fünfhundert Menschen, dem Bau von 75 Kirchen und der Zerstörung aller Tempel und Götzenbilder der Gegend, weshalb Kaiser Trajan den dux Affidianus schickt, der viele Christen tötet und Clemens zum Opfer zwingen will. Da er dies verweigert, wird er ins Meer gestürzt und so getötet. Cornelius und Phoebus, Schüler des Clemens, beten darum, dass ihnen der Verbleib der Reliquien geoffenbart wird, worauf das Meer zurückweicht und die Ruhestätte des Clemens frei gibt, die zum Wallfahrtsort wird. Der Text setzt die Verhältnisse in Cherson auf der Krim voraus, wie sie erst in der Spätantike gegeben waren.8 Passio sancti Clementis 1. Tertius romanae ecclesiae praefuit episcopus Clemens, qui disciplinam apostoli Petri secutus ita morum ornamentis pollebat, ut et Iudaeis et gentilibus et omnibus christianis populis complaceret. Diligebant enim eum gentiles, quoniam non execrando sed rationem reddendo ex eorum libris et caeremoniis ostendebat, ubi nati et unde nati essent hi, quos deos putarent et colerent, et quid egissent et qualiter defecissent, evidentissimis documentis adstruebat ipsosque gentiles posse indulgentiam a deo consequi, si ab eorum cultura recederent, edocebat. 2. Iudaeorum vero hoc ordine gratia utebatur, quod patres eorum amicos dei adsereret et legem eorum sanctam et sacratissimam memoraret primumque 8

Andreas Pülz, Die frühchristlichen Kirchen des taurischen Chersonesos/Krim, in: MiChA 4 (1998) 45–78; Elzbieta Jastrzebowska, Il culto di S. Clemente a Chersoneso alla luce della ricerca archeologica, in: Philippe Luisier (Hg.), Studi su Clemente Romano. Atti degli incontri di Roma, 29 marzo e 22 novembre 2001 (OCA 268), Rom 2003, 127–137.

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locum istos apud deum habituros adstrueret, si legis suae sacramenta servarent in eo, quod promissum Abrahae non negarent in Christo fuisse completum, quod in semine Abrahae deus haereditandas promiserit omnes gentes,9 et quod dixerit ad David: De fructu ventris tui ponam super sedem tuam,10 et quod per Esaiam confirmaverit, quod virgo in utero conciperet et pareret filium et vocaretur nomen eius Emmanuel.11 3. A christianis vero ideo quam maxime diligebatur, quoniam singularum regionum inopes nominatim habebat scriptos et hos, quos baptismatis sanctificatione illuminaverat, non sinebat publicae fieri mendicitati subiectos. Quotidiana itaque praedicatione mediocres ac divites admonebat, ne paterentur baptizatos pauperes a Iudaeis vel gentilibus stipem publicam accipere et vitam baptismatis sacrificatione mundatam donis gentilium inquinari. Bei der Übersetzung wurden insbesondere in (2) das hoc ordine diskutiert (Vorschlag: „diese Argumentationsstrategie“), das legem sanctam et sacratissimam (Vorschlag: „das heilige und majestätische Gesetz“), in (3) die publica mendacitas („Bettelei in der Öffentlichkeit“ oder „öffentliche Armenfürsorge“?) sowie die mediocres (Vorschlag: „die weniger Besitzenden“). Übersetzung: 1. Als dritter Bischof stand der römischen Kirche Clemens vor, der der Regel des Apostels Petrus folgte und so im Schmuck seiner Sitten glänzte, dass er Juden, Heiden und allen christlichen Völkern gefiel. Es liebten ihn die Heiden, weil er nicht durch Verfluchen, sondern durch Argumente aus ihren Büchern und Bräuchen aufzeigte, von wo die herkamen, die sie als Götter einschätzten und verehrten und was sie getan und wie sie gefehlt hätten, zeigte er in äußerst untrüglichen Beweisen auf. Er lehrte, dass selbst die Heiden Verzeihung von Gott erlangen könnten, wenn sie von ihrem Gottesdienst abließen. 2. Seine Freundlichkeit gegenüber den Juden gebrauchte folgende Argumentation, denn er versicherte, dass ihre Väter Gottesfreunde seien, und erinnerte daran, dass ihr Gesetz heilig und majestätisch sei; er versicherte, sie würden an erster Stelle bei Gott wohnen, wenn sie die Sakramente ihres Gesetzes bewahrten, nämlich in dem Punkt, dass sie nicht leugneten, die Verheißung in Abraham sei in Christus erfüllt worden, das 9 10 11

Vgl. Röm 9,4f. Ps 131,11 Vulg: Apg 2,30. Vgl. Jes 7,14.

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heißt, dass Gott versprochen hat, dass alle Völker im Samen Abrahams erben werden, und auch das, was er zu David sagte: Einen Spross deines Leibes will ich auf deinen Thron setzen, und durch Jesaja bestätigte er, dass eine Jungfrau empfangen und einen Sohn gebären soll, dessen Name Emmanuel heißen wird. 3. Von den Christen aber wurde er am meisten geliebt, weil er die Armen der einzelnen Regionen namentlich aufgeschrieben hatte, und die, die er mit der Heiligung der Taufe erleuchtet hatte, nicht dem Zwang zur Bettelei in der Öffentlichkeit überließ. Täglich predigte und ermahnte er die weniger Wohlhabenden und die Reichen, sie sollten nicht zulassen, dass armen Getauften erlaubt werde müsse, von Juden oder Heiden in der Öffentlichkeit Unterstützung anzunehmen und ein Leben, das durch die Weihe der Taufe gereinigt sei, mit den Gaben der Heiden zu beschmutzten. 2. PASSIO SYXTI, LAURENTII ET YPPOLITI Die mit den Namen des römischen Bischofs Sixtus II (Xystus) und seines Diakons Laurentius verbundenen hagiographischen Traditionen sind sehr umfangreich (vgl. BHL 4752–4787f; 7801–7812e; BHG 976– 978b; 217812) und immer wieder umgearbeitet, erweitert und umgeschrieben worden. Von der Passio vetus (BHL 7811) liegt eine neue Ausgabe von Giovanni Nino Verrando vor.13 Für die Datierung ist bedeutsam, dass die älteste Handschrift den bei Ambrosius, De officiis 1, 41,205f zu findenden Dialog zwischen Sixtus und Laurentius nirgends in den Text übernimmt. In einigen jüngeren Handschriften ist er in (3) enthalten, in den meisten anderen Textvarianten jedoch in (5). Einige Handschriften verschmelzen den Text zusätzlich mit den Martyrien von Abdon und Sennes. Nicht alle Codices integrieren im finalen Dialog zwischen Kaiser Valerian und Laurentius (9) eine weitere Passage aus Ambrosius, De officiis 1, 41,207. 12

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Eine Übersicht über die griechischen Versionen bietet Enrica Follieri, S. Ippolito nell’ agiografia e liturgia bizantina, in: Richerche su Ippolito (SEAug 13), Rom 1977, 31–43, hier 35–37. Giovanni Nino Verrando, Passio SS. Xysti Laurentii et Yppoliti. La trasmissione manoscritta delle varie recensioni della cosiddetta Passio vetus, in: RechAug 25 (1991) 181–221.

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Erzählt wird, dass der römische Bischof Sixtus zur Zeit des Decius (249–251) um das Kirchenvermögen vor der Konfiskation durch den Kaiser zu bewahren, dieses seinem (Erz-)Diakon Laurentius übergeben habe, der es liquidierte und das erlöste Geld unter die Armen verteilte. Decius zieht in Rom ein, wobei er zwei christliche Perser, Abdon und Sennes, gefangen mit sich führt. Sie werden im Amphitheater getötet und unbestattet gelassen, nachts aber von Christen am 30. Juli im coemeterium Pontiani beigesetzt. Sixtus wird von Decius verhört und zum Tode verurteilt. Laurentius will ihm beim Gang zur Hinrichtung beistehen, wird aber von Sixtus zurückgewiesen, der dann am clivus Martis an der Via Appia enthauptet wird. Seine Bestattung erfolgt am 6. August im coemeterium Calixti. Decius verhört Laurentius über den Verbleib des Kirchenvermögens. Dieser erreicht einen Aufschub von zwei Tagen, um es vorzuweisen, während derer er unter die Aufsicht des dux Hippolytus gestellt wird. Nachdem Laurentius ihn zum Glauben bekehrt hat, treten beide vor den Caesar zusammen mit Scharen von Armen, die Laurentius als die ewigen Schätze der Kirche bezeichnet. Decius übergibt Laurentius dem Stadtpräfekten Valerianus, der ihn zum Götteropfer zwingen soll. Er foltert ihn auf einem glühenden Rost zu Tode. Hippolytus bestattet ihn am 10. August in einer verborgenen Gruft, wird wegen des Verschwindens der Leiche gefangen genommen, verhört, gefoltert und zu Tode geschleift. Die Christen bergen den Leichnam aus dem Sumpf und bestatten ihn am 13. August neben dem ager praetorianus. Decius und Valerianus sterben plötzlich, als sie sieben Tage später Spiele veranstalten. Passio sanctorum Syxti episcopi, Laurentii archidiaconi et Yppoliti ducis 6. Eodem namque die Decius Caesar adduci in conspectu suo praecepit beatum Laurentium et ait ad eum: Ubi sunt thesauri ecclesiae, quos penes te esse cognovimus? Beatus Laurentius respondit: Biduo mihi dentur indutiae, ut universa ex omni ecclesia deferam. Tunc iussit Caesar, ut sub custodia Yppoliti ducis Laurentius ageret. Traditus est autem Yppolito duci et coepit ex locis omnibus pauperes adunare, qui se Christo credere fatebantur. Quos cum videret Yppolitus, ait ad eum: Ostende mihi thesauros ecclesiae. Sanctus Laurentius dixit ei: Si mihi tuum praebeas adsensum, ita ut crederes Christo, ostenderem tibi inaestimabiles thesauros. Yppolitus dicit: Si dictum facto conpenses, faciam, quae hortaris. Tunc beatus Laurentius coepit super caecorum oculos crucem Christi signare et aperiebantur oculi eorum. Quod cum videret Yppolitus, statim ad pedes eius provolutus orabat, ut christianus effici mereretur.

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7. Cumque fidem Christi percepisset, altera die ingressus ad Caesarem ait: Laurentius prae foribus est cum turbis pauperum et asserit se non posse omnia pandere, nisi cum omnibus fierit intromissus. Tunc iussit eum cum omnibus ingredi, quem ingressum ita conpertatus est: Ubi sunt thesauri ecclesiae quos te hodie sponderas allaturum? Laurentius respondit: Isti sunt ecclesiae thesauri sempiterni. 8. Indignatus vero Caesar tradidit eum Valeriano, praefecto Urbis, dicens: Nisi hodie sacrificaverit diis, diversis eum poenis interfice. Statim igitur intra palatium Tiberianum sedens pro tribunali sic eum interrogavit: Cuius te muniri estimas patrocinio, quod neque deos neque Caesarem vellis habere propitius? Laurentius respondit: Omnis, qui sacrificat idolis, cum eisdem erit in igne perpetuo. Übersetzung: 6. Noch am selben Tage ließ sich Caesar Decius den seligen Laurentius vorführen und sagte zu ihm: Wo sind die Schätze der Kirche, von denen wir wissen, dass sie bei dir sind? Der selige Laurentius antwortete: Es möge mir ein Aufschub von zwei Tagen gegeben werden, damit ich alles aus jeder Kirche herbeibringe. Da befahl der Caesar, er solle das unter der Aufsicht des dux Hippolytus machen. Er wurde also dem dux Hippolytus übergeben und begann, die Armen von allen Orten zu versammeln, die sich als christgläubig bezeichneten. Diese sah Hippolytus und sagte zu ihm: Zeige mir die Schätze der Kirche. Der heilige Laurentius sagte ihm: Wenn du einwilligen würdest, Christus zu glauben, würde ich dir unermessliche Schätze zeigen. Hippolytus sagte: Wenn du das Versprechen in der Tat einlöst, werde ich tun, wozu du rätst. Da begann der selige Laurentius, die Augen von Blinden mit dem Kreuz Christi zu bezeichnen und ihre Augen taten sich auf. Als das Hippolytus sah, fiel er sofort zu seinen Füßen nieder und bat, Christ werden zu dürfen. 7. Als er Christ geworden war, ging er am folgenden Tag zum Caesar und sagte: Laurentius steht mit den Scharen der Armen vor den Toren und behauptet, er könne nicht alles vorzeigen, wenn er nicht mit allen eingelassen werde. Da befahl er, ihn mit allen einzulassen, deren Zutritt er verzögert hatte: Wo sind die Schätze der Kirche, die heute vorbeizubringen du versprochen hast? Laurentius antwortete: Dies sind die ewigen Schätze der Kirche. 8. Voller Ärger übergab der Caesar ihn dem Stadtpräfekten Valerianus und sagte: Wenn dieser heute den Göttern nicht opfert, dann töte ihn

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mit unterschiedlichen Qualen. Sofort befragte er ihn, auf dem Gerichtspodium im palatium Tiberianum sitzend, in dieser Weise: Mit wessen Schutz meinst du dich verteidigen zu können, wenn du weder die Gunst der Götter noch des Caesars suchst? Laurentius antwortete: Jeder, der den Götzenbildern opfert, wird mit ihnen im ewigen Feuer sein.

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