Wissen in Bewegung: Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz [1. Aufl.] 9783839408087

In einer globalisierten Gesellschaft kommt dem Tanz als Medium eines an den Körper gebundenen Wissens wachsende Aufmerks

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German Pages 360 [358] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Tanz als Wissenskultur
Tanz in der Wissensgesellschaft
Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung
Produktion vortäuschen, halluzinieren und ausschöpfen. Der Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen
Was ist ein künstlerisches Labor?
Künstlerische Forschung
Der Modus der Wissensproduktion in der künstlerischen Forschung
Künstlerische Forschung als erweiterte choreographische Praxis am Beispiel von Emio Greco|PC
Apropos Partituren: William Forsythes Vision einer neuen Art von »Tanzliteratur«
Wenn Du das nicht weißt, warum fragst Du dann? Eine Einführung in die Methode der Komposition in Realzeit
Wie möchten Sie heute arbeiten? Anmerkungen zu einem alternativen choreographischen Modus für die Redeproduktion
Körperwissen und -gedächtnis
Welten verfügbar machen
Flimmern und Umschalten
Expeditionen zum inneren Lehrer. Wie die Pioniere des bewegten Lernens den Tanz beflügeln
Menschen teilhaben lassen
Zu Risiken und ›Nebenwirkungen‹ des Tanzens. Tanzmedizin in Ausbildung und Beruf
Tanzgeschichte und Rekonstruktion
Die Erfassung des Wesentlichen. Eine persönliche Sicht auf die Geschichte und Rekonstruktion des Tanzes
Re-Konstruktionen: Denkfiguren und Tanzfiguren: Nijinskys Faune. Erfahrungen im Umgang mit tänzerischer Kompetenz
Was der Körper erinnert. Repertoirepflege bei Pina Bausch
Reconstructing Dore Hoyers Affectos Humanos
Verarbeiten und Aufbereiten. Wege der Interpretation von Tanz
Der Körper als Archiv. Vom schwierigen Verhältnis zwischen Bewegung und Geschichte
Rezeption und Partizipation
Für ein partizipatives Theater: Berühren statt Fummeln
Auf der Schwelle. Ästhetische Erfahrung in Aufführungen
Die Strategie der kollektiven Aufmerksamkeit
Raum schaffen
Kritik versus kritische Praxis? Über die Unmöglichkeit und die Möglichkeiten einer zeitgenössischen Tanzkritik
Aus- und Fortbildung im Tanz
Schule als Performance
Wir bauen an einer gemeinsamen Sprache
Die Erwägung eines komparativen Ansatzes. Ein Modell zur Klassifizierung von Tanztechniken
Aufbrüche: Neue Wege in der Tanzausbildung
Tanzkarrieren im Übergang. Ein Handlungsfeld für den Tanz in Deutschland?
Tanzpädagogik und Kulturarbeit
Die Arbeit an der Erfahrung
Lernen, ohne es zu merken
Kunst ist kein Luxus
Die Schüler müssen die Hauptpersonen sein
Personenverzeichnis
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Wissen in Bewegung: Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz [1. Aufl.]
 9783839408087

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Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung

T a n z S c r i p t e | hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 8

Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.)

Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz

Unter dem Motto ›Wissen in Bewegung‹ fand vom 20. bis 23. April 2006 der Tanzkongress Deutschland im Haus der Kulturen der Welt in Berlin statt. Der Tanzkongress war ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes. Der vorliegende Band umfasst neben einiger beim Tanzkongress gehaltener Vorträge weitere Aufsätze und Interviews zum Thema des Kongresses. Vgl. hierzu auch: http://www.tanzkongress.de Die Publikation wurde gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes

Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronische Medien.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2007 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Redaktion: Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen: Bettina von Arps-Aubert – Dolmetschen und Übersetzen Übersetzung aus dem Portugiesischen: Dr. Ute Hermanns Übersetzung Interview Royston Maldoom: Edith Boxberger Umschlagabbildung: ›Wasserglas‹ aus dem Ausbildungsprojekt BOCAL von Boris Charmatz, 2003/04. Foto: © Alexander Ch. Wulz, http://www.wulz.cc Satz & Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-808-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Hortensia Völckers Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Tanz als Wissenskultur Gabriele Klein Tanz in der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Gabriele Brandstetter Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung . . . . . . . 37 Bojana Cvejic Produktion vortäuschen, halluzinieren und ausschöpfen. Der Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen . . . . . . . 49 Ein Metalog zwischen Peter Stamer Was ist ein künstlerisches Labor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

Künstlerische Forschung Henk Borgdorff Der Modus der Wissensproduktion in der künstlerischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Marijke Hoogenboom Künstlerische Forschung als erweiterte choreographische Praxis am Beispiel von Emio Greco|PC . . . . . . . . . . 81 Rebecca Groves, Scott deLahunta und Norah Zuniga Shaw Apropos Partituren: William Forsythes Vision einer neuen Art von »Tanzliteratur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 João Fiadeiro Wenn Du das nicht weißt, warum fragst Du dann? Eine Einführung in die Methode der Komposition in Realzeit . . . . 103 Jeroen Peeters Wie möchten Sie heute arbeiten? Anmerkungen zu einem alternativen choreographischen Modus für die Redeproduktion . . . . . . . . . . . . . . 113

Körperwissen und -gedächtnis Alva Noë Welten verfügbar machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Meg Stuart im Gespräch mit Scott deLahunta Flimmern und Umschalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Irene Sieben Expeditionen zum inneren Lehrer. Wie die Pioniere des bewegten Lernens den Tanz beflügeln . . . . . . . 143 Dieter Heitkamp im Gespräch mit Gabriele Wittmann Menschen teilhaben lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Eileen M. Wanke Zu Risiken und ›Nebenwirkungen‹ des Tanzens. Tanzmedizin in Ausbildung und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Tanzgeschichte und Rekonstruktion Jason Beechey Die Erfassung des Wesentlichen. Eine persönliche Sicht auf die Geschichte und Rekonstruktion des Tanzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Claudia Jeschke Re-Konstruktionen: Denkfiguren und Tanzfiguren: Nijinskys Faune. Erfahrungen im Umgang mit tänzerischer Kompetenz . . . . . . . . . . . 181 Norbert Servos Was der Körper erinnert. Repertoirepflege bei Pina Bausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Yvonne Hardt über eine Diskussion mit Waltraud Luley, Susanne Linke und Martin Nachbar Reconstructing Dore Hoyers Affectos Humanos . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Julia Cima im Gespräch mit Alexandra Baudelot Verarbeiten und Aufbereiten. Wege der Interpretation von Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Inge Baxmann Der Körper als Archiv. Vom schwierigen Verhältnis zwischen Bewegung und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Rezeption und Partizipation Felix Ruckert Für ein partizipatives Theater: Berühren statt Fummeln . . . . . . . . . . 231 Erika Fischer-Lichte Auf der Schwelle. Ästhetische Erfahrung in Aufführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Rudi Laermans Die Strategie der kollektiven Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Hooman Sharifi im Gespräch mit Björn Dirk Schlüter Raum schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Constanze Klementz Kritik versus kritische Praxis? Über die Unmöglichkeit und die Möglichkeiten einer zeitgenössischen Tanzkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Aus- und Fortbildung im Tanz Boris Charmatz im Gespräch mit Jeroen Peeters über B OCAL Schule als Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Thomas Lehmen im Gespräch mit Pirkko Husemann Wir bauen an einer gemeinsamen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Kurt Koegel Die Erwägung eines komparativen Ansatzes. Ein Modell zur Klassifizierung von Tanztechniken . . . . . . . . . . . . . . . 289 Ingo Diehl Aufbrüche: Neue Wege in der Tanzausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Cornelia Dümcke Tanzkarrieren im Übergang. Ein Handlungsfeld für den Tanz in Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Tanzpädagogik und Kulturarbeit Royston Maldoom im Gespräch mit Edith Boxberger Die Arbeit an der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Linda Müller im Gespräch mit Silvia Stammen Lernen, ohne es zu merken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Livia Patrizi im Gespräch mit Silvia Stammen Kunst ist kein Luxus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Hanna Hegenscheidt und Jo Parkes im Gespräch mit Elisabeth Nehring Die Schüler müssen die Hauptpersonen sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Vorwort Hortensia Völckers

Für uns, die Kulturstiftung des Bundes, die wir den ersten deutschen Tanzkongress seit mehr als 50 Jahren im April 2006 veranstaltet haben, waren die drei legendären Tänzerkongresse der 1920er Jahre in Magdeburg, Essen und 1930 in München Vorbilder. Der Tanzkongress Deutschland war also der Versuch einer Neuaufnahme. Er knüpfte ganz bewusst an die Tänzerkongresse der Weimarer Zeit an, auf denen Hunderte von Tänzern, Choreographen, Tanzpädagogen, Kritiker, Theatermacher, Musiker und viele andere Tanzinteressierte zusammenkamen, um Fragen und Problemstellungen in verschiedenen Programmformaten zu diskutieren. Dabei stießen sie erstaunliche Entwicklungen an. In Magdeburg – um nur ein Beispiel zu nennen – sprach Adolf Loos 1927 über die Rückkehr des Tanzes zum Natürlichen: Die Füße müssten nicht länger kreuzweise gesetzt werden, sondern dürften parallel und ganz natürlich stehen. Oskar Schlemmer wiederum stellte sein Triadisches Ballett vor und betonte die Bedeutung der Abstraktion im Tanz: Das Chaos der Zeit sei groß genug, es sei deshalb vordringlich, sich auf die Gesetze von Raum, Form und Farbe zu besinnen. Und selbstverständlich nutzten auch die Pioniere des modernen Tanzes die Kongresse zur Proklamation ihrer Programme. Mary Wigman hielt eine flammende Rede für den »Tanz in seiner absoluten Gestaltung«.1 Kein Theatertanz mehr, forderte sie, sondern »die Eroberung des gesamten Theaters von der tänzerischen Geste aus«, diesem »grandiosen Spiel und Spiegel des Lebens!« 2 1 | Mary Wigman: »Der neue künstlerische Tanz und das Theater«, in: Hedwig Müller/Patricia Stöckemann (Hg.): … jeder Mensch ist ein Tänzer. Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, Gießen: Anabas 1993, S. 77. 2 | Ebd., S. 82.

10 | Hortensia Völckers

Das heißt, damals ging es – neben dem solidarischen Zusammenschluss aller Tänzer in einer Berufsorganisation – um die Befreiung von einschnürenden Konventionen durch den Tanz, um das Begreifen einer chaotischen Welt durch neue, getanzte Ordnung und um die Autonomieerklärung der Tanzkunst. Allerdings war dann bald Schluss mit den Tänzerkongressen. Schon Anfang der 1930er Jahre gab die NSDAP die Richtung vor: keine tänzerischen Revolutionen mehr, keine Entfesselung von Körperlichkeit und Befreiung von hohl gewordenen Formen, keine Emanzipation des Leibes – stattdessen die staatliche Herrschaft über die Körper in Massenaufmärschen, verordnete Volkstümlichkeit, formale Erstarrung im Bühnentanz – und schließlich die ›Maschinisierung‹ der Körper im totalen Krieg. Tanz trägt also immer die Signatur seiner Epoche – und ihrer Widersprüchlichkeit. Und das gilt selbstverständlich auch für die Fragen, die die jeweilige Gesellschaft an den Tanz stellt. Wissen in Bewegung war das Motto des Tanzkongresses Deutschland und ist auch der Titel dieser daraus hervorgegangenen Publikation. Damit war bzw. ist Tanz als Wissenskultur der thematische Schwerpunkt. Tanz und Wissen – da gibt es viele Fragen: Was wollen wir und was will die Gesellschaft vom Tanz wissen? Was muss man wissen, um zu tanzen? Was wissen wir, wenn wir tanzen? Aber auch, und das scheint mir das Interessanteste: Was weiß der Tanz von uns – das wir nicht wissen, oder nur ahnen, oder vergessen haben? Wie können wir dieses Wissen des Tanzes selbst in Bewegung setzen? Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman – ein profunder Kenner des Tanzes – hat über die Wahrnehmung von Kunst gesagt, dass im Sehen mehr steckt, als ins Auge fällt. Ähnliches gilt für den Tanz. Und nicht zuletzt von daher rührt das Interesse, das ihm neuerdings die Neurophysiologie entgegenbringt. Zum Beispiel der Hirnforscher Wolf Singer: Seine Besuche der Choreographien von William Forsythe haben Singer dazu motiviert, sich auf neuronaler Basis mit der Frage zu beschäftigen, was die physiologischen Bedingungen unserer Wahrnehmung von Tanz sind. Die Antwort ist erstaunlich: Schon das Zuschauen beim Tanz bringt unser Gehirn dazu, jene Bewegungsprogramme zu simulieren, die wir auf der Bühne sehen. Unser Gehirn partizipiert an der motorischen Leistung der Tänzer. Auf diese Weise entsteht ein Zusammenspiel zwischen demjenigen, der sich bewegt, und demjenigen, der die Bewegung betrachtet. »Dynamische Erregungsmuster« nennt Singer diese Resonanzschleifen zwischen Tänzern und Publikum. Tanzen, so lässt sich daraus schließen, steckt also an. Es kostet Anstrengung und es ist fast unmöglich, auf expressive Gesten nicht zu reagieren, nicht wenigstens innerlich zu tanzen, wenn andere sich bewegen. Die Abspaltung des Denkens und Fühlens von den Bewegungen des Körpers muss in einem zwangvollen Lernprozess geübt werden und kann nicht vollständig gelingen, weil unser Denken an unsere Körper gebunden ist.

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Tänzer haben das schon immer gewusst. Nun folgt ihnen die Wissenschaft in dieser Erkenntnis. Die avancierte Neurowissenschaft nimmt Abschied vom Rationalismus des französischen Philosophen René Descartes und dem rigiden Leib-Seele-Dualismus, der unser Denken (und unsere Körper) seit der Auf klärung in den Fortschritt und in die Enge geführt hat. Sie nimmt Abstand von der Vorstellung einer Vernunft, die als hegemoniales Steuerungsinstrument den Körper als Wissensorgan ausschließt. Sie richtet ihr Augenmerk auf den Leib als Erfahrungsspeicher, als Ort, an dem Lust und Schmerz ihre Spuren hinterlassen und Gewohnheiten und die Form des Lebens prägen. Am Ende der wissenschaftlichen Moderne gerät unser Wissen über das Wissen wieder in Bewegung. Die Hirnforschung von heute folgt mit all ihren raffinierten Apparaten und Methoden der historischen Avantgarde des modernen Tanzes. Rudolph von Laban, Mary Wigman und Gret Palucca gingen – ebenso wie Frederick Matthias Alexander oder Moshe Feldenkrais – die ersten praktischen Schritte zu einer Neuentdeckung der Körper als Quelle des Wissens. Sie waren Pioniere, die den Tanz gegen die ideologisch zugerichteten Körperkonzepte ihrer Zeit in Stellung brachten. Sie wollten eine Harmonie von Geist und Körper gewinnen. Sie waren getrieben von einer produktiven Besessenheit, die Tanz, Theorie und den Willen zur Gesellschaftsreform gleichermaßen umfasste. Und auch mit dem Berliner Tanzkongress hatten wir uns zum Ziel gesetzt, die Köpfe durch den Körper aufzuklären, die Herrschaft einer eindimensionalen Rationalität durch die Bewegung unserer Leiber in Frage zu stellen. Aber wie können wir mehr wissen von dem Wissen, das in unsere Körper eingeschrieben ist? Wie überwinden wir den für unser ›Vernunftzeitalter‹ chronischen Analphabetismus im Verständnis unserer Körpersprachen? Wie entdecken und wie nutzen wir den semiotischen Reichtum, mit dessen Hilfe wir kommunizieren, lange bevor und lange nachdem ›Worte gewechselt‹ und Symbole produziert werden? Der Film Rhythm is it! hat in sehr berührender Weise die fulminante Wirkung dokumentiert, die das Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker in Zusammenarbeit mit dem britischen Choreographen Royston Maldoom auf Teenager in so genannten sozialen Randlagen hatte. Woran liegt das? Zum einen ganz einfach daran, dass Royston Maldoom den Tanz nicht erst nach Neukölln exportieren musste: Er war längst da! Auf Musikvideos, im Hip-Hop – überall in der ›Populärkultur‹ ist Tanz seit Jahrzehnten ein zentrales Ausdrucksmittel von Jugendlichen, ganz gleich ob sie einen deutschen, türkischen, nigerianischen oder polnischen Familienhintergrund haben. Aber dann kam etwas Wichtiges dazu: das Insistieren der Choreographen und Tänzer auf Disziplin, Perfektion und Ausdauer, kurz: auf Arbeit, ohne die keine neue, gemeinsame Form entstehen kann. Tanz – auch so kann man diesen Film verstehen – zahlt sich aus in

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der Entwicklung. Das beweisen auch Forschungen, die ergeben haben, dass Jugendliche seltener auf die so genannte ›schiefe Bahn‹ geraten, wenn sie regelmäßig tanzen, und dass tänzerisches Lernen auch die Aneignung von schulischem Wissen befördert. Sollte sich so, d.h. in einer ungewollten Dialektik, ausgelöst durch die im Zuge des PISA-Tests zum Vorschein gekommenen Lerndefizite und Konzentrationsprobleme der Schüler, der alte Traum vom Tanz als Menschen bildendem Schulfach verwirklichen? Schon der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi hatte im 18. Jahrhundert vergeblich versucht, sich mit seinen Reformplänen gegen seine Zeitgenossen durchzusetzen. Eröffnung des TANZKONGRESSES DEUTSCHLAND am 20. April 2006 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin

Foto: Thomas Aurin

Ich begrüße die Bildungs-Allianzen sehr, die zurzeit an vielen Orten in Deutschland entstehen, um den Tanz in die Lehrpläne unserer Schulen einzuschleusen. Trotzdem darf der Tanz nicht zum Libero in bildungspolitischen Reformstrategien werden. Tanz ist mehr als ein Trainingsprogramm für gute ›Kopfnoten‹, mehr als ein Therapeutikum gegen Hyperaktivität. Er ist keine pädagogische Allzweckwaffe zur Disziplinierung schlecht integrierter Jugendlicher. Kinder, die rückwärts laufen können, werden bessere Mathematik-Schüler – das wäre eine schöne Folgeerscheinung von Tanzprogrammen. Aber mir graust vor einer Eingliederung von Bewegungsübungen in die Didaktik der Mathematik. Der Tanz muss als Kunst, die er in erster Linie ist, frei bleiben. Die Resozialisierung von Jugendlichen oder die Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit darf nicht im Vordergrund stehen. Denn im Tanz lernen Körper den Boden unter ihren Füßen und die Wirkung der Schwerkraft kennen. Sie erkennen ihre Freiheit und das eigene Vermögen, die Schwerkraft zu überwinden, zu springen, zu fliegen, zu fließen und sich zu vereinen in der Bewegung mit anderen. Sie lernen eine Form zu finden: für ihre Lust und für ihren

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Schmerz, für ihren Gesellschaftstrieb und ihren Drang, sich in oder gegen die Welt zu stellen. Das Ziel, das die Kulturstiftung des Bundes mit ihrer Förderung des Tanzes im Rahmen der Initiative »Tanzplan Deutschland« 3 verbindet, besteht darin, Räume für solche Erfahrungen zu schaffen. Wir wollen Künstlern und Kulturschaffenden die Möglichkeit zur freien Arbeit geben, in der Hoffnung, dass sie uns allen Material und Wissen liefern, mit dem wir die Welt besser verstehen, um auf die Frage ›Wohin wollen wir uns bewegen?‹ unsere Antworten zu finden. Es gilt, unser Wissen in Bewegung zu halten und dadurch an einer vollständigeren und lustvolleren Auf klärung mitzuwirken. Diese ist nicht nur unser aller Ausweg aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie es Immanuel Kant sagte, sondern auch der Ausgang aus der ›selbstverschuldeten Bewegungslosigkeit‹. Denn wie heißt es in Denis Diderots »Großer Enzyklopädie der Auf klärungszeit«: Tanz und Gesang sind ebenso ursprünglich für die menschliche Gattung, wie die Geste und die Stimme. Seit es Menschen gibt, gibt es zweifellos Gesang und Tanz, Menschen haben von Beginn der Schöpfung bis in unsere Zeiten gesungen und getanzt; und es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Menschen singen und tanzen werden, bis zur totalen Zerstörung des Menschengeschlechts. 4

Literaturverzeichnis Wigman, Mary: »Der neue künstlerische Tanz und das Theater«, in: Hedwig Müller/Patricia Stöckemann (Hg.): … jeder Mensch ist ein Tänzer. Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, Gießen: Anabas 1993, S. 77–82.

Internetquellen www.tanzplan-deutschland.de. www.kulturstiftung-des-bundes.de/media_archive/1146062396597.pdf.

3 | Der »Tanzplan« ist ein fünfjähriges Förderprogramm für den Tanz in Deutschland. Neben dem zum Auftakt veranstalteten Tanzkongress umfasst das Programm den »Tanzplan« vor Ort in acht deutschen Städten sowie die »Tanzplan«-Ausbildungsprojekte. Vgl. hierzu die Website: www.tanzplandeutschland.de vom 11. Mai 2007. 4 | Vgl. www.kulturstiftung-des-bundes.de/media_archive/1146062396597.pdf vom 11. Mai 2007.

Einleitung Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke

Unter dem Motto Wissen in Bewegung fand vom 20. bis 23. April 2006 der Tanzkongress Deutschland im Haus der Kulturen der Welt in Berlin statt. Insgesamt 1700 internationale Teilnehmer aus den unterschiedlichsten Berufs- und Forschungsfeldern beschäftigten sich mit praktischen und theoretischen Fragen rund um den Tanz. Diese unerwartet große Resonanz belegt das gewachsene Interesse am Tanz als eigenständiger Kunstform und Wissenskultur. Außerdem ist sie im Zusammenhang mit dem Auftakt der im selben Jahr gestarteten »Tanzplan«Initiative der Kulturstiftung des Bundes zu erklären. Im Mittelpunkt des Tanzkongresses standen daher insbesondere die kultur- und bildungspolitische Bedeutung des Tanzes sowie die im Auf bruch befindliche Tanzwissenschaft. Mit der Hoffnung, nicht nur die Wissenschaftler untereinander, sondern Praktiker und Theoretiker miteinander ins Gespräch zu bringen, setzten wir als Kuratorinnen von vornherein einen Fokus auf die Frage der Wissensproduktion im und über den Tanz. Infolgedessen beinhaltete der für den Kongress und diese Publikation gewählte Titel Wissen in Bewegung zwei grundlegende Arbeitshypothesen: Die tänzerische Körperbewegung birgt ein spezifisches Wissen. Außerdem erfordert und ermöglicht der Tanz außergewöhnliche Erkenntnisprozesse. Neben einer Auswahl der beim Tanzkongress gehaltenen Vorträge umfasst der auf Deutsch und Englisch veröffentlichte Band weitere Aufsätze und Interviews, die diese Thesen zum Wissen in Bewegung vertiefen. Die Beiträge des Kongresses werden dabei vor allem um die Stimmen der Künstler ergänzt. So bewegt sich das Wissen über den Tanz im Folgenden verstärkt am Verständnis der Tänzer und Choreographen

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entlang. Für sie ist die Rede vom Wissen in Bewegung als verkörpertem Denken selbstverständlich. Deshalb wollten wir klären, wie diese Form der Wissensproduktion in der Praxis verstanden und vollzogen wird: Was macht Körper- und Bewegungswissen aus? Wie und wodurch wird es generiert und weitergegeben? Wie werden praktische Erkenntnisprozesse reflektiert? Gibt es neben der wissenschaftlichen Forschung über den Tanz auch eine künstlerische Forschung im Tanz? Wie ließe sich die insbesondere in Deutschland noch immer rigide Arbeitsteilung von Wissenschaft und Kunst auflösen? All diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt für eine heterogene Sammlung von Stellungnahmen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln, die wir in sieben Themenbereichen zusammengefasst haben. Diese sind locker am Programm des Tanzkongresses orientiert, wobei ökonomische und strukturelle Aspekte der Tanzproduktion durch einen eigenständigen Schwerpunkt zur künstlerischen Forschung ersetzt wurden. Besonderes Charakteristikum des Sammelbandes ist die Kombination von verschiedenen Denk-, Sprech- und Schreibweisen, die wir bewusst neben- und gegeneinander gestellt haben. So liegt das Wissen ›in Bewegung‹ nicht auf der Hand. Vielmehr ist es in den Zwischenräumen, Querverweisen und Fluchtlinien der Beiträge dieses Buches zu suchen. Durch den Wechsel der Textformate und Reflexionsebenen muss auch der Leser bei der Lektüre in Bewegung bleiben. So wird das Lesen zur aktiven Erkundung. Um diese zusätzlich zu beleben, empfehlen wir eine Übung des Choreographen Boris Charmatz: Versuchen Sie, dieses Buch zu lesen, indem Sie es auf den Boden legen und sich darauf stellen, ohne den Boden zu berühren. Wer Sie dabei beobachtet, könnte aus ihrem Leseverhalten erste Schlüsse auf die von Ihnen habitualisierten Bewegungsmuster ziehen: Arbeiten Sie meist am Schreibtisch oder hauptsächlich im Tanzstudio? Die Frage nach solchen in den Körper eingeschriebenen Gewohnheiten findet sich gleich im Auftakt zum ersten Kapitel »Tanz als Wissenskultur«. Gabriele Klein beschäftigt sich mit der Rolle des Tanzes in der Wissensgesellschaft. Flüchtigkeit und Beweglichkeit bilden ein Paradigma der Moderne, in der sich das Subjekt anpassen und immer wieder neu erfinden muss. Insofern leistet der Tanz als Metapher einer mit Vorsicht zu beobachtenden gesellschaftlichen Entwicklung Vorschub. Gleichzeitig stellt er aber auch eine Herausforderung für die Wissenschaft dar. Da Bewegung nicht ohne Weiteres in Sprache zu übersetzen ist, muss eine Sprache für die Darstellung dynamischer Vorgänge gefunden werden. Wie eine solche Schreibweise aussehen kann, veranschaulicht Gabriele Brandstetter: Die Wahrnehmung von Bewegung kann am besten ›geschrieben‹ werden, wenn sich die dazu verwendete Sprache ebenso in Bewegung versetzt. Damit stößt die Wissenschaft in einen Bereich des Unkontrollierbaren und Unvorhersehbaren vor.

Einleitung | 17

Dass solche Wagnisse auch über den Bereich der Rhetorik hinausgehen können, belegen die Beiträge von Bojana Cvejic und Peter Stamer. Beide beschäftigen sich mit dialogischen Formaten der Wissensproduktion, die im Rahmen des Tanzkongresses getestet wurden. Als Teilnehmerin von Hannah Hurtzigs Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen analysiert Cvejic die Installation als einen öffentlichen und zugleich inoffiziellen Benutzerraum, in dem Wissen vor allem mündlich weitergegeben wird. Stamers Rückblick auf sein Laboratorium Sans Papiers dreht sich weniger um den Status der Illegalen als um die Frage nach dem Modus der Wissensproduktion in einer Arbeitsgruppe, die ohne Papier auskommen muss. In einem Selbstgespräch befragt er sich zu den Besonderheiten einer Arbeitssituation, in der es hauptsächlich darum geht, Fragen zu generieren. Mit dem ersten Kapitel sind also sowohl der Begriff der Wissenskultur als auch wissenschaftliche und künstlerische Formate der Wissensproduktion eingeführt. Das zweite Kapitel greift das diffizile Verhältnis von Wissenschaft und Kunst auf, um es auf die Debatte um den Begriff »Künstlerische Forschung« zuzuspitzen. Henk Borgdorff diskutiert zunächst die Frage, ob und inwiefern Forschung in der Kunst mit der wissenschaftlichen Forschung vergleichbar ist. In Auseinandersetzung mit den europäischen Richtlinien für den akademischen Wissenschaftsbetrieb kommt er zu zweierlei Ergebnissen: Entweder Kunst ist keine Forschung oder aber die Definitionen von Forschung müssen hinterfragt werden. Marijke Hoogenboom veranschaulicht dies am Beispiel eines Residenzprogramms für Künstler an der Amsterdamer Kunsthochschule und stellt damit sowohl den wissenschaftspolitischen Kontext als auch konkrete Forschungsprozesse im Tanz in den Vordergrund. Tänzer und Choreographen definieren ihre eigene Praxis vor allem dann als Forschung, wenn es darum geht, Bewegungen und Kompositionsprinzipien zu archivieren und zu vermitteln. Das wird sowohl an dem von Hoogenboom vorgestellten »lebendigen Archiv« des Choreographen Emio Greco als auch an der »interaktiven Partitur« von William Forsythe deutlich. Dessen Projekt mit dem Arbeitstitel Motion Bank wird von dem Autorentrio Scott deLahunta, Rebecca Groves und Norah Zuniga Shaw als Vision einer neuen Form von »Tanzliteratur« vorgestellt. Welche Rolle Denken und Beobachten in der Improvisation spielen, macht der Choreograph João Fiadeiro in seinen Ausführungen zu der von ihm entwickelten Methode der Komposition in Realzeit deutlich. Jeroen Peeters wiederum legt in seinen Notizen zu einem von André Lepecki und Myriam Van Imschoot auf dem Tanzkongress veranstalteten Salon dar, wie sich Improvisationsmethoden auch für die verbale Konversation nutzen lassen. Hatte der Salonteilnehmer Thomas Lehmen mit seiner Aussage, Choreographie sei eine Form der Welterzeugung, noch Verwirrung aus-

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gelöst, wird er vom ersten Beitrag des dritten Kapitels »Körperwissen und -gedächtnis« bestätigt. Aus philosophischer Sicht lassen sich die Tuning Scores der Choreographin Lisa Nelson mit Wittgensteins Sprachspielen vergleichen, da sie es dem Menschen ermöglichen, seine Umwelt mithilfe der Wahrnehmung zu erschließen und zu gestalten. Alva Noës Perspektive wird mit den Überlegungen der Choreographin Meg Stuart erweitert. Für ihre künstlerische Praxis sind gerade nicht die logisch zu erfassenden Wahrnehmungsprozesse interessant, sondern unkontrollierbare Ausnahmezustände des Körpers. Stuart reflektiert nicht nur ihre Methoden der Erzeugung von Bewegungsmaterial, sondern auch Verfahren zur Modulierung körperlicher Zustände. Ein Zustand der gesteigerten sensorischen Aufmerksamkeit bildet auch den Ausgangspunkt von Irene Siebens historischem Abriss zu den »Pionieren des bewegten Lernens« im Tanz. Am Beispiel von Bewegungsforschern wie Frederick Matthias Alexander und Moshe Feldenkrais erörtert Sieben, dass die Entdeckung des Körperwissens keineswegs erst von den Neurowissenschaften, sondern schon Anfang des 20. Jahrhunderts mithilfe der Bewegungsanalyse geleistet wurde. So gehört die Arbeit mit dem kinästhetischen Bewegungssinn mittlerweile auch zum selbstverständlichen Bestandteil zeitgenössischer Tanztechniken. Dieter Heitkamp erläutert dies im Gespräch mit Gabriele Wittmann am Beispiel der Funktion der Haut in der Kontaktimprovisation. Die Folgen der Missachtung des Körpergedächtnisses sowie der Risiken diverser Tanztechniken führt schließlich die Tanzmedizinerin Eileen Wanke aus. Das vierte Kapitel »Tanzgeschichte und Rekonstruktion« wird von einem persönlichen Rückblick Jason Beecheys eröffnet, der nicht nur dessen Erfahrungen mit der Rekonstruktionsarbeit an den Choreographien George Balanchines belegt, sondern auch sein Bewusstsein für unterschiedliche Ballett-Traditionen und die Subjektivität der eigenen Erinnerung. Jede Rekonstruktion geht mit einer Konstruktion auf den unterschiedlichsten Ebenen einher. Diese Tatsache bildet den Ausgangspunkt der Ausführungen Claudia Jeschkes zur Rekonstruktion von Nijinskys L’Après-midi d’un Faune, die sich zwischen Theorien des kulturellen und körperlichen Gedächtnisses einerseits und der praktischen Arbeit mit Tanznotationen andererseits hin und her bewegen. Welche Rolle die Tänzer bei der Weitergabe eines choreographischen Erbes spielen, erörtert Norbert Servos anhand der Repertoirepflege Pina Bauschs. Um ihr choreographisches Erbe lebendig zu halten, kombiniert Bausch jede neue Produktion mit der Wiederaufnahme eines älteren Stücks. Yvonne Hardt diskutiert die Potenziale und Unmöglichkeiten der Rekonstruktion im Rückblick auf ein Podiumsgespräch zu Dore Hoyers Affectos Humanos mit Susanne Linke, Waltraud Luley und Martin

Einleitung | 19

Nachbar. Über den Aspekt der Interpretation und Inkorporation von Tanzgeschichte spricht die Tänzerin Julia Cima am Beispiel ihrer Produktion Visitations in einem Interview mit Alexandra Baudelot. Inge Baxmann beschließt den Themenbereich mit ihren Ausführungen zum Körper als Archiv am Beispiel der »Archives Nationales de la Danse«. Schon in den 1930er Jahren waren bei den in Paris ausgerichteten Konferenzen Präsentationsformate vertreten, die wir heute als Lecture Performances bezeichnen: weder Vortrag, noch Vorstellung. Vielmehr beides zugleich. An hybriden Formaten ganz anderer Art arbeitet der Choreograph Felix Ruckert, mit dessen Beitrag wir das fünfte Kapitel zu »Rezeption und Partizipation« beginnen. Ruckerts Pamphlet für ein Theater der sinnlichen Teilhabe von Akteuren und Zuschauern wird durch Erika Fischer-Lichtes rezeptionsästhetische Ausführungen zum Ausnahmezustand der Schwellenerfahrung ergänzt. Rudi Laermans beschäftigt sich im Gegensatz dazu mit künstlerischen Strategien, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Konstitutionsleistung der Aufführungssituation lenken, ohne die Trennung von Bühne und Zuschauerraum tatsächlich aufzuheben. Der Choreograph Hooman Sharifi wiederum spielt in seinen Produktionen für Kinder und Erwachsene mit den Erwartungshaltungen der Zuschauer, die von deren kulturellem Kontext abhängig sind. Er sieht die Partizipation nicht nur in der szenischen Interaktion gegeben, sondern sucht sie auch in den unterschiedlichsten Motiven sozialer Gemeinschaft. Dass der zeitgenössische Tanz immer auch mehr oder weniger explizit sein kulturelles Feld reflektiert, bestätigen die Ausführungen von Constanze Klementz zum Verständnis von Kunst- und Künstlerkritik. Angesichts von Inszenierungen, mit denen Choreographen eine praxisimmanente Kritik leisten, wird es dem Tanzkritiker unmöglich, seinen exklusiven Anspruch auf die professionelle Distanznahme aufrechtzuerhalten. Aber nicht nur die Grenze zwischen Kritikern und Künstlern löst sich zunehmend auf. Ähnlich verhält es sich auch mit den Paarungen von Künstlern und Pädagogen, Dozenten und Studenten. Deshalb dreht sich das sechste Kapitel »Aus- und Fortbildung im Tanz« nicht nur um innovative Ausbildungsmodelle, sondern auch um Konzepte des Lernens und Lehrens. Am Beispiel seines einjährigen Schulprojektes Bocal formuliert der Choreograph Boris Charmatz seine Vision für eine unkonventionelle Tanzausbildung. Dass das Lernen von Bewegung sowohl auf körperlichen als auch auf verbalen Verständigungsprozessen beruht, belegen die Aussagen seines Künstlerkollegen Thomas Lehmen. Im Zuge seiner Unterrichtspraxis in aller Welt spezialisierte Lehmen sich darauf, eine gemeinsame Kommunikationsebene mit seinen Studenten zu etablieren.

20 | Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke

B OCAL von Boris Charmatz

Foto: Alexander Ch. Wulz

Der Tanzpädagoge Kurt Koegel greift zur Veranschaulichung seiner Methodologie weniger auf linguistische als auf architektonische Konzepte zurück: Um Tänzer und Choreographen in der eigenen Bewegungsforschung anzuleiten, hat er ein Modell für die vergleichende Klassifikation von Tanztechniken entwickelt, das er am Beispiel des »Partnering« in der Kontaktimprovisation erörtert. Mit Koegel, der in Frankfurt a.M. eine Professur für Tanzpädagogik im zeitgenössischen Tanz innehat, ist eine der im Zuge des »Tanzplan vor Ort« neu geschaffenen Positionen besetzt worden. Welche Entwicklungen es seit Beginn des Programms in den deutschen Ausbildungsinstitutionen gegeben hat, fasst Ingo Diehl in seinem Bericht über eine Reihe von Treffen mit Vertretern der deutschen Tanzhochschulen zusammen. Cornelia Dümcke denkt in ihrem Beitrag zu »Tanzkarrieren im Übergang« über die berufsorientierte Tanzausbildung hinaus, indem sie auf den akuten Handlungsbedarf im Bereich der Umschulung von Tänzern hinweist. Den Abschluss bilden vier Interviews zum Thema »Tanzpädagogik und Kulturarbeit«. Auf die von Edith Boxberger an den Choreographen Royston Maldoom gerichtete Frage zu den Methoden seiner Kulturarbeit mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen antwortet Maldoom, dass er keine Methode habe, sondern vielmehr eine Philosophie verfolge. Silvia Stammen wiederum hat Gespräche mit den Wegbereiterinnen der Initiativen »Tanz in Schulen« und »TanzZeit« geführt. Während Linda Müller vom nordrhein-westfälischen »Landesbüro Tanz« vor allem die organisatorischen und strukturellen Aspekte der Kooperation mit den Schulen beleuchtet, nimmt Livia Patrizi im Rückblick auf das erste Unterrichtsjahr in Berlin eine erste Evaluation ihres eher künstlerisch als pädagogisch ausgerichteten Angebots vor. Insbesondere im Umfeld sozialer Brennpunkte haben sich mittler-

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weile eine enge Kooperation von Klassenlehrern und Tanzlehrern sowie der Einsatz von Zweierteams aus Tänzern und Pädagogen bewährt. Über den Einfluss ihrer Unterrichtserfahrungen auf die künstlerische Praxis sprechen schließlich Hanna Hegenscheidt und Jo Parkes im Interview mit Elisabeth Nehring. Beide betrachten die Konfrontation mit Personen und Situationen, denen sie im Kunstkontext üblicherweise nie ausgesetzt wären, als produktive Herausforderung. Oftmals bergen ausgerechnet diejenigen Momente ein kreatives Potenzial, in denen sich die Lehrer gegenüber den Schülern eingestehen müssen, dass sie nicht weiter wissen. So bringen die Schüler also letzten Endes auch die Kunst auf Trab. Wie diese Zusammenfassung der vielfältigen Beiträge aus der wissenschaftlichen und künstlerischen Praxis zeigt, geht es im Bereich des Tanzes also keineswegs darum, Wissen beliebig zu akkumulieren. Wollte man die im und durch den Tanz praktizierte Form der Wissensproduktion auf eine Formel bringen, so lautete diese: Tanz schult die sinnliche Wahrnehmung und schärft das Bewusstsein im Umgang mit anderen. Diese Sensibilisierung wiederum ermöglicht es, Erfahrungen innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Kontextes zu machen. Solche Erfahrungen können schließlich in Wissen umgewandelt werden und sind so für die Alltagspraxis von Nutzen. Wissen wird hier also nicht systematisch um des Wissens über den Tanz willen, sondern anwendungsorientiert erworben. Damit bietet die Tanzkunst einen praktischen und sinnlich-intelligiblen Zugang zum Verständnis derjenigen Erfahrungsprozesse und -zusammenhänge, die Wissen hervorbringen und zugänglich machen. Wer um das Potenzial solcher Möglichkeitsräume weiß und bereit sowie in der Lage ist, sich handelnd und reflektierend darin zu bewegen, kann sie sich ganz selbstverständlich zunutze machen. Insofern hat der Tanz mit seiner Orientierungsfunktion auch jenseits der Kunst seine soziale und politische Relevanz. Um dieses Potenzial fassbar und anwendbar zu machen, braucht es die unterschiedlichsten Verfahren und Annäherungen, von denen wir hiermit eine Auswahl vorlegen möchten.

Tanz als Wissenskultur

S CHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN von Hannah Hurtzig, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006, Foto: Thomas Aurin

Tanz in der Wissensgesellschaft Gabriele Klein

Was muss man wissen, um über Wissen zu sprechen? Und: Wie kann man das Tanzwissen, das als ein spezifisches, weil körperliches Wissen gilt, ›sprechen‹, also diskursiv zugänglich machen? Diese Fragen berühren den Horizont einer Wissenstheorie des Tanzes – oder vielleicht auch: einer Körpertheorie des Wissens, die z.B. mit Themenkomplexen wie Wissen und Erfahrung, Wissen und Bildung, körperliches und nicht reflexives Wissen, Austausch von Wissen, Wissensarchive und Wissenstransfer umrissen ist und Tanz als Wissenskultur konturiert. Es sind große Themen, die auf eine lange, differenzierte und interdisziplinäre wissenschaftliche Diskursgeschichte verweisen. Die sozialwissenschaftliche Perspektive, die ich beitragen möchte, erlaubt, das umfassende Thema »Tanzwissen« einzukreisen, obgleich ich freilich in diesem Rahmen – aufgrund einer sehr ausdifferenzierten wissenssoziologischen Theoriegeschichte – nur einige Gedankensplitter einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Tanzwissens skizzieren kann. Die Besonderheit der sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Tanzwissen liegt darin, dass sie ihren Blick auf das Verhältnis von tänzerischer Praxis und sozialen und kulturellen Kontexten richtet und nach dem Beitrag des Tanzwissens zum gesellschaftlichen Wissen fragt. Es geht also nicht darum zu zeigen, was Tanzwissen ist, sondern um das Wie des Wissens1 : Wie wissen wir, was wir über Tanz wissen? Diese Frage wird in diesem Text aus einer gesellschaftstheoretischen Sicht beleuchtet, indem die sozialen und kulturellen Rahmungen der Pro1 | Vgl. Karin Knorr Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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duktion und Zirkulation von Tanzwissen und die Bedingungen seiner gesellschaftlichen Anerkennung thematisiert werden. Wie Wissen überhaupt kann Tanzwissen nicht als angeboren, als Besitz oder als mentaler oder körperlicher Zustand eines Subjekts gedacht werden. Tanzwissen entsteht in sozialen Praktiken und lässt sich demnach nur in diesem Bezugsfeld thematisieren. Dieses Bezugsfeld lässt sich als Wissenskultur bezeichnen. Tanz als Wissenskultur meint demzufolge die Praktiken der Anerkennung, Verteilung und Handhabe von Tanzwissen.

Der gesellschaftliche Status von Tanzwissen In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts gilt das Wissen als Schlüssel zu Wohlstand, Einfluss und Macht. Dass Wissen und Macht eine enge Liaison eingehen, ist aber keineswegs neu. In allen Gesellschaften und Kulturen haben sich Menschen auf Wissen berufen. Wissen ist grundlegend für das Weltbild, für die Verständigung der Menschen untereinander und schließlich für die Begründung der grundlegenden sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Verhältnisse. Und schon immer galt der Grundsatz, dass der, der über Wissen verfügt, auch Macht hat. Dies muss bekanntlich nicht zwangsläufig derjenige sein, der ›weiß‹. Vielmehr zeigt die Machtgeschichte des Wissens, dass die Verfügungsgewalt entscheidend ist für Wissensproduktion und ihre Verbreitung. Dies wird beispielsweise deutlich in der Macht der Kirche im Mittelalter, dem Machtapparat in diktatorischen Systemen oder auch, wenn auch auf andere Weise, den Medien in globalisierten Mediengesellschaften. Für alle Gesellschaften gilt auch, dass Wissen nicht dasselbe bleibt, sondern in Bewegung ist. Durch den permanenten Wandel von Gesellschaften bildet sich immer auch ein neues Wissen heraus, das altes Wissen verdrängt. Indem es an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnt, ist es mit verantwortlich dafür, dass sich neue Mächte und Machtverteilungen in Staat und Gesellschaft entwickeln und etablieren können. Dieses enge Verhältnis von Wissen und der Organisation einer Gesellschaft lässt sich beispielsweise für die Renaissance nachweisen, 2 in der das moderne Wissen sich im Zuge eines Auf bruchs in die moderne Welt konstituierte; und auch derzeit lässt sich ein Umbruch in der Wissensstruktur in Zusammenhang mit dem Ende der Industrie- und Arbeitsgesellschaft zu einer Medien- und Wissensgesellschaft feststellen. Der Kongress unter dem Motto Wissen in Bewegung formulierte die Aufforderung, Tanz in den Kontext dieser aktuellen Debatte um den Ort des Wissens zu stellen, um ihm auf diese Weise einen Platz 2 | Vgl. Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.): Macht des Wissens: Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln u.a.O.: Böhlau 2004.

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in politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Diskursen der Wissensgesellschaft zu erobern und zu sichern. Letzteres ist dringend nötig, denn die Tanzschaffenden haben es schwer gehabt – und es sich mitunter auch schwer gemacht –, ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung hervorzuheben – mit fatalen kulturpolitischen Konsequenzen einer Marginalisierung des Tanzes als Kunst, aber auch als populärer Bewegungskultur. Der Tanz, so könnte man provokant sagen, hat ein Vermittlungsproblem. Noch mehr als andere künstlerische Disziplinen besteht das Feld des Tanzes aus einer relativ geschlossenen Teilöffentlichkeit. Konnte der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas3 in seiner berühmten Habilitationsschrift über den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« eine Transformation der bürgerlichen Salonkultur in mediale Öffentlichkeiten aufzeigen und diesen Wandel als Beginn der modernen Mediengesellschaft kennzeichnen – einer Gesellschaft, die nach Habermas auf einer grundlegend anderen, abstrakteren und entfremdeten Kommunikationsstruktur beruht – so hat die Tänzerschaft sich zu dieser medialen Öffentlichkeit immer lieber auf Distanz gehalten. Diese Distanz wurde entweder kulturkritisch begründet, indem Tanz immer auch als eine Kritik an den Entfremdungstendenzen der Moderne begriffen wurde. Oder sie wurde aus der prinzipiellen Diskursferne des Tanzwissens hergeleitet. Zwar ist eine Skepsis gegenüber medialen Öffentlichkeiten nicht unberechtigt, eine Folge aber ist, dass Tanz im Wesentlichen eine Art bürgerliche Salonkultur geblieben und die tanzkünstlerische Praxis von Politik, Wissenschaft und Medien nur selten wahrgenommen worden ist – noch weniger als andere Künste. Bis heute spielt daher das angehäufte Wissen der Tanzschaffenden in diesen Diskursen eher eine marginale Rolle. Die mangelnde Präsenz und Repräsentanz des Tanzes in Politik, Wissenschaft und Medien verwundert, galt der Tanz doch immer als eine besondere Kunst- und Bewegungsform. Wie kein anderes Medium war er auch immer der körperliche Ausdruck sozialer Zeiterfahrung: Der Körper, so könnte man sagen, hat gewusst, was er tat, wenn er die berauschende Erfahrung von Geschwindigkeit und Raumüberwindung, die der Bau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert bot, im Walzer auslebte. Oder wenn die Paare sich Anfang der 1920er Jahre in den so genannten wilden Tänzen voneinander lösten und damit den neuen Individualisierungsschub und die neue Freiheit der Frau zelebrierten. Oder wenn uns John Travolta in seinen unvergesslichen Auftritten als Tony Manero in dem Film Saturday Night Fever den neuen Narziss der Inszenierungsgesellschaft der 1970er Jahre, die globale Leitfigur der Nachmoderne, 3 | Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990.

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vortanzte. Oder schließlich, wenn Techno-Raver in den 1990ern die Grenzen ihres Körpers im Tanz überschreiten wollten oder Breakdancer die Fragmentierung und Flexibilisierung des postindustriellen Subjekts körperlich in Szene setzten, indem sie ein bislang unvorstellbares Spiel mit Körperzentren und -achsen spielten. Während sich diese körperlichen Zeitdiagnosen in der populären Tanzkultur unreflektiert zeigen, vollzieht der künstlerische Tanz Zeitdiagnosen auf einer ästhetisch-reflexiven Ebene. Und diese ästhetische Ebene war in der Moderne auch immer eine Ebene der Kritik: der Kritik an tradierten ästhetischen Konzepten und der Kritik an Gesellschaft und Kultur. War z.B. der Ausdruckstanz der 1920er als bürgerliche Kritik an Technisierung, Fragmentierung und Entfremdung in der sich industrialisierenden Gesellschaft formuliert und hatte das Tanztheater der 1970er Jahre seine Kraft auch aus der Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen geschöpft, so verortet sich der zeitgenössische Tanz zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Kontext der Wissensgesellschaft. Entsprechend unterschiedlich sind die ästhetischen Konzepte: Während der Ausdruckstanz noch Rückkehr zur Natur und die organische Erfahrung des Körpers als gesellschaftliche Alternative postulierte, führte das Tanztheater der 1970er Jahre bereits die Durchdringung von Körper und Macht vor. Seit den 1990er Jahren gibt sich der zeitgenössische Tanz, ähnlich wie die Moderne, selbstreflexiv und befragt mit Themen wie z.B. Präsenz und Repräsentation, Identität und kulturelle Differenz, Körper und Sprache nicht nur die Grundbedingungen des eigenen Mediums, sondern auch der modernen Gesellschaft und Kultur. Dieses für das kulturelle Gedächtnis wichtige Wissen aber, was in diesen ästhetischen Produktionen hergestellt wurde und wird, ist nur selten zu einem gesellschaftlich anerkannten, »legitimierten Wissen« geworden, wie der Soziologe Pierre Bourdieu 4 sagen würde, und die Tänzer sind selten zu »legitimierten Sprechern«, d.h. gesellschaftlich anerkannten Künstlern – ähnlich wie Künstler anderer Kunstsparten – aufgestiegen. Woran liegt es? Hat diese Marginalisierung des Tanzwissens, die Diskriminierung des Tänzerberufs und auch die mangelnde Anerkennung von Tanzwissenschaft etwas mit der spezifischen Wissensform Tanz zu tun?

Die Produktion von Tanzwissen Wie der Tanz als körperliches Medium im Kontext einer Theorie der Moderne gemeinhin als das ›Andere‹ der Moderne vorgestellt wird, gilt Tanzwissen als ein ›anderes Wissen‹ – als ein Wissen, das nicht 4 | Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien: Braumüller 1990.

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diskursfähig, weil körperlich gebunden ist. Hinter dieser Formel verbergen sich verschiedene Probleme. Denn wer von Tanzwissen als einem anderen Wissen spricht, setzt ein ›eigentliches‹ Wissen voraus. Diese normative Setzung von Wissen folgt dem Konzept der Moderne, meint doch das ›eigentliche‹ Wissen: das Wissen, gewonnen durch Vernunft, Verstand, Ratio. Tanzwissen kann von daher immer nur die Negation des modernen Wissens sein. Demzufolge ist Tanzwissen als ein spezifisches, unverwechselbares Wissen, weil nicht diskursiv, d.h. sprachlich zugängliches Wissen zu kennzeichnen. Dieses körperliche Wissen wird, kulturkritisch gewendet, mitunter als authentisches, zivilisatorisch verschüttetes Wissen markiert und als solches mythologisch erhöht und zu schützen versucht. Es liegt in der Tradition der Tanzkonzepte der Moderne, Tanzwissen entsprechend als ein körperliches, mehr an Erfahrung als an Erkenntnis gebundenes, flüchtiges und nicht kategoriales Wissen zu kennzeichnen. Die bereits von Mary Wigman vertretene Position, dass Tanz ein reines Medium bleiben müsse und die tänzerische Erfahrung mit der Rede über Tanz nichts zu tun habe, war dafür prototypisch und als Denkfigur in der Geschichte des Tanzes im 20. Jahrhundert äußerst beständig. Aber dieser Topos ignoriert die Ebene der Vermittlung, der Öffentlichkeit: die Wahrnehmung und Erfahrung des Zuschauers ebenso wie die öffentliche Rezeption des Tanzes, die diesem erst einen ›Ort‹ in den zeitgenössischen Kunst- und Kulturdiskursen zuweist. Zudem stellt die Vorstellung eines ›reinen‹ Tanzes den Tanz vor ein großes Problem: das der selbst zugefügten Ahistorizität. Denn wie kann Tanzwissen archiviert werden, wie können tänzerische Erfahrungen Geschichte werden, wenn sie nicht anderen Medien, Texten, Bildern zugeführt werden? Und wie kann Tanz kulturpolitisch und gesellschaftlich nachhaltig bedeutsam werden, ohne diese Transferleistungen, die tänzerische Bewegungen in andere Medien übertragen, um sie als Wissen zu speichern und darüber anderen Kontexten zuzuführen? Die Vorstellung von Tanzwissen als unmittelbar körperliches Praxiswissen hat immer auch zu dem Mythos Tanz beigetragen und einen Beitrag dazu geleistet, dass Tanz entweder als das Andere, verstanden als das Nicht-Gesellschaftliche oder kulturell Irrelevante, gedeutet, marginalisiert oder – gerade aufgrund seiner Emotionalität, Irrationalität oder Körperlichkeit – idealisiert wurde. Mit anderen Worten: dass Tanz immer aus der Gesellschaft hinaus definiert wurde. Zudem sind das Flüchtige und Vergängliche, das Erfahrungsgeleitete und Körperliche nicht Alleinstellungsmerkmale des Tanzes; auch Musik beispielsweise oder jede Alltagssituation ist dadurch gekennzeichnet. Zudem geht es auch im Alltag im Wesentlichen um praktisches Wissen – und dieses ist Körperwissen. Nahezu 90 Prozent der alltäglichen Handlungen vollziehen sich über intuitives Wissen. Es ist jenes Wissen,

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dass manche ›automatisiert‹ nennen, weil es der Körper abrufen kann, ohne dass kognitive Vorgänge dazu nötig sind: z.B. dass wir, ohne nachzudenken, die Kaffeemaschine anstellen, uns die Zähne putzen und, wie der Soziologe Erving Goffman5 so eindrücklich am Beispiel von Körperinteraktionen im Straßenverkehr vorgeführt hat, die ja mitunter zu kleinen rituellen Tänzen ausarten können, über Körperbewegungen und Gesten verständigen, beruht darauf, dass wir Wissen verleiblicht haben. Der Soziologe Pierre Bourdieu6 nennt dieses quasi automatische Wissen »sens pratique«, den ›Sinn für Praxis‹. Er kennzeichnet Alltagssituationen als »strukturierte Improvisationen«, als Choreographien des Sozialen. Dass das Flüchtige und Vergängliche, das Erfahrungsgeleitete und Körperliche gar nicht so tanzspezifisch sind, zeigt sich auch darin, dass sich der Tanz in der Wissensgesellschaft einer bislang ungekannten Aufmerksamkeit erfreut.

Tanz als Metapher der Wissensgesellschaft Die Wissensgesellschaft ist eins der wirkmächtigsten Leitbilder der Gegenwart. Sie gehört zu einer Reihe von zeitdiagnostischen Gesellschaftskonzepten, die weder den Anspruch erheben, das Wesen von Gegenwartsgesellschaften zu bestimmen, noch in der Nachfolge von Marx und der Kritischen Theorie eine philosophisch inspirierte kritische Gesellschaftstheorie vorlegen wollen. Gesellschaftsdiagnostikern geht es eher darum, einzelne gesellschaftliche Aspekte zu fokussieren und für diese ein pointiertes und damit auch immer überzeichnetes Label zu entwerfen.7 Das Konzept der Wissensgesellschaft hebt die enge Verbindung von Modernisierung und Technisierung hervor. 8 Demnach haben Informations- und Kommunikationstechnologien nicht nur eine beschleunigte Wissensproduktion und globale Wissensverbreitung forciert – sie haben auch eine Transformation des Wissens befördert: Wissen in Wissensge5 | Vgl. Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971. 6 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. 7 | Vgl. z.B: Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986; Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus 1992; Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994; Norbert Bolz: Die Sinngesellschaft, Düsseldorf: Econ 1997. 8 | Vgl. u.a. Uwe H. Bittlingmayer/Ullrich Bauer (Hg.): Die ›Wissensgesellschaft‹: Mythos, Ideologie oder Realität?, Wiesbaden: VS-Verlag 2006.

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sellschaften ist – wie der Tanz – schnelllebig und flüchtig. Es entsteht und verschwindet rasch, man denke nur an Internetseiten. Der Soziologe Zygmunt Bauman9 hat das Flüchtige als Schlüsselmetapher der Gegenwart bezeichnet. In der »flüchtigen Moderne« löst sich alles bislang Stabile und Verlässliche auf. Es verfließt, wie Bauman sagt: Flüssigkeiten bewegen sich mit Leichtigkeit. Sie ›fließen‹, werden ›verschüttet‹, sie ›laufen aus‹, sie ›spritzen‹ und ›fließen über‹, sie ›tropfen‹ und ›überfluten‹, sie ›versickern‹ und ›rinnen‹ […]. Die außerordentliche Mobilität von Flüssigkeiten legt die Assoziation der ›Leichtigkeit‹ nahe […]. Bei ›Leichtigkeit‹ und ›Schwerelosigkeit‹ denken wir an Beweglichkeit und Ungebundenheit. 10

Das, was so schön tänzerisch klingt, lässt sich aus soziologischer Perspektive mit Sorge betrachten. Weniger metaphorisch heißt Flüchtigkeit und Verflüssigung: Soziale Sicherheit, staatliche Vorsorge, Sesshaftigkeit, soziales Eingebundensein und gegenseitige Verpflichtungen verschwinden zugunsten von Unverbindlichkeiten, Bindungsverlusten, nomadischen Lebensweisen und sozialer Desintegration. Für die Akteure selbst bedeutet das Flüssigwerden des Sozialen: mehr Flexibilität, Dynamik, Eigeninitiative und Selbstsorge. Lebenslanges und selbstgesteuertes Lernen und das Ende der Normalerwerbsbiographie sind dementsprechend die zentralen Stichworte der Wissensgesellschaft. Die neuen »Technologien des Selbst« (Foucault) in der Wissensgesellschaft sind für Tänzer längst Alltagserfahrung; der neoliberale Topos der Selbstsorge und Selbstverantwortung ist im Feld des Tanzes alltägliche Praxis. Und so hatte die Figur des flexiblen, örtlich ungebundenen und vagabundierenden, auf sich selbst geworfenen Subjekts in dem ›freien Künstler‹ bereits mit dem Auf bruch in die Moderne seinen Prototypen gefunden. Im Unterschied aber zu anderen Kunstsparten dauert das Künstlerdasein bei Tänzern nur selten ein Leben lang. Nicht wenige Tänzer wissen bereits mit Mitte Dreißig, dass ihr künstlerisches Dasein sich dem Ende neigt und sie mehrere Berufe ausführen werden. Und nicht wenige schulen vom Tänzerberuf in das Computerfach um. Von einer Normalerwerbsbiographie, die bedeutet, dass man sein Leben lang einen erlernten Beruf ausübt, ist im Tanz keine Rede. Insofern repräsentiert das Tänzerdasein auch die ernüchternde Kehrseite des »flexiblen Subjekts« 11 und der modernisierungseuphorischen Interpretation des Wandels zur 9 | Vgl. Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 10 | Ebd., S. 8. 11 | Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin Taschenbuch 2007.

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Wissensgesellschaft, die dieser eine Chance für eine neue Sprache, neue wirtschaftliche Strukturen und neue, flexible Handlungskompetenzen der Subjekte zuschreibt.12 Wer also nach dem Stellenwert, dem gesellschaftlichen Ort oder den Produktions- und Verbreitungsbedingungen des Tanzwissens fragt, thematisiert immer auch die Strukturen einer Gesellschaft, ihre Ideologien, Ziele und Leitbilder. Und diese sind in der Wissensgesellschaft auf Bewegung, Transformation und Flüchtigkeit ausgerichtet. Tanz ist hierfür eine geeignete Metapher – mit der Problematik, die diese Metapher politisch in sich birgt.

Tanz als hybride Wissenskultur Aber es wäre verkürzt, die Bedeutung des Tanzes in Wissensgesellschaften nur auf einer metaphorischen Ebene abhandeln zu wollen. Tanz steht nicht nur für Bewegung und Transformation. Tanzwissen kann auch in Bewegung bringen und transformierend sein. Der Philosoph Jean-François Lyotard hat zwei Wissensformen unterschieden: das »narrative Wissen«, das auf Erzählungen beruht und sich implizit selbst legitimiert, und das »diskursive Wissen«, das eine spezifische Wissensform der Moderne ist, vor allem über Wissenschaft hergestellt wird und einer expliziten Legitimation bedarf. 13 Für Tänzer ist Tanzwissen ein auf körperlicher Erfahrung basierendes Wissen, das sich intersubjektiv, d.h. in diesem Fall über körperliche Kommunikation vermittelt. Dieses Wissen könnte man als ein spezifisches narratives Wissen kennzeichnen. Spezifisch insofern, als die Narration über den Körper vermittelt wird und der Körper eben nicht sprechen kann. Der Körper spricht nicht, sondern er zeigt. Dieses Zeigen funktioniert nicht wie die Logik der Sprache über das Entweder-oder. Körper-Zeigen, das hat der Medienwissenschaftler Dieter Mersch immer wieder betont, meint das Nicht-Identische. 14 Und dieses ist im sprachdominierten Wissenschaftsdiskurs bisher ohne Zweifel viel zu wenig ernst genommen worden. Dass der Körper eine Zeigestruktur hat, stellt die sich gerade etablierende Tanzwissenschaft u.a. vor große erkenntnistheoretische Probleme, produziert doch diese, im Unterschied zur Tanzpraxis, ein über Sprache vermitteltes diskursives Wissen. Das diskursive Wissen muss überprüf bar und nachvollziehbar sein. Es ist ein Wissen, das als modernes Wissen einen wesentlichen Beitrag zur Auf klärung, aber 12 | Vgl. Adrienne Goehler: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus 2006. 13 | Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Wien: Passagen 1993. 14 | Vgl. Dieter Mersch: Ereignis und Aura, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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auch immer zur Entzauberung der Welt geleistet hat. Diese Ambivalenz des modernen Wissens, bereits von dem Soziologen Max Weber herausgearbeitet, ist fundamental in der Entwicklung des modernen Wissens eingelagert. Die Ambivalenz von Auf klärung und Entzauberung liegt auch unauflöslich dem diskursiven Tanzwissen zugrunde. Dieses muss das Flüchtige nicht nur konstatieren, es muss es auch sprechen und denken können. »Bewegung denken« 15 , d.h. eine Sprache für dynamische Vorgänge zu finden, ist auch immer eine Herausforderung an Wissen-Schaffende, die letztendlich scheitern muss, muss sich das diskursive Wissen doch immer des Mediums der Sprache bedienen. Tanz-Wissenschaft ist aus dieser Perspektive Wissenschaftskritik insofern, als sie sich gegen ein Wissen wendet, das dynamische Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht. Hiermit befindet sich die Tanzwissenschaft in guter Gesellschaft nämlich z.B. jener soziologischen Theorien, die dieselbe Problematik des Dynamischen und Vergänglichen schon vor vielen Jahren in Hinblick auf soziale Situationen erkannt haben und entsprechende Begriffe und Konzepte (wie z.B. Elias’ Begriff der »Figuration«) oder Methoden zu entwickeln versucht haben. Und nicht zufällig erfährt der Tanz vor allem in jenen Wissenschaftsdiskursen eine besondere Beachtung, wo es, wie in Körper- und Performanztheorien, um das Praktisch-Werden des Kulturellen und Sozialen geht. Tanzforschung in diesem Sinne kann einen wesentlichen Beitrag zur Wiederverzauberung von Wissenschaft leisten. Aber sie kann auch entzaubern, indem sie zu einer Entmythologisierung des Tanzwissens als einem ›anderen‹ Wissen beiträgt. In einer Wissensgesellschaft kann es also nicht (mehr) darum gehen, Wissensformen im Tanz gegeneinander auszuspielen. Diese binären Konstruktionen sind obsolet geworden. Wissenschaft und Kunst haben sich längst aneinander angenähert – aber sie können und sollten auch nicht ineinander aufgehen, sondern in einen Dialog treten. Der Tanz, fordert Hortensia Völckers in ihrem Vorwort so eindringlich, müsse frei bleiben. Die Wissenschaft, so darf ich hinzufügen, auch. Beides sind kreative Felder par excellence, sie bringen das hervor, was die Kuratorin Adrienne Goehler die »kreative Klasse« nennt. 16 Aber: Wissenschaft ist nicht Kunst und umgekehrt. Wissenschaft und Kunst sind verschiedene soziale Felder mit sehr unterschiedlichen Wissenskulturen, die verschiedene Wissensformen produzieren und jeweils sehr unterschiedliche 15 | Vgl. Gabriele Klein: »Bewegung denken. Ein soziologischer Entwurf«; in: Gabriele Klein (Hg.): Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004, S. 131–154. 16 | Vgl. Goehler: Verflüssigungen, a.a.O., S. 78ff.

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Praktiken und Techniken der Wissensgenerierung und -verbreitung haben – und schließlich: in denen Zugang und Verfügungsmacht über Wissen sehr different sind. Kunst und Wissenschaft sind aber aufeinander verwiesen. Sie brauchen einander und können sich auch ohne einander nicht gesellschaftlich legitimieren. Ebenso wie eine Tanzwissenschaft ohne Rekurs auf den Tanz sinnlos wäre, ist Tanz gesellschaftlich bedeutungslos, wenn man sich nicht über ihn verständigt, ihn in einen Sinnzusammenhang stellt und ihm dort eine machtvolle Position als Wissenskultur sichert. Tanz also ist als eine hybride Wissenskultur beschreibbar, in der sich verschiedene Wissensformen im Widerstreit befinden. Wissen entsteht grundsätzlich in kollektiver Arbeit und wächst in und über Kontroversen. 17 Es wird eine große Aufgabe der Zukunft sein, eine »Kultur des Widerstreits« 18 zu entwickeln, um über die metaphorische Bedeutung des Tanzes hinaus dessen gesellschaftliche und kulturpolitische Kraft ausfindig zu machen und wirksam werden zu lassen. Was der Soziologe Niklas Luhmann 1995 über das moderne Wissen schrieb, gilt schlussendlich auch für das Tanzwissen: »Das moderne Wissen muss sich Erklärungen gefallen lassen. Wie kommt es damit zurecht?« 19

17 | Vgl. Wolf-Andreas Liebert/Marc-Denis Weitze (Hg.): Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft. Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion, Bielefeld: transcript 2006. 18 | Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, a.a.O. 19 | Niklas Luhmann: »Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoretischen Konstruktion«, in: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 151–180.

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36 | Gabriele Klein

van Dülmen, Richard/Rauschenbach, Sina (Hg.): Macht des Wissens: die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln u.a.: Böhlau 2004.

Tanz als Wissenskultur Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung Gabriele Brandstetter

Tanz und Wissen: Sind dies nicht einander ausschließende Begriffe? Welche Voraussetzungen – im Sinn von Wissen – verbinden sich mit jenen kulturellen Mustern von Bewegung, die wir ›Tanz‹ nennen? »Warum«, fragt Noa Eshkol, die Begründerin der Eshkol-Wachman-Bewegungs-Notation, […] warum sind wir solche Analphabeten, wenn es um Bewegung geht? […] Warum hat die Kultur keine taugliche Bewegungsschrift, kein Mittel, um Bewegung zu denken, sie zu konzipieren, hervorgebracht, wo wir doch eine Notenschrift für Musik haben? Wir haben doch auch einen Körper, nicht nur eine Stimme?1

Und sie gibt dann – neben der Schrift, die sie entwickelt hat – eine zweite Antwort: »We change all the time. So how can you make a notation about change …?«2 Warum sind wir – in Bezug auf den Tanz und die Überlieferung von Bewegung – Analphabeten? Diese Frage stellte auch Rudolf von Laban, als er sein Konzept einer Kinetographie auf dem ersten deutschen Tänzerkongress in Magdeburg 1927 einer breiten Öffentlichkeit vorstellte. Und auf dem zweiten Tänzerkongress, 1928 in Essen, wurde nach heftigen Diskussionen in der Resolution einer von über tausend Tänzern besuchten Plenarversammlung die Einrichtung einer »Hochschule für Tanz« und die Schaffung einer »wissenschaftlichsoziologischen Forschungsstätte für Bewegung« verabschiedet. Bezüglich 1 | Zit. in Katarina Holländer: »Noten des Tanzes. Vom Versuch, das Tanzen mit Worten und Zeichen festzuhalten. Und ein Besuch in Noa Eshkols Werkstatt der Verschriftlichung«, in: du. Zeitschrift für Kultur 765 (April 2006), S. 68. 2 | Zit. in ebd., S. 69.

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der brennenden Frage einer verbindlichen Tanzschrift wurde folgender Beschluss einstimmig angenommen: Der Tänzerkongress erkennt die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer Tanzschrift allgemein an und betrachtet die von Rudolf von Laban geschaffene Choreographie als eine geistige Leistung ersten Ranges und empfiehlt sie als praktisches Tanznotierungsmittel.3

Hinter diesem einstimmigen Beschluss, der einem ›Sieg‹ der Labanotation gleichkam, standen freilich zahlreiche Kontroversen. Sie bezogen sich auf konkurrierende Notationskonzepte wie z.B. das von G.I. VischerKlamt; mehr aber noch auf eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit jener Gruppe von Tänzern, deren Wortführerin Mary Wigman war, die sich prinzipiell gegen die Verschriftlichung von Tanz wandten und Überlieferung und Produktion von Choreographien an den je präsenten Körper in Bewegung gebunden sahen. Die Gründung einer Zeitschrift, einer Vierteljahresschrift mit dem programmatischen Titel »Schrifttanz« 1928 dokumentiert die Euphorie, die mit dem Aufschwung des Tanzes im Kontext der Körperkultur der 20er Jahre weite Kreise von Künstlern und ›Laien‹ erfasste. »Schrifttanz«, das war ein Konzept der Archivierung und der Produktion von Choreographie, ein Mittel ebenso zur Tanzanalyse, zur ›Tanzerziehung‹ wie für ›Tanzforschung‹. Es sollte ein Medium der Kanonisierung von Tanz und zugleich ein Instrument seiner Institutionalisierung sein: »Das Ziel ist Schrifttanz« 4 – so die programmatische Einleitung; Schrifttanz als ein Mittel, um durch die Vervielfältigung im Notendruck so etwas wie eine breite Distribution und eine Demokratisierung von Tanzwerken zu ermöglichen.5 Doch das Programm einer allgemeinen Einführung dieses umfassenden »Schrifttanz«-Modells für Bildung und Ausbildung blieb Utopie. Die Zeitschrift erschien nur bis Ende 1932. Und die Gleichschaltung der Tanzkultur in der Zeit des Natio3 | Schrifttanz. Eine Vierteljahresschrift, 1. Jg. Oktober 1928, Heft 2, Universaledition Wien, S. 33. 4 | Ewald Moll: »Die neue Tanzschrift«, in: Schrifttanz 1928, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Schrifttanz, S. 16. 5 | Deutlich wird hier, in welcher Weise dem Tanz ›Werkcharakter‹ – im Sinne von Schrifterbe und Kanonisierbarkeit – zugedacht ist; die Problematik dieses seinerzeit umstrittenen Versuchs wird dabei ebenfalls sichtbar: »Nur der Schrifttanz kann helfen, Wertvolles von Wertlosem zu sondern. Eine Tradition und Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen. Denn es gibt keinen alten, der neuen Tanz. Es gibt nur wertvolle Tanzkunst oder wertlose Surrogate. Das Gleiche gilt von den Methoden tänzerischer Körperbildung, vom geselligen Tanz und Volkstanz.« (Ewald Moll: »Die neue Tanzschrift«, a.a.O., S. 16)

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nalsozialismus, »Tanz unterm Hakenkreuz« 6, setzte eine Zäsur, die nach 1945 sichtbar und spürbar blieb und auf die eine andere Entwicklung des Tanzes in Deutschland7 folgte, die zum einen wieder auf das Ballett zurückgriff und aus der zum anderen neue Formen des modernen Tanzes und das Tanztheater hervorgingen. Es wäre eine ausführliche Studie wert, wollte man die Bestrebungen der Tänzerkongresse der Weimarer Republik mit der Situation vergleichen, die heute eine vielfältige Tanzszene in Bewegung versetzt und – mit Filmen wie Rhythm is it! (2004) – eine breite öffentliche Debatte über das Wissen des Tanzes und seine Bedeutung für die Bildung auslöst. Die kulturelle Situation ist eine unvergleichbar andere; und dennoch lassen sich Ähnlichkeiten feststellen – in Fragen der Institutionalisierung und auch in Fragen der Ausbildung. Der Befund eines ›Analphabetentums‹ im Feld von Tanz und Bewegung würde heute kaum mehr zur Etablierung eines universalen TanzSchrift-Systems und zu einem Distributionsmonopol führen. Tatsächlich hat sich seither eine Praxis der Choreologie etabliert – auch wenn dies ein schmales Expertenwissen ist und nicht ein Schriftsystem, das wie etwa die Musiknotenschrift zu unserem Bildungskanon gehört. Vor allem aber gibt es andere Medien der Aufzeichnung. Auch wenn sich im Feld von Choreographie und ebenso in der Wissenschaft niemand Illusionen macht über die Brauchbarkeit von Videos als Archiv-Träger des Tanzes: Die große Bedeutung der Medien, der Digitalisierung von Bewegung ist heute aus der Praxis des Tanzes nicht mehr wegzudenken. Das bedeutet unter anderem, dass die Fragen nach dem Gedächtnis von Tanzbewegung heute anders betrachtet werden. Die Möglichkeiten des Aufzeichnens und auch der digitalen Generierung von Bewegung und Raumszenarien bringen vielfältige Wirkungen für zeitgenössische Performer und Wissenschaftler mit sich, wie dies beispielsweise die Rezeption des »analytical tool« von William Forsythes Modell der Improvisation Technologies 8 zeigt. Umgekehrt ist es besonders der Tanz in seiner vergänglichen Raum-Zeit-Gestalt, der uns darauf aufmerksam macht, dass das traditionelle Bild vom Gedächtnis der Kultur statisch, architektonisch, quantitativ und enzyklopädisch angelegt ist; das Performative, die Bewegung einer jeden Gedächtnis-Praxis, wird dabei häufig gekappt. 6 | Vgl. Lilian Karina/Marion Kant (Hg.): Tanz unterm Hakenkreuz. Eine Dokumentation, Berlin: Henschel 1996, und Hedwig Müller/Patricia Stöckemann (Hg.): … jeder Mensch ist ein Tänzer. Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, Gießen: Anabas 1993. 7 | Vgl. Hedwig Müller/Rolf Stabel/Patricia Stöckemann (Hg.): Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945, Frankfurt a.M.: Anabas 2003. 8 | William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, Ostfildern: Hatje Cantz 1999.

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Tanz hingegen, gerade sein Fehlen in den Archiven der Kunst und Kultur, macht sichtbar, dass auch das vermeintlich statische, enzyklopädisch in Ordnungen des Wissens standardisierte Gedächtnis der Kultur dynamisch ist: kontingent und in unüberschaubarer Bewegung. CITY OF A BSTR ACTS von William Forsythe, Alaunstraße, Dresden-Neustadt 2006

Foto: Julian Richter

Tanz als Wissenskultur: Welches Wissen liegt in der Bewegung des Tanzes? Was wissen wir über und durch (diese) Bewegung? Und umgekehrt: Wie wirkt Bewegung und was bewirkt sie in unserem Wissen und in der Wissenschaft vom Menschen? Die erste Fragerichtung ist spannend und weit verzweigt – Tänzer und Choreographen ebenso wie Phänomenologen und Hirnforscher fragen: Worin besteht das spezifische Wissen des Tanzes? Es ist ein anderes Wissen als jenes, das wir üblicherweise als rationales, technisches oder diskursives Wissen akzeptieren. Der Schauplatz dieses anderen Wissens ist der sich bewegende Körper. Das Wissen, das sich in Tänzen und Choreographien zeigt und überträgt, ist dynamisch: ein körperlich-sinnliches und implizites Wissen. Es vermittelt sich kinetisch und kinästhetisch. Ist das überhaupt ein Wissen? Diese Zweifel erheben sich immer wieder; und obgleich wir in einer Gesellschaft leben, in der parallel höchst unterschiedliche und widersprüchliche Formen von Wissen existieren, ist die Frage der Akzeptanz eines solchen scheinbar subjektiven und

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emotional besetzten Wissensmodells brisant. Woher kommt die Abwehr einer solchen korporalen und performativen Idee vom Wissen, so dass wir an unseren alten Oppositionen von Theorie und Praxis, von Rationalität und Emotionalität, von Geist und Körper festhalten? Dabei ist das Wissen des Körpers und des Tänzers als Bewegungsforscher schon längst und vielfach thematisiert – Formulierungen wie »The Thinking Body«9 von Mabel E. Todd oder »Tanzdenker«10 weisen darauf hin. Ist es eine mangelnde Leidenschaft, dieses ›dynamische‹ und vorübergehende, an den Körper gebundene Wissen genauer zu ›wissen‹? Oder die Angst vor der Entzauberung? Hier öffnet sich die zweite Fragerichtung des Themas – und sie ist mindestens ebenso brisant: Denn wenn Tanz als ›Wissenskultur‹, d.h. als Schauplatz eines anderen, eines sinnlich-dynamischen Wissens auftritt und akzeptiert wird, so kann dies nicht ohne Einfluss auf unser generelles Verständnis von Wissen und Wissenschaft bleiben. Tanz würde dann die Grenzen dessen, was wir für Wissen und Wissenschaft halten, verschieben und damit unser Verständnis von Wissen selbst in Bewegung setzen; beispielsweise wenn wir – ausgehend vom Tanz, der nicht wie unbewegliche Objekte als Untersuchungsgegenstand fixierbar ist – feststellen, dass die Objekt-Unschärfe und eine temporale Struktur auch die vermeintlich sicheren Artefakte, Monumente oder Experimentanordnungen des Wissens betreffen; dass eine dynamische und kontingente Beziehung zwischen Forscher und Untersuchungsgegenstand auch in anderen Bereichen der Wissenschaft sich herstellt und im Forschungsprozess sich wandelt: auch in Disziplinen, die mit scheinbar fixierten Objekten und verlässlichen Ergebnissen operieren. Die Idee der Wahrheit, der Überprüf barkeit von Versuchsanordnungen wird einer Probe ausgesetzt, wenn durch eine vom Tanz inspirierte, dynamische Reflexion die Rahmenbedingungen von wissenschaftlicher Erkenntnis berührt und gar verletzt werden: z.B. durch das Eingeständnis, dass auch die Körperbewegung, die Sinnlichkeit, die Emotion des Forschers den Prozess beeinflussen.11 Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn hat die »Struk9 | Mabel E. Todd: The Thinking Body. A Study of the Balancing Forces of Dynamic Man, New York: Dance Horizons 1937. 10 | Forsythe: Improvisation Technologies, a.a.O., S. 16. 11 | Vgl. Gabriele Brandstetter: »Zu einer Poetologie des Medienwechsels. Aufführung und Aufzeichnung – Kunst der Wissenschaft?«, in: Gabriele Brandstetter: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 199–210, sowie dies.: »Inventur: Tanz. Performance und die Listen der Wissenschaft«, in: Sibylle Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.): Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript 2006, S. 295–300.

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tur wissenschaftlicher Revolutionen«12 mit dem Begriff des »Paradigmawandels« beschrieben. Demnach gibt es nicht (wie man seit der Auf klärung annahm) eine lineare Entwicklung eines Fortschritts des Wissens. Das Neue, eine Entdeckung z.B., befindet sich vielmehr im Feld der herrschenden Wissenschaftsnormen wie ein Fremdkörper. Erst durch eine Krise des geltenden Paradigmas und in einem langen sozialen Prozess der Akzeptanz (d.h. aber der Diskussion etwa in Fachzeitschriften oder Kongressen als Wissenspolitik) kann sich ein neues Paradigma des Wissens durchsetzen. Dabei geht es – so viel ist heute klar – nicht um die Alleinherrschaft eines einzigen Wissensmodells. Sondern das vorherrschende Paradigma befindet sich in Konkurrenz und in einer Verflechtung unterschiedlicher Ansätze. In modernen Kulturen existieren – nicht zuletzt unter dem Einfluss der so genannten Globalisierung – unterschiedliche und auf unterschiedlichen Bildern vom Menschen basierende Wissens- und Wissenschaftsmodelle nebeneinander: etwa die hoch technisierte westliche Medizin gleichzeitig mit der älteren Wissenstradition der Naturheilkunde und der auch im Westen präsenten traditionellen chinesischen Medizin. Kann man ein Muster wie jenes des Paradigmawandels aus der Wissensgeschichte und Wissenstheorie auf Tanz übertragen – genauer: auf Tanz als Kunstform des in Raum-Zeit bewegten Körpers? Dies ist eine heikle Frage, denn sie zielt exakt auf die vorhin erwähnten Grenzverschiebungen zwischen dem, was wir als Wissen und Wissenschaft taxieren, und dem, was wir ›außerhalb‹ davon, in einem anderen System subsumieren. Als ein solches Feld wird traditionell die Kunst betrachtet. Kunst und Ästhetik haben – so eine alte und gängige Auffassung – im Feld des Wissens und der Wissenschaft nichts zu suchen. Und vice versa. Wie kann in diesem Feld von Kunst und Anthropologie Tanz als eigenständige Form des Wissens auftreten? Oft ist es nicht die Aufführung, sondern der Entstehungsprozess eines Tanzstücks, der eine Experimentiersituation öffnet – etwa in den Frageritualen und Improvisationsaufgaben im Tanztheater nach Pina Bausch, oder in den Filmsessions und Psychiatrierecherchen bei Meg Stuart. Das Spezifische eines solchen körperlichen Wissens des Tanzes zeigt sich in seiner Kontextualisierung: nicht nur innerhalb der Tanzgeschichte, sondern ebenso in der Beobachtung im weiteren Kontext der Kulturgeschichte. So stellt sich in und durch Tanz ein anschauliches Wissen darüber her, welches neue Zeitverständnis etwa durch die Bewegungs-Synkope in bekannte Zeitverläufe eindringt, oder wie viel Freiheit in der Labilisierung von Körperachsen steckt und welches Variationspotenzial aus der Verwandlung von symmetrischen in asymmetrische Bewegungs- und Interaktionsprozesse entstehen kann. In einem sehr 12 | Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976.

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weiten historischen und kulturellen Terrain zeigt sich, wie ästhetische, ethnische und sexuelle Differenz im Tanz artikuliert werden kann. Wissenschaft und Kunst überzeugen je auf eigene Weise durch Evidenz13 ; auch wenn die Szenarien und die Effekte dieser Evidenz verschieden sind: kognitiv – aber doch nicht nur kognitiv – im Fall der Wissenschaft; sinnlich – aber doch auch kognitiv – im Fall der Kunst. Hypothesen, Experimente, Argumentationsstrategien und Diskurse formieren das Szenario der (Wissens-)Evidenz in der Wissenschaft. In der Kunst hingegen ist es die Evidenz des ästhetischen (Er-)Scheinens14 – und diese ist (oder: macht) sprachlos. Gewiss gibt es auch hier Begleitdiskurse aller Art. Von der Programmschrift und den Selbstkommentaren der Künstler bis zu Rezensionen und Katalogen werden Informationen, Meinungen, Interpretationen aus unterschiedlichen Wissensgebieten um die Performance des Tanzes gelagert. Die Frage, was man wissen (oder nicht wissen) muss, um Tanz zu verstehen, ist – wie auch bei anderen Kunstformen – eigentlich schon deshalb obsolet, weil Kunst und gerade auch Tanz ohne diesen Text-Rand praktisch nicht existiert: ob es sich dabei um die Kommentarbedürftigkeit der modernen Kunst (wie Arnold Gehlen formulierte) handelt oder eher um Kommentarlust?! Es sind zuletzt die Künstler – wie kürzlich etwa Tino Sehgal15 –, die durch konsequente Verweigerung dieser Vorschriften und Umschriften der Performance die Frage nach der Evidenz von Kunst als Performance, als ›Tanz‹ erneut thematisieren. Ästhetische Erfahrung – die Evidenz von Kunst – findet jenseits von Informationswissen über Kunst statt – wenn auch vielleicht nicht ganz unabhängig davon, da die Komplexität der Erfahrung ja in einem individuellen Gemisch von Erinnerung, Wissen, Wahrnehmung, Erwartung und Begehren besteht. Die ästhetische Erfahrung aber ist in erster Linie sinnlich und emotional – und aktiviert damit ein anderes Wissen als beispielsweise die Lösung einer mathematischen Aufgabe. Tanz vermag in besonderer Weise jenen Moment der Bezauberung, der Begeisterung oder des Schocks, der in gewisser Weise ›stumm‹ macht, 13 | Vgl. Peters/Schäfer (Hg.): Intellektuelle Anschauung, a.a.O. 14 | Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München/Wien: Hanser 2000. 15 | Vgl. z.B. seinen Beitrag im Deutschen Pavillon der 51. Biennale in Venedig 2005. Der Katalog-Kommentar von Julian Heynen lautet: »Tino Sehgal (born in 1976) has developed a specific form of art that takes shape only at the moment of one’s encounter with it. His works are performed by interpreters (such as museum attendants) and consist of movements, spoken words, song or communication with the visitor. Sehgal replaces the production of objects with works related to the body, space and time […]. [T]hey consist only as a situation, conversation, in transformation, in memory and in the past.« (La biennale di Venezia: Participating countries – collateral events, Bd. 3, Deutschland, Venedig: Marsilio 2005, S. 46)

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zu evozieren; wobei eben diese Erfahrung der Sprachlosigkeit wiederum häufig das Vorurteil, hier könne es nicht um Wissen gehen, stützt. Es geht jedoch um ein anderes Wissen: sensuell, erotisch und instabil – und selbstverständlich auch kognitiv; ein Wissen, das Grenzen des Wissens und Zonen des Nicht-Wissens (auch und gerade des ›Sich-selbst-nichtWissens‹) auslotet. Eine dieser Grenzen ist bezeichnet durch das Fehlen der Sprache für dieses Erfahrungswissen. Reden über Bewegung: Eine Sprache für die Erfahrung und die Wahrnehmung finden – dies ist eine Herausforderung, die nie gelingen kann. Dennoch lohnt es sich, sie anzunehmen, denn es ist die einzige Möglichkeit, die unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensformen zum Ausdruck zu bringen und sie in ein Verhältnis zu setzen, das die Spannungen, Widersprüche, die Lücken und die Grenzen sichtbar werden lässt. An dieser Stelle, in der Schwellenzone zwischen Aufführung und Zuschauen, beginnt ein Dialog. Es ist ein Erfahrungsraum, in dem nicht etwa nur die Vorgänge auf der Tanzbühne (und ich meine damit alle Räume und Prozesse einer Aufführung) wahrnehmbar werden. Nein, die Gabe ist nicht einseitig, sondern es ist ein reziprokes Geschehen. Das Inter-esse des Betrachters, seine Aufmerksamkeit, investiert in den Prozess. Insofern ist der Erfahrungsraum des ›Wissens‹ ein doppelter oder sogar ein vielfacher: ein Raum, in dem sich die tänzerische Szenographie mit dem Aufmerksamkeitshorizont des Zuschauers/Zuhörers überlagert. ›Irgendwie‹ ist das alles selbstverständlich – und dennoch ist genau diese Situation, als eine produktive, ja kreative, ein Gegenstand intensiver Forschung in jüngster Zeit. Die neurophysiologische Forschung interessiert sich für die Zusammenhänge von Bewegung und der neuronalen Aktivität im Gehirn, für die Vorgänge bei der Fokussierung von Aufmerksamkeit, für die Verknüpfung von affektiven und kognitiven Prozessen. Die Philosophie, insbesondere die Phänomenologie, und – aus anderer Perspektive – die Theater- und Tanzwissenschaft interessieren sich für die theoretischen und ästhetischen Probleme dieser Begegnungs- und Erfahrungs-Situationen. Und auch die Choreographen und Performer verlegen das Feld ihres Interesses in die Erforschung dieser Aufmerksamkeitszone zwischen Aufführung und Beobachtung: etwa die Arbeiten von Felix Ruckert oder die Gruppe She She Pop, die in jeder Aufführung ihres Stücks Warum tanzt ihr nicht? je neu und anders in Dialog und Interaktion mit dem Publikum tritt und einen Raum öffnet für grundlegende Fragen des Tanzens, für die Wünsche ›in Bewegung‹ und auch für die Hemmungen gegenüber dem Tanzen, für die Fragen nach dem ›richtigen Schritt‹ und ebenso für die Entscheidungen über das ›Dazu-Gehören‹ oder das ›Nicht-Mitmachen‹ und die Folgen. Die oft gestellte Frage ›Was muss, was soll man wissen, um Tanz zu verstehen?‹ tritt hier in den Hintergrund. Sie ließe sich für den Tanz ebenso wie für andere Kunstformen und andere Felder codierter Bewe-

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gung in unserer Kultur – wie z.B. Sport – ausführlich auseinanderfalten: Eine dieser Fragen wäre, ob man dann ›besser versteht‹ und besser wahrnimmt, wenn man (wie z.B. im japanischen Nô-Spiel oder in Klassikern der Balletttradition oder der Körpertechnik des Modern Dance) etwas vom ›System‹ der Bewegungsszenographie weiß – etwa von den Regeln der Produktion, von der Poetik der Choreographie, vergleichbar dem Wissen über die Versmaße eines Gedichts oder die Formgesetze einer musikalischen Komposition. Selbstverständlich gibt es im Tanz, ebenso wie in anderen Kunstformen, eine Geschichte und unterschiedliche Theorien der Darstellung, ihrer Verwandlungen und ihrer Brüche. Dass diese Wissensseite in unserer Bildung weniger Raum besitzt als in anderen Künsten und Wissensbereichen, ist oft bemerkt worden. Und es ist momentan das Thema zahlreicher Debatten über Ausbildung in Schulen und Hochschulen. Gibt es hier eine Marginalisierung des Wissens vom Tanz? Ja. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen aber teilweise auch im Tanz selbst begründet. Denn: So wichtig es ist, dass Tanz eine breite Basis in den Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen erhält, und zwar nicht nur als Anhängsel des Sport- oder Gymnastikunterrichts, sondern als ›Lehre von den tänzerischen und choreographischen Kunstformen der Bewegung‹ – mehr noch geht es darum, dass das Potenzial von Tanz als Herausforderung für unsere etablierten Begriffe von Wissen und Wissenschaft sichtbar wird. Die Forschungen des Tanzes, seine Szenographien des Wissens erschöpfen sich ja nicht einfach im Finden von Bewegungsformen oder in mediengestützten Experimenten mit der Sichtbarkeit des Körpers. CITY OF A BSTR ACTS von William Forsythe, Pinakothek der Moderne, München 2006

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Verwandlungen im Tanz – in den Bewegungsmustern oder in den Strukturen der choreographischen Komposition – inkorporieren implizit einen Paradigmawandel des Wissens. Wie wäre, unter diesen Vorzeichen eines anderen körperlichen Wissens, etwa die Kontaktimprovisation als Bewegungsinteraktion zu verstehen? Als offenes System beständig sich verschiebender Kräfteverhältnisse? Mit dem Wandel der Körper- und Kompositionsstrukturen verändert sich die Position des Betrachters – und damit auch jene des Kenners. Das Wissensparallelogramm verschiebt sich. Die wiederkehrende Frage, ›wie man denn Tanz verstehen könne‹, rückt dabei mitten ins Geschehen; und sie löst sich von den Regeln hermeneutischer Kunstauslegung. An die Stelle von ›Wissen‹ treten unterschiedliche Formen des Erfahrens, insbesondere dann, wenn nicht mehr die Erfüllung einer bestimmten Bewegungsvorschrift oder eines Codes das Ziel einer Tanzaufführung ist. Wenn das System traditioneller Tanzformen oder -stile – z.B. des Balletts, des Modern Dance oder von Gesellschaftstänzen – geöffnet oder verlassen wird: Worin besteht dann das Movens der Darstellung, worin das darin transportierte Wissen? Und wie kann der Betrachter die Prozesse als Forschungen in und durch Bewegung wahrnehmen? Der Philosoph Bernhard Waldenfels definiert das Verhältnis von Wissen und ästhetischer Wahrnehmung – im Rückgriff auf phänomenologische Theorien – als Differenz von »wiedererkennendem« und »sehendem« Sehen.16 Das wiedererkennende Sehen richtet sich im Gesehenen ein. Es überträgt die Kreuzungsfelder des Wissens, des (Tanz-)Diskurses, etwa der Tänzerbiographien, der Geschichte von Tanz, in das Ereignis einer Aufführung – und liest, was schon als Wissen, als Information oder als Kontext abruf bar ist. Das sehende Sehen hingegen reagiert auf die sinnlichen, die körperlichen Erfahrungen im Prozess des Sehens. Es ist ein Sehen, das neue Sichtweisen erprobt, das »den Rahmen sprengt«17 und inkompatible Strukturierungen bezeichnet. Dies wäre die Verfassung einer Aufmerksamkeit, die offen ist für die je präsente Tanzaufführung als kinästhetische Erfahrung, als Szenographie eines anderen Wissens. Es ist ein sehr freier Dialograum der Wahrnehmung, der sich auf diese Weise öffnet: unhierarchisch, anders als in jenen Tanzaufführungen, die den ›Experten-Zuschauer‹ fordern (wobei wir wissen, dass diese Kompetenz nichts über das sehende bzw. kinästhetische Wahrnehmen aussagt). So erhält der Betrachter – mit der Autonomie der Tänzer und durch die Offenheit von Verlaufsstrukturen des Tanzes – ebenfalls seine Autonomie: die Freiheit, das ›als Tanz‹ Gesehene, das Wahrgenommene auf seine Weise mit Bildern und Erfahrungen des eigenen Wissens auszu16 | Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. 17 | Ebd., S. 139.

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statten. William Forsythe äußerte sich kürzlich in einem Interview über die Berechtigung, ja die produktive Bedeutung solcher Inkongruenz der Wissensfelder, und über die Freiheit des Betrachters: Ich erinnere mich, wie einmal ein Mann nach einer Aufführung zu mir kam. Es hatte ihm sehr gefallen, und er wollte mir seine Interpretation mitteilen. Er schaute mich wissend an und sagte: »Möwen!« Selbstverständlich habe ich genickt.18

Tanz öffnet Assoziationsräume. Und in dieser Szenographie zeigt sich beides: die Begrenztheit und die Fehlbarkeit des Wissens, und die Grenzenlosigkeit unseres Nicht-Wissens. Tanz und Choreographie als Körperbewegung in Raum und Zeit konfigurieren ein situatives Wissen: die kinästhetische Orientierung des Körpers, seine Balance, seine Lage, seine Dynamik. Dies Orientierungswissen des Tanzes ist freilich ebenso wenig wie wissenschaftliche Forschungen zum Tanz anwendungsorientiert oder direkt übersetzbar. Gerade darin aber ist es politisch. Denn die Implikationen des tänzerischen Wissens vermögen als Unterbrechungen und Störungen der als selbstverständlich vorausgesetzten Felder des Wissens zu wirken. Tanz und Choreographie erkunden in und durch den bewegten Körper Probleme der Orientierung – ein Wissen, das in anderen Kontexten wie der Steuerungstechnik, der Komplexitätstheorie und der Neurophysiologie und schließlich der Politik ein wichtiges Thema darstellt. Das Innovations- und Kreativitätspotenzial – alles, was wir heute darüber denken und wissen – ist damit eng verknüpft. Choreographen und Tänzer heute können aber nicht interessiert sein an einem affirmativen Transfer. Als Experten, die sie in ihrem Feld eines solchen Orientierungswissens sind, setzen sie ihre Versuchslabore bewusst eher an die Grenzen der Orientierung: Die Störung, der Kollaps, das Scheitern bilden die Herausforderung. Es ist wohl kein Zufall, dass in jüngster Zeit zahlreiche Choreographen sich mit dem Kollaps von Bewegungsordnungen, mit dem Thema Katastrophen (als Chaos, Krieg, Tumult und Tsunami-Prinzip) auseinandergesetzt haben, in denkbar unterschiedlichen Vorgehensweisen, wie man das z.B. in Berlin an den jüngsten Choreographien von Sasha Waltz ( Gezeiten, 2005), Meg Stuart ( Replacement, 2006) und William Forsythe ( Three Atmospheric Studies, 2006) sehen konnte. Es ist der Vorstoß in Bereiche, die nicht mehr allein mit einem Begriff des kontrollierbaren und operationalisierbaren Wissens zu decken sind – das Feld des Unvorhersehbaren, des Nicht-Wissens, des Unkontrol18 | William Forsythe in: »Interview. Tanzdenker William Forsythe im Gespräch mit Wiebke Hüster«, in: du. Zeitschrift für Kultur 765 (April 2006), S. 18.

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lierbaren als Anspruch einer anderen Erfahrung und eines anderen politischen Engagements. An dieser Stelle ist die Öffentlichkeit, die Sichtbarkeit solcher Szenographien des Wissens vielleicht am herausforderndsten und am wichtigsten – an der Grenze von Wissen, einem anderen Wissen um Nicht-Wissen.

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Produktion vortäuschen, halluzinieren und ausschöpfen Der Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen 1 Bojana Cvejic

Es gibt Projekte, durch die ein kuratiertes Thema zum Leben erweckt wird, und die als kuratorische Wendepunkte einer Ära wirken oder betrachtet werden, beispielsweise die documenta XII in Kassel und die abgesagte Manifesta 6 in Nikosia, die aufgrund der Themen Bildung und Wissensproduktion politische Tragweite erlangen. Und es gibt Projekte, die über einen längeren Zeitraum eine autonome Praxis entwickeln, und obwohl sie nicht in Reaktion auf oder in Antizipation eines Trends ersonnen werden, scheinen sie bisweilen aufgrund gegenwärtiger kuratorischer Interessen verstärkt aufzutreten. So etwa der Schwarzmarkt für nützliches Wissen und NichtWissen, der aus einer Reihe von Projekten hervorgegangen ist, die Hannah Hurtzig seit 1995 ins Leben gerufen hat, um mit den verschiedenen Formen der Wissensproduktion und -vermittlung in konstruierten öffentlichen Räumen zu experimentieren. Für eine kurze Darstellung der Geschichte des Schwarzmarktes sollten die Mobilen Akademien erwähnt werden (Bochum 1999, Berlin 2001 und 2004, Warschau 2006). Auch wenn Hannah Hurtzigs Projekte heutzutage mit anderen, seit 2004 aus dem Boden schießenden Sommerschulen und Akademien in einen Topf geworfen werden, waren sie die ersten, die (un)disziplinierte Workshops und Vorträge, kulturelle Arbeit und politischen Aktivismus zu Veranstaltungen verschmelzen ließen, die ihre eigene imaginäre Gemeinschaft hervorbrachten. 1 | Anmerkungen zu einem Lexikon der tänzerischen Gesten und angewandten Bewegungen von Mensch, Tier und Materie, vorgestellt am 20. April 2006 auf dem Tanzkongress Deutschland, Haus der Kulturen der Welt, Berlin.

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Aus der Fakelore-Akademie, die 2004 in Berlin stattfand, entsprang der erste offizielle Schwarzmarkt für nützliches Wissen und NichtWissen als »halluzinierte Volkshochschule der Mobilen Akademie mit 100 Experten aus Berlin«: Der Versuch einer enzyklopädischen Systematisierung von »Begriffen und Themen, die in den früheren Mobilen Akademien eine wichtige Rolle spielten« 2, erwies sich als wilde Taxonomie kultureller, künstlerischer, wissenschaftlicher, jargonspezifischer, praktischer und vernunftbezogener, disizplinärer und nicht disziplinärer, anerkannter und verborgener Gebiete des Wissens – 42 Themen von A wie »Aeronautik« bis U wie »Urbanismus« in den Sprachen und Dialekten Arabisch, Bengalisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Griechisch, Hindi, Italienisch, Japanisch, Niederländisch, Plattdeutsch, Portugiesisch, Russisch, Schwedisch, Urdu und Wienerisch. Aus drei bereits in der ersten Veranstaltung vorgesehenen Elementen – darunter dreißigminütige Einzelgespräche zwischen einem ›Experten‹ und einem ›Kunden‹ für einen Euro, mit einem Publikum, dem die Möglichkeit geboten wird, über Kopf hörer sechs Gespräche mitzuverfolgen – kristallisierte sich eine Vorgehensweise heraus, über die man alleine bereits mehrere Tage diskutieren könnte. Wenn ich hier über den Schwarzmarkt spreche, besteht mein Anliegen darin, die Besonderheiten seines Formats und seiner Effekte in Bezug auf neue Formen der Wissensproduktion und ihrer politischen Rahmenbedingungen zu analysieren. Dabei werde ich die Spezifika, die den Schwarzmarkt zu einem neuen und autonomen Modell machten, Element für Element untersuchen und dabei Bezug nehmen auf das Lexikon der tänzerischen Gesten und angewandten Bewegungen von Mensch, Tier und Materie, das zur Eröffnung des Tanzkongresses Deutschland ins Leben gerufen wurde. E: Wenn wir ins Studio gehen und dort improvisieren sollen, wie können wir dann eine Bewegung ausführen, die wir noch gar nicht kennen? Oftmals wird man vom Choreographen aufgefordert, ihn zu überraschen. In solchen Fällen wird uns bewusst, dass wir eigentlich nur scheitern können. Aber wie können wir eine Bewegung ausführen, zu der wir nicht in der Lage sind, und zwar sowohl hinsichtlich der technischen Ausführung als auch unserer Vorstellungskraft? Wenn wir davon ausgehen, dass jede Bewegung schon einmal gemacht wurde, wie können wir dann mithilfe einer Kleinigkeit einen neuen Tanz entstehen lassen? Es muss doch eine Möglichkeit geben, etwas Neues einsickern zu lassen […]. Ich bin nicht daran interessiert, jemanden zu entführen, sondern ich möchte entführt werden. Wenn man entführt wird, ist 2 | Sämtliche Zitate von Hannah Hurtzig sind einem Gespräch entnommen, das im März 2006 in Berlin stattfand.

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das Einzige, womit der Entführer nicht umgehen kann, wenn man sagt: ›Ich lege mich hin und sterbe‹. Beim Stockholm-Syndrom herrscht die absolute Aufgabe, keinerlei Verantwortung, denn der Entführer wird mich immer am Leben halten. Situationsbedingte Hingabe an etwas, das wir nicht kontrollieren können. Dies ist die einzige Möglichkeit, etwas Neues geschehen zu lassen: Wie kann ich mich beim Erschaffen eines Tanzes selbst entführen? 3 S CHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN von Hannah Hurtzig, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Maschinisierung des öffentlichen Raums Was den Schwarzmarkt von anderen künstlerischen Aktionen unterscheidet, bei denen öffentliche Räume aufgrund ihrer Geschlossenheit, Kontrolliertheit und des vorherrschenden marktbezogenen Konsumdenkens kritisiert werden, ist sein proaktiver Ansatz: Es geht dabei eben nicht darum, das Vorgefertigte eines Museums, eines Theaters oder einer Akademie zu entdecken, auszustellen oder zu importieren, sondern vielmehr darum, in einer Stadt einen öffentlichen Raum entstehen zu 3 | Die kursiv gedruckten Absätze sind frei übersetzte Auszüge aus dem Lexikon der tänzerischen Gesten und angewandten Bewegungen von Mensch, Tier und Materie. ›E‹ steht für ›Experte/Expertin‹ und ›K‹ für ›Kunde/Kundin‹. Die Namen von Experten und Kunden (in manchen Fällen ohnehin schwer verständlich) werden hier bewusst nicht genannt, um das stets vorhandene Stimmengewirr nachzuempfinden, aus dem die Gesprächsfetzen durchdrangen. Im Zuge dessen kann auch auf die datenschutzrechtliche Genehmigung von Informationen und Meinungen der zitierten Personen verzichtet werden.

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lassen, der offiziell nicht der Produktion von Wissen gewidmet ist. Wie Hurtzig erklärt, waren ihre Ressourcen Archive und Lesesäle in Bibliotheken, die Börse und Räume mit speziellen Funktionen in nichteuropäischen Ländern, beispielsweise Büros in Zimbabwe, in denen Menschen, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, ihre Geschichte oder ihr Wissen aufschreiben lassen können, in Form eines Briefes, einer Anzeige oder jeder anderen Nachricht, die auf Papier gespeichert werden soll.

Die Art öffentlicher Raum, dessen sich der Schwarzmarkt bedient, ist der so genannte Benutzerraum. Was er mit dem Theater gemein hat, ist der Bezug auf das antike Öffentlichkeitsforum sowie die Mischung aus Performance und Ereignis. Er ist insofern eine Performance, als jeder Experte die Position eines Wissenden (= Darstellers) annimmt, selbsternannt durch den Sprechakt und unter Verwendung aller Techniken des Performens. Damit sind nicht Schauspieltechniken gemeint, sondern die linguistische Fertigkeit, ein Wissensversprechen zu machen, zu erfüllen oder auch zu brechen. Der Schwarzmarkt ist jedoch insofern mehr Event als Performance, als er sich eben nicht frontal einem Publikum präsentiert, das einen Konsens bei der Rezeption sucht. Es gibt keine Zuschauer, die sich eine Performance ansehen und auf sie reagieren, sondern alle Teilnehmer – Experten, Kunden und vorbeilaufende Zuhörer – sind Benutzer, die auf unterschiedliche Weise an der Gestaltung des Events teilhaben. Die Intimität der Begegnung an jeder Tischeinheit zwingt dazu, leise zu sprechen, zu flüstern und vielleicht auch zu stammeln, sodass der Blick von oben auf 100 Tische in einem Raum nur wenig Aussagekraft in dem Sinne besitzt, dass die Szenerie etwas/ jemand anderem ähnelte, dafür stünde oder in dessen Namen spräche. Der Schwarzmarkt ist daher nur in technischer Hinsicht eine Installation, und in Bezug auf seinen Auf bau, aber nicht so sehr in Bezug auf das Genre der Präsentation. Er ist vielmehr eine autarke Maschine, die einen Raum mit dem Ziel einer offenen, unkontrollierten und hemmungslosen Produktion, Verbreitung und Infiltration von Wissen in Betrieb setzt. Ich verwende vorerst den Begriff ›Wissen‹ in Ermangelung eines adäquateren Terminus, werde seine Vielschichtigkeit jedoch angemessen berücksichtigen. E: […] Geschieht etwas zwischen den Menschen, die willentlich und gleichzeitig dieselbe Sache betrachten? Vollzieht sich dabei irgendeine Art von Kommunikation, durch die diese Menschen für einen Augenblick zu einer Gemeinschaft werden, was sie dann vielleicht dazu veranlasst, an etwas völlig Neuem teilzuhaben? […] Warum werden solche Fragen überhaupt gestellt? Weil heute […] in der westlichen Welt gemeinhin die Vorstellung herrscht, dass Kunst und Kultur sich in Form einer parlamentarisch-demokratischen Volksvertretung vollziehen, die sich auf alle Menschen erstreckt usw. Der Hin-

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tergedanke ist, dass dieses Modell für den Bereich des kulturellen Lebens übernommen werden sollte. Die Frage ist jedoch, ob die Politik nicht etwas vom kulturellen Geschehen lernen kann, was ihr bisher verborgen blieb.

Geschichten erzählen Das Geschichtenerzählen ist die Technologie, durch die der Wissenstransfer im Schwarzmarkt ausdrücklich von allen anderen Lernsituationen unterschieden werden kann. Wenn man eine Geschichte erzählt, wird der Gegenstand der Wissensvermittlung sofort von jeder akademischen Disziplin losgelöst. Auch aus diesem Grund ist der Schwarzmarkt ein Ereignis: Es geht beim Schwarzmarkt nicht um das Festhalten von Anders- und Neuartigem (die politische Mission des Festhaltens neuartigen Wissens), nicht um das Aufspüren oder Archivieren von ausgelöschten Spuren. Auch wenn bei ihm ein gewisser Überfluss, ein Verschwenden oder Überschuss an produzierter Bedeutung herrscht, ist er noch immer ein Handel und kein Austausch von Geschenken und Gegenleistungen. Im Verkaufen der eigenen Geschichte spiegelt sich ein fundamentaler Gesellschaftsvertrag wider: Er rückt den Geschichtenerzähler in die exponierte Position des ›perform or else‹, in der er eine Leistung zu erbringen hat, und den Auftrageber in die Position, diese Leistung auch einzufordern. Das Erzählen führt weg von den akademischen Methoden des Analysierens, Kontextualisierens, Kommentierens und Verifizierens von Informationen. Tatsächlich löst es Wissen von Informationen und definiert es irgendwo in der Mitte zwischen dem, was man als Gegenstand des Wissens, der Forschung, der Disziplin kennt (savoir), und dem, wodurch man zum Subjekt wird, nämlich den Erfahrungen oder Begegnungen (connaissance). Der Wissende ist hier nicht jemand, der eine Liebe zum Wissen verspürt und dessen Wissen notwendigerweise durch eine Institution legitimiert ist, sondern der Wissende kann ein Blender sein, der nicht nur die herrschenden Ordnungen betrügt, sondern auch Gebiete erobert, die ihm nicht gehören oder noch gar nicht existieren und deshalb neu erfunden werden. E: Wenn Sie z.B. eine Kommunikationssituation in einer Aufführung herausgreifen und sie mit der Art und Weise, wie wir hier sprechen, vergleichen, können Sie wahrscheinlich einen großen Unterschied feststellen. Wenn ich etwas sage und Sie es missverstehen, wird die Art und Weise, wie Sie das von mir Geäußerte aufnehmen, mir helfen zu verstehen, dass es bei Ihnen ein Missverständnis gab. K: Ich werde Ihnen das irgendwie zu verstehen geben. E: Genau. Meiner Meinung nach besteht eine Besonderheit beim Schaffen von Kunst darin, dass man von der Interaktion abgeschnitten ist, was dazu führt, dass man das Missverständnis eben nicht korrigieren kann […].

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S CHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN von Hannah Hurtzig, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Subjektivierung und Expertise Wenn Subjektivierung nicht nur das Ausfindigmachen oder die Interpretation von Elementen der eigenen Erfahrungen ist, sondern immer schon einen Transformationsprozess beinhaltet, bei der man sich etwas zu eigen macht, indem man es verbrämt, es ›versaut‹, ihm seinen eigenen Körper überlässt, dann bedeutet Expertise, dass ein generell verfügbarer Zustand oder ein Zustand erreicht wird, der einem generellen Denkvermögen zuträglich ist: Es gibt immer etwas, das man weiß. Es geht nicht so sehr darum, was man weiß, sondern wie man es weiß und worin die individuelle Fähigkeit des Wissens und Wissenstransfers an andere besteht. Bei der Subjektivierung sind Parteinahmen und Teileinsichten im Spiel, welche eine Partizipation auf einer eher zufälligen Basis ermöglichen. Parteilichkeit sollte hier auch im Gegensatz zum ›Unparteiischsein‹ stehen, d.h. objektiv, unbefangen oder unvoreingenommen zu sein. Die Mission des Schwarzmarkts besteht nunmehr nicht darin, die Menschheit durch die Bewusstmachung ihrer eigenen Fähigkeiten zu stärken, sondern vielmehr darin, Chancen zu eröffnen, die in unbestimmten und weniger sichtbar zirkulierenden Aspekten des Wissens liegen, nämlich in Annahmen, Überzeugungen, Meinungen, Gewohnheiten, Fakten, Informationen, Methoden etc. Das Gespräch ist eine Begegnung, die Wissen und Nicht-Wissen in Beziehung zueinander setzt, die zum Lernen und Verlernen anregt, den Unterschied und die Kluft zwischen Unwissen bzw. Meinung und dem, was als ihr Gegenteil idealisiert wird, erforscht – nämlich Wissen. Hannah Hurtzig bezieht sich auf Niklas Luhmann, indem sie sagt, dass

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der Schwarzmarkt ganz pragmatisch als »Werkzeug zum Auffinden von Problemen für bereits existierende Lösungen« verstanden werden sollte. E: Wir versuchen, etwas über Massen herauszufinden. Worin besteht Ihr Interesse an Schwärmen? K: Mein Interesse? Hmm … E: Fühlen Sie sich wohl? K: Ich bin Dirigent und ich interessiere mich sehr für große Mengen energiegeladener Körper und was sie gemeinsam erreichen können und wie sie Gruppenentscheidungen treffen können. E: Das ist eine sehr interessante Herangehensweise.

Themen und Experten In der Enzyklopädie des Tanzkongresses sind die ›Einträge‹ gemäß folgendem Schema angeordnet: Absence, Age, Animals, BodyTechniques, Choreographers, Conceptual Dance, Dance Styles, Education, Film, Image, Interpretation, MachineMan, Market, Memory, Migration, Movement, Notation, Participation, Perception, Sensation, Solo, Sports, Transition, Travel, Visual Regime, No Category. Mit der Auflistung aller Rubriken soll verdeutlicht werden, dass ihre Heterogenität nicht von oben aufgesetzt wurde (d.h. als Pool von zur Auswahl stehenden und zu beantwortenden Fragestellungen), sondern dass die verschiedenen Punkte auf eine nachträgliche Kategorisierung der Gespräche zurückgehen, wie sie von den Experten formuliert wurden. In den verschiedenen Formulierungen lässt sich eine Vielzahl von Strategien und Taktiken der Selbstbestimmung finden. Sie reichten von kanonischem Fachwissen (z.B. »Wie rekonstruiert man einen Tanz von Mary Wigman?«) über alternative Techniken (»Wie man sich auf möglichst mühelose Weise ökonomisch bewegen kann – Zur Reversibilität von Bewegung bei Feldenkrais« von Irene Sieben) bis hin zum Know-how der Darsteller und allgemeinen Lebensweisheiten (»Alternative Techniques for Remembering Physical Actions and Movements« von Thomas Conway; »Frame-Dragging. Wahrnehmungsverschiebungen beim Tanz, auf Reisen und beim Sex« von Siegmar Zacharias). Es wurden konträre politische Positionen und Haltungen thematisiert (»Welche Kommunikationsstrategien muss man verfolgen und wie sollte man sein Tanzprojekt formulieren, dass es von Kulturpolitikern verstanden wird und förderungswürdig erscheint« von Barbara Kisseler; »Global Market and Local Authorities: About the Hidden Structures of the Artistic Production Process« von Eszter Salamon); das Konzept der Bewegung wurde über die Kunst des Tanzes hinaus auf nicht menschliche Körper ausgedehnt (»Wegfindung ohne Wegmarken: Der Himmelskompass der Wüstenameisen« von Bernhard Ronacher; »Tanz der Chromosomen. Kleine Einführung in die

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Zellforschung« von Helmut Höge); es ging um kulturelle Praktiken (»Die groteske Formgebung des Tanzpaares im Wettbewerbs- oder Sporttanz und deren Auswirkungen auf den schwullesbischen Paartanz« von Christoph Neumann; »Zu Wall of Death, Pogo und Mosh – Hard Core Music und Dance« von Volkan) oder die Erforschung der Bewegung in Bezug auf die Wahrnehmung (»Was tun die Hände von Schülern, die sich melden und nicht drankommen, im Luftraum des Klassenzimmers? Vom Blickentwurf zur Denkbewegung: Kamera-Ethnographie als Bewegungsforschung mit den Sinnen« von Elisabeth Mohn) bis hin zu verblüffenden Diskrepanzen zwischen Beruf und beanspruchter Kompetenz (»1. Angewandte Bewegungen zu Schiff: Kampf mit der Fracht von Mopti nach Timbuktu, 2. Wie bereist man Armenien ohne Auto« von Tanz- und Theaterkritikerin Renate Klett) und erfrischend humorvollen oder bizarren Beiträgen (»Warum ich die szenische Poesie des Tanztheaters hasse oder: Die späte Rache der Pantomime – Bilder im Tanztheater« von Florian Malzacher). Diese Titel verdeutlichen, wie der Schwarzmarkt auf eine Einladung reagiert, wie sie vom Tanzkongress ausgesprochen wurde. Der Schwarzmarkt auf dem Tanzkongress dient nicht dazu, den Tanz in seiner gesamten Bandbreite abzubilden, sondern vielmehr, den Bereich Tanz neu darzustellen, indem man ihn auf die Register ausdehnt, die in den derzeit gängigen Praktiken nicht berücksichtigt, übergangen oder verkannt werden. Der Schwarzmarkt verleiht dem Tanzkongress eine neue Komponente: einen Reality-Check der Szene mit ihrer politischen Brisanz und ihren Stimmungen, die von Albernheit über Faulheit bis hin zu sinnlosem Aktionismus reichen. E: Ich war sehr überrascht, als ich kontaktiert wurde, weil ich eigentlich nichts mit Tanz oder Kunst zu tun habe. K: Das ist völlig in Ordnung für mich. E: [D]as Ziel des Projekts besteht darin, eine so genannte Mensch-MaschineSchnittstelle zu entwickeln: Dabei kann der Nutzer eine Computeranwendung oder andere Geräte einzig mithilfe seiner Gehirnaktivität steuern. Man kann völlig bewegungslos dasitzen, während eine bestimmte Gehirntätigkeit abläuft […]. [Z]um Beispiel kann ein gelähmter Patient, der ein Textverarbeitungsprogramm bedienen möchte, einfach an ein Wort denken, das dann auf dem Bildschirm erscheint […].

Ein Schnitt durch die Gesellschaft Bei der Auf bereitung eines Themas als Forschungsgebiet müssen bestimmte Verfahren und Ziele verfolgt werden. Indem Hannah Hurtzig jedoch kein festes Thema für einen bestimmten Kontext mit der interpretativen Arroganz einer Aussage wie ›Das ist gut für Dich‹ vorgibt, stellt sie kein bestimmtes Telos als ultimativen Zweck des Kunstwerks

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auf, genauso wenig wie vorgegebene Präferenzen oder Kriterien: »Da ich kein talentierter Mensch bin, arbeite ich auf der Basis von ›Defizit und Unzulänglichkeit‹. Ich suche nach dem, was uns meiner Meinung nach fehlt.« Der Schwarzmarkt beispielsweise, der 2005 in Warschau unter dem Titel Ghostly or Invisible Knowledge stattfand, ließ Verbindungen zwischen Menschen, Wissen und Erfahrungen vor und nach dem politischen Umbruch in Polen entstehen und zeigte verschiedene Wege der Entschlüsselung und Interpretation des politischen und wirtschaftlichen Wandlungsprozesses sowie seiner Begleiterscheinungen auf. Den thematischen roten Faden dieses Schwarzmarkts bildete ein Zitat von Heiner Müller: »Das Phantom der Marktwirtschaft hat das Gespenst des Kommunismus ersetzt.« Ein anderes Beispiel verdeutlicht, wie das Schwarzmarkt-Team heute, nachdem das Modell Popularität erlangt hat, bei einem eingehenden Auftrag oder einer Einladung zu einem bestimmten Thema vorgeht. Bezüglich der Anfrage, einen Schwarzmarkt zum Thema »Altwerden in Deutschland« zu veranstalten, sagt Hannah Hurtzig: Auf meiner Suche danach, was außer den Erzählungen alter Menschen über ihr Leben – was nicht besonders spannend ist – von Interesse sein könnte, begegnete ich dem seltsamen Phänomen gealterter ›Forscher‹, d.h. Menschen, die sich nach ihrer beruflichen Karriere ›kleinen‹ Themen widmen. Eine Frau etwa, die sich nach ihrer Pensionierung 15 Jahre lang mit der Erforschung der unregelmäßigen Form von Kirschen beschäftigte. Das sind die Menschen, die beschließen, etwas zu tun, was sie vorher nicht tun konnten, und da sie nun selbstbestimmt und nicht an irgendwelche Institutionen gebunden sind, treibt diese Forscher eine Leidenschaft zum Wissen an, ohne jedoch zu wissen, wem das Wissen von Nutzen sein könnte.

Der Forschungsprozess gleicht einem »Probenprozess, der identisch mit dem Ergebnis ist – ein Kommunikationsprozess von zwei bis drei Monaten, in dem man verschiedene Quellen heranzieht, die dabei helfen, einen Kontext zu rehalluzinieren«. Zu diesem Zweck macht das Schwarzmarkt-Team eine Art Schnitt durch die Gesellschaft, der sich grundlegend von dem unterscheidet, was gemeinhin als interdisziplinäre Forschung bezeichnet wird. Eine interdisziplinäre Herangehensweise setzt voraus, dass sich ein Thema als eine Art Ereignis unter dem bereichernden Einfluss des Verbindens und Vermischens anerkannter Disziplinen herauskristallisiert. Im Falle des Schwarzmarkts hat die Vermischung eher etwas Monströses: Etwas Bekanntes, Etabliertes oder Konstantes wird mit etwas zusammengebracht, das all diese Eigenschaften nicht besitzt. Es geht demnach um das Mischen disziplinbezogener, alternativer, paralleler, laienhafter, praktischer, technischer, konventioneller, erfahrungsbedingter Register der Wissensartikulation, als etwas, das

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man hat, wozu man fähig ist, das man benutzt, das man unterrichten, lernen oder lediglich benennen kann. Kurz gesagt bedeutet dies, »einen Wissenschaftler mit dem Menschen von nebenan zusammenzubringen«. Auf diese Weise verhindert man erstens, dass nur die ›üblichen Verdächtigen‹ oder die ›Diskursstatthalter‹ vertreten sind, und zweitens kommt man niemals nur zu einem Ergebnis oder Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem, was etabliert oder vorherrschend ist. Man erhält demnach keinesfalls einen kohärenten, einheitlichen oder homogenen Katalog an Fachwissen, sondern stets nicht reproduzierbare Verknüpfungen zwischen Personen, Orten, Erinnerungen und Interessen.

Wohin gehen? Und was tun? Heute, wo Theorie zu einem weiteren Überbau des Spätkapitalismus geworden ist, was sowohl für die Rhetorik der Kunst als auch für die kreativen Industrien und das Geschäftsmanagement gilt, bedarf es tatsächlich einer gewissen Kunst, um die Theorie von der Produktion eines intellektuellen Mehrwerts zu ›deinstrumentalisieren‹. Auch wenn der Schwarzmarkt explizit darauf abzielt, den Wissenstransfer zum Event zu machen, wird damit nicht beabsichtigt, die in der heutigen Gesellschaft geltende Rolle der Kunst als spezifische Form der Wissensproduktion erneut für sich zu beanspruchen. Sein offensichtlicher Beitrag zur aktuellen kuratorischen Debatte über das Thema Bildung ist dabei weder ein Nebenprodukt noch eine Nebenwirkung. »Mich interessieren die Situationen, in denen es ein kollektives Moment des Lernens gibt, das den Menschen nicht bewusst ist und das potenziell zu Aktivitäten anregen sowie Enthusiasmus und Halluzination mit dem Unmöglichen hervorrufen könnte.« Da sein Anspruch nicht vordergründig kritischer Natur ist, stellt sich der Schwarzmarkt als Experimentierfeld vor spekulativem und pragmatischem Hintergrund dar. Er operiert mit den Möglichkeiten und Potenzialen konkreter Situationen, Themen/Forschungsprojekte oder Gebiete/Bereiche in verschiedenen Kontexten (Städte) und zu verschiedenen Zeitpunkten (z.B. »Tanzplan« oder der Beitritt Polens zur EU). Der Schwarzmarkt stillt die Neugier darauf, diejenigen Orte, an denen man sich gerade befindet, auf intensivere Weise zu erspüren. Übersetzung aus dem Englischen

Was ist ein künstlerisches Labor? Ein Metalog zwischen Peter Stamer

Ich gespannt, ob wir in dem folgenden Gespräch auf einen grünen Zweig kommen. Worum soll’s in unserem Gespräch gehen? – Es geht mir darum herauszufinden, was ein künstlerisches Labor ist. Oder vielmehr, was dessen Bedingungen und Merkmale für die Produktion von Wissen sind. – Und wieso brauchst Du mich in Deinem Text? – Na ja, weil ich den Eindruck habe, dass die dialogische Form der Auseinandersetzung den Wissensproduktionsverfahren des künstlerischen Laboratoriums sehr nahe kommt. Ich spreche mit Dir und antworte dabei auf Deine Fragen, die ja auch meine sind. – Klingt ein bisschen nach Xavier Le Roys SELF -INTERVIEW 1 aus dem Jahr 1999, wenn ich das gleich mal anmerken darf. Darin spricht er mit seiner eigenen Stimme, die er mit einem Kassettenrekorder aufgezeichnet hat, über die Hintergründe seines Projekts E. X .T. E . N . S . I .O . N . S . Er reflektiert an sich selbst, in der Aufführung seiner Stimme, die Entstehungsbedingungen eines seiner Projekte und führt Nachdenken als Performance vor. Ein Denklaboratorium, das in actu aufgeführt wird. Auffällig war, dass die antwortende Stimme ihre Repliken häufig mit »I don’t know« begonnen hat, als wisse sie nicht, was sie innerhalb dieses Gesprächs sagen solle. Sie täuscht einfach Nichtwissen vor. – Ich erinnere mich. Sie weiß zumindest, dass sie nichts weiß. Und das erinnert mich wiederum an einen der sokratischen Dialoge, in welchem Platon seinen Vordenker Sokrates auf den Schüler Theaitetos treffen lässt. Die beiden plaudern über die Möglichkeiten von Wissen im Allgemeinen, bis Sokrates den Jungen im Verlauf der Unterredung mit der Frage konfrontiert: »Gerade das ist es aber, worin ich im unklaren bin und was ich nicht recht begreifen kann: 1 | Nachzulesen unter: www.insituproductions.net/_eng/framesetl.html vom 14. Mai 2007.

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was denn eigentlich Wissen ist.« 2 Jedoch finden die Gesprächspartner keine abschließende Antwort darauf, obwohl sie über 100 Seiten nichts Anderes tun, als die Möglichkeiten von Wissen-Können zu erörtern. Sokrates’ Kopf, die Hebamme der Gedanken von anderen, gebiert seitenweise Überlegungen, kreißt aber kein endgültiges Wissen darüber, was Wissen eigentlich sei. – Mich jedenfalls fasziniert an diesem Text, dass die Redner zwar das ›Wie des Wissens‹ nicht abschließend klären konnten, aber sie wussten zumindest, auf welche Weise sie sich ihrem Wissen-Wollen angenähert haben. Mit Mitteln des Dialogs nämlich, sie wissen, das ›Wissen des Wie‹ unauf hörlich in Fragen zu kleiden. Dadurch wird in Theaitetos das Dialogische der Reflexion wichtig, mehr aber noch ist die Reflexion des Dialogischen, das Nachdenken über das Wie, das selbst zu einem Wissen wird, erkenntnistheoretisch von Bedeutung. – Der Anthropologe Gregory Bateson schlägt übrigens für solche selbst-reflektierenden Gespräche den Begriff des Metalogs vor. Er schreibt: »Ein Metalog ist ein Gespräch über ein problematisches Thema. In diesem Gespräch sollten die Teilnehmer nicht nur das Problem diskutieren, sondern die Struktur des Gesprächs als Ganzes sollte auch für eben dieses Thema relevant sein.« 3 SANS PAPIERS , TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

2 | Vgl. www.e-text.org/text/Platon%20-%20Theaitetos.pdf vom 25. April 2007. 3 | Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 31.

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Der Dialog selbst ist nicht nur ein feststehendes Textformat, das wie ein Gefäß den Inhalt zu fassen versucht, sondern setzt Diskurse selbst in Gang. – Da sich das Wort ›Diskurs‹ nämlich aus dem Lateinischen discurrere ableiten lässt, was soviel wie hin- und herlaufen bedeutet. – Richtig. Darum habe ich Dich zu meinem diskursiven Laufpartner ausgewählt, mit dem ich gemeinsam diese Wegstrecke zurücklegen möchte. Bateson übrigens schreibt in seinem Buch »Ökologie des Geistes« ein ganzes Kapitel, das nur aus Metalogen zwischen ›Vater‹ und ›Tochter‹ besteht. In einem davon fragt das Mädchen seinen Papi, wie viel er denn wisse. 4 Dieser meint zunächst, dass Wissen nicht direkt messbar sei, aber je länger er sich dieser Frage widmet, je mehr Denkpositionen er einnimmt, desto deutlicher wird, wie viel ›Papi‹ oder der Autor der Papi-Zeilen letztlich dann doch weiß. Er weiß nämlich eine ganze Menge darüber, wie sehr Nachdenken nur innerhalb eines übergreifenden Systems zielführend ist. »Worüber wir nachdenken müssen ist, wie die Wissensstücke miteinander verwoben sind,«5 sagt Papi daher und spricht damit einen kulturellen Wissensbegriff an … – … auf den sich auch die Soziologin Karin Knorr Cetina in ihrem Buch »Wissenskulturen« bezieht, das versucht herauszufinden, »wie wir wissen, was wir wissen«.6 Sie definiert darin Wissenskulturen als »Kulturen von Wissenskontexten«7, die je spezifisch in »epistemischen Kulturen« 8 differenziert sind. Wie also etwas gewusst werden kann, obliegt dem jeweiligen Kontext, in welchem Wissen entsteht und ausgeübt wird. Knorr Cetina stützt sich in ihrem Kulturbegriff auf den Anthropologen Clifford Geertz, wonach Kultur »ein System überkommener Vorstellungen [ist], die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln«.9 Wissen-Können ist hier weniger ein Vermögen eines intelligenten Subjekts, als vielmehr eine Bedingung der kulturellen Möglichkeit. Was und auf welche Weise es gewusst werden kann, hängt von den Konditionen ab, unter welchen ein mögliches Wissen wahrheitsfähig ist. Diese Bedingungen strukturieren das Wissen und die Erfahrung einer Kultur, die dem jeweiligen Redner, Theoretiker oder Wissenschaftler aber nicht bewusst sind. – Innerhalb der sozialen Webart der Kultur, die alle Sprecher eines Zeitraums miteinander teilen, gibt es verschiedene Feindifferenzierun4 | Vgl. ebd., S. 53. 5 | Ebd., S. 54. 6 | Karin Knorr Cetina: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 11. 7 | Ebd., S. 19. 8 | Ebd., S. 18. 9 | Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 46.

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gen, eben jene epistemischen Kulturen, von denen Knorr Cetina spricht, wenn sie die Wissensweisen der Laborkultur auf dem Gebiet der Mikrobiologie und Hochenergiephysik untersucht. Wissenschaftliche Labore schöpfen demnach ihre epistemische Wirksamkeit aus den Differenzen zu der sie umgebenden Umwelt.10 – Karin Knorr Cetina versucht in ihrem Buch übrigens die gleiche Frage wie Du zu erörtern, die ich nun gerne an Dich weiterleiten würde: »Was ist ein Labor?« 11 – Die allererste Frage, mit der man sich beschäftigen sollte, wenn man ein künstlerisches Labor konzipiert, besucht, gestaltet, einsetzt. Als erste Frage nämlich nach der methodologischen Grundierung, die sich nicht so einfach … – Das klingt jetzt gefährlich nach einer Spielart von »I don’t know« aus Le Roys SELF INTERVIEW, was mich zugegebenermaßen nicht ganz befriedigt. Wenn Du nun jemandem erklären müsstest, der überhaupt nichts davon weiß, wie würdest Du die Frage beantworten: Was ist ein künstlerisches Labor? – Die Frage überzeugt mich aber nicht so ganz, denn es gibt so etwas wie totales Unwissen, absolute Ignoranz nicht. Wenn es nämlich stimmt, dass die Verknüpfung von kulturellen Kontexten darüber entscheidet, wie und was von etwas gewusst werden kann, bringt jeder ein Vorwissen und damit eine Voreinstellung in seine Frage mit ein. Wenn ich also sage, das künstlerische Laboratorium ist ein wichtiges Forschungsinstrument für zeitgenössischen Tanz, dann habe ich bereits mehr als eine Proposition, die ich setze. Ich brauche z.B. eine Vorstellung von dem, was ich der Einfachheit halber ›zeitgenössischer Tanz‹ genannt habe. Entsprechend bewege ich mich immer schon in einem Kontext, über den ich mich erst verständigen muss, um die Besonderheiten der epistemischen Kultur, wie sie ›zeitgenössischer Tanz‹ meiner Meinung nach darstellt, ausführen zu können. – Kannst Du dann vielleicht zu beschreiben versuchen, was Du unter Forschung im zeitgenössischen Tanz verstehst? – Auch das lässt sich nur in der Unterscheidung beschreiben, indem ich Merkmale voneinander absetze. Forschung verstehe ich zunächst ganz grundlegend als Arbeits- und Geisteshaltung, die mit dem Interesse an Erkenntnisgewinn beginnt, wie auch immer dieser aussieht. Ich muss eine Frage haben, die mich beschäftigt, mich unauf hörlich begleitet, sie informiert mein Sehen, meine Wahrnehmung, meine Praxis. – Kannst Du ein Beispiel für so eine Frage geben? – Warte. Die eigentliche Frage lautet doch: Was sind nun die Instrumente, mit dieser Frage umzugehen? Ich könnte versuchen, einen Experten zu finden, der mir hilft, meine Fragen zu beantworten. Oder ich könnte selbst versuchen, Antworten auf meine Fragen zu finden, indem ich ständig mögliche Antworten ausprobiere, bis ich die richtige gefunden habe. Das wären die bekannten Wissensstrategien in den Arbeitsformaten Workshop und 10 | Vgl. Knorr Cetina: Wissenskulturen, a.a.O., S. 65. 11 | Ebd., S. 45.

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Probe. – Im Workshop vermittelt ein Lehrer sein Wissen, in der Probe steht das Ausprobieren von Lösungen im Vordergrund. – In beiden Formaten steht das Finden einer Antwort im Vordergrund. Der Lehrer zeigt Dir im Workshop, wie ›es‹ geht. Die Tänzer in der Probe versuchen mit der Aufführung, eine Antwort auf ihre künstlerischen Fragen zu geben. Wie können sie aber die Antwort finden, von der sie nicht wissen, wie sie aussieht? – Jede Frage formuliert ja bereits ihre Antwort mit. – Und so habe ich bereits zu Beginn die Antwort, die ich im Grunde gar nicht mehr zu suchen bräuchte, denn sie ist bereits in die Frage eingeschlossen. Das Forschungsparadigma des zeitgenössischen Tanzes aber, würde ich sagen, sucht nach Antworten, die von der Frage im Grunde nicht berücksichtigt sind. Unmögliche Antworten also auf mögliche Fragen. Das führt dazu, dass zu jeder Frage eine neue hinzukommt, nicht aber, um sie auf mögliche Antworten hin zuzuspitzen, sondern um die Frage als Erkenntnisinstrument zu schärfen. Nicht die Suche nach etwas bestimmt zeitgenössische Forschung, sondern die Suche wird zum Gegenstand selbst. – Das klingt nun ein wenig esoterisch, um ehrlich zu sein. – Kennst Du die Geschichte von der Entdeckung des »Post-its«? – Den klebenden Notizzetteln? – Die Anekdote dazu geht so, dass ein gewisser Spencer Silver einen Superkleber erfinden wollte, er aber im Labor nur eine klebrige Masse hinbekam, mit welcher er zwar leichte Dinge zum Haften brachte, die sich aber gleich wieder ablösen ließen. Ein paar Jahre später suchte ein Kollege von ihm nach einer Möglichkeit, Notizzettel in seinem Gesangbuch zu fixieren, ohne gleich die ganze Seite zu verkleben. Er erinnerte sich an die damals nicht gelungene Erfindung von Silver, hat sie noch einmal unter die Lupe genommen, und das »Post-it« war geboren. – Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist, soll der Bakteriologe Louis Pasteur irgendwo einmal gesagt haben.12 – Tatsächlich aber fällt die Idee eigentlich Spencer Silver zu. Er hat etwas entdeckt, was er gar nicht entdecken wollte, ein Kolumbuseffekt, der eine ganz neue Welt auftat. Diesen Effekt nennt man nun serendipity, eine Form von Wissen nämlich, das nicht Ergebnis einer zielgerichteten Forschung ist, sondern ein erst später geschätztes Abfallprodukt eines vermeintlich falschen Versuchsauf baus oder einer nicht gelungenen Antwort. – Um meine Frage nun also selbst zu befragen: Die Frage ›Was ist ein Labor?‹ bleibt gerade dann erkenntnistheoretisch produktiv, wenn sie nicht beantwortet wird. Warum aber ist eine solche Frage dann forschungsorientiert? – Eben weil sie die Frage nach der Frage stellt. Da muss ich vielleicht ein wenig mehr ausholen. 1999 ziehen die beiden Kuratoren Hans Ulrich Obrist und Barbara Vanderlinden in Antwerpen ein urbanes Ausstellungsprojekt auf, dem sie den 12 | Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 143.

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Namen Laboratorium13 geben. Sie haben in ihren Veranstaltungen die verschiedensten öffentlichen Arbeitsstätten wie Ämter, Polizeistationen, den Hafen oder auch den Zoo als Produktionsorte von sozial spezifischem Wissen betrachtet und diese für künstlerische Interventionen, choreographische Proben oder Spielformen geöffnet.14 Dem Katalog zu diesem Projekt stellen die Autoren ein halb ironisches, halb paradoxes Motto voran: »Laboratorium is the answer. What is the question?«15 Das bedeutet soviel, dass ein Laboratorium nun nicht die letzte Antwort bereitstellt, sondern zuallererst Fragen ermöglicht. Das Laboratorium stellt das Bedingungsgefüge dar, im besten Sinne das erkenntnistheoretische Dispositiv, welches Suchfragen überhaupt erst möglich macht. – Das Fragen ist hier also gleichbedeutend mit Forschung, dessen Kontext im Falle von L ABOR ATORIUM die soziale Verwebung der Produktion von Kunst und Wissen ist. Entsprechend haben die Fragen der Kunst auch Relevanz in gesellschaftlichen Zusammenhängen. – Und umgekehrt werden soziale Prozesse und Aushandlungen verstärkt in ihren Wirkungsweisen für künstlerische Fragestellungen betrachtet. Die Gruppe, das soziale Gefüge, in welcher Kunst produziert wird, ist nicht einfach neutral, sie ist selbst von der Kultur, aus der sie stammt, durchlaufen, und diese Erfahrungen werden in Laboratorium in die künstlerischen Prozesse zurückgespeist. – Wo treffen Forschung und Laboratorium im zeitgenössischen Tanz aufeinander? Denn soweit ich das verstehe, handelte es sich beim Antwerpener L ABOR ATORIUM um ein urbanes Ausstellungsprojekt, nicht aber um eine Forschungsveranstaltung? – In Antwerpen haben auch Choreographen wie Meg Stuart oder Xavier Le Roy teilgenommen. Während Meg Stuart dort zur mehrwöchigen Bewegungserforschung in ihr Choreographic Laboratory geladen hat, arbeitete Le Roy in Antwerpen an seinem Spiel-Projekt E.x.t.e.n.s.i.o.n.s. – Und da Le Roy als einer der Hauptexponenten des zeitgenössischen Tanzes gilt und mit seiner LecturePerformance P RODUCT OF CIRCUMSTANCES gezeigt hat, dass es in seiner Biographie eine erkenntnistheoretische Verbindung zwischen seiner Ausbildung zum promovierten Mikrobiologen und zum Tänzer gibt, bietet sich folglich seine Stiftungsanekdote für den Kurzschluss von Forschung und Laboratorium an. Einmal Forscher, immer Forscher. – Zumindest wurde Le Roy in der Folge immer als Gewährsmann genannt, wenn es darum ging, die Wichtigkeit von Forschung in zeitgenössischem Tanz zu unterstreichen. – Einmal im Labor, immer im Labor. – Plötzlich wird Ende der 1990er Jahre Tanz intellektuell, produziert eigenes Wissen und kann dieses Wissen auch noch entäußern. An dieser Schwelle von Kunstpraxis zu Wissens13 | Vgl. Hans Ulrich Obrist/Barbara Vanderlinden (Hg.): Laboratorium, Antwerpen: DuMont 2001. 14 | Vgl. ebd., S. 19f. 15 | Ebd., ohne Seitenangabe.

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produktion jedenfalls taucht das Laboratorium als Forschungsformat zum richtigen Zeitpunkt auf. Zeitgenössischer Tanz ist da bereits auf dem Weg, eine eigene epistemische Kultur in der Wissensgesellschaft zu werden. – Und der TANZKONGRESS unter dem Motto WISSEN IN BEWEGUNG hat ihm diese Weihen nun verliehen. – Es kursiert mittlerweile eine gut gemeinte Vorstellung von Labor als »tatsächlichem Freiraum für die KünstlerInnen«, der »die Grenzen zwischen Produktion und Präsentation auflöst«16, um grenzenlos Wissen produzieren zu können. – Gut gemeint, weil die von Dir zitierte Vorstellung von Freiheit einer Idee von Wissenschaftlichkeit aufsitzt, die suggeriert, dass nur Forschung, die abgeschottet im Labortheater mit sich spielt, Wissenschaft genannt werden kann? – Und weil darin eine Auffassung von Labor in Anschlag gebracht wird, die als überholt gelten kann. Selbst das Labor in der Naturwissenschaft kann nicht länger als der neutrale Ort reiner Erkenntnisfreude verstanden werden, an welchem Forschergenies handlungsentlastet und freiheitsemphatisch an Grundlagen herumforschen. Im Gegenteil betont Karin Knorr Cetina in ihrem Buch »Wissenskulturen« die Wichtigkeit des nur aus seiner Sozialität und Körperlichkeit verstehen und wahrnehmen könnenden Körpers des Forschenden.17 Dass wissenschaftliche Labore eben nicht außerhalb von sozialen Ordnungen stehen, sondern inmitten von diesen, diese neu verhandeln, in die Arbeit integrieren und dort mit ihnen umgehen müssen. – Wie weit trägt die Metapher des Freiraums dann eigentlich, wenn man sie wörtlich liest? Handelt es sich beim Freiraum des Laboratoriums um einen Ort im räumlichen Sinne? – Da muss ich noch einmal auf Laboratorium zurückkommen. Die Produktion von Wissen wird im Antwerpener Projekt als örtlich gebunden verstanden. Es ist »situiert«, um einen Begriff der feministischen Naturwissenschaftlerin Donna Haraway aufzugreifen.18 Die jeweiligen sozialen Labore produzieren Wissen an Orten, »where knowledge and culture are made«,19 woraus sich entsprechend ein Grundgedanke des künstlerischen Labors speist. Der entscheidende Schritt liegt damit im Versuch, nicht nur den Ort der Wissensproduktion künstlerisch und diskursiv zu lokalisieren, sondern umgekehrt auch den unterlegten Wissensbegriff topographisch zu bestimmen. Wenn man diese Gedankenfigur übernimmt, dann kann man sagen, dass ein Labor nicht eigentlich nur ein Raum ist, in welchem die Forschenden unter den gegebenen sozialen Bedingungen Wissen 16 | Zitiert nach dem unveröffentlichten Mission Statement des Tanzquartier Wien zu seiner Eröffnung 2001. 17 | Vgl. Knorr Cetina: Wissenskulturen, a.a.O., S. 138f. 18 | Vgl. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York: Campus 1995. 19 | Obrist/Vanderlinden (Hg.): Laboratorium, a.a.O., S. 17, (Hervorhebung P.S.).

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produzieren, sondern viel eher ein im Körper der Forscher situierter Denkraum, der ›black-boxiert‹ ist. 20 – Das heißt, dieser Denkraum ist in den Körpern der Forschenden eingeschlossen. – Der Denkraum ist ohne Körper nicht möglich, so simpel es klingt. Dieses Verständnis einer im Körper geborgenen Forschung hat nun aber nichts mit einem Versuch zu tun, die Wahrheit der Körper zu authentifizieren. Vielmehr handeln die Körper die Wahrheitsbedingungen, wie sie in einer gegebenen Kultur möglich sind, miteinander aus. Denn die an der Forschung beteiligten Körper sind von allen Diskursen und Praktiken der Gesellschaft infiltriert, die sie ins Labor mit einbringen. Sie teilen mit anderen eben auch die Episteme, 21 wie Michel Foucault, verkürzt gesagt, die Bedingung zur Wahrheitsfähigkeit von Diskursen nennt. Sie teilen mit anderen Körpern also das gleiche kulturelle Wissen, das jeder allerdings individuell prozessiert. Knorr Cetina nennt dieses Wissen auch »tacit knowledge« 22, das zunächst unausgesprochen bleibt, aber anhand von in Fragestellungen formulierten Erkenntnisinteressen mitgeteilt werden muss. – Das verstehe ich nicht ganz. – Im Denkraum Labor treffen zwar in den Körpern die gleichen kulturellen Erfahrungen und Wissensweisen aufeinander. Wie die Akteure mit diesen aber umgehen, ist dem einzelnen Subjekt vorbehalten. Dieser individuelle Umgang mit dem im Körper verorteten, bislang verschwiegenen Wissen wird erst mitteilbar, wenn es in Sprache gefasst werden soll. Die Frage ist nicht, ob dieses stumme Wissen überhaupt gesagt werden kann, sondern, welche Verhandlungen die am Labor Beteiligten anstrengen, um dieses mitzuteilen. Diese Mitteilungsabsichten, Korrespondenzen oder Kommunikationsversuche situieren Wissen am Ort des Labors. – Heißt: Forschung wird erst zum Labor, zu einem Ort, zu einem Denkraum, wenn dieser gemeinsam von mehreren Menschen in der beständigen Umformulierung von Fragen geteilt wird. – Ein Beispiel: Für den Tanzkongress habe ich ein Labor angeregt, das über drei Tage Fragen der Wissensproduktion untersuchen sollte. Neben mir waren daran Karin Knorr Cetina, Franz Anton Cramer, Tino Sehgal, Christine Standfest und Christina Thurner beteiligt. Wir wollten die »epistemologischen Grundlagen und diskursiven Bedingungen, unter welchen die weiteren Kongressmodule Wissen schaffen und präsentieren sollten« 23, diskutieren. 20 | Vgl. Knorr Cetina: Wissenskulturen, a.a.O., S. 138f. 21 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 24, sowie ders.: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer 1998, S. 15ff., und Pravu Mazumdar: Foucault, München: DTV 2001, S. 533. 22 | Knorr Cetina: Wissenskulturen, a.a.O., S. 144. 23 | Zitiert nach einer Veranstaltungsankündigung des Labors Sans Papiers im Handout des Tanzkongresses.

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SANS PAPIERS , TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Als Real-Time-Arbeitsformat hatte es den zugegeben nicht ganz unproblematischen Titel Sans Papiers. Mich hat für dieses Arbeitsformat nun ein Sprechen interessiert, das im Wortsinne ›ohne Papier‹, ohne schriftliche Referenzen, ohne Absicherung durch Fußnoten auskommen sollte. Das war umso schwieriger, weil das gemeinsame Denken im Labor in jeder Minute öffentlich war. Wir sechs saßen an einem Tisch, während die Zuhörer an der Wand platziert waren und lauschten. – Das Auditorium durfte nicht mitdiskutieren? Hat es eure Ausführungen dann nicht gleich als eine Art Aufführung, als Performance wahrgenommen? – Eine der beiden Grundvereinbarungen von Sans Papiers war, dass die Gruppe ausschließlich untereinander kommuniziert. Dass darüber der Eindruck einer Performance entstehen konnte, ist möglich. Eine Performance allerdings, die voll und ganz improvisiert war, die allein durch das von den Eingeladenen verkörperte Wissen, deren tacit knowledge also, gefüttert wurde. Diese Trennung in Sprecher und Zuhörer hatte allerdings noch einen anderen Effekt. Die Zuhörer haben uns dabei beobachtet, wie wir uns unseren Gedanken angenähert haben. Ihre Blicke haben das Setup des Formats gewissermaßen laboratorisiert, weil sie, Wissenschaftlern gleich, uns in unseren Aushandlungen beobachtet haben. – Und damit die Redebeiträge am Tisch, das erkenntnistheoretische Suchen und Versuchen selbst als epistemischen Gegenstand begriffen, über welchen Wissen sichtbar wird. Was war die zweite Grundvereinbarung? – Eben unser buchstäbliches Sprechen ohne Papier. Auf dem Tisch lag tatsächlich kein einziges Papier, niemand sollte sich Notizen machen können und auf diese als Erinnerungsstütze zurückgreifen können. Unser Untersuchungsgegenstand, wenn man so will, war zwar der Kongress, dessen grundlegende Wissensannahmen und seine »images

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of knowledge« 24 , die sich darin reflektierten. Aber gleichzeitig hatten wir uns keine Untersuchungsmethode zurechtgelegt, wie wir diesen Gegenstand untersuchen wollten – bis auf ein Sprechen, dessen Regeln innerhalb der Gruppe im Sprechen selbst ausgehandelt wurden: Wie sprechen wir miteinander? Auf welche Weise adressiere ich den anderen? Was sind meine Fragen an ihn? Das ist die eigentliche Ethik des Gesprächs miteinander, in diesem sozialen Umgang entwirft sich die Methodologie von Forschung. – Ich verstehe das so, dass die Verbindung von Ästhetischem und Ethischem, von Wahrgenommenem und Zur-SpracheKommendem, nicht länger einer Beschreibung geschuldet war, indem ihr euch etwa einen Sachverhalt angesehen und versucht habt, ihn genau darzustellen, sondern dass euer Sprechen selbst diesen Sachverhalt bildete. – Indem wir das Labor gesprochen haben, haben wir implizit über es gesprochen, über seine Wissensweisen, Erkenntnisstrategien, eben in der epistemischen Kultur, in der wir uns bewegten. – Das klingt in meinen Ohren ein wenig nach einer merkwürdigen Dreingabe der Referenzfunktion von Sprache. Kennst Du Jonathan Swifts Satire über die Wissenschaft in »Gullivers Reisen«? Im dritten Buch besucht Gulliver die große Akademie von Lagado. Dort trifft er auf Wissenschaftler, die die Sprache abschaffen wollen, weil diese lediglich Wörter für Dinge bereitstelle und es daher für die Kommunikation förderlicher sei, die Dinge selbst mit sich herumzutragen, die Wörter also durch die Dinge zu ersetzen. Swift beschreibt spöttisch, wie Gulliver zwei Weise in den Straßen der Insel angetroffen habe, die unter dem Gewicht ihrer Wortpakete fast erdrückt worden wären. Denn je mehr jemand weiß, je mehr er zu sagen hat, umso größer ist die Last, die er mit sich herumschleppen muss. – Die Akademie ist eine Forschungseinrichtung, die daran arbeitet, das Leben nicht leichter, sondern buchstäblich schwerer zu machen? – Genau. Mit jedem Buchstaben mehr erhöht sich das Gewicht der Wortdinge, die Last der Wörter. Bei SANS PAPIERS habt ihr, scheint mir, die Wörter nun herumgetragen, als seien sie Dinge, die vor Ort ihr Gewicht entwickelt haben. Ein Gewicht der Wörter, unter dem die Nutzer ins Schwanken kommen, hin- und herschwanken und zu diskurrieren beginnen. – Der etymologische Ursprung des Wortes Laboratorium, abgeleitet vom Lateinischen laborare, bedeutet ja auch tatsächlich ›unter einer schweren Last schwanken‹. Wie viele schwankende Meter dieses Metalogs haben wir nun bewältigt bei der Befragung der Ausgangsfrage ›Was ist ein künstlerisches Labor?‹ – Ich denke, wir sind ein ziemliches Stück vorangekommen. Wir haben uns mit dem Metalog eine Methodologie ausgehandelt, die einerseits den Dialog als Prozess der Wissensschaffung ernst nimmt, andererseits den Dialog als Wissensformat selbst in den Blick nimmt. Und im dialogischen Driften, 24 | Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 19.

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ganz dem Serendipity-Prinzip vertrauend, in unserer diskursiven Abdrift des erkenntnistheoretischen Zufalls, über den kleinen Umweg zum Ethischen als Aushandlung von sozialen Protokollen, sind wir unbemerkt auf einen neuen Arbeitsbegriff gestoßen, der anscheinend im Labor am Werk ist. Eine Arbeit nämlich, die weniger auf Produktivität abzielt, als vielmehr auf deren Aufschub setzt. – Du meinst, weil es bei Sans Papiers keine verwertbaren Ergebnisse gegeben hat, die man hätte aufschreiben können? Gerade weil das Labor als Arbeitsformat zwar das Feld des Wissens beackert, diesem aber keine Ernte abgewinnt? – Es scheint doch so zu sein, dass die Relation von In- und Output, die als Gradmesser für ökonomische Arbeitseffizienz herangezogen wird, nicht auf dieses Format zu übertragen ist. Während Produktivität im volks- und betriebswirtschaftlichen Diskurs die Herstellung von Mehrwerten meint, erscheint im Labor Wissensarbeit dann gerade als produktiv, wenn sie lediglich auf ihren eigenen Gebrauchswert setzt. – Also auf ein Wissen, das gerade anfällt und für den Denkmoment relevant ist. – Und der Erfolg dieser Arbeitsprozesse lässt sich nicht länger an deren unmittelbarer Effizienz messen, sondern an ihren lang fristigen Auswirkungen. Er schiebt sich auf. Diese Verzögerung, für welche der Arbeitsforscher Manfred Füllsack den Begriff der »delayed productivity« 25 vorschlägt, setzt auf den Gedanken einer Investition, die sich erst zu einem unbekannten, viel späteren Zeitpunkt amortisiert. Nach dem Prinzip der »delayed productivity« basiert der Austausch im Labor auf künstlerischen, sozialen, kollaborativen Denkeinsätzen … – … deren Wissensakkumulation gerade nicht kalkuliert werden kann, um in Deinem Jargon zu bleiben. Ein Labor wäre also ein Ort, an dem auf immer neue Weise Wissen produziert wird, wobei man die methodische Fragestellung ständig umformulieren muss, um Wissenszufall zu ermöglichen, aber wenn man etwas Wissenswertes gefunden haben könnte, wissen die Beteiligten selbst nichts davon. – Oder um es anders zu sagen: Das Labor ist praktisch nicht anderes als ein um sich kreisender, sich kreißender Metalog …

25 | Vgl. Manfred Füllsack: Delayed Productivity. Erkundungen zur Zeitlichkeit ›produktiver Arbeit‹, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript 2007. Vgl. auch ders.: Zuviel Wissen? Zur Wertschätzung von Arbeit und Wissen in der Moderne, Berlin: Avinus 2006, S. 307ff.

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Literaturverzeichnis Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Elkana, Yehuda: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer 1998. Füllsack, Manfred: Delayed Productivity. Erkundungen zur Zeitlichkeit ›produktiver Arbeit‹, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript 2007. Füllsack, Manfred: Zuviel Wissen? Zur Wertschätzung von Arbeit und Wissen in der Moderne, Berlin: Avinus 2006. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York: Campus 1995. Knorr Cetina, Karin: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Mazumdar, Pravu: Foucault, München: DTV 2001. Obrist, Hans Ulrich/Vanderlinden, Barbara (Hg.): Laboratorium, Antwerpen: DuMont 2001.

Internetquellen www.e-text.org/text/Platon%20-%20Theaitetos.pdf. www.insituproductions.net/_eng/framesetl.html.

Künstlerische Forschung

Proben zu WHERE DOES THE LIGHT GO Lissabon 2007, Foto: João Fiadeiro

WHEN IT ’S GONE

von João Fiadeiro,

Der Modus der Wissensproduktion in der künstlerischen Forschung Henk Borgdorff

An den Hochschulen und in der Forschung gilt nach wie vor das Standardmodell der wissenschaftlichen Forschung, welches zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und experimenteller Entwicklung unterscheidet. Dieses dient auch als Grundlage für statistische Vergleiche staatlicher Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, wie sie z.B. von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) getätigt und im »Frascati Manual«1 abgegrenzt werden. Dieser Unterscheidung in drei Kategorien begegnet man auch (immer in der gleichen Rangordnung) in den Leitlinien nationaler und supranationaler Forschungsinstitutionen, welche die Forschungsqualität überwachen. So fühlt sich z.B. die League of European Research Universities »[…] der Schaffung neuen Wissens durch Grundlagenforschung, welche die ultimative gesellschaftliche Innovationsquelle darstellt, verpflichtet«.2 Die Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences erklärt in ihren Leitlinien (um »die Qualität der wissenschaftlichen Forschung in den Niederlanden zu gewährleisten«), dass »die Grundlagenforschung von heute die Basis für die angewandte Forschung von morgen und damit für die praktische Anwendung der Wissenschaft in der Zukunft ist«.3 Auch die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften widmet der Unterstützung und Koordinierung der Grundlagenforschung besondere Aufmerksamkeit. 4 1 | OECD: Frascati Manual – Proposed Standard Praxis for Surveys on Research and Experimental Development, Paris: OECD 2002. 2 | www.leru.org vom 10. März 2007. 3 | www.knaw.nl vom 10. März 2007. 4 | »Das Hauptziel der Akademien, die sich in einer ständigen Konferenz

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Das im »Frascati Manual« beschriebene Standardmodell wird immer wieder von verschiedenen Seiten kritisiert. Die Forschung zur Wissenschaftsgeschichte und -politik hat gezeigt, dass die heute für technologischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum relevanten Faktoren komplexer und vielfältiger sind, als das Standardmodell uns glauben machen möchte. Die intellektuelle und soziale Organisation der Wissenschaften im frühen 21. Jahrhundert ist ebenfalls durch ein hohes Maß an Diversifizierung gekennzeichnet: Verschiedene Wissenstypen werden in unterschiedlichen spezifischen Kontexten generiert.5 In ihrem Werk »The New Production of Knowledge« 6 von 1994 entfachten Michael Gibbons und seine Koautoren mit ihrem Vorschlag zur Neufassung dieses Standardforschungsmodells eine lebhafte Debatte. Sie führten darin aus, dass die »Mode 1-Wissenschaft« zunehmend einer »Mode 2-Wissensproduktion« weichen müsse. Mode 1 bezieht sich auf traditionelle, disziplingebundene Forschung, die in akademischen Kontexten vorwiegend an Universitäten stattfindet; sie zeichnet sich durch organisatorische Homogenität, Einheitlichkeit und Stabilität aus. Die Qualität der Mode 1-Forschung, die sich hauptsächlich mit der Wahrheitsfindung und Begründung von Überzeugungen beschäftigt, wird im Rahmen der einzelnen Disziplinen über ein Peer-Review-System bewertet und kontrolliert, wobei überwiegend einzelne Beiträge von Kollegen bewertet werden, denen man aufgrund ihrer eigenen wertvollen Beiträge die Fähigkeit zur Beurteilung von Qualität zuspricht. Mode 2-Forschung soll dagegen im »Kontext der Anwendung« stattfinden. Sie ist interdisziplinär oder transdisziplinär und bindet sowohl Wissenschaftler als auch andere Akteure ein. Sie wird nicht in homogenen, einheitlich strukturierten Hochschulen betrieben, sondern eher in heterogenen, diversifizierten, oftmals temporären Konstellationen, die sich aus Hochschulen, Regierungsstellen, industriellen Forschungszentren, Nichtregierungsorganisationen und anderen Akteuren, die sich mit einer bestimmten Problematik beschäftigen, zusammensetzen. Es wird organisiert haben, ist, ihre Aktivitäten vor allem im Bereich der Grundlagenforschung zu koordinieren.« (Website der European Science Foundation, www.esf.org vom 4. März 2007) 5 | Vgl. Richard Whitley: The Intellectual and Social Organisation of the Sciences, Oxford/New York: Oxford University Press 2000, S. ix. 6 | Michael Gibbons/Camille Limoges/Helga Nowotny (Hg.): The New Production of Knowledge – The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 1994. Vgl. auch die Folgearbeiten zu diesem Werk: Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons (Hg.): Re-Thinking Science – Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge, UK: Polity Press 2001, sowie dies. (Hg.): »›Mode 2‹ Revisited: The New Production of Knowledge«, in: Minerva 41 (2003), S. 179–194.

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besonders darauf geachtet, ob die Ergebnisse sozial, wirtschaftlich oder politisch relevant sowie wettbewerbsfähig und anwendbar sind. Die Qualität der Forschung wird von den Beteiligten bewertet und kontrolliert. Forschungsfragen, -schwerpunkte und -ergebnisse werden sowohl von den peers des jeweiligen Fachbereichs als auch von anderen Interessierten kritisch begutachtet. Dieser umfassende Peer Review ist eine der Haupteigenschaften der Mode 2-Wissensproduktion, in Verbindung mit dem Gebot der sozialen Robustheit und Reflexivität, der organisatorischen Vielfalt und problemorientierter, interdisziplinärer Teamarbeit. Das »Frascati Manual« definiert sechs Wissenschaftsfelder: Naturwissenschaften, Technik und Technologie, Medizinwissenschaften, Agrarwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften. Die ersten fünf Gebiete beherrschen den Wissenschaftsdiskurs. Gibbons und seine Koautoren berücksichtigten zwar die Stellung und Rolle der Geisteswissenschaften im akademischen System, sie konzentrierten sich aber hauptsächlich auf neue Entwicklungen in Bereichen wie Biomedizin, Informationstechnologie und Umweltschutz. Dies erschwert die Aussage darüber, ob – und wenn ja: wie – die künstlerische Forschung im Bereich der ›Wissensproduktion‹ angesiedelt werden kann. Die zunehmende institutionelle und intellektuelle Autonomie der wissenschaftlichen Forschung gegenüber der akademischen Forschung in den Geisteswissenschaften7 hat den Gegensatz zwischen ›wissenschaftlichem‹ Wissen und anderen Wissens- und Verständnisarten verschärft, was Vergleiche immer schwieriger macht. Die künstlerische Forschung steht erst am Anfang ihrer ›akademischen Karriere‹ und findet zu einem großen Teil immer noch in Kunsthochschulen statt, die organisatorisch und intellektuell vom Rest der akademischen und universitären Welt eher isoliert sind. Außerdem hat sich die künstlerische Forschung durch ihren Anspruch, einen einzigartigen Forschungsgegenstand, eine besondere Art von verkörpertem Wissen und einen speziellen methodologischen Rahmen8 zu besitzen, von Anfang an aus der Diskussion herausgehalten. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sich die künstlerische Forschung nicht einmal ohne Weiteres in die von Gibbons vorgeschlagene Mode 1/Mode 2-Dichotomie der Wissensproduktion einfügt. Mit ein wenig gutem Willen lässt sich die künstlerische Forschung entweder im traditionellen akademischen Mode-1-Forschungsrahmen verstehen oder als Paradebeispiel für Mode-2-›Wissensproduktion‹ – je nachdem, welche 7 | Vgl. Richard Whitley: The Intellectual and Social Organisation of the Sciences, a.a.O., S. 278. Whitley stellt hier die »wissenschaftliche« Forschung – die in zunehmendem Maße in autonomen Forschungsinstituten betrieben wird – der »akademischen« Forschung an Hochschulen gegenüber. 8 | Vgl. Henk Borgdorff: »The Debate on Research in the Arts«, in: Dutch Journal of Music Theory 12, 1 (Januar 2007), S. 1–17.

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Forschungsthemen, -fragen, -ziele und -methoden ausgewählt wurden. Im Folgenden werde ich untersuchen, inwieweit die fünf Merkmale der Mode 2-Wissensproduktion – Anwendungskontext, transdisziplinäre Ausrichtung, Heterogenität und Vielfalt, Verantwortlichkeit und Reflexion sowie ›umfassender Peer Review‹ – auf die künstlerische Forschung passen könnten. Aufgrund ihrer engen Verbindungen zur Kunstwelt und Kunstkritik ist die künstlerische Forschung nicht primär eine akademische (universitäre) Angelegenheit; sie findet vielmehr in einem Umfeld statt, das Gibbons in seiner Beschreibung von Mode 2 den »Kontext der Anwendung« nennt. Die Auswahl der Forschungsfragen und -themen, der Methoden und Dokumentations- und Kommunikationsmittel basiert oftmals auf Beweggründen, die innerhalb der Kunstpraxis – einer Praxis, die, da sie die Ebenen des Wissens, der Moral (Politik), der Schönheit und des täglichen Lebens durchschneidet, über eine eigene Dynamik und Logik verfügt, die sich nicht in traditionelle akademische Strukturen zwängen lässt – als legitim angesehen werden mögen. Nichtsdestotrotz kann künstlerische Forschung sehr wohl als rein disziplingebundene, experimentelle Forschung von ästhetischen und formellen Qualitäten und universellen Ordnungen von Elementen, die ein Kunstwerk oder einen künstlerischen Prozess bilden, angesehen werden. Ein Beispiel ist die Materialforschung, aber auch die abstrakteren Forschungspraktiken in traditionellen Bereichen wie der elementaren Kunst (fundamental art), dem experimentellen Theater und der elektronischen Musik sind hier zu nennen. Wenn multidisziplinäre Forschung als Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen bei der Behandlung eines bestimmten Themas zu verstehen ist – wobei die theoretischen Prämissen und Arbeitsmethoden der jeweiligen Disziplinen erhalten bleiben (ein typisches Merkmal vieler Kunst-Wissenschafts-Kooperationen) –, dann zeichnet sich interdisziplinäre oder transdisziplinäre Forschung bei der Beschäftigung mit forschungsrelevanten Fragen, die in hoch spezifischen lokalen Kontexten entstehen, durch eine gewisse gegenseitige Durchdringung in der Praxis, Theorie und Methodik aus. Insbesondere die Art der künstlerischen Forschung, die das ästhetische Projekt und den kreativen Prozess mit allgemeineren Fragen und Themen (z.B. Globalisierung, Identität, Gender oder Medialität, um nur einige zu nennen) verbindet, kann als transdisziplinäre Forschung eingestuft werden, wenn die in der künstlerischen Arbeit erreichte Synthese hinsichtlich der Konzeption und Wahrnehmung den Ergebnissen einer disziplingebundenen Herangehensweise etwas Neues hinzufügen kann oder sich von diesen unterscheidet. Die Wesensmerkmale einer derartigen transdisziplinären Forschung sind die Preisgabe der ureigenen (epistemologischen oder ästhetischen) Wissenschaftsgrundlage (die es so ohnehin nicht gab), die kontinuierliche Anpassung des rekursiven Forschungs-

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verfahrens auf Basis des Inputs von den verschiedenen Tätigkeitsfeldern sowie ein gewisses Maß an Pragmatismus und Vielfalt bei der Auswahl der Konzepte und Methoden. Mit der Schaffung von Bildern, Klängen, Erzählungen und Erfahrungen liefert die Forschung kontextbezogene Einsichten und Einblicke in die von ihr gestreiften Lebensbereiche. Doch wie bereits erwähnt, hat auch die intradisziplinäre Forschung (Forschung, die sich innerhalb eines von einem bestimmten Wissenschaftsfeld definierten Rahmens bewegt) ihren festen Stellenwert im Bereich der Kunst. So kann und will die Forschung durch die Aufführungspraxis über die Aufführungspraxis historischer Musik oder die choreographische Forschung in und über bestimmte Bewegungspotenziale oftmals nicht als disziplinenübergreifende Forschung verstanden werden. Daher ist die Transdisziplinarität, das zweite Merkmal der Mode 2-Wissensproduktion, nicht gänzlich mit unserem Verständnis der künstlerischen Forschung vereinbar. Die bemerkenswerte Zunahme der Partnerschaften zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, Künstlern und zivilgesellschaftlichen Organisationen bzw. Gemeinschaften, Künstlern und Unternehmen scheint auf eine heterogene, diversifizierte Ordnung der künstlerischen Forschung hinzudeuten. Forschung findet nicht mehr ausschließlich in Ateliers, Proberäumen und Arbeitsstätten statt, sondern auch ›vor Ort‹ – also dort, wo ein Partnerschaftsprojekt seinen Anfang nahm. Auch ein Großteil der Forschungsergebnisse wird jenseits der Theater, Konzertsäle und Museen in Umlauf gebracht. Dennoch sind Heterogenität und organisatorische Vielfalt noch keinesfalls Wesensmerkmale der künstlerischen Forschung. Die Schaffung und der Transfer von Wissen und Ergebnissen, die der künstlerischen Forschung zugerechnet werden, findet nach wie vor in Umgebungen statt, die für Künstler geschaffen bzw. eingerichtet wurden – also in Ateliers, Theatern, Filmhäusern, Konzertstätten, Auftrittsstätten und Galerien, die sich trotz aller Unterschiede durch eine gewisse organisatorische Homogenität und Ähnlichkeit auszeichnen. Es gibt natürlich auch ›alternative Anbieter‹: kreative Arbeitsräume, informelle Kunsträume und -organisationen, Off-Stätten und sonstige Veranstaltungsorte. Derartige Organisationen und Veranstaltungsorte am Rande der Kunstwelt bilden die Grenze zum Mainstream. Die institutionellen und gesellschaftlichen Abgrenzungen zwischen künstlerischer Praxis, wissenschaftlicher Praxis und moralischer Praxis, die sich im 18. Jahrhundert herausbildeten, sind auch heute noch sichtbar in Form von relativer Homogenität und Gleichartigkeit der Organisationen und Räume, wo diese Praktiken zum Tragen kommen. Soziale Verantwortlichkeit und Reflexivität – d.h. ein Wissen über die Auswirkungen, welche die Forschung auf die Öffentlichkeit hat (oder haben könnte), sowie das entsprechende Feedback, welches die Wahl des Forschungsthemas und die Forschungsrichtung, die Interpretation und Weitergabe der Ergebnisse beeinflussen könnte – sind

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weitere Merkmale des von Gibbons und seinen Koautoren mit Mode 2 bezeichneten Forschungstyps. Wenn das Ziel (um mit Karl Marx zu sprechen) nicht nur darin besteht, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, dann wird die Forschungsagenda nicht nur von den sich innerhalb einer Disziplin stellenden Herausforderungen, sondern auch von den Bedürfnissen der Umgebungskontexte bestimmt. Doch die Agenda der künstlerischen Forschung scheint dieser Art von Verantwortlichkeit und Reflexivität zuwiderzulaufen. Kunst nimmt oftmals eine antithetische Haltung gegenüber der existierenden Welt ein und liefert das Unverlangte und Unerwartete. Das ist zugleich ihre eigentliche Stärke. Gleichzeitig sind Engagement und Reflexivität untrennbar mit der Produktion von Kunst verbunden – jedoch nicht im Sinne von Angebot und Nachfrage, sondern in der Vermittlung einer ›Erzählung‹ in der Materialität des Mediums, welche als Kommentar zur existierenden Welt und als Fenster zum Anderen, zum Unbekannten verstanden werden kann. Das gilt sowohl für das Sprechtheater wie auch für die abstraktesten Formen der Musik. Die darstellende, weltkonstituierende und welterschließende Kraft der Kunst liegt in ihrer Fähigkeit begründet, uns neue Ausblicke, Erfahrungen und Einblicke bezüglich unseres Verhältnisses zur Welt und zu uns selbst zu eröffnen. Was die Bewertung der Qualität in der künstlerischen Forschung angeht, so können wir Folgendes beobachten: Parallel zur Welt der Wissenschaft, welche den Peer Review zur Grundlage ihrer Qualitätskontrolle macht, führt auch die Kunstwelt ihre eigene Form des Peer Review durch. Die bedeutende Rolle, die heute von Mittlern wie Kuratoren, Programmgestaltern und Kritikern eingenommen wird, könnte uns den Blick darauf verstellen, dass auch die Künstler selbst dem ›Forum von Gleichen‹ angehören, welches entscheidet, was zählt und was nicht, was Qualität besitzt und was nicht. Wie wir gesehen haben, unterliegt die Mode 2-Forschung einem ›umfassenden‹ Peer Review, d.h. der Wert und die Qualität der Forschung wird von Teilhabern am Forschungsprozess beurteilt. In gewissem Maße gilt dies auch für die künstlerische Forschung, allerdings vor allem dann, wenn eine Kooperation mit anderen Akteuren stattfindet oder die Forschung im Dienst oder Auftrag Dritter durchgeführt wird. Bei Aktivitäten wie der Dissertationsforschung geht die Tendenz dahin, sowohl Wissenschaftler als auch Künstler in die Evaluierung der künstlerischen Forschung einzubinden, da sie sich bereits hinreichend qualifiziert haben, um die forschungsbegleitende, diskursive Praxis zu beurteilen. Es ist jedoch nicht angebracht, hier diese Art des ›umfassenden‹ Peer Review zu diskutieren. Im Großen und Ganzen wird die Qualität der künstlerischen Forschung vom Kunstbereich selbst beurteilt, wie dies auch bei Mode 1 der Fall ist. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Künstler hierzu oft andere Kanäle als akademische Artikel in renommierten Zeitschriften verwenden.

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Die fünf Hauptmerkmale der Mode 2-Wissensproduktion – Anwendungskontext, transdisziplinäre Ausrichtung, Heterogenität und Vielfalt, Verantwortlichkeit und Reflexivität sowie ›umfassender Peer Review‹ – sind von daher nur manchmal auf die künstlerische Forschung anwendbar – meistens allerdings gar nicht oder nur teilweise. Was können wir daraus lernen? Einerseits könnte es das Argument stützen, dass die künstlerische ›Forschung‹ aus gutem Grund im »Frascati Manual« unberücksichtigt blieb.9 Wenn sie sich wirklich so sehr von der Mode 2-Forschung (und auch von der Mode 1-Forschung) unterscheidet, dann wäre die Frage berechtigt, ob es sich hier überhaupt um Forschung im eigentlichen Sinne des Wortes handelt. Sie findet in einem grundlegend anderen Kontext statt – dem Kontext der Kunstwelt, und nicht etwa dem der Wissenschaft oder Technik. Die akademische Forschung über die Kunst (wie sie von den mittlerweile gut etablierten geisteswissenschaftlichen Disziplinen praktiziert wird) ist zweifellos eine beachtliche Sache. Andererseits käme niemand auf die Idee, Sport oder Politik per se den Status von Forschungsaktivitäten zuzuerkennen, auch wenn Sportund Politikwissenschaften ihren jeweiligen Stellenwert innerhalb des Hochschulsystems haben. Das sollte entsprechend auch für die Kunst gelten, ungeachtet dessen, wie reflexiv oder explorativ ihre Praktiken auch sein mögen. Dementsprechend böte weder der interdisziplinäre oder transdisziplinäre Charakter der künstlerischen Praxis, noch ihre organisatorische Vielfalt, ihr Engagement für andere Lebensbereiche oder ihre Qualitätsbewertungsverfahren ausreichend Grundlage dafür, die ›künstlerische Forschung‹ auf die Ebene der akademischen oder wissenschaftlichen Forschung zu heben. Es kann jedoch auch eine gegenteilige Schlussfolgerung gezogen werden. Der sui-generis-Charakter der künstlerischen Forschungspraxis kann auch in dem Sinne verstanden werden, dass er einen kritischen Blick auf die von Gibbons erstellte Dichotomie zwischen Mode 1 und Mode 2 wirft. Diese Dichotomie wurde bereits von verschiedenen Seiten als übermäßig starr kritisiert,10 da sie den mannigfaltigen Methoden, mit denen Wissen und Einsichten in den verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsbereichen definiert, generiert und verbreitet werden, nicht gerecht wird. Die Unterschiede zwischen akademischen Disziplinen wie Biotechnologie, Wirtschaftswissenschaften, Historiographie und Recht sind im Hinblick auf Epistemologie, Methodologie, Eigendynamik und soziale Organisation so groß, dass es schwierig ist, dort von Mode 1- oder Mode 29 | Künstlerische Forschung wird ausdrücklich aus der Verteilerliste der Wissenschafts- und Technologiefelder im »Frascati Manual« herausgenommen. Vgl. OECD: Frascati Manual, a.a.O., S. 67. 10 | Vgl. z.B. Richard Whitley: The Intellectual and Social Organisation of the Sciences, a.a.O., S. 278.

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Forschung zu sprechen. Vor diesem Hintergrund ist der Unterschied zwischen der Praxis der künstlerischen Forschung und der Praxis der Labore oder kulturellen Historiographie nicht größer als der zwischen kultureller Historiographie und Ökonometrie oder Architektur. Es gibt daher keinen guten Grund, die künstlerische Forschung vom weiten Feld der akademischen und technologischen Anstrengungen oder der Forschung und Entwicklung im Sinne des »Frascati Manuals« auszuschließen. Auch wenn es nicht immer einfach zu bewerkstelligen sein mag, die künstlerische Forschung in bestehende disziplinäre oder akademische Strukturen einzupassen, können ihr unverwechselbarer ontologischer, epistemologischer und methodologischer Rahmen, ihre soziale und intellektuelle Organisation und ihre spezifischen Formen des Engagements, der Talentförderung und Qualitätskontrolle doch ausnahmslos dazu genutzt werden, um zu zeigen, was akademische Forschung potenziell auch sein könnte: eine sorgfältige und einfühlsame Untersuchung, Erforschung und Mobilisierung aller auf- und miteinander wirkenden emotionalen und kognitiven Vermögenspotenziale des menschlichen Geistes und seiner künstlerischen Produkte. Folglich ist die künstlerische Forschung auf ihrer Suche nach grundlegendem Verständnis gleichermaßen geeignet, unsere Sichtweisen zu erweitern und unseren Geist zu bereichern, da sie unserer Welt neue Bilder, Erzählungen, Klänge und Erfahrungen schenkt. Übersetzung aus dem Englischen

Literaturverzeichnis Borgdorff, Henk: »The Debate on Research in the Arts«, in: Dutch Journal of Music Theory 12, 1 (Januar 2007), S. 1–17. Gibbons, Michael/Limoges, Camille/Nowotny, Helga (Hg.): The New Production of Knowledge – The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 1994. OECD: Frascati Manual – Proposed Standard Praxis for Surveys on Research and Experimental Development, Paris: OECD 2002. Whitley, Richard: The Intellectual and Social Organisation of the Sciences, Oxford/New York: Oxford University Press 2000.

Internetquellen www.esf.org. www.knaw.nl. www.leru.org.

Künstlerische Forschung als erweiterte choreographische Praxis am Beispiel von Emio Greco|PC Marijke Hoogenboom

Seit etwa fünf Jahren gibt es in den Niederlanden eine interessante bildungspolitische Entwicklung, die sich hoffentlich nicht nur positiv auf Akademien und Kunsthochschulen auswirken wird, sondern insbesondere auch auf die Kunst und Kunstschaffenden selbst. Neben dem herkömmlichen Lehrbetrieb werden eine Reihe von so genannten »Research Groups« (oder im Niederländischen: lectorate) gefördert, die den ausdrücklichen Auftrag haben, die bestehende Ausbildungspraxis an den Kunsthochschulen durch aktuelle künstlerische Forschungsprojekte zu erweitern und zu erneuern. Bei den so entstandenen Initiativen – und insbesondere bei der Arbeit meiner eigenen Gruppe »Art Practice and Development« – handelt es sich demnach keineswegs um die Imitation tradierter Wissenschaftsmodelle, sondern es wird eine Vielzahl von Künstlern eingeladen, ihre praktischen Vorschläge an der Amsterdamer Kunsthochschule weiterzuentwickeln und ihre partikularen Methoden zu erproben.1 Es lässt sich nicht verheimlichen, dass diese neuen Möglichkeiten für künstlerische Forschungsprojekte keineswegs von den Kunstschaffenden selber initiiert oder gar eingefordert wurden. Bei den lectoraten handelt sich ausschließlich um eine staatliche Intervention, die in den Niederlanden vor etwa fünf Jahren eingesetzt hat. (Und übrigens nicht 1 | Die Arbeitsgruppe »Art Practice and Development« wurde Ende 2003 ins Leben gerufen und operiert seitdem fakultätsübergreifend und mit fließenden Grenzen zwischen Hochschule und professionellem Umfeld. Zur Organisationsform gehören neben individuellen Forschungsvorhaben auch ein »Artist-inResidence«-Programm und eine Vielzahl von Kooperationen mit Spielstätten, Festivals und Fachbereichen. Vgl. www.lectoraten.ahk.nl vom 25. März 2007.

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nur in den Niederlanden – auch Flandern kennt einen starken Akademisierungsprozess und in der Schweiz wird öffentliche Förderpolitik inzwischen ganz massiv an den Begriff Forschung geknüpft.) 2 Der Hintergrund ist eine bedenkliche Entwicklung an Kunst- und Fachhochschulen, die sich mehr und mehr über den aktuellen Arbeitsmarkt definieren und sich mit ihrem anwendungsorientierten Lehrangebot allzu sehr dem konkreten Job-Training verpflichtet fühlen. Das heißt beispielsweise im Bereich des Theaters, dass sich Studiengänge wie Regie, Schauspiel, Tanz, aber auch die Dramaturgie auf tradierte Berufsbilder festlegen und kaum noch zu zeitgenössischen Entwicklungen beitragen oder gar innovative Kunstformen provozieren. Grundlage ist das, was bereits seinen Nutzen erwiesen hat und daher zum allgemein akzeptierten Wissenskanon gehört, um einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Disziplin in bekannten Zusammenhängen ausüben zu können. Im schlimmsten Falle ist dann bei der Beurteilung studentischer Kompetenz ausschließlich noch von Berufspraxis und nicht mehr von Kunstpraxis die Rede – ein kleiner Unterschied, der mir im Hinblick auf eine Umdeutung künstlerischer Hochschulbildung durchaus wesentlich erscheint.3 Für das Ministerium für Erziehung und Wissenschaft stellte sich diese Entwicklung vor allem problematisch dar, weil – sich damit im binären holländischen Bildungswesen (also die strikte Trennung von Universität einerseits und Kunst- und Fachhochschule andererseits) der Abstand zum akademischen Diskurs erschreckend vergrößert hat; – Kunst- und Fachhochschulen möglicherweise nicht dem vom »Bologna-Abkommen« auferlegten, qualitativen Vergleich innerhalb Europas standhalten werden; – sich der öffentliche Lehrauftrag schlichtweg auf herrschende professionelle Betriebssysteme begrenzt und nur unwesentlich zu gesellschaftlichen Erneuerungen beiträgt. Man signalisierte eine regelrechte Erstarrung der Ausbildungspraxis, eine unzureichende Anbindung an die aktuelle Kunstwelt, die weit2 | Die prominentesten Institutionen in Flandern sind das IvOK (Institute for Practice Based Research in the Arts) an der K.U. Leuven und die »Arts Platform« der Universitaire Associatie in Brüssel. Vgl. http://associatie.kuleuven. be/eng/ivok/index.htm vom 25. März 2007 und www.vub.ac.be/english/infoabout/associatie/platform.html vom 25. März 2007. 3 | Eine immer noch sehr aktuelle Auseinandersetzung mit neuen Ansätzen künstlerischer Hochschulbildung hat Ute Meta Bauer zusammengestellt: Ute Meta Bauer (Hg.): Education, Information, Entertainment. Neue Ansätze künstlerischer Hochschulbildung, Wien: edition selene 2001.

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gehende Isolation von internationalen Entwicklungen, aber auch die Entfremdung von einer sich dramatisch verändernden sozialen, ökonomischen und kulturellen Wirklichkeit. Entsprechend wurde das Ziel einer Forschungsoffensive sehr entschieden formuliert und als ›Innovationsmaschine‹ im dynamischen Miteinander von Unterricht, Forschung und Praxis angesiedelt (obwohl ich mich hier auf die Künste beschränke, bezieht sich diese Maßnahme selbstverständlich auch auf die gesamte Welt der Fachhochschulen und die verschiedensten Fachbereiche aus Technik, Wirtschaft, Pädagogik, Gesundheit, Medien etc.). 4 Damit setzten sich die Kunsthochschulen gezwungenermaßen einem umfassenden Upgrading aus und sind (auch ohne Promotionsrecht, das bleibt weiterhin den Universitäten vorbehalten) auf dem besten Wege, eine sehr spezifische Alternative zu entwickeln, die auch für den akademischen Betrieb langsam eine Herausforderung darstellt: Denn in der lebendigen Debatte um den Begriff der angewandten oder künstlerischen Forschung haben wir bisher bewusst nicht das angelsächsische Modell kopiert, sondern engagieren uns entschieden dafür, die Unterschiede der Ausbildungssysteme zu erhalten und gerade das Nebeneinander verschiedener Ansätze produktiv zu machen. Vor dem Hintergrund bestehender und allgemein akzeptierter Forschungsansätze werden einerseits die Art der Forschung (und ihr Verhältnis zur Kunst) und andererseits die Wissensinhalte (und ihre Andersartigkeit) problematisiert. Wann also, wird gefragt, gilt Kunstpraxis als Forschung? Und was ist dann das Objekt dieser Forschung – das Resultat oder der Prozess? Hat nicht alle Kunst – oder haben nicht alle kreativen Prozesse – Forschungsqualität? Muss dieser Prozess beispielsweise (wie in der Wissenschaft) systematisch, kontextuell eingebettet, methodologisch nachvollziehbar und überprüf bar sein? Und muss er durch Veröffentlichung (mit den Mitteln der Sprache) allgemein zugänglich gemacht werden? Oder tritt an die Stelle der Objektivierung gerade eine gewisse Subjektivierung, die durch die Erfahrung des handelnden Künstlers bedingt ist? Die Argumentation wiederholt sich bei der Wissensfrage. Wieder wird zwischen theoretischem und praktischem Wissen unterschieden, wobei das praktische Wissen Synonyme kennt wie embodied, tacit oder implicit knowledge. Ein Wissen also, das eine fundamental andere Art von Verstehen voraussetzt. Aber heißt das auch, dass sich diese Form der Erkenntnis nicht mit anderen Disziplinen vergleichen bzw. durch andere Ansätze ergänzen lässt? Sollte sich künstlerische Forschung 4 | Für eine Gesamtübersicht angewandter Forschungsprojekte an Fach- und Kunsthochschulen in den Niederlanden siehe www.lectoren.nl vom 25. März 2007.

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überhaupt auf eine Argumentation der Ausschließlichkeit (von Differenzen) einlassen? 5 Hat nicht gerade der Tanz (und insbesondere die improvisatorischen Tanzpraktiken der letzen 30 Jahre) die komplexe Dynamik von Körper und Geist, Theorie und Praxis thematisiert? So kommt der amerikanische Tänzer und Choreograph Steve Paxton immer wieder auf die Spannung zwischen dem bewussten Denken und dem sinnlichen Bewegen zurück: When we use body/mind we are just trying to deal with the fact that there seems not to be a word which contains both consciousness and all of sensation and the ability to move and create sensation or to move yourself and create sensations by the way you are dancing […] [Then] the mind can be seen as being partly consciousness and partly physical.6

Die Arbeitsgruppe »Art Practice and Development« beschäftigt sich ausdrücklich mit Fragen, Methoden und Themen, die Kunstschaffende selber an uns herantragen und mit der Möglichkeit der Forschung verbinden möchten. Wir gehen davon aus, dass Künstler schon lange eine eigene, äquivalente Form der Wissensproduktion betreiben, sich Forschungspraktiken angeeignet haben und man sie nicht unbedingt den Bedingungen des akademischen Wissenschaftsapparates aussetzen sollte. Vom ersten »Bureau de Recherche« der Surrealisten bis zu Peter Brook’s »Centre International de Recherche Theatrale« (CIRT), von Brechts Versuchen bis hin zu James Lee Byars’ World Question Center7 – es gab und gibt es eine lebendige Kunstforschung und das Bedürfnis von Künstlern, mehr über ihre eigene Praxis zu erfahren und ihre Erkenntnisse anderen zur Verfügung zu stellen. Künstlerische Forschung hat ihre eigene Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Entsprechend kam der Kulturkritiker Sarat Maharaj in einem ausführlichen Text über künstlerische Forschung zu der Schlussfolgerung: »Most of 5 | Mein Kollege Henk Borgdorff, der die Arbeitsgruppe »Art Theory and Research« an der Amsterdamer Kunsthochschule leitet, hat die internationale Debatte um künstlerische Forschung und den meta-theoretischen Diskurs sehr vollständig dargestellt. Vgl. www.ahk.nl/lectoraten/onderzoek/ debate.pdf vom 25. März 2007. 6 | Steve Paxton, zitiert nach Sophie Lycouris: Destabilising Dancing: Tensions between the Theory and Practice of Improvisational Performance, PhD Thesis, University of Surrey, September 1996, S. 91. 7 | Als Bestandteil einer rituellen Performance fragt James Lee Byars Künstlerkollegen unauf hörlich, welche Frage sie sich selber stellen: »What question contributes to your own evolving sense of knowledge?« Vgl. www.edge.org/ questioncenter.html vom 25. März 2007.

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us must feel we have been doing it for years, without quite calling it like that […].«8 Das Tanztheater-Ensemble Emio Greco|PC9 ist ein interessantes Beispiel, da es seine Arbeit in den vergangenen Jahren bewusst auf Initiativen ausgeweitet hat, die über die Produktion von neuen oder die Wiederaufnahme von alten Stücken hinausgehen. Zum einen hat sich die Kompanie mit ihren »Dance & Discourse Salons« schon seit geraumer Zeit und in der ganzen Welt (parallel zu internationalen Gastspielen) sehr intensiv für die öffentliche Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Tanz engagiert. Zum anderen besteht EG|PC nunmehr zehn Jahre: Nachdem die langjährige Protagonistin Bertha Bermudez die Bühne (nicht das Ensemble) verlassen hat, wird auch der Choreograph und Tänzer Emio Greco nicht mehr in allen Stücken mittanzen. Nun muss sich die Gruppe darüber klar werden, ob und wie sich ihre Arbeit an eine jüngere Generation vermitteln lässt und wie sie ihr Repertoire erhalten kann – eine Problematik, die sie mit vielen zeitgenössischen Choreographen und Tänzern teilt. NEW WAYS OF NOTATING , D OCUMENTING DANCE von EG|PC

AND

R E -CREATING

Foto: Chris Ziegler 8 | Sarat Maharaj: »Unfinishable Sketch of ›An Unknown Object in 4D‹: Scenes of Artistic Research«, in: Annette W. Balkema/Henk Slager (Hg.): Artistic Research, Amsterdam/New York 2004: Lier & Boog, S. 39. 9 | Hinter dem Kürzel PC verbirgt sich der Regisseur und Choreograph Pieter C. Scholten, gleichfalls Gründer und seit Beginn zusammen mit Greco künstlerischer Leiter des Ensembles. Die Arbeit von Emio Greco|PC und auch ihre Salons und die neu gegründete »Accademia Mobile« sind ausführlich dokumentiert. Vgl. http.//www.emiogrecopc.nl vom 25. März 2007.

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Als Artists-in-Residence an der Amsterdamer Kunsthochschule hatte EG|PC im Jahr 2004/05 schließlich erstmals die Gelegenheit, das Thema »Transfer« in einem pädagogischen Umfeld zu untersuchen und sowohl ihre eigene Trainingsmethode und Teile wichtiger Choreographien zu unterrichten, als auch den Themenkomplex in drei aufeinanderfolgenden Salons mit Theoretikern, Dramaturgen, Kritikern und Studenten aus dem In- und Ausland zu diskutieren. Nicht nur das heutige Forschungsprojekt New ways of Notating, Documenting and Re-creating Dance ist eine direkte Folge dieser gemeinsamen Unternehmung, sondern auch die seit 2006 tourende »Accademia Mobile«, das äußerst bewegliche »Schulungszentrum« der Kompanie. Für EG|PC ist dabei die Frage der Vermittlung und die Notwendigkeit zur Objektivierung der eigenen Praxis untrennbar mit dem Dilemma des Tanzes als ephemerer Kunst – mit der Materialität menschlicher Präsenz und ihrer ständigen Auflösung – verbunden. Bereits im allerersten Salon formulierte der Tanztheoretiker André Lepecki: »Where does dance come to rest after it has been done? Where does dance move to and how is it revived in the memory during writing?«10 Wenn sich die Erinnerung und Spurensuche des erlebten Tanzes nicht auf das geschriebene Wort beschränken soll, sind andere Medien gefragt und wird der Gegenstand einer solchen Erörterung nicht nur in der Aufführung angesiedelt, sondern insbesondere im künstlerischen Prozess, der sich noch entschiedener unserer Wahrnehmung entzieht als das letztendliche Produkt: Once the performance is over, all that is at stake in the process of making, all investment in the process as well as the post-productional life of the work, tends to fall into oblivion. Neither festivals nor theater venues do the effort of presenting the work besides the performance as its actualized product. The knowledge acquired, the tools developed in the working process and in collaboration, artists carry on with themselves. Rare are the opportunities where the knowledge of the artists themselves, rational and methodological as well as subjective and experiential, can be shared with a wider public. 11

New ways of Notating, Documenting and Re-creating Dance ist der Versuch, ein spezifisches Notationssystem zu erstellen, das aus der 10 | Ingrid van Schijndel: »Dance and Discourse, Reflections from the Practice: The Salon series of Emio Greco | PC«, in: Company in School, Between Experiment and Heritage, Amsterdam 2007, S. 8. 11 | Igor Dobricic und Bojana Cvejic: Before and After the Show: Unfolding the Working Process, eine Veranstaltung des Kulturprogramms »Almost Real« beim Alkantara Festival, Lissabon, Juni 2006. Vgl. www.almostreal.org vom 25. März 2007.

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choreographischen Arbeit von EG|PC hervorgeht und sich sowohl zum Zweck der Archivierung als auch zum Verstehen und Erlernen ihres spezifischen Vokabulars und ihrer Arbeitsweise eignet. In der ersten Phase entstand noch während der Residency ein Dokumentarfilm über den systematisch entwickelten Double Skin/Double Mind -Workshop, der bereits wesentliche Elemente der späteren Idee für eine komplexe digitale Ressource in Form einer interaktiven Installation enthält: filmische Aufzeichnungen tänzerischer Bewegung, diskursive Beschreibungen methodischer Grundlagen (von Tänzern, Choreographen und Studenten, die in einem Glossary gesammelt werden) und die Darstellung des über Jahre erprobten Unterrichts, die gegeneinander geschnitten wurden.12 Das interdisziplinäre Team des Projektes geht davon aus, dass sich die Komplexität des Tanzes nicht mithilfe einer einzigen Technologie repräsentieren lässt. Vielmehr sind sich alle Beteiligten bewusst, dass die einzelnen von ihnen angewandten Aufzeichnungssysteme den Tanz grundsätzlich nur unvollständig wiedergeben. Daher greift das Projekt gleich auf mehrere Verfahren und Medien zurück: Bertha Bermudez und Emio Greco, die den Tanz der Gruppe verinnerlicht haben und das Projekt vorantreiben; Scott deLahunta, der als Autor und Tanztheoretiker gleich vier aktuelle Versuche von Choreographen miteinander vergleicht, um eine choreographische Ressource herzustellen; 13 Frederic Bevilacqua, der am Pariser IRCAM-Institut das Gesture Analysis Program entwickelt; Marion Bastien und Elian Mirzabekiantz, die die bekannten Tanznotations-Systeme Laban und Benesh einbringen; und schließlich Chris Ziegler, der bereits vor zehn Jahren an der Entwicklung von Forsythes CD-ROM Improvisation Technologies beteiligt war und jetzt die Aufgabe hat, die unterschiedlichen Ansätze zusammenzubringen. In den gemeinsamen Arbeitssitzungen ergänzen sich die verschiedenen Informationsquellen nicht nur, sondern es treten auch ihre jeweiligen Grenzen und ihr Entwicklungsbedarf zum Vorschein. Trotz dieses Reichtums an forschendem Fachwissen bleibt ein gesunder Zweifel daran, inwieweit sich das, was man macht, die körperliche Wahrnehmung der Tänzer, das geistige Notieren, die Intention, über12 | DoubleSkin/Double Mind, ein Dokumentarfilm von Maite Bermudez, der während des Cinedans Festivals in Amsterdam im Juli 2006 Premiere hatte. 13 | Neben EG|PC arbeitet deLahunta an vergleichbaren Projekten mit Wayne McGregor, Siobhan Davies und William Forsythe. Vgl. Scott deLahunta/ Norah Zuniga Shaw: »Constructing Memory: Creation of the Choreographic Resource«, in: Ric Allsopp/Scott deLahunta (Hg.): Performance Research: Digital Resources, 11, 4, erscheint im Herbst 2007.

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haupt übertragen lässt. William Forsythe hat seinerseits die Möglichkeiten der Repräsentation eingeschränkt: We are not trying to recreate the experience of the piece, or the genesis of the piece, it’s not etymological, it’s not archaeological, it’s not historical, it’s not any of that. It’s simply about saying, watch space become occupied with complexity. 14

Gerade im Tanz könnte man einen Widerspruch vermuten, wenn künstlerische Prozesse und die Unmittelbarkeit der Darbietung durch Dokumentationsmechanismen veräußerlicht werden. Screenshot des Entwurfs von Chris Ziegler für eine interaktive Installation des NOTATION -Projektes featuring Emio Greco, Februar 2007

Foto: Chris Ziegler

Hier aber macht die Theoretikerin Susan Melrose einen interessanten Vorschlag für ein performatives Archiv. Das Archiv, von dem Melrose spricht, ist nicht das Archiv, das etwas bewahrt, was ansonsten verloren wäre: nicht ein Archiv, das nach der Kunst kommt, wenn das Werk bereits abgeschlossen ist. Melrose behauptet, dass jedes Werk, weil es Komposition, Choreographie oder Inszenierung ist, bereits auch sein eigenes Archiv enthält. »Because it is a spatio-temporal-organization, blocked in some sense, to permit repetition and transmission.«15 »The 14 | deLahunta/Shaw: Constructing Memory, a.a.O., ohne Seitenangabe. 15 | Susan Melrose, Transkription eines Vortrags während der Konferenz »Performance as Knowledge«, ResCen, Middlesex University, Mai 2006. Vgl. www.mdx.ac.uk/rescen/archive/PaK_may06/PaK06_transcripts4_1.html vom 25. März 2007.

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time of the archive«16 ist in allen Phasen künstlerischer Arbeit anwesend und in Melroses Interpretation auch das Medium, um den Kreislauf zu schließen und wieder neue Arbeiten, neue Schaffensprozesse in Gang zu setzen: There is the time before making the work (when it is thought on, in some manner or another); the times of making itself; the time of finishing, and the time of the finished work, when it has emerged, and been identified as such, and – so to speak – put out there. And then comes the time of the archive, which tends, explicitly or implicitly, formally to thematise and allow reflection on time past and allow that effect of breaking and picking up again. 17

Nach dem Dokumentarfilm wird die zweite Phase von New ways of Notating, Documenting and Re-creating Dance abgeschlossen und der Prototyp der interaktiven Installation von Chris Ziegler erstmals veröffentlicht.18 In der dritten Phase, die mit einer Erweiterung des Teams und neuen institutionellen Partnern bereits eingeleitet wurde, wird sich das Projekt u.a. der schwierigen Frage stellen, wie ein Aufzeichnungssystem nicht nur zur Analyse und Dokumentation künstlerischer Arbeit beitragen, sondern gleichzeitig als eine Art »real-time feedback« (Scott deLahunta) direkt in den Schaffensprozess einfließen kann. Dieser große Schritt wird nicht nur eine Herausforderung für das Ensemble sein, sondern vor allem auch für die Organisationsform unseres Projektes; künstlerische Forschung ist offensichtlich keine monologische Angelegenheit. Wenn wir das Potenzial solcher Unternehmungen ernst nehmen wollen, müssen wir darauf vorbereitet sein, interdisziplinäre und trans-institutionelle Zusammenarbeit zwischen Lehre, Wissenschaft und Kunstpraxis weiterhin auszubauen. An der Amsterdamer Kunsthochschule haben wir das – zumindest im Rahmen der aktuellen Möglichkeiten – eingesehen.

16 | Ebd. 17 | Ebd. 18 | Cinedans Festival 2007, vgl. www.cinedans.nl vom 25. März 2007.

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Literaturverzeichnis Bauer, Ute Meta (Hg.): Education, Information, Entertainment. Neue Ansätze künstlerischer Hochschulbildung, Wien: edition selene 2000. deLahunta, Scott/Zuniga Shaw, Norah: »Constructing Memory: Creation of the Choreographic Resource«, in: Ric Allsopp/Scott deLahunta (Hg.): Performance Research: Digital Resources 11, 4, erscheint im Herbst 2007. Dobricic; Igor/Cvejic Bojana: Before and After the Show: Unfolding the Working Process, eine Veranstaltung des Kulturprogramms »Almost Real« beim Alkantara Festival, Lissabon, Juni 2006. Vgl. www. almostreal.org vom 25. März 2007. Lycouris, Sophie: Destabilising Dancing: Tensions between the Theory and Practice of Improvisational Performance, dissertation, University of Surrey, September 1996. Maharaj, Sarat: »Unfinishable Sketch of ›An Unknown Object in 4D‹: scenes of artistic research«, in: Annette W. Balkema/Henk Slager (Hg.): Artistic Research, Amsterdam/New York: Lier & Boog 2004, S. 39–58. Melrose, Susan: Transkription eines Vortrags während der Konferenz »Performance as Knowledge«, ResCen, Middlesex University, Mai 2006. Vgl. www.mdx.ac.uk/rescen/archive/PaK_may06/PaK06_transcripts4_1.html vom 25. März 2007. Schijndel, Ingrid van: »Dance and Discourse, Reflections from the Practice: the Salon series of Emio Greco | PC«, in: Company in School, Between Experiment and Heritage, Amsterdam 2007, S. 8.

Internetquellen http://associatie.kuleuven.be/eng/ivok/index.htm. www.ahk.nl/lectoraten/onderzoek/debate.pdf. www.cinedans.nl. www.edge.org/questioncenter.html. www.emiogrecopc.nl. www.lectoraten.ahk.nl. www.lectoren.nl. www.vub.ac.be/english/infoabout/associatie/platform.html.

Apropos Partituren: William Forsy thes Vision einer neuen Art von »Tanzliteratur« Rebecca Groves, Scott deLahunta und Norah Zuniga Shaw

Im folgenden dreiteiligen Aufsatz stellt Rebecca Groves den Ansatz von William Forsythe und der »Forsythe Foundation« vor, der die Schaffung einer neuen Art von »Tanzliteratur« für eine breite und interaktive Leserschaft zum Ziel hat. In ihrem Projektbericht beschreibt Norah Zuniga Shaw dann ihrerseits die Verfahren, die bei der Entwicklung einer interaktiven OnlinePartitur für das Stück One Flat Thing, reproduced zum Tragen kommen und wie ein interdisziplinäres Team von Designern, Tänzern, Spezialisten usw. im Dialog mit Forsythe und anderen Beratern in einem »iterativen« Prozess1 arbeitet. Scott deLahunta rundet den Artikel ab, indem er seine Beobachtungen zu vorhergehenden und vergleichbaren Initiativen vorstellt.

M o t i o n B a nk: Eine Investition in tänzerisches Wissen Rebecca Groves Das dem Tanz zugrunde liegende Wissen ist bekanntlich schwierig zu erfassen und zu dokumentieren. Trotz aller Hindernisse besteht der Choreograph Willliam Forsythe darauf, dass Tanzschaffende heute eine neue Art der »Tanzliteratur« – oder ein Repertoire grundlegender visuel1 | »Iteratives Design« ist eine verbreitete Methodologie, die bei der Durchführung von interaktiven Multimediaprojekten zur Anwendung kommt und auf einem zyklischen Verfahren der Prototypisierung, Erprobung, Analyse und Verfeinerung eines Arbeitsprozesses beruht.

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ler Referenzen – entwickeln müssen, um den Austausch von Ideen und Innovationen im Tanz anzuregen. Nach Forsythe sollte Studenten und Tänzern ein aktives, für eine Vielzahl von Praktiken geltendes Archiv aus lebendigen Abbildungen von Ideen und Strukturen, die bestimmten Choreographien zugrunde liegen, zugänglich gemacht werden, damit die Kunstform Tanz sich über ihren derzeitigen Status quo hinausentwickeln kann. Forsythes Vision einer Referenzsammlung im Bereich der tänzerischen Forschung beinhaltet zu einem großen Teil auch eine Aufforderung an die Tänzer, sich besser über den aktuellen Stand der Forschung in Bereichen wie Kognitionswissenschaft, Architektur, ästhetische Theorie und Phänomenologie zu informieren und mehr über die Art und Weise zu lernen, wie Körper in Bewegung wahrgenommen werden. Noch wichtiger ist jedoch, dass Forsythe die Künstler fortlaufend dazu ermutigt, neue Wege zu erkunden, ihre eigenen Praktiken und die aus ihrer Ausbildung und dem Arbeitsumfeld übernommenen Weltanschauungen zu hinterfragen. »Vielleicht sind unsere Vorgehensweisen veraltet oder verbesserungsbedürftig«, so Forsythe. »Wie können wir unsere eigenen Verfahren in Zweifel ziehen und unsere eigenen Methoden in Frage stellen?« 2 Forsythe betrachtet seine choreographische Arbeit als ein striktes Verfahren der Bewegungsforschung. Sein derzeit 18 Mitglieder umfassendes Ensemble, »The Forsythe Company«, arbeitet sowohl als ThinkTank als auch gleichzeitig als Tanzcompany. Über viele Jahre hinweg hat Forsythe Methoden für die Tänzerausbildung entwickelt, mithilfe derer er den Tänzern den Rang innovativer Mitarbeiter verleiht. Mitte der 1990er Jahre begann Forsythe mit der Ausarbeitung eines Multimedia-Ausbildungsprogramms für Tänzer. Mithilfe dessen sollten die von ihm ins Leben gerufenen Improvisationsgrundsätze kodifiziert und gelehrt werden. In einer Reihe von über 100 kurzen Videosegmenten demonstriert Forsythe der Kamera tänzerische Bewegungen, die mit animierten Graphiken versehen wurden, die seine Bewegungsabläufe nachzeichnen und räumliche Beziehungen innerhalb seines Körpers und um ihn herum aufzeigen. Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Eye entstand 1999 nach einer Reihe von ausschließlich für den Proberaum bestimmten Prototypen als überarbeitete und im Handel erhältliche CD-ROM. Durch die klare Visualisierung der Möglichkeiten, Bewegungen wahrzunehmen und über sie nachzudenken, war Improvisation Technologies ein neues pädagogisches Hilfsmittel für professionelle und noch in der Ausbildung befindliche Tänzer. Dem Zuschauer wird dabei das analytische Rüstzeug zu einer besseren Interpretation von Tanzaufführungen vermittelt. Darüber hinaus wurden 2 | Aus einem Gespräch zwischen William Forsythe und Rebecca Groves, Berkeley, Kalifornien, 22. Februar 2007.

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eine verständliche graphische Sprache sowie ein leicht zugänglicher konzeptioneller Rahmen geschaffen, die es Künstlern und Forschern anderer, nicht tanzbezogener Disziplinen ermöglichten, den Tanz als interdisziplinäre Ressource für Ideen in Bezug auf Raum, Struktur und Bewegung zu entdecken. O NE FLAT THING ,

REPRODUCED

von The Forsythe Company

Foto: Dieter Schwer

Forsythes neuestes pädagogisches Multimediaprojekt Motion Bank setzt dort an, wo Improvisation Technologies aufgehört hatte: bei der Analyse, inwiefern Bewegung über eine Zeit hinweg erschaffen und organisiert werden kann, um eine visuell überzeugende Choreographie entstehen zu lassen. Motion Bank liefert eine videobasierte, choreographische Partitur sowie eine interdisziplinäre Online-Lernumgebung für Forsythes 18-minütiges Stück One Flat Thing, reproduced. In Anlehnung an die konzeptuelle Metapher der »barocken Maschinerie« erforscht One Flat Thing, reproduced das formale Prinzip des choreographischen Kontrapunkts, das in der Balletttradition von Marius Petipa und George Balanchine entwickelt und in der postmodernen Ausdrucksweise zeitgenössischer Choreographen wie Trisha Brown und Jonathan Burrows neu erarbeitet wurde. Als besonders spannend stellt sich die Übersetzung der Choreographie von One Flat Thing, reproduced in eine choreographische Multimedia-Partitur dar: Die Herausforderung bestand in der Visualisierung und Entwicklung einer großen Dichte von miteinander vernetzten Themen und Variationen, die über ein Netz aus 17 Tänzern verteilt sind, die sich wiederum innerhalb einer aus 20 Tischen bestehenden Gitterstruktur bewegen. Wie weiter unten noch

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genauer erläutert wird, besteht das Ziel der interaktiven Partitur getreu der Vision Forsythes darin, Zusammenhänge herzustellen, die weit über die formalen Beziehungen zwischen Bewegungsphrasen und Material hinausgehen. Edward Said, Literatur-, Politik- und Musikkritiker, hat den Modus der »kontrapunktischen Kritik« untersucht und angewandt, indem er kulturbezogene Texte wie Romane und Opern mittels polyvokaler Verbindungen zwischen Kulturen, Genres und Zeitabschnitten einer Analyse unterzog.3 Saids Ziel bestand darin, Strukturen innerhalb dieser kulturellen Artefakte offen zu legen, welche – zueinander in Beziehung gesetzt – die kulturell vorherrschenden Kategorien des Wissens ins Schwanken brachten und alternative Strategien zugunsten einer neuen Lesart dieser Texte beförderten. Mit Forsythes Vision einer neuen Art von »Tanzliteratur« soll eine konstant hohe Qualität kritischer Reflexion erzielt werden, indem jedoch eine weitaus größere Bandbreite an Perspektiven und Verknüpfungen zur choreographischen Praxis zur Geltung gebracht wird, als dies in der Vergangenheit je der Fall war. Durch die Entwicklung neuer Forschungsinstrumente und Methoden zur Herstellung dieser vielschichtigen Verknüpfungen zielt das Motion Bank-Projekt darauf ab, das lebendige Potenzial für kontrapunktische Interpretationen auszuschöpfen, um die Kunstform Tanz in ein neues Stadium soziokultureller Relevanz zu überführen. 4

Die Erforschung des Tanzes Norah Zuniga Shaw »Seht, wie sich der Raum mit Komplexität füllt.«5 17 Tänzer fliegen, gleiten, ergreifen und verdrehen ihre Körper innerhalb einen Netzes aus 20 Stahltischen. Die scheinbar nahezu chaotischen Abläufe werden durch ein komplexes Zusammenspiel wechselseitiger Verknüpfungen kontrolliert, die den Sinn für Ordnung beim Zuschauer 3 | Vgl. Edward Said: Culture and Imperialism, New York: Vintage Books 1993. 4 | Motion Bank wird derzeit am Advanced Computing Center for Art and Design (ACCAD) der Ohio State University entwickelt. Die Veröffentlichung im Internet ist für Sommer 2008 vorgesehen. Produktionsleitung: Forsythe Foundation. Koproduktion: Ohio State University, Rotterdam Dance Academy, Tanzplan Deutschland und The Forsythe Company. 5 | Die Zitate stammen aus einer Projektsitzung und einem Gespräch zwischen Norah Zuniga Shaw und William Forsythe, New York, Mai 2006.

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auf die Probe stellen und anregen. Die Zeit fließt und gleitet zwischen konstanter Beschleunigung und plötzlichen Momenten aktiver Stille, Elemente verbinden sich und lösen sich wieder auf, Tänzer kommen und gehen. Die Augen des Betrachters huschen hin und her auf der Suche nach einem Muster, sehen und übersehen die sich ereignenden Veränderungen. 6 Das ist One Flat Thing, reproduced.

»Der Zufall will es, dass es sich dabei um Tanz handelt.« Ebenso gut könnte es Mathematik oder Architektur sein. Es ist In-formation. Es geht um Aufmerksamkeit. Es geht um Autonomie innerhalb eines Systems. Es ist Form und Fluss. Es ist Ausdruck einer Denkweise, die vielen Wissensformen gemein ist. Und in dieser Hinsicht muss es sich natürlich um Tanz handeln. Es ist eine spezifische Ausdrucksform, die aus der Mitte des choreographischen Wissens entspringt und sodann in Bewegungen der als denkende Wesen agierenden Tänzer umgesetzt wird. Es ist eine Komplexitätstheorie in Bewegung, die uns etwas über die menschliche Wahrnehmung von Ereignissen erfahren lässt. Es handelt sich um ein interdependentes System, innerhalb dessen die Handlungen des Einzelnen auf den Handlungen der umgebenden Personen basieren und diese beeinflussen, wodurch ein stetiger Fluss zwischen Kontrolliertheit und Zufälligkeit entsteht. Es ist ein Ort des Wissens wie jeder andere – oder kein anderer. Das ist der Forschungskontext des Projekts. Es geht darum, das Wissen zu definieren, das wir aus dem Tanz ziehen, und es in Beziehung zu anderen Wissensformen zu setzen.

»Die Offenlegung der nächsten Stufe der Vorstellungskraft« So lautet die Herausforderung, mit der uns William Forsythe konfrontiert: One Flat Thing, reproduced soll benutzt werden, um eine neue Ebene der Vorstellungskraft zu erschaffen. Dabei geht in diesem Projekt nicht darum, Dinge zu konservieren. Es dient nicht der Rekonstruktion oder einem Repertoire. Die Absicht besteht auch nicht darin, anderen bei der Schaffung ihrer »table dances« zu helfen. Vielmehr soll ein lebendiges Artefakt entstehen, das bestimmte Dinge hinter sich lässt und gleichzeitig neue Informationen und Kreativität hervorbringt. Um das zu erreichen, muss der Tanz als ganz besonderes Forschungsma6 | Bei der Arbeit mit dem Philosophen und Forscher Alva Noë konnten wir ein gemeinsames Interesse an den Phänomenen der Blindheit für Veränderung in der menschlichen Wahrnehmung feststellen, die in den Forschungsarbeiten von Kevin O’Regan und anderen in Alva Noës »Action in Perception«, Cambridge: MIT Press 2004, zitierten Personen aufgezeigt wurden.

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terial betrachtet werden. Dabei streben wir danach, seine einzelnen Komponenten oder die Elemente, die wir als Bausteine eines Stückes erachten, zu lokalisieren und zu definieren: nicht die Choreographie selbst, sondern die Choreographie- und Performancestrukturen. Hierbei gibt es keine feststehenden Methoden zur Durchführung dieser Art von Tanzanalyse. Unsere Annäherung erfolgt vom Inneren des Tanzes her und von außerhalb. Screenshot der entstehenden interaktiven tools zur Bewegungsanalyse und Informationsverwaltung von O NE FLAT THING , REPRODUCED der Forsythe Company

Foto: Nora Zuniga Shaw

Der Kern unserer Forschungsarbeit ist die intensive Zusammenarbeit mit William Forsythe und der Forsythe Company, mit dem Ziel, das Material und die Austauschsysteme zu analysieren, die One Flat Thing, reproduced ausmachen.7 Die Forschungsarbeit ist zu einem Prozess geworden, aus dem neue Methodologien zugunsten eines stetigen Fortschritts entwickelt werden. Beim Zerlegen des Tanzes in Hunderte von Einzelteilen werden wir damit konfrontiert, flexible Instrumente zur Eingabe und Verwaltung dieser neuen Daten festzulegen und daraus Schlüsse zu ziehen. Dazu haben wir schriftliche Notizen und Zeichnungen verwendet, persönliche Aufzeichnungsstrategien, umfangreiche Videodokumente, Tabellen (s. Abb.), Videokommentare und neuerdings auch eine Datenbank. Tänzer mag es bisweilen seltsam anmuten, die gelebte und dargebotene Essenz des Tanzens auf Datensätze zu reduzieren, 7 | Den Kern der Projektgruppe bilden folgende Forsythe-Tänzer: Elizabeth Waterhouse, Chris Roman und Jill Johnson.

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bei denen manche Aspekte gezwungenermaßen ausgeblendet werden, damit wiederum andere stärker hervortreten können. Die diesem Verfahren zugrunde liegende These besagt, dass es starke, weniger bekannte Aspekte choreographischen Denkens und Handelns gibt, die auf diese Weise zum Ausdruck gebracht und neben den schwer quantifizierbaren kurzlebigen Phänomenen mit berücksichtigt werden. Stets vom Tanz selbst ausgehend, greift das Projekt auch nach außen und lädt Forscher aus diversen Disziplinen dazu ein (innerhalb der so genannten »Interdisciplinary Working Group«, IWG), sich das Stück auf Video anzusehen und aus der Sicht ihrer Fachgebiete darauf zu reagieren. Nach einer ersten Vorführung des Videos teilen wir die Forscher sodann in kleine Gruppen auf, um ihre Reaktionen auf die im Stück erkannten Grundprinzipien, Muster, Raumbeziehungen usw. zu sammeln. Die so gewonnenen Informationen werden dann in Form eines »Wiki« mit Transkriptionen und relevanten Links dokumentiert. Unsere IWG bereichert und beeinflusst den Datenerfassungsprozess, die Ausgestaltung der Interaktivität (wie die Nutzer mithilfe von Medientools mit dem Stück spielen und daraus lernen können) sowie die konzeptionelle Grundlage des Projekts.

»Also zeigt es mir: Zeigen und Erzählen stehen bei uns ganz am Anfang.« Bei diesem wachsenden Datenbestand gibt es keine Tabuzonen, da Forsythe sowohl für radikale Reduzierungen als auch für ausgefeilte visuelle Ausschmückungen offen ist. Die komplexen, ineinander greifenden Elemente des Tanzes wurden vom Team gesichtet und auseinandergenommen, wobei seine geschichtlichen Hintergründe und Ursprünge aufgedeckt wurden. Innerhalb der IWG fand anhand des Tanzes ein Kennenlernen und Enthüllen der menschlichen Wahrnehmung in komplexen Umgebungen statt. Darüber hinaus wurden Berührungspunkte mit der Komplexitätsforschung, der Informationsästhetik sowie mit aktuellen Fragestellungen bezüglich Oberfläche und Ereignis in der Architektur mit einbezogen. Der Schaffensprozess wiederholt sich und setzt sich fort, genau wie die Suche nach immer tiefer gelegenen und umfassenderen Daten, während das Team daran arbeitet, Visualisierungen des Tanzes zu konstruieren, die von den Tänzern selbst losgelöst sind. Was wäre, wenn alles auf Laute und Geräusche reduziert und man nur den im Tanz geltenden Mustern zuhören würde? Was, wenn all die ineinander greifenden Bewegungsthemen in diesem polythematischen Stück eine Form oder Farbe zugewiesen bekämen, dann je nach ihrer Dauer und Wiederholung einen Platz im Raum erhielten und der Einsatz jeder Bewegung

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schließlich mit einem plötzlichen Lichtsignal angezeigt würde? Welche animierten Form- und Farbwolken würden entstehen? Was würde dies über das komplexe Beziehungssystem im Stück aussagen? Worin bestehen eventuelle Verknüpfungspunkte zu Visualisierungsstrategien in der Neurowissenschaft, der Statistik und der Bioinformatik? Was wäre, wenn man die von jedem Tänzer beschriebenen Bahnen nachzeichnete und die Linien unterschiedlich aussehen ließe, je nachdem, ob sie unter, über oder zwischen den Tischen stattgefunden haben, um die Tänzer anschließend aus dem Bild zu entfernen und nur die Bewegungsbahnen wirken zu lassen? Was würden wir dann sehen? Wie können wir es späteren Benutzern dieser Partitur ermöglichen, die Prinzipien und Merkmale der Animationen zu verändern, um eigene ästhetische Welten aus den im Stück vorhandenen, hoch spezifischen Daten zu erschaffen? Welche Arten von Gegenständen oder Spuren werden dabei zurückgelassen? Genau das sind die zum gegenwärtigen Zeitpunkt zentralen Fragen des Projekts.

Arbeiten ohne Überblick Scott deLahunta Betrachtet man den Tanz als einen ›Ort des Wissens‹, drängen sich verschiedene Fragen auf: Was ist Gegenstand dieses Wissens, wie wird es erworben, wann wird ein bestimmtes Fachwissen anerkannt usw. Wie aus den Ausführungen von Rebecca Groves und Norah Zuniga Shaw bereits hervorgeht, ist dabei entscheidend, dass das tänzerische Wissen mit anderen Wissensbereichen oder -gemeinschaften geteilt werden kann. Das Konzept des Fachwissens ist hier von grundlegender Bedeutung. Forsythe nennt dies »den Nicht-Tanzexperten herein- und den Tanzexperten hinausführen« 8 – durch die Erkundung des interaktiven Instrumentariums von One Flat Thing, reproduced. Wie Zuniga Shaw hervorhebt, werden während des Schaffensprozesses Experten aus anderen Disziplinen (Architekten, Kognitions- und Neurowissenschaftler, Ingenieure, Philosophen) hinzugezogen. Dennoch wird dem Wissen, welches dem Tanz und dem tänzerischen Schaffensprozess innewohnt, nicht immer derselbe Status zuerkannt wie dem Wissen auf anderen Gebieten, woraus sich ein grundlegender Motivationsfaktor für dieses Projekt ergab. Es ist dabei natürlich offenkundig, dass der Tanz ein Ort des Wissens ist: Die Grundlage hierfür bildet die Existenz einer Gemeinschaft, die 8 | Das Zitat stammt aus einer Projektsitzung und einem Gespräch zwischen Norah Zuniga Shaw und William Forsythe, New York City, Mai 2006.

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darin übereingekommen ist, etwas zu lernen und das so entstandene Wissen hauptsächlich durch die Produktion künstlerischer Prozesse und Aufführungen voranzutreiben. 9 Der Status des Tanzes als Form des Wissens wird jedoch gemeinhin daran festgemacht, in welchem Maße er als ›Kunst‹ einen Beitrag zum öffentlichen Leben leistet. Diese Sichtweise ist einem umfassenden Verständnis dessen, was Tanz beinhaltet, nicht immer zuträglich. Und genau hier kann der Austausch mit anderen, kunstfremden Disziplinen und Vorgehensweisen äußerst produktiv sein. Auch andere zeitgenössische Choreographen, wie z.B. Wayne McGregor (London) und Emio Greco|PC (Amsterdam), sind auf der Suche nach einer Klärung der Beziehungen zwischen dem Tanz als Wissensform und anderen Bereichen. 10 Wie bei Forsythes Motion Bank-Projekt versuchen sie, dies nicht nur durch die Schaffung von Tanzstücken für ein Publikum und von konventionsgetreuen Events, sondern durch die Erfindung neuer und bisweilen ›unkonventioneller‹ Wege und Artefakte des tänzerischen Schaffensprozesses zu erreichen. Durch die Erkundung neuer Ansätze für die Dokumentation, Analyse, Beschreibung und Kommentierung ihrer schöpferischen Arbeit vertiefen sie ihr eigenes Verständnis und schärfen im selben Atemzug die Aufmerksamkeit anderer, die diese Ansatzpunkte als Ressourcen für ihre eigene Forschung verwenden können. Alle drei Choreographen arbeiten zur Erforschung dieser Potenziale mit interdisziplinären Teams aus künstlerischen und nicht künstlerischen Fachbereichen zusammen. Dabei handelt es sich nicht lediglich um abstrakte Ideen, da es mit der Multimedia-CD-ROM Improvisation Technologies ja bereits einen bedeutenden Vorgänger dieses Ansatzes gibt. Wie Rebecca Groves bereits beschrieben hat, gelang es mit den von der Tanzszene begeistert aufgenommen Improvisation Technologies, auch die Aufmerksamkeit tanzfremder Disziplinen auf sich zu ziehen. Die innovativen Visualisierungen und die systematische Anordnung der Materialien bieten, mit den Worten von William Forsythe, »nur einige wenige Möglichkeiten zur Analyse von Bewegungen« 11, wobei dies hier jedoch auf eine Weise geschieht, 9 | In den Sozialwissenschaften gibt es ein nützliches Konzept, das als »Communities of Practice« bezeichnet wird. Hierbei wird das Konzept des Wissens zerlegt in seine Funktion bei der Erzeugung und Aufrechterhaltung der praxisbezogenen Beziehungen einer bestimmten community oder eines Gebiets. Einer der führenden Theoretiker der »Communities of Practice« ist Etienne Wenger. Vgl. www.ewenger.com vom 10. April 2007. 10 | Vgl. deLahunta/Shaw: Constructing Memory, a.a.O. 11 | William Forsythe in einem Interview mit Nik Haffner: »Observing Motion: An Interview with William Forsythe«, in: ZKM Karlsruhe (Hg.): William Forsythe: Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye (Booklet zur CD-ROM), Sonderausgabe, Ostfildern: Hatje Cantz 2003, S. 20.

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die es Forschern anderer Fachbereiche ermöglicht, diese Denkweise auf ihre Disziplinen zu übertragen. Greift man auf die Terminologie der anthropologischen Praxis zurück, so liefert die CD-ROM eines der ersten klaren »Grenzobjekte« 12 , die innerhalb des Bereichs Tanz zur Anregung eines Austauschs mit anderen »Communities of Practice« hervorgebracht wurden. Ob mithilfe graphischer Visualisierung von Vorträgen zur getanzten Bewegung, mithilfe von Gestenerkennung und Gestenanalyse oder kommentierter Segmentierung von Tanzphrasen (wie bei den Projekten von EG|PC und Wayne McGregor), was diese Spuren und Artefakte des Tanzes und der Tanzproduktion durch die Einführung bestimmter Standards und damit einhergehender Maßgaben ermöglichen, kann mit der Erstellung von Landkarten, bevor es entsprechende Luftaufnahmen gab, verglichen werden. In einem Aufsatz über Musikvisualisierung spricht der Komponist und Programmierer Joel Ryan, der lange Zeit an der Seite Forsythes gearbeitet hat, von einem »Arbeiten ohne Überblick« 13 , wenn eine Landkarte aus der Bodenperspektive erstellt werden musste. Nachdem auf der Grundlage der vorhandenen Informationen in ausreichendem Maße reale Messungen durchgeführt wurden, konnte sich der Kartograph schließlich daran machen, neue Verbindungen aus den bereits vorhandenen Visualisierungen herzuleiten. Improvisation Technologies liefert uns ein Beispiel einer ebensolchen Karte – einer Karte, die den Tanz als einen Ort teilbaren Wissens erscheinen lässt. Sie macht eine neue Ebene an Informationen über das Denken, über Bewegungen, Raum und Zeit erfahrbar. Und was besonders wichtig ist: Man muss kein Tänzer, Tanzschaffender oder nicht einmal Tanzzuschauer sein, um das auf der CD-ROM enthaltene Material anregend und bedeutsam zu finden. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die zeitgenössische schöpferische Kunst, darunter Choreographie und Tanz, das Potenzial dazu besitzt, einen gewissen Einfluss auf eine größere Bandbreite kultureller Praktiken (in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Unternehmertätigkeit usw.) auszuüben. 14 Diese Veränderung ist immer mehr von Diskursen 12 | Das Konzept des »Grenzobjekts« in der Anthropologie und anderen Wissenschaften gilt als Konstrukt, das der Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den verschiedenen Mitgliedern heterogener Arbeitsgruppen dient. 13 | Vgl. Joel Ryan: »Master Class: Music Visualization«, in: Making Art of Databases, Rotterdam: V2/Nai Publishers 2003, S. 62 (abruf bar unter www. xs4all.nl/~ jr/MuViz.htm vom 10. April 2007). 14 | Vgl. hierzu die Konferenz-Website: »SUMMIT: Non-Aligned Initiatives in Education Culture«, Berlin, 24.-28. Mai 2007, http://summit.kein.org vom 10. April 2007 sowie den Blog von Irit Rogoff: http://summit.kein. org/node/191 vom 10. April 2007.

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und Debatten über Wissenserzeugung und Wissensproduktion geprägt, denen es mitunter an kritischem Bewusstsein mangelt. Dennoch ist eindeutig festzustellen, dass man sich damit auf zu neuen Ufern wagt und bei dieser Entdeckungsreise neue Anknüpfungspunkte findet. Verkennt man diese kulturellen Entwicklungen, wie z.B. das wachsende Augenmerk auf künstlerischer Forschung, so läuft man Gefahr, die Chance, am unvermeidlich stattfindenden Wandel teilzuhaben, zu verpassen. Eine Schwierigkeit für die Choreographie und den Tanz wird darin bestehen, dieses flüchtige Terrain zu kartographieren, dabei jedoch stets den einzigartigen Charakter des Tanzes zu berücksichtigen. Die an der interaktiven Partitur für One Flat Thing, reproduced beteiligten Forscher und Designer versuchen genau das umzusetzen. Als eines von immer mehr Forschungsprojekten zur Katalogisierung und Dokumentierung des Tanzes nehmen sie dabei eine Art Vorreiterrolle ein und führen die choreographische und tänzerische Praxis ins 21. Jahrhundert. Übersetzung aus dem Englischen

Literaturverzeichnis Haffner, Nik: »Observing Motion: An Interview with William Forsythe«, in: ZKM Karlsruhe (Hg.): William Forsythe: Improvisation Technologies: A Tool for the Analytical Dance Eye (Booklet zur CD-ROM), Sonderausgabe, Ostfildern: Hatje Cantz 2003, S. 16–27. deLahunta, Scott/Zuniga Shaw, Norah: »Constructing Memory: Creation of the Choreographic Resource«, in: Ric Allsopp/Scott deLahunta (Hg.): Performance Research, Digital Resources Issue 11, 4 (2007). Noë, Alva: Action in Perception, Cambridge: MIT Press 2004. Rogoff, Irit: »Academy as Potentiality«, http://summit.kein.org/node/191. Ryan, Joel: »Master Class: Music Visualization«, in: Making Art of Databases, Rotterdam: V2/Nai Publishers 2003, S. 62 (abruf bar unter www.xs4all.nl/~ jr/MuViz.htm). Said, Edward: Culture and Imperialism, New York: Vintage Books 1993.

Internetquellen http://summit.kein.org. www.ewenger.com.

Wenn Du das nicht weißt , warum fragst Du dann? 1 Eine Einführung in die Methode der Komposition in Realzeit João Fiadeiro

Vorbemerkung Dieser Text hat die Methode der Komposition in Realzeit zum Thema, ein System, mit dem ich als Künstler, Wissenschaftler und Pädagoge viele meiner Fragen beantworten will. Darüber hinaus ist diese Methode die Grundlage meiner Arbeit und dient mir zusätzlich als Referenz für eine breit angelegte Debatte über den Prozess der Kreation, der Darstellung und der Wahrnehmung in der Kunst. 2

1 | »Eines Tages aß David Tudor am Black Mountain College zu Mittag. Ein Student kam an seinen Tisch und begann, Fragen zu stellen. David Tudor aber aß weiter. Der Student hörte nicht auf zu fragen. Schließlich schaute David Tudor ihn an und sagte: ›Wenn Du das nicht weißt, warum fragst Du dann?‹« (John Cage: Silence, Middletown: Wesleyan University Press 1961, ohne Seitenangabe) 2 | Da ich ein ›Praktiker‹ bin, arbeite ich besser, wenn mir konkrete Fragen gestellt werden. Ich verliere Stunden um Stunden, verwechsle Hand und Fuß, wenn ich mich an der Niederschrift dessen versuche, was ich aus der ›Leere‹ meines Kopfes ziehe. Als ich dann mit den Fragen und Beobachtungen der Schriftstellerin und Tanzwissenschaftlerin Paula Caspão konfrontiert wurde, meiner Freundin und engen Verbündeten, die ich um ein Feedback zur ersten Fassung dieses Textes gebeten hatte, war ich sehr zufrieden, weil mir endlich konkrete Fragen gestellt wurden – mit Zweifeln und fassbaren Ängsten. Der vorliegende Text basiert zu einem großen Teil auf unserer Korrespondenz.

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Einleitung »Der Tanz geht nicht durch den Körper.« Diese Behauptung stellte ich 1999 in einer Diskussion im portugiesischen Fernsehen3 auf, in der anlässlich der Vorführung eines Dokumentarfilms über eine Schule für klassischen Tanz in Russland 4 einige ›Experten‹ für Tanz5 diskutierten, ob das ›Leid‹ der Schüler, die ›Strenge‹ der Lehrerin oder das gezeigte Training ›eine Form der Sklaverei sei oder nicht‹. Was ich damit sagen wollte, war, dass »Tanz nicht nur Körper ist«. Meine Behauptung brachte meine Ungeduld darüber zum Ausdruck, dass nur der Körper beharrlich und systematisch in das Zentrum aller Überlegungen zum Tanz gestellt wird. Ich bin mir nicht sicher, ob ich vielleicht eine unklare Formulierung verwendet habe, um das auszudrücken, was ich eigentlich sagen wollte, aber mit meinem Kommentar rief ich eine enorme Entrüstung bei allen übrigen Gästen des Programms hervor. Einige Monate später hat RE.AL6 ein Treffen mit Philosophen und Choreographen mit dem Titel Sagt dir das, was ich tue, irgendetwas? organisiert. Das Programm umfasste Dialoge zwischen der Choreographin Vera Mantero und dem Philosophen José Gil, dem Choreographen Francisco Camacho und dem Essayisten Eduardo Prado Coelho sowie dem Philosophen Nuno Nabais7 und mir. Wir versuchten mit unserer Initiative, »den Körper aus dem Tanz herauszunehmen« und – sei es auch nur für einen Tag – die Verfahrensweisen der Praxis mit denen des Denkens abzugleichen sowie beide Disziplinen auf derselben Ebene zu diskutieren. In meinem Beitrag verwies ich auf die bereits erwähnte Fernsehdebatte und stellte dieselbe Behauptung auf, immer noch mit derselben missverständlichen Formulierung, weil ich, ein wenig naiv, dachte, dass diese ›Provokation‹ für einen Philosophen keine Provokation 3 | Noites Brancas (Weiße Nächte) von Pedro Rolo Duarte auf RTP2. 4 | Terpsichore’s Captives I, 1995, Regie: Efim Reznikov, Granat Film Studio. Der Film behandelt den Schüleralltag der Städtischen Ballettschule Perm (Russland). 5 | Außer mir waren Maria José Fazenda, Anthropologin und Tanzkritikerin, Luísa Taveira, ehemalige Tänzerin der Companhia Nacional de Bailado und des Gulbenkian Ballets sowie Ana Pereira Caldas, zu dieser Zeit Direktorin des Conservatório de Dança de Lisboa, zugegen. 6 | RE.AL ist eine Produktionsstruktur für Forschung und Kreation im zeitgenössischen Tanz, die ich 1990 gegründet habe. Vgl. www.re-al.org vom 21. Mai 2007. 7 | Paula Caspão nahm ebenfalls an der Diskussion teil und koordinierte die Edition der einschlägigen Beiträge für diese Erfahrung, die in dem Band DOC.LAB veröffentlicht wurden. Vgl. RE.AL (Hg.): DOC.LAB, Lissabon: RE.AL 2000.

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sei, da er den ›offensichtlichen Widerspruch‹ sofort erkennen würde. Ich erinnere mich daran, das en passant in die Runde geworfen zu haben, wieder einmal, ohne die dadurch gestiftete Kontroverse vorherzusehen. Im Rückblick wird mir klar, welche Verwirrung ich damit ausgelöst habe. In beiden Diskussionsrunden wurde meine Aussage so interpretiert, als ob ich die Bedeutung des Körpers als ›Rohstoff‹ des Tanzes leugnen würde. Damit wollte und will ich aber nur sagen, dass der Körper den Tanz nicht stärker durchdringt als er es in der Literatur, der Fotographie, der Bildenden Kunst oder in jeder anderen Kunst tut. Ich wollte damit lediglich darauf hinweisen, wie dringend es ist, dass die den Tanz denkende und lebende Gemeinschaft diesen Freiraum einfordert, damit der Tanz ein für alle Mal ›aus der Hülle (seines ›Körpers‹) heraus kommt‹ und so zu einer ambitionierteren Diskussion beiträgt, in der es nicht nur darauf ankommt, ein Territorium abzustecken.8 Heute weiß ich, dass der ›Körper‹, mit dem ich mich beschäftige, ›der Körper ist, der sein Tun während des Tuns sieht‹, und deshalb liegt mein Augenmerk als Künstler und auch als Wissenschaftler nicht auf der körperlichen ›Erfahrung‹, sondern auf seiner ›Darstellung‹. Und das ist der Körper der Komposition in Realzeit. Diese Methode, mit der ich seit 1997 arbeite, ringt mit dem trainierten Körper eines Tänzers und den sprachlichen Konventionen des Tanzes. Das System, das ich in den letzten zehn Jahren entwickelt habe, ist somit kein ›Stil‹, sondern nichts anderes als ein Werkzeug, eine Art Referenzplan für meine Mitarbeiter und mich. Die Methode fungiert eher als eine Art Arbeitsethik, eine Möglichkeit, nach verschiedenen Darstellungsformen zu suchen und eine Offenheit für die verschiedenen Möglichkeiten des Kunstmachens zu schaffen. Es handelt sich um eine Methode, die noch im Entstehen begriffen ist. An ihrer Konsolidierung mittels Workshops, Laboratorien, Coaching – aber vor allem auch durch theoretische Auseinandersetzungen – waren und sind außer mir viele andere Personen aktiv beteiligt. Das System 8 | In Bezug auf diese Frage sagte Paula Caspão meiner Meinung nach etwas Bemerkenswertes: »Du wolltest mit Deiner Aussage einfach darauf hinweisen, dass dieser Körper etwas Komplexeres ist als ein Körper, der tanzt, und komplexer ist als ein Tanz, der Körper ist. Viele Philosophen, Dichter und Denker machen immer wieder den Fehler, […] im Tanz auf die Suche nach dem Körper zu gehen, was auf einer irrtümlichen Annahme über den Körper und den Tanz beruht: Nämlich indem beides für das wunderbare ›Andere‹ des Denkens gehalten wird, und sie dann bei der Suche etwas anderes finden, das allen Künsten, sogar dem Denken, zugrunde liegt. Der Tanz wäre für sie nicht eine Kunst wie die anderen, wie seine spezifischen Werke, sondern mehr als das – das anthropologische Moment aller Künste und Metapher des Denkens selbst, aber nur eine Metapher, weil der Tanz, obwohl er sich bewegt, stumm ist und ohne Worte […].«

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versucht, im Rahmen des Möglichen auf dieses Paradoxon, nämlich dass der Tänzer zugleich Objekt und Subjekt seiner Praxis ist, eine Antwort zu geben.9

Komposition in Realzeit 10 Bei der Methode der Komposition in Realzeit handelt es sich um ein System von Prinzipien und Regeln, das darauf ausgelegt ist, ›mich vor dem zu schützen, was ich will‹.11 ›Was ich will‹, ist genau das, was mir die Gabe nimmt, mir selbst, anderen und dem Raum, der mich umgibt, ›zuzuhören‹. ›Zuhören‹ (mit dem gesamten Körper) ist eine Grundvoraussetzung für die richtige Anwendung der Methode und somit die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass jedes Stück oder jedes Objekt, das ich schaffe, zu einer Offenbarung, zu einer Entdeckung wird, und nicht nur zu einer virtuosen Übung oder bloßen Bestätigung dessen, was ich ohnehin bereits weiß. Den Kern der Methode der Komposition in Realzeit sowie auch den Schwerpunkt dieses Essays bildet der Moment, in dem der Interpret-Improvisateur 12 im Verlaufe einer Handlung oder eines Gedankens durch die 9 | 2001 stellte Paula Caspão im Rahmen eines Forschungsateliers, das ich organisiert hatte, um die Komposition in Realzeit zu praktizieren und zu denken, folgende Überlegung an: »Das Zusammentreffen vom Körper der Lektüre mit dem Objekt derselben Lektüre, das in dieser Arbeit geschieht, bedeutet in der Komposition (in Realzeit), dass der Interpret in sich selbst diesen Ort der Kreuzung erfinden muss: Nicht als externer Leser/Zuschauer (denn das wäre schon der Ort des Zuschauers), sondern als Leser/Beobachter seiner selbst, der gleichzeitig sein Inneres und sein Äußeres sieht.« 10 | Die »Realzeit«, von der ich spreche, bezieht sich nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, auf den Gedanken einer »Echtzeit-Komposition«. Sie hat nichts mit dem Begriff der »spontanen Komposition« zu tun, die von vielen ›Improvisateuren‹ verwendet wird und die (wie ich annehme) auf der Idee einer freien und spontanen Komposition für den ›unmittelbaren‹ Moment beruht, in dem der Zuschauer Zugang zur Komposition hat, die sich vor seinen Augen abspielt. Die »Realzeit«, die ich meine, läuft ausschließlich im Geiste des Ausführenden ab. Es handelt sich um ein Zeitintervall, das folgende Schritte umfasst: 1) ein Bild-Ereignis, d.h. das Ergebnis eines äußeren oder inneren ›Zufalls‹, 2) seine Identifizierung (es ist dies oder jenes) sowie die Aufstellung von Reaktions-Hypothesen (ich kann auf diese oder jene Weise reagieren) und schließlich 3) die Antwort, die sich tatsächlich ergibt. 11 | Jenny Holzer: The Survival Series: Protect me from what I Want, New York 1985/1986. 12 | Der Begriff Interpret-Improvisateur betont die Tatsache, dass ein Improvi-

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Möglichkeit einer Veränderung ›gefangen‹ ist. Das ist der Moment, in dem der ›Körper, der sieht, was er tut, während er es tut‹, aktiviert wird, wie z.B. wenn wir mit einer Situation konfrontiert werden, in der wir eine Wahl treffen müssen. Dieser Turbulenzzone des Zweifels geben wir den Namen Kritische Zone. Wenn neue Koordinaten ausgemacht wurden, wird der Interpret-Improvisateur aufgefordert, in seinen vorherigen Zustand zurückzukehren (nicht zu verwechseln mit dem vorherigen Ort) und den extremen Bewusstseinszustand, der mit der Kritischen Zone zusammenhängt, loszulassen. Wir geben diesem Zwischenstadium den Namen Dig In. Diese Drinnen-Draußen-Bewegung (zwischen innen und außen und Handeln und Denken) ist bei dieser Methode von entscheidender Bedeutung. Es ist ebenso wichtig zu wissen, was man während einer Handlung macht, wie zu wissen, wann wir ›drin‹ sind und wann wir ›draußen‹ sind. Dieses Prinzip, das die Grundlage für alle anderen Prinzipien, aus denen sich die Methode zusammensetzt, bildet, ist simpel und basiert auf gesundem Menschenverstand: Ich kann nur ›verloren gehen‹ (der Zustand, um mich vor dem zu schützen, was ich will), wenn ich weiß, wo ich bin.13 Wird der Unterschied zwischen der Kritischen Zone und der Dig in-Phase erkannt, dann ist der Interpret in der Lage, sich von der ›Bedeutungsproduktion‹ zu lösen, ohne dass er dadurch sein Unterscheidungsvermögen für das, was er tut, und dafür, wie er es tut, verliert. Indem er an der Problemerkennung und einem aktiven Warten arbeitet, hat der Interpret die volle Handlungsfreiheit 14 innerhalb einer Kartographie der Bezüge. Skizzen zur K OMPOSITION

IN

R EALZEIT von João Fiadeiro

Fotos: João Fiadeiro sateur immer schon Interpret seiner eigenen Handlungen bzw. der Dinge, die er beim Improvisieren vorfindet, ist. 13 | Meine erste Choreographie aus dem Jahre 1989 trug den Titel Plan(e) to identify the centre. Das zeigt, wie lange ich mich schon mit diesem ›Problem‹ beschäftige. 14 | Ich verwende den Begriff »Freiheit« hier im Sinne des Philosophen Benedictus de Spinoza. Ich meine eine »radikale Freiheit, in dem die objektbezogenen Bedürfnisse, denen wir verfallen, auf ein Minimum reduziert werden«,

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Die Herausforderung und das Paradoxon für den Interpreten, der die Methode der Komposition in Realzeit nutzt und anwendet, besteht in der Entwicklung der Fähigkeit, 1.) zwischen der Kritischen Zone und der Dig in-Phase zu unterscheiden und 2.) während der Kritischen Zone in der Lage zu sein, eine Art Parallelleben zu führen, indem er sich gleichzeitig sowohl die Beziehung zu seinem Gegenüber als auch zum Inneren seines Körpers vergegenwärtigt. Dieses Parallelleben funktioniert wie ein ›Vorzimmer‹ für das Außen und verhindert, dass widersprüchliche Zeichen und reflektierte Aktionen vorzeitig ›von dort nach außen dringen‹. Es erlaubt dem Interpreten-Improvisateur, Unterscheidungsvermögen und kritischen Sinn zu entwickeln, um seine Intuition15 zu aktivieren – dies ist eine Schlüsselfähigkeit für diese Methode.

Eine kurze Einführung in die Prinzipien der Methode Der Interpret-Improvisateur darf auf keinen Fall ›Sinn‹ (Bedeutung) mit ›Sinn‹ (Orientierung) verwechseln. Er muss erkennen, dass seine ›Funktion‹ nicht darin besteht, zu wissen, was er darstellt oder welches die Bedeutung seiner Handlung ist. Stattdessen muss er eine Orientierung, eine Richtung finden, die ein Verhältnis mit dem ›Ich, der ich mit beim Tun zusehe‹, produziert und aufrechterhält. Vor diesem Hintergrund gibt es drei Strukturprinzipien, die der Interpret-Improvisateur verkörpern muss. Das erste und das dritte Prinzip beziehen sich auf die Kritische Zone, während das zweite Prinzip die Handlung ›unterstützt‹, die »Dig in-Phase«. Erstes Prinzip: Die vorbenannte ›Richtung‹ sucht man nicht, man findet sie. Dieses Prinzip wird von der Vorstellung getragen, dass man Dinge findet, weil sie bereits in der Peripherie unserer Aufmerksamkeit existieren. Sie warten nur darauf, ›entdeckt‹16 zu werden, und die Arbeit im Gegensatz zu der Freiheit, von der »generell in Diskussionen über freien Willen die Rede ist« (Antonio Damásio: Der Spinoza-Effekt, Berlin: List 2006, S. 217). 15 | »[…] eine akrobatische Fähigkeit, Dinge in allen Einzelheiten zu durchdenken, als sei man in sie eingetaucht, bis zu dem Punkt, wo man so tief eingetaucht ist, dass man nicht mehr denken kann« (Vladimir Jankélévitch, Auszug aus einer Hommage an Henri Bergson, in: Ina/Frémeaux & Associés (Hg.): Anthologie sonore de la pensée française, Vincennes: Ina/Frémeaux & Associés 2003). 16 | Zum Beispiel existiert in dem Augenblick, in dem ich diese Wörter in den Computer schreibe, ein ganzes Konglomerat von Nebenhandlungen, die mir die Ausführung der Hauptaktion ermöglichen: ›auf den Bildschirm schauen‹, ›auf einem Stuhl sitzen‹, ›mit den Fingern auf die Tastatur klopfen‹,

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des Interpreten-Improvisateurs besteht darin, diese latente Möglichkeit zum Vorschein zu bringen. Zweites Prinzip: Wenn er einmal die Orientierung bzw. Richtung für sein Tun gefunden hat, muss der Interpret-Improvisateur sie bis zum Ende (das meist viel weiter weg ist, als man es sich vorstellt) aufrechterhalten – mit derselben Überzeugung und Hingabe, die er hätte, wenn er wüsste, wozu sie dient und wohin ihn diese Aktion führt.17 Drittes Prinzip: Eine Richtungsänderung darf nur geschehen, wenn man vor dem tatsächlichen Ende der Aktion steht bzw. dieses bereits eingetreten ist.18 Das Ende kann jedoch nicht vorzeitig herbeigeführt werden, wenn man aus Langeweile, Aufregung oder irgendeinem anderen Grund eine bestimmte Handlung zum Abschluss bringen will. Das Ende der Aktion kann ›objektiv‹ sein, weil es sich direkt aus dem ›Material‹ ergibt, mit dem man arbeitet (ich kann nicht weitergehen, weil vor mir eine Wand ist oder weil mich jemand am Arm festhält). Oder es kann ›subjektiv‹ sein, wie z.B., wenn man annimmt, dass die sich aus der Handlung ergebende Spannung und Aufmerksamkeit erloschen sind. Diese Prinzipien gehen permanent ineinander über. Natürlich ist das Ziel, so lange wie möglich im zweiten Prinzip ›zu bleiben‹ (das Prinzip ›bis zum Ende‹). Dies würde die Schaffung eines Gleichgewichts implizieren. Aber wir alle wissen, dass das unmöglich ist. Per definitionem tendieren physikalische Systeme zum Chaos,19 das ist ihr ›natürlicher‹ Zustand. Mein Hauptanliegen als Künstler ist nicht, das Chaos zu vermeiden, sondern es zu überleben. Deshalb kann ich darüber sprechen. Und eine Möglichkeit, um dies zu erreichen, ist, die Unausweichlichkeit der Veränderung zu akzeptieren und einzusehen, dass »Entropie eine Schultermassage bekommen, während ich schreibe‹ usw. Wäre ich in diesem Augenblick im Studio und würde die Methode anwenden, wären dies die einzigen ›zu entdeckenden‹ und zu verändernden Orte. 17 | Wie im täglichen Leben, wo wir wissen, wo und wie und warum wir etwas tun, strahlen wir durch unsere Anwesenheit eine ›natürliche‹ Überzeugung und Verbindlichkeit aus. Die Komposition in Realzeit zielt auf die gleiche Überzeugung und Verbindlichkeit ab, nicht notwendigerweise auf eine natürliche, aber ohne den Druck des ›Warum‹ – eine Verantwortung, die wir dem Zuschauer überlassen. 18 | In diesem Fall besteht die einzige Veränderung darin, das Ende zu akzeptieren (was sehr schwierig ist und nicht so einleuchtend, wie es scheinen mag). 19 | »Selbstaufgabe, ein physisches System, das zur Maximierung seiner Entropie neigt, ein Prozess, der mit Auflösung, Rückzug und zunehmender Unordnung des Systems einhergeht.« (David Bohm/F. David Peat: Ciência, Ordem e Criatividade, Lissabon: Gradiva 1989, S. 183)

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eine andere Form der Ordnung ist«.20 Mein Anliegen als Forscher ist es, eine Möglichkeit zu finden, um einen weichen Übergang von der Ordnung in die Unordnung und umgekehrt zu erreichen (sonst würde ich einen Ort, an dem ich mich wohlfühle, nie verlassen). Deshalb ist das Konzept des raccord 21 von so zentraler Bedeutung bei dieser Arbeit. Im Zusammenhang mit der hier thematisierten Methode bezieht es sich auf die Vorstellung, dass es eine Achse der Haupthandlung gibt, an die eine Gesamtheit von peripheren Handlungen zur Stützung der Haupthandlung gekoppelt ist. Nur so lässt sich die Kohärenz und Logik der vorausgegangenen Handlung bei einer Veränderung der ›Ordnung‹ aufrechterhalten: eine Kohärenz, die bewahrt wird, obwohl es weder ein Skript noch eine vorhersehbare Zukunft gibt. 22 Darüber hinaus existiert eine Gesamtheit von Regeln und praktischen Beispielen, die diese drei Prinzipien stützen, aber in der Kürze dieses Beitrags schwierig zu erklären und zu kontextualisieren sind. Notizbuch von João Fiadeiro

Foto: José Tomás Féria 20 | Ebd., S. 183. 21 | Es handelt sich hierbei um einen kinematographischen Ausdruck, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie zwei aufeinanderfolgende Kameraeinstellungen miteinander verbunden werden, um den Eindruck von Kontinuität zu wahren, obwohl es einen Schnitt zwischen diesen Einstellungen gegeben hat. 22 | Dieses Prinzip erinnert an Jacques Derridas Unterscheidung zwischen futur und avenir. Demnach gibt es die vorhersehbare Zukunft ( futur), die so geschieht, wie wir sie planen, und die unvorhersehbare Zukunft (avenir), die kommt, ohne dass wir sie antizipieren können. Vgl. Derrida, ein Film von Kirby Dick und Amy Ziering, 2006: Jane Doe Films.

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Epilog Ich denke, dass meine Arbeit eine vergleichbare Aufmerksamkeit und Spannung erfordert wie ein Schachspiel, in dem man mit maximal drei Spielzügen (normalerweise sind es viel mehr) zum König, dem endgültigen Ziel des Spiels, kommen kann. Diese in der Natur des Spiels liegende Beschränkung ist ein ziemlich passendes Bild für die von uns entwickelte Arbeit. Ein anderer, in diesem Zusammenhang wichtiger Aspekt des Spiels ist die Notwendigkeit, jeden Zug des Gegners zunichte zu machen. Wir können Aussagen über den Wissensgrad eines Spielers machen, indem wir uns anschauen, wie seine Spielzüge Möglichkeiten eröffnen und Räume schaffen, um das Spiel in einem ganz bestimmten Moment (unerwartet für den Gegner, aber minutiös überwacht vom Spieler) mit einem Schlag zu ›töten‹. In dem Augenblick, in dem wir mit der Evidenz einer unerwarteten Tatsache konfrontiert werden, müssen alle bis dahin in Erwägung gezogenen Möglichkeiten aufgegeben werden. Obgleich das ›Unerwartete‹ für einen erfahrenen Spieler sehr selten ist, ist es genau dieser Moment, für den ich arbeite: einen guten Spieler unter Hochspannung zu sehen, bevor sein Gegner einen ›unerwarteten‹, ›intriganten‹ und ›rätselhaften‹ Zug macht. Ich glaube fest daran, dass es genau diese Leere ist, diese Zeitparenthese, in der das Leben für einen kurzen Augenblick zum Stillstand kommt, in dem sich die Kunst (wie auch das Spiel) in eine sublime verwandelt. Notizbuch von João Fiadeiro

Foto: José Tomás Féria

Aber es gibt auch einen grundlegenden Unterschied zwischen der Komposition in Realzeit und einem Spiel: Der Gegner ist in der Komposition in Realzeit nicht ›der Andere‹, sondern ›wir selbst‹. Meistens gewinnt man, weil man sich verliert (denn das ist der Moment, in dem wir uns

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offenbaren), und nicht zuletzt, weil die Regeln erst gemäß der Entwicklung der Spielzüge in Erscheinung treten. Jede neue Veränderung des Schwierigkeitsgrades verändert die Regeln – wenn auch nur geringfügig – und das Spiel muss sich den neuen Bedingungen anpassen (und nicht umgekehrt). Und um die Sache noch komplizierter zu machen, muss diese Anpassung von Beginn des ›Spiels‹ an ›in der Rückschau‹ gültig sein. Übersetzung aus dem Portugiesischen

Literaturverzeichnis Bohm, David/Peat, F. David (Hg.): Ciência, Ordem e Criatividade, Lissabon: Gradiva 1989. Cage, John: Silence, Middletown: Wesleyan University Press 1961. Damásio, António: Der Spinoza-Effekt, Berlin: List 2006. Jankélévitch, Vladimir: Auszug aus einer Hommage an Henri Bergson, in: Ina/Frémeaux & Associés (Hg.): Anthologie sonore de la pensée française, Vincennes: Ina/Frémeaux & Associés 2003. RE.AL (Hg.): DOC.LAB, Lissabon: RE.AL 2000.

Internetquellen www.re-al.org.

Wie möchten Sie heute arbeiten? Anmerkungen zu einem alternativen choreographischen Modus für die Redeproduktion Jeroen Peeters

Wie möchten Sie heute arbeiten? So einfach diese Frage klingen mag – richtet man sie an Choreographen, Tänzer und andere im Bereich Tanz und Performance tätige Menschen, wird man darauf Hunderte von Antworten erhalten. Wird die Frage zudem im Rahmen eines Tanzkongresses gestellt, der unter dem anspruchsvollen Motto Wissen in Bewegung stattfindet,1 so wirft sie durch ihren performativen Charakter viele mehrdeutige und widersprüchliche Diskursströme und Weltanschauungen auf, welche der gegenwärtigen Debatte über künstlerische Forschung weiteren Zündstoff verleihen. Läuft man mit dem von Natur aus kritischen Unterfangen, den Tanz zum Wissensgebiet zu deklarieren, nicht auch Gefahr, die Terminologie der ›Wissensgesellschaft‹2 zu übernehmen? Wenn Künstler gleichzeitig Forscher, Entwickler, ja gar Manager des ›kreativen Wissens‹ sein sollen, wird ihre Erfahrung dann nicht allzu schnell in Schubladen gesteckt und instrumentalisiert? Angesichts der angestrebten Standardisierung der Hochschulausbildung in Europa sowie der Einführung eines Doktors in der Kunst wurde im Zuge des Bologna-Prozesses die Frage aufgeworfen, ob künstlerische 1 | Dieser Essay bezieht sich auf den Salon Choreographische Arbeitsweisen, der im Rahmen des Tanzkongresses unter der Leitung des Performancetheoretikers André Lepecki und der Dramaturgin Myriam Van Imschoot stattfand. Ich danke ihnen und Pirkko Husemann für Vorschläge und Anmerkungen zu diesem Essay. 2 | Für eine aktuelle kritische Analyse der ›Wissensgesellschaft‹ und ihrer Terminologie in Bezug auf Humanismus und Bildung vgl. Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien: Paul Zsolnay 2006.

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und wissenschaftliche Forschung einen vergleichbaren Status innehätten. Wenn künstlerische Forschung und künstlerisches Schaffen in fremden Bezugsrahmen nicht nur diskutiert werden, sondern sie darüber hinaus auch den dort herrschenden Diskursen und Normen zu entsprechen haben, sind wir dann nicht weit entfernt von heimischem Terrain? Wenn anerkannt wird, dass künstlerische Forschung eng mit den Erfahrungen der Menschen verwoben ist und das hervorgebrachte Wissen sich als ganz spezifisch, praktisch und oft implizit erweist, wozu dient dann der neohumanistische Diskurs über ›Wissen‹? Welche Art von Kunst schwebt Dir vor? Was bedeutet dies im Rahmen eines Kongresses, der die Komponente des Wissens so stark hervorhebt? Wie können Wissen, Theorie und Politik in choreographische Arbeitsweisen übersetzt werden? Worin bestehen heute die Möglichkeiten des künstlerischen Schaffens? Welche performativen Implikationen hat die Benennung? Inwiefern beziehen sich Kategorisierungen auf verschiedene Bewegungen der Kunstgeschichte? Welche Struktur oder Form ist dazu geeignet, bestimmte Fragen auf dem Wege des Choreographischen ansprechen zu können? Wie können Überschneidungen bei den aufgeworfenen Fragen zur Klärung der in verschiedenen Bereichen betriebenen Politik beitragen oder gar etwas Neues hervorbringen?3 Im Rahmen des Tanzkongresses im April 2006 fand unter der Leitung der Tanztheoretiker und Dramaturgen André Lepecki und Myriam Van Imschoot ein sich über zwei Nachmittage erstreckender Salon zum Thema Choreographische Arbeitsweisen (CHOREOGR APHIC MODES OF WORK ) statt. Zu der Gesprächsreihe kamen eine Gruppe von geladenen Gästen, darunter die Choreographen Amos Hetz, Thomas Lehmen und Lisa Nelson, der Forscher Scott deLahunta und die Produzentin Eva-Maria Hoerster sowie zahlreiche Besucher an einem großen Tisch zusammen. Die Frage ›Wie möchten Sie heute arbeiten?‹ diente dabei als indirekter Auf hänger für eine Vielzahl von Themen aus den Bereichen künstlerische Forschung, Wissen und Produktivität. Wird dabei versäumt, die Bandbreite der Möglichkeiten und Praktiken im Vorfeld aufzuzeigen und somit dieser Frage Substanz zu verleihen, können epistemologische und politische Diskussionen schnell ins Leere laufen. Die Auseinandersetzung mit all diesen Fragen bei gleichzeitiger Vermeidung des plakativen Vokabulars der Wissensgesellschaft, einer kritiklosen Romantisierung der künstlerischen Praxis sowie der Versuchung, die Allgemeinplätze der Kritischen Theorie herunterzubeten, verlieh der Diskussion im Salon den Charakter einer etwas absonderlichen Choreographie. 3 | Sämtliche kursiv gedruckten Fragen gehen auf Beiträge der Teilnehmer des Salons Choreographische Arbeitsweisen zurück.

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In den Gesprächen schlug Myriam Van Imschoot eine Fokusverlagerung vom ›Choreographen‹ als Aufgabenträger hin zum ›Choreographischen‹ vor, wodurch sich der reine Personenbezug einer Vielzahl von choreographischen Aktivitäten, Haltungen, Fragestellungen, Modi, Prozessen und Produkten öffnen sollte: »Es gibt Aktivitäten mit bestimmten Merkmalen, Aufgaben, Pflichten und Methoden, die nicht notwendigerweise in einem Aufgabenträger Gestalt annehmen.« Legt man ein noch weiter gefasstes Verständnis zugrunde, so umfassen choreographische Arbeitsweisen den schöpferischen Akt gleichermaßen wie Kreativität, Produktion, Unterricht, Training, Dramaturgie usw. Lepecki brachte diese Thematik auch mit den Performance Studies in Verbindung, deren Ziel nicht in der Ansammlung von Wissen, sondern vielmehr in der Schaffung von Möglichkeiten sowie in der Umwandlung der Wirklichkeit mittels der diese prägenden Diskurse, Abbildungen und Vorstellungen besteht. Fasst man den Titel des Salons noch etwas weiter, so bringt ein ›Modus‹ stets eine spezifische Ausdrucksform mit sich: Dabei wird die jeweilige Substanz mit seinem Ausdruck und seiner Modifizierung in einer bestimmten Form verknüpft, wobei diese gleichzeitig den Ausdruck selbst zum Ausdruck bringt. 4 Eine andere Art des Denkens oder Sprechens ist also nicht nur eine Sache des Inhalts, sondern erfordert einen anderen Modus der Arbeit, der Körpers, der Form oder des Prozesses. In dieser Hinsicht kann der Salon Choreographische Arbeitsweisen nicht auf seinen Inhalt reduziert werden – das Experimentieren mit einer neuen Art der Konversation verleiht ihm in gleichem Maße Relevanz und Gewicht. Wie möchten Sie heute arbeiten? Es wäre ein schier aussichtsloses Unterfangen, in diesem Rahmen einen umfassenden Bericht über den Salon abzugeben oder die Genealogie aller während der Gespräche geäußerten oder entwickelten Gedanken nachzuzeichnen. Ich möchte lediglich einige davon in Form von Fragen wiedergeben, die ich in meinem Notizbuch festgehalten habe und von denen ich hoffe, dass sie ihren offenen Charakter und ihre Relevanz trotz der Kürzung nicht einbüßen. Auch auf die Gefahr der Verallgemeinerung hin werde ich davon ausgehend einige Beobachtungen zur ›Nichtkomprimierbarkeit‹ der künstlerischen Forschung sowie zum von ihr gelieferten Wissen hinzufügen. Was ist Choreographie? Worin besteht ihre Bedeutung? Inwiefern ist sie (ir)relevant für Deine Arbeit? Werden die jeweiligen Prozesse im Ergebnis sichtbar? Wie kann die Offenheit des Produkts bewahrt werden? Wie ist Deine Wahrnehmung bzw. Lesart hinsichtlich der verschiedenen Arbeits4 | Vgl. Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink 1993, S. 17f.

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weisen? Was siehst Du? Was sind Deine Vorstellungen? Wie können sie choreographisch umgesetzt werden? Welchen Stoff liefert Dir der Blick auf die Welt durch die Brille eines Künstlers? Welche Verantwortung bringt die künstlerische Tätigkeit mit sich? Was bietest Du den Menschen? Welche Reaktionen erwartest Du von ihnen? Was passiert, wenn bei Dir die Grenze zwischen Leben und Kunst verschwimmt? Würde Dich das in die Orientierungslosigkeit stürzen? Salon CHOREOGR APHISCHE A RBEITSWEISEN , TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Diese Fragen weisen nicht nur in ganz unterschiedliche Richtungen, sie stehen auch für eine Vielzahl von Stimmen und spiegeln eine fundamentale Handlung wider: das Wort zu ergreifen. Ein besonders auffälliges Merkmal des gesamten Salons war, wie sehr sich die Teilnehmer darum bemühten, das Wort zu ergreifen, sich Gehör zu verschaffen und am Gespräch teilzuhaben. Vielleicht war dies symptomatisch für die in Deutschland so sehr institutionalisierte Tanzszene, in der viele Künstler schlichtweg unsichtbar sind, sowie auch für einen Kongress, auf dem nur wenig Raum für Künstlerstimmen oder Publikumsbeteiligung blieb. Vielleicht wird dadurch aber auch noch etwas anderes deutlich? In der Folgezeit des Mai 1968 schrieb der französische Soziologe und Philosoph Michel De Certeau von der »Eroberung der Rede«5 als neuem Recht, welches dem Recht des Menschseins gleichkommt und als Bestätigung der Existenz gelten kann. Sie ist eine Geste der Verweigerung und der Anfechtung, die jegliche Identifikation zurückweist; in 5 | Vgl. Michel De Certeau: The Capture of Speech and Other Political Writings, hg. von Luce Giard, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1997.

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diesem spezifischen Zusammenhang ist sie jedoch auch »ein ›festgehaltenes‹ Wissen, dessen Erlernen die Lernenden zu Instrumenten eines Systems machen würde; Institutionen, die alle ihre ›Beschäftigten‹ in Angelegenheiten verwickeln, die nicht die ihrigen sind; eine Autorität, die anderen ihre Sprache auferlegen will und Nichtkonformität sanktioniert und so weiter«.6 Es bedarf keiner großen Vorstellungsgabe, um die Aktualität der Worte De Certeaus zu erkennen und sie mit der heutigen ›Wissensgesellschaft‹ in Verbindung zu bringen, deren Sprache viele Bereiche durchdringt und die bereits in erheblichem Ausmaße von den Menschen verinnerlicht wurde. Die Eroberung der Rede muss stets aufs Neue wiederholt werden, damit ihre Relevanz am Leben gehalten wird, damit die Macht des legitimierten Wissens aus den Angeln gehoben wird und neue Sprachen und Ausdrucksformen entstehen können. Durch die Eroberung der Rede wurde allen der Zugang zu Debatten über grundlegende Themen wie Gesellschaft, Wissen, Kunst und Politik ermöglicht. Für De Certeau ist es jedoch vor allem die ausgeprägte Mehrdeutigkeit einer Geste, die politischen Wert hat und die Möglichkeit eröffnet, die Grundlage zu einer neuen Gesellschaft zu liefern. Die Eroberung der Rede schafft Differenz mittels vieler (ungehörter) Stimmen. Gleichermaßen symbolisiert sie jedoch auch die Differenz, da sie einer neuen, andersartigen Sprache der Zukunft den Weg weist. Mit ihrem zutiefst provisorischen, verwirrten und nicht reduzierbaren Charakter stellt uns die Eroberung der Rede vor eine Herausforderung: »Das Leben in der Zukunft kann nur durch die Entfremdung von der eigenen Rede gelebt werden, genau wie die Existenz enden wird, sobald wir der Versuchung des Neuerschöpfens zu widerstehen beginnen.« 7 Wie möchten Sie heute arbeiten? Mit jeder Antwort, die man darauf gibt, stellt sich eine neue Frage: Wie spricht man über choreographische Arbeits- und Produktivitätsweisen? Oder auch: Wie spricht man über künstlerische Forschung in einer anderen Sprache als der des Neohumanismus oder der Wissensgesellschaft? Hier lohnt es sich anzumerken, dass die modernistische Hierarchie der Wissensproduktion auf dem Gebiet des europäischen Tanzes zu Fall gebracht wurde, als Pina Bausch damit begann, ihren Tänzern Fragen zu stellen und sich ihre Antworten anzuhören, wodurch sie die Positionen der Wissenden mittels der Rede neu verteilte. André Lepecki beobachtet einen epistemologischen Bruch in dieser Geste Pina Bauschs, der bestehende Autoritäten untergrub und den Tanz endgültig zu einer Wissensdomäne machte8 – zu einem Wissensgebiet jedoch, in dem alle am Schöpfungsprozess beteiligten 6 | Ebd., S. 12f. 7 | Ebd., S. 24. 8 | Vgl. André Lepecki: »Dance without Distance«, in: ballettanz 2 (2001), S. 30.

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Personen die gleiche, vielversprechende Ausgangsbasis des ›Nicht-Wissens‹ teilen. Der Enthusiasmus, mit dem viele Teilnehmer das Wort ergriffen, ließ den Salon Choreographische Arbeitsweisen allerdings auch ein wenig vom Thema abdriften, was noch durch die Schwierigkeit verstärkt wurde, von Konfusion und Nicht-Wissen ausgehen zu müssen und die sich daraus ergebenden Potenziale als Konversationsmodus zu erkennen und umzusetzen. Wie kann man seine Gewohnheiten außen vor lassen? Kann man Tanz überhaupt ohne Gewohnheiten gestalten? Wie steht es dann mit der Gewohnheit der Kreation oder Darbietung von Tanz? Wie trifft man angesichts der sich immer mehr vervielfältigenden Arbeitsweisen eine Auswahl? Sind klare Erwartungen im Schwinden begriffen? Worin liegt der Zusammenhang zwischen Kultur und der Erzeugung von Aufmerksamkeit? Auf welche Weise kann Kultur durch die Erzeugung von Aufmerksamkeit gewandelt werden? Wie können neue Sinnessysteme zur Erzeugung von Aufmerksamkeit erschlossen werden? Wie interpretieren wir Intentionen und Aufmerksamkeit bei anderen Menschen, um in einem sozialen Gefüge überleben zu können? Wie lässt sich die innere Aufmerksamkeit des Tänzers ausbilden? Wie wird man sich der Lücken bewusst, die man niemals schließen können wird? »Könnte man noch einmal deutlicher machen, worüber wir hier genau sprechen in Bezug auf diese choreographischen Arbeitsweisen?« Dieser von einem Teilnehmer geäußerte Klärungsbedarf angesichts einer vielschichtigen Diskussion weist auf eine weitere Art der Mehrdeutigkeit hin. Die Vagheit, die ›choreographischen Arbeitsweisen‹, ›künstlerischer Forschung‹ und damit zusammenhängenden Themen anhaftet, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Begrifflichkeiten, da es sich um so genannte »Essentially Contested Concepts« 9 handelt. Der Definition Gallies zu Folge sind diese beurteilungsoffen, in ihrem Inneren komplex und anfänglich auf unterschiedliche Weise beschreibbar, jedoch auch den Umständen unterworfen und somit äußerst formbar.10 Kennzeichnend für diese Konzepte ist eine ausgeprägte Vieldeutigkeit, in der eine gemeinsame, verallgemeinerte Intuition mit der Herausbildung spezifischer Ansichten, Haltungen und Handlungen einhergeht. Die Offenheit und der performative Charakter dieser Konzepte ermöglichen eine andere Herangehensweise bei der Erkundung der Wirklichkeit, bei der es nicht darauf ankommt, einen objektiven und allgemeingültigen Erklärungsansatz zu finden, sondern durch die Freiräume für das Einzigartige, Ungewisse und Willkürliche eröffnet werden. Es geht also 9 | Walter Bryce Gallie: »Essentially Contested Concepts«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), S. 167–198. 10 | Ebd., S. 171f.

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nicht um universalistische Ansprüche und Gewissheiten, sondern um eine nachhaltige kritische Reflexion der ›Gegenwart‹. In seinem Essay »Was ist Auf klärung?«11 schlägt Michel Foucault vor, die Moderne und die Auf klärung als kritische Haltung zu sehen, als eine reflexive Art des Gegenwartsbezugs.12 Er entwirft die Umrisse einer »historischen Ontologie unserer selbst« als philosophisches Unterfangen. Dabei handelt es sich um eine liminale, experimentelle und unablässig fortwirkende Haltung, bei welcher die Kontingenzen erforscht werden, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, und die es uns ermöglichen, anders zu sein. Ein besonderes Gerüst aus Praktiken und Diskursen dient dabei als Bezugsrahmen: Was tun, denken und sagen die Menschen, und auf welche Weise geschieht dies? Und mit welcher Freiheit handeln sie innerhalb von Systemen und verändern dabei die Spielregeln? Vor dem Hintergrund bestehender Gewohnheiten und Ansichten wird die gegenwärtige Wirklichkeit zum Prüfstein unserer eigenen Grenzen und unserer Möglichkeitssinne. Eine Ontologie der Gegenwart liefert nur vorübergehende, partielle und örtlich begrenzte Antworten, sie muss als Prozess verstanden werden und bleibt naturgemäß vage, da sie uns an die Grenzen unseres Verstehens bringt. Betrachtet man choreographische Arbeitsweisen als eine Gesamtheit von Praktiken, dann lag der eigentliche Zweck des Salons wohl darin, eine Ontologie der Gegenwart in Angriff zu nehmen. Wie möchten Sie heute arbeiten? Bedeutet künstlerische Tätigkeit einen Sprung ins Ungewisse? Welche Eingebungen, Erinnerungen oder Entscheidungen begleiten Sie und schaffen die Grundlage für Kreativität? Welches sind die Voraussetzungen dafür, in einen Zustand des Nicht-Wissens einzutreten? Wie kann man auf die Melodie der Worte, auf Gesten, auf Pausen und Zögern achten und sich vom Unbekannten weniger bedroht fühlen? Wie geht man mit der eigenen Geschichte, den eigenen Wünschen, Geheimnissen und verborgenen Kräften um? Wie entdeckt man die Seele eines Stückes, ohne seine eigene Seele hineinzuprojizieren? Wie reflektiert man die Welt ohne jegliche Handlungsanleitung? Wie steht es mit der Macht des Choreographen als Urheber? Was ist mit Improvisation? Wie lässt man das Leben außerhalb des Theaters in choreographische Strukturen einfließen? Wie gelangt man zur äußeren Welt? Wie lernt man zu begreifen, dass es auch andere Perspektiven gibt?

11 | Michel Foucault: »What is Enlightenment?«, in: Paul Rabinow (Hg.): The Foucault Reader, New York: Pantheon Books 1984, S. 32–50. 12 | Vgl. René Boomkens: De nieuwe wanorde. Globalisering en het einde van de maakbare samenleving, Amsterdam: Van Gennep 2006, S. 24–27.

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Choreographische Arbeitsweisen und das daraus entstehende Wissen sind mit den Handlungen und Erfahrungen der Menschen verbunden. Ein roter Faden des Salons waren die Grenzen unseres Verstehens und Handelns, ausgedrückt im Verlangen, einen Bezug zum Unbekannten herzustellen oder sich im Rahmen seiner Arbeit in einen Zustand des Nicht-Wissens zu begeben. Anstatt den Tanz als das Andere innerhalb von Kultur zu feiern, erfordert dies die Berücksichtigung des Subjektbegriffs, wie es in der künstlerischen Forschung anerkannt ist. Dabei geht es darum, eine bescheidene Haltung gegenüber Wissen und NichtWissen einzunehmen. Generell wurden zwei Arten von Heteronomie diskutiert: erstens die produktionsspezifischen Umstände, die kanonische Legitimität, die wirtschaftlichen Aspekte, die Politik der Sichtbarkeit und andere äußere Umstände, welche der Autonomie des Künstlers zuwiderlaufen; und zweitens die technischen Fähigkeiten und die fehlende Kontrollierbarkeit, die Frage der Urheberschaft und die Schwierigkeit, die Seele eines Stückes zu erfassen, oder auch die fast schon autonome Logik einer Methode usw. All diese Aspekte rufen uns die Grenzen und die instabile Position des wissenden Subjekts ins Bewusstsein, welches nicht für alle Probleme durchlässig, sondern vielmehr zutiefst verletzlich ist. Dabei muss nicht gesondert darauf hingewiesen werden, dass beide Kategorien das Konzept des modernen, aufgeklärten Subjekts sowie den selbstbewussten Voluntarismus der Wissensgesellschaft auf die Probe stellen, in der wir alle unsere eigene Realität in den Händen haben und uns lieber Wissen erkaufen und ›ergoogeln‹, anstatt unseren eigenen Erfahrungsschatz aufzubauen, der »personhaft integrierte, erzählerisch und begrifflich geordnete Komplexe des Wissens«13 umfasst. Wie möchten Sie heute arbeiten? Wie denkt, redet und handelt man durch die Heteronomie hindurch? Dies ist eine grundlegende Fragestellung in Bezug auf die Subjektivität, die in der künstlerischen Forschung und der Frage nach der Ontologie der Gegenwart auftritt. Foucault verweist auf die Gegenwart als Prüfstein, um die bedeutenden Narrativen und Projekte der Moderne außen vor zu lassen und die Umgebung schlichtweg mithilfe des kritischen Bewusstseins zu formen und zu gestalten. Meinungsverschiedenheiten kennzeichneten auch eine Diskussion im Salon, die von Thomas Lehmens Vorschlag angestoßen wurde, die Kunst und andere menschliche Aktivitäten als »Erschaffung eines Stücks Welt« zu betrachten. Wird damit eine Parallelwelt geschaffen, hinzugefügt oder umgewandelt? Wer hat Zugang zur Erschaffung der Wirklichkeit bzw. zu den Vorstellungen und Bildern, 13 | Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 344. Vgl. auch S. 93–96.

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die dieser Wirklichkeit Gestalt geben? Worin besteht die Rolle des Künstlers? Welche Weltanschauung steht dahinter? Sind wir tatsächlich die Gestalter unseres eigenen Lebens und seiner Umstände? Je gewichtiger die besprochene Thematik wurde, desto heikler wurde die Diskussion zu den choreographischen Arbeitsweisen und desto mehr gingen die Meinungen auseinander. Auch wenn die Diskussion inhaltlich kaum zu einem Ergebnis kam, so wurde die Heteronomie als alternativer Modus der Produktion von Rede jedoch explizit im Rahmen des Salons thematisiert: als choreographiertes Gespräch, das als ›offene Improvisation‹ begonnen hatte und sodann spielerische Züge und Strukturen annahm. Am zweiten Nachmittag brachte Myriam Van Imschoot eine neue Partitur ins Spiel, bei der ein Teilnehmer das Wort an den nächsten in Form einer Fragestellung weitergeben sollte, wobei die anderen sich mit ›Rufen‹ nach Erklärungen und Ergänzungen oder in dringenden Fällen beteiligen konnten. Dadurch wurde die Rede neu aufgeteilt und es entstand Raum für Veränderungen: Das Wissen lag nunmehr im unumstößlichen und nicht komprimierbaren Handeln. Anstelle eines Schlussworts zog Myriam Van Imschoot es vor, in der Dichte der Diskussion zu verweilen, folgte einem Vorschlag von Lisa Nelson und lud alle Teilnehmer dazu ein, ihre Augen zu schließen und sich im Dunkeln tappend auf die Reise zu machen. Übersetzung aus dem Englischen

Literaturverzeichnis Boomkens, René: De nieuwe wanorde. Globalisering en het einde van de maakbare samenleving, Amsterdam: Van Gennep 2006. De Certeau, Michel: The Capture of Speech and Other Political Writings, hg. von Luce Giard, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1997. Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink 1993, S. 17f. Foucault, Michel: »What is Enlightenment?«, in: Paul Rabinow (Hg.): The Foucault Reader, New York: Pantheon Books 1984, S. 32–50. Gallie, Walter Bryce: »Essentially contested concept«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1965), S. 167–198. Lepecki, André: »Dance without Distance«, in: ballettanz 2 (2001), S. 29–31. Liessmann, Konrad Paul: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien: Paul Zsolnay 2006. Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

Körperwissen und -gedächtnis

H AUT SACHE BEWEGUNG – MOVING FROM THE SKIN von Dieter Heitkamp, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006, Foto: Thomas Aurin

Welten verfügbar machen Alva Noë

Erfahrung verstehen Man geht in eine Kunstgalerie und sieht sich ein ungewöhnliches Kunstwerk von einem unbekannten Künstler an. Manchmal kommt es in einer solchen Situation vor, dass einem das Kunstwerk als flach oder undurchsichtig erscheint. Man versteht es nicht. Aber man gibt nicht so schnell auf. Man sieht genauer hin. Vielleicht diskutiert man mit anderen über das Werk. Oder man liest den Titel und erfährt dadurch mehr. Dann kann etwas Bemerkenswertes geschehen: Das Kunstwerk beginnt sich zu öffnen – und mit einem Mal ist man in der Lage, in das Werk hineinzublicken und seine Struktur zu erkennen. Zu diesem Phänomen lassen sich zweierlei Beobachtungen anstellen: Zum einen ändert sich trotz der neuen Erfahrung mit dem Kunstwerk nichts am Werk selbst. Es besitzt nicht mehr Struktur oder Bedeutung als zuvor. Wenn sich also etwas verändert, dann vollzieht sich dieser Wandel im Betrachter selbst. Zum anderen handelt es sich bei der Veränderung im Betrachter nicht um eine rein subjektive Veränderung. Es ist nicht etwa so, dass man durch dieses Erlebnis eine andere Einstellung oder Meinung zum Gesehenen bekommt. Wie auch immer die Veränderung aussieht, sie ermöglicht es dem Betrachter, im Kunstwerk fortan das wahrzunehmen, was der Wahrnehmung zuvor nicht zugänglich war. Dieser Wandel, der es dem Betrachter ermöglicht, ein bestimmtes Objekt erstmals wahrzunehmen, trägt einen Namen: Er heißt Verstehen. Das Kunstwerk wird durch den Verstehensprozess sichtbar. Das Verstehen bringt uns dazu, im Werk das wahrzunehmen, was wir zuvor nicht wahrnehmen konnten. Wie ich bereits an anderer Stelle dargestellt habe, trifft das, was für

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das Erfahren eines Kunstwerks gilt, auch für das menschliche Erleben im Allgemeinen zu. Die Welt wird für uns nur dann tatsächlich erfahrbar, wenn wir sie verstehen, also kennen oder voraussehen. Einer der Gründe, weshalb wir der Kunst eine so große Bedeutung beimessen und insbesondere im Rahmen der Bildung so viel Wert auf Kunst (und Tanz) legen bzw. legen sollten, besteht darin, dass sich in der Kunst eben diese fundamentale Beziehung zu der uns umgebenden Welt widerspiegelt: Die Welt erscheint als leer und flach, solange wir sie nicht verstehen. Dabei handelt es sich um ein wahrhaftes Paradoxon, denn: Wie können wir überhaupt etwas wahrnehmen, wenn wir es bereits kennen müssen, um eine Wahrnehmung überhaupt zu ermöglichen? Wie können wir je dazu in der Lage sein, etwas Neues wahrzunehmen? Diese Problematik ist nicht neu. Bereits Platon weist in »Menon«1 auf eine Form dieses Problems hin und auch in den Schriften des Augustinus wird man diesbezüglich fündig. Für Philosophen oder Wissenschaftler, die sich mit der Natur der Wahrnehmung befassen, ist dieses Paradoxon neuerdings von besonderer Bedeutung. Alva Noë, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Den Weg ausfindig machen Das Ziel meines Aufsatzes besteht darin, die angesprochene Problematik anhand der Betrachtung des tänzerischen Werks von Lisa Nelson etwas genauer zu beleuchten. Lisa Nelson beschreibt ihre Methode als einen Ansatz zur »spontanen Ensemble-Komposition« und fasst dies unter dem Namen Tuning Scores zusammen. 1 | Vgl. Platon: Menon, Stuttgart: Reclam 1994.

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Ein Tuning Score ist, ausgehend von meinem Verständnis, eine vereinfachte Tanzsituation. Es handelt sich um eine Struktur oder Anordnung, innerhalb derer die Tänzer frei komponieren können (sich selbst komponieren können). Ein Tuning Score besteht aus mehreren Elementen: den Tänzern oder Spielern, der Bühne oder – in Lisa Nelsons Worten – dem »Image Space« sowie den Regeln zur Organisation und Abgrenzung des Stücks. Tänzer betreten den »Image Space« mit geschlossenen Augen. Sie warten und konzentrieren sich darauf, gemeinsam mit den anderen in Aktion zu treten. Sie versuchen, sich auf die Situation einzustellen. Indem sie Ausrufe wie »Wiederholen!«, »Auflösen!«, »Erweitern!« und »Auf hören!« benutzen, lassen sie ein Bild entstehen. Wie ich bereits zuvor angemerkt habe, stellt ein Tuning Score eine vereinfachte Tanzsituation dar. Jeder Tuning Score ist jedoch eine vollständige Tanzsituation und daher keineswegs einfach. Für einen Tuning Score benötigt man einen Raum zur Erschaffung des Bildes (einen »Image Space«), mehr als eine Person und mindestens einen Ausruf (z.B. »Auf hören!«), um die Kommunikation zwischen den ›Spielern‹ zu steuern. Um mitmachen zu können, muss man Tänzer und gleichzeitig Beobachter von Tänzern sein. Man muss Darsteller und Zuschauer gleichzeitig sein. Man muss spielen und beobachten. Und man muss verstehen. Auf diese Weise kann ein Tuning Score zu einem Abbild des Lebens werden. Philosophisch betrachtet, lassen sich Lisa Nelsons Tuning Scores auf sinnvolle Art und Weise mit den Sprachspielen Wittgensteins vergleichen. Wittgenstein war der Überzeugung, dass die Sprache ein Medium für das Denken sei, und dass das Herbeiführen von Klarheit über die Struktur einer Sprache die Möglichkeit böte, Klarheit über unsere Vorstellungen, geistigen Werte und Verpflichtungen zu erlangen. Er prägte das Konzept der Sprachspiele zur Beleuchtung der Wesensart von Sprache. Zur Veranschaulichung seiner Überlegungen soll eine wichtige Passage aus seinen »Philosophischen Untersuchungen« zitiert werden. In der Einleitung entwirft Wittgenstein folgende Vorstellung: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: »Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken«. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf. 2 2 | Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, hg. von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, PU §2.

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Wittgenstein fordert uns dazu auf, das Sprachspiel der Bauenden als eine vollständige, primitive Sprache aufzufassen. Sein Hintergedanke dabei war ganz offensichtlich, dass trotz der Tatsache, dass Sprachspiele – die er ebenso gut ›Berufsspiele‹ oder ›Gesellschaftsspiele‹ hätte nennen können – Vereinfachungen darstellen und dennoch die für komplexere Formen des sprachlichen Austauschs wesentlichen Elemente aufweisen. Insbesondere besitzen Sprachspiele einen Sinn bzw. einen Zweck (in Wittgensteins Beispiel die Erleichterung des Bauens), es sind Spieler beteiligt (die Bauenden) und alles spielt sich in einem Kontext ab (der Kontext des Bauens, die Ziele und Interessen der Spieler usw.). Sie sind insofern sprachlicher Art, als sie mithilfe von Wörtern ablaufen. Die Wörter werden allerdings als Hilfsmittel oder Werkzeuge für die gesamte Spielpraxis dargestellt. (Die Rolle der Wörter im Spiel ist mit der Rolle der Steine zu vergleichen.) Vor diesem Hintergrund konnte Wittgenstein zu der berühmten Erkenntnis gelangen, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch sei. Wittgenstein veranschaulicht mithilfe dieses Beispiels, dass der Gebrauch nicht etwa eine isolierte Eigenschaft des Wortes selbst ist. Er hängt von dem umfassenderen Kontext der Spieler und des Spiels ab. Zur Spezifizierung eines Sprachspiels und somit zur Erläuterung der Bedeutung von Wörtern müssen folgende Aspekte in die Beschreibung Eingang finden: Kontext, Zweck, Spieler, Tätigkeit. Beschrieben werden muss also laut Wittgenstein eine Lebensform. Wie bereits erwähnt, war Wittgenstein der Ansicht, dass uns die Sprachspiele etwas über die Sprache selbst erfahren lassen können. Er hat dabei erkannt, dass Sprachspiele im Kleinen die wesentlichen Merkmale der Sprache im Allgemeinen aufweisen. Beispielsweise kann uns die Auseinandersetzung mit der vereinfachten Sprache der Bauenden zu der Erkenntnis verhelfen, dass wir die Bedeutung eines Wortes erst dann erfassen können, wenn wir verstehen, wie ein Wort in einem bestimmten Kontext gebraucht wird, d.h. in Bezug auf die Bedürfnisse, Ziele, Absichten und Probleme der Menschen. Da Sprache das Medium für das Denken ist, war Wittgenstein der Überzeugung, dass das Herbeiführen von Klarheit über die Sprache uns dazu verhelfen würde, Klarheit über das Denken zu erlangen und somit auch über die Ursprünge unserer eigenen philosophischen Probleme und Verwirrungen. Warum brauchen wir Sprachspiele, um zu den grundlegenden Merkmalen der Sprache vorzudringen? Was steht einer direkten Untersuchung der Sprache selbst entgegen? Das Problematische an der Sprache ist ihre Kompliziertheit. Wittgenstein verglich die Sprache immer wieder mit einer Stadt. Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern mit Zubauten aus verschiedenen

Welten verfügbar machen | 129 Zeiten: und dies umgeben von einer Menge Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.3

Um folglich als kompetenter Sprecher oder Denker oder Bewohner zu gelten, muss man sich schlichtweg auskennen. Auf Wittgenstein geht daher auch die Empfehlung zurück, sich der Sprachspiele als Orientierungshilfen für die Sprache selbst zu bedienen. Ich möchte noch einmal auf den bereits oben erwähnten Vergleich von Lisa Nelsons Tuning Scores mit den Wittgenstein’schen Sprachspielen zurückkommen. Anhand eines solchen Vergleichs wird für uns ersichtlich, wie sich die Tanzmethode von Lisa Nelson auch als Übung nutzen lässt, um sich besser zurechtzufinden. Ist man Mitwirkender eines Tuning Score-Ensembles bei Lisa Nelson, bedeutet dies, sich als ein Mitglied der Gemeinschaft in gemeinsam erdachten Räumen zurechtzufinden, in Räumen, die bildhaft in den realen Raum des Studios projiziert und in der Realität von den Tänzern eingenommen werden. Das Zurechtfinden im Tuning Score setzt eine geschickte und wirkungsvolle Kommunikation mit den anderen und somit eine gewisse Sensibilität für die anderen voraus. Bemerkenswert an Lisa Nelsons eigenem Verständnis der Tuning Scores ist, dass sie sie als Forschungsinstrumente zur Untersuchung von Bewegung und Performance und darüber hinaus auch zur Untersuchung des Wahrnehmungsbewusstseins selbst betrachtet. Dabei stellt sich folgende Frage: Wie kann ein Improvisationstanzprojekt nach dem Muster Lisa Nelsons als Forschungsinstrument wirken? Auch hier erweist sich eine Analogie zu Wittgensteins Sprachspielen als nützlich. Sprachspiele beleuchten das Wesen der Sprache, indem sie uns im Kleinen die Mechanismen der in einen Kontext eingebetteten Vorgänge erkennen lassen, die wiederum im Großen unseren Gebrauch von Sprache und demzufolge auch unsere geistigen Räume bestimmen. Ich behaupte, dass die Tuning Scores den Sprachspielen in diesem Sinne ähnlich sind. Hieraus ergibt sich eine neue Fragestellung: Wenn man davon ausgeht, dass Sprachspiele Aufschlüsse über das Denken liefern, worüber genau geben dann die Tuning Scores Aufschlüsse? Eine naheliegende Antwort darauf wäre, dass die Tuning Scores den Tanz selbst beleuchten und erklären. Sie vermitteln uns etwas über die tänzerischen Möglichkeiten. Das mag wohl der Fall sein. Dennoch möchte ich auf meiner Suche nach möglichen Antworten noch weiter gehen, denn für sich alleine ist diese Feststellung nicht ausreichend. Zunächst ist die Erkenntnis, dass wir durch die Tuning Scores etwas über den Tanz erfahren, wenig überraschend. Die Frage besteht vielmehr darin, ob uns der Tanz und seine Erforschung mithilfe der Tuning Scores auch andere 3 | Ebd., PU §18.

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Erkenntnisse nahebringen kann (z.B. über den menschlichen Geist). Erinnern wir uns nochmals an Wittgenstein: Es überrascht uns kaum, dass uns Sprachspiele etwas über Sprache erfahren lassen können. Was jedoch überraschend und in unserem Zusammenhang interessant ist, ist die Tatsache, dass Sprachspiele uns dazu verhelfen, die Struktur der Sprache zu verstehen, und uns somit auch Klarheit über die geistigen Welten, in denen wir uns bewegen, verschaffen können. – Was ist es also? Zur Beantwortung kann eine Frage herangezogen werden, die Lisa Nelson selbst formuliert hat: »Was sehen wir, wenn wir Tanz betrachten?« Vor dem Hintergrund des Tuning Score-Projekts können wir eine Antwort wagen: Wenn wir uns Tanz ansehen, betrachten wir eine Situation, in die wir uns begeben können, sollen oder müssen. GO, Lecture Performance von Lisa Nelson und Scott Smith, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Das wäre zumindest der erste Teil einer Antwort. Aber können wir noch mehr dazu sagen? Wenn wir uns Tanz ansehen, sehen wir Gelegenheiten zur Bewegung, wir sehen Hindernisse, Grenzen. Wir sehen die Welt, jedoch sehen wir sie als eine Welt-für-Bewegung, d.h. eine Welt als Handlungsfeld. Mit anderen Worten: Was wir beim Betrachten von Tanz sehen, ist die Umwelt. Ich verwende den Begriff hier im Sinne James J. Gibsons4 , des bedeutendsten, außerhalb der Philosophie tätigen Wahrnehmungstheoretikers des 20. Jahrhunderts, dessen Ideen eine wichtige Bezugsgröße für Lisa Nelson sind. Nelson interpretiert Gibson. In Gibsons Bezugsrahmen ist die Umwelt nicht die physische Welt. So bewohnen zwei Tierarten, die an ein und demselben Baum leben, zwar 4 | James Jerome Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, Hillsdale, New Jersey: Lawrence Erlbaum 1979.

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genau diesen einen Ort in der physischen Welt; sie halten sich jedoch in verschiedenen Umwelten auf. Für Gibson ist die Umwelt die Umgebung des Tieres. Das deutsche Wort ›Umgebung‹ erfasst bereits sehr gut, was damit gemeint ist: Umgebung im Sinne der Welt, die das Tier umgibt. Es ist die Welt, die sich dem Tier darbietet als ein Gebiet, in dem es aktiv sein kann. Tiere und Umwelten sind untrennbar miteinander verbunden, Tiere und Umwelten bedingen sich gegenseitig. Was wir beim Betrachten von Tanz – zumindest in Bezug auf die Tuning Scores – erleben und sehen, ist die Umwelt. Unsere Umwelt. Nicht die physische Welt. Und nicht bloß Dinge. Wir sehen die bedeutungsvolle Welt unseres möglichen Handelns – d.h.: vielmehr begegnen wir ihr. Gibson zufolge ist »jedes Tier, zumindest bis zu einem gewissen Grade, ein durch Wahrnehmung und Verhalten geprägtes Wesen«.5 Lisa Nelson hätte vielleicht gesagt, dass auch jeder Tänzer, zumindest bis zu einem gewissen Grade, ein durch Wahrnehmung und Verhalten geprägtes Wesen ist. Was sehen Tänzer, wenn sie in den »Image Space« hineinblicken oder einen Weg darin zu finden versuchen? Sie erleben die Umwelt, die Welt, da sie mit unserer eingegebenen, wahrnehmenden Orientierung darin zusammenhängt. Wenn Sprachspiele als Hilfsmittel zur Gestaltung und Erschaffung klar erkennbarer geistiger Räume oder sprachlicher Stadtlandschaften dienen, dann dienen Tuning Scores der Gestaltung und Durchleuchtung unseres wahrnehmenden Daseins, der Anpassung unserer Wahrnehmung an die Städte, in denen wir uns befinden, an unsere Umwelt und an die Möglichkeit – und dies ist ein völlig neuer Aspekt –, dass unsere Umwelt nicht nur durch unser Handeln beeinflusst und verändert, sondern auch tatsächlich durch uns hervorgebracht wird. Dabei handelt es sich nicht um einen rein konzeptuellen Gesichtspunkt, d.h. es geht nicht etwa darum, dass ohne Menschen oder Tiere keine Umwelt, sondern bloß eine bedeutungslose physische Welt existieren würde. Die Angelegenheit ist vielschichtiger und realitätsnäher. Es geht darum, dass die Umwelt, in der wir uns befinden – also der Raum selbst –, so beschaffen ist, dass seine Bedeutung stets in Beziehung zu uns spezifiziert wird sowie zur Situation, in der wir uns befinden, zu unseren Beziehungen untereinander und zur Umwelt. Wenn wir Tänzer den »Image Space« betreten, wenn wir Handlungen ausführen, wenn wir Rufe ausstoßen und ihnen antworten, wenn wir zuhören und zusehen, dann erschaffen wir die Umwelt. Wir inszenieren unsere Umwelten dank unserer geschickten Interaktion mit ihnen. Wir inszenieren unsere Wahrnehmungswelt, indem wir uns auf sie einstellen. In Lisa Nelsons Tuning Scores spiegelt sich diese grundlegende Tatsache über unser Leben wider: Unsere 5 | Ebd., S. 8.

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jeweiligen Welten werden von uns aufgrund unserer dynamischen Vereinigung mit unserer Umgebung geschaffen.

Ein geschickter Zugang zur Welt Der Wahrnehmung bleibt nichts verborgen. Die Welt ist da, um aufgesogen zu werden. In gewisser Hinsicht jedoch bleibt der Wahrnehmung alles verborgen. Denn wohin man auch blickt, überall findet man grenzenlose Komplexität und eine Fülle von Dingen, die überhaupt nicht mehr aufgenommen werden können. Nehmen wir das Beispiel des Zuhörens einer fremden Sprache. Die Töne sind für den Zuhörer zwar alle verfügbar – zumindest in gewisser Hinsicht. Die Worte und Ausdrucksweisen bleiben jedoch im Verborgenen. Genau wie im Falle des eingangs erwähnten Kunstwerks können sie nämlich erst dann wahrgenommen werden, wenn man sie auch versteht. Erkennt man die Dinge, werden sie auch wahrnehmbar. Wie erreicht man jedoch die Ebene des Verstehens? Wie erlernt man eine neue Sprache, sprich eine neue Modalität, um Bausteine der Welt in sich aufzunehmen? Offensichtlich kann man etwas nicht wahrnehmen, solange man mit dem Wahrgenommenen nicht vertraut ist; man kann jedoch mit einer Sache nicht vertraut werden, wenn man sie nicht wahrnimmt. Dies ist das eingangs dargestellte Paradoxon. Wie Wittgensteins Sprachspiele sind Lisa Nelsons Tuning Scores eine Methode. Wie eine Grammatikübung bietet ein Tuning Score die Gelegenheit, die Fähigkeiten zu erwerben, die für den Zugang zur Welt erforderlich sind. Das Mitwirken an einem Tuning Score ist wie eine Konversation über ein Kunstwerk. Es handelt sich um eine Tätigkeit, bei der die Welt in den Mittelpunkt des Wahrnehmungsbewusstseins gerückt wird. Es handelt sich um eine Tätigkeit, bei der man sich auf das einstellt, was um einen herum geschieht. In dieser Hinsicht liefert Lisa Nelson, wie auch Wittgenstein, eine intellektuelle Technologie oder ein Instrumentarium, um die Welt in den Fokus zu rücken. Nelson und Wittgenstein geben uns Hilfsmittel an die Hand, mit denen wir Kontakt zur Wahrnehmung herstellen können. Lisa Nelson ermöglicht es uns nicht nur, Tanz zu sehen, sondern ihn beim Sehen auch zu verstehen. Auf diese Weise leistet diese praktische Technik zur Herausarbeitung tänzerischer Möglichkeiten einen theoretischen Beitrag zu unserem Verstehen des Wahrnehmungsbewusstseins, genau wie Wittgensteins Sprachminiaturen es uns ermöglichen, das Wesen der Sprache und des sprachlichen Verstehens neu zu überdenken. Alle Theorie ist von der Praxis abhängig. Lisa Nelsons wie auch Wittgensteins Arbeit gibt uns die Möglichkeit, die Betrachtung praktischer Aspekte als Grundlage für die Herausbildung neuer Theorien zu nutzen. Übersetzung aus dem Englischen

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Literaturverzeichnis Gibson, James Jerome: The Ecological Approach to Visual Perception, Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1979. Platon: Menon, Stuttgart: Reclam 1994. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, hg. von Joachim Schulte, Frankfurt a.M.: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, PU §2.

Flimmern und Umschalten Meg Stuart im Gespräch mit Scott deLahunta

Scott deLahunta: Lass uns mit dem Thema beginnen, das die Herausgeber für unser Gespräch vorgeschlagen haben: Körperwissen/Körpergedächtnis. Wie würdest Du diese Konzepte angehen? Meg Stuart: Ich würde mich nicht nur auf den Körper beschränken. Ich habe viele Stunden im Tanzstudio damit verbracht, Bewegungen zu studieren und Aspekte von ungewöhnlichen Gemütszuständen zu untersuchen. So habe ich beispielsweise ausgiebig Trance-Forschung betrieben. Darüber würde ich gerne sprechen. Was das Gedächtnis angeht, habe ich mich vor allem mit dem Vergessen beschäftigt; damit, wie wir vergessen und wie dies mit Improvisation zusammenhängt. Meiner Ansicht nach könnte ein wissenschaftlicher Ansatz darin bestehen, zu untersuchen, was Menschen als Mangel oder Problem wahrnehmen. Meine eigenen Untersuchungen beruhen auf der urteilsfreien Erkundung und Betonung derartiger Probleme, wobei ich mich auf eine sehr offene und hoffentlich auch mitfühlende Betrachtung von Fehlfunktionen oder Lücken konzentriere. Manchmal, wenn ich versuche, diese Untersuchungen zu einem Ergebnis zu verknüpfen, denke ich natürlich auch darüber nach, wie solche Probleme zustande kommen. Dann denke ich über das Vergessen oder die Verfremdung nach und versuche herauszufinden, warum jemand unfähig ist, sich etwas zu merken oder sich zu konzentrieren, und warum der Verstand anfängt zu flattern. Im Prinzip hast Du Recht. Einige Bereiche der Wissenschaft beschäftigen sich mit der Erforschung von Funktionsstörungen oder Fehlfunktionen, die durch eine Gehirnschädigung beispielsweise aufgrund eines Unfalls hervorgerufen werden, oder mit der Untersuchung einer Geisteskrankheit wie z.B. Dissoziation, die der Betroffene als Problem wahrnimmt. Du sagst, dass Du

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diese Dinge als unnormale Zustände untersuchst. Mich interessiert, wie Du einen unnormalen Zustand der Dissoziation oder geistiger Lücken wie Vergessen auslöst. Irritierst Du die Tänzer in ihrer Konzentration? Und warum interessierst Du Dich für dieses Material? Ganz so einfach ist das nicht. Ich versuche, die Leute auf unterschiedlichen Kanälen gleichzeitig arbeiten zu lassen. Es ist an sich schon eine Kunst, umschalten zu können. Seit 15 Jahren versuche ich, eine Übung durchzusetzen, die ich »Change« nenne. Nehmen wir mal an, ein Künstler macht etwas. Bevor er aber eine Realität, ein Bewusstsein oder einen Zustand erreicht hat, bringe ich ihn aus der Fassung oder bewege ihn zum Umschalten. Und dann versuche ich, daraus etwas zu komponieren. Für mich ist das wie automatisches Schreiben, aber mit Bewegung. Dabei ist es wichtig, dass die Künstler nicht nachdenken oder sich vorbereiten. Sie müssen offen sein, um sich auf ungewohnte Zustände und Bewegungen einlassen zu können, die von einer Schicht zur nächsten ganz unterschiedlich sind. Verblüffenderweise flippen die Tänzer nicht aus, sie sind tatsächlich in der Lage, so schnell umzuschalten. Irgendwie erstaunt es mich, dass sie das schaffen. R EPLACEMENT von Meg Stuart/Damaged Goods

Foto: Chris Van der Burght

Wenn Du die Tänzer in Aktion beobachtest und dann eine Veränderung oder ein Umschalten herbeiführst, woher weißt Du, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist? Im Grunde habe ich das Gefühl, dass ich sie in Bereiche bringe, die ihnen unangenehm sind. Manchmal führe ich die Veränderung herbei und manchmal tun sie es selbst. Ich bringe sie mit Stichworten in einen Gemütszustand oder lasse sie etwas durch ein Video ›Wort für Wort‹ lernen und dann daran arbeiten. Das mag sich anhören, als

Flimmern und Umschalten | 137

wenn ich meistens verführe, suggeriere oder auswähle, aber ich habe keine Methode. Das ist bei jedem Stück und mit jeder Person anders. Ich habe ein Gespür dafür, Personen in einen von mir gewollten Zustand zu bringen, und sie beugen sich quasi meinen Anregungen und Vorschlägen. Wenn das funktioniert, dann ergibt es Material, mit dem ich arbeiten kann. Dabei behalte ich immer diese Distanz, weil ich gestalte, weil ich arbeite. Also agierst Du intuitiv, aber weißt, wann Du die Tänzer an einem bestimmten Punkt stören musst, um sie oder etwas in einen anderen Zustand zu bringen. Und das kann schnell gehen, so dass sie viele Dinge gleichzeitig verarbeiten. Interessanterweise habe ich letztes Jahr in Brüssel bei einem Forschungsprojekt mit Studenten von P.A.R.T.S., Tänzern und anderen, die sich für die Arbeit interessierten, einen neuen Ansatz mit der »Change«Übung ausprobiert. Damals habe ich zum ersten Mal speziell an dieser Übung gearbeitet. Ich hatte vorher Catherine Sullivan kennen gelernt, eine Videokünstlerin, die mit Darstellern arbeitet. Sie verwendete ein Diagramm, um ihr Material zu erstellen. Daher hat sie eine ganz andere Arbeitsweise als ich. Daher war es wirklich faszinierend, mit ihr zusammenzuarbeiten. Ihr Diagramm ist aus dem musikalischen Minimalismus abgeleitet und man kann jede Sequenz einer Aufführung nehmen und in drei verschiedene Linien aufteilen, beispielsweise in Körperlichkeit, Schauspiel und Zeit. In dem Diagramm kann jede dieser einzelnen Linien Werte von null bis hundert anzeigen. Jemand macht also eine Bewegung und man kann sagen, die Bewegung hat 70 Prozent Körperlichkeit und 70 Prozent Schauspiel oder 0 Prozent Schauspiel und 70 Prozent Körperlichkeit. So kann man diese Materialtypen trennen und hat eine Ausdrucksmöglichkeit, um sie herauszuarbeiten. Ist das demnach ein kreatives Tool? Ja, es ist besonders nützlich, weil es eine Sprache zur Verfügung stellt, mit der man den Leuten verschiedene Dinge entlocken kann. In gewisser Weise hatte ich das vorher schon instinktiv getan. Wenn sich z.B. jemand körperlich stark bewegt, dann bitte ich ihn, ›die Energie herauszunehmen‹. Dann scheint er wie ein Schatten seiner selbst. Das Großartige an dem Diagramm ist – und ich glaube, das ist jedem Schauspieler oder Tänzer klar, der damit arbeitet –, dass man abstrakte Bewegungen leicht verändern kann, um ihre Dramatik zu sehen. Man könnte es mit einem Bild vergleichen, das verkratzt wurde und von dem nur noch Spuren übrig sind oder ein kleines Stück Dramatik oder Bewegung. Da ich mich für Theater und Schauspiel interessiere, hat mir die Arbeit mit dem Diagramm geholfen, diese mit abstrakterem Tanz zu verbinden. Inwieweit hat es die »Change«-Übung beeinflusst oder unterstützt? Nur in der Modulierung des Zustands. Ich sage immer wieder

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»Change!«, und wenn mich das Material fasziniert: »Okay, bleibt so.« Dann bitte ich sie, »Körperlichkeit steigern!«, »Dramatik steigern!« oder »Dramatik herunterschrauben!« usw. So lassen sich alle Aspekte eines konkreten Zustands unter Verwendung des Diagramms genau erforschen. Manchmal stellten wir ein Metronom an und sie wechselten in sechs verschiedene Zustände mit steigendem Tempo. Besonders bei hoher Geschwindigkeit zeigten sich die Teilnehmer sehr verstört und erreichten nahezu schizophrene Darstellungszustände. Am Ende des Workshops stellte ich diese Zustände in einen anderen Kontext und fragte mich: ›Wäre es möglich, eine Gruppenimprovisation durchzuführen?‹ Da standen wir nun mit unserem Material und dem Diagramm und entdeckten die Zeichen und die Sprache, mit denen wir eine solche Improvisation durchführen konnten. Manchmal leiteten sich die Tänzer gegenseitig an. Es war fantastisch, die Distanz, die das Diagramm ermöglichte, zu nutzen; gleichzeitig aber war es merkwürdig, dass Tanz scheinbar messbar war. Es ist also eine Art Mittel zur Orchestrierung. Das Diagramm gibt ein neues Vokabular vor, ein neues, strukturiertes Denken, das man von dem, was man vorher getan hat, entlehnen und wieder darauf anwenden kann. Es verleiht neue Impulse. Ja. Ich arbeite normalerweise nicht so viel mit Partituren oder Strukturen. Das steht nicht im Fokus meiner Arbeit. Ich interessiere mich sehr viel mehr für ein Bewegungsvokabular, ein radikaleres Vokabular. Und jede Situation erfordert ein anderes Vokabular, das sich in einer bestimmten Art und Weise präsentiert. Ich erkenne jetzt, dass dies mein Hauptanliegen ist – die Sprache steht an oberster Stelle. Lass uns noch kurz bei der »Change«-Übung bleiben: Sie erinnert mich daran, dass kognitive Neuropsychologen ›Veränderungen‹ oder Störungen als Diagnoseinstrument nutzen, um herauszufinden, welche Funktionsstörungen der Geist oder das Gehirn aufweisen. Du sagtest vorhin, dass Du Störungen benutzt, um festzustellen, ob es einen Konflikt in der Gefühlswelt einer Person gibt, der auf ein spezielles Problem hindeutet. Ich musste daran denken, als Du über die »Change«-Übung sprachst. Du interessierst Dich also offensichtlich für mentale Zustände. Hast Du dabei die psychologische Seite im Blick, wenn Du mit Menschen arbeitest? Ich überlege mir, wie ich zu einer Person eine Verbindung auf bauen kann. Ich habe Kontaktimprovisation als Technik eingesetzt, denn durch Kontakt erhält man Informationen über eine Person und versucht, den engsten Verbindungspunkt zu finden. Wie z.B. über die Knochen. Mithilfe dieses Ansatzes oder dieser Technik versuche ich, mit den Personen, mit denen ich arbeite, in Interaktion zu treten. Ich kann das erst jetzt so sagen, da ich heute diese Technik besser verstehe. Vorher war es intuitiv, eher die Suche nach einer Sprache, die sich mit den Zweifeln des Körpers befasste – oder der Körper, der sich selbst in Frage stellte und mit sich

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kämpfte. Und seit vier Jahren geht es mir mehr um die Wahrnehmung und die Suche nach diesen unnormalen mentalen Zuständen. Kontaktimprovisation scheint mir eine sehr spezielle Herangehensweise an den Körper und sein Wissen zu sein. Nutzt Du Methoden, die andere Arten des Wissens durch den Körper herstellen? Du hast Trance erwähnt und dass Du mit Hypnotiseuren arbeitest. Hier geht es ja darum, Menschen in ungewöhnliche oder veränderte Zustände zu versetzen. Ich interessiere mich für das Verlangen, beherrscht zu werden oder eine Art Kanal oder Behälter zu sein. Wenn der Körper ein solcher Behälter ist, der filtert und verbindet. Wir haben verschiedene Herangehensweisen ausprobiert, wie z.B. die von dem LSD-Forscher Stanislav Grof erfundene »holotropische« Atmung: Er entwickelte eine Atemtechnik, mit der man ohne Drogen in einen anderen Zustand gelangen und so die Psyche heilen kann. Wir haben das ein Mal mit einer Person praktiziert, die regelmäßig diese Technik anwendet. Man liegt auf einer Matte und hat einen Beobachter neben sich, während man die Atemübung macht, die Entspannung und Hyperventilation verbindet. Die Übung dauert zwei Stunden und ruft zunächst ein Kribbeln und dann ein vollkommen anderes Gefühl hervor. Ist es möglich, diese »holotropische« Atmung als eine Form von Wissen zu betrachten? Auch wenn sie auf die Erreichung unnormaler Zustände abzielt, setzt sie als psychotherapeutische Methode bestimmte Dinge im Hinblick auf die Beziehung zwischen Körper und Geist voraus. Wie werden andere Körperwissenstechniken, wie z.B. der zeitgenössische Tanz oder das klassische Ballet, in Deiner kreativen Arbeit eingesetzt? Nun, Techniken wie Atmung oder Trance sind nicht mein Hauptthema, sondern eher Nebenprodukte meiner Forschung. Generell kommen die Methoden, mit denen ich arbeite, jedoch nicht aus dem zeitgenössischen Tanz. Die Methoden, für die ich mich interessiere, sind nützlich, um zu untersuchen, wie wir uns ohne unseren Körper bewegen, in welcher Art und Weise sich unsere Gedanken bewegen oder welche Erfahrungen wir haben, die wir nicht erklären können. Interessant ist z.B. der Moment, wenn jemand aus einem Trancezustand erwacht. Die Person versucht, in diesem Zustand zu verharren und in dem Augenblick, in dem sie aus diesem Zustand erwacht, ist sie sehr verwundbar. Für mich ist das Arbeitsmaterial. Aber es ist auch schwierig, denn bei Trancezuständen geht es immer um geformtes Bewusstsein, um ein kognitives Bewusstsein. Ehrlich gesagt denke ich, dass jeder Darsteller, der sich auf etwas konzentriert, in einer Art Trancezustand ist. Gehen wir einmal von neuesten Behauptungen der Neurowissenschaft aus, die interessante Informationen für den Tanzbereich liefern, beispielsweise die Theorie von den Spiegelneuronen, die davon ausgeht, dass das Gehirn Tätigkeiten simuliert, die wir beobachten. Ist die Neurowissenschaft eine andere Art des Körperwissens, die für Dich interessant sein könnte?

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Vor einiger Zeit hörten wir uns einen Vortrag von einem Redner an, der ein Diagramm über Personen mit Gehirnverletzungen vorstellte und über die Geschichte der Neurowissenschaft berichtete. Auf derartige Ansätze reagiere ich allerdings etwas allergisch, denn ich möchte, wenn ich arbeite, nichts darüber lesen oder versuchen, meine Arbeit auf diese Weise zu analysieren. Natürlich interessieren mich neurowissenschaftliche Entwicklungen, aber ich kann sie in meiner praktischen Forschung oder Arbeit im Studio nicht einsetzen. Ich habe keinen Zugang zu diesem Wissen. Aber es ist sehr spannend, darüber zu lesen. Mein Hauptaugenmerk liegt auf den Möglichkeiten des kreativen Forschungsprozesses. Du hast gesagt, dass Du eher nach Unterbrechungen suchst oder nach Wegen, »Veränderungen« herbeizuführen. Ich würde sagen, dass ich mit meiner Methode die Darsteller wissen lasse, dass sie mit jeder Bewegung eine andere Person sein können. Daher gibt es nie die Idee des ›Ich werde mich jetzt bewegen und in diesem Zustand verharren‹. Schnell, langsam, gebrochen, virtuos – was auch immer. Wenn sie tatsächlich bei einer bestimmten Erfahrung oder einem bestimmten Vehikel bleiben, dann ist dieses Vehikel eher ein LKW oder ein Auto, ein Fahrrad oder es hinkt. Ich weiß nicht genau warum, aber die Erfahrung ist immer in Bewegung und sie verändert sich ständig. Dadurch ist dann die Person, wer immer es auch ist, in Frage gestellt. Der Körper ist irgendwie transparent und flimmert, er ist nicht starr. HIGHWAY 101 von Meg Stuart/Damaged Goods

Foto: Chris Van der Burght

Mir gefällt dieser Gedanke des Flimmerns und der Instabilität des Subjekts – die Person, die Identität ist nicht stabil. Und ich bin ganz besessen von diesem Zustand der Instabilität im

Flimmern und Umschalten | 141

Publikum und dem Bewusstseinssinn, den das Publikum für eine Aufführung auf bringt. Ich habe immer dieses gewisse Gefühl am Abend einer Aufführung und ich frage mich, woher es kommt. Zwar neige ich dazu, ein wenig abergläubisch zu sein, aber es interessiert mich sehr, was dieses Gefühl, dieses Bewusstsein hervorruft. Die Aufführung selbst geht sozusagen hinaus, zirkuliert durch das Publikum und kommt dann zurück: Demnach ist das Publikum an der Erschaffung der Aufführung beteiligt. Wir sind vom Gemütszustand des Darstellers zum Gemütszustand des Publikums gekommen. Du bist die Macherin, die forscht und Material sammelt. Du arbeitest mit Deinen Darstellern und machst »Change«- und »Morphing«-Übungen. Wie veränderst Du Dich selbst? Wie schaltest Du in Deinem eigenen Prozess um? Für den Forschungsprozess zu meinem Stück Replacement war die Idee, ein Labor einzurichten, in dem wir versuchen wollten, möglichst lange nichts zu tun. Jeder sollte diese Idee für sich ausloten und damit experimentieren. Ich denke, mein Arbeitsprozess ist sehr zielorientiert oder opportunistisch, denn ich frage mich immer beim Beobachten einer Situation: ›Was kann ich für mich rausziehen?‹ In diesem Labor war also lediglich die Forschung das Ziel und alle machten nur kleine Experimente. Eines der interessantesten Experimente fand in Berlin statt: Die Teilnehmer gingen auf die Straße und suchten jemanden, der aussah wie sie, und filmten dies mit einer Videokamera. Einige fingen sogar an zu flirten, nachdem sie jemanden gefunden hatten, der ihnen ähnlich sah. Das ist ein interessanter Ansatz. Du hast die Bedingungen so festgelegt, dass man im Labor nichts tun musste. Und Du sagtest vorher, dass Du normalerweise zielorientiert vorgehst. Es scheint, dass Deine Beziehung zum Prozess immer die einer Suchenden ist. Für diesen jüngsten Forschungsprozess hast Du versucht, die Dinge, die Du normalerweise tun würdest, außer Acht zu lassen. Ganz genau. Und letztendlich bedeutete das auch, dass ich als Choreographin jederzeit abgelöst werden konnte. Man weiß nicht, was passiert, aber man weiß, dass etwas passiert. Ich muss aber sagen, dass ich diese Situation durch meine Rolle als Gastgeberin bei Improvisationsprojekten gut kenne. Denn wenn man immer die bekannten Techniken oder Arten von Körperwissen verwendet, geht man oftmals dieselben Beziehungen ein wie bisher. Nicht-Wissen scheint eher einen kreativen Funken zu entzünden. Übersetzung aus dem Englischen

Expeditionen zum inneren Lehrer Wie die Pioniere des bewegten Lernens den Tanz beflügeln Irene Sieben

Wenn ein Reh wittert, steht es reglos. Den Kopf leicht dem Wind zugewandt, wirkt seine Haltung mit einem Minimum an Muskelkraft mühelos aufgerichtet. »Wir spüren seinen Körper von innen heraus mit Leben erfüllt, in perfekter Balance und bewegungsbereit«.1 Die tschechische Tänzerin Jarmila Kröschlová vergleicht diesen Zustand lebendiger Bewegungslosigkeit mit der psychophysischen Präsenz eines Tänzers vor dem Auftritt, wenn der Körper »vor belebter Anmut glüht«. 2 Damit beschreibt sie den Prozess kinästhetischer Bewusstwerdung als Schlüssel des Ausdrucks und der Kreativität. Kröschlová hat zwar ein hoch inspirierendes Buch, aber keine Technik hinterlassen. Als Suchende nach einer ›Allgemeinbildung‹ für den Körper, die jegliche Spezialisierung einer Tanztechnik untermauern sollte, gehört sie zu den Wegbereitern der hier vorgestellten Verfahren: »Alexander-Technik«, »Gindler-Arbeit«, »Eutonie«, »Ideokinese«, »Feldenkrais-Methode« und »Body-Mind Centering«. Erhöhte Körpersensitivität als Basis zu sinnvollem Handeln und Verhalten verbindet die Philosophien jener Methodengründer, die sich im 20. Jahrhundert – jäh gestoppt durch den Nationalsozialismus – mit Bewegung und körperorientiertem Lernen befassten. Sie nahmen Einfluss auf die Entwicklung der Künste, der Pädagogik sowie der Körper- und Psychotherapie. Jede Entdeckung auf dem Feld der Körperforschung führte zu einer Ideologie oder Schule, deren Inhalte ästhetische, anthropologische oder therapeutische Ausrichtung hatten. Diese Erkenntnisse entstanden nicht im luftleeren Raum. 1 | Jarmila Kröschlová: Movement Theory and Practice, Sydney: Current Press 2000, S. 11. 2 | Ebd.

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Wer aber gab den Anstoß zum Auf bruch, der zur Neubestimmung von Körperbildern, zur Befreiung des Tanzes, zu Emanzipationsversuchen aus Geschlechterrollen und sozialen Verhaltensmustern führte? Neben François Delsartes Ideen vom Informationswert einer Bewegung, die Isadora Duncans Tänze beflügelten und Rudolf von Labans »Bewegtes Wissen« befruchteten, den Erneuerern der Gymnastik und der rhythmusversessenen Elite in der Hellerauer »Bildungsanstalt« von Emile Jaques-Dalcroze, war es eine wissenschaftliche Entdeckung, die den Nerv der Zeit traf: Der Physiologe Charles Scott Sherrington ordnete den fünf traditionellen Sinnen einen sechsten zu: den Bewegungssinn. Um ihn von der Extrozeption (Wahrnehmung von Außenreizen) und der Interozeption (Wahrnehmung von Innenreizen) zu unterscheiden, nannte er ihn Propriozeption (Eigenwahrnehmung). Dieser kinästhetische Sinn verteilt sich auf alle Sehnen, Muskeln, Bänder, Gelenke, Organe, Drüsen und Gefäße. Er gibt dem Menschen durch Rückkoppelung ein Gefühl für sich selbst. Dieser Sinn wird bis heute vernachlässigt, was den Anschein erweckt, die Bewegung sei ein Resultat des Spürens. Das Gegenteil ist der Fall. Bewegung setzt die Spürdynamik sämtlicher Sinne erst in Gang, ist Schlüssel für Erfahrung, Lernen, Fühlen, Denken und Erinnern. Der ›Achtsamkeit im Augenblick‹ blieben die Mütter und Väter ganzheitlicher Methoden – unabhängig voneinander – auf der Spur. Im Selbstversuch beobachteten sie ihre körperlichen Funktionen mit Neugier, meist auf der Suche nach Lösungen für eigene Probleme. Dabei waren sie zugleich Subjekt und Objekt, Suchende und Wissende: durch Erleben und Erfahrung. Ihr kritisches Nachdenken über die Trennung von Körper und Geist brachte Fakten hervor, die heute von Erkenntnistheoretikern, Psychologen, Philosophen, Hirnforschern und Sportwissenschaftlern durch Testmethoden bestätigt werden. Doch da die Wissenschaft wenig Interesse an den phänomenologisch forschenden Praktikern zeigte, erscheinen ihre Erkenntnisse über die Plastizität des Gehirns oder die Wirkung des Denkens auf die Sensomotorik aus heutiger Sicht als völlig neu. Es finden sich keinerlei Verweise auf Vordenker wie die Bewegungsforscher Moshe Feldenkrais, Mabel Todd oder Bonnie Bainbridge Cohen. Jene haben sich nur zaghaft bemüht, der Wissenschaftswelt näher zu treten, weil der kreative Aspekt ihrer Erfahrungsforschung im Vordergrund stand. Erst im letzten Jahrzehnt gab es eine Wende, die auch zu einer Annäherung der Ansätze führte und zu Überlegungen, eine übergreifende somatische Bewegungsdisziplin zu gründen. Frederick Matthias Alexander (1869–1955) war der Erste, der die Kinästhetik benannte. Er entdeckte, dass praktisch alle Einflüsse – körperliche, mentale und emotionale – in muskuläre Spannung übersetzt werden. Dabei kommt oft ein Zuviel an Spannung zustande, das den Körper habituell verkürzt. Diese Erkenntnis beruhte auf eigenen Erfah-

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rungen als Rezitator. Alexander hatte auf der Bühne immer wieder seine Stimme verloren. Den Schlüssel zur Heilung entdeckte er in der »Primärkontrolle« über die dynamische Beziehung zwischen Kopf, Hals und Wirbelsäule. Mit mentalen Anweisungen und richtungsweisender Berührung konnte er störende Faktoren des so genannten »Selbstgebrauchs« (use of self ) hemmen. Er fand heraus, dass der Prozess zwischen zielgerichtetem Denken (end-gaining) und Tun mehr Spannung als nötig erzeugt. Seine Strategie bestand entsprechend darin, das Innehalten (›wach wie das Reh‹) und Nicht-Tun im Tun zu lernen. Elsa Gindler (1885–1961) mahnte dazu, den Sinnen zu vertrauen: »Wahrnehmen, was wir empfinden«, »Lauschen und erfahrbereit werden«, »Zur Ruhe kommen«.3 Gindler war bei der Verfechterin der »Harmonischen Gymnastik« Hedwig Kallmeyer ausgebildet worden. Als Mitgestalterin einer kulturellen Reformbewegung ging sie jedoch forschend ihren eigenen Weg. Nicht Übungen, sondern »Versuche« in einfachsten Handlungen wie Stehen, Sitzen, Liegen und Gehen sollten für die Aufgaben des Alltags »reagierbereit« machen. Mit dem Musiker und Begabtenforscher Heinrich Jacoby, der wiederum bei Dalcroze in Hellerau lehrte, suchte Gindler nach Wegen zur »Nach-Entfaltung des Menschen« und plädierte für die Abkehr von mechanischem Üben beim Musizieren oder Tanzen, denn »solange man sich anstrengt, verpasst man trotz aller ›Erfolge‹ das Wesentliche«. 4 Vergleichbar mit den Methoden eines Zen-Meisters warf sie ihre Schüler mit »zweckmäßigen« Fragen auf sich selbst zurück und stimulierte »antenniges« Verhalten. Das Phänomen der Präsenz, des »Gegenwärtigseins«, und des Transfers der eigenen Haltung und Bewegungsorganisation auf einen anderen Menschen hat Gerda Alexander (1908–1994), aus der Dalcroze-Tradition stammend, in der von ihr entwickelten Eutonie als »Tonusübertragung«5 erklärt. Tonus bezeichnet die Grundspannung der gestreiften und glatten Muskulatur, aber auch die durch das Vegetativum gesteuerte Grundstimmung des Menschen. Sie lüftete damit auch ein Geheimnis der Empathie und Übertragung, die zwischen Lehrer/Schüler, Künstler/Publikum, Mutter/Kind entsteht und heute mit der Spiegelneuronen-Theorie erklärt werden könnte.6 Als »Tonusfixierungen« bezeichnete Alexander die 3 | Sophie Ludwig: Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken. ›Wahrnehmen, was wir empfinden‹, Hamburg: Christians 2002, S. 149. 4 | Heinrich Jacoby: Jenseits von begabt und unbegabt, Zweckmäßige Fragestellung und zweckmäßiges Verhalten. Schlüssel für die Entfaltung des Menschen, Hamburg: Christians [1983] 1994, S. 47. 5 | Gerda Alexander: Eutonie, München: Kösel 1976, S. 53. 6 | Vgl. Christian Keysers/Valeria Gazzola: »Towards a Unifying Neural Theory of Social Cognition«, in: Lernen in Bewegung, Publikation 2. Europäischer Feldenkrais-Kongress Berlin, München: Feldenkrais Verband 2005, S. 19–33.

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Fehlspannungen, die sich, ebenso wie die Wohlspannung, physisch und psychisch auswirken. Wie bei Gindler wird in der Eutonie mit Bällen, Stäben, Steinen, Kastanien, Sandsäckchen experimentiert, um über die Haut Kontakt zu Organen, zum Skelett und zur Erde herzustellen. Eines der wichtigsten Elemente, um mit einem Minimum an Energie maximale Kraft zu mobilisieren, ist der reflektorische Transport durch die Knochen. Auch dabei reguliert sich der Muskeltonus. Die Stimmlehrerin Mabel Todd (1874–1956) entwickelte in den USA eine Frühform des mentalen Trainings, das sie »strukturelle Hygiene« nannte. Ihre Schüler bezeichneten das Lernsystem später als »Ideokinese«.7 Todd fand heraus, dass die Imagination innerer Bilder aus Anatomie und Natur allein schon die Synergie der Sinne stimuliert und die Struktur sowie die Funktion des Organismus verbessert. Daraus schloss sie, dass auch Denken und Imagination Bewegung und »proprioceptive sensations«8 erzeugen. Ihr Buch »The Thinking Body« umfasst nicht nur ihre Theorien von kinästhetischer (Um)erziehung – Tun ohne zu tun –, sondern bündelt Einsichten aus Physiologie und Kinesiologie, um zu einem tieferen Verständnis von Bewegungsverbindungen vorzudringen, das auch der Verletzungsprophylaxe dient.9 Der russisch-israelische Physiker und Judo-Experte Moshe Feldenkrais (1904–1984), einziger ›ordentlicher‹ Wissenschaftler unter den Bewegungsforschern, war im Selbstversuch dem Geheimnis des Lernens durch Bewegung auf der Spur. Als er Entwicklungsprozessen nachging, verblüffte ihn, dass sich als erster der zwölf Schädelnerven der motorische Vestibularnerv im Innenohr ausbildet, bevor noch die sensorische Fähigkeit zum Hören erlangt wird. Dies bewies ihm, dass die Funktion dieser »Koordinationszentrale« für das Gleichgewicht in Schwerkraft, Raum und Zeit essentiell ist für die Fortbewegung und somit für die Entwicklung der Art. Folglich stufte er den kinästhetischen Sinn in seinen neurophysiologischen Vorträgen von 1943 als wichtigstes Stimulans für den aufrechten Gang des Menschen ein.10

7 | Vgl. André Bernard/Ursula Stricker/Wolfgang Steinmüller (Hg.): Ideokinese – Ein kreativer Weg zu Bewegung und Körperhaltung, Bern: Huber 2003, S. 11–13. 8 | Mabel E. Todd: The Thinking Body, London: Dance Books [1937] 1997, S. 27. 9 | Vgl. Eric Franklin: Befreite Körper, Handbuch zur imaginativen Bewegungspädagogik, Kirchzarten: VAK 1999. 10 | Vgl. Moshe Feldenkrais: Der Weg zum reifen Selbst, Paderborn: Junfermann 1994, S. 173ff.

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Moshe Feldenkrais demonstriert bei einem Workshop in Freiburg 1981 an einem Schüler die Leichtigkeit bei Rückwärtsrollen. Dies war sein einziges Seminar, das er je in Deutschland geleitet hat.

Foto: Irene Sieben

Feldenkrais brachte dieses Wissen in die Praxis. Sein Ziel war die Förderung der Fähigkeit, »das Lernen selbst zu lernen«. Mithilfe von Strategien des trial and error, die er sich bei Kleinkindern abgeschaut hatte, beabsichtigte er, schlummerndes Potenzial zu wecken. Lernen hieß für ihn: »das Unbekannte begreifen […]. [B]eim Lernen müssen Sie erst die Bäume kennen und dann den Wald, zu dem sie gehören.«11 Ausgehend von der Annahme, dass Bewegungs- zugleich Verhaltensmuster sind, die durch Ängste und repressive Erziehung geprägt werden, strebte Feldenkrais die Klärung des Selbstbildes an. Dass er den schwarzen Gurt im Judo trug, zeigt sich unter anderem in seinen Lernexperimenten, die mit erstrebter Leichtigkeit quer durch die Entwicklung führen und bei denen sich hochkomplexe Bewegungen in allen Dimensionen entwickeln. Die Aufrichtung entsteht wie die Frucht am Baum und nicht durch eine »primäre Steuerung«. Dieser »tonische« Zustand (des Rehs) verleiht der Wirbelsäule auch im Rollen und Fallen Stabilität. Wie Wissen über Zeiten und Erdteile hinweg in Bewegung gerät, zeigt sich am Beispiel der Gründerin des »Body-Mind Centering« (BMC), Bonnie Bainbridge Cohen (geb. 1942). Die als experiential bezeichneten Erkundungen der US-amerikanischen Tänzerin und Beschäftigungstherapeutin wurzeln u.a. in Studien von Anatomie, neurophysiologischen Lernkonzepten, Yoga, Ideokinese und japanischen Kampfsportarten. 11 | Moshe Feldenkrais: Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Frankfurt a.M.: Insel 1985, S. 137.

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Neben dem Hineindenken und -spüren in die Körpersysteme arbeitet Cohen mit dem relearning kindlicher Entwicklungsbewegungen. Es basiert auf der Erkenntnis, dass die Sensomotorik die Basis dafür schafft, wie der Mensch später Erlebtes verarbeitet, wie er wahrnimmt, sich bewegt und ausdrückt. Als wichtigste Anregung bei der Entwicklung ihrer Lehrform nennt Cohen Irmgard Bartenieff, die Labans Raum- und Antriebslehre mit physiotherapeutischem Know-how verbunden hat.12 Wie Feldenkrais verweist auch Cohen darauf, dass die motorischen Spinalnerven beim Fötus als erstes funktionsbereit sind. Bewegung sei nötig, um Feedback über Bewegung zu bekommen. »Jede Erfahrung schafft die Basis für folgende Erfahrungen. Bewegung verhilft erst dazu, den Wahrnehmungsprozess in Gang zu setzen«.13 Dabei differenziert Cohen fein zwischen den Begriffen Spüren (sensing) und Wahrnehmen (perceiving): Sensing ist ein eher mechanischer Aspekt, der das Stimulieren der sensorischen Rezeptoren betrifft. Perceiving bedeutet die persönliche Beziehung zur ankommenden Information. Wir alle haben ähnliche Sinnesorgane, aber unsere Wahrnehmung ist vollkommen einzigartig. Wahrnehmen bezeichnet den Umgang mit dem, was wir spüren […] es knüpft Beziehungen: zu uns selbst, zu anderen, zur Erde, zum Universum und zwischen Sensorik und Motorik.14

Schon in den 1980er Jahren wurde Cohen von Lisa Nelson und Nancy Stark Smith, zwei Miterfinderinnen der Kontaktimprovisation, für deren Zeitschrift »Contact Quarterly« interviewt. Die Herausgeberinnen suchten nach Deutungen für die Phänomene dieser ›Tanzrevolution‹, die u.a. an frühkindliche Erfahrungen anknüpft und die Fixierung der vertikalen Achse aufgibt: der Schwerkraft nachgebend im Tragen/Getragenwerden, Fallen/Schweben, Führen/Folgen, Heben/Fliegen. Auch in der Kontaktimprovisation ist Spüren kein passiver Zustand, sondern setzt Bewegung voraus. »In purposeful movement, nothing is ever passive. Being passive is an active choice«.15 Unter dem Sammelbegriff »Release-Techniken« oder »Somatics« finden sich verschiedene Methoden des Bewegungslernens in den Dance Departments von Universitäten und Colleges der USA. Über den Ozean hinweg bestimmten sie auch die ästhetische Linie der Schulen für neue Tanzentwicklung in Holland und Belgien. Der Schwerpunkt liegt dabei 12 | Vgl. Antja Kennedy: Bewegtes Wissen – Laban/Bartenieff Bewegungsstudien, unveröffentlichtes Manuskript, erscheint voraussichtlich 2008. 13 | Bonnie Bainbridge Cohen: Sensing, Feeling and Action, Northampton: Contact Editions 1993, S. 118. 14 | Ebd., S. 114–117, eigene Hervorhebung. 15 | Beth Goren: Rapidas – Visions for Body-Mind Centering, Northampton: Contact Editions 1986/2006, S. 54.

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vor allem auf Verfahren, die sich die Anatomie nicht nur theoretisch aneignen, sondern mit Mitteln der Bewegung, Berührung, Stimme und Bildern ›verkörpern‹ (embody), wie dies etwa bei BMC und Ideokinese der Fall ist. So verwandeln die Übenden ihren Brustkorb in ›atmende‹ Regenschirme, stapeln Wirbel wie Bauklötze, verlängern das Steißbein wie einen Dinosaurierschwanz, lassen den Kopf wie einen Luftballon schweben oder stellen sich vor, die Hüftkugel kullere in die Pfanne wie ein Golf ball ins Loch. Das schönste Geschenk, das die Arbeit mit solchen bewegten Bildern einem Tänzer geben kann, ist es, in einer langen Achse Balance sowie Spannung und Entspannung, Transparenz und Mühelosigkeit zu finden. Die Ästhetik des postmodernen Tanzes ist von den »Release-Techniken« maßgeblich mit beeinflusst worden. Sie gaben Impulse zur Loslösung von stilprägenden Tanztechniken oder rein athletischer Virtuosität hin zur Wertschätzung von Alltagsbewegungen. Zudem bewirkten sie bei Performern einen Trend, sich von der Blackbox der Bühne weg und in den öffentlichen Stadtraum hinein zu bewegen. Am Beispiel von Trisha Browns typisch schlenkernder, im Raum schwimmender Bewegungsqualität wird die Wirkung der »Alexander-Technik« deutlich sichtbar. Die mentale Strategie, in Gedanken den Kopf vom Atlas zu entkoppeln, die Wirbelsäule gleichzeitig nach oben und unten zu verlängern, den Armen und Beinen in all ihren Gelenken volle Freiheit zu geben, verleiht auch extremen Ebenenwechseln in ihren großen Gruppenchoreographien der 1970er und 80er Jahre optimale Leichtigkeit. Beim Betrachter evoziert dies die Illusion, Fischen im Aquarium beim Tauchen zuzusehen. Die Fähigkeit des Tänzers zu einer doppelten Bewusstheit – beim Tanzen zugleich Beobachter und Beobachteter zu sein – verbessert die Bühnenpräsenz und die Orientierung der Tänzer untereinander signifikant. Auch der zeitgenössische Tanz wendet die Methoden der Bewegungsforschung auf unterschiedliche Weise an. So nutzt etwa die Berliner Tanzcompagnie Rubato das Hineindenken in die flüssigen Systeme der Physis wie Blut, Lymphe, Gelenk- und Gehirnflüssigkeit als Werkzeug. Diese hohe Schule des BMC führt bis in die Welt der Drüsen und ermöglicht Zustände, die starken Adrenalinausstoß provozieren und zu Überlebensreaktionen im Tanz führen. Die eigene Angst zu überwinden, um – Bewegung für Bewegung – in Regionen jenseits bisheriger Erfahrungen vorzudringen, kostet Mut zur Metamorphose. Sichtbar wird dieser Prozess auch in den experimentellen Grenzüberschreitungen der in Berlin und Bern arbeitenden Tänzerin und Choreographin Anna Huber. Ihren oft humorvollen Verknüpfungen der Glieder glaubt man die Inspiration durch Feldenkrais anzusehen, lässt sie sich doch zu immer wieder neuen Konstellationen von Bewegungen herausfordern, indem sie einzelne Funktionen in kleine Puzzleteile zerlegt, neu ordnet und wieder zusammenfügt.

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Anna Huber und Fritz Hauser in HANDUNDFUSS

Foto: Bernd Uhlig

Zurück nach Hellerau zum witternden Reh: Die eingangs zitierte Jarmila Kröschlová (1893–1983) hat mit ihren anatomischen Erkundungen für den Tanz schon früh Vorarbeit geleistet. Ihre Schülerin und spätere Lehrkollegin Rosalia Chladek entwickelte ihr eigenes System, das an Musikhochschulen im Bereich der Rhythmik noch immer Anwendung findet. Es ist lange das einzige im Tanz gewesen, das nicht auf Vormachen/Nachmachen beruht, sondern auf dem selbstständigen Experimentieren nach elementaren Gesetzen der Bewegung im Schwerefeld. Damit fand Chladek mithilfe von Kröschlovás Erkenntnissen einen Ansatz zur Förderung der Kompetenz des Lernenden, der sämtliche im Vorangegangenen beschriebenen Methoden verbindet: Es geht darum, den Lehrer letztlich in sich selbst zu finden.

Literaturverzeichnis Alexander, Gerda: Eutonie, München: Kösel 1976. Bainbridge Cohen, Bonnie: Sensing, Feeling and Action, Northampton: Contact Editions 1993. Bernard, André/Stricker, Ursula/Steinmüller, Wolfgang (Hg.): Ideokinese – Ein kreativer Weg zu Bewegung und Körperhaltung, Bern: Huber 2003. Brooks, Charles W.: Erleben durch die Sinne. Sensory Awareness – in der deutschen Bearbeitung von Charlotte Selver, Paderborn: Junfermann 1984. Feldenkrais, Moshe: Der Weg zum reifen Selbst, Paderborn: Junfermann 1994. Feldenkrais, Moshe: Die Entdeckung des Selbstverständlichen, Frankfurt a.M.: Insel 1985.

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Franklin, Eric: Befreite Körper. Handbuch zur imaginativen Bewegungspädagogik, Kirchzarten: VAK 1999. Goren, Beth: Rapidas – Visions for Body-Mind Centering, Northampton: Contact Editions [1986] 2006. Jacoby, Heinrich: Jenseits von begabt und unbegabt. Zweckmäßige Fragestellung und zweckmäßiges Verhalten, Schlüssel für die Entfaltung des Menschen, Hamburg: Christians [1983] 1994. Kennedy, Antja: Bewegtes Wissen – Laban/Bartenieff Bewegungsstudien, unveröffentlichtes Manuskript, erscheint voraussichtlich 2008 Keysers, Christian/ Gazzola, Valeria: »Towards a Unifying Neural Theory of Social Cognition«, in: Lernen in Bewegung, Publikation 2. Europäischer Feldenkrais-Kongress Berlin, München: Feldenkrais Verband 2005, S. 19–33. Kröschlová, Jarmila: Movement Theory and Practice, Sydney: Current Press 2000. Ludwig, Sophie: Elsa Gindler – von ihrem Leben und Wirken, Wahrnehmen, was wir empfinden, Hamburg: Christians 2002. Todd, Mabel E.: The Thinking Body. A Study of the Balancing Forces of Dynamic Man, London: Dance Books [1937] 1997.

Menschen teilhaben lassen Dieter Heitkamp im Gespräch mit Gabriele Wittmann

Prof. Dieter Heitkamp leitet die Abteilung für Zeitgenössischen und Klassischen Tanz an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. Auf dem Tanzkongress zeigte er seine mit Studierenden und Gästen erarbeitete Lecture Performance HautSache Bewegung. Die Tanzjournalistin Gabriele Wittmann befragte ihn zum wissenschaftlichen Vortragswesen und alternativen Präsentationsformaten, zur Bedeutung der Haut im zeitgenössischen Tanz und den darin enthaltenen gesellschaftlichen Implikationen. Gabriele Wittmann: H AUT SACHE BEWEGUNG ist kein gewöhnlicher Vortrag geworden, sondern eine Lecture Performance für die Bühne. Warum hast Du diese Form gewählt? Dieter Heitkamp: Das beruht auf meiner Frustration bei Konferenzen und Symposien. Vor ein paar Jahren habe ich auf der Tagung »Wissen schaffen über Tanz« in der Berliner Akademie der Künste sehr viele Vorträge gehört. Dabei fiel mir auf, dass ein Vortrag doch letztlich auch eine Performance ist – warum wird dieser Aspekt so wenig berücksichtigt? Es geht schließlich um Körper und Tanz. Warum lesen Wissenschaftler oft nur von einem Manuskript ab? Ich empfinde das als unsinnlich und blockiere dann innerlich. Ist das Deiner Meinung nach ein generelles Vermittlungsproblem zwischen Wissenschaft und Praxis? Es gibt einfach eine ganz bestimmte Wissenschaftssprache. Die verstehen die Wissenschaftler untereinander. Aber wenn diese Sprache so trocken referiert wird, fällt es mir persönlich schwer, mich darauf einzulassen. Wenn ich etwas lese, ist das noch etwas anderes – dann kann ich selbst das Tempo bestimmen und einen Text auch zwischen-

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durch mal weglegen. Aber in einer Vortragssituation bekomme ich ihn in einem bestimmten Takt geliefert. Und dann heißt es für mich: ›Friss oder stirb.‹ Wie ist eure Lecture Performance entstanden? Den Ausgangspunkt bildete ein Text, den ich für ein GTF-Jahrbuch zum Thema ›Kommunikation‹ geschrieben habe. 1 Ich dachte mir: Kontaktimprovisation ist in sich schon immer Kommunikation durch Tanzen. Die Kommunikation entsteht dabei durch Berührung. Und Berührung findet über die Haut statt. Dazu nahm ich dann noch Erfahrungen aus dem »Body-Mind Centering«. Und dann habe ich ein Buch von dem französischen Psychoanalytiker Didier Anzieu gelesen: Das Haut-Ich. 2 Anzieu liefert eine spannende Sichtweise auf die Entwicklung dieses Organs aus psychologischer Perspektive, und ich empfand es als durchaus sinnvoll, seine Systematik auf den Tanz zu übertragen. Er unterteilt die Funktionen der Haut in drei Bereiche: Sie ist Gefäß, sie ist schützende Grenze, und sie ist Ort und Werkzeug für Kommunikation und für das Kreieren bedeutungsvoller Beziehungen. Den letzten Aspekt finde ich besonders wichtig: Dass man darauf achtet, bei der Kontaktimprovisation nicht nur aneinander ›rumzurubbeln‹ oder nur akrobatische Bewegungen aus der Trickkiste zu ziehen, sondern dass man seine Sinne dafür schärft, dass da spontan etwas zwischen Menschen passiert. Und es zuzulassen, andere Menschen an dieser sich spontan entwickelnden Kommunikation teilhaben zu lassen. Und wie wurde aus dem Text eine Performance? Ich habe überlegt, wie aus diesem Text die Struktur für eine Performance entstehen könnte. Ich wollte einen Rahmen schaffen, der den Tänzern größtmögliche Freiheit gibt, auf das Thema einzusteigen und sich dabei ›fallen lassen‹ zu können; einfach da sein zu können, ohne etwas produzieren zu müssen. Das Skript ist jetzt nicht nur ein theoretischer Text, sondern fast schon eine Art Manual, ein Handbuch, in dem die Kapitel so angelegt sind, dass sie zu verschiedenen Themen klare Vorschläge oder Bewegungsvorstellungen liefern. Die Tänzer entscheiden dann selbst in der Performancesituation, was sie davon nehmen: Sie müssen nichts ›darstellen‹, sondern können parallel zur Lesung einfach ›explorieren‹.3 Das Publikum nimmt daran teil und erhält Informationen 1 | Vgl. Dieter Heitkamp: »Hautsache Bewegung. Moving from the skin«, in: Antje Klinge/Martina Leeker (Hg.): Tanz Kommunikation Praxis, Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung, Bd. 13, Münster: LIT 2003, S. 125–146. 2 | Vgl. Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. 3 | Erkunden oder »explorieren« – aus dem Englischen to explore – ist ein gebräuchlicher Terminus im zeitgenössischen Tanz und bezeichnet generell das Sich-Eindenken und Erkunden von Bewegungsvorstellungen, Aufgaben, Bildern oder Übungen, um darin improvisierend Erfahrungen zu machen, die – je nach

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auf mehreren Ebenen: Es hört die Lesung und sieht den Tänzern zu. Zusätzlich kann es teilweise selbst körperliche Erfahrungen machen, denn es gibt auch Übungen für die Zuschauer. Durch das eigene Erfahren entsteht dann eine andere Wahrnehmung des gesprochenen Wortes – aber auch eine andere Wahrnehmung dessen, was da auf der Bühne im Tanz geschieht. An H AUT SACHE BEWEGUNG sind ein Sprecher, acht Tänzer und zwei LiveMusiker beteiligt. Außerdem gibt es eine Lichtregie und Videoprojektionen. Wie funktioniert das Zusammenspiel der Sinne für die Zuschauer? Das Thema »Haut als Oberflächenstruktur« beispielsweise wird auf die akustische und visuelle Ebene übertragen. Hierzu erzeugt jemand eine akustische Fläche, indem er Kaktusstacheln zupft. Das kann man hören und über ein vergrößertes Live-Video-Bild auch sehen. Oder jemand reibt auf einer Korkmaske, was dann durch die Runzeln auf der Rinde eine haptische Qualität hat, die ebenfalls über Video ins Optische übertragen wird. So kommt es zu einer ständigen Übertragung der sinnlichen Wahrnehmung durch die Medien. H AUT SACHE BEWEGUNG – MOVING FROM THE SKIN von Dieter Heitkamp, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Das erinnert an Grundelemente einer gelungenen Didaktik: alle Sinne ansprechen, für jeden Lerntyp etwas anbieten … Ich glaube, das hat ganz gut funktioniert. Man braucht allerdings für den technischen Auf- und Abbau dieser Lecture Performance mindestens drei Stunden, um mit Licht und anderen Elementen Stimmungen schaffen zu können, die mit der sinnlichen Erfahrbarkeit und der Theatralität Zweck der Exploration – das eigene Bewegungsempfinden bewusst machen bzw. verändern oder aber neues Bewegungsmaterial hervorbringen (Anm. G.W.).

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eines Raumes zu tun haben. Da das Auditorium im Haus der Kulturen der Welt, der Veranstaltungsort des Tanzkongresses, aufgrund seiner Größe und seiner zu allen Seiten offenen Bühne kein einfacher Raum ist, war es eine mutige Entscheidung, HautSache Bewegung trotzdem zu zeigen. Aber viele Zuschauer haben es begrüßt. Du agierst in der Performance einerseits als Sprecher, tanzt aber auch selbst mit. Es war für viele Zuschauer sicher ungewöhnlich, dass der Dekan einer Hochschule ›Haut an Haut‹ mit seinen Studenten tanzt. Dieses ›Miteinander Handeln‹ gehört bei der Kontaktimprovisation dazu. Diese Art, miteinander zu improvisieren, geht grundsätzlich von einem anderen Lehrer-Schüler-Verhältnis aus. Gleich zu Beginn des ersten Studienjahres fragen wir die Studierenden: »Können wir Dich anfassen?« Wenn nicht, bitten wir sie: »Teil Dich mit!« So muss die individuelle Ebene der körperlichen Nähe abgeklärt werden. Das gehört in der Kontaktimprovisation zur Grundvoraussetzung. Wie würdest Du dieses besondere Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden definieren? Das äußert sich schon darin, dass die Kontaktimprovisation eben nicht »Steve-Paxton-Technik« heißt, sondern dass in diese offene Tanzpraxis – die sich auch nach 35 Jahren noch immer weiter entwickelt – all diejenigen Wissen einspeisen, die sie praktizieren. Ebenso kann jeder etwas für sich mitnehmen. Dieser Gedanke einer miteinander geteilten Weiterentwicklung war also von Anfang an integraler Bestandteil der Kontaktimprovisation. Entsprechend wird der Austausch bei gemeinsamen Improvisationstreffen zwischen den Lehrern, aber auch der zwischen Lehrern und Schülern besonders gepflegt. Allerdings muss noch mehr Bewusstsein dafür geschaffen werden, woher eine Bewegungsidee oder Übung stammt. Wenn sich ein Student schon etwas mehr mit dem zeitgenössischen Tanz auskennt und Informationen zur Herkunft einzelner Elemente bekommt, dann kann er eine Übung ganz anders einordnen. Du benutzt in der Lecture Performance auch eine Exploration der Choreographin Lisa Nelson oder erklärst, was der Begriff »skinesphere« 4 bedeutet und wer ihn geprägt hat. Ist H AUT SACHE BEWEGUNG auch eine Lektion in Tanzgeschichte? Ja. Ich glaube, es gibt im zeitgenössischen Tanz den Wunsch, Begriffe zu klären, die in der Tanzpraxis für die Bezeichnung von Bewegungen 4 | Der Begriff »skinesphere« ist ein fester Bestandteil in dem von Nancy Stark Smith entwickelten Underscore. Die Performerin, Herausgeberin und Lehrerin für Improvisation bezeichnet damit den Raum innerhalb der Haut. Sie nennt diesen Bewegungsraum innerhalb des Körpers die »Skinesphäre« – im Gegensatz zur »Kinesphäre«, dem Raum, der den Körper umgibt. Vgl. Dieter Heitkamp: »Moving from the skin«, in: Contact Quaterly, 28, 2 (2003), S. 38–46.

Menschen teilhaben lassen | 157

oder Techniken verwendet werden. Wenn jemand von einem rolling point spricht, meinen wir da wirklich das Gleiche? Oder reden wir da über ganz unterschiedliche Dinge? Was ist eine counterbalance, was ein pivot? Es geht darum, solche Begriffe zu definieren, damit man in der gemeinsamen Arbeit zu einem ähnlichen Verständnis kommt und die Bedeutung dieser Begriffe später weiter vermitteln kann. Kommen wir zum inhaltlichen Aspekt der Performance: Warum ist es für zeitgenössische Tänzer, die sich noch in der Ausbildung befinden, wichtig, sich mit dem Organ Haut zu beschäftigen? Innerhalb der Körpersysteme im Tanz sind meistens die gebräuchlich, die mit ganz bestimmten Qualitäten verbunden sind. Im Denkansatz des »Body-Mind Centering« sind beispielsweise Knochen oder Gelenke für die Ausrichtung und Klarheit des Körpers im Raum oder Muskeln für die Dynamik zuständig. Ich erlebe, dass die Arbeit mit der Haut eine sinnlichere Qualität erzeugt. Wenn die Vorgabe etwa lautet: Spüre die Haut am ganzen Körper und nicht nur da, wo sie den Boden oder den Partner berührt, dann erlebe ich den Körper als ein 360-GradErlebnis. Das verändert dann die Präsenz. Das heißt, es verändert auch die Präsenz des Tänzers auf der Bühne? Ich empfinde es so, dass mehr Volumen im Körper ist, wenn diese »skinesphere« – wie Nancy Stark Smith diesen Raum innerhalb der Haut nennt – wirklich ganz ausgefüllt ist. Dann ist eine Bewusstheit darüber da, und es entsteht in alle Richtungen mehr Raum. Ist das auch sichtbar? Ja, das ist sichtbar. Daraus ergibt sich aber schon die nächste Frage: Hört diese Präsenz an der Haut auf, oder strahlt sie noch weiter in den Raum? Manchmal gibt es ja diesen ›Glocken-Effekt‹: Zwischen zwei Improvisierenden entsteht etwas, aber es entsteht nur zwischen ihnen. Wichtig ist dabei, wie das, was geschieht, auch weiter in den Raum gesendet werden kann. Wie kann das kommuniziert werden, ohne dass es aufgesetzt oder demonstrativ wirkt? Hat die Präsenz der Haut auch etwas damit zu tun, wie reaktionsschnell die Tänzer sind? Ja, denn die Haut und der kinästhetische Sinn sind die einzigen Sinne, die überall angesiedelt sind. In der Kontaktimprovisation wird nicht nur mit Händen oder Armen kommuniziert, sondern der ganze Körper wird als Kontakt- und Kommunikationsfläche eingesetzt und genutzt. Dafür ist die Haut – mit dem gesamten Nervensystem, das Rückmeldung an das Gehirn gibt – ein gutes Instrument.5 5 | Dadurch, dass diese Sinne Rezeptoren am ganzen Körper zur Verfügung haben, können manche Bewegungsentscheidungen innerhalb des Körpers auf einer vorbewussten Ebene getroffen werden – und damit schneller als durch das bewusste Denken in Gehirn (Anm. G.W.).

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H AUT SACHE BEWEGUNG – MOVING FROM THE SKIN von Dieter Heitkamp, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Fotos: Thomas Aurin

Viele Übungen im zeitgenössischen Tanz ähneln ja Übungen aus Körpertherapien, die etwa zur selben Zeit entstanden sind. Es geht darum, Kommunikationsprozesse zu verlangsamen und mikroskopisch sichtbar zu machen – auch die Kommunikation innerhalb des eigenen Körpers, des Empfindens, Denkens, Fühlens. Anders gesagt: Es geht darum, Selbst-Definitionen, eigenen Gedanken und Konzepten, auf die Spur zu kommen. Liegt hier die Schnittstelle zur gesellschaftlichen oder philosophischen Relevanz des zeitgenössischen Tanzes? Ich glaube, dass das Eintauchen in diese Ebene der Körperbewusstheit im zeitgenössischen Tanz eine sehr große Rolle spielt. Ob das durch »Body-Mind Centering« geschieht, »Feldenkrais«, »Alexander-Technik« oder »Ideokinese«. Oder durch Prinzipien, die aus den asiatischen Kampf künsten kommen und einen lehren, wie man ›im Fluss‹ sein kann und mit diesem Energiefluss umgehen kann. Oder wie man Grenzen setzen kann: ›Nein sagen‹. Dass man Grenzen als etwas Flexibles verstehen kann, über die man sich hinausentwickeln kann. Oder aber zu akzeptieren, dass da vielleicht eine Grenze ist – und diese zu respektieren. In der Kontaktimprovisation geht es dann noch darum, wie Menschen miteinander umgehen, welche Formen des Austausches geschaffen werden im Tanz, im Unterricht oder in Jams. Dass man sich selbst bei Kontaktimprovisations-Festivals mit Großgruppen von 100 Menschen in Feedbackrunden und Planungstreffen ausreden lässt und so alle gehört werden. Mittlerweile gibt es sogar Gruppen mit 200 Leuten – das hat eine gesellschaftliche Perspektive. Im zeitgenössischen Tanz geht es ja ganz viel um diese Fragen: Wo liegen Grenzen? Was ist das Selbst? Was ist das Andere? Was sind überhaupt Definitionen? Es geht ganz viel um Wahrnehmung, um ein Sich-selbst-beim-DenkenZuhören, wenn man z.B. an die Arbeiten von Jérôme Bel denkt. Oder darum, sich selbst nicht als Subjekt/Objekt, sondern als Teil eines ständigen Kommunikationsprozesses zu verstehen, wie es Xavier Le Roy mit dem Begriff der Osmose andeutet. 6 Diese ganzen Themen sieht man in vielen Stücken … 6 | Vgl. Xavier Le Roy in seinem Self-Interview, in dem er sich selbst u.a. zu Konzepten des Körpers befragt: www.insituproductions.net/_eng/framesetl. html vom 12. Mai 2007.

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Es gibt ganz viele Choreographen, bei denen diese Recherche ihren Ausdruck findet. Von daher würde ich sagen: Im Verhältnis von zeitgenössischem Tanz und bestimmten Körperbewusstheitsmethoden gibt es Punkte, an denen Forschung und künstlerische Recherche einen Teil des Weges zusammen gehen. Das betrifft Künstler wie Felix Ruckert oder auch Ka Rustler. Aber auch die Gruppe Rubato und Anna Huber gehören dazu – es geschieht bei allen auf unterschiedliche Weise. Wie geht es weiter mit H AUT SACHE BEWEGUNG ? Ich würde das Material gerne noch durch eine ganz andere Form aufbereiten: ein Buch machen mit einer DVD, mit Performancemitschnitten und Videobeispielen. Ein Buch, das neben Fotos auch die auf der Bühne verwendeten Texte enthält – auf Deutsch und Englisch. Und die nächste Lecture Performance? Wirst Du Dich anderen Körpersystemen aus dem »Body-Mind Centering« widmen, beispielsweise dem Thema »Flüssigkeiten«? Nein. Mich würde als nächstes eher eine Lecture Performance zum Thema Tanz und Sprache interessieren. Angeregt dazu wurde ich durch Deinen Text Dancing is Not Writing7 und Dein gerade erschienenes Essay Jede Faser atmet den Zug. 8 In diese Recherche gehört für mich dann auch Human Writes von William Forsythe – allerdings mit noch einer anderen Note: Da geht es um Schreiben, Einschreiben, um die Verbindungen zwischen Bewegungen und Worten. Seit einem Jahr beschäftigt mich dieses Wechselspiel intensiver. Ich bräuchte dazu allerdings noch mehr Recherchezeit, aber das ist das nächste Forschungsfeld.

7 | Vgl. Gabriele Wittmann: »Dancing is Not Writing«, in: Gabriele Klein/ Christa Zipprich (Hg.): Tanz Theorie Text, Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung, Bd. 12, Münster: LIT 2002, S. 585–596. 8 | Vgl. Gabriele Wittmann: »Jede Faser atmet den Zug«, in: die deutsche bühne 78, 1 (2007), S. 24–28.

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Literaturverzeichnis Anzieu, Didier: The Skin Ego, Yale: University Press 1989. Heitkamp, Dieter: »Hautsache Bewegung. Moving from the skin«, in: Antje Klinge/Martina Leeker (Hg.): Tanz Kommunikation Praxis, Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung Bd. 13, Münster: LIT 2003, S. 125–146. Heitkamp, Dieter: »Moving from the skin«, in: Contact Quarterly Bd. 28/2 (2003), S. 38–46. Le Roy, Xavier: »Self-Interview«, in: www.insituproductions.net/_eng/framesetl.html . Wittmann, Gabriele: »Dancing is Not Writing«, in: Gabriele Klein/ Christa Zipprich (Hg.): Tanz Theorie Text, Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung Bd. 12, Münster: LIT 2002, S. 585–596. Wittmann, Gabriele: »Jede Faser atmet den Zug«, in: die deutsche bühne 78, 1 (2007), S. 24–28.

Zu Risiken und ›Nebenwirkungen‹ des Tanzens Tanzmedizin in Ausbildung und Beruf Eileen M. Wanke

Professionelle Tänzer/-innen sind die Hochleistungssportler unter den darstellenden Künstlern oder Künstlerinnen. Sie sind im Rahmen der Ausbildung und später im Arbeitsprozess im Training, in den Proben und Vorstellungen maximalen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Wie in nahezu keinem anderen Beruf steht einer begrenzten Zeit der Berufsausübung – die sowohl bei Tänzerinnen als auch Tänzern in der Regel spätestens vor dem 40. Lebensjahr endet – eine unverhältnismäßig lange, rein monospezifische Ausbildungszeit gegenüber. Neben den technischen Fertigkeiten stellt insbesondere bei den Tänzerinnen ein körperliches Idealbild, das unter anderem von einem sehr niedrigen Körpergewicht bestimmt wird, eine entscheidende Voraussetzung für die Berufsausbildung und Berufsausübung dar. Ebenfalls abweichend von anderen Berufsgruppen finden im Bühnentanz kaum bzw. keine den Körper im Arbeitsprozess unterstützenden Arbeitsmittel Anwendung. Der eigene Körper, mit dem Bewegungen, Gefühle und Handlungen ausgedrückt werden, stellt gleichsam Arbeitsmittel und einziges Kapital der Karriere dar. Die durch Ausbildung und schließlich Berufsausübung entstehenden Belastungen wirken somit ständig und allein auf den Körper ein. Grundsätzlich ist eine Berufsausübung als Tänzer oder Tänzerin nur mit einem insgesamt funktionsfähigen Organismus möglich. Bereits minimale körperliche ›Defizite‹ können im Tanz nicht oder nur schwer kompensiert werden. Sie führen zu starken Einschränkungen in der Berufsausübung und nicht selten zu einer Arbeits- oder gar Berufsunfähigkeit. Schon deshalb kommt der Therapie und vor allem der Prävention von Verletzungen, unabhängig vom Schweregrad und Ausmaß, im professionellen Bühnentanz eine überdimensionale Bedeutung zu.

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Eine gezielte Prävention und Therapie setzen das Wissen um die spezielle Arbeitssituation im Tanz voraus. Dabei spielen arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren sowie Entstehungsmechanismen von Unfällen eine besondere Rolle. Bereits im 19. Jahrhundert gab es vereinzelt medizinische Betrachtungen des professionellen Tanzes. Doch bevor sich daraus Organisationen bildeten, vergingen fast weitere 200 Jahre. Mittlerweile gibt es in zahlreichen Staaten sowohl nationale als auch international vernetzte tanzmedizinische Organisationen. Die Arbeitsbereiche sind vielfältig und erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie sie der Sportmedizin sehr ähnlich ist: Sie umfassen die Physiologie, Biomechanik, Traumatologie, psychologische und ernährungswissenschaftliche Fragestellungen sowie Fragen der Prävention und Therapie. Zu den Zielen gehören die Verbesserung der medizinischen Betreuung, die Sensibilisierung und Information der in diesem Berufsfeld Tätigen, Anregung von Forschung und Lehre und Förderung der Kommunikation im Allgemeinen. Die Situation im professionellen Bühnentanz1 in Deutschland hat dramatische Ausmaße angenommen: Während in den letzten zehn Jahren ein Rückgang der fest angestellten Tänzer/-innen auf nationaler Ebene um fast ein Drittel zu erkennen ist, stellt sich diese Entwicklung beispielsweise in Berlin noch weitaus drastischer dar (s. Abb. 1). Dort ist in den letzten zehn Jahren die Anzahl der engagierten Tänzer/-innen sogar um mehr als die Hälfte reduziert worden. Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl der angestellten Tänzerinnen/Tänzer in Deutschland 2000 1900 1800 1700

Anza hl 1600 1500 1400 1300 1200 9 3 4 2 5 5 4 0 8 1 7 6 3 2 /9 /9 /9 /9 /0 /9 /0 /0 /9 /0 /9 /9 /0 /0 98 92 93 91 04 94 03 99 97 00 96 95 02 01 19 19 19 19 20 19 20 19 19 20 19 19 20 20

Dabei sind zwei Kompanien aufgelöst und zwei weitere zu einer großen zusammengelegt worden. Dieses ›Ballettsterben‹ hält zurzeit auch bundesweit an. Aber nicht nur die Tatsache, dass immer weniger ausgebildete 1 | Im Folgenden ist von klassischem bzw. neoklassischem Ballett, von Revue-, Musical- und Tanztheater die Rede.

Zu Risiken und ›Nebenwirkungen‹ des Tanzens | 163

Tänzer/-innen einen Job bekommen, ist bedrückend. Da sich parallel zum Abbau der Tänzerstellen die Anzahl der Vorstellungen oder Premieren im Untersuchungszeitraum kaum verändert hat, nimmt die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung für eine weitaus geringere Anzahl von Tänzern und Tänzerinnen noch weiter zu. Das bedeutet, dass immer weniger Tänzer immer mehr leisten müssen. Die mit dem Tanz verbundene körperliche Schwerarbeit hat sich durch die im 20. Jahrhundert explosiv gestiegenen Anforderungen – wie technischer Perfektion und Virtuosität, dem körperlichen Idealbild und den grenzenlosen Ideen der Choreographen – nochmals verschärft. Die Bilanz: Jede/r zweite Tänzer/-in verletzt sich mittlerweile mindestens einmal im Laufe einer Spielzeit im Rahmen eines Arbeitsunfalls. Vor zehn Jahren waren es nur halb so viele. Während sich die Verletzungshäufigkeit, die im Tanz in einer direkten Abhängigkeit von Dauer, Art und Intensität der Belastung steht, bei den übrigen Bühnenangestellten in den letzten Jahren konstant verhielt, stieg sie im Tanz deutlich an. Stauchungen und Zerrungen zählen zu den häufigsten Verletzungsarten bei beiden Geschlechtern. Bei den Tänzerinnen müssen Prellungen bei jedem fünften Unfall genannt werden, die häufig als Folge von Hebungen (Greifen/Festhalten) vom Partner verursacht wurden. Gelenkstrukturen gehören zu den Anteilen, die mit jeweils einem Drittel (männlich und weiblich) am häufigsten verletzt werden. Es folgt die Muskulatur, die mehr als ein Viertel aller verletzten Strukturen bei den Tänzern ausmacht, während bei den Tänzerinnen der Bandapparat in ca. einem Viertel sowie muskuläre Verletzungen in jedem siebten Unfall folgen. Zu Knochenverletzungen kommt es bei den Tänzern bei jedem achten Unfall und bei den Tänzerinnen bei jedem siebten Unfall. In Abhängigkeit von der Stilrichtung sind zwischen 50 und über 70 Prozent der Unfälle an der unteren Extremität lokalisiert. Je weiter sich die Tanztechnik vom klassischen Ballett entfernt, desto mehr Verletzungen finden sich auch in anderen Körperabschnitten. So ist beispielsweise im Tanztheaterbereich bei jedem dritten Unfall der Kopf- und Halsbereich oder eine obere Extremität betroffen. Ursächlich liegen hier – neben dem Einsatz von Requisiten – häufig tanzunspezifische Bewegungsmuster zugrunde. Diese finden im täglichen Training, das meistens in klassischer Tanztechnik ausgeführt wird, häufig nur wenig oder gar keine Beachtung. Dazu gehören auch Sprünge von instabilen Gegenständen oder aus großer Höhe, Radschlag oder Rollen vorwärts und rückwärts. Die untere Extremität ist auch im Ausbildungsbereich die häufigste Verletzungslokalisation. Hier stellen – bei ausgeprägten geschlechtsspezifischen Unterschieden – Hüfte, Bein und Fuß die am häufigsten

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betroffenen Regionen dar. In den Wachstumsphasen ist ein Anstieg der Verletzungsinzidenz zu beobachten. Sowohl im Ausbildungsbereich als auch später im professionellen Tanz stellt das Supinationstrauma (›Umknicken‹) des Sprunggelenkes (unabhängig von der Stilrichtung) die häufigste Verletzung dar. Jeder zweite bis vierte Unfall ereignet sich – je nach Tanzstil – bei der Durchführung von Sprüngen in Form von Einzelsprüngen oder Sprungkombinationen. Sie stellen maximale Anforderungen an die konditionellen und koordinativen Fähigkeiten von Tänzern und Tänzerinnen. Sehr deutlich sind – aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung hinsichtlich der Arbeitsinhalte – geschlechtsspezifische Unterschiede ausgeprägt: Während sich Tänzerinnen deutlich weniger häufig bei Sprungkombinationen und Hebungen verletzen, so kehrt sich dies bei allgemeinen Tanzbewegungen (z.B. kleinere Sprünge oder Schrittkombinationen, die im allgemeinen Tanzvokabular definiert sind) um. Dieses ist mit geschlechtsspezifischen Arbeitsinhalten zu erklären. So werden Spitzenschuhe in der Regel nur von Tänzerinnen getragen, während die großen Sprungkombinationen nur von Tänzern durchgeführt werden. Auch werden Tänzerinnen eher gehoben, als dass sie selber heben. Mit zunehmender Entfernung von der klassischen, definierten Tanztechnik weichen diese geschlechtsspezifischen Muster auf. Da im Tanz der gesamte Körper als Arbeitsmittel dient, ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Verletzungen aufgrund eines multifaktoriellen Einflusses entstehen. Dazu gehören endogene Faktoren, wie beispielsweise die Art des Vertrages, die Rolle in der Gruppe, Ernährungsverhalten, Trainings- und Vorstellungsplanung u.a. Dabei lassen sich charakteristische Verteilungen in Abhängigkeit vom Tanzstil darstellen (s. Abb. 2). Abbildung 2: Darstellung der Ursachen von Arbeitsunfällen im Bühnentanz Darstellung der Ursachen von Arbeitsunfällen im Bühnentanz 70

60,9

60

Häufigkeit in %

69,8

66,3

66,1

60

54,4

50

45,6

40

39,1

40

33,9

33,7

30,2

30 20 10

Wanke, Wolff 2005

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Zu Risiken und ›Nebenwirkungen‹ des Tanzens | 165

Während im klassischen Bereich (Ballett) mit ca. zwei Dritteln der multifaktorielle Einfluss für die Entstehung von Verletzungen überwiegt, ändert sich dieses mit zunehmender Entfernung von der klassischen (und damit sehr klar definierten) Tanztechnik. So entsteht im Revue-, Musical- und Tanztheaterbereich die Mehrzahl aller Verletzungen aufgrund eines äußerlich einwirkenden ›Gegenstandes‹, also genau so, wie es die Definition eines Arbeitsunfalls vorsieht. Zu den ›äußeren‹ Ursachen bzw. den Unfall auslösenden Gegenständen im Bühnentanz können unter anderem folgende gerechnet werden: Fußboden, Kostüm, Mensch sowie Requisiten und Kulissen oder/und ggf. unspezifische Bewegungsabläufe (siehe oben). Neben dem Menschen und der Requisite (vor allem im Tanztheater und Musical) gehört statistisch gesehen der Fußboden zu den häufigsten Gegenständen, die einen Unfall auslösen. Warum? Der Fußboden spielt eine ›Hauptrolle‹ im Tanz. Denn er stellt – neben dem Partner – für den Tänzer und die Tänzerin oftmals den einzigen zuverlässigen Halt dar. Umso höher ist daher die Bedeutung einer optimalen Bodenbeschaffenheit einzustufen. Auffällig sind in diesem Zusammenhang geschlechtsspezifische Bedürfnisse: Während den Tänzerinnen aufgrund der Arbeit in Spitzenschuhen ein Bodenbelag nie zu stumpf sein kann, stellt sich dieses bei den Tänzern anders dar. Ein zu stumpfer Boden kann beispielsweise Pirouetten deutlich erschweren und zum Teil erheblich einschränken. Auch kann bei der Ausführung von Sprungkombinationen, die ohnehin schon maximale Anforderungen an die koordinative Leistungsfähigkeit stellen, ein ›zu stumpfer‹ Boden die Verletzungsgefahr stark erhöhen, da er zum ›Hängenbleiben‹ führen kann. Andere Probleme im Bereich des Fußbodens sind Unebenheiten, durch eine multifunktionale Bühnentechnik vorhandene Bühnenwagenschienen, Spalten oder Niveauunterschiede, Verunreinigungen sowie Aufwerfungen an verklebten Rändern des Belags. Während im klassischen, modernen oder auch im Revuetanz Requisiten nur nebensächlich sind, stellt sich dieses im Tanztheater ganz anders dar. Hier wird jeder dritte Unfall durch den Einsatz von Requisiten verursacht. Dazu gehören beispielsweise Gegenstände (z.B. Schränke), die in die Choreographie mit einbezogen werden, genauso wie Käfige aus Lattenholz, von denen sich Holzsplitter lösen, oder Eisenketten, mit denen Tänzer beispielsweise an Stühle gefesselt werden. Aber auch Prothesen oder Nägel, die in den Mund zu nehmen sind, scharfe Gegenstände ebenso wie Metallbetten kommen bei der Umsetzung der grenzenlosen choreographischen Einfälle zum Einsatz und können somit zu Verletzungen führen. Im klassischen Tanz stellt sich die Beantwortung der Frage nach dem Unfall auslösenden Gegenstand komplett anders dar. Hier liegt in mehr als 70 Prozent aller Unfälle ein multifaktorielles Geschehen zugrunde.

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Dabei kann oftmals nicht festgestellt werden, welche Faktorenkombination ganz genau zu einem speziellen Unfall geführt hat. Als Einflüsse, die letztendlich zu Verletzungen führen oder dies zumindest begünstigen, müssen im Tanz beispielsweise folgende berücksichtigt werden: – der Trainings- oder Ernährungszustand bzw. der Flüssigkeitshaushalt; – der Grad der Ermüdung; – die Position in der Gruppe bzw. deren Konkurrenzdruck; – der Zeitpunkt des Tages; – die technischen Fertigkeiten und körperlichen Voraussetzungen; – die Saisonplanung mit entsprechender Proben- und Vorstellungsplanung sowie – die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Während die äußeren, den Unfall auslösenden Gegenstände sofort zu erkennen sind, stellen die oben genannten, in der Verletzungsprävention nicht minder wichtigen Faktoren besondere Anforderungen an ein spezielles Wissen um die Situation der Tänzer/-innen. In diesem Zusammenhang ist unter anderem die Ernährungssituation zu nennen. Denn zu den Voraussetzungen für eine Berufsausbildung und eine erfolgreiche Berufsausübung gehören neben technischen Fertigkeiten auch eine von der Tanzästhetik geforderte körperliche Idealform. Die Anforderungen an dieses Idealbild variieren zwar von Stilrichtung zu Stilrichtung leicht, sind aber deswegen nicht weniger extrem. Dabei sind die Anforderungen im negativen Sinne häufig grenzüberschreitend und sowohl mittelfristig wie langfristig körperlich stark und – bis zum Lebensende bleibend – schädigend. Da das körperliche Erscheinungsbild auch genetisch determiniert ist, wird bei Nicht-Übereinstimmung des körperlichen Wunschbildes mit der Realität nicht selten eine Ess-Störung in Kauf genommen oder sogar indirekt im Rahmen der Ausbildung oder bei der Jobsuche gefördert und gefordert, um eine gewünschte Tanzkarriere zu verwirklichen. Nur in Ausnahmefällen findet eine Thematisierung der Störungen des Essverhaltens (Anorexia athletica) sowie der manifesten Ess-Störungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa) statt, die neben lebensbedrohlichen Komplikationen auch zum Tod führen können. Bei einer wachsenden Medienpräsenz dieser Themen ist nur sehr schwer vorstellbar, dass sich die gesundheitliche Problematik von Dauerdiäten ausgerechnet in der Tanzwelt bei den Verantwortlichen oder auch bei Eltern, Schülern und Schülerinnen noch nicht herumgesprochen hat. Vor allem bleibt zu hoffen, dass die Forderungen an ein körperliches Idealbild, das nicht in der gesünderen Form der Messung der Körperzusammensetzung, sondern vielmehr am Körpergewicht in Kilogramm gemessen wird, bei Verantwortlichen, Schülern, Schülerinnen und Eltern nur aus reiner Unwissenheit heraus-

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gestellt, geduldet und akzeptiert werden. Denn diese Forderungen sind häufig mit einem fahrlässigen Umgang mit der Gesundheit heranwachsender Schüler und Schülerinnen sowie später erwachsener Tänzer und Tänzerinnen verbunden. Die Folgen zeigen sich schon frühzeitig in einem Anstieg der Verletzungsrate, aber oftmals eben auch erst jenseits des Karriereendes in Form eines die Lebensqualität extrem beeinträchtigen Knochenschwundes. Tanz ist nicht gleich Tanz. Und genauso unterschiedlich, wie sich die verschiedenen Tanzstilrichtungen präsentieren, stellen sich auch die Ursachen von Verletzungen und die daraus abzuleitenden präventiven Maßnahmen im professionellen Bühnentanz dar. Das betrifft nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch geschlechtsspezifische Unterschiede, Fragen der Anerkennung von Unfällen oder Berufskrankheiten, eine verbesserte Prävention (z.B. durch ein regelmäßiges Screening) und eine erweiterte Therapie (z.B. Übergangstraining). Hier ist viel spezielles Wissen und vor allem die Auf klärung der Verantwortlichen und Betroffenen über die besonderen Arbeitsbedingungen und die außergewöhnliche Arbeits- und Lebenssituation von professionellen Tänzern und Tänzerinnen sowie eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich.

Literaturverzeichnis Arendt, Yasmin D./Kerschbaumer, F.: »Verletzungen und Überlastungserscheinungen im professionellen Ballett«, in: Zeitung für Orthopädie 141 (2003), S. 349–356. Bronner, Shaw/Brownstein, Bruce: »Profile of dance injuries in a Broadway show: a discussion of issues in dance medicine epidemiology«, in: The journal of orthopaedic and sports physical therapie 26 (1997), S. 87–94. Cohen, J.L./Segal, K.R./McArdle, William D.: »Heartrate response to ballet stage performance«, in: Physician Sportsmed (1982), S. 10, 120–133. Kelman, B.B.: »Occupational hazards in female ballet dancers. Advocate for a forgotten population«, in: AAOHN Journal 48 (2000), S. 430–434. Ravaldia, C./Vannacci, A. et al.: »Eating disorders and body image disturbances among ballet dancers, gymnasium users and body builders«, in: Psychopathology 36 (2003), S. 247–254. Schantz, P.G./Astrand, Per Olov.: »Physiological characteristics of classical ballet«, in: Medicine and science in sports and exercise 16 (1984), S. 472–476. Stretanski, M.F./Weber, G.J.: »Medical and rehabilitation issues in classical ballet«, in: Am J Phys Med Rehabil 81 (2002), S. 383–391.

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Unfallkasse Berlin (Hg.): Tanzmedizin – Ausbildung und Arbeitsplatz, Berlin 2005. Wanke, Eileen.M.: Leitlinien zur Prävention von Unfällen im professionellen Bühnentanz, im Druck.

Tanzgeschichte und Rekonstruktion

Martin Nachbar in seiner Rekonstruktion von Dore Hoyers A FFECTOS HUMANOS , Foto: Kathrin Schander

Die Erfassung des Wesentlichen Eine persönliche Sicht auf die Geschichte und Rekonstruktion des Tanzes Jason Beechey

Beschäftigt man sich mit einer so monumentalen Frage wie der Geschichte und Rekonstruktion des Tanzes, so steht man vor einer großen Herausforderung. Vor dem inneren Auge tauchen Bilder von bebrillten Gelehrten auf, die sich in voluminösen Geschichtsbüchern in geheiligten Archiven vergraben, das Erdreich nach verschollenem Videomaterial umgraben und auf längst vergessene Schriften und Liebesbriefe stoßen, welche die geheimsten Gedanken und Passionen der großen, kreativen Köpfe der Tanzwelt preisgeben. Und man stellt sich vor, wie diese klugen Seelen nach unzähligen Stunden gewissenhafter Forschung schließlich mit einem Haufen unverdorbener, junger Tänzer in ein Tanzstudio stürmen, um vergangene Ruhmestaten mit neuem Leben zu erfüllen oder neue Glanzleistungen zu schaffen – ein Liebesdienst, der es erfordert, auf kleinste Details zu achten und zerfurchte Erde mit einem feinen Kamm zu bearbeiten. Es ist ein notwendiger Dienst, um es zukünftigen Generationen zu ermöglichen, von den Früchten der Vergangenheit zu kosten und sich ein eigenes Bild von den Aussagen, Entdeckungen und Vorlieben der Vergangenheit zu machen. Ist diese Rekonstruktion zutreffend? War das die Absicht, die dahinter steht? Man braucht sich nur das Video einer Tanzaufführung von vor 20 Jahren anzusehen, um festzustellen, dass die Balletttechnik heute lebendiger und entwicklungsfähiger ist als je zuvor. Die Wahrnehmung der Menschen ist einem ständigen Wandel unterworfen – was modern zu sein pflegte, gilt jetzt als altmodisch. Die Grenzüberschreitung ist langweilig und das Experimentelle zur Routine geworden. Lässt sich ein Ballett jemals wirklich rekonstruieren oder befindet es sich nicht vielmehr in ständiger Entwicklung? Wenn so viele Faktoren eine Rolle spielen – z.B. wer die Tänzer sind oder wie diese ausgebildet

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wurden –, ist es dann nicht gerade das Unkontrollierbare, das den Tanz zu einer so aufregenden, lebendigen Kunstform macht? Ist nicht gerade die Tatsache, dass jede Tanzaufführung einzigartig, besonders und nicht zu rekonstruieren ist, eine Säule der Kunst des Tanzens? Wie können wir etwas rekonstruieren, das einmal lebendig war? Wie schaffen wir es, das Wesentliche zu bewahren? Ich hoffe und glaube, dass viele zukünftige Generationen von Tänzern das Vergnügen haben werden, ihr Bestes zu geben (und die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen), indem sie den bestehenden Kanon des klassischen Balletts, also Werke wie Schwanensee oder Dornröschen, nutzen. Ich hoffe aber auch, dass sie diese Werke am Leben erhalten – nicht durch Rekonstruktion, sondern durch Neuerfindung jeder einzelnen Aufführung und Interpretation. Gleichzeitig waren die wahren kreativen Genies früherer Generationen Künstler mit unübersehbaren Talenten, die zu eigenen Ausdrucksformen fanden und dabei die zukünftige Richtung vorgaben – so wie einst der Choreograph George Balanchine das klassische Vokabular rekonstruierte und zu etwas Neuem weiterentwickelte. Wir müssen eine Atmosphäre schaffen, in der sich diese kreativen Talente frei entfalten können. Ist es nicht diese Art der Rekonstruktion, auf die wir uns konzentrieren sollten? Sollten wir nicht Zeit und Raum schaffen für kreatives Arbeiten? Und sollten wir nicht besser einen Weg zum Lernen aufzeigen, welcher die Vergangenheit respektiert und dennoch Platz für die Zukunft lässt, anstatt erdrückende Vergleiche zu ziehen?

Toronto 1986 Begeben wir uns in die Vergangenheit, in das Jahr 1986. Der Kalte Krieg war einem Tauwetter gewichen, und Glasnost brachte uns frischen Wind. Das Kirov Ballett hatte sich nach fast 25-jähriger Abwesenheit auf den Weg in den Westen gemacht. Mich als Student hielt es damals schon ungefähr zwei Wochen vor ihrer Ankunft kaum mehr in den Vorlesungssälen. Am Tag der Aufführung war ich Stunden vorher vor Ort, und mit großer Verspätung wurden die Lichter abgedunkelt und die Aufführung begann. Chopiniana, eine Reihe kurzer Stücke, und Paquita veränderten für immer meine Vorstellung von Tanz. Hier war der ›Tempel‹ von Petipa1, der historische Geburtsort der meisten großen Klassiker, und hier wurde 1 | Der französisch-russische Balletttänzer und Choreograph Marius Petipa gilt als der ›Vater des klassischen Balletts‹, da er französische und italienische Einflüsse mit dem russischen Ballett verschmolz.

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nach den Maßstäben meiner damaligen Ausbildung nahezu jede erdenkliche ›Todsünde‹ begangen. Und dennoch: Genau deshalb zog es mich zum Tanz. Es war eine Inspiration! Dies war Geschichte in ihrer lebendigsten Ausformung. Wie war das möglich? Ich besuchte eine ausgezeichnete Schule und arbeitete mit Lehrern, von denen einige genau diese Schule absolviert hatten – und dennoch schien alles ganz anders zu sein. Zu dieser Zeit war Ballett für mich eine ›Form‹, eine eher vornehme, korrekte Art des Sich-Bewegens, bei der jeder Schritt von Kopf bis Fuß exakt einstudiert werden musste. Man hatte Prüfungen abzulegen, bei denen von jedem Prüfling genau gleiche Phrasierungen, Einsätze und Ausführungen erwartet wurden. Ganze Unterrichtseinheiten musste man auswendig lernen, nur damit der Prüfer entscheiden konnte, ob man Adagio Nummer eins, zwei oder drei tanzte. Der Schwerpunkt lag auf dem Erlernen der korrekten körperlichen Positionen und Details. Der Spruch ›Besser ein ordentlicher als drei schlampige‹ trifft so ziemlich den Kern. Es war eine politisch korrekte, körperfreundliche Art der Ballettausbildung. Aber hatten wir dabei nicht etwas Wesentliches verloren? Warum sah das Épaulement bei ihnen so anders aus als bei mir? Anstatt ein Werk wiederzugeben, schienen sie aus jeder Pore Leben und Kunst ein- und auszuatmen. Die Tänzer des Kirov Balletts besaßen Leidenschaft, Lebensfreude, Kraft, Eleganz und vor allem Kunstfertigkeit. Es war die Generation von Lyubov Kunakova, Altynai Asymulratova und Irina Kolpakova. Sie schienen Freiheit und Ausdruckskraft zu verströmen. Doch trotz dieser scheinbar sorglosen Herangehensweise waren sie in der Lage, die erstaunlichsten technischen Leistungen zu vollbringen. Aber welchen Preis hatten sie dafür gezahlt? Dachten sie nach, während sie tanzten? War jedem Einzelnen ein übermenschliches Talent in die Wiege gelegt worden? Noch mehr erstaunte mich, dass ich am Abend darauf eine völlig neue Konstellation vorfand – nicht nur in Bezug auf die Tänzer, sondern auch im Hinblick auf die Variationen. Dies war heiliger Boden, es war die Paquita, und doch schienen sie sich alle erdenklichen Freiheiten zu nehmen! Was war nun die ›echte‹, die historisch korrekte Version? Ich sah, wie dieselbe Variation mit einer völlig veränderten Pirouette oder einer anderen Koda getanzt wurde – und doch schien unter der Oberfläche alles seine Ordnung zu haben. Als ob sie die zugrunde liegende Strömung verstanden hatten. Denn was sie auch taten, sie erfassten immer das Wesentliche. Es schien, als besäße jeder Einzelne seine ganz persönliche Version des Balletts. War dieses hohe Maß an Spielraum und Freiheit die ultimative Form? Wie waren diese spezifischen Elemente bei der Übersetzung in die westliche Welt verloren gegangen? Oder hatten wir sie an unsere Vorlieben und Stile angepasst? Oder waren sie vielleicht unter dem Sowjetregime

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weiterentwickelt (oder auch bewahrt) worden? Hatte man aus Mangel an Inspiration angefangen, an der Choreographie herumzubasteln? Welche Rollen und Auswirkungen hatten Geschichte und Rekonstruktion auf beiden Seiten des Zauns vorgesehen?

Leningrad 1989 Zweieinhalb Jahre später wohnte ich in der Theaterstraße in Leningrad und besuchte einen Abschlusskurs an der Waganowa Ballettakademie. Hier, im Herzen der Tanzkunst, wollte ich so viel wie möglich in mich hineinsaugen. Mir war die Warnung mit auf den Weg gegeben worden, dass meine gesamte Ausbildung als ›falsch‹ bezeichnet werden würde – weit gefehlt: Ich fand mich in einer Atmosphäre wunderbarer Offenheit wieder. Man ermutigte mich, mit dem Vorhandenen umzugehen, das hieß in meinem Fall auf dem aufzubauen (nicht zu dekonstruieren), was ich im Westen gelernt hatte. Die damalige Ausbildung an der Waganowa Schule schien auf den ›qualitativen‹ Grundprinzipien zu beruhen, d.h. drehen, springen, strecken, fühlen, glauben – und die Positionen waren lediglich festgelegte Elemente, die diese Prinzipien veranschaulichten. Dazu gab es eine Reihe von Übungen, die das eigene Verständnis dieser Prinzipien zwar überprüfen, jedoch nicht etwa dem Erlernen statischer Formen und Figuren dienen sollte. Man arbeitete von innen nach außen. Und doch waren die geschaffenen Formen und Figuren physisch viel extremer als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Gleichzeitig waren sie aber voller Expressivität und künstlerischer Feinsinnigkeit. Eine Position wurde nicht ›eingenommen‹, sondern in einer Körpersprache ›gesprochen‹. Besonders faszinierte mich die Verschmelzung des Künstlerischen mit dem Technischen. Während man heute zunehmend von Tanzstudien, Techniken und darstellerischen Qualitäten als separaten Aspekten spricht, bildeten sie in Leningrad von 1989 zweifellos eine Einheit: Die Technik war das Künstlerische. Aus meiner westlichen Perspektive schien mir das Erlernen aller traditionellen Tänze als untrennbare Komponente der Klassik sehr fremd: Tänzer aus dem Westen bewegten sich anders. So sehr wir uns auch bemühten, wir hatten andere Rhythmen. Kinder, die mit Popmusik aufwachsen, entwickeln ein anderes Gefühl für Bewegung als jemand, der mit Folklore groß wird. Es war vergleichbar mit den Unterschieden bei Klang, Syntax und Geschwindigkeit einer Sprache. Es lief darauf hinaus, dass einer anderen Mentalität ein physischer Ausdruck verliehen wurde. Lässt sich dies einer Person mit einem anderen kulturellen Hintergrund vermitteln? Kann so etwas transponiert werden? Wie lässt sich dies an die nächste Generation weitergeben? Oder hat jede Generation ihre eigene Sprache?

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Für meine Mitschüler waren es die eigene Geschichte und der eigene Rhythmus, die gelehrt wurden. Es waren keine fremden Nationaltänze, es handelte sich vielmehr um die gleichen Rhythmen, die sie bei vielen Festlichkeiten oder offiziellen Veranstaltungen hörten. Sie waren in ihrem Blut, und entsprechend tanzten sie auch. Es war nichts Historisches daran, zumindest nicht für sie. Alles schien von Belang zu sein. Ich wurde mit Werken von Balanchine am Pacific Northwest Ballet in Seattle groß, und ich war absolut fasziniert von der Körperlichkeit der Bewegung: reduziert auf das Wesentliche, ohne Extras, mit dem Körper sprechend, ohne Schnickschnack, der reine Tanz. Nichtsdestotrotz kamen mir einige Elemente an der Waganowa Ballettakademie im Vergleich zu westlichen Konzepten altmodisch vor: fast ausschließlich langsame Tempi, eine lässige Musikalität und unpräzise Fußspitzenarbeit. Doch sind das nicht genau drei Schlüsselelemente in Balanchines Arbeit? Das war der Punkt, an dem ich mich wirklich fragte, wie viele seiner Werke auf das Russland der damaligen Zeit zurückzuführen waren und inwieweit er die Stärken, die er sah, weiterzuentwickeln suchte. Weitere Fragen zur Evolution und Stagnation rückten endgültig in den Vordergrund, als die Repetitorinnen des Kirov Balletts, Suzanne Farrell und Francia Russell, erstmals während meines Aufenthalts ein Werk von Balanchine auf die Bühne brachten. In einem persönlichen Gespräch beschrieb Francia Russell die Erfahrung, mit Tänzern zu arbeiten, die nicht an schnelle Tempi, präzise Musikalität und exakte Choreographie gewöhnt waren. Wenn man dann aber dem Kirov Ballett beim Tanzen ihrer ersten Schottischen Symphonie zusah, schien es, als hätten sie die Themen und Variationen in die Zukunft verlegt. Dabei benutzten sie jedoch noch genau die gleiche Sprache. Als ob sie versuchten, ihre Geschichte voranzutreiben, um innerhalb von zwei Ballettstücken aufzuholen, was sie in den letzten 50 Jahren versäumt hatten. Die Hauptmerkmale meines kurzen, sechsmonatigen Studienaufenthalts waren sicherlich höchste Anerkennung und großer Respekt. Ich befand mich an einem Ort, der auf purer Konzentration und Hingabe auf baute und seine Kraft aus der Inspiration für eine Kunstform bezog, an die man mit ganzem Herzen glaubte. Es war ein historischer Ort, an dem auf keimende Kreativität unter der Last der politischen Verhältnisse zu ersticken drohte. Der Tanz jedoch wurde hoch geachtet und respektiert und die Künstler tanzten mit größter Hingabe das, was zu tanzen erlaubt war.

New York 1990 Von Leningrad aus ging ich direkt nach New York. Hier befand sich die School of American Ballet, die Balanchine nach dem Modell der Schule seiner Kindheit gegründet hatte, um das Ballett nach Amerika

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zu bringen bzw. eine amerikanische Variante des Balletts zu schaffen. In vielerlei Hinsicht bestand sein Ziel darin, sich von den Traditionen zu befreien, um Neues zu erforschen. Bei Stanley Williams, Ballettlehrer an der School of American Ballet, waren sämtliche Korrekturen bereits in die Übungen eingebaut. Um letztere korrekt ausführen zu können, musste man sämtliche Verbesserungen verstehen und integrieren. Dies war nur mit dem Einsatz physischer Intelligenz zu schaffen. Man konnte es nicht durch Zusehen oder Nachlesen verstehen, man musste es tun. War das seine eigene Idee oder eine Reflexion der Ideale von Balanchine? War diese Methode, die sich so sehr auf die Details und Feinabstimmung konzentrierte, besser geeignet für Studenten aus den USA? War diese anspruchsvollere Umgebung notwendig, um die neue Generation zu Bestleistungen anzuhalten? Oder handelte es sich um einen ökonomischen Faktor? In der Sowjetunion hatte jede Klasse zwischen acht und zwölf Schüler. In New York waren die Klassen dreimal so groß. War Zeitmangel der Grund oder handelte es sich um eine neue Lehrmethode? Ich glaube, es war eine Lehrmethode, die darauf gründete, dem Körper Raum zum Denken zu geben. Williams gab uns einfach die Instrumente und den intellektuellen Spielraum, damit wir uns selbst unterrichten konnten. Der Schwerpunkt war genau derselbe wie der an der Waganowa Ballettakademie. Sicher, der Stil war anders, doch jede Schule ist lokal verwurzelt. Schließlich ist sie das Produkt der Menschen und der Umgebung, in der diese leben. Meiner Meinung nach hat jede Methode ihre Vor- und Nachteile, wobei die eine die andere in hohem Maße zu ergänzen scheint. Mit der School of American Ballet hatte Balanchine eine neue Schule in einem neuen Land gegründet, mit der er sich sowohl Vergangenes als auch Modernes zu eigen zu machen schien. Das Ergebnis war eine von Kreativität und Inspiration geprägte Zeit in New York. Ist dies nicht der wahre historische Akt der Rekonstruktion: das Überdenken, Destillieren und Neudefinieren des Vorangegangenen? So lautete die Theorie, die von den Praktikern des Genres entwickelt wurde. Geschichte sollte nicht einfach wiederholt, sondern eher als Sprungbrett benutzt werden, das der Rekonstruktion ein fruchtbares Umfeld bietet. Beide Schulen versuchen auf ähnliche und doch unterschiedliche Weise, welche die unterschiedlichen Herkunftsländer und Mentalitäten widerspiegelt, das Wesentliche der Bewegungen zu erfassen.

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Lecture Demonstration GEORGE BALANCHINE : DIE MUSIK SEHEN , DEN TANZ HÖREN ! von Colleen Neary, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Berlin 2006 Da ich selbst noch nie in einer Balanchine-Aufführung getanzt habe, beschränkt sich meine Betrachtung seines Werkes auf die eines Studenten, der ein Jahr an der School of American Ballet verbrachte, und die eines Zuschauers, der unzählige Aufführungen vieler verschiedener Ensembles gesehen hat. Doch ich komme immer wieder zu der gleichen Schlussfolgerung: Will man eines seiner Ballette aufführen, ohne auf schriftliche oder klangliche Aufzeichnungen zurückzugreifen, kann eine Performance nur dann lebendig und wahr werden, wenn die Tänzer über ein umfassendes Wissen über sein Werk verfügen. Balanchine hat sich selbst in erster Linie als Lehrer verstanden und hat seine Ballettstücke eher als Lernwerkzeuge und nicht etwa als Choreographien konzipiert. Die Theorie »Learning by Doing« ist Teil der Praxis und kann aber auch nur durch sie lebendig bleiben. Das Historische braucht zum Überleben das Aktuelle: die Live-Aufführung. Eine der Repetitorinnen des George Balanchine Trust, Colleen Neary, begann ihren Vortrag2 beim Tanzkongress Deutschland mit folgenden Worten: »Denkt nicht, tut es einfach.« Sie benutzte das bekannte Zitat Balanchines, um den Ton vorzugeben. Mit Neary, die viele Jahre eng mit Balanchine zusammengearbeitet hatte, hatten wir eine Tänzerin vor 2 | In einer Lecture Demonstration auf dem Tanzkongress gab sie Einblicke in die Techniken, Methoden und das Selbstverständnis des Tanzes, der Musik und des Stils von George Balanchine.

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uns, die buchstäblich das Prinzip ›Wissen in Bewegung‹ verkörperte. Doch hatte sie einen Großteil dieses Wissens durch ›Nicht-Denken‹ erworben. Was heißt es zu denken? Zumindest für mich ist Wissen etwas, das erlernt werden muss. Das ist harte Arbeit, denn um zu lernen, muss man denken. Aber Lernen ist der Schlüssel zum Erwerb von Wissen. Doch hier hatte jemand tatsächlich mehr gelernt, indem sie bewusst versuchte, nicht – zumindest nicht im intellektuellen Sinne – zu denken, sondern indem sie ihren Körper für sich denken ließ, ›den Kopf abschaltete‹ und der körperlichen Intelligenz freien Lauf ließ. Sie erwarb ihr Wissen, ihr körperliches Wissen über ihren Körper als Werkzeug. Wie können wir so erlernte Intelligenz erkennen? Ich hoffe, dass Sie beim Lesen dieses Beitrags ein- und ausgeatmet haben. Aber haben Sie darüber nachgedacht, wie genau der Akt des Atmens zu bewerkstelligen ist? Wann genau Sie einatmen müssen? Und wann Sie wieder ausatmen? Ich hoffe es nicht. Das Atmen wäre Ihnen viel leichter gefallen, wenn Sie aufmerksam gelesen hätten, was Sie gerade lesen. Ist dies vielleicht das Prinzip, dem Balanchine auf den Grund gehen wollte? Ist unser Körper in gewissen Dingen intelligenter als unser Gehirn? Oder kann es sein, dass wir beim Einsatz unseres Gehirns dazu neigen, die Dinge in physischer Hinsicht zu verkomplizieren? Bei meiner Arbeit als Lehrer fordere ich meine Schüler immer wieder dazu auf, zu atmen. Nicht, um sie atmen zu hören, sondern um es einfach geschehen zu lassen. Wie kommt es, dass derart talentierte Tänzer so oft den Atem anhalten? Während Sie dies lesen, übernimmt ihr Körper das Atmen für Sie. Das Gleiche gilt für das Tanzen: Es geht viel leichter vonstatten, wenn Sie Ihrem Körper die Kontrolle überlassen. Gibt es hier eine Parallele zu dem Phänomen, dass viele Lehrer und Choreographen die besten Einfälle haben, wenn sie schlafen und das Bewusstsein ›abgeschaltet‹ ist, und nicht etwa beim angestrengten Nachdenken im Studio? Ist es möglich, dass viele kreative Impulse durch unsere übertriebene Art des rationalen und erlernten Denkens blockiert werden? Sind dies zwei grundlegende Beispiele dafür, was Balanchine seinen Tänzern im Studio beizubringen versuchte, als er ihnen sagte: »Denkt nicht, tut es einfach«? Hier stellt sich die Frage, wie Colleen Neary in ihrer Funktion als Lehrerin und Coach ihr Wissen weiterzugeben vermag. Wie schafft sie es, nicht nur die Schritte, sondern auch die Atmosphäre zu rekonstruieren, die Balanchine benötigte, um in seinen Tänzern genau das zu schaffen und zu wecken, wonach er suchte? Aber ist nicht die Antriebskraft genau dieser kreativen Atmosphäre bereits verloren gegangen? Ist sie nicht zu einer Atmosphäre der Reproduktion geworden? Oder ist es möglich, diese kreative Atmosphäre so zu rekonstruieren, dass der

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Tänzer das Ballett als kreativen Akt der Selbstfindung verstehen kann? Ich hoffe sehr, dass Letzteres der Fall ist. Ich bin sehr gespannt, ob und wie die heute geschaffenen Ballette weiterleben werden. Werke, die einen physischen Akt mit einer kreativen und spontanen geistigen Leistung verbinden, werden automatisch anders aussehen, wenn sie von unterschiedlichen Menschen getanzt werden. Doch vielleicht ist genau das der springende Punkt? Um das Ballett am Leben zu erhalten, muss das Wesentliche erfasst werden, und mit der richtigen Anleitung und Ausbildung können kommende Generationen (auf der Bühne und im Zuschauerraum) genau so viel Aufregendes und Inspirierendes in diesen Werken finden wie die vorangegangenen Generationen. Wenn man von der ›Geschichte des Tanzes‹ spricht, ist meines Erachtens das beste, lebendige Beispiel nicht in den rekonstruierten Elementen zu finden, sondern in den ambivalenten and anspruchsvollen neuen Werken von heute. Der Fokus sollte auf dem Hier und Jetzt liegen, indem das Beste der Vergangenheit mit einer klaren Konzeption und den Ideen der heutigen Generation verbunden wird. Übersetzung aus dem Englischen

Re-Konstruktionen: Denkfiguren und Tanzfiguren: Nijinskys FAU N E 1 Erfahrungen im Umgang mit tänzerischer Kompetenz Claudia Jeschke

Im Tanz werden Bewegung und Körper einerseits mittels choreographischer Verfahren zum Medium funktionalisiert, andererseits interagieren sie in der Inszenierung mit anderen Medien wie dem Plot, der Musik, dem Bühnenbild, den Kostümen, den jeweils spezifischen Produktionsbedingungen. Darüber hinaus spiegeln sie sich in Dokumenten, d.h. materiellen Aufschreibesystemen und Speichertechnologien (wie Abbildungen, Tanzschriften, Rezensionen), und sie tradieren sich mittels korporealer Erinnerungen. Die Re-Konstruktion2 von Nijinskys Faune ist ein – historiographisch und theoretisch hinreichend verhandeltes – Beispiel für die vielfältigen Mediatisierungen von Dokumenten und Diskursen, Erinnerungen und dem Werdens-Prozess des Tanzens. Ich werde einführend die wichtigsten Daten und Operationen dieser Verhandlungen und Handlungen re-vidieren, bevor ich – anhand eines Probenberichts – den Blick auf einen liminalen Bereich der Tanzwissenschaft lenke, auf die Rolle des Tanzens und damit der Tänzer und reconstructors 3 in den komplexen, 1 | Dieser Artikel thematisiert anhand einer spezifischen Re-Konstruktion verschiedene Aspekte körperlicher Mediatisierungen im Tanz. Die theoretischen und historischen Teile gehen auf einen Vortrag zurück, den ich beim Tanzkongress gehalten habe; die Beschreibung der praktischen Umsetzung bezieht sich auf aktuelle Erfahrungen während des Probenprozesses zu Waslaw Nijinskys L’Après-midi d’un Faune im Goucher College, Baltimore, im Februar 2007. 2 | Zum Konzept der Re-Konstruktion vgl. u.a. Jean Michel Nectoux (Hg.): Nijinsky. L’Après-midi d’un Faune, Paris: Biro 1989, sowie Ann Hutchinson Guest/Claudia Jeschke: Nijinsky’s Faune Restored, London: Gordon and Breach 1991. 3 | Diese Berufsbezeichnung für jemanden, der sich vor allem praktisch

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mobilen (ereignishaften wie evolutionären), doch immer spezifischen Wissensgefügen und tanztheatralen Praktiken, die wir Re-Konstruktionen nennen. Der Tanzhistoriker Ivor Guest formulierte die folgenden Informationen zur Re-Konstruktion von Nijinskys Faune : L’Après-midi d’un Faune was recorded in 1915 by Vaslav Nijinsky himself using his own dance notation system. The score lay unused in the British Library for nearly 40 years after his death because nobody could read it. Restaging the ballet relied exclusively on dancers’ memories and photographic evidence. With the inevitable loss of detail and distortions through personal movement preference, the piece lost accuracy. In 1988, Dr. Ann Hutchinson Guest and Dr. Claudia Jeschke deciphered Nijinsky’s notation system and translated the score into Labanotation. This translation provides great insight into the creative genius of Nijinsky’s choreography. 4

Ivor Guest schlägt hier die qualitative Hierarchie einiger der Quellen vor, die zur Re-Konstruktion von Faune geführt haben – das Gedächtnis der Tänzer, Fotographien auf der einen, der weniger wertvollen Seite, Nijinskys Notationspartitur auf der anderen, der höher bewerteten Seite. Guests Priorisierung, ja Idealisierung der tanzschriftlichen Aufzeichnung im Fall von Nijinskys erster Choreographie verweist auf die Seltenheit und Bedeutung von Notationspartituren als Quellen von praktischen und theoretischen Re-Konstruktionen, lässt jedoch die komplexen Beziehungen außer Acht, in denen sich die Tanzhistoriographie, mit oder ohne Notation, bewegt – Beziehungen zwischen diskursivierbaren Quellen (Materialien, Texten, Bildern) und den kinetischen Informationen, die sich in actu, durch die Handlungen des Tanzens selbst, ergeben. Die folgenden Erörterungen rekapitulieren und reflektieren die methodische Schwierigkeit, Bewegungs-Kompetenzen als Perspektiven einer transhistorischen und transkulturellen Tanzpraxis zu begreifen und – wortwörtlich – als ›Wissen in Bewegung‹ zu bestimmen.

Die kulturwissenschaftliche Annäherung an das Tanz-Gedächtnis Dass Re-Konstruktionen mit Gedächtnisformen operieren, dürfte selbstverständlich sein; und bekanntermaßen ist die gängige kultur(aber auch theoretisch) mit Tanzgeschichte befasst, hat sich in den letzten Jahren in der amerikanischen Tanzszene durchgesetzt. 4 | Zuletzt im Programmheft der Princeton University: The Program in Theater and Dance, Spring Dance Festival, 24.-26. Februar 2006, ohne Seitenangabe.

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wissenschaftliche Bestimmung der Gedächtnisformen den Arbeiten der Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann zu verdanken. Einige Aspekte der Assmann’schen Systematisierungen lassen sich – exemplarisch für die Situation der tänzerischen Kultur – auf Nijinskys Faune übertragen. Jan Assmann hat das kulturelle Gedächtnis definiert als »Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht«.5 Diesen Sammelbegriff setzt Assmann ab vom »kommunikativen Gedächtnis« einerseits und von »Wissenschaft« als einer hoch spezialisierten Form von Gedächtnisbildung andererseits.6 Das »kommunikative Gedächtnis« lebt in interaktiver Praxis im Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen und stellt im Vergleich zum kulturellen Gedächtnis oder der Wissenschaft das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft dar – es ist an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und umfasst etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen. Im Tanz kommt das kommunikative Gedächtnis durch die Aktivitäten von Zeitzeugen vor allem im Unterricht und in der performativen, oralen Vermittlung von Tanz zum Tragen. Eine dauerhaftere Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses ist nur durch ›kulturelle Formung‹ zu erreichen, d.h. durch organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die Vergangenheit – im Tanz etwa mit Verschriftungen und ›Schulen‹. Ein wesentliches Merkmal des kulturellen Gedächtnisses ist laut Assmann »Identitätskonkretheit«, d.h. es ist bezogen auf den Wissensvorrat und die konstitutive Bedeutung dieses Vorrats für die Identität einer Wir-Gruppe, in diesem Fall: die Tanz-Interessierten. Nijinsky dürfte einen bedeutenden Beitrag zur tanz-kulturellen Formung und ihrer konkreten Identität geleistet haben, indem er sein zunächst körperlich kommuniziertes Werk choreo-graphierte, also in die Tradition der Technik von Tanz-Verschriftlichungen einreihte und es damit zum Teil des kulturellen Gedächtnisses werden ließ. Als weiteres Merkmal der kulturellen Formung sieht Assmann die 5 | Dieses und die folgenden Assmann-Zitate aus Jan Assmann: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19. Vgl. hierzu auch Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: Beck 2005, S. 13–18. 6 | Die Diskussion darüber, wie »Tanzwissenschaft« traditionell an Re-Konstuktionen beteiligt ist, vernachlässige ich aus naheliegenden Gründen: Dieser Text perspektiviert die Erfahrung, dass sich Tanzwissenschaft nicht nur dokumentatorisch, sondern vor allem auch ereignishaft formiert.

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»Rekonstruktivität«: Dieses Wissen der Wir-Gruppe bezieht sich auf die Gegenwart. »Es ist zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung.« Assmann zufolge existiert das kulturelle Gedächtnis in zwei Modi, nämlich in der Potenzialität des in Archiven, Bildern und Handlungsmustern gespeicherten Wissens und als Aktualität, also in dem, was aus diesem Bestand nach Maßgabe von Gegenwartsinteressen verwendet wird. Jede Re-Konstruktion ist Ausdruck des kulturellen Erinnerns, das sich in stetigem Wechselspiel mit dem kommunikativen Gedächtnis figuriert.

Zur kulturellen Formung: Nijinskys Bewegungsnotation als Text und Artefakt Es ist wie gesagt äußerst selten, dass ein bedeutender Choreograph ein Tanznotationssystem fließend beherrscht und ein ganzes Ballett notiert. Häufiger haben Choreographen ihre Werke mit einer Art »aide-mémoire« dokumentiert, und Waslaw Nijinsky hatte nur einen Vorläufer, der Teile aus seinem Ballett La Vivandière mithilfe eines detaillierteren, ausgearbeiteteren Systems notierte: Arthur Saint-Léon in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Beide, Saint-Léon und Nijinsky, waren mit dem Theateralltag zu beschäftigt, als dass sie neben ihrer Tätigkeit als Tänzer, bzw. Choreographen ihre Notationssysteme in großem Umfang selbst hätten nutzen oder gar weiterverbreiten können. Für Nijinsky jedoch ergaben sich erzwungene Gelegenheiten zu intensiverer Auseinandersetzung – zunächst während seines Aufenthalts in Budapest 1914–1916, der Zeit des Ersten Weltkriegs, und dann noch einmal 1917–1918, als er mit seiner Familie in der Schweiz lebte. Allerdings sind die vier Notizbücher, die Nijinsky in der Schweizer Zeit mit Überlegungen zur schriftlichen Bewegungsfixierung füllte, für die früher, 1915 fertiggestellte Notierung seiner ersten Choreographie L’A PRÈS - MIDI D’UN FAUNE kaum von Interesse: Nijinsky experimentierte hier mit geometrisch orientierten Bewegungskonzepten.7 Die Bewegungsnotation jedoch, die Nijinsky für die schriftliche Fixierung des Faune benutzte, hat Ähnlichkeit mit dem Stepanov-System, das er während seiner Ausbildung an der Kaiserlichen Ballettschule von St. Petersburg (1900–1908) gelernt hatte. Vladimir Stepanovs Notation basiert auf anatomischer Bewegungsanalyse und verwendet Musiknoten zur Bewegungsbezeichnung. Die Methode hatte ausgereicht, das BallettRepertoire der Zeit zu notieren; Nijinsky aber modifizierte und erweiterte 7 | Vgl. Claudia Jeschke: »Das ›Opus‹ Waslaw Nijinskys«, in: Staatsoper Berlin (Hg.): L E S ACRE DU P RINTEMPS , Berlin 2001, S. 54–70.

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sie so, dass sie seinen neuen Ansprüchen und Erfordernissen entsprach. Das bedeutete, dass sich Nijinskys System nicht mithilfe von Stepanovs Regeln entziffern ließ, obwohl es sich in Auf bau und Zeichenvokabular deutlich an Stepanovs Konzept orientierte. Und es gab (und gibt) keine Hinweise darauf, dass Nijinsky eine ›Gebrauchsanweisung‹ für die 1915Version seiner Notation erstellte oder hinterließ. So blieb der Inhalt der Bewegungspartitur von Faune unzugänglich, und Nijinskys eigenhändige Dokumentation der Bewegungen des ersten von ihm choreographierten Balletts schien für die Nachwelt verloren. Obwohl Nijinskys Witwe Romola immer behauptete, ihr Mann habe ihr die Schrift beigebracht, war sie weder versiert genug, um die Herausgabe der Notizbücher selbst zu besorgen, noch konnte sie die Faune-Partitur zu Rekonstruktionszwecken lesen. Sie suchte Hilfe. Nach einer langen Entzifferungs-Odyssee haben die Notations-Spezialistin Ann Hutchinson Guest und ich uns Mitte der 1980er Jahre entschlossen, gemeinsam an der Entzifferung der Partitur, ihrer Übersetzung in Labanotation – als einer momentan vor allem in den USA intensiv genutzten Notation – sowie an der Einstudierung, d.h. Bühnenrealisierung von Faune zu arbeiten.

Die Neu-Etablierung eines kommunikativen Gedächtnisses anhand der Partitur Nijinsky benutzt in der Schriftversion von 1915 ein dreigeteiltes System mit jeweils fünf übereinander platzierten Linien: Im unteren Teil notiert er die Bewegungen der Beine, im mittleren die Bewegungen der Arme und im oberen die Bewegungen des Rumpfes und des Kopfes. Die Musiknoten dienen wie bei Stepanov als Zeichen für Zeitdauer, Richtung und Höhengrad. Die Notation basiert auf einer innovativen Bewegungsanalyse, die vom Körper ausgehend die Aktionen seiner Teile hierarchisiert und isoliert. Seine äußerst detaillierte Aufzeichnung hat Nijinsky durch verbale Anmerkungen (bei der Handhabung von Requisiten oder außergewöhnlichen expressiven Gesten) und Bodenpläne ergänzt. Wesentlich bei der Entzifferung der Partitur war die ausgesprochen musikalische Herangehensweise, die Nijinsky bei der Bewegungsanalyse praktiziert. Er segmentiert Bewegungen und Gesten wie Klänge und stellt zeitlich äußerst komplexe Bezüge zwischen den einzelnen Körperteilen her – eine Zeitgenauigkeit, die der menschliche Körper im Unterschied zu einem Musikinstrument nicht fähig ist auszuführen. Bei der Übersetzung wurde dieses körperorientierte Konzept in die idiomatische und syntaktische Konstruktion der Labanotation übertragen; sie ist genuin räumlich eingestellt, kombiniert jedoch inzwischen Körper- und Raumperspektiven mit großer Flexibilität. Das aktuelle Regelwerk der Zielno-

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tation musste mit der kulturellen Prägung des Nijinsky-Werkes und seiner Verschriftung abgeglichen werden. Die Existenz der Nijinsky-Notation selbst ist weiterhin ausschließlich Fachleuten bekannt, ihr Konzept allein Ann Hutchinson Guest und mir, den beiden reconstructors, zugänglich und in der Labanotation-Partitur (nur) vermittelt – als Subtext – präsent. Das in der Nijinsky-Partitur sichtbare Wissen wird von uns bewahrt, hat sich (jedenfalls für uns wahrnehmbar) in die Übersetzung wie in unsere ( Faune betreffenden) Bewegungshandlungen ›eingeschrieben‹. Vortrag »Re-Konstruktionen: Strategien der Dokumentation und Erinnerung« von Claudia Jeschke, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Im Prozess der Einstudierung von Faune erweist sich – auch in der aktuellen Arbeit mit Studierenden des Goucher College – für Ann Hutchinson Guest wie für mich zweierlei: Bestimmte Bewegungsabläufe müssen von uns immer wieder anhand der Partitur überprüft werden, andere sind in unserem jeweiligen Körpergedächtnis verankert. Mit professionellen Kompanien (meistens ohne Kenntnisse von Notation) studieren wir die Sequenzen mimetisch ein, also durch Nachahmung. Wenn die Studierenden Labanotation beherrschen, versuchen wir uns so intensiv wie möglich auf die Partitur zu beziehen und vom den Tanzenden Eigenverantwortlichkeit im Lesen und Übersetzen in körperliche Vorgänge zu fordern. Dies war in Goucher der Fall. In Ann Hutchinson Guests Interpretation und Verkörperung der Partitur sind narrative und metrische Aspekte vorrangig (etwa der funktionale Umgang der Nymphen mit den Schleiern), während ich Bewegungsstrukturen und musikalische Korrespondenzen bevorzuge (etwa die choreographierten Leitmotive des Anfangs- und Schlussteils). Die unterschiedlichen Strategien beruhen auf persönlichen Vorlieben und professionell-bio-

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graphischen Färbungen, sind also dem komplexen Zusammenspiel von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis geschuldet.

Neurophysiologische und tanzwissenschaftliche Annäherungen an das Tanz-Gedächtnis Bewegung besitzt ein eigenes Erkenntnispotenzial, das ein ›Verstehen‹ im Sinne individueller Annäherungen zulässt, die sinnliche Wahrnehmung sowie intellektuelle Reflexion und Interpretation fordern. Diese Prozesse zielen nicht auf das Zeichenhafte des Phänomens, sondern integrieren auch jene Informationen, die einen nicht repräsentativen Charakter aufweisen und sich zunächst einer Festschreibung von Bedeutung entziehen. Laut den Ausführungen des Neurophysiologen Wolf Singer8 gibt es keine Wahrnehmungen, die sich nicht an den bereits im Gehirn gespeicherten Erinnerungen orientierten. Die Sinnessignale ordnen sich entsprechend diesem Erinnerungsspeicher. Das Gehirn suche im Wahrgenommenen nach Strukturen, die sich an die Gedächtnismuster anschließen lassen; Lücken ergänze es durch Konstruktion. Singer unterscheidet zwei Arten der Gedächtnisleistung, die sich während der Wahrnehmung ereignen: zum einen das »prozedurale Gedächtnis«, in dem motorische und sensorische Fähigkeiten gespeichert sind und das durch Übung aufgebaut wird. Dieses Gedächtnis wird beim Erlernen von neuen motorischen Mustern aktiv. Zum andern benennt Singer das »episodische oder deklarative Gedächtnis«, mit dessen Hilfe Ereignisse in den Zeitfluss eingeordnet, Reihenfolgen, Assoziationen und damit Kontexte gespeichert werden.9 Die Besonderheit beim Wahrnehmen/Verstehen von Bewegung und Tanz liegt nun darin, dass im Wahrnehmungsprozess auf beide Gedächtnisleistungen zugegriffen wird: Die ausgesandten Reize werden vermittels des deklarativen Gedächtnisses kontextualisiert und vor allem gemäß der Engramme des motorisch-sensorischen Gedächtnisses verarbeitet.10 Jegliche Bewegungserfahrung entwickelt sich demnach aus aktivem 8 | Vgl. u.a. Wolf Singer im Gespräch mit Dorothee Hannappel: »Keine Wahrnehmung ohne Gedächtnis«, in: Theaterschrift 8 (1994), S. 30. Zu Fragen der Bedeutungskonstruktion und möglicher methodischer Antworten vgl. Bettina Schlüter: »Konstruktivistische Aspekte einer Korrelationsanalyse von Musik und Tanz«, in: Claudia Jeschke/Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 2000, S. 59–69. 9 | Wolf Singer im Gespräch mit Dorothee Hannappel, a.a.O., S. 24ff. 10 | Soweit ich sehe, wird diese zweite Gedächtnisleistung im Tanz übli-

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Bewegen und/oder dem Sehen/Wahrnehmen von Bewegung, das im prozeduralen Gedächtnis der aktiven Bewegung ähnliche Reaktionen auslöst. Annette Hartmann etwa bezieht die von Wolf Singer analytisch getrennten Gedächtnisformen noch stärker als dieser aufeinander und beschreibt sie als vor allem körperliche Prozesse. Und sie verweist darauf, dass nicht nur das Tun das Körpergedächtnis formiert, sondern auch die (visuelle) Wahrnehmung und Vorstellung.11 Von Tanzhistorikern wie -praktikern wird als entscheidend für die Befassung mit Tanzwissen immer wieder der so genannte Bewegungssinn aufgerufen. ›Bewegungssinn‹ (oder ›Kinästhesie‹) referiert sowohl auf den körperlichen Prozess der Wahrnehmung eigener Bewegung als auch auf das ›Nachempfinden‹ fremder Körperbewegung12 ; Kinästhesie modifiziert demnach aus tanzorientierter Sicht das prozedurale und deklarative Gedächtnis der Neurophysiologie. Mary M. Smyth hat in einem Artikel von 1984 darauf hingewiesen, dass theoretisch zu unterscheiden ist zwischen motorischem Wissen (motor knowledge 13 ), d.h. dem Wissen um Klassifikation und Ausführung von Bewegung, und Kinästhesie als dem sinngebenden, sinnlichen Erleben von Bewegung. 14

Motor knowledge und Kinästhesie in der praktischen Erarbeitung von Faune Die Studierenden des Goucher College zeigten offene und pluralistische Herangehensweisen an das Bewegungsmaterial. In der Audition baten

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cherweise als Kinästhesie oder auch ›Muskelempfinden‹, ›Muskelsinn‹ oder auch als ›Bewegungsgefühl‹ bezeichnet. Für die Wahrnehmenden machen die kinästhetischen Reize dann ›Sinn‹, wenn sie sich mit Gedächtnismustern in Zusammenhang bringen lassen – wobei es zunächst wohl keine Rolle spielt, welcher der beiden Gedächtnisformen diese Muster angehören. Bewegung kann also sowohl auf körperliche Art als auch auf (mithilfe des deklarativen Gedächtnisses) reflektierte und begrifflich verarbeitete Weise Sinn erzeugen, wobei beides in der Wahrnehmung des Beobachters zusammenfließt. | Vgl. Annette Hartmann: »Mit dem Körper memorieren. Betrachtung des Körpergedächtnisses im Tanz aus neurowissenschaftlicher Sicht«, in: Johannes Birringer/Josephine Fenger (Hg.): Tanz im Kopf. Dance and Cognition, Münster: LIT 2005, S. 197. | Zum historischen Verständnis der Kinästhesie vgl. Sabine Huschka: Moderner Tanz. Konzepte. Stile. Utopien, Hamburg: Rowohlt 2002, S. 27, Anm. 3. | Zu diskutieren wäre hier die trainingstechnische und -ästhetische Annäherung an das kommunikative Tanz-Gedächtnis. | Vgl. Mary M. Smyth: »Kinesthetic Communication in Dance«, in: Dance Research Journal 16, 2 (1984), S. 21.

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wir sie, mit den motorischen basics aus Nijinskys Faune zu experimentieren: mit der split front, in der die Fortbewegungsrichtung nicht identisch mit der Körperfront und der Richtung des Blicks ist, mit der Parallelisierung der Beine in der Fortbewegung, mit der daraus resultierenden sofortigen Gewichtsverlagerung bei jedem Schritt, mit der artikulierten Verwendung der Füße, mit der Beibehaltung der Verdrehung (= permanent body twist), mit den stilisierten Arm- und Handhaltungen, die einerseits von (griechischen Vasen-)Bildern abgenommen sind, andererseits als originale Bewegungsfindungen Nijinskys direkte energetische Inhalte vermitteln. Vor allem der letzte Punkt war uns für die Auswahl der Besetzung wichtig: Welche Tänzer/-innen waren in der Lage, die spezifischen Haltungen in Bewegungen zu übertragen, ohne die Form zu verlieren. Dabei spielte es für uns keine Rolle, ob die Studierenden bereits Wissen über Nijinskys Faune hatten und so die typischen Haltungen in ihrem Körpergedächtnis abrufen konnten; wenn sie nicht in der Lage waren, diese Haltungen zu dynamisieren, war uns das bereits Gewusste weniger bedeutend als eben die räumliche und skulpturale Bewegungsfähigkeit. In Goucher hatten die Tänzer/-innen kein oder ein nur marginales Wissen über Nijinsky und/oder seine erste Choreographie. Die körperliche Aneignung der ungewohnten Haltungen und Bewegungen war langwierig. Nijinskys Bewegungsvokabular birgt Koordinationsprobleme und konfrontiert mit einer (damals wie heute) sonderbaren Ästhetik. Generell nämlich gilt: Auch wenn die Tänzer/-innen mit Nijinskys Faune-Stil vermeintlich vertraut sind (etwa durch die Kenntnis von Baron Adolf de Meyers Fotographien), erfordern die Proben an diesem Faune das Ent-Lernen von idiosynkratischem Tanzverhalten wie die Konzentration auf minimale, langsame, hoch stilisierte Bewegungen, die zunächst das energetische wie expressive Potenzial eines jeden Tänzers zu unterfordern scheinen. In einem späteren Probenstadium aber zeigte sich bislang immer und auch in Goucher die Komplexität der Koordination körperlicher Abläufe mit den zeitlichen Gegebenheiten (Musik) und räumlichen Figurationen der Choreographie als tänzerische und künstlerische Herausforderung. Die Bewegungen müssen höchst bewusst hergestellt werden, sie sind künstlich in dem für Tänzer ungewohnten Sinn, dass sie keiner erlernten Technik folgen. Gleichzeitig aber reflektieren sie den abstrakt-kontinuierlichen Puls von Debussys Komposition, und sie integrieren die Erzählung vom Faun und den Nymphen durch die spezifische Nutzung des Raumes und der Interaktion. Motorisches VorWissen spielt bei der Erarbeitung von Faune eine nur untergeordnete Rolle, kinästhetische Wahrnehmung ist dagegen wichtig. D.h., dass das Bewegungsvokabular dieses Werks nicht primär über motorisches Wissen zugänglich ist. Zwar haben klassisch geschulte Tänzer weniger

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Probleme mit der Formbestimmtheit des Bewegungsvokabulars, tun sich aber mit dessen interpretativer Dynamik schwer, während in anderen Techniken Ausgebildete ihre kinästhetische Gestaltungslust in formalen Mustern kondensieren müssen. Wie bereits erwähnt, favorisiert Ann Hutchinson Guest die Vermittlung der erzählerischen, mimetischen und metrischen Aspekte der Choreographie, während ich mich auf die Konstellationen von Bewegung und musikalischem Puls, musikalischer Entwicklung, Leitmotivik, Instrumentation der Komposition sowie auf das Hören der Musik konzentriere. Beide Verfahren gehen von unseren jeweils unterschiedlichen kinästhetischen Wahrnehmungen aus und rufen, so habe ich beobachtet, bei den Tänzern kinästhetische Identifikationsmomente auf, wobei professionelle Tänzer sich schneller, komplikationsloser und fokussierter auf diese Momente einlassen (können) und sie für ihre je eigene Interpretation nutzen.

Exkurs: Der kontinuierliche Austausch zwischen Rezipieren und Produzieren von Bewegung Wesentlich in der Diskussion motorischer und kinästhetischer Prozesse erscheint mir, dass die Körperlichkeit des Gedächtnisses die Trennung zwischen Produzenten und Rezipienten marginalisiert. Dies ist sowohl für den Prozess der Einstudierung gültig – als auch für den Prozess des Zuschauens während der Aufführung. Bewegungs-Betrachter sind Sich-Bewegende und umgekehrt. Für die Tanzwissenschaft bedeutet dies die Aufwertung der so genannten Rezipienten zu Ausführenden durch die bzw. in der Wahrnehmung von Bewegung – oder anders formuliert: das Training von Bewegungs-Wahrnehmung macht die Beobachtenden, die Rezipienten, die Wissenschaftler zu Ausführenden. Und umgekehrt: Die Tanzenden eignen sich in Training und Choreographie Bewegungen durch Beobachtung an; in diesen Wahrnehmungen ist das Potenzial zur Rezeption, zur Reflexion, zur Transformation vorhanden. Wenn sich also Zuschauende, Reflektierende mit der Re-Konstruktion von Nijinskys Faune befassen, macht sie ihre Wahrnehmungskompetenz zu potenziellen Tanzenden; und die Tanzenden sind als kompetente, wenn auch wenig bewusst agierende Reflektierende zu betrachten. Durch die Arbeit der Tanzenden/Forschenden mit den verschiedenen kognitiven wie experientiellen Ebenen der Re-Konstruktion entfalten sich Bereiche, in denen sich das bislang wenig beachtete ereignishafte Tanzwissen figuriert.

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Überlagerungen Zum Schluss meiner Überlegungen zum Kompetenzpotenzial von ReKonstruktionen möchte ich noch einmal die Praktiker und ihr spezifisches Wissen in Bewegung in den Blick nehmen. Es besteht aus komplexen Abstimmungen von persönlichen Bewegungskompetenzen (u.a. erlernte Tanztechnik, motor knowledge, als kulturelle, soziale, biographische Praxis) mit den deklarativen bzw. deklarierten Informationen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses und beider kinästhetischer Qualitäten im Ereignis des Tanzens bzw. Tanzen-Sehens. In Re-Konstruktionen lassen sich die Spuren, Relikte, Indizien gespeicherter sowie funktionaler tänzerischer Vergangenheiten15 nutzen. In meiner Auseinandersetzung mit Konzept und Praxis von Re-Konstruktionen wurde mir bewusst, wie sehr sich das Material, also die Texte der Choreographie zur und über die Choreographie, mit der körperlichen Übersetzung und bewegungsorientierten Verhandlung durch die reconstructors wie durch die Tänzer/-innen verändern. Zu letzteren: Ist die Performance eines erfahrenen, in der russischen Tradition geschulten Star-Tänzers wie Irek Mukhamedov vom Royal Ballet London, der ursprünglich und eigentlich die Nurejev-Version imaginierte, besser als die Annäherung durch einen in Kuba ausgebildeten Bewegungsmenschen wie Carlos Acosta – ebenfalls ein Star des Royal Ballet London –, der mich zu Beginn der Proben fragte, von wem die Musik dieses Ballettes sei?16 Tänzerische Kompetenzen sind sichtbar, spürbar, wenn auch bislang methodisch kaum greif bar. Beschreibbar sind – neben dem persönlichen Leistungsvermögen – die inhaltlich und zeitlich eingeschränkten Felder technischer und stilistischer Schulungen, die uns durch das kommunikative, funktionale Gedächtnis zugänglich und rekonstruierbar erscheinen. Dagegen verlieren sich weitere Spuren oder Speicher des kulturellen Tanz-, Bewegungs- und Körpergedächtnisses in Fragen wie den folgenden: Wie lassen sich historische Periodisierungen in der Aktion des Tanzens ablesen? Und wodurch überliefert sich der Tanz – durch Dokumente oder den heute Tanzenden? Meine Überlegungen gehen nicht sehr viel weiter als bis zur Formulierung dieser Defizite einer historischen und praxisorientierten Tanzforschung. Und 15 | Die Unterscheidung zwischen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis geht zurück auf Aleida Assmann, etwa in dies.: »Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses«, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifizität, Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 47. 16 | Noch wichtiger als Referenzsystem wird die tänzerische Kompetenz, wenn Re-Konstruktionen mit einer weniger ›gesicherten‹ Materiallage auskommen müssen, als dies bei Faune der Fall ist.

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ihre Wahrnehmung entsteht aus dem Respekt vor tänzerischem Können, Wissen, das ich wie jedes Können und Wissen jenseits von Persönlichkeit und Schulung angesiedelt sehen möchte. Oder bleibt mir nichts anderes übrig, als in diesen stets mobilen Überlagerungen weiterhin mit einer (wenn auch kreativen, auratischen) Leerstelle zu operieren?

Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: »Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses«, in: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifizität, Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 45–60. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19. Hartmann, Annette: »Mit dem Körper memorieren. Betrachtung des Körpergedächtnisses im Tanz aus neurowissenschaftlicher Sicht«, in: Johannes Birringer/Josephine Fenger (Hg.): Tanz im Kopf. Dance and Cognition, Münster: LIT 2005, S. 185–199. Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte. Stile. Utopien, Hamburg: Rowohlt 2002. Hutchinson Guest, Ann/Jeschke, Claudia: Nijinsky’s Faune Restored, London: Gordon and Breach 1991. Jeschke, Claudia: »Das ›Opus‹ Waslaw Nijinskys«, in: Staatsoper Berlin (Hg.): Le Sacre du Printemps, Berlin 2001, S. 54–70. Nectoux, Jean Michel (Hg.): Nijinsky. L’Après-midi d’un Faune, Paris: Biro 1989. Princeton University: »The Program in Theatre and Dance«, Spring Dance Festival, 24–26. Februar 2006. Schlüter, Bettina: »Konstruktivistische Aspekte einer Korrelationsanalyse von Musik und Tanz«, in: Claudia Jeschke/Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung, Berlin: Vorwerk 8, 2000, S. 59–69. Singer, Wolf: im Gespräch mit Dorothee Hannappel: »Keine Wahrnehmung ohne Gedächtnis«, in: Theaterschrift 8 (1994), S. 21–34. Smyth, Mary M.: »Kinesthetic Communication in Dance«, in: Dance Research Journal 16/2 (1984), S. 19–22. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München: Beck 2005.

Was der Körper erinnert Repertoirepflege bei Pina Bausch Norbert Servos

An die 40 Choreographien hat Pina Bausch in und für Wuppertal geschaffen, einschließlich jener Werke, die sie noch als Gastchoreographin kreierte, bevor sie zur Spielzeit 1973/74 die Leitung des Tanztheaters übernahm. Gerade in den Anfangsjahren war die Produktivität enorm hoch. Streckenweise entwickelte die Pionierin des Tanztheaters bis zu drei neue Stücke pro Jahr. Von Anfang an hat sie Wert darauf gelegt, ihr schnell wachsendes Repertoire zu erhalten und auch die älteren Stücke weiterhin präsent zu halten. Erleichtert wurde dies durch den rasch sichtbar werdenden Stellenwert der Wuppertaler Arbeit, der zunehmend internationale Gastspielanfragen nach sich zog. Früh auch entstand das Bedürfnis, sich in Werkschauen einen Überblick über die Entwicklung des Tanztheaters zu verschaffen, wie etwa 1981 beim Festival »Theater der Welt« in Köln, bei dem das Ensemble nicht weniger als sieben Produktionen in rascher Folge präsentierte. In manchen Jahren hielt das Wuppertaler Repertoire mehr als zehn Stücke spielbereit. Diese Leistung ist umso bemerkenswerter, als es sich beim Tanztheater Wuppertal nicht um ein großes Ballettensemble mit 80 bis 100 Tänzern handelt, sondern um eine vergleichsweise kleine Kompanie. Doppel- und Mehrfachbesetzungen von Rollen waren – und sind bis heute – nicht möglich. Folglich tritt so gut wie jedes Ensemblemitglied in jedem Stück auf. Unter solchen Voraussetzungen verlangt die Repertoirepflege von den Darstellern sowohl eine große Erinnerungsfähigkeit als auch Belastbarkeit. Ab Mitte der 1980er Jahre drosselte Pina Bausch ihre Produktivität. Pro Jahr kreierte sie fortan nur noch ein neues Stück, begleitet von einer Wiederaufnahme. Jahr um Jahr ging sie so einen Schritt zurück in die Vergangenheit. Inzwischen ist das gesamte Repertoire, bis hin zu den frühen Gluck-Opern Iphigenie auf Tauris und Orpheus und

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Eurydike wiederaufgenommen. Das schützt das kreative Potenzial von Choreographin und Ensemble vor Überforderung. Zugleich erlaubt es dem Publikum, einen gesamten Entwicklungsweg, von seinen Anfängen bis heute, minutiös nachzuvollziehen. Jede Wiederaufnahme stellt dabei auch eine Feuerprobe dar: ob ein Stück, vor zehn, vor zwanzig und mehr Jahren entstanden, den veränderten Zeitläufen standhält.

IPHIGENIE AUF TAURIS , Pina Bausch/Tanztheater Wuppertal, Wiederaufnahme 1990 (Premiere 1974)

Foto: Bernd Uhlig

Wuppertaler Wiederaufnahmen sehen sich jedoch mit besonderen Anforderungen konfrontiert. Die liegen zum einen in den hohen Erwartungen der Choreographin begründet. Eine auch noch so perfekte und routinierte Rekonstruktion der Abläufe allein reicht nicht aus. Im Gegenteil: »Die Vorstellungen sollten nie zur Routine werden. Das wäre der Tod für meine Stücke, wenn sie zur Routine würden«, sagt Pina Bausch.1 Das Was einer Aufführung fungiert lediglich als eine Art Rohschrift; viel wichtiger ist, wie etwas geschieht, d.h. die Qualität einer Ausführung durch die Darsteller: Die Stücke bleiben natürlich dieselben. Aber getragen und zum Spüren gebracht werden sie von den Darstellern – und manchmal kann man ein Stück nicht richtig spüren, und manchmal spürt man es absolut richtig, was ist das dann?2

Die Ursachenforschung, wie sich eine bestimmte Qualität wieder herstellen lässt, ist ein langwieriger und komplexer Vorgang. 1 | Pina Bausch, zit. n. Norbert Servos: Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater oder Die Kunst, einen Goldfisch zu dressieren, Seelze-Velber: Kallmeyer 1996, S. 296. 2 | Ebd., S. 300.

Was der Körper erinnert | 195 Es ist viel Arbeit, eine Aufführung so zu erhalten, dass sie wirklich so ist wie im Moment geboren. Man kann nicht einfach so Sachen mitschleppen und sagen: Dann machen wir das mal. Es muss ja frisch und neu sein, jedes Mal.3

Was für den laufenden Spielbetrieb gerade neu entstandener Stücke gilt, gilt für das Wiederaufleben älterer Werke im besonderen Maße. Wie gibt man das Körperwissen von einer Tänzergeneration an die nächste? Verändern sich die Stücke durch Um- und Neubesetzungen? Pina Bausch sagt hierzu: Bestimmte Dinge sollten so bleiben. Die Vorstellung sollte so sein, dass selbst an einem schwachen Abend das Stück zu sehen ist. Natürlich ist es manchmal sehr schwierig, das Stück umzubesetzen, oder es dauert länger, bis es sich entwickelt, dass es wieder schön und rund wird. Manchmal geht es ganz schnell, und manchmal ist es viel besser hinterher. Viele Sachen sind viel besser geworden, auch durch Umbesetzungen. Da gibt es gar kein Rezept. Manche Dinge habe ich noch gar nicht gewagt umzubesetzen. Da würde sich dann erst mal das Stück erübrigen. 4

Wiederaufnahmen bergen so immer zwei Möglichkeiten: Sie machen den Prozess entweder langwierig und kompliziert, bis der Kontext von Abläufen, das dahinterstehende Erfahrungswissen wiederhergestellt ist; oder es ergibt sich ein unverhoffter Qualitätssprung bei der erneuten Durcharbeitung und Klärung des Materials. In besonderer Weise sieht sich Pina Bausch abhängig von der darstellerischen Qualität ihrer Tänzer. Der Grund hierfür liegt unter anderem in einem anderen Verständnis von Tanz, welches ihrer gesamten Arbeit zugrunde liegt: Es kann fast alles Tanz sein. Es hat mit einem bestimmten Bewusstsein, einer bestimmten inneren, körperlichen Haltung, einer ganz großen Genauigkeit zu tun: Wissen, Atmen, jedes kleine Detail. Es hat immer etwas mit dem Wie zu tun.5

Und die Choreographin spezifiziert: »Es ist ja nicht so, dass Tanz eine bestimmte Technik ist. Außerdem glaube ich, dass ganz viele sehr einfache Dinge nur ein sehr guter Tänzer tun kann.« 6 Wenn aber der Tanz im Tanztheater nicht primär technisch definiert ist, erfüllt sich eine Rekonstruktion nicht im alleinigen Wiederherstellen von Bewegungen, 3 | Pina Bausch, zit. n. Norbert Servos: Pina Bausch. Tanztheater, München: Kieser 2003, S. 237. 4 | Ebd., S. 237. 5 | Pina Bausch, zit. n. Servos: Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater, a.a.O., S. 305. 6 | Ebd., S. 304.

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Raumrichtungen, Dynamik und Phrasierung. Zusätzlich müssen mit ihnen ein bestimmtes Bewusstsein, eine Haltung zu den Bewegungen sowie ein bestimmter Erfahrungshorizont wieder wachgerufen werden. Er findet sich in den Quellen der Bewegungen, die im Tanztheater andere als die üblichen sind. Humorvoll weist die Choreographin darauf hin, dass dies auch für die durchchoreographierten Passagen ihrer Stücke gilt. »Die Schritte sind immer woanders hergekommen; die kamen nie aus den Beinen.« 7 Um ausgehend von diesem erweiterten Tanzverständnis zu anderem szenischem und choreographischem Material zu kommen, erschien es folgerichtig, auch die Arbeitsweise zu verändern. Der Zeitpunkt kam Ende der 1970er Jahre, als Peter Zadek Pina Bausch einlud, für sein Bochumer Theater eine Adaption von Shakespeares Macbeth zu erarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in einem doppelten Konflikt. Nicht nur stand sie, trotz zunehmender internationaler Anerkennung, weiterhin im Kreuzfeuer von Kritik und Publikum; auch im eigenen Ensemble regten sich Widerstand und Zweifel an der Arbeit. Pina Bausch besetzte ihr Stück, das unter dem Titel Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen am 22. April 1978 in Bochum zur Uraufführung kam, mit nur vier ›loyalen‹ Tänzern aus Wuppertal sowie fünf Schauspielern und einer Sängerin. Eine rein choreographische Herangehensweise war bei dieser gemischten Besetzung von vorneherein ausgeschlossen. Stattdessen begann Pina Bausch, ihren Darstellern Fragen zu stellen, die um einige aus Shakespeares Drama herausgelösten Motivkomplexe kreisten. Um diese zu beantworten, mussten die Akteure auf ihre persönlichen Erfahrungen zurückgreifen. Erst allmählich entwickelte sich aus den Antworten Material, aus dem sich Bewegungssequenzen und szenische Abläufe ergaben, die dann wiederum zu einem Stück zusammengefügt wurden. Durch den Prozess einer behutsamen Formfindung wurden die ursprünglich persönlichen, aber keineswegs privaten Antworten zu Beispielen für ein überpersönliches menschliches Verhalten. Indem sie die alltäglichen Lebenserfahrungen ihrer Darsteller einbezog, erweiterte Pina Bausch nicht nur den eigenen Erfahrungshorizont als Materialquelle; sie stellte auch sicher, dass Bewegungen gefunden wurden, die nicht ›aus den Beinen kamen‹. Die Stücke wuchsen, gemäß dem Wunsch der Choreographin, von innen nach außen. Ab 1978 wurde diese Arbeitsweise des Fragenstellens zum Schlüssel für alle nachfolgenden Produktionen. Für die Rekonstruktion von Stücken bedeutet diese Arbeitstechnik jedoch eine besondere Herausforderung. Bei der Reproduktion auf der Bühne können die Darsteller der Uraufführung immer wieder auf ihre persönlichen Erfahrungen zurückgreifen, denn sie 7 | Ebd., S. 298.

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waren ›Mitautoren‹ beim Finden der Bewegungsanlässe. Übernimmt ein anderer die Rolle, muss er eine ähnliche, vergleichbare Erfahrung generieren, um die entsprechende Motivation und Emotionalität herzustellen. Dies gilt nicht nur für die szenischen, theatralen Abläufe, sondern ebenso für die Tänze, denn auch sie entspringen im Tanztheater nicht einer abstrakten Bewegungsidee, sondern einer konkreten Fragestellung. Jeder Tanz erzählt, Bewegung für Bewegung, eine eigene kleine Geschichte. Wird diese bei der Übergabe einer Rolle an einen neuen Tänzer nicht mitkommuniziert, fehlt der wesentliche Teil der Botschaft. Dabei ist es nicht das Ziel, genau diese interne Geschichte für den Zuschauer sichtbar zu machen. Sie dient dazu, eine bestimmte Qualität und Genauigkeit in der Darstellung zu ermöglichen. Die Lesart des Zuschauers ist ohnehin eine andere, denn er setzt die angebotene Erfahrung auf der Bühne mit der eigenen in Beziehung und kommt zu eigenen Schlüssen. O RPHEUS UND EURYDIKE , Pina Bausch/Tanztheater Wuppertal, Wiederaufnahme 1991 (Premiere 1975)

Foto: Bernd Uhlig

Schon hier wird deutlich, wie sehr die korrekte Bewahrung eines choreographischen Werkes, ganz besonders im Wuppertaler Fall, an das Wissen von Personen gebunden ist: an die Tänzer der Originalbesetzung, an Assistenten und nicht zuletzt an die Choreographin, die als einzige alle Motivationslinien kennt und zur Grundlage ihrer kompositorischen Entscheidungen gemacht hat. Dies mag mit ein Grund gewesen sein, warum George Balanchine sein choreographisches Erbe auf einige Tänzer der Originalbesetzungen aufgeteilt hat, mit der Verpflichtung, die jeweiligen Stücke auf Nachfrage einzustudieren. Balanchine war sich offenbar im Klaren darüber, dass die Tänzer, mit denen er seine Werke ursprünglich geschaffen hatte, über ein Wissen verfügen, das durch kein anderes Medium ersetzt werden kann.

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Zwar lassen sich in Regiebüchern Szenenabfolgen, Einsätze, verwendete Texte, Musiken, Kostümlisten und vieles mehr aufzeichnen. Nach Videoaufnahmen lassen sich Abläufe und Bewegungsfolgen rekonstruieren. Hat man eine besonders gelungene Aufführung dokumentiert, lässt sich sogar die erstrebte darstellerische Qualität sichtbar erhalten. Was dabei nicht eingefangen wird, ist der Weg, wie man zu dieser Qualität gelangt. Jeder Aufführung geht ein wochen-, mitunter monatelanger Probenprozess voraus, in dem das Stück durch Hunderte von Korrekturen und Eingrenzungen erarbeitet wird. Jeder an einer Kreation Beteiligte speichert in seinem physischen wie in seinem mentalen Gedächtnis eine unüberschaubare Fülle von Detailinformationen ab und weiß um das System ihrer komplexen Zusammenhänge. Nur wer weiß, wie man diese komplexe Fülle und ihr Zusammenwirken herstellen kann, kann den Geist eines Stückes wieder zum Leben erwecken. Rekonstruktion bedeutet in diesem Sinn nicht so sehr Konstruktion als vor allen Dingen das Wissen um ein komplettes kreatives System, das in Hunderten von Detailfestlegungen eine Haltung zur Welt zum Ausdruck bringt. Da mittlerweile jeder Choreograph seine eigene ›Sprache‹ entwickelt, muss diese auch bei jeder Rekonstruktion wiederhergestellt werden – inklusive der beabsichtigten Konnotationen. Gerade das Wuppertaler Beispiel mit seiner Betonung des Wie vor dem Was macht deutlich, dass Aufzeichnungen im Wort oder durch Bild-/Tonmedien nur einen begrenzten Zugriff auf ein choreographisches Werk erlauben. Wie die Mehrzahl der Ensembles verfügt auch das Tanztheater Wuppertal über ein umfangreiches audiovisuelles Gedächtnis, das mittlerweile auf mehr als 6.000 Videobänder angewachsen ist. Seit 1998 filmt Grigori Chakhov die Premieren, aber auch Nachfolgevorstellungen, da Pina Bauschs Stücke in der Regel nach der Uraufführung noch bearbeitet werden. Dabei wird stets aus verschiedenen Perspektiven gedreht: einmal in der Totalen, um den Gesamtzusammenhang festzuhalten; daneben in Nahaufnahmen, um Details zu registrieren und bei späteren Rollenübernahmen neuen Tänzern ein präzises Ausgangsmaterial zu geben. Favorisierte Fassungen – diejenigen, welche die endgültige Version des Stückes bzw. eine besonders gute Vorstellungsqualität wiedergeben – werden mit schriftlichen Informationen versehen: neben Datum und Ort der Aufführung sowie Angaben zur Besetzung enthalten sie auch Vermerke, ob die technische Umsetzung einer Vorstellung gelungen und fehlerfrei ist. Übernimmt ein Tänzer eine Rolle, so kann er sowohl auf die Totale als auch auf Nahaufnahmen zurückgreifen. Für einige Stücke stehen auch speziell aus verschiedenen Vorstellungen zusammengeschnittene Bänder bereit, die einzelne Tänze nachvollziehbar machen. In der Regel wird eine Rolle vom Vorgänger an den Tänzer übergeben, der sie neu einstudiert. Aber nicht nur auf der Ebene der Rollenweitergabe sind die Tänzer

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des Ensembles in den Erhalt der Stücke eingebunden. Pina Bausch hat für bestimmte Stücke jeweils einen Tänzer benannt, der für Wiederaufnahmen zuständig ist. Meist handelt es sich dabei um Tänzer, die dem Ensemble schon lange angehören. Mit den Jahren ist ein Netzwerk von Assistenzen entstanden (zu ihnen gehören u.a. Benedicte Billiet, Jo-Ann Endicott, Barbara Hampel, Beatrice Libonati, Helena Pikon, Daphnis Kokkinos, Ed Kortlandt, Dominique Mercy, Robert Sturm), die gemeinsam mit Pina Bausch die Regiebücher führen. In ihnen sind u.a. auch die Texte notiert, welche die Darsteller auf der Bühne sprechen – und zwar in allen Sprachen, in denen sie, je nach Land, zur Aufführung kommen. Überdies existieren präzise Inventarlisten für Kostüme und Bühne sowie Lichtpläne und Aufzeichnungen über Einsätze für Licht, Ton und Projektionen. Die Assistenten (derzeit Robert Sturm) sichern schon in der Probenphase, mitunter täglich, jeden Arbeitsschritt. Bereits 1993 hatte Chakhov begonnen, das zunächst in den unterschiedlichsten Formaten aufgenommene Material – von VHS bis U-Matic – zu vereinheitlichen und umzukopieren. Durch die erwähnte Repertoirepolitik, die pro Jahr immer eine Premiere mit einer Wiederaufnahme kombiniert, konnte inzwischen das gesamte Werk des Tanztheaters in mehrfachen Aufzeichnungen dokumentiert werden. Ergänzt wird das ›hauseigene‹ Material durch die Archivierung von Fremdmaterial. Fast alles, was über Pina Bauschs Arbeit gedreht wurde, liegt in Kopie in Wuppertal. In einem nächsten Schritt soll das gesamte Archivmaterial digitalisiert und in einer ›ewigen Datenbank‹ gesichert und erhalten werden. Hierfür soll das gesamte Material noch einmal katalogisiert und in Computer eingelesen werden. Danach stünde es sowohl der Kompanie für ihre tägliche Arbeit als auch für Forschungszwecke platzsparend und für einen schnellen Zugriff zur Verfügung. Mit diesem umfangreichen Archiv unterhält das Tanztheater eine gute Ausgangssituation zur Rekonstruktion seiner Stücke. Aber auch eine solch komplexe Sicherung kann den Blick der Choreographin nicht ersetzen. Sie besitzt ein phänomenales Gedächtnis für absolut jedes noch so kleine Detail einer Produktion, und sie weiß, wie sie den Gehalt ihrer Stücke vermitteln kann. Nur sie kann den Geist eines Stückes wiederherstellen, das über Jahre nicht gespielt wurde, und es am Ende wieder ganz neu und frisch erscheinen lassen – wie im Moment geboren.

Literaturverzeichnis Servos, Norbert: Pina Bausch – Wuppertaler Tanztheater oder Die Kunst, einen Goldfisch zu dressieren, Seelze-Velber: Kallmeyer 1996. Servos, Norbert: Pina Bausch. Tanztheater, München: Kieser 2003.

Reconstructing Dore Hoyers AFFECTOS HUMANOS Yvonne Hardt über eine Diskussion mit Waltraud Luley, Susanne Linke und Martin Nachbar 1

Die Rekonstruktion oder die Erhaltung moderner Tanzstücke fristet in der Regel ein Nischendasein in der Tanz- und Performancewelt, insbesondere im deutschen Kontext. Das Podiumsgespräch zur Rekonstruktion von Dore Hoyers Affectos Humanos (1962) 2 auf dem Berliner Tanzkongress zeigte jedoch, dass sich jegliche Vorurteile, die Rekonstruktion mit einer trockenen, künstlerisch wenig relevanten Tanzpraxis assoziieren möchten, schnell widerlegen lassen. Rekonstruktion bedeutet keinesfalls lediglich das so getreu wie mögliche Nachahmen oder Kopieren von Bewegungen, sondern ist vor allem eine künstlerische wie analytische Arbeit, was die Gäste des Panels nachdrücklich veranschaulichten. Waltraud Luley (Jahrgang 1911, ehemalige Assistentin von Dore Hoyer und Verwalterin ihres Nachlasses), Susanne Linke (eine der wichtigsten Tänzerinnen und Choreographinnen des deutschen Tanztheaters) und Martin Nachbar (zeitgenössischer Tänzer und Choreograph), die drei Generationen auf dem Podium vertraten, gaben einerseits einen Einblick in die Bandbreite, Problematik und Kontroverse des Themas Rekonstruktion. Andererseits zeigten sie durch ihre kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Schaffen der ›späten‹ Ausdruckstänzerin Dore Hoyer deren bleibende Bedeutung für die heutige Tanzszene auf.

1 | Das von Yvonne Hardt moderierte Gespräch fand am 21. April 2006 im Rahmen des Tanzkongresses statt. 2 | Das Datum bezieht sich auf die filmische Aufzeichnung der Affectos Humanos.

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Dore Hoyer in A FFECTOS HUMANOS

Foto: © Siegfried Enkelmann/VG BildKunst, Bonn 2007; Deutsches Tanzarchiv Köln

Es ging dabei nicht nur um ihre spezifischen Rekonstruktionen der Affectos Humanos, sondern allgemein um die Frage, was der Versuch der Aneignung vergangener Tänze sowohl für Tänzer und Choreographen als auch für das Publikum und Tanzwissenschaftler leisten kann. Selbst dann, wenn die Rekonstruktion nicht den oft gehegten Wunsch nach Erhalt und Konservierung des Vergangenen ermöglicht, kann sie doch die Bedeutung der Tanzgeschichte für die Gegenwart des Tanzes veranschaulichen.3 Gleichzeitig markiert das Interesse an Rekonstruktion auch einen Wunsch, den Tanz politisch aufzuwerten, ihm ein Fundament zu geben. Performancetheoretiker weisen darauf hin, dass dem Bestreben, Dinge festzuhalten, sie zu konservieren und als Produkte auszustellen, unterschwellig Bedeutungs- und Machtebenen unterliegen. 4 Somit bestanden die Ziele des Panels auf dem Tanzkongress nicht nur darin, eine inhaltliche Reflexion der Tanzgeschichte und eines technischen Handwerkszeugs für die Rekonstruktion zu reflektieren, sondern den 3 | Vgl. Yvonne Hardt: »Prozessuale Archive. Wie Tanzgeschichte von Tänzern geschrieben wird«, in: tanz.de. Zeitgenössischer Tanz in Deutschland – Strukturen im Wandel – eine neue Wissenschaft, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 34–39. 4 | Vgl. Mark Franko/Annette Richards: »Actualizing Absence: The Pastness of Performance«, in: Dies. (Hg.): Acting on the Past. Historical Performance Across the Disciplines, Middletown: Wesleyan University Press 2000, S. 1–9.

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modernen Tanz als Teil eines politischen Unterfangens gesellschaftlich und in einem kulturpolitischen Milieu aufzuwerten. Es verdeutlichte auch, dass es noch einer Revision der Tanzgeschichte bedarf, insofern sie mit klaren Zäsuren arbeitet und dem Ausdruckstanz wenig Einfluss auf das zeitgenössische Tanzgeschehen in Deutschland einräumt. Dore Hoyer (1911–1967) gehörte zu jener zweiten Generation der Ausdruckstänzer, die weniger erfolgreich in die Tanzgeschichte eingegangen sind, weil ihre Karrieren durch den Nationalsozialismus, den Krieg und später eine eklatante Abwendung vom modernen Tanz in der Nachkriegszeit erschwert wurden. Ursprünglich bei Mary Wigman ausgebildet, war Hoyer vom Ausdruckstanz geprägt. Zugleich beschritt sie aber auch einen neuen Weg. Ihre streng formale und abstrakte Bewegungsgestaltung unterschied sie von den eher einfühlenden und ekstatischen Arbeiten ihrer Lehrerin. Dies wirkte für Zeitgenossen sowohl spektakulär als auch provozierend. Wie der Tanzwissenschaftler und Leiter des Deutschen Tanzarchivs Köln Frank-Manuel Peter in seiner Studie zu den frühen Arbeiten von Hoyer aufzeigt, bahnte sich darin bereits etwas von einem ›postmodernen‹ Tanzstil an.5 Ähnliches hat Gabriele Brandstetter für die Tänze der Nachkriegszeit am Beispiel der Weiterentwicklung von Hoyers Drehtanz nachgewiesen.6 Dies gilt umso mehr für die Affectos Humanos, die sowohl Susanne Linke als auch Martin Nachbar aufgrund ihrer konsequenten Bewegungsrecherche begeistert haben. In dieser Bewegungsrecherche geht es nicht mehr primär darum – auch wenn der Titel des Stückes es vielleicht vermuten lässt –, die adäquate Ausdrucksform für innere Emotionen zu suchen, sondern (fast im Sinne der künstlerischen Avantgarde der 1960/70er Jahre) um eine formale Recherche um der Bewegung Willen. Somit kann die Rekonstruktion eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Tanzes provozieren, die Grenzen und Zäsuren zwischen Moderne und Postmoderne in Frage stellen. Die Auseinandersetzung und Aufnahme älterer Stücke und der Austausch mit jenen, die sie getanzt haben, führen zu einer Umwertung und zu einem anderen Verständnis für den choreographischen Schaffensprozess. Die Gründe dafür, sich mit diesem choreographischen »Zyklus« Hoyers, der die fünf Tänze Eitelkeit, Begierde, Angst, Hass und Liebe umfasst, auseinanderzusetzen, waren sowohl für Linke als auch für Nachbar das ausgewiesene Interesse an dieser stringenten Form. Die 5 | Vgl. Frank-Manuel Peter: Zwischen Ausdruckstanz und Postmodern Dance: Dore Hoyers Beitrag zur Weiterentwicklung des modernen Tanzes in den 1930er Jahren, unveröff. Diss., Freie Universität Berlin 2003. 6 | Vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 266–270.

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jeweiligen Zugänge waren hingegen unterschiedlich. Im Fall von Linke wurde die Rekonstruktion von Iris Scaccheri initiiert, einer argentinischen Tänzerin, die diese Tänze noch kurz vor dem Selbstmord Dore Hoyers im Jahre 1967 erlernt hatte. Linke hatte die Arbeit Hoyers schon zuvor bewundert, dennoch kam diese Anfrage unverhofft und stellte für sie zunächst unüberbrückbar scheinende Probleme dar. Obwohl Linke am Anfang ihrer tänzerischen Lauf bahn bei Wigman ausgebildet wurde, hatte sie diese nach eigenen Worten vergessen und näherte sich dem Material zunächst einmal über die äußere Form an. Schließlich fand sie mit Waltraud Luley zusammen die Quellen der Bewegung wieder, die von einem starken gehaltenen Zentrum ausgingen, während sich z.B. die Arme leicht, energetisch und spannungsgeladen bewegten. Linke veranschaulichte das nachdrücklich beim Podiumsgespräch, indem sie den Unterschied zwischen einer Bewegung demonstrierte, bei der der Körper der Richtung der Arme folgt, und einer Bewegung, bei der der Rest des Körpers dieser Armspannung widersteht. Es sind jene kleinen Details und Probleme der Bewegungsaneignung, auf die auch Martin Nachbar eingeht, wenn er sagt, dass Hoyer Energien und Bewegungen an ganz speziellen Stellen ihres Körpers platzierte. Anders als im Fall von Linke ist sein Hintergrund als zeitgenössischer Tänzer, der unter anderem an der School for New Dance Development in Amsterdam ausgebildet wurde, davon geprägt, wie er es sagt: »möglichst entspannt zu sein«. Folglich fielen ihm die spannungsgeladenen Bewegungen Hoyers mit seinem Release-basierten Körpertraining anfangs besonders schwer. Im Umgang mit der Rekonstruktion wird klar, dass tänzerische Technik nicht lediglich eine unterschiedliche Bewegungsausführung bedeutet. Vielmehr geht mit jedem Training eine Verstrickung von Körperformung und verbaler Reflexion einher, so dass durch das tägliche Training ein »Ideen-Körper« entsteht.7 Das Erlernen von Bewegung geschieht in Kombination mit imaginären Bildern, abstrakten Konstrukten der Raumfokussierung und anatomischen Anweisungen sowie anhand von Hinweisen zum Spannungsgrad des Körpers. Je mehr Stabilität bzw. Kontinuität jene verbalen Beschreibungen haben, desto kohärenter ist das Fortleben einer spezifischen Körperlichkeit. D.h., dass für die Rekonstruktion über die Form einer Bewegung hinaus ein Wissen um diese imaginären Aspekte des Tanzes von zentraler Bedeutung ist.8

7 | Vgl. Susan Leigh Foster: »Dancing Bodies«, in: Jane D. Desmond (Hg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance. Durham: Duke University Press 2003, S. 235–257. 8 | Vgl. Hardt: Prozessuale Archive, a.a.O.

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Waltraud Luley und Martin Nachbar auf dem Podium »Die Rekonstruktion von Dore Hoyers A FFECTOS HUMANOS«, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Wie wichtig daher für Nachbar der Kontakt zu Luley war, die diese Bilder und Prinzipien vermitteln konnte, verdeutlicht die Anekdote über ihr erstes Zusammentreffen: Nachbar stellte Luley seine erarbeitete Version von Hass vor. Dieser Tanz beginnt mit krallenhaft gespannten Händen, wobei sich schlagartig eine Hand nach unten, die andere nach oben bewegt. Nachbar führte diese zunächst ganz entspannt, fast schon schlaksig aus, worauf hin ihn Luley laut angegangen sei und gerufen habe: »Herr Nachbar! Das ist Hass! Der ganze Körper ist eine Spannung!« Ab diesem Moment begann eine Arbeit, bei der Nachbar bis ins Detail versuchte, die Choreographien wieder zu verkörpern. Von den Bewegungen des kleinen Fingers bis zu ganz bestimmten Kopf haltungen wurden immer neue Dinge entdeckt, an denen gearbeitet werden konnte. Nachbar berichtet dazu: Was ein Körper mit einer solchen Übertragung anstellt, weiß man nie. Das ist das Spannende an der Arbeit. Luley und ich entdecken immer wieder neue Details und Ansätze. So haben wir erst letzte Woche festgestellt, dass ich meinen Mittelkörper viel weniger einsetze als Dore Hoyer. Anfang des Jahres haben wir etwas über den Einsatz von Kopf und Hals vor allem in ›Begierde‹ herausgefunden.9

Es ist dieses totale Engagement, das Luley von jenen fordert, die sich das Material aneignen wollen. Jene, die denken, dass das ›nicht so schwierig‹ aussieht und glauben, ›sie können das schon machen‹, sind ihrer Ansicht nach nicht motiviert genug. Luley vertritt hier einen Standpunkt in der 9 | Martin Nachbar, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript.

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Rekonstruktionsdebatte, die auf den Dienst am Werk pocht, das formal nicht verändert werden darf. Allerdings stellt sie ebenfalls begeistert fest, dass jene, die Hoyer rekonstruierten, immer auch Neues aus diesem Material erschaffen haben. Susanne Linke und Martin Nachbar sind im Kontext ihrer jeweiligen, eigenen zeitgenössischen Bewegungspraktiken andere Wege gegangen. Das bringt das Thema auf den Kontext, der für die Rekonstruktion ganz entscheidend ist. Tanz ist mehr als nur reine Bewegungsausführung, und gerade der moderne Tanz hat es zu seinem Programm erklärt, etablierte Formen der Darstellung und Repräsentation von Tanz in Frage zu stellen. Die Moderne spielt mit Brüchen, möchte Sehgewohnheiten irritieren oder stellt das jeweilige Verständnis von dem, was jeweils die Virtuosität einer Choreographie ausmacht, in Frage. Hoyer ist in dieser Tradition der kritischen Auseinandersetzung mit dem Bisherigen und der Suche nach einer eigenen Formsprache anzusiedeln. Dieses Selbstverständnis ist Teil der Bedeutung und Sinnstiftung eines künstlerischen Werkes. So konstituiert es auch eine der zentralen Problematiken von Rekonstruktionen, wenn man diese nicht wie Museumsstücke betrachten will. Damit Rekonstruktionen ›funktionieren‹, müssen sie weiterleben und nicht zu »illustrated corpses« werden, wie es der Tanzwissenschaftler Ramsey Burt bezeichnet.10 Daher muss nicht nur die Frage gestellt werden, welche Körpertechnik und Bewegungen Hoyer in Affectos Humanos zeigte. Vielmehr muss auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern ihre Tänze vom Zeitgeist geprägt waren, mehr noch, wieso sie damals solche Reibungsflächen boten. Eine Bedeutungsdimension ihrer Choreographie liegt in diesem erneuernden Potenzial, in dieser Konfrontation mit dem Zeitgeist und der Konventionen. Wie kann man das in die Rekonstruktion integrieren? Sowohl Susanne Linkes als auch Martin Nachbars »Rekonstruktionen« von Affectos Humanos haben sehr viel positive Kritik erfahren und zugleich Diskussionen ausgelöst – und das, so die These, weil sie die Tänze der Affectos Humanos nicht als etwas Abgeschlossenes behandelt haben, sondern weil sie jeweils ihre eigene Arbeitsweise integriert haben und die Tänze für ihren Kontext jeweils anders inszeniert haben. Diese Zugangsweisen sind bereits historisch bedingt sehr unterschiedlich. Als Linke die Rekonstruktion 1987 zum sich jährenden Todestag von Hoyer erstmals zeigte, wurde auf der einen Seite in Kritiken scheinbar problemlos von den »Tänzen der Hoyer« gesprochen, so getreu und virtuos hatte sich Linke ihrem Vorbild angenähert. Andererseits wurde 10 | Vgl. Ramsay Burt: »Reconstructing the Disturbing New Spaces of Modernity: The Ballet Skating Rink«, in: Stephanie Jordan (Hg.): Preservation Politics. Dance Revived Reconstructed Remade, London: Dance Books 2000, S. 21–30.

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konstatiert, ohne dass es widersprüchlich schien, dass Linke dem klaren Formalismus eine durch das Tanztheater entwickelte körperliche Sinnlichkeit dazu gab. Zudem fügte sie den Tänzen eine eigene Komposition mit ihrem Partner Urs Dietrich an, in der sie die Themen aus den Affectos Humanos erneut aufgriff und in ihrer eigenen Tanzsprache neu gestaltete. So entstand eine Hommage an Hoyer, ein Abend, der sich nicht historisch, sondern aktuell gab. In noch viel eklatanterer Weise hat Nachbar keinesfalls eine Rekonstruktion im klassischen Sinne auf die Bühne gestellt, sondern den Akt der Reflexion und der ständigen Veränderung dieser Arbeit selbst zum Thema auf der Bühne gemacht. Diese Strategien der Inszenierung verorten ihn eindeutig im Kontext zeitgenössischer Performancekunst, im Rahmen des »Konzepttanzes«. Zwar hat er versucht, drei der fünf Tänze bis ins Detail bewegungstechnisch zu reproduzieren, aber das in zweierlei Hinsicht auf der Bühne gebrochen: zum einen, weil er sich als Mann diese Tänze aneignet und somit immer schon eine Differenz markiert, zum anderen, weil in Urheben und Aufheben (wie die jetzige Version dieser Performance heißt, während sie ursprünglich mit seinen Tänzerkollegen Thomas Plischke und Joachim Gerstmeier unter dem Titel affekte entstand) die Reflexion des Prozesses der Aneignung im Vordergrund steht. Als Lecture Demonstration präsentiert, ist das Zeigen der tänzerischen Bewegungen Hoyers nur ein kleiner Aspekt der Performance. Nachbar möchte somit nicht die Illusion eines Originals auf der Bühne erzeugen. Eine solche Art von Wiederholung ist, frei nach Elisabeth Grosz, nie die Herstellung des Gleichen, sondern Motor des Neuen. Die Tänze der ›AH‹, Luleys Erinnerungen, meine Rekonstruktion und ihre Wahrnehmung gehen ineinander über und werden zu etwas, was vorher noch nicht da war.11

11 | Vgl. Martin Nachbar: »ReKonstrukt«, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.): Moving Thoughts. Tanzen ist Denken, Dokumenta Choreologica 2003, Berlin: Vorwerk 8, S. 89–95.

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Susanne Linke und Yvonne Hardt auf dem Podium »Die Rekonstruktion von Dore Hoyers A FFECTOS HUMANOS«, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Solche Unterbrechungen finden sich durchaus auch in Linkes Umsetzung, und zwar in jenen Momenten, in denen sie sich auf der Bühne jeweils für den neuen Teil umzieht. Dieses Vorgehen kann für manche Zuschauer am Ende der 1980er Jahre ebenso provozierend gewirkt haben wie Nachbars heutige Aneignung aus der Sicht des zeitgenössischen Publikums. Es könnte auch der Irritation entsprochen haben, die Teile des Publikums in den 1950 und 1960er Jahren empfanden, da sie mit den abstrakten Tanzkompositionen und der neuen Bedeutungsweise von Hoyers Tänzen nicht umgehen konnten. So scheinen es vor allem die Brüche in unserer Sehgewohnheit zu sein, die durch diese ›Re/konstruktionen‹ provoziert werden können. Dies spiegelt den ›Geist‹ von Hoyers Tänzen wider. In diesem Sinne sollte nicht angstbehaftet an die ›Re/konstruktion‹ herangegangen werden, als wäre sie ein Dienst für das Werk der Vergangenheit. Vielmehr scheint eine Erinnerungskultur spannend, die die Differenz, die historische Aneignung zunächst deutlich ausstellt, um als eigenständige Performance den Zuschauer trotzdem in den Bann zu ziehen.

Literaturverzeichnis Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. Burt, Ramsay: »Reconstructing the Disturbing New Spaces of Modernity: The Ballet Skating Rink«, in: Stephanie Jordan (Hg.): Preservation Politics. Dance Revived Reconstructed Remade, London: Dance Books 2000, S. 21–30.

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Foster, Susan Leigh: »Dancing Bodies«, in: Jane D. Desmond (Hg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance, Durham: Duke University Press 2003, S. 235–257. Franko, Mark/Richards, Annette: »Actualizing Absence: The Pastness of Performance«, in: Dies. (Hg.): Acting on the Past. Historical Performance Across the Disciplines, Middletown: Wesleyan University Press 2000, S. 1–9. Hardt, Yvonne: »Prozessuale Archive. Wie Tanzgeschichte von Tänzern geschrieben wird«, in: tanz.de. Zeitgenössischer Tanz in Deutschland – Strukturen im Wandel – eine neue Wissenschaft, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 34–39. Nachbar, Martin: »ReKonstrukt«, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.): Moving Thoughts. Tanzen ist Denken, Dokumenta Choreologica 2003, Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 89–95. Peter, Frank-Manuel: Zwischen Ausdruckstanz und Postmodern Dance: Dore Hoyers Beitrag zur Weiterentwicklung des modernen Tanzes in den 1930er Jahren, Dissertation, Freie Universität Berlin 2003.

Verarbeiten und Aufbereiten Wege der Interpretation von Tanz Julia Cima im Gespräch mit Alexandra Baudelot

Julia Cima ist bekannt für ihre Arbeit als Interpretin von Choreographen wie Boris Charmatz oder Laure Bonicel. Immer wieder aufs Neue verleiht sie Stücken eine leichte und zugleich verstörende Präsenz mit Darstellungsformen, die sie aus Bewegungszuständen entwickelt. Bei dieser zeitgenössischen Tänzerin deutete bislang nichts auf ihre Verbundenheit mit virtuoseren und älteren tänzerischen Ausdrucksformen hin. Genau hiermit setzt sich Julia Cima jedoch nun in den neun Soli von Visitations auseinander – neun Soli, in denen choreographische Fragmente unter anderem aus Stücken von Waslaw Nijinski, Merce Cunningham, Isadora Duncan, Valeska Gert, Tatsumi Hijikata und Dominique Bagouet neu inszeniert werden. Mit ihrem Körper spinnt sie einen roten Faden, der diese ansonsten so verschiedenartigen tänzerischen Welten miteinander verbindet. Dieser Faden steht sinnbildlich dafür, dass es beim Tanz – über die historische Dimension und den tänzerischen Ausdruck hinaus – in erster Linie um eine Aneignung und Reaktualisierung geht. Es handelt sich um ein Spiel von Zuhören und (Neu-)Erschaffen. Alexandra Baudelot: VISITATIONS ist ein Stück, das Herausforderungen an die Arbeit des Interpreten stellt. Dessen Arbeit besteht zum einen in der Interpretation der verschiedenen choreographischen Sprachen, zum anderen aber auch in der kreativen Dimension der Aneignung dieser Sprachen auf einer persönlichen und intimen Ebene. Wie bist Du an diese Arbeit herangegangen? Julia Cima: Ich gebe zu, dass ich mir um den Aspekt der Aneignung nicht viele Gedanken gemacht habe. Ich habe mich darauf beschränkt, an jedem Solo recht intensiv zu arbeiten, und das über einen ziemlich langen Zeitraum (immerhin sind zwischen dem Zeitpunkt, zu dem ich mit dem Einstudieren der ersten Soli begann, und der Entstehung

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von Visitations zwei Jahre vergangen). Ich habe mir die Zeit genommen, jedes Solo ›auf mich wirken zu lassen‹, habe die Arbeit daran ruhen lassen und habe mich dann, mit etwas Abstand, erneut damit beschäftigt. Das hat mir eine Präzisierung meiner eigenen Lesart und Interpretation ermöglicht. Dabei war es mir wichtig, die Bewegungen, die ich auf meinem Bildschirm sah, so gut wie möglich zu respektieren. Ebenso wollte ich möglichst nahe an dem Bild bleiben, welches ich mir von der Denkweise der Choreographen (zu dem Zeitpunkt, als ihre Soli oder Stücke entstanden sind) gemacht bzw. angelesen hatte. Zudem war für mich vor allen Dingen die Art der Inszenierung entscheidend, denn diese kann ja zu sehr unterschiedlichen Deutungen führen. Ich wollte zurückhaltend bleiben und nach Möglichkeit einen sehr direkten Zugang zur Bewegung schaffen. Deshalb habe ich mich für ein einziges Kostüm entschieden, das recht neutral gehalten ist, um den Blick des Zuschauers nicht zu beeinflussen. Aber um noch einmal auf die jedem Solo eigene Sprache zurückzukommen: Darüber musste ich nicht lange nachdenken. Der Tanz und meine choreographische Bildung haben meinen Körper geformt, und ich habe das Gefühl, dass all diese verschiedenen Sprachen bereits in meinem Körper vorgezeichnet waren. Ich musste nur mein schlummerndes ›Grundwissen‹ reaktivieren und natürlich an der Präzision meiner Gestik, Mimik und Rhythmik arbeiten. Julia Cima in VISITATIONS

Foto: Raphaël Pierre

Warum wolltest Du Dich mit Tanzgeschichte beschäftigen? Und handelt es sich dabei wirklich um Geschichte, wie Du sie verstehst, wenn Du sagst, dass diese bereits in Deinem Tänzerkörper vorgezeichnet war? Oder anders gefragt: Wolltest Du Dich mit der historischen und kulturellen Dimension dieser Werke auseinandersetzen? Und wenn ja, wie? Am Anfang des Projekts war meine Absicht weit von einer Ausein-

Verarbeiten und Aufbereiten | 213

andersetzung mit der Geschichte des Tanzes entfernt. Ich hatte einfach den unwiderstehlichen Wunsch, allein im Studio an bereits existierenden Tänzen zu arbeiten, die sehr festgeschrieben und stilistisch sehr unterschiedlich waren, und zwar einfach, um die Lust am Tanzen zu erleben. Ich glaube, es ist dann sehr schnell eine Freude an der Auseinandersetzung mit so markanten Stilen und Choreographen entstanden. Und hinzu kam dann die Freude daran, mich an Soli zu messen, die die Geschichte des Tanzes geprägt haben. Ich halte es für den größten Luxus, Werke etwa von Nijinsky, Cunningham oder Hijikata aufführen zu dürfen, so wie Schauspieler Stücke von Autoren wie Racine, Molière oder Shakespeare einfach spielen müssen. Aber ich gebe zu, dass ich nicht besonders viel Scheu hatte. Ich kam nie an die Grenze, diese Werke oder diese Choreographen zu entwürdigen. Vielmehr hatte ich bei der Arbeit an diesen Tänzen immer das Gefühl, dass sie mir irgendwie auch gehörten und dass ich voll im Recht war, wenn ich sie neu interpretierte (zumindest ab dem Moment, als juristisch alles geregelt war!). Ich habe so viele Jahre gearbeitet und so viele Techniken im Studio erarbeitet, dass ich mir zumindest eine gewisse Autonomie in Bezug auf diese Soli erworben habe, und seien sie noch so sagenumwoben! Und ich hatte außerdem das ganz selbstverständliche Gefühl, dass ein Interpret diese ernorme ›Macht‹ hat, die Werke auf seine Art neu zu interpretieren, mit allem, was ihn ausmacht und mit all seinem kulturellen Gepäck. Das ging natürlich nicht ohne eine parallele Dokumentation, damit ich die Denkweise der Choreographen und den Kontext, in dem ihre Stücke entstanden sind, besser verstehen konnte. Aber gab es nicht dennoch historische Aspekte oder Aspekte der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimension, die Deinen Blick auf die Choreographie beeinflusst haben, sie anders besetzt haben, weshalb sich die Bewegungen anders darstellten als im damaligen historischen Kontext? Ja, der Blick auf die Bewegungen erhält eine andere Dimension, wenn man z.B. weiß, dass Isadora Duncan mehrere Jahre in Moskau verbracht hat, um dort eine Schule zu gründen, und dass ihre Revolutionäre Studie kurz nach der Revolution entstanden ist. Ganz gewiss habe ich die Ereignisse und die Kontexte, die die Choreographien beeinflusst haben, mit einbezogen und sie auf meine Weise verarbeitet. Ich weiß, dass ich vieles von dem, was ich gelesen habe, vergessen habe, aber die Tänze sind von meiner Lektüre durchdrungen und von dem, was ich empfunden habe, während ich beispielsweise die Autobiographien las und mich wirklich wie ein Teil des Lebens dieser Menschen und ihrer Energien fühlte. Aber genau das bedeutet für mich Interpretation – dieses ›Verarbeiten‹, ›Auf bereiten‹, ›Sich-Setzenlassen‹ und ›Sich-Abklären‹ einer ganzen Reihe von alten und neuen Informationen, die mich beeinflusst haben und die ich dann in meiner Gestik verewige.

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Neben Deiner Aneignung der Choreographie mithilfe Deiner eigenen Geschichte als Tänzerin, möchtest Du die Soli auch in eine Kontinuität mit Deinem Kostüm und Deinem Bühnenbild stellen sowie ein zeitgenössisches Umfeld und eine ebensolche Ästhetik schaffen. Mit welchen zeitgenössischen Bildern wolltest Du Dich beschäftigen? Ich habe nicht den Wunsch, ein bestimmtes zeitgenössisches Bild zu entwickeln oder zu zeichnen. Mein Ziel ist es, die Bewegungen zur Geltung zu bringen und den Blick des Zuschauers darauf zu lenken. Das Kostüm ist neutral und gleichzeitig originell. Ich konnte mir nicht vorstellen, ewig im Trainingsanzug zu tanzen, das ist zu öde! Das Bühnenbild besteht im Wesentlichen aus der Projektionsfläche für Dias und einen kurzen Film. Ich habe mir einen Hintergrund gewünscht, auf dem meine Präsenz widerhallt, der mit mir auf der Bühne ›lebt‹, und nicht nur eine einfache Projektionsfläche ist. All diese Elemente sind aus der Notwendigkeit, aber auch aus dem Wunsch heraus entstanden, bei einer reinen Ästhetik zu bleiben, die den Blick des Zuschauers auf den Ursprung der Tänze nicht beeinflusst. Was die choreographischen Sprachen auch voneinander unterscheidet, sind die verschiedenen Formen der Narration, die Du für jedes Solo mithilfe von Bildern, Filmen und Texten erarbeitest. Durch sie kommen zusätzliche Deutungen hinzu, sie eröffnen neue Darstellungsebenen und durch sie erhält der Tanz eine andere Wirkung. Wie wolltest Du zu diesen Narrationen arbeiten? Es geht darum, dem Tanz eine zusätzliche Dynamik zu verleihen, eine andere Klangfarbe. Viele dieser Choreographen haben auch etwas geschrieben, sei es für eine Autobiographie oder für Texte über ihre Arbeit oder ihre Ideen. Aus diesem Grund schien es mir wichtig, Worte zu verwenden, um diese quasi permanente Interaktion von Körper und Geist zu unterstreichen. Ich mag die Vorstellung, dass eine Gruppe Zuschauer, die gekommen ist, um sich ein Tanzstück anzuschauen, eingeladen wird, Worte zu lesen. Denn das Lesen ist per definitionem die Antithese zur physischen Anstrengung des Tanzes. Es gibt diese Zeit der Stille, während der die Menschen gemeinsam Worte lesen, die ich ausgewählt habe, um ihnen eine Interpretationsachse für diesen Tanz vorzuschlagen, die diesem voran- und/oder nachgestellt ist. Das öffnet Türen zu Vorstellungswelten, die ansonsten vollständig verschlossen geblieben oder vergessen worden wären. Der kurze Film, der vorgeführt wird, zeigt eine Schülerin Isadora Duncans, Lisa Duncan, die fröhlich umherhüpft. Mit diesem kurzen Solo des Films stelle ich auf eine sehr direkte und drastische Weise eine Verbindung her zwischen diesen Tänzen aus einer anderen Zeit und mir selbst, der Interpretin von heute, die nun wahrhaftig nicht das Gefühl hat, dass der Tanz der Gegenwart von dieser Lust am Tanzen geprägt ist, wie sie im Film so deutlich wird. Ich wollte den Unterschied zeigen, der meiner Meinung

Verarbeiten und Aufbereiten | 215

nach besteht zwischen der simplen Lust am Tanzen und der Lust daran, darüber nachzudenken, wie man Bewegung mithilfe immer komplexer werdender Konzepte auf die Bühne bringt. Dieser Film sagt viel über die Vorstellungen aus, mit denen ich dieses Bühnenstück konzipiert habe. Ich wollte zurückkehren zu etwas beinahe ›Primitivem‹. Julia Cima in VISITATIONS

Foto: Raphaël Pierre

Wo siehst Du Dich als Interpretin im Hinblick auf Choreographen Deiner Generation? Wohin entwickelt sich Deiner Ansicht nach heute das künstlerische Schaffen unter Einsatz des Körpers? Hin zu einem ständigen Hinterfragen von choreographischen Formen oder zur Suche nach einer neuen Ausdrucksweise? Ein Interpret muss die Wünsche der Choreographen auf jeder Ebene hinterfragen – mithilfe seines Körpers, seiner physischen Ausdrucksmöglichkeiten, aber auch verbal. Er ist jemand, der sich genügend einbringt, um das Projekt voranzutreiben. Ich spreche hier nicht von Einflussnahme, sondern von der Fähigkeit, bei den unterschiedlichsten Problemen Vorschläge zu machen, um es dem Choreographen zu ermöglichen, nicht in bereits bekannten Systemen oder ›Rezepten‹ zu verharren. Es geht auch nicht darum, alles für sich zu beanspruchen, sondern darum, einen echten Dialog herzustellen, bei dem sich jeder kreativ einbringen kann. Dann ist es, glaube ich, auch nicht mehr so wichtig, ob es sich um choreographische Formen oder eine neue Ausdrucksweise

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handelt. Wenn der Choreograph Talent hat und sich mit guten Leuten umgibt, kann er eine ganz einfache Idee in eine unglaubliche Vorstellung verwandeln. Davon bin ich überzeugt. Aber man benötigt dafür Talent, insbesondere das Talent, einer Truppe Selbstvertrauen zu geben, damit alle so kreativ wie möglich sind. Übersetzung aus dem Französischen

Der Körper als Archiv Vom schwierigen Verhältnis zwischen Bewegung und Geschichte Inge Baxmann

Heute wird zur Chance, was früher als Manko angesehen wurde: Die ›Sprachlosigkeit‹ des Tanzes hatte verhindert, dass er für das kulturelle Gedächtnis moderner europäischer Gesellschaften relevant wurde. Der Historiker Alain Corbin kritisierte jene Erinnerungsarchive, die wesentlich auf der Schrift beruhen: »Die westliche Geschichte, als bloß geschriebene, hat keinen Geruch.«1 Man könnte ergänzen: Sie hat auch keinen Rhythmus. Mit der aktuellen Umstrukturierung von Wissenskulturen wird der Körper als Gedächtnisort wieder neu entdeckt. Denn in Bewegungen, Gesten und im Rhythmus sind Sinnes-, Gefühls- und Wahrnehmungserfahrungen gespeichert. Dieses Wissen beruht auf mündlichen und gestischen Überlieferungstraditionen und ist in nonverbalen Ausdrucksformen oder in Artefakten materialisiert. Das tacit knowledge 2 wurde nie in die westliche Geschichtsschreibung integriert und blieb für das europäische Kulturverständnis marginal. Aber wie lässt sich dieses Desiderat für die Tanzgeschichtsschreibung produktiv machen? Der Ethnologe Marcel Mauss entwickelte in den 1930er Jahren die 1 | Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 2. 2 | Der Begriff tacit knowledge stammt von dem Chemiker und Philosophen Michael Polanyi. Dieses Wissen wird als etwas Dynamisches und mit den jeweiligen Tätigkeits- und Kommunikationsformen sich ständig im Fluss befindliches Wissen aufgefasst. Vgl. Michael Polanyi: The Tacit Dimension, New York: Anchor 1967, sowie Mikhail Dua: Tacit Knowing. Michael Polanyi’s Exposition of Scientific Knowledge, München: Utz 2004.

218 | Inge Baxmann

Idee eines Archivs der Körpertechniken.3 Mauss begann seine Karriere mit einem Skandal: 1901 war er auf den Lehrstuhl »Histoire des Religions des Peuples Non-Civilisés« (Religionsgeschichte der nicht zivilisierten Völker) an der Écôle des Hautes Études in Paris berufen worden. In seiner Antrittsrede stellte er seine methodologischen Grundlagen vor, die auf der Annahme beruhten, es gäbe keine nicht zivilisierten Völker, sondern lediglich Völker mit verschiedenen Zivilisationen. So sei eine australische Gesellschaft weder simpel noch primitiv, sondern habe eine ebenso lange Geschichte wie die modernen westeuropäischen Gesellschaften, auch wenn das kulturelle Gedächtnis dieser Kulturgemeinschaften nicht schriftlich überliefert sei. In seinem Vortrag »Die Techniken des Körpers« von 1934 4 zeigte Mauss, wie die verschiedenen Techniken des Körpers bzw. die Modalitäten des Körpergebrauchs (vom Laufen über die Sexualität bis zu den Einschlaftechniken) auf jeweils verschieden kulturell geprägten nervlichen und muskulären Synergien beruhen. An diesen Systemen lassen sich Mauss zufolge bewusste und unbewusste individuelle und kollektive Repräsentationen ablesen. Jede Körpertechnik habe ihre spezifische Form, werde tradiert, erlernt, verbinde Bewusstes und Unbewusstes und codiere Körperwahrnehmung als soziale Erfahrung. Sie stellt in den Worten Mauss’ eine »physio-psycho-soziologische Montage« dar, in der sich die Körpererfahrung mit dem psychologischen und soziologischen Kontext unauflösbar vermischt. Mauss’ Idee eines Archivs der Körpertechniken ist deshalb wegweisend, weil es nicht von einem Dualismus zwischen Körper und Kultur ausgeht. Das Körpergedächtnis ist selbst eine kulturelle Form, die stets historisch spezifisch ist.

3 | Über die Annäherung von Ethnologie und Psychoanalyse entwickelte Mauss (zum Teil in Zusammenarbeit mit Emile Durkheim und Henri Hubert) eine anthropologisch orientierte Soziologie, die die Frage nach dem Zusammenhalt von Gesellschaften jenseits rationaler Übereinkünfte in den Mittelpunkt der Forschung stellte. Gemeinsam mit Lucien Lévy-Bruhl und Paul Rivet gründete er 1925 das Institut d’Ethnologie an der Pariser Sorbonne. 4 | Marcel Mauss: »Techniques du corps«, in: Ders.: Sociologie et anthropologie, précédé d’une introduction à l’oeuvre de Marcel Mauss par Claude Lévi-Strauss, Paris: Presses universitaires de France 1950, S. 380f.

Der Körper als Archiv | 219

Cover der Sondernummer »La danse dans la peinture« der Zeitschrift »Revue des AID«, Nr. 5, 1933

© Bibliothèque Musée de l’Opéra de Paris

Die »Archives Internationales de la Danse« Mauss’ Konzept des Körpergedächtnises wurde von den »Archives Internationales de la Danse« (AID) aufgegriffen, die 1931 von Rolf de Maré, dem Mäzen des Schwedischen Balletts, in Paris gegründet wurden. Gegen eine Versprachlichung von Tanz, die ihn auf die Prozeduren der Schriftkultur reduziert, wollte De Maré die Bewegung als eigenständige Wissensform begründen. Die AID gaben diesem impliziten Wissen einen Ort. Ziel war es, ein Sammelbecken zu schaffen, eine neuartige internationale Institution für den Tanz, […] die alle wichtigen Dokumente aller Länder zentral zusammenfasst, die den Tanz betreffen, und eine Bibliothek, ein Museum und eine Dokumentationsstelle aufzubauen, die Bücher, Bilder, Gravuren, Zeichnungen sammelt; in einem Wort, alles was es an Kunstwerken gibt, die mit dem Tanz zu tun haben.5

5 | Les AID, undatierte und unpaginierte Broschüre der Bibliothèque Musée de l’Opéra (BMO Sign. Pro. 6.1). In Zusammenarbeit mit dem Centre Nationale de la Danse und der Bibliothèque Musée de l’Opéra in Paris habe ich mit Claire Rousier und Patrizia Veroli ein dreijähriges Forschungsprojekt über die AID durchgeführt. Vgl. Inge Baxmann/Claire Rousier/Patrizia Veroli (Hg.): Les Archives Internationales de la Danse. 1931–1952, Paris: Éditions du CND 2006. Eine veränderte deutsche Fassung dieses Buches wird eine Publikation mit

220 | Inge Baxmann

Es ging nicht nur darum, das Wissen über den Tanz zusammenzutragen, sondern es im Austausch zwischen Praktikern, Theoretikern verschiedenster Couleur und interessierten Laien für die Praxis fruchtbar zu machen. Die AID organisierten Ausstellungen, choreographische Wettbewerbe, Vorträge, Tanzdarbietungen verschiedenster Stile sowie Herkunft und gaben eine Zeitschrift heraus, die ein breites Publikum ansprach, von Tänzern und Choreographen über Wissenschaftler bis zu interessierten Laien. Dabei scherte man sich nicht um überkommene Disziplinen oder Kunstgattungen: Hier trafen sich Soziologen, Ethnologen, Tänzer, Maler, Literaten oder Filmemacher. In einem Vortrag über »Die Stellung des Tanzes in der Soziologie« untersuchte der Archivar der AID, Pierre Tugal, die Theorieangebote für den Tanz, wie sie Marcel Mauss und die soziologische Schule Emile Durkheims bereitstellten. Zwei bedeutende französische Soziologen, HUBERT und MAUSS, betonen in Bezug auf den primitiven Tanz, der Tanz sei eine machtvolle Manifestation des sozialen Instinkts. Diesen Autoren zufolge werde der ganze Sozialkörper von der gleichen Bewegung erfasst.6

In Frankreich wurden in dieser Zeit die Recherches Collectives zu einem privilegierten Forschungsfeld, das – auch für die Tanzforschung produktive – neue sozialwissenschaftliche Methoden etablierte. Die Historiker um Lucien Fèbvre, Marc Bloch oder Maurice Halbwachs, die in den 1930er Jahren mit der »Annales«-Schule die Mentalitätsforschung begründeten,7 interessierten sich für die Mythen, Rituale und oralen Traditionen der modernen europäischen Kultur. Damit wurden auch die verschiedensten Praktiken des Körpers zum Gegenstand einer soziologischen Erforschung moderner europäischer Gesellschaften. Es ist kein Zufall, dass in den AID ein »Département sociologique et ethnologiques« (soziologische und ethnologische Abteilung) entstand, das die Aufgabe erhielt, […] nicht nur das immense Material zu sammeln, das die nicht zivilisierten Völker über den Tanz besitzen, sondern, darüber hinaus, aus der soziologischen kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt sein: Inge Baxmann (Hg.): Kulturgeschichte als Körperwissen: Die Archives Internationales de la Danse (1931–1952), München: Kieser 2007. 6 | Pierre Tugal: »La Position de la Danse dans la Sociologie«, Manuskript AID, S. 1 (Hervorhebung im Text). 7 | Sie gehörten zu einer Gruppe französischer Historiker, die eine neue Methodologie und Praxis in der Geschichtswissenschaft (der nouvelle histoire) etablierte. Der Name leitet sich von ihrem publizistischen Sprachrohr »Annales D’Histoire Economique et Sociale« ab.

Der Körper als Archiv | 221 Perspektive eine vergleichende Arbeit zu machen und ästhetische, psychologische und physiologische Arbeiten zu Tanz und Bewegung zu fördern. 8

Diese wissenschaftliche Abteilung veranstaltete Konferenzen und Ausstellungen, zeigte Filme und fungierte als Bindeglied zwischen Wissenschaftlern und Künstlern, indem es Conférences-Démonstrations (Vortragsdemonstrationen) organisierte. Die soziologische und ethnologische Abteilung wurde von Alfred Smoular geleitet, der am Institut d’Ethnologie de l’Université de Paris studiert hatte und zu den Mitarbeitern des Trocadéro Museums (des zukünftigen Musée de l’Homme) gehörte. Für Smoular bot nur die Ethnologie, mit ihrer Methode der Beobachtung und des Vergleichs, die Antworten auf die Fragen, die der Tanz stellte. Denn nur die ethnologischen Studien seien in der Lage, die »geheimen Tiefen« auszuloten, jenen verborgenen Sinn, den der Tanz »im Netz der sozialen Ideen« finde.9 Die AID betrachteten den Tanz aus einer sozial- und kulturhistorischen Perspektive. Er war für sie mehr als ein ästhetisches Phänomen, eine Kunstform oder ein Zeitvertreib für ein Liebhaberpublikum. Die Vielfalt der zusammengetragenen Materialien ging weit über den Kunsttanz hinaus und reichte von tänzerischen Darstellungen in den Künsten über Aufzeichnungen von Choreographien, Tanz- und Musiknotationen, ethnologischem Material und Volkstänzen bis zu Dokumenten von Tanztechniken aller Kulturen. Der Körper als Gedächtnisort, als Speicher von Bewegungswissen, Sinneserfahrungen und alternativer Sinnesarrangements stellte überkommene Vorstellungen von Archiv und entsprechende Kulturmodelle grundsätzlich in Frage. Was ist ein Dokument im Tanz? Die Praktiken der Sammlung, der Konservierung und der Dokumentation mussten für die Erstellung eines Archivs der Bewegung und des Tanzes neu durchdacht werden.

Museologie und Josephine Baker: Am Anfang war der Tanz Der Erfolg der AID liegt darin begründet, dass sie Teil einer zeitgenössischen Strömung waren, die seit Jahrhunderten vorherrschende Konzepte der europäischen Kultur und Gesellschaft in Frage stellte. Den oralen Traditionen der außereuropäischen Kulturen vergleichbar, galt der Tanz als Zugang zum gesellschaftlichen Unbewussten, zu den ›Ursprüngen‹ und verborgenen Triebkräften. Davon erhoffte man sich Impulse für eine kulturelle Erneuerung, ähnlich wie im 8 | Revue des Archives Internationales de la Danse, Paris, Nr. 1/1932, S. 3. 9 | Alfred Smoular: »La Danse sacrée«, in: Revue des AID (Juli 1934), S. 86.

222 | Inge Baxmann

Falle der primitivistischen Kunstrichtungen der Moderne, die Rolf de Maré als Sammler avantgardistischer Kunst vertraut waren. Aber auch mit der industriellen Dynamisierung der Lebenswelt und der Beschleunigung der Lebensrhythmen war eine neue Faszination für die Bewegung entstanden. Die Begeisterung der Großstadtmassen für Jazzrhythmen ebenso wie die auf Rhythmisierung, Bewegung und Simultaneität verschiedener Eindrücke abzielenden Inszenierungen der Variétés und Music-Halls waren Ausdruck einer neuen kollektiven Sensibilität. Orientalische, indische oder lateinamerikanische Tänze fanden Eingang in das Bewegungsrepertoire europäischer Tänzer und in die Tanzdielen. Die ›Exoten‹ wurden zu einer bevorzugten Projektionsfläche für die Sehnsüchte moderner Europäer. Niemand anders als Rolf de Maré hatte Josephine Bakers erste Europa-Tournee und ihren Auftritt in Paris organisiert. Die Erfahrung außereuropäischer Musik- und Bewegungskulturen war eine wesentliche Motivation für die Entwicklung neuer museologischer Konzepte. Die Frage nach dem Status eines Dokuments, seiner Sammlung und Präsentation bewegte auch die Gruppe avantgardistischer Künstler und Theoretiker, die Georges Bataille (der nicht nur als Schriftsteller tätig war) um eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel »Documents. Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie«10 versammelt hatte, die seit 1929 in Paris erschien. Bataille war der Herausgeber dieser Zeitschrift, die in den nur zwei Jahren (und 15 Ausgaben) ihrer Existenz zwischen 1929 und 1931 über verschiedenste Themenbereiche ein neues Verständnis von Archiv, Dokument und Wissen propagierte, das auch in die Arbeit der AID einfloss. Im Redaktionskomitee der Zeitschrift fanden sich mit Paul Rivet, Georges-Henri Rivière und Georges Wildenstein einige der Mitstreiter der AID.11 Künstlerische und ethnographische Dokumente erhielten den gleichen Stellenwert. Im Verständnis von Bataille relativiert ein so verstandenes Dokument das ästhetische Selbstverständnis der westeuropäischen Kultur.12 Weder Gegenstand ästhetischer Kontemplation noch Museums- oder Kunstobjekt mit entsprechendem Marktwert, interessierte vor allem der ›Gebrauchswert‹ dieser Dokumente, d.h. ihre soziale Funktion im jeweiligen kulturellen Zusammenhang. 10 | Die ersten drei Nummern erschienen unter diesem Titel, ab der vierten änderte er sich in »Documents. Archéologies. Beaux-Arts. Ethnographie. Variétés«. Vgl. Documents. Archéologies. Beaux-Arts. Ethnographie 1 (1929ff.), Neuauflage realisiert von Denis Hollier, Paris 1991. 11 | Zu denen, die regelmäßig Artikel lieferten, gehörten u.a. Roger Caillois und Michel Leiris sowie mit Curt Sachs und André Schaeffner weitere wichtige Mitarbeiter der AID. 12 | Vgl. Documents. Doctrines. Archéologie. Beaux-Arts. Ethnographie. Paris 1 [1929] 1991, Préface, S. VIII.

Der Körper als Archiv | 223

André Schaeffner (Leiter der musikwissenschaftlichen Abteilung im Trocadéro und Berater der AID bei zahlreichen Ausstellungen) hatte in »Documents« einen programmatischen Artikel »Über Musikinstrumente in einem ethnographischen Museum« publiziert, in dem er gegen die zu seiner Zeit übliche Isolation und Dekontextualisierung von Ausstellungsobjekten in Museen polemisierte.13 Für Schaeffner ist […] ein isoliertes Musikinstrument eine Abstraktion. Es muß begleitet sein. Photographische oder phonographische Dokumente müssen ihm ermöglichen, wieder zum Konkreten zurückzukehren: die Position des Musizierenden, der Ort, wo die Töne produziert werden usw. Es gibt jedoch noch eine ganze Skala von Aufführungen, die sich keinem anderen Instrument als dem (sterblichen) Körper des Musikers bedienen, die aus Gesten bestehen und die verschwänden, wenn nicht die Photographie ihre Verfahren auf bewahrte.14

So müsste neben einem ausgestellten Musikinstrument ein Foto des Spielers zeigen, wie er das Instrument in den Händen hält, also die Körpertechnik vorführen, die zum Spiel des Instruments gehört. Das zentrale Konzept dieser Art von Museologie ist nicht von ungefähr das Mauss’sche Konzept der Körpertechniken. Damit entstand ein Verständnis von Kunst, Museum und Archiv, das deren Objekte sinnlich anschaulich macht und auch den Betrachter körperlich involviert. Paul Rivet und Georges Henri Rivière hatten seit 1929 im Musée d’Ethnographie ein vergleichbares Programm entwickelt. Rivière war einst ein begeisterter Hörer von Marcel Mauss’ Vorlesungen. Hier fand er die Inspiration für »Musée-Laboratoire«, eine Ethnomuseologie, die Forschung und Dokumentation direkt mit Konservierung und Ausstellung verband. Dazu entwickelte er neue Präsentationsformen, die – ganz im Sinne von Mauss – die außereuropäischen Kulturen ausgehend von einem umfassenden Kulturbegriff anschaulich machten. Dieser Wunsch charakterisierte auch die AID. Die Ausstellungen der AID bedienten ein breites Publikum mit durchaus unterschiedlichen Interessen. Die Ausstellung »Zu Ehren Pavlovas« (1934) präsentierte – vom Schwanenkostüm bis zu den Spitzenschuhen oder die bis ins Detail rekonstruierte Loge der Künstlerin – im Wesentlichen Objekte der Kontemplation für ein Liebhaberpublikum. Ein weiteres Schwerpunktthema der AID-Ausstellungen war die Beziehung zwischen dem Tanz und den anderen Künsten – wie etwa in der Ausstellung »Der Tanz und die Bewegung« 13 | André Schaeffner: »Des instruments de musique dans un musée d’ethnographie«, in: Documents 5 (Oktober 1929), S. 252f. 14 | Ebd., S. 254. Vgl. auch Denis Hollier: »La valeur d’usage de l’impossible. Préface de la réédition de ›Document‹«, Paris 1991, S. XI.

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von 1933 bis 193415 über Tanz in Skulptur, Keramik und Malerei. Die Ausstellung über Marionetten (1934) bot vom Schattentheater Javas über volkstümliche Marionetten Europas bis zum modernen Marionettentheater einen Überblick über das Spektrum dieser Kunst. Begleitet von Spielvorführungen mit Marionetten trugen die AID zur Rekonstruktion volkstümlicher Kulturen bei. Marionetten gehören zu einer oralen Kultur, zu den Liedern oder Märchen, wie sie in den Dörfern erzählt wurden. Auch die Bilderausstellung zu Festkulturen von der Antike bis in die Moderne, die 1935 stattfand, behandelte ein Thema, das in dieser Zeit der Suche nach Gemeinschaft höchst aktuell war. Ein Paartanz (vermutlich Solange Schwarz und Claude Assenat) bei der Gala L A NUIT DE DANSES am 27. Juni 1935 in Paris

Foto: © Arax und Henry/Bibliothèque Musée de l’Opéra de Paris

Eine Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft: Conférences-Démonstrations Die AID fungierten als ›Schwamm‹ zeitgenössischer Tendenzen. Gerade darin lag ihr Beitrag zur Eroberung eines neuen diskursiven Feldes über Tanz und Bewegungskulturen. Ihre Aktivitäten umfassten weite Bereiche, in denen neuartige Foren der Dokumentation, Präsentation und Sammlung von Bewegungswissen entstanden. Das Spektrum reicht von choreographischen Wettbewerben über wissenschaftliche Konferenzen, Ausstellungen und Lecture Demonstrations bis zur Erhebung von Daten durch Umfragen. Ein Verdienst der AID war es nicht zuletzt, Menschen 15 | »Der Tanz und die Bewegung« war Bestandteil der Internationalen Fotographie-Ausstellung.

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aus ganz unterschiedlichen kulturellen Bereichen zusammenzubringen und neue Synergien herzustellen: Wissenschaftler, Künstler, Laien und Politiker trafen sich um das Thema Tanz. Indem sie das Wissen über Bewegungskulturen aus verschiedensten Perspektiven zusammentrugen und wissenschaftliche Theorien ganz unterschiedlicher Provenienz systematisch mit der Tanzpraxis, den Techniken und Erfahrungen der Tänzer und Choreographen konfrontierten, lieferten die AID einen originellen und bis heute aktuellen Beitrag zur Entwicklung neuer Wissensformen. Dabei verwischten sie die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft und stellten mit der Exklusivität der Künste auch die Kohärenz der wissenschaftlichen Disziplinen in Frage. Dieser ›wissenskünstlerische‹ Ansatz der AID zeigt sich insbesondere in den bereits erwähnten Conférences-Démonstrations, die sich nicht nur mit Tanz- und Bewegungstraditionen, sondern ebenso mit Theoriemodellen befassten. Vorträge und ›Plaudereien‹ über klassischen, exotischen und modernen Tanz16 in seinen ästhetischen, anthropologischen und soziologischen Implikationen, verbunden mit Tanz- und Musikbeispielen (die Choreographin Suria Margrite brachte neben ihren Tänzern sogar ein ganzes, vornehmlich aus Percussion-Instrumenten bestehendes Orchester mit) führten ein zahlreiches und gemischtes Publikum in die Rue Vital. Die Ethnologin Claire Holt war gerade von einer Forschungsreise nach Java zurückgekommen, als sie am 18. Juni 1936 ihren Vortrag hielt. Mme Claire Holt […] sprach über höfische, religiöse und theatrale Tänze, wie sie an den beiden großen königlichen Höfen der Insel bewahrt werden; zahlreiche Diapositive gaben diesem Vortrag einen außergewöhnlichen dokumentarischen Wert.17

Anhand von Anschauungsmaterial von der Antike bis in die Moderne wurde sowohl in der Zeitschrift wie in den Vorträgen Probleme der Tanzgeschichtsschreibung abgehandelt. Ein besonderes Interesse galt der Rolle des Tanzes in den antiken Kulten wie den christlichen und jüdischen Liturgien, die jeweils von Rekonstruktionen dieser Tänze begleitet wurden. Die Konferenzreihen über Tanztechniken, die ein breites Spektrum von Tanzstilen und Tanzrichtungen vom klassischen Tanz über verschiedenste Varianten des modernen Tanzes bis zum ›exotischen‹ 16 | Die Vorträge und Demonstrationen bezogen auch andere Bewegungskulturen wie Pantomime, Gymnastik oder Akrobatik inner- und außerhalb Europas mit ein. So gab es eine Konferenzpräsentation über MensendieckGymnastik (25. März 1935), über Körperkultur und Hygiene (14. März 1935) oder über Masken und Pantomimen (15. April 1935). 17 | Les Conférences des Archives Internationales de la Danse, Tribune de la Danse 3, 16, März 1935.

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Tanz präsentierten, waren besonders erfolgreich. »Der Erfolg übertraf alle Erwartungen und häufig verblieb ein enttäuschtes Publikum vor einem völlig überfüllten Saal«18, heißt es in der »Tribune de la Danse« vom März 1935. Ohne im Streit der Schulen und Methoden Position zu beziehen, bedienten die AID die Faszination des modernen Publikums für neue Bewegungsstile. Der Vortragszyklus über die »Techniken des Tanzes« präsentierte regelmäßig Körpertechniken ›fremder‹ Kulturen, wobei neben Tanzprofessionellen des jeweiligen Landes auch europäische Tänzer auftraten, die sich – wie beispielsweise Charlotte Bara oder die Sacharoffs – von außereuropäischen Tanztraditionen zu höchst eigenwilligen Interpretationen inspirieren ließen. Neben Flamenco zeigten die Vortragsdemonstrationen traditionelle Methoden populärer hinduistischer Tänze, von indonesischem über japanischen, balinesischen oder arabischen Tanz. Die AID bewegten sich in einem für die damalige Zeit typischen Terrain zwischen Exotismus und seriöser Aufarbeitung außereuropäischer Tanztraditionen. Ihre besondere Leistung lag darin, die verschiedenen Perspektiven auf Bewegungskulturen, wie sie in den 1930er Jahren zur Verfügung standen, systematisch zu verknüpfen. Dazu gehörte vor allem die Entwicklung neuer Organisations- und Inszenierungsformen dieses Wissens in experimentellen Anordnungen, die bisher kaum verbundene und kommunizierende Diskurse zusammen- und gegeneinander führten. So sind übergreifende Konzepte für die Sammlung, Erforschung und Präsentation von Bewegungskulturen entstanden, die für die derzeitige Umstrukturierung von Wissenskulturen interessante Anregungen bereithalten.

18 |

Ebd., S. 1.

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Literaturverzeichnis Baxmann, Inge (Hg.): Kulturgeschichte als Körperwissen: Die Archives Internationales de la Danse (1931–1952), München: Kieser 2007. Baxmann, Inge/Rousier, Claire/Veroli, Patrizia (Hg.): Les Archives Internationales de la Danse 1931–1952, Paris: Editions du CND: 2006. Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft: Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt a.M. 1988. Dua, Mikhail: Tacit Knowing: Michael Polanyi’s Exposition of Scientific Knowledge, München: Utz 2004. Hollier, Denis: »Préface: La valeur d’usage de l’impossible«, in: Documents. Doctrines. Archéologie. Beaux-Arts. Ethnographie 1 [1929] 1991. Les AID, undatierte und unpaginierte Broschüre der Bibliothèque Musée de l’Opéra (BMO Sign. Pro. 6.1). Les Conférences des Archives Internationales de la Danse, Tribune de la Danse 3, 16 (March 1935). Mauss, Marcel: »Techniques du corps«, in: Ders.: Sociologie et anthropologie, précédé d’une Introduction à l’oeuvre de Marcel Mauss par Claude Lévi-Strauss, Paris: Presses universitaires de France 1950, S. 365–388. Polanyi, Michael: The Tacit Dimension, New York: Anchor 1967. Revue des Archives Internationales de la Danse, Paris, Nr. 1/1932. Schaeffner, André: »Des instruments de musique dans une musée d’ethnographie«, in: Documents 5 (Oktober 1929), S. 248–254. Smoular, Alfred: »La Danse sacrée«, in: Revue des AID (Juli 1934), S. 86. Tugal, Pierre: »La Position de la Danse dans la Sociologie«, Manuskript AID.

Rezeption und Partizipation

Besucher-Check-in beim S CHWARZMARKT FÜR NÜTZLICHES WISSEN UND NICHT-WISSEN von Hannah Hurtzig, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006, Foto: Thomas Aurin

Für ein partizipatives Theater: Berühren statt Fummeln Felix Ruckert

Das heutige Verhältnis zwischen Akteuren und Rezipienten im Tanz erinnert an die Lieblosigkeit von Szenen im Swinger-Club. Eine ängstliche und bisweilen alberne Mechanik der Begegnung, die der Illusion von Freiheit huldigt. Technisches Spielzeug ohne Ende, das mangelnde Kreativität ersetzen soll. Auf kommendes Gefühl, das umgehend durch Humor relativiert wird. Körperlich lässt man sich gehen, schreckt weder vor Schmutz, Schmerz noch Schrei zurück, doch das Herz kann und will nicht dabei sein. Was ist das? Auf zeitgenössischen Bühnen wird viel gefickt und geshoppt, aber wenig geliebt und geschenkt. Kommunikationstheorien übertönen eine eigentümliche Sprachlosigkeit. Apropos Shopping: Das erfolgreiche Tanzprodukt erlaubt größtmögliche Projektion. Es erzählt viel und will doch nichts bedeuten. Es simuliert veränderte Wahrnehmung, anstatt diese tatsächlich zu verändern. Es lässt uns die Wahl zwischen Belanglosigkeiten. Es verkauft uns Variation als Innovation. Wie letztlich alle anderen überflüssigen Konsumprodukte schafft es lediglich die Illusion von Erneuerung und Veränderung – ohne tatsächliche Transformation. Wie jeder andere kreative Impuls wird auch die rohe, subversive und heilende Kraft des Tanzes vom Markt zerstört. Ein System von Akademien und Festivals, eine Allianz aus Medien, Theoretikern und Veranstaltern filtert die archaische Lust an der Bewegung und destilliert daraus sterile Artefakte, um die Bedürfnisse einer kapriziösen Elite von Tanzbetrachtern zu befriedigen. Konsumgesellschaft. Aber so sehr wir Tänzer auch das Spielerische, Irrationale und Flüchtige unserer Arbeit schätzen, versuchen wir doch auch, marktfähige Produkte herzustellen und so teuer wie möglich zu verkaufen! Auch wir sind geneigt, zu glauben, dass Massenkompatibilität und Verkaufszahlen etwas über Qualität

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aussagen und ergeben uns so doch den Anforderungen des kollektiven Blicks. Wir liefern in gewünschter Qualität und Farbe. Theater sind lichtlose schwarze ›Nicht-Räume‹, dazu angelegt, die differenzierte Alltagswahrnehmung zu fokussieren. Es sind künstliche Nächte, in denen wir unter Einsatz komplizierter Bühnentechnik den Blick auf Wesentliches zu lenken versuchen. Mit der gleichen Verzweiflung arbeiten die Raumfahrttechnik und die fortgeschrittene Physik unter Zuhilfenahme von aufwendiger Technologie daran, die Unendlichkeit des Alls oder die Relativität von Zeit begreiflich zu machen. Würde der gleiche Aufwand betrieben, um das Unbewusste, die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit, unsere betriebseigene Software zu erforschen: wie viel befriedigender könnten dann die Ergebnisse sein. Doch solange nicht Verunsicherung und Provokation gefördert werden, sondern Konzept und Konsens … Als vor über 100 Jahren die berühmte Lokomotive auf das erste Kinopublikum zustampfte, liefen unsere Großeltern schreiend aus dem Saal. Trotz der technischen Grobheit der Bilder und der Offensichtlichkeit der Illusion konnten die Zuschauer ihrer Wahrnehmung nicht trauen und ihre unmittelbare physische Reaktion nicht unterdrücken. Je ausgefeilter die Kinotechnik wurde, umso differenzierter wurde auch unser Empfinden. Heute können wir sehr wohl zwischen Sein und Schein unterscheiden und uns im Kino mit Lustgewinn harten Gefühlen wie Angst, Ekel, Mitleid oder Trauer aussetzen. Unsere erarbeitete Sensibilität als Rezipient spielt dabei die entscheidende Rolle. Sind wir mit den eigenen Gefühlen vertraut, nehmen wir diese wahr. Sind wir es gewohnt, sie auszudrücken, macht uns das für Authentizität empfänglich. Der Erfolg des Kinos, aber auch sein Unvermögen, liegt in der Immaterialität der Bilder: Es ist nur Licht. Da jede kinästhetische Erfahrung von vornherein ausgeschlossen ist, bleibt der gefühlsbetonteste unserer Wahrnehmungskanäle blockiert. Wäre es anders, könnten wir Tänzer reich werden durch den Verkauf von Bewegung selbst, unserer Kernkompetenz. Aber ein Trägermedium zur Konservierung kinematischer Erfahrung ist bisher nicht erfunden. Wie wäre es, wenn man sich das Gefühl einer dreifachen Pirouette, ein Entspannen am Boden per Walkman einspielen könnte? Der Film erlaubt es den Kinomachern, ihre grausamsten und hemmungslosesten Phantasien zu inszenieren, ohne je die emotionale Sicherheit ihrer Zuschauer ernsthaft zu gefährden. Unser heutiges, differenziertes Sehen lässt die Bilder nur noch bis zum Körper durchdringen, wenn wir uns bewusst dafür entscheiden, nicht zu reflektieren. Dagegen steht aber die allgemein geübte Kontrolle der Gefühle. Während unser Auge also überreizt ist und entsprechend abgehärtet, sind unser körperliches Empfinden und unsere Haut eher wehleidig. Im Umgang mit körperlicher Präsenz, Nähe, Intimität sind wir weitgehend ungeschult

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– dies lernen wir nur in privater Improvisation. Intensive physische Erfahrungen wie Hunger, Kälte, Schmerz oder Todesangst sind nicht selbstverständlich, wir müssen sie bewusst herbeiführen, um uns ihnen anzunähern. Den Wagemutigen hat dies einen weiteren Markt eröffnet, die Branche der Extremsportarten und Abenteuerurlaube. Uns, den Vorsichtigen, denen das Kino zu schal, Bungee-Jumping aber zu gefährlich ist, bleibt der Tanz als Spielwiese emotionaler Körperlichkeit. Das Bühnentanzpublikum, die Betrachter unserer Aktivitäten, sind nun eine ganz besondere, glücklicherweise recht seltene Spezies. Es sucht die Nähe zur Körperlichkeit, die Leibhaftigkeit der Tänzer, hält seine Gefühle aber lieber im Verborgenen. Fummler, Spanner im Dunkeln, die profitieren möchten, ohne sich selbst zu engagieren. Visuell abgebrüht und schnell gelangweilt, sind sie dennoch rasch verunsichert oder fühlen sich gar betrogen: durch die Möglichkeit des Unbequemen, der Peinlichkeit authentischer Erfahrung oder der schwarzen Löcher realen Empfindens. Schwierige Kunden. Der zeitgenössische Choreograph soll Angst erzeugen, ohne zu erschrecken, Scham erzeugen, ohne zu beschämen. Der Tänzer muss die Beherrschung von Gefühlen zeigen, nicht die Gefühle selbst. Dieser Spagat zwischen erwünschtem Nervenkitzel und benötigtem Komfort erzeugt viel Heuchelei. Oft bleiben nur zwei Möglichkeiten: Die so genannten Konzepttänzer setzen auf Verführung durch Verweigerung. Der ›postmoderne Tänzer‹ ist hervorragend ausgebildet, tanzt aber schlampig. Er sieht gut aus, ist aber hässlich angezogen. Er ist sexy, aber nie sexuell. Nacktheit geht immer, muss aber konzeptuell verbrämt werden. Die ›Tanztänzer‹ verlassen sich stattdessen auf die gute alte Formel des heroisierten Schmerzes, der Selbstverletzung, der verzweifelten Virtuosität, des Leidens an der Form: aufgestaute Emotion, die sich auf der Bühne explosionsartig in Präsenz verwandelt. Tapferkeit und Opferbereitschaft sind verlässliche Ware. Das funktioniert vor allem für die mächtigen Kompanien. Sie können ihre Tänzer für deren Selbstmissbrauch mit genügend Ruhm und finanzieller Sicherheit kompensieren. Schön anzusehen. Leicht beschämt wird applaudiert. In dieser Orgie von Simulation bzw. der Simulation von Orgie werden manche Theater immer lauter und zynischer. Man versucht, den Absturz in die Belanglosigkeit zu verhindern, während das Publikum den Saal verlässt – nicht enttäuscht Türen schlagend, sondern leise und in der Erkenntnis, dass die spannenden Dinge sowieso anderswo stattfinden. In den Subkulturen von Körperarbeit und Körperspiel blühen Modelle, die sich der Auf hebung von Trennungen widmen: Tanz mischt sich mit Therapie, Schauspiel befruchtet Psychodrama, Kampf künste werden zu Meditation, Kuscheln wird zur Party. Tantra-Zirkel konzipieren Orgien, Fetisch-Clubs feiern permanenten Karneval. Die schwul-lesbische Szene erfindet mannigfaltige sexuelle Identitäten jenseits von Mann und Frau.

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Vielfältige Verbindungen. Überall Spüren und Schauen zugleich. Partizipation statt Rezeption. Auch im Mainstream mehren sich die Zweifel an der Befriedung, die durch passiven Konsum erreicht werden kann. Das Internet als partizipatives, kommunizierendes Medium verdrängt das Fernsehen. Die Sportplätze und Clubs sind voll. Der Mensch will selber spielen. Tango, Salsa, Hip-Hop und Contact Improvisation werden zu neuen Volkstänzen und Feierabendritualen. Da der Körper als Produktionsmittel weitgehend durch Maschinenkraft und Technologien ersetzt ist, gewinnt er als Ausdrucksmittel an Bedeutung. Er spielt bei dieser Neuorientierung die zentrale Rolle, wird zum Statement, zum Projekt. Je nach Geschmack, Geldbeutel, Sozialisation und Grad der Neurose wird er verschönert und gestylt, getunt und dekoriert, trainiert und geschult, belastet und ausgetestet, analysiert und reflektiert, gepflegt und geheilt. Natürlich wird er auch zum Produkt geformt, zum Verkaufs- und Werbemittel in eigener Sache. Und doch geht es um mehr: Die Kunden der wuchernden Tanz-Räume, FitnessStudios, Yoga-Paläste, Tattoo-Parlors, Wellness-Oasen, Botox-Kliniken, Frisiersalons und anderer Spielzimmer haben eines gemeinsam: den Wunsch nach Schönheit, Wohlbefinden und Gemeinschaft, danach, sich selbst und Andere zu spüren. Seit über zehn Jahren versuche ich nun, meinem Publikum einen Geschmack, einen Geruch, ein Gespür von Tanz zu geben. Ich ließ es einzeln von Solo-Tänzern verunsichern ( Hautnah, 1995), ich animierte es zum Selbertanzen ( Schwartz, 1997), ich ließ es organisiert beküssen und befummeln ( Ring, 1999). Ich massierte es öffentlich (deluxe joy pilot, 2000), ließ es fesseln und auspeitschen ( Secret Service, 2002) und verführte es zu kollektivem Kuscheln ( Love Zoo, 2003). Ich lockte es in Sex- und Tantraworkshops (xplore, 2004) und verpackte es in Plastik und Eisen ( Placebo Treatment, 2005). Zuletzt ließ ich es verkleiden, säubern und instruieren und machte es einem größenwahnsinnigen Herrscher (mir selbst!) untertan ( United Kingdom, 2006).1

1 | United Kingdom ist ein interaktives Aufführungsprojekt mit verschiedenen Partizipationsstadien. Ausgehend von der Idee der Schaffung einer utopischen Gesellschaft kommen eine Reihe von Gesetzen und Regeln zur Anwendung. Die Teilnehmer bekommen die Möglichkeit, verschiedene Stadien von Herrschaft und Unterwerfung im Rahmen eines inszenierten Königreichs zu erfahren. Die Hauptaufgabe des Königreichs ist die Ausarbeitung von Spielstrukturen, die die authentische Erfahrung von Gefühlen wie Angst, Schmerz, Wut, Aggression, Trauer und Schwäche, aber auch Vertrauen, Kraft, Güte, Freude, Verbindung und Hingabe ermöglichen. Diese Spielstrukturen können Choreographie, Szenarium, Rollenspiel, Ritual oder Drama sein. Vgl. http://www.unitedkingdom-berlin.de vom 12. Mai 2007.

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Gast und Performer des Projektes UNITED K INGDOM von Felix Ruckert im Tacheles, Berlin 2006

Foto: Philipp M. Wittulsky

All diese teils grandiosen, teils lächerlichen Projekte hatte sich das Publikum selbst zuzuschreiben. Es zeigte eine ungeahnte Bereitschaft, sich auszuliefern, und eine erstaunliche Lust an solcher Hingabe. Für die Aussicht, eine neue Erfahrung machen zu können, war es in der Lage, Schamgrenzen zu überwinden und Ängste abzulegen. All die genannten Ungeheuerlichkeiten – bisher unvorstellbar im Theaterkontext – entstanden aus Zufalls-Kollaborationen (d.h. aus einem Zusammenwirken von Zufällen, nicht aus zufälligen Kollaborationen), an denen die wagemutigsten und neugierigsten Teilnehmer meiner Experimente und Versuchsanordnungen beteiligt waren. In der Reflexion all dieser außergewöhnlichen Ereignisse fielen immer wieder drei Begriffe: Präsenz, Durchlässigkeit, Transformation. Wenn der französische Philosoph Jean Baudrillard recht hat und die Kunst die Religion ersetzt hat (alle praktizieren sie, aber keiner glaubt daran!), dann handelt es sich bei diesen Begrifflichkeiten um die heilige Dreifaltigkeit. Wie die guten alten Wunder, muss man diese Phänomene allerdings erleben, um sie zu begreifen. Und wenn auch die Neuroforschung recht hat, muss man – vereinfacht gesagt – handeln, um wahrzunehmen. Wir schritten zur Tat. Die heftigen Reaktionen inspirierten mich dazu, Spielstrukturen und Kompositionswerkzeuge zu entwickeln, um damit auf die Herausforderungen des Unvorhergesehenen flexibler antworten zu können. Dieses Wissen ließ sich auch

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auf konventionellen Bühnen hervorragend anwenden. Ich begann, die Ballettwelt zu unterwandern, die sich plötzlich für weniger traditionelle Formen von Bühnentanz ( Tools and Tricks, 2003; Venus in Hanoi, 2004; Tokyo-Tools, 2005) aufgeschlossen zeigte. Die tanztechnische Virtuosität und der intelligente Umgang mit Raum und Zeit, die ich in solchen Projekten trainierte, bewährten sich auch in der direkten physischen Interaktion mit dem Publikum. D.h. tänzerische Strategien erwiesen sich auch dann als erfolgreich, wenn der Körper des Zuschauers bespielt werden sollte. Gast und Performer des Projektes UNITED K INGDOM von Felix Ruckert im Tacheles, Berlin 2006

Foto: Philipp M. Wittulsky

Offenbar gelang es uns, die von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte in ihrer »Ästhetik des Performativen« 2 postulierten Schwellenzustände zu erzeugen. Diese begannen nicht nur unser Publikum, sondern auch die Tänzer zu verändern. Sie begannen empathische, psychologische und therapeutische Kompetenzen zu entwickeln. Das war jedoch keine geplante Entwicklung, sondern ein organisches Wachsen: eher Mutation als Konstruktion, eher Lawine als Schneekanone. Jedes weitere Projekt entstand aus den Fragen, die das vorhergehende aufwarf. Jedes neue Wagnis im Umgang mit dem Publikum wurde von diesem 2 | Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

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initiiert, verlangt, gar provoziert. So verflüssigten sich die Grenzen zwischen Agierenden und Reagierenden bereits beim Konzipieren neuer Projekte. Die Macht der Wirkung des Prinzips Partizipation begann uns langsam klar zu werden. Die vierte Wand brach zusammen. Diese Eigendynamik meiner Projekte überforderte mich oft selbst. Und auch ich veränderte mich. Es scheint immer schwieriger, die Trennung von Kunst und Leben, Arbeit und Spiel, privat und öffentlich aufrechtzuerhalten. Ist dies die ersehnte Wiederverzauberung der Welt oder schon sanfter Wahnsinn? Partizipatives Theater lässt alle Fragen nach Bedeutung oder Inhalt hinter sich. Es steht für nichts, es agiert. Es ist reine Bewegung. Es ist die Choreographie des Augenblicks und der Ortlosigkeit. Es ist gleichzeitig und überall, da es Raum und Zeit auflöst. Es besteht aus Folgen von Impulsen. Es wuchert. Man nennt es Flow, Ekstase, Meditation, Communitas, Liminalität. Wie all diese Phänomene kann es weit mehr als Unterhaltung: Es verändert Leben. Es kennt keine Zuschauer, nur Teilhabende. Es entsteht, wenn deren Wille und Bereitschaft da ist, und es verschwindet, wenn deren Aufmerksamkeit nachlässt. Es kann nicht erzwungen, es kann nur geübt werden. Partizipation ist viel mehr als nur eine marginale Sonderform von Theater, eine anrüchige ›No-Go-Area‹ in der Tanzlandschaft. Sie ist ein gesellschaftliches Verlangen. Die Auf hebung von Trennungen, die Auflösung von Gegensätzen und das Annehmen von Konflikten sind Teile eines geschichtlichen Prozesses von individueller Emanzipation, Demokratisierung und Enthierarchisierung. Partizipation ist die grundlegende Strategie auf der Suche nach Erneuerung, Veränderung und Verbindung.

Literaturverzeichnis Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

Internetquellen www.unitedkingdom-berlin.de.

Auf der Schwelle Ästhetische Erfahrung in Aufführungen Erika Fischer-Lichte

Seit den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts sind Entwicklungen zu beobachten, die das überlieferte System der Künste und die darauf bezogenen Begrifflichkeiten grundsätzlich in Frage stellen. Sie haben zu einer permanenten Überschreitung der Grenzen zwischen den Künsten sowie zwischen Kunst und Nicht-Kunst geführt, wie sie zum Teil bereits die historischen Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts proklamiert und erprobt hatten. Sie haben damit zugleich auch zu einer Erosion des Werkbegriffs beigetragen. An seine Stelle ist zunehmend der Begriff des Ereignisses getreten. Diese Schwerpunktverlagerung hat für die ästhetische Theorie weitreichende Konsequenzen. Denn während Werke in der Regel gedeutet und verstanden werden wollen, sind Ereignisse wahrzunehmen und zu erfahren. Daher ist es auch nur folgerichtig, dass seit den 1970er Jahren der Begriff der ästhetischen Erfahrung wieder an Prominenz gewonnen hat. Nun ist es eine Eigenart von Performing Arts, dass sich ihren Aufführungen ein Werkcharakter kaum zusprechen lässt, dass sie sich vielmehr immer ereignen. Diese Eigenart wird von Aufführungen seit den 1960er Jahren geradezu programmatisch hervorgehoben und ausgestellt. In ihrem Verlauf brechen immer wieder herkömmliche Dichotomien wie u.a. die von Akteur und Zuschauer, Subjekt und Objekt, Kunst und Wirklichkeit, Ästhetisches und Politisches, Ästhetisches und Ethisches zusammen. Es gibt nicht mehr länger ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Damit öffnet sich der Raum zwischen den Gegensätzen, ihr Zwischen-Raum. Das Zwischen avanciert dergestalt zu einer bevorzugten Kategorie. Die Grenze, welche das eine vom anderen trennt, wird zur Schwelle, die beide miteinander verbindet.1 1 | Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

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Insofern lässt sich ästhetische Erfahrung im Theater als Schwellenerfahrung beschreiben. Der Begriff der Schwellenerfahrung – oder auch der Liminalität –, der hier zentral wird, stammt nun weder aus der Kunsttheorie, noch aus der philosophischen Ästhetik. Gleichwohl handelt es sich nicht um einen neuen Begriff. Er wurde in der Ritualforschung entwickelt und vom Anthropologen Victor Turner unter Rekurs auf die Arbeiten des Ethnologen Arnold van Gennep geprägt. Dieser hatte in seiner Studie »Les Rites de Passage« (1909) an einer Fülle ethnologischen Materials dargelegt, dass Rituale mit einer im höchsten Maße symbolisch aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind. Turner hat den Zustand, der sich in der Schwellenphase herstellt, als Zustand der Liminalität (von lat. limen – die Schwelle) bezeichnet und genauer bestimmt als Zustand einer labilen Zwischenexistenz »betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial«.2 Er führt aus, dass und wie die Schwellenphase Frei- und Spielräume für Experimente und Innovationen eröffnet, insofern »in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted«.3 Nach Turner betreffen die Veränderungen, zu denen die Schwellenphase führt, in der Regel den gesellschaftlichen Status derer, die sich dem Ritual unterziehen, sowie die gesamte Gemeinschaft. Wenn ich ästhetische Erfahrung, welche Aufführungen des Tanz-, Schauspiel- und Musiktheaters sowie der Performance-Kunst ermöglichen, als Schwellenerfahrung bezeichne, so folgt daraus nicht, dass ich künstlerische Aufführungen mit rituellen gleichsetze. Auch wenn künstlerische Aufführungen (wie z.B. von den bildenden Künstlern Hermann Nitsch und Joseph Beuys, den Theaterregisseuren Einar Schleef und Theodoros Terzopoulos oder den Choreographen Saburo Teshigawara und Felix Ruckert) derartige Abgrenzungen immer wieder in Frage stellen und zu unterlaufen such(t)en, indem sie die in der Tat auffälligen Affinitäten zwischen beiden Genres von Aufführungen hervorheben, lassen sich doch zumindest zwei Differenzkriterien formulieren: Während der im Ritual vollzogene Statusund Identitätswandel irreversibel ist und von der Gemeinschaft anerkannt werden muss, sind die Transformationen, die Zuschauer während einer künstlerischen Aufführung durchlaufen mögen, in der Regel nur vorübergehend und bedürfen keiner gesellschaftlichen Akzeptanz. Es ist nicht zu übersehen, dass in vielen künstlerischen Aufführungen der letzten 40 Jahre Verfahren entwickelt und eingesetzt werden, die in besonderer Weise jene Frei- und Spielräume schaffen, die Zuschauer in einen Zustand der Liminalität versetzen können. Nachfolgend seien 2 | Victor Turner: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London: Routledge & Kegan Paul 1969, S. 95. 3 | Victor Turner: »Variations on a Theme of Liminality«, in: Sally F. Moore/Barbara C. Myerhoff (Hg.): Secular Ritual, Assen: Van Gorcum 1977, S. 40.

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beispielhaft kurz drei solcher Verfahren skizziert und diskutiert: (1) der Rollenwechsel zwischen Akteuren und Zuschauern; (2) eine spezifische Verwendung von Rhythmus und (3) das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen Phänomenalität und Zeichenhaftigkeit.

Rollenwechsel zwischen Akteuren und Zuschauern Aufgrund der leiblichen Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern, welche die Aufführung zuallererst konstituiert, ist die Möglichkeit zum Rollenwechsel prinzipiell immer gegeben. Sie wurde vom Choreographen Felix Ruckert in seinem Stück Secret Service (2002) auf höchst ungewöhnliche Weise genutzt. Der Titel verweist in seiner Doppeldeutigkeit einerseits auf die geheimen Dienste, wie sie in der Prostitution geleistet werden, andererseits auf den Geheimdienst, der noch die intimsten Handlungen überwacht oder auch zu Folterpraktiken greift. Das Stück bestand aus zwei Teilen. Vor beiden Teilen wurden die Zuschauer/Teilnehmer von einer Tänzerin mit den Regeln vertraut gemacht. Während des gesamten Verlaufs der Aufführung waren ihnen die Augen verbunden. Allein die Tänzer vermochten zu schauen. Umgekehrt wurden die Zuschauer, die nicht mehr zu schauen vermochten, zu Akteuren. Sie konnten dabei zu jedem Zeitpunkt der Aufführung den Tänzern ein Zeichen geben, wenn sie abbrechen wollten. Der Besucher zog Schuhe und Strümpfe aus, die Tänzerin legte ihm eine Augenbinde an und führte ihn an ihrer Hand in den Aufführungsraum. Der Theaterwissenschaftler Peter Boenisch beschreibt seine Erfahrung dieser Aufführung mit folgenden Worten: Nach einer Weile berührt da auf einmal eine Hand meinen Oberkörper, schubst mich hinein in den Raum, hebt meine Hand hoch und läßt sie wieder los. […] An meiner Hand geführt renne ich mit im Kreis. Plötzlich wird mein Körper geschultert und wirbelt durch den Raum. Und schon liege ich am Boden, wo Füße meinen Körper anschubsen, sich gegen mich drücken. Im nächsten Moment liegt jemand auf mir und rollt sich langsam über meinem Körper ab, packt mich an den Zehen und kitzelt mich an der Sohle. Der Zuschauer wird Teil einer präzisen Choreographie, der aber niemand außer den Akteuren selbst zusehen kann. […] Wer ist hier Subjekt, wer Objekt? Die Trennung macht keinen Sinn, denn auch ich taste ja nach einem anderen Körper, schubse im Takt der Technomusik, stoße, agiere. Und ist dieser andere überhaupt einer der involvierten Tänzer? Oder ist es ein anderer Zuschauer? Ist er überhaupt einer? Recht viel mehr als die letzte Frage kann man kaum erahnen. 4 4 | Peter Boenisch, »ElectrONIC Bodies, Corpo-Realities in Contemporary Dance«, unveröffentlichtes Manuskript 2002.

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Die Zuschauer vollzogen hier zweifellos einen Rollenwechsel – allerdings unter fundamental anderen Bedingungen als bei der so genannten Zuschauerpartizipation, wie sie in den 1960er Jahren das Living Theatre oder die Performance Group eingeführt hatten. Sie verzichteten auf ihren Gesichtssinn. Das bedeutete nicht nur, dass sie sich nun auf ihre anderen Sinne verlassen mussten, auf das Gehör, den Geruchssinn und vor allem den Tastsinn, sondern auch auf die Akteure, die sehen und so die Aktion kontrollieren konnten. Damit war für die ›Zuschauer‹ eine Situation einer geradezu extremen Liminalität geschaffen, die eine unerhörte Herausforderung für sie darstellte. Zum einen mussten sie sich völlig unbekannten Akteuren anvertrauen, sich ihnen buchstäblich mit Haut und Haar ausliefern, ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen würde. Sie wurden auf diese Weise in eine Art von Passivität gestoßen, welche die von den Vertretern der historischen Avantgardebewegungen so wortreich beklagte Passivität der Zuschauer im Guckkastentheater mit Rampe bei Weitem überstieg. Zum anderen aber wurden sie ermutigt, ja herausgefordert, aktiv auf den Verlauf der Aufführung durch ihren Tastsinn, durch Berührung Einfluss zu nehmen. Durch Tasten, Schubsen, Treten, Streicheln, Sich-Anschmiegen u.a. gaben sie der Aufführung immer neue Wendungen. Ihre Reaktionen konnten von den Akteuren weder geplant noch vorausgesehen noch kontrolliert werden, auch wenn die Tänzer sehen und so den Verlauf der Aufführung überblicken und in diesem Sinne überwachen konnten. P LACEBO TREATMENT von Felix Ruckert

Foto: Philipp M. Wittulsky

Die ›Zuschauer/Besucher‹ erfuhren in dieser Aufführung wie sonst kaum je in anderen Aufführungen, dass sie den Verlauf der Aufführung

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körperlich zu beeinflussen vermochten, ohne doch über sie verfügen zu können. Sie erfuhren sich als Subjekte, die sowohl vom Verlauf der Aufführung bestimmt werden als auch ihn mitzubestimmen vermögen – also weder als völlig autonome Subjekte noch auch als völlig fremdbestimmt: als Subjekt und Objekt zugleich. Es war diese Erfahrung, welche sie in einen Zustand der Liminalität, eines kaum radikaler denkbaren ›betwixt and between‹ versetzte – einen Zustand, den viele Zuschauer ihren eigenen, im Internet nachzulesenden Aussagen zufolge als ausgesprochen lustvoll empfanden.

Rhythmus Ein anderes Verfahren, das darauf zielt, den Zuschauer in einen Schwellenzustand zu versetzen, besteht in spezifischen Verwendungen des Rhythmus. Anders als etwa Takt und Metrum stellt Rhythmus ein Ordnungsprinzip dar, das nicht auf Gleichmaß, sondern auf Regelmaß zielt. Es handelt sich um ein dynamisches Prinzip, in dem fortdauernd bestimmte Verhältnisse her- und dargestellt werden. Er entsteht durch Wiederholung und Abweichung vom Wiederholten, durch Puls und Bruch. Wiederholung allein ergäbe keinen Rhythmus. Rhythmus lässt sich insofern als ein Ordnungsprinzip beschreiben, das seine permanente Transformation voraussetzt und in seinem Wirken vorantreibt. Dies Prinzip ist bereits mit dem menschlichen Körper gesetzt: Herzschlag, Blutkreislauf und Atmung folgen ihrem eigenen Rhythmus, Bewegungen, die wir mit unserem Körper beim Gehen, Laufen, Tanzen, Schwimmen, Schreiben mit einem Stift u.a. vollziehen, führen wir rhythmisch aus und bringen beim Sprechen, Singen, Lachen und Weinen Laute rhythmisch hervor. Auch die Bewegungen, die in unserem Körper erzeugt werden, ohne dass wir sie bewusst wahrzunehmen vermöchten, werden rhythmisch vollzogen. Der menschliche Körper ist insofern rhythmisch gestimmt. Wir sind daher auch in der Lage, Rhythmus sowohl als ein äußeres als auch als ein inneres Prinzip wahrzunehmen. Als energetisches Prinzip vermag der Rhythmus allerdings erst dann seine Wirkungen zu entfalten, wenn wir ihn – wie unsere eigenen leiblichen Rhythmen – leiblich spüren, wenn wir uns in ihn ›einschwingen‹. In einer Aufführung treffen immer mehrere rhythmische Systeme zusammen – das von der Choreographie oder der Inszenierung gesetzte und die der verschiedenen Zuschauer. Wenn es gelingt, die Zuschauer in den Rhythmus der Choreographie bzw. der Inszenierung hineinzuziehen, so dass sie sich in den Rhythmus der Bewegungen der Akteure ›einschwingen‹ und so ›außer sich‹ geraten, werden sie nachhaltig in einen Schwellenzustand versetzt. Die Akteure erzeugen in einer Weise Energie, dass sie für die Zuschauer spürbar im Raum zirkuliert, sie

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affiziert und energetisiert, so dass sie selbst Energie hervorbringen und so transformiert werden. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass jeder Zuschauer rhythmisch anders gestimmt ist. Für die Wechselwirkungen zwischen Intentionalität und Emergenz, als die sich die Aufführung vollzieht, ist in solchen Fällen besonders relevant, wie die rhythmische Abstimmung erfolgt: Sie vollzieht sich als wechselseitiges ›Einschwingen‹ in den Rhythmus anderer und in diesem Sinn durch unmittelbares wechselseitiges körperliches Einwirken von Akteuren und Zuschauern.

Oszillation der Wahrnehmung zwischen Phänomenalität und Zeichenhaftigkeit Ein weiteres Verfahren, das die Zuschauer in einen Schwellenzustand versetzen soll, besteht darin, sie dazu zu veranlassen, ihre Aufmerksamkeit zwischen der phänomenalen Leiblichkeit des Akteurs und der von ihm dargestellten Figur hin- und hergleiten zu lassen. Um dies zu erreichen, werden häufig die einzelnen verwendeten theatralen Mittel aus übergeordneten Kontexten herausgelöst. Sie ordnen sich nicht länger einer Handlungs- oder Psychologik unter, sondern suchen sich aus jeder Art von kausaler Verkettung zu befreien. Spezifischen rhythmischen, geometrischen und anderen Mustern folgend oder gar durch Zufallsoperationen ermittelt, tauchen die Elemente im Raum auf. Sie stabilisieren sich für eine Weile von je unterschiedlicher Dauer, teilweise bei ständiger Transformation in der Bewegung, und verschwinden irgendwann wieder, ohne dass sich, wie häufig in Choreographien William Forsythes, für Erscheinen und Verschwinden eine bestimmte Begründung angeben ließe. Es scheint sich bei den jeweils auftauchenden Elementen geradezu um emergente Phänomene zu handeln. Ihre Emergenz hat nun zur Folge, dass die solcherart isoliert auftauchenden Elemente in gewisser Weise als desemantisiert erscheinen. Sie werden in ihrer ganz besonderen Materialität wahrgenommen, nicht als Träger von Bedeutungen. Gleichwohl kann von einer Desemantisierung nicht die Rede sein. Zwar verweisen derartige Bewegungen und Gesten nicht auf eine bestimmte Handlung, Emotion oder Befindlichkeit einer dramatischen Figur; sie sind dennoch nicht desemantisiert, sondern bedeuten vielmehr das, was sie vollziehen. Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heißt also, sie als selbstbezügliche wahrzunehmen, sie in ihrem phänomenalen Sinne wahrzunehmen. Wenn der Zuschauer den Leib des Akteurs als diesen besonderen Leib wahrnimmt, so nimmt er ihn als etwas wahr. Es handelt sich nicht um einen unspezifischen Reiz, sondern um die Wahrnehmung von etwas als etwas. Die Körper und die Dinge bedeuten das, was sie sind bzw. als was

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sie in Erscheinung treten. Etwas als etwas wahrzunehmen heißt also, es als bedeutend wahrzunehmen. In der Selbstreferentialität fallen Materialität, Signifikant und Signifikat zusammen. Der Leib und das Ding, die als etwas wahrgenommen werden, bedeuten das, als was sie in Erscheinung treten. Deswegen ist es ratsam, zwischen dem phänomenalen Leib des Akteurs und seinem semiotischen Körper zu unterscheiden. Während der phänomenale Leib in seiner Materialität wahrgenommen wird als das, als was er in Erscheinung tritt, wird der semiotische Körper als Zeichen für etwas anderes wahrgenommen – für eine dramatische Figur oder eine andere symbolische Ordnung. Ein Verfahren, das seit den 1970er Jahren häufig angewendet wird, um die Zuschauer in einen liminalen Zustand zu versetzen, besteht nun darin, ihre Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen dem phänomenalen Leib des Akteurs (Tänzers, Schauspielers, Sängers, Performers) und seinem semiotischen Körper in einer Weise zu lenken, dass er sie nicht mehr zur Deckung bringen kann. Bei einer Aufführung eines klassischen Balletts oder einer Inszenierung, die den Prinzipien des psychologischen Realismus folgt, ist der Zuschauer überwiegend in der Lage, die Körper der Akteure in ihrer jeweiligen Eigenart sowie ihre unterschiedlichen Bewegungen auf die erzählte Geschichte und die Situationen, Funktionen, Charaktere und Psychologien der dargestellten Figuren zu beziehen und sie daher als Zeichen wahrzunehmen, die es in diesen Hinsichten zu deuten gilt. Gleichwohl wird auch in diesen Fällen seine Aufmerksamkeit von Zeit zu Zeit auf den phänomenalen Leib des Akteurs gelenkt werden, auf sein leibliches In-der-Welt-Sein, das niemals vollkommen in der dargestellten Figur oder einer anderen zu repräsentierenden symbolischen Ordnung aufgehen wird. Dies gilt ganz besonders für jede Art von Tanztheater – auch für das klassische Ballett. Denn es ist gerade die Virtuosität, mit der hier Bewegungen vollzogen werden, welche die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den phänomenalen Leib des Tänzers lenkt. Insofern wird auch hier die Aufmerksamkeit des Zuschauers von Zeit zu Zeit zwischen der Wahrnehmung des Akteurs als eines Zeichens für eine Figur oder einer anderen symbolischen Ordnung und seiner Wahrnehmung als phänomenalem Leib, der auf nichts anderes als sich selbst und die Eigenart seines In-Erscheinung-Tretens verweist, hin- und herwechseln. Aus diesen Wechselwirkungen resultiert, dass die gebräuchlichen Gegensätze wie Akteur/Zuschauer, Subjekt/Objekt, Signifikant/Signifikat kollabieren und aus dem Entweder-oder ein Sowohl-als-auch wird. Aufführungen, die Gegensätze in sich zusammenfallen lassen, konstituieren eine Wirklichkeit, in der das eine zugleich als das andere erscheinen kann, eine Wirklichkeit der Instabilität, der Unschärfen, Vieldeutigkeiten, Übergänge, Entgrenzungen. Eine solche Wirklichkeit ästhetisch zu erfahren, heißt, sich auf die Schwelle zu begeben – und auf ihr auszuhalten, heißt eine Schwellenerfahrung zu machen.

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Literaturverzeichnis Boenisch, Peter: »ElectrONIC Bodies, Corpo-Realities in Contemporary Dance«, unveröffentlichtes Manuskript 2002. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Fuchs, Georg: Der Tanz, Stuttgart: Strecker & Schröder 1906. Turner, Victor: »Variations on a Theme of Liminality«, in: Sally F. Moore/ Barbara C. Myerhoff (Hg.): Secular Ritual, Assen: Van Gorcum 1977, S. 40. Turner, Victor: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London: Routledge & Kegan Paul 1969.

Die Strategie der kollektiven Aufmerksamkeit Rudi Laermans

Stellen Sie sich vor, wir wären in einer kleinen Theaterspielstätte irgendwo in Westeuropa. Es ist 20.30 Uhr, das Licht ist gedämpft, der Künstler geht Richtung Bühnenportal, nimmt Aufstellung hinter dem Pult und beginnt zu sprechen. Mehr geschieht in den Augen der Anwesenden nicht. Und dennoch hat sich noch etwas anderes ereignet. Etwas, das denjenigen, die eine Bühne betrachten, meistens entgeht. Gerade weil ihre sensorische Aufmerksamkeit von dem Geschehen auf der Bühne gefesselt ist, bemerken die Anwesenden nicht, dass die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Zuschauers zu einem kollektiven Blick verschmilzt (natürlich auch zu ›einem kollektiven Gehör‹, wenn Text oder Musik verwendet werden). Wie ist dieser Blick oder, allgemeiner gesagt, diese Verdichtung der kollektiven sensorischen Aufmerksamkeit zu verstehen? Es ist ein autonomes soziales Medium, das, wie auch das Medium Text im Theater oder das Medium Körper im Tanz, für jede Art von live vorgeführter Kunst von grundlegender Bedeutung ist. Dieses Medium ist per definitionem ein während der Vorstellung immer wieder – oder auch nicht! – entstehendes temporäres und kontingentes Produkt. Natürlich planen Tanz- und Theaterschaffende während der Vorbereitungen und Proben zu einem Stück die Aufmerksamkeit des Publikums mit ein. Dieses zugleich willkommene und gefürchtete Medium versuchen sie durch das Timing der Vorstellung oder anhand rhetorischer Kunstgriffe (wie beispielsweise Witze machen, das Publikum beleidigen oder nackt über die Bühne laufen) zu dirigieren oder zu lenken. Und dennoch lässt sich die kollektive Aufmerksamkeit in ihrer gleichermaßen konstitutiven wie kontingenten Beschaffenheit weder simulieren noch kontrollieren: Das Risiko des going live ist das Risiko, mit dem schwarzen Loch einer nur punktuell vorhandenen Aufmerk-

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samkeit oder eines abgelenkten Publikums konfrontiert zu werden. Es bildet sich eine sprichwörtliche Aufmerksamkeitssphäre – oder eben nicht. Und selbst wenn: Ihre Auswirkungen sind nur zum Teil vorhersehbar. Auch wenn diese Aufmerksamkeit alles andere als unvermittelt ist (worauf am Ende dieses Beitrags noch eingegangen werden soll), so stellt die Verdichtung der verschiedenen individuellen Wahrnehmungen zu einer autonomen Quasi-Realität genau genommen doch ein zeitliches Ereignis dar: einen vergänglichen Augenblick. Oftmals geschieht dies mehrere Male während einer einzelnen Vorstellung und stets mit unterschiedlichem Ergebnis, so dass es wahrscheinlich angebrachter ist, von einer Reihe von Ereignissen und somit von einem inhärent instabilen Medium zu sprechen. Beim sozialen Medium der kollektiven sensorischen Aufmerksamkeit handelt es sich nicht bloß um die passive Summe der verschiedenen individuellen Wahrnehmungen, sondern vielmehr um eine aktive und sogar transformative Quasi-Realität. Ganz offensichtlich trägt die individuelle Aufmerksamkeit jedes einzelnen Besuchers zum Entstehen eines kollektiven Blicks (und/oder kollektiven Gehörs) bei. Die Elemente des Mediums bestehen zwar aus individuellen Wahrnehmungen. Durch deren gegenseitige Verbindungen wird jedoch ein autonomer Zusatzeffekt hervorgerufen. Dies erinnert an die Produktivität der Interaktionseffekte in so genannten komplexen Systemen, doch genauso gut ließe sich auch auf die Semantik und rhetorische Autonomie eines einfachen Satzes im Verhältnis zu den Worten, die dessen Bestandteile darstellen, verweisen. Die mediale Autonomie der kollektiven Aufmerksamkeit wird durch deren Fähigkeit bestätigt, beispielsweise ein paar einfache Schritte auf einer Bühne in sinnvolle Bewegungen oder ein relativ lang anhaltendes Schweigen der Künstler in eine tiefgründige Aussage zu verwandeln. Und die momentane kollektive Aufmerksamkeit kann, wie jeder Zuschauer weiß, die individuelle Wahrnehmung unter Umständen sehr beeinflussen. Zugleich wird sie selbst zu einem großen Teil davon bestimmt, wie sich das Publikum insgesamt verhält. Ohne Ruhe und Aufmerksamkeit seitens jener, die der Vorstellung beiwohnen, kann sich weder der Einzelne konzentrieren, noch kann eine kollektive Aufmerksamkeit entstehen. Wir halten es für selbstverständlich, dass die Zuschauer, sobald die Lichter abgedunkelt werden, ruhig und aufmerksam werden und sich somit in ein Publikum verwandeln. Bei diesem lebenswichtigen Pakt zwischen Darstellern und Zuschauern handelt es sich eigentlich um ein historisches und soziales Konstrukt. Zumindest im Westen ist dies – stark verkürzt ausgedrückt – auf die Neudefinition der Künste durch das Bürgertum zurückzuführen. Die Geschichtsforschung zeigt, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ruhe und Disziplin in Theaterspielstätten und bei Musikaufführungen keineswegs die Regel waren.

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Die Anspruchshaltung der Körperbeherrschung und der distanzierten, vornehmlich intellektuellen Aufmerksamkeit hat sich erst nach und nach in den künstlerischen Räumen durchgesetzt, was in erster Linie ein Verdienst der neuen bürgerlichen Eliten in den Städten war. Diese ›heiligten‹ (teilweise gemeinsam mit den ersten Generationen der neuen Berufskünstler) jene Theater-, Musik-, Bildhauerei- und Literaturbereiche, von denen man meinte, sie würden »das Beste der Menschheit« verkörpern, um es mit den berühmten Worten des britischen Dichters und Kritikers Matthew Arnold in seinem 1869 veröffentlichten Essay »Culture and Anarchy«1 zu sagen. Aus dieser Sicht war das Teilhaben an der Kunst gleichbedeutend mit »dem Studium der Perfektion«. Unterm Strich kam dabei eine gründliche Läuterung verschiedener kultureller Genres heraus, was zu der wohlbekannten Unterscheidung zwischen (›geheiligter‹) Hochkultur und (›populärer‹) Alltagskultur führte. Folglich wurden allzu physisches oder emotionales Mitgehen des Publikums bei künstlerischen Darbietungen – z.B. in Form von Buhrufen, Zwischenapplaus oder lauten Beifallsbekundungen – zum Tabu erklärt. Um die tieferen Bedeutungen eines Kunstwerks wertschätzen zu können, bedurfte es der Stille und Konzentration: Nur so konnte Immanuel Kants »interesseloses Wohlbehagen« 2, das ›Echtheitssiegel‹ jeder ästhetischen Erfahrung, realisiert werden. Innerhalb der neuen Sphäre der Hochkultur machte diese Form der Partizipation die moderne Art des Textlesens zum allgemeingültigen Modell für den Kontakt mit Kunstwerken. Das neue bürgerliche Modell stellte einen direkten Zusammenhang zwischen den Künsten an sich sowie Stille und Selbstdisziplin, Kontemplation und ›Lesen der Bedeutung (oder Entschlüsseln der Botschaft)‹ her. Im Gegensatz dazu war bei den verschiedenen Spielarten der populären Unterhaltung wie dem neuen Genre Cabaret oder allen Arten von Sportveranstaltungen weniger Zurückhaltung seitens der Zuschauer nicht nur erlaubt, sie wurde gewissermaßen auch erwartet. Aus einer breiter gefassten historischen Perspektive heraus spricht vieles für die These, dass die im 19. Jahrhundert vorgenommene Neudefinition der Kultur als ein langanhaltender Prozess zu sehen ist, bei dem sich zuerst die Adligen und dann die Bürger durch ein hohes Maß an physischer und emotionaler Selbstbeherrschung vom ›Volk‹ abzugrenzen versuchten. Frei nach der berühmten Studie des Soziologen Norbert Elias3 könnte man auch sagen: Der so genannte Zivilisierungsprozess, der in der Frühmoderne in höfischen Kreisen an Fahrt gewann, erfasste 1 | Matthew Arnold: Culture and Anarchy, Oxford: Oxford University Press 2006. 2 | Vgl. Immanuel Kant: Die drei Kritiken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 3 | Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

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schließlich auch die neue gesellschaftliche Elite, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts die wirtschaftliche und politische Macht übernahm. Doch während der Zivilisierungsprozess jetzt auch die Bürgerschicht erfasste, verlagerte sich der Schwerpunkt der Selbstbeherrschung von der demonstrativen Zurschaustellung guter Manieren und kultivierter Umgangsformen hin zu einer stillen Teilhabe an der Sphäre der Hochkultur. Das wohlbekannte deutsche Konzept der Bildung legitimierte diesen Wandel; und es war kein Zufall, dass die neue Religion der Kunst in Deutschland mit dem Gesamtkunstwerk Richard Wagners und den Bayreuther Festspielen einen ersten Höhepunkt erreichte. Doch was wurde aus dem bürgerlichen Modell der Kunstbeteiligung? Ungeachtet des Diskurses über die Postmoderne und die relative ›Erosion‹ der Unterscheidung zwischen hoher und populärer Kultur sind Ruhe und Selbstdisziplin nach wie vor die Regel in Museen und bei öffentlichen Kunstereignissen. Auf den ersten Blick werden die allgemeinen Parameter dieses Modells auch von Performance-Künstlern anerkannt, die sich ohne Umschweife die Ausdrucksformen der Volkskultur zu eigen machen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der ersten, vieldiskutierten Version von Jérôme Bels The Show Must Go On interpretieren die Künstler auf sehr genaue Weise die Inhalte bekannter Popsongs. Obwohl die Vorstellung wesentlich mehr Lacherfolge – mit einer höheren kollektiven Intensität – verbuchte als ein normales Theaterstück oder eine gradlinige Choreographie, erhoben sich die Zuschauer weder von ihren Sitzen noch sangen sie die Songs mit oder kamen auf die Idee, eine Party zu machen. Wie viele andere Künstler überschreitet Bel in seinem Werk die symbolische Grenze zwischen hoher und populärer Kultur, doch er versteht und präsentiert diese Grenzüberschreitung innerhalb des Rahmens des vorherrschenden Partizipationsmodells der emotionalen Selbstkontrolle und eines primär textorientierten Aufnahme- und Wertschätzungsmodus. Von daher könnte man argumentieren, dass die darstellenden Künste so lange modern (nicht: modernistisch!) bleiben, wie sie auf das Medium der kollektiven Aufmerksamkeit als unabdingbares Gerüst für die Produktion und Aufnahme individueller Arbeiten bauen. In seinem künstlerischen Schaffen wird Bel oftmals – und verdientermaßen – mit Marcel Duchamp, dem Nestor der Avantgarde, verglichen. Die Geschichte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts besteht zum großen Teil aus einem ausgedehnten Spiel mit der – oder auch einem Kampf gegen die – Passivität des Publikums bei den jeweiligen künstlerischen Darbietungen. Zieht man Peter Bürgers4 viel beachtete Abhandlung zur Avantgarde heran, ist dies nicht weiter verwunderlich. Denn nach Meinung des Literaturtheoretikers Bürger, der versucht, 4 | Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

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einen gemeinsamen Rahmen für Futurismus, Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus zu schaffen, stellte die historische Avantgarde die Autonomie der Künste zugunsten einer emanzipierenden Verschmelzung von Kunst und Alltag in Frage. In diesem Zusammenhang ist es sehr aussagekräftig, dass Dadaisten und Surrealisten bei ihren jeweiligen Versuchen, direktere Formen zur Einbindung des Publikums zu finden, immer wieder auf populäre kulturelle Genres wie Cabaret und Komödie zurückgriffen. Nach ihrer Erneuerung in den 1960er und frühen 70er Jahren (am bekanntesten dürften die Arbeiten des Living Theater sein), verschwanden beide Traditionen von der Bildfläche und machten Platz für subtilere Formen des Umgangs mit der Passivität des Publikums (siehe Bels The Show Must Go On und viele andere Beispiele). Innerhalb der zeitgenössischen Kunst spielt der Traum der Avantgarde vom politischen Befreiungspotenzial einer direkten Verschmelzung von Kunst und Alltag nur noch eine marginale Rolle. Auf dem Gebiet der darstellenden Künste ist hingegen seit einiger Zeit beim modernen Tanz eine auffällige Rückbesinnung auf die Einbindung des Publikums und das Medium der kollektiven Aufmerksamkeit zu beobachten. Einige Künstler stellen nach wie vor das Modell der passiven Beteiligung in Frage und streben ein unmittelbareres körperliches Engagement an. Prototypische Beispiele sind das Highway-Projekt von Meg Stuart, die verschiedenen Ausflüge in den Bereich der Installation von Boris Charmatz oder auch die in einem ungewöhnlichen Zuschauerrahmen stattfindenden Vorstellungen von Patricia Portela und dem Deep Blue Kollektiv. Im Allgemeinen versuchen diese und andere Projekte, die so genannte vierte Wand, welche die Zuschauer von den Künstlern trennt und es dem Publikum erlaubt, sich im Dunkeln zu verbergen, durchlässiger zu machen. Daher platzierten Thomas Lehmen in Stationen und Meg Stuart in Auf den Tisch! die Zuschauer um einen Tisch herum. Lehmen ging sogar so weit, die Rollen zu vertauschen, indem er Zuschauer darum bat, von ihren Berufen zu erzählen. Doch die Beispiele einer direkteren Einbindung des Publikums sind eher rar gesät und reflektieren nicht das breitere Interesse innerhalb des aktuellen Tanzes am Medium der kollektiven Aufmerksamkeit. Hat dieses Interesse auch eine signifikante politische und gesellschaftliche Relevanz?

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STATIONEN von Thomas Lehmen

Foto: Thomas Lehmen

Um diese Frage zu beantworten, beziehe ich mich vage auf die jüngsten Schriften des französischen Philosophen Jacques Rancière.5 Seiner Ansicht nach bringt jede Form politischer Ordnung eine spezifische Verteilung von Sichtbarkeit und Wahrnehmung mit sich. Einige soziale Gruppen können in legitimer Weise öffentliche Themen ansprechen, anderen ist dies versagt. Dieses Machtverhältnis impliziert die buchstäbliche Unsichtbarkeit einer Reihe von kollektiven und diskursiven Themen im öffentlichen Raum, die nicht als Teil des ›Gemeinwesens‹ angesehen werden. In der modernen Gesellschaft ist dieses Diktat einer spezifischen Sichtbarkeitsordnung – und der öffentlichen Aufmerksamkeit als solcher – in erster Linie das Werk der Massenmedien im weitesten Sinne (was z.B. auch Werbung mit einschließt). Massenmedien konstruieren und reproduzieren ein hoch selektives Bild des Lebens. Was in erster Linie aus dem Bild fällt – im wörtlichen und übertragenen Sinne –, sind die Heterogenität und Anonymität des Alltagslebens. Beide Aspekte sind denn auch Gegenstand vieler zeitgenössischer Tanzdarbietungen, die sich über die Aneignung alltäglicher Bewegungen und Haltungen dem normalerweise Ungesehenen bzw. ›Unsichtbargemachten‹ anzunähern versuchen. Die von den Massenmedien verbreiteten Botschaften negieren die Anonymität des zugleich nackten und bekleideten Körpers, die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem Körper als namenloser biologischer Entität und der Vielfalt von Artikulationen gemäß geschlechter5 | Vgl. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, sowie ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006.

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spezifischen, klassenbezogenen oder ethnischen kulturellen Codes. Der zeitgenössische Tanz macht sich diesen gleichermaßen generischen und vermittelten Körper als Primärmaterial zu eigen, in dem Wissen, dass dieser immer schon kolonisiert wurde, was auch für die Betrachtungsweisen gilt, denen er unterliegt. Diese Reflexivität bedingt notwendigerweise ein spezifisches Repräsentations- und Partizipationskonzept. Betrachtung des körperlich Übersehenen in der Gesellschaft des Spektakels – so könnte man den Gegenstand der modernen Tanzperformances mit reflexiver Herangehensweise bezeichnen. In der Tat besteht eines der Hauptanliegen des modernen Tanzes in einer allgemeineren Annäherung an die Konzepte von Sichtbarkeit und Wahrnehmungsvermögen, wobei sich moderner Tanz implizit und explizit als Teil einer Gegenöffentlichkeit versteht. Viele moderne Tanzproduktionen nutzen das Medium der kollektiven Aufmerksamkeit nicht nur, sondern versuchen es auch umzuformulieren, da es unweigerlich durch die verschiedenen Mittel, welche die Massenmedien zur Weckung und Steuerung der Sinneswahrnehmung einsetzen, ›infiziert‹ worden ist. Ein aktuelles Tanzstück, welches diese einfache Tatsache berücksichtigt, entwickelt deshalb eine Reihe von notwendigerweise riskanten Strategien, um die Vergesellschaftung der sensorischen Aufmerksamkeit neu zu verhandeln. Einige der bekannteren Verfahren beinhalten den Einsatz von Video- und Digitalbildern, die Verlangsamung oder Beschleunigung von Bewegungen, die bloße Wiederholung von Posen oder Gesten und die Umsetzung kaum wahrnehmbarer Mikrobewegungen. Mit diesen und anderen Formen der public body work wird der Versuch unternommen, die uns allen über die Massenmedien vertrauten Formen der Wahrnehmung zu unterminieren. Das bürgerliche Konzept der Kunstbeteiligung wird nicht in Frage gestellt, sondern als Möglichkeit verstanden, Formen der kollektiven Aufmerksamkeit zu schaffen, die sich von den Methoden des Fernsehens, der Hollywoodfilme oder der Hochglanzphotographie abheben. Die Vermittlung von Inhalten über moderne Massenmedien im weitesten Sinne ist zum primären gesellschaftlichen Rahmen für die Produktion öffentlicher Aufmerksamkeit in allen Gesellschaftsbereichen, einschließlich der Politik, geworden. Das ist nicht weiter überraschend, ist doch die Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit und die Schaffung sozialer Sichtbarkeit das wichtigste Gut des Massenmediensystems. Daher kommt dieses System einem Aufmerksamkeitsregime gleich, einer Erfassungsmaschine, welche die sensorische Wahrnehmung stimuliert, fixiert und formt. Die darstellenden Künste kommen nicht umhin, die Dominanz der Massenmedien zu reproduzieren und anzuerkennen, arbeiten sie doch mit genau dem gleichen Medium der kollektiven Aufmerksamkeit, sei es in einer kollektiven Umgebung oder einer so genannten Live-Situation. Es ist jedoch nicht der Live-Charakter,

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der zählt, sondern die Art und Weise, wie man mit der Kollektivierung der Sinneswahrnehmung umgeht, d.h. mit dem wichtigsten Medium der darstellenden Künste. Ausschlaggebend wird sein, ob die zugleich kontingente und kollektive Aufmerksamkeit während einer Live-Performance als Vorzeichen einer zukünftigen Gemeinschaft, einer community yet to come – einer Zusammengehörigkeit, die auf die gemeinsame Sichtbarkeit innerhalb einer Gemeinschaft ohne Geheimnisse anspielen könnte – aufgegriffen wird oder nicht. Übersetzung aus dem Englischen

Literaturverzeichnis Arnold, Matthew: Culture and Anarchy, Oxford: Oxford University Press 2006. Bürger, Peter: Theory of the Avant-Garde, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984. Elias, Norbert: The Civilizing Process, Oxford: Blackwell 2000. Kant, Immanuel: The Critique of Judgment, London: Dover Publications 2005. Levine, Lawrence: Highbrow/lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America, Boston: Harvard University Press 1988. Luhmann, Niklas: »The Medium of Art«, in: Ders.: Essays on Self-Reference, New York: Columbia University Press 1990, S. 215–227. Luhmann, Niklas: The Reality of the Mass Media, Oxford: Polity Press 2000. Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006. Smithuijsen, Cas: Een verbazende stilte. Klassieke muziek, gedragsregels en sociale controle in de concertzaal, Amsterdam: Boekmanstichting 2001.

Raum schaffen Hooman Sharifi im Gespräch mit Björn Dirk Schlüter

Die Mitwirkung des Publikums ist ein wichtiger Aspekt Deiner Arbeit. Wie kam es dazu? Vor langer Zeit, als ich noch Hip-Hop tanzte, trat ich vor 500 Leuten auf, wobei sich 100 Tänzer unter das Publikum gemischt hatten. Diese starteten die Show, indem sie aufsprangen, schrien und zur Bühne rannten. Obwohl ich damals noch nicht zur zeitgenössischen Tanzszene gehörte, beschäftigte ich mich also schon mit der Interaktion zwischen Zuschauerraum und Bühne sowie mit der Frage, wie sich die Grenzen zwischen den beiden auf heben lassen. Zu jener Zeit war das aber weder ein bewusster Prozess, noch hatte ich eine theoretische Basis. Ich tanzte einfach Hip-Hop, bewegte mich zur Musik, ohne mich auf irgendeine Theorie zu stützen oder ein direktes Ziel zu verfolgen. Während meiner Tanzausbildung zeigte ich dann einmal eine Soloperformance in einem Zelt mit 400 Plätzen. Ich stellte auf sämtliche Stühle ein »Reserviert«-Schild und bat die Zuschauer, auf die Bühne zu kommen, da ja alle Sitze reserviert seien und die Karteninhaber nach und nach eintreffen würden. Gegen Ende der Vorstellung sagte ich ihnen dann, dass niemand gekommen sei und sie sich jetzt setzen könnten. Dann sahen wir zu, wie der leere Raum immer heller wurde. Bei meinem ersten Solo nach der Tanzausbildung, das den Titel As if your death was the longest sneeze ever trägt, waren die Stühle nicht wie im Theater üblich in Reihen angeordnet, sondern quer über den Raum verteilt. Jeder Stuhl verkörperte die Idee der Einsamkeit. Wenn man neben jemandem sitzen wollte, musste man sich bewegen, um eine Zweiergruppe zu bilden. In dieser Produktion ging es also darum, einen Raum zu schaffen, in dem sich das Publikum bewegen kann. In den letzten 20 Minuten ist es dunkel; nicht hell genug, um etwas zu sehen,

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und dunkel genug, um sich zu verstecken. Deshalb ist nicht genau auszumachen, wer Performer ist und wer nicht, und wir ermutigen die Zuschauer, sich zu bewegen, und versuchen so, sie einzubinden. Das war zwar nicht von Anfang an ein klar umrissenes Konzept, aber mittlerweile arbeiten wir bei drei Produktionen und zwei Kinderstücken mit aktiver Publikumsbeteiligung. Die Einbindung des Publikums hat immer einen bestimmten Sinn, einen eindeutigen Zweck, und es steckt eine klare Idee dahinter. Es geht mir nie um direkte Provokation. Vielmehr sehe ich darin eine Möglichkeit, mit den Zuschauern zu kommunizieren. AS

IF YOUR DEATH WAS THE LONGEST

von Hooman Sharifi, Glasgow 2003

SNEEZE EVER

Foto: Hooman Sharifi

Wie reagiert das Publikum, wenn seine Erwartungen nicht erfüllt werden? Sobald man sich mit dem Publikum einlässt, muss man mit dessen Erwartungen klarkommen. Das ist ein Punkt, den ich bei meiner Arbeit immer im Auge behalte. Das Publikum, das sich zum Kommen entschließt, bringt immer schon gewisse Informationen und Erwartungen mit. Diese Informationen beflügeln seine Phantasie, was Fingerspitzengefühl auf Seiten des Künstlers erfordert. Man kann mit einem Publikum, das man eingebunden hat, intensive Diskussionen führen. Wenn die Künstler aber zu übermächtig, zu manipulativ werden – wobei natürlich immer ein wenig Manipulation im Spiel ist –, haben wir ein großes Problem, denn das Publikum lässt sich

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möglicherweise zu einer heftigen Reaktion hinreißen, wodurch einem die Kontrolle über das Gesamtkonzept des Stückes entgleiten kann. So liegt dem Stück As if your death was the longest sneeze ever ein wohldurchdachtes Konzept zugrunde, auch wenn es ziemlich roh wirkt. Es spielt in zwei Räumen, und wenn die Distanz zwischen diesen zu groß ist, verlieren wir das Gefühl für den Rhythmus der Zuschauer. Zum Beispiel war bei einer Vorstellung in Antwerpen der Raum zu dunkel. Die Atmosphäre kippte ins Negative, weil die Zuschauer nichts sehen konnten – nicht einmal das Ausgangsschild – und sich durch die laute Musik, die wir spielten, bedrängt fühlten. Deshalb hörten sie auf, sich zu bewegen, gingen zur Wand und setzten sich hin. Man kann also sagen, dass wir die Situation behutsam manipulieren oder die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. Wir geben die Richtung vor, in die wir uns bewegen wollen. Wir spielen mit den Erwartungen, während wir gleichzeitig eine gewisse Erwartungshaltung erzeugen. Zu Deiner Arbeit mit Kindern: Welche Erwartungen haben sie und wie verhalten sie sich, wenn diese nicht erfüllt werden? Eins unserer Stücke heißt Who are the aliens? Die Szenerie gleicht dem Inneren eines Cafés. Man kommt herein und findet gruppenweise angeordnete Stühle vor, ohne dass klar ist, wo sich die Vorderseite des Raumes befindet. Vor einem Fenster befindet sich ein schwarzer Vorhang. In den Vorstellungen nimmt das Publikum also Platz, wobei viele Zuschauer ihre Stühle so zurechtrücken, dass sie mit dem Gesicht zum Vorhang sitzen. Sie warten darauf, dass er sich öffnet und die Vorstellung beginnt. In einer Vorstellung ging eines der Kinder zum Vorhang, sah nach, was dahinter war, und rief: »Dahinter ist ja gar nichts!« Dann kam Leben in die Menge. Die Kinder begannen, nach dem Stück zu suchen. Einige waren enttäuscht: »Wir dachten, jemand taucht als Alien verkleidet auf.« Interessanterweise sind sie bereits mit diesem Aspekt des Theaters vertraut. Sie wissen also, dass es nicht echt ist, sondern gespielt. Als sie sich nach etwa 20 Minuten zu bewegen begannen, griffen wir ein: Elektronische Musik setzte ein, wir nahmen die Stühle weg und dimmten das Licht. Die Kids schrien und liefen herum. Als die Musik lauter wurde, gerieten sie zunehmend außer Rand und Band. Ich ging umher und filmte sie mit einer Infrarotkamera. Dann setzte ich mich hin – die Musik lief immer noch – und lud den Film auf meinen Computer. Ich unterlegte ihn mit einem anderen Soundtrack, und während die Kinder immer noch herumliefen, sahen sie sich selbst in Zeitlupe auf einer Videoleinwand. Wegen des Infrarots hatten sie grüne Gesichter und weiße Augen – sie waren also selber zu Aliens geworden. Einige der Kinder verstanden das sofort und reagierten entsprechend. Wie bindest Du das Publikum ein, wenn es auf einer Tribüne gegenüber der Bühne sitzt?

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Was die Einbindung des Publikums angeht, so haben wir unsere besten Momente, wenn wir tatsächlich Bewegung erzeugen. Aber selbst wenn wir die Zuschauer dazu bringen, sich zu bewegen, bleibt die Situation des Publikums doch immer gleich. Sie wird hinterfragt, ändert sich aber eigentlich nie. Das hat mich eine Zeitlang ziemlich irritiert. Das Publikum bleibt immer das Publikum. Das ist natürlich verständlich, das ist nun mal die Abmachung. Warum sollte sich daran etwas ändern? Warum sollte jemand ins Theater gehen, um sich ein Stück anzusehen, nur um festzustellen, dass er an dessen Erschaffung teilnimmt? Immerhin dachte ich, dass wir mit unserer Art der Einbindung Erfolg hatten: Wir schufen die Rahmenbedingungen und ermöglichten es den Zuschauern, sich umherzubewegen. Dabei muss man sich über einen wichtigen Aspekt der Publikumsbeteiligung an einer Aufführung im Klaren sein: Wir müssen auf hören, vorschnell zu urteilen. Wir müssen es den Leuten zugestehen, dass sie ein Stück nicht mögen, dass sie sich nicht bewegen wollen. Wir fordern die Leute nie zweimal auf, sich zu bewegen. Wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht. Wir können lediglich dafür sorgen, dass eine Performance stattfindet – und den Dingen freien Lauf lassen. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der Inklusion wichtig. Wie bezieht man jemanden ein? Ohne dieses Einbeziehen gibt es keine Beteiligung. Dabei gilt es, sowohl die ›Neins‹ als auch die ›Jas‹ mit einzubeziehen. Ein ›Nein‹ einzubeziehen, ist schwieriger, denn man hat ja immerhin ein Stück abzuliefern. Was verbirgt sich hinter einem ›Nein‹? Ändert man die gesamte Aufführung? Nein. Das Einzige, was man als Künstler tun kann, ist ein ›Nein‹ zu akzeptieren, damit sich die betroffene Person weder unwohl noch abgeurteilt noch bloßgestellt fühlt, nur weil ihr die Aufführung nicht gefällt. In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen entwickelten wir eine Art ›Publikumsdramaturgie‹ (ich weiß, das ist ein unscharfer Begriff). Der springende Punkt dabei ist nicht die Handlung eines Stücks, sondern wie diese aufgenommen wird. Das ist auch der Grundgedanke von Meeting with Sofie. Was erwartet das Publikum von einem Solo eines elf Jahre alten Mädchens? Sofie steht 35 Minuten lang allein auf der Bühne. Sie spricht, gibt dem Techniker Zeichen und nimmt den gesamten Bühnenraum in Anspruch. Sie tanzt wild und leidenschaftlich. Sie bewegt sich nicht wie ein elfjähriges Mädchen, sondern hat sich den Bewegungsstil der Impure Company 1 zu eigen gemacht. Das Stück erfüllt also kaum die Erwartungen des Publikums. Stattdessen wirft es Fragen auf: ›Wie ist es möglich, dass ein so junges Mädchen so tanzt?‹ Indem das Publikum zum Nachdenken angeregt wird, wird die eigene Erwartungshaltung zum Bestandteil der Aufführung. 1 | Die Impure Company wurde im Jahre 2000 von Hooman Sharifi gegründet.

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Je nach Stück verfolge ich unterschiedliche Ansätze dieser Art von Dramaturgie. In dem Stück Hopefully someone will carry out a great vengeance on you gibt es beispielsweise eine Szene mit drei Minuten Dunkelheit. Die Tänzer kommen nackt herein, reden und gehen wieder hinaus. Dann wird der Raum dunkel. Wenn sie zurückkommen, sind sie wieder angezogen, aber eigentlich brauchten sie gar nicht so viel Zeit zum Anziehen. Manche denken ›Ich bin eigentlich nicht hierher gekommen, um im Dunkeln rumzusitzen‹, während andere die Dunkelheit lieben und sie inspirierend finden. Und bei meinem letzten Solo sind 50 Leuchten über dem Publikum angeordnet. In den letzten 20 Minuten leuchten nur noch diese Lampen, die Bühne ist unbeleuchtet. Der Zuschauerraum wird voll ausgeleuchtet, und dieses Licht reflektiert auf die Bühne. So bin ich im Dunklen, aber trotzdem sichtbar. In dem Stück No schaffst du eine vergleichbare Situation. Das aus einem ›Zuschauer‹ bestehende Publikum sieht sich einem einzelnen Tänzer gegenüber und erhält einen Text zum Lesen. Du überlässt es aber dem Zuschauer, was er damit macht und ob er noch ein Stück weitergeht. Bei einer Vorstellung wurde ich sogar von dem Tänzer berührt, was ja sonst kaum vorkommt. Erwartest Du auch vom Publikum, weiter zu gehen als dies normalerweise der Fall ist? Ich glaube, dass wir die Zuschauer mit Respekt behandeln, wenn wir sie berühren. Doch wenn wir bestimmte Spielregeln verletzen, müssen wir klarstellen, dass auch das Gegenüber das Recht hat, aus dem Rahmen zu fallen. Wir wollen nicht das Publikum kontrollieren, sondern die Situation. Wir versuchen den Zuschauern klarzumachen, dass wir ihnen weder schaden noch sie bedrohen wollen, auch wenn es dunkel ist und sich der Tänzer sehr wild bewegt. Wir signalisieren dem Publikum, dass wir eine Grenze überschreiten, aber nicht weitergehen. Das ist vielleicht auch der Grund, dass noch niemand völlig ausgerastet ist. Man zollt uns Respekt, weil wir die Zuschauer respektieren. Die Arbeit sollte eine gewisse Aufrichtigkeit widerspiegeln. Ich spreche ausdrücklich nicht von Ehrlichkeit, denn dies ist ein ambivalenter Begriff im Theaterkontext. Doch Aufrichtigkeit trifft den Kern der Sache: Wir tun, was wir tun, und wir geben nicht vor, etwas anderes zu sein, als wir sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt Deiner Arbeit ist die ›kulturelle Partizipation‹. Spielt Deine iranisch-norwegische Biographie bei Deiner Arbeit und deren Wahrnehmung eine Rolle? Das ist eine schwierige Frage. Ich weiß nicht wirklich, wie meine Arbeit wahrgenommen wird. Ich sehe auch keine direkte Verbindung zwischen meiner Vorstellung von Publikumseinbindung und meinem kulturellen Hintergrund. Mitunter bin ich mir nicht mal sicher, was eigentlich meine Kultur sein soll. Die Art, wie ich arbeite (bzw. inszeniere), ist von der westeuropäischen Kultur geprägt. Ich habe zeitgenössischen Tanz in Europa studiert, was nichts mit dem Iran zu tun

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hat. Wenn ich über meine Arbeit rede, kann ich nicht Farsi sprechen, weil mir in dieser Sprache die richtigen Worte dafür fehlen. Ich bin in einem Land aufgewachsen, das sich in Atmosphäre und Lebensweise von europäischen Ländern unterscheidet. Was bedeutet es, Iraner zu sein? Ich weiß es nicht – und ich habe mich auch nicht näher damit beschäftigt. Es gab eine Zeit, da hatte ich patriotische Empfindungen oder speziell mit dem Iran verknüpfte Erinnerungen, wenn ich eine bestimmte Art von Musik hörte. Sie tauchten einfach in meinem Kopf auf, und das passiert auch heute noch, wenn ich tanze. Es gibt jedoch keine direkte Verbindung. Manchmal fließt meine Herkunft in meine Arbeit ein, so dass dieser Bezug dann auch in der Aufführung explizit wird. Aber mittlerweile fällt es mir aber immer leichter, direkt darüber zu sprechen, da ich die emotionale Distanz habe, um darüber zu reflektieren. Was mich vor allem interessiert, sind die Eindrücke, die ich auf Reisen gewinne – in Brasilien oder Beirut oder im Kosovo: Wie produzieren die Künstler in diesen Ländern? Welche Bedeutung haben Zeit, Geld, Kapital, Aktivität? Und wie bleiben die Menschen aktiv? Ich habe aus diesen Eindrücken eine Menge über die verschiedenen Möglichkeiten gelernt, Kunst zu produzieren und zu schützen, und das kann ich dann mit den Erfahrungen meiner Kindheit und der iranischen Kultur in Verbindung bringen. Kosovo, Pristina 2003

Foto: Hooman Sharifi

Kultur hat für mich also eine etwas andere Bedeutung: Da wir an vielen verschiedenen Orten auftreten, begegnen wir den unterschiedlichsten Kulturen und Verhaltensweisen. In Brasilien hatten wir beispielsweise

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während der Aufführung den Eindruck, dass sich die Leute viel schneller bewegten und viel weniger Berührungsängste gegenüber uns Künstlern hatten als anderswo. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir uns das nur einbildeten – wir waren schließlich vor allem damit beschäftigt, eine gute Show abzuliefern. Möglicherweise spielte uns da unsere vorgefasste Meinung über Brasilien einen Streich. Es ist ein freies Land, so sinnlich und sexuell, aber vielleicht ist es das auch nicht. Vielleicht ist das Theaterpublikum genauso wie hier. Kultur war für mich schon immer interessant. Aber sie war nie etwas, an das man sich klammern muss, sondern eine Existenzfrage: Welche Art zu leben wählen die Menschen, wie gestalten sie den Überlebenskampf? Insofern bin ich nicht an Kultur im Sinne von kulturellem Erbe interessiert. Kultur – das ist meine Familie, das hat nichts mit meinem Land zu tun. Ich kenne mein Land nicht. Ich weiß, was mir meine Mutter oder mein Vater gegeben haben. Ich weiß, was mir meine Freunde geben. Das ist etwas, was ich nachvollziehen kann. Aber ich habe keine Ahnung, was es heißt, deutsch, norwegisch oder holländisch zu sein. Das hat mich nie interessiert. Deshalb habe ich mich immer nur mit meiner individuellen Kultur beschäftigt, und nicht etwa mit Kultur im Allgemeinen. Letztere fließt hauptsächlich in symbolischer Form in meine Arbeit ein, um etwas zu kommentieren oder in einen größeren Kontext zu stellen. Ich hoffe, dass sich in meiner Arbeit eine gewisse kulturelle Dualität spiegelt, dass es kein Entweder-oder gibt. Ich bewege mich immer zwischen beiden Polen. Deshalb liegt mir auch nichts daran, genau zu sagen, was meine eigene Kultur ist. Ich bin ein Teil davon, ohne völlig dazuzugehören. Es ist eine persönliche Kultur, eine Kultur der Migration, des Sich-Bewegens, des Umherstreifens, des Nicht-dazu-Gehörens. Und so versuche ich, das Publikum in diese Nichtzugehörigkeit einzubinden, in meine persönliche Erfahrung. Das ist vielleicht nicht so sehr meiner Kultur geschuldet als meiner Geschichte – in dem Sinne, dass ich von meinen Freunden und meiner Familie wegzog, als ich 14 Jahre alt war – und damit etwas hinter mir ließ, was ich als meins betrachtete. Ich kam an einen Ort, bei dem ich mir noch nicht einmal sicher war, ob ich wollte, dass er mir gehörte. Ich fing einfach an, in ihm aufzugehen. Deshalb bin ich nun ein Teil davon, und er ist ein Teil von mir. Vielleicht beeinflusst diese Erfahrung meine Arbeit. Wenn ich vor ein Publikum trete, würde ich den Zuschauern wirklich gerne in die Augen sehen, und ich möchte, dass sie mich beobachten, mich sehen, dass sie sehen, was ich tue, damit irgendwann ein ›Wir‹ entsteht, dieser Raum, den ›wir‹ erschaffen haben. Ich lege den Raum fest, denn das ist meine Aufgabe. Doch das Publikum muss bereit sein, die Bedingungen zu akzeptieren und als Publikum zu kooperieren. Das macht es zum Teilnehmer. Diese Teilnahme

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braucht Zeit, bis geteilte Zeit und geteilter Raum entstehen. Doch der Bestimmende bin immer ich, und deshalb ist die Frage, ob das Publikum die Bedingungen annimmt oder nicht. Ich war immer damit beschäftigt, die Menschen am Anfang des Stückes und am Ende des Stückes zu beobachten: Wie sitzen sie, wie gucken sie? Was für einen Gesichtsausdruck haben sie, wenn sie nach 20 Minuten aus der No-Vorstellung kommen? Entweder mögen sie das Stück oder nicht. Wenn sich irgendetwas in der Weise, wie sie sitzen, wie sie gucken, verändert hat, dann hat vielleicht irgendetwas den Raum verändert. Übersetzung aus dem Englischen

Kritik versus kritische Praxis? Über die Unmöglichkeit und die Möglichkeiten einer zeitgenössischen Tanzkritik 1 Constanze Klementz

Ich arbeite als Tanzkritikerin. Nicht nur, aber auch deshalb habe ich ein nachvollziehbares Interesse daran, dass der Kritiker als sozial gesetzter Akteur nicht ausgedient hat. Vieles scheint allerdings dafür zu sprechen. Ausgerechnet sein Gegenstand, die Kunst, untergräbt fortwährend seine Autorität und bringt ihn in Rechtfertigungszwänge, die seinem Selbstbild in der publizistischen Praxis so gar nicht entsprechen. Denn wenn Kunst sich den politischen und ästhetischen Grundbedingungen zuwendet, die unsere Wahrnehmung ermöglichen und begleiten, macht sie indirekt auch die Wahrnehmung des Kritikers zu ihrem Thema. Er wird in die Kunst hineingezogen, indem er sie betrachtet. Er kann das ignorieren. Entschließt er sich aber zum Gegenteil, fangen die Probleme erst an. Die Leistung, die man vom Kritiker erwartet und für die man ihn gemeinhin bezahlt, ist nach Ansicht vieler Leser, Redaktionen und Fachkollegen seine Fähigkeit zu professioneller Kunst-Betrachtung aus so genannter ›kritischer Distanz‹. Was in dieser Erwartungshaltung mitschwingt, ist die Annahme, dass eine neutrale, parteilose – mancher wagt sogar zu sagen: objektive – Form der Kritik wenn schon nicht möglich, so doch erstrebenswert ist. Nun legen eine ganze Reihe von Arbeiten in der zeitgenössischen Choreographie den Blick auf den Körper als einen Übergriff offen, der immer jeweils konkret geltenden und wirkenden Machtverhältnissen unterworfen ist. Sie fordern eine Neubestimmung der aktiven und passiven Momente, aber auch der allgemeinen Reichweite und Relevanz ästhetischer Erfahrung als solcher ein. Beispielsweise 1 | Der Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen von »Unfolding The Critical «, einem von der belgischen Plattform für Tanzkritik »Sarma« kuratierten Symposium im Rahmen des Tanzkongresses.

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bestimmt der französische Philosoph Jacques Rancière die Ästhetik als Grundlage des Politischen. Er weist darauf hin, dass in keiner anderen als der ästhetischen Sphäre über le partage du sensible, »Die Aufteilung des Sinnlichen« 2 z.B. in Sichtbares und Unsichtbares, Darstellbares und Nichtdarstellbares entschieden wird, womit gleichzeitig eine Kartographie der politischen Erfahrungs- und Handlungsspielräume vorgegeben ist. Warum sollte man es leugnen: Die Vorstellung davon, was der Kritiker, ob nun Journalist oder Theoretiker, unterhaltsamer Feuilletonist oder strenger Analytiker, lange Zeit leisten sollte – und was er seinem traditionellen Selbstverständnis nach glaubte, leisten zu können –, ist heute weder mit der künstlerischen Praxis noch mit einem Großteil ihrer theoretischen Diskussion vereinbar. Kunst wie Theorie fordern immer vehementer eine Wende ein, die das Arbeitsfeld des Kritikers grundlegend erschüttert. Die Kunsthistorikerin Irit Rogoff3 nennt dies eine Verschiebung von Definition und Aktionsraum des Kritikbegriffs in drei Schritten, deren letzten wir gerade erst im Begriff sind zu wagen: vom Kritizismus Kants über postmoderne Spielarten der Kritik wie etwa bei Derrida bis hin zu etwas, das Rogoff »criticality« 4 nennt und als einen inklusiven statt exklusiven und intrinsischen statt distanzierten Zugang zur Domäne des Kritischen beschreibt. Kritik ist demzufolge kein dritter Blickwinkel auf Prozesse, denen sie sich in privilegierter Perspektive gegenübersetzt, indem sie sich gleichzeitig von ihnen abkoppelt und über diese Separation begreift. Sie erwächst vielmehr als allgemein verstandenes Potenzial und kritische Praxis aus der Praxis (oder: aus den Praktiken) im kulturellen Feld selbst und steht mit ihnen in einem vegetativen Wechselverhältnis.

Königswege und Holzwege Mit solchen Gedankengängen im Blick drängt sich die Frage auf, ob das Kritische nur ohne die – oder auch und vielleicht gerade am Beispiel der – Figur des Kritikers gedacht werden kann. 2 | Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006. 3 | Irit Rogoff arbeitet am Londoner Goldsmiths College federführend am Auf bau einer wissenschaftlichen Disziplin zur »visuellen Kultur«, die sich zwischen zeitgenössischer Kunst und theoretischer Analyse bewegt und Kultur mit einem Fokus auf kulturelle Differenz und Performativität als einen Raum der Partizipation diskutiert. 4 | Vgl. Irit Rogoff: »WE. Collectivities, Mutualities, Participations«, in: Dorothea von Hantelmann/Marjorie Jongbloed (Hg.): I promise it’s political. Performativität in der Kunst, Köln: Museum Ludwig 2002, S. 126–133.

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Das Berufsbild Kritiker geht auf ein institutionelles (da in seiner Person durch einen Akt der Kompetenzübertragung institutionalisiertes) Verständnis von Kritik zurück, das – und ich argumentiere hier ganz bewusst aus subjektiver und nicht verallgemeinernder Perspektive – mit meinem persönlichen Zugang zu Realität und der Teilhabe an dieser Realität in Kunst und Gesellschaft kaum noch etwas zu tun hat. Wie allgegenwärtig die Kritik als Königsweg der Analyse und Beurteilung von Welt (oder Kunst) nach einem allgemein verbindlichen und dieser Welt (oder Kunst) vor- und übergeordneten Set von Kategorien trotzdem ist, weiß der Kritiker so gut wie niemand anders. Man fordert von ihm in fast allen Bereichen des publizistischen – d.h. in meinem Fall vor allem: journalistischen – Alltags, dass er dem einen, üblichen Muster folgt: Analyse, Interpretation, Urteilsfindung vor der Folie eines Fachwissens und mithilfe eines möglichst lückenlosen Begriffsapparates, der seinen Gegenstand umschließt, um dessen verborgenen Sinn aufzuschließen. Oder aber: Man reduziert den Kritiker auf sein Produkt, die Kritik als Text. Schwindet erst der Glaube an die eine zu enthüllende ›Wahrheit‹ der Kunst, schwindet oft auch die Bereitschaft, jegliche wie auch immer geartete Verantwortung des Kritikers wenn nicht für, so doch gegenüber seinem Gegenstand in Betracht zu ziehen. Dann geht es nur noch um Kurzweil, Brillanz, zündende Polemik, ein unterhaltsames Textstück. Das Feuilleton ist das Format, in dem die Kunst im Informationsmedium der Tageszeitung ihren Platz hat. Es versteht sich als Abbild der gegenwärtig bedeutenden Ereignisse und Diskurse im kulturellen Feld. Dieses Abbild wird hergestellt, indem man ausgewählte Stellvertreter zu Wort kommen lässt. Zwischen deren Relevanz für das Entwirren, Verstehen und Bewerten von Realitätszusammenhängen und ihrem privilegierten Zugriff auf Öffentlichkeit über das Medium wird ein Zusammenhang konstruiert, der wie folgt funktioniert: Die Repräsentativität der Auswahl der Stellvertreter ist gleich der Repräsentativität des gesamten Abbildes. Der Kritiker ist Stellvertreter nicht, weil er irgendeinen, sondern weil er einen besonderen, einen besonders ausgebildeten, erfahrenen, eben besonders relevanten Zuschauer darstellen soll. Indem der Kritiker als unabhängige, unbestechliche Autorität im Dienste einer Redaktion installiert wird, versichert sich die Redaktion ihrer Seriosität und Kompetenz und der Kritiker sich umgekehrt der seinen. Wie sich in diesem doppelten Aufrichten des Kritikers als Autorität Momente der Personalisierung und Objektivierung seiner Perspektive auf problematische Weise mischen und welche Verzerrung der Selbstwahrnehmung die Folge sein kann, hat in Deutschland vor gar nicht langer Zeit das bizarre Schauspiel um den Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier demonstriert. Dieser wurde von einem durch abschätzige Reaktionen des Kritikers offenbar aufgebrachten Darsteller während einer Premiere von der Bühne aus zuerst verbal angegriffen und dann

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tätlich um sein Schreibwerkzeug gebracht. Nicht die Provokation und Verletzung der Privatsphäre eines Zuschauers durch den aus der Rolle fallenden Schauspieler verleitete Stadelmaier dazu, tags drauf in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« einen Skandal zu beschwören: Es war seine Kompromittierung als Kritiker durch eine »Attacke auf meinen Körper und meine Freiheit, die nichts weniger als die Freiheit der Presse ist«.5 Hier treffen sich Königsweg und Holzweg: In dem Moment, wo er zwischen seiner Person und seiner Funktion, den eigenen Strategien und den Strategien des Systems, in dem er sich bewegt, nicht mehr unterscheiden kann oder will, koppelt sich der Kritiker von seiner zeitgenössischen Arbeitsrealität selbst ab.

Leerlauf, Kollaps, Rhythmusstörung Dass man seine Arbeit nie mit dem System identifizieren sollte, in dem sie stattfindet, dass sie sich aber gleichzeitig an nichts so aktiv und fortwährend abarbeiten muss wie an den Mechanismen und Implikationen dieses Systems, habe ich nicht am Schreibtisch, sondern im Theater begriffen. Ähnlich wie Kants Kritik sich mit dem menschlichen Denkund Begriffsapparat in sich selbst versenkt, hat die Blackbox deshalb so gut und lange überlebt, weil sie sich als ein System, das die Art und die Qualität unserer Wahrnehmung von Welt wie eine Schablone ausrichtet, neben bzw. über – und nicht in – diese Welt gesetzt hat. Bestuhlung des Platzes vor dem Vatikan, Rom

Foto: Pirkko Husemann 5 | Gerhard Stadelmeier: »Angriff auf einen Kritiker«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Februar 2006.

Kritik versus kritische Praxis? | 267

Ich habe meine ersten Erfahrungen als Kritikerin Ende der 1990er Jahre gemacht. In dieser Zeit begann der Tanz, nicht nur diejenigen auf der einen Seite der vierten Wand, sondern die Gesamtheit aller Anwesenden im Theater als seine Akteure anzusehen. Er interessierte sich nicht nur für den Tänzer, sondern ebenso für den Zuschauer als Knotenpunkt von Bewegung, Bewegtheit und Sinn. Beeindruckt und geprägt haben mich Stücke, die es nicht dabei beließen, das Theater als die hierarchische, autoritäre, anachronistische Maschine zu bedienen oder zu geißeln, die es in vielerlei Hinsicht sicher ist. Stattdessen trotzten sie dieser Maschine Momente des Leerlaufs, des Kollaps und der Rhythmusstörung ab, indem sie einzelne Rädchen gezielt blockierten oder heiß laufen ließen. Diese Arbeiten erschöpften sich nicht im demonstrativen Herzeigen von Funktionsaussetzern, sondern standen wie Poren offen und warteten, was ich mit ihnen unternehmen würde. In diesen Momenten war ich als Betrachter – und nur insofern jeder Kritiker schlicht ein Betrachter ist, auch als Kritiker – genötigt, mich mit mir und meiner Rolle in diesem Spiel zu befassen. Ich war kein Stellvertreter, auch keine Autorität, sondern eine Art Komplize, und das hat mich anfangs, mit meiner damaligen Definition kritischer Distanziertheit im Hinterkopf, vor die angedeuteten Probleme gestellt. Irgendwann musste ich aber – ob ich wollte oder nicht – auf hören, ein Terrain zu verteidigen, das mir nicht gehört. Das, was ich heute als meine Auffassung von Kritik als einer kritischen Praxis bezeichnen würde, habe ich in einem Umfeld aus künstlerischen Untersuchungsgegenständen entwickelt, welches mich zu der Einsicht genötigt hat, dass mein Gegenstand gar kein Gegenstand ist. Nicht ein Werk, dem ich in meiner spezifischen Rolle nutzen oder schaden könnte, sondern ein zu beiden Seiten offener Vorgang der Kommunikation. Beschreibt man diese Kommunikation, in die jedes Zusammentreffen von Kunst und Betrachter mündet, als einen Dialog, ist es weder so, dass der Kritiker die Fragen stellt und die Kunst antwortet, noch umgekehrt. Eher ähnelt diese Unterredung einem unberechenbaren, inspirierten, infiltrierten Selbstgespräch. Jede Reflexion des Kritikers über ein Stück ist zu einem wesentlichen Teil: Selbstreflexion. Schön für ihn, könnte man sagen und fragen, für wen diese Selbstreflexion noch von Interesse sein soll, wenn man sich von seiner Vorbildfunktion und seiner Rolle als Superzuschauer doch verabschiedet hat. Kritik kann in dem Moment ein neues Potenzial entwickeln, wo der Kritiker es dem Leser ermöglicht, in ihm ›nur‹ einen anderen Betrachter mit einer anderen Sichtweise zu sehen, wo der Leser jedes Recht und gar keine andere Wahl hat, als den Text, den er liest, ebenso aufmerksam zu vereinnahmen wie das Stück, das er sieht. Das geschieht wie im Theater über Zwischenräume, die unbesetzt bleiben und die verhindern, dass die Maschine einfach nur rund läuft. Ich habe dafür keinen Masterplan. Und ich weiß aus Erfahrung,

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dass man in neun von zehn Fällen bei diesem auf den ersten Blick womöglich etwas prätentiös wirkenden Versuch scheitern wird. Trotzdem: Nur wenn Kritik nicht nur Kritik artikuliert, sondern Unschärfen im eigenen System zulässt und sogar herbeiführt, kann auch sie das Risiko eingehen, dem sich die choreographische Praxis längst aussetzt. Diese Unschärfen sind keine Einladung an den Autor, vage oder unpräzise in der Annäherung an ein Stück zu werden. Sie stellen sich im Gegenteil nur durch sehr genaue Beobachtungs- und Textarbeit her – nicht mit dem Ziel, das System Kritik passgenau über ein Objekt zu stülpen, sondern seine Grenzen ausfransen zu lassen. Als Alternative zur Kritik plädiere ich also (nicht nur aus purer Selbsterhaltung) nicht für keine Kritik, sondern für eine Kritik, die sich selbst außer Gefecht zu setzen bereit ist. Das berühmte Beuys-Diktum, das jeden Mensch zu einem potenziellen Künstler erklärt, macht den Künstler als einen Künstler damit nicht generell überflüssig. Ebenso wenig fühle ich mich als Kritikerin um meine Existenzberechtigung gebracht, wenn Stimmen wie Irit Rogoff fordern, dass das Kritische nicht mehr durch Lizenz erworben und als Domäne verteidigt, sondern, so pathetisch das klingt, freigegeben, geteilt und ausgelebt werden muss. Im Gegenteil: Was der zeitgenössischen Choreographie recht war – zu sich und dem System, aus dem sie kommt, selbst Stellung zu beziehen, nicht aus der Distanz, die immer ›anderen‹ vorbehalten ist, sondern mitten aus ihrer Praxis heraus –, das kann und sollte der Kritik nur billig sein.

Literaturverzeichnis Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin: b_books 2006. Rogoff, Irit: »WE. Collectivities, Mutualities, Participations«, in: Dorothea von Hantelmann/Marjorie Jongbloed (Hg.): I promise it’s political. Performativität in der Kunst, Köln: Museum Ludwig 2002, S. 126–133. Stadelmeier, Gerhard: »Angriff auf einen Kritiker«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Februar 2006.

Aus- und Fortbildung im Tanz

Leseübung bei B OCAL von Boris Charmatz, Foto: Nicolas Couturier

Schule als Performance Boris Charmatz im Gespräch mit Jeroen Peeters über B OCAL 1 Von Juli 2003 bis Juli 2004 leiteten der französische Choreograph Boris Charmatz und die »association edna« das Projekt Bocal im Rahmen einer dreijährigen Residency am Centre National de la Danse. Die nomadische und temporäre Schule Bocal beabsichtigte, die Idee einer Schule für zeitgenössischen Tanz durch Erfindung eigener Ausbildungsmodalitäten ins Leben zu rufen. Charmatz und 15 Teilnehmer mit unterschiedlichem Hintergrund befassten sich mit pädagogischen Fragen im Rahmen eines künstlerischen Projekts außerhalb des bestehenden institutionellen Schulkontextes.2 Charmatz hatte das Ziel, Bocal durch die Untersuchung des Verhältnisses von Erziehung und Kunst in einen Kontext zu bringen, der durch 14 unterschiedliche Residenzen in verschiedenen europäischen Städten bereitgestellt wurde.3 Allein die Idee der Durchführung eines Schulprojekts warf Fragen im Hinblick auf 1 | Dies ist eine gekürzte Version des Interviews »Performing the School«, welches in seiner Komplettfassung auf der Website der »association edna« zu finden ist. Vgl. www.ednaedna.com vom 11. Mai 2007. 2 | An Bocal nahmen teil: Félicia Atkinson, François Chaignaud, Nicolas Couturier, Maeva Cunci, Eve Girardot, Gaspard Guilbert, Joris Lacoste, Elise Ladoué, Clément Layes, Barbara Matijevic, David Miguel, Bouchra Ouizgen, Frédéric Schranckenmuller, Natalia Tencer und Nabil Yahia-Aïssa. 3 | Neben dem Centre national de la danse (Paris/Pantin), das im Rahmen einer Residenz in dem Jahr sechsmal besucht wurde, seien hier die Gastgeber und Koproduzenten ImPulsTanz (Wien), Le Quartz (Brest), Bonlieu Scène Nationale (Annecy), Les Subsistances (Lyon), Espace Malraux (Chambéry) sowie Art radionica Lazareti (in einem leerstehenden Krankenhaus) in Dubrovnik genannt. Einige Aufführungsorte wurden mehrmals besucht.

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die Vermittlung von Kenntnissen, die Umsetzung der Ausbildung, die kritische Positionierung sowie die Betrachtung des Kontextes auf. Bocal wurde letztendlich kein Schulmodell, sondern eher eine Art Behälter voller Ideen, Konzepten, Methoden und Übungen, eingebunden in Aufführungen und Unterricht, Kunst und Pädagogik, Praxis und Theorie. Während eines Gesprächs mit Boris Charmatz im März 2005 kam die Frage auf: Was bleibt? Welche Elemente von Bocal kommen in seiner künstlerischen Praxis weiterhin zum Ausdruck?

Ich bin eine Schule Wenn man mich fragt, wann Bocal seinen Anfang nahm, kann ich dazu nur so viel sagen: Bocal existierte bereits zum Zeitpunkt seines offiziellen Beginns und läuft auch jetzt noch, acht Monate nach seiner Beendigung. Bocal hatte nie einen wirklichen Anfangspunkt, da sich die Idee von der Schule bereits in uns gefestigt hatte. Bocal war jedoch eine Schulart, die ein Novum für uns war – es gab also eine Menge zu entdecken. Die Behauptung, Bocal sei eine Schule oder Bocal sei eine einjährige Performance-Gruppe, ruft vollkommen andere Vorurteile und Erwartungen hervor. Als wir Bocal mit dem Konzept Schule in Verbindung brachten, wurden verschiedene Erinnerungen und Alpträume in uns wach, die mit Diplomprüfungen, Erfahrungen mit Lehrern etc. zusammenhingen. Natürlich hat jeder Mensch eine Vorstellung davon, was Wissen, was Ignoranz und was Lernen bedeutet. Man ist versucht, Schule als einen Lebensabschnitt zu sehen, der im Grunde genommen aber viel mehr umfasst als nur Schule: Die Gedanken kreisen um die Fächer Mathematik, Philosophie und Sport; es geht aber auch um Auseinandersetzungen mit anderen, um stundenlanges Stillsitzen, den ersten Kuss, und darum, wie man sich selbst als Junge oder Mädchen wahrgenommen hat. Es ist ebenso die Zeit der eigenen Identitätsbildung und sexuellen Auf klärung. Schule ist Bestandteil der eigenen Fantasie, der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt. Ich denke, dass man die Schulzeit eher sein ganzes Leben lang verinnerlicht (also wie sie funktioniert, wie man lernt usw.), als dass man sie beginnt und beendet. Daher denke ich, dass ich tatsächlich eine Schule bin. Diese Behauptung bedeutet natürlich, dass man auch sich selbst ständig etwas beibringt. Das Gehirn ist aktiv, man korrigiert sich selbst, man lernt. Man beobachtet das Verhalten anderer. Beim Sprechen oder durch Berührungen wird etwas übermittelt. Man gibt Informationen preis, die von anderen interpretiert werden. All dies passiert mit einer einzigen Geste. Die Vorstellung ›Ich bin eine Schule‹ impliziert auch, dass Erziehung nicht unbedingt im Klassenzimmer, sondern überall und

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jederzeit stattfinden kann, wenn man sich der Schule in einem selbst bewusst ist. John Cage und andere sind der Auffassung, dass man bereits viel weiß, dies jedoch nicht zum Ausdruck bringt, da einem stets gesagt wird, dass man noch nicht ausreichend geschult sei. Man kann seine innere Wahrnehmung gut trainieren, indem man sich selbst als Schule sieht und seine eigenen, bereits vorhandenen Potenziale erforscht.

Umgeben vom Duft des Tanzes Ein Ausgangspunkt von Bocal war die Entscheidung, keine ›echten‹ Lehrer heranzuziehen, sondern stattdessen den Unterrichtsstoff aus Aufführungen, Büchern, Videos, Audioarchiven und anderen Dokumentationsformen zu ziehen. So wurde das Ansehen von Tanzvorstellungen Teil unserer Schule. Das Interesse für Tanzvorstellungen ist von jeher auch Teil meiner eigenen Tanzbiographie gewesen. Ein Stück von JeanClaude Galotta rief in mir bereits in jungen Jahren den Wunsch hervor, mit dem Tanzen zu beginnen. In dieser Aufführung aßen Menschen im Alter von ungefähr 45 Jahren belegte Brote auf einem Bahnhof in Paris und tanzten zwischen den Leuten herum, die auf ihren Zug warteten. Ich erlernte u.a. an der Paris Opera School unterschiedliche Techniken – das ist allerdings nur ein Mosaikstein. Das Ansehen von Tanzvorstellungen oder von Andrej-Tarkowski-Filmen, das Lesen von Gedichten oder das Entdecken der Welt des Choreographen Dominique Bagouet – all diese Erfahrungen waren für meine Ausbildung ebenso wichtig wie der Ballettunterricht. 4 Die Idee, den Kulturbereich in Bocal zu integrieren, war der Auslöser für unsere erste Residenz beim ImPulsTanz-Festival in Wien im Juli 2003. Dort wurden Workshops mit 90 unterschiedlichen Lehrern angeboten und wir besuchten jeden Abend ein oder zwei Aufführungen. Einige ›Bocalisten‹ hatten bis dato entweder nur wenige Tanzvorführungen gesehen oder nahmen gerade ihre ersten Tanzstunden: Wien versprach ein komplettes Abtauchen in diese Welt, umgeben vom Duft des Tanzes, auch wenn dieser ein wenig beschränkt war. Vielleicht findet man dort nicht den optimalen Lehrer. Oder aber man muss seine Zeit aufteilen, so dass man letztendlich einen Cocktail verschiedenster Techniken hervorbringt, obwohl es unter Umständen besser wäre, nur einen Weg zu verfolgen oder seine eigenen Verfahren zu entwickeln. Wie sollte es einem denn nicht langweilig werden, wenn man pro Tag 4 | Für weitergehende Informationen zur Tanzausbildung von Charmatz siehe: Boris Charmatz/Isabelle Launay: Entretenir. À propos d’une danse contemporaine, Paris: Centre national de la danse/Les presses du réel 2002, S. 50–56, 70–72.

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eine Aufführung sieht oder wenn man keine Lust mehr hat, mit 3000 Tanzstudenten einen Praxiskurs zu belegen, ohne eine einzige Theoriestunde zu absolvieren? Das ist in Wien gang und gäbe. Zwar ist Tanz nach wie vor eine körperliche Ertüchtigung. Einer unserer Hauptschwerpunkte lag jedoch auf der Verwendung von Sprache bei körperlichen Übungen. Es wird immer und überall gesprochen und kommuniziert – sei es im Falle von Anweisungen im Yoga-Unterricht oder via Parabeln und Metaphern in Elsa Wolliastons afrikanischen Tanzkursen. Auch im Umkleideraum und auf dem Flur ertönen ständig Wörter. Die Art, wie Lehrer Sprache in ihrem Unterricht verwenden, bestimmt auch die Art, wie sie sich bewegen. Unterrichten durch mündliche Erklärungen begleitet von praktischen Übungen gibt einem die Möglichkeit, eine Bewegung eingehender zu erläutern und besser zu verstehen und unter Umständen sogar besser darzustellen. Es geht um die Art, wie Lehrer mit einer Gruppe sprechen oder auch nicht, die Art, wie sie sich selbst unterrichten durch Erklärungen und Demonstrationen: Wir haben Lehrer beobachtet, um herauszufinden, wie der Gebrauch von Sprache ihren Geist und Körper verändert. Wie werden Bewegungen und Gesten durch Sprache verwandelt? Wie kann es sein, dass ein Lehrer, der auf einem Stuhl sitzt, in der Lage ist, 30 Menschen in einer Sekunde zum Zittern zu bringen? Also sahen wir uns Vorführungen an, besuchten und verfolgten Workshops, beobachteten Unterrichtsweisen und die Ästhetik der Pädagogik, als sei sie auch eine Aufführung – all das gehörte zu unserer Ausbildung.

Wie bildet man heutzutage einen jungen Künstler aus? So lautete das Thema einer Diskussionsrunde, die wir nach einigen Wochen in Wien organisierten. Das Ergebnis war erstaunlich: Es war nicht nur eine Übung oder ein Kurs, sondern vielmehr eine von und für uns organisierte Aufführung. Jeder von uns musste im Namen eines Lehrers oder Festivalkünstlers sprechen, wie z.B. Zvi Gotheiner, Elsa Wolliaston oder Anne Teresa de Keersmaeker. Es bestand die Gefahr, in Ironie zu verfallen. Aber wir wollten nicht mit den Ikonen herumalbern bzw. ihr Verhalten nachahmen. Einige der Lehrer waren gänzlich unbekannt. Wir suchten nach einem Weg, uns mit der Arbeit anderer zu verbinden. Im Tanz bevorzugen wir eine direkte Beziehung zum Künstler, um von ihm zu lernen. Doch wie soll man dann die Welt des kürzlich verstorbenen Choreographen Dominique Bagouet erforschen? Soll man ihn aufgrund des fehlenden Kontakts einfach außen vor lassen oder soll man stattdessen versuchen, etwas von seinem Universum zu erahnen? Lehrer nahmen an unserer Diskussionsrunde nicht teil. Überhaupt

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arbeiteten wir ziemlich selten mit ihnen zusammen, manchmal überhaupt nicht. Dennoch hielt uns der fehlende oder nicht gewollte Kontakt nicht davon ab, die uns innewohnenden Ressourcen zu nutzen, um ihre Ideen zu erkunden. Die Diskussionsrunde befasste sich mit der Wichtigkeit, Kurse innerlich zu verarbeiten. Es handelte sich um eine Aufführung, die uns zum Bewegen und Denken anregen und unsere grauen Zellen auf Trab bringen sollte. Angenommen man belegt einen einzigen Kurs über afrikanischen Tanz mit Elsa Wolliaston – was würde sie wohl auf die Frage antworten, wie ein junger Künstler heutzutage ausgebildet werden sollte? Man könnte jetzt sagen: ›Keine Ahnung‹. Geht man jedoch von einer einfachen, bekannten Übung aus, gibt es eine Menge zu entdecken: Ein Kurs beinhaltet eine Unmenge von ästhetischen und philosophischen Aussagen; und man grübelt über die Frage, was man mit all dem anfangen soll oder auch nicht. Ein Kurs ist der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion eines Universums. Es handelt sich also zwangsläufig um ein Fantasieprojekt, das einen jedoch anregt, darüber nachzudenken, zu erraten und zu erriechen, was in dieser einen Geste nachklingt. Welche Philosophie oder Ideologie steckt dahinter? Was sagt die Bewegung aus? Wie wird die Bewegung gelehrt? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen Männern und Frauen? Es kommt darauf an, sich all das zu eigen zu machen. Nähert man sich dem Wolliaston-Kurs mit dem exotischen Interesse eines Touristen, so kommt man selbst nicht voran, und auch Wolliaston bleibt da, wo sie ist. Versucht man hingegen herauszufinden, was sie auf die Frage entgegnen würde – indem man selbst versucht, afrikanischen Tanz zu unterrichten –, so nimmt man es auf, denkt darüber nach und bewegt sich schließlich in der fremden Welt von Elsa Wolliaston. Es ist nicht ihre tatsächliche Welt, und es ist auch kein ›echter‹ afrikanischer Tanz – aber es ist ein sehr guter Ausgangspunkt für einen Lernprozess.

Aufführungen vorhersagen Wir sahen 31 Tanzvorführungen in einem Monat und besuchten Museen und Ausstellungen in Wien. Um diese täglichen Seh-Übungen zu überstehen, schlug ich vor, eine ›Vorhersage‹ zu organisieren. Das bedeutete in diesem Fall, durch Bewegung und Sprache die Aufführung des nächsten Tages vorherzusagen. Bevor wir jedoch zur tatsächlichen Beschreibung der noch nicht gesehenen Aufführungen übergingen, mussten wir uns zunächst mit der Art und der Bedeutung der Übung auseinandersetzen. Wir spekulierten und untersuchten, wie die Übung genau aussehen würde. Ist es überhaupt möglich vorherzusagen, was passieren wird? Was ist mit Improvisationen und Premieren? Wird eine

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Aufführung durch Voraussagen nicht schon vor Beginn ruiniert? Ist der ideale Zuschauer nicht offen, aufgeschlossen und neutral? Wie geht man mit den eigenen Erwartungen um? Es gibt eine Vielzahl von Dingen, die man schon vorher kennt: Den Titel, die Gerüchte, den Programmtext, eventuell auch Bilder; möglicherweise hat man schon mit jemandem über die Aufführung gesprochen; vielleicht hat man auch das Ensemble schon einmal gesehen. In der Tat weiß man also bereits eine Menge, und durch das Formulieren der eigenen Vorurteile wird man zu einem überaus aktiven Zuschauer. Man ist gezwungen, das, was einem gefällt oder missfällt, was man versteht und was man über das Theater und das Wesen des Publikums weiß, in Worte zu fassen. Seltsamerweise ist es jedoch oft so, dass Dinge, die man beschreibt, wirklich auch eintreten, da man Stereotypen vorhersieht, die gut zusammenpassen. Außerdem sieht man immer das, was man sehen möchte. Daher geben Vorhersagen wahrscheinlich mehr Aufschluss über einen selbst als über die Aufführung. Letztlich arbeitet man an sich selbst, an seinen Meinungen und Vorurteilen – und sagt nicht nur die Arbeit eines Künstlers vorher. Leseübung bei B OCAL von Boris Charmatz

Fotos: Nicolas Couturier

Bücher im Studio Da wir uns entschlossen hatten, keine Lehrer für Bocal hinzuzuziehen, lautete die Alternative: Arbeit mit Büchern und Dokumenten. Hierzu stellten wir eine Bibliothek zusammen, die uns auf alle Residenzen begleitete. Die Wanderbibliothek bestand sowohl aus einer Auswahl an neuen Büchern als auch aus Materialien von ›Bocalisten‹, die gemeinsam gelesen wurden. Allein schon die Buchtitel vermittelten einen Eindruck über die Wissensbereiche, die es zu erforschen galt: Tanz, Kunst, Pädagogik, Ästhetik und Soziologie. Diese Bücher wurden bei Bocal häufig verwendet und wir hatten die Absicht, um sie herum eine Kultur aufzubauen. Wir sprachen immer wieder über Laban und Tanzgeschichte, lasen Gedichte von Christophe Tarkos und Gherasim Luca, befassten uns mit Aussagen von Künstlern wie Robert Filliou und John Cage zum

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Thema Ausbildung. »Der unwissende Lehrmeister«5 von Jacques Rancière spornte uns an, das Thema Ausbildung anders zu betrachten: Es handelt sich um eine Parabel, die auf der Vorstellung basiert, dass Personen, die selbst nicht schreiben können, in der Lage sind, anderen das Schreiben beizubringen. Und wenn man Dinge vergleichen und richtige Ergebnisse fördern kann, dann kann man auch unterrichten. Das wiederum bedeutet, dass Schule auch innerhalb der Familie oder anderswo stattfinden kann: Die Idee einer Schule außerhalb der Schule war ein gemeinsames Forschungsinteresse von Bocal . Lesen bot einen angenehmen und einfachen Einstieg in die Forschungsarbeit. In Tanzschulen wird die Bibliothek nicht immer aktiv besucht; Bücher werden in der Regel nicht so vielfältig eingesetzt. Wir haben Bücher mit ins Studio genommen und uns Übungen mit diesen Büchern ausgedacht – das Ergebnis war eine Mischung aus Training und Lesen. Grundlage dafür war die simple Beobachtung, dass man als Tänzer den ganzen Tag im Studio verbringt und, wenn man nach Hause kommt, einfach zu müde zum Lesen ist. Als würden sich Lesen und Tanzen gegenseitig ausschließen. Warum sollte man den Spieß nicht einfach umdrehen und das Lesen in die tägliche Praxis integrieren?

Das Buch ist Dein Boden Während des Lesens dachten wir uns Aufwärmübungen aus. Für eine Übung entfernten wir z.B. sämtliche Lesemöbel und lasen direkt auf dem Studioboden, ohne Kissen oder sonstiges. Nach einer Weile fängt man an, Strategien zu entwickeln, um ein Buch zu halten – das sind kleine aber feine Choreographien. Die Positionierung der Hand, die Körperhaltung. Kann man in einer bestimmten Position verharren oder nicht? Wie viele verschiedene Haltungen nimmt man ein? Eine echte Verhaltensstudie. Bei einer anderen Übung stellt man sich vor, das eigene Buch könne sich bewegen. Ähnlich wie bei der »Alexander-Technik« passt man seinen Blick und seinen Hals dem zu lesenden Text an. Dann bewegt man das Buch ein wenig, und nach einiger Zeit stellt man fest, dass man den Text nicht aus den Augen verliert. Man kann sich also bewegen und dabei lesen. Auf der Grundlage dieses Prinzips entwickelten wir Duette: Eine Person liest, die andere bewegt langsam das Buch. Schließlich entwickelt man Methoden, um den Leser dazu zu bringen, sich kontinuierlich zu bewegen. So kann man erfahren, wie der eigene Blick mit der Wirbelsäule verbunden ist, wie präzise man seine Wirbelsäule bewegen kann, welche Art von Umgebung sie schafft, was geht und was nicht geht. 5 | Jacques Rancière: Der unwissende Lehrmeister, Wien: Passagen 2007.

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Eine andere Übung bestand darin, sich das Buch als eigenen Untergrund vorzustellen. Man legt das Buch auf den Boden und stellt sich darauf, wobei man ausschließlich das Buch berührt; anschließend liest man daraus, ohne den Boden zu berühren. Selbstverständlich ist es einfacher, mit einem großen Buch zu beginnen; aber nach dem Dehnen, auf der Suche nach dem richtigen Gleichgewicht und der Genauigkeit der Bewegungen entdeckt man unzählige Haltungen, die Körperlichkeit, Gleichgewicht, Konzentration, Bewusstsein etc. verbinden. Es ist nichts weiter als eine Modern-Dance-Übung. Und gleichzeitig liest man; und selbst wenn man nur zehn oder zwanzig Seiten liest und nicht alles behält, ist es besser als gar nichts. Nach dem Aufwärmen kann man mit dem Workshop beginnen und ist bereit, neue Erfahrungen zu machen – man hat sich körperlich aufgewärmt und Lesestoff im Gepäck. Um das Wissen über unsere Lese-Aufwärmübungen und Lese-Sessions mit anderen zu teilen, bewegten wir uns in Zweiergruppen, wobei eine Person der anderen Fragen zum Lesestoff stellte. Auf dieser Grundlage können zunehmend komplexere Übungen entwickelt oder Tanzübungen durchgeführt werden; man nimmt z.B. ein Buch und schaut, was möglich ist. Wie viel Raum bleibt zum Improvisieren, wenn man ein Buch in der Hand hält oder liest? Wie treten Körper in Kontakt zueinander, während sie an etwas anderes denken? Bei Bocal hatten wir das Ziel, die Trainingsumgebung komplexer zu gestalten und uns nicht nur auf eine Tätigkeit zu beschränken, und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Alltag und die Handlungen von Menschen im Allgemeinen stets von mehreren Faktoren gleichzeitig beeinflusst werden. Lesen beim Bewegen war eine Form, dieses Ziel zu erreichen – mit sechzehn Lehrern, verschiedenen Büchern, Bewegungen, unterschiedlichen Arten der gegenseitigen Annäherung … alles in einem einzigen Kurs. Und dennoch ist man selbst dafür verantwortlich, was man tut; dafür, dass man seine Handlungen beobachtet, das richtige Gleichgewicht findet und einschätzt, wie viel man davon verdauen kann: Man ist sein eigener Lehrer. Das Multitasking-Konzept hat ebenfalls viel mit Improvisation zu tun: Es gibt einen Raum und jeder bestimmt selbst, wie er ihn nutzen möchte; man muss allerdings im Auge behalten, was um einen herum geschieht. Lesen in Bewegung ist eine Übung, welche die Komplexität dessen widerspiegelt, was heute auf der Bühne geschieht. Übersetzung aus dem Englischen

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Literaturverzeichnis Charmatz, Boris/Launay, Isabelle: Entretenir. À propos d’une danse contemporaine, Paris: Centre national de la danse/Les presses du réel 2002. Rancière, Jacques: Der unwissende Lehrmeister, Wien: Passagen 2007.

Internetquellen www.ednaedna.com.

Wir bauen an einer gemeinsamen Sprache Thomas Lehmen im Gespräch mit Pirkko Husemann

Pirkko Husemann: Deine letzten beiden Arbeiten L EHMEN LERNT und L EHMEN MACHT beschäftigen sich mit der Frage des Lernens und Beibringens. Deshalb wirst Du in letzter Zeit häufig zu Tagungen und Symposien eingeladen, die mit dem Thema Bildung oder Ausbildung zu tun haben. Inwiefern ist das Thema für Deine künstlerische Arbeit interessant? Thomas Lehmen: Mich interessiert, was das Potenzial aller Menschen ist. Ich gehe davon aus, dass jeder jedem etwas beibringen kann. Insofern wollte ich in diesen Projekten wissen, was Menschen anderen Menschen beibringen können. Dieses soziale Lernen birgt einen Schatz an Wissen und Kommunikation. Es findet aber immer weniger statt. Sobald man Menschen fragt: ›Was denken Sie, was andere Leute von Ihnen lernen können oder können sollten?‹, kommt irgendetwas. Etwas Lustiges, Wissenschaftliches oder Banales. Das habe ich mit Museumsbesuchern im Haus der Kunst in München getan: ›Sagen Sie es mir oder zeigen Sie es mir oder schreiben Sie was auf oder kochen Sie was in der Kochecke.‹ So gut wie jeder hatte etwas mitzuteilen. Daraus ist eine schöne Sammlung entstanden, die dann auch in der Ausstellung zu sehen war. Welche Rolle spielte es, dass diese Art der Wissensvermittlung im Kunstkontext stattfand und eben nicht zu Hause oder in der Schule? Ich glaube, dass sich das Bewusstsein der Leute für ihre Aktionen erweitert hat. Ihre Ideen wurden ernst genommen und anderen Leuten gezeigt. So wurden sie sich darüber klar, dass ihr kleines, angeblich banales Produkt nun im Museum steht. Außerdem wurden sie mit Allan Kaprow gleichgestellt, dessen Happenings im selben Raum gezeigt wurden. Die Leute konnten also auch mit Kleinigkeiten am Kunstkontext teilhaben und sich als Künstler verstehen. Schon während des Machens

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begreifen sie, dass sie damit eigentlich Kunst machen, d.h. dass nicht nur der Rahmen, sondern auch der Prozess die Aktionen zur Kunst macht. Für L EHMEN LERNT hast Du Dir das beibringen lassen, was Du können wolltest. Wussten diejenigen, die Dir die Clownerie oder das Fliegen beigebracht haben, dass Du die Bilder dieses Lernens für ein Theaterstück verwenden würdest? Ja, aber ich glaube, das hat ihnen gar nichts ausgemacht. Für Lehmen lernt wurde das Lernen per Kamera aufgenommen. Insofern spielte die Medialisierung eine wichtige Rolle. Die Leute sind selbst nicht im Bild, da sie hinter der Kamera stehen und mich beim Lernen filmen. Dadurch ist ihre Perspektive die der Kamera, die sich auf meine Aktion richtet. In Deinem Stück STATIONEN war das anders. Da saßen Akteure und Zuschauer zusammen an einem Tisch und Tänzer standen zusammen mit ›Menschen aus Berufen aller Art‹ auf der Bühne. Dadurch war schon von vornherein klar, dass letztere mit der Demonstration alltäglicher Arbeitsabläufe auf der Bühne ausgestellt würden, was dazu führte, dass sie ihre Handlungen nicht nur reproduzierten, sondern auch inszenierten. Im Gegensatz dazu geht das Lernen und Beibringen bei L EHMEN LERNT oder L EHMEN MACHT der Vorstellung bzw. Ausstellung voran. Richtig, aber die Grundidee ist dieselbe. Im Gegensatz zum akademischen oder schulischen Lernen geht es mir darum, dass jeder mit jeglicher Information an einer gemeinsam geteilten Situation partizipiert. Dabei setze ich Lehrende und Lernende gleich. Denn der Lehrer lernt auch vom Schüler oder von anderen Lehrern. Im Vordergrund steht dabei vor allem die Art und Weise der Kommunikation. Ich denke da z.B. an eine klassische Situation aus der Uni: Da steht ein alter, weiser Professor in der Vorlesung und erzählt. Dann fragt ein Student etwas, das erst mal völlig deplatziert wirkt, weil es banal oder dumm klingt. Der Professor hört sich das an und denkt erst mal eine Weile nach. Dann aber fängt er an zu erzählen und diese banale, dumme Frage macht plötzlich so viel Sinn. Dabei geht es nicht um das klassische Kommunikationsmodell von Sender und Empfänger, eher um die Reduktion von Komplexität, eine Rekontextualisierung und um gegenseitiges Verstehen. Aber die Kommunikation beruht auf Differenz. Jeder weiß etwas, aber nicht alle dasselbe. Ich meine nicht unbedingt eine hierarchische Differenz, sondern eine qualitative. Es gibt unterschiedliche Auffassungen und Erfahrungen. Dasselbe gilt doch auch, wenn Du Dich mit einem anderen Künstler oder mit Nicht-Künstlern auseinandersetzt. In Deinen Arbeiten ermöglichst Du immer wieder Situationen, in denen es zu einer Kollision von unterschiedlichen Perspektiven, Meinungen und Erfahrungen kommt. Interessiert es Dich, mit solchen Spannungsfeldern zu arbeiten? Ja, klar. Sinn kommt durch Differenz zustande. Es geht mir aber vor allem darum, dass man sich das Feld, in dem diese Unterschiede aufein-

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ander treffen, immer wieder neu erarbeiten muss. Dazu muss man einen gemeinsamen Nenner finden und Gemeinsamkeit kultivieren. Du gibst ja seit langem Workshops an Tanzhochschulen in der ganzen Welt. Würdest Du sagen, dass Du in diesen Workshops Situationen herstellst, in denen eine gemeinschaftliche Sinnstiftung stattfinden kann? Im Gegensatz zu einer Vorstellung von Unterricht, in dem Du anderen das beibringst, was sie Deiner Meinung nach wissen müssen? Die Studenten fragen viel, sie fordern mich und haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Dabei geht es einerseits um Information, also Wissen im einfachsten Sinne. Sie fragen z.B.: ›Wer hat denn wann, was und wie gemacht?‹ In solchen Situationen muss man so viel wissen, um ihnen eine Antwort geben zu können oder ihnen zumindest weiterhelfen zu können. Aber die Studenten befinden sich immer in verschiedenen Lebensphasen und Entwicklungsstufen. Insofern hat jeder sein eigenes, kleines Problem und entsprechend auch unterschiedliche Kommunikationsbedürfnisse. Manche Angebote, die ich im Zuge eines Workshops mache, können sie einfach nicht annehmen, weil sie die entsprechende ›Sprache‹ nicht sprechen. Deshalb versuche ich, mit jedem einen individuellen Dialog zu führen. Das bedeutet: Wir bauen an einer gemeinsamen Sprache. Das ist ein Trick, den ich von einer Übersetzerin habe. Ich bat sie um Rat, als ich mit einer Gruppe von Chinesen konfrontiert war. In diesem Workshop war die sprachliche Kommunikation sehr limitiert. Hinzu kam noch die kulturelle Differenz. Am Anfang kamen wir überhaupt nicht miteinander zurecht. Jedes Wort, was die eine Seite sagte, wurde von der anderen missverstanden, weil dieselben Worte in einem anderen Kontext eine andere Bedeutung haben. Damals riet mir die Übersetzerin, eine dritte Sprache zu entwickeln, die nichts mit unseren jeweiligen Sprachen zu tun hat. Das funktioniert über einen konkreten Gegenstand oder Prozess, aber eben nur dann, wenn alle eine Position einnehmen, in der sie zunächst einmal nichts wissen. Es muss also ein gleichberechtigter Dialog über die Arbeit zustande kommen. Erst dann kommt man zu dem Punkt, an dem man mit einer Person an etwas arbeiten kann. Wie machst Du das? Gibt es da eine Parallele zu Deinen Stücken, in denen Du mit allgemeinverständlichen Themen wie Arbeiten, Sterben, Kochen, Ficken (sic!), Lachen oder Weinen arbeitest? Oder zu den Systemen, in denen Du mit grundlegenden Regeln und Instruktionen arbeitest? Welches ›Handwerkszeug‹ verwendest Du in Deinen Workshops? Ich verwende in der Regel ein grundlegendes Thema. So habe ich beispielsweise letzte Woche in Amsterdam einen Workshop gegeben, in dem ich mit der ›Helden-Funktion‹ gearbeitet habe. Helden überschreiten immer eine Grenze. Die Leute sollten also eine Heldenfigur entwickeln, die aufgrund gewisser Eigenschaften Probleme löst oder

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politisch aktiv ist, einfach nur einer älteren Dame über die Straße hilft, oder ganz einfach etwas kreiert. Der Held ist also eine Art Container, den man mit bestimmten Ideen oder Erfahrungen füllen kann? Ja, ich nenne das eine grundlegende Funktion. Mein Repertoire von Funktionen hat sich mit der Zeit immer weiter entwickelt und jetzt arbeite ich eben gerade mit der Funktion des Lernens. Verwendest Du unterschiedliche Funktionen für unterschiedliche ›Schüler‹? Bald wirst Du als Gastprofessor mit Studenten der Performance Studies an der Universität in Hamburg arbeiten. Funktioniert Deine ›dritte Sprache‹ auch im Umgang mit Leuten, die einen wissenschaftlich-theoretischen Zugang haben? Eigentlich funktioniert das immer. Bisher haben mich alle in meiner Funktion als Künstler respektiert. Selbst wenn eine Differenz zwischen Kunst und Theorie gegeben ist. Es geht immer darum, mit diesem Unterschied Sinn zu machen. Dann hast Du also eine offene Methode gefunden, die unabhängig vom jeweiligen Kontext funktioniert? Die Methode besteht einfach darin, dass ich alles, was die Leute sagen, ernst nehme. Wenn ich will, dass Leute etwas von der Kunst haben, dann muss ich sie zunächst einmal wertfrei daran teilhaben lassen. Deshalb setze ich ihnen keine Grenzen. Alles, was sie machen, wird akzeptiert – zumindest wenn es um die Teilhabe der Leute in den Workshops oder an den Stücken geht. In anderen Fällen, z.B. kurzen ›Informationsworkshops‹ (also so etwas wie Schnupperkurse), geht es mehr um meine eigenen Interessen. Da ist es dann unter Umständen von Vorteil, dass man meist nur ein paar Stunden miteinander zu tun hat. Das heißt, Du machst erst mal alles möglich und schaust, was man dann von den vielen, kleinen Kunstfertigkeiten in den Kunstkontext stellen kann? Nein, ab da ist es dann schon Kunst. In dem Moment, in dem ich mich künstlerisch mit den Leuten auseinandersetze, ist das schon eine künstlerische Arbeit. Durch kreative Prozesse ver- und bearbeiten sie ihr Material zu etwas, das es so vorher nicht gab. Das ist ja ein interessanter Materialbegriff. Welche Rolle spielen für Dich als Choreograph Körper und Bewegung? Arbeitest Du mit einem spezifischen Material? Ja, ich arbeite mit Bewegung, aber nicht notwendigerweise nur mit der körperlichen Bewegung. Das mache ich auch, aber eigentlich geht es mir eher um eine geistige Bewegung. Zwischen den Leuten und bei den Leuten. Etwas ist im Prozess, d.h. etwas ist in Bewegung. Insofern ist die Bewegung nicht auf den Körper beschränkt.

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L EHMEN

MACHT

von Thomas Lehmen

Foto: Thomas Lehmen

Aber Du schaffst Situationen, in denen diese mentale Bewegung auch sichtbar wird. Man sieht, dass die Leute über etwas nachdenken und sich darüber verständigen. Genauer gesagt sehe ich einen Museumsbesucher, der darüber nachdenkt, was man lernen sollte, oder ich sehe einen Akteur auf der Bühne, der eine Instruktion erhalten hat und darüber nachdenkt, wie er die in Bewegung umsetzen kann. Man sieht also eine Denkbewegung und deren Umsetzung in die Tat. Diese Aktion kann dann auch eine Köperbewegung sein, muss es aber nicht. Wenn es um eine Theaterproduktion geht, achte ich darauf, dass so etwas dann auch ganz konkret und unmittelbar in Bewegung umgesetzt wird. Welche Bewegung passt dazu? Welche Bewegung unterstützt etwas? Wie wandelt sich eine Bewegung mit den jeweiligen Themen? Aber im Grunde geht es mir um die Teilhabe des Publikums an dem kreativen Reflexionsprozess, d.h. an einem Nachdenken über die eigenen Beobachtungen, wobei dieser Reflexionsprozess immer auch zugleich ein Konstruktionsvorgang ist. Du sagtest gerade, es interessiert Dich, wie Bewegung durch die Veränderung bestimmter Faktoren beeinflusst wird. Jetzt machen wir mal einen großen Sprung. Wie würdest Du die Parameter der Tanzausbildung verändern, um die Idee des Tanzes in Bewegung zu bringen? Meine Haltung zum Thema Tanzausbildung ist die, dass ich als Künstler an eine Schule komme, um einen Workshop zu geben. Dabei möchte ich mir keine Gedanken darüber machen müssen, was die richtige Pädagogik ist. Eigentlich arbeite ich im Rahmen des Workshops mit den Leuten an meinen (und im günstigen Falle auch an ihren) Ideen weiter. Ich kann meine künstlerische Auseinandersetzung ja nicht anhalten, nur weil ich einen Workshop gebe. Besonders extrem war das in der Zeit, als ich an Stationen und Funktionen gearbeitet habe. Da habe ich stundenlang damit verbracht, den Workshopteilnehmern und mir die

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Systemtheorie klar zu machen. Das war insofern interessant, als ich da manchmal auch zugeben musste, dass ich Wissenslücken habe oder dass es bei der Arbeit mit den choreographischen Systemen Probleme gibt. So haben sie mich nicht als Lehrer beim Unterrichten, sondern eher als Künstler bei der alltäglichen Arbeit erlebt. Und zwar mit den gleichen Problemen, die sie auch haben. Das lässt mich an einen Satz denken, den Du in Deinem Text »Ich bin ja kein echter Lehrer-Lehrer« formuliert hast: »Kunst aus Künstlersicht zu vermitteln, andere daran teilhaben zu lassen, scheint mir das Wissen zu beinhalten, nichts zu wissen, mit dem Nicht-Wissen umgehen zu können […], denn dort wo wir kein Standardverfahren für ein Problem anwenden, sind wir kreativ.« 1 Das Nicht-Wissen ist der Kunst inhärent, weil man dabei mit Dingen umgeht, die man nicht weiß. Die Kunst besteht ja darin, etwas zu verwirklichen oder in Gang zu setzen oder deutlich zu machen oder zu materialisieren oder zu denken, das man noch nicht oder nicht oder bisher nur schlecht ausdrücken kann. Eine Aufgabe von Kunst ist es also, diesem Bereich des Nicht-Wissens einen Platz einzuräumen. Kunst vermitteln heißt entsprechend immer auch, mit etwas umzugehen, das man nicht weiß. Dafür gibt es kein Rezept. Das Resultat eines Prozesses kann in vielen Parametern, d.h. auch im Resultat unbekannt sein. Deshalb ist es für mich außerordentlich wichtig, dass die Kunst einen Freiraum behält, in dem nicht versucht wird, ihre Vorgehensweise zu definieren. Dagegen sträube ich mich. Das darf man auch bei der Entwicklung einer Tanzausbildung nicht vergessen. Der nötige Spiel- und Schutzraum muss schon in der Struktur einer Ausbildung und im Kopf der Lehrer angelegt sein. Es geht immer auch um eine künstlerische Auseinandersetzung, die am allerbesten – innerhalb eines gegebenen Rahmens – durch Künstler vermittelt werden kann. Kunst wird ja gerne instrumentalisiert. So war man z.B. ›Lückenschließer‹ bei der Osterweiterung Europas, jetzt soll man sich Projekte zum Thema Lernen oder kulturelle Bildung ausdenken. Dabei wird gefordert, dass präzise formuliert wird, was man da macht, wie man arbeitet und was dabei raus kommt. Das empfinde ich als eine Frechheit – so killt man die Kunst! So schränkt man ihre Funktion und Aufgabe ein. Die besteht nämlich nicht darin, etwas Schönes, Erwartetes und Bekanntes zu reproduzieren, sondern darin – so meine Auffassung – das Denken durch die Wahrnehmung zu fordern, es auf diese Weise weiterzuentwickeln. Zwar fordere ich das nicht von den Studenten ein, aber wenn mir jemand im Unterricht einen schönen Strauß Blumen auf die Bühne stellt, dann frage ich eventuell schon: Und? 1 | Thomas Lehmen: »Ich bin ja kein echter Lehrer-Lehrer«, in: Cornelia Albrecht/Franz Anton Cramer (Hg.): Tanz [Aus] Bildung. Reviewing Bodies of Knowledge, München: epodium 2006, S. 215.

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Damit sind wir wieder am Anfang. Du sagst, Du wirst oft zu Veranstaltungen oder Gesprächen eingeladen, in denen es darum geht, was der Künstler uns lehren kann, wenn es ums Lernen geht. Genau. Und in Folge dessen muss ich daran arbeiten, einen Raum zu schaffen, der nicht besetzt ist. Ich sehe mich also dazu gezwungen, zu betonen, dass sich das Wie nicht definieren lässt. Man kann nur bestimmte Bedingungen und Parameter zusammenwürfeln, die hoffentlich dazu führen, dass am Ende Künstler dabei ’rauskommen, die etwas Gescheites machen. Das kann ich nicht voraussehen. Es gibt ja Statistiken darüber, wie viele Leute, die Kunst studiert haben, am Ende noch Kunst machen. Das sind leider ganz, ganz wenige.

Literaturverzeichnis Lehmen, Thomas: »Ich bin ja kein echter Lehrer-Lehrer«, in: Cornelia Albrecht/Franz Anton Cramer (Hg.): Tanz [Aus] Bildung. Reviewing Bodies of Knowledge, München: epodium 2006, S. 213–218.

Die Erwägung eines komparativen Ansatzes Ein Modell zur Klassifizierung von Tanztechniken Kurt Koegel

Wie wäre es, wenn wir unsere Fähigkeiten verbessern könnten, um beim Unterrichten, bei der Produktion und in der Kritik von Tanz über stilistische Erwägungen hinauszugehen? Wie könnten wir unseren Bezugsrahmen erweitern, die Ähnlichkeiten zwischen den Stilarten, Ansätzen und Techniken erkennen und kooperativere Methoden der Wissens- und Informationsvermittlung ausarbeiten? Wie könnte ein Studium Lehrer nicht nur in Bezug auf bestehende Methoden anleiten und vorbereiten, sondern sie auch dazu ermutigen, neue Ansätze, neue Techniken und neue Lehrmethoden zu entwickeln? In den letzten Jahren musste ich mit zunehmender Enttäuschung feststellen, dass es zwar gute Programme zur pädagogischen Ausbildung von Lehrern und viele ausgezeichnete progressive Systeme zur Ausbildung von Tänzern gibt, jedoch nur wenige Programme, die innovative, zeitgenössische Ansätze für das Anleiten und Unterrichten von Bewegungsforschung fördern. Eines der Hindernisse dabei scheint die Schwierigkeit zu sein, das Wesentliche an den verschiedenen zeitgenössischen Stilen zu erkennen und zu klassifizieren. Folglich ist es auch schwierig zu bestimmen, welche pädagogischen Grundsätze und Methoden ein effektiveres Training für zeitgenössische Tänzer fördern könnten. Vor diesem Hintergrund habe ich Ansätze zum Vergleich verschiedener Spektren der Bewegungsforschung und zur Einteilung wesentlicher Merkmale nach gemeinsamen Eigenschaften und charakteristischen Kennzeichen geprüft. Eine dieser Methoden nenne ich Scape (Systems for Classification and Analysis of Partnering Exploration) . Scape fasst die enorme Vielfalt der unterschiedlichen Formen des Partnering zusammen, um diese nach Anhaltspunkten für Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu untersuchen. Anschließend ermöglicht Scape es, die

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einzelnen Elemente so zu kategorisieren, dass sie das Beobachtungsvermögen für den Unterricht sowie für Entscheidungsprozesse beim Tanzen oder Komponieren schärfen. Führt man diese Gedankenlinie fort, könnte man sich ein Modell vorstellen, das sich zur Unterscheidung charakteristischer Merkmale der verschiedenen Formen des zeitgenössischen Tanzes einsetzen ließe.

Gründe, Vorteile und erste Ansatzpunkte Da der Tanz nicht eine einzige kodifizierte Technik kennt und das Spektrum der technischen Aspekte täglich zunimmt, könnte es nützlich sein, eine aus Mustern bestehende Sprache für die Formen des zeitgenössischen Tanzes zu entwickeln. Diese »Mustersprache« (pattern language) könnte mit einer Auflistung der Eigenschaften und Kategorien beginnen, die sich zur Bestimmung der Komponenten eines Stils oder einer Technik verwenden lassen. Lehrer, Choreographen und Studenten könnten sich diese zunutze machen, da eine solche »Mustersprache« das Verständnis für die in den unterschiedlichen Bereichen der Tanzforschung relevanten Aspekte fördert. Solch ein Modell könnte also einen ›neutralen‹ Rahmen zur Anregung von Diskussionen und Feedbacks bieten, zumal der Schwerpunkt eher auf das Material und weniger auf die Individuen gelegt wird, die die Techniken ausarbeiten. Man hätte also ein Werkzeug zur Bestimmung derjenigen Aspekte, die in der Pädagogik eines Lehrers am Werke sind; ein Instrument, das aufzeigt, wie sich bestimmte Methoden auf andere Herangehensweisen anwenden ließen; ein Gerüst zur Förderung neuer Entwicklungen und hybrider Techniken. Dieses Paradigma ist nicht als Vorgehensweise zur Beurteilung von Material auf der Grundlage eines Regelapparats gedacht, sondern vielmehr als Methode zur Förderung pädagogischer Überlegungen zu neuesten Forschungsansätzen. Es ist einfach entmutigend, wenn man einen Lehrer beim Unterrichten beobachtet, der einen interessanten Aspekt der Bewegungsforschung entwickelt hat, man dann aber feststellen muss, dass der Unterricht derart ungünstig aufgebaut ist, dass die Methode den Lernenden die Möglichkeit verstellt, diese neue Herangehensweise als Geschenk auffassen und akzeptieren zu können. Ziel der »Mustersprache« ist es, den Lehrern ein konstruktives Instrument an die Hand zu geben, das innovative pädagogische Forschung fördert, die Strukturierung der Unterrichtsstunden und Lehrpläne verbessert, Gruppen- und Kreationsprozesse transformiert.

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Tabelle 1 Ways of Being Supported Different types of body tone and structural organization while being supported in top-loaded positions (There exists a complementary palette of corresponding guideposts for the supportive role.)

Image

Characteristics

Sack of Potatoes

Body as collection of unorganized weight units. Low muscular tone. Body mass feels heavy. Difficult to control degree of friction at contact surface. All paths lead down.

The Frightened Cat

Very high tone. Muscle fibers firing quickly. No precise sense or reaching directions. Feels light but out of control. Produces acceleration especially when supporting surface also moves.

Light as a Breath

A light controlled tone radiating out from center. Able to make contact surface more precise and defined. Able to reduce size of contact surface to allow rotational shifting (“Scratching”).

Rooting and Reaching

Calm, extended tone. Connection from periphery to center and energy reaching out from center out past periphery. Body mass feels light and controlled. May utilize oppositional pushing into floor or partner (torque) to assist extension into space. Very effective for developing a sense of confidence and range of movement potential in any given situation

The Clinging Vine

High friction at contact surface. High body tone. Utilizes contraction or constriction. May feel secure, or conversely, may feel limiting.

Ein praktisches Beispiel Um die weitgehend künstliche Unterscheidung zwischen Kontaktimprovisation sowie anderen »Partnering-Techniken« aufzubrechen und den Lernprozess dabei zu bereichern, habe ich in den letzten Jahren »Informationsarrangements« entwickelt. Hierzu zählen das Aufstellen von wiedererkennbaren Mustern, das Identifizieren von Grundprinzipien sowie deren Einteilen in Listen oder »Paletten«. Sie können genutzt werden, um eine Angleichung und kreative Anwendung von Wissen und Fähigkeiten zu ermöglichen. Das Wort ›Palette‹ nehme ich hier vor allem

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deshalb zur Hilfe, da es bestimmte Bilder evoziert. Man denkt an die kräftigen Töne von Ölfarben, den Geruch und die Textur der Farbe, die Art, wie sie mit geschultem Blick und geschickter Hand gemischt und gedeckt wird. Ein anderer Bezug lässt sich zur Computersoftware für Graphikdesigner wie etwa Photoshop herstellen. Die ›Paletten‹ solcher Programme sind nach visuellen Prinzipien organisiert und in Arbeitseinheiten gruppiert. Das ermöglicht es dem Künstler, den Überblick über die vorhandene Auswahl an Parametern zu behalten und auch aktiv auf diese zugreifen zu können (s. Tab. 1). Auch die Arbeiten des Architekten Christopher Alexander haben meine Herangehensweise beeinflusst. Er hat eine »Mustersprache« der Architektur entwickelt. Diese basiert vorwiegend auf menschlichen Lebensmustern, weniger auf visuellen Formvorstellungen. Ein Beispiel: Ein Architekt hat einen Kunden, der Schriftsteller ist und der für gewöhnlich beim morgendlichen Kaffee schreibt. Anstatt nun einen quadratischen Raum namens ›Küche‹ zu konzipieren, könnte der Architekt ein Bündel von Umgebungsmustern entwerfen (den Blick auf einen ruhigen Garten, eine transparente Wand, um das Sonnenlicht ins Innere zu lassen, eine gemütliche Sitzgelegenheit mit leicht erreichbaren Ablagen), die er als Inspirationsrichtlinien für den Entwurf eines Wohn- und Arbeitsbereiches nutzt, der die besondere Lebensweise seines Kunden widerspiegelt. In dem Buch »A Pattern Language«1 erklärt Alexander dies wie folgt: Jedes Muster beschreibt Probleme oder Situationen, die in unserer Umgebung vorhanden sind, und erläutert die Lösung für dieses Problem, so dass diese Lösung beliebig oft angewandt werden kann, ohne dass sie jemals zweimal auf dieselbe Weise ausgeführt wird. Alexander interessierte sich also dafür, warum bestimmte Orte räumlich und psychologisch funktionieren, und entwickelte eine Theorie zur Festlegung indigener Gebrauchsmuster. Für mich sind diese Muster Gebrauchsspuren. Man stelle sich beispielsweise die südwestliche Ecke eines Unterstands in den Bergen vor: Die Menschen gehen regelmäßig nach draußen und setzen sich an verregneten Nachmittagen unter die Dachtraufe, um dort etwas Warmes zu trinken. Jemand stellt einen Holzklotz zum Sitzen hin. Ein anderer stellt einen abgeschnittenen Baumstamm als Tisch dazu. Zum Schluss verlängert ein Holzstapel die Wand des Unterstands. So ist ein Muster entstanden, das sich anschließend durch Zeichnungen gestalten lässt. Diese Theorie bietet ein Mittel zum Entwerfen attraktiver und bewohnbarer Architekturen, die menschliche Erfahrungen mit Logikansätzen verbindet. Ausgehend von dieser Wahrnehmungsweise wollte ich klären, was 1 | Christopher Alexander: A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, New York: Oxford University Press 1977.

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das Essentielle in einem Tanz zwischen zwei Partnern ist. Ich begann, wiederkehrende Muster in der Kontaktimprovisation zu identifizieren und zu katalogisieren. Daraus erstellte ich Diagramme, die ein Vokabular für die im Spiel befindlichen Relationen zwischen den Partnern etablieren und dieses auch graphisch illustrieren. In der Anwendung führte diese Methode dazu, dass die Tänzer ihre Beobachtungsgabe schärften und mit anderen choreographischen Methoden experimentierten. Um diese Fähigkeiten noch zu verfeinern, benutze ich oft eine Reihe von Partituren für Beobachtungen. Eine Partitur bildet das Zusammenspiel von zwei Duetten ab: Zwei der vier Tänzer entscheiden sich dazu, die Situation als Zeugen zu beobachten. Für die Ausrichtung ihrer Beobachtung erhalten sie unterschiedliche Aufgaben. So achtet beispielsweise eine Person auf Bilder, Emotionen und narrative Elemente. Die andere Person konzentriert sich auf Körperlichkeit, Mechanik und Technik des Tanzes. Mit diesen kontrastierenden Filtern beobachten beide Zeugen denselben Tanz. Dann sortieren sie ihre Beobachtungen in zwei verschiedenen Paletten. Wenn sie diese Eindrücke mit dem entsprechenden Vokabular mitteilen, fühlt sich das tanzende Paar in seinen Bewegungen durch die Beobachtung aus zwei unterschiedlichen Perspektiven bestätigt. So stimuliert diese Übung den kreativen Kompositionsprozess während des Tanzens. Für die Tänzer hat dies nicht nur die Erleichterung und Klärung von Entscheidungsprozessen zur Folge – es gibt ihnen darüber hinaus das Gefühl, kreativ und kommunikativ zugleich zu sein. Die Erstellung solcher wiedererkennbaren Listen oder Paletten ist auch für die Entwicklung neuer Forschungs- und Unterrichtsmethoden hilfreich. So hörte ich von Tänzern oft die gängige Auffassung, dass es bei der Kontaktimprovisation um das Gespür für Gewicht, Schwerkraft und die Freiheit zwischen den Partnern gehe. Was ich im Gegensatz dazu aber sah, waren Manipulation, ineffiziente Haltemuster und das Heben von Gewichten gegen die Schwerkraft. Deshalb suchte ich nach einer Möglichkeit, tatsächliche Freiheit zwischen den Partnern zu fördern. In der Beschäftigung mit der deutschen Sprache fühlte ich mich dann durch das Wort ›Unabhängigkeit‹ (Un-ab-hängig-keit oder buchstäblich: Nicht-runter-hängig-keit) inspiriert. Viele Jahre lang organisierte ich Unterrichtsstunden mit Einschränkungen, die ein Halten oder Berühren mit Händen und Füßen nicht zuließen, und begann, Fertigkeitsmuster zu entwickeln, die dieses »Partnering« unterstützten. Die Studenten stellten fest, dass sie effektivere Stütztechniken erlernten, sobald sie ein Verständnis für die Beschaffenheit der sich ihnen bietenden Oberfläche entwickelten. Sie realisierten, dass sie effektiver ›fliegen‹ konnten, wenn sie ihre Hände und Arme dazu nutzten, in klare Vektoren hineinzugreifen und die Oberflächenreibung zu kontrollieren, als wenn sie sich unüberlegt an ihren Partnern festhielten. Alles in allem waren

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sie begeistert über die neu entstehenden Bewegungsmöglichkeiten, die sich durch diese klärende Einschränkung ergaben. Als ich in späteren Jahren begann, das »Partnering« ausschließlich mit den Händen zu erkunden, stellte ich die These auf, dass das Hauptmerkmal bei der Klassifizierung von Partnertanz in der Unterscheidung zwischen Tanz mit und Tanz ohne Rollenzuweisung liegt. Die Variante ohne Rollenzuweisung könnte auch mit den Begriffen »nicht führend« und »nicht folgend« umschrieben werden – oder auch mit dem von dem Beat-Literaten William S. Burroughs geprägten Ausdruck: »Mit dem dritten Bewusstsein arbeiten«. Den Tanz mit Rollenzuweisung bezeichne ich als »Einwirkung und Beantwortung« oder »Mover/Partner-Studie«. Die Teilnehmer meiner Klassen werden mit Techniken, Prinzipien und Leitlinien in beiden Praxisarten vertraut gemacht, was sie dazu befähigt, beide differenziert ineinander übergehen zu lassen. Die Paletten mit Prinzipien und Techniken, die sie erlernen, dienen ihnen also dazu, die wachsende Informationssammlung so zu gruppieren, dass sie während des Tanzens darauf zurückgreifen können. Off balance secure-Übung: »Once a principle is understood, it can be applied in more complex situations with choreographic effect.« (Kurt Koegel)

Foto: Susanne Bently

Bei der Arbeit mit Studenten an Universitäten und im Rahmen von vierjährigen Intensivkursen oder bei der Arbeit mit großen Kompanien erlernen und verändern die Tänzer die Muster oft spielerisch und ohne

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große Anstrengung. Gleichzeitig sind sie aber auch übersättigt mit allen möglichen Informationen. Ferner ist die Zeit in einem solchen Kontext immer ein kostbares Gut. Ich sah mich deshalb gezwungen, meinen Anleitungsprozess effizienter zu gestalten. Aufgrund dieser Faktoren begann ich, nach pädagogischen Methoden zu suchen, die den Lernprozess beschleunigen würden. Ich fing an, die Unterrichtstunden nach unterschiedlichen Informationsstufen zu gliedern. Zusätzlich wird die Lernpalette oftmals durch eine Reihe von Ratschlägen ergänzt: Strategien, welche das Lernen erleichtern können; aber auch Warnungen vor Fallen und Fußangeln. Nach der Stunde breitete ich oft ein großes Blatt Papier aus, auf dem das an diesem Tag behandelte Material aufgelistet und graphisch dargestellt wird. Diese in sich geschlossene, graphische Darstellung des Materials unterstützt die Tänzer nachweislich dabei, die Grundlagen zu verinnerlichen und sie bei Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen. Die Tänzer verbessern ihre Beobachtungsgabe für die Entscheidungen anderer und können fundierte Antworten geben. Ihre Problemlösungen werden weniger persönlich und gleichzeitig objektiver. Zum Beispiel: Warum verfange ich mich in den Armen und Beinen meiner Partnerin? Warum sind die Gewichtsverlagerungen so schwerfällig und ungeschickt? Warum fühlt sich ein Flug so waghalsig oder wackelig an? Die Methode bietet also ein greif bares Werkzeug für die Benennung von physischen Problemen und zur Entwicklung praktischer Lösungen beim Tanzen. Die Effizienz dieser pädagogischen Methode zur Unterstützung von Tänzern bei der Integration ihrer »Partnering«-Fähigkeiten in die choreographische Studien- und Darbietungsarbeit zeigt sich in einer verständlichen, nachvollziehbaren und sicheren Art und Weise. Mit dem einen Teil ihres Bewusstseins – dem fragenden, rational denkenden Geist, der zeitweise beschäftigt werden muss, um zur Ruhe zu kommen – erfassen die Tänzer die große Bandbreite der Arbeitsoptionen und -potenziale. Die spielerische, kreative rechte Gehirnhälfte bleibt dabei dem Augenblick zugewandt und beschäftigt sich mit den Feinheiten der motorischen Interaktion. Ein weiteres, erfreuliches Resultat besteht darin, dass ich als Lehrer bei dieser Methode immer mehr Zugang zu einem intuitiven Anleitungsprozess finde. Es fällt mir leichter, spontan von einem Prinzip oder Muster zum anderen zu wechseln und neue Wege bei der Nutzung des Arbeitsmaterials zu gehen. Bei meiner Lehrtätigkeit finde ich heute ein angenehmes Gleichgewicht zwischen Klarheit und Geheimnis. Ich nehme mir immer öfter die Freiheit, entweder praxiserprobte Konzepte zu vermitteln oder aber die Gruppe zu ermutigen, ihren eigenen Interpretationen des Materials nachzugehen. Die besten Unterrichtsstunden sind die, in denen die Tänzer ständig tanzen. Wo es keine Auszeiten für mentale Analysen oder Reflexionen gibt. Aus der Art und Weise, wie

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sie die Arbeit umsetzen und darüber sprechen, geht hervor, dass sie die Konzeptualisierung des Materials beim Tanzen verinnerlicht haben. Sie erfahren eine fließende, intuitive Ebene des Körper-Lernens; und in diese Ebene eingebettet – und unabdingbar für deren Existenz – ist das Grundgerüst, das jeder unterrichtsbezogenen Forschung zugrunde liegt.

Ausblick Das im Vorangegangenen skizzierte Beispiel bezieht sich nur in einem ganz bestimmten Themenbereich auf meine eigene Lehrtätigkeit: dem »Partnering«. Es ist weit davon entfernt, auf jene Themen und Fragen einzugehen, mit denen ich mich bei der Planung und Durchführung meiner Tanztechnikklassen beschäftige. Dort habe ich es mit einer ganz anderen Problematik zu tun. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, dass es nicht nur eine Vielzahl von Feldern innerhalb dieser Art von Strukturierung gibt, sondern vielleicht auch einen Weg, bestimmte Problematiken über die Grenzen technischer Konzepte hinweg anzugehen. Um diesen Gedankengang auf ein breiteres Spektrum von Konzepten und Techniken auszuweiten, bin ich daran interessiert, mit einem kollektiven Erfahrungsprozess weiterzumachen. Ich habe damit begonnen, Listen für die Komponenten eines zeitgenössischen Tanztrainings zu erstellen und zu ordnen. Diese umfassen verschiedene Attribute, die eine Technikklasse beinhalten sollte. Ich behaupte nicht, dass es sich hierbei um eine vollständige Liste von Grundelementen für eine moderne Tanztechnikausbildung handelt. Vielmehr sehe ich sie als nützliches, universell einsetzbares Arbeitsmodell an. Ein Vorschlag besteht darin, bei der Gestaltung einer Unterrichtseinheit oder eines Lehrplans nicht jede Komponente in jeder Sitzung zu behandeln, sondern in einem mehrtätigen oder mehrwöchigen Kurs; dabei sollten diese Elemente allerdings innerhalb eines logischen Zusammenhangs präsentiert werden. Ich freue mich auf die Arbeit mit diesem Modell. Es wird Diskussionen über eine komparative Methodologie in der Tanzpädagogik anstoßen. Diese Diskussionen und die Entdeckung neuer Möglichkeiten zur Beobachtung, Analyse, Planung und Darbietung von Tanzstunden werden einen wichtigen Beitrag zum neuen Masterstudiengang »Tanzpädagogik für Zeitgenössischen Tanz« an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. leisten. 2 Übersetzung aus dem Englischen 2 | Vgl. hierzu auch www.hfmdk-frankfurt.de und www.kurtkoegel.com vom 12. Mai 2007.

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Literaturverzeichnis Alexander, Christopher: A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, New York: Oxford University Press 1977.

Internetquellen www.hfmdk-frankfurt.de. www.kurtkoegel.com.

Aufbrüche: Neue Wege in der Tanzausbildung Ingo Diehl

Als Leiter der Ausbildungsprojekte im Rahmen vom »Tanzplan Deutschland« 1 ist es mir wichtig, neue praxisnahe Ausbildungsmodelle und interdisziplinäre Austauschprojekte im Tanz in die gesamte deutsche Ausbildungslandschaft hineinzutragen. Der folgende Bericht fasst die Entwicklungen der Diskussionen mit den staatlichen Tanzausbildungsinstitutionen sowie die gemeinsamen Planungen von Januar 2006 bis zum März 2007 zusammen. Er ist jedoch nicht nur als Nebenprodukt einer langwierigen Auseinandersetzung zu betrachten. Im Gegenteil soll hiermit ein Einblick in einen Prozess gewährt werden, von dem üblicherweise nur Entwürfe oder Ergebnisse an die Öffentlichkeit dringen. Ziel der »Tanzplan«-Ausbildungsprojekte ist es, die Diskussionen über Tradition, Innovation und Vermittlung gemeinsam mit den verantwortlichen Fachleuten zu führen. Hierbei sollen konkrete Strategien entwickelt werden, die den Tänzern von morgen größere berufliche Entfaltungsmöglichkeiten im Arbeitsfeld Tanz sichern. Neue Lern- und Lehrmodelle, die sich über nationale Grenzen hinaus in der Tanzpraxis 1 | »Tanzplan Deutschland« ist eine auf fünf Jahre anberaumte Initiative der Kulturstiftung des Bundes mit dem Ziel, bis ins Jahr 2010 die Arbeitssituation von Tänzern und die gesellschaftliche Verankerung von Tanz nachhaltig zu verbessern. Unter dem Titel »Tanzplan vor Ort« fördert er neun zukunftsweisende Modellprojekte in verschiedenen Städten. In Berlin, Dresden und Frankfurt liegt der Schwerpunkt in der Entwicklung neuer Ausbildungsmodelle und Studiengänge. Neben »Tanzplan vor Ort« sind die »Tanzplan Ausbildungsprojekte« der zweite Schwerpunktbereich. Der »Tanzplan Deutschland« ist mit 12,5 Mio. Euro ausgestattet. Vgl. auch www.tanzplan-deutschland.de vom 10. Mai 2007.

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und im theoretischen Diskurs abzeichnen, müssen in der Ausbildung und durch die Ausbildung sichtbar gemacht werden. In Zusammenarbeit mit den Ausbildungsinstitutionen entstehen Pläne zur Reform der Ausbildung in Deutschland. Dabei geht es um die Stärkung jeder einzelnen Institution in ihrer jeweiligen Tradition und Ausrichtung.

Foto: Linda Moritz

Die Gesprächspartner in diesem Prozess sind einerseits die acht Tanzhochschulen2 mit ihren unterschiedlichen Ausrichtungen in klassischem, modernem und zeitgenössischem Tanz, von denen einige auch weiterführende Studiengänge in Tanzpädagogik und Choreographie anbieten, und andererseits die drei staatlichen Berufsfachschulen3, die mit ihren Programmen einen entscheidenden Beitrag für die klassische Tänzerausbildung in Deutschland leisten. Über einen eineinhalbjährigen Dialog und drei intensive Treffen mit diesen unterschiedlichen Ausbildungseinrichtungen ist ein bis dahin einmaliger Austausch über gemeinsame Perspektiven in der Tanzausbildung entstanden, der darüber hinaus im Februar 2007 zu einem 2 | Dazu gehören die Folkwang Hochschule in Essen, die Tanzabteilung der Hochschule für Musik Köln, die Palucca Schule Dresden – Hochschule für Tanz, die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt a.M., die Akademie des Tanzes der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Künste Mannheim, die Heinz-Bosl-Stiftung-Ballett-Akademie München, die Tanzabteilung der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch Berlin sowie das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz Berlin – Pilotprojekt Tanzplan Berlin. 3 | Die Staatliche Ballettschule Berlin/Schule für Artistik, die John Cranko Schule – Ballettschule des Württembergischen Staatstheaters und die Ballettschule Hamburg/Ballett John Neumeier.

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Zusammenschluss der gemeinsamen Interessenvertretung »Ausbildungskonferenz Tanz« führte. Der Tanzkongress Deutschland 2006 bot sich als ideale Plattform an, das erste Treffen der Ausbildungsinstitutionen zu organisieren. Aus den vorangegangenen Gesprächen mit den Tanzhochschulen ergab sich ein enormer Diskussionsbedarf zu den anstehenden Umstrukturierungsprozessen zu den Bachelor- und Masterabschlüssen. 4 Unter dem Arbeitstitel »BA/MA als Chance?« kamen am 19. und 20. April 2006 vor dem Tanzkongress in Berlin jeweils zwei Vertreter der Tanzhochschulen aus Essen, Frankfurt, Dresden, Köln und Berlin zusammen. Die Institutionen stellten anhand von Projektpräsentationen neue Arbeitsformen vor. Im Zuge dessen wurde zunächst einmal das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Austausch und zukünftigen Kooperationen laut. Wichtiger Bestandteil des Treffens war die Benennung von gemeinsamen Interessen und Defiziten: – die Vermittlung von Tanztheorie und Tanzgeschichte; – Lehrerweiterbildungen, für die bereits ein Finanzierungsangebot des »Tanzplans« vorliegt, sowie – der Austausch über den Stand der Umstrukturierungen zu Bachelor und Masterabschlüssen. Dieser Prozess der Umstrukturierungen ist an den einzelnen Hochschulen unterschiedlich weit fortgeschritten. Auch die Laufzeiten der BA/MA-Programme sowie die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen in den einzelnen Bundesländern werden bisher sehr uneinheitlich gehandhabt. Neben den Gesprächen zur Akkreditierung, Kompatibilität und Transparenz der Studieninhalte wurde insbesondere der Stand der Modularisierung5 erörtert. Die Gastgeberin für das zweite Treffen der Ausbildungsinstitutionen Ende November 2006 war die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Auf Einladung des »Tanzplan«-Ausbildungsprojektes trafen sich 44 Leiter, Professoren, Dozenten, einige Studierende aus neun Hochschulen und Berufsfachschulen sowie andere Fachleute. 4 | Um eine europaweite Angleichung der Studienleistungen zu erreichen, sollen die Programme der Hochschulen und Universitäten gemäß des so genannten Bologna-Abkommens bis ins Jahr 2010 in Bachelor- und Masterstudiengänge umgewandelt werden. Für die Kunsthochschulen ist diese Neuerung nicht verpflichtend. 5 | In thematischen Gruppen wird der Unterricht zukünftig zu Modulen zusammengefasst. Für die geleisteten Studien, Vor- und Nachbereitungszeit werden »Credit Points« vergeben, die messbare und vergleichbare Informationen geben sollen.

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Mit Lars Ebert, dem Projektmanager von ELIA (European League of Institutes for the Arts), und Jan Zobel, dem künstlerischen Leiter der Hochschule Antwerpen, waren auch zwei Repräsentanten des europäischen Netzwerkes ELIA eingeladen, die einen Einblick in die durch den »Bologna-Prozess« hervorgerufenen Veränderungen in anderen europäischen Ländern gaben. Sie berichteten, dass Vertreter unterschiedlicher europäischer Tanzhochschulen im Rahmen von INTERARTES, einem Schwerpunktprojekt von ELIA, bis Sommer 2007 an dem so genannten Tuning Template arbeiten. Dieses Ergebnispapier, das die Schlüsselqualifikationen der Tanzausbildung zusammenfasst, soll dann Entscheidungsträgern in Brüssel vorgelegt werden, um den Stellenwert des Tanzes zu festigen. Das Papier wird Beschreibungen der Lernergebnisse sowie neue Entwicklungen und Differenzen in den unterschiedlichen Profilen der Tanzausbildung im Europäischen Bildungsraum enthalten. Die deutschen Ausbildungsstätten für Tanz sind in diesen Prozess bisher nicht eingebunden. Die Teilnehmer waren im Verlauf der anschließenden Gesprächsrunde unterschiedlicher Ansicht über Nutzen, Notwendigkeit und Praktikabilität der Umstrukturierungen und der im Tuning Template zu dokumentierenden Fakten und Forderungen: Bereits beim Tanzkongress in Berlin stellte sich die Frage, ob das Profil und die Eigenständigkeit der Hochschulen unter der angestrebten Vergleichbarkeit und Kompatibilität leiden würden und ob es im schlimmsten Fall gar zur Vereinheitlichung der Institutionen führen könne. Vincent Assink, Geschäftsführer der Hochschule in Rotterdam, beschrieb in seinem Vortrag zum Thema »Kompatibilität versus Profilierung« das Vorgehen der niederländischen Ausbildungsinstitutionen für Tanz. Diese hatten sich zu Beginn der dort anstehenden Umstrukturierungsprozesse an einen Tisch gesetzt, um auf nationaler Ebene die Lernergebnisse, also die während der Ausbildung zu erwerbenden Kompetenzen, gemeinsam festzulegen. Nach einem zweijährigen Prozess der Annäherung machte sich jede einzelne Hochschule auf sehr unterschiedliche Art an die Umstrukturierung der jeweiligen Studiengänge. Laut Assink hat dieser Prozess in den Niederlanden eine deutliche Schärfung der Profile durch spezialisiertere Ausbildungsprogramme hervorgerufen. Unter den deutschen Institutsvertretern herrschte Einigkeit darüber, dass die Ausbildungsstätten nicht länger nur auf die gestellten Anforderungen reagieren dürften, sondern selber aktiv werden müssten: Es gelte, sich auf kulturpolitischer Ebene in die entsprechenden Gremien einzubringen sowie die anstehenden Neuerungen in die eigene Hand zu nehmen. Man wolle sich – so das Ergebnis einer konstruktiven und lebhaften Diskussion – in Zukunft unter dem Motto »Eine Stimme für die Tanzausbildung« geschlossen für die Ausbildungsbelange einsetzen.

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Eine Arbeitsgruppe zum Thema »Tanztheorie und -geschichte« 6 nahm eine erste Bestandsaufnahme des Fachbereiches vor. Ergebnis war die gemeinsame Forderung, den theoretischen Fächern künftig einen größeren Stellenwert zuzuschreiben und eine intensivere Zusammenarbeit in Bezug auf Inhalte und Methoden anzustreben. Es wurden praktische Vorschläge erarbeitet, wie die Tanztheorie besser in die Tanzausbildung integriert werden kann. Parallel zu den beiden AGs »Tanzausbildung« und »Tanztheorie/geschichte« fand in Frankfurt die erste gemeinsame Weiterbildung für Professoren, Dozenten und Studenten des Fachbereiches Klassischer Tanz unter der Leitung des international tätigen Trainingsleiters und Choreographen Javier Torres statt. In der praxisnahen Fortbildung ging es um das Thema »Unterschiedliche Sichtweisen in der Vermittlung des klassischen Tanzes«. Die Gastgeberin des dritten, durch den »Tanzplan« organisierten Treffens im Februar 2007 in Berlin war die Staatliche Ballettschule. Dieses Treffen diente der Gründung einer gemeinsamen Interessenvertretung der deutschen Ausbildungsinstitutionen, der »Ausbildungskonferenz Tanz, Arbeitsgemeinschaft der staatlichen Ausbildungsinstitutionen für Tänzerinnen und Tänzer in Deutschland (BA/MA/Diplom/ Bühnenreifeprüfung)«.7 Ziel dieser Initiative ist die Optimierung der professionellen Tanzausbildung in Deutschland durch das Schaffen bestmöglicher Voraussetzungen zur (Vor-)Ausbildung, die Stärkung der Zusammenarbeit der Hochschulen hinsichtlich der Weiterqualifizierung von Tänzern und Pädagogen sowie die Vernetzung mit internationalen Partnern. Die Verständigung über gemeinsame Zielsetzungen ist entscheidend für die weitere Zusammenarbeit. In den bisherigen Treffen wurden folgende Projekte und Arbeitsschritte beschlossen: Weiterbildungen: An der Schnittstelle von Theorie und Praxis wird zwei Mal jährlich eine Weiterbildung für die Dozenten und Professoren der unterschiedlichen Ausbildungsstätten stattfinden. In den unterschiedlichen Fachbereichen kommen die Lehrkräfte mit international renommierten Experten (z.B. Gill Clarke, Laban Centre London) zum Austausch von neuen Erkenntnissen und Arbeitsformen zusammen. Mobile Module: »Tanzplan Deutschland« ist einer der Koproduzenten des neuen Multimedia-Projektes Motion Bank von William Forsythe. Es handelt sich um ein Analyseverfahren von choreographischen Strukturen am Beispiel der Choreographie von One Flat Thing, reproduced. Generell, so die Absprache, werden in den kommenden Jahren im Rahmen 6 | In dieser Arbeitsgruppe engagieren sich die jeweiligen Fachlehrer der Institutionen. 7 | Vgl. hierzu: http://tanzplan-deutschland.de?tanzhochschulen.php?id_language =1 vom 12. Mai 2007.

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der »Tanzplan«-Ausbildungsprojekte E-Learning-Programme und andere Lern- und Lehrmaterialien für Ausbildungszwecke nutzbar gemacht. Diese Module sollen mobil und unkompliziert an den Institutionen einsetzbar sein und nach Bedarf zur Verfügung gestellt werden. Videotheken und Archive: Im Zuge der Einführung von Lehrmaterialien werden gemeinsam mit dem »Tanzplan« Videotheken und Archive an den Ausbildungseinrichtungen auf- und ausgebaut. Ausgewähltes Videomaterial soll die theoretische, historische und praktische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Choreographien stärken. Um das Angebot bedürfnisgerecht zu gestalten, wird es an den jeweiligen Ausbildungsinstitutionen eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Materialien geben und der Bedarf bzw. der Umfang des Einsatzes werden ermittelt. Die konkrete Einführung der Archive hängt jedoch vom Erwerb der Nutzungsrechte ab. Biennale der Ausbildungsinstitutionen: Die »Biennale Tanzausbildung« (Arbeitstitel), ein großes Treffen der Studenten und Lehrer der nationalen Ausbildungsinstitutionen, ist langfristig als Plattform gedacht, um Hochschulprojekte und Arbeiten von Studenten einem breiten Publikum bekannt zu machen sowie mit der bis dahin erstellten Motion Bank von William Forsythe zu arbeiten und zu experimentieren. Zusätzlich zu einem Workshop-Programm wird eine Fachtagung angeboten. Das Pilotprojekt wird im kommenden Jahr im Rahmen des »Context«-Festivals im »Hebbel am Ufer« in Berlin stattfinden und von einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der Ausbildungsinstitutionen, des Hebbel-Theaters, von »Tanzplan Deutschland« sowie der Forsythe Foundation in den folgenden Jahren entsprechend der erzielten Ergebnisse weiterentwickelt. Internationaler Austausch: Der Kontakt mit Ausbildungsinstitutionen, Partnern und Netzwerken (z.B. ELIA und INTERARTES) im europäischen und außereuropäischen Ausland wird dort, wo es sinnvoll erscheint, vom »Tanzplan« unterstützt und weiter ausgebaut. Ausbildungskonferenz Tanz: Die »Ausbildungskonferenz Tanz, Arbeitsgemeinschaft der staatlichen Ausbildungsinstitutionen für Tänzerinnen und Tänzer in Deutschland (BA/MA/Diplom/Bühnenreifeprüfung)« setzt sich aktiv für die Qualifizierung der Vor- sowie der Tanzausbildung ein und treibt die Diskussion darüber auf inhaltlicher und kulturpolitischer Ebene voran. Die gewählten Sprecher werden sich überall dort einbringen, wo Ausbildungsfragen diskutiert und angegangen werden. Darüber hinaus sind regelmäßige Treffen geplant. Sollte es den Verantwortlichen gemeinsam gelingen, die einzelnen Ausbildungsinstitutionen durch diesen Prozess zu stärken, versprechen die nächsten Jahre eine große Entwicklung.

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Internetquellen http://tanzplan-deutschland.de. http://tanzplan-deutschland.de?tanzhochschulen.php?id_language =1.

Tanzkarrieren im Übergang Ein Handlungsfeld für den Tanz in Deutschland? Cornelia Dümcke

Tanzkunst in Deutschland ist in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und institutionellen Existenzformen erst seit kurzer Zeit umfassend betrachtet und in neue kulturpolitische Ansätze für den Tanz übersetzt worden.1 Zeitgemäße Handlungskonzepte für den Tanz sollten jedoch neben den ästhetischen oder rechtlichen Fragestellungen seine ökonomischen Dimensionen nicht vergessen. Leider ist der Zusammenhang von Tanz und Ökonomie in Deutschland – vergleichbar mit dem vernachlässigten Zusammenhang von Tanz und Recht – nur marginal thematisiert und ein kaum untersuchter Gegenstand. Letzteres betrifft auch das Handlungsfeld von »Tanzkarrieren im Übergang«.

Tanz ökonomisch betrachtet Es existiert offensichtlich ein gesellschaftliches Interesse am Tanz mit seiner großen Variationsbreite an ästhetischen Erscheinungsformen und performativen Praktiken sowie an seinen verschiedenen Produktionsformen. Dieses gesteigerte Interesse macht Tanz auch wirtschaftlich interessant. So ist er integraler Bestandteil der Kultur- und Kreativwirtschaften, denen in ganz Europa ein wachsendes Entwicklungspotenzial zugeschrieben wird. Aktuellen Untersuchungen zu Folge beschäftigt die ›Tanzindustrie‹ in England ca. 30.000 Tänzer, Choreographen, Tanzlehrer, Techniker und Manager. Dieser Zahl sind außerdem die Beschäftigten hinzuzurechnen, die in ganz anderen vom Tanz geschaffenen 1 | Vgl. www.tanzplan-deutschland.de vom 12. Mai 2007.

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Produktions- und Dienstleistungsbranchen tätig sind (Musik, Design, Medizin, Therapie, Wellness etc.). Vergleichbare Informationen und belastbare Daten für Deutschland, die volkswirtschaftlich die Bedeutung von Tanz in eine andere öffentliche Wahrnehmung bringen könnten, fehlen. Eine Pressemitteilung des Deutschen Bühnenvereins zur bundesdeutschen Tanzlandschaft vom 4. Februar 2005 verweist auf etwa 1.500 Tänzer mit festen Verträgen, die in etwa 70 Tanzkompanien an Stadt- und Staatstheatern beschäftigt sind. Damit sind weite Teile des Tanzfeldes im öffentlichen, gemeinnützigen und kommerziellen Bereich nicht berücksichtigt. Eine Praxis, die die Breite des Tanzfeldes in der politischen und letztlich auch ökonomischen Wahrnehmung ausblendet, wird den aktuellen Entwicklungen im Tanz nicht gerecht. Ökonomisch betrachtet weist Tanz als Berufsfeld und als Erwerbsarbeit Besonderheiten auf. Gesellschaftlich wie individuell ist Tanz ein besonderes ›Investitionsfeld‹: Im Unterschied zu anderen Berufsgruppen müssen sich Tänzer nach einer relativ kurzen aktiven Zeit auf der Bühne beruflich neu orientieren. Jeder professionelle Tänzer wird daher früher oder später mit der Frage der Umschulung oder Weiterbildung konfrontiert. Damit ist die Career Transition, wie das Problem des Karriereübergangs im anglo-amerikanischen Bereich genannt wird, weltweit ein unvermeidlicher, integraler Teil im Berufsleben von Tänzern. Gleichwohl scheint es ungeschriebene Gesetze zu geben, an denen Tänzer festhalten. Denn das Verständnis des Tanzberufes beruht auf anderen Ansprüchen und Kriterien als Einkommenshöhe oder Beschäftigungszeit. NO MONEY, NO L OVE von Jochen Roller, TANZKONGRESS DEUTSCHLAND 2006

Foto: Thomas Aurin

Tanzkarrieren im Übergang | 309

Modelle für Karriereübergänge aus der internationalen Praxis Im internationalen Vergleich mit Deutschland ist die Aufmerksamkeit für die multiplen Dimensionen der Gestaltung von Karriereübergängen im Tänzerberuf und für das gesellschaftliche Potenzial von Tänzern gewachsen. Dabei ist allgemein ein Bewusstsein dafür geschärft worden, dass sich Tänzer während ihrer beruflichen Lauf bahn wertvolle Kompetenzen wie Disziplin, Ausdauer, Teamfähigkeit und Sprachkenntnisse aneignen, die sich leicht in andere Berufsfelder übertragen lassen. Dazu hat die Profilierung der auf die Förderung von Umschulung und Weiterbildung von Tänzern spezialisierten so genannten Transition Center in Kanada, England, Holland und den USA ebenso beigetragen wie auch die Initiative des Dachverbandes »International Organisation for the Transition of Professional Dancers« (IOTPD) mit Sitz in der Schweiz. Weltweit gibt es heute vier Organisationen, die sich ausschließlich der Umschulung und beruflichen Neuorientierung von Tänzern widmen: – The Dancer Transition Resource Centre (DTRC), Kanada; 2 – Dutch Retraining Program for Professional Dancers (SOD), Holland; 3 – Dancers’ Career Development (DCD), England; 4 – Career Transition For Dancers (CTFD), USA.5 Allen Organisationen gemeinsam ist das Angebot bestimmter Kerndienstleistungen wie Beratung und finanzielle Unterstützung. Sie unterscheiden sich jedoch in Bezug auf ihre Finanzierungsmodelle6 und die Anrechte der Tänzer für die Inanspruchnahme ihrer Leistungen. Transition Center leisten einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Nutzung des Potenzials von Tänzern. Das zeigen die Ergebnisse des dreijährigen internationalen Forschungsprojektes aDvANCE – »Making Changes. Facilitating the Transition of Dancers to Post-Performance Careers«.7 2 3 4 5 6

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Gründungsjahr 1985, vgl. www.dtrc.ca vom 14. Mai 2007. Gründungsjahr 1986, vgl. www.kunstcultuur.nl vom 14. Mai 2007. Gründungsjahr 1974, vgl. www.thedcd.org.uk vom 14. Mai 2007. Gründungsjahr 1982, vgl. www.careertransition.org vom 14. Mai 2007. In den föderalistischen Ländern Kanada und Holland beispielsweise finanzieren sich die Organisationen aus unterschiedlichen Quellen: Mittel der öffentlichen Hand, Mitgliedsbeiträge, Gewinne aus Fonds sowie private Mittel (Vereine, Stiftungen, Einzelpersonen). 7 | Vgl. William J. Baumol/Joan Jeffri/David Throsby: Making Changes. Facilitating the Transition of Dancers to Post-Performance Careers, The aDvANCE Project, Research Report, New York 2004.

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Die Studie wurde im Auftrag der IOTPD erarbeitet und untersucht Prozesse der beruflichen Neuorientierung und Umschulung professioneller Tänzer in elf Ländern. Nach aDvANCE sind Fortschritte in diesem Bereich nicht nur eine Frage der gesellschaftlichen Wertschätzung gegenüber den Tänzern und ihren künstlerischen Leistungen. Sie sind vielmehr von essentieller Bedeutung für eine vitale Entwicklung von Tanz als eigenständiger Kunstform: »Can we continue to marginalize and ignore the issue of career transition when it has such an obvious impact on the long-term health of the field?«8 Es bedarf offensichtlich von Land zu Land verschiedener, d.h. angepasster Modelle für die unterschiedlichen Bereiche bzw. Phasen der Tanzkarriere.

Zur Ausgangslage in Deutschland Auch hierzulande hat es in den vergangenen Jahren Initiativen gegeben, um für diese Besonderheit des Tanzfeldes Aufmerksamkeit zu schaffen. Zum Teil wurden auch Ansätze entwickelt, die vornehmlich aus dem Bereich der festen Ensembles bzw. festen Engagements heraus entstanden. Die Bedürfnisse des freien Tanzbereiches blieben dabei aber weitgehend unberücksichtigt; der tatsächliche Bedarf ist hier nahezu unbekannt. Außerdem haben die Initiativen und Vorschläge nur punktuell zu konkreten Angeboten für Tänzer geführt. Der im aDvANCE-Report enthaltene Länderbericht zu Tanz in Deutschland9 lässt wegen erheblich lückenhafter Grundlagen in der Darstellung von sozio-ökonomischen Daten, institutionellen Strukturen sowie sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen viele Fragen offen. Die Mehrzahl der verwendeten Daten zu Tanz in Deutschland beruht auf Schätzungen. In einer »Kleinen Anfrage« des Bundestages vom Juli 2001,10 die sich auf die besondere berufliche Situation von Tänzern in Deutschland bezieht, sind Ausbildung, Umschulung und soziale Absicherung von Tänzern zum ersten Mal explizit Gegenstand einer parlamentarischen Debatte. Tatsache ist, dass in den Antworten zu relevanten Fragestellungen auf fehlende Informationen und Datengrundlagen verwiesen werden musste: »Umfassende Untersuchungen über Ausbildung und 8 | Ebd., S. 15. 9 | Neben Länderberichten zu Tanz in Australien, Kanada, England, Frankreich, Ungarn, Japan, Mexiko, Niederlande, Schweiz und USA. 10 | Vgl. Kleine Anfrage zu Ausbildung, Umschulung und sozialer Absicherung von Tänzerinnen und Tänzern, Bundestagsdrucksache 14/6693 sowie 14/6493.

Tanzkarrieren im Übergang | 311

Karrierewege von Tänzerinnen und Tänzern liegen der Bundesregierung nicht vor«.11 Begründet wurde der Mangel mit dem Hinweis auf die Zuständigkeit im Aufgabenbereich von Ländern und Kommunen. In einer »Großen Anfrage« des Bundestages vom Dezember 2003 zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland12 wird der Tanz weitgehend ausgeblendet. Frage 21, die sich auf die Möglichkeiten von Umschulungsmaßnahmen für Künstler richtet, verweist im Bereich Tanz auf die Antworten aus der »Kleinen Anfrage« zum Tanz in Deutschland vom Juli 2001. Die Situation hat sich bis dato kaum geändert, obwohl eine Auseinandersetzung mit dem Thema aufgrund der aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt noch dringlicher geworden ist. Zunächst einmal sieht man sich mit veränderten Rahmenbedingungen der Arbeits- und Ausbildungsförderung der Bundesagentur für Arbeit, insbesondere der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF), und der örtlichen Arbeitsämter konfrontiert.13 Auswirkungen, die diese Veränderungen u.a. auch für die Gestaltung von Karriereübergängen für Tänzer haben, sind momentan unzureichend bekannt und benannt. Außerdem ist der allgemeine Trend zum Abbau des kulturellen Arbeitsmarktes bei abhängig, sozialversicherungspflichtig Beschäftigten parallel zum Anstieg von selbstständig beschäftigten, freien Kulturberufen zu berücksichtigen.14 Der Tanz ist von dieser Entwicklung besonders betroffen. Darüber hinaus stellt sich das Problem, dass Tänzer in der Regel lediglich über einen anerkannten Fachhochschulabschluss verfügen. Dadurch ist der Zugang zu einem Hochschulstudium für tanz- oder kunstverwandte Berufe deutlich erschwert.

11 | Bundestagsdrucksache 14/6693, S. 48. 12 | Große Anfrage zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland, Bundestagsdrucksache 15/2275. 13 | Einschränkungen der sozialen Leistungen sowie der Beratungs- und Vermittlungsangebote haben im Zuge der Reorganisation und Sparmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit zugenommen. 14 | Die bislang überwiegend positiven Kulturarbeitsmarktprognosen der Kulturund Kreativwirtschaftsbranchen müssen wesentlich genauer im Hinblick auf ihre konkreten Bedingungen gegengelesen werden. Dazu gehören die vielfach tristen Einkommenssituationen des Großteils der so genannten Kultur- und Kreativberufe sowie die Tatsache, dass ein hoher Anteil der selbstständigen Künstler und Kulturberufe nur unzureichend seinen Lebensunterhalt bestreiten sowie Rentenvorsorge betreiben kann (insbesondere derjenigen, die nicht Mitglied der Künstlersozialkasse werden können).

312 | Cornelia Dümcke

Ein Transition-Modell für den Tanz in Deutschland? Vor diesem Hintergrund, den Forschungsergebnissen von aDvANCE und der »Tanzplan«-Initiative haben nationale und internationale Vertreter der Tanzszene auf dem Tanzkongress 15 den Status quo und die Perspektiven der Gestaltung von Karriereübergängen im Tanzberuf unter folgenden Fragestellungen diskutiert: Muss das Thema »Gestaltung von Karriereübergängen im Tanzberuf« aus einer ganzheitlichen Sicht betrachtet und zum integralen Bestandteil der Strategien für den Tanz in Deutschland werden? Ist der Status quo von institutionellen, strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für Ausbildung und Umschulung von Tänzern in Deutschland überhaupt ausreichend analysiert und bekannt? Was wäre in Deutschland zu tun, um die Argumente zu schärfen und ggf. alternative Konzepte auch unter Berücksichtigung der internationalen Erfahrungen zu entwickeln und umzusetzen? Ein Ergebnis der Diskussion »Tanzkarrieren im Übergang« war die Forderung nach der Entwicklung eines Modells für den Tanz in Deutschland, das internationale Erfahrungen von existierenden Career-TransitionZentren adaptiert, auf die Bedingungen in Deutschland zuschneidet und eine Nachhaltigkeit schafft, die über den bis 2010 angelegten »Tanzplan Deutschland« hinausgeht. Um das zu erreichen, sind zum einen weiterhin Sensibilisierungsprozesse bei den für den Tanz verantwortlichen Akteuren und Institutionen erforderlich. Zum anderen ist das Wissen über den tatsächlichen Bedarf und die aktuelle Lage zu verbessern, um die Argumente zu schärfen. Impulse dazu müssen immer wieder neu von den Akteuren der Tanzszene selbst kommen.

15 | Die Podiumsdiskussion »Tanzkarrieren im Übergang« fand mit folgenden Teilnehmern statt: Linda Yates/Anja Dobler, Direktorin/Projektmanagerin des Dancers’ Career Development Center (UK); Paul Bronckhorst, Direktor des Retraining Program for Dancers (NL); Reinhild Hoffmann, Choreographin (D); Maja Langsdorff, Tänzerin und Autorin (D); Sabrina Sadowska, Stellv. Ballettdirektorin, Theater Vorpommern Stralsund/Greifswald (D); Claudia Feest, Tanzpädagogin (D); Günter Pick, bis 2005 Leiter der Abteilung Tanz der Zentralen Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (D); Moderation: Dr. Cornelia Dümcke.

Tanzkarrieren im Übergang | 313

Literaturverzeichnis Baumol, William J./Jeffri, Joan/Throsby, David: Making Changes, Facilitating the Transition of Dancers to Post-Performance Careers, The aDvANCE Project, Forschungsbericht, New York 2004. Bundestag: »Kleine Anfrage« zu »Ausbildung, Umschulung und sozialer Absicherung von Tänzerinnen und Tänzern«, Bundestagsdrucksache 14/6693 sowie 14/6493. Bundestag: »Große Anfrage« zur »Wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland«, Bundestagsdrucksache 15/2275.

Internetquellen www.careertransition.org. www.dtrc.ca. www.kunstcultuur.nl. www.tanzplan-deutschland.de. www.thedcd.org.uk.

Tanzpädagogik und Kulturarbeit

»TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen«, Berlin 2006, Foto: Marion Borriss

Die Arbeit an der Erfahrung Royston Maldoom im Gespräch mit Edith Boxberger

Edith Boxberger: Sie arbeiten bevorzugt in kleinen Gruppen. Aber seitdem Ihre Arbeit durch den Film R HYTHM IS IT ! wachsende Aufmerksamkeit erhalten hat, haben Sie viele große Projekte choreographiert. Ist das immer noch so und was ist der Grund dafür? Royston Maldoom: Ja, auch 2007 bin ich, zusammen mit verschiedenen Assistenten, überwiegend in umfangreiche Projekte eingebunden – wie z.B. in Luxemburg im Rahmen des Kulturhauptstadt-Programms, in Saarbrücken, Wien, New York. Die Größe der Projekte wird von Sponsoren und Orchestern bestimmt, die große Projekte realisieren wollen. Kleine Projekte sind viel schwieriger zu finanzieren. Ich arbeite jedoch verstärkt an der Möglichkeit, größere Projekte zu entwickeln, die verschiedene kleinere zusammenführen, ähnlich dem Community DanceProjekt 1 im letzten Jahr in Hamburg, bei dem ich selbst mit einer kleinen Gruppe von 18 Männern arbeitete. Die Arbeit hier bekannt zu machen, war mit der Absicht verbunden, Strukturen zu begründen, Räume und Rahmen zu schaffen. Meine hauptsächliche Arbeit sehe ich immer noch darin, für die Idee eines Tanzes für alle zu werben. Über große Projekte erreicht man am ehesten die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Sponsoren und Politikern. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass daraus kleinere, kon1 | Im Sommer 2006 erarbeiteten fünf Choreographen im Rahmen des Projektes »Can Do Can Dance« Produktionen mit verschiedenen sozialen Gruppen, gaben Workshops und stellten bei einem Symposium ihre Arbeit vor. Royston Maldoom arbeitete bei dem u.a. von der Kulturstiftung des Bundes unterstützten Projekt mit einer Gruppe männlicher Jugendlicher und hatte auch die künstlerische Gesamtleitung.

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tinuierlich arbeitende Projekte erwachsen, wie es bei der »TanzZeit« in Berlin2 der Fall ist oder einem Projekt in Marl, aus dem inzwischen Tanzgruppen unterschiedlicher Altersstufen hervorgegangen sind, die von verschiedenen Seiten unterstützt werden. Generell gilt für das Zustandekommen aller Projekte, an denen ich beteiligt bin, dass sich die jeweilige Organisation für eine Fortführung der Arbeit einsetzt. Meine Funktion besteht dann entweder darin, die Aufmerksamkeit auf eine bestehende Arbeit zu lenken, um ihre Fortführung zu unterstützen, oder zu helfen, eine neue Initiative auf den Weg zu bringen. Tanzprojekt DANCE 4 LIFE : Royston Maldoom mit Schülern der Gesamtschule Ost, Bremen 2006

Foto: Volker Beinhorn

Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen dem Arbeiten mit kleinen und großen Gruppen? Vor allem in der Art der Interaktion zwischen Choreograph und Teilnehmern. Je intimer und differenzierter diese Beziehung ist, desto intensiver sind der Informationsfluss und der Dialog. Mit einer großen Gruppe muss man disziplinierter arbeiten und stärkere Kontrolle ausüben, da der Zeit- und Erwartungsdruck höher sind. Ich weiß aus meiner Praxis, dass auch diese Arbeit eine transformierende Erfahrung beinhaltet, dabei jedoch Zugeständnisse im Hinblick auf die Intensität der Arbeit gemacht werden müssen. Wie sieht dieser Dialog in einer kleinen Gruppe aus? 2 | »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen« wurde 2005 von der Tänzerin und Choreographin Livia Patrizi mit dem Ziel initiiert, Berliner Grundschülern durch regelmäßigen Tanzunterricht, die Erarbeitung von Aufführungen und den Besuch von Tanzaufführungen zeitgenössischen Tanz zu vermitteln. Vgl. www.tanzzeit-schule.de vom 10. Mai 2007.

Die Arbeit an der Erfahrung | 319

Natürlich ist damit nicht nur ein verbaler Austausch gemeint, sondern ein Dialog im Rahmen des kreativen Prozesses und des Werkes. Man kann tiefer gehen, arbeitet individueller und die Teilnehmer sind stärker involviert. Das Allerbeste ist, wenn man eine Gruppe länger begleiten kann. Das entwickelt sich z.B. gerade mit der Gruppe junger Männer, mit denen ich im vergangenen Jahr im Rahmen des Hamburger Community Dance-Projektes gearbeitet habe. Sie führen die Arbeit mit anderen Choreographen weiter, halten aber auch den Kontakt mit mir, und wir diskutieren gerade, in welcher Weise ich sie am besten unterstützen kann. Die Arbeit mit dieser Gruppe war nicht einfach. Worin bestanden die Schwierigkeiten? Die Teilnehmer mussten in sehr kurzer Zeit Fertigkeiten entwickeln und sie sich aneignen. Das war eine riesige Herausforderung und bedeutete eine ständige Versuchung, aufzugeben. Weil sie daran gewöhnt sind, zu scheitern, entscheiden sie sich, sobald etwas nicht gleich klappt, ganz schnell für das Scheitern. Sie wehrten sich dagegen, Dinge zu tun, die sie angeblich nicht gut oder ihrer Meinung nach sogar ›behindert‹ aussehen ließen, was eine interessante Aussage ist. Das war in gewisser Hinsicht verständlich, denn sie mussten sich in einer Weise bewegen, die ihnen fremd war und die sie nicht gleich umsetzen konnten. Zudem waren sie es gewohnt, sich körperlich in eher aggressiver Form auszudrücken. Sie fühlten sich offensichtlich in ihrem Selbstbild, ihrem Körper- und Männerbild bedroht. Immer stand die Möglichkeit des Aufgebens im Raum, weil es für sie so schwer war, die Spannung auszuhalten, die entsteht, wenn etwas nicht gleich gelingt. Gibt es demnach eine positive Seite des Scheiterns? Scheitern, verfehlen, etwas nicht gleich können – das sind die Grundlagen für Gelingen. Der ganze Prozess in dieser Arbeit beruht tatsächlich auf dem Scheitern, und zwar Tag für Tag, Stunde für Stunde. Dieser Situation kann man unter keinen Umständen entkommen, denn wenn man nicht scheitert, lernt man nicht und entwickelt sich nicht. Scheitern ist hier eben nicht negativ, sondern positiv besetzt, es ist kein End-, sondern ein Ausgangspunkt. Es ist der Weg, wie wir wachsen und weiterkommen. Jeder Tänzer, jeder Künstler ist damit bestens vertraut. Wir probieren, verwerfen, üben, verfeinern. Das ist etwas, was wir hegen, was uns motiviert und weiterbringt. Aber viele junge Leute haben sehr viel Angst davor, zu scheitern. Vielleicht werden sie zu wenig ermutigt. Gilt dies Ihrer Erfahrung nach in verschiedenen sozialen Milieus? Sicher gibt es Unterschiede. Ich habe allerdings mit Gymnasiasten gearbeitet und mir scheint, keine Gruppe hat mehr Probleme und Versagensängste als sie. Sie waren sehr gut versorgt, hatten aber wenig Gespür für die eigene Persönlichkeit. Wie gehen Sie mit Ängsten um? Wie können sie gewendet werden, damit Erfahrungen möglich werden und Wissen entsteht?

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Das wichtigste Element im gesamten Prozess ist der Glaube an den anderen, der unerschütterliche Glaube an das Potenzial des Menschen – und zwar jedes Menschen. Das ist es, was einen selbst durch den ganzen Prozess trägt. Wenn man diesen Glauben verliert und denkt, dass die Leute unfähig oder es nicht wert sind, wird man nichts erreichen. Diesen Glauben muss man den Leuten vermitteln, mit denen man arbeitet. Wenn die Arbeit fertig ist, höre ich immer wieder dasselbe: »Ich wollte eigentlich gar nicht. Es war so schwer manchmal. Ich wollte am liebsten auf hören, aber es ging nicht, weil Du Dir so sicher darin warst, so überzeugt davon warst, dass ich es schaffen würde.« Damit gehen Sie über den Vertrauensvorschuss hinaus, der die Grundlage aller Interaktion ist. Als Voraussetzung für das Lernen antizipieren Sie ein Potenzial, das erst manifest oder bewusst werden muss. Wie funktioniert das? Die Teilnehmer wissen es irgendwie schon, wenn man den Raum betritt. Die jungen Männer in Hamburg sagten, sie hätten mich immer wieder provoziert, damit ich aufgebe wie die anderen auch, aber es sei ihnen nicht gelungen. Stattdessen seien sie immer stärker in die Arbeit hineingezogen worden, bis sie nicht mehr hätten auf hören können. Solche Einschätzungen habe ich schon öfter gehört; im Nachhinein entsteht eine Einsicht in das eigene Handeln. Sie setzen in Ihrer Arbeit also ein Potenzial voraus, das jeder Mensch besitzt, ein universales kreatives Potenzial, das es zu entwickeln gilt. Wir alle besitzen Potenzial für etwas Größeres als wir sind. Auch Menschen, die schon sehr viel gemacht haben, haben keineswegs ihr Potenzial ausgeschöpft. Viele haben allerdings noch nicht einmal eine Ahnung davon, dass sie etwas Derartiges besitzen. Ich glaube daran. Täte ich es nicht, könnte ich nicht mehr weitermachen, denn diese Arbeit ist schwierig, manchmal deprimierend, stressig und sehr fordernd. Es kann sehr schwer sein, den Zugang zu diesem Potenzial zu finden: Man sieht, die Leute könnten es – tun es aber nicht oder verweigern sich. Meistens ist es nur ein schmaler Grad zwischen dem Verzicht auf eine Chance und dem Zutrauen zum eigenen Vermögen, einem Zutrauen, das sich nur auftut, wenn die Teilnehmer dranbleiben und weitergehen. Als Choreograph muss man dann scharf nachdenken. Meistens finde ich eine Möglichkeit, dabei zu helfen, aber manchmal ist es sehr schwer. Der Wendepunkt, wenn dieser Schritt nach vorne getan wird, ist ein Moment absoluter Freude. Man sieht ihn auf den Gesichtern, in den Körpern, in der ganzen Haltung der Teilnehmer, und sie sagen seltsame Dinge wie »Ich fliege«, weil ihnen die richtigen Worte dafür fehlen.

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Tanzprojekt DANCE 4 LIFE : Royston Maldoom mit Schülern der Gesamtschule Ost, Bremen 2006

Foto: Volker Beinhorn

Welche Rolle spielt es für die Arbeit, dass Sie überhaupt nicht auf die konkrete Situation der Teilnehmer eingehen? Ich werde in England, aber auch hier in Deutschland, durchaus dafür kritisiert, dass es in meiner Arbeit keine Rolle spielt, woher die Leute kommen, was sie machen und wie sie leben. Das ist absolut richtig. Genau das ist mein Ansatz. Ich glaube, dass er nicht sehr üblich ist, aber für Leute in schwierigen Situationen wirklich befreiend sein kann. Die Choreographie liegt jeweils ganz in Ihrer Hand. In welcher Weise sind die Teilnehmer in den kreativen Prozess eingebunden? Es besteht das große Missverständnis, dass die Entwicklung der Schritte der einzige kreative Teil der Arbeit ist. Es stimmt, ich schaffe ziemlich straffe Strukturen. Auf der Bühne aber sieht man in erster Linie Leute, die diese Struktur auf ihre eigene Weise sehr individuell interpretieren. In der Arbeit bin ich sehr kritisch, nicht, weil jemand einen Schritt nicht richtig kann oder das Bein nicht in die richtige Position bringt, sondern wenn Motivation und Hingabe fehlen, wenn es am Respekt vor der Arbeit, vor sich selbst und den anderen mangelt. Auf diese Dinge lege ich allergrößten Wert. Ich kritisiere nicht die Bewegung. Ich arbeite am Engagement der Person, am Einlassen des Einzelnen auf den Prozess, in dem man sich anders erfährt, als man sich bisher gesehen hat. Es geht um eine Erfahrung der Transformation. Sie betonen den spezifischen Charakter der Erfahrung, eine »transformierende Erfahrung«, wie Sie es nennen. Welche Rolle spielt das Sprechen dabei? Sprechen ist ein sehr wesentlicher Teil meiner Arbeit, die ich auch als einen Prozess des Teilens ansehe. Ich teile meine Erfahrungen als Mensch, als Lehrer, als Choreograph. Daher spreche ich über sehr verschiedene Dinge, z.B. über mein Leben, über Natur, Geschichte oder

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Freundschaft. Während des Prozesses spreche ich alles direkt und unmissverständlich an, was sich auf die Arbeit auswirkt, und versuche, mit den Teilnehmern alles an Ort und Stelle zu klären. Es gibt aber auch lange Phasen, in denen alle Energie auf die Körperarbeit konzentriert wird. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit. Und auch wenn es manchmal nicht einfach ist, unterbreche ich den Arbeitsprozess und rede so lange, bis alle verstanden haben, was wirklich wichtig dabei ist. Gibt es ein bestimmtes Vorgehen, eine Art Methodik in dieser Arbeit? Oder sollte es sie geben, auch aus Gründen der Weitergabe des Wissens und der Erfahrung? Davon halte ich überhaupt nichts. Ich benutze keine Methoden und alle Community-Choreographen, deren Arbeit ich schätze, auch nicht. Wir alle würden sagen, es geht uns um eine Philosophie, eine Sichtweise auf die Menschen und die Welt, die grundlegend positiv geprägt ist. Was natürlich nicht heißt, dass man naiv sein sollte gegenüber dem, was in der Welt passiert – im Gegenteil. Man muss akzeptieren, dass es eine Menge Schlechtes in der Welt gibt, lernen, damit zurechtzukommen und die Menschen zu lieben. Denn sie haben, das ist meine Erfahrung, von sich aus ein starkes Bedürfnis, in jeder Hinsicht gut zu sein. Wenn man diese Grundüberzeugung nicht hat oder nicht entwickelt, kann man alle Theorien lernen und hat doch nichts zu geben. Mit der Haltung, mit der ich arbeite, wird man seine eigenen Theorien ganz selbstverständlich durch die Praxis entwickeln. Sie ermöglicht mir, mit jedem Menschen zu arbeiten. Theoretisches Wissen sollte man sich erst nach einer Zeit praktischer Arbeit aneignen. Zuerst muss man lernen, sich nicht als Erzieher zu sehen, sondern als Mensch, der mit anderen Menschen arbeitet. Man muss lernen, wie man mit Leuten umgeht, wie man sich öffnet und wie man teilt. Das heißt, es kommt entscheidend auf die Art der Beziehung, auf eine wenig hierarchische Beziehung zwischen Künstler/Pädagoge und Teilnehmer an? Es gibt keinen Zweifel daran, dass ich in diesem Prozess eine Autorität besitze. Jemand muss Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen, damit ein Stück entsteht. Es braucht einen Leiter, aber es ist entscheidend, wie man diese Funktion ausübt: eben nicht von oben herab, sondern so, dass die anderen sich wahrgenommen, unterstützt und in ihrem eigenen Beitrag gewürdigt fühlen. Im Laufe der Arbeit habe ich natürlich das Teilen gelernt. Allerdings sollte man von vornherein wissen, dass es bei dieser Arbeit darauf ankommt, sein Wissen und seine Erfahrungen zu teilen. Wie sieht dieser Prozess des Teilens aus? Man muss in der Lage sein, über seine Arbeit, sein Leben und seine Erfahrung nachzudenken. Das gehört mit zum Wichtigsten in dieser Arbeit. Jungen Leuten sage ich, dass weniger die eigene Erfahrung

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selbst als vielmehr die Fähigkeit, über die Erfahrung zu reflektieren, ausschlaggebend für die eigene Entwicklung ist. Denn dann kann man herausfinden, wie man seine Erfahrungen in der Arbeit mit anderen einsetzen kann. Wie vermitteln Sie Ihr Wissen weiter? Interessierte lade ich ein, am Arbeitsprozess teilzunehmen und dabei so offen wie möglich zu sein, um wahrzunehmen und zu fühlen, was im Raum geschieht. Ich ermutige sie, den Prozess zu reflektieren und mit mir darüber zu sprechen. Wichtiger als möglichst viel aufzuschreiben ist es, mittendrin im Prozess zu sein. Denn es geht weniger um die Übung selbst, als darum, zu erkennen, warum ich eine Übung mache – und vor allem, wie ich sie mache, wie ich vorgehe und was dabei passiert. Am Ende kann man zu ganz anderen Schlüssen kommen; entscheidend ist, einen eigenen Standpunkt zu finden. Können Sie Beispiele für Ihr Vorgehen geben? Es gibt sehr viele: wie ich etwas einführe, an welcher Stelle ich entscheide, Kritik zu äußern, und an welcher, Unterstützung zu geben; auf welche Art ich kritisiere (nämlich so, dass Kritik akzeptiert werden kann); wie engagiert ich während des Prozesses bin; wie sehr ich auf mich fixiert bin oder in der Lage, Dinge um mich herum wahrzunehmen und darauf einzugehen; wie sich die Einzelnen einbezogen fühlen, auch wenn ich sie nicht direkt anspreche; ob und wie ich es schaffe, dass jeder das Gefühl hat, einen wertvollen Beitrag zu leisten, ohne gönnerhaft zu sein. Alle diese Dinge sind sehr wichtig für den Prozess. Wenn das ›Wie‹ der Vermittlung so zentral ist, wie befähigen Sie Leute, das zu tun? Ich habe sehr viele Übungen für ganz verschiedene Zwecke entwickelt, um die Arbeit zu strukturieren, um Bewegungen, Bewegungsfolgen und Formen zu entwickeln, um zu entspannen oder Hemmungen abzubauen. Jeder kann sie für sich umbauen oder etwas anderes daraus entwickeln. Das Wichtigste dabei ist, nicht sklavisch an den Übungen festzuhalten, sondern sich weitgehend der Situation zu überlassen. Und man sollte nicht erwarten, stets die Kontrolle darüber zu besitzen, sondern auch wagen, sie zu verlieren. Und man sollte sich dessen bewusst sein, dass die Kontrolle darüber, was im Raum geschieht, von den Leuten ausgeht, mit denen man arbeitet. Wenn ich mit Kindern arbeite, spreche ich das direkt an und erkläre ihnen, dass ich zwar für die Sache verantwortlich scheine und auch das ganze Herumschreien erledige, dabei aber vor allem versuche, ihnen etwas Kontrolle abzuringen. Das heißt, das Risiko ist gleich verteilt, auf die Teilnehmer wie auf den Choreographen – beide lassen sich auf einen unbekannten, offenen Prozess ein. Es kommt darauf an, nicht zu genau zu wissen, was man tun wird, so dass man für Erfahrung offen ist. Schließlich ist es genau diese

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Erfahrung des gemeinsamen Arbeitens, die sich in dem Stück spiegelt, das man entwickelt. Wenn man ein bestimmtes Vorgehen, einen Plan oder eine Methode hat, besteht die Gefahr, dass man sich nicht traut, davon abzuweichen und ein Risiko einzugehen. Man könnte auch sagen, an einem Vorgehen festzuhalten, ist ein Weg, das Risiko zu reduzieren – aber das hat meistens einen hohen Preis. Worauf sollte der Schwerpunkt in der Ausbildung für diese Arbeit gelegt werden? Wenn ich mir die Projekte ansehe, scheint sich die Qualität zu verbessern. Das hängt vor allem mit dem Ermöglichen von Praxiserfahrung zusammen. Meiner Meinung nach liegt darin der Schlüssel für die weitere Entwicklung. Was die Frage der Qualitätssicherung angeht, tendiere ich daher eher dazu, die praktische Arbeit auszubauen und damit die Gelegenheiten auszuweiten, praktische Erfahrungen zu sammeln, statt Evaluierungsstandards einzuführen. Allerdings bräuchte es dafür eine etwas undeutsche Haltung – ich hoffe sehr, das wird richtig verstanden: nämlich nicht überstürzt endlose theorieorientierte Kurse einzuführen, sondern so viele praktische Gelegenheiten wie nur irgend möglich für potenzielle Künstler/Lehrer zu entwickeln: Praktika, Mentoren-Programme, praktische Erfahrungen mit kompetenten Leuten. Ich habe das Stück Sacre du Printemps mit 250 Kindern gemacht. Vielleicht wäre es gut, das Stück mit 250 Tanzpädagogen auf die Bühne zu bringen. Wie sollte die Entwicklung innerhalb oder auch außerhalb von Schulen Ihrer Meinung nach weitergehen? Künstler in Schulen arbeiten zu lassen, ist eine gute Idee, solange sie dabei Künstler bleiben können. Künstlerische Arbeit ist eine entscheidende Erfahrung für Kinder. Wenn jedoch im Rahmen des Schulalltags zu viele Bedingungen daran geknüpft werden, etwa starke zeitliche Limitierungen, ist die Frage, ob das Ergebnis dann noch Kunst sein wird. Das System hat seine Zwänge und ist nicht leicht veränderbar. Ich würde eher dazu neigen, stärker in das außerschulische Umfeld zu gehen, also dorthin, wo die Kinder leben. Die Freizeitangebote dort sind meist rar und umso leichter entstehen weitere Probleme. Außerdem erreicht man dort auch andere soziale Gruppen. Gibt es Ansätze oder Entwicklungen in dieser Richtung? Bisher gibt es nur einzelne Projekte. Vor allem deshalb, weil wir keine Struktur dafür haben. In Großbritannien ist dies weniger ein Problem, aber in Deutschland liegt deshalb die Anbindung an die Schule nahe. Ich denke dagegen immer mehr an eine künstlerbasierte Entwicklung, die verschiedene Leute zusammenbringt und ein Lernen in verschiedenen sozialen Bereichen – Kindergärten, Sportvereinen, Gemeindezentren etc. – ermöglicht. Ich könnte mir dafür sehr gut das Modell eines Artist-inResidence vorstellen: eines Künstlers, der seine Arbeit mit anderen teilen will und dazu auch andere Künstler einladen könnte. Konkret würde das

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bedeuten, einen Künstler oder auch eine Kompanie zu engagieren, die im Auftrag einer örtlichen Behörde, für einen bestimmten Raum, sei es ein Stadtteil, eine kleine Stadt oder eine ländliche Region, innerhalb einer vereinbarten Zeit Ideen für eine Tanzkultur in oben genanntem Sinn entwickelt und umsetzt. Übersetzung aus dem Englischen

Internetquellen www.tanzzeit-schule.de.

Lernen, ohne es zu merken Linda Müller im Gespräch mit Silvia Stammen

Seit 2003 leitet die Sportwissenschaftlerin und Physiotherapeutin Linda Müller vom »NRW Landesbüro Tanz« das Projekt »Tanz in Schulen«. Auf dem Weg zu ihrem Ziel, Tanz im Unterricht der offenen Ganztagsgrundschulen sowie weiterführender Schulen zu verankern, ist sie seither ein gutes Stück vorangekommen, doch vieles bleibt noch zu tun. Im Gespräch mit der Journalistin Silvia Stammen berichtet sie über den Stand ihrer Arbeit. Silvia Stammen: Im Jahr 2003, als Sie das Projekt »Tanz in Schulen« ins Leben gerufen haben, gehörten Sie mit zu den Pionierinnen der Initiative in Deutschland. Wie ist Ihre Vision von »Tanz in Schulen« entstanden? Linda Müller: Die Forderung, »Tanz in Schulen« zu etablieren, gibt es im Grunde schon seit 100 Jahren. Und es gab auch immer schon viele Gruppen und Institutionen, die »Tanz in Schulen« anbieten. Uns ging es im Jahr 2003 vor allem darum, das mehr in die Breite zu entwickeln, alle erfahrenen Leute zusammenzubringen und gemeinsam zu überlegen, wie man »Tanz in Schulen« auf eine breitere Basis stellen kann, damit nicht immer alles an Einzelpersonen hängt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass einzelne engagierte Leute tolle Projekte auf die Beine stellen – aber wenn die weg sind, dann ist das Projekt auch weg. Mein Wunsch ist es, solche Initiativen nachhaltiger zu etablieren. Wie weit sind Sie Ihrer Einschätzung nach inzwischen auf diesem Weg vorangekommen? Wir haben auf jeden Fall einen Einstieg geschafft, indem wir zum einen viele Tanzschaffende auf dieses Berufsfeld aufmerksam gemacht haben. Zum anderen musste man auch die Schulen erst darauf aufmerksam machen, dass es überhaupt so etwas wie Tanz gibt. Da hat natürlich

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der Film Rythm is it! sehr geholfen. In NRW haben wir zudem eine Landesregierung, die sich sehr für kulturelle Bildung einsetzt. In den letzten drei, vier Jahren haben auf diese Weise viele Tanzschaffende Erfahrungen mit dem Unterricht in Ganztagsgrundschulen sammeln können. Darauf kann man weiter auf bauen. Kann man sich Tanz denn vielleicht bald schon als eigenständiges Unterrichtsfach vorstellen? So weit sind wir noch lange nicht. Die Modelle, die zurzeit hier in NRW laufen, sind hauptsächlich Arbeitsgruppen am Nachmittag oder projektbezogene Arbeitsweisen, oft in Sport- oder Musikunterricht integriert. Die Kinder, die sich für den offenen Ganztag entschieden haben, können wählen, welches Angebot sie am Nachmittag wahrnehmen wollen. Wie hat sich die Nachfrage nach Tanzunterricht seit dem Beginn des Projekts entwickelt? Die Schulen müssen das Honorar der Unterrichtenden selbst auf bringen. In meiner ersten Runde damals im Frühjahr 2003 habe ich deshalb nur eine einzige Schule gefunden, die bereit war, 35 Euro für 45 Minuten Unterricht zu zahlen. Darauf hin haben wir nach anderen Geldgebern gesucht. In Zusammenarbeit mit der Landesarbeitsgemeinschaft Tanz in NRW haben wir ein Modell entwickelt, das den Schulen Schnupperkurse finanziert, d.h., wir haben erst einmal Auf klärungsarbeit betrieben, was man mit Tanz und kreativer Tanzerziehung überhaupt machen kann. Darauf hin gab es – auch durch Mund-zu-Mund-Propaganda – sehr viel Zuspruch. Inzwischen sind es über 150 Schulen, die Tanz anbieten, und seit einem Jahr melden sich hier auch weiterführende Schulen, die inzwischen eigene Ideen entwickelt haben, wie sie Tanz in den Vormittag integrieren können. Es gibt sogar ein Gymnasium in Köln, das seit einem Jahr Tanz als Profilfach anbietet. Wie gestaltet sich die Auswahl der Tanzpädagogen? Wir erkundigen uns, wer Erfahrung im Unterrichten von Kindern und vielleicht auch schon in Schulen hat. Was für eine künstlerische Lauf bahn hat der Betreffende? Denjenigen, die wir dann an die Schulen vermitteln, bieten wir eine monatliche Fortbildung zu unterschiedlichen Themen – wie Musikeinsatz, Choreographieren mit Kindern oder auch Entwicklungspsychologie – an. Das ist für Tänzer ja auch eine neue Situation, plötzlich vor einer Gruppe von Kindern zu stehen, die bis dahin noch nie mit Tanz in Berührung gekommen sind. Sicher, das ist nicht so einfach. Dazu benötigt man ein gewisses Handwerkszeug. Sogar Tanzpädagogen, die ihre Ausbildung in Holland gemacht haben, wo der Aspekt von »Tanz in Schulen« integriert ist, kommen in Deutschland mitunter gar nicht so gut klar, weil hier die Akzeptanz für künstlerische Erziehung einfach noch nicht gegeben ist.

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Welche Probleme gibt es noch bei der Interaktion mit den Schulen? Berührungsängste entstehen oft, weil man nichts voneinander weiß. Unter Schule verstehen wir oft so ein alteingefahrenes System, obwohl sich da inzwischen ganz viel getan hat. Und die Schulen wissen oft nicht, was sie mit Tanzerziehung anfangen sollen. In diesem Schuljahr hat z.B. der Vater eines Jungen gegenüber der Lehrerin kategorisch erklärt: »Mein Sohn tanzt nicht!« So etwas hat natürlich mit Ängsten zu tun, weil Tanz etwas Sinnliches ist, oder weil man sich da rosa Tüllröckchen vorstellt und manche Väter Angst haben, dass ihre Jungs schwul werden, wenn sie tanzen. Das Hauptproblem ist aber nach wie vor die Finanzierung der Tänzerhonorare. Es gibt zwar auf Seiten der Grundschulen ein Budget für Angebote im offenen Ganztag, aus dem der Tanzunterricht teilweise bezahlt werden kann, aber trotzdem ist der aus meiner Sicht angemessene Satz für die Schulen viel Geld. Weitere Alternativen darüber hinaus sind Elternbeiträge und Unterstützung durch Fördervereine, oder wir finden gemeinsam Drittmittel von Sponsoren oder Stiftungen. Auch unseren eigenen Etat von 60.000 Euro für die Organisation müssen wir jedes Jahr wieder beim Ministerium für Generationen, Frauen, Familie und Integration beantragen. Zusätzlich bekommen wir zwar noch etwa 16.000 Euro von der Kulturabteilung der Staatskanzlei NRW, aber es besteht nach wie vor eine gewisse Unsicherheit. Welche positiven Erfahrungen und Erlebnisse motivieren Sie in dieser Situation? Die konkrete Entwicklung der Kinder im Einzelnen bekommen in erster Linie nur die Umsetzenden vor Ort mit. Ich vermittle ja nur. Trotzdem spornt es mich immer wieder an, in diese glücklichen Kindergesichter zu sehen, wenn sie auf einer Bühne stehen und präsentieren, was sie gemeinsam entwickelt haben. Wir haben ja auch eine wissenschaftliche Begleitung mit Diplomarbeiten und Promotionen, und natürlich freut man sich, wenn in Kinder-Interviews genau das zur Sprache kommt, was wir uns gewünscht haben, nämlich, dass die Kinder sagen: »Ich bin jetzt viel selbstbewusster, kann besser auf die anderen zugehen und das Tanzen macht einfach Spaß.« Dass die Kinder dabei so viel lernen, das merken sie im Grunde gar nicht. Was mich außerdem auch immer wieder motiviert, ist die Entwicklung des Projekts im Ganzen. Ich kann von Jahr zu Jahr feststellen, dass die Kommunikation mit den Schulen besser funktioniert, dass sich die Tanzpädagogen jetzt im dritten Jahr sicherer fühlen. Es geht einfach voran. Wie viele Schulstunden geben die Künstler normalerweise neben ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit? Pro Schule sind es in der Regel zwei Stunden pro Woche; im Durchschnitt hat jeder Tänzer zwei oder drei Schulen. Natürlich haben sie manchmal Schwierigkeiten, die kontinuierliche Arbeit an den Schulen

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mit den zeitlichen Anforderungen ihrer künstlerischen Projektarbeit zu koordinieren. Daher ist es wichtig, einen Pool von Künstlern zu haben, die sich auch gegenseitig vertreten können. Wir sehen unsere Aufgabe dabei in erster Linie darin, eine Schaltstelle zwischen Schule und Künstlern zu sein, indem wir beide Seiten beraten und bei den alltäglich auftretenden Problemen vermitteln. Der Vertrag wird allerdings direkt zwischen Künstler und Schule abgeschlossen. Auf welche Dauer sind die Angebote von »Tanz in Schulen« angelegt? Nach meinem Wunsch immer langfristig. Es gibt viele Schulen, die mit unseren Tänzern seit drei oder vier Jahren kontinuierlich während des gesamten Schuljahres zusammenarbeiten. Was ich mir wünsche, ist, dass jedes Kind während seiner Schulzeit die Möglichkeit hat zu tanzen, wenn es möchte. Welche Perspektiven sehen Sie für die Zukunft? Im Februar 2007 wurde der Bundesverband »Tanz in Schulen e.V.« gegründet, in dem wir gemeinsam daran arbeiten wollen, Qualitätskriterien für »Tanz in Schulen« aufzustellen. Es geht darum, zunächst einmal festzustellen, was nötig ist, wie Tanzprojekte ablaufen sollen, was die Unterrichtenden können müssen, welche Inhalte wichtig sind, oder auch, was in Zukunft in die Tanzausbildung integriert werden sollte, damit Tänzer und Choreographen schon während ihres Studiums auf die Arbeit in Schulen vorbereitet werden. Alle diese Fragen, die wir noch lange nicht geklärt haben, wollen wir auf Bundesebene gemeinsam miteinander erarbeiten, um eine Nachhaltigkeit der gegenwärtigen Projekte zu garantieren.

Kunst ist kein Luxus Livia Patrizi im Gespräch mit Silvia Stammen

Als Tänzerin hat die gebürtige Neapolitanerin Livia Patrizi mit berühmten Choreographen wie Mats Ek, Pina Bausch, Joachim Schloemer und Maguy Marin zusammengearbeitet. Seit 1990 ist sie selbst als freie Choreographin in Neapel, Stockholm, Paris und Deutschland tätig. Dennoch begann sie vor zwei Jahren noch einmal etwas ganz Neues, indem sie in Berlin das Projekt »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen« ins Leben rief, das sie seither leitet. Mit der Journalistin Silvia Stammen sprach sie über die Anfänge dieser Idee und die bisherigen Entwicklungen. Silvia Stammen: Seit 2005 gibt es in Berlin das Projekt »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen«. Was hat Sie als Tänzerin und Choreographin dazu gebracht, sich so vehement in diesem Bereich zu engagieren? Livia Patrizi: Ich hatte zuvor gerade zum ersten Mal ein Stück für Kinder und mit Kindern unter dem Titel Was ist Tanz? choreographiert und war sehr überrascht von dem Resultat: Die Kinder, auch die Jungs, waren sofort fasziniert und wollten weiter tanzen. Außerdem kamen sehr viele Leute spontan auf mich zu und fragten, ob man so etwas nicht auch an Schulen machen könnte. Das erstaunte mich umso mehr, da ich vorher als Privatperson bereits an Schulen unterrichtet hatte und da mit vielen Vorurteilen gegenüber Tanz schon von der 3. Klasse an auch seitens der Kinder konfrontiert war. Damals hörte ich auch von den Initiativen in NRW und lud deren Leiterin Linda Müller zu einer Podiumsdiskussion ein. Danach dachte ich: ›Okay, vielleicht ist es ja an der Zeit, es auch in Berlin zu versuchen.‹ Außerdem hatte ich den britischen Choreographen Royston Maldoom kennen gelernt, der uns sofort seine Unterstützung anbot, ebenso wie Renate Breitig, die Referentin für Darstellendes Spiel an Schulen der Berliner Senatsverwaltung für

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Bildung, Jugend und Sport. Auf unseren ersten Rundbrief an die Schulen haben auf Anhieb über 200 Lehrer reagiert und 80 Schulen haben sich angemeldet, sodass wir sogar auswählen mussten, um schließlich in der Pilotphase mit 40 Klassen zu beginnen. Livia Patrizi bei »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen«

Foto: Marion Borriss

Wie haben Sie damals die Tänzer für Ihre Idee begeistert? Ein weiteres Anliegen von mir war die Anbindung an die professionelle Tanzszene. Oft sind die Bereiche Kinder- und Jugendtanz und professioneller Tanz ja stark voneinander getrennt, was ich schon immer für ein Problem gehalten habe. Ich bin keine Tanzpädagogin, habe aber aus eigenem Interesse schon seit elf Jahren immer wieder unterrichtet – meist Profis, aber auch erwachsene und jugendliche Laien. Schon daher habe ich dieses Projekt immer nur in Verbindung mit professionellen Künstlern gesehen. Dadurch, dass ich den Dachverband »Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V.« als Träger gewinnen konnte, wurde das Projekt sofort unter den Mitgliedern bekannt gemacht. Können Sie auf der Basis der ersten zwei Jahre bereits ein Resümee ziehen? Inzwischen sind wir, soweit ich weiß, das größte Projekt in Deutschland mit dem Schwerpunkt, »Tanz in Schulen« im Vormittagsbereich zu offerieren. Das ist für mich ein entscheidender Punkt, weil wir so die ganze Klasse, auch die Kinder, die zunächst nicht tanzen wollen, erreichen. Bei den großen Klassen mit etwa 30 Kindern ist das am Anfang gar nicht leicht. Deshalb haben wir ein Konzept entwickelt, dass die Tänzer zu zweit in den Unterricht gehen, möglichst einer mit mehr choreographischer Erfahrung zusammen mit einem, der mehr tanzpädagogisches Wissen mitbringt, sodass man sich gegenseitig unterstützen

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kann. Auf der anderen Seite ist uns die Kooperation mit den Lehrern sehr wichtig. Ich glaube, vieles ist vorher daran gescheitert, dass man das unterschätzt hat. Es gibt ja im Moment noch keinen offiziellen Platz für Tanz im regulären Vormittagsunterricht. Zurzeit geben die Lehrer dafür freiwillig Musik-, Kunst- oder Deutschstunden ab. Im Rahmen der Ganztagsschulen ist das natürlich leichter, weil die Kinder bis 16 Uhr bleiben müssen. Insgesamt war ich erstaunt, dass es bei so einem Risiko – für die meisten Künstler war es ja ganz neu, vormittags in einer Klasse zu unterrichten – keine Katastrophen gab, sondern dass es irgendwie immer funktioniert hat. Gab es anfangs auch Vorbehalte seitens der Schulen oder einzelner Eltern? Voraussetzung ist es, dass eine Klasse geschlossen teilnehmen muss. Dadurch entsteht auch ein gewisser Druck auf die Eltern, aber sie haben das immer irgendwie gelöst. Was sind Ihre vorrangigen Ziele? Uns geht es um die Vermittlung von Kunst. Wir möchten, dass Kunst auch die Menschen erreicht, die sonst nicht mit ihr in Berührung kommen würden. Das ist für mich Grund genug. Es gibt auch erfreuliche sozialpädagogische Nebeneffekte, aber die sind aus unserer Sicht nicht der Hauptgrund, warum man so etwas macht. Es liegt sogar eine gewisse Gefahr darin, immer wieder in diese Rechtfertigungsfalle zu tappen, weil Kunst in der Gesellschaft ja immer noch als Luxus empfunden wird. Natürlich führen wir je nach Zielgruppe auch manchmal andere Argumente an, aber prinzipiell geht es um die Vermittlung von Kunst – und das allein sollte reichen. Als Künstlerin finde ich es natürlich auch sehr spannend, wenn man es schafft, dass sich einige von diesen jungen Menschen auf den Weg in die Professionalisierung begeben. Es gibt in den deutschen Hochschulen für Tanz bisher kaum türkische, arabische oder libanesische Schüler oder Studenten mit Migrationshintergrund, obwohl es natürlich viele ausländische Studierende aus Europa und der ganzen Welt gibt. Da findet an den Tanzhochschulen dieselbe Selektion wie an den anderen Hochschulen statt. Dabei könnte ein junger türkischer Choreograph, der hier aufgewachsen ist, von einem ganz anderen Leben in Deutschland erzählen. Wenn man es schafft, so einen jungen Menschen aus diesem Gewaltkreislauf der Straße zu holen – ich habe da gerade einen konkreten Fall vor Augen –, dann hat man natürlich auch eine soziale Aufgabe erfüllt. Aber ich mache es in erster Linie, weil der Junge Talent hat und weil ich denke, dass er es schaffen kann. Später wären solche Leute natürlich die besten Kandidaten, um selbst als Dozenten in unserem Projekt mitzuarbeiten, weil sie selber ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Suchen Sie die Schulen auch nach dem sozialen Umfeld aus?

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Wir versuchen immer, genügend Schulen aus Brennpunkten aufzunehmen, aber genau dafür bräuchten wir eigentlich mehr Geld. Unsere einzige öffentliche Förderung sind 48.000 Euro, die wir vom Kultursenat bekommen und jedes Jahr wieder neu beantragen müssen. Die Honorare der Künstler müssen deshalb über die Schulen finanziert werden, und die Eltern dort können so ein Projekt nicht lange tragen. Deshalb wäre es wichtig, im Rahmen unseres Gesamtfinanzierungsbedarfs auch einen Posten für Schulen in Brennpunkten zu haben, der vom Bildungssenat kommen sollte. Sehen Sie konkret Chancen, solche Gelder aufzutreiben? Das große Problem hier in Berlin ist, dass der Kultur- und der Bildungssenat nicht kooperieren. Es gibt nicht nur keine anteilige Finanzierung, sondern nicht einmal Gespräche zwischen beiden Seiten. Wir versuchen gerade, das anzuregen, weil unser Projekt genau in der Mitte liegt. Es wäre falsch, dass nur der Kultursenat oder nur der Bildungssenat etwas bezahlt. Man muss dafür ein neues Konzept entwickeln. Welche Probleme gibt es, abgesehen von den finanziellen? Wir arbeiten inhaltlich an verschiedenen Bereichen: Zum Beispiel haben wir eine Curriculum-AG gegründet, um Modelle zu entwickeln, wie man den Tanz künftig stärker im Lehrplan verankern könnte. Zusammen mit Prof. Gabriele Brandstetter von der Freien Universität Berlin sind Evaluationsprojekte geplant. Und mit dem Bundesverband »Tanz in Schulen« arbeiten wir in verschiedenen Arbeitsgruppen, bei denen es um Qualitätssicherung geht, um Struktur, Organisation und Vernetzung sowie um Fortbildung. Es gibt inzwischen auch Doktoranden aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die uns begleiten. Kürzlich waren wir sogar mit einer Lecture Demonstration bei einem Psychologenkongress eingeladen. Für mich als künstlerische Leiterin besteht das Hauptproblem darin, dass ich zum Teil nicht mehr zu meinen inhaltlichen Aufgaben komme, weil die Organisation so viel Zeit beansprucht. Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem Grad an Öffentlichkeitswirkung und Akzeptanz, den das Projekt mittlerweile erreicht hat, und dem Maß, wie es gefördert wird. Solange wir auf der Organisationsseite nicht entlastet werden, können wir auch inhaltlich nur bedingt weiterkommen. Wenn wir in der Größenordnung vom letzten Jahr weitermachen wollen, brauchen wir mehr Geld, sonst müssen wir es kleiner machen, damit wir uns wieder stärker um das Inhaltliche kümmern können. Welche Formen des Unterrichts bewähren sich in der Praxis am besten, prozess- oder produktorientierte? Nach einem halben Jahr gibt es in jedem Fall eine öffentliche Präsentation, aber wir überlassen es den Künstlern zu entscheiden, ob sie mehr prozess- oder produktorientiert arbeiten wollen, d.h. eine Präsentation muss nicht unbedingt eine Choreographie sein, sondern es kann auch

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eine Lecture Demonstration sein. Das kommt auch sehr gut an, denn oft wissen die Eltern oder die anderen Lehrer ja nicht, wie der Tanzunterricht funktioniert. Einmal im Jahr im Winter findet außerdem eine große Präsentation statt, bei der ungefähr die Hälfte aller Klassen mitmacht. Dieses Jahr hatten wir dafür das Berliner Theater »Hebbel am Ufer« vier Tage lang zu unserer Verfügung. Für die Kinder ist der Unterschied zwischen einer Choreographie und einer Lecture Demonstration oft gar nicht so spürbar. Wenn sie wissen, dass Publikum kommt, erleben sie das durchaus auch als Aufführung. In den meisten Fällen ist es aber so, dass die Kinder am Ende selbst gerne etwas aufführen, egal in welcher Form. Woher nehmen Sie die Motivation weiterzumachen? Meine eigene Karriere als Tänzerin verlief sehr reibungslos mit Engagements bei großen Compagnien, was zwar anstrengend, aber gleichzeitig auch sehr behütet war. Später als freischaffende Choreographin habe ich erst gemerkt, wie klein diese Tanzwelt doch ist, wie begrenzt in ihrer Wirkung. Auch als ich jung war, hat mir da immer schon etwas gefehlt. Ich wusste zwar, ich liebe das, was ich mache, es ist meine Leidenschaft, aber man tut wenig für die Gesellschaft – und da ich sehr politisch aufgewachsen bin, war es mir wichtig, das zu vereinen. Zu einem Zeitpunkt, an dem die großen gesellschaftlichen Utopien mehr oder weniger gestorben sind, kann man z.B. beobachten, dass viele Künstler anfangen, auch Nicht-Künstler auf die Bühne zu holen, einfach aus dem Bedürfnis heraus, wieder eine Verbindung zwischen Kunst und Gesellschaft zu schaffen. Es drängt sich die Frage auf, was Kunst in der Gesellschaft für einen Stellenwert besitzt. Wir können es uns nicht mehr leisten, uns allein um unsere Kunst zu kümmern. Ohne die Zweckfreiheit von Kunst aufgeben zu wollen, sehe ich in ihr eine ungeheure Macht, im positiven Sinne etwas bewegen zu können.

Die Schüler müssen die Hauptpersonen sein Hanna Hegenscheidt und Jo Parkes im Gespräch mit Elisabeth Nehring

Das Projekt »Tanz in Schulen« hat bundesweit großen Erfolg. Choreographen und Tänzer gehen im Rahmen des Vormittagsunterrichtes in die Schulen, um dort zeitgenössischen Tanz zu vermitteln. Künstlerische Arbeit trifft auf pädagogische. Die Journalistin Elisabeth Nehring hat gemeinsam mit den in Berlin lebenden Choreographinnen Jo Parkes und Hanna Hegenscheidt darüber nachgedacht, was beide miteinander zu tun haben. Elisabeth Nehring: Ihr habt beide als Choreographinnen Erfahrungen in Community Work und dem Unterricht von »Tanz in Schulen«, im Ausland und im Rahmen des »TanzZeit«-Projekts in Berlin. Was ist Eure Motivation für die pädagogische Arbeit und wie ist sie mit der künstlerischen Tätigkeit verbunden? Jo Parkes (JP): Grundsätzlich interessiere ich mich für Menschen und ihre Geschichte. Mich interessiert es, mit Leuten aus ganz unterschiedlichen Milieus zu arbeiten. Und auch, was Kunst und insbesondere Tanz in dieser Gesellschaft bei Menschen bewirken können. Meine Projekte haben immer zwei Ziele: erstens ein künstlerisches, z.B. eine Geschichte zu erzählen oder ein Thema zu erforschen. Und zweitens gibt es immer ein Ziel für die Menschen, die mitmachen. Wichtig ist, dass sie etwas aus der gemeinsamen Arbeit mitnehmen. Das funktioniert auch in der Schule: Jeder Schüler hat einen anderen Entwicklungsstand. Ich finde es spannend zu entdecken, wo er gerade individuell steht und wie man ihn fördern kann. Hanna Hegenscheidt (HH): Mir macht das Arbeiten mit Schülern immer großen Spaß, weil ich das Gefühl habe, es öffnet Welten für mich,

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mit denen ich sonst gar nichts zu tun habe. Ich treffe Menschen, die ich sonst nicht treffe, ich gehe in Stadtteile, in die ich sonst nicht gehe. Es ist also erst mal eine Erweiterung meines Horizonts. Die Motivation kommt aus ganz egoistischen Gedanken: Man möchte, dass die eigene Arbeit für einen selbst noch einen anderen Sinn hat als ›Stücke zu machen‹, die sich nur bestimmte Leute angucken. Dass das Wissen, das man sich über viele Jahre angeeignet hat, in der Kommunikation mit anderen Menschen genutzt werden kann. Und das kann es auf jeden Fall. Es hat aber auch viel damit zu tun, dass mich andere Menschen einfach sehr interessieren. Mir macht es großen Spaß, die Schüler kennen zu lernen und zu beobachten. Ich bin neugierig zu erfahren, was sie denken, was sie interessiert, was sie motiviert, was sie zu erzählen haben. Ich finde das spannend. Das ist die Voraussetzung, sonst braucht man so eine Arbeit nicht zu machen. In erster Linie seid ihr Künstlerinnen und Kreativität macht einen großen Teil eurer Arbeit aus. Wie passt das mit dem Unterrichten zusammen? Gibt es zwischen der künstlerischen und der pädagogischen Arbeit Parallelen und wenn ja, welche? JP: Die pädagogische Arbeit ist der Kern meiner künstlerischen Arbeit – ich trenne das überhaupt nicht. Es gibt für mich nicht einerseits die Kunst und anderseits das Unterrichten. Das ist beides miteinander verbunden und fließt für mich zusammen. Als Künstlerin geht es für mich in erster Linie um die Annäherung an etwas Unbekanntes. Wenn ich ein Stück über etwas machen würde, das ich bereits verstanden habe, wäre es für mich langweilig. Es geht darum, etwas Neues zu entdecken und etwas zu lernen. So ist es auch in der Schule. Die Kinder haben das Vertrauen, dass Du weißt, worüber Du redest. Aber als Künstler kann man ihnen zeigen, dass auch Erwachsene nicht immer eine Antwort auf alles haben, sondern auch manchmal dastehen und selbst etwas lernen wollen. Damit kann man ein Beispiel für den Prozess des Lernens geben. Jo Parkes mit Schülern

Foto: Nick Gurney

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HH: Für die Pädagogik kommt mir aus der künstlerischen Arbeit mein Interesse am Beobachten zugute: Was bringen die anderen mit? Wenn ich in eine Klasse gehe und etwas sehe, das mich interessiert, habe ich als Künstlerin natürlich den Luxus sagen zu können, ich möchte diesen oder jenen Schwerpunkt setzen. So habe ich die Möglichkeit, mich auf das einzulassen, was gerade passiert. Eine andere Parallele zur künstlerischen Arbeit ist für mich schwieriger zu formulieren: Manchmal habe ich im künstlerischen Prozess einen bestimmten Gedanken oder ein Ziel, aber ich weiß in dem Moment gar nicht genau, wo meine Stärken liegen. Erst hinterher entdecke ich, dass die vielleicht ganz woanders sind als ich gedacht habe – und genau das zeigt dann vielleicht mehr über mich, als ich absichtlich und bewusst versucht habe. Das ist für mich das Schöne an der künstlerischen Arbeit – und so ist es auch mit den Kids. Da gibt es manchmal Punkte, wo ich am Ende des Arbeitsprozesses merke, dass da ganz viel entstanden ist oder ganz viel von mir darin ist, was ich während des Machens gar nicht so mitbekommen habe. Man kann ja sowieso nicht kontrollieren, was sich letztlich in der Arbeit, ob künstlerische oder pädagogische, manifestiert. Bei allen Parallelen gibt es sicherlich auch viele Unterschiede zwischen künstlerischer und pädagogischer Arbeit. Welche sind das? JP: Es gibt z.B. beim Arbeiten in der Schule weniger Zeit für Beobachten und Suchen. Das ist eigentlich, was ich machen will. Normalerweise würde ich viele Fragen stellen und wir würden Ideen ausprobieren, bis wir etwas Spannendes gefunden haben. Dann könnte ich mir auch die Zeit nehmen, um ›hinzugucken‹, ›einen Schritt zurückzutreten‹ und ›nachzudenken‹. Das geht beim Unterrichten eher weniger. Oft haben die Kinder gefragt: »Was machen wir als nächstes, was kommt jetzt?« Manchmal habe ich geantwortet: »Ich weiß noch nicht, da muss ich erst schauen«. Oder: »Wir müssen gemeinsam gucken, was funktioniert.« Wie haben die Kinder darauf reagiert? JP: Die waren am Anfang ein bisschen unsicher, aber nachher haben sie das richtig toll gefunden und angefangen, selbst Vorschläge zu machen. Davon haben wir einiges ausprobiert und auch im Stück benutzt. Aber manchmal habe ich auch gesagt: »Okay, die Idee gefällt mir nicht, also schauen wir weiter.« Gelegentlich muss die Choreographin einfach entscheiden, wie es aussehen soll. Für die Schüler war das manchmal schwierig zu akzeptieren, aber nachdem wir das ein paar Mal geübt hatten, haben sie auch verstanden warum. Wir haben uns hinterher das Ergebnis angesehen und über die Entscheidungen diskutiert. HH: Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass ich, wenn ich nicht weiter weiß, sehr gut mit den Kindern darüber sprechen kann. Ich erkläre ihnen manchmal auch, wie das in einem Probenprozess sein kann, und wir besprechen, wie es weitergeht. Die Kinder haben sehr gut darauf

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reagiert, haben eigene Ideen entwickelt. Klar, Du kannst Dich nicht lange an die Seite setzen und nachdenken, das geht nicht. Du musst natürlich alle im Blick behalten, Dich bemühen mitzubekommen, was sie gerade machen und wollen. Das ist natürlich etwas, das ich eher der Pädagogik zuordnen würde. Aber ich glaube, es gibt noch andere Unterschiede. Während der pädagogischen Arbeit in den Klassen hänge ich z.B. nicht so an einem Thema. Wenn ich ein Stück mache, möchte ich zu einem bestimmten Thema arbeiten. Darauf basiert meine gesamte Recherche und meine gesamte Aufgabenstellung sowie die Bearbeitung des Materials. Bei meiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist mir dagegen klar geworden, dass sie wirklich Hauptpersonen werden müssen. In der Schule habe ich das Ziel, dass die Schüler in ein bestimmtes Vokabular oder eine bestimmte Sprache, in Qualitäten, Räume oder Kompositionsprinzipien Einblick bekommen. Ich versuche, die Informationen, die ich von den Schülern bekomme, in das zu integrieren, was ich weiß und vermitteln will. Und damit wiederum mache ich ein Angebot, das zu den Kindern passt und in dem bestimmte Themen enthalten sind. Und dann schaue ich, was für Antworten kommen. Das ist ein Dialog. JP: Es gibt noch einen weiteren Unterschied. Die Stücke, die mit den Schülern entstehen, sehen ja oft anders aus als meine anderen Arbeiten. Ich treffe in einem Schulprojekt andere Entscheidungen, als wenn ich mit professionellen Tänzern arbeite. Wenn ich z.B. von einem bestimmten Kind bereits ein paar Vorschläge abgelehnt habe, dann würde ich den nächsten wahrscheinlich schon annehmen und umsetzen, was immer es auch wäre. Wir entwickeln die Idee dann zusammen weiter. Ich will kein Kind entmutigen und ich finde es toll, dass jedes Kind die Möglichkeit hat, etwas vorzuschlagen und das hinterher auf der Bühne zu sehen. HH: Ja, manchmal erscheint mir das wie ein Widerspruch: Wenn ich in die Schule gehe, gehe ich als Künstlerin in die Schule, also ist es für mich nicht Sozialarbeit. Aber gleichzeitig ist es total Sozialarbeit. Meine Motivation ist nicht Sozialarbeit, aber trotzdem muss es immer um die Schüler gehen. Ich muss wissen, wenn ich in die Schule gehe: Ich bin Expertin in dem, was ich mache, aber sie sind Experten in ihrem Leben. Funktioniert diese Art des Unterrichts nur zusammen mit einem Lehrer? JP: Ja, ich denke schon. Im »TanzZeit«-Projekt war mir das Verhältnis zu dem Lehrer sehr wichtig. Der Lehrer, dessen Klasse ich unterrichtet habe, hat ein sehr gutes Verhältnis zu den Schülern und wir haben richtig daran gearbeitet, ein gutes Teamwork aufzubauen. Ich habe ihn gebeten, ganz aktiv mitzumachen. Außerdem musste ich nicht immer für die Disziplin sorgen – das hat er übernommen. Ein Lehrer hat ja meist eine über Jahre entwickelte Beziehung zu den Schülern und es

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macht für mich Sinn, das einzubauen. Ich glaube, diese Kombination von Künstler und Lehrer ist auch deshalb eine tolle Sache, weil es das Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem in einem schulischen Rahmen öffnet. Manchmal tanzen die Lehrer auch mit und zeigen, dass sie nicht immer alles wissen, dass sie auch Angst haben, etwas vorzutanzen, und damit machen sie sich verletzlich. HH: Ich habe teilweise auch sehr gute Erfahrungen mit Lehrern gemacht. Mir ist das Liebste, sie machen das ganze Programm einfach mit. Aber wenn sie wollen, können sie auch nur zugucken. Was mir nicht so lieb ist: Wenn sie versuchen, mit mir zusammen zu unterrichten. Wenn die Lehrer z.B. Bewegungen der Schüler korrigieren, als ob sie Angst hätten, ihre Klasse würde sonst vor mir nicht so gut dastehen, sich nicht so gut präsentieren, wie sie könnte. Das gibt es auch manchmal. Überwiegend habe ich aber erlebt, dass die Lehrer dahinter stehen, dass sie es gut finden, dass sie auch loslassen und abgeben können. Das ist wichtig, denn sonst ist man immer unter Kontrolle. Habt Ihr manchmal das Gefühl, zu sehr ›Spezialist‹ zu sein? Ist es schwierig, das ›rüberzubringen‹, was Ihr vermitteln wollt? HH: Ja, das Gefühl habe ich schon, aber das stört mich nicht. Natürlich sind die Schüler auf einem anderen Level und viele haben nie getanzt. Klar muss ich mit ihnen ganz anders sprechen, andere Worte benutzen, um einen Draht zu ihnen herzustellen. In der künstlerischen Arbeit kann ich schon viel mehr im Dunkeln tappen und mehr ausprobieren. Bei den Kindern muss man stattdessen viel direkter und klarer sein, auch wenn man Fehler macht oder etwas nicht weiß. Das ist vielleicht der größte Unterschied. JP: In meinem letzten Projekt war es nicht immer einfach, das rüberzubringen, was ich haben wollte. Ich habe viele verschiedene Ansätze zur Vermittlung versucht: Manchmal mit Worten, manchmal durch Vortanzen, manchmal mit Musik. Ich glaube, jedes Kind hat eine eigene Art zu lernen, eine andere Art zu verstehen – und man muss verschiedene Ansätze probieren, um alle Beteiligten zu erreichen. Wie wirkt diese pädagogische Arbeit mit den Schülern, auch die menschlichen Begegnungen, die man kurz- oder langfristig mit den Kindern hat, auf euch als Künstlerinnen zurück? JP: Für mich ist das Entscheidende, dass man auf Leute trifft, denen man normalerweise niemals begegnen würde. In East-London habe ich beispielsweise mit Schülern aus der ganzen Welt gearbeitet, auch mit Flüchtlingskindern, die total andere Lebenserfahrungen mitbrachten. Damals habe ich mich dazu entschieden, einen Film mit drei Migrantenfamilien zu machen. Wir haben sechs Monate lang gearbeitet, um ihre Geschichte zu erzählen. Manchmal passiert es also ganz unmittelbar: Man trifft Leute mit völlig anderen Lebenserfahrungen und die inspirieren einen sofort. Manchmal ist es eher so, dass ein Thema freigesetzt

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wird, das später wieder hoch kommt. Manchmal ist es auch so, dass ein Kind oder ein Jugendlicher als Person in meinem Kopf bleibt oder wir den Kontakt halten und sich irgendetwas daraus entwickelt. HH: Ich empfinde diesen Einfluss eher indirekt, weil die Arbeit mit den Kindern mich als Mensch beeinflusst – und damit auch meine Arbeit als Künstlerin. Das Größte ist für mich, dass diese Arbeit alles relativiert. Es relativiert, was man wichtig findet – vielleicht sogar auch, was einen überhaupt interessiert. Mein Interesse an den Kindern ist gewachsen, seit ich mit ihnen arbeite. Ich könnte jetzt nicht mehr sagen, was mir wichtiger ist, und das war vorher nicht so. Da war schon das Wichtigste, künstlerisch zu arbeiten. Hanna Hegenscheidt bei »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen«

Foto: Marion Borriss

Habt Ihr während des Unterrichtens positive oder negative Erfahrungen gemacht, die euch einen anderen Blick auf euch selbst vermittelt haben? HH: Für mich gibt es besonders eine Geschichte, aus der ich viel gelernt habe: Ich habe mit drei Jugendlichen aus Serbien-Montenegro gearbeitet, die schon lange in Deutschland, aber immer von der Abschiebung bedroht sind. Wir sollten ein Stück zum Thema »Barmherzigkeit« und »Fremde beherbergen« machen. Das wussten die Jugendlichen auch, aber während der Arbeit zeigte sich plötzlich, dass sie nicht immer etwas zu dem Problemkreis »Duldung« machen wollten. Immer müssten sie über Abschiebung reden, dabei wollten sie sich eher integrieren. Und

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plötzlich befand ich mich in einem Zwiespalt zwischen dem vorgegebenen Thema, für das ich sie auch ausgewählt hatte, und dem Gedanken: ›Es ist jetzt ganz falsch, sie dazu zu bringen, etwas zu machen, was sie gar nicht wollen.‹ Wir haben dann eine ganz gute Lösung gefunden und mir wurde klar, dass die Jugendlichen in so einer Arbeit wirklich die Hauptpersonen sein müssen. Und dass es eine Anmaßung ist, zu denken, man müsse ihnen ein Thema vorschreiben. Genau zu wissen, was die lernen sollen, dieses ›Ich weiß, was gut für euch ist‹ – das ist echt ein Problem. JP: Ich lerne beim Unterrichten von Schülern sehr viel über mich. Und das sind häufig keine Sachen, die ich an mir mag, sondern solche, an denen ich arbeiten muss. Ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch, und wenn man mit Kindern arbeitet – besonders mit einer großen Gruppe von Kindern – muss man viel Geduld haben. Außerdem habe ich gelernt, wie man viele Sachen zur selben Zeit macht. Wenn man mit Profis arbeitet, kann man sagen: Die haben das freiwillig gewählt, für die kann das auch ein bisschen unbequem oder langweilig sein. Mit Schülern ist das ganz anders. Ich habe immer das Gefühl, mit zehn Bällen gleichzeitig zu jonglieren, damit die Kinder alle dabeibleiben. Die Augen überall zu haben und schnell Ideen auszuwerfen – das ist super. Ich bin eigentlich ein Mensch, der viel plant und über jede Probe nachdenkt. Ich gehe immer mit einem Plan in den Unterricht, aber ich mache nie, was ich geplant habe. Ich fange zwar damit an, aber dann geht es immer in eine andere Richtung, je nachdem, wie die Schüler darauf reagieren. Wenn man so richtig unter Druck ist und so viele Leute gleichzeitig in der Arbeit unterstützt, können plötzlich aus dem Unbewussten ganz interessante Ideen kommen. Das heißt, dass durch die Heterogenität und Komplexität der Arbeit mit Kindern und dadurch, dass Du die ganze Zeit so powern musst und sie so unberechenbar sind, sich Deine Energie und Kreativität noch einmal richtig entfaltet? JP: Absolut! Es ist eine andere Art von Arbeit und eine explosive Energie. Es gibt ganz wenig Reflexion und das Stück, das dabei herauskommt, hat dann auch diese Energie in sich. HH: Idealerweise möchte ich auch dahin kommen, dass ich den Unterricht gar nicht mehr vorbereite, sondern so viel Erfahrung habe, dass ich immer spontan entscheiden kann. Im Moment bereite ich noch sehr viel vor, aber ich verwerfe das dann auch wieder. Die Situation diktiert schon sehr, wie man mit ihr umgeht. Was fasziniert euch am meisten an der Arbeit mit Kindern? HH: Ich bin immer wieder von Neuem überrascht, wie sehr mich diese Kids berühren. Es ist echt überwältigend, wie sehr ich sie mag. JP: Wenn es zur Aufführung kommt, spürt man bei Schülern, genau wie bei Laien, oft sehr stark den Drive, da zu sein, auf der Bühne zu

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sein. Genau dieser Moment ist es, der mich total fasziniert. Es steht so viel auf dem Spiel, es ist so ein Risiko, dort zu stehen, aufzutreten, zu wissen, dass man sich lächerlich machen könnte, während Freunde und Familie zusehen. Das hat man bei professionellen Performern nicht. Es ist unbeschreiblich, den Schülern dabei zuzusehen, wenn sie es dann schaffen. Das ist etwas, das mich zum Weinen bringen könnte.

Personenverzeichnis

Alexandra Baudelot ist Co-Chefredakteurin von »Mission Impossible«, einer Zeitschrift für Gegenwartskunst. Als Kunstkritikerin schreibt sie für Zeitschriften wie »Mouvement« und »Parachute« über zeitgenössischen Tanz und Performance. Sie kuratiert und berät internationale Festivals und ist als Dozentin für zeitgenössische Performance an Kunstschulen tätig. Zuletzt veröffentlichte sie einen Essay über die Arbeit von Jennifer Lacey und Nadia Lauro mit dem Titel »Dispositifs chorégraphiques« (Les Presses du Réel 2007). Prof. Dr. Inge Baxmann ist seit 2001 Professorin für Theaterwissenschaft (Schwerpunkt Tanzwissenschaft/Tanzgeschichte) an der Universität Leipzig und Direktorin des Tanzarchivs Leipzig. Sie promovierte über »Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur« (Beltz 1989) und habilitierte im Fach Kulturwissenschaften über »Mythos Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne« (Fink 2000). Jason Beechey ist Rektor der Palucca Schule Dresden – Hochschule für Tanz und Generalkoordinator des Studienprogramms D.A.N.C.E. (Dance Apprentice Programme aCross Europe). Außerdem ist er seit 2004 künstlerischer Berater des Ballet National de Marseille und der École Nationale Supérieure de Danse de Marseille. Zuvor war er als Tänzer und Trainingsmeister bei Charleroi/Danses in Brüssel. Seine Karriere begann der Absolvent der National Ballet School of Canada als Solotänzer am London City Ballet. Henk Borgdorff ist Professor für Kunsttheorie und -forschung an der Amsterdamer Kunsthochschule. Zusammen mit Professorin Marijke

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Hoogenboom leitet er die Forschungsgruppe ARTI (Artistic Research, Theory & Innovation). Im Rahmen des praxisorientierten Musik-Graduiertenprogramms »docARTES« unterrichtet Borgdorff Wissenschaftstheorie und Kunstforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritik der Metaphysik, Musikphilosophie und Epistemologie der Kunstforschung. Edith Boxberger studierte nach einem zweijährigen Zeitungsvolontariat Soziologie in München, ging für ein Jahr an das Drama Department der New York University und schreibt seitdem über Tanz u.a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und »ballettanz«. Prof. Dr. Gabriele Brandstetter ist seit 2003 Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Von 1997 bis 2003 war sie Ordinaria für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel, 1993 bis 1997 Professorin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Theorie der Darstellung, Körper- und Bewegungskonzepte in Schrift, Bild und Performance sowie Forschungen zu Tanz, Theatralität und Geschlechterdifferenz. Boris Charmatz ist Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin (Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz), wo er auch an der Erstellung eines neuen Tanzlehrplans mitwirkt. Zusammen mit Isabelle Launay verfasste er das Buch »Entretenir« (Les Presses du Réel 2003), seine neueste Publikation trägt den Titel »I am a School« (i.E.). 1992 gründete er zusammen mit Dimitri Chamblas die »association edna«. Neben den in Zusammenarbeit mit Chamblas choreographierten Stücken À bras le corps (1993) und Les Disparates (1994) produzierte er eine Reihe von Stücken – von Aatt enen tionon (1996) bis Régi (2006) –, die im Rahmen von zahlreichen Gastspielreisen gezeigt wurden. Außerdem arbeitet Charmatz als Tänzer für die Kompanien anderer Kollegen, wie z.B. Odile Duboc, Fanny de Chaillé, Pierre Alféri und Meg Stuart. Julia Cima studierte Jazztanz, klassischen und zeitgenössischen Tanz in Cergy-Pontoise und Paris. Seit 1995 arbeitet sie kontinuierlich mit Boris Charmatz zusammen. Sie tanzte in Choreographien von Myriam Gourfink, Alain Michard, Laure Bonicel und Elisabeth Schwartz. Außerdem war Cima an zahlreichen Ausbildungs- und Improvisationsprojekten sowie an Kollaborationen mit bildenden Künstlern beteiligt. Im Jahr 2005 entwickelte sie ihr Solo Visitations. Bojana Cvejic ist Performance-Theoretikerin, Dramaturgin und Performerin. Sie lehrt bei P.A.R.T.S. in Brüssel und ist Autorin u.a. von

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»Performative Practices beyond Musical Work« (IKZS 2007). Cvejic schreibt derzeit ihre Dissertation zum Thema »Performance-Theorie als Ereignis« am Centre for Research in Modern European Philosophy at Middlesex, London. Ingo Diehl ist seit 2005 Leiter der Ausbildungsprojekte beim »Tanzplan Deutschland«. Von 2000 bis 2005 arbeitete er als Trainingsleiter und choreographischer Mitarbeiter u.a. an der Wiener Volksoper, am Luzerner Stadttheater, beim Island Ballet in Reykjavik und am Staatstheater Oldenburg. Seit 1988 war er national und international an verschiedenen Theatern als Tänzer und Solist engagiert und seit 1995 auch als Choreograph im Theater und Film tätig. Zuvor studierte er Bühnentanz in Hannover und New York sowie Bühnentanzpädagogik in Köln. Dr. Cornelia Dümcke ist selbstständig als Kulturökonomin und Projektentwicklerin tätig. 1991 gründete sie »Culture Concepts« (www. cultureconcepts.de). Mit Forschungs- und Beratungsleistungen sowie Projektentwicklungen an den Schnittstellen von künstlerischer und kultureller Produktion zu ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen ist sie national und international für verschiedene Organisationen tätig. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen sowie Studien und Gutachten u.a. im Bereich der Ökonomie der Performing Arts verfasst. João Fiadeiro lebt und arbeitet als Tänzer, Choreograph, Forscher und Pädagoge in Lissabon. 1990 gründete er die Cia. RE.AL, eine hybride Produktionsstruktur für zeitgenössischen Tanz. Er ist Lehrer und Berater in verschiedenen internationalen Institutionen wie Forum Dança in Lissabon, ex.e.r.ce in Montpellier, dem Tanzquartier Wien und dem Masterprogramm »SoDA« (Solo/Dance/Authorship) in Berlin. Prof. Dr. Dr. h.c. Erika Fischer-Lichte ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitglied der Academia Europaea, der Göttinger Akademie der Wissenschaften und der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sie war Gastprofessorin an zahlreichen Universitäten in Europa sowie in Russland, den USA, Indien, China und Japan. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen zählen »Ästhetik des Performativen« (Suhrkamp 2004) und »Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre« (Routledge 2005). Sabine Gehm ist seit 2002 künstlerische Leiterin des internationalen Festivals TANZ Bremen und war Projektleiterin des Tanzkongresses Deutschland 2006. Sie ist als freie Kuratorin und Kulturmanagerin tätig (u.a. Jagniatkow – Move the Mount 2005, Veronika Blumstein – Moving Exiles 2006). 2001 bis 2005 koordinierte sie das internationale

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Netzwerk für Performing Arts »Junge Hunde«. Die diplomierte Kulturwissenschaftlerin war von 1994 bis 2001 als Dramaturgin bei Kampnagel Hamburg tätig. Von 1988 bis 1994 war sie Organisationsleiterin beim Internationalen Sommertheater Festival Hamburg. Rebecca Groves ist seit 2004 geschäftsführende Direktorin der Forsythe Foundation, für die sie interdisziplinäre Publikations- und Forschungsprojekte initiierte, um das verkörperte Wissen des tanzenden Körpers und die Strukturen innovativer Choreographien zu untersuchen. 2002 begann sie als Dramaturgin ihre Zusammenarbeit mit dem Choreographen William Forsythe am Ballett Frankfurt. Sie studierte Theater- und Kunstgeschichte an der Columbia University in New York und an der Stanford University. Dr. Yvonne Hardt ist Tänzerin, Choreographin sowie Tanz- und Theaterwissenschaftlerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Nach ihrer Promotion zur politischen Dimension des Ausdruckstanzes widmet sie sich vermehrt dem Schwerpunkt Tanz und Medien sowie dem Austausch zwischen Theorie und Praxis. Sie arbeitet zudem kontinuierlich als Choreographin für ihre eigene Tanzkompanie BodyAttacksWord. Hanna Hegenscheidt studierte Tanz, Laban-Bewegungsanalyse und Klein-Technik in Hamburg und New York. Seit 1998 unterrichtet sie Klein-Technik und zeitgenössischen Tanz in New York, England und Berlin. Sie arbeitete als Teaching Artist am Lincoln Center Institute for Aesthetic Education in New York und ist Mitarbeiterin des Projektes »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen« in Berlin. Ihre eigene choreographische Arbeit wurde bisher sowohl in New York als auch in Europa präsentiert. Als Tänzerin/Darstellerin arbeitete Hanna Hegenscheidt u.a. mit Reinhild Hoffmann, Robert Wilson, Achim Freyer und Martin Clausen/Two Fish. Dieter Heitkamp ist Professor für zeitgenössischen Tanz, Direktor des Ausbildungsbereiches zeitgenössischer und klassischer Tanz sowie Dekan des Fachbereichs Darstellende Kunst an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. Von 1978 bis 1995 war er einer der künstlerischen Leiter der Tanzfabrik Berlin. Seit 1977 hat er sich intensiv mit dem Studium, der Lehre und der Aufführung von »Contact Improvisation« befasst. Seine Choreographien wurden deutschland- und europaweit, in Kanada, den USA, Japan, Hongkong, Brasilien und Russland gezeigt. Er choreographierte außerdem für das Ballett Frankfurt, das Ballett der Staatsoper Unter den Linden Berlin sowie für Theater und Fernsehen.

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Marijke Hoogenboom ist seit 2003 Professorin an der Amsterdamer Kunsthochschule, wo sie die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Art Practice and Development« leitet. Daneben hat sie den neuen institutionsübergreifenden Masterstudiengang »Artistic Research« mitkonzipiert und gehört als Beraterin für auswärtige Kulturpolitik dem niederländischen Kulturrat an. Die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin war Mitgründerin des postgradualen Studiengangs DasArts und bis 2001 Mitglied der künstlerischen Leitung. Pirkko Husemann war wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Tanzkongress Deutschland 2006. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt a.M. und verfasste ihre Dissertation »Choreographie als kritische Praxis« über choreographische Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen. Sie war als Assistentin der künstlerischen Leitung im Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt a.M., tätig und arbeitete als Produktionsmanagerin, Dramaturgin und Darstellerin mit Kattrin Deufert und Thomas Plischke, Xavier Le Roy, Thomas Lehmen, Prue Lang, Nik Haffner und Christina Ciupke. Prof. Dr. Claudia Jeschke ist seit 2004 Ordinaria für Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Tanzgeschichte mit einem bewegungsanalytischen und praxisorientierten Ansatz. Die Verbindung von Historie, Theorie und Praxis zeigt sich außerdem in ihren zahlreichen Re-Konstruktionen zu Tanzphänomenen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Sie studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in München und absolvierte eine Tanzausbildung in München, Philadelphia und New York. Prof. Dr. Gabriele Klein ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Bewegung, Sport und Tanz an der Universität Hamburg. Sie ist Direktorin des Instituts für urbane Bewegungskulturen und Leiterin des MAStudiengangs »Performance Studies« (www.performance.uni-hamburg. de). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Sozialtheorie von Körper, Bewegung und Sport, Tanz- und Performance-Theorie, Kulturund Sozialgeschichte des Tanzes sowie urbane Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen. Constanze Klementz ist seit 1997 freie Autorin und Kritikerin im Bereich Tanz für Fachmagazine und Tageszeitungen sowie die Internet-Plattform »Sarma«. Sie absolvierte eine Ballettausbildung an der Berliner Tanzakademie und studierte Theaterwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Berlin.

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Kurt Koegel ist seit 2007 Professor für zeitgenössische Tanzpädagogik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. Er hat bei Festivals, an Schulen und in Tanzkompanien, wie z.B. Ultima Vez, Rosas, P.A.R.T.S., SNDO, EDDC, SEAD, und an der Korean National University of Arts unterrichtet. Sein Ansatz ist durch Architektur, Theater, bildende Kunst, Feldenkrais, Pilates, Yoga und BMC geprägt. Er graduierte in einem selbst entworfenen Programm für Tanz, Design und Kommunikation an der University of Minnesota. Rudi Laermans unterrichtet Soziologische Theorie an der Katholischen Universität Leuven. Außerdem ist er regelmäßig als Gastdozent bei P.A.R.T.S. in Brüssel tätig. Zurzeit forscht er zu den Themen soziale Systemtheorie, post-foucaultsche kritische Theorie und moderne Kunsttheorie. Scott deLahunta ist als Wissenschaftler, Autor und Organisator im Rahmen verschiedenster internationaler Projekte tätig, die Performing Arts mit anderen Disziplinen verbinden. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Dartington College of Arts und Mitglied der »Art Theory and Research« sowie der »Art Practice and Development Research Group« an der Amsterdamer Kunsthochschule. Er sitzt im Redaktionsausschuss von »Performance Research«, des »Dance Theatre Journal« und des »International Journal of Performance and Digital Media«. Thomas Lehmen studierte Tanz und Choreographie an der School for New Dance Development in Amsterdam. Seine Produktionen wie z.B. distanzlos, mono subjects, Schreibstück, Better to … oder Lehmen lernt werden weltweit aufgeführt. In zahlreichen Workshops in Europa (unter anderem an der SNDO und an der Universität Hamburg/»Performance Studies«) unterrichtet er den Umgang mit choreographischen Systemen, die auf eine individuell künstlerische Ausarbeitung abzielen. Susanne Linke wurde bei Mary Wigman und an der Folkwang-Hochschule in Essen ausgebildet. 1970 bis 1973 war sie Tänzerin im Folkwang Tanz Studio unter der künstlerischen Leitung von Pina Bausch. Für ihre eigenen Solos und Gruppenstücke fand sie schnell internationale Beachtung. Zu Beginn der 1990er Jahre gründete sie die Company Susanne Linke. Zusammen mit Urs Dietrich baute sie 1994 eine neue Kompanie am Bremer Theater auf. 2000 bis 2001 war Linke Gründungsmitglied des Choreographischen Zentrums Essen und dessen designierte künstlerische Leiterin. Seit 2001 ist sie wieder als freischaffende Choreographin und Tänzerin tätig. Waltraud Luley, Verwalterin des choreographischen Erbes von Dore Hoyer, wurde in Riga bei Beatrice Vigners als Tänzerin ausgebildet.

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1943 siedelte sie nach Deutschland über, wo sie an der Lola Rogge Schule, Hamburg, ihren Abschluss als Laientanzpädagogin absolvierte. 1955 bis 2001 leitete sie in Frankfurt a.M. ihr eigenes Tanzstudio. 1987 bis 1995 war Luley Lehrbeauftragte für kreativen Tanz für Tanzpädagogen an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. Seit 2001 übernimmt sie gelegentliche Beratertätigkeiten, wie z.B. die Mitarbeit bei Tanz-Rekonstruktionen. Royston Maldoom arbeitet seit über 30 Jahren weltweit in vielfältigen sozialen Kontexten – mit Schülern, aber auch Gefangenen, im Exil Lebenden, Behinderten und anderen marginalisierten oder ausgeschlossenen Gruppen. In Deutschland wurde der englische Choreograph vor allem durch den fast schon legendären Dokumentarfilm Rhythm is it! über ein Projekt mit den Berliner Philharmonikern und Berliner Schülern bekannt. Er erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, u.a. 2006 von der Queen den britischen Ehrentitel O.B.E. und 2005 den deutschen Ehren-Tanzpreis. Linda Müller leitet seit 2002 im »NRW Landesbüro Tanz« das Projekt »Tanz in Schulen«. Sie entwickelte Konzepte zur Etablierung von Tanz in Schulen und dessen Qualitätssicherung. Müller vermittelt erfahrene Tanzpädagogen für den Unterricht in Schulen, organisiert für alle Mitwirkenden des Modellprojektes regelmäßig Symposien und betreibt Auf klärungssowie Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist diplomierte Sportwissenschaftlerin und Physiotherapeutin und studierte Spiel-Musik-Tanz/Bewegungstheater sowie Elementaren Tanz an der Deutschen Sporthochschule Köln. Martin Nachbar ist Tänzer, Performer und Choreograph. Er schreibt für diverse europäische Tanz- und Theaterzeitschriften. Seine Ausbildung erhielt er an der School for New Dance Development, Amsterdam, und bei P.A.R.T.S., Brüssel. Er war Mitbegründer des Kollektivs B.D.C./Plischke, für das er u.a. den Tanzzyklus Affectos Humanos von Dore Hoyer rekonstruierte. 2005 organisierte er gemeinsam mit Ulrike Melzwig und der fabrik Potsdam das Symposium »meeting on dance education« (mode05). Seine choreographischen Arbeiten umfassen neben Soli auch die Kollaboration mit anderen Künstlern, wie z.B. mit Jochen Roller in mnemonic nonstop. Dr. Elisabeth Nehring studierte Literatur- und Theaterwissenschaft sowie klassischen und zeitgenössischen Tanz in Berlin. Sie arbeitet als Dramaturgin sowie als Tanzkritikerin und freie Autorin u.a. für »DeutschlandRadio Kultur«, »Deutschlandfunk«, WDR sowie »Tanzjournal« und »ballettanz«. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Berichterstattung über die Tanzszenen Ost-Europas, Israels und der arabischen Länder.

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Alva Noë ist Professor für Philosophie an der University of California in Berkeley. Er ist der Autor von »Action in Perception« (The MIT Press 2004) sowie von zahlreichen Artikeln zu verschiedenen philosophischen Themen. Sein Forschungsscherpunkt ist das perzeptuelle Bewusstsein. Jo Parkes ist freie Choreographin, Lehrerin und Filmemacherin. Sie ist Expertin für Tanz im Bildungsbereich sowie für Integrated Dance. Parkes ist Mitinitiatorin von »People Moving«, einem britischen, integrativ ausgerichteten Ausbildungsprogramm für professionelle Künstler. Ferner hat sie an der Erstellung von Lehrplänen für Schulen und Hochschulen mitgewirkt und am Newham Sixth Form College unterrichtet. Livia Patrizi ist Initiatorin und künstlerische Leiterin des Berliner Projektes »TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen«. Sie machte ihre Tanzausbildung an der Folkwang Hochschule, Essen. Es folgten Engagements als Tänzerin u.a. mit dem Cullberg Ballett, mit Pina Bausch, Joachim Schlömer und Maguy Marin. Seit 1990 arbeitet sie auch als freie Choreographin. 2006 wurde ihre Produktion Wer hat Angst vor Tanz – ein Bühnendokumentarstück für Jugendliche und Erwachsene – uraufgeführt. Jeroen Peeters ist Kunsthistoriker und Philosoph. Er arbeitet als Autor, Dramaturg und Kurator für Tanz und Performance in Brüssel. Er publiziert in verschiedenen Medien zum Thema Tanz und Kunsttheorie und ist Mit-Initiator der Plattform für Kritik »Sarma« (www.sarma.be). Peeters hat an Performances und Forschungsprojekten der Paul Deschanel Movement Research Group, der Frankfurter Küche, von Anne Juren, Thomas Lehmen, Vera Mantero, Martin Nachbar, Lisa Nelson, Meg Stuart und Superamas u.a. mitgewirkt. Felix Ruckert ist Choreograph, Tänzer und außerdem seit 2004 Kurator des von ihm initiierten Festivals »xplore – sinnliche extreme/extreme sinnlichkeit«. Im März 2006 eröffnete er seinen eigenen Spielort »schwelle 7« in Berlin. Vor allem seine interaktiven Stücke wie Hautnah (1995), Ring (1999), deluxe joy pilot (2000), Secret Service (2002) und Placebo Treatment (2005) machten ihn und seine Kompanie international bekannt. Als Tänzer arbeitete er u.a. mit Wanda Golonka, Mathilde Monnier und dem Wuppertaler Tanztheater/Pina Bausch. Björn Dirk Schlüter ist Co-Leiter des zeitgenössischen brasilianischen Tanzfestivals »Move Berlim«. Als Kurator arbeitet er u.a. für die Festivals »Shanghai Dance« und »In/Transit« sowie als freier Dramaturg mit Takao Kawaguchi und Hooman Sharifi. Von 1996 bis 2003 war er im Leitungsteam des Theaters am Halleschen Ufer in Berlin.

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Norbert Servos arbeitet seit 1983 freiberuflich als Choreograph und Autor. Der Mitbegründer und langjährige Redakteur des Magazins »Ballett International« publizierte zahlreiche Bücher über Pina Bausch und die Entwicklung des deutschen Tanztheaters. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehört das Buch »Schritte verfolgen – Die Tänzerin und Choreographin Susanne Linke« (Kieser 2005). Darüber hinaus ist er seit 1993 künstlerischer Leiter von Dance Lab Berlin, für das er zahlreiche Stücke erarbeitet hat (u.a. Drink, Smoke – Made in Havana 2004) und Lehrer für zeitgenössischen Tanz und Choreographie. Hooman Sharifi ist Choreograph und Performer. Seit 2000 hat er mit seiner Impure Company zehn Produktionen für Kinder und Erwachsene, drei Magazine und einige Installationen herausgebracht. Seine ersten Erfahrungen im Tanz machte er mit Hip-Hop und Street Dance. Mit 21 nahm er Unterricht in klassischem Ballett und Modern Dance. 2000 graduierte er nach dreijährigem Choreographiestudium an der National Academy of the Arts in Oslo. Sharifi ist im Iran geboren und kam mit 15 Jahren nach Norwegen, wo er seit 1989 lebt. Irene Sieben ist Feldenkrais-Pädagogin und lehrt u.a. an der Universität der Künste Berlin, der Tanz Tangente und in privater Praxis. Als Autorin für »ballettanz« und »Tanzjournal« schreibt sie vorwiegend im Feld somatischen Lernens. Sie studierte Tanz/Tanzpädagogik bei Mary Wigman und diverse Methoden der Bewegungsforschung. Peter Stamer arbeitet seit 2002 als Dramaturg, Autor und Kurator im Bereich zeitgenössischer Tanz und Performance. 2001 ging er als Kurator für Theorie an das neu gegründete Tanzquartier Wien. Zwischen 1999 und 2002 hatte er ein Doktorandenstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Während seines Studiums der Theaterwissenschaft arbeitete er 1993 bis 1998 als Tanzdramaturg am Nationaltheater Mannheim. Er ist Mitherausgeber des Buches »Incubator« (Passagen 2006) zum gleichnamigen choreographischen Projekt von Philipp Gehmacher. Zurzeit arbeitet er u.a. an einer Buchveröffentlichung zu der von ihm gestalteten Diskursperformancereihe »Personale«. Silvia Stammen studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie in München und Freiburg. Sie schreibt als freie Journalistin mit Schwerpunkt Theater und Tanz für die »Süddeutsche Zeitung«, »Neue Zürcher Zeitung«, »Theater heute« u.a. Meg Stuart, Choreographin und Tänzerin, debütierte 1991 mit dem Stück Disfigure Study. Zusammen mit ihrer in Brüssel ansässigen Kompanie Damaged Goods arbeitete sie mit Künstlern wie Bruce Mau, Gary

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Hill, Ann Hamilton, Chris Kondek, Benoît Lachambre oder Hahn Rowe zusammen. Seitdem »Meg Stuart & Damaged Goods« an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz arbeiten, produzierte sie u.a. Replacement (2006), It’s not funny (2006) und Blessed (2007). Hortensia Völckers ist seit März 2003 Vorstand und künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes. 1998 bis 2002 war sie Direktorin der Wiener Festwochen für die Programmbereiche Tanz und spartenübergreifende Projekte. 1995 bis 1997 gehörte Völckers zum Leitungsteam der documenta X. Sie war Referentin für Bildende Kunst beim Siemens Kulturprogramm in München und 1991 bis 1995 künstlerische Leiterin des Münchner Tanzfestivals »Dance«. Sie studierte Kunstgeschichte sowie Politologie und absolvierte parallel dazu eine Tanzausbildung. Dr. med. Eileen M. Wanke ist als Fachärztin für Plastische Chirurgie, Sportmedizin, Tanzmedizin, Akupunktur und außerdem an der Humboldt Universität Berlin in der Abteilung Sportmedizin tätig. Ihr besonderes (Forschungs-)Interesse gilt der Prophylaxe von Verletzungen bei Tänzern. Als Autorin zahlreicher Studien wird sie als Referentin zu nationalen und internationalen tanzmedizinischen und sportmedizinischen Kongressen eingeladen. Zudem ist sie Lehrbeauftragte u.a. an der Universität der Künste, Berlin, wo sie eine tanzmedizinische Beratung leitet. Katharina von Wilcke war Projektleiterin des Tanzkongresses Deutschland 2006. 1995 gründete sie das Produktionsbüro DepArtment, das mit Künstlern aus dem Tanz- und Theaterbereich zusammenarbeitet. Daneben ist sie Kulturmanagerin und Kuratorin bei Festivals, Theaterakademien, Volkspalästen und Ersatzstädten. 1986 bis 2000 war sie in der Organisation des Internationalen Sommertheater Festivals Hamburg tätig. Sie studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Hamburg. Gabriele Wittmann arbeitet als freie Tanzkritikerin für Hörfunk und Fernsehen (u.a. der ARD) und ist Autorin zahlreicher Buch- und Fachbeiträge u.a. in »ballettanz« und »Tanzjournal«. Die diplomierte Amerikanistin und Musikwissenschaftlerin ist Lehrbeauftragte für Tanzkritik und Tanzgeschichte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt a.M. Norah Zuniga Shaw arbeitet als Tänzerin, Multimedia-Choreographin und Tanztheoretikerin. Sie ist Dozentin an der Ohio State University, Department of Dance and Advanced Computing Center for the Arts and

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Design. Ihre Forschungsgebiete sind Tanz und Technologie, interdisziplinäre Komposition und kritische Theorie des Körpers. Sie ist Mitherausgeberin des Online-Magazins »Extensions: The Online Journal for Embodied Technologies«.

TanzScripte Reto Clavadetscher, Claudia Rosiny (Hg.) Zeitgenössischer Tanz Körper – Konzepte – Kulturen. Eine Bestandsaufnahme Oktober 2007, ca. 140 Seiten, kart., ca. 21,30 €, ISBN: 978-3-89942-765-3

Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (eds.) Knowledge in Motion Perspectives of Artistic and Scientific Research in Dance Oktober 2007, ca. 275 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-809-4

Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz September 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-808-7

Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps« Juni 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. DVD, 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-558-1

Sabine Sörgel Dancing Postcolonialism The National Dance Theatre Company of Jamaica März 2007, 238 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-642-7

Christiane Berger Körper denken in Bewegung Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara 2006, 180 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-554-3

Friederike Lampert Tanzimprovisation Geschichte – Theorie – Verfahren – Vermittlung

Susanne Foellmer Valeska Gert Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre

Juni 2007, 222 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-743-1

2006, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. DVD, 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-362-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

TanzScripte Gerald Siegmund Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart 2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-478-2

Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.) Performance Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst 2005, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-379-2

Susanne Vincenz (Hg.) Letters from Tentland Zelte im Blick: Helena Waldmanns Performance in Iran / Looking at Tents: Helena Waldmanns Performance in Iran 2005, 122 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-405-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de