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German Pages 290 Year 2016
Gerko Egert Berührungen
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 43
Für und mit Jule
Gerko Egert (Dr. phil.) ist Tanz- und Theaterwissenschaftler aus Berlin. Er forscht zu (nicht-)menschlichen Choreographien, Politiken und Macht der Bewegung, Prozess- und Wahrnehmungsphilosophien sowie Theorien der Ökologie und des Wetters.
Gerko Egert
Berührungen Bewegung, Relation und Affekt im zeitgenössischen Tanz
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingeheim am Rhein und dem internationalen Forschungskolleg Verflechtungen von Theaterkulturen an der Freien Universität Berlin. Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität Berlin angefertigt und eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (Foto: Marc Doradzillo) Korrektorat: Kristina Sommerfeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3329-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3329-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagungen 9 Einleitung 11 Tangente I: Annäherungen 19 1 Bewegte Beziehungen oder: Wie die Berührung tanzt 37 the fault lines – At arm’s length: Die Nähe-Distanz der Berührung – Die Potenzialität der Berührung: Annähern – Die Berührung als Spur: Zurückweichen – Tangente II: Noli me tangere – Das Ereignis der Berührung – Ereignisketten der Bewegung
2 Aufwallend, hineinziehend, verblassend: Affekt und Berührung 83 Maybe Forever – Affektive Bewegungen – Bewegte Affekte – Amodale Bewegungen – Emotionale Konfigurationen – I Love To You – Melancholische Potenzialitäten
3 Die Autonomie der Berührung 119 herses (une lente introduction) – Die Immanenz der Bewegung – low pieces – Das relationale Werden der Körper – Die Interferenz der Berührung – Schwingen, Umfassen, Trennen – Formen des Körperns
Tangente III: Nacktheit 153 4 Körperbeben 161 What they are instead of – Bebende Körper – Rhythmische Empfindungen
5 Ich, eine Berührung 177 Solo – Sich Berühren: Phänomenologische Selbstreflexionen – Eine Hand, viele Finger – Technē der Berührung – Individuationen – to body – to solo – Solo, eine Berührung
6 Meteorologie der Berührungen 217 White Bouncy Castle – Eine empfindsame Burg – Eine kitzelige Landschaft – Für eine Meteorologie der Berührung – Blessed – Von den Dingen zum Wetter
7 Berühren berühren 245 Das Falten der Sinne und die Virtualität des Haptischen – Für eine haptische Ökologie der Empfindungen – Tangente IV: Tanz-Gefüge – Zum Schluss, zur Mitte, zum Milieu
Literatur 271 Abbildungsverzeichnis 285
We can and we may, as it were, jump with both feet off the ground into or towards a world of which we trust the other parts to meet our jump – and only so can the making of a perfected world of the pluralistic pattern ever take place. Only through our precursive trust in it can it come into being. William James
Danksagungen
Berührungen ist ein Text voller Relationen, voller Bewegungen und Interferenzen. Im Folgenden möchte ich einigen Personen danken, die auf besondere Weise am Entstehungsprozess beteiligt waren. Zunächst danke ich den beiden Betreuerinnen meiner Dissertation: Gabriele Brandstetter hat diese Arbeit von Anfang an mit großem Vertrauen begleitet. Ihr so wichtiges wie innovatives Nachdenken und Schreiben über Tanz und Bewegung hat die vorliegende Arbeit nicht nur maßgeblich geprägt, sondern überhaupt erst möglich gemacht. Für all das danke ich ihr außerordentlich. Erin Manning hat mit ihren unermüdlichen Lektüren und zahlreichen Gesprächen wesentlich zum Entstehen dieses Buches beigetragen. Ihr Schreiben über Berührung, Relation und Erfahrung war die Inspiration für diese Arbeit. Jedes einzelne Zitat ist Ausdruck des Dankes hierfür. Außerdem danke ich ihr für die bedingungslose Gastfreundschaft in Montréal: Die kollektiven und transversalen Praktiken des SenseLabs, seine Bewegungen zwischen Kunst und Philosophie, waren ein wesentlicher Motor der nachfolgenden Gedanken. Der inspirierende Austausch, die langen und kurzen Gespräche, die zahlreichen Hinweise und Fragen meiner Kolleginnen und Kollegen an der Freien Universität Berlin sind auf vielfältige Weise in diese Arbeit eingeflossen. Ihnen allen sei dafür in besonderem Maße gedankt. Ganz besonders sind Adam Czirak, Mariama Diagne, Holger Hartung, Anne Schuh und Sven Seibel hervorzuheben. Sie haben durch ihre engagierten Lektüren dem Text zu seiner heutigen Form verholfen. Auch Johanna Bücker, Torsten Jost, Clemens Rathe und Florian Thamer haben auf je unterschiedliche Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Ihnen allen sei hier herz-
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lich gedankt. Für ihr unermüdliches Korrekturlesen ist Kristina Sommerfeld zu danken. Ihre Geduld und Aufmerksamkeit sind unermesslich. Zudem ist den Künstlerinnen und Künstlern sowie den Kompanien für die Bereitschaft zu Gesprächen sowie ihrer Unterstützung im Beschaffen von Video- und Fotomaterial zu danken. Dafür, dass sie mich immer in meinem Weg ermutigt, gefördert und unterstützt haben, danke ich meinen Eltern Margret Blömer und Michael Egert. Für ihre Freude, Kreativität und den unermüdlichen Willen, immer weiterzudenken, danke ich Julia Bee. Mit ihr wurden und werden die Kräfte eines geteilten Lebens und gemeinsamen Denkens erfahrbar. Tag für Tag. Ihr ist dieses Buch gewidmet.
Einleitung
Nur wenige Zentimeter voneinander entfernt stehen die beiden Tänzer/innen Angela Schubot und Jared Gradinger voreinander. Langsam winden sich ihre Körper, drehen sich nach links und rechts, strecken sich und ziehen sich zusammen. Ihre Arme, Köpfe und Oberkörper weichen zurück und beugen sich nach vorn, sie kommen nah zusammen, jedoch ohne dabei aneinanderzustoßen. Wenn Schubot ihren Arm hebt, lässt die zur Faust geballte Hand zunächst an einen Schlag denken, doch wenn sie wie in Zeitlupe auf Gradingers Brust trifft, verändert diese Langsamkeit die Berührung und öffnet die Geste des Schlagens für andere Möglichkeiten; in ihr aktualisieren sich andere Intensitäten und neue Dynamiken entstehen: Geradezu zärtlich streicht die Hand nun über den Hals, die Schulter, die Brust, bis sie wieder zurückgezogen wird.
Eine Berührung folgt auf die andere, sie überlappen sich, sie überholen sich, sie durchkreuzen einander. Das Winden der Körper ist zu einem Ringen, einem Kämpfen, einem Umarmen geworden – es ist ein Paartanz, jedoch ohne Führende/n und ohne Geführte/n. Beide Tänzer/innen greifen gegenseitig mit gespreizter Hand das Gesicht der/des anderen – eine Berührung, so verstörend wie uneindeutig in ihrer Intensität. Ist es der Versuch die/den andere/n fortzustoßen oder an sich heranzuziehen? Liegt die Hand sanft auf dem Gesicht oder versucht sie es zu zerdrücken? Is maybe (2011) von Angela Schubot und Jared Gradinger ist voller Berührungen. Doch keine von ihnen lässt sich eindeutig bestimmen: vielleicht ein Schlag, vielleicht ein zärtliches Streicheln, zumeist ist sie beides, zugleich liebe- und gewaltvoll und darüber
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hinaus immer noch mehr. Diese Berührungen sind kein Ausdruck eines inneren Gefühls, sie kommunizieren nicht etwas, sondern schaffen eine affektive Beziehungsdynamik, eine Intensität der Relationen, die sich nicht in einer einzelnen Bedeutung auflösen lässt. Dabei entstehen nicht nur Nähe und Unmittelbarkeit: Die Hand im Gesicht oder die Faust auf der Brust markieren auch die Distanzen und Differenzen. Die Berührung bildet eine Konfiguration von Relation und Differenz. Wenn sich in der Langsamkeit der Armbewegung das Schlagen virtualisiert, dann geschieht dies in der Dynamik der Bewegung. In der Annäherung, dem Streiche(l)n aber auch im Zurückziehen entstehen Relationen und die Berührung ereignet sich als eine Konfiguration von Bewegungen. In ihrer Intensität – der Langsamkeit, der Zärtlichkeit – bzw. dem Zusammenspiel mehrerer Bewegungen weist die Berührung über den bloßen Moment des Hautkontakts hinaus. Im Rhythmus des Windens und Dehnens, des Beugens und Drehens ereignen sich immer neue Berührungen und obwohl sie sich nicht außerhalb dieser Bewegungen befinden, gehen sie auch nicht in diesen auf. Als singuläre Ereignisse flektieren die Berührungen die Bewegungen und verändern sie auf unumkehrbare Weise. Die vielfältigen Bewegungen, Empfindungen und Affekte der Berührung lassen die Einheit der Tänzerinnen und Tänzer sowie ihrer Körper prekär werden. Zugleich fragen sie nach der Relationalität und Prozessualität im zeitgenössischen Tanz: Welche Körperkonfigurationen entstehen, wenn nicht die gegebenen Körper der Tänzerinnen und Tänzer, sondern die Berührungen, ihr Zusammenspiel von Bewegungen den Ausgangspunkt der Betrachtungen bilden? Berührungen und Beziehungen sind dabei spekulative Prozesse der Bewegungen, der Empfindungen und der Materie. Diese Körper-Prozesse sind nicht zwangsläufig menschlich, sie gehen auch nicht von handelnden Subjekten aus, sie sind mannigfaltige Prozesse des Differierens: relationale Körper, prozessuale Körper, mehr als bloß menschliche Körper. Auch die Berührungspraktiken sind vielfältig. Sie bevölkern die Choreographien und Aufführungen gerade dort, wo sie ihre offensichtlichste Figuration
Einleitung
– zwei sich berührende Menschen – übersteigen: in den unzähligen Mikroberührungen, die jedes Solo, jedes Bühnenset sowie die Momente vermeintlichen Stillstands bewohnen. Diese Konzepte der Berührung – als affektive Beziehung, als Relation und Differenz, als Bewegung und Ereignis – eröffnen in ihrem Zusammenspiel mindestens drei verschlungene Linien: 1. Mannigfaltigkeit: Die Berührung ist weder linear noch einheitlich, sie lässt sich nicht auf eine Bewegung, eine Beziehung oder eine Empfindung reduzieren, sondern bildet ein Gefüge vielfältiger Relationen, Differenzen und Ereignisse (Kapitel 1 und 2). 2. Autonomie: Die Berührung wird nicht von einem bzw. zwei bereits bestehenden Körpern ausgeführt, vielmehr zieht sich die Berührung als eine immanente Relation wellenhaft durch diese hindurch. Nur wenn die Berührung autonom ist, kann sie von der Idee individuell ausgeführter Handlungen gelöst werden (Kapitel 3 und 4). 3. Produktivität: Die Berührung ist kein Zusammentreffen von gegebenen Körpern, mit ihr werden auch nicht deren Grenzen und individuelle Einheiten reflektiert, die Berührungen bringen die Körper und Differenzen erst hervor. Es sind offene, prozessuale und relationale Körper-Gefüge, die sich weder in der Einheit der menschlichen Gestalt noch in einer undifferenzierten Masse auflösen lassen (Kapitel 3, 4 und 5). Die Körper der Tanzenden sind differierende Körper im Werden – sowohl menschlich als auch nicht-menschlich (Kapitel 5 und 6). Dabei durchziehen die Berührungs-Linien – Mannigfaltigkeit, Autonomie und Produktivität – nicht nur die Felder der Bewegung, sondern zugleich auch jene der Empfindungen (Kapitel 3 und 7). Berührungen sind nicht einfach auf den Bereich des Taktilen zu reduzieren, sondern durchlaufen als amodale Beziehung alle Sinne. Haptisches und Visuelles, Sehen und Berühren falten sich ineinander und bilden so ein Gefüge, das sich durch die Tanzenden sowie das Publikum zieht (Kapitel 7). Diese Linien verknüpfen nicht nur vielfältige Konzepte und Begriffe, sondern verbinden diese zugleich mit den mannigfaltigen Berührungen und Bewegungen des zeitgenössischen Tanzes. Die »Be-
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wegungen des Denkens« überlagern und durchkreuzen sich mit den tänzerischen Berührungen.1 Diese Knotenpunkte philosophischer und tänzerischer Bewegungen eröffnen ein Feld, in dem sich die verschiedenen (Denk-)Bewegungen der Berührung intensivieren. So wie Gilles Deleuze die Aufgabe des Malers darin beschreibt, die unsichtbaren Kräfte durchs Malen sichtbar zu machen,2 so sind es die Choreographinnen und Choreographen, Tänzerinnen und Tänzer, die die Kräfte des Tanzes zum Vorschein bringen: Kräfte der Bewegung (Geschwindigkeiten, Richtungen, Rhythmen), Kräfte der Empfindungen (Intensitäten, Helligkeiten, Dynamiken), Kräfte der Berührung (Rauheiten, Heftigkeiten, Zärtlichkeiten), Beziehungskräfte und Differenzierungskräfte. Sie alle werden in den Aufführungen choreographiert und erfahrbar. Zugleich werden sie mit den mannigfaltigen Kräften des Denkens verknüpft, philosophischen Kräften, die aus unterschiedlichen Richtungen, in unterschiedlichen Intensitäten und in unterschiedlicher Stärke die Gefüge wenden, ab- und umlenken, neu zusammenknüpfen und damit den hier vorliegenden Text hervorbringen. Dass diese Dynamiken des Schreibens die Praktiken der Tänzerinnen und Tänzer, der Choreographinnen und Choreographen nicht unverändert lassen, sondern in diese eingreifen, mit ihnen interferieren und so neue Konzepte (gemeinsam) hervorbringen, ist dabei kein notwendiges Übel, sondern der wesentliche Ausgangspunkt eines geteilten transduktiven Werdens. Die Kräfte der Berührung sind keineswegs auf den Tanz zu beschränken und doch werden sie durch die Rahmung der Aufführung intensiviert: Im Akt des Rahmens treten die Bewegungen, Affekte 1 | José Gil beschreibt mit dem Konzept des »movement of thought« das Denken als eine Bewegung, die nicht abgetrennt, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen Bewegungen existiert. (José Gil: »The Dancer’s Body«, in: Brian Massumi (Hg.): A Shock to Thought. Expression after Deleuze and Guattari, London u. New York: Routledge 2002, S. 117-127, hier: S. 124). 2 | Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Fink 1995, S. 39.
Einleitung
und Perzepte, die ansonsten eher im Hintergrund unserer Wahrnehmungen zu finden sind, in den Vordergrund.3 Die Berührungen werden intensiv, wobei es hier nicht um eine lineare Steigerung von Parametern wie Geschwindigkeit, Beschleunigung oder ähnlichem geht. Was sich intensiviert, sind die Relationen und Spannungen. In diesem »Theater der Mannigfaltigkeiten« (Deleuze) geht es nicht um die Darstellung der oder die Reflexion über die Berührung, dieses Theater ist »ein Theater von stets offenen Problemen und Fragen«4. Und so nimmt auch der zeitgenössische Tanz die vielfältigen Berührungen des Alltags auf, moduliert sie, intensiviert sie und dramatisiert sie. In der Dramatisierung bildet – so Deleuze – kein Drama die vorgegebene Struktur der Beziehungen, es gibt keinen linearen Spannungsbogen. Anstatt zu zeigen, »was ist«, geht es vielmehr darum, zu fragen: »Wer? Wie? Wie viel? Wo und wann? In welchem Fall?«5 Diese Fragen führen dabei nicht zu einer Festschreibung des Bestehenden im Sinne eines »Was ist das?«, in der Dramatisierung werden Differenzen aufgenommen und in ihrer Aktualisierung erneut differenziert. Somit entstehen im Prozess der Dramatisierung spannungsvolle Gefüge. In diesem Sinne bilden Aufführungen der Tänzerinnen und Tänzer intensive Dramatisierungsprozesse von Berührungen. In der Aufnahme und Wiederholung verändern sie die Berührung und mit ihr die vielfältigen Beziehungen im und außerhalb des Theaterraums. Dabei werden jedoch keine linearen Bewegungsfolgen oder eindeutigen Körperkonstellationen geschaffen, vielmehr entsteht ein differenzielles Zusammenspiel von Bewegungen, Empfindungen und Affekten, das sich durch den Rahmen der Aufführungen intensiviert und dramatisiert.
3 | Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 244. 4 | Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München: Fink 2007, S. 244. 5 | Ders.: »Die Methode der Dramatisierung«, in: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 139-170, hier: S. 141.
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Die Dramatisierung ist nicht nur eine Methode der Kunst, sie ist auch eine Weise des Denkens, sogar allgemein eine Weise der Aktualisierung. Gemeinsam mit dem Tanz dramatisieren die Bewegungen des Denkens das unendliche Chaos des Werdens. Indem sich Tanz und Philosophie verbinden und durchkreuzen, lassen sie neue Bewegungen und neue Individuationen entstehen: »Die Kunst denkt nicht weniger als die Philosophie, aber sie denkt in Affekten und Perzepten.«6 Die Bewegungen der Begriffsschöpfung und jene der Empfindungsproduktion verbinden sich und schneiden somit »das Chaos und trotzen ihm« 7. Immer wieder springen die Bewegungen des Denkens von der Immanenzebene der Philosophie zur Kompositionsebene der Kunst und zurück. Keiner dieser Sprünge landet am sicheren Ort der Erkenntnis, sie alle sind vielmehr die Einladung, weiterzuspringen, ein spekulatives Angebot zur gemeinsamen Veränderung. Berührungen ist kein Buch über die Berührung oder über den zeitgenössischen Tanz, ihre »Praktiken taktilen Erkennens« sind – um es im Anschluss an Michael Taussig zu formulieren – wie die zitternde Hand des Chirurgen beim Eingriff in einen Körper voller bebender Massen: keine Heilung, keine gefestigte Erkenntnis, sondern gemeinsames Zucken.8 6 | Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 75. 7 | Ebd. 8 | Taussig formuliert im Anschluss an Benjamins »optisch Unbewusstes« und seine Bezugnahme zur Chirurgie ein Konzept des »taktilen Erkennens«. »Soweit demnach die neue Form des Sehens, des taktilen Erkennens, das der Hand eines Chirurgen ähnelt, die den Körper der Realität aufschneidet und in ihn eindringt, um die dort eingeschlossenen heftig zuckenden Massen zu untersuchen, soweit sie dann teilhat an jenen heftigen inneren Rhythmen wellenförmigen Stoßens und peristaltischer Entspannung – Rhythmen, die sich den harmonischen, dialektischen Flip-Flops oder Allegorien des Wissens als erhabene Reisen durch den unverletzten Körper der Realität widersetzen, die sich von den unteren Regionen bis zum Kopf bewegen – soweit ist dann dieses taktile Erkennen verkörperten Wissens auch gefährliches Wissen aus Schrecken und Begierde unter dem Banne des Tabus.« (Michael Taussig: Mi-
Einleitung
Keine dieser Bewegungen erhebt dabei Anspruch auf Abgeschlossenheit. Jene abstrakten Kräfte der Berührung – ihre Bewegungen, Empfindungen, Affekte, ihre Produktivität und Mannigfaltigkeit – schaffen in ihrem Zusammenspiel neue Konzepte, Möglichkeiten und weitere Bewegungen. Die Abstraktion der Konzepte und Begriffe steht dabei ihrer Verankerung in den konkreten Erfahrungen keineswegs entgegen. Abstraktes und Konkretes bilden keine Gegensätze, sondern vielmehr zwei Seiten einer Medaille: In seiner konkreten Situiertheit der Erfahrungen produziert der Text vielfältige »abstrakte Maschinen«,9 die ihrerseits in anderen Situationen und anderen Kontexten – dem Tanz, der Philosophie, der Kunst und darüber hinaus – produktiv werden können. Dass diese Konzepte die mannigfaltigen (Denk-)Bewegungen der Welt nicht unverändert lassen, ist – um auf den vorangestellten Gedanken William James’ zurückzukommen – das hier zugrunde gelegte Vertrauen. Jedes Konzept und jeder Begriff ist die Aufforderung, diese Bewegungen aufzunehmen und sich mit ihnen weiterzubewegen. »We can and we may, as it were, jump with both feet off the ground into or towards a world of which we trust the other parts to meet our jump – and only so can the making of a perfected world of the pluralistic pattern ever take place. Only through our precursive trust in it can it come into being.«10
mesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, Hamburg: EVA 1997, S. 42). 9 | Zum Konzept von Texten und Begriffen als »abstrakte Maschinen« vgl. die Einleitung in Tausend Plateaus (Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 13). Zum Verhältnis von Abstraktion und Konkretion als zwei Seiten einer Medaille vgl.: Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve 2010, S. 134f. 10 | William James: Some Problems of Philosophy. A Beginning of an Introduction to Philosophy, London, Bombay u. Calcutta: Longmans, Green and Co. 1916, S. 230, Herv.i.O.
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Tangente I: Annäherungen
Fragen zum Affekt, zur Bewegung und zur Empfindung sind keineswegs genuin neue oder ›zeitgenössische‹ Verhandlungen der Berührung. Immer wieder wurden sie in verschiedenen historischen Kontexten seit der Antike gestellt und somit aktualisiert. Sie bilden dabei weder eine lineare Geschichte noch sind sie auf den Bereich der Philosophie beschränkt. In vielfältigen Bewegungen ziehen sie sich durch unterschiedliche Zeiten und Zeitlichkeiten, durch gänzlich disparate Wissenschaftsgebiete sowie durch den Tanz selbst hindurch. In der Antike beschreibt Aristoteles die Berührung als den grundlegendsten aller Sinne. Im zweiten Buch von De Anima (Über die Seele) differenziert er zwischen fünf Sinnen im menschlichen Wahrnehmungsapparat: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Jedem dieser Sinne entspricht dabei ein eigener Gegenstand, ein Medium und ein Organ. So ist der Gegenstand des Sehens das farbige Objekt, sein Medium die Luft und sein Organ das Auge. Mittels dieser Anordnung wird eine dem jeweiligen Sinn spezifische Qualität erfasst: Das Sehen empfindet auf einer Skala zwischen hell und dunkel, das Hören zwischen laut und leise und das Schmecken zwischen bitter und süß.1 Diese sehr schematisch 1 | Vgl. Aristoteles: Über die Seele, Hamburg: Felix Meiner 1995, S. 95ff. (418a und b), vgl. zu den folgenden Ausführungen des Berührens in Aris toteles’ De Anima auch das Kapitel »Das empfindende Wesen« in: Daniel Heller-Roazen: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls, Frankfurt a.M.: Fischer 2012, S. 21-34.
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aufgebaute Fakultät der Sinne wird jedoch durch den Sinn der Berührung verkompliziert: Als erster und letzter Sinn aller Lebewesen bildet der Tastsinn die elementarste Form der Empfindung, doch zugleich stellt er durch seinen Auf bau das Schema aus Gegenstand, Medium, Organ und empfundenen Qualitäten in Frage.2 So lässt sich zwar der fühlbare Gegenstand noch relativ leicht dem Tastsinn zuordnen, die Frage nach dem Medium ist jedoch schon schwieriger: Aristoteles argumentiert, dass die Berührung gerade nicht der unmittelbare Kontakt zweier Körper ist, sondern diese immer von einem Zwischenraum voneinander getrennt sind. Die Außenflächen der Körper, die sich im Nassen berühren, sind niemals trocken und zwischen ihnen befindet sich immer etwas Wasser. Nicht anders ist es mit der Luft, »denn die Luft verhält sich zu dem, was in ihr ist, wie das Wasser zu dem, was im Wasser ist, wenngleich es uns hier mehr verborgen bleibt«.3 Wie bei den anderen Sinnen bleibt die Distanz auch in der Berührung bestehen, selbst wenn sie minimal und nicht wahrzunehmen ist. Doch die Frage nach dem Medium der Berührung wird noch komplizierter, wenn sich Aristoteles dem Körper zuwendet. Das Fleisch ist nämlich nicht das Organ, sondern (auch) Medium der Berührung: »Im Ganzen aber scheinen, wie sich Luft und Wasser zu dem Gesicht, dem Gehör und dem Riechen verhalten, so sich das Fleisch und die Zunge zu ihrem Sinnesorgan zu verhalten[…].«4 Das Organ der Berührung ist wiederum – so beschreibt Aristoteles recht vage – »innen« im Körper.5 Hier beginnt die Berührung nun jene klare Ordnung von äußerem Gegenstand, 2 | Vgl. zum Berühren als elementarster Sinn Aristoteles: Über die Seele, S. 69 und den Abschnitt 413b. 3 | Ebd., S. 129, vgl. auch die Abschnitte 423a und b. 4 | Ebd., S. 129. 5 | Vgl. ebd., S. 129f. Die Notwendigkeit einer Distanz zwischen Gegenstand und Sinnesorgan, um überhaupt wahrnehmen zu können, greift auch Jacques Derrida gleich zu Beginn seines Buches Berühren, Jean-Luc Nancy auf, wenn er (seine Auseinandersetzung mit Aristoteles eröffnend) fragt: »Wenn unsere Augen sich berühren, wird es dann Tag oder wird es dann Nacht?« (Jacques
Tangente I: Annäherungen
körperlichem Sinnesorgan und zwischen Körper und Gegenstand vermittelndem Medium aufzubrechen und deren eindeutige Grenzen und Aufteilungen zu befragen. Dass die Berührung eine gesonderte Position in der Ordnung der Sinne einnimmt, wird noch deutlicher in Bezug auf die wahrgenommenen Sinnesqualitäten. Anders als die dichotomen Skalen des Sehens, Hörens etc. (hell-dunkel, laut-leise) empfindet die Berührung in vielfacher Weise: »Warmes und Kaltes, Trockenes und Feuchtes, Hartes und Weiches, und anderes dergleichen mehr.«6 In der Mannigfaltigkeit ihrer sensorischen Fähigkeiten bleibt es darum für Aristoteles eine Frage, ob die Berührung »eine einzige Wahrnehmung ist oder mehrere«. Hier löst sich das Tasten aus der Fünferaufteilung heraus und wird zu einer Basis der anderen Sinne bzw. zur Grenze des sinnlichen Empfindens: »Mit dem Tastsinn erreicht die Aristotelische Analyse des wahrnehmenden Gewahrens ihren elementarsten Begriff, aber auch ihre Grenze, den Punkt, an dem die Formen und Strukturen der Empfindung ihre gemeinsame Quelle in einem Prinzip finden, das so universell und so undeutlich wie das des tierischen Lebens selbst ist.« 7 Daniel Heller-Roazen beschreibt hier die Berührung bei Aristoteles als den fundamental sten aber auch ungeformtesten aller Sinne, sie wird zur Potenzialität der Wahrnehmung überhaupt. Auch Thomas von Aquin beschreibt im 13. Jahrhundert in seinen Aristoteles-Lektüren den Tastsinn als »die Wurzel und das Fundament aller Sinne«.8 Als Grundlage der Sinne ist er zwar nicht vom Körper gelöst, jedoch lässt er sich auch nicht auf die Modalität des Tastens beschränken. Niklaus Largier führt aus, dass die BerühDerrida: Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin: Brinkmann und Bose 2007, S. 8, Herv.i.O.). 6 | Aristoteles: Über die Seele, S. 125. 7 | Heller-Roazen: Der innere Sinn, S. 33. 8 | Thomas von Aquin nach Niklaus Largier: »Gefährliche Nähe. Sieben Anmerkungen zum Tastsinn«, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie 12/13, 2008, S. 43-48, hier: S. 45.
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rung in Thomas’ Kommentar zu Aristoteles gerade die Möglichkeit der Wahrnehmung und Empfindung selbst bildet: »Wo immer die Sinne tätig werden, folgen sie zunächst dem Modell des Berührens, der Affizierbarkeit, in der Innen und Aussen, Oben und Unten, Objekt und Subjekt nicht prinzipiell unterscheidbar sind, sondern im Effekt und im singulären Ereignis zusammenfallen.«9 Die christliche Mystik des Mittelalters bezieht sich immer wieder auf die Berührung und sieht in ihr die Möglichkeit einer anderen Beziehung zu Gott. So privilegiert die Gebetspraxis den Tastsinn vor allem aufgrund seiner ›Universalität‹ gegenüber dem Sehen und Hören: In den Praktiken der Erregung, des Berührens der »grundlosen Gottheit« (Mechthild von Magdeburg) oder im »Liebeskuss« mit Gott (Margarete Ebner) entsteht eine sinnliche Beziehung, die sich nicht auf einen bestimmten Sinnesmodus reduzieren lässt und die jegliche Unterscheidung zwischen körperlichem und spirituellem, irdischem und göttlichem Raum unterläuft. Auch wenn diese Texte oftmals metaphorisch gelesen wurden, so führt Largier im Anschluss an den spätmittelalterlichen Theologen Hendrik Herp aus, dass der Tastsinn eine Einheit zwischen Mensch und Gott herzustellen vermag, die »keineswegs abstrakt [ist], sondern als Praxis der Sinnlichkeit gedacht [wird], in der die Sinne im Gebet stimuliert werden«.10 Die Berührung wird hier zu einer »Virtualität sinnlicher Erfahrung«, die in den religiösen Praktiken des Gebets vielfältige Aktualisierungen hervorbringt.11 Die Beschreibung der Berührung als grundlegendsten aller Sinne, wie sie bei Philosophen wie Aristoteles oder Thomas von Aquin zu finden ist, führt jedoch nicht nur zu einem Konzept der Berührung als Basis oder Möglichkeit der Wahrnehmung. Sie situiert diese zugleich am unteren Ende einer Sinneshierarchie, deren Spitze
9 | Ebd. 10 | Ebd., S 46. 11 | Ebd.
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– seit Platon – der Sinn des Sehens bildet.12 Im 18. Jahrhundert wird diese Ordnung auf verschiedenen Ebenen aufgebrochen und neu konfiguriert. Vielfach wurde dazu das Molyneux-Problem und die damit verbundene Frage, ob ein Blindgeborener, der durch einen operativen Eingriff die Sehkraft erlangt hat, räumliche Figuren wahrnehmen kann, ohne dabei auf den Tastsinn zurückzugreifen, diskutiert.13 Doch neben diesen vergleichenden Untersuchungen beginnt ein weiterer Aspekt das Feld der Sinne zu durchdringen: das Gefühl. Wurde Gefühl im 17. Jahrhundert noch als primär körperliche Sinneswahrnehmung verstanden, setzt im Laufe des 18. Jahrhunderts sukzessive dessen »Verseelung« ein:14 Fühlen ist 12 | Vgl. zur Privilegierung des Sehens in der westlichen Philosophie seit Platon Martin Jays Kapitel »The Noblest of the Senses: Vision from Plato to Descartes« in: Martin Jay: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley, Los Angeles u. London: University of California Press 1993, S. 21-82. 13 | Kommentiert wurde das Molyneux-Problem u.a. von: John Locke, George Berkeley, Gottfried Wilhelm Leibniz, Étienne Bonnot de Condillac, Voltaire und Denis Diderot. Vgl. hierzu: Marjolein Degenaar: Molyneux’s Problem. Three Centuries of Discussion on the Perception of Forms, Dodrecht: Kluwer 1996. 14 | Hartmut Böhme: »Gefühl«, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim: Beltz 1997, S. 525-548, hier: S. 534. Findet sich unter dem Lemma »Fühlen, Gefühl« in Zedlers Universal-Lexikon von 1753 die Definition »Einer derer fünff äußerlichen Sinne, der sich über den ganzen Leib ausbreitet« (Bd. 9, Sp. 2225), so ist in dem 1862 erschienenen Grimms Wörterbuch neben der 1. Definition als »tastend prüfen« auch eine 2., als »sinnlich empfinden«, zu finden (Bd. 5, Sp. 2167). Eine parallel verlaufende Bedeutungserweiterung bzw. -verschiebung lässt sich auch bei dem Lemma »Rühren« feststellen: So wird dieses in Zendlers Universal-Lexikon als »die dritte Ackerarbeit« und »Buttern« (das Rühren der Milch zu Butter) bestimmt (Bd. 32, Sp. 1764f.), in Grimms Wörterbuch ist, wenn auch erst an 4. Stelle, nach Definitionen wie »etwas in Bewegung setzen« (Bd. 14, Sp. 1459) die Bestimmung als »innerlich bewegen, commovere« zu finden (Bd. 14 Sp. 1468). (Johann Heinrich Zedler: Großes
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nicht mehr bloß das Tasten mit der Hand, sondern wird zu einem inneren seelischen Ereignis. Das Aufkommen der Verbindung von taktilen und affektiven Empfindungen, von Berühren und BerührtSein lässt nun vielfältige physiologische, anatomische, nicht zuletzt anthropologische Erklärungsmodelle entstehen. Neben Georg Friedrich Meier und Johann Gottlob Krüger, die die Gefüge haptischer und affektiver Berührungen in den Nerven bzw. im psycho-physischen Influxus ansiedeln,15 beschreibt Johann Gottfried Herder die Berührung in der Verknüpfung seiner ästhetischen und anthropologischen Überlegungen. Sein vielzitierter Ausruf »Ich fühle! Ich bin!«16 beschreibt dabei eine Konstitution des menschlichen Selbst im Akt körperlicher Empfindungen. Doch dass es hier nicht nur um die Entstehung eines einheitlichen Subjekts im Akt der Berührung geht, sondern sich diese immer an dessen Grenzen, dessen »Nullpunkt« ereignet, hat Niklaus Largier in seiner Lektüre von »Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl« (1769) ausgeführt: Jene Berührung, die Herder am »Grunde der Seele«17 vollständiges Universal-Lexikon 64 Bde., Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1961 und Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch 33 Bde., München: dtv 1984). Siehe für eine Diskussion der Berührung im 18. Jahrhundert auch Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek b.H.: Rowohlt 1999, S. 222-241 sowie: Natalie Binczek: Kontakt. Der Tastsinn in den Texten der Aufklärung, Tübingen: Max Niemeyer 2007. 15 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Natalie Binczek in dem Kapitel »Funktionsräume des Gefühls« in: Binczek: Kontakt, S. 186-206. 16 | Johann Gottfried Herder: »Zum Sinn des Gefühls«, in: Werke Bd. 2, hg. v. Wolfgang Proß, München: Hanser 1987, S. 243-250, hier: S. 244. Vgl. dazu auch das Kapitel »Darstellung fürs Gefühl. Herders Theorie der Plastik« in: Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert, München: Fink 1998, S. 49-102, bes. S. 57. 17 | Vgl. für eine ausführliche Diskussion des Konzeptes des »Grundes der Seele« bei Baumgarten und Herder: Niklaus Largier: »The Plasticity of the
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beschreibt, bildet nicht einfach eine Sinnesmodalität, vielmehr ist sie »a plane of perception, a horizon of possibilities that emerges together with the figures we encounter and that takes shape in correspondence with these figures«.18 Berühren wird bei Herder, ähnlich wie schon bei Thomas von Aquin und den mittelalterlichen Schriften der Mystik zu einem Grund für alle Erfahrungen. Doch dieser Grund als »primary plane of perception«19 existiert nicht vor dem Akt des Empfindens – er ist diesem immanent. Indem Berühren hier keinen Modus der Empfindung, sondern vielmehr die Entstehung ihrer Möglichkeit selbst bildet, unterlaufen bzw. übersteigen Herders Ausführungen die Idee einer Berührung, die lediglich von einem Selbst vollzogen wird bzw. dieses konstituiert. Dass die Verknüpfungen von Berühren und Empfinden mit der Bewegung und damit dem Tanz verbunden sind, haben sowohl Gabriele Brandstetter als auch Christina Thurner in ihren Studien zum Begriff des movere gezeigt:20 In der Auseinandersetzung mit den darstellungstheoretischen Diskursen Schillers bringt Brandstetter die innere Bewegtheit mit der äußeren Bewegung der Tanzenden zusammen. Als eine »Bewegung, die Bewegtheit induziert«,21 zeigt
Soul: Mystical Darkness, Touch, and Aesthetic Experience«, in: MLN 125(3), 2010, S. 536-551. 18 | Ders.: »Figure, Plasticity, Affect«, in: Gabriele Brandstetter, Gerko Egert und Sabine Zubarik (Hg.): Touching and Being Touched. Kinesthesia and Empathy in Dance and Movement, Berlin u. Boston: De Gruyter 2013, S. 23-34, hier: S. 25. 19 | Ebd. 20 | Gabriele Brandstetter: »Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz. Zu einer Ästhetik im Zeichen von movere«, in: Felix Ensslin (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 165-181 und Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript 2009. 21 | Brandstetter: »Schillers Spielbein«, S. 166.
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die zweifache Dimension des movere deutliche Parallelen zu den Diskursen der (Be-)Rührung und des Gefühls auf. Herder beschreibt, wie vor ihm Aristoteles und Thomas von Aquin, die Berührung als eine Möglichkeit der Wahrnehmung und somit als eine grundlegende Funktion des Mensch-Seins. Doch immer wieder wird auch eine Abwehr der Berührung und mit ihr einhergehend ein Berührungsverbot artikuliert. Im Christentum ist dieses Verbot zentral in der Noli me tangere-Episode des Neuen Testaments zu finden: Jesus kommt nach seiner Auferstehung zurück an sein Grab und als Maria Magdalena ihn erkennt und berühren will verwehrt er dieses mit dem Ausspruch »Noli me tangere«, »Rühre mich nicht an«. Er sei auf dem Weg zu Gott, seinem Vater und dürfe nicht durch die Berührung fest- und aufgehalten werden. Die Berührung wird hier zu einem Ergreifen, das die Bewegung und Wandlung Jesu stillzustellen droht.22 Auch Sigmund Freud hat in seinem 1913 erschienenen Buch Totem und Tabu das Berührungsverbot bzw. -tabu sowie das damit verbundene Begehren untersucht. Freud sieht im Verbot der Berührung sowohl das wesentliche Merkmal des Tabus der von ihm als »primitiv« bezeichneten Völker als auch die zentrale Störung der Zwangsneurotiker. »Das Haupt- und Kernverbot der Neurose ist wie beim Tabu das der Berührung, daher der Name: Berührungsangst, délire de toucher.«23 Resultiert das »primitive Tabu« aus einer Angst vor Ansteckung, sind die Verbote des Zwangsneurotikers vielmehr 22 | Vgl. für eine ausführliche Diskussion der Noli me tangere-Episode: Jean-Luc Nancy: Noli me tangere, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2008. 23 | Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 75, Herv.i.O. Dass dieses Berührungsverbot sich nicht bloß auf die körperliche, sondern zugleich auch auf die psychische Berührung erstreckt, führt Freud in der direkt anschließenden Passage aus: »Das Verbot erstreckt sich nicht nur auf die direkte Berührung mit dem Körper, sondern nimmt den Umfang der übertragenen Redensart: in Berührung kommen, an. Alles, was die Gedanken auf das Verbotene lenkt, eine Gedankenberührung hervorruft, ist ebenso
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»unmotiviert und in ihrer Herkunft rätselhaft«.24 Darüber hinaus ist jedoch die Verknüpfung der Berührung mit der Magie besonders auffallend, wie sie von Freud direkt zu Beginn seiner Ausführungen zum »primitiven Tabu« beschrieben wird: »Als Quelle des Tabus wird eine eigentümliche Zauberkraft angesehen, die an Personen und Geistern haftet und von ihnen aus durch unbelebte Gegenstände hindurch übertragen werden kann.«25 Dieser Zauberkraft der Berührung geht auch Michael Taussig in seinen Studien zu Mimesis und Alterität nach. Wie Freud bezieht Taussig sich dabei vor allem auf die Ausführungen James Frazers, beschäftigt sich jedoch weniger mit den Verboten und Tabus als vielmehr mit der Magie, die sich in der Berührung zweier Dinge überträgt. »Der Abdruck ist wirklich ein phantastisches Beispiel für Nachahmung, die sich derart mit der Berührung vermischt, daß es unmöglich wird, in der letztendlichen Auswirkung die Kraft des Bildes von der Substanz zu unterscheiden.«26 Führen Freuds Vergleiche des »primitiven« Tabus mit der frühen psychischen Entwicklungsstufe bzw. der pathologischen Störung der Zwangsneurotiker zu einer Exotisierung und Abwertung nicht-europäischer Kulturen, beschreibt Taussig die Magie der Berührung ebenso in westlichen Praktiken und bricht damit deren hierarchisierende Trennung auf. Im Anschluss an Walter Benjamins Konzepte des »Optisch-Unbewussten« sowie des »mimetischen Vermögens« beschreibt Taussig die »Imaginationstechnologien der Moderne« in ihrer Taktilität: »Es geht darum, ›wieder bewegt zu sein‹, ›wieder gerührt zu sein‹, noch einmal. Wiedergeburt der Mimesis. Kurzschluß. Kopie verschmilzt mit Kontakt.«27 verboten wie der unmittelbare leibliche Kontakt; dieselbe Ausdehnung findet sich beim Tabu wieder.« (Ebd., S. 75f.) 24 | Ebd., S. 75. 25 | Ebd., S. 68. 26 | Taussig: Mimesis und Alterität, S. 63f. 27 | Ebd., S. 41, vgl. auch: S. 68. Siehe auch: Walter Benjamin: »Das mimetische Vermögen«, in: Gesammelte Schriften Bd. 2.1, hg. v. Rolf Tiedemann
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Diese Magie der Berührung findet nicht nur in Taussigs Benjamin-Lektüren ihre Verbindung mit der Faszination für neue mediale Erfahrungen. Immer wieder wird der Photographie, dem Film oder dem Fernsehen eine Taktilität zugeschrieben, die deren angebliche Unmittelbarkeit beschreiben soll. Rosalind Krauss’ Photographie als »Ergebnis eines physikalischen Abdrucks«,28 Marshall McLuhans Fernsehbild als »Erweiterung des Tastsinns«29 und Jean Baudrillards »tactile and tactical simulation«30 sind beispielhafte Zeugen für die Suche nach einer anderen, nicht-optischen Konzeption der Medien. Die Frage nach der Berührung und ihrem Verhältnis zum Sehen hat auch in der Phänomenologie, vor allem den Untersuchungen Maurice Merleau-Pontys eine zentrale Rolle gespielt. Indem er aufzeigte, dass sich die einzelnen Sinne trotz ihrer Unterschiedenund Hermann Schwepphäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 210-213 und ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963. 28 | Rosalind Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam u. Dresden: Verlag der Kunst 2000. »Jede Fotografie ist das Ergebnis eines physikalischen Abdrucks, der durch Lichtreflexion auf eine lichtempfindliche Oberfläche übertragen wird.« (Ebd., S. 257) 29 | Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden: Verlag der Kunst 1968, S. 502. McLuhan beschreibt die Taktilität weniger als eine Form der Berührung, als vielmehr im »Wechselspiel der Sinne«: »Das Fernsehbild verlangt in jedem Augenblick, daß wir die Lücken im Maschennetz durch angestrengte Beteiligung der Sinne ›schließen‹, die zutiefst kinetisch und taktil ist, weil Taktilität viel eher ein Wechselspiel der Sinne bedeutet, als den isolierten Kontakt der Haut mit einem Gegenstand.« (Ebd., S. 475) 30 | Jean Baudrillard: Simulations, New York: Semiotext(e) 1983, S. 124. Für eine Übersicht zur Taktilität im Fernsehen und in »interaktiven Medien« siehe: Derrick de Kerckhove: »Touch versus Vision. Ästhetik neuer Technologien«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München: Fink 1993, S. 137-168.
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heit gegenseitig beeinflussen, beschrieb er die »taktilen Qualitäten« innerhalb des Sehens: »Es gibt eine doppelte und überkreuzte Eintragung des Sichtbaren in das Berührbare und des Berührbaren in das Sichtbare, beide Karten sind vollständig und vermengen sich dennoch nicht.«31 Etwa um die Jahrtausendwende herum wurden diese Überlegungen zu einem ›anderen‹ Sehen vor allem in der Filmwissenschaft aufgenommen. Laura Marks formuliert in The Skin of the Film ein Konzept der »haptic visuality«, das sich als eine körperliche Wahrnehmung von der Dominanz eines optischen, distanzierten und objektivierenden Sehens abgrenzt.32 Ihre Auseinandersetzungen mit interkulturellen Filmen und Videoarbeiten zeigen dabei, dass diese Weisen der Wahrnehmung keine anthropologische Konstante, sondern in die je politisch spezifischen Erfahrungen der Migration und der Hybridität eingebettet, und so eng mit individueller Erinnerung, Trauer und Verlust verbunden sind.33 Die Frage nach den politischen Dimensionen der Berührung wird zudem – wenn auch in unterschiedlichen Perspektiven – von Erin Manning und Jasbir Puar aufgenommen. Manning beschreibt in enger Auseinandersetzung mit dem Tango sowie im Anschluss an Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Werdens-Philosophie eine Berührung, die gerade nicht auf den individuellen Körper und dessen Empfindungen bezogen ist, sondern ein transduktives Werden
31 | Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, München: Fink 1986, S. 177. 32 | Laura Marks: The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses, Durham u. London: Duke UP 2000, siehe auch: Vivian Sobchack: »What My Fingers Knew. The Cinematic Subject, or Vision in the Flesh«, in: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley: University of California Press 2004, S. 53-84 und Jennifer Barker: The Tactile Eye. Touch and the Cinematic Experience, Berkeley: University of California Press 2009. 33 | Vgl. das Kapitel »Memory of Touch« in: Marks: The Skin of the Film, S. 127-193.
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in der Bewegung bildet.34 Ihre Überlegungen zur Berührung als reaching-toward, ihre Konzepte des sensing body in movement oder der preacceleration sowie ihre Arbeiten zu Deleuzes und Guattaris Konzept des Rhythmus’ und Gilbert Simondons Individuation sind zentral für ein prozessorientiertes Denken der Berührung. Jasbir Puar analysiert im Anschluss an Achille Mbembe und Brian Massumi eine Politik, die sich nicht mehr als eine optische Macht der Überwachung und Identifizierung ausdrückt, sondern wesentlich im Bereich der Bewegung, der Affekte und des Taktilen operiert: »As distinct from the ›looks like,‹ relegated to the optical restrictions of visibility, the ›seems like‹ is mired in loaded tactile economies, an affective space that pushes the ›seems like‹ toward ›feels like‹ and even, to explain the conviction of radical difference, ›feels like nothing I could ever feel like‹ or ›nothing I have ever felt before.‹«35 Taktilität gilt hier, zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr als Möglichkeit, den dominanten visuellen Herrschaftsformen zu entkommen, in ihr verknüpfen sich vielmehr sexistische und rassistische Politiken und werden so selbst zu einem Modus des Regierens. Berühren ist hier weder ein moralisches, noch ein genuin kritisches Konzept, sondern bildet Möglichkeiten der Rela34 | Erin Manning: Politics of Touch. Sense, Movement, Sovereignty, Minneapolis u. London: University of Minnesota Press 2007. 35 | Jasbir Puar: Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times, Durham u. London: Duke UP 2007, S. 187. Vgl. auch Mbembes Konzept der Necropolitics: »Technologies of destruction have become more tactile, more anatomical and sensorial, in a context in which the choice is between life and death. If power still depends on tight control over bodies (or on concentrating them in camps), the new technologies of destruction are less concerned with inscribing bodies within disciplinary apparatuses as inscribing them, when the time comes, within the order of the maximal economy now represented by the ›massacre.‹« (Achille Mbembe: »Necropolitics«, in: Public Culture 15(1), 2003, S. 11-40, hier: S. 34) sowie Brian Massumis Untersuchungen zu »affective politics« in: Brian Massumi: Politics of Affect, Cambridge u. Malden: Polity 2015.
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tionalität und des Empfindens, die sich weder auf den Bereich normativer Machtausübung, noch auf eine kritische Praxis reduzieren lassen. Einen gänzlich anderen Bereich der Berührung greift Jacques Derrida in seinem Buch Berühren, Jean-Luc Nancy auf: die Berührung des Sinns, der Psyche bzw. des Geists. In seinen dekonstruktiven Lektüren der Schriften Nancys aber auch der Phänomenologie von Maine de Biran bis Jean-Louis Crétien und Didier Franck sowie Aristoteles und Kant dekonstruiert Derrida einen auf Einheit und Unmittelbarkeit beruhenden »Haptozentrismus«, der spätestens seit Nancy brüchig geworden ist. Die Berührung wird hier zur Synkope, zur Aufteilung und zur Diskontinuität – »lokal, modal, fraktal«.36 Berühren ist dabei nicht auf den körperlichen Akt der Wahrnehmung beschränkt, sondern operiert immerzu an einer Grenze, am Rand dessen, das nicht berührt werden kann, der Grenze des Sinns (sens).37 An dieser Grenze verschieben sich nicht nur die Ränder der Körper, auch die Philosophie wird in ihren Grundfesten befragt. Der Dialog zwischen Nancy und Derrida wird zu einem Nachdenken über das Berührbare, das Unberührbare sowie über die Dekonstruktion und ihre Methoden. 36 | Derrida: Berühren, S. 202. Vgl. für eine umfangreiche Diskussion des Buches auch die thematischen Zeitschriftenausgaben von Derrida Today 1(2), 2008 und 2(1), 2009 sowie SubStance 126, 2011. 37 | Nancy beschäftigt immer wieder die etymologische Verbindung des Sinns und der Sinne im französischen Begriff sens. Die Berührung ereignet sich für ihn dabei gerade an der Grenze zwischen Sinn und Sinnen, zwischen Körper und Seele (ohne dass diese beiden dabei getrennte Entitäten bilden). Er schreibt in dem Kapitel »Über die Seele«: »Wir rühren an eine gewisse Unterbrechung des Sinns, und diese Unterbrechung des Sinns hat mit dem Körper zu tun, sie ist Körper. Und es ist nicht zufällig so, daß sie mit dem Körper auch etwas mit dem Sinn zu tun hat, Sinn im anderen Sinn, Sinn im Sinne von Spüren, im Sinne von Berühren. An die Unterbrechung des Sinnes zu rühren, das ist es, was mich am Problem des Körpers interessiert.« (Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2007, S. 110).
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In den historischen Ausführungen zeigt sich, dass vor allem die Aspekte der Wahrnehmung und Empfindung im Zentrum der Auseinandersetzungen mit der Berührung stehen. Die Berührung bleibt als eine Form des sinnlichen Spürens jedoch oftmals auf den Moment des Hautkontakts beschränkt und wird damit eher im Sinne eines statischen Augenblicks verstanden. Konzepte wie die Affizierung und das movere, wie sie schon im 18. Jahrhundert als ein Bewegt-Werden diskutiert wurden, die Potenzialität, wie sie Mannings Konzept des reaching-toward prägt, oder der Rhythmus von Annäherung und Distanzierung, wie sie das Denken Nancys bestimmen, beginnen diese (oftmals starren) Betrachtungsweisen der Berührung, um die Perspektive der Bewegung zu erweitern. Mehr noch als diese philosophischen Konzepte artikuliert der Tanz die Perspektive der Bewegung in der Berührung. Die Frage der Berührung ist auf vielfältige Weise in den historischen und zeitgenössischen Tanzformen – angefangen von den Hebefiguren des akademischen Balletts bis zu den Selbstberührungen im Butoh – zu finden. Und so sind Bewegungen und Berührungen des zeitgenössischen Tanzes auch nicht unabhängig von den vielfältigen historischen Praktiken zu betrachten, die sie geprägt haben. Eine Tanzform, die sich ganz explizit mit der Berührung auseinandersetzt, ist die Kontaktimprovisation. Sie hat mit ihren Praktiken und Stilen Einfluss auf viele zeitgenössische Choreographinnen und Choreographen genommen. Entstanden in den frühen 1970er-Jahren, ist die Kontaktimprovisation eine Weise des gemeinsamen Tanzens, die sich gegen vorgeschriebene Choreographien und Ordnungen richtet. Es ist kein Tanz, der einer Ausbildung im traditionellen Sinne bedarf oder der von einer Choreographin bzw. einem Choreographen vorgegeben wird. In den sogenannten contact jams, die in der Regel allen Interessierten offen stehen, geht es um ein gemeinsames Improvisieren, ein Ko-Kreieren von Bewegung aus der Berührung heraus. Als ihr Gründungsvater bzw. »Erfinder« gilt Steve Paxton, der als Mitglied des New Yorker Judson Dance Theaters 1972 die contact jams veran-
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staltete und zeitgleich auch erste, auf der Kontaktimprovisation aufbauende Stücke (u.a. Magnesium, 1972) zeigte.38 Die Bewegungen werden in der Kontaktimprovisation nicht ausgehend von den einzelnen Subjekten generiert, sie entstehen vielmehr aus der Berührung und damit in der Verlagerung des Gewichts und der Übertragung von Impulsen zwischen den Tanzenden: »[M]ove to follow the point of touch as it moves«, so Paxton in seinem Kommentar zur Video-Retrospektive Fall after Newton. »In the play of moving and being moved, specific movements are unpredictable, but they occur within a knowable field – of gravity, centrifugal force, support and dependency.«39 Hier wird die Berührung als Sinn der Empfindung um das Spiel mit verschiedenen Bewegungskonfigurationen erweitert: In ihr öffnet sich eine »kinaes t hetic awareness«.40 Drehen, Heben und Fallen bilden Bewegungen, die kein Körper alleine, sondern nur in der Beziehung zu anderen, im 38 | Vgl. hierzu und für die folgenden Ausführungen zur Kontaktimprovisation die umfangreiche Studie Sharing the Dance von Cynthia Novack (Cynthia Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Madison u. London: University of Wisconsin Press 1990). 39 | Steve Paxton: Fall after Newton, Videoda 1987 [Video-Dokumentation, Transkript im Begleitheft der DVD]. 40 | Vgl. Gabriele Brandstetter: »›Listening‹. Kinaesthetic Awareness und Energie in zeitgenössischen Bewegungspraktiken«, in: Barbara Gronau: Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen, Bielefeld: transcript 2013, S. 183-198. In Bezug auf Paxtons Ausführungen zur Bewegung in der Kontaktimprovisation schreibt Brandstetter: »Die Betonung von motorischen Seiten der Bewegung – wie z.B. die Arbeit mit ›momentum‹, ›gravity‹, ›mass‹/›weight‹, mit ›chaos‹ und ›inertia‹, die Aufmerksamkeit auf höchst differenzierte Zustände des Muskeltonus’ zwischen Entspannung und Anspannung (›release‹/›inertia‹ und ›contraction‹/Widerstand) und schließlich das ›shifting‹ der räumlichen Wahrnehmung zwischen dem Fokus auf das Innere des Körpers und das Äußere des Raumes machen klar, dass ein Akzent des Gesamt-Konzeptes von Contact Improvisation auf der bewussten Arbeit mit dem ›sixth sense‹, der Kinästhesie, liegt.« (Ebd., S. 188)
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gegenseitigen Fühlen bzw. »Listening« (Brandstetter) ausführen kann. Obwohl nicht vorgegeben, beschränkte sich die Kontaktimprovisation hauptsächlich auf das Tanzen im Duett, größere Gruppen schauten zwar zu, tanzten aber selten zusammen. Eine verwunderliche Gewohnheit, da doch die Kontaktimprovisation gerade gegen das formalisierte Pas de Deux des Balletts sowie den engen Regularien der kleinbürgerlichen Gesellschaft und das durch diese ausgedrückte bzw. mit diesem verbundene Konzept der romantischen Paarbeziehung angetreten war.41 Als explizites Credo der Kontaktimprovisation formulierte Paxton, dass die Berührungen und die Intimität der gemeinsamen jams in keiner Weise emotional oder durch sexuelles Begehren aufgeladen sein dürften; die Berührung sollte reine Berührung und bloße Bewegung sein.42 Dass dieser Neutralisierungsversuch ein Phantasma der Egalität war und schon in seinen Anfängen scheiterte, zeigen die vielen gegenläufi-
41 | Vgl. Novack: Sharing the Dance, S. 160ff. 42 | Im Gegensatz zum No-emotions-Paradigma der Kontaktimprovisation ist die Berührung in anderen Tanzformen, wie bspw. dem Tanztheater Pina Bauschs sehr eng mit einem Rühren und einer Affizierung des Publikums verbunden. Sabine Huschka führt am Beispiel der bekannten Umarmungsszene in Café Müller aus, wie das »sich-berührende Berühren einer fließenden wie zögerlichen Kinästhesie […] das Bühnengeschehen [emotionalisiert]« und eine »schwelende Sehnsucht nach inniger Nähe, ein pathem körperlich spürenden Kontakts« entsteht. (Sabine Huschka: »Körperkontakt im Tanz. Ästhetische Betrachtungen seiner Artikulation«, in: Renate-Berenike Schmidt und Michael Schetsche (Hg.): Körperkontakt. Interdisziplinäre Erkundungen, Gießen: Psychosozial-Verlag 2012, S. 309-327, hier: S. 323 und S. 324.) Auch Gabriele Brandstetter beschreibt das Tanztheater (einen Ausdruck Alexander Kluges aufgreifend) als »Chronik der Gefühle« und hebt damit die zentrale Position der Emotion in den Aufführungen Pina Bauschs hervor. Vgl. Gabriele Brandstetter: »Tanztheater als ›Chronik der Gefühle‹. Fall-Geschichten von Pina Bausch und Christoph Marthaler«, in: Margrit Bischof, Claudia Fest und Claudia Rosiny (Hg.): e_motion, Hamburg: LIT 2006, S. 17-34.
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gen Aussagen der Beteiligten.43 Wie jede andere Tanzpraktik konnte die Kontaktimprovisation den gesellschaftlichen Ordnungen nicht entkommen, sondern blieb von diesen durchzogen.44 Es sind diese sozialen Spannungen und Dissonanzen, die später Choreographinnen und Choreographen wie Boris Charmatz oder Meg Stuart in ihren Auseinandersetzungen mit der Kontaktimprovisation interessierten: Früh schon lernte Stuart die Kontaktimprovisation kennen, einen Einfluss, der auch später für sie nichts von seiner Wichtigkeit einbüßen sollte: »If I could go back in dance history I would put myself at Oberlin college in 1972 crashing into Steve Paxton and his students as we performed Magnesium. I have always been passionate about Contact Improvisation.«45 Doch Stuarts Arbeiten basieren nicht auf einer harmonischen Kommunikation, immer wieder zeigen sich in ihnen Momente sozialer Alltagsbeziehungen, die von Fehlkommunikation, Ungleichheit, A-Symmetrie und A-Synchronizität bestimmt sind.46 In dieser Spannung zwischen einem Verlangen nach und dem Wissen um ein notwendiges Scheitern der Berührungen sind die Figuren auf der Bühne weder isolierte Wesen noch Teil einer festen Gemeinschaft, sie stehen in
43 | Vgl. Novack: Sharing the Dance, S. 166ff. 44 | Vgl. Robert Turner: »Steve Paxton’s ›Interior Techniques‹. Contact Improvisation and Political Power«, in: TDR 54(3), 2010, S. 123-135. 45 | Meg Stuart in: Meg Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?, hg. v. Jeroen Peeters, Dijon: Les presses du réel 2010, S. 52. 46 | Vgl. hierzu Stuarts Kommentar: »Most Contact dances are about mutual exchange and democratic goals. In real life I saw that relationships are not equal, that people are very rarely in sync with each other and if they are it is only for precious moments. For the most part there are power plays, manipulation, and demands or expectations that are granted or denied. There is always someone weaker and more vulnerable in an exchange. I wanted to bring these ideas in. To do this, it was necessary to set up partnering situations where the roles were not fluid but fixed and each action had to have consequences.« (Ebd., S. 52).
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einem remote contact.47 Dieses spannungsvolle Verhältnis von NichtKontakt und einem gleichzeitigen »desire to make contact«48 bildet nicht nur den Ausgangspunkt für Stuarts Arbeiten, sondern zieht sich durch die Aufführungen zahlreicher zeitgenössischer Choreographinnen und Choreographen. Sie alle eröffnen in ihren Stücken ein Feld möglicher Berührungen, Bewegungen und Empfindungen und fragen nach den Differenzen und Beziehungen der tanzenden Körper und Bewegungen. Welche Berührungen kennen wir (noch) nicht? (vgl. ebd., S. 164)
47 | Mit »remote contact« bezeichnet Stuart eine der zahlreichen von ihr entwickelten Übungen. Die »Remote Partners in Contact«-Übung transformiert das klassische Kontaktimprovisationsduett in ein gemeinsames Bewegen trotz bzw. mittels einer räumlichen Distanz. Beide Partner/innen können sich dabei sogar in unterschiedlichen Räumen und Orten befinden (vgl. ebd., S. 164). 48 | Dies.: Artistic Statement, 2007. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.lespressesdureel.com/EN/ouvrage.php?id=1628.
1. Bewegte Beziehungen oder: Wie die Berührung tanzt
In seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch Corpus zählt Jean-Luc Nancy eine Vielzahl unterschiedlicher Berührungen auf. Sein »Corpus des Tastens« umfasst dabei: »streicheln, streifen, pressen, hineinschlagen, drücken, glattstreichen, kratzen, reiben, liebkosen, betasten, anfassen, kneten, massieren, umschlingen, umklammern, schlagen, kneifen, beißen, lutschen, naßmachen, halten, loslassen, lecken, wichsen, betrachten, anhören, riechen, schmecken, vermeiden, ficken, wiegen, schaukeln, tragen, wägen …«1
Diese Liste zeigt nicht nur die Diversität der Berührungen und die Unmöglichkeit ihrer Kategorisierung, schnell wird auch deutlich, dass die Berührungen mehr umfassen als nur den Hautkontakt zwischen zwei Körpern. Es sind ihre Bewegungen, die die Berührungen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrnehmbar machen und durch die sie spezifisch werden. Erst wenn die Hand über die Haut fährt, kann zwischen einem Streicheln, Streifen, Reiben oder Betasten differenziert werden, und erst wenn nicht mehr nur der Moment des Kontakts der Körper betrachtet wird, sondern ihre gegenseitigen Annäherungen und Entfernungen, die Dynamiken und Rhythmen ihrer Bewegung, ist eine Unterscheidung zwischen Liebkosen und Schlagen möglich. Doch zugleich übersteigen die Bewegungen der Berührung die semantischen Ausdifferenzierungen, brechen 1 | Nancy: Corpus, S. 81.
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diese auf und stellen sie in Frage. Gibt es ein Streicheln ohne Streichen, ein Schlagen ohne Liebkosen? In diesen Konfigurationen der Berührung zeigt sich noch ein zweiter Aspekt: Die Berührung ist nicht auf einen Moment unmittelbarer Nähe zu reduzieren, in der Bewegung, der Annäherung wie der Distanzierung wird deutlich, dass der Berührung immer auch eine Distanz innewohnt. Die Berührung ist ein Rhythmus von Relation und Differenz. Im zeitgenössischen Tanz werden die Bewegungen in ihrer Ausdruckshaftigkeit und Materialität immer wieder befragt, es wird mit ihnen experimentiert und geforscht. In ihren Zusammenarbeiten Maybe Forever (2007) und the fault lines (2010) verhandeln der Choreograph und Tänzer Philipp Gehmacher und die Choreographin und Tänzerin Meg Stuart diese spezifischen Bewegungskonfigurationen. Welche Berührungen werden durch die Bewegungen hervorgebracht? Wie ermöglichen und wie übersteigen die Bewegungen der Annäherung und der Distanzierung die Berührung? Und wie wird die Bewegung selbst durch die Ereignishaftigkeit der Berührung verändert? Dass diese Fragen gerade in der Zusammenarbeit der beiden Tänzer/innen auftreten, ist dabei kein Zufall: Es ist die Relationalität und das Zusammenkommen, die die Berührung zu einem Ereignis vielfältiger Bewegungen machen.
the fault lines Die Bühne ist hell, sehr hell. Stuart, Gehmacher und Vladimir Miller stehen bzw. sitzen fast regungslos in dem durch flackernde Neonröhren beleuchteten Bühnenraum, jede/r für sich, möglichst weit von den anderen entfernt. Langsam, beinahe gelangweilt gehen Stuart und Gehmacher aufeinander zu, halten inne und bewegen sich weiter bis ihre Körper aneinander stoßen. Kurz vorher reißen sie ihre Arme hoch; zum Kampf? Zur Umarmung? Jeder Ansatz einer Umarmung scheint abzurutschen, die/den andere/n zu verfehlen, ihre Bewegungen wirken vielmehr wie ein Schlagen, jedoch
1. Bewegte Beziehungen
Abb. 1: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: the fault lines (2010) eines, das – nach kurzem Zögern – doch nicht ausgeführt wird; denn schon nach wenigen Augenblicken trennen sie sich wieder und jede/r führt ihren/ seinen Gang quer über die Bühne fort. Jedoch nur um sich umzudrehen und nach kurzem Innehalten erneut die Arme auszustrecken und sie um die/den andere/n zu werfen. Immer wieder suchen Gehmacher und Stuart in den ersten 10 Minuten des Stückes the fault lines diese Nähe, eine Nähe, die keine Intimität der Umarmung darstellt, sondern in der Ununterscheidbarkeit von Zuneigung und Gewalt sowohl die Gefährdetheit als auch die Verwiesenheit ihrer Körper aufzeigt. In den Annäherungen, dem gegenseitigen Stützen, zu Boden Fallen, Aufrichten, erneutem Niederreißen, Tragen, in ihren Umarmungen und Schlägen lassen sich keine eindeutigen emotionalen Beziehungskonfigurationen erkennen. Die Momente der Nähe werden immer wieder durch das Wegstoßen des bzw. der anderen unterbrochen. Immer wieder reißt Gehmacher, in der für ihn so typischen Geste, seine Arme hoch und macht damit sowohl ein gewalt- wie auch liebevolles Umschließen des Körpers unmöglich. Der Raum, in dem sich die beiden Tanzenden bewegen, ist offen, provisorisch und jederzeit veränderbar. Ein Vorhang verdeckt die Hälfte der linken Wand. Später kommt noch ein zweiter, projizierter Vorhang hinzu. Auf der
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anderen Seite bestimmen die technischen Apparate des Videokünstlers und Bühnenbildners Vladimir Miller den Bühnenraum: Zwei Projektoren, davon einer Gold verkleidet, zwei Kameras und goldene Kabel machen den Raum zu einer ebenso fragilen wie poetischen Versuchsanordnung. Wenn Miller das Licht des Beamers mittels einer Spektral-Folie in seine Elementarfarben bricht oder wenn er durch die Kombination verschiedener (Filter-) Folien ganz neue, eigene Lichteffekte entdeckt, dann wirkt dies wie ein optisches Experimentieren. Wenn er mit einer Lochblende einzelne Punkte aus dem Kamerabild auswählt und mit ihnen die Rückwand der Bühne abtastet, sind dies Versuche der Berührung, die nicht nur zwischen den Körpern der Tanzenden stattfinden, sondern sich ebenso durch die technischen Apparate hindurchziehen. Wie im Experiment lässt Miller Gehmacher und Stuart sich im Kamerabild berühren und berührt sie selbst, indem er – zart und immer wieder zögernd – mit dem Stift über ihre Körper fährt. Dabei stellt er Linien und Beziehungen zwischen ihnen, der Wand mit dem gefilmten und projizierten Bild sowie seiner eigenen Hand her. Doch die Versuchsanordnung the fault lines führt nicht zu eindeutigen Ergebnissen, sie endet nicht in den Aussagen klarer Sinnstrukturen; sie drückt auch keine eindeutigen Emotionen aus, sie eröffnet vielmehr einen Raum mannigfaltiger Relationen, haptischer und affektiver Berührungen.
A t arm ’s length : D ie N ähe –D istanz der B erührung Wie lassen sich die Momente, kurz vor, kurz nach, aber auch während der Berührung jenseits der Alternativen »Kontakt« und »kein Kontakt« beschreiben? Wie verändern sich die Berührungen, wenn diese nicht auf den Moment des Körperkontakts reduziert, sondern als eine komplexe Formation von Bewegungen und Relationen betrachtet werden? Für Gehmacher ist die Berührung keine natürliche Gegebenheit, sondern immer wieder mit der Frage ihres Grundes bzw. ihrer Möglichkeit verbunden: »Wie kann man sich begegnen? Wie kann man sich berühren? Was ist der Abstand zwischen zwei
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Menschen?«2 Diese Fragen nach einer gegenseitigen Bezugnahme stellt er bereits im Kontext der Arbeit incubator (2004): »Meine Ausdrucksmittel und mein persönliches Bewegungsmaterial hatten immer ein schwieriges Verhältnis zur Interaktion. Darum ist die Entwicklung von Berührung in incubator ein großer Schritt, und dabei handelt es sich nicht einfach um eine flüchtige Berührung, sondern um eine tatsächlich stattfindende Begegnung. Was bedeutet die Berührung eines Objektes, einer anderen Person? Was erfährt die Hand, die sich über die eigene Kinesphäre hinaus bewegt? Es liegen Welten zwischen einer greifenden Hand, die sich verbrennt, einer zeigenden Hand, einer Hand, die den Abstand zwischen Menschen misst und einer Hand, die jemanden berührt und tastet. Diese Transformation ist bedeutsam.« 3
Die Berührung ist keine Selbstverständlichkeit, kein ursprünglicher Zustand oder ein zu erreichendes Ideal (wie in der Kontaktimprovisation), vielmehr bedarf sie immer wieder der erneuten Entscheidung und der Überwindung der Distanzen zwischen den Tänzerinnen und Tänzern. At arm’s length: Genau eine Armlänge entfernt stellt sich Gehmacher in incubator neben den Tänzer David Subal, bleibt einen Moment stehen und streckt dann beide Arme zu den Seiten aus, sodass seine Hand gerade dessen Körper berührt. Er lässt die Arme fallen, um diese nach einem Moment der Ruhe erneut zu heben und seinen ganzen Körper dem anderen anzunähern; sein Arm ist ausgestreckt, dann in verschiedenen Positionen angewinkelt, so als wolle er die beiden Körper und ihr Verhältnis zueinander vermessen. Schließlich hakt sich Gehmacher bei Subal unter, zieht ihn zur hinteren Bühnenwand, drückt ihn gegen
2 | Philipp Gehmacher in seiner Lecture-Performance walk+talk 10. 3 | Philipp Gehmacher zitiert nach Jeroen Peeters: Wie sich begegnen? Der Choreograph Philipp Gehmacher über »Incubator« und »good enough«, 2005. Zugriff am 2.11.2015 unter: http://sarma.be/docs/926.
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diese und entfernt sich wieder von ihm.4 Welche Formen der Berührungen und Beziehungen wurden hier zwischen den Tänzern verhandelt und ausprobiert? Ist ihr Auflösen und die damit erneut entstehende Distanz ein Scheitern oder bloß eine andere Form der Beziehung? Auch wenn in den Arbeiten Gehmachers die Berührungen oft flüchtig und selten von längerer Dauer sind, so stehen die Tänzerinnen und Tänzer immer in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander. Die Geste des ausgestreckten Arms beschreibt einen wesentlichen Aspekt der Berührung: Die Berührung ist nicht einfach ein Moment der Nähe, ihr wohnt zugleich ein Distanz inne. Jean-Luc Nancy beschreibt die Berührung als eine »Mit-teilung« und somit als eine singuläre Konfiguration von Relation und Differenz: »Berühren: das heißt, Anziehung und Abstoßung, Integrität und Einbruch, Unterscheidung und Übertragung zusammen spielen lassen. Das Ensemble als solches spielen, die Einheit und ihre Lösung, ihre Entzweiung einander streifen lassen.«5 Die Berührung ist kein unmittelbarer Moment von Verschmelzung und Einswerdung, sondern eine »verschwindende, intime, aber insofern unendliche Distanz«6, eine Spannung von Intimität und Distanz, Nähe und Trennung. Nancy betrachtet die Berührung weniger als den Vollzug einer von einem präexistenten Körper ausgeführten Handlung, sondern vielmehr als einen Modus des Seins selbst. In seinen Ausführungen zu einem singulär pluralen Sein schreibt er: »Alles Seiende berührt alles Seiende, doch das Gesetz des Berührens ist Trennung, und mehr noch, es ist die Heterogenität der Oberflächen, die sich
4 | Vgl. hierzu Gehmachers Ausführungen in seiner Lecture-Performace walk+talk 10. At arm’s length ist auch der Titel einer 2010 von Gehmacher und Miller entwickelten Videoinstallation. 5 | Jean-Luc Nancy: »Der Lustkörper«, in: Ausdehnung der Seele. Texte zu Körper, Kunst und Tanz, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2010, S. 25-30, hier: S. 29. 6 | Ders.: Singulär plural sein, Berlin: Diaphanes 2004, S. 124.
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berühren.« 7 Dieses Sein ist im Sinne Nancys kein statischer Zustand, sondern selbst veränderlich und prozessual. In seinem Buch Berühren, Jean-Luc Nancy greift Jacques Derrida das Konzept der Berührung auf und beschreibt diese als eine Verräumlichung und Teilung der Körper. Die Berührung wird damit auch bei Derrida dem Phantasma der Unmittelbarkeit entzogen, »[d]enn der Kontakt vollzieht damit weder Verschmelzung noch Identifizierung noch gar unmittelbare Kontiguität. Wir müssen einmal mehr das Berühren von dem trennen, was der sensus communis und der philosophische Sinn ihm stets als die Evidenz selbst, als das erste Axiom einer Phänomenologie des Berührens zusprechen, nämlich die Unmittelbarkeit.«8 In den ontologischen Ansätzen Nancys und Derridas zeigt sich die Prozessualität und Bewegung eines Seins, das als Berührung gedacht wird. Zugleich ereignet sich die Berührung selbst nicht außerhalb dieser Bewegungen: Es sind die Annäherung und Distanzierung, die die Verräumlichung und Mit-teilung der Berührung ermöglichen und ein Konzept der Berührung auf brechen, das lediglich von dem Moment des Kontakts als unmittelbare Nähe ausgeht. Wie ermöglicht die Bewegung – die Annäherung, die Distanzierung – die Berührungen? Wie unterbricht sie diese? Welche Beziehungen entstehen zwischen den Tänzerinnen und Tänzern durch die Berührungen?
D ie P otenzialität der B erührung : A nnähern The fault lines beginnt mit einer Annäherung. Stuart und Gehmacher bewegen sich langsam aufeinander zu, bleiben einige Meter voneinander entfernt stehen, zögern weiterzugehen und lassen dann ihre Körper gegeneinander prallen. Sie ringen, tanzen, ent7 | Ebd., S. 25. 8 | Derrida: Berühren, S. 155, Herv.i.O.
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fernen sich und stehen erneut voreinander. Diese Momente des Innehaltens unterbrechen die Annäherungen zwischen den beiden Tänzer/innen – wie zwei Boxer warten sie auf den nächsten Schlagabtausch. Sie suspendieren ihre Bewegungen und ermöglichen zugleich durch die gegenseitige Bezugnahme und die sich auf bauende Spannung die Berührungen zwischen ihnen. Sind diese Momente des Innehaltens die Vorbedingung oder schon der Beginn ihrer Berührungen? Die Berührungen zwischen Stuart und Gehmacher sind keine einfachen Gegebenheiten, sondern erscheinen als Akte der Überwindung. Immer wieder stocken, zögern und unterbrechen die beiden Tänzer/innen ihre Annäherungen, sie bleiben mit ausgestreckten Armen stehen, oder sie bewegen sich aneinander vorbei, ›verfehlen‹ sich und ihre Berührungen führen ins ›Leere‹. Diese Bewegungen sind (noch) kein Körperkontakt, sie sind jedoch nicht einfach der Berührung vorgängig, sie bilden Momente einer Berührung, die selbst nur als Bewegung zu denken ist. Auch Erin Manning beschreibt die Berührung nicht einfach als das Auflegen der Hände, sondern als eine Bewegung der Annäherung an den anderen Körper: »Touch is the act of reaching toward, of creating spacetime through the worlding that occurs when bodies move.«9 In den Stücken Gehmachers und Stuarts werden nicht nur die Hände ausgestreckt, auch die Arme, der Kopf, der Oberkörper und die Beine berühren sich. Sie alle bilden unterschiedliche Figurationen der Berührung und Bewegung. Jene für Gehmacher so zentrale Geste des Drehens seines Brustbeins und damit seines Oberkörpers ist eine Geste der Hinwendung und damit ein Moment, in dem für ihn die Berührung beginnt.10
9 | Manning: Politics of Touch, S. xiv, Herv.G.E. 10 | »Bei mir beginnt die Berührung wahrscheinlich bei der Zuwendung und deswegen beginne ich auch immer mit diesem Oberkörper, also eben mit Projektion.« Gehmacher im Interview mit Gabriele Brandstetter am 7.7.2011.
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Die Bewegungen des reaching-toward11 sind nicht einfach nur die notwendige Bedingung einer bereits bestimmten Berührung, als Annäherung sind sie wesentlicher Teil der Berührung selbst. Dieser Berührung sind der Aspekt des Näherns, des Nahen und doch nicht des Verschmelzens eigen.12 In der Annäherung wird die Berührung begonnen, doch zugleich ist sie auch jener Moment, in dem sie noch nicht stattgefunden hat, noch keine endgültige Form angenommen hat; die Annäherung ist jener Moment der Berührung, in dem diese als ihre eigene Potenz existiert. »Potentiality is at the heart of this reaching-toward«13, schreibt Manning und verweist damit auf jene Bewegung der Berührung, die sie als einen Prozess des Unabgeschlossenen, des Noch-nicht und des Werdens beschreibt. Ein vor allem in Gehmachers Bewegungen und Annäherungen zentrales Moment ist das Zaudern: Wenn Gehmacher stockend seinen Arm ausstreckt, ist dieser von Stuart abgewandt, erst langsam dreht er sich und weist in unterschiedliche Richtungen des Raums. 11 | Der von Manning im Englischen verwendete Begriff des reaching-toward lässt sich nur ungenügend ins Deutsche übersetzen. Die Übersetzung »nach etwas langen« findet im deutschen Sprachgebrauch kaum noch Verwendung. Im Folgenden soll hier ein anderer Begriff verwendet werden: »sich annähern«. Dieser bezieht sich einerseits auf Nancys Buch Die Annäherung (JeanLuc Nancy: Die Annäherung, Köln: Salon 2008) und andererseits erweitert er damit die Bewegung vom Langen mit dem Arm auf die Bewegungen der ganzen Körper der Tanzenden. 12 | Nancy beschreibt die Annäherung mehrfach als eine Bewegung, die sich – wie die Asymptote – dem anderen zwar nähert, jedoch nie bzw. erst im Unendlichen mit diesem zusammentrifft. »Die Annäherung gilt als Bewegung im Superlativ der Nähe, welche sich nie in einer Identität annulliert, da ja ›das Nächste‹ entfernt bleiben soll, in einer infinitesimalen Distanz, um das zu sein, was es ist.« (Jean-Luc Nancy: Rühren, Berühren, Aufruhr, 2011. Zugriff am 2.11.2015 unter: http://tqw.at/sites/default/files/Ruehren %20 Beruehren %20Aufruhr.pdf, S. 6). 13 | Manning: Politics of Touch, S. 7.
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Nur manchmal trifft er Stuarts Körper. Sein Körper dreht sich weiter, der Arm schweift vorbei. Für einen Augenblick erscheint das Bild einer entstehenden Umarmung, einer möglichen Berührung. Doch die Distanz zwischen beiden ist zu groß, Gehmacher dreht sich weiter und löst damit die Annäherung und das soeben aufgerufene Umarmungs-Bild auf. In diesen Momenten des Innehaltens, zwischen Stillstand und Bewegung, wird gerade keine Linearität der Bewegungsabläufe hervorgerufen, sondern ein Zaudern fühlbar, das den Ausgangspunkt und die Möglichkeitsbedingung der Bewegungen bildet: noch keine eindeutige Bewegung und doch kein Stillstand mehr – ein premovement, wie Gehmacher es selbst beschreibt.14 Bewegung und 14 | In einer Buchpublikation, die im Kontext von Gehmachers incubatorProjekt entstanden ist, wird der Begriff des pre-movement von mehreren Beteiligten zur Beschreibung dieser Überlagerung von Bewegung und Bewegungslosigkeit verwendet. »The pre-movement is not visible, but the audience can feel the pre-movement through space, through time, through distance.« (Peter Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln …‹. Kompilation aus Programmhefttexten, Briefkorrespondenzen, Probennotizen, Gesprächsbeiträgen zu incubator. Konzipiert und Zusammengestellt von Peter Stamer«, in: Philipp Gehmacher, Angela Glechner und Peter Stamer (Hg.): Incubator, Wien: Passagen 2006, S. 11-26, hier: S. 23). Ein anderes Konzept des premovements – das sich jedoch von dem hier beschriebenen wesentlich unterscheidet – formuliert Hubert Godard in seinem Text »Le geste et sa perception«. Godard beschreibt das premovement als den subjektiven Ausgangspunkt, von dem das Individuum eine Bewegung ausführt. »We will call ›pre-movement‹ that attitude towards weight or gravity which, simply because we are standing, already exists before we move, and will produce the expressive charge of the movement we are going to make.« (Hubert Godard: »Gesture and its Perception«, in: Writings on Dance 22, 2004, S. 57-61, hier: S. 57.) Im Gegensatz zu Godard formuliert Gehmacher ein Konzept der Bewegung, das gerade nicht im subjektiven Körper, sondern in den Relationen seinen Ausgangspunkt nimmt und steht damit – trotz der differenten Bezeichnung – Mannings Konzept der preaccelaration wesentlich
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Berührung sind hier keine gegebenen, immer schon anwesenden Konstanten, sie sind eine Entscheidung und Überwindung. In ihnen lässt sich ein Zaudern beobachten, ein Unterbrechen und ein Verfehlen des anderen Körpers. Im Zaudern, so Joseph Vogl, bleibt die Tat – zumindest für einen Moment – potenziell, und es eröffnet sich ein Möglichkeitsraum, in dem die Entscheidung zu ihrem Vollzug (noch einmal) ausgesetzt ist. Das Zaudern unterbricht »Handlungsketten und wirkt als Zäsur, es potenzialisiert die Aktion, führt in eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ja und Nein, exponiert eine unauflösbare problematische Struktur und eröffnet eine Zwischen-Zeit, in der sich die Kontingenz des Geschehens artikuliert«.15 Auch in Bezug auf die Handlung der Berührung lässt sich das Zaudern als eine Unterbrechung linearer Bewegungen beschreiben, in der die Berührung in Ihrer Potenzialität, nicht aber in ihrem Vollzug erscheint. Die Entscheidung zur Berührung der/ des anderen wird hier für einen Moment aufgeschoben, sie verbleibt in einem Bereich des Sowohl-als-auch und eröffnet damit auch die Möglichkeit nicht oder anders zu berühren. Zaudern ist dabei jedoch kein statischer Zustand, sondern eine Bewegung, sogar ein »Bewegungssturm«.16 näher (vgl. Erin Manning: Relationscapes. Movement, Art, Philosophy, Cambridge u. London: MIT Press 2009, S. 6). 15 | Joseph Vogl: Über das Zaudern, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2007, S. 57. 16 | Den Begriff »Bewegungssturm« entlehnt Vogl Sigmund Freuds Aufsatz Der Moses des Michelangelo. Mit dem Begriff des »Bewegungssturms« beschreibt Freud die Bewegungen »von Bart, Hand und auf die Spitze gestelltem Tafelpaar« des Mose des Michelangelo. (Sigmund Freud: »Der Moses des Michelangelo«, in: Gesammelte Werke Bd. 10. Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 172-201, hier: S. 192) In diesem Zusammenhang spricht Vogl von dem Bild des zaudernden Mose als einem »Kräftediagramm« und »eine Konstellation, die durch die Wirksamkeit gegenstrebiger Kräfte und deren Zusammenstoß bestimmt ist.« (Vogl: Über das Zaudern, S. 12).
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Wie jene zahlreichen Figuren der Verweigerung – allen voran Bartleby, der Schreiber – sind es auch bei Gehmacher und Stuart die Momente ihres Nicht-Handelns, des Stehen-Bleibens, die eine »Zone der Unbestimmtheit« aufrufen, die weder in der Affirmation noch in der Negation der bestehenden und erwarteten Handlung aufgehen.17 Doch im Gegensatz zur starren Bewegungslosigkeit Bartlebys18 sind die Szenen in the fault lines voll von mannigfaltigen, jedoch richtungslosen Bewegungen der beiden Tänzer/innen: Beide, Stuart und Gehmacher, reißen, dicht voreinander stehend, ihre Arme in die Luft, breiten sie aus und kippen mit ihren Oberkörpern nach vorn, als wollten sie sich gegenseitig in die Arme fallen. Doch ihre Arme schließen sich nicht, sie bleiben in der Drehbewegung, ›rudern‹ über ihren Köpfen immer weiter, hektisch bewegen beide sich mal vor, mal zurück, sodass sie sich immer wieder ›verfehlen‹ und es zu keiner Umarmung, keiner Berührung zwischen ihnen kommen kann. Diese schnellen, hektischen Bewegungen brechen über die sonst langsame Annäherung ein wie ein »Bewegungssturm«. Es ist dieses Zuviel, ihre Überfülle an Bewegungen, die sich gerade in ihrem Übermaß nicht mehr koordinieren bzw. lenken lassen und somit auf andere Weise den linearen Bewegungsfluss der Annäherung unterbrechen. Dieses Zuviel an Bewegungen bzw. an Möglichkeiten bildet wie das Aussetzen einen Moment der Potenzialität: Potenzialität ist hier 17 | Vgl. Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel, Berlin: Merve 1994, bes. S. 14. 18 | Melville charakterisiert Bartleby immer wieder durch seine Bewegungslosigkeit: Schon das erste Erscheinen Bartlebys wird mit den Worten beschrieben: »Auf meine Annonce hin stand eines Morgens ein junger Mensch reglos auf der Schwelle meiner Kanzlei« (S. 37), im Folgenden wird seine »lange währende Reglosigkeit« (S. 52) ausgeführt, bis er sich letztendlich »weigerte, von der Stelle zu weichen« (S. 68) und »als regloser Bewohner eines nackten Zimmers« (S. 69) zurückbleibt. (Herman Melville: »Bartleby, der Lohnschreiber. Eine Geschichte von der Wall Street«, in: Billy Budd. Die großen Erzählungen, München: Carl Hanser 2009, S. 27-80, Herv.G.E.).
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die Überfülle von Möglichkeiten, die in der Aktualisierung, der Ausführung einer bestimmten Tat oder Bewegung reduziert wird. Aktualisierungsprozesse werden somit zu Prozessen der Reduktion und der Ausschließung nicht aktualisierter Möglichkeiten. Zaudern bildet hier keinen Moment des Weder-noch, sondern zeigt sich in den Unbestimmtheiten eines Sowohl-als-auch, in der Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, die zu immer neuen Bewegungen führt, sich selbst umlenkt, durchkreuzt und eine lineare Handlungsabfolge unmöglich werden lässt. Das Zaudern in the fault lines ist kein individueller Akt, keine persönliche Entscheidung der Tanzenden, vielmehr wird im Zaudern gerade ihre autonome Handlungsmacht selbst in Frage gestellt. Indem sich die Bewegungen und mit ihnen die Handlungsoptionen potenzieren, verlieren sie zugleich ihre Richtung. Das Entwederoder wird zu einem unendlichen Und-und-und-…, das jegliche kausale Bezugnahme übersteigt und unterläuft. Die Bewegung hat sich von der/dem Bewegenden, die Handlung von der/dem Handelnden gelöst und ist zu einem Zaudern ohne Zaudernde/n geworden. Diese beiden Szenen der Unterbrechung – jene des Stillstands und jene der Überfülle an Bewegungen – bilden trotz ihrer je unterschiedlichen Figurationen keinen dichotomen Gegensatz von Bewegung und Bewegungslosigkeit, vielmehr potenzieren sie die Berührung in den Momenten der Annäherung und damit in der Bewegung selbst: Stillstand, so argumentiert André Lepecki, ist nicht das Gegenteil von Bewegung (wie es noch die Pose im Ballett war), im zeitgenössischen Tanz ist sie selbst ein Moment der Bewegung. Stillstand wird hier zu einer »Vibration«19, einer anderen Konfigu19 | Mit dem Konzept der Vibration beschreibt Lepecki jenen Moment zwischen Bewegung und Ruhe, der es überhaupt erst möglich macht, die Bewegung sowie die Bewegungslosigkeit wahrzunehmen (vgl. André Lepecki: »›Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt‹. Die vibrierende Mikroskopie der Ruhe«, in: Gabriele Brandstetter und Hortensia Völckers (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern: Hatje-Cantz 2000, S. 334366, hier: S. 350f.).
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ration der Bewegung oder, um es mit Steve Paxton auszudrücken: »Es gibt letzten Endes keine Ruhe, sondern nur Schichten winziger Bewegungen.«20 Diese können jedoch nicht auf rein kognitive Weise wahrgenommen werden, sondern bedürfen anderer Formen der Wahrnehmung, Formen, die auf der »Ebene des Mikroskopischen« operieren.21 Die Figuren des Zögerns und des Innehaltens sind kein Stillstand, sie sind auch nicht mehr klar von den Figuren der Überfülle von Bewegungen abzugrenzen, beide sind selbst spezifische Figurationen von Bewegung. Es ist das Zuviel an Bewegung, das diese zu einem Zaudern und damit zu einem Moment der Potenzialität innerhalb der Bewegung werden lässt. Es ist die Paradoxie des Zauderns, die die Bewegungen potenziert und unterbricht, die die Bewegung stillstellt und den Stillstand bewegt. Im Zaudern überschlagen sich die Bewegungen und die Körper der Tanzenden beginnen zu vibrieren. Auch in vielen von Stuarts früheren Stücken lassen sich diese Momente einer »andauernden Bewegung auf der Stelle«22 finden. So beginnt beispielsweise No longer readymade (1994) mit einem »Schüttel-Monolog« (Brandstetter) Benoît Lachambres: Minutenlang schüttelt er heftig seinen Kopf hin und her, während er ansonsten an einem Platz verbleibt. Eine Bewegung, die – wie Gabriele Brandstetter schreibt – im Tremor endet: »in einem Zittern, das 20 | Steve Paxton nach ebd., S. 344. 21 | Vgl. ebd., S. 346. 22 | Mit dieser Formulierung von Deleuze beschreibt Annamira Jochim in ihrer Studie Meg Stuart. Bild in Bewegung und Choreographie Bewegungen wie das shaking oder das spinning in Alibi und Visitors Only. Mit Bezug auf Bergsons Begriff der Dauer, aber auch Deleuzes Konzepte der Sensation und des Kristallbildes löst sie diese Bewegungen aus dem Zeit-Raum-Kontinuum heraus und sieht in ihnen vielmehr eine komplexe Überlagerung aktueller und virtueller Bewegungsabläufe. (Annamira Jochim: Meg Stuart. Bild in Bewegung und Choreographie, Bielefeld: transcript 2008, S. 164 und S. 203 sowie Deleuze: Francis Bacon, S. 31).
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den ganzen Körper schüttelt, ihn hin und her reißt und schließlich auch auf den umgebenden Raum übergreift. Der Raum vibriert. Doch der Körper ist fest an den Platz gebunden.«23 Das Zittern von Lachambres Körper transformiert diesen in und durch Bewegung, ohne sich dabei in lineare Bewegungsmuster einzuordnen. Diese Momente sich schüttelnder Körper bzw. Körperteile bilden selbst eine sich ständig transformierende Konstante in den Arbeiten von Meg Stuart: So zittern die Körper u.a. am Boden liegend in Splayed Mind Out (1997), stehend am Ende von Alibi (2001), zu Beginn von Visitors Only (2003) und in exzessiver Länge in Violet (2011). Das Schütteln bildet sogar eine von Stuarts zahlreichen Übungen, die sie während der Proben und Workshops mit ihren Tänzerinnen und Tänzern einsetzt. In One hour shaking sind diese aufgefordert eine Stunde lang zu zittern, bis sie sich selbst in diesen Bewegungen auflösen: »Shake uncontrollably – until it moves you through the room.«24 Auch wenn das shaking auf den ersten Blick eine individuelle, vielleicht sogar trennende Bewegung ist, so betonen Stuart und ihre Tänzerinnen und Tänzer immer wieder den gemeinschaftlichen Aspekt des shaking. Andreas Müller, einer der Tänzer in Alibi beschreibt sowohl den gemeinsam besuchten Shen-Chi-Workshop als auch die Schlussszene aus Alibi als eine gemeinschaftsstiftende Erfahrung: »When shaking our skin, our muscles and our whole body on stage for about 14 minutes, I could feel us become like a 23 | Gabriele Brandstetter: »Körper-Transformationen in zeitgenössischen Tanz-Performances. Benoît Lachambre, Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jeremy Wade«, in: Alexandra Kleihues, Barbara Naumann und Edgar Pankow (Hg.): Intermedien. Zur kulturellen und artistischen Übertragung, Zürich: Chronos 2010, S. 343-357, hier: S. 346. 24 | Stuart beschreibt ihre Übungen in: Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?. »Shaking is one single action that transcends so many different experiences of being alive. It’s one of the most effective ways for a group to drop into my work as it integrates emotional state work, intense physicality and improvisation.« (Ebd., S. 165).
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small ensemble, supported by a specific physical background.«25 Diese Gemeinschaft der Tanzenden auf der Bühne ist dabei keine ursprüngliche: Sie ist keineswegs zu Beginn der einzelnen Stücke und Aufführungen gegeben, sondern entsteht vielmehr durch die Widerstände und Dissonanzen der Bewegungen. Auch die Berührungen von Gehmacher und Stuart sind weder auf die Momente des Kontakts, noch auf die Präsenz eines sich vollziehenden Aktes zu reduzieren, sie sind komplexe Konfigurationen zwischen Bewegung und Stillstand, Potenzialität und Aktualität. Die Annäherung – als Überlagerung von Bewegung und zaudernder Unterbrechung – bildet dabei einen wesentlichen Teil der Berührung: Sie ist ihre Möglichkeitsbedingung, sie drängt zu ihr, doch zugleich ist sie es, die den Akt des Körper-Kontaktes immer wieder verschiebt, unterbricht, teilweise sogar unmöglich werden lässt. Doch nicht nur die Berührung, auch die durch sie aufgerufenen Berührungsbilder (beispielsweise die Umarmung) werden als eindeutige Referenzsysteme durch die Potenzialität suspendiert und es entsteht eine paradoxale Struktur. In dem Moment, in dem das Bild der Umarmung unterbrochen wird, ruft es andere, neue Bilder hervor: Das sich umarmende Liebespaar wird zu konzentrierten Boxer/innen kurz vor der nächsten Runde im Kampf, die sich wiederum zu spielenden Kindern oder ringenden Raubkatzen verwandeln. Die Bedeutungen beginnen zu wuchern, zumindest für den kurzen Augenblick des Zögerns. In den zaudernden Annäherungs-Bewegungen der Berührung wird nicht nur jene binäre Logik von Bewegung und Stillstand zum Einstürzen gebracht, sondern ebenso jene klaren Einteilungen distinkter Bedeutungseinheiten sowie die Unterscheidung zwischen Sinn und Nicht-Sinn selbst.26 25 | Andreas Müller in: Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?, S. 185. 26 | Vgl. hierzu auch Deleuzes Beschreibungen der Bartleby’schen Verweigerung als ein Verwüsten des Referenzsystems: »Die Formel I would prefer not to schließt jede Alternative aus und verschlingt ebenso das, was sie zu bewahren vorgibt, wie sie auch jede andere Sache beseitigt; sie impliziert, daß Bartleby abzuschreiben, das heißt Worte zu reproduzieren aufhört; sie
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Die Potenzialität der Berührung lässt sich keinesfalls auf das Annähern und das Zaudern beschränken. Beide bilden keine klar abgrenzbaren Zeitpunkte zu Beginn der Berührungsbewegung, sondern ziehen sich quer durch ihre gesamte Konfiguration und ermöglichen es selbst in Momenten des Körperkontakts von einer Potenzialität der Berührung zu sprechen. Wenn Gehmacher beginnt, Stuart zu umarmen, sich ihre Arme jedoch nicht schließen, sondern angewinkelt und seitlich ausgestreckt verharren, dann erscheint in der Offenheit der Arme »eine Potenz […], die nicht in den Akt übergeht, um sich in ihm zu erschöpfen, sondern […] im Akt verbleibt und in ihm tanzt«.27 In der Umarmung wird die Potenzialität nicht überwunden, die Annäherung bleibt Teil der Berührung und bildet somit einen Moment der Offenheit, eine Möglichkeit, die Berührung zu lösen und sich zu entfernen.
D ie B erührung als S pur : Z urück weichen Die Bewegungen der Annäherung an die oder den andere/n sind keine a priori existierenden Möglichkeitsbedingungen der Berührung, sie werden selbst oftmals erst durch eine Bewegung der Trennung, des Zurückweichens, der Entfernung von dem Körper der/des anderen möglich gemacht. Zugleich ist auch die Distanzierung ein wesentlicher Aspekt der Berührungsbewegung. Ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen sind wie bei der Annäherung nicht auf eine Figur zu reduzieren und doch ist ihnen allen ein Aspekt gemeinsam: In ihnen bzw. durch sie zeigen sich die Markierungen, die Spuren und die Abdrücke, die der Kontakt hervorgebracht und hinterlassen hat. läßt eine Unbestimmtheitszone wachsen, so daß die Worte sich nicht mehr unterscheiden, sie schafft die Leere der Sprache.« (Deleuze: Bartleby, S. 19f., Herv.i.O.). 27 | Giorgio Agamben: »Noten zur Geste«, in: Hemma Schmutz und Tanja Widmann (Hg.): Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem, Köln: Walther König 2004, S. 39-48, hier: S. 46.
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Abb. 2: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: the fault lines (2010) Langsam, scheinbar suchend fährt Vladimir Miller in the fault lines mit einem schwarzen Stift über das projizierte Bild von Gehmacher und Stuart, wie sie eng beieinander auf dem Boden liegen. Manchmal berühren sich Stift und Wand, manchmal hinterlassen die Bewegungen seiner Hand schwarze Abdrücke: Mal sind es gerade Linien, oftmals ist es ein zartes Zick-Zack, das nur im ersten Moment an einen Schriftzug denken lässt, jedoch keine lesbaren Buchstaben bildet. Weiter streicht die Hand mit dem Stift über die Bilder der beiden Körper und hinterlässt nur an ihren Rändern Abdrücke und Spuren. Als die Tänzer/innen wieder beginnen, sich zu bewegen, fühlen sie selbst über das entstandene Netz aus Abdrücken vergangener Berührungen. Millers Hand ist schon längst woanders und hinterlässt neue Spuren in dieser sich stetig wandelnden Körperlandschaft.
In seiner »anderen Kunstgeschichte« beschreibt Georges Didi-Huberman den Abdruck als jene Materialität eines Prozesses der Berührung, dem ein Moment der Technik inne wohnt. In seiner paradoxalen Struktur ist der Abdruck »das Zusammentreffen eines da
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und eines nicht-da, einer Berührung und einer Abwesenheit«,28 es ist die Berührung, die den Abdruck entstehen und die Entfernung, die den Abdruck erscheinen lässt.29 In einem Zusammenspiel von Prozessualität und Materialität beschreibt Didi-Huberman einen Abdruck, der keine zweifelsfreie Identifikation eines Objekts erlaubt, der selbst Strukturen von Sinn und Ikonographie unterbricht.30 Der Abdruck ist vielmehr das »technische Nachleben«31 einer Berührung, die ein Prozess von Kontakt und Entfernung und somit eine Bewegung ist. Die schwarzen Linien, Zick-Zack-Muster und Punkte, die Abdrücke des Stifts auf den projizierten Körpern Gehmachers und Stuarts sind keine lesbaren Zeichen, keine eindeutigen Be-schreibungen, sie sind vielmehr der paradoxale Verweis auf eine abwesende Berührung. Doch lassen sie sich auch nicht auf einen Moment der Unterbrechung bzw. des bloßen Nicht-Sinns reduzieren, in ihrer materiellen Erscheinung schaffen sie immer neue Bilder: Wie eine Landkarte wirken die hinterlassenen Markierungen auf den Körpern der Tänzer/innen, gleich einer von Michel Serres beschriebenen »Hautkarte«, wie jene »Tätowierungen«, die »die flüchtigen Spuren von Liebkosungen, Erinnerungen an Seide, Wolle, Samt, Pelze, Steine, Baumrinde, rauhe Oberflächen, Eiskristalle, Flammen, die Zaghaftigkeit feinsinnigen Takts und die Kühnheit gewagter Berührungen« hinterlassen haben.32 Doch es scheint hier unmöglich ihre Spuren zu lesen und die Karte als Orientierungshilfe zu verwenden. Immer wieder werden neue Konfigurationen der Körper und ihrer Markierungen geschaffen, die Abdrücke führen 28 | Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln: DuMont 1999, S. 26, Herv.i.O. 29 | Vgl. ebd., S. 190. 30 | Vgl. ebd., S. 36 und S. 190. 31 | Ebd., S. 14. 32 | Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 21.
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weder zu den ›ursprünglichen‹ Berührungen zurück, noch zeigen sie an, wo diese zu finden sind, vielmehr (ver-)leiten sie zu anderen, neuen Berührungsbewegungen. Dass diese Abdrücke nicht statisch sind, zeigt sich in den Körperbewegungen der Tänzer/innen: Stuart und Gehmacher kommen im Moment der Berührung nicht zum Stillstand, sie bewegen sich weiter und ihre Bewegungen gehen über die Berührung hinaus. Ihre ringenden Umarmungen bilden ein Wechselspiel aus starren, fast gewalttätigen Umklammerungen des Körpers der/des anderen und gegenseitigem Festhalten und langsamen, zärtlichen Distanzierungen. In diesen Bewegungen des Fortgehens kommt es zu einer Dissoziation ihrer Körperteile: Gebrauchen die beiden Tänzer/innen ihre Beine, um sich voneinander fortzubewegen, verharren ihre Oberkörper, vor allem ihre Arme, noch in der Position der Berührung. Wenn auch bereits einander abgewandt, sind die Arme weiterhin ausgestreckt. In den folgenden Bewegungen verschwindet die Haltung der Arme nicht sofort, sie verblasst nur langsam und fügt sich in die neuen Bewegungsabläufe ein. Zögernd führen Stuart und Gehmacher ihren Arm wieder an den Körper heran. Trotz der nun beinahe gänzlich neuen Körperhaltung widerstehen die Arme wie ein Fremdkörper oder Störelement die anderen Bewegungen. In the fault lines schieben sich die Zeiten und Bewegungen übereinander, neue Bewegungsflüsse werden von Momenten der Trägheit durchkreuzt und umgelenkt. Die Haltung der Arme wird zu einem körperlichen Abdruck, der auf die Vergangenheit ihrer Berührungen verweist und diese fortführt – als Abwesenheit und als Bewegung.
Die Körper in the fault lines sind kein Grund des Abdrucks, sie bilden keine zu markierende Fläche, die Körper werden selbst zum Abdruck. Die Berührungen hinterlassen keine Zeichen ihrer Abwesenheit, sie bringen die Körper, ihre Figuren und Bewegungen erst hervor. Der Abdruck des Körpers wird zum Körper des Abdrucks, er ist keiner Berührung vorgängig, sondern wird erst als bewegter Körper durch den Abdruck hervorgebracht. Der Prozess des Abdrucks ist produktiv.
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Diese körperlichen Abdrücke sind – anders als die schwarzen Markierungen auf der Projektion oder die von Didi-Huberman beschriebenen archäologischen Objekte, Reliquien und Statuen – weder starr noch unveränderlich. Es sind vielmehr Momente der Widerständigkeit, die sich nicht in den Fluss neuer Bewegungen einordnen lassen, aber auch nicht außerhalb dieser Bewegungskonfigurationen stehen: Durch ihre Differenz unterbrechen sie die Bewegungen und lenken diese um, zugleich werden sie aber selbst in Bewegung versetzt. Als Momente einer anderen, unzeitigen Bewegung sind sie immer schon in Bewegung, einer Bewegung des Verschwindens und damit eine Spur der Berührung.33 Nicht nur die Entstehung des Abdrucks durch die Berührung ist hier prozessual, der Abdruck selbst wird hier zu einer Bewegung. Die Arme in the fault lines lassen die Berührungen als Abdruck bzw. Spur erscheinen und rufen damit zugleich ein Zusammenspiel von An- und Abwesenheit, Stasis und Bewegung, Vergangen-
33 | Das Verhältnis von Abdruck und Spur wird sowohl in den Ausführungen von Didi-Huberman als auch von Derrida verhandelt: »Das Vokabular des Abdrucks überschneidet sich zu einem großen Teil mit dem der Spur, auch wenn die konzeptuelle Unterscheidung zwischen beiden – beispielsweise in dem Sinn, daß der Abdruck eine Spur bilde, die dazu bestimmt ist, dauerhaft zu sein, zu überdauern, wiederzukehren – zweifelsfrei noch zu verfeinern ist.« (Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 193, Herv.i.O.). Derrida führt zum Konzept der Spur als bereits verschwindende aus: »Da die Spur kein Anwesen ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens, das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört das Erlöschen zu ihrer Struktur. Nicht nur jenes Erlöschen, dem sie stets muß unterliegen können, sonst wäre sie nicht Spur, sondern unzerstörbare und monumentale Substanz, vielmehr jenes Erlöschen, welches sie von Anfang an als Spur konstituiert, als Ortsveränderung einführt und in ihrem Erscheinen verschwinden, in ihrer Position aus sich hinausgehen lässt.« (Jacques Derrida: »Die Différance«, in: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 31-56, hier: S. 53).
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heit und Zukunft auf – Stuart selbst beschreibt diese Berührungen wie folgt: »Philipp and I are literally quoting a principle from No longer readymade, marking traces of a meeting. We are holding hands, then one walks away, but the outline or trace of the movement is kept by letting one hand remain, reaching out towards the missing hand, embracing then pulling the image apart, leaving two arms holding the empty space. The absences become stills we sustain and dissolve to eventually re-collect and meet again. It’s hesitation and the chances not taken that land as sculptures in space.« 34
So wie die Arme nach einer vergangenen oder noch stattfindenden Berührung ausgestreckt werden (reaching-toward), so sind auch die Spuren der Begegnung und Berührung bei Stuart Spuren früherer, vergangener Arbeiten, die wieder und wieder auftauchen und nun neue Berührungen ermöglichen. Die Konfiguration der Berührung als Spur ist nicht mehr bloß die Distanzierung vom anderen Körper, sie ist eingebettet in eine komplexe Szene von Bewegungen und Bedeutungen, Potenzialitäten und Ereignissen, Spuren von Berührungen sowie deren bildlichen Erscheinungsweisen. Wenn Gehmacher seine Arme ausstreckt, um Stuart zu berühren, weicht diese zurück, geht ein paar Schritte rückwärts und streckt doch zugleich ihrerseits die Arme nach vorn, in Richtung Gehmachers Oberkörper, hält inne, beugt sich und berührt seine Brust. Eine Linearität der Bewegungen, eine Annäherung, auf die ein Moment des Kontakts und dann ein Fortgehen folgt (wie es für den Abdruck bei Didi-Huberman beschrieben wird), scheint hier unmöglich zu sein. Es entstehen immer wieder neue Szenen mannigfaltiger, sich oftmals durchkreuzender und störender Bewegungen, die nur kurze Momente des Kontakts ermöglichen. Die Bewegung der Berührung hinterlässt Spuren, die – wie Manning 34 | Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?, S. 47. Auch wenn Stuart sich hier auf Maybe Forever bezieht, sind die Berührungen in the fault lines von ähnlichen Bewegungsabläufen geprägt.
1. Bewegte Beziehungen
schreibt – zu neuen Berührungen führt: »To be felt again, it must be repeated in another now, rendering the touch ›in time‹ impossible if time is to be gathered into a narrative of presence. Touch is a trace, always deferred, always leading toward another moment, another imprint, another touch.«35 Diese Spuren der Berührung, hier: die noch ausgestreckten Arme, weisen nur scheinbar in die Vergangenheit auf die bereits geschehene Berührung, sie sind ebenso die Möglichkeit zu einem neuen, zukünftigen Kontakt, sie brechen sogar – als anachronistisches Moment des Abdrucks – die Linearität der Zeit selbst auf.36 In ihrer Bewegtheit ist die Berührung immer nur momenthaft, der Kontakt immer nur ein Ereignis von begrenzter, oft kurzer Dauer. Und es ist die Spur, die in ihrer Körperlichkeit – wenn auch nicht dauerhaft – die Wahrnehmung der Berührung als eine Bewegung anderer für die Betrachter/innen der Aufführung erst möglich macht. Die Bewegung der Annäherung und damit die Potenzialität der Berührung ist – trotz all ihrer Verschiedenheit – weder zeitlich noch räumlich von den Abdrücken und Spuren zu trennen: In der Berührung verknüpfen sich diese differenten Dynamiken zu einem komplexen Gefüge und bilden damit den Rhythmus der Berührung bzw. die Berührung als Rhythmus. Diese Rhythmizität, so Nancy, ist wesentlich für eine Berührung, die sich nicht im Kontakt auflösen lässt, sondern aus einem Spiel von Relation und Differenz, Nähe und Distanz besteht: »Das Berühren ist darin Bewegung, dass es rhythmisch ist, und nicht aufgrund der Annahme, es wäre Verfahren oder Vorgang der Exploration.«37 Dieser Rhythmus operiert nicht im Modus der Wiederholung und der Symmetrie, er ist vielmehr ein Vibrieren, »the vibrating of its own touching and separating«.38 Diese Vibration, das shaking der 35 | Manning: Politics of Touch, S. 115. 36 | Vgl. Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, S. 10. 37 | Nancy: Rühren, Berühren, Aufruhr, S. 6. 38 | Geoffrey Bennington: »In Rhythm: A Response to Jean-Luc Nancy«, in: SubStance 40(3), 2011, S. 18-19, hier: S. 18.
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Körper, widersetzt sich jeder klaren linearen Logik der Annäherung und Distanzierung sowie der Aufteilung von Stillstand und Bewegung: Jede Berührung, jede Bewegung aber auch jeder Moment des Innehaltens und Zögerns ist voll von unendlichen Mikrobewegungen und Mikrorhythmen. Immer wieder bringen sie andere und neue Konfigurationen von An- und Abwesenheit, Nähe und Distanz und von interferierenden Temporalitäten hervor – der Rhythmus wird selbst zur sich entziehenden Berührung. »Which means that the touch (without which the alterity of the other would not impinge at all) is already withdrawing in its very touch, vibrating away again and becoming, intrinsically, a trace of itself, a trace of touch.«39 Sowenig sich die Berührung auf zwei Bewegungen, das Annähern und das Entfernen, reduzieren lässt, so wenig bildet die Berührung einen Rhythmus. Die Berührung besteht aus vielen Rhythmen, sie ist eine Mannigfaltigkeit an Geschwindigkeiten – es sind Rhythmen unterschiedlichster Skalen und Dimensionen, Rhythmen der Körper, der Arme, der Köpfe, aber auch der Blicke, des Begehrens und der Affektionen, es sind Rhythmen der Partikel sowie der Diskurse.40 Diese tänzerischen, affektiven, semiotischen, musikalischen, mikrophysikalischen etc. Rhythmen bilden dabei weder ein harmonierendes, noch ein synchrones Muster, sie sind voller Synkopen und Brüche, sie durchkreuzen einander, sie überlappen sich, sie interferieren und bringen somit neue Rhythmen und damit neue Berührungen hervor.
Tangente II: N oli me tangere Auch wenn keines von Stuarts oder Gehmachers Werken einen direkten Bezug aufweist, eröffnen sie vielfältige Verweise auf eines der zentralen Dispositive der Berührung bzw. der Nicht-Berührung: Die Noli me tangere-Episode aus dem Johannesevangelium, 39 | Ebd., Herv.i.O. 40 | Vgl. zu dieser Vielzahl der Rhythmen: Ebd., S. 18f.
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wie sie sich in den Übertragungen zwischen biblischem Gleichnis, Text und Bild perpetuiert hat. Als Maria von Magdala am leeren Grab Jesu kniet, nähert sich dieser: »Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, er sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.« (Joh 20, 15-17) 41
Das zentrale Moment dieser Szene ist der – in der Kunstgeschichte immer wieder titelgebende – Ausspruch Jesu »Noli me tangere« (Rühre mich nicht an). Jesus möchte nicht berührt werden, denn er geht fort. Er ist auf dem Weg zum Vater, dem Gott im Jenseits. Dieses Fortgehen beschreibt Nancy als einen Übergang vom Diesseits ins Jenseits, von der Anwesenheit zur Abwesenheit, als einen Prozess des Verschwindens. Jesus ist nach seinem Tod weder in der Welt, der Maria und die Jünger angehören, noch ist er bereits im Jenseits angekommen. Zum Grab und zu Maria kommt er als ein Verschwindender. »Er ist bereits fortgegangen, befindet sich nicht mehr dort, wo er ist, er ist nicht mehr, wie er ist. Er ist tot, das heißt, er ist nicht dasjenige noch derjenige, der er gleichzeitig ist oder den er präsentiert. Er ist seine eigene Alteration und seine eigene Abwesenheit: Er ist eigentlich nur seine Uneigentlichkeit.«42 Dieser Zustand, in dem sich Jesus Maria nähert, um sich gleich wieder von ihr fortzubewegen, ist kein statischer, keiner, der von 41 | Alle Bibelzitate nach: Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen. Lutherbibel mit Erklärungen, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2005. 42 | Nancy: Noli me tangere, S. 38, Herv.i.O.
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einer Anwesenheit zeugt. Jesus ist in einem Zustand in Bewegung, seine Präsenz ist »die eines unendlichen erneuerten oder verlängerten Verschwindens«.43 Diese Bewegung ist ein Fortgehen aus der Welt der Berührung. Die Berührung nimmt in den Beschreibungen Jesu oft eine zentrale und positiv konnotierte Position ein. Es ist die Berührung mittels derer er seine Kraft zur Heilung ausüben kann – so beispielsweise die Heilung der Blinden: »Und es jammerte Jesus und er berührte ihre Augen; und sogleich wurden sie wieder sehend, und sie folgten ihm.« (Mt 20, 34). Jesu heilende Berührung ist so zentral, dass Nancy sogar das Christentum als »die Erfindung der Religion der Berührung« bezeichnet.44 Aus dieser Welt der Berührung geht Jesus nun fort und möchte im Fortgehen nicht berührt werden. Er befindet sich in der Noli me tangere-Szene nicht schon in einer Welt des Jenseits, der Welt eines unberührbaren Gottes, sondern er ist auf dem Weg, er ist in Bewegung. Und gerade diese Bewegung, die – unter Einbeziehung des größeren Kontexts der biblischen Geschichten – ihren Ausgangspunkt in den (heilenden) Berührungen nahm, darf durch die Berührung nicht stillgestellt werden.45 Diese prekäre Situation des Übergangs erfordert das Aussprechen des Berührungsverbots bzw. des Wunsches Jesu nicht berührt zu werden.46 In der Formulierung des Wunsches zeigt sich die Ambivalenz dieser Situation: Jesus ist noch nicht unberührbar, und doch weist er die Berührungsversuche Marias ab, entzieht sich diesen und entfernt seinen Körper von ihrem. Jesus will und kann nicht berührt werden, jedenfalls nicht als ein Fortgehender. Ein Berühren, das den Zurückweichenden aufhält, ist ein 43 | Ebd., S. 23. 44 | Ebd., S. 21. 45 | Die Bewegtheit des Körpers Jesu kommt auch durch die faltenreichen, wehenden Gewänder in den zahlreichen bildlichen Darstellungen der Noli me tangere-Szene zum Ausdruck (siehe Abb. 3). 46 | Nancy weist darauf hin, dass die wörtliche Übersetzung von Noli me tangere weniger ein Gesetz als vielmehr einen Wunsch formuliert: »[D]u mögest mich nicht berühren.« (Ebd., S. 49).
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Abb. 3: Agnolo Bronzino: Noli me tangere, le Christ apparaissant à la Madeleine (1561) Greifen, ein Festhalten, das dem anderen Körper seine Bewegung nimmt, ihn fixiert und identifiziert. Das Aussprechen des Noli me tangere ist der Versuch sich der greifenden Hand zu entziehen, besonders wenn wir, wie Nancy es vorschlägt, den Ausspruch Jesu mit »Halte mich nicht fest« übersetzen.47 Doch wie auch bei der Annäherung, geht es beim Fortgehen nicht um absolute Abgetrenntheit. Berühren wird zu einer Bewegung, die immer auch des Fortgehens und Entzugs bedarf. »Die wahre Bewegung, sich zu geben, bedeutet nicht, eine greif bare Sa47 | Vgl. ebd., S. 66.
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che zu liefern, sondern das Berühren einer Präsenz und folglich die Eklipse zu erlauben, die Abwesenheit und den Fortgang, gemäß derer sich eine Präsenz stets geben muss, um sich zu vergegenwärtigen.«48 Diese abwesende Präsenz Jesu wird durch seinen Wunsch, nicht berührt zu werden, möglich. Sein Ausspruch Noli me tangere ist, wie Nancy schreibt, ein »Liebkose mich, berühre mich nicht«49, dem Maria nachkommt. Nancy argumentiert anhand dieser Episode aus dem Johannesevangelium, dass ein Berühren, das kein gewaltvolles Festhalten des anderen bedeutet, nur im Fortgehen, im Verschwinden und der gleichzeitigen Akzeptanz dieses Fortgehens möglich ist. Im Fortgehen vergegenwärtigt sich die Berührung – sowie Jesus – als ein Abwesendes, als die Spur einer vergangenen Berührung. Nancy zeigt hier zwei Dimensionen des Fortgehens auf: Im Fortgehen ändert sich nicht nur die räumliche Distanz zweier Menschen zueinander, auch der Körper des Fortgehenden verändert sich. Er verschwindet und ist als verschwindender Körper präsent. Dieser doppelte Modus des Fortgehens und Verschwindens ist für die Berührung wesentlich. Sowohl die Bewegungen des Körpers im Raum als auch der sich verändernde Körper selbst stehen in der Berührung auf dem Spiel. Nur wenn diese beiden Bewegungen nicht stillgestellt werden, ist ein Berühren möglich. Das Verschwinden des Körpers und das Fortgehen sind eng miteinander verknüpft. Nur der fortgehende, sich im Raum bewegende Körper kann auch ein verschwindender Körper sein. Der Körper Jesu ist ein bewegter Körper, einer, der – wie sein Wunsch Noli me tangere deutlich macht – in seiner Bewegung nicht unterbrochen, nicht stillgestellt werden will. In dieser Aussprache zeigt sich auch die enge Verbindung zwischen seinem Fortgehen und dem Moment der Berührung. Die Berührung hat stattgefunden und ist als Möglichkeit noch immer anwesend.
48 | Ebd. 49 | Ebd.
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Auch wenn Jesu Noli me tangere-Ausspruch zentral und titel gebend für dieses Gleichnis ist, so beschreibt es die Szene nur unvollständig und blendet einen wesentlichen Aspekt aus: Marias Annäherungen mit ihrem Wunsch, Jesus zu berühren. Die Noli me tangere-Episode lässt sich nicht ausschließlich als die Erzählung eines Fortgehenden beschreiben, sie ist komplexer und eine Konstellation verschiedener Bewegungen – Ankommen (Jesus), Annähern (Maria) und Zurückweichen (Jesus) – womit nur die augenscheinlichsten genannt sind. Maria steht am Grabe Jesu keineswegs still. Sie durchbricht durch ihre Annäherung das lineare Fortgehen Jesu, lässt damit (erneut) die Berührung möglich werden und evoziert somit den Ausspruch des Noli me tangere-Gebots. In the fault lines wird die Noli me tangere-Episode vor allem als ein Zusammenspiel mehrerer Bewegungen aufgenommen. Immer wieder entstehen in der relationalen Komposition von Annäherungen und dem Zurückweichen Szenen der Berührung sowie der Wunsch, sich dieser zu entziehen. Das Entfernen ist wie auch die Annäherung weder einseitig, noch symmetrisch, oft ist es gar kein eindeutiges Entfernen, sondern ebenso durchzogen von Momenten des Zauderns und des Innehaltens. Immer wieder rufen die Tänzer/-innen, wenn auch nicht sprachlich, so doch durch ihre Bewegungen das Noli me tangere-Verbot auf, um es – wenige Augenblicke später – wieder zu brechen und sich trotzdem zu berühren.
D as E reignis der B erührung Wenn Gehmacher und Stuart am Anfang von the fault lines aufeinander zugehen, verharren sie einen Moment, zögern und bewegen sich weiter, bis ihre Körper aufeinander treffen. Doch ihre Körper ›prallen‹ nicht aneinander, es gibt auch nicht bloß einen Moment des Körperkontakts, sondern ihr Zusammentreffen ist ein Zusammenspiel aus sich berührenden und distanzierenden Körperteilen. Auch im Moment des Körperkontakts kommt die Berührung nicht zum Stillstand: Gehmachers linker Arm legt sich um
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Stuarts Rücken, ihre rechte Schulter dreht sie nach hinten, entfernt somit ihren Oberkörper von seinem, er streckt seine Arme zur Seite aus, sie drückt beide Unterarme gegen seinen Torso, ihre Brustpartien entfernen sich voneinander, er legt seinen Ellenbogen auf ihren Kopf, ihre Arme haken ineinander ein, während sich beide voneinander abwenden. Sie entfernen sich und gehen wenige Augenblicke später wieder aufeinander zu.
Der anfängliche Eindruck einer Berührung löst sich hier in eine Mannigfaltigkeit auf. In dieser Vielheit von Berührungsbewegungen ist es unmöglich geworden, einen Moment des Körperkontakts zu bestimmen. Dieser wird vielmehr selbst zu einer Konfiguration aus Annäherungen und Distanzierungen, er wird zum Ereignis. Im Ereignis wird die Berührung nicht bloß aktualisiert, sondern zugleich »gegen-verwirklicht«. Gilles Deleuze sieht in der GegenVerwirklichung die Möglichkeit, das Ereignis nicht auf den Modus der Präsenz und der Aktualität zu reduzieren: »Soweit das reine Ereignis sich jedes Mal für immer in seine Verwirklichung einsperrt, wird es von der Gegen-Verwirklichung befreit – immer für weitere Male.«50 Im Körperkontakt verwirklicht sich nicht nur die Potenzialität der Annäherung, diese bleibt als Dimension des Virtuellen in der »Gegen-Verwirklichung« des Ereignisses der Berührung enthalten. Im Ineinanderfalten von Virtualität und Aktualität ist das Ereignis weder in seiner räumlichen noch in seiner zeitlichen Dimension
50 | Gilles Deleuze: Die Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 202. Siehe zum Begriff der Gegen-Verwirklichung des Virtuellen bei De leuze und Guattari auch: Ebd., S. 186-192 u. Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 182-190. Es ist hier interessant, anzumerken, dass der Kontext der Gegen-Verwirklichung einer der wenigen Stellen in Deleuzes Werk ist, an der er auf Tanz zu sprechen kommt. Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Gegen-Verwirklichung im Tanz vgl. Claire Colebrook: »How can we tell the Dancer from the Dance? The Subject of Dance and the Subject of Philosophy«, in: Topoi 24, 2005, S. 5-14, hier: S. 11.
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abgrenz- und eindeutig bestimmbar.51 Dabei steht es keinem kontinuierlichen Zeitverlauf entgegen, die Zeit wird hier selbst ereignishaft. Es ist die »äonische« Zeit des Ereignisses, die im Unterschied zum konventionellen Zeitverständnis der »chronischen« Zeit »nur Geschwindigkeiten kennt und das, was geschieht, unablässig in etwas schon Vorhandenes und in etwas noch nicht Vorhandenes aufteilt, in ein gleichzeitiges Zuspät und Zufrüh, in etwas, das zugleich geschehen wird und gerade geschehen ist«.52 Die Berührungsbewegungen der Tänzer/innen werden nicht durch das Ereignis des Körperkontakts unterbrochen, das Ereignis der Berührung ist hier gerade der Modus der Bewegung selbst. Berührungen ereignen sich nicht innerhalb eines kontinuierlich fortschreitenden Bewegungsablaufs, sie bilden eine Veränderung, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Doch wie konfiguriert sich dieses Verhältnis von Momenthaftigkeit und Kontinuität, sodass ein Denken der Berührung als Ereignis möglich wird, das in keiner Opposition zu seiner Bewegung steht? Ein Ereignis ist – wie es der Philosoph Alfred North Whitehead beschreibt – keine von der Welt unabhängige Entität, es ist zuerst relational. Wie Manning im Anschluss an Whitehead formuliert, ist es das »Zum-Ausdruck-Kommen eines komplexen Relationsknotens an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit«.53 51 | In der Gegenüberstellung zweier Beispiele wendet Deleuze sich gegen einen Ereignisbegriff, der lediglich ein ›besonderes‹ oder ›außergewöhnliches‹ Geschehnis benennt: »Ein Ereignis ist nicht allein ›ein Mensch wird überfahren‹: die große Pyramide ist ein Ereignis, auch ihre Dauer während einer Stunde, während dreißig Minuten, fünf Minuten …[.]« (Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 126). 52 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 356. 53 | Erin Manning: »Das Ereignis des Schreibens: Brian Massumi und die Politik des Affekts«, in: Brian Massumi: Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve 2010, S. 7-23, hier: S. 11. Zur Relationalität des Ereignisses siehe auch: Alfred North Whitehead: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 150.
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Diese Relationalität ist dabei keine sekundäre, sie lässt sich nicht als die Beziehung bereits bestehender Entitäten beschreiben; die Relationalität ist bei Whitehead eine grundlegende Dimension des Ereignisses selbst. Jedes Ereignis geht von dem Erfassen einer Gegebenheit und damit eines vergehenden Ereignisses aus. Es ist die »Relevanz« dieser Gegebenheit, die den »Anlass dieses Erfassens« bildet und damit das Ereignis immer schon auf ein anderes Ereignis bzw. ein anderes des Ereignisses bezieht.54 Und doch geht das Ereignis nicht in seiner Relationalität auf: Im Prozess seiner Aktualisierung gewinnt es das, was Whitehead seine »subjektive Form« nennt, also jene Form, die der Vorgang des Erfassens in seinem Vollzug gewinnt.55 In diesem Prozess der Form-Werdung löst sich das Ereignis aus der Relationalität der Welt und lässt eine Differenz innerhalb dieser entstehen. In dieser monadischen Dimension des Ereignisses, seiner aktualisierten Form, erscheint die Welt nicht als undifferenzierte Ereignis-Einheit, sondern als eine »relation-ofnonrelation«.56 Das Ereignis konfiguriert sich somit doppelt: als Relationalität und als »subjektive Form«. Diese beiden Dimensionen bilden dabei keine starre Dialektik, sie markieren vielmehr ein Werden und eine Transformation des Ereignisses. Wie der Moment der Entstehung in der Relationalität bildet auch das Vergehen – respektive das Erfassen durch ein neues Ereignis – einen konstitutiven Teil des Ereignisses: Nur wo etwas bereits vergangen ist, ist es möglich, 54 | Ders.: Abenteuer der Ideen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 327. 55 | Ebd. 56 | »The paradox of relation can be summed in the term relation-of-nonrelation. Elements contributing to an occurence come into relation when they come into effect in excess over themselves. In themselves, they are disparate.« (Brian Massumi: Semblance and Event. Activist Philosophy and the Occurrent Arts, Cambridge u. London: MIT Press 2011, S. 20, Herv.i.O.) Zur monadischen Dimension des Ereignisses siehe auch: Whitehead: »Auch der Ausdruck ›Monade‹ bringt diese wesentliche Einheit im entscheidenden Augenblick zwischen Entstehen und Vergehen gut zum Ausdruck.« (Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 328).
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von einem Ereignis zu sprechen. In dieser doppelten Konfiguration lässt sich die Berührung als Ereignis beschreiben: Ihr ist sowohl Relationalität als auch eine Differenz eigen. In ihrer Aktualisierung entsteht die Berührung aus der Relation und es entsteht eine konkrete Form, die ihre Differenz markiert – zu anderen Berührungen und innerhalb ihrer selbst. In der Whitehead’schen Begriffsbildung ist das Ereignis jedoch vor allem eines der Wahrnehmung: Das Erfassen ist kein kognitives Wahrnehmen einer bereits existierenden Welt, Erfassen ist selbst ereignishaft. Objekte und Subjekte sind bei Whitehead keine Gegebenheiten, die mittels ihres Erfassens in ein Verhältnis zueinander treten, vielmehr entstehen diese in den Ereignissen.57 Die Berührung – oftmals als Modus des Erfassens eines Objekts durch ein Subjekt beschrieben – ist somit keine Handlung eines aktiven Subjekts, im Ereignis der Berührung entstehen die Tänzer/innen erst als wahrnehmende und somit als relationale Subjekte. Erfassen, vor allem das Erfassen durch Berührung, lässt sich – begreift man es als ereignishaft – nicht als direktionales Verhältnis zwischen einem aktiven Subjekt und einem passiven Objekt verstehen. Der Berührung ist nicht mehr das Zusammentreffen eines/ einer bewegten Berührenden/Wahrnehmenden und eines/einer unbewegten Berührten/Wahrgenommenen, sie ereignen sich – als Erfassen und als Bewegung – zwischen den beiden Tanzenden: Jede Berührung – erscheint sie noch so stockend und zögerlich – ist ein Moment sich verändernder Bewegungen. Weder Stuart noch Gehmacher setzen durch ihre Berührung die/den andere/n (als passiv Berührte/n) in Bewegung, ihre Berührungen sind vielmehr ein Zusammentreffen mannigfaltiger Bewegungen – Bewegungen der Arme, der Köpfe, des Torsos oder der Beine. Im Ereignis der Berührung werden die Richtungen ihrer Bewegungen verändert, sie
57 | Vgl. ebd., S. 325-348. u. ders.: Prozess und Realität, S. 175f.
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werden um- bzw. abgelenkt, eine Vorhersage ihres zukünftigen Verlaufs ist unmöglich geworden.58 Die Berührungen bilden auf zweifache Weise ein Ereignis: ein Ereignis der Bewegung und ein Ereignis der Empfindung. Sie beide aktualisieren, wenn auf je unterschiedliche, doch nicht ausschließende Weise jene virtuelle Relationalität, die die Berührung möglich werden lässt. Im Ereignis der Berührung durchkreuzen sich beide Ebenen und lassen diese sowohl für die Tänzer/innen als auch für das Publikum erfahrbar werden. Die Empfindungen bilden dabei keinen sekundären Akt, sie sind den Bewegungen in keiner Weise nachgeordnet, nur in ihrem Zusammenspiel kann sich die Berührung ereignen.
E reigniske t ten der B e wegung Berührungen sind Szenen der Bewegung, aus denen sich der Körperkontakt nicht als Moment des Stillstands herauslösen lässt. Auch der Stillstand bildet eine Konfiguration mannigfaltiger Bewegungen, auch er ist ein Ereignis der Veränderung. Und doch geht die Berührung nicht in der Kontinuität einer immer fortschreitenden Bewegung auf – sie ist ein unumkehrbares Ereignis der Veränderung. Diese Ereignishaftigkeit weist zugleich auf andere Bewegungen und die Überschüssigkeit der Bewegung selbst. Die Bewegungen der Berührungen lassen sich somit nicht auf ihre allgemeine physikalische Definition der Ortsveränderung eines Körpers in der Zeit beschränken. Als ein Zusammenspiel aus Virtualität und Ak-
58 | Manning spricht von einer Beugung (inflection) der Bewegung und betont damit im Anschluss an Deleuze die Potenzialität, vor allem aber den Aspekt des »worlding« der Bewegung. Mit der Beugung ändern sich nicht nur die Bewegungen, sondern ebenso die durch diese ausgedrückten raumzeitlichen Parameter und damit die Koordinaten ihrer Messung (Manning: Relationscapes, S. 9 u. S. 35f.).
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tualität weist die Berührungsbewegung über ihre »einfache Lokalisierung« hinaus.59 Henri Bergson hat am Ende des 19. Jahrhunderts einen Begriff der Bewegung kritisiert, der diese als Serie eindeutig bestimmbarer Einzelpunkte auffasst. Es werden lediglich einzelne stillgestellte Momente betrachtet und nicht jene Intervalle zwischen diesen Punkten wahrgenommen.60 »Es gilt, zur unmittelbaren Wahrnehmung der Veränderung und Beweglichkeit zurückzukehren. Folgendes wäre das erste Ergebnis dieser Anstrengungen: wir müssen uns jede Veränderung und jede Bewegung als absolut unteilbar vorstellen.«61 Es ist die Unteilbarkeit der Dauer und mit ihr der Bewegung, die Bergson als ein Gegenmodell zur dominierenden Logik eines teilbaren Raumes entwirft und die Intuition, die die Wahrnehmung der Dauer ermöglicht, ohne diese zu zerteilen und stillzustellen.62 Dauer und Raum werden zu unvereinbaren Gegensätzen, wobei die Bewegung – traditionellerweise als die Verbindung von Zeit und Raum verstanden – hier in ihrer Unteilbarkeit der Logik der Dauer zugeschrieben wird. Genau an dieser widersprüchlichen Aufteilung und Unvereinbarkeit von Dauer und Raum setzt Deleuze mit seinem »Ersten 59 | Mit dem Begriff der »einfachen Lokalisierung« beschreibt Whitehead die Bestimmung eines Stückes Materie in einem abgegrenzten Gebiet zu einer endlichen Zeit. Er kritisiert, dass diese Abgegrenztheit nur ohne die Berücksichtigung des für ihn wesentlichen Aspekts der Erfahrung gedacht werden kann (Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 74). 60 | Bspw. wäre dies die Fokussierung auf den Moment des Kontakts, der die Berührung als Zeitpunkt, nicht aber als Bewegung mit Dauer wahrnehmen würde. 61 | Henri Bergson: »Die Wahrnehmung der Veränderung«, in: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg: EVA 2008, S. 149-179, hier: S. 162, Herv.i.O. 62 | Vgl. ders.: »Einleitung (Zweiter Teil)«, in: Denken und schöpferisches Werden, Hamburg: EVA 2008, S. 42-109, hier: S. 46f.
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Bergson-Kommentar« ein.63 Anders als Bergson, der die Logik der Dauer dem Raum entgegenstellt, hebt Deleuze das Konzept des Schnittes hervor. In seiner Lektüre von Bergsons »Schöpferische Entwicklung« beschreibt er zwei verschiedene Arten von Schnitten: »Nicht nur ist der Moment ein unbewegter Schnitt der Bewegung, die Bewegung ist selbst ein Bewegungsschnitt der Dauer, das heißt des Ganzen oder eines Ganzen.«64 Die Bewegung ist hier nicht vom Raum und seiner Teilbarkeit getrennt, dieser verändert sich ebenso durch die Bewegung, er wird zu einem »Raum-Zeit-Block, da zu ihm jedesmal die Bewegungszeit gehört, die in ihm abläuft«.65 Der bewegliche Schnitt bzw. die zeitliche Perspektive lassen sich hier nicht mehr auf eine Logik – der unteilbaren Dauer oder des teilbaren Raumes – beschränken; »[z]wischen den zweien bildet sich ein Mixtum heraus, in das der Raum die Form seiner äußerlichen Distinktionen oder seiner homogenen und diskontinuierlichen ›Schnitte‹ einführt, während die Dauer ihre interne, heterogene und kontinuierliche Abfolge einbringt«.66 Die Teilbarkeit wird hier nicht einfach durch Unteilbarkeit ersetzt: »An die Stelle der dialektischen Opposition des Einen und des Vielen setzt man die typologische Differenz zwischen den Vielheiten. […] Denn der Elan vital ist wie die Dauer,
63 | Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 13-26. Auch wenn Deleuze seine Bergson-Kritik in Bezug auf den Film formuliert, so ist sie ebenso als eine allgemeine Kritik der Wahrnehmung zu lesen. »Wenn der Film mit unbeweglichen Schnitten die Bewegung rekonstruiert, geht er nach Bergson in der Tat nicht anders vor als das älteste Denken (die Zenonischen Paradoxien) oder die natürliche Wahrnehmung. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von der Phänomenologie, für die der Film eher mit den Bedingungen der natürlichen Wahrnehmung bricht.« (Ebd., S. 14). 64 | Ebd., S. 22. 65 | Ebd., S. 88. 66 | Ders.: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, S. 53, Herv.i.O.
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er ist weder Eines noch Vieles, er ist ein Typ von Vielheit.«67 Das Konzept der Dauer, bzw. der Raum-Zeit-Blöcke der Bewegung weist nicht einfach die Vielheit zugunsten einer Kontinuität zurück, es bedarf vielmehr anderer Konzepte der Vielheit, um die Bewegung als bewegt und nicht stillgestellt erfahren zu können. Whitehead knüpft mit seinem prozessphilosophischen Ansatz einerseits an Bergsons Idee der Dauer an, führt jedoch mit seinen Konzepten des »Werdens« und der »Prozessualität« eine Differenz ein: Versteht Bergson die Dauer zunächst als eine kontinuierliche und – wie die Kritik Deleuzes gezeigt hat – sich differenzierende Veränderung, so geht Whitehead bei seinem Konzept der Werdens prozesse von den Ereignissen aus.68 Nicht das einzelne Ereignis, vielmehr die Kettungen von Ereignissen bilden dabei die Prozesse des Werdens und der Veränderung. Die Wahrnehmung tritt (vergleichbar dem Bergson’schen Konzept der Intuition) nicht als etwas Sekundäres hinzu, ein Ereignis kann nicht vollständig bzw. falsch erfasst werden, das Erfassen vollzieht sich im Ereignis und ist somit immanenter Teil des Prozesses. Werden bzw. Veränderung ist kein einfaches Nacheinander von Ereignissen, keine atomistische Reihung, sondern jene Gleichzeitigkeit von Bindung und Trennung, die schon in der Bergson-Deleuze’schen Beschreibung der Dauer als »heterogen und kontinuierlich« zu finden ist. So schreibt Whitehead, dass »das allgemeine System der Beziehungen, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpfen, einen Quantenaspekt enthält, unter dem die Individualität der Vorgänge zur Geltung kommt, und einen Kontinuitätsaspekt, unter dem die 67 |Ders.: Theorie der Vielheiten bei Bergson, 1970. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.webdeleuze.com/php/texte.php?cle=199&groupe=Conf %E9re nces&langue=6. 68 | Vgl. hierzu und allgemein zu den Prozessen der Dauer und des Werdens bei Bergson und Whitehead: Didier Debaise: »The Emergence of a Speculative Empiricism. Whitehead Reading Bergson«, in: Keith Robinson (Hg.): Deleuze, Whitehead, Bergson. Rhizomatic Connections, Basingstoke u. New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 77-88.
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konforme Übertragung der subjektiven Form das dominante Faktum ist«.69 Diese Gleichzeitigkeit von trennender Individuation und verbindender Relation ergibt sich aus Whiteheads spezifischem Ereignisbzw. Wahrnehmungskonzept: Ereignisse entstehen, wie er anhand der Ereignisse des Erfassens beschreibt, immer in Relation zu anderen, vergangenen Ereignissen. Dabei besteht der Prozess des Erfassens »in der Aufnahme von – schon vor dem Prozess existierenden – Entitäten in das komplexe Faktum, das eben dieser Prozeß selber ist«.70 Diese Entitäten sind keine den Prozessen äußerlichen oder gar generell vorgängigen Objekte bzw. Subjekte, es sind vielmehr Residuen vergangener Ereignisse, ihre »subjektive Form«. Jedes Ereignis ist somit ein Prozess des Erfassens eines bereits vergangenen Ereignisses, ein Prozess, der zu Ketten von Ereignissen führt, die Whitehead auch unter dem Begriff der »Aktualisierungen« fasst.71 Erfassen – als ein Moment der Wahrnehmung – ist keine genuin menschliche Eigenschaft, sondern jene relationale Dimension der Ereignisse, die sowohl allen Objekten als auch allen Subjekten vorgängig ist. Werdensprozesse sind Ereignisketten, die sich nicht innerhalb einer bestehenden Welt vollziehen, sondern diese Welt sind. Somit ist auch die Dimension des Raumes – ähnlich den Deleuze’schen Raum-Zeit-Blöcken – keine, die dem Prozess entgegensteht, diesen gar rahmt oder umfasst, sondern Teil des Werdens selbst, auch der Raum ist teilbar und homogen zugleich: »Räumlichkeit involviert Getrenntheit durch die Verschiedenheit der Zwischenglieder in den Vorgangsketten, sie involviert gleichzeitig auch einen Zusammenhang, der auf dem Immanentbleiben der Vergangenheit in der aus ihr abgeleiteten Gegenwart beruht.« 72 Werden ist somit nicht einfach ein raum-zeitliches Ereignis, es ist die Kettung vieler Ereignisse; Werdensprozesse sind nicht eins, sondern Man69 | Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 341. 70 | Ebd., S. 330. 71 | Vgl. ebd., S. 328. 72 | Ebd., S. 344f.
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nigfaltigkeiten: »Es gibt zwar ein Werden der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens.« 73 Dauer und Werden ereignen sich sowohl bei Bergson als auch bei Whitehead nicht als berechenbare Veränderungen gegebener Verhältnisse, ihnen wohnt auch ein Moment des Neuen, des Kreativen bzw. des Schöpferischen inne. »Das Schöpferische«, so Whitehead, »bewirkt die Aktualisierung der Potenzialität, und dieser Prozeß der Aktualisierung ist der Erlebensvorgang«.74 Jene im Ereignis erfassten vergangenen Entitäten determinieren nicht einfach das neue Ereignis, sie sind die potenzielle Möglichkeit unendlich vieler Ereignisse. In ihnen aktualisiert sich diese »reale Potentialität«, sie wird zu einer »subjektiven Form« und bildet den potenziellen Moment neuer Ereignisse. Werden ist somit das vielfache Entstehen und Vergehen der Ereignisse und mit ihnen die immer wieder neuen Aktualisierungsprozesse mannigfaltiger Potenzialitäten. Dieser Moment des Schöpferischen ist auch aus der Sicht Bergsons ein konstitutiver Teil der Dauer. Vor allem Deleuze macht – ähnlich dem Begriff der »realen Potentialität« bei Whitehead – die Virtualität als Moment der Dauer stark: Die Dauer ist »das Virtuelle, insofern es sich aktualisiert, bzw. es ist das Virtuelle, das sich aktualisiert, das von der Bewegung seiner Aktualisierung untrennbar ist«.75 Die Virtualität ist dabei im Gegensatz zur Möglichkeit nicht einfach die Realisierung einer (darin bereits vorgegebenen) Veränderung: »Das Virtuelle […] hat sich nicht zu realisieren, sondern zu aktualisieren; und die bestimmenden Regeln der Aktualisierung sind nicht mehr Gleichartigkeit und Limitation, sondern Unterschied oder Divergenz sowie schöpferisches Hervorbringen.« 76 Dauer erhält hier ein schöpferisches Potenzial, sie ist nicht der Verlauf einer bereits vorherbestimmten Veränderung, sondern weist in ihrer Virtualität und im Prozess der Aktualisierung über 73 | Ders.: Prozess und Realität, S. 87. 74 | Ders.: Abenteuer der Ideen, S. 331. 75 | Deleuze: Henri Bergson, S. 59. 76 | Ebd., S. 122.
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sich auf das Neue und das Unvorhersehbare hinaus. Bewegung – bei Bergson eng mit der Veränderung, vor allem der Veränderung als Dauer verknüpft – ist somit mehr als nur die »Ortsveränderung eines Körpers in der Zeit«, auch ihr ist eine Dimension der Virtualität eigen. In ihrem Buch Relationscapes schreibt Manning: »Following Bergson, Relationscapes places the emphasis on the immanence of movement moving: how movement can be felt before it actual izes. Preacceleration refers to the virtual force of movement’s taking form.« 77 Preacceleration, jener Moment, in dem die Bewegung noch keine Form, noch keinen konkreten Verlauf hat, ist nicht einfach ein Moment vor der Bewegung, sondern Teil der Bewegung selbst. Er ist auch nicht einmalig »am Anfang« einer Bewegung, sondern immer wieder das Potenzial zur Veränderung – in ihr hat die Bewegung noch keine Richtung, keinen Verlauf. Doch damit wird die Bewegung nicht zu einer reinen Virtualität, sie ist – wie Deleuze es für das Ereignis beschreibt – Virtualität und Aktualität, Verwirklichung und Gegen-Verwirklichung. »What takes form as we move is the actualization of virtual potential rich in each displacement. The eventness of movement is a virtually concretized differentiation of matter-form that creates a dynamics that is of the order of speed itself.« 78 Bewegung ist – im Sinne der Whitehead’schen Ereigniskettung – ein Rhythmus aus immer wieder neuen Aktualisierungen, immer wieder neuen Veränderungen. Dabei verschwindet die virtuelle Dimension – Manning beschreibt sie als Intervall – nicht in der aktuellen Bewegung. Das Intervall verkoppelt jene Bewegungsereignisse, die durch das Erfassen zu Ketten und damit zu Bewegungsverläufen werden. Diese Ketten sind weder kontinuierlich noch linear, sie sind vielmehr »Markoffsche Ketten«, wie Deleuze und Guattari schreiben, deren Richtung und zukünftiger Verlauf sich
77 | Manning: Relationscapes, S. 6. 78 | Ebd., S. 19.
1. Bewegte Beziehungen
immer nur ungefähr, nie jedoch absolut vorhersagen lässt.79 Wie im Prozess der Kristallisation sind zwar einerseits die möglichen Anknüpfungspunkte für neue Ereignisse gegeben, an welcher konkreten Stelle und in welche Richtung sich diese aktualisieren, ist jedoch offen. Hier folgt nicht ein Ereignis dem anderen und bildet somit einen linearen Strom, die Bewegungen sind ein Wuchern von Ereignissen und eine Mannigfaltigkeit von Wegen: »Die Ketten sind der Ort endloser, in alle Richtungen verlaufender Abtrennungen, überall Spaltungen (schizes), die sich selbst genug sind und vor allem nicht aufgefüllt werden dürfen.«80 Diese »den Ketten eigenen Disjunktionen« 81, sind in den Konzepten Deleuzes und Guattaris ein wesentliches Element in der Offenheit und der Virtualität des Werdens und der Bewegungen. Und in diesen Differenzierungen werden die Bewegungen nicht einheitlich, sondern relational: In den »Mikrointervalle[n] der Bewegung« 82, sind die Ketten mehr als eine Bewegung und mehr als die Bewegung selbst, sie weisen über diese hinaus und lassen sie zu einer relationalen Bewegung, einer Assemblage vieler Bewegungsereignisse werden. Diese Bewegungen sind nicht mehr als einzelne, selbstinitiierende zu sehen, sondern als Übertragung, die zwischen den Bewegungen stattfindet, in jenen Momenten, in denen diese über sich hinausgehen. Die Übertragung ist – wie Brandstetter et al. ausführen – nicht dem Seienden zuzurechnen, »als vielmehr zu einem Wirkenden, dessen Wirklichkeit nicht in der empirisch aufgewiesenen Realität seiner Vergegenwärtigungen, sondern in dem liegt, was es bewirkt – d.h. stets in einer anderen Bewegung«.83 79 | Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 50. 80 | Ebd., S. 51. 81 | Ebd., S. 50. 82 | Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 93. 83 | Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels und Ulrike Zellmann: »Übertragungen. Eine Einleitung«, in: Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi und Kai van Eikels (Hg.): SchwarmEmotion. Bewegung zwi-
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Mit Bezugnahme auf Aristoteles, vor allem aber auf Einsteins spezielle Relativitätstheorie, in der er die Bewegung eines Gegenstandes nur relational zu den Bewegungen anderer Gegenstände (und der Beobachterin bzw. des Beobachters) bestimmt, beschreiben die Autor/inn/en die Bewegung als eine, die immer schon in Beziehung zu anderen Bewegungen steht, durch diese affiziert wird und andere affiziert. »Statt der objekthaften Vergegenständigung von Bewegung, die darauf abzielt, die Übertragung in einer Bewegung (und zugleich in einem Begriff von Bewegung) still zu stellen, käme es darauf an, sich der Bewegung in jenem Moment zuzuwenden, da sie sich als Effekt bzw. Affekt einer anderen Bewegung erweist und selbst ihren Sinn darin findet, eine andere Bewegung zu affizieren.« 84 Die Übertragungen von Bewegung sind vielfältig: Sie ereignen sich sowohl in einer raum-zeitlichen als auch in einer affektiven Dimension. Eine mögliche »Szene der Übertragung« ist die Berührung. In ihr treffen mehrere Bewegungen aufeinander und es ereignet sich eine Übertragung, in der die Bewegung nicht Gegenstand dieser, sondern als Übertragung selbst zu verstehen ist. schen Affekt und Masse, Freiburg i.Br.: Rombach 2007, S. 7-61, hier: S. 14, Herv.i.O. 84 | Ebd., S. 15, Herv.i.O. Gerade über die Frage der Wahrnehm- und Messbarkeit von Zeit führten Einstein und Bergson eine heftige Debatte. Betonte Bergson immer wieder die Unterschiede von physikalischer (messbarer) und philosophischer (intuitiv wahrnehmbarer) Zeit, so negierte Einstein jegliche Konzeption einer philosophischen Zeit. Einstein ging – so die allgemeine Meinung – als Sieger aus dieser Debatte hervor. Dass die philosophischen und physikalischen Zeitkonzepte nicht mehr als Gegensätze verstanden werden müssen, zeigt sich in den Ausführungen der Quantentheorie. Schon kurz nach dem Erscheinen von Bergsons letztem Buch Denken und schöpferisches Werden (franz. 1934) schrieb Paul Valéry ihm mit der Frage, ob nicht die neusten Entwicklungen der Quantenphysik einige seiner Ideen stützen würden (vgl. Jimena Canales: »Einstein, Bergson, and the Experiment that Failed: Intellectual Cooperation at the League of Nations«, in: MLN 120(5), 2005, S. 11681191).
1. Bewegte Beziehungen
Die Berührung überträgt als Teil der Bewegung nicht ihr Äußerliches, sondern immer nur sich selbst. Die (oft gegenläufigen) Bewegungen der Berührung stoßen zusammen, sie überkreuzen sich und interferieren. In der Interferenz werden Bewegungen nicht einfach reproduziert, vielmehr überlagern sie sich, sie werden gebeugt und flektiert und es entstehen neue Bewegungsmuster – und mit ihnen neue Differenzen. Interferenz ist somit keine Synchronisation, keine Reproduktion des Gleichen, sondern – wie Donna Haraway argumentiert – die »Produktion von Differenz«.85 Die Berührung wird hier zu einer Bewegungskonfiguration, in der nicht einfach eine Bewegungsform an eine andere angeglichen wird, sondern durch ihre Überlagerungen neue Muster entstehen. In der Berührung treffen Bewegungen aufeinander und es entsteht ein Ereignis, das wesentlich von der Differenz zwischen den Bewegungen, aber auch innerhalb ihrer selbst bestimmt ist. Berührungsbewegungen sind Übertragungsereignisse der Differenz. Diese Bewegungen sind weder immateriell noch sind sie einfach ein Attribut bereits bestehender Körper; sie sind den Körpern immanent.86 Schon bei Bergson ist die Bewegung zunächst als eine »reine« Veränderung gedacht, die (noch) keine materielle Form besitzt: »Es gibt Bewegungen, aber es gibt keinen unveränderlichen trägen Gegenstand, der sich bewegt: die Bewegung schließt also nicht etwas ein, was sich bewegt.« 87 Es sind die ereignishaften Konfigurationen aus Bewegung und Wahrnehmung (wobei diese Unterscheidungen hier nicht als Abgrenzungen, sondern als genuine Aspekte eines Ereignisses verstanden werden sollen), in denen die Körper entstehen. Diese Körper sind dabei sowenig die Materialisierung einer Bewegung wie sie nur ein Körper sind. Es ist das Zusammentreffen verschiedener Bewegungen, ihre Interferenzen, die die Körper entstehen lassen und es ist gerade die virtuelle Dimension 85 | Donna Haraway: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan(c)_ Meets_OncoMouseTM, London u. New York: Routledge 1997, S. 268. 86 | Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 88, FN 11. 87 | Bergson: »Die Wahrnehmung der Veränderung«, S. 167.
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der Bewegung, in der diese über sich hinaus geht und damit mehr als ein Körper ist. Sie ist eine Vielheit materieller Konfigurationen. Berührungen sind keine ›Aktion‹, keine ›Tätigkeit‹ von Körpern, sondern bilden, sowohl im Sinne der Bewegung als auch des Ereignisses, eine Dimension, eine Tendenz anhand derer sich die Körper kristallisieren bzw. materialisieren. Dabei bilden sich nicht einzelne Körper heraus, sondern mehrere – mannigfaltige, vibrierende Körper, die aufeinander verwiesen sind, berührte und bewegte Körper und Körperteile, die sich gerade als solche stetig verändern, ohne einen endgültigen Zustand zu erreichen. Die Bewegungs- und die Ereignishaftigkeit der Berührung sind keine sich widersprechenden Betrachtungsweisen, sondern Aspekte, die sich gerade in der Berührung auf komplexe Weise verschränken. Das Annähern, das Fortgehen, selbst der Moment des Körperkontakts sind Berührungsbewegungen. Diese Bewegungen können nicht auf die einfache Ortsveränderung eines Körpers in Raum und Zeit beschränkt werden.88 Weder die Bewegung noch die Berührung ist dabei bloß die Ausführung einer Potenzialität, in ihr falten sich vielmehr Virtualität und Aktualisierung, Verwirklichung und Gegen-Verwirklichung ineinander, bringen sich gegenseitig hervor und lassen neue Verbindungen entstehen. Als Ereigniskettungen sind die Bewegungen nicht linear, sondern in ihrem Verlauf immer wieder durch Momente der Virtualität kontingent. Wenn die Berührung zu einer Bewegung wird, so wird die Bewegung durch die 88 | Die Kritik eines Bewegungskonzeptes, dass diese als Ortsveränderung eines Körpers versteht, ist nicht auf geisteswissenschaftliche Ansätze zu beschränken, sondern lässt sich ebenso in den Naturwissenschaften finden. Vgl. hierzu wiederum Bergson: »Je mehr sie [die physikalische Wissenschaft, G.E.] fortschreitet, je mehr löst sich die Materie in Aktionen auf, die den Raum durchlaufen, in Bewegungen, die als wechselnde Spannungsfelder eines dynamischen Raumes erscheinen, sodaß die Bewegung zur Wirklichkeit selbst wird.« (Ebd., S. 169) sowie Whitehads Auseinandersetzung mit der (Bewegungs-)Wissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts (Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt, S. 53-92).
1. Bewegte Beziehungen
Relationalität und Ereignishaftigkeit der Berührung potenzialisiert, sie wird, so ließe sich mit Bergson sagen, zu einer »Bewegung von Bewegungen«.89 Die Ereignisse der Berührung in the fault lines sind vielfältig: Immer wieder treffen die Bewegungen der Tänzer/innen aufeinander, durchkreuzen einander und bilden in diesen Momenten der Interferenz neue Bewegungen. Diese Bewegungen lassen sich nicht mehr auf den sichtbaren Verlauf ihrer Körper reduzieren, sie gehen über diese hinaus, transformieren sich sowie die Weisen ihrer Materialisierung. Als Übertragungs-Ereignisse markieren die Berührungen die sich immer wieder neu konfigurierenden Relationalitäten zwischen den Tanzenden sowie zwischen Tanzenden und Publikum. Gleich einem Laboratorium scheinen die Berührungen zu Bewegungs- und zu Wahrnehmungsexperimenten zu werden – ohne jedoch ihr Ergebnis zu kennen. Diese Berührungen sind vielfältig: Nicht nur entstehen verschiedene Formen der Annäherung, der Unterbrechung, des Zauderns, Innehaltens oder des »Bewegungssturms«, ebenso entstehen Abdrücke und Spuren, es werden Markierungen und Körper bzw. Körper als Markierung sichtbar, die sich zugleich wieder verändern. Es sind Szenen der Bewegungsinterferenz auf der Bühne, die nicht nur zu immer neuen Konfigurationen von Berührungen führen, in den Berührungen werden auch die Bewegungen der Tänzer/innen selbst verändert: Als Ereignisketten sind sie keine linearen, zielgerichteten und vorhersehbaren Abläufe, sondern die immer wieder neue Möglichkeit der Relation.
89 | Bergson: »Die Wahrnehmung der Veränderung«, S. 169.
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2. Aufwallend, hineinziehend, verblassend: Affekt und Berührung
»Toucher ébranle et fait bouger. Berührung erschüttert und setzt in Bewegung«, so schreibt Jean-Luc Nancy in seinem Text Rühren, Berühren, Aufruhr.1 Er geht dabei jenen Bedeutungsdimensionen der deutschen Wortfamilie »[-/ruhr/-]« nach, die in den titelgebenden Begriffen zum Ausdruck kommen. In der Bewegung, dem »SichRühren« schreibt sich der Berührung eine Bedeutung ein, die in keinem seiner früheren Texte solch eine zentrale Rolle einnahm: die Berührung als Emotion, die in der Motion modalisiert wird.2 Beschäftigte sich Nancy – ausgehend von dem französischen Begriff des sens – schon früher mit der Berührung als sinnlicher Erfahrung und als (Un-)Berührbarkeit der Seele, so führt die Auseinandersetzung mit dem deutschen Begriff zu einer Verschiebung: »Le toucher (das Berühren) scheint auf Französisch der Semantik von Bewegung eher fremd zu sein, während es derselben im Deutschen offensichtlich zugeordnet werden kann. Toucher, tact oder contact mögen sich eher statisch als dynamisch erweisen.«3 Diese Bewegung reduziert Nancy nicht einfach auf einen »Platzwechsel« oder eine »Verwandlung/Metamorphose«, es ist gerade die »Emotion«, die weder von der Berührung noch von der Bewegung zu trennen ist.4 »Doch die Affektion ist vor allem Passion und Bewegung der 1 | Nancy: Rühren, Berühren, Aufruhr, S. 1. 2 | Vgl. ebd. 3 | Ebd. 4 | Ebd., Herv.i.O.
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Passion, einer Leidenschaft, deren Beschaffenheit im ›Berühren‹ besteht: gerührt werden, seinerseits berühren, sich berühren durch die von Außen gekommene Berührung, durch diejenige, die mich tangiert und durch welche ich selber antaste.«5 Die Passion, jene in der Affizierbarkeit bzw. dem Berührt-Werden enthaltene Möglichkeit zur Aufnahme ist bei Nancy zentral: In der »Potenz des Empfanges« versetzen nicht nur die »Hautflächen […] einander in Bewegung«, auch die Identität der Berührenden und Berührten wird verändert – Motion und Emotion.6 Wie lassen sich die Berührungen der Tänzer/innen als eine Konfiguration von Bewegungen und ebenso als eine von Affekten beschreiben? Welche affektiven Szenen erscheinen, wenn man ihre Bewegungen der Annäherung oder des Fortgehens nicht als vorgegebene Schritte versteht, sondern als Möglichkeit eines Berührt-Werdens?
M aybe F orever Die Bühne ist dunkel, langsam zeichnen sich die Konturen zweier Körper ab: Halb liegend, halb sitzend beginnen Meg Stuart und Philipp Gehmacher ihre Arme auszustrecken und sich der bzw. dem anderen tastend anzunähern. Der Moment, in dem sie sich vermutlich das erste Mal berühren, ist in der Dunkelheit der Bühne kaum zu erkennen. Erst als Gehmacher nach Stuarts Arm greift, diesen umfasst und sich an ihm zu ihr herüberzieht, berühren sich die beiden Tanzenden deutlich sichtbar. Nun liegen sie, Körper an Körper, halb neben-, halb aufe inander, beinahe regungslos da. Doch dieser Körperkontakt ist nur von kurzer Dauer: Sogleich schieben beide ihre Körper voneinander fort, bis sie, der/m anderen den Rücken zugewandt, einzeln, geradezu vereinzelt am Boden liegen. Diese Bewegungen des Annäherns und Entfernens wiederholen sich einige Male, dann richten sie sich langsam auf. Kniend, die Arme nach vorne gestreckt, verharrt Gehmacher fast regungslos, bis Stuart sich in seine Arme legt, ihren Körper an seinen 5 | Ebd., S. 3. 6 | Ebd.
2. Aufwallend, hineinziehend, verblassend
schmiegt, ihn umklammert, beide das Gleichgewicht verlieren und fallen. Die Körper berühren sich immer und immer wieder, doch ebenso oft trennen sie sich und (ver-)langen in der Distanz nach der/m anderen. Dunkelheit. Licht. Ausgelegt mit blau-gräulichem Teppichboden, die Wände verhangen mit einem braunen, sorgfältig gerafften Vorhang, eröffnet sich der Bühnenraum von Maybe Forever (2007), der bis auf zwei Mikrofone, einen Gitarrenverstärker, einen Stuhl und ein Podest leer ist. Die Rückwand wird von einer Leinwand dominiert, auf die ein Foto zweier verblühter Löwenzahn-Blumen, deren Samen gerade von einem Windhauch fortgeweht werden, projiziert ist. Die Farben dieses Bildes sind bemerkenswert: Während der Aufführung wechseln sie von einem (passend zu Vorhang und Teppich gehaltenen) Sepia zu kräftig leuchtenden Farbtönen und verblassen zum Ende hin wieder. Die Bühne evoziert ein »namenloses Lobbydasein« 7, einen Raum der Anonymität, nicht des Verweilens und der Begegnung, schon gar nicht der intimen Begegnung zweier sich Liebender. In diesen Raum tritt der Musiker Niko Hafkenscheid: Mit glitzernd-blauem Jacket, Schlaghose und weit geöffnetem Hemd singt er, sich selbst auf der Gitarre begleitend, seine Songs. In ihrer »abgeklärte[n] Melancholie« 8 erzeugen sie immer wieder eine Atmosphäre emotionaler Aufgeladenheit, die zugleich durch die zeitliche Überdehnung der Lieder zerstört wird. In immer wiederkehrenden Versuchen nähern sich die beiden Tanzenden erneut an – langsam und zögernd, als müssten sie gegen einen starken Widerstand angehen. Diese Annäherungsversuche münden dabei nicht direkt in einem Zusammentreffen der Körper: Sie verfehlen sich, gehen aneinander vorbei und beginnen erneut den Versuch einer Berührung. Selten treffen ihre Körper aufeinander und es entsteht eine Umarmung, die unvollendet abgebrochen wird, da sich die/der andere dieser Berührung entzieht, sich abwendet und fortgeht. Plötzlich halten sich beide fest an den Händen, so fest, als dürften sie diesen flüchtigen Moment nicht loslassen. Doch auch 7 | Franz Anton Cramer: High Noon der Gefühle, 2007. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.corpusweb.net/index2.php?option=com_content&task=view&i d=481&pop=1&page=0&Itemid=35. 8 | Ebd.
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Abb. 4: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: Maybe Forever (2007) diese Berührungen schwinden nach wenigen Augenblicken. Gehmacher geht, Stuart verharrt noch einen Moment, ihre Hände bleiben – ihm entgegengestreckt – in der Haltung der soeben vergangenen Berührung. Sie folgt ihm langsam, wieder halten sie ihre Hände und wieder lösen sie sich voneinander nach wenigen Augenblicken. Plötzliche Bewegungsschübe, das Schütteln der Körper und die nach oben geworfenen Arme wechseln sich mit Momenten des Innehaltens ab. Stuarts Körper vibriert, zögernd bewegt sie sich an Gehmacher vorbei und hält inne, wartet. Stuart rennt auf ihn zu, ignoriert sein Zögern und ihre Körper treffen heftig aufeinander. Ein Rhythmus an- und abschwellender Berührungen entsteht. Gehmachers Kopf sinkt erschöpft und vertrauensvoll in Stuarts Schoß und ihre Hände fahren vorsichtig über seinen und ihren eigenen Körper. Beide versuchen sich voneinander wegzudrehen. Trotz des Zauderns der Bewegung, dem Verharren im Stillstand wiederholen sich diese kurzen Berührungen und mit ihnen entstehen immer wieder Gesten, die uns als allzu bekannte Zitate von Liebesbeziehungen unheimlich vertraut wirken. Diese Berührungsgesten, das verträumte Streicheln oder das verliebt wirkende Ringen auf dem Boden, scheinen dabei aus einer vergangenen Zeit zu kommen. Wie der Musik, den Kostümen, dem Vorhang oder dem sepiafarbenen Bild der beiden Löwenzahnblüten ist ihnen eine Distanz eingeschrieben, die auf ihren Verlust verweist. Es sind die Unterbrechungen
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und der Nichtvollzug der Gesten, die eine Unbestimmtheit zwischen Nähe und Distanz schaffen, und die die Berührungen der beiden Tanzenden zugleich zärtlich und gewaltsam erscheinen lassen. Ist der zu Stuart ausgestreckte Arm Gehmachers hier ein Ausdruck der Nähe, des Kontakts oder ein Maß des Abstandes und der Distanz? »You know when I said: ›I’m terrified of anyone close to me.‹ I take it back.« In diesem paralyptischen Eingeständnis einer Angst vor der Nähe des anderen, drückt sich nicht nur der fast allen Berührungen der Tänzer/innen immanente Widerstand aus; als Teil einer ganzen Liste von Erinnerungen ruft Stuart hier auch noch einmal jene emotionalen Momente hervor, die nur in ihrer Vergänglichkeit, nur in ihrer Vergangenheit noch ausgesprochen werden können. Diese Räume – der Raum der Bewegungen und Berührungen der Tänzer/innen sowie der Bühnenraum – wirken zu groß und zu leer; verschwunden scheint jene Intimität, die das Halbdunkel zu Beginn der Aufführung bestimmt hat. Diese Leere erzeugt – körperlich und emotional – in der Nähe eine Distanz: zwischen den beiden Tanzenden und zwischen Bühne und Publikum.
A ffek tive B e wegungen In den Untersuchungen von Nancy und den Bewegungen von Gehmacher und Stuart zeigt sich die affektive Dimension der Berührung. Als Bewegungen und als ereignishafte Beziehung affizieren die Berührungen die Tanzenden immer von außen. Diese Konzeptualisierung der affizierenden Berührung als etwas Äußerliches bzw. als ein Ereignis löst den Affekt zunächst von der Vorstellung einer inneren, subjektiven Emotion. Sie sind vielmehr »Affektionen des Körpers«, im Sinne Spinozas.9 Die Berührung ist dabei weder 9 | Im dritten Teil seiner Ethik mit dem Titel Von dem Ursprung und der Natur der Affekte formuliert Spinoza drei Definitionen, wobei die dritte den Affekt direkt als ein körperliches Vermögen beschreibt: »Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen
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der Ausdruck noch die Übertragung eines inneren Gefühls, sie »ereignet sich im Dazwischen«10 – als Relation und als Bewegung. Der Affekt bezeichnet jenes Ereignis der Relation, das, anders als bei Nancy, nicht durch seine Passivität – seine Passion bzw. Affizierbarkeit – die subjektive Struktur des kohärenten Körpers öffnet, sondern gerade dadurch, dass es jener Teilung von aktiv und passiv vorgängig ist. »Affect is autonomous to the degree to which it es capes confinement in the particular body whose vitality, or potential for interaction, it is.«11 Der Affekt ist nicht Teil eines subjektiven Kerns, der durch dieses ausgedrückt wird, es ist das Subjekt selbst, das in diesen Ausdrucksbewegungen erst entsteht. Dieser Begriff eines a-subjektiven Affekts ist somit auch von jenem der Emotion unterschieden. »Emotion is the most intense (most contracted) expression of that capture – and of the fact that something has always and again escaped. Something remains unactualized, inseparable from but unassimilable to any particular, functionally anchored perspective.«12 Diese von Spinoza kommende Unterscheidung von Affekt und Emotion ermöglicht es Massumi, den Affekt einerseits in seiner Autonomie, andererseits aber auch seine vielfältigen Beziehungen zur Emotion zu beschreiben: Der Affekt operiert im Bereich der Intensität und des Virtuellen, wobei die Emotion sich auf der Ebene dieser Affektionen.« (Baruch de Spinoza: Werke Bd. 1, Hamburg: Felix Meiner 2006, S. 114) Deleuze führt in seiner Auseinandersetzung mit Spinoza die Konsequenzen dieses Denkens aus: »[E]s ändern sich viele Dinge, wenn ihr die Körper und Gedanken als Mächte betrachtet, zu affizieren und affiziert zu werden. Ihr werdet ein Tier oder einen Menschen nicht durch seine Form, seine Organe und Funktionen, auch nicht als Subjekt definieren: ihr werdet sie durch die Affekte, deren sie fähig sind, definieren.« (Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, Berlin: Merve 1988, S. 161). 10 | Massumi: Ontomacht, S. 69. 11 | Ders.: Parables of the Virtual. Movement, Affect, Sensation. Durham u. London: Duke UP 2002, S. 35, vgl. auch: S. 32. 12 | Ebd., S. 35, Herv.i.O.
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des Inhalts, der Sprache und der Narration befindet. Emotion und Affekt befinden sich nicht zwangsläufig in einem Verhältnis der Verstärkung oder Synchronizität, sie können sich ebenso abschwächen und auslöschen, sich verstärken und miteinander resonieren – sie bilden vielfältige Muster der Interferenz. Wenn die Emotion von Massumi als der »eher unvollständige Ausdruck eines Affekts«13 bezeichnet wird, so bedeutet dies gerade die Unmöglichkeit eines vollständigen Ausdrucks und eines restlosen Aufgehens der Virtualität des Affekts in den Aktualisierungen der Sprache. Andersherum bedeutet dies jedoch nicht, dass der Affekt als natürlicher, vor-sprachlicher Kern subjektiven Fühlens zu verstehen ist. Die Intensität als die Ebene des Affekts ist, so Massumi, »asocial, but not presocial – it includes social elements but mixes them with elements belonging to other levels of functioning and combines them according to different logic«.14 Keine der beiden Ebenen bildet die Basis der anderen, Affekt und Emotion befinden sich vielmehr in einem Verhältnis wechselseitiger Veränderungen. Diese Logiken lösen nicht einfach die Dichotomien von Körper und Geist, Natur und Kultur, Fühlen und Sprechen zugunsten eines Sozialkonstruktivismus auf, sondern lassen immer neue Verhältnisse und sich immer wieder verändernde Konstellationen entstehen. Wenn Gehmacher und Stuart sich berühren, dann sind ihre Bewegungen nicht direkt: In ihren zögerlichen Annäherungen und den sehr flüchtigen, teilweise abgebrochenen Momenten des Körperkontakts entstehen Intervalle, zeitliche und räumliche Öffnungen, die die vorgegebenen Verlaufsrichtungen suspendieren und neue, andere Beziehungen ermöglichen. Diese Intervalle sind nicht nur die Virtualität der Bewegung und die unvorhersehbaren Ereignisse der Berührung, sie sind ebenso, wie Deleuze schreibt, das Dazwischen des Affektiven: »Der Affekt ist das, was das Intervall in Beschlag nimmt, ohne es zu füllen oder gar auszufüllen.«15 13 | Ders.: Ontomacht, S. 28. 14 | Ders.: Parables of the Virtual, S. 30, Herv.i.O. 15 | Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 96.
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Der Affekt entsteht hier in der Bewegung, ohne jedoch mit dieser gleichgesetzt zu werden. Wie bei Spinoza und Massumi ist auch hier der Affekt keine Entität, kein Ausdruck eines inneren Gefühls, sondern eine Veränderung, ein Werden; und hier vor allem eine Veränderung in der Bewegung. Bergson zitierend schreibt Deleuze weiter: »Von daher stammt der sehr gute Definitionsvorschlag Bergsons für den Affekt: ›eine Art motorische Strebung in einem sensorischen Nerv‹, das heißt eine motorische Anstrengung auf einer unbeweglich gemachten rezeptiven Platte.«16 Wie die preacceleration ereignet sich auch der Affekt gerade an der Schnittstelle von Bewegung und Wahrnehmung, also an jenem Punkt, an dem sich diese beiden ineinander falten und sich keine Kausalketten (Bewegung folgt Wahrnehmung folgt Affekt bzw. Affekt folgt Wahrnehmung folgt Bewegung) erkennen lassen. Die Bewegungen der Berührung, ihre Intervalle sind eben nicht nur jene direkt sichtbaren und direkt beschreibbaren Bewegungen der Körper, sie sind eine »combination of anatomical and emotional movement«.17 In den Konfigurationen der Berührungsbewegungen ereignen sich affektive Szenen, entstehen Beziehungen, die nicht als die Kommunikation von Gefühlen der beiden Subjekte zu beschreiben sind, sie bilden sich gerade zwischen ihnen, in der Affektivität der Bewegungen, in den Intervallen, die durch die Interferenzen ihrer Berührungen entstehen: Berührungsbewegungen als affektive Ereignisketten. Gehmachers Stocken, sein Zaudern in den Annäherungen an Stuart lassen sich hier nicht auf den Ausdruck einer Angst vor Bewegung und Berührung reduzieren, ebenso wenig, wie die schnellen und heftigen Bewegungen der beiden Tänzer/innen nur als Zeichen der Leidenschaft beschrieben werden können. Ihre Bewegungen sind auch niemals eins, sie ›gehören‹ keinem Subjekt. Berührungsbewegungen sind Formen der Relation, jedoch nicht im Sinne einer intersubjektiven bzw. inter-emotionalen Kommunikation, sie ereignen sich auf der Ebene a-subjektiver Affekte. Diese 16 | Ebd., S. 97. 17 | Aus: Stamer: »›Die Hinterlassenschaften von Zetteln …‹, S. 23.
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Momente affektiver Relationalität öffnen die Bewegungen füreinander und ermöglichen damit die Berührungen. Diese affektive Dimension der Berührung und der Berührungsbewegung ist keineswegs eine sekundäre Eigenschaft, wie die preacceleration ist auch der Affekt wesentlicher Bestandteil von Bewegungen, vor allem von Bewegungskonfigurationen der Berührung. So wie sich im Ereignis der Berührung die Virtualität aktualisiert, ohne jedoch in ihrem Vollzug aufzugehen und so, wie die Bewegung ohne die Momente von preacceleration und Intervall nicht möglich wäre, so bleibt auch der Affekt nicht einfach im Modus des Virtuellen, sondern drängt zur Emotion. Doch die Aufnahme des Affekts durch die Emotion ist – wie die Aktualisierung – niemals vollständig: Der Affekt geht weder restlos in der Emotion auf, noch werden alle Affekte in Formen der Emotion aktualisiert, sie überholen und überspringen diese, werden flektiert und durchbrechen auf je unterschiedliche Weise jene kohärente Logik der diskursiven Ordnung. Durchbrechen soll hier jedoch nicht im Sinne eines Aufbrechens verstanden werden, es entsteht keine Lücke, durch die die virtuelle Welt der Affekte wahrnehmbar wird; das Aufnehmen der Affekte führt vielmehr selbst zu einer Veränderung (emotionaler) Ordnungsschemata: Klare, starre Kategorisierungen geraten in Bewegung, Vibration und shaking, ohne klare Richtung, ohne Ziel. Affekt und Emotion stehen somit in einem Verhältnis sich verändernder Wechselbeziehungen – ohne statischen Ausgangs- und Endpunkt und ohne ein Verhältnis der Kausalität. Wenn Gehmacher seine Arme zur Berührung ausstreckt oder wenn Stuart ihren Körper aus einer Umarmung herausdreht, dann entsteht in diesen Berührungs-Bewegungen eine Relation, die über das Zusammentreffen zweier Subjekte und ihrer Körper hinausgeht. Diese Relation der Berührung ist als eine Interferenz mehrerer Bewegungen gerade in diesem Aufeinandertreffen, in ihren Intervallen affektiv. Sie ist Bewegung, sie ist Wahrnehmung und sie ist ein affektives Berührt-Werden. Ein Ereignis der Emotion, das (nicht nur etymologisch) untrennbar mit der Bewegung, der Motion, verbunden ist. Bewegung bildet hier nicht nur einen zentralen Mo-
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ment des Affekts, sondern auch der Emotion: In den immanenten Faltungen von Affekt und Emotion bildet diese nicht den statischen Gegenpol der bewegten Affekte, sondern gerät selbst in Bewegung. Berühren ließe sich nun als jene Bewegung zwischen Affekt und Emotion beschreiben, bei der diese weder Anfangs- noch Endpunkt markieren, sondern vielmehr selbst in Bewegung sind – auch hier: Bewegungen von Bewegungen.
B e wegte A ffek te Affekte ereignen sich in den Intervallen der Bewegungen, sie schaffen Öffnungen und bilden Relationen. Affekte sind ein wesentlicher Teil der Berührungen, sie wirken sich auf den Verlauf, die Dynamik und die Intensität aus; und sie werden selbst zu Bewegungen – wahrnehmbar und über das Wahrnehmbare hinaus. Das plötzliche Ausstrecken des Arms und das Ergreifen von Gehmachers Hand, oder die schnellen, die langsamen, die ruckartigen und zögerlichen Bewegungen konfigurieren die Berührungen der beiden Tänzer/innen vor allem durch ihre Dynamik – sie sind affektive Beziehungen. Der Säuglingsforscher Daniel Stern beschreibt die affektiven Bewegungen nicht als den Ausdruck eines inneren Gefühls bzw. einer diskreten und damit klar bestimmbaren Emotion, sondern als Relation. In seinen Konzepten der »Vitalitätsaffekte« und der »amodalen Wahrnehmung« untersucht Stern die Arten der Wahrnehmung und des Erlebens von Säuglingen und bezieht sich dabei vor allem auf die Dynamiken, Kräfte und Intensitäten von Bewegungen.18 Die Vitalitätsaffekte bilden einen wesentlichen Aspekt im Erleben des Säuglings, doch sind diese nicht auf eine bestimmte Phase oder Stufe zu beschränken, ihr Bereich besteht auch später, er »bleibt aktiv und interagiert dynamisch mit allen übrigen«.19 In den Inter18 | Vgl. Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart: KlettCotta 2007. 19 | Ebd., S. ii.
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aktionen mit anderen Menschen, aber auch mit Dingen, Formen etc. nimmt der Säugling Vitalitätsaffekte wahr. Diese lassen sich – so Stern – nicht mit den herkömmlichen Begriffsbildungen bzw. den »kategorialen Affekten« wie beispielsweise Wut, Freude, Angst und Traurigkeit beschreiben. »Diese schwerbestimmbaren Qualitäten lassen sich besser mit dynamischen, kinetischen Begriffen charakterisieren, Begriffen wie ›aufwallend‹, ›verblassend‹, ›flüchtig‹, ›explosionsartig‹, ›anschwellend‹, ›abklingend‹, ›berstend‹, ›sich hineinziehend‹ usw.«20 Vitalitätsaffekte sind für den Säugling mit den Bewegungen seiner Umgebung verbunden: »In der Art, wie die Mutter das Baby aufnimmt, wie sie die Windeln auseinanderfaltet, wie sie ihr Haar oder das Haar des Babys glattstreicht, wie sie nach dem Fläschchen greift, wie sie ihre Bluse aufknöpft.«21 Doch beschränken sich die Vitalitätsaffekte keinesfalls nur auf menschliche Bewegung, es ist auch der Fleck gelben Sonnenlichts, der – in Sterns wohl prominentestem Beispiel – an der Wand über dem Bett des Säuglings tanzt, dessen Bewegung (ebenso wie seine Intensität, seine Wärme oder Annehmlichkeit) in seinen Dynamiken von dem Säugling wahrgenommen wird.22 Die Vitalitätsaffekte bilden somit das »Wie«, die Art einer Bewegung und – wie auch der Affekt bei Spinoza oder Massumi – nicht den Ausdruck einer inneren Emotion. In seinen Beschreibungen dieser Bewegungen bedient sich Stern häufig des Vergleichs mit den Künsten: Kino, Musik, Malerei, vor allem aber Tanz sind für ihn geradezu paradigmatische Erscheinungsformen der Vitalitätsaffekte.23 20 | Ebd., S. 83. 21 | Ebd., S. 84. 22 | Vgl. ebd., S. 249f. 23 | »Abstrakter Tanz und Musik sind ausgezeichnete Beispiele für die Ausdrucksfähigkeit der Vitalitätsaffekte. Der abstrakte Tanz führt dem Zuschauer/Zuhörer eine Vielfalt an Vitalitätsaffekten mitsamt ihren Abwandlungen vor, ohne auf eine Handlung oder kategoriale Affekte zurückzugreifen, aus denen man die Vitalitätsaffekte erschließen könnte. Fast immer versucht der
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Die Wahrnehmung der Vitalitätsaffekte findet dabei nicht nur durch die von Stern betrachtete Zuschauer/innenperspektive statt, sondern auch zwischen den einzelnen Tänzerinnen und Tänzern. Auf der Bühne ereignen sich die Vitalitätsaffekte neben den visuellen Wahrnehmungen auch in den Berührungen und Bewegungen der Tanzenden. Wenn Gehmacher vor Stuarts schnellen Bewegungen zurückweicht, dann nehmen beide die Bewegungen der/des anderen wahr. Diese Wahrnehmungen sind Teil der Berührung, doch zugleich konfigurieren sie auch diese Berührung, verändern ihre Bewegungen und neue, andere Berührungen werden möglich. Ihre Bewegungen sind nicht einfach die Reaktion bzw. der nächste Folgeschritt einer notwendigerweise so ablaufenden Berührungsfigur. (Auch wenn große Teile dieser Bewegungen im Vorfeld einstudiert und damit – zumindest für die Beteiligten – eine gewisse Vorhersehbarkeit besitzen.) Die Dynamiken ihrer Bewegungen, ihre Affektivität (die – gerade weil sie sich zielgerichteten Intentionen entzieht – am wenigsten im Sinne einer Bewegungsfolge zu reproduzieren ist) wird in den Berührungen durch die andere Tänzerin bzw. den anderen Tänzer erfahren. Diese Empfindung der Berührung ist kein sekundärer Akt, sondern dieser immanent. Sie verändert die Bewegungen und konfiguriert die Berührung. Auch
Choreograph, nicht einen spezifischen Gefühlsinhalt als vielmehr eine Art des Fühlens auszudrücken. Dieses Beispiel ist besonders aufschlußreich, weil sich der Säugling, wenn er einem elterlichen Verhalten zuschaut, das keinen bestimmten Affekt zum Ausdruck bringt (also kein Darwinsches Affektsignal darstellt), unter Umständen in derselben Lage befindet wie der Betrachter eines abstrakten Tanzstückes oder der Konzertbesucher.« (Ebd., S. 87) Eine (erneute) ausführliche Beschäftigung mit den verschiedenen Kunstformen folgt in Sterns späterem Buch Ausdrucksformen der Vitalität, dort vor allem der zweite Teil »Die Rolle der Arousalsysteme und die Beispiele aus Musik, Tanz, Theater und Film«. (Ders.: Ausdrucksformen der Vitalität. Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten, Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2011, S. 97-128).
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auf ihrer affektiven Ebene ist die Berührung ein Ereignis am Knotenpunkt von Empfindung und Bewegung.
A modale B e wegungen Vitalitätsaffekte werden durch den Säugling global wahrgenommen. Diese Erfahrungen lassen sich nicht auf das phänomenologische Erfassen eines präsenten Körpers mittels Sehen, Hören oder Fühlen reduzieren, die Intensitäten und Dynamiken der Bewegungen, ihre Affektivität sind, so Stern, amodal. »Säuglinge scheinen also dank einer angeborenen, generellen Fähigkeit – die man als amodale Wahrnehmung bezeichnen kann – die in einer bestimmten Sinnesmodalität aufgenommene Information irgendwie in eine andere Sinnesmodalität übersetzen zu können.«24 Anstatt diesen Vorgang jedoch als einen der »direkten Übersetzung zwischen verschiedenen Modi« zu beschreiben, geht Stern von »einer Enkodierung in eine bislang noch rätselhafte, amodale Repräsentation, die dann in jedem Sinnesmodus wiedererkannt werden kann«, aus.25 Amodale Wahrnehmung ist keine weitere Form der Wahrnehmung, die sich zusätzlich neben die anderen Wahrnehmungsmodalitäten reiht, sie durchbricht vielmehr die Logiken einer Aufteilung der Sinne und ermöglicht damit jene affektiven Dynamiken und Intensitäten zu erfahren, die nicht an einen bestimmten Ausdruck gebunden sind. Vitalitätsaffekte können in der Bewegung, der Sprache, dem Bild oder der Musik ausgedrückt werden, ihre Erfahrung ist dabei eine Art Abstraktion, wie es Stern formuliert, mittels derer diese »Aktivierungskonturen« wahrgenommen und in die verschiedenen Formen der Wahrnehmung übertragen werden können. Auch wenn Stern sein Konzept der »abstrakten Repräsentation« in der amodalen Wahrnehmung nicht weiter ausführt, ließe sich hier noch anschließen, dass diese Abstraktion keine der Wahrnehmung 24 | Ders.: Die Lebenserfahrung des Säuglings, S. 79, Herv.i.O. 25 | Ebd., S. 80.
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äußerliche bzw. kognitive Leistung ist. Die Abstraktion der Vitalitätsaffekte bildet keinen Gegenpol zur konkreten Wahrnehmung, sondern ist dieser immanent.26 Die Verbindung von Vitalitätsaffekten und amodaler Wahrnehmung bietet nicht nur die Möglichkeit, jene Trennung zwischen einer visuellen Zuschauer/innen-Perspektive und einer Wahrnehmung durch Berührung auf der Bühne zu überkommen, sie führt auch zu einer erneuten Befragung des Verhältnisses von Affekten, Bewegungen und sich berührenden Körpern. In the fault lines werden die affektiven Bewegungen und Beziehungen nochmals gewendet: In ihrem gegenseitigen Halten (und zugleich der Unmöglichkeit, die/den andere/n fassen und stützen zu können) eröffnet sich auch eine gewaltvolle Dimension. Das Halten wird schnell zu einem Festhalten und führt zu einem Fortstoßen der/des anderen. Schnelle, heftige und abrupt ausgeführte Bewegungen schaffen immer wieder Momente der Distanz zwischen den beiden Tänzer/inne/n. Weder die Bewegungen noch ihre Beziehungen sind hier eindeutig auflösbar. Ganz anders wirken die Bewegungen, die Miller kurze Zeit später mit seinem Stift auf der Projektion der beiden aneinander gelehnten Körper ausführt. Diese sind vor allem zitternd, zögerlich und vorsichtig tastend, ohne dabei zu einer Liebkosung oder einem Streicheln zu werden. Die Dynamiken in den Berührungsbewegungen werden auch auf der akustischen Ebene verstärkt: Das monotone (Meeres-)Rauschen wird – (fast) synchron zu den Berührungen von Gehmacher und Stuart – unruhig und kehrt erst in seinen gleichförmigen Ausgangszustand zurück, wenn sich die Körper der beiden Tänzer/in26 | Im Anschluss an Deleuze und Guattari beschreibt Massumi Abstraktion nicht als etwas, das der gelebten Erfahrung äußerlich, sondern dieser immanent ist: »Die Realität dieser Abstraktion ersetzt nicht das, was aktuell da ist. Sie ergänzt es. Wir sehen sie mit und durch die aktuelle Form. […] Aktuelle Form und abstrakte Dynamik sind zwei Seiten derselben empirischen Medaille. Sie sind untrennbar, sie sind vereint wie zwei Dimensionen der gleichen Realität. Wir sehen doppelt.« (Massumi: Ontomacht, S. 134f., Herv.i.O.)
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nen voneinander trennen. Auch das vorsichtige Abtasten der Wand mit dem Lichtstrahl des Beamers wird durch die Musik zu einer aufwallenden und spannungsvollen Bewegung. Die Berührungen lassen sich hier auf unterschiedlichen Ebenen bzw. in den Interferenzen dieser Ausdrucksmodalitäten als affektive Konstellationen beschreiben und eröffnen gerade in ihren divergenten Erscheinungsweisen Möglichkeiten affektiver Beziehungen. In the fault lines lassen sich die Aktivierungskonturen der Berührungen nicht nur auf die Bewegungen der Tanzenden beschränken, sondern durchziehen ebenso andere visuelle und akustische Ebenen. Die unruhigen Rhythmen, die in den Momenten der Berührungs-Gefechte zwischen Gehmacher und Stuart entstehen, sowie das Aufwallen der eingespielten Musik sind vor allem in Begriffen affektiver Dynamiken zu beschreiben. Wenn der Beamer-Strahl die Wand abfährt, dann sind seine Bewegungen weder eine Abbildung noch eine Repräsentation der Bewegungen der beiden Tanzenden und doch werden auch hier jene Vitalitätsaffekte aufgenommen, die ihre Berührungen konfigurieren. Die Aufführung ist eine Komposition verschiedener »dance elements« oder »virtual forces«, deren Zusammenspiel für die Philosophin und Whitehead-Schülerin Susanne K. Langer so zentral für den Tanz ist, und auf die sich auch Stern im Kontext seiner Argumentation zu den Vitalitätsaffekten und ihrer amodalen Wahrnehmung bezieht. Die Tänzerinnen und Tänzer entstehen im Zusammenspiel virtueller Kräfte: »›Space tension‹ and ›body tensions‹ and even less specific ›dance tensions‹ created by music, lights, décor, poetic suggestion, and what not.«27 Die Affekte der Berührung lassen sich nicht auf die Bewegungen der Tänzer/innen beschränken, auch wenn sie hier immer wieder den zentralen Moment der Untersuchung bilden. Als »Ausdrucksformen der Vitalität« (Stern) konfigurieren sie sich in den verschiedenen Elementen der Aufführung und ihrer Wahrnehmung. 27 | Susanne K. Langer: Feeling and Form. A Theory of Art Developed From Philosophy in a New Key, London: Routledge 1953, S. 186. Vgl. auch: Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, S. 226.
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Darüber hinaus liegen diese affektiven Konturen quer zu den Formen der Wahrnehmung (Sehen, Berühren) und gehen über eine reine phänomenologische Erfahrung hinaus. In Bezug auf Stern und den experimentellen Wahrnehmungsforscher Albert Michotte beschreibt Massumi Bewegung als etwas, das nicht nur gesehen werden kann, sondern auch direkt gefühlt wird. An Michottes Beispiel von zwei aneinanderstoßenden (sich berührenden) Billardkugeln verdeutlicht er diesen doppelten Modus der Bewegung. »The sensory input impinging on the retina registers two forms, each with its own trajectory. One moves towards the other and stops. The other then starts and moves away. That is what we see. But what we feel perceptually is the movement of the first ball continuing with the second. We perceptually feel the link between the two visible trajectories, as the movement ›detaches‹ itself from one object and transfers to another. We are directly experiencing momentum, to which nothing visible corresponds as such.« 28
Bewegung ist hier eine doppelte: die visuell wahrnehmbare und die direkt gefühlte; wobei beide zwar aufeinander bezogen sind, jedoch nicht zwangsläufig kongruent verlaufen. Die gefühlte Bewegung geht über die visuell wahrnehmbare hinaus, ihre Wahrnehmung ist – und hier zieht Massumi die Verbindung zu Stern – amodal.29 Als eine Aktivierungskontur ist diese Bewegung nicht an einzelne Objekte gebunden, in ihr entstehen sogar Verbindungen zwischen den verschiedenen Objekten – »[i]t is, simply: relationship. Directly perceptually-felt; ›nonsensuously‹ perceived«.30 Die Vitalitätsaffekte der Bewegungen, die Dynamiken ihrer Aktivierungskontur lassen sich ausgehend von Stern und Massumi von den einzelnen Körpern der Tänzer/innen lösen, sie gehen über diese hinaus und übertragen sich auf andere Körper. Dies ist zen tral für die Berührung: In ihr konfigurieren sich die Affekte gerade 28 | Massumi: Semblance and Event, S. 106f., Herv.i.O. 29 | Vgl. ebd., S. 109. 30 | Ebd., S. 107.
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zwischen den einzelnen Bewegungen, in ihren Übertragungen. In der Berührung lässt sich nicht mehr von einer, sondern immer von mehreren Bewegungen sprechen, deren Relationalität sich in den Affekten ereignet. Es ist gerade dieses Aufeinandertreffen mehrerer Bewegungen, das auch das Beispiel der beiden Billardkugeln etwas verändert. Überträgt man die Bewegungen der Tänzer/innen zurück auf die der Billardkugeln, ergibt sich folgende Konstellation: Zwei Bewegungen treffen im Moment der Berührung aufeinander. Es kommt jedoch nicht zum Stillstand, sondern die Bewegungen werden umgelenkt, sodass neue, vorher nicht existente Bewegungen entstehen. Die in Michottes Beispiel erfahrene und untersuchte Kausalität (seine Studie trägt den Titel Die phänomenale Kausalität31) wird hier aufgelöst. Zwar lässt sich noch die Berührung als Ursache einer Veränderung verstehen, doch gibt es statt einer kausalen Übertragung der Bewegung ein Zusammentreffen zweier Bewegungen, eine Interferenz. Dieses Beispiel verkompliziert sich um ein Vielfaches, wenn die Bewegungen nicht geradlinig, sondern – wie die Vitalitätsaffekte – dynamisch verlaufen: »aufwallend«, »verblassend«, »anschwellend« oder »abklingend«. Ihre Zusammenstöße und damit verbundenen Veränderungen entziehen sich dann jeglicher Berechenbarkeit und Vorhersage.32 Jene von Michotte und Massumi betonte Ablösung einer gefühlten Bewegung von der visuell sichtbaren Bewegung der Objekte lässt sich auch für die Berührung stark machen, jedoch werden diese Bewegungen nicht fortgeführt, sondern in der Interferenz mit anderen Bewegungen abgelenkt und verändert. Auch auf der Ebe31 | Albert Michotte: »Die phänomenale Kausalität«, in: Gesammelte Werke Bd. 1. Die phänomenale Kausalität, Bern: Hans Huber 1982, S. 211-224. 32 | Die Bewegungen zweier Körper sind nur idealiter, ohne jegliche Form äußerer Störungen berechenbar. Würde man dieses Beispiel noch um eine weitere, auf drei Kugeln erweitern, wäre nicht nur der Punkt ihrer Kollision, sondern auch der Verlauf ihrer Bewegungen nicht vorhersehbar (Drei-KörperProblem).
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ne der Affekte funktioniert die Berührung der Tänzer/innen nicht nach einem Modell linearer Übertragung, sondern als Momente der Interferenz. Dynamiken und Intensitäten von Bewegungen treffen in der Berührung aufeinander, Affekte interferieren, verändern sich und lassen neue Konfigurationen entstehen. In einer analogen Denkfigur zu Deleuzes Konzept der Dauer als Differenzierungslogik geht es hier um ein Mannigfaltig-Werden der Affekte, die nicht in den kategorial unterschiedenen Darwin’schen Emotionen münden, sondern als Kettung differenzieller Ereignisse immer wieder neue Konfigurationen der Differenz, aber auch der Relation hervorbringen. Sowohl in Maybe Forever als auch in the fault lines sind die Berührungen eine Verschränkung von Bewegungen und Affekten. Die Affekte entstehen dabei nicht nur in den Bewegungen, die Bewegungen sind selbst affektiv. Die Dynamik der Berührungsbewegungen, ihre Intensität konfiguriert die Berührung einerseits als affektiv, andererseits bildet sie auch jenen zentralen Moment des relationalen Ereignisses zwischen den Tanzenden. Indem die Affekte (wie auch die Bewegungen) als Momente des A-Subjektiven über die Subjekte und ihre Körper hinausgehen, entstehen Beziehungen, die sich einer visuellen Wahrnehmung entziehen. Veränderungen in den Berührungsbewegungen wie das plötzliche Zurückziehen der Arme sind weder aus der Bewegung noch aus einer – wie auch immer konstruierten – Motivation zu erkennen. Als Momente der Virtualität bilden die Affekte einen Moment des Überschusses an Beziehungsmöglichkeiten, die sich nur teilweise in ihren Effekten, in den sich aktualisierenden Bewegungen ausdrücken.
E motionale K onfigur ationen Stuart hat in ihren choreographischen Praktiken ein Konzept der emotional states entwickelt, das nicht von den inneren Gefühlen, sondern – wie bei Massumi und Stern – von den affektiven Dynamiken und Beziehungen ausgeht: »In states you work with oblique
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relations. The body is a field in which certain mental streams, emotions, energies and movements interact, betraying the fact that interactions and states are separate.«33 States sind dabei weder auf ihrer »emotionalen« noch auf ihrer »physikalischen« Ebene eindeutig, sie werden in den Arbeiten Stuarts durch Übungen und Techniken hervorgerufen und verändert. In ihrer Übung Change geht es gerade um den abrupten Wechsel: Wie lassen sich schlagartig und vorgegeben durch den äußeren Befehl »Change« neue, nicht vorbereitete states erzeugen? Gehmacher, der das Konzept der states 1996 bei einem Workshop mit Stuart kennengelernt hat, grenzt dieses noch einmal explizit von jenen Konzepten der Repräsentation innerer Emotionen, wie sie im modernen Tanz zu finden sind, ab: »Today I would say that states are a different way of trying to understand feelings; that is, the feelings you have and how you embody them. The modern dance tradition aimed to evoke and represent emotions, whereas states seen more related to feelings or rather the concept of the ›felt sense‹. Feelings come and go, you cannot always name them; sometimes many feelings are present at the same time. Feelings dwell in the realm of uneasieness, anxiety or desire – perhaps these terms are too big, but they tie states to a ›felt sense‹, to sensorial issues physical existence, to sensation without addressing them immediately in a theatrical or psychological sense.« 34
In den Beschreibungen von Stuart und Gehmacher wird deutlich, dass die emotional states quer zu Konzepten der Konstruktion oder der Darstellung von Emotionen verlaufen, in ihrer Bewegung zwischen Affekt und Emotion durchbrechen sie diese Konzepte und finden ihren Ausdruck gerade im Zusammentreffen und der Relation verschiedener Ebenen und Elemente der Aufführung. States entstehen nicht in einem Individuum, sie bilden kein innerliches Gefühl, als »felt sense« durchziehen sie die Körper, sie »kommen 33 | Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?, S. 21. 34 | Philipp Gehmacher in: Ebd., S. 22.
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und gehen«, ohne dass sie zwangsläufig in der emotionalen Repräsentation aufgehen. Wie die emotional states durchziehen die Affekte der Berührung die Körper der Tanzenden, sie sind aber zugleich auch Bewegungen des Ausdrucks. Der Affekt lässt sich dabei nicht auf den Bereich des Virtuellen beschränken, er drängt zur Aktualisierung, einem Ausdruck in der Emotion. Der Bereich der Emotionen, als Teil sprachlicher, kultureller und diskursiver Strukturen ist kein distinkter Teil der Berührung: Die Bewegungen des Affekts übertragen sich in den Bereich der Emotionen, dort erstarren sie nicht, sondern lassen die Emotionen selbst zu Momenten der Bewegung werden. Die Berührung ist somit nicht nur in ihrem Ausdruck, ihrer Intensität bzw. Dynamik als affektiv zu beschreiben, sondern auch auf der Ebene des Inhalts, der Emotion, wobei – wie Deleuze und Guattari anmerken – »der Ausdruck nicht weniger Substanz hat als der Inhalt und der Inhalt nicht weniger Form als der Ausdruck«.35 Emotionen sind Konfigurationen der Affekte im Bereich der Subjekte oder andersherum formuliert: In den Aktualisierungen der Affekte entsteht das Subjekt als ein emotional fühlendes.36 Diese Prozesse sind dabei nicht auf den Akt der Aufnahme und der Internalisierung zu reduzieren, es wird kein bereits bestehendes 35 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 65. Vgl. zum Verhältnis von Inhalt und Ausdruck in Bezug auf Sterns Vitalitätsaffekte: Erin Manning: Always More Than One. Individuation’s Dance. Durham u. London: Duke UP 2013, S. 7. 36 | »An emotion is a subjective content, the sociolinguistic fixing of the quality of an experience which is from that point onward defined as personal. Emotion is qualified intensity, the conventional, consensual point of insertion of intensity into semantically and semiotically formed progressions, into narrativizable action-reaction circuits, into function and meaning. It is intensity owned and recognized. It is crucial to theorize the difference between affect and emotion. If some have the impression that affect has waned, it is because affect is unqualified. As such, it is not ownable or recognizable and it is thus resistant to critique.« (Massumi: Parables of the Virtual, S. 28).
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Subjekt mit Affekten ›angereichert‹, sie sind vielmehr emotionale Settings, Konfigurationen des Ausdrucks und der Beziehung. Dabei bilden weniger die einzelne Tänzerin oder der einzelne Tänzer den Ausgangspunkt als die Berührung zwischen ihnen. Diese ist keineswegs als isoliert zu betrachten, erst in den vielfältigen Verknüpfungen von Raum, Bewegung, Licht etc. entstehen jene Emotionen, die Langer als balletic (im Gegensatz zu personal) beschreibt.37 Hier werden Emotionen erzeugt, die sich keiner einzelnen theatralen Einheit – einer Tänzerin, einem Tänzer, einer bestimmten Berührung oder Bewegung, einer musikalischen Einspielung oder einem Element des Bühnenbildes – zuordnen lassen. Und sie sind auch nicht durch jene kategorialen Schemata zu beschreiben, mit denen im Anschluss an Charles Darwin immer wieder Emotionen und ihre Ausdrucksweisen klassifiziert wurden.38 Als emotional states bilden sie vielmehr relationale Gefüge, die sich durch die Körper der Tänzerinnen und Tänzer hindurchziehen. Wie die Affekte lassen sich auch die Emotionen – im Sinne von Konfigurationen oder states – nicht ausschließlich aus der Narration erklären. In Maybe Forever geht es nicht um das Werben eines Liebenden um die Geliebte und auch nicht um die Trauer einer oder eines Verlassenen. Doch ebenso wenig lassen sich die Emotionen als die Unterbrechung einer (Liebes-)Geschichte beschreiben, sie sind nicht der Einbruch des Gefühls in eine ansonsten rein rationale Erzählstruktur. Die Emotionen bilden in ihren Bewegungen, 37 | Vgl. Langer: Feeling and Form, S. 183. 38 | Verschiedene emotionstheoretische Ansätze gehen in der Folge Darwins von einer Reihe menschlicher Emotionen aus, die sich anhand unterscheidbarer Gesichtsausdrücke am menschlichen Körper ablesen lassen. So beschreibt bspw. Paul Ekman Emotionen wie Angst, Wut, Freude, Ekel u.a. als distinkte Basisemotionen (vgl. Paul Ekman: »Basic Emotions«, in: Tim Dalgleish und Mick Power (Hg.): Handbook of Cognition and Emotion, Sussex: John Wiley & Sons 1999, S. 45-60. Siehe auch: Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und bei den Thieren, Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung 1872).
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ihren Veränderungen und Transformationen selbst Verläufe, Linien und Kettungen differenzieller Ereignisse. In ihrer Bewegung erschöpfen sich die Emotionen niemals gänzlich in sich selbst, sie drängen zu etwas anderem, einer ständigen Transformation, und so sind auch die emotionalen Konfigurationen in Maybe Forever und the fault lines keine abgeschlossenen Geschehnisse, sondern Potenzialitäten: »Die szenische Emotion verbleibt dagegen im Zittern, im Oszillieren des Potentiellen – nicht aktual, nicht präsent, sondern potentiell, in markierter Absenz.«39
I L ove To You In Maybe Forever werden immer wieder Fragmente einer (vergehenden) Liebesbeziehung dargestellt. Die Annäherungen, das gemeinsam Erlebte, die Nähe, die (kleinen) Kämpfe, das Ringen und zuletzt die Vereinzelung, all das, durchbrochen von Textfragmenten, die aus einer anderen, vergangenen Zeit zu kommen scheinen, sind Momente einer geradezu stereotypen heterosexuellen Paarbeziehung. Und doch geht sie nicht einfach in einem Abbild, einer Repräsentation oder einer linearen Narration auf, sondern überschreitet und verschiebt diese immer wieder. Diese allzu bekannten Gesten, ihre Übertragung auf die Bühne, und die damit einhergehenden Wiederholungen, Verfremdungen und Verschiebungen lassen die Bewegungen oftmals unheimlich wirken, unheimlich jedoch nicht, weil sie anders oder fremd sind, sondern, so führt Laermans im Anschluss an Freud aus, allzu vertraut wirken: »The spectator does, indeed, recognise these intimate movements or gestures, but she or
39 | Krassimira Kruschkova: The Fault Lines der Berührung, o.J. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.philippgehmacher.net/assets/documents/Kruschkova_TheFaultLines_2011_12_dt.pdf, S. 3.
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he cannot acknowledge them – or is unwilling to do so – as personal possibilities, as part of her or his individuality.« 40 Diese Verwendung von alltäglichen Bewegungen, ihr Herauslösen aus den Erfahrungen des Alltags und ihre Übertragung auf die Bühne – Brandstetter zieht in diesem Zusammenhang die Analogie zu Duchamps »Readymades«41 – zeigt nicht nur die Konstruiertheit der menschlichen Bewegungen auf, auch die damit verbundenen Emotionen sowie ihr Ausdruck werden durch Stuart als gesellschaftlich geformt verhandelt. In den Bewegungen, vor allem in ihren Interaktionen entsteht ein Pathos, »dessen Affekt-Ausdruck dennoch nicht entzifferbar ist. Es ist die Bewegung eines Affekts unter hoher Pression, die irgendwo stecken bleibt, wie unter Druck sich deformiert, befremdet und in ein unbekanntes Raum-KörperGefüge entweicht«.42 Dieses Pathos ist kein klar geformtes inneres Gefühl, es ist überhaupt nicht innerlich, sondern entsteht und verändert sich gerade in den Interaktionen und in den Beziehungen zwischen den Tänzerinnen und Tänzern und zwischen Tanzenden und Publikum. Es ist körperlich, ohne dabei auf einen körperlichen Ursprung zurückgeführt werden zu können. Auch die Konfigurationen der Liebe bilden, wie das Pathos, keineswegs die natürliche Basis von Beziehungen, sondern sind nur im Zusammenspiel vielfältiger Bewegungen zu analysieren. Inwieweit stellen die Berührungen der Tänzer/innen in Maybe Forever solche Konstrukte dar, und inwieweit werden letztere aufgebrochen
40 | Rudi Laermans: The Uncanny Art of Meg Stuart & Damaged Goods, 2000. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.trete.no/uncannyart.html. 41 | Zum Begriff des »Readymade« in den choreographischen Arbeiten Stuarts siehe: Gabriele Brandstetter: »Figur und Placement«, in: Hermann Danuser (Hg.): Musiktheater heute. Internationales Symposion der Paul-SacherStiftung Basel 2001, Mainz: Schott 2003, S. 310-326. 42 | Dies.: »Tanzwissenschaft im Aufwind. Beitrag zu einer zeitgenössischen Kulturwissenschaft«, in: Theater der Zeit, Dezember 2003, S. 4-11, hier: S. 11.
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Abb. 5: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: Maybe Forever (2007) und in Frage gestellt? Welche Formen der Liebesbeziehung entstehen, wenn die Tänzer/innen sich annähern und entfernen, wenn sie zu einem Rhythmus, zu einer »relation-of-nonrelation«43 wird? Die kleinen Gesten in Maybe Forever, jene Berührungen, die im Alltag die Intimität innerhalb einer Liebesbeziehung herstellen, wirken auf der leeren Bühne ein wenig zu groß – sie scheinen verschoben, verfehlt, unter- oder abgebrochen. Die Bewegungen der Tänzer/innen sind angespannt, zu angespannt, als dass sie einen Eindruck von Zärtlichkeit erwecken könnten. Das liebevolle Streicheln über den Arm der/des anderen eröffnet nicht die Möglichkeit weiteren Kontakts, sondern führt zu einer Distanz zwischen den beiden Körpern. Und auch das zärtliche Umfassen der Handgelenke, das zunächst wie ein vertrautes Spiel zwischen Verliebten wirkt, erscheint schnell gewalttätig, eine Gewalt, die jegliche vorangegangene Assoziationen von Zärtlichkeit zerstört. Stuarts Ausstrecken der Arme, um Gehmachers Körper zu berühren, bleibt vor allem eins: unbestimmt. Stellt es den Kontakt zu seinem Körper her oder hält es ihn auf Abstand? Wenige Szenen vorher: der Versuch einer 43 | Vgl. zum Konzept der »relation-of-nonrelation«: Massumi: Semblance and Event, S. 20.
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Umarmung, bei der Stuart ihren Kopf und Oberkörper in die ihr entgegengestreckten Arme Gehmachers schiebt, sein Angebot der Umarmung annimmt und ihrerseits ihren Arm um seinen Hals legt. Doch unterbricht sie die Bewegung des Sich-in-die-Umarmung-Hineinbegebens nicht, sie verbleibt nicht in seinen Armen, sondern setzt ihre Bewegung fort, bis sich ihre Körper wieder voneinander entfernt haben. Diese zögerlichen Bewegungen, die in den Berührungen der beiden Tänzer/innen erscheinenden Momente der Trennung sind keine Unterbrechungen ihrer Beziehung zueinander, sie sind die Infragestellung des dargestellten konventionellen Beziehungsmodells und zugleich die Möglichkeitsbedingung für eine Liebesbeziehung jenseits von Einheit und Unmittelbarkeit. Die Beziehung, die sich in den Berührungen der beiden Tänzer/innen in Maybe Forever ereignet, ist durch jene Momente bestimmt, die weiter oben auch als Charakteristika der Berührungen beschrieben wurden: Momente des Zögerns, des Zweifelns, des Trennens und sich Distanzierens. Ist es die Scham davor, der/dem anderen zu nahe zu kommen und sie/ihn zu verletzen? Oder die Angst, zu viel des eigenen Körpers und seiner Intimität zu offenbaren, den Körper zu sehr zu öffnen? Die Distanz in der Berührung – das Zögern und Zurückweichen – ist, wie Nancy ausführt, konstitutiv für die Liebesbeziehung, deren Liebe zwar immer schon zerbrochen ist, die aber gerade darin die Möglichkeit besitzt, sich für die/den andere/n zu öffnen.44 In der Öffnung entsteht die Möglichkeit des Zusammenkommens von Singularitäten, ohne zu einem Ganzen zu verschmelzen, das immer auf Einheit, Vereinnahmung und Ausschluss von Differenz basiert. Dass diese imaginierte Einswerdung nicht nur ein Phantasma eines männlichen Universalismus und Absolutheitsanspruchs ist, sondern ebenso sehr die patriarchale Vorherrschaft in den Beziehungskonzepten sichert, hat Luce Irigaray in ihrem Buch I Love To 44 | Vgl. Jean-Luc Nancy: »Shattered Love«, in: A Finite Thinking, Stanford: Stanford UP 2003, S. 245-274.
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You aufgezeigt. Wie auch Nancy fordert Irigaray eine Weise der Liebe, die nicht auf der Einswerdung (Vereinnahmung der Liebenden durch den Mann) basiert, sondern als die Kommunikation zwischen zwei Liebenden verstanden wird. »I Love to you means I maintain a relation of indirection to you. I do not subjugate you or consume you.«45 Liebe wird von Irigaray somit nicht mehr als ein Zustand der Einheit und der Eindeutigkeit verstanden, Liebe bezeichnet gar keinen Zustand mehr. Liebe ist hier keine Emotion eines Subjekts (Mann), die sich auf ein Objekt (Frau) richtet, die Liebe ist hier die Berührung, die Relation, die sich in ihren Bewegungen ereignet: In der Distanz wenden sich die beiden Liebenden ›zu‹ (to) einander, sie artikulieren sich, und nähern sich somit einander an (eine Bewegung, die, wie weiter oben gezeigt, immer eines Abstands zur/zum anderen bedarf). Es ist diese von Irigaray beschriebene Bewegung der Hinwendung, die hier eine Beziehung der Liebe ermöglicht, ohne dabei zu vereinnahmen und die Einzigartigkeit der/des anderen zu zerstören. Auch bei Nancy lassen sich diese Beschreibungen der Liebe als eine Bewegung finden, allerdings nicht als eine Bewegung zweier Individuen (ein Mann, eine Frau), sondern als eine Bewegung, die vielmehr jene Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, allgemeiner: Konzepte individueller Einheiten durchkreuzt.46 Die Liebesbeziehung ist, so Nancy, »nothing other than 45 | Luce Irigaray: I Love to You. Sketch for a Felicity Within History. London u. New York: Routledge 1996, S. 109, Herv.i.O. 46 | Nancy beschreibt die Liebe als etwas, das die Grenzen der Subjekte, vor allem ihre geschlechtliche Bestimmtheit durchkreuzt und somit in Frage stellt. »It [the love, G.E.] is sexual, and it is not: it cuts across the sexes with another difference (Derrida, in Geschlecht, initiated the analysis of this) that does not abolish them, but displaces their identities. Whatever my love is, it cuts across my identity, my sexual property, that objectification by which I am a masculine or feminine subject.« (Nancy: »Shattered Love«, S. 266). Auch Gehmacher formuliert im Kontext seiner 2011 entstandenen Arbeit grauraum mit Egon Schiele sein Interesse an sexueller Differenz jenseits klarer Mann-Frau-Einteilungen, wenn er unter dem Titel Umarmung fragt: »Wie
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the coming-and-going. The other comes and cuts across me, because it immediately leaves for the other: it does not return to itself, because it leaves only in order to come again.« Diese Beziehung der Liebe ist eine Bewegung, eine Bewegung der Berührung, die immer auch den Körper (und das Herz) der/des anderen auf bricht, ohne ihn jedoch völlig in seiner Form und damit in seiner Singularität zu zerstören: »This crossing breaks the heart: […] The break is nothing more than a touch, but the touch is not less deep than a wound.«47 Die Bewegung der Liebesbeziehung ist ein Rhythmus der Annäherung und des Entfernens, eine Bewegung, die weder ihr Ziel erreicht hat, noch sich linear auf ein bestehendes Ziel zubewegt, die Liebe ist immer eine Bewegung des Ankommens, »[v]ielleicht selbst dann, wenn sie geht und auch, wenn sie zurückkommt«.48 In den Bewegungen der Berührung konfiguriert sich die Relation als eine Liebesbeziehung. Ihre je spezifischen Aktivierungskonturen, ihre Affekte konfigurieren diese Beziehung der Liebe nicht als eine vereinnahmende, sondern als eine differente und vielfältige – als eine Figur in Bewegung. Diese Liebe ist keinem Subjekt, auch keiner theatralen Figur zuzuschreiben, sie ist ein vorsubjektiver Affekt. In Maybe Forever gibt es kein Werben und keine Liebesgeständnisse, diese Liebe ist vielmehr eine Konfiguration der Relationen. Die affektiven Dynamiken und Intensitäten ihrer Bewegungen aktualisieren sich in der Aufführung in einer Relation, die sich einerseits mit dem Begriff der Liebesbeziehung beschreiben lässt, die aber andererseits gerade diesen Begriff hinterfragt und treffen (die) heutige(n) Körper aufeinander? Wer hält hier wen? Wer will hier mit wem verschmelzen? Und noch bleiben sie im Abbild immer zwei.« (Philipp Gehmacher: »Umarmung«, in: Elisabeth Leopold und Diethard Leopold (Hg.): Egon Schiele. Melancholie und Provokation, Wien: Brandstätter 2011, S. 288). 47 | Nancy: »Shattered Love«, S. 262. 48 | Ders.: »Ereignis der Liebe«, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld: transcript 2003, S. 21-36, hier: S. 21.
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verschiebt – obwohl oder gerade weil sie sich eindeutigen Formen der Nähe oder Intimität entziehen. Ihre Berührungsbewegungen sind nicht eindeutig spezifischen Emotionen zuzuordnen, denn diese für die Liebesbeziehung sowie die Bewegungen notwendige Distanz zwischen den beiden Tänzer/inne/n bricht diese Eindeutigkeit auf und lässt in ihren Berührungen nicht nur Zuneigung und Zärtlichkeit, sondern auch Momente der Scham und Angst entstehen. Begriffe wie Freude oder Trauer können hier zwar immer wieder den Beschreibungen der Berührungen dienen, doch wird eine kategoriale Zuordnung unmöglich, wenn die Berührungen nicht einfach als Ausdruck der Zuneigung zur/zum anderen oder als die Angst um ihren/seinen Verlust verstanden werden. So schreibt Roland Barthes über die komplexe, fragmentierte Konfiguration der Liebe: »[S]ie ist die Furcht vor einer Trauer, die bereits stattgefunden hat, von Anbeginn der Liebe an, von dem Augenblick an, da ich hingerissen war.«49 Die Konfiguration der Liebe lässt sich hier nicht in den Begriffen distinkter Emotionen beschreiben,50 sie bildet vielmehr eine vielfältige emotionale Beziehungskonstellation zwischen den Tanzenden, aber auch zwischen den anderen Elementen der Aufführung, wie dem Bühnenraum, dem Licht, der Musik oder den gesprochenen Textfragmenten. Diese emotionale Unbestimmtheit bildet jedoch keinen konzeptuellen Mangel oder eine pathologische Störung, sie ist vielmehr der Ausdruck jenes Affekts, der die patriarchalen Konzepte konventioneller Liebesbeziehungen übersteigt und damit in Frage stellt.
49 | Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 42. 50 | Gerade im Kontext bestehender Bestrebungen der Klassifikation von Gefühlen kommt regelmäßig die Frage auf, ob Liebe überhaupt eine Emotionen bildet oder ob es sich nicht lediglich um einen Trieb, ein soziales Konstrukt oder ein Konglomerat diverser Gefühle handelt. Vgl. hierzu: Christoph Demmerling und Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart u. Weimar: Metzler 2007, S. 127-130.
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Es ist der Affekt in der emotionalen Konfiguration der Liebesbeziehung, der noch keine Form besitzt, der einerseits als Potenzialität die Geformtheit der Beziehung auf bricht, diese aber andererseits erst möglich macht. In der Distanz zur/zum anderen entsteht eine Öffnung, die es ermöglicht von ihr/ihm berührt zu werden, in der sich affektive Relationen ereignen können, ohne diese Lücke zu schließen oder die Beziehung zu formen. So wie die Distanz nicht statisch, sondern Teil der Bewegung zwischen den Tänzer/inne/n ist, sind auch die Momente der Potenzialität nicht von Dauer, sie drängen zur Form, zu ihrer Aktualisierung und binden sich nicht jenseits herrschender Diskurse. Liebe ist hier – als affektive Dynamik und emotionale Konfiguration – eine Bewegung. Weder die Liebesbeziehung noch der Tanz soll als Möglichkeit verstanden werden, diesen heteronormativen Praktiken zu entkommen, und doch werden diese verändert, aufgebrochen und ihre sozialen Konfigurationen der Emotionalität verschoben.
M el ancholische P otenzialitäten Die Beziehung der beiden Tänzer/innen in Maybe Forever bildet nicht nur eine der Liebe, sie ist ebenso bestimmt von Momenten der Melancholie. Diese stehen sich dabei nicht als zwei entgegengesetzte Pole einer narrativen Wandlung entgegen, sie sind vielmehr unterschiedliche Dimensionen sich stetig ändernder Emotionsgefüge. Schon zu Beginn der Aufführung, wenn die beiden Tänzer/innen vor Dunkelheit kaum erkennbar sind, entsteht ein Gefühl von Unverfügbarkeit und Entzug. Wie eine vage Erinnerung oder ein noch unartikulierter Wunsch erscheinen für kurze Momente die beiden Körper von Stuart und Gehmacher auf der Bühne. Erst langsam sind ihre Konturen, ihre Bewegungen und Berührungen klarer zu erkennen – und bleiben dabei im schwachen Licht der Bühne entrückt. Wenn Stuart wenig später ans Mikrofon tritt und ihre Erinnerungen an eine vergangene Liebesbeziehung aufzählt, so lassen sich diese als melancholische Erinnerungen beschreiben. Und
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auch wenn Gehmacher am Ende der Aufführung mit gebrochener Stimme von Verlust und Traurigkeit spricht, wie sehr er die andere Person vermisst, dann ist dies ein weiterer Moment in einer Narration, die bestimmt ist von Trauer und Melancholie. Doch geht das, was hier als Konfiguration des Melancholischen in Maybe Forever beschrieben werden soll, über die narrative Erzählung hinaus: Es sind ebenso die aus der Mode gekommenen Kostüme, das Bühnenbild mit dem alten Teppichboden und den schweren Vorhängen sowie die langsame und traurige Musik, die das Geschehen in eine unerreichbare Vergangenheit entrücken, aus der zu entkommen es zugleich unmöglich erscheint. Vor allem aber sind es die Bewegungen der Berührung, ihr Stocken und Zaudern, das die Melancholie nicht als ein Gefühl subjektiven Verlustes, sondern als eine Beziehung zwischen den Tänzer/inne/n, aber auch zu ihrem ›Ort‹ auf der Bühne konfiguriert. Giorgio Agamben geht in dem ersten Kapitel seines frühen Buches Stanzen51 jenen historischen Konvergenzen, Vergleichen und Durchdringungen nach, die seit dem Mittelalter zwischen dem Temperament der Melancholie und der sündhaften Acedia hergestellt wurden. Die vor allem unter Mönchen vorzufindende Acedia, der Mittagsdämon bzw. die »Trägheit des Herzens« (Walter Benjamin)52 ist dabei nicht nur von Untätigkeit bestimmt, ihr werden zudem auch eine Traurigkeit und ein Mangel zugeschrieben. Sie ist ein »schwindelndes, geängstigtes Sich-Zurückziehen des Menschen von der Bürde seiner Gotteskindschaft« und damit eine »entsetzte Flucht vor dem schlechthin Unausweichlichen […],[…] ein tödliches Übel und mehr noch, sie ist die Krankheit zum Tode schlechthin«.53 Mit den von Agamben zur Beschreibung der Trägheit und Schwermut der Seele verwendeten Begriffen wie »harrend«, »er51 | Giorgio Agamben: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2005, S. 23-56. 52 | Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 134. 53 | Agamben: Stanzen, S. 27.
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schöpft«, »unruhig schweifend«, »sich zurückziehend«54 lassen sich nicht nur Gemütszustände beschreiben, sie können ebenso zur Charakterisierung von Bewegungen dienen. Das Innehalten, die Ablenkung und die Verlangsamung der Bewegungen bei Stuart und Gehmacher bilden somit Bewegungen der Trägheit und der Schwermut. Wie schon weiter oben für die Beziehungen der Liebe und ihre spezifischen Bewegungskonstellationen argumentiert, dienen auch diese Bewegungen keinem Ausdruck innerer Gefühle, sie sind nicht die Folge einer melancholischen Stimmung der Tänzer/innen, vielmehr konfiguriert sich ihre Beziehung gerade in den trägen Bewegungen als eine melancholische. In ihr gibt es keine Aufteilung eines trauernden Subjekts und eines betrauerten Objekts, vielmehr ist die Beziehung selbst – als eine Bewegung und eine Berührung – die Szene des Melancholischen. In ihr falten sich Trauer und Betrauertes ineinander. Die Beziehung kann sich nicht (mehr) als eine direkte und unmittelbare ereignen und zugleich ist es diese Unmöglichkeit, die die Bindung als eine distanzierende herstellt.55 In den spezifischen Dynamiken der Bewegungen und ihren Interferenzen der Berührung aktualisieren sich die affektiven Intensitäten zu melancholischen Gefügen. Diese Melancholie der Bewegung ist nicht auf ein betrauertes Objekt gerichtet, die Möglichkeit der Bewegung selbst, ihre natürliche Gegebenheit zu sein, ist verloren gegangen. Vor allem Gehmachers Bewegungen lassen sich als Momente der Schwermut und ihrer Überwindung und we54 | Ebd., S. 23-27. 55 | Die Lösung der Trauer in der Melancholie von Ihrem Objekt ist ebenso – wenn auch in einer etwas anderen Weise – in Freuds zentraler Unterscheidung von Trauer und Melancholie zu finden. Ist die Trauer auf ein bewusstes und klar bestimmbares Objekt gerichtet, so ist dieses bei der Melancholie nicht vorhanden bzw. unbewusst. Diese Aufteilung kommt in dem folgenden Zitat Freuds deutlich zum Ausdruck: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« (Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: Gesammelte Werke Bd. 10. Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 429-446, hier: S. 431).
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niger als Form einer emphatischen Bewegungslust beschreiben. Sie sind »Gesten melancholischer Selbstvergessenheit«56, wie Krassimira Kruschkova es nennt. Doch führt diese Melancholie der Bewegung nicht zu einem Verharren, nicht zum Stillstand, es ist gerade ihr Entrückt-Sein, die Unstimmigkeit mit sich selbst und den anderen Bewegungen, die sie zu immer neuen Bewegungen antreibt, oder, um es anders auszudrücken: Die affektiven Dynamiken der Bewegung erstarren nicht in ihrer Aktualisierung, sondern drängen zu neuen und anderen Bewegungskonstellationen. Es sind die Berührungsbewegungen, die sich hier auf sehr spezifische Weise konfigurieren: Gerade in der immer wieder auftretenden Unmöglichkeit der Berührung, wie sie anhand der Parallelbewegungen von Stuart und Gehmacher am Ende des Stücks zu sehen ist, werden sie zu einer Beziehung, der immer auch Momente der Distanz inne wohnen. Auch die Melancholie besitzt keine distinkte Form. Sie ist nicht in ein klares Schema bestimmbarer Basisemotionen einzuordnen, sie ist vielmehr selbst das Zusammenkommen verschiedener emotionaler Zustände: Angst vor Verlust, Zorn gegenüber »Schuldigen« und natürlich eine nicht vergehende Liebe zum Vermissten. Es ist die paradoxe Beziehung ohne Objekt, eine Relation ohne Relata, bestehend aus Bindung und Trennung, eine Beziehung ungerichteter Berührungen, die sich in der Bewegung ereignet. Sie ist – wie Benjamin formuliert – eine »motorische Attitüde«.57 56 | Vgl. hierzu: Krassimira Kruschkova: »Die eigene Leerstelle feststhalten«, in: Herbst, 2010, S. 120-123, hier: S. 121. 57 | Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 120. Die paradoxe, spannungsvolle und ambivalente Struktur der Melancholie wird in vielen Texten zur Melancholie thematisiert. So schreibt bspw. Benjamin über die Trauer als eine »Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen in ihrem Anblick zu haben.« (Ebd., Herv.G.E.) Freud beschreibt das Fehlen eines bewussten Objekts in der Melancholie als Möglichkeit dafür, dass sie in Hass gegen sich selbst umschlagen kann, und damit als einen Ambivalenzkonflikt: »Dieser Ambi-
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In der Melancholie löst sich die Einheit der Aufführung, die Linearität ihrer Zeit und ihrer Bewegungskompositionen auf. Maybe Forever widersetzt sich einem gerichteten und linearen Konzept der Bewegungen. Bewegung ist hier weder auf ein Objekt gerichtet, noch geht sie von einem Subjekt aus. Subjekt und Objekt werden hier selbst zu Bewegungen – zu temporären Schneisen in einem melancholischen Gefüge ungerichteten Strauchelns.58 Immer wievalenzkonflikt, bald mehr realer, bald mehr konstitutiver Herkunft, ist unter den Voraussetzungen der Melancholie nicht zu vernachlässigen. Hat sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzißtische Identifizierung geflüchtet, so beträgt sich an diesem Ersatzobjekt der Haß indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht und an diesem Leiden eine sadistische Befriedigung gewinnt.« (Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 437f.) Agamben zeichnet eine »grundsätzliche Doppeldeutigkeit« des »Mittagsdämons« in den Texten des Mittelalters nach: »Da ihr Verlangen fest auf das gerichtet bleibt, was sich unerreichbar gemacht hat, ist die Acedia nicht nur eine Flucht vor…, sondern auch eine Flucht nach…, die mit ihrem Objekt in der Form der Negation und des Mangels kommuniziert. Gleich jenen Vexierbildern, die einmal so, dann wieder anders gedeutet werden können, zeichnet jeder ihrer Züge in seinem Hohlraum die Fülle dessen nach, wovon sie sich zurückzieht, und jede Geste, die sie in ihrer Flucht vollzieht, steht ein für die Festigkeit des Bandes, das sie aneinanderschmiedet.« (Agamben: Stanzen, S. 30, Herv.i.O.). 58 | Judith Butler beschreibt eine dieser Schneisen als die Wendung des Ichs zu sich selbst. Die Melancholie ist auch bei Butler eine dem Ich vorgängige und zugleich über es hinausweisende Bewegung: Dieses wendet sich vom Objekt ab und sich selbst zu. »[E]rst durch Rückwendung gegen sich selbst erlangt das Ich überhaupt den Status eines Wahrnehmungsobjekts. […] Die Wende vom Objekt zum Ich bringt das Ich hervor, das an die Stelle des verlorenen Objekts tritt. Diese Hervorbringung ist eine tropologische Generierung und folgt aus dem psychischen Zwang zur Ersetzung des verlorenen Objekts. In der Melancholie tritt also nicht nur das Ich an die Stelle des Objekts, sondern dieser Akt der Ersetzung begründet das Ich als notwendige Antwort auf oder als ›Verteidigung‹ gegen den Verlust.« (Judith Butler: Psyche
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der werden die Bewegungen der Aufführung unterbrochen, mal durch Momente des Zögerns, mal durch das Ausbrechen eines »Bewegungssturms«, in dem keine Richtung, kein Verlauf mehr vorgegeben ist. In beiden Fällen löst sich die vorwärts gewandte Direktionalität der Bewegung auf und vervielfältigt ihre Gerichtetheit. Der Bewegungssturm ist vor allem ein Wirbel der Richtungen, eine Mannigfaltigkeit von Kräften, die sich weder in eine Bewegung noch in den absoluten Stillstand auflösen lässt. Diese Mannigfaltigkeit der Richtungen verändert auch die Relationalität der Bewegungen. Bewegen ist hier nicht das emphatische Auf-einen-Gegenstand-zu-Bewegen, es ist auch nicht die Abwendung von diesem, sondern vielmehr das spannungsvolle Verhältnis der Bewegungen selbst, ein Straucheln, das es unmöglich macht, die Bewegung auf einen Gegenstand bzw. ein Objekt zu beziehen, eine Verwiesenheit ohne Richtung, die Mannigfaltigkeit unbestimmter Tendenzen. Die potenziell-melancholischen Zustände (states) in der Aufführung lassen sich weder auf die Tanzenden und ihre subjektiven Gefühle beschränken noch bilden sie eine eindeutige Stimmung der Aufführung. Als ein relationales Gefüge des Zauderns durchbricht die Melancholie die Linearität und Gerichtetheit der Bewegungen. Dabei steht der (Un-)Möglichkeit rückwärtsgewandter Beziehungen nicht einfach das Versprechen mannigfaltiger Möglichkeiten in der Zukunft gegenüber. Hier falten sich Vergangenes und Zukünftiges so ineinander, dass die Möglichkeit einer anderen Vergangenheit entsteht. Als eine Assemblage von Beziehungen, die auf einen Moment unzeitlicher Unverfügbarkeit verweist, lässt sich auch the fault lines beschreiben. In einem komplexen Setting, dass nicht nur die Bewegungen und Berührungen der Tänzer/innen umfasst, sondern ebenso die technischen und medialen Apparate, radikalisiert sich ein Begriff der Melancholie, der nicht mehr auf ein vergangenes
der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 158, Herv.i.O.).
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Abb. 6: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: the fault lines (2010) Objekt verweist, sondern die lineare Chronologie der Gerichtetheit selbst hinterfragt. Ausgehend von dem Titel des Stückes fragt Kruschkova nach den Möglichkeiten eines a-chronischen Verlusts. »Fault lines: etwas wird da geschehen sein und die tektonischen Risse zwischen den Körpern, zwischen den Medien werden es – gerade in ihrer paradoxen Leere – rekonstruieren, erinnern. Anfangs flirrt bereits ein Dispositiv des Gewesenen, das auch ganz anders gewesen sein könnte, gewesen sein wird.«59 Etwas wird zerbrochen sein: Es ist die Zukünftigkeit einer Vergangenheit in der Gegenwart, in der eine Potenzialität der Melancholie erscheint, die sich jeglicher linearen Narrativierbarkeit entzieht. The fault lines der Berührung: Eine Berührung wird sich ereignet haben, sie hat noch nicht stattgefunden, es gab keine unmittelbare Beziehung, keine emphatische Bewegung; und doch ist sie – potenziell – Teil der Relationen in the fault lines. 59 | Kruschkova: The Fault Lines der Berührung, S. 1.
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The fault lines: Das Erreichen des Ziels wird unmöglich geworden sein. Die Richtungen werden sich vervielfältigt haben. Noch ist unklar, wo die Bewegung hinführt und es bleibt lediglich das Straucheln und das Zögern. Move without direction. Move in every direction at once. Diese Bewegungen konfigurieren die Assemblagen der Aufführung, ihre rhizomatischen Verknüpfungen als melancholische: eine spannungsvolle Verwiesenheit, die sich weder in Einheit noch in absolute Entropie auflösen lässt. Dabei sind es nicht die einzelnen Elemente, weder der glitzernde Vorhang, der sich am Ende über die Aufnahme der beiden Tänzer/innen legt, noch die begleitende Musik, weder der tastende Scheinwerfer-Beamer noch die hadernden Bewegungen der Tänzer/innen, die hier die Formen oder gar Zeichen der Melancholie bilden. In ihren entrückten Beziehungen, den (un-)möglichen Berührungen und den vielfältig sich verknüpfenden und distanzierenden Bewegungen erscheinen die emotionalen Gefüge jenseits von Einheit und Kohärenz. Melancholie ist vielmehr jene spezifische balletic emotion (Langer), die sich nur in der Relation, vor allem: in der Relation der Berührungsbewegung aktualisieren kann. The fault lines, eine potenziell-melancholische Berührungs-Assemblage.
3. Die Autonomie der Berührung
Berührungen sind Bewegungen, sie sind Ereignisse und Beziehungen, sie sind Empfindungen und sie sind affektiv, sie sind vor allem eins: körperlich. Eine Berührung ohne einen Körper, sogar ohne mehrere Körper ist unmöglich. Doch in welchem Verhältnis stehen die Ereignisse, die Empfindungen und die Affekte der Berührungen zu den Körpern? Sind die Tänzerinnen und Tänzer und ihre Körper bloße Akteurinnen bzw. Akteure der Berührungen, ihre »ausführenden Organe« oder werden die Körper selbst Teil dieser Prozesse? Auf welche Weise verändern, transformieren bzw. produzieren die Berührungen die Körper der Tanzenden auf der Bühne? Berührungen sind körperlich und doch führen nicht die Körper die Berührungen aus. Die Berührungen sind materielle Ereignisse, die die Körper in ihren je spezifischen Konfigurationen und ihren affektiven Rhythmen hervorbringen. Damit verschiebt sich nicht nur das Verhältnis zwischen den Berührungen und den Körpern, auch die Körper selbst verändern sich: Sie bilden keine gegebenen Einheiten mehr, sondern bewegen sich, sie sind prozessual und ereignishaft. Diese Prozesse der Materialisierung sind niemals abgeschlossen, sondern gerade durch ihren Bezug zum anderen wohnt ihnen ein Moment der Instabilität und Offenheit inne: »Touch manifests itself as material in an incomplete process of materialization. Materialization cannot be ›completed‹ through touch since touch necessitates a return that will always in some sense destabilize its initial commitment toward an other.«1 Berührungen und ihre 1 | Manning: Politics of Touch, S. 90.
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Körper sind weder unabhängig voneinander noch lassen sie sich in kausallogischen Beziehungen beschreiben – die Berührungen sind sowohl autonom als auch materiell. Wie verändert sich das Verhältnis und wie der Körper selbst, wenn die Berührung nicht mehr die Handlung eines ihr vorgängig existenten Körpers bildet? Welche Gefüge von Körpern entstehen, wenn die Berührung nicht aus einer, sondern aus mehreren Bewegungen besteht, und wie bilden die Körper selbst Gefüge von Berührungen? Welche körperlichen Konfigurationen werden in der Berührung möglich, wenn diese als autonome Prozesse betrachtet werden?
herses (une lente introduction) Schemenhaft sind zwei Tänzer/innen vor einem schwarzen Hintergrund zu erkennen. Langsam kommen sie nackt, Hand-in-Hand-gehend nach vorne. Bald lösen sich ihre Berührungen, die Körper drehen sich seitwärts, die Tänzer/innen bleiben stehen. Hinter ihnen ein dritter Tänzer, auch er nackt, zögerlich bewegt er sich nach vorne. Dort markiert eine erhobene L-formige Fläche den Bühnenboden. Einzeln stehen die Tanzenden – mittlerweile sind es vier – am Rande dieser Erhebung. Der Boden scheint – wie auch die nackten Körper – grünlich, eingetaucht in farbiges Licht oder aber verfärbt durch einen Filter der Kamera. Herses (une lente introduction) ist nicht nur ein Stück, uraufgeführt 1997 am Centre National Dramatique et Choréographique de Brest, es ist ebenso ein Film une lente introduction, entstanden 10 Jahre nach der ersten Aufführung. Zu sehen sind die Aufnahmen der Aufführung, jedoch geschnitten und ohne Ton, ein film muet, wie in dessen Vorspann zu lesen ist. Aus diesen recht vereinzelt wirkenden Positionen am Rand des Podestes streckt Boris Charmatz, Choreograph und einer der Tänzer/innen von herses, seine Hand nach Julia Cima aus, streicht langsam über ihren Hintern und hält sie am oberen Oberschenkel fest. Doch sie wendet sich ab, geht ein paar Schritte, während Charmatz in jener schon bei Stuart und Gehmacher beschriebenen Haltung mit ausgestreckten Armen hinter ihr verbleibt. Als
3. Die Autonomie der Berührung
Abb. 7: Boris Charmatz: herses (une lente introduction) (1997) Spur bleibt diese Berührung noch für einige Momente bestehen und verschwindet dann in den neuen Bewegungen der Tanzenden. Die vier Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich über das Podest, sie springen und hüpfen, bücken und strecken sich, als würden sie etwas (nur was?) aus dem Boden herausholen und in die Luft werfen; manchmal legen oder setzen sie sich. Alles erscheint sehr friedlich und harmonisch, geradezu zu friedlich. Ihre Gesten wirken wie Parodien auf jene »utopia of union«, die Charmatz in seinen Notes of intention zum Stück als »the melting of the individual for the good of nature« beschrieben hat. Die anderen beiden in herses verhandelten Utopien – jene des Paares und jene der idealen Gemeinschaft – werden später im Stück folgen. 2 Durch die Bewegungen und 2 | Vgl. zu den drei Utopien in herses Boris Charmatz‹ Notes of intention: »herses (a slow introduction) is a piece about contact, specifically about the confrontation – direct, ironic, or interactive – with certain concepts of utopia: 1, a natural utopia, that of the body, liberated and released into a world of green, sucked-up by the so-called essential forces, trees and flowers. Next, the utopia of the couple, the construction of one by the other (encompassing the durability of desire), a choreographic image both irritating and ar-
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verstärkt durch die Nacktheit der Tanzenden werden Cliché-Vorstellungen von Hippie-Gemeinschaften, die die Nähe zur Natur suchen, aufgerufen und zugleich gebrochen: In dem kalt und abstrakt gehaltenen Bühnenraum wirken diese Hinwendungen zur Natur verloren, geradezu hilflos. Zwischen den einzelnen Tänzerinnen und Tänzern entstehen zunehmend mehr Beziehungen. Zwei von ihnen strecken, beide am Boden sitzend, immer wieder ihre Arme nach den anderen aus, versuchen diese zu berühren, jedoch ohne dass es zum Körperkontakt kommt. Oder sie beginnen – zumindest zeitweise – ihre Bewegungen zu synchronisieren, stehen gemeinsam auf und laufen mit der immer gleichen Schrittfolge über die Bühne. Mit schwingenden Bewegungen nähert sich Charmatz der Tänzerin Myriam Lebreton an, streckt seine Arme nach ihrem Körper aus und hält doch kurz vor dem Kontakt mit ihr inne. Diese Distanz beibehaltend fährt er die Formen ihres Körpers mit seinen Händen ab, vom Kopf bis zu ihren Füßen und weiter über den Boden und zurück zu ihren Armen. Eine Umarmung deutet sich an. Diese kurze Szene löst sich jedoch schnell wieder auf, beide entfernen sich voneinander und gehen neue Konstellationen ein – gemeinsam strecken sie die Arme empor, als wollen sie sich der Sonne oder dem Himmel öffnen. Nun stehen alle vier Tänzerinnen und Tänzer am Rand des Podests, vereinzelt, diesmal den Blick nach außen und damit ins Schwarze gerichtet. Doch schon nach wenigen Augenblicken laufen sie los, erst eine, dann auch die anderen. Immer schneller rennen und hüpfen sie umeinander herum, ohne sich dabei zu berühren, entsteht eine Gemeinschaft, ein Schwarm – ohne erkennbare Ordnung und voll von Bewegungen. Im Moment der größten Ektase fallen sie und kommen zur Ruhe. Erneut sind Gesten des Grabens, des Pflanzens, des Sähens und des Erntens zu erkennen. Das Video wird abgeblendet, ein black markiert die Auslassung einiger Szenen. chetypal. Finally, the utopia of community, the body shared or intermingled, contacts that are impossible or shameful. These three ›utopias of union‹, and certain of their corollaries (the melting of the individual for the good of nature, of the couple or of the ideal community – the dream of an absolute and blinding coming-together – team spirit, escape, fusion!) give birth to a work performed by two couples.« (Boris Charmatz: Notes of intention, 1997. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.borischarmatz.org/en/savoir/piece/herses-0)
3. Die Autonomie der Berührung
Abb. 8: Boris Charmatz: herses (une lente introduction) (1997) Geteilt in zwei Paare befinden sich die Tanzenden an den gegenüberliegenden Seiten der Plattform. Langsam klettert Cima auf den neben ihr liegenden Charmatz, kniet sich auf ihn und beginnt seinen Körper über die Bühne zu rollen. Dabei bleibt sie die ganze Zeit – mal sitzend, mal stehend, mal liegend – auf ihm, als sei nur der Kontakt mit seinem Körper, nicht aber mit dem Boden des Podestes erlaubt. Als Charmatz sich aufrichtet, versucht sie ihn am Boden zu halten. Hier ist nicht mehr zu unterscheiden, wer wen festzuhalten und wer wen fortzustoßen versucht. Sobald sich diese Spannung löst, erinnern ihre Bewegungen an die dynamischen Duette der Kontaktimprovisation: In einer gegenseitigen Übertragung von Gewicht und Momentum gehen ihre Körper immer wieder neue Beziehungen ein. Mal ist es die Drehung von Charmatz‹ Oberkörper, der Cima auf die andere Seite und auf ihren Rücken wirft, mal ist es die Verlagerung ihres gesamten Gewichts auf seine Beine, die fast zur Bewegungslosigkeit führt und nur durch neue Impulse und neue Berührungen abgewendet werden kann. Die immer längeren und großflächigeren Kontakte ihrer Körper wirken – nicht zuletzt aufgrund ihrer Nacktheit – zunehmend prekär: Immer wieder verschlingen
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sich die Körper ineinander, sodass ihre Grenzen nicht mehr eindeutig zu bestimmen sind. Zum Schluss von herses kommt es erneut zu einer Szene vielfältiger Berührungen. Alle vier Tänzerinnen und Tänzer haben ihre Körper verschlungen, zu sehen sind mannigfaltige Körperteile, die weder als eine Gesamtform noch als einzelne Körper zu bestimmen sind – sie bilden eine Art Rolle, die sich langsam über das Podest bewegt. Ein fünfter Tänzer tritt hinzu, bleibt einen Moment neben den anderen stehen und begibt sich in das Gemenge, kurz darauf ist auch sein Körper nicht mehr zu bestimmen. Einzelne Körper lösen sich heraus und verschwinden kurze Zeit später wieder – im Gewirr der Körper oder im Dunkel der Bühne. Zum Schluss sind alle Körper verschwunden, die Bühne ist dunkel und leer. Es ist diese letzte Szene von herses, die hier den Ausgangspunkt der Betrachtungen zum Verhältnis der Berührungen und zu den Körpern der Tanzenden bilden soll. In dem Gemenge von Armen, Beinen, Händen, Füßen und Köpfen sind keine distinkten Körper der Tanzenden zu erkennen. Und doch bildet dieses »muddle of nude bodies« 3, wie Charmatz es selbst bezeichnet, keine einheitliche und homogene Masse. Durch ihre Berührungen verschmelzen die Tänzerinnen und Tänzer nicht zu einem Körper, es sind mannigfaltige Körper, die sich durch die rollenden Bewegungen immer wieder verändern, andere und neue Körper entstehen lassen, ohne dass ihre Zusammensetzungen vorhersehbar oder gar vorgegeben sind.
D ie I mmanenz der B e wegung Die Tänzerinnen und Tänzer in herses tanzen gemeinsam, ihre Körper befinden sich in ständiger Bewegung, sie berühren sich wieder und wieder. Keine der Bewegungen ist auf eine/n der Tänzer/innen beschränkt. Es entstehen Bögen, Kreise, auf- und absteigende Dynamiken, die sich quer durch ihre Körper ziehen und über diese hinaus weisen. Wenn sich Charmatz vom Boden erhebt, dann mar3 | Boris Charmatz und Isabelle Launay: Undertraining. On a Contemporary Dance, Dijon: Les presses du réel 2011, S. 143.
3. Die Autonomie der Berührung
kiert die Position seines aufgerichteten Oberkörpers nicht den Endpunkt der Bewegung, sie geht weiter: Sein Arm bringt gleichzeitig die auf ihm stehende Cima aus dem Gleichgewicht, diese fällt nach vorne und die bis eben noch aufsteigende Bewegung wird nun zu einem Bogen, der sich durch ihren Oberkörper, ihre Beine und zum Schluss durch ihre Arme langsam wieder nach unten zieht. Dies ist nur eine der zahlreichen, oftmals simultan stattfindenden Berührungen und Bewegungen in herses. Jede andere Berührung bringt weitere Konstellationen von Körpern hervor. Die Bewegungen der Tänzer/innen gehen nicht von einem Subjekt – der Tänzerin oder dem Tänzer bzw. dem Choreographen – aus, sondern durch die Körper hindurch: Die Bewegungen sind den Körpern »immanent«. Einen Gedanken Deleuzes und Guattaris aus Tausend Plateaus aufgreifend, beschreibt Jóse Gil diese Bewegungen als die »virtuelle Bewegungsebene« oder »die Ebenen der Immanenz des Tanzes«.4 Die Immanenzebene des Tanzes ermöglicht, so Gil, »die Bildung einer virtuellen Bewegungsebene, auf der sämtliche Bewegungen von Körpern und Gegenständen, von Musik und Farbe eine Beständigkeit, und damit Logik und Zusammenhang, gewinnen«. Zudem ermöglicht sie »eine Neugliederung von Bewegungen des Körpers, die sich keiner äußeren Elemente bedient. Die tatsächlichen Körperbewegungen des Tänzers erhalten ihre Impulse von der virtuellen Ebene und der dort erzeugten Spannung.«5 Als eine Ebene, die bevölkert ist von virtuellen Kräften, von Spannungen und Intensitäten, durchzieht die Immanenzebene des Tanzes die Körper der Tanzenden und geht zugleich über diese hinaus. Sie ist keine dem Tanz vorgängige Struktur, keine zu befolgende Ordnung, sie ist, wie ihre Bezeichnung zum Ausdruck bringt, den Körpern (aber nicht bloß ihnen) 4 | José Gil: »Der Körper des Tänzers«, Manuskriptseite 12 (unveröffentlichte deutsche Übersetzung von Christoph Nöthlings), englische Fassung: »The Dancer’s Body«, S. 124. Zur Bewegung bei Deleuze und Guattari siehe: Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 382. 5 | Gil: »Der Körper des Tänzers«, S. 12, engl., S. 124.
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immanent. Und zugleich ist es die Bewegung, die in einer unauflösbaren Gleichzeitigkeit diese Immanenz hervorbringt: »Wer tanzt, erzeugt Immanenz durch Bewegung.« 6 Gil beschreibt keine transzendentale Idee der Bewegung, keine Ordnung, die sich in den Körpern der Tänzerinnen und Tänzer lediglich materialisiert, die Ebene der Immanenz konfiguriert sich in den Körpern, ohne dabei in ihren Logiken aufzugehen. Mit der Einführung dieses Konzepts verändert Gil nicht nur das Verständnis von Bewegung, vor allem wird das Verhältnis von Bewegung zu den Körpern wesentlich neu konfiguriert. Es sind nicht mehr die Körper, die das Vermögen besitzen, sich zu bewegen. Die Logiken des Körpers und jene der Bewegung funktionieren autonom. Dies bedeutet nicht, dass die Bewegung sich unabhängig und körperlos ereignet, auch in Gils Beschreibungen sind es die Körper der Tanzenden, die sich bewegen, denn was Gil hier durchbricht, ist das kausallogische Verhältnis, in welchem die Bewegung durch den Körper ausgeführt wird und diesem nachträglich ist. Körper und Bewegung befinden sich hier in einem Prozess des Werdens, dessen Ausgangspunkt weder auf den Körper noch auf die Bewegung zu reduzieren ist. Die Immanenzebene des Tanzes ist kein »transzendentes Universal«, sie operiert im Bereich des Virtuellen und ist »nur sich selbst immanent«.7 Sie produziert jene Kräfte und Spannungen, die den Körpern der Tänzerinnen und Tänzer ihre Bewegungsimpulse und ihr Momentum geben. Die Immanenz der Bewegung bedeutet jedoch nicht, dass sie den Körpern innerlich ist: »Jede Bewegung durchläuft die gesamte Ebene, indem sie eine unmittelbare Wiederkehr zu sich selbst vollzieht, sich faltet, aber dabei auch andere falten läßt, Rückkoppelungen, Verbindungen, Wucherungen erzeugt, in der Fraktalisierung dieser unendlich gefalteten Unendlichkeit (variable Krümmung der Ebene).«8 6 | Ebd., S. 15, engl., S. 125. 7 | Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 53 u. S. 57. 8 | Ebd., S. 46.
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Die Virtualität der Bewegung hat in dem Moment, bevor sich die Position der Körper in Raum und Zeit verändert, noch keine Form angenommen, sie ist preacceleration: »[t]he dance of the notyet«.9 Doch nicht nur die Bewegung, auch die materielle Form der Körper hat sich noch nicht aktualisiert. Erst in den Momenten des Vollzugs erhalten die Bewegungen und die Körper ihre Richtung und Form und die Bewegung wird wahrnehmbar: »Bewegungen, Arten von Werden, das heißt reine Verhältnisse von Schnelligkeit und Langsamkeit, reine Affekte, liegen unterhalb und oberhalb der Wahrnehmungsschwelle.«10 Wahrnehmbar wird diese Bewegung (die virtuelle Bewegungsebene) erst in ihren Effekten, in den Veränderungen der Körper der Tanzenden. Und doch geht die Virtualität nicht in den Prozessen ihrer Aktualisierung auf, immer wieder bevölkert sie die »sich ausdehnenden und zusammenziehenden Intervalle (Mikrointervalle)«11 in den Körpern und ihren Bewegungen. Letztere gehen über die Körper hinaus, auch wenn diese scheinbar innehalten, sie übertragen sich auf andere Körper, andere Tänzerinnen, Tänzer und andere Elemente des Tanzes. Die Virtualität der Bewegung ist mehr als die Bewegungen der Körper, wie wir sie im Tanz wahrnehmen, und doch ist sie nicht losgelöst von diesen. Auch in herses sind die Berührungen und Bewegungen der verschiedenen Tänzerinnen und Tänzer autonom: Sie ziehen sich quer durch die Körper und quer durch die verschiedenen Szenen des Stückes hindurch. In der Schlussszene wird es geradezu unmöglich, das Gewirr der Körper aufzulösen und diese in ihrer ›ursprünglichen‹ menschlichen Form zusammenzusetzen. Diese Szene ist bestimmt von unzähligen sich berührenden und bewegenden Körperteilen: Arme, die sich an Beinen festhalten, die sich von Oberkörpern fortstoßen, die auf anderen Beinen liegen. Auch wenn die 9 | Vgl. hierzu das gleichnamige Kapitel in Manning: Relationscapes, S. 1328. 10 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 382. 11 | Ebd.
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zahlreichen Berührungen mit einzelnen Körperteilen verbunden werden können, so sind zugleich keine distinkten Körper zu erkennen, die als Urheber dieser Berührungen zu bestimmen wären. In den körperlichen Wirren, den Berührungen und Bewegungen zeigen sich immer wieder neue Verbindungen und Differenzen, Annäherungen und Distanzierungen, ein Meer von Berührungen.12 Hier verändert sich nicht nur das Verhältnis zwischen den Körpern und Bewegungen bzw. Berührungen, hier verändern sich vor allem auch die Körper selbst. Es sind diese vielfältigen, nicht vorgegebenen und nicht vorhersehbaren Möglichkeiten unterschiedlicher körperlicher Werdensprozesse, die Charmatz im Tanz interessieren, und so schreibt er: »Far from being the quest for an ideal body, it is much more inspiring to think of dance work as creating heterogeneous bodies, bodies more actively desiring than in everyday life, more assertive, more awkward, more abandoned, more manly, more womanly, more vegetal, more mineral, more
12 | Brian Massumi beschreibt mit dem Ausdruck »Meer von Bewegungen« eine Vielzahl von Bewegungen im Bereich der Architektur. Diese sind nicht an einen Körper gebunden und haben dennoch verschiedene potenzielle Effekte auf diesen. »All the going-on and passing-by around the building constitute another aggregate of relation: a sea of movements, each of which has a potential effect on the body, capable of modulating which determinate threads are pulled from the relational continuum it carries.« (Massumi: Parables of the Virtual, S. 204) »Neu« soll hier und im Folgenden nicht im Sinne einer Ersetzung, sondern als ein Vielfältig-Werden des Bestehenden verstanden werden. »Think the new not as a denial of the past but as the quality of the more-than of the past tuning toward the future. The new is a qualitative difference, already felt in the will have been. Time loops. The past now carries a potentiality that was always there but was backgrounded.« (Manning: Always More Than One, S. 33).
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animal, more ›mechanical‹, more childish, or more mature… or all these qualities at once.«13
In herses vervielfachen sich die Körper und ihre Formen. Weder sind sie als individuelle Körper zu beschreiben noch als Gemeinschaft, es sind weder vier noch fünf Körper, sondern mehrere, eine Mannigfaltigkeit.
low pieces Zusammen mit zwölf Tänzerinnen und Tänzern, Choreographinnen und Choreographen, Dramaturginnen und Dramaturgen entwickelt der Choreograph und Tänzer Xavier Le Roy die Arbeit low pieces (2011). Die Aufführung beginnt zunächst mit einer Diskussion. Nebeneinander aufgereiht sitzen die Beteiligten vorne auf der Bühne. Die Diskussion – so erläutert Le Roy – dauert 15 Minuten, jede/r darf fragen und sprechen, meist fragt das Publikum, die Tänzerinnen und Tänzer antworten und erzählen. Nach einer viertel Stunde: Black. Wenige Minuten später geht das Licht auf der Bühne wieder an und fünf der Tanzenden sitzen und liegen nackt auf dem Boden, nah beieinander und doch jede und jeder für sich. Zunächst scheinen sie in starren Posen zu verharren, zunehmend werden minimale Bewegungen wahrnehmbar, ein sich im gleichbleibenden Takt hin und her bewegender Fuß, ein Kopf, der im konstanten Rhythmus zur Seite gedreht wird, oder ein Arm, der langsam ausgestreckt und wieder zurückgezogen wird. In ihren starren Abläufen und konstanten Wiederholungen wirken die Bewegungen mechanisch, die Tanzenden scheinen sich zu einer Maschine zusammenzufügen. Eine Maschine, die nichts außer Mannigfaltigkeiten von Bewegungen produziert. Nach ca. 10 Minuten wird die Bühne wieder für einige Minuten schwarz. Diesmal sind jedoch Schreie von Tieren zu hören. Affen? Oder Möwen? Nun sind erneut die nackten Körper der Tänzerinnen und Tänzer zu sehen, doch es ist unmöglich zu sagen wie viele. Zu erkennen ist eine Körper-, genauer: eine Rücken-Fläche am Boden und es fällt schwer zu bestimmen, wo 13 | Charmatz und Launay: Undertraining, S. 55.
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Abb. 9: Xavier Le Roy: low pieces (2011) der eine Körper aufhört, wo ein anderer beginnt. Erst nach einigen Augenblicken bewegen sich die Tanzenden und aus der horizontalen Fläche erheben sich acht individuelle Oberkörper, nun wieder in ihren menschlichen Formen erkennbar. Black. Diesmal sind es zwei Gruppen, zwei Flächen von Körpern. Aus ihnen ragen Arme und Beine empor, die sich langsam hin und her bewegen, wie eine Wiese, durch die ein leichter Wind weht, oder Algen am Grunde des Meeres. Den Grund bilden die Körper, unbestimmbar in ihrer Form und doch voll von Differenzen und voller Berührungen. Black.14 14 | Dass es sich hier nicht einfach um eine Darstellung von Pflanzen handelt, sondern diese Bewegungen durch eine komplexe Verschränkung unterschiedlicher Techniken produziert werden, erläutert Le Roy im Interview: »I was focusing on the different ways of being together. […] The first thing I proposed to do was that we sit and that we only have movement of the upper body, like grass, like when you look at the grass and the wind and they all go in the same direction but with a little difference. […] The movement would not transform us into something else than this, we would really stay like this. We should not see the whole person we should use part of our body to do
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Abb. 10: Xavier Le Roy: low pieces (2011) In der letzten Szene kommen die Tänzerinnen und Tänzer auf Händen und Füßen auf die Bühne, wie Tiere bewegen sie ihre Arme und Beine, ihren Hals und Kopf. Sind es Löwen oder Geparden? Vielleicht sogar Affen, große behäbige Gorillas? Sie streunen umher und bilden ein Rudel, sie reiben ihre Köpfe aneinander und kommen zusammen. Sie liegen träge auf zwei Haufen, die Bewegungen der Löwen verschwinden, ebenso die Formen ihrer Körper. Ein Gewirr mannigfaltiger Körper und Berührungen, aus dem lediglich einzelne Teile herausragen. Zu erkennen sind dabei Beine, Arme und Füße. In der nächsten Szene liegen die Körper verstreut auf der Bühne. In sich zusammengerollt wirken sie unvollständig, es fehlt ihnen etwas. Keiner der this and that is how we started. And then somehow the idea of the grass came after and it’s a mixture of another scene we had at another time, where there was a trio that was very butoh-esque. The three persons were imagining becoming a plant or a root or grass or trees. We worked like this. These two things, they were mixed at some point. […] Using this and the other idea of working together produced this plant. The technology there is also a result of this construction of the scene.« (Le Roy im Interview mit Mariama Diagne und dem Autor am 8.2.2013)
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Körper ist als ein ganzer, menschlicher Körper zu erkennen. Sie sind mehr als ein Körper, mal sind es zwei Körper, immer sind sie etwas anderes. Sie sind Assemblagen von Körperteilen, Knie-Rücken-Kopf-Fuß- oder RückenRücken-Oberschenkel-Oberschenkel-Unterschenkel-Fuß-Verbindungen. Doch zu sehen sind keine starren Skulpturen, sie sind durchzogen von tausend kleinen Bewegungen, Mikrobewegungen, die jedoch nicht zu einer Veränderung der Position der Körper im Raum führen. Black. Erneut findet eine Diskussion mit dem Publikum statt, diesmal im Dunkeln. Nach fünfzehn Minuten geht das Licht an und die Aufführung ist zu Ende.
D as rel ationale W erden der K örper Low pieces beginnt mit einer Bewegungsmaschine. Dies ist nicht die erste Szene des Stückes und doch ist sie ein Anfang, ein erneuter Anfang. Le Roy nennt diese Szenen »Landschaften«: Es sind die vielen langsamen kleinen Bewegungen, die diese Szenerien gerade nicht zu »Bildern« oder »menschlichen Repräsentationen« werden lassen.15 Die Bewegungen sind nicht auf einen Körper beschränkt, sie ziehen sich quer durch die gesamte (Bühnen-)Landschaft. Im Ineinandergreifen der Bewegungen entsteht der Eindruck einer komplexen Maschine: eine Bewegungs- und Berührungsmaschine. Doch stellen die Tänzerinnen und Tänzer mit ihren rhythmischen Bewegungen der Arme, Beine, Körper oder Köpfe diese nicht dar. Über kaum sichtbare Kopfhörer hören sie akustische Spuren maschineller Bewegungen – das Surren eines Druckers oder das Klacken der Tasten einer Schreibmaschine –, doch bilden ihre Bewegungen keinen Ausdruck vorgegebener Partituren, hier verkoppeln sich vielmehr die Bewegungen der Tanzenden mit den akustischen Rhythmen und bilden neue, »maschinische Assemblagen«.16 Dies 15 | Xavier Le Roy: Interview, 2011. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.tanzforumberlin.de/trailer257.php. 16 | Mit dem Begriff des Maschinischen, der Wunschmachine bzw. der abstrakten Maschine entwickelt Guattari, alleine und in Zusammenarbeit mit
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ist nicht die Repräsentation einer Maschine, die Bewegungen werden im Sinne Deleuzes und Guattaris selbst maschinisch: Sie werden produktiv, abstrakt und diagrammatisch, sie durchkreuzen jene Aufteilungen von natürlich und künstlich, Inhalt und Ausdruck.17 Diese abstrakte Bewegungsmaschine ist keine Repräsentation, sie tritt in den Körpern zum Vorschein und besteht doch unabhängig von ihnen: »technologies« statt »technique«.18 Dieses Maschinisch-Werden des Körpers, so führt Manning im Anschluss an Deleuze und Guattari aus, versteht diesen nicht als Deleuze, ein Gegenkonzept zum Mechanischen, das lediglich die Funktionen eines Apparates umfasst. »We should bear in mind that there is a machinic essence which will incarnate itself in a technical machine, and equally in the social and cognitive environment connected to this machine – social groups are also machines, the body is a machine, there are scientific, theoretical and information machines. The abstract machine passes through all these heterogeneous components but above all it heterogenises them, beyond any unifying trait and according to a principle of irreversibility, singularity and necessity.« (Félix Guattari: Chaosmosis. An Ethico-Aesthetic Paradigm, Bloomington u. Indianapolis: Indiana UP 1995, S. 38f.) Wie die Assemblage (jenes Konzept, das in Tausend Plateaus das der Wunschmaschine zunehmend ablöst, jedoch nicht ersetzt) produziert die Maschine Verbindungen, ohne die Elemente zu verschmelzen oder eine Einheit herzustellen. 17 | Vgl. zum Konzept der Maschine in Abgrenzung zur Repräsentation: Deleuze und Guattari: Anti-Ödipus, S. 32f. 18 | Le Roy grenzt die Szenen in low pieces deutlich von den Logiken der Repräsentation und den damit verbundenen Techniken ab und spricht stattdessen von »technologies«: »In trying to make these moves – if one wants to use this word – its like becoming something else. I like this idea of trying to embody this. Rather than technique I would say technologies. […] What do I need to do to embody this animal like the lion? […] It is not a lion technique or it is not an animal technique. […] Of course you could say that’s because we see the plant like this and we see the lion like this, yes it has to do with this but it doesn’t make it a plant technique or a lion technique.« (Xavier Le Roy im Gespräch mit Mariama Diagne und dem Autor am 8.2.2013)
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eine gegebene, abgeschlossene und in sich funktionierende Einheit, sondern als offenes Netzwerk oder Assemblage. »The body is machinic in the sense that it is plural and unpredictable, evolving always through movements that are contingent on environments and (re) combinations.«19 Vor allem die Offenheit und die Produktionen des Neuen und Unbekannten bilden die maschinische Ebene des Körpers. Die Körper und ihre Bewegungen sind nicht in ihrer Form vorgegeben, die Möglichkeiten und Prozesse ihres Werdens sind mannigfaltig. Werden ist hier jedoch gerade nicht die Erfüllung bzw. Materialisierung einer bereits vorgegebenen Form, Werden ist ein offener Prozess, es ist die Bewegung eines Körper-Werdens, die weder von einem Körper ausgeht, noch zu einem Körper führt. Es ist der Körper als Prozess. »It bodies«, wie Manning schreibt: »Despite appearances, movement is not of a body. It cuts across, co-composing with different velocities of movement-moving. It bodies.«20 Die vielfältigen Körperkonstellationen in low pieces zeigen, dass die entstehenden Körper mannigfaltig sind und sich niemals auf einen beschränken lassen: Immer wieder entstehen Flächen aus Körpern, glatt und doch durchzogen von Linien und Differenzen. Hier sind keine distinkten Körper zu erkennen, wie bei herses bilden sie vielmehr ein Gewirr von Bewegungen und Mikrobewegungen. Die Körper in der Aufführung sind Körper im Werden, jedoch nicht im Sinne einer Transformation von einer Form zur anderen, auch nicht als eine kontinuierliche Veränderung, sondern als eine dis/ kontinuierliche Kettung immer neuer Ereignisse, neuer Konstellationen und neuer Differenzen. »Dance might then be thought of as a motion or act that is not the realization of some proper form – the human – but a departure from what is – a pure becoming that is not the becoming of the human.«21 Immer wieder werden durch die Formationen der Körper Assoziationen aufgerufen: Mal erinnern sie an Pflanzen, mal an Tiere wie Löwen oder Wölfe, doch 19 | Manning: Politics of Touch, S. 93. 20 | Dies.: Always More Than One, S. 14. 21 | Colebrook: »How can we tell the Dancer from the Dance?«, S. 8.
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nie bleiben diese Bilder bestehen. Es kommen andere Bewegungen, neue Relationen, die diese wieder verändern und zerstören. So verschwindet auch jene Assoziation der Maschine, was bleibt sind die maschinischen Körper und Bewegungen, die neue Assemblagen produzieren und sich nicht in einzelne Entitäten aufgliedern lassen. Die mannigfaltigen Berührungen, ihre Verbindungen und Bewegungen lassen die Körper zu einem Zusammenspiel von Prozessen werden. In low pieces sind es weniger die Körper als vielmehr die vielfältigen Bewegungen, die zusammenkommen. Sie berühren sich und sie bilden neue Konstellationen von Körpern. Immer wieder entstehen Gefüge von Armen, Beinen und Köpfen – mal azephal, mal ein vielköpfiges Monster; selten nehmen sie bekannte Formen an, niemals sind sie von Dauer. Gil beschreibt solche durch Bewegung hervorgebrachten Körper als Assemblagen und als relationale Verbindungen: »As an articulated and fluidic machine, the body is made to connect with objects and other bodies. Dance operates as a kind of pure experimentation with the body’s capacity to assemble, thus creating a laboratory where all possible assemblages are tested.«22 Körper entstehen hier nicht als Einheiten, sondern als offene Netzwerke, prekäre Beziehungen, die sich jederzeit lösen und wandeln können. Diese Körper sind niemals eins, niemals individuell, sie sind immer schon viele: mannigfaltige, relationale Körper, die nicht abzugrenzen und zu umfassen sind. Schreibt Gil hier noch von der Verbindung zwischen einzelnen Teilen, radikalisiert er seinen Gedanken schon wenige Sätze später: Körper sind weniger die Zusammensetzung verschiedener Teile als vielmehr die Assemblage der Assemblage. »Dance is an abstract machine of assemblages exposing and hiding them endlessly. Dance always wants to assemble assemblages and not organs with other organs.«23 Jene von Gil als relational beschriebenen Körper sind somit keine Zusammensetzung bereits gegebe22 | José Gil: »Paradoxical Body«, in: TDR 50(4), 2006, S. 21-35, hier: S. 30. 23 | Ebd.
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ner Teile, (dies wäre lediglich eine Verschiebung des Fokus’ von der Ebene des Körpers auf die der Körperteile, würde aber nicht mit dem Kausalverhältnis von Körper und Bewegung brechen), sie sind auf eine radikale Weise relational: Die Körper der Tänzerinnen und Tänzer sind bei Gil – wie auch bei Le Roy und Charmatz – Relationen von Relationen. Bewegung und Relationalität sind hier auf enge Weise verknüpft: Indem sich die Ebene der Immanenz durch die verschiedenen Körper und Elemente des Tanzes zieht, schafft sie Momente der Verbindung und der Relation. Sie ist ein »Nexus« (Gil), der jedoch nicht nur die phänomenalen Körper, das Licht, die hörbare Musik etc. als relationale Gefüge hervorbringt, es sind ebenso die virtuellen Körper, jene anderen, (noch) nicht aktualisierten Elemente, die einen wesentlichen Teil dieser Netzwerke bilden. »Thus, a plane of movement is formed that overflows the individual movements of each dancer and acts as a nucleus of stimulation for both. The two partners will actualize other virtual bodies and so on. A duo is an arrangement for building multiplicities of dancing bodies.«24 Wie die Bewegungen lassen sich auch die Körper als Gefüge nicht auf den Bereich des Aktuellen beschränken. Virtuelles und Aktuelles, Verwirklichungen und Gegen-Verwirklichungen bilden hier jene Körper, deren Formen nicht abgeschlossen sind, sondern die sich in Bewegung befinden. Durch Gils Konzept der Bewegung als Ebene der Immanenz operiert diese nicht nur autonom, zugleich stellt sie auch das Konzept eines natürlich gegebenen Körpers in Frage: Wenn die Bewegung eine autonome Ebene bildet, welche die Körper durchzieht, sind diese nicht mehr die Ursache, sondern selbst Prozesse der Bewegung. Es sind die Körper der Tänzerinnen und Tänzer, sogar aller Elemente des Tanzes, die hier in ihrer Materialität auf dem Spiel stehen.
24 | Ebd., S. 25.
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D ie I nterferenz der B erührung Nicht nur die Bewegung, auch die Berührung ist den Körpen immanent: Wurde das Zusammentreffen von Charmatz und Cima in herses noch in den Begriffen eines Duetts beschrieben, zeigt sich vor allem in low pieces, dass nicht nur die Berührungen, sondern ebenso die Körper der Tänzerinnen und Tänzer mannigfaltig sind. In den unzähligen Bewegungen und den Momenten des Zusammenkommens entstehen immer wieder neue Beziehungen und mit ihnen neue Assemblagen von Körpern. Mal ist in den Aufführungen ein Oberkörper zu erkennen, mal nur eine Reihe von Armen. Dort, wo normalerweise die Arme ansetzen, ragen plötzlich zwei Beine nach vorn, dann wieder sind vier Beine zu sehen, alle weisen in unterschiedliche Richtungen oder wir sehen lediglich vereinzelte Rücken, verteilt im Raum. Doch hier entstehen keine Zusammensetzungen bestehender Körperteile, in herses und low pieces sind vor allem die Bewegungen sich transformierender Assemblagen zu sehen. Ständig werden neue und andere Körper hervorgebracht, die sich nicht mehr in einzelne Teile zerlegen lassen, sondern gerade in den Berührungen und ihren Relationen emergieren. Es sind schwingende Graskörper, vibrierende Steinkörper, rollende Berührungskörper. Dieses Gewirr der Körper ist keineswegs homogen, es ist voll von Differenzen und Markierungen, die sich nicht auf die Zuordnungen kategorialer Merkmale wie männlicher/weiblicher, gesunder/abnormer oder menschlich/nicht-menschlicher Körper reduzieren lassen. Die Differenzen der Berührungen sind mannigfaltig. Und sie sind singulär: In den unterschiedlichen Dynamiken und Intensitäten der Bewegungen – mal sind sie aufwallend, mal zögerlich, mal zurückweichend oder stockend – erscheinen die Körper-Assemblagen in ihrer je spezifischen Weise, ihrem Rhythmus und damit jenseits der eben genannten Kategorien. Berührungen ereignen sich, wenn Bewegungen aufeinandertreffen, sich überlagern und interferieren. In der Interferenz addieren sich die Bewegungen jedoch nicht einfach, es bilden sich neue, komplexe Muster, die sowohl aus Momenten der Addition als auch
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der Subtraktion bestehen. Diese Muster lassen sich nicht mehr auf die ursprünglichen Wellen zurückführen, in der Interferenz wird etwas Neues produziert, eine neue Wellenformation oder eben ein neuer Rhythmus der Bewegung.25 Die Physikerin und feministische Wissenschaftstheoretikerin Karen Barad überträgt diese zuerst in der Optik erforschten Phänomene auf den Bereich der Performativität und Prozessualität der Materie. Ausgehend von den quantentheoretischen Konzepten Niels Bohrs bilden auch Teilchen, Objekte und Körper keine gegebenen Einheiten mehr, vielmehr entstehen und verändern sich diese in den relationalen Prozessen der Interferenz: »That is, human bodies, like all other bodies, are not entities with inherent boundaries and properties but phenomena that acquire specific boundaries and properties through the open-ended dynamics of intra-activity. Humans are part of the world-body space in its dynamic structuration.«26 Die »Intra-activity« und die damit verbundene Prozessualität der Materie bilden die Dynamik einer Materie, die sich aufgrund ihrer Offenheit auch kategorialen Strukturierungen wie menschlich/nicht-menschlich widersetzt, diese übersteigt und damit in Frage stellt. Menschliche wie auch nichtmenschliche Körper sind »phenomena«, Materie, die sich in ständigen Prozessen der Intra-Aktion befindet. Mit dem Neologismus »Intra-aktion« grenzt sich Barad gegen die traditionelle Bedeutung der Interaktion ab, die auf die Beziehung zwischen zwei bestehende Einheiten beschränkt ist: »Intra-actions are causal (but nondeterministic) enactments through which matter-in-the-process-of-becoming is sedimented out and enfolded in further materializations.«27 Körper und Materie sind hier weder statisch noch voneinander abgrenzbar, sondern relationale Prozesse der Materialisierung.
25 | Vgl. Haraway: Modest_Witness, S. 268. 26 | Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham u. London: Duke UP 2007, S. 172. 27 | Ebd., S. 170, vgl. zum Begriff der Intra-action auch: Ebd., S. 33.
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Abb. 11: Xavier Le Roy: low pieces (2011) In low pieces sind die Körper der Tanzenden selbst prozessual. Wenn die Tänzerinnen und Tänzer dicht nebeneinander auf dem Boden liegen oder ihre Köpfe und Hälse aneinanderreiben, dann erzeugen diese Berührungen nicht nur neue Konfigurationen von Bewegungen, sondern zugleich auch andere und neue Körper. Ihr Zusammenkommen ist keine Interaktion von Individuen, wenn die Körper in einem Meer voller Algen hin und her schwingen, dann interferieren hier vielfältige Bewegungen und bringen ein Gefüge von Körpern hervor, die sich nicht in eine Formation menschlicher Individuen auflösen lassen. Auch wenn in der Aufführung menschliche Formen entstehen, so sind diese weder gegeben noch bilden sie einen Fix- bzw. Referenzpunkt, sie lösen sich immer wieder auf, verändern sich und es entstehen maschinische, florale, animalische Körper und Bewegungen. Diese Gefüge sind sowohl in ihrer räumlichen als auch in ihrer zeitlichen Dimension dis/kontinuierlich. Nicht nur die Bewegungen, sondern ebenso die Körper der Tänzerinnen und Tänzer lassen sich als differenziell beschreiben. Hier bilden die Berührungen keine unmittelbaren Verbindungen, vielmehr produzieren sie immer
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wieder Differenzen, die eine kontinuierliche Transformation überschreiten und sie zugleich zu einer Kettung diskontinuierlicher Ereignisse werden lassen. Diese Körper bilden nicht einfach einen stetigen Prozess des Wandels (von der Maschine zur Pflanze zum Stein zum Löwen und weiter), vielmehr wird dieses Werden immer wieder durchzogen von Brüchen und Synkopen. In den cuts, der Dunkelheit und den anderen Differenzen öffnen sich diese körperlichen matterings und ermöglichen neue Relationen: Körper(-Teile) spalten sich ab, neue Körper werden gebildet. Sowohl der rollende Körper in herses als auch die Algen in low pieces lassen sich nicht als ein Körper beschreiben, sondern als eine offene Assemblage, voller Relationen, Differenzen und Berührungen. Diese Körper-Gefüge sind offen, sie ermöglichen die Berührungen mit und damit das Entstehen von neuen Körpern, neuen Assemblagen und neuen Prozessen. Prozessualität und Relationalität bilden jedoch keine äußeren Eigenschaften präexistenter Körper, vielmehr entstehen die Körper in den interferierenden Wellen. Das relationale Ereignis der Interferenz ist den Körpern immanent. Diese Körper sind Bewegungs-Körper, sie sind aber zugleich auch – wie Barad beschreibt – Berührungs-Körper: »[T]here is also the fact that materiality ›itself‹ is always already touched by and touching infinite configurations of possible others, other beings and times. In an important sense, in a breathtaking intimate sense, touching, sensing, is what matter does, or rather, what matter is«.28 Materie ist keine gegebene Substanz, sondern eine Materie der Berührung, der Empfindung und Bewegung – prozessual, voller Relationen und Differenzen. In der Wellenhaftigkeit wird Materie zur Bewegung. Diese Bewegungen lassen sich nicht einfach als die Bewegung eines Körpers von A nach B fassen. Die Welle bewegt nicht einen Körper durch den Raum, sie ist eine transversale Bewegung durch die Körper; nicht die Bewegung eines Körpers, erst die Bewegungen vieler Körper er28 | Karen Barad: »On Touching – The Inhuman That Therefore I Am«, in: differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 25(3), 2012, S. 206-223, S. 215, Herv.i.O.
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möglichen eine Welle. Die Welle bewegt keinen Körper, sie bewegt sich selbst, sie bewegt die Bewegung. Die Welle ist abstrakt.29 Was liegt hier näher als Gils Konzept einer Autonomie bzw. Immanenz der Bewegung? Die Bewegung der Welle ist weder an den Körper gebunden, noch lässt sie sich unabhängig von ihm denken. Die Wellen werden nicht – wie in vielen klassischen Vorstellungen – durch die Materie (beispielsweise das Wasser) getragen, sie selbst bilden die Prozesse der Materialisierung. Indem Barad die Materie nicht nur als wellenförmig, sondern vor allem als Interferenz und Relationalität beschreibt, hebt sie sowohl die Immanenz der Bewegung als auch die Immanenz der Relation hervor. Die Körper werden von einer Ebene der Relationalität durchzogen, die immer wieder neue Bindungen und damit neue Assemblagen schafft. Wenn in low pieces die Arme nach oben gestreckt hin und her schwanken, wenn sich in herses Cimas Kopf nach unten neigt, diese Bewegung aber nicht an den Rändern ihres Körpers endet, sondern weiter geht, sich durch Charmatz Beine und über diese hinaus zieht, dann sind dies alles Bewegungswellen. Hier bewegt sich nicht ein gegebener Körper durch den Raum, hier bewegen sich Bewegungen – Bögen, Schwingungen, Vibrationen – durch die Körper und schaffen somit neue Relationen und neue Assemblagen. In den Aufführungen entstehen körperliche Beziehungen, Berührungen, die nicht von den je individuellen Tänzerinnen oder Tänzern ausgehen, sondern die die Körper als relationale Gefüge hervorbringen. Es ist das Ereignis der Differenz, das die Ebene der Bewegung mit der Materialität der Körper in Beziehung setzt: Im Aufeinandertreffen der Bewegung entstehen spezifische Konfigurationen 29 | Deleuze und Guattari entwickeln ausgehend von Virgina Woolfs Roman The Waves eine »abstrakte Wellenmaschine«, bzw. das Konzept einer »abstrakten Welle«: »Jeder bewegt sich wie eine Welle vorwärts, aber auf der Konsistenzebene ist es eine einzige abstrakte Welle, deren Vibration sich entsprechend der Fluchtlinie oder der Deterritorialisierungslinie ausbreitet, die die ganze Ebene durchläuft […].« (Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 344, Herv.i.O.).
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der Körper. Dieses Aufeinandertreffen, die Interferenz der Bewegungen bildet das Ereignis der Berührung. Die Berührungen gehen weder von einem noch von zwei Körpern aus, sie sind vielmehr das Ereignis, in dem die Körper in ihren je spezifischen Formen entstehen – als relationale und bewegte Körper. Berührungen sind nicht die Koppelungen vorgegebener Differenzen, sie produzieren Relation und Differenz und mit ihnen Assemblagen von Körpern.
S chwingen , U mfassen , Trennen Berührungen sind Gefüge von Bewegungen, die den Körpern der Tänzerinnen und Tänzer immanent sind; sie schaffen Beziehungen zwischen ihnen, bringen aber ebenso Differenzen hervor. Dabei lassen sich die Berührungen nicht allein auf ihre Bewegungen reduzieren, sie operieren ebenso im Bereich der Empfindungen. Die Empfindung der Berührung bzw. die Berührung als Empfindung bildet keinen sekundären Akt, dem die Bewegung bereits vorausgegangen ist, die Berührung ist selbst eine komplexe Verschränkung dieser verschiedenen Ebenen.30 Die Empfindungen sind weder ausschließlich sinnlich noch ausschließlich menschlich: So soll nicht gefragt werden, wie sich die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer durch ihre Berührungen wahrnehmen (dies würde die Präexistenz der Körper vor dem Akt der Wahrnehmung voraussetzen), vielmehr geht es um das Verhältnis zwischen den Körpern und den Berührungen als Ereignis des Empfindens. Empfindungen sind jedoch keine Eigenschaften der Körper der Tanzenden, sondern gehen über diese hinaus und werden somit selbst zum Prozess ihrer Formierung. Wie lässt sich die Berührung 30 | Deleuze und Guattari beschreiben die Wahrnehmung selbst als eine Bewegung. Die Wahrnehmung liegt »nicht mehr im Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Objekt […], sondern in der Bewegung, die diesem Verhältnis als Grenze dient, in der Zeitspanne, die damit verbunden ist.« (Ebd., S. 384)
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als eine Empfindung beschreiben, die nicht die Relation zwischen Subjekt (empfindendem Körper) und Objekt (empfundenem Körper) bildet? Und welche Körper werden in diesen Prozessen des Empfindens hervorgebracht? Deleuze und Guattari schlagen in dem Schlusskapitel ihres späten gemeinsamen Buches Was ist Philosophie? ein Konzept vor, das es ermöglicht, den Prozess des Empfindens aus seiner Struktur zwischen Empfindender bzw. Empfindendem und Empfundenem herauszulösen. Empfindungen – so Deleuze und Guattari – bestehen aus Perzepten und Affekten, doch: »Die Perzepte sind keine Perzeptionen mehr, sie sind unabhängig vom Zustand derer, die sie empfinden; die Affekte sind keine Gefühle oder Affektionen mehr, sie übersteigen die Kräfte derer, die durch sie hindurchgehen.«31 Es sind die Perzepte und Affekte, die hier – wie die Bewegungen Gils – eine Autonomie gegenüber denjenigen erhalten, die normalerweise als ihre Akteurinnen bzw. Akteure betrachtet werden: die Menschen und ihre Körper. Diese Autonomie ist keineswegs eine einfache Unabhängigkeit oder gar Beziehungslosigkeit: »Die Empfindungen, Perzepte und Affekte, sind Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen. Sie sind, so könnte man sagen, in der Abwesenheit des Menschen, weil der Mensch, so wie er im Stein, auf der Leinwand oder im Verlauf der Wörter gefaßt wird, selbst eine Zusammensetzung, ein Komplex aus Perzepten und Affekten ist.«32 Die Autonomie der Empfindungen ermöglicht es, den menschlichen Körper gerade als Teil der Prozesse der Wahrnehmung zu verstehen und nicht als unveränderlichen Operator außen vor zu lassen. Hier wird der Mensch zu einem »Komplex aus Perzepten und Affekten«, ohne dass diese durch den Menschen determiniert und auf diesen reduziert werden. In ihren Verschränkungen, Verflechtungen und Durchkreuzungen bilden Tänzerinnen und Tänzer, Zuschauerinnen und Zuschauer eine Empfindungs-Assemblage, die nicht kategorial zwischen den 31 | Dies.: Was ist Philosophie?, S. 191. 32 | Ebd., S. 191f., Herv.i.O.
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Empfindungen auf der Bühne und jenen zwischen Bühne und Publikum aufzuteilen ist. Die von Deleuze und Guattari beschriebenen »Empfindungskomplexe« sind nicht auf eine Kunstform zu reduzieren (sie selbst sprechen in diesem Zusammenhang hauptsächlich von Literatur, Malerei, Musik und Architektur). Dabei stellen sie drei unterschiedliche »Spielarten« heraus: »die Schwingung als Charakteristikum der einfachen Empfindung (aber sie ist bereits dauerhaft oder zusammengesetzt, da sie auf- oder absteigt, einen grundlegenden Niveauunterschied beinhaltet, einem unsichtbaren, eher nervlichen denn zerebralen Strang folgt); die Umfassung oder das Ineinander von Körpern (wenn zwei Empfindungen ineinander widerhallen, indem sie sich so sehr aneinanderschmiegen, und zwar in einer Verschränkung der Körper, die nur mehr aus ›Energien‹ besteht); das Zurückweichen, die Trennung, die Dehnung (wenn zwei Empfindungen sich im Gegenteil voneinander entfernen, sich lösen, um aber nur noch durch das Licht, die Luft oder die Leere vereint zu sein, die sich zwischen sie oder in sie wie ein Keil hineintreiben, der in einem so dicht und so locker ist, daß er sich bei wachsender Distanz nach allen Richtungen hin ausdehnt und einen Block bildet, der keiner Stütze mehr bedarf).« 33
Schwingungen bilden nicht nur ein wichtiges Charakteristikum der Empfindung, sondern auch der Berührung. Es ist das Auf und Ab, die Bewegung der Welle, die die Berührung zu einem singulären Ereignis macht; ein Ereignis körperlicher Empfindung und affektiver Relationalität. Und wie die Bewegungen der Berührung treten auch die Schwingungen des Empfindens nicht einzeln auf: In den Momenten der Umfassung schmiegen sich die Körper aneinander und verschränken sich. Diese Körper sind Bündel von Kräften und Energien, Orte der Intensität, sie sind Muster der Interferenz. Das »Ineinander von Körpern« ist ein Ineinander von Erfahrungen, nicht eine Erfahrung, sondern mehrere – Erfahrungen, die 33 | Ebd., S. 197f., Herv.i.O.
3. Die Autonomie der Berührung
in den Momenten der Berührung interferieren. Doch auch hier: die Differenzen der Berührung (»Trennung« und »Zurückweichen«). Wie in den Konzepten der Bewegung ist die Distanzierung Teil der Erfahrung und Teil der Berührung. Sie stellt keinen Gegensatz zur Nähe und zum Kontakt dar, die Distanz ist Dehnung, sie ist Teil der Bindung: relation of nonrelation. Die Körper werden nicht zerrissen, sie dehnen sich, verändern sich, verlieren ihre vorgegebenen Strukturen; sie bilden Blöcke, – »Empfindungsblöcke« wie Deleuze und Guattari schreiben –, sie sind Komplexe von Erfahrungen. Schwingung, Umfassung und Trennung: die Empfindungen der Berührung. Deleuze und Guattari schlagen vor: »Die Empfindung schwingen lassen – die Empfindung verkoppeln – die Empfindung öffnen oder aufschlitzen, aushöhlen.«34 Dies sind die Möglichkeiten der Berührung. Erneut schwingen die Berührungen. Nicht nur auf der Ebene der Bewegung, auch auf der Ebene der Empfindung ist die Berührung weniger als eine (zielgerichtete) Handlung zu begreifen, sondern vielmehr als eine komplexe Konfiguration aus Intensitäten. Verschiedene Perzepte und Affekte treffen in den Momenten der Berührung aufeinander, sie interferieren und bringen damit die Körper als Körper der Berührung hervor. Es geht hier nicht um eine Empfindung, die Berührung ist weder eine noch zwei Empfindungen (im Sinne zweier sich berührender Körper), die Empfindungen der Berührung sind mannigfaltig, sie gehen über die Körper hinaus, durchkreuzen diese, sie interferieren und bringen neue Empfindungen, neue Schwingungen hervor. 1 Berührung = 1000 Empfindungen (oder mehr?), doch wer hat schon eine Berührung gesehen oder gar eine Berührung empfunden? Jene von Deleuze und Guattari beschriebenen Spielarten greifen im Bereich der Empfindungen verschiedene Aspekte der hier angeführten Argumentation zur Berührung als Bewegung auf. Zu welchen Verschiebungen führen die Konzepte des Schwingens, des Umfassens und des Distanzierens in der Berührung? Die Berüh34 | Ebd., S. 198.
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rungen als Empfindung gehen nicht von den individuellen Körpern der Tänzerinnen und Tänzer aus. Es sind vielmehr die Empfindungen selbst, die schwingen, sich bewegen, verschlingen und trennen. Und es sind die Empfindungen, die sich in diesen Momenten intensivieren, sich bündeln und damit die Körper der Tanzenden produzieren. Als abstrakte Kräfte, als eine Ebene der Immanenz ziehen sich die Empfindungen durch die Körper und ihre Berührungen hindurch, ohne dass sie sich dabei auf diese reduzieren lassen. Die Perzepte und Affekte durchziehen die Tanzenden sowie das Publikum. Die Empfindungen operieren zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern, den Tänzerinnen und Tänzern auf derselben Ebene wie zwischen den Tanzenden. Es gibt keine Empfindung zweiter Ordnung, die Empfindungen des Publikums sind weder sekundär noch distanziert zu jenen auf der Bühne. Die Empfindungen schwingen miteinander, sie verkoppeln sich und interferieren mit anderen (Empfindungs-)Bewegungen. Wenn die Tänzerinnen und Tänzer in herses ineinandergeschlungen über die Bühne rollen, dann empfindet nicht ein/e Tänzer/in durch die Berührungen den Körper einer anderen Tänzerin bzw. eines anderen Tänzers, es sind vielmehr die mannigfaltigen Empfindungen, die sich im gesamten Raum des Theaters (und darüber hinaus) ereignen, die diese Kon stellationen der Körper hervorbringen. Hier verkoppeln sich in den mannigfaltigen Berührungen der Aufführungen sowohl die Empfindungen der Tanzenden als auch des Publikums auf vielfältige Weise miteinander und herses entsteht als eine Assemblage aus Berührungen und Körpern, aus Affekten und Perzepten. Auch in den Körperflächen von low pieces interagieren die Tanzenden weder miteinander noch mit dem Publikum, es verdichten sich vielmehr die Empfindungen, sie interferieren und intensivieren sich zu immer neuen Blöcken – zu algenhaften Schwingungs-Blöcken, zu maschinischen Bewegungs-Blöcken, zu trägen Rudel-Blöcken, zu unsichtbaren Sprechmaschinen. Es entstehen immer neue EmpfindungsBündel und immer neue Körper.
3. Die Autonomie der Berührung
F ormen des K örperns Auch wenn die Empfindungen der Berührung nicht von einem gegebenen Körper ausgehen, bedeutet dies nicht, dass die Körper in den Aufführungen keine Form besitzen. Es ist gerade der »Erlebensvorgang« (occasion of experience), in dem – so Whitehead – die »subjektive Form« entsteht.35 Inwieweit lassen sich die Berührungen als Ereignisse der Formierung verstehen, die keine Körperform als deren Ergebnis hervorbringen, sondern in denen der Körper selbst zum Prozess und damit zur prozessualen Form des Körperns wird? Ähnlich wie Deleuze und Guattari geht es Whitehead in seinen Ausführungen darum, ein bestehendes Konzept der Wahrnehmung aufzubrechen, das lediglich zwischen den beiden bereits bestehenden Einheiten Subjekt und Objekt stattfindet. Whitehead beschreibt einen Erlebensvorgang, der zwar einerseits eine Relation zwischen Subjekt und Objekt bildet, jedoch diese nicht mit dem Erkennenden und dem Erkannten gleichsetzt.36 Der Erlebensvorgang geht nicht vom Subjekt aus, sondern bringt die »subjektive Form« erst hervor. Auch das Objekt ist hier nicht etwas Gegebenes, es ist nicht das »zu Erfassende«, es entsteht vielmehr ebenso im Ereignis des Erfassens. Auch wenn sich im Erfassen die subjektive Form bildet, bedeutet dies jedoch nicht die Entstehung eines stabilen Subjekts und eines statischen Objekts: Subjekt und Objekt bilden keine starren Einheiten, sie sind immer bezogen auf etwas und in diesen Bezügen niemals beständig, sie sind Prozesse des Werdens. Weder kontinuierlich noch atomistisch entstehen und vergehen sie in den Ketten von Ereignissen des Erlebens. Dieses Erfassen ist nicht subjektiv, obwohl es nicht ohne Subjekt gedacht werden kann; das Subjekt – so Massumi – wird selbst zum Ereignis und entsteht somit als der Vorgang des Erlebens: »The ›subjective‹ is not something pre-existing to which an event occurs: it is the self-occuring form 35 | Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 327. 36 | Vgl. ebd., S. 326.
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of the event. The dynamic unity of an occasion of experience in its ›subjective form‹.«37 So wenig, wie das Erfassen vom Subjekt aus gedacht werden kann, lässt es sich auf dessen Sinneswahrnehmungen reduzieren. Wahrnehmung (und an dieser Stelle erweitert Whitehead den von ihm ansonsten lediglich zur Abgrenzung verwendeten Begriff) besteht nicht nur aus sinnlicher, sondern ebenso aus nichtsinnlicher Wahrnehmung. Die Wahrnehmung der Sinne – so Whitehead – ist beschränkt auf den gegenwärtigen Wahrnehmungsakt. Das Wahrgenommene sagt nichts über die Vergangenheit oder die Zukunft aus, nichts über die Verhältnisse zu anderen, es ist »hier, jetzt, unmittelbar gegeben und diskret«.38 Erst in der nichtsinnlichen Wahrnehmung entstehen Relationen, Beziehungen und Kontinuitäten. Whitehead führt zur Erläuterung das Beispiel der »unmittelbaren Vergangenheit« an. Diese ist »zwar schon vorbei, gleichzeitig aber noch voll gegenwärtig. […] Der gegenwärtige Augenblick konstituiert sich durch das Einströmen des Anderen in die sich erhaltende Identität des unmittelbar Vergangenen mit der unmittelbaren Gegenwart.«39 Erst durch die nichtsinnliche Wahrnehmung bilden die distinkten Wahrnehmungen der Sinne Verbindungen, Kontinuitäten und Relationen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich in irgendeiner Weise diese beiden Formen der Wahrnehmung trennen lassen. »Eine klar umrissene Sinneswahrnehmung, in der es um nichts als die Fakten geht, lässt sich aus diesem Hintergrund [dem der nichtsinnlichen Wahrnehmung, G.E.] überhaupt nicht herauspräparieren.«40 Nichtsinnliche Wahrnehmung ist keineswegs zu verwechseln mit kognitiven Ordnungs- und Beziehungsbildungen, es ist nicht die nachträgliche, bewusste Verbindung, wie sie in Modellen von 37 | Massumi: Semblance and Event, S. 8, Herv.i.O. Vgl. auch: Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 327. 38 | Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 333, Herv.i.O. 39 | Ebd., S. 334, Herv.i.O. 40 | Ebd.
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interagierenden Entitäten gebildet werden. Diese kognitiven Beziehungen verdecken lediglich jene Relationen der nichtsinnlichen Wahrnehmung. Im engen Bezug zu seinen Ausführungen zur amodalen Wahrnehmung und dem Virtuellen beschreibt Massumi die nichtsinnliche Wahrnehmung als virtuelle Relationalität in der Wahrnehmung selbst: »[N]onsensuous perception [is] at the heart of all experience. The virtual continuity in the gaps is arced over by what purports to be an actual continuity across the gaps. The monadic discontinuity between drops of experience is bridged over by a sense of interactivity that functionally passes over it, which is to say, passes it over.«41 Die nichtsinnliche Wahrnehmung verbindet die sinnlich wahrgenommenen aber disparaten Momente (Whitehead nennt diese Faktum), ohne sie dabei in starre Ordnungen zu überführen. Im Zusammenspiel von sinnlicher und nichtsinnlicher Wahrnehmung entsteht eine Relation, die auch hier in ihrer Spannung von Kontinuität und Diskontinuität beschrieben werden kann.42 Der Erlebensvorgang wird zu einer Kettung von Ereignissen, diesmal: die Ereignisse der Wahrnehmung bzw. des Erfassens, sinnlich und nichtsinnlich. Übertragen auf die Berührung brechen diese Konzepte erneut mit der Beschränkung der Berührung den Moment des körperlichen Kontakts und damit der sinnlichen Wahrnehmung auf. Dabei entsteht jedoch keine Dichotomie von Kontakt als sinnlicher und Annäherung bzw. Distanzierung als nichtsinnlicher Wahrnehmung: In der Bewegung verbinden sich die einzelnen Sinneseindrücke, das Streichen über die Haut ist immer auch nichtsinnliche Wahrnehmung. Berühren ist hier weder ein Sinneseindruck noch die Aneinanderreihung von vielen separaten. Verstanden als ein zeitliches Geschehen, eine Kettung von Ereignissen, ist die Berührung mehr als der unmittelbare, präsente und damit aber auch diskrete Moment der sinnlichen Wahrnehmung des (anderen) Kör-
41 | Massumi: Semblance and Event, S. 66. 42 | Vgl. Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 341.
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pers, ihr wohnen ebenso nicht-sinnliche Wahrnehmungen inne, virtuelle Relationen. Diese sind nicht nur wesentlicher Bestandteil der Formierung der Berührung, sondern ebenso der berührenden Körper. Im Ereignis der Empfindung entsteht jedoch nicht die Form des Körpers, vielmehr formiert sich das Berührungsereignis als Teil des Körperprozesses. Form ist hier nicht der finale Moment eines Prozesses der Formierung, vielmehr ist die Form selbst Prozess: Die Form eines Körperns, eines Körpers als Prozess und nicht als Gegenstand. Prozessform statt Gegenstandsform. Dieser Körper ist kein gegebenes Objekt, sondern im Werden, er ist – wie Whitehead formuliert – eine »Gesellschaft von Vorgängen«43. Die Formen des Körperns entstehen als Form der Empfindungsereignisse, sie bringen den Körper als prozessuales Gefüge in den Berührungen hervor. In Bezug auf Whiteheads Konzept der Kontinuität, die sich immer im Werden befindet, und auf Gilbert Simondons Konzept der Individuation auf bauend beschreibt Manning den Körper als »relational node that culminates as a unity and as the difference of a complex process’s contemporary phasings. A body is continuity and emergent discontinuity – a remarkable point in the becoming of continuity. We know it as such for how it has not persisted in the complex of processes of which it is part.«44 Die Prozessualität bildet ein wesentliches Merkmal des Körpers: In der paradoxalen Struktur von Kontinuität und Diskontinuität lässt sich dieser nicht auf seine Form reduzieren, er ist mehr als diese, er ist das, was Manning eine Ökologie der Prozesse nennt: »More-than its taking-form, ›body‹ is an ecology of processes (and practices, as Isabelle Stengers might say) always in co-constellation 43 | Ebd., S. 365. 44 | Manning: Always More Than One, S. 18. Mit dem Begriff des »phasings« bezieht sich Manning genau auf jenen Aspekt einer Spannung von Kontinuität und Diskontinuität, die Whitehead in seinem bekannten Zitat »Es gibt zwar ein Werden der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens« ausdrückt (Whitehead: Prozess und Realität, S. 87).
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with the environmentality of which it is part.«45 Als Assemblage von Ereignissen weisen die Körper zugleich über ihre Formen hinaus, in ihrer Prozessualität sind sie mehr als ihre Einheit. Diese KörperProzesse sind Kettungen von Ereignissen, immer wieder entstehen (subjektive) Formen, die von neuen Empfindungen aufgenommen werden; diese Formen des Körperns führen zu neuen Formen und neuen Prozessen. Die Körper der Berührung: Assemblagen von Ereignissen, Gefüge von Prozessen, Kettungen von Formen des Körperns. In herses sind viele dieser Ereignisse der Formierung zu sehen: Beispielsweise wenn am linken Bühnenrand die rollenden Körper beginnen, sich aufzulösen. Sie bilden nun keine Rolle mehr, etwas verändert sich, das Gewirr der Körper scheint fransig zu werden, dann plötzlich ist ein Körper zu erkennen. Dieser Körper war nicht immer da, in der Distanz zur Rolle wird der Prozess Form. Doch dieser Prozess endet nicht, das Körpern geht weiter, diese eine Form verschwindet und neue Bewegungen, neue Prozesse und neue Formen des Körperns werden möglich. Nur wenige Schritte geht die Tänzerin nach hinten, zur Seite und bleibt mittig hinter der Rolle stehen. Sie beugt sich nach vorne über, zu sehen sind nur noch Beine und Rücken, sie sinkt nach unten und verliert sich in dem Gewirr der Berührungen. Es entstehen neue Körper-Prozesse, manche – wie ein gebeugter Arm, ein Knie, Rücken oder ein Kopf – sind bekannt, andere sind nicht mittels habitualisierter Wahrnehmungen einzuordnen. Die relationale Assemblage der Wahrnehmungen bzw. die Ökologie der Berührungen bringt neue Körper und neue Formen des Körperns hervor. Empfindungen berühren, sie verbinden und trennen: Als Perzepte und Affekte sind sie jene Kräfte, die durch die Körper hindurch gehen und Relationen bilden, als Erlebensvorgänge sind sie zugleich jene Ereignisse, die die Formen der Körper-Prozesse hervorbringen und somit Differenz und Distanz, Whitehead nennt es
45 | Manning: Always More Than One, S. 19.
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»Ellenbogenfreiheit«, schaffen.46 Diese Differenzen, die Prozesse der berührten und wahrgenommenen Körper sind kontingent und doch werden sie immer und immer wieder hervorgebracht; immer anders, immer neu. Denn die Berührungen sind mehr als die Prozesse des Körperns, sie gehen über diese hinaus, sie halten nicht im Moment der abgeschlossenen Form inne; sofort kommt eine neue Berührung, ein neues Ereignis des Empfindens nimmt die bestehende Form auf, öffnet diese und beginnt einen weiteren Prozess der Formierung. Es sind die Prozesse des Körpers, nicht seine Gegenständlichkeit, die zur Form werden und die zugleich in ihrer Ereignishaftigkeit über diese hinausgehen. Diese Körper-Prozesse sind vielmehr Kettungen immer neuer Ereignisse und immer neuer De- und Re-Formierungen. In der Berührung bleiben die Körper auf andere bezogen, sie sind eine »Gesellschaft von Vorgängen« (Whitehead), eine Assemblage von Ereignissen und eine Vielzahl von Berührungen. Es ist dieses Mehr, dieser Überschuss, der zu immer neuen Konfigurationen der Körper führt, ohne diese jemals abzuschließen. In den Berührungen entstehen die Körper als Prozess, sie sind mehr als bloß Form und Einheit, sie sind Gefüge von Empfindungen, Bewegungen und Berührungen.
46 | Vgl. Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 355.
Tangente III: Nacktheit
Nacktheit eröffnet im Theater, aber auch darüber hinaus ein komplexes Feld affektiver Konfigurationen: Sie stellt Schutzbedürftigkeit und Anschauungslust aus und evoziert damit verschiedene Formen von Lust, Empörung oder Ekel. Zugleich ruft die Nacktheit eine Vielzahl kultureller Normen und Verbote, Imaginationen und Begehren hervor. Nacktheit ist jedoch nicht auf eine Bedeutung bzw. eine Wirkung zu reduzieren. Nacktheit hat im Tanz, im Theater und in der Performancekunst eine lange Tradition. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte sie die Natürlichkeit der Protagonist/inn/en und ihrer Bewegungen betonen (so beispielsweise in den Aufführungen von Isadora Duncan), später in den 1960er-Jahren diente sie als Provokation der gesellschaftlichen Normen und sollte mit herrschenden Werten brechen (so beispielsweise in den Aufführungen des Wiener Aktionismus).1 Die wohl dominantesten Assoziationen mit der ausgestellten Nacktheit sind (nicht nur) auf der Bühne die Erotik und das Begehren und damit verbunden das Gefühl der Scham – die Scham zu sehen und die Scham gesehen zu werden. Ein anderes sowohl mit der Nacktheit als auch mit der Scham verbundenes Feld ist die Verletzbarkeit, jener Zustand, den Agamben im Anschluss an Benjamin als »nacktes Leben« bezeichnet hat. In seiner Nacktheit ist der 1 | Für eine umfangreiche Darstellung der Nacktheit im Theater und Tanz des 20. Jahrhunderts siehe: Ulrike Traub: Theater der Nacktheit. Zum Bedeutungswandel entblößter Körper auf der Bühne seit 1900, Bielefeld: transcript 2010, bes. S. 98-112 u. S. 250-295.
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Mensch schutzlos jeglicher Gewalt ausgeliefert. Und so sind nicht nur die Aktmodelle nackt, sondern auch die toten Körper auf den Bildern aus dem Vernichtungslager in Auschwitz.2 Bilden diese beiden Szenarien einerseits extreme Zonen des verbotenen Blicks, wird die Nacktheit andererseits oftmals auch ins Zentrum des Sichtbaren gerückt: Als Garant von Wahrheit wird der nackte Körper in jene »Ordnungen des Sichtbaren« eingebunden, die nach Deleuze und seinen Foucault-Lektüren neben den Ordnungen des Sagbaren wesentlicher Teil der »Prozeduren des Wahren« sind.3 Wiederholt wurde beschrieben, in welcher Weise diese verschiedenen Konzepte der Nacktheit mit den Blickökonomien verbunden sind.4 Wie verändern sich diese Konfigurationen der Nacktheit, wenn nicht nur der Blick, sondern ebenso die Berührung den Modus ihres Empfindens bildet? In den vielfältigen, teilweise widersprüchlichen Konzepten der Nacktheit zeigt sich, dass sich die affektiven Spannungen der Körper 2 | Vgl. zum »nackten Leben« die Homo sacer-Trilogie von Giorgio Agamben, besonders Teil I (Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002) und Teil III (Ders.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003). Zum Begriff des nackten Lebens bei Benjamin siehe: Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Gesammelte Schriften Bd. 2.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 179-203. 3 | Vgl. zu den Ordnungen des Sichtbaren: Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 69ff. und zum nackten Körper als eine Form der historisch-spezifischen Sichtbar- und Sagbarkeit: Maren Möhring: »Nacktheit und Sichtbarkeit«, in: Jürgen Martschukat (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt a.M. u. New York: Campus 2002, S. 151-169. Siehe auch zur Figur der Verità als nackter Trägerin der Wahrheit: Federico Ferrari: »Veritas«, in: Ders. und Jean-Luc Nancy: Die Haut der Bilder, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2006, S. 115-118. 4 | Vgl. hierzu: Kerstin Gernig (Hg.): Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich, Köln: Böhlau 2002.
Tangente III: Nacktheit
weder eindeutig bestimmen noch auf eine emotionale Beziehung reduzieren lassen. Scham, Begehren, Ekel können immer nur einen Teil der Beziehungen beschreiben, die sich zwischen den Körpern ereignen. In ihrer intersubjektiven bzw. Subjekt-Objekt-Konstruktion entweichen der Beziehung all jene affektiven Relationen, die sich nicht in diese Strukturen einordnen lassen. Nacktheit ist kein spezifisches Attribut oder eine Markierung des Körpers, vielmehr produziert sie diese durch ihre Intensitäten und affektiven Dynamiken. Nacktheit ist somit nicht statisch, sondern vielmehr eine Bewegung: Sie ist der erotische Rhythmus von Ver- und Enthüllung. Nacktheit ist – so Agamben – kein Zustand sondern ein Ereignis: »Als Ereignis, das nie zur Vollendung kommt, als Form, die sich in ihrem Geschehen nicht ganz erfassen lässt, ist die Nacktheit buchstäblich unendlich, hört niemals auf, sich zu ereignen.«5 Agamben beschreibt die Nacktheit in ihrer Prozessualität der Enthüllung und verweist dabei zugleich auf das ihr innewohnende Paradox: »Hinter der unerklärlichen Hülle hingegen verbirgt sich kein Geheimnis: Entblößt, erweist sie [die Nacktheit, G.E.] sich als reiner Schein.«6 Hier wird nicht etwas enthüllt, kein innerer, nackter Kern, sondern vielmehr der erhabene Schein der Leere.7 Federico Ferrari beschreibt in Bezug auf Francis Bacons Aktgemälde Study for a Nude, dass sich die Bewegung der Nacktheit dabei nicht auf jene der Kleidung beschränkt, sondern ebenso den Körper bzw. die Nacktheit selbst umfasst: Die Nacktheit erlaubt Bacon die figürliche Darstellung des gemalten Körpers, weder menschlich noch tierisch, zu defigurieren und sie in einen Zustand der Bewegung zu versetzen, der sich nicht mehr in fixe Raum-Zeit-Koordinaten einordnen lässt. »Und aufgrund dieser Aussetzung gegenüber dem Unmaß der Zeit ist jede Figur, und die nackte Figur vor allen anderen, so offensichtlich jedes Beiwerks entledigt, das auf eine bestimmte Zeitlichkeit
5 | Giorgio Agamben: Nacktheiten, Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 111. 6 | Ebd., S. 148. 7 | Ebd., S. 141.
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verweisen könnte, ist immer in der Defiguration begriffen.« 8 Nacktheit ist hier nicht mehr nur die Bewegung eines ver- und enthüllenden Kleides, es ist der Körper selbst, die Verbindung aus Körper und Hülle, die in Bewegung gerät. In Stücken wie herses und low pieces ist zu sehen, dass die Hülle nicht nur in Bezug auf ihre Funktion des Verhüllens bestimmt werden kann, sondern wiederum selbst (nackter) Körper ist. Wenn sich die Körper der Tanzenden in der Schlussszene von herses gemeinsam zu einer Rolle verschlingen, dann bilden sie ein Gemenge nackter Körperteile. So wenig hier die Körper als distinkte und individuelle Formen zu bestimmen sind, lässt sich die Szene auf Kategorien der Scham oder der Natürlichkeit der Körper der einzelnen Tänzerinnen und Tänzer reduzieren. Die Assemblage aus Bewegungen und Berührungen ist nicht jenseits ihrer affektiven Dynamiken zu beschreiben: Ihre Intensität und Erotik ver- und enthüllender Bewegungen wird gerade dort deutlich, wo immer wieder partielle Formen der Körper erscheinen. Wenn sich ein Arm, eine Schulter, ein Oberkörper aus dem Gemenge löst, wird für einen Augenblick ein Teil eines nackten Körpers sichtbar, es entsteht – wenn auch nur momenthaft – eine Form, die Form des Heraustretens, die jedoch gleich wieder in andere Formen eingeht und andere Körper sicht- und fühlbar werden lässt. Anders als in klassischen Situationen des Entkleidens geht es hier nicht darum, Äußeres zu entfernen. In herses sind es die Bewegungen und Berührungen zwischen den Körperteilen, die die affektive Intensität der nackten Körper hervorbringen; nie in ihrer Ganzheit, sondern immer partiell. Ein weiterer Mechanismus des Verhüllens ist die Dunkelheit: So wird die Aufführung von low pieces mehrfach durch blacks strukturiert. Diese markieren nicht nur den Wechsel von einer »Landschaft« zur nächsten, sie eröffnen selbst eine Zwischenzeit, ein Intervall voller Möglichkeiten. Ob in diesen Momenten die Tanzenden nackt sind, bleibt offen, sie sind umhüllt mit jener Dunkelheit, die Agamben 8 | Federico Ferrari: »Defiguration«, in: Ders. und Jean-Luc Nancy: Die Haut der Bilder, S. 29-32, hier: S. 31.
Tangente III: Nacktheit
die »Farbe der Potenzialität« nennt.9 Erst mit dem Aufleuchten der Scheinwerfer erlischt diese Potenzialität und die Körper werden entblößt. Die Nacktheit ist ein körperliches Ereignis: temporär, intensiv, ein zeitlicher Bogen entstehender und vergehender (Körper-)Formationen. Hülle und Verhülltes lösen sich in herses in einer mannigfaltigen Assemblage von Nacktheiten auf, ohne jedoch dabei ihre kon stitutive Differenz zu verlieren. Hier gibt es keine Verhüllung des Nackten durch Nicht-Nacktes, sondern nur Nacktes, das Nacktes berührt und damit zugleich ver- und enthüllt: Hülle und Verhülltes bilden kein Paar mehr, die Körper der Tanzenden bilden mannigfaltige Differenzen und Relationen, Assemblagen von Nacktheiten, die zugleich mehr sind als lediglich ein »nackter Körper«, sie werden zu Faltungen vielfältiger Berührungen, immer partiell, immer potenziell, immer zu neuen Berührungen und anderen Körpern drängend. In herses und low pieces führt die Nacktheit zu einer Auflösung der Differenzen zwischen den einzelnen individuellen Körpern: In ihren verschiedenen Assemblagen sind die Körper nicht eindeutig voneinander getrennt, sondern gehen – auch visuell – immer neue und andere Verbindungen ein, die quer zu den traditionellen Aufteilungen verlaufen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Nacktheit der Tanzenden die Differenzen der Körper negiert oder gar eliminiert, vielmehr ist die nackte Haut selbst voll von Marken, Kon trasten, Unterschieden und Differenzierungen; sie ist, wie Michel Serres schreibt, eine »Hautkarte«, voll von »Abnutzung, […] Narben alter Wunden, von der Arbeit verhärtete[n] Stellen, […] Runzeln und Furchen vergangener Hoffnungen, Flecken, Male[n], Ekzeme[n], Schuppenflechten, Begierden«.10 Diese Markierungen bilden keinen Ausdruck individueller Geschichten, sie verlaufen transversal durch alle Körperformationen, schaffen Verbindungen und Relatio9 | Giorgio Agamben: »On Potentiality«, in: Potentialities. Collected Essays in Philosophy, Stanford: Stanford UP 1999, S. 177-184, hier: S. 180. 10 | Serres: Die fünf Sinne, S. 21.
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nen, Anhäufungen und Netze; erneut: Assemblagen von Differenzen. Eine Differenz, die in beiden Produktionen ausgeschlossen wird, ist die der Hautfarben. Sowohl bei Charmatz als auch Le Roy befinden sich ausschließlich »weiße« Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Obwohl die Körper von mannigfaltigen Differenzen durchzogen werden und trotz der immer wieder hervorgehobenen Differenzen, wird sich eines Phantasmas der Homogenität bedient, das sich die Position des »weißen« Körpers als ›unmarkierte‹ Fläche zu eigen macht, wie sie in den rassistischen Systemen »weißer« Vorherrschaft geschaffen wird. Die Körper in herses und low pieces sind mannigfaltig und different und doch bilden sie eine Einheit, die gerade jene über die Hautfarbe hergestellte Differenz ausschließt.11 So wenig wie die Nacktheit einen statischen Zustand bildet, so wenig ist sie auf einen Körper zu reduzieren. Nacktheit ist ein relationales Ereignis. Gehen die meisten, weiter oben beschriebenen Konfigurationen der Nacktheit – wie Scham, Wahrheit, Natürlichkeit etc. – von einer Beziehung zwischen zwei separaten Körpern aus, bringt die Berührung die Nacktheit als eine Konfiguration hervor, der die Körper nicht vorgängig sind. In den Berührungen sind die Körper nicht in klare Einheiten von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen zu unterteilen. Die Verhüllung unterbricht hier nicht eine Weise der Wahrnehmung, die sich zwischen zwei bereits bestehenden Körpern ereignet, hier sind es die relationalen Ereignisse der Berührungen, die die anderen Körper wahrnehmen, in Bewegung setzen und damit immer neue Konfigurationen von Nacktheit produzieren. Das Berühren der nackten Haut ist immer partiell und weist damit in ihrer Bewegung gewisse Analogien zum gleichzeitigen Ver- und Enthüllen der Nacktheit auf. Wie der Blick auf den nur teilweise enthüllten Körper ist auch die Berührung niemals ›vollständig‹ – Blick und Berührung bewegen sich tastend. 11 | Vgl. zum »weißen« Körper: Richard Dyer: White, London u. New York: Routledge 1997. Zur rassistischen Verknüpfung von »weißer« Hautfarbe, Licht und Schwerelosigkeit im Tanz, siehe v.a. S. 130f.
Tangente III: Nacktheit
Wenn sich Nacktheiten mit Nacktheiten verbinden, dann geht es nicht um Verhüllung und die Regulierung des Blicks, die nackten Körper bilden vielmehr Konfigurationen der Berührung, die aus (tastenden) Bewegungen, aus Empfindungen (anderer, nackter Körperformationen) und affektiven Dynamiken bestehen. Es ist gerade das vorsichtige Tasten, das Zögern der Arme, das die Prekarität dieser Körper deutlich werden lässt: Auf der Suche nach den ›geeigneten‹ Stellen zur Berührung artikuliert sich zugleich die Verletzbarkeit anderer Körperteile und die Gewalt, die mit ihrer Berührung einhergehen würde. Die Assemblagen von Körpern und Berührungen in herses und low pieces lassen dieses Zusammenspiel von Nacktheit und Berührung, von Bewegungen, Empfindungen und Affekten deutlich werden. Wenn die Körper der Tänzerinnen und Tänzer in low pieces verschlungen am Boden liegen, dann lassen diese sich nicht in nackte und verdeckte oder gar verhüllte und verhüllende Körper aufteilen, hier ist zunächst eine Fläche multipler Körper zu sehen – Rücken neben Rücken. In der Bewegung, dem Aufrichten der Oberkörper verändert sich nicht nur die Formation der Fläche, aus ihr ragen nun Köpfe, Schultern, Arme und Rümpfe nach oben. Es entstehen andere Körperformen, die uns – zumindest teilweise – vertrauter erscheinen. Die nun zu erkennenden Oberkörper wurden jedoch nicht durch ihre Bewegungen enthüllt, sie waren nicht in der Fläche der Rücken verborgen. Vielmehr hat diese Bewegung nun andere, neue Körperteile hervorgebracht. Diese andere Assemblage von Körpern besteht – wie die vorhergehenden und die folgenden – nicht aus ›ganzen‹ Körpern, die nur ›teilweise‹ gezeigt werden (wie es in der Logik eines teilweise enthüllten Körpers der Fall wäre), die Körper entstehen in ihren Verbindungen und Berührungen immer wieder neu. Wie bei den Bewegungen des Ver- und Enthüllens verändern sich die Formen der Körper, die von den Berührungen (aber auch in den Blicken des Publikums) wahrgenommen werden können. Die »Körperlandschaften« in low pieces sind somit Assemblagen einer Nacktheit, die sich nicht nur nach außen und zum Publikum hin artikuliert, sondern ebenso zwischen den Körperteilen
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der Tänzerinnen und Tänzer. Indem die Körper keine getrennten Entitäten bilden, sondern immer andere Gefüge von Bewegungen und Berührungen entstehen, bilden sie die Rhythmen affektiver Intensitäten.
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Wenn die Bewegungen und Empfindungen aufeinandertreffen, durchkreuzen sie sich, sie verstärken einander, schwächen einander ab und konfigurieren in ihrem Zusammenspiel immer neue und andere Assemblagen von Körpern. Es entstehen Figurationen von unterschiedlichen Intensitäten und Dynamiken. Dies sind die Rhythmen der Berührung. Die Körper entstehen dabei in der rhythmischen Koppelung der Bewegung – sie sind ihre je spezifische Affektivität. Die Rhythmen operieren weder in einem Körper noch zwischen distinkten Körpern, sondern ziehen sich transversal durch die Körper der Tänzerinnen und Tänzer. In der Bewegung werden die Körper affektiv: Sie werden zu intensiven Rhythmus-Gefügen.
W hat they are instead of Dicht hintereinander und mit ausgestreckten Armen stehen die Tänzerin Angela Schubot und der Tänzer Jared Gradinger zu Beginn von What they are instead of (2009) an die linke Bühnenwand gestützt. Einige Minuten verharren sie scheinbar reglos und stumm in dieser Pose. Doch je länger beide so stehen, desto deutlicher zeigen sich die unzähligen kleinen Bewegungen ihrer Körper: Jeder Atemzug hebt und senkt ihre Oberschenkel, ihren Rumpf, Hals und Kopf. Der Refrain ihrer Bewegungen verstärkt sich, ihr Atem wird hörbar, erst leise, dann immer lauter; Schubot und Gradinger hecheln synchron zu den bebenden Bewegungen der Körper. Ob das (bis zum Ende der Aufführung anhaltende) Hecheln durch die Bewegungen und die eintretende Erschöpfung evoziert wird oder ob im Gegenteil diese durch den Atem strukturiert werden, bleibt dabei ungewiss.
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Abb. 12: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (2009) Die Tanzenden stehen nebeneinander, er hat ihre Schulter umfasst, sie drückt regelmäßig seinen Kopf und Oberkörper nach unten. Ein Beben zieht sich wellenartig durch ihre Körper und lässt die beiden aneinanderschlagen: Dicht hinter ihr kniend stößt sein Oberkörper immer wieder gegen ihren, beide prallen voneinander ab und federn zurück. Wenn Gradinger seinen Arm um Schubots Hals wirft und ihren Körper nach hinten zieht, führt dies nicht zur Bewegungslosigkeit – das Beben geht auch im Liegen weiter, die Körper kommen nicht zur Ruhe. Durch die vielfältigen Berührungen, das Greifen des Kopfes, des Beines oder des Arms der/s anderen entstehen Bewegungsformationen, die selten auf eine/n der beiden beschränkt sind. Sich an den Händen haltend bewegen beide Tänzer/innen ihre Arme auf und ab. Von wem geht diese Bewegung aus? Geht das Schwingen der Arme überhaupt von einer/m aus? Zieht sich nicht vielmehr die Bewegung als ein Rhythmus durch die Körper hindurch, bildet eine Ebene der Immanenz, eine Intensität, die die Körper – auch über die Momente ihres Kontakts hinaus – verbindet?
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Abb. 13: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (2009) Das Beben der Körper und die regelmäßigen Geräusche des hechelnden Atmens erzeugen eine Spannung: Einerseits wirken die Bewegungen, das gegenseitige Stoßen und Reißen gehetzt, immer wieder werden die Körper weitergetrieben, Ruhe ist nur in ganz wenigen Momenten möglich. Auf der anderen Seite scheinen die Bewegungen erschöpft, die Körper wirken immer wieder kraftlos, als bräuchten sie das wiederholende Hin und Her, um sich überhaupt noch bewegen zu können. Dann wieder scheint geradezu blitzartig Energie in die Körper zu fahren und es entsteht eine Spannung zwischen ihnen, die entweder in den Ausbruch eines heftigen Bewegungssturms, in das spannungsvolle Gleichgewicht zweier gegeneinander wirkender Kräfte oder in das abrupte Abbrechen des Hechelns und Bebens und die schlagartig einsetzende Ruhe mündet. Diese Situationen sind nur von kurzer Dauer, und schon bald kommt es wieder zu den bekannten Geräuschen und Bewegungen.
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Abb. 14: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (2009) In den affektiven Dynamiken dieser spannungsvollen Bewegungskonstellationen lassen sich auch die Berührungen der beiden Tanzenden beschreiben. Immer wieder stoßen sie sich mit ihren Oberkörpern, ihren Armen oder Füßen voneinander ab. In ihren Wiederholungen verändern sich die Dynamiken dieser Berührungen, mal werden sie drastischer, mal schwächen sie ab, oftmals aber verschiebt sich ihre Intensität nur minimal. Kaum wahrnehmbar entstehen bei jeder neuen Berührung, jeder neuen Bewegung andere Relationen, andere Affekte und somit auch die Möglichkeit anderer Bewegungen; sei es ein Zurückweichen, ein Festhalten, ein Verstärken des Bestehenden bzw. das Auf- (und Ab-)bauen einer gegenläufigen Kraft. Die Kraft des Repetitiven, der sich wiederholenden Bewegungen und Berührungen wird noch verstärkt, wenn nach ca. einer halben Stunde ein Moment der Ruhe eintritt. Dieser markiert jedoch nicht das Ende der Aufführung, vielmehr ist er eine Zäsur, ein erneuter Anfang: Beide Tänzer/innen kehren an ihren Ausgangsort zurück und beginnen die soeben getanzten Bewegungen noch einmal von vorn. Es treten leichte Verschiebungen auf, Schubot und Gradinger tauschen in einigen Bewegungskonstellationen ihre »Rollen«, vor allem aber ändern sich die Dynamiken der Bewegung durch die einge-
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tretene Erschöpfung: Das Hecheln wird stärker, die Pausen werden länger, die Bewegungen langsamer. Am Ende erlischt das Licht auf der Bühne, es ist nur noch das Hecheln der beiden Tänzer/innen zu hören, dann verstummt auch dieses abrupt.
B ebende K örper What they are instead of ist ein Beben. Ein Rhythmus zieht sich durch die Körper, durch die Bewegungen und durch den Atem der Tänzer/ innen. Es ist nicht die Vibration eines Körpers, einer Bewegung oder eines Atems, der Rhythmus zieht sich transversal durch die Aufführung und verbindet sowohl auf räumlicher als auch auf zeitlicher Ebene verschiedene Elemente. Körper, Töne, Bewegungen schwingen: Sie sind das Beben der Aufführung.1 Doch hier werden keine Einheiten, keine vorgegebenen Elemente verbunden, die Bewegungen der Körper in What they are instead of sind nicht der Rhythmus zwischen zwei Körpern, es sind die Körper selbst, die rhythmisch werden. Hier entstehen Assemblagen aus tausenden von Vibrationen und Mikrorhythmen. Der Rhythmus in What they are instead of lässt sich nicht auf die Körper beschränken, er findet sich ebenso im hechelnden Atem oder dem Auf und Ab der Bewegungen wieder. Er reicht sogar tiefer als der Blick und das Gehör, er bildet ein »vitale[s] Vermögen, das alle Gebiete sprengt und durchquert«, er verbindet Sensationen, stellt diese gegeneinander und vereinigt sie, er ist eine »Sensationskoppelung«.2 Dabei geht es weder um die Anpassung noch um die 1 | Brian Massumi beschreibt den Rhythmus gerade in seiner Abstraktheit, die sich nicht an eine Ausdrucks- bzw. Wahrnehmungsmodalität binden lässt: »Rhythm is amodal. It is the abstract shape of the event as it happens, across whatever modes it happens with. It is the immediate thinking-feeling of nonlocal linkage. Rhythm is the amodal in person.« (Massumi: Semblance and Event, S. 125). 2 | Deleuze: Francis Bacon, S. 31 u. S. 47.
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Synchronizität der einzelnen Körper, Töne und Bewegungen, vielmehr ist »[d]ie Differenz rhythmisch und nicht etwa die Wiederholung, durch die sie allerdings erzeugt wird«.3 Der Rhythmus bildet hier keine vorgegebene Form bzw. Struktur der Bewegung, er ist dieser nicht sekundär, vielmehr ist er selbst eine Bewegung: »[T]he very becoming of the movement is rhythmic«, schreibt Manning.4 Und doch liegt er – so Deleuze und Guattari – »nie auf derselben Ebene wie das Rhythmisierte«;5 zu keinem Zeitpunkt gehen Bewegung und Rhythmus ineinander auf. Jeder Rhythmus besteht aus mehr als einer Bewegung, als eine transversale Kraft schafft er Verbindungen und Gefüge. Das Beben der Aufführung produziert Vielheiten, Verbindungen und Relationen und mehr noch: So wie es in What they are instead of mehr als einen Körper, mehr als eine Bewegung und mehr als eine Relation gibt, gibt es auch mehr als einen Rhythmus. Wenn die Körper der beiden Tänzer/innen aneinander schlagen, dann treffen Rhythmen auf Rhythmen, sie interferieren und es entstehen neue Rhythmen – differente Bewegungen und Bewegungen der Differenz. Diese Relationen sind affektiv: Sie verknüpfen nicht Gleiches mit Gleichem, sie operieren nicht auf der Ebene der Reproduktion; die Bewegungen in What they are instead of sind dynamisch und kinetisch. Sie lassen sich als aufwallend, verblassend, flüchtig, explosionsartig, anschwellend, abklingend oder berstend beschreiben, mit genau jenen Begriffen, mit denen Daniel Stern die Vitalitätsaffekte charakterisiert. Dies sind keine Begriffe der Reproduktion und Repetition, sie beschreiben keine konstanten Strukturen, sondern Dynamiken und Intensitäten von Bewegungen – in den Schwingungen verketten sich die differenten Affekte: »Rhythms are never predictable.«6
3 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 428. 4 | Manning: Relationscapes, S. 34. 5 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 428. 6 | Manning: Relationscapes, S. 35.
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Wenn die beiden Tänzer/innen in What they are instead of mit ihren Oberkörpern aneinanderprallen oder wenn sie sich gegenseitig forttreten, dann entstehen rhythmische Beziehungen, die nicht als eine Serie immergleicher Wiederholungen zu beschreiben sind, diese Bewegungen und ihre Berührungen sind affektive Dynamiken. Mal schwellen sie an, werden heftiger, wirken berstend und gewaltvoll exzessiv, mal werden sie träge, klingen immer weiter ab, bis sie sich – kaum noch wahrnehmbar – nur noch als minimale Bewegungen und Vibrationen durch die Körper ziehen. Es sind die Veränderungen, mal langsam steigernd, mal abrupt abbrechend, welche die Intensitäten der Bewegungen und Körper, vor allem aber die Rhythmen der Berührungen bilden. Als affektive Beziehungen produzieren sie Verbindungen zwischen den Bewegungen, den Körpern, aber auch dem Atmen der beiden Tänzer/innen. Diese Beziehungen lassen sich gerade von ihrer Veränderung und ihrer Differenz her beschreiben. In den Wiederholungen des Auf und Ab, des Hin und Her, der Nähe und der Distanz, aber auch in der Wiederholung der gesamten Choreographie werden Verbindungen und Differenzen produziert, die sich transversal durch die Körper, die Bewegungen und die Atemzüge ziehen. Diese Rhythmen bilden keine strukturierende Form, sondern eine Veränderung von Intensitäten. Die Berührungen sind Konfigurationen affektiver Dynamiken, sie sind rhythmisch, oder genauer: Die Berührung ist ein Rhythmus. Die Berührung verbindet, jedoch nicht im Sinne einer Verschmelzung, sondern im simultanen Ereignis von Differenz und Relation – relation of nonrelation. Die Berührung ist Nähe und Abstand, Kontakt und Distanz, sie ist eine rhythmische Bewegung: »Die kritische Distanz ist kein Maß, sondern ein Rhythmus. Aber gerade der Rhythmus unterliegt einem Werden, das die Abstände zwischen Personen beseitigt, um rhythmische Figuren zu schaffen, die ihrerseits mehr oder weniger voneinander entfernt, mehr oder weniger kombinierbar sind (Intervalle).« 7 Deleuze und Guattari be7 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 436.
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schreiben hier das Zusammenkommen als einen Rhythmus. Dabei geht es jedoch nicht um das Aufeinandertreffen zweier Wesen bzw. Personen, diese werden vielmehr selbst zu »rhythmischen Figuren«. Rhythmus beschreibt hier nicht mehr nur die Relation als eine zeitliche bzw. räumliche Differenz zwischen einzelnen Körpern, er zieht sich ebenso durch diese hindurch und lässt die Körper selbst rhythmisch werden. Die Berührung lässt sich hier in zweifacher Weise als Rhythmus beschreiben: als Rhythmus der Berührung und als Berührung der Rhythmen. Die Berührung ist einerseits das Ereignis der Relation und Differenz zwischen den berührenden Körpern, andererseits bilden diese Körper selbst Rhythmen, die Berührung wird zu einem Zusammentreffen von Bewegungen, einer Interferenz – ein Rhythmus von Rhythmen. Es entstehen keine vorgegebenen (repetitiven) Formen, sondern affektive Dynamiken, Intensitäten der Veränderung und Differenz.8 Wie die Berührungen, die Bewegung und Empfindung sind auch die Rhythmen keine Handlungen der Körper, sie sind ihnen nicht sekundär. Das Schwingen der Bewegungen und Empfindungen zieht sich durch die Körper hindurch – die Körper fangen an zu beben, sie zittern und vibrieren. »Es geht nicht mehr um Organisation, sondern um Zusammensetzung; nicht mehr um Entwicklung oder Differenzierung, sondern um Bewegung und Ruhe, um Geschwindigkeit und Langsamkeit. Es geht um Elemente und Partikel, die schnell genug zur Stelle sind oder nicht, um einen Übergang zu bewerkstelligen, ein Werden oder einen Sprung auf
8 | Rhythmus, so betonen Deleuze und Guattari immer wieder, ist nicht strukturierend, sondern differenzierend. Strukturierung bzw. Territorialisierung entsteht durch die Wiederholungen des Refrains (ritournelle): »Ganz allgemein bezeichnet man als Ritornell jedes Ensemble von Ausdrucksmaterien, das ein Territorium absteckt und das sich in territorialen Motiven und Landschaften entwickelt (es gibt motorische, gestische, optische und viele andere Ritornelle).« (Ebd., S. 440)
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einer und derselben reinen Immanenzebene.«9 Körper werden hier nicht als abgeschlossene und in sich funktionierende Organismen beschrieben, die sich durch Zeit und Raum bewegen können, die andere Körper berühren und Beziehungen eingehen, ohne dabei sich selbst und ihre Organisationsweise zu verändern. Deleuze und Guattari beschreiben im Anschluss an Spinoza die Körper selbst als Zusammensetzungen von Dynamiken der Bewegungen. Es sind die Verhältnisse von Geschwindigkeit und Ruhe, die nicht nur die Berührungen, sondern auch die Körper in ihrer je spezifischen Weise hervorbringen. Als affektive Dynamiken konfigurieren die Rhythmen sowohl die Ereignisse der Berührungen als auch die Körper. Der Körper wird zu einem vibrierenden Gefüge von Bewegungen und Affekten. Ein rhythmischer Körper ist nicht nur ein prozessualer Körper, er ist auch ein Körper im Werden. Wie der Rhythmus besitzt auch der Körper keine vorgegebene Form, er ist Veränderung und Differenz. Bewegungen, Empfindungen und Berührungen verbinden sich zu einem Körper, der nur selten den Körper eines individuellen Menschen bildet. In What they are instead of ist es meist eine Berührungs-Assemblage, weder ein Körper noch zwei, sondern Mannigfaltigkeiten von Bewegungen und Berührungen, immer neue und andere Formen, die sich im Rhythmus der Aufführung verbinden. Der Körper ist auch hier eine Kettung von Ereignissen. Und: Der Körper besteht aus einem »Verhältnis von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit« sowie entsprechenden »Intensitäten, die es affizieren, die sein Handlungsvermögen steigern oder verringern und die von äußeren Teilen oder seinen eigenen Teilen stammen«. Deleuze und Guattari nennen dies die Breiten- und Längengrade des Körpers: »Als Breitengrad eines Körpers bezeichnet man die Affekte, zu denen er nach einem bestimmten Vermögensgrad oder vielmehr nach den Grenzen dieses Grades fähig ist. Der Breitengrad besteht aus intensiven Teilen, die zu einer Fähigkeit gehören, so wie der Längengrad aus extensiven Teilen besteht, die zu einer Be9 | Ebd., S. 348.
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ziehung gehören.« 10 Hier entsteht eine »Kartographie des Körpers«: Längen- und Breitengrade konstituieren seinen Immanenz- und Konsistenzplan,11 Bewegungen und Affekte verbinden sich in Körper-Konfigurationen, die nicht mehr durch ihre Form, nicht als determinierte Substanz oder durch die Organisationen ihrer Organe bestimmt werden. Es sind die Momente der Veränderung in der Bewegung, die Differenzen der Geschwindigkeit, dem die Intensitäten entsprechen bzw. die – wie Deleuze an anderer Stelle ausführt12 – von den Affekten in Beschlag genommen werden. Dort, wo die Bewegungen sich ändern, wo (neue) Differenzen, aber auch (neue) Beziehungen entstehen, konfigurieren sich die affektiven Dynamiken und Vermögen der Körper. Es bedarf der Affekte, der Differenz und Veränderung, es bedarf des Rhythmus’ der Bewegung, um den Körper als einen vermögenden und werdenden hervorzubringen. Ein Rhythmus ist die Berührung. Sie lässt Bewegungen und Empfindungen interferieren, produziert immer neue und andere Differenzen und damit affektive Dynamiken des Körpers. Weder die Körper noch die Bewegungen sind dabei den Affekten vorgängig. Die Berührungen sind Ereignisse affektiver Beziehungen, einer Beziehung, der immer auch Momente der Differenz und der Alterität inne sind; Berührungen sind aber auch affektive Konfigurationen der Körper. Sie bilden die Rhythmen der Bewegung, die die Körper in ihrer Intensität, ihrem Vermögen und ihrer je spezifischen Weise entstehen lassen. In der Berührung affizieren sich die Körper und werden affiziert. Hier wird jedoch nicht eine Einheit durch eine andere verändert. Affizieren bedeutet vielmehr die Interferenz von Bewegungen und die Veränderung der Rhythmen. Die beschriebe10 | Ebd., S. 349f., Herv.i.O. 11 | Vgl. hierzu auch: Deleuze: »So legen wir die Kartographie eines Körpers fest. Die Gesamtheit der Längen und Weiten konstituiert die Natur, den Immanenz- und Konsistenzplan, der ständig veränderbar ist und von den Individuen und Kollektiven unaufhörlich umgearbeitet, zusammengesetzt, wiederzusammengesetzt wird.« (Deleuze: Spinoza, S. 165). 12 | Vgl. Ders.: Das Bewegungs-Bild, S. 96.
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nen Körper berühren sich nicht, sie sind Körper der Berührung. Weder einer noch zwei, sondern tausende. Tausend Rhythmen der Berührung verbinden und differenzieren die mannigfaltigen Körper-Assemblagen, lassen immer neue und andere Bewegungen und damit immer andere Konfigurationen entstehen. What they are instead of ist voll von bebenden Körpern und affektiven Relationen. Zeitweise bewegen sich diese synchron: Arme, Rumpf, Kopf, Beine aber auch der Atem pendeln (stetig) auf und ab; ein großer, homogener Körper scheint auf der Achse von oben nach unten zu schwingen – das gleichmäßige Beben eines Körpers. Doch diese Momente sind selten während der Aufführung; meist sind die Richtungen, die Dynamiken und Geschwindigkeiten vielfältig. Mannigfaltige Körper bewegen sich, sie schlagen aneinander, stoßen andere fort – die Bewegungen interferieren. In diesen Ökologien von Beziehungen, Bewegungen und Berührungen sind die Körper der Tänzer/innen weder auf eine noch auf zwei Formen zu reduzieren, verbunden durch den Rhythmus der Berührungen werden die Körper zu einer Assemblage aus Bewegungen, Empfindungen und Affekten. Die Rhythmen in What they are instead of sind abstrakt, jedoch nicht allgemein. Als abstrakte Dynamiken sind sie nicht die Bewegungen je individueller Körper, sondern operieren auf der Immanenz- und Konsistenzebene. Zugleich sind sie aber keineswegs allgemein, sie sind keine strukturell gegebenen Formen: Nur in den je spezifischen Konfigurationen der Körper entstehen sie in ihren konkreten Figurationen. Die Rhythmen sind konkret und abstrakt zugleich. Wenn Schubot und Gradinger ihre Körper repetitiv gegeneinander werfen, dann sind dies keine monotonen Bewegungen. Ihre Annäherungen, ihre Distanzierungen, eben ihre Berührungen sind bestimmt von affektiven Dynamiken: Mal wirken sie zärtlich; erotisch scheinen sich ihre Körper übereinander auf und ab zu bewegen, doch schnell schleicht sich eine Gewalt ein, bis plötzlich ihre Körper so heftig aneinander schlagen, dass jegliche Eindeutigkeit – zärtlich oder gewaltvoll – verloren scheint. Die Berührungen lassen sich nicht durch klare Zuschreibungen charakterisieren, im-
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mer wieder werden neue Assoziationen aufgerufen, durchkreuzen einander und verbleiben zumeist im Bereich des Über- bzw. Unbestimmten. Die mannigfaltigen Affekte konfigurieren die Bewegungen und Körper auf je spezifische Weise. Diese affektiven Dynamiken der Berührung sind nicht einzelnen Tänzerinnen oder Tänzern zuzuschreiben: In What they are instead of geht es nicht um die individuelle Angst, den Hass oder das Begehren, hier sind die Rhythmen affektiv. Erotik und Gewalt sind keine intersubjektiven Beziehungen, sie selbst werden zu affektiven Konfigurationen von Berührungen und Körpern.
R hy thmische E mpfindungen Berührungen sind die Rhythmen und Interferenzen der Bewegungen. Zugleich bilden sie Ereignisse des Empfindens: In der Berührung »verkoppeln« sich Perzepte und Affekte, bilden Relationen und mit ihnen Formationen von Körpern. Als »Wesen, die durch sich selbst gelten und über alles Erleben hinausreichen«, sind die Empfindungen nicht an den Menschen und seinen Körper gebunden, vielmehr entsteht gerade umgekehrt der Körper als ein »Komplex aus Perzepten und Affekten«13 – in der Berührung formiert sich der Körper. Und zugleich weist die Empfindung über diese Formierung hinaus: Der Rhythmus der Berührung verbindet nicht nur die mannigfaltigen Bewegungen, ebenso werden in ihm die Empfindungen verkoppelt. Im Ereignis der Berührung schwingen die Empfindungen – auch hier: Relation und Differenz. Beide Begriffe sind für die Empfindung konstitutiv: Einerseits produziert die Empfindung immer eine Form der Beziehung, andererseits ist keine Empfindung ohne Differenz möglich. Nur wo eine Differenz besteht, ist ein Empfinden möglich. Das Empfundene kann dabei weder monoton noch konstant oder statisch sein, es kann nicht ›eins‹ sein, es ist vielmehr das Zusammentreffen von Verschiedenem, es 13 | Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 192.
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ist eine Komposition, eine Berührung, ein Rhythmus. Empfunden wird nicht das eine oder das andere, auch nicht beides zusammen, empfunden wird die Differenz zwischen ihnen, die virtuelle Linie ihres Kontrasts.14 Hier ist es der Rhythmus, der diese virtuellen Linien der Differenz durch die Verbindungen entstehen lässt und der damit selbst virtuell ist. In der Berührung verbinden sich die mannigfaltigen Ereignisse des Empfindens. Dieser Rhythmus der Perzepte und Affekte ist keine »Eigenschaft« der Empfindung, er ist – wie die Relation – der Empfindung inhärent: »To posit rhythm as extra to experience is to misunderstand how rhythm make up events. Rhythm gives affective tonality to experience, making experience this and not that.«15 Es ist die »Affektive Tönung«, mit der Whitehead die »Basis« sowie die je spezifische »Qualität« der Erfahrung beschreibt.16 Diese ist jedoch nicht mit den affektiven Dynamiken zu verwechseln: Lässt sich der Rhythmus als eine Verkettung differenter Vitalitätsaffekte im Sinne Sterns beschreiben, so weist Massumi gerade auf den Unterschied (und den Zusammenhang) von Vitalitätsaffekten und affektiver Tönung hin: In Bezug auf die Lebenserfahrung des Säuglings schreibt Massumi: »The vitality affect contributes a singular quality of liveness to this event. The affective tonality expresses the kind of liveness that is this event’s: its generic quality. It marks its species. […] Vitality affect plus affective tonality make every formof-life singular-generic.«17 Bilden die Vitalitätsaffekte die affektive 14 | Ausgehend von Peirces Konzept der »Firstness«, »Secondness« und »Thirdness« beschreibt Massumi die »virtuelle Linie« im Bereich der visuellen Wahrnehmung: »Something new: First. And with it, simultaneously and indissociably, a Secondness: a visible separation of surfaces. The separation is across an insubstantial boundary, itself imperceptible. Pure edge. Neither black nor white. Not neither not both. A virtual line.« (Massumi: Semblance and Event, S. 89). 15 | Manning: Relationscapes, S. 9. 16 | Whitehead: Abenteuer der Ideen, S. 326 und S. 432. 17 | Massumi: Semblance and Event, S. 112, Herv.i.O.
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Dynamik und damit die Singularität der Empfindungen innerhalb der Berührung, beschreibt die affektive Tönung den Rhythmus der Berührung, die Verknüpfung der Empfindungen und die Dynamiken ihrer Formierung. Indem die Vitalitätsaffekte verbunden werden, entsteht eine affektive Tönung der Berührung. Und es ist diese affektive Tönung, die die Prozesse der Formierung der Körper in der Berührung je spezifisch macht. Kein Körper, kein »Komplex aus Perzepten und Affekten« ist uniform, es sind gerade die Komplexität, das Zusammenkommen von Empfindungen, ihre Interferenzen und Berührungen, die die Ereignisse der Formierung je singulär werden lassen. Und es ist zugleich diese Affektivität des Empfindens, die über die Form der Körper hinausgeht. Als jene Kraft, die Deleuze und Guattari als das »Nicht-menschlich-Werden des Menschen« beschrieben haben,18 bringen sie Körper-Assemblagen hervor, die nicht auf ihre Form beschränkt sind. Diese Assemblagen sind voller Ereignisse von Empfindungen, von Perzepten und Affekten, die vibrieren und schwingen, und die sich in den Rhythmen der Berührung verbinden: »Rhythm is a force for mattering on the cusp between the actual and the virtual, felt both actually and virtually in the between of the series, causing a change of direction, a jump, a syncopation.«19 Der Rhythmus der Empfindungen verknüpft nicht nur die Formen der Körper-Prozesse, sondern zugleich jene virtuellen Linien der Differenz – Fluchtlinien, die diese Formen auf brechen. Im Ereignis der Formierung gegenverwirklicht sich auch eine Kraft, die diese Formen niemals erstarren lässt, sondern erneut auf bricht und in Bewegung setzt. In dieser Spannung aus Verwirklichung und Gegenverwirklichung entsteht die affektive Tonalität der Berührung. In What they are instead of bilden diese De- und Refigurierungen der Körper durch die Berührung den Rhythmus der Aufführung: In den Berührungen der beiden Tänzer/innen, dem Aneinanderschlagen ihrer Körper entstehen Formen: Formen des Körperns, Formen 18 | Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 199. 19 | Manning: Relationscapes, S. 132.
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der Berührung, Formen der Wahrnehmung und Bewegung. Doch zugleich lässt sich die Aufführung nicht auf ein Zusammenspiel der Formen beschränken, in der Verbindung der vielfältigen Bewegungen und Empfindungen, Berührungen und Affekte beginnen die Körper und die Bühne zu schwingen. Wenn die Körper aneinanderschlagen – heftig, zärtlich – stellen sie eine Beziehung her und nehmen zugleich ihre Grenzen und Differenzen wahr. Diese Empfindungen lassen sich dabei nicht auf einen inneren Kern der Tänzer/innen beziehen, hier vermittelt sich keine äußere Erfahrung nach innen, die empfundene Differenz ist vielmehr eine Differenz des Empfindens selbst, jene Differenz der Berührung, die die Grenze der Körper entstehen lässt. Die Berührung ist das Ereignis der Differenzierung in der Bewegung und Empfindung. Diese Differenz der Berührung bildet dabei keinen Gegensatz zu ihrer Relation: In dieser Spannung produziert die Berührung auch über den Kontakt hinaus Gefüge rhythmischer Bewegungen und Körper. Wenn die beiden Tänzer/innen ihre Berührung gelöst haben bzw. wenn es noch nicht zu einem neuen Körperkontakt gekommen ist, bricht ihre Beziehung keineswegs ab. Transversal durch ihre Körper verläuft ein Vibrieren, das beide Körper als spannungsvolle Gefüge entstehen lässt, ohne dass (schon) ein (erneuter) Körperkontakt stattgefunden hat. In jenen Momenten, in denen Schubot und Gradinger dicht nebeneinander liegen, berühren sie einander nicht und doch bilden die Rhythmen ihrer Körper (ausgedrückt durch ihre je individuellen Bewegungen sowie durch die Bewegungen zwischen ihnen) eine Assemblage von Beziehungen, in der beide sowohl auf der Ebene der Bewegung als auch auf der Ebene der Empfindung in Beziehung stehen. In ihrem Beben konfiguriert sich die Berührung über den Moment des Hautkontakts hinaus. Diese Rhythmen sind keine Beziehungen zwischen den beiden Körpern der Tänzer/innen, sie sind die Interferenz von Bewegungen: Schwingungen treffen aufeinander, verkoppeln sich mit anderen und produzieren immer neue Schwingungen. What they are instead of: Rhythmen anstelle gegebener Körper, Interferenzen anstelle aufeinander treffender Formen.
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Dieses Gefüge von Berührungen ist nicht nur auf die Bühne beschränkt: Bewegungen, Perzepte und Affekte lassen sich auch in den Relationen zwischen Bühne und Publikum beschreiben. So wie die Tänzer/innen in den Berührungen die Differenzen ihrer Körper zugleich produzieren und empfinden, so sind auch die Empfindungen des Publikums zu diesen Prozessen weder sekundär noch äußerlich. Auch sie sind Teil des Netzwerkes von Empfindungen, auch sie verbinden sich und interferieren mit den Rhythmen auf der Bühne. In What they are instead of lassen sich weder Körper noch Berührungen wahrnehmen, sondern die vielfältigen Prozesse ihrer Formierung. In den Rhythmen der Empfindungen formieren sich Gefüge von Körpern jedoch nicht als äußerlicher Akt, sondern als Prozess der Empfindung selbst. Jene spezifische Komposition dieser Prozesse, ihre affektive Tonalität ist damit keine, die sich außerhalb der Zuschauerinnen und Zuschauer oder gar in ihnen abspielt, es ist die affektive Tonalität der Beziehungen selbst – Beziehungen, die über die Aufteilungen in Tänzer/innen und Zuschauer/innen, Kunstwerk und Betrachter/in, Objekt und Subjekt hinaus gehen. Diese Beziehungen sind Assemblagen von Empfindungen, von Bewegung und Berührung und keine Verhältnisse bestehender Körper. Sowohl die Tänzer/innen als auch das Publikum sind Teil eines Gefüges von Berührungen. Ihre Körper und ihre Formen bilden nicht den Ausgangspunkt dieser Verknüpfungen, sondern sind vielmehr das (immer nur temporäre) Ergebnis dieser relationalen Prozesse. Die Rhythmen der Berührung operieren sowohl auf der Ebene der Bewegung als auch auf der Ebene der Empfindung autonom, sie brechen immer wieder die Formierungen auf und verknüpfen sie zu neuen, anderen Gefügen. Gefüge, die über bekannte Formen hinausgehen und in denen Körper entstehen, die mehr als nur menschlich sind.
5. Ich, eine Berührung
Berührungen ereignen sich zwischen den vielfältigen Körpern der Tänzerinnen und Tänzer, sie bringen mannigfaltige, in sich differente Körper-Assemblagen hervor. Doch auch der singuläre Körper ist nicht eins. In welchem Verhältnis stehen die Berührungen zu diesem »eigenen« Körper (bzw. den Körpern) der Tänzerin oder des Tänzers? Inwiefern bringen die Berührungen, ihre Bewegungen, Wahrnehmungen und Affekte den Körper hervor und inwieweit übersteigen sie diesen Körper, stellen seine Individualität, sein solistisches Auftreten in Frage? Das Tanzsolo und seine Fokussierung auf den singulären Körper bildet nicht nur einen herausgehobenen Schauplatz der Selbstberührung, es geht in der Berührung über sich hinaus und wird damit mehr als ein Solo: mehr als ein/e Tänzer/in und mehr als ein Körper. Indem das Individuum, die Berührung und die Körper keine bestehenden Entitäten bzw. deren Verfestigung, sondern offene und generative Prozesse bilden, ist auch das solistische Ich keine Einheit der Form, sondern ein Prozess der Differenzierung. Auch in der Philosophie bildet die Selbstberührung eine zentrale (Denk-)Figur: So gehen Edmund Husserl und Maurice MerleauPonty davon aus, dass sich der Mensch mit seinen beiden Händen berührt, er die Einheit seines Körpers reflektiert bzw. er sich in der Welt konstituiert. Immer wieder werden in der Phänomenologie die Hände als zentrales Organ der Berührung hervorgehoben. Damit wird jedoch nicht nur die Möglichkeit einer Selbstvergewisserung beschrieben, zugleich wird der Mensch als privilegiertes Wesen der Berührung konstruiert. In welcher Form und mittels welcher
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Ausschlüsse wird diese anthropozentrische Begrenzung der Berührung vollzogen? Wie können Konzepte der Technik im Tanz und in der Philosophie mit diesen Vorannahmen brechen? Welche Verbindungen, welche sowohl menschlichen als auch nicht-menschlichen Assemblagen und Milieus entstehen im Solo und in den Prozessen der Individuationen?
S olo Zwei Füße, bekleidet mit hellen Socken, stehen nebeneinander auf dem Boden. Sie wippen vor und zurück, krümmen und strecken sich und berühren den glatten Grund. Der rechte Fuß wird nach hinten geführt, endet dort jedoch nicht, sondern zeichnet weitere Figuren auf den Boden, der linke folgt ihm und abwechselnd gleiten beide über die dunkle Fläche. Es quietscht und scharrt, wenn die Füße über den Boden streichen; visuelle und akustische Markierungen vermischen sich und auf dem Boden bilden Streifen und Linien Spuren vergangener Berührungen. Der Tänzer William Forsythe springt nach oben, schlägt die Beine aneinander und verschleift diesen Sprung in neue Bewegungen, mit denen er immer wieder Figuren des Balletts – entrechat quatre, rond de jambe oder kleine Drehungen – andeutet, ohne diese »akademisch« in Gänze auszuführen. Langsam fährt die Kamera den Körper nach oben ab, tastet sich immer weiter vor, bis sie, nur den Kopf des Tänzers zeigend, zur Ruhe kommt. Kurz darauf erscheint der Titel dieses Videotanzes: Solo.1
1 | Solo wurde 1997 von William Forsythe (Tanz und Choreographie) und Thomas Lovell Balogh (Regie) für BBC TV/France 2/RD-Studio Productions produziert. Kamera: Jess Hall, Komposition: Thom Willems, Violine: Maxim Franke. Das Video erschien erstmals im Rahmen der Dokumentation Evidentia (BBC TV/RD-Studio Productions/SVT 1-Drama/France 2) und wurde auf der CD-ROM Improvisation Technologies 1997 wiederveröffentlicht. (William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, Ostfildern: Hatje Cantz 2012 [Buch und CD-ROM]).
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Abb. 15: William Forsythe: Solo (1997) Aus verschiedenen Distanzen und Perspektiven sind die Bewegungen des Tänzers zu sehen. Mal wird dabei der Körper aus einer Art Vogelperspektive gefilmt, dann werden wieder nur Teile – Arme, Hände, Beine oder der Kopf – gezeigt. Der Raum bleibt vage, beinahe unbestimmt, lediglich drei in einer Reihe angeordnete Lichtkegel kerben die glatte Dunkelheit. Zentral für die Bewegungen in Solo sind die Berührungen: Immer wieder generieren sie Impulse und bringen somit neue Bewegungen hervor. Forsythes linke Hand greift an seinen rechten Ellenbogen, zieht diesen nach vorne und stößt ihn direkt nach hinten zurück. Oder sein linker Arm dreht sich hinter seinen Rücken und schlägt dort auf die Ferse seines rechten, nach hinten-oben gewinkelten Beines. Hier überträgt sich jene anfangs von der Hand ausgeführte Bewegung auf den Fuß. »Shift points of inscription«: »[Y]ou move from a point, drawing with one point, to accomplishing something else with anoth er point in another direction.« 2 Points bezeichnen dabei die Enden der Glied2 | Forsythe: Improvisation Technologies, S. 55. Forsythes Bewegungsbeschreibung stammt (wie auch die folgenden) von der CD-ROM Improvisa-
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maßen (Hände, Füße) bzw. die verbindenden Gelenke (Ellenbogen, Knie). Diese Berührungen wirken durch die Schnelligkeit der Bewegungen oft hart und abrupt, wie ein Schlag gegen einen Teil des Körpers. Es ist lediglich ein klatschendes Geräusch als akustischer Effekt des Kontakts zu hören, visuell entzieht sich die Berührung durch die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen. In den Berührungen in Solo übertragen sich die Bewegungen von einem zum anderen Körperteil. Darüber hinaus werden manchmal auch einzelne Punkte (Knie, Ellenbogen etc.) fixiert. Diese Fixierung führt jedoch keineswegs zum Stillstand, sie bestimmt vielmehr den Möglichkeitsradius der folgenden Bewegungen: Wenn Forsythe mit seinen Händen sein linkes Knie berührt, dann wird dieses weder gezogen noch gestoßen, es wird vielmehr als Fix-Punkt für die Bewegungen des Unterbeines bestimmt, als jener Punkt, an dem sich der Körper »faltet«. 3 Diese mannigfaltigen Bewegungen verkoppeln sich dabei zu abrupten Rhythmen von Geschwindigkeiten. Schnelle Figuren wechseln schlagartig zu langsamen, minimalen Veränderungen. So scheint Forsythes Handballen für einige Augenblicke geradezu an seinem Kinn zu kleben, langsam rollt er von rechts nach links, ohne dass sich die beiden Körperteile voneinander lösen. Sein linker Unterarm wird von hinten gegen den Rücken gepresst, schiebt diesen geradezu nach vorne. Forsythe nennt diese Art der Berührungen »CZ«: »CZ involves putting pressure between two limbs, and then, rotating the limbs as fast as you can, using these torsions, and these connections. And the pressure of one limb on the other gives the alteration in the tion Technologies. Forsythe beschreibt in 64 einzelnen Abschnitten seine Bewegungsweisen. Das Video Solo bildet dabei eine Verdichtung dieser »Theorie-Lektionen«. Vgl. William Forsythe und Nik Haffner: »Observing Motion. An Interview with William Forsythe«, in: William Forsythe: Improvisation Technologies. A Tool for the Analytical Dance Eye, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 16-22). Für eine ausführliche Beschreibung und Analyse von Solo im Kontext der Improvisation Technologies vgl. auch: Wibke Hartewig: Kinästhetische Konfrontation. Lesarten der Bewegungstexte William Forsythes, München: Epodium 2007, S. 229-236. 3 | Vgl. hierzu die Lektion »Folding« der Improvisation Technologies. (For sythe: Improvisation Technologies, S. 47).
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Abb. 16: William Forsythe: Solo (1997) skeletal mechanic.« 4 Die wohl markanteste Variante eines CZs in Solo ist jener Moment, in dem Forsythe die Finger seiner beiden Hände verschränkt und somit einen Kreis, bestehend aus Brust und Armen bildet, der sich wellenförmig auf und ab bewegt. Hier scheinen die Berührungen der Finger nicht nur sehr präzise und filigran, sie bilden zugleich eine feste Verkoppelung der Körperteile, die sich selbst in den gegenläufigen Bewegungen nicht lösen. Solo besteht nicht nur aus Bewegungen und Berührungen, zu hören sind neben dem Quietschen und Klatschen der Bewegungen auch Violinklänge, die immer wieder neu kombiniert und in Rhythmik und Dynamik variiert werden. Die Bewegungen ereignen sich dabei nicht in einem leeren Raum, sie werden auch nicht aus einer distanzierten und statischen Perspektive abgefilmt. Forsythe bewegt sich relational zur Kamera, beide nähern sich aneinander an, entfernen sich, berühren einander. In diesen Beziehungen entstehen neue Rhythmen und mit ihnen neue körperlich-haptisch-visuelle Gefüge. Die Bewegungen verbinden den Körper des Tänzers mit der Perspektive der Kamera, indem sie quer durch diese hindurch verlaufen. 4 | Ebd., S. 66.
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Sie bringen Bilder hervor, die selbst aus Interferenzen von Bewegungen bestehen, Bilder, die oftmals nur einzelne Körperteile oder Berührungen zeigen und somit fragmentarisch bleiben. Diese transversalen Bewegungen setzen sich auch im Schnitt fort: Solo wurde weder chronologisch an einem Stück gefilmt noch folgen die Bildsequenzen einer vorgegebenen Ordnung. Erst im Zusammenspiel der Bewegungen von Körper, Kamera, Ton und Schnitt entstand diese Videochoreographie. 5
S ich B erühren : P hänomenologische S elbstrefle xionen Solo ist voller Bewegungen und voller Berührungen. Solo ist eine Vielzahl von wechselnden Verbindungen des Körpers, von Koppelungen und Rhythmen. Man könnte den Tanz eines Körpers beschreiben, der sich berührt. Doch stellt nicht gerade die Berührung sowohl die Einheit des Körpers (dieses einen Körpers) sowie die damit eng verknüpfte Vorstellung des ›Sich‹ in Frage? Maurice Merleau-Ponty führt aus, wie der Körper durch die Berührung zu einem eigenen und die Berührung damit zu einer Selbstberührung wird. Eine bekannte Berührungsfigur Edmund Husserls aufgreifend, beschreibt er die Selbstberührung wie folgt: »Es gibt einen Bezug meines Leibes zu ihm selbst, die [sic!] ihn zum vinculum meiner selbst und der Dinge macht. Wenn meine rechte Hand meine linke berührt, empfinde ich sie als ein ›physisches Ding‹, aber im selben Augenblick tritt, wenn ich will, ein außerordentliches Ereignis ein: Auch meine linke Hand beginnt meine rechte Hand zu empfinden, das Ding verändert sich, es wird Leib, es empfindet.« 6 5 | Weder Bild- noch Tonspur bilden die Vorgabe für Solo, beide wurden erst in der Postproduktion zusammengeführt (vgl. hierzu: Hartewig: Kinästhetische Konfrontation, S. 218f.). 6 | Maurice Merleau-Ponty: »Der Philosoph und sein Schatten«, in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: Felix Meiner 2003,
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In der Berührung entsteht der Leib. Der Leib ist nichts Gegebenes oder der Berührung Präexistentes, sondern wird durch diese hervorgebracht und verändert. Doch welcher Körper entsteht, wenn ich mich berühre? Wer ist in diesem Akt der Berührung ›ich‹, wer berührt sich selbst? Entsteht das Selbst – wie der Körper – in den Berührungen oder ist es ihr Grund und Ausgangspunkt? Bereits Edmund Husserl wendet sich im zweiten Buch seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie den beiden sich berührenden Händen und somit der Frage der Selbstberührung zu. Aus der Berührung des eigenen Körpers folgert Husserl zwei wesentliche Annahmen: Erstens ermöglicht uns die Doppelempfindung der sich berührenden Hände (oder Finger, von denen Husserl in diesem Abschnitt spricht), unseren Leib zu erkennen und ihn von einem taktuell wahrgenommenen äußeren Objekt zu unterscheiden, das nur ›einfach‹ empfunden wird.7 Zweitens »kann sich [der Leib] als solcher ursprünglich nur konstituieren in der Taktualität und allem, was sich mit den Tastempfindungen lokalisiert wie Wärme, Kälte, Schmerz u.dgl.«.8 Die Berührung bringt somit den Leib hervor und konstituiert ihn auf S. 243-274, hier: S. 253, Herv.i.O. Merleau-Ponty bezieht sich mit den letzten hervorgehobenen Wörtern auf: Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Den Haag: Martinus Nijhoff 1952, S. 145. 7 | »Im taktuellen Gebiet haben wir das taktuell sich konstituierende äußere Objekt und ein zweites Objekt Leib, ebenfalls taktuell sich konstituierend, etwa den tastenden Finger, und wir haben zudem Finger, den Finger tastend. Hier liegt also jene Doppelauffassung vor: dieselbe Tastempfindung, aufgefaßt als Merkmal des ›äußeren‹ Objekts und aufgefaßt als Empfindung des Leib-Objekts. Und in dem Fall, wo ein Leibesteil zugleich äußeres Objekt wird für den anderen, haben wir die Doppelempfindungen (jeder hat seine Empfindungen) und die Doppelauffassung als Merkmal des einen oder anderen Leibesteils als physischen Objekts.« (Ebd., S. 147). 8 | Ebd., S. 150f.
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doppelte Weise: Als »physisches Ding, Materie, [hat er] seine Extension, in die seine realen Eigenschaften, die Farbigkeit, Glätte, Härte, Wärme und was dergleichen materielle Eigenschaften mehr sind« und zugleich »finde ich auf ihm, und empfinde ich ›auf‹ ihm und ›in‹ ihm: die Wärme auf dem Handrücken, die Kälte in den Füßen, die Berührungsempfindungen an den Fingerspitzen«.9 Der Leib ist hier ein in sich kohärenter und vor allem ein in der Berührung »reflexiver« Leib, zugleich ist er klar von den äußeren Objekten abgegrenzt.10 Äußeres kann zwar durch die Berührung empfunden werden, ist aber aufgrund der fehlenden Reflexivität dem Leib nicht zugehörig. In der Berührung ist es somit möglich, den Unterschied zwischen Leib und Objekt zu erfahren. Diese Grenze ist jedoch der Berührung vorgängig: Wenn Husserl von der Konstitution des Leibes durch die taktile Wahrnehmung spricht, so bedeutet dies nicht, dass die Einheit des Leibes, seine Grenzen und Öffnungen in der Berührung entstehen. Diese Einheit, das Selbst der Selbstberührung – Husserl nennt es »Ich« bzw. »transzendentales Ego« – ist immer schon gegeben und sowohl der Berührung als auch dem Körper vorgängig.11 Jenes »Es wird Leib« Husserls ist somit keineswegs das Hervorbringen der Einheit des eigenen Leibes durch die Berührung, sondern vielmehr die Verkörperung eines immer schon existierenden Egos bzw. Ichs. 9 | Ebd., S. 145. 10 | Sowohl Merleau-Ponty als auch Derrida heben die Reflexivität des Leibes in den Konzepten Husserls hervor: Merleau-Ponty: »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 153 und Derrida: Berühren, S. 218. Mark Paterson schreibt außerdem in seiner Studie zu den Sinnen der Berührung, dass die Berührung bei Husserl nicht nur ein reflexiver Akt ist, sondern als eine kinetische Praktik auch zur Kohärenz des Körpers und der Sinne führt: »Movement or potential movement, a kinaesthetic background, helps cohere the various patterns of sensation in order to activly correlate visual blobs of color to tactile forms.« (Mark Paterson: The Senses of Touch. Haptics, Affects and Technologies, Oxford u. New York: Berg 2007, S. 29). 11 | Vgl. Derrida: Berühren, S. 208.
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In seinen Betrachtungen der sich-berührenden Hände versucht Merleau-Ponty, die egozentrierte Sichtweise Husserls, seine Einheit des Leibes und vor allem die Differenz zu den äußeren Objekten zu überkommen. Die Grenzen des Leibes sind nicht mehr durch das Ich eines transzendentalen Egos gegeben, die Berührungen des Leibes unterscheiden sich somit auch nicht mehr wesentlich von denen der Objekte, vielmehr falten sich nun der Leib und sein Äußeres in einer ständigen Bewegung ineinander. »Noch einmal, das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt,/während er gerade dabei ist, die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig als berührbar zu ihnen herabsteigt und sie als berührender alle beherrscht und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen oder Spaltung seiner eigenen Masse aus sich selbst hervorholt.«12
In der Berührung – so Merleau-Ponty – lösen sich die Grenzen des Leibes auf, eine eindeutige Unterscheidung zwischen Innen und Außen wird unmöglich. In seiner Auseinandersetzung mit den Betrachtungen der Selbstberührung bei Husserl, ersetzt Mer leau-Ponty jene unüberbrückbare Differenz zwischen Leib und äußerem Objekt mit der Fähigkeit der Einfühlung, den Körper der/ des anderen zu beseelen: »Meine rechte Hand wohnte dem Auftreten der aktiven Berührung meiner linken Hand bei. Es ist nichts anderes, wenn sich der Körper des Anderen vor mir belebt, wenn ich die Hand eines anderen Menschen drücke, oder wenn ich sie einfach betrachte.«13 Diese Gleichsetzung der Berührungen des eigenen und des fremden Leibes, des Selbst und des anderen führt bei Merleau-Ponty zu einer Einheit zwischen Leib und Welt, einer Einheit, die aufgrund ihrer fehlenden Differenzen auch eine Form 12 | Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 191, Herv.i.O. 13 | Ders.: »Der Philosoph und Sein Schatten«, S. 255f.
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der Vereinheitlichung, Derrida zufolge sogar der Vereinnahmung ist. Dieser »unmittelbare[…] Zugang[…] zum Anderen« birgt die Gefahr, sich »die Andersheit des Anderen gesicherter, blinder, ja gar gewaltsamer denn je wiederanzueignen«.14 Deutlich zeigt sich hier die Gefahr eines Egozentrismus gerade in jenem Moment, als Merleau-Ponty diesen zu überkommen versucht. Es sind die Einheit, der Mangel an Differenz – »[s]elbst zwischen mir und mir, wenn ich das sagen kann«15 – und die erneute Setzung einer Subjektivität der Empfindungen, die den Egozen trismus restituieren und bei Derrida ein »Unbehagen« der Lektüre Merleau-Pontys und die Forderung nach Differenz hervorrufen.16 Indem Merleau-Ponty eine »ontologische Rehabilitierung des Sinnlichen« vornimmt,17 überkommt er zwar jene transzendentale Einheit des Ichs, wie sie Husserl als Ausgangspunkt einer Kon stitution des Leibes durch die Berührung gesetzt hat. Doch gerade in der Berührung – genauer: der Selbstberührung – entsteht bei Merleau-Ponty eine erneute Bindung zwischen Selbst und subjektivem Leib. Stefan Kristensen führt in seiner Lektüre von Le monde sensible et le monde de l’expression aus, dass Merleau-Ponty bei seiner Konzeption des Leibes keineswegs mit einer gegebenen Entität (dem Selbst, dem Ich) einsetzt, sondern die Bewegung als primär versteht. »Anstatt eine Entität vorauszusetzen, die die Einheit der Bewegung verbürgt (Bewusstsein, Körper etc.), ist es nunmehr die
14 | Derrida: Berühren, S. 245. 15 | Ebd., S. 247. 16 | Vgl. ebd., S. 270. 17 | Merleau-Ponty: »Der Philosoph und sein Schatten«, S. 253f.
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Bewegung, die dem Leib seine Einheit verschafft.«18 Bewegung ist, so Merleau-Ponty, »Werden einer Gestalt«19. Doch wenn die Bewegung dem Leib und seiner Gestalt vorgängig und somit autonom ist, wieso formiert sich der Körper dann als Einheit? Kristensen führt hier das von Merleau-Ponty bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung gebrauchte Konzept des Körperschemas an: Diese »vorlogische Einheit«20 ermöglicht es MerleauPonty zwar, der transzendentalen Setzung eines autonomen Subjekts zu entkommen, es konstituiert aber zugleich eine neue Einheit des Selbst. Diese Einheit ist zwar durch ihre Bewegungen und Wahrnehmung veränderlich und mit anderen in Kontakt, jedoch setzt sie den Leib in Bezug zu sich selbst und bringt diesen als subjektiven Leib hervor. »Das Körperschema wäre kein Schema, enthielte es nicht diesen Kontakt von sich zu sich (der eher Nicht-Differenz ist).« 21 Es ist der Kontakt mit sich selbst, vor allem die Berührung, die bei 18 | Stefan Kristensen: »Merleau-Ponty I – Körperschema und leibliche Subjektivität«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny und Tobias Nikolaus Klass (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, S. 23-36, hier: S. 29. Vgl. auch: Maurice Merleau-Ponty: Le monde sensible et le monde de l’expression. Notes, Cours au Collège de France, 1953, hg. v. Emmanuel de Saint Aubert und Stefan Kristensen, Genf: Métis 2011. 19 | Ebd., S. 63. Dt. Übers. zitiert nach: Kristensen: »Merleau-Ponty I – Körperschema und leibliche Subjektivität«, S. 30. 20 | Ebd., S. 96, dt. S. 31. 21 | Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 321, Herv.i.O. Vgl. für eine Kritik des Körperschemas als ein den Prozessen des Körpers vorgängiges Konzept: Erin Manning und Brian Massumi: »Just Like That. William Forsythe – Between Movement and Language«, in: Gabriele Brandstetter, Gerko Egert und Sabine Zubarik (Hg.): Touching and Being Touched. Kinesthesia and Empathy in Dance and Movement, Berlin u. Boston: De Gruyter 2013, S. 35-62. »Approaches relying on the concepts of body schema and implicit knowledge fail in their attempted anti-Cartesianism. The body’s dynamism is implicitly returned to a dependency on a core mentality that
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Merleau-Ponty zu einer klaren Setzung des Selbst führt. Wenn die Hände sich berühren, dann gehören sie einem »Körperraum« an, sie besitzen eine »sehr spezielle Beziehung« zueinander, die immer wieder die Einheit, vor allem die des Selbst reinstituiert.22 Auch wenn Bewegung, Wahrnehmung und Berührung hier nicht als etwas verstanden werden, das der Körper bloß ausführt, ohne dabei verändert zu werden, so werden sie auch nicht als autonom von diesem beschrieben. Immer wieder wird ein subjektiver Kern des Leibes eingeführt, von dem sie ausgehen bzw. auf den sie bezogen sind. Zwar ist der Leib nicht gegeben, sondern entsteht in den Wahrnehmungen und Bewegungen, jedoch führen die Berührungen ausschließlich zu diesem einheitlichen, subjektiven Leib. Andere Formationen jenseits von Subjekt und Objekt bleiben unmöglich.23 In ihren wiederkehrenden Bezugnahmen auf die Berührung, die Selbstberührung, vor allem die Berührung der Lippen der Frau, zeigt Irigaray auf, dass die Einheit des Selbst, seine Unmittelbarkeit, wie sie bei Husserl und Merleau-Ponty zu finden ist, einer männlichen, phallischen Logik entspricht. Dagegen stellt Irigaray eine Differenz im Weiblichen: »So, when she touches herself (again), who is ›she‹? And ›herself‹? Inseparable, ›she‹ and ›herself‹ are part the one of the other, endlessly. They cannot really be distinguished, though
can be adequately expressed in logical form and is in the element of general meaning shared by language.« (Ebd., S. 43). 22 | Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 185. 23 | Massumi beschreibt diese Argumentationsweise der Phänomenologie als »closed loop of ›intentionality‹«: »For phenomenology, the personal is prefigured or ›prereflected‹ in the world, in a closed loop of ›intentionality‹. The act of perception or cognition is a reflection of what is already ›pre-›embedded in the world. It repeats the same structures, expressing where you already were. Every phenomenological event is like returning home. This is like the déja vu without the pertent of the new.« (Massumi: Parables of the Virtual, S. 191).
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they are not for all that the female same, nor the male same.«24 Und in einer früheren Version des Textes schreibt sie: »[W]hat happens there embraces itself in the movement – if it remains other which touches it(self).«25 Diese Bewegung der differenten ›Selbst‹-Berührung stellt nicht nur die männliche Logik eines unmittelbaren, eigenen Körpers in Frage, sie schreibt zugleich der phänomenologischen Argumentation selbst eine sexuelle Differenz ein.26 Auch wenn Irigarays eng mit dem weiblichen Körper verknüpfte Argumentation hier eher mit einer Vielfalt bzw. einer Vervielfältigung von Körpern zusammengebracht werden soll, zeigt sich deutlich, dass die Differenz der Berührung, vor allem der Selbstberührung, immer auch eine sexuelle ist, und dass sich die Kritik an der Einheit und an der Vereinnahmung des Körpers als eine feministische artikulieren muss.27 In diesem Sinne sind auch die Bewegungen und Wahrnehmungen der Berührungen in Solo als Prozesse der Differenzierung zu verstehen. Die Berührungen gehen nicht von einem Subjekt, einem subjektiven Leib bzw. Körperschema aus, sondern sind gegenüber diesem autonom. Nur so sind jene mannigfaltigen Prozesse des bodying 28 möglich, die nicht mehr an Subjekt-Objekt-Strukturen 24 | Luce Irigaray: Marine Lover. Of Friedrich Nietzsche, New York: Columbia Press 1991, S. 90. 25 | Dies.: »Veiled Lips«, in: Mississippi Review 11(3), 1983, S. 93-131, hier: S. 115. 26 | Vgl. Cathryn Vasseleu: Textures of Light. Vision and Touch in Irigaray, Levinas and Merleau-Ponty, London u. New York: Routledge 1998, S. 34. 27 | Eine andere Verbindung von Selbstberührung und Sexualität zeigt sich in der Masturbation, wie sie von Thomas Laqueur in seiner umfangreichen Studie Die einsame Lust. Eine Geschichte der Selbstbefriedigung untersucht wurde. Laqueur geht darin unter anderem dem Verhältnis der Sexualität zur Autonomie der Individualität nach, wie es in den Diskursen zur Masturbation seit dem frühen 18. Jahrhundert verhandelt wird. (Thomas Laqueur: Die einsame Lust. Eine Geschichte der Selbstbefriedigung, Berlin: Osburg 2008). 28 | Vgl. zum Konzept des bodying: Manning: Always More Than One, S. 20.
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gebunden sind oder einen bloß einheitlichen Körper hervorbringen. Die Berührungen übersteigen und durchkreuzen in ihrer Mannigfaltigkeit den einheitlichen Leib und produzieren andere, nicht-menschliche, nicht-männliche und a-subjektive Körperformationen. Solange die Berührung auf einen subjektiven Leib, ein Körperschema, ein transzendentales Ich oder Selbst verwiesen bleibt, operiert sie im Bereich der Reflexion ohne produktiv zu sein. Stellenweise ist in den späten Schriften Merleau-Pontys eine ähnliche Öffnung in den Prozessen des Körpers zu finden, die jedoch meist wieder geschlossen wird. Diese ›doppelte‹ Bewegung – die sowohl den Leib hervorbringt als auch von diesem ausgeht – lässt sich am deutlichsten in den Ausführungen zum Chiasmus sowie den zugehörigen Arbeitsnotizen erkennen. In dieser späten Phase, so argumentieren sowohl Derrida als auch Manning, revidiert Merleau-Ponty seine früheren Überlegungen, gibt diese jedoch nicht auf und verbleibt somit in einer »widersprüchlichen« bzw. »paradoxen« Logik.29 Es sind vor allem zwei von Derrida zusammengeführte Zitate aus den Arbeitsnotizen, die diese Unvereinbarkeit im späten Denken Merleau-Pontys hervorheben: »Berühren und sich berühren (sich berühren = berühren-berührt). Sie koinzidieren nicht im Körper: Das Berührende ist niemals exakt das Berührte.« Die zweite Textstelle lautet: »Das Körperschema wäre nicht Schema, wenn es nicht dieser Kontakt von sich mit sich wäre (der Nicht-Differenz ist).«30 Deutlich zeigt sich hier die Unstimmigkeit und Widersprüchlichkeit in Merleau-Pontys späten Texten: einerseits die Überlegungen, die jenes mit sich identische Selbst aufzubrechen scheinen und statt der Ein29 | Merleau-Ponty selbst schreibt im Juli 1959: »Die Probleme, die ich in der Ph. P. [Phänomenologie der Wahrnehmung, G.E.] gestellt habe, sind unlösbar, weil ich dort von der Unterscheidung ›Bewußtsein‹ – ›Objekt‹ ausgehe –«. (Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 257). Vgl. auch: Erin Manning: »Wondering the World Directly – or, How Movement Outruns the Subject«, in: Body and Society 20(3&4), 2014, S. 162-188, hier: S. 163. 30 | Zitiert nach Derrida: Berühren, S. 273f., vgl. auch: Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 320f., Herv.i.O.
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heit die Möglichkeit einer Differenz des Körpers eröffnen; andererseits jedoch immer wieder die Ausführungen der Selbstberührung, deren Ausgangspunkt die Subjekt-Objekt Beziehung ist. Diese Berührungen vereinheitlichen den Körper, ihre Wahrnehmung und Bewegung bilden keine transversalen Kräfte, sondern operieren im Bereich eines einheitlichen und subjektiven Leibes. Dieser Unmittelbarkeit der Berührung, die bei Merleau-Ponty zum vereinnahmenden, bei Husserl zum einheitlichen Selbst führt, setzt Derrida eine Verräumlichung entgegen. Er fragt, ob nicht jede berührende bzw. berührte Erfahrung bereits heimgesucht ist von einer Alterität, die jene Einheit unterbricht und aufspreizt. Der Selbstaffektion der Phänomenologie schreibt er somit eine »Heteroaffektion« ein.31 In der Berührung des Selbst wird immer auch der andere berührt: Jedes Sich-Berühren wird zum »Sich-Dir-Berühren«: »Das Sich-Dir-Berühren bleibt unberechenbar. Es wiegt, aber es zu denken geht über die Berechnung hinaus. Es ist weder eines, eine Monade, ein einzelnes, ein einmaliges Sich-sich-selbst-berühren, noch die zweifache, symmetrische und vor allem unmittelbare Beziehung eines wechselseitigen Einander-sich-berühren, dessen unpersönliches Gesetz man in der dritten Person aussagen würde. […] Dieses ›Du‹-hier wird sich niemals in einer ersten oder einer dritten Person (Singular oder Plural) deklinieren lassen. Es muß der berührbare (das heißt unberührbare) Pol eines Vokativs oder einer apostrophierenden Adresse bleiben.« 32
Sich-Dir-Berühren: Die Berührung des anderen im Selbst, weder Vereinnahmung und Einswerdung noch absolute Distanz, sondern die Hinwendung zum Selbst als Differenz. Sich-Dir-Berühren ist auch der solistische Tanz mit dem anderen in Solo. Doch wer ist das ›Dir‹, das berührt wird, wer der Tanzpartner des Solos? Dieser Tanz ist weder ›symmetrisch‹ noch findet er zwischen zwei Personen statt. Sich-Dir-Berühren, Mit-Dir-So31 | Derrida: Berühren, S. 231f. 32 | Ebd., S. 361, Herv.i.O.
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lo-Tanzen ist die Berührung zweier Körper, die nicht zwangsläufig menschlich sind. Es sind offene, unabgeschlossene Körper, die durch die Berührungen hervorgebracht werden: Es ist die Vielfalt von geometrischen Körpern, die durch die Bewegungen im Raum entstehen, von Licht-Körpern, die durch die Berührungen der Scheinwerfer entstehen, und somit von Berührungs-Körpern, die durch Verbindungen zwischen den Bewegungen und dem Raum, der Musik und der Kamera entstehen.33 Solo: der Arm tanzt mit dem Knie, tanzt mit der diagonalen Linie, tanzt mit dem Kreis des Körpers. Solo: die Kamera tanzt mit dem Fuß, tanzt mit dem Boden, Flächen entstehen, drehen sich; Quader entstehen und tanzen im Raum. Solo: der Raum tanzt mit den Lichtkegeln, mit den Wörtern, mit den hellen Spuren auf dem Grund. Solo tanzen viele. Es sind Assemblagen vielfältiger Bewegungen und Berührungen, die diese mannigfaltigen Körper hervorbringen. Selbstberührung ist unmöglich, da in der Berührung bereits neue und andere Körper entstehen. Heteroaffektion statt Autoaffektion.
E ine H and , viele F inger »Zum Beispiel meine Hand.«34 Diese Anführung Husserls zitiert Derrida gleich zu Beginn seiner Auseinandersetzungen mit der Berührung in der Phänomenologie. Es ist diese Beispielhaftigkeit, die die Verknüpfung der Hände mit der Berührung begleitet und zu33 | Hier unterscheiden sich die Tanztechniken Forsythes von den Konzepten des klassischen Balletts: Ist im Ballett der Körper an einer idealen, symmetrischen und oftmals auf die Körpermitte bezogenen Form ausgerichtet (bspw. die senkrechte Linie der Körpermitte oder der Kreis der Pirouette, der um diese Achse gezogen wird), so verlagert Forsythe diese geometrischen Formen nach außen, dezentriert und verändert diese. Die Form bildet hier kein trans zendentales Ideal mehr, in Solo wird mit der Form (als Äußerlichkeit und als supplementärem Körper) getanzt. 34 | Husserl zitiert nach Derrida: Berühren, S. 207.
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gleich über ihre bloße Zufälligkeit hinausgeht: Als das »beste Beispiel« einer Berührung ist – so stellt Derrida heraus – die Hand immer auch beispielhaft menschlich.35 In den Betrachtungen der Hand verknüpfen sich Bewegung und Berührung. Schon Maine de Biran führt die Hand als Organ der Berührung an, der es möglich ist, durch ihre Bewegungen aktiv andere zu berühren und nicht bloß passiv berührt zu werden. Husserl nennt die Hand sogar das »einzige Objekt, das für den Willen meines reinen Ichs unmittelbar spontan beweglich ist«.36 Mit der beispielhaften Fokussierung auf die Hand werden zwei Modifizierungen der Berührung unternommen: Einerseits öffnet sie die Berührungen für eine kinästhetische Wahrnehmung, andererseits bindet sie die Bewegungen und Berührungen an den freien Willen des Ego. Es ist der »egologische Körper«, der »Körper eines Ich-Mensch«, der die Bewegungen ausführt und auf den sie bezogen bleiben. Derrida zeigt, wie die Hand und ihr Bezug zum Ich nicht nur egozentrisch, sondern zugleich anthropozentrisch sind: »Die Hand ist meine Hand, doch zunächst als eine Hand des Menschen.«37 Derrida nennt dies den Humainismus (nicht nur) Husserls: Solange die Berührung eine Berührung der Hand ist und die Hand allein dem Menschen zugehörig, solange bleiben ihre Betrachtungen auf die menschlichen Berührungen beschränkt und bilden ein humainistisches und damit anthropozentrisches Projekt.38 Steht der Mensch in Form des transzendentalen Egos und des Selbst bei Husserl am Ausgangspunkt und damit im Zentrum seiner Betrachtungen zur (Selbst-)Berührung, setzt Merleau-Ponty diesen Anthropozentrismus der sich berührenden Hände fort. Obwohl er einleitend zu Das Sichtbare und das Unsichtbare verkündet, dass es ihm nicht um eine Anthropologie geht, bezieht auch er sich – wie Derrida ausführlich darlegt – lediglich auf die Berührung 35 | Derrida: Berühren, S. 207, Herv.i.O. 36 | Husserl: Ideen II, S. 152. 37 | Derrida: Berühren, S. 209, Herv.i.O. 38 | Vgl. ebd.
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der Hände und somit die menschliche Berührung.39 Immer wieder sind es in Merleau-Pontys Texten die Hände, die sich berühren und die damit das humainistische Selbst ins Zentrum der Betrachtungen rücken. Indem die Hände sich berühren, reflektiert sich jedoch nicht nur das Selbst, auch der Mensch vergewissert sich hier seines Menschseins und grenzt sich von allem/n ohne Hände und damit allem Nichtmenschlichen ab. Doch wo verläuft die Grenze zwischen der Hand und der NichtHand (beispielsweise der Klaue, der Tatze, der Pfote, der Flosse aber auch der Zange, dem Paddel etc.)? Ist die Hand das eindeutig unterscheidende Merkmal zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen? Gibt es überhaupt die Berührung der Hand oder stellt gerade die Berührung in ihrer Mannigfaltigkeit ihre Einheit und ihre Funktion als privilegiertes Organ der Berührung in Frage? In dem bereits dreizehn Jahre vor seiner Auseinandersetzung mit der Hand in der Phänomenologie veröffentlichten Text Heideggers Hand (Geschlecht II) greift Derrida die Frage nach der Hand und der Grenze des Menschen bei Heidegger auf.40 Derrida schreibt dabei der von Heidegger als Ausgangspunkt seiner Untersuchungen gesetzten Verknüpfung des Menschen mit der Hand ein Moment der Monstrosität ein. Die Hand unterscheidet, so Heidegger, den denkenden Menschen von den Tieren; so besitzt der Affe zwar »Greiforgane«, hat jedoch keine Hand.41 Die Hand ist sogar das 39 | Vgl. Derrida: Berühren, S. 264. 40 | Ders.: »Heideggers Hand (Geschlecht II)«, in: Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), Wien: Passagen 1988, S. 45-99. 41 | Vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken?: »Die Hand gehört nach der gewöhnlichen Vorstellung zum Organismus unseres Leibes. Allein das Wesen der Hand läßt sich nie als ein leibliches Greiforgan bestimmen oder von diesem her erklären. Greiforgane besitzt z.B. der Affe, aber er hat keine Hand. Die Hand ist von allen Greiforganen: Tatzen, Krallen, Fangen, unendlich, d.h. durch einen Abgrund des Wesens verschieden. Nur ein Wesen, das spricht, d.h. denkt, kann die Hand haben und in der Handhabung Werke der Hand
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Wesen des Menschen: »Der Mensch ›hat‹ nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen des Menschen inne«.42 Wenn Heidegger hier die Hand als das Wesen des Menschen setzt, hebt Derrida die singuläre Form der Hand (im Gegensatz zu den zwei Händen, die man ›hat‹) hervor. Heidegger setzt die Hand zum vereinheitlichten Zeichen des Menschen und seiner Abgrenzung gegenüber allen nichtmenschlichen Wesen. Doch es ist gerade die eine Hand des Einarmigen, die den Menschen zum Monster macht. Die Einheit der Menschen, so Derridas Argument, ist immer auch monströs.43 Wenn die Hand als (Wesens-)Merkmal des Menschen in Frage gestellt wird, dann soll dies nicht zu einer Ausweitung dessen führen, was als Hand (und damit als menschlich) bestimmt wird. Es geht nicht um die Inklusion und damit die Vereinheitlichung differenter Wesen in die Kategorie derer, die Hände haben (der Menschen). Vielmehr sollen mittels der Hand – ihren Bewegungen und Berührungen – jene gesetzten Kategorien des Menschen, des Monsters, des Tieres etc. befragt werden.44 Die Hände, so zeigen vollbringen.« (Martin Heidegger: Was heißt Denken?. Gesamtausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2002, S. 18). 42 | Ders.: Parmenides. Gesamtausgabe Bd. 54, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1982, S. 118. 43 | Vgl. hierzu: Derrida: »Heideggers Hand«, S. 80, zum Monströsen als De(Monstrierbarkeit): Ebd., S. 53-59. In Bezug auf Heidegger formuliert Derrida: »Die Hand, das wäre die (De)Monstrierbarkeit (monstrosité), das Eigene des Menschen als Sein des Zeigens (monstration). Sie würde ihn von jedem anderen Geschlecht* unterscheiden, und zuvorerst vom Affen.« (Derrida: »Heideggers Hand«, S. 59). 44 | In seinem Buch Das Tier, das ich also bin wendet sich Derrida gegen den verallgemeinernden Begriff »Tier« und macht auf die Vielheit der Tiere, die mannigfaltigen Differenzen, die quer zu der Unterscheidung Mensch/Tier verlaufen aufmerksam: »Ich möchte im Singular den Plural an Tieren zu verstehen geben: Es gibt nicht das Tier (l’Animal) im allgemeinen Singular, das vom Menschen durch eine einzige unteilbare Grenze getrennt wäre. […] Man müßte, ich wiederhole es, vielmehr eine Vielfalt an heterogenen Grenzen und
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die Ausführungen Derridas, berühren eine Grenze: die Grenze eines Körpers, der als menschlich zu bestimmen und gegenüber allem Nicht-Menschlichen abzugrenzen ist. Doch die Berührung ist weder exklusiv dem Bereich des Menschlichen zuzuordnen, noch führt sie zu dessen Auflösung; als eine Bewegung ist sie dem Menschen vorgängig. Die Berührung bildet eine doppelte Kraft der Bewegung: In ihr formiert sich einerseits der Körper des Menschen, andererseits geht sie über diesen hinaus – der Körper wird monströs. Die Berührung ist die doppelte Bewegung einer simultanen Ver- und Entmenschlichung.45 Strukturen in Rechnung stellen: Unter den Nicht-Menschen, und getrennt von den Nicht-Menschen, gibt es eine immense Vielfalt anderer Lebender, die sich in keinem Fall – außer durch Gewalt und interessiertes Verkennen – in der Kategorie dessen homogenisieren lassen, was man das Tier (l’animal) oder die Tierheit (l’animalité) im Allgemeinen nennt. Es gibt sofort Tiere (des animaux) und, sagen wir, l’animot.« (Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen 2010, S. 79, Herv.i.O.). 45 | Dass dieser Rhythmus des Menschlichen an den Grenzen des Körpers eine Bewegung voller Gewalt ist, hat Judith Butler in ihren zahlreichen Schriften zu den »Grenzen des Menschlichen« formuliert. Es ist gerade die Gewalt der Berührung, die den Menschen an seiner Grenze, nämlich dem Moment seiner Verletzbarkeit artikuliert. »Gewalt«, so Butler, »ist fraglos eine Berührung der schlimmsten Sorte, ein Vorgang, in dem menschliche Verwundbarkeit durch andere Menschen in ihrer entsetzlichsten Form offenbar wird, ein Vorgang, in dem wir dem Willen anderer ausgeliefert sind, der Vorgang, indem das Leben selbst durch das vorsätzliche Handeln anderer ausgelöscht werden kann.« (Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 42). Gewalt findet immer dort statt, wo die Grenzen des Menschen gezogen, aber ebenso wo sie durchbrochen werden. Dort, wo die Entmenschlichung von Körpern zur Vergewisserung der eigenen Grenzen und des eigenen Mensch-Seins dient, wird die Möglichkeit von neuem und anderem Leben vernichtet. Diese Gewalt findet dabei sowohl im Aufbrechen der Grenzen als auch ihrer Schließung und dem Akt des Ausschlusses statt. In den Berührungen wird diese Grenze je-
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Berührungen, selbst die Berührungen der Hände, sind keine Reflexionen bestehender Grenzen und Kategorien, sie bringen permanent neue Verbindungen, neue Differenzen und neue Assemblagen hervor. Wenn sich in Forsythes Solo der Handballen und -rücken langsam über den Kiefer und das Kinn des Tänzers abrollen, dann ist dies nicht einfach eine Berührung mit der Hand, es ist viel mehr (und weniger zugleich): Es ist die rollende Berührung zwischen Handballen und Kinn, die sich durch die Bewegung auf den Handrücken verschiebt. Doch dies sind nicht die einzigen Berührungen der Hände: Zugleich berühren sich die Finger – Daumen und Zeigefinger, Zeige- und Mittelfinger, Mittel- und Ringfinger, Ring- und kleiner Finger – alle ausgestreckt und eng aneinander liegend. Hier gibt es nicht die Berührung der Hand, hier ereignen sich mannigfaltige Berührungen, von denen gerade nur die offensichtlichsten genannt wurden; all jene Berührungen, die sich quer zu den genannten Körperteilen wie Handrücken, Handballen, Fingern etc., aber auch zwischen ihnen und dem Licht, der Musik, der Kamera etc. ereignen, wären noch hinzuzufügen. Und selbst dann sind noch alle weiteren Berührungen, die sich jenseits der Hände ereignen, in den Beschreibungen ausgelassen. Wenn Forsythes Hände sich verschränken und die Finger verflechten, dann übersteigen sie jene von Husserl und Merleau-Ponty beschriebenen Berührungen um ein Vielfaches. Hier berührt nicht die eine Hand die andere, es ereignen sich tausende Berührungen zugleich. Finger berühren Finger berühren Handrücken, Knöchel stoßen gegen Knöchel, sie alle bewegen sich in unterschiedliche Richtungen – ein Wirrwarr von Fingern entsteht und bringt jene doch weder per se gezogen noch wird sie per se überbrückt; in einem komplexen Feld produktiver und performativer Praktiken wird ausgehandelt, welche der mannigfaltigen Differenzierungsprozesse der Berührungen wirkmächtig sind und welche negiert werden. Die Gewalt der Grenzziehung ereignet sich somit auf doppelte Weise: Es ist nicht nur die Gewalt differenzierender Berührungen, sondern zugleich auch jene Gewalt, die bestimmt, welche Differenzen als Grenze wahrgenommen und welche negiert werden.
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Einteilungen zwischen rechter Hand und linker Hand durcheinander. Dass die Finger sich nicht auf ihre Zugehörigkeit zu den Händen reduzieren lassen, sondern letztere durch die Berührung vielmehr in Frage gestellt werden, hat schon der Experimental-Psychologe David Katz in seinem 1925 erschienenen Buch Der Auf bau der Tastwelt beschrieben. Wenn Finger Finger berühren, kommt es nicht zu einer Reflexion und einem Gewahr-Werden des eigenen Körpers, vielmehr entstehen – wie Katz beschreibt – Schwierigkeiten und Wirrungen bei seiner Bestimmung. »Ich habe gefunden, daß man die größten Schwierigkeiten bei dem Versuch der Zergliederung derjenigen Doppelteindrücke hat, die vorliegen, wenn die Finger der einen Hand die gleichen Finger der anderen betasten, oder wenn die Finger einer Hand sich durch Gegenüberstellung gegenseitig betasten. In solchem Fall zu sagen, welcher Finger für welchen Tastobjekt ist, ist wirklich nicht leicht, die Einheitlichkeit des Tastkomplexes ist auf die Spitze getrieben.« 46
In diesen Wirrungen der Finger wird die Definition der Hände, jene Hand, die berührt und jene Hand, die berührt wird, unmöglich: zwei Hände, aber unzählige Finger. Mannigfaltige Berührungen, die sich nicht mehr zuordnen lassen, die immer neue Differenzen produzieren und so jegliche Einteilung von Körperteilen sprengen. Diese Berührungen bringen die Finger durcheinander, sie gehen neue Assemblagen ein, produzieren neue Differenzen und neue Körper entstehen. Doch selbst die einzelnen Finger beginnen sich in unterschiedlichen Verbindungen und Verflechtungen aufzulösen. Keine Körperteile, sondern Körperbewegungen; Deleuze und Guattari nennen dies den »organlosen Körper« – ohne Berührungsorgane, voller Kräfte. Wenn Hände sich berühren, sich verschränken und sich falten, berührt sich soviel mehr: Andere Bewegungen interferieren und erzeugen immer neue Berührungen und neue 46 | David Katz: Der Aufbau der Tastwelt, Leipzig: Barth 1925, S. 125.
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Körper. Die Berührung der Hände ist nur noch eine unter vielen sowie der Körper des Menschen nur noch einer unter vielen ist. Autoaffektion wird zur Heteroaffektion wird zur Autoalterierung. Dies ist das Nichtmenschliche der Berührung: Sie stellt nicht nur die Einheit und Exklusivität der Hand in Frage, lässt diese monströs werden und löst sie im Spiel der Finger auf; die Berührung ereignet sich vor allem auch zwischen den vielfältigen anderen Bewegungen des Körpers. Dieser Körper ist nicht zwangsläufig der Körper eines Menschen, er wird zu einem mannigfaltigen Körper; er ist viele Körper im Werden, menschliche und zugleich nichtmenschliche. In der Berührung verbinden sie sich und es entstehen neue, monströse Körper. Und mit ihnen werden auch die Hände monströs: Sie werden eine und zugleich viele; unzählige Bewegungen verwirren die Finger; mit ihnen entstehen neue Möglichkeiten von Berührungen. All diese Berührungen und Körper sind nicht bloß menschlich, obwohl sie auch den Menschen und das Menschliche berühren, sie sind more than human.47 Solo ist voll von Körpern, die mehr als menschlich sind: In den Bewegungen und Berührungen treffen geometrische Körper, Empfindungs-Körper, Licht-Körper, Affekt-Körper, Ton-Körper, rhythmische Körper etc. aufeinander, sie alle berühren sich auf vielfältige Weise und bringen neue, monströse Körper hervor. So beschreibt Forsythe beispielsweise die zahlreichen geometrischen Formen, die in der Choreographie entstehen, als (geschwungene) Linien, Quader, Dreiecke, Kurven und Buchstaben. Diese Formen sind keine externen, lediglich vom Körper gezeichneten Objekte, auch sind sie nicht dem Körper inhärent. Es sind vielmehr Supplemente (im Derrida’schen Sinne), Prothesen, die nichts ersetzen, sondern erweitern, verändern, verformen.48 Mit ihnen entstehen neue Körper-Assemblagen und neue Relationen zwischen und innerhalb der mannigfaltigen Bewegungen in Solo. 47 | Zum Konzept des more than human vgl.: Manning: Always More Than One, S. 81. 48 | Vgl. Manning: Relationscapes, S. 63f.
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Wenn Forsythes Hand gegen seinen Ellenbogen schlägt, dann werden dadurch nicht einfach ›sein‹ Körper und ›seine‹ menschliche Form reflektiert. In diesen Berührungen werden neue Körper produziert, geometrische Körper, bestehend aus Vektoren und Linien, die durch den Raum verlaufen wie jenes von ihm beschriebene Rechteck, das durch die Linien und deren Relationen zum Boden entsteht. Hier verschränken sich Quader, Kegel, Kuben und Vektoren in ihren Bewegungen und tanzen miteinander Solo. Zugleich berühren sich die Knie, produzieren andere Formen und Körper, es berühren sich die Füße und der Boden, das Licht und der Rücken, die Bewegung der Kamera interferiert mit jenen der Arme – sie alle bringen neue Körper hervor. Diese Licht-Bewegungs- oder Bewegungs-Video-Körper werden nicht zu dem menschlichen Körper hinzuaddiert, in ihrer Entstehung und durch ihre Bewegungen vervielfältigen sie diesen. Die mannigfaltigen Berührungen in Solo werden nicht von einem bestehenden Körper ausgeführt, schon gar nicht von einem menschlichen: Diese Berührungen, die Bewegungen und Interferenzen durchziehen die Körper, verbinden die Körper, differenzieren die Körper und produzieren damit immer neue und vielfältige Körper. Diese Körper haben keine Hände bzw. sie haben immer schon zu viele Finger, monströse anstelle von menschlichen Körpern. Sie bilden keine Einheit, die vielfältigen Körper in Solo sind ein Gefüge von Berührungen, Relationen und Differenzen.
Technē der B erührung Wenn Forsythe über Solo spricht, geht er nicht von seinem individuellen Körper, seiner subjektiven Gegebenheit und unmittelbaren Einheit aus. Solo ist vielmehr das Zusammenkommen jahrelang entwickelter Tanztechniken: »In my solo I was basically trying to compress twenty-five years of dancing into seven minutes«.49 Solo ist 49 | Forsythe und Haffner: »Observing Motion«, S. 18.
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ein komplexes Gebilde von Bewegungstechniken, die sich auf mannigfaltige Weise verschränken, durchkreuzen und in ihren Interferenzen eine »hyper-mobile«50 Performance hervorbringen. In dieser Verknüpfung von Techniken, der »chain of motion«51, intensivieren sich die Bewegungen und Tanzpraktiken und produzieren damit den Körper von Solo – nicht als eine subjektive Einheit, sondern als Gefüge von Praktiken, als Assemblage von Bewegungen und Berührungen. In der Verbindung der Techniken ist der Körper weder Einheit noch funktionierendes System, sondern wird zu einer »maschinischen Assemblage«.52 Es ist die Produktivität dieser Verbindungen, das Hervorbringen von neuen, sich wandelnden Körpern, von Prozessen des Werdens, die die Technik weder als funktional noch prothetisch-ersetzend erscheinen lassen. Die technischen Gefüge in Solo folgen keinen Gesetzen und Zielen, sie dienen nicht der Reproduktion vorhandener Pläne, Ideen oder in diesem Sinne verfasster Choreographien, sie sind Improvisation Technologies. Hier improvisiert kein Subjekt des Tanzes, Solo entsteht vielmehr aus den Verknüpfungen von Praktiken, den Relationen und Verbindungen. Die Berührungen verknüpfen die Bewegung zu »maschinischen Assemblagen« und zugleich lassen diese Assemblagen die Berührung zu Techniken werden. Techniken der Berührung, eine »Technē der Körper«, wie Nancy sie beschreibt, eine »Ökotechnik«: »Die ›Erschaffung‹ ist die technē der Körper. […] Doch das, was sie macht, sind unsere Körper, die sie in die Welt setzt und an dieses System anschließt, unsere Körper, die sie somit sichtbarer, wuchernder, polymorpher, gedrängter erschafft, mehr in ›Massen‹ und ›Zonen‹, als sie es je waren.«53 Diese Ökotechnik ist die Möglichkeit, Körper zu verbinden: Sie platziert sie »an den Orten der Überschneidungen, Übermittlungen, Wechselbeziehun50 | Ebd. 51 | Ebd. 52 | Zum Begriff der Maschine vgl.: Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 454f. 53 | Nancy: Corpus, S. 77f., Herv.i.O.
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gen aller technisch orientierten Prozeduren […], ohne aus ihnen ein ›technisches Objekt‹ zu machen«.54 Die Ökotechnik durchzieht die Körper in ihren Mannigfaltigkeiten und durchkreuzt damit bestehende Einteilungen und Trennungen zwischen den einzelnen Subjekten und zwischen ihnen und der Umwelt. Obwohl die technē der Körper immer eine relationale und verbindende ist, schafft sie keine Einheiten, sie produziert keine Verschmelzungen. Vor allem mit dem Konzept der Berührung als einer Ökotechnik hebt Derrida in seiner Nancy-Lektüre die trennende und differenz-produzierende Ebene, die différance, hervor und stellt damit die »Untrennbarkeit des ›Berührens‹ (›des‹ Berührens, das ›es nicht gibt‹) und der technischen Supplementarität« heraus.55 Es ist vor allem die Unmittelbarkeit der Selbstberührung, das »sich berühren« wie Derrida es in der Phänomenologie aufgezeigt hat, der er eine technē der Berührung entgegenstellt: Das »Maschinenhafte« der Berührung, ihre technē ist weder ursprünglich noch unmittelbar, sie ist prothetisch (im Sinne des supplement), sie ist eine différance, die sich durch die Körper zieht und eine Berührung des eigenen Körpers unmöglich macht; jedoch nicht weil ihr als etwas Sekundäres der Zugang zu einem ›ursprünglichen‹ Körper verwehrt bleibt, sondern weil sie immer schon Teil der Körper ist, jedoch von Körpern, die gerade aufgrund ihrer Maschinenhaftigkeit keine Einheit und kein Selbst mehr bilden.56 Diese Technik der Berührung wird nicht von einem bereits definierten Körper ausgeführt, hier entsteht vielmehr eine maschinische Berührung, eine, die neue Körper produziert, statt bestehende (menschliche) Körper zu reflektieren. Die Berührung ist eine Technik der Produktion, nicht der Reproduktion, sie geht über das Bestehende hinaus, sie ist – um eine begriffliche Unterscheidung Mannings zu verwenden – technique und technicity. »Think technicity as the process that stretches out from technique, creating brief 54 | Ebd., S. 78. 55 | Derrida: Berühren, S. 285. 56 | Vgl. ebd.
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interludes for the more-than of technique, gathering from the implicit the force of form.«57 Technik, vor allem die Technik der Körper im Tanz, lässt sich nicht einfach auf jenen Aspekt des Übens und der Wiederholung gelernter Bewegungsfolgen (technique) reduzieren, ihr wohnt ebenso ein Moment des Neuen, der Produktion, des more-than inne – ein Moment der technicity. In der Verknüpfung der vielfältigen Techniken und ihren Techniken der Verknüpfung entsteht in Solo eine Bewegungs- und Berührungsmaschine, die neue Körper hervorbringt. Solo ist nicht bloß die Addition bestehender Techniken, es ist die Produktion neuer Bewegungen und Körper, die in keiner der ihnen zugrundeliegenden Techniken aufgehen, sondern über diese hinausweisen. Forsythes Techniken wuchern in Solo, sie bilden monströse Ökotechniken, die weder auf den Bereich des Apparates noch auf den des menschlichen Körpers zu reduzieren sind. In den Bewegungen und Berührungen entstehen Koppelungen, die temporäre Gefüge hervorbringen, maschinische Assemblagen voller Differenzen und Möglichkeiten ihrer Veränderung. Dies ist nicht der präsente Körper eines Selbst, dies sind Techniken der Individuation.
I ndividuationen Berührungen, vor allem Selbstberührungen dienen nicht der Vergewisserung eines immer schon a priori gesetzten (menschlichen) Selbst und seines Körpers. Die vielfältigen Berührungen in Forsythes Solo führen nicht zur Festigung bzw. Reflexivität (s)eines Körpers, sie produzieren vielmehr vielfältige Verknüpfungen, die weder auf ein Selbst noch einen menschlichen Körper zu reduzieren sind. Wie lassen sich der Körper, sein (temporärer) Zusammenhalt und die Berührungen als generative anstelle von reflexiven Prozessen beschreiben?
57 | Manning: Always More Than One, S. 33.
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Die Techniken und Praktiken in Solo produzieren immer neue und andere Körper-Prozesse, sie eröffnen Möglichkeiten neuer Verbindungen und Differenzierungen. In den choreographischen Techniken, den Bewegungen und Berührungen werden Verknüpfungen und Relationen hergestellt. Immer wieder entstehen transformative, temporäre und prekäre Körper. Die getanzten Körper sind dabei vielfältig: mal ausladend, mal filigran, oftmals rund, im Kreis drehend. Es sind senkrechte, horizontale und schräge Bewegungslinien, es sind Kreise, Kuben und Flächen. Es sind Kopf-ArmRumpf- und Bein-Boden-Arm-Verbindungen. Es sind Lichtkegel und Schatten. Meist sind es Kombinationen aus diesen vielfältigen Elementen, die in ihren Beziehungen, ihren Interferenzen neue und andere Körper entstehen lassen. Der Körper in Solo bildet einen Prozess des Werdens sowie die ökologischen Verstrickungen eines Milieus. Hier existiert keine Einheit des Körpers, nur Bewegung, Rhythmus, Geschwindigkeit – ein transduktives Körper-Ereignis. Welche Prozesse und Bewegungen entstehen, wenn weder der Körper noch das Individuum ihren Ausgangspunkt bilden? Gilbert Simondon setzt genau an diesem Problem an, wenn er seine Kritik an dem »Prinzip der Individuierung« formuliert. Dieses Prinzip geht bei der Betrachtung der Individuierung entweder von einem Individuum aus oder endet bei diesem. Damit wird jedoch lediglich der statische Anfangs- bzw. Endzustand, jedoch nicht der Prozess des Werdens untersucht. »Ein solcher Blickwinkel der Untersuchung verleiht dem konstituierten Individuum eine ontologische Sonderstellung.«58 Um jedoch nicht bloß bereits bestehende Prinzipien und vorgeschriebene Prozesse zu reproduzieren, muss der Prozess der Individuation, seine Unvorhersehbarkeit und Offenheit den Ausgangspunkt der Betrachtungen bilden.59 Individuation darf dabei weder auf ein 58 | Gilbert Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, in: Claudia Blümle und Armin Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2007, S. 29-45, hier: S. 29, Herv.i.O. 59 | Ebd., S. 31.
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menschliches Sein beschränkt werden, noch darf sie ausschließlich menschliche Individuen hervorbringen. Sein, so Simondons zentraler Punkt, ist nicht das Sein des Individuums (zwei Begriffe, die häufig miteinander verschmolzen würden), Sein ist mehr als dieses, es ist immer auch vorindividuell.60 Nur durch diese Konzeption ist es möglich, das Individuum nicht als gegeben, sondern in den Prozessen eines Werdens zu betrachten. Das »vor« des vorindividuellen Seins ist dabei jedoch nicht in einem linearen Zeitverständnis dem individuellen Sein vorgängig, es ist vielmehr allen Prozessen der Individuation immanent, es bringt diese immer wieder auf, verschiebt diese und eröffnet somit immer wieder Möglichkeiten der Veränderung. Denn nur wenn Individuation nicht als eine Handlung des Individuums selbst verstanden wird, ist es möglich, diese Prozessualität in ihrer Offenheit zu beschreiben und das Individuum weder a priori noch a posteriori als gegebene Einheit vorauszusetzen. Simondon führt aus, dass diese Prozesse niemals homogen oder zielgerichtet sind, sondern voller Relationen, voller Öffnungen und Möglichkeit der Veränderung, sie sind immer Teil eines komplexen Milieus. Die Prozesse der Individuation beginnen nicht beim Individuum, sondern im Bereich des vorindividuellen Seins. Dieses ist dabei nicht von Einheit und Gleichförmigkeit gekennzeichnet, es ist vielmehr different und mannigfaltig, es ist – wie Muriel Combes in ihrem Buch zu Simondon schreibt – »not one«.61 Sein ist damit weder auf das Individuum zu beschränken noch bildet es eine allumfassende Einheit, es ist vielfältig und differenziell, es ist »jeder Individuation [vorgängig, …] über Einheit und Identität hinausgehend« (»plus qu’unité et plus qu’identité«).62 In diesem Bereich vor60 | Vgl. ebd. Vgl. hier auch und für die folgende Nachzeichnung von Simondons Konzept der Individuation: Muriel Combes: Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, Cambridge u. London: MIT Press 2013. 61 | Ebd., S. 3. 62 | Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, S. 40 und ders.: L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information, Grenoble: Millon 2005, S. 32.
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individuellen Seins existieren keine stabilen Individuen, von denen zielgerichtete Entwicklungen ausgehen. Es gibt lediglich Phasen des Gleichgewichts, deren Zustand jedoch äußerst prekär ist: Die kleinste Veränderung führt bereits zum Zusammenbruch und damit zum Entstehen von neuen Prozessen. Diese Phasen sind nicht stabil, sondern metastabil: Metastabilität ist dabei jener Zustand voller Spannung, jedoch fern jeden Gleichgewichts, er ist voller Differenzen und voller Potenzialität zur Veränderung.63 Jedoch enden die Prozesse der Individuation auch nicht beim Individuum. Individuation ist ein Werden, das niemals linear ablaufe, Individuation geht immer weiter, sie führt zu neuen Prozessen und lässt sich somit niemals auf einen Zustand, eine Form reduzieren. Dieses Werden auf der Grenze zwischen Kontinuität und Diskontinuität, jene Relation, die die einzelnen Individuationen in Beziehung setzt, wird von Simondon »Transduktion« genannt. Mit dem Konzept der Transduktion geht Simondon über jegliche Konzepte der Einheit hinaus, in ihr verbinden sich in differenzieller Weise Prozesse der Individuation. »[P]lus qu’unité« ist dabei nicht das Auflösen der Einheit in einem diffusen »Mehr«, es ist die Vielfalt der Differenzen, die den bloßen Zustand der Einheit übersteigt. Transduktion ist ein differenzielles Werden, das über jegliches Gewordene hinausgeht, da es kein Ende, kein Ziel besitzt. Im physikalischen Phänomen des Wachsens von Kristallen sieht Simondon die Möglichkeit, sein Konzept des Werdens zu beschreiben: »Ein Kristall, der ausgehend von einem sehr kleinen Keim wächst und sich in seiner Mutterlösung in alle Richtungen ausbreitet, liefert das einfachste Bild für den transduktiven Vorgang: Jede molekulare Schicht, die bereits gebildet ist, dient der sich gerade bildenden Schicht als strukturierende Grundlage. Das Ergebnis ist eine netzartige Struktur, die sich erweitert.« 64
63 | Vgl. ders.: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, S. 33. 64 | Ebd.
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Transduktion ist ein Werden ohne vorgegebenen Verlauf, Individuation ohne einheitliches Prinzip. In der Transduktion entsteht kein Individuum, sie ist keine Transformation individueller Formen, die Transduktion ist die Kettung von Individuationen – Verbindung und Trennung im und als Prozess. Diese Prozesse bilden keine Einheit, sie sind differenziell, mehr noch, sie sind ein Exzess an Differenzen und Relationen, kein kontinuierliches Werden, keine Linearität ist hier möglich. Transduktion: kein Kristall, sondern Kristallisation, kein Individuum, sondern Individuation, keine Form, sondern InFormation. Und es ist gerade das Verbindend-Trennende, das es unmöglich macht, die Individuation auf einen Körper, einen Tänzer oder eine Bewegung zu beschränken, in der Transduktion verbinden sich vielfältige Prozesse in einer »Ambivalenz von Spannung und Unvereinbarkeit«.65 In den Individuationen in Solo verkoppeln sich Prozesse der Bewegung, des Leuchtens, der Musik, des Filmens sowie des Betrachtens. Wahrnehmung ist dabei wesentlicher Teil der Individuation. Es gibt keine äußerliche Betrachtung einer reinen Individuation, Individuation wird gerade durch die Transduktion überhaupt erst erfahrbar. »Wir können nur individuieren, uns individuieren, und in uns individuieren.«66 Und so ist auch das Betrachten des Videos Solo keine sekundäre Wahrnehmung, nichts, das von außen zu den Bewegungen des Tänzers hinzu kommt, sie ist selbst Individuation. Solo-Schauen ist der transduktive Prozess zwischen Bewegung und Empfindung. Diese Individuationen sind keine Übergänge zwischen vorgegebenen Formen oder Posen, auch sie gehen immer weiter, kommen nie zum Stillstand und damit nie zur endgültigen Form. Immer wieder treffen Bewegungen aufeinander, Spannungen entstehen zwischen den einzelnen Prozessen der Körper und aus ihnen heraus entstehen neue Bewegungen und neue Individuationen: Transduktion. Jene Momente der Ruhe bilden keine Zustände eines stabilen Gleichgewichts, sie sind metastabil: Immer droht ein Arm, 65 | Ebd., S. 42, Herv.i.O. 66 | Ebd., S. 45.
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ein Bein, der Oberkörper zu fallen, wenn nicht sogleich eine Bewegung aufgenommen wird. In jeder Ruhe sprudelt es von virtuellen Bewegungen, in den spannungsvollen Momenten sind ihre Richtungen, Rhythmen und Intensitäten noch offen. Hier ereignet sich kein Werden des Solos, hier wird das Solo zu einem Prozess der Differenzierung: Mannigfaltige Individuationen koppeln sich aneinander, ohne dabei zu einer Kontinuität zu verschmelzen. Forsythes Körper, seine Bewegungen und Berührungen produzieren immer neue Möglichkeiten der Individuation, neue Relationen und neue Differenzen des Werdens. Die Bewegungen, die variierenden Geschwindigkeiten in Solo bilden die Rhythmen der Transduktion. Körper werden zu Ketten ohne Ende, Bewegungen werden zu Richtungen ohne Ziel.
to body Individuation ist weder ein einheitlicher noch ein vereinheitlichender Prozess; und so ist auch der Körper nicht der Körper eines Individuums. Es sind viele Körper im Werden, transduktive Prozesse physikalischer, biologischer und psycho-sozialer Individuationen.67 Der singuläre Körper – so argumentiert Manning im Anschluss an Simondon – ist lediglich eine Phase, ein Moment der Metastabilität im Prozess der Individuation.68 Auch er ist nicht der Ausgangspunkt einer individuellen Selbstgenerierung, sondern Ereignis; als Phase entsteht er und beeinflusst im Zusammenspiel mit unzähligen anderen Faktoren den Prozess der Individuation. »The body, here de fined, is what comes-to-be under specific and singular conditions. It is the amalgamation of a series of tendencies and proclivities, the cohesive point at which a multiplicity of potentialities resolves as this or that event of experience.«69 Körper, Serien von Ereignissen, Pro67 | Vgl. ebd., S. 39f. 68 | Vgl. Manning: »Wondering the World Directly«, S. 172. 69 | Dies.: Always More Than One, S. 16.
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zesse des Körperns (»bodying«, Manning) entstehen in der Interferenz vielfältiger Faktoren: Körper-Prozess statt Körper-Schema. Diese Körper bilden keine Einheit, keine materielle Hülle bzw. Form eines Selbst, es sind die mannigfaltigen Kräfte der Bewegungen, Geschwindigkeiten und Affekte, die sich in der Individuation auf je singuläre Weise verbinden. Doch die Körper sind nicht formlos, sie sind keine undifferenzierte Masse, es sind Formen der Prozesse, keine Formen der Materie. Der Körper ist ein Prozess: In-Formation statt Form. »The individual, or what I am here calling a body, is a process of information, composite and compositional, that singularly resolves but only long enough to activate new phasings.« 70 In den Berührungsbewegungen entstehen Formen, die zugleich durch die Berührungen überschritten und in Bewegung gesetzt werden. Da die Berührungen weder von einem Individuum und seinem intentionalen Willen noch von einem bereits bestehenden Körper ausgehen, lassen sie sich als Teile der Individuation beschreiben: Im Zusammenspiel von Affekten, Wahrnehmungen und Bewegungen bringen die Berührungen Körper hervor – nicht als vollendete Einheit, sondern als generative Prozesse. Körper und Berührung: keine Reflexion durch Selbstberührung, sondern In-Formation im Werden. Dieser Körper repräsentiert kein Selbst. Auch Solo repräsentiert kein ›Ich‹, keinen individuellen Tänzer noch nicht einmal einen Körper. Solo ist die Choreographie eines Körperns. Forsythe nennt dies »to body«.71 Ein Prozess der Individuation, in dem der Körper sich ständig verändert: Immer wieder wird er von den Berührungen 70 | Ebd., S. 20. Vgl. zur Information bei Simondon: »Der Begriff der Form muss durch den der Information ersetzt werden, der die Existenz eines Sys tems im metastabilen Gleichgewicht voraussetzt, das sich individuieren kann.« (Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, S. 43, Herv.i.O.). 71 | Ausgehend von ihrer Zusammenarbeit mit Forsythe schreibt Manning: »He asks his dancers to body, not to ›represent‹ a body«. (Manning: »Wondering the World Directly«, S. 165, Herv.i.O.).
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in Bewegung versetzt, es entstehen neue Figurationen, momenthaft sind bekannte Formen des Körperns und der Bewegungen auszumachen, die an andere Choreographien Forsythes erinnern; doch diese metastabilen Momente werden schon bald mittels ihrer übersprudelnden Kraft aufgebrochen. Diese Differenzierungen bringen neue Individuationen hervor und transduktive Prozesse entstehen – neue Geschwindigkeiten und Richtungen der Bewegungen, neue Relationen und Differenzen der Berührungen. Der Körper bewegt sich nicht als statische Form entlang einer vorgegebenen Linie; diese Körperbewegung ist ein »soft-body-part trajectory«: »[Y]ou move along the surface of the body, and by simultaneously pushing, pulling, and retracting the body from itself, you traject the body into space at complex curved angles.« 72 Bewegungslinien als Fluchtlinien des Körpers. In den Berührungen entstehen immer neue Bewegungen und Verbindungen – und mit ihnen ein immer neues transduktives Werden. Der Körper wird zu einer generischen Assemblage, die weder auf ihre Form noch auf ihre Einheit zu reduzieren ist. In mannigfaltigen Berührungen entsteht Solo als transduktives Körpern. Berührungen durchbrechen die Grenze von innen und außen; getanzt wird kein Solo des Selbst, es ist das Solo der Individuation.
to solo Weder der einheitliche Körper noch das Individuum bilden den Ausgangspunkt der Individuation. Da der Prozess der Individuation weder an seinem Anfang noch an seinem Ende auf das Individuum zu beschränken ist, ist dieses auch nicht das einzige Ergebnis, noch nicht einmal das zentrale Ereignis dieser Entwicklungen. Individuation ist ein Prozess sich überlappender, verbindender, interferierender Relationen. Er bringt kein einheitliches Individuum hervor, sondern das relationale Feld von Individuum und assoziertem Mi72 | Forsythe: Improvisation Technologies, S. 66.
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lieu.73 In diesem relationalen Gefüge gibt es keine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen, keine absolute Grenze zwischen Individuum und Umwelt. Dabei sind die Relationen nicht einfach als Beziehungen zwischen zwei Bereichen zu verstehen, das Individuum ist vielmehr die Relation selbst: »[L]’individu […] est l’être de la relation, et non pas être en relation, car la relation est opération intense, centre actif.« 74 Indem das Individuum kein abgegrenztes Element neben anderen ist, können auch keine Beziehungen in Form zweier sich verbindender Elemente entstehen; in der Transduktion eignet sich nicht eine Einheit eine andere an. Die Beziehungen sind vielmehr generative Elemente, in denen neue Verbindungen, neue Differenzen und neue Assemblagen entstehen. Von diesem produktiven Aspekt der Relation geht auch Simondons Konzept der Wahrnehmung aus: Wahrnehmung bildet die Möglichkeit, verschiedene Milieus zu verbinden. Milieus sind bei Simondon keine harmonischen Systeme, die in sich funktionieren, sie bestehen vielmehr aus Prozessen der Differenzierung und der Dephasierung. Beziehungen zwischen den Milieus, vor allem den inneren und äußeren Milieus des Individuums (wobei Innen und Außen hier keine klar separierten Bereiche bilden) verbinden sich in der Wahrnehmung und neue Relationen und Individuationen entstehen. »[T]o perceive is to invent a form with the goal of resolving a problem of incompatibility between the perceiving subject and the world in which it exists.« 75 Wahrnehmung operiert immer an der Grenze des Individuums, nicht als Aneignung der Welt durch das Individuum, sondern vielmehr selbst im Prozess der Individuation. Wie die Perzepte Deleuzes und Guattaris, geht die Wahrnehmung hier weder vom Subjekt aus noch ist sie auf dieses gerichtet, sie ist vielmehr selbst Ereignis der Individuation: »[A] subject only perceives or acts outside itself to the extent that it simultaneously 73 | Vgl. Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, S. 31. 74 | Ders.: L’individuation, S. 63, Herv.i.O. 75 | Combes: Gilbert Simondon and the Philosophy of the Transindividual, S. 29.
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operates an individuation within itself.« 76 Wahrnehmung – und hier vor allem die Wahrnehmung der Berührung – beschreibt somit keine Beziehung zwischen einem inneren Individuum (Subjekt) und einer äußeren Welt (Objekt), sie ist selbst ein transduktiver Prozess: Weder innen noch außen operiert sie gerade an den Grenzen der Individuation, im selben Akt, indem sie zur Genese des Individuums und seines Körpers beiträgt, übersteigt und durchbricht sie diese. In einem Exzess von Empfindungen und Affekten wird immer mehr als nur der individuierte Körper berührt und wahrgenommen und so entsteht ein Überschuss an Relationen, die mit der Individuation einhergehen und ihre Abgeschlossenheit unmöglich machen. Dieser Exzess an Relationen bildet – im Sinne Simondons – das Individuum. In Solo berührt Forsythe nicht ›seinen‹ Körper, die Berührungen unterlaufen bzw. übersteigen diesen permanent. Ständig entsteht ein Überschuss an Relationen, die nicht mehr an den einen Körper des Tänzers zurückzubinden sind. Diese Berührungen sind transduktiv, sie verknüpfen die mannigfaltigen Individuationen des Tanzes. Doch nicht allein der Tänzer, sein Körper und seine Bewegungen sind Teil dieser Prozesse, es individuiert sich zugleich sein assoziiertes Milieu: Lichtstrahlen, Rhythmen, Kamerabewegungen und -perspektiven, Geräusche, Empfindungen, Bewegungen etc. sind auf mannigfaltige Weise mit ihm verbunden. Sie alle bilden ein Milieu aus Relationen. Zugleich sind all diese Elemente des Solos selbst nur in Konzepten der Individuation zu denken: So wie das Licht zum Milieu der Bewegung des Armes gehört, so sind die Kamerabewegung oder das Quietschen der Füße Teil des Milieus des Lichtes. Das Individuum des Tänzers und der menschliche Körper sind lediglich zwei Elemente in den Prozessen der Individuation – sie sind dabei weder besonders noch bilden sie das Zentrum dieser Ökologie von Prozessen. Die meisten der Berührungen in Solo ereignen sich jenseits des menschlichen Körpers und seiner Wahrnehmungen, sie sind zu klein und zu groß, zu schnell und zu lang76 | Ebd.
5. Ich, eine Berührung
sam; Berührungen sind immer schon zu viele. Solo »is extremly fast; it’s so quick you can barely grab it«.77 Die Berührungen werden zu Relationen, die all diese verschiedenen Elemente und Ebenen durchziehen: Das Licht berührt den Rücken, die Kamera berührt die Dunkelheit, die Musik berührt das Mikrofon, die Knie berühren den Boden – immer wieder entstehen dabei neue, je singuläre Verbindungen. Diese Relationen der Berührung sind nicht auf das Video Solo zu beschränken, es bildet keine statische Einheit, es ist selbst Prozess. In ihm und durch es hindurch wuchern unzählige Relationen, die sowohl das Video, seine vielfältigen (und nicht ausschließlich menschlichen) Produzenten sowie seine (ebenfalls nicht ausschließlich menschlichen) Betrachterinnen und Betrachter durchziehen. Dabei sind jene Wahrnehmungen der Zuschauerinnen und Zuschauer keinesfalls den Berührungen des Videos, der Produktion, Choreographie, der Aufnahme und des Schnitts nachgeordnet. Die Assemblage von Solo verknüpft all diese Ereignisse auf diagrammatische Weise: Hier betrachtet nicht ein/e Zuschauer/in einen Tänzer, hier spiegelt oder reflektiert sich nicht ein Selbst im anderen, vielmehr verknüpfen sich die zahlreichen Relationen und bringen somit die Individuationsprozesse des Solos hervor.78 Solo ist nicht der solistische Tanz eines Tänzer-Selbsts, Solo ist die singuläre Individuation im Ereignis der Empfindung. Keine Einheit, sondern Beziehung, kein Körper, sondern Berührung. Solo wird zu einem Verb – to solo – und übersteigt dabei jede Repräsentation eines einzelnen individuellen Körpers im Tanz.
77 | Forsythe und Haffner: »Observing Motion«, S. 18. 78 | Zur Verbindung zwischen dem Individuationsprozess bei Simondon und dem Diagramm bei Deleuze vgl. Claudia Blümle und Armin Schäfer: »Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Berlin u. Zürich: Diaphanes 2007, S. 9-25, hier: S. 21.
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S olo , eine B erührung Berührungen vereinheitlichen nicht, Berührungen vervielfältigen. Jene Prozesse der Berührung, wie sie sich in Solo ereignen, folgen keinem »Prinzip der Individuierung«, sie haben weder einen klar definierten Ausgangs- noch einen bestimmbaren Endpunkt – sie sind vor allem Prozess. Jene Betrachtungen der ›Selbst‹-berührungen in Solo haben gezeigt, dass diese weniger der Selbstvergewisserung bzw. der Selbstreflexion des sich berührenden Körpers dienen als vielmehr die doxische Setzung des ›Selbst‹ auf brechen und übersteigen. Die Techniken der ›Selbst‹-Berührungen werden hier zu Prozessen der Individuation, transduktive Berührungen, die relationale Körper hervorbringen. Diese Körper-Ereignisse lassen sich nicht mehr auf einen menschlichen Körper beschränken, sondern bilden Milieus und maschinische Assemblagen voller Bewegungen, Wahrnehmungen und Affekte. Jede Berührung verändert dabei die Prozesse der Individuation, sie flektiert die Bewegungen und eröffnet neue Relationen, neue Differenzen und damit neue Möglichkeiten der Individuation. Solo wird zur Individuation und zum Milieu. »This milieu is as much a transitory location as a spring board for individuations to occur not at the level of the individual body, but in relation. This milieu is an energetic force field that constitutes form and matter beyond notions of internal and external pre-configurations.« 79 Das Ich in Solo ist kein transzendentales Ich, es ist, wie Manning es formuliert, in Bewegung: »The I is in movement, active in a worlding, a taking-account of the world, co-composing with movement’s inflexions, attuning to its tendencies to form.« 80 Das Ich ist in Bewegung, mehr noch: Das Ich ist Bewegung, eine Bewegung der Berührung und der Individuation, verbindend-trennend, transduktiv. Und zugleich ist das Ich in Solo mehr, es ist ein Exzess an Bewegungen, eine Überfülle an Relationen. Das Ich wird Solo und 79 | Manning: Politics of Touch, S. 104. 80 | Dies.: »Wondering the World Directly«, S. 166, Herv.i.O.
5. Ich, eine Berührung
im Solo wird es mehr als ›sich selbst‹. Solo ist mehr als Solo: keine Einheit, sondern Individuation in der Berührung. Solo ist Prozess und Milieu, ist Differenzierung, ist Transduktion.
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6. Meteorologie der Berührungen
Berührungen finden auf vielfältige Weise statt. Die wenigsten von ihnen ereignen sich dabei zwischen menschlichen Körpern. Es sind Berührungen des Raumes, des Bodens, der Wände und der Dinge. Manche nehmen wir wahr, viele ereignen sich jedoch unter- und oberhalb unseres Wahrnehmungsspektrums: Sie sind zu klein, zu groß, zu schnell oder zu langsam. Diese unzähligen Berührungen des Raums bilden nicht einfach den Hintergrund oder die Bühne für menschliche Handlungen, vielmehr entsteht aus diesen mannigfaltigen Ereignissen und den unzähligen Bewegungen eine Welt, die mehr als nur menschlich ist. In ihr sind die menschlichen Berührungen eingewoben, doch nehmen sie keineswegs einen besonderen oder privilegierten Platz ein. Der menschliche Körper wird radikal dezentriert und klassische Konfigurationen von Subjekt und Objekt, so wie ihre Zuschreibungen zu menschlichen und nicht-menschlichen Körpern werden in Frage gestellt. Zugleich gerät die Autonomie und Sonderstellung des menschlichen Körpers und seiner Fähigkeit zu Berührung selbst ins Wanken.
W hite B ouncy C astle Mit dem Betreten von White Bouncy Castle, einer von Dana Caspersen, William Forsythe und Joel Ryan erstmals 1997 präsentierten Installation, eröffnet sich eine Welt intensiver Erfahrungen. Auf den luftgefüllten Kissen und umgeben von den weißen Wänden der Burg kann man nur langsam
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Abb. 17: William Forsythe: White Bouncy Castle (1997)
6. Meteorologie der Berührungen
einen Fuß vor den anderen setzen; ein normales, sicheres Gehen ist auf dem sich ständig bewegenden Boden unmöglich. Immer wieder verliert man das Gleichgewicht, fällt und richtet – am Boden liegend – den Blick nach oben, wo sich weiße Zinnen und Türme abzeichnen – ein castle, märchenhaft, white und bouncy. Die Burg strahlt. Obwohl sich die Burg in ihrem Innern zunächst als weißer, glatter, geradezu immateriell wirkender Raum und damit als ein Phantasma von Schutz und Geborgenheit präsentiert, zeigt sich zugleich auch, dass sie durchzogen ist von (gewaltvollen) Markierungen und Differenzen: Graue und Schwarze Spuren vergangener Berührungen zeichnen sich auf dem Gummi ab und die bunten Bewegungslinien der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchziehen das Weiß. Sie alle verändern die Burg und bringen sie als gekerbten Raum hervor. Zugleich bilden sie eine permanente Gefahr des Zusammenstoßens und der Verletzung. White Bouncy Castle ist weder eine schützende noch eine beherrschbare Festung, vielmehr wird die Burg zu einer unkontrollierbaren Akteurin. Weiß ist hier nicht die einzige Empfindung, von der man in dieser Installation durchdrungen wird, diese Burg ist eine Welt bestehend aus Musik und Gerüchen, aus Bewegungen und Berührungen. Der Geruch des Gummis wirkt unangenehm, einerseits bekannt, jedoch in seiner Intensität ungewohnt. Immer wieder fühlt man die Oberfläche der Burg, die Beschaffenheit des Plastiks ist merkwürdig glatt, sie bietet keinen Halt. Es ist seltsam über diese luftgefüllten Kissen zu streichen und doch bleibt einem nichts anderes übrig: Man prallt gegen Wände, liegt am Boden, sucht Halt zum Stehen und findet ihn dennoch nicht. Die Oberfläche wirkt wie eine Haut, anorganisch und doch unheimlich vertraut. Diese vielfachen Berührungen sind für die Installation zentral: Mit jedem Sprung und jedem Fallen bewegt sich nicht nur der eigene Körper, die Burg selbst bewegt sich, sie verformt sich und bildet ein elastisches Beben. Die Hüpfenden berühren mit ihren Sprünge die Luftkissen und zugleich werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst durch die Burg berührt und bewegt: Der Boden federt die Bewegungen zurück und stößt ihre Körper nach oben. Hüpfen ist hier ein Hüpfen mit der Burg, die Sprünge sind kaum durch die Springenden zu lenken und zu kontrollieren, immer wieder werden die Bewegungen durch andere Sprünge ab- und umgelenkt. Unwillentlich rut-
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schen die Hüpfenden durch die übertragenen Bewegungen ab und stoßen mit den anderen – in der Luft springend oder am Boden liegend – zusammen. In dieser Welt voller unberechenbarer Aktionen ist niemand bloß ein/e aktive/r Performer/in oder ein/e passive/r Zuschauer/in. White Bouncy Castle ist keine Burg in einer Landschaft, hier wird die Burg selbst zur Landschaft: zu einer Landschaft voller Bewegungen und Berührungen, hervorgebracht durch die unzähligen Berührungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Burg wird nicht nur durch die Sprünge bewegt, sie ist selbst in Bewegung, die Burg wird zu einem Knotenpunkt mannigfaltiger Berührungen. Trotz ihrer dicken Mauern, ihrer Türme und Zinnen bietet die Burg weder Sicherheit noch Schutz, durch ihre Elastizität wird sie zu einem prekären Raum voller Berührungen und Bewegungen, die auf vielfältige Weise miteinander interferieren. Weder eine einzelne Berührung noch eine distinkte Bewegung lässt sich aus ihr herauslösen. Liegt man, durch all die Sprünge und Stöße erschöpft, in den weißen Luftkissen, wird die Burg am ganzen Körper spürbar. Tausend kleine Berührungen übertragen sich und durchziehen die Körper, ohne dass dabei eine einzelne Bewegung oder ein individueller Sprung auszumachen wäre. Der Körper ist Teil der sich ständig verändernden Berührungslandschaft von White Bouncy Castle geworden.
E ine empfindsame B urg White Bouncy Castle ist voller Berührungen. Die Burg ist kein in sich ruhendes, luftgefülltes Kissen, das lediglich die Landungen der springenden und fallenden Menschen abfedert. Die Burg ist vielmehr selbst ein Bewegungsraum, der durch die mannigfaltigen Geschwindigkeiten und Richtungen, durch Relationalität und Berührung hervorgebracht wird: Bewegungen interferieren mit Bewegungen und lassen so neue Gefüge zwischen Burg und Hüpfenden entstehen. Durch die unkalkulierbaren Verformungen der Burg bildet der Mensch nicht den intentionalen und aktiven Ausgangspunkt des Raumes, er wird Teil einer komplexen Berührungslandschaft.
6. Meteorologie der Berührungen
Die Burg ist eine Ko-Komposition menschlicher und nichtmenschlicher Bewegungen, die sich zwischen Hüpfenden und Burg, vor allem aber in ihrem Zusammenspiel ereignen.1 Wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegen die Wände springen oder auf den weißen Boden fallen, dann empfinden sie den Raum der Burg nicht als einen bereits gegebenen. Dieser entsteht vielmehr als Empfindungsraum in den Berührungen und Sprüngen. Empfindungen sind keine innerlichen, subjektiven oder menschlichen Gefühle, sie werden in den Bewegungen, in den Sprüngen an den Rand der Körper bzw. über diese hinaus getrieben – die Empfindungen durchziehen hier, wie die autonomen Bewegungen als transversale Linien Körper, Burg und Raum. Im Aufeinandertreffen der Körper, der Interferenz ihrer Empfindungen und Bewegungen entstehen materielle Konfigurationen, Mensch-Burg-Assemblagen, in denen kein Element dem anderen vorgängig ist. Was sich hier vollzieht, sind Prozesse der Materialisierung, die jedoch keine finale Form besitzen, sondern immer wieder neue und andere Prozesse der In-Formationen bilden. White Bouncy Castle ist eine Welt voller Berührungen, eine Verkettung mannigfaltiger Ereignisse und Relationen, die sich quer durch die Kissen sowie die Körper der Hüpfenden ziehen. In der Verkoppelung von Empfindungen und Bewegungen wird die Burg zu einer choreographischen Installation, die »mehr als menschlich« ist und sich nicht auf aktive Zuschauer/in-Subjekt- und passive Kunstwerk-Objekt-Positionen beschränken lässt. White Bouncy Castle ist kein Objekt, es ist ein »choreographic object«, wie Forsythe es nennt: »It is a model of potential transition from one state to another in any space imaginable.«2 Diese Transformation, die Möglichkeit der Veränderung und Bewegung zeichnet das choreographic object aus und unterscheidet es von einem gängi1 | Zum Begriff der co-composition von Bewegungen als »Politics of Touch« vgl. auch: Manning: Always More Than One, S. 125. 2 | William Forsythe: Choreographic Objects, o.J. Zugriff am 2.11.2015 unter: www.williamforsythe.de/essay.html.
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gen Objektverständnis. »[Choreographic objects] also alert us to the processuality of objects. For objects are, like bodyings, more force than form. They are not preorchestrated constellations ready to be taken up into processual experience. They are themselves processes, lures: edgings, tendings, shadowings.«3 Im Anschluss an Forsythe beschreibt Manning das choreographic object nicht von seiner stabilen Position, seiner Objekthaftigkeit ausgehend, sondern von jenen Prozessen, die diese Stabilität permanent überschreiten. White Bouncy Castle lässt sich somit weniger als ein bestehendes Objekt, eine weiße Burg, beschreiben, die durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer berührt wird, die Burg wird selbst Teil des Ereignisses, eines Ereignisses der Berührung, in dem sich Teilnehmerinnen, Teilnehmer und Kissen zu immer neuen Assemblagen verbinden, neue Landschaften, aber auch neue Räume, Zeiten und Bewegungen produzieren: »They extend beyond their objectness to become ecologies for complex environments that propose dynamic constellations of space, time, and movement.«4 In den Prozessen des Hüpfens und des Fallens, in den mannigfaltigen Berührungen entsteht die Burg nicht als klar abgrenzbares Objekt, sie nimmt keine definitive Form an, sie wird zu überhaupt keinem Objekt, sie wird – wie Manning im Anschluss an Deleuze formuliert – zum Objektil: Dieses wird, so Deleuze, nicht wie das Objekt von seiner gegebenen Form, sondern durch die Falten, die Berührungen, die Kurven und ihre Tangenten als zeitliches Ereignis bestimmt.5 Mehr 3 | Manning: Always More Than One, S. 95f. 4 | Ebd., S. 92. 5 | Vgl. Deleuzes Konzept des Objektils, das er ausgehend von Serres, Leibniz und Bernhard Cache entwickelt: »Es gibt also eine Reihe von Kurven, die nicht nur konstante Parameter implizieren, für jede und für alle, sondern auch die Reduzierung der Variablen auf ›eine einzige Variabilität‹ der berührenden Kurve oder Tangente: die Falte. Der Gegenstand definiert sich nicht mehr durch eine wesentliche Form, sondern erreicht eine reine Funktionalität, wie in der Deklination einer Familie von durch Parameter eingerahmten Kurven, untrennbar von einer Reihe möglicher Deklinationen oder einer Oberfläche
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noch: »Es ist eine nicht allein zeitliche Konzeption, sondern auch eine die Qualität des Gegenstands betreffende, insoweit Töne und Farben flexibel und in der Modulation genommen werden. Es ist ein manieristischer Gegenstand, kein essentialistischer mehr: es wird Ereignis.«6 Das Objektil ist kein Gegensatz zum Ereignis, es führt keine Handlungen aus, das Objektil ist Teil eines Ereignisses, in diesem Fall einer Choreographie von Berührungen. Die Bewegungen der Burg falten sich mit jenen der Hüpfenden ineinander und so entstehen neue Faltungen, neue Tangenten und Berührungen und damit neue choreographische Objektile. »We could call these objects ›choreographic objectiles‹ to bring to them the sense of incipient movement their dynamic participation within the relational environment calls forth.« 7 Als eine Burg voller Faltungen wird White Bouncy Castle zum choreographischen Objektil, eine Mannigfaltigkeit von Bewegungen, die nicht nur jene Trennungen von Mensch und Burg, Subjekt und Objekt der Berührung durchkreuzt, die darüber hinaus jene Einheit des Körpers, sei er menschlich oder nichtmenschlich auf brechen und ihn zu einer vielfältigen Assemblage werden lässt. Jenes anfängliche Gefühl von Erhabenheit, das eintritt, sobald man vor der weißen, strahlenden, souverän strotzenden und doch beinahe unwirklich erscheinenden Burg steht, verliert sich, sobald man sich in die luftgefüllten Kissen fallen lässt. Diese Burg besteht aus Sprüngen und weichen Landungen, eine Welt voller Weiß und Gummi, eine Landschaft von Berührungen und Bewegungen. Hier existiert keine Trennung mehr zwischen der Landschaft der Burg und jenen, die sich durch diese bewegen. Es entstehen immer neue Differenzierungen, die quer zu der gegebenen Einteilung von Burg und Mensch verlaufen: White Bouncy Castle ist eine Welt, die sowohl von menschlichen als auch nicht-menschlichen Handlungen mit variabler Krümmung, die er selbst beschreibt. Nennen wir diesen neuen Gegenstand Objektil.« (Deleuze: Die Falte, S. 35, Herv.i.O.). 6 | Ebd., S. 36. 7 | Manning: Always More Than One, S. 92.
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hervorgebracht wird; sie entsteht in einem komplexen Zusammenspiel von mannigfaltigen Kräften, von Schwerkraft und Widerständigkeit, Sprungrichtungen und Elastizität, von der Beschaffenheit der Oberfläche und dem Winkel des Fallens. Diese Berührungslandschaft überschreitet die Dichotomie von menschlich und nichtmenschlich und fragt nach einer neuen Konzeption der Handlungen und ihrer Relationen.
E ine kit zelige L andschaf t Jene – oftmals mit der Landschaft assoziierten – Konzepte wie Umwelt oder Natur suggerieren nicht nur eine Trennung zwischen Landschaft und Mensch, Burg und Hüpfenden, sie suggerieren vor allem auch eine Einheit der Burg als Grund des Geschehens. Doch White Bouncy Castle ist kein gegebener Ort, sie bietet keinen festen Boden, sie wird zur Landschaft. Diese entsteht in der »Verdichtung oder Kristallisation von Aktivitäten innerhalb eines relationalen Feldes«.8 Ingold beschreibt die Mannigfaltigkeit und Prozessualität einer Landschaft, die keine natürliche Gegebenheit bildet, sondern zu einem Gebilde aus Kräften und Bewegungen wird. Es verbinden sich vielfältige Handlungen, menschliche wie nicht-menschliche Berührungen, die immer neue Szenarien und neue Konstellationen hervorbringen. Keine dieser Berührungen ist einfach der Ausgleich der anderen, hier wird kein Gleichgewicht, keine Harmonie, kein statischer Idealzustand hergestellt, hier gibt es nur Phasen der Metastabilität, voller Potenzial zur Veränderung. In dieser Welt bildet der Mensch weder das handlungsmächtige Zentrum noch ist er bloß passives Objekt. »Human beings live in, not on, the world, and the historical transformations they bring about are part and parcel of the world’s transformation of itself.«9 Die Teilnehmerinnen und 8 | Tim Ingold: Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, London u. New York: Routledge 2011, S. 47, Übers. G.E. 9 | Ebd.
6. Meteorologie der Berührungen
Teilnehmer von White Bouncy Castle lassen sich weder überwältigen noch können sie die Richtungen, die Bögen und die Geschwindigkeiten ihrer Sprünge vollkommen kontrollieren – sie ko-komponieren mit der Burg und erschaffen so eine Sensibilität für die Mannigfaltigkeit der Kräfte. Die Burg ist empfindsam, vielleicht etwas zu empfindsam geworden. Die vielen Berührungen sind unberechenbar, sie kitzeln, so könnte man sagen, die Burg. Wenn die Menschen durch die Luftkissen hochgeschleudert werden, ist dies wohl eine Reaktion auf die vielen kleinen Berührungen – eine Überreaktion. Ein unberechenbares Kitzeln zieht sich quer durch Burg und Menschen. Die Reaktionen lassen sich auf keine Ursachen mehr zurückführen, sie sind vielmehr das Wuchern von Berührungen. White Bouncy Castle wird zu einer sprudelnden Welt, die immer weitere Bewegungen und Empfindungen produziert, ohne dass sich diese an einzelne oder gar an menschliche Handlungen koppeln lassen. Diese Berührungen haben die menschliche Wahrnehmung schon längst um ein Tausendfaches überstiegen. Es ist unmöglich geworden, die Berührungen zu zählen und unmöglich, sie überhaupt wahrzunehmen. White Bouncy Castle ist nicht einfach ein berührbares Objekt, es ist eine Mannigfaltigkeit von Aktionen, es berührt und bewegt die Hüpfenden so wie es selbst aus Berührungen und Bewegungen besteht, die allermeisten davon finden jenseits des Menschen, jenseits seines Körpers und seiner Wahrnehmungen statt.
F ür eine M e teorologie der B erührung Indem die Burg sich mit den Hüpfenden bewegt, wird die Berührung zu einem Zusammenspiel menschlicher wie nicht-menschlicher Kräfte. Doch wie konfigurieren sich all jene Berührungen, die sich jenseits des menschlichen Körpers und damit zwischen nichtmenschlichen Akteuren ereignen? Wie sehen diese Welten der Berührungen aus, wenn nicht der Mensch deren Zentrum bildet,
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wenn diese gar kein Zentrum besitzen, sondern aus einer Mannigfaltigkeit von Bewegungen, Empfindungen und Affekten bestehen? In einem seiner ersten Texte zu den Fragen der Berührung10 geht Jean-Luc Nancy jener Differenz zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Berühren nach, die Martin Heidegger bereits in einer Vorlesung im Wintersemester 1929/30 in Freiburg postuliert hat und die 1983 unter dem Titel Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit veröffentlicht wurde:11 »Der Stein ist ohne Welt. Der Stein liegt z.B. auf dem Weg. Wir sagen: der Stein übt auf den Erdboden einen Druck aus. Dabei ›berührt‹ er die Erde. Aber was wir da ›berühren‹ nennen, ist kein Betasten. Es ist nicht die Beziehung, die eine Eidechse zu einem Stein hat, wenn sie auf ihm in der Sonne liegt. Dieses Berühren des Steines und Erdbodens ist erst recht nicht das Berühren, das wir erfahren, wenn unsere Hand auf dem Haupt eines anderen Menschen ruht. Das Aufliegen auf…, das Berühren, ist in allen drei Fällen grundverschieden. […] Die Erde ist für den Stein nicht als Unterlage, als ihn, den Stein, tragend, geschweige denn als Erde gegeben, noch kann er gar im Aufliegen dieser Erde als solcher nachspüren.«12
Anhand der Berührung trifft Heidegger hier eine dreifache Unterscheidung: Mensch, Tier, Ding (Stein). Nur dem Menschen ist es dabei möglich, ›wirklich‹ zu berühren – zu betasten und dem Betasteten nachzuspüren. Nancy merkt gleich zu Beginn seines Textes jenes einseitige Verhältnis an, das Heidegger auf baut: Beziehung kann nur durch den Menschen und seine ›wirklichen‹ Berührungen aufgebaut werden, sodass nur er im Besitz einer Welt ist. Diese Beziehungen sind zugleich beschränkt auf die Modi der Identifika10 | Jean-Luc Nancy: »Berühren (I und II)«, in: Der Sinn der Welt, Zürich u. Berlin: Diaphanes 2014, S. 89-93. 11 | Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Gesamtausgabe Bd. 29/30, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1983. 12 | Ebd., S. 290, Herv.i.O. Siehe auch: Nancy: »Berühren«, S. 89.
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tion und der Aneignung. Und so fragt Nancy im Gegenzug: »Warum wäre die Welt nicht auch a priori im Inmitten-Sein, ZwischenSein und Gegen-Sein?«13 Was Nancy hier vorschlägt, ist eine Welt der Berührungen, des Mit-Seins, der Beziehung, die nicht zu einem einheitlichen Kosmos führt, keine Welt als große Einheit, sondern eine Welt voller Differenzen, eine Welt des Dazwischen, der Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz. Entgegen dem anthropozentrischen Konzept Heideggers, in dem nicht nur die Existenz einer Welt, sondern auch die ›wirkliche‹ Berührung eine exklusiv menschliche Eigenschaft ist, stellt Nancy eine Welt, die voll ist von mannigfaltigen Beziehungen und Berührungen, zwischen menschlichen sowie nicht-menschlichen Elementen. Es ist sogar gerade jene von Heidegger degradierte Berührung der Steine, die für Nancy die Möglichkeit einer anderen Welt und einer anderen Berührung eröffnet: »Der Stein […] berührt, oder er rührt an: passive Transität. Er wird berührt, kein Unterschied. Grobe Entelechie des Sinns: Er ist im Kontakt, absolute Differenz und absolute différance. […] Es gibt kein ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, sondern Plätze und Orte, Abstände: mögliche Welt, bereits Welt.«14 Es sind die Steine, die nicht einfach »ohne Welt« (Heidegger) sind, sondern in ihren Berührungen eine andere Welt, andere Welten schaffen: Hier sind keine Subjekte und Objekte gegeben, keine Identifikationen und Vereinnahmungen, sondern vielfältige Orte, Entfernungen und Differenzen. Diese Welten ›gehören‹ nicht einfach zu einem Stein oder zu einem Ding (eine Logik, die zwangsläufig ein Subjekt zur Folge hätte) und so liest Nancy in seiner dekonstruktiven Lektüre Heideggers Postulat »der Stein ist ohne Welt« als ein Zur-Welt-Sein des Steines; eine Formulierung, die er gleich im nächsten Satz radikalisiert: »Sagen wir, er ist nicht ›zur‹ oder ›in‹ der Welt: er ist Welt.«15 Der Stein wird selbst zu einer Welt; einer Welt voller Berührungen, die kein Zentrum – weder Mensch noch Stein – mehr besitzt. 13 | Nancy: »Berühren«, S. 89, Herv.i.O. 14 | Ebd., S. 91, Herv.i.O. 15 | Ebd., S. 92, Herv.G.E.
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Lässt sich diese Welt bereits als eine Berührungslandschaft oder gar eine Ökologie der Berührungen verstehen? Nancy geht es nicht um die Innerlichkeit des Steines. Im »Abstand« – der Distanz und Räumlichkeit – artikuliert sich eine Beziehung von Nähe und Distanz, die nicht dem Menschen vorbehalten ist.16 Doch wie verändern sich diese Konzepte, wenn nicht die Frage nach der Innerlichkeit und ihrem Verhältnis zu einem Außen den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden? Wenn die Welt der Berührungen etwas ist, das sich nicht zwischen den Dingen ereignet, sondern die Dinge selbst zu Berührungswelten werden, dann stellt dies weniger die reichen Berührungswelten der Menschen in Frage, sondern weitet diese vielmehr aus. Somit wird jene Weltarmut bzw. Weltlosigkeit überkommen, die Heidegger den Tieren und Steinen zuschreibt. Diese Berührungswelten können nicht einfach den menschlichen hinzugefügt werden, vielmehr fordern gerade die Betrachtungen nicht-menschlicher Beziehungen neue und andere Konzepte der Berührung. Wie verändern sich die vielfältigen Welten, wenn die Berührungen nicht nur die Einteilungen von Subjekten und Objekten durchkreuzen, sondern auch das Innen und Außen der Dinge?
B lessed Wenn die Bühne von Blessed (Meg Stuart, 2007) erleuchtet wird, ist ein vage skizziertes (Urlaubs-)Paradies zu erkennen: vorne links eine Palme, rechts von ihr ein Schwan, hinten steht eine einfache Hütte, nach vorne offen und in ihr bloß ein Stuhl, alles schematisch aus Pappe ausgeschnitten. Mit heller Hose, Hemd und Sandalen bekleidet tritt aus dem dunklen Hintergrund der Tänzer Francisco Camacho nach vorne und bewegt sich steif, als sei er selbst aus Pappe, durch diese verlassene Welt. Langsam umkreist er die Figuren und vermeidet dabei jeden direkten Körper-Kontakt, lehnt sich nur einmal kurz an die Palme, wahrt aber sonst eine sichere Distanz. Er ist der einzige menschliche Tänzer, doch tanzt er kein Solo, denn die Figuren 16 | Vgl. ebd.
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aus Pappe sowie der nach kurzer Zeit einsetzende Regen werden selbst zu Akteurinnen und Akteuren der Aufführung. Das Set wird Teil der Choreographie von Blessed, es hat, wie die Bühnenbildnerin Doris Dziersk schreibt, »so much a life of its own«: »[A]s an installation it also acts like a performer itself, first showing the stability and solidity of cardboard and the way things are constructed, but ultimately also revealing the fragile nature of this material world.«17 Unzählige Regentropfen prasseln auf die Bühne herab. Palme, Schwan und Hütte sind den Wassermassen ausgeliefert. Unaufhörlich fallen die Tropfen auf die Pappe, berühren diese und fließen an ihr herunter. Während sie den Regen aufsaugen, wird die Pappe weich und ihre Formen verändern sich. Nach nur wenigen Minuten neigt sich der Hals des Schwans zur Seite, bis sein Kopf zu Boden sinkt. Auch das Hüttendach hält dem prasselnden Regen nicht stand und sinkt langsam unter der Kraft des Wassers nach unten. Die Blätter der Palme stehen nicht mehr starr und aufrecht; aufgeweicht schwingen sie hin und her, biegen sich nach links und rechts, nach unten, bis schließlich der ganze Stamm zur Seite knickt. Dunkelheit zieht sich über die Bühne und jene dramatische Geigen-Musik, die den Einbruch des Regens begleitet, verstummt. Zu hören ist das Prasseln der fallenden Tropfen, ihr unaufhörliches Aufschlagen auf den Boden und auf die Pappe. Tausend kleine Berührungen, die sich Sekunde für Sekunde ereignen. Wenn die Bühne langsam wieder erleuchtet wird, hat sich der Regen gelegt. Palme, Schwan und Hütte sind in sich zusammengefallen, unförmige Gebilde wabern und wanken, sacken nach unten oder kippen zur Seite. Camacho ist, bekleidet mit einer Sonnenbrille und neonfarbenen Perücke, unter dem Berg aus Schlamm, der einst ein Stuhl und eine Hütte war, hervorgekrochen. Im Regen schmiegt er sich mit weichen Bewegungen an die Palme, versucht ihren Stamm aufzurichten, ihre Blätter emporzuheben, er umarmt die noch stehenden Reste und wird selbst zum Palmenstamm, er hebt die Blätter in die Luft und kann sie doch nicht halten, eins nach dem anderen reißt sich
17 | Doris Dziersk: »The set as a condition«, in: Meg Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?, hg. v. Jeroen Peeters, Dijon: Les presses du réel 2010, S. 90.
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Abb. 18: Meg Stuart: Blessed (2007) los und fällt zu Boden. Der Schwan sinkt nieder, sein Hals neigt sich zur Seite, er muss gestützt werden, damit er sich nicht gänzlich im Nass des Bodens auflöst. Erst als Camacho die Pappmassen aufhebt, in sie einsteigt, sie um seinen Körper wickelt, den Hals des Schwans an seinen Hals schmiegt, scheint er für einen Moment selbst zum Schwan zu werden. Im Regen, der erneut eingesetzt hat, bleiben die Pappen widerständig, falten sich auseinander und widersetzen sich den Handlungen Camachos. Es entsteht die ausweglose Szene einer vergehenden Welt, die mehr und mehr zu Matsch wird. Die aufgelöste Palme, der erweichte Schwan, vor allem aber die eingefallene Hütte lassen an jene Katastrophen-Landschaften denken, wie sie in New Orleans während und nach Hurrikan Katrina zu sehen
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Abb. 19: Meg Stuart: Blessed (2007) waren.18 In dem Schlamm auf der Bühne entstehen immer wieder neue Gebilde aus Pappe und Wasser, weiche fluide Szenarien, voller Bewegungen und unzähliger Berührungen. 18 | Die in New Orleans geborene und aufgewachsene Stuart schildert Blessed in einem Interview als ihre Ause inandersetzung mit den bei der Premiere zwei Jahre zurückliegenden Ereignissen von Hurrikan Katrina: »I lived there until I was 5 […] My memories are of hurricanes and big water beetles and Mardi Gras. It wasn’t about, O.K. now I have to make a piece about Hur-
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Eine weitere menschliche Tänzerin betritt die Bühne: Zu leichtem Gitarrenpop tanzt sie in bunten Gewändern über die Bühne, auf dem Kopf einen rotweißen Feder-Schmuck: In ihren Bewegungen wird sie zur Samba-Tänzerin am brasilianischen Sandstrand, zur Schamanin, die den Regen beherrscht, zur phantastischen Wiederkehr des zerbrochenen Paradieses als weiblicher Körper, zur trauernden und feiernden Tänzerin beim ersten Mardi Gras nach Hurrikan Katrina. Regen und durchweichte Pappe scheinen mit ihr gänzlich verschwunden zu sein, doch schon bald wird auch ihr kurzes Auftreten von einem erneuten Schauer vertrieben. Ein letztes Mal setzt der Regen ein, weder Palme noch Schwan oder Hütte sind zu erkennen. Camacho geht, mit Handtuch und Regenmantel geschützt, über die aufgeweichte Pappe. Graue Schleier ziehen sich über die Bühne, zu hören ist das monotone Prasseln der Regentropfen auf den Bühnenboden. Langsam verstummen auch sie.
V on den D ingen zum W e t ter »There’s a moment when I sit in the chair for a long time just looking at the audience and what is dancing is the set.«19 Camacho beschreibt hier seine Erfahrung während der Aufführung: als Zuschauer, am Rande sitzend. In Blessed bildet nicht der menschliche Tänzer das Zentrum der Choreographie, vielmehr eröffnen sich auf der Bühne vielfältige Welten der Berührung: Berührungen zwischen der Pappe und dem Regen, dem Regen und dem Bühnenboden, der Pappe und der Regenkleidung – sie sind Welten des Wassers, der Pappe, der Kleidung. Die menschliche, von Heidegger ricane Katrina. It just came out, and it connected to a lot of things I’ve been about: people dancing as if it’s the end of a relationship or the end of the world«. (Meg Stuart zitiert nach: Gia Kourlas: »Perseverance in a Collapsing World«, in: The New York Times, 6.1.2012. Zugriff am 2.11.2015 unter: www. damagedgoods.be/EN/about_interview_95. 19 | Francisco Camacho zitiert nach: Kourlas: »Perseverance in a Collapsing World«.
6. Meteorologie der Berührungen
als die einzig ›wirkliche‹ bezeichnete Berührung ist hier nur eine unter vielen, sie bildet weder das Zentrum noch das Maß der Ereignisse der Aufführung. Blessed wird zu einem Mit-Sein (Nancy) der vielfältigen Elemente, ihrer Berührungen und ihrer Welten. All die Elemente wie Wasser, Pappe, Kleidung und das Plastik des Bühnenbodens berühren sich auf unendlich vielfache Weise, sie werden zu »unzuverlässigen Performern« (Stuart).20 Die Berührungen zwischen ihnen sind dabei genauso von Distanz und Annäherung, von Differenz und Relation bestimmt, wie jene zwischen ihnen und dem menschlichen Tänzer; auch sie vervielfältigen und differenzieren sich, auch sie bilden keine Einheit, sondern Differenzen. Es sind vielfältige Berührungen: Selten berühren sich lediglich zwei Elemente, die Berührungen sind mehr, sie sind das zusammenkommen mannigfaltiger Elemente wie Pappe, Wasser, Stoff und Gummi. Darüber hinaus sind die nicht materiellen Elemente wie die Musik, das Licht, die Gravitation etc. ebenso Teil dieser komplexen Berührungsereignisse. Wenn das Licht auf die Regentropfen fällt und in vielfacher Weise gebrochen wird, oder wenn das Klopfen jedes Regentropfens auf den Bühnenboden zu einem undifferenzierten Prasseln wird, dann sind diese Berührungen zu klein, zu groß, zu leise oder zu schnell, um als einzelne wahrgenommen werden zu können. Nur wenige von ihnen sind überhaupt auf den Menschen bezogen bzw. können von diesem empfunden werden, die meisten übersteigen oder unterlaufen seine Sinnesorgane. Nur über die Effekte (beispielsweise das Rauschen) kann auf die 1000fachen Berührungen rückgeschlossen werden. An den Berührungen von Blessed zeigt sich noch etwas anderes: Jene Dinge und Welten wie die Pappe und der Regen sind keine a priori existenten Gegebenheiten (ein zentraler Faktor, den Nancy in seiner Kritik an Heidegger anführt), sie sind keine gegebenen Objekte, in der Aufführung zeigt sich gerade die Prozessualität ihres 20 | Meg Stuart in: Stuart, Damaged Goods: Are we here yet?, S. 125, Übers. G.E.
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Werdens. Wenn die Bühnenbildnerin Dziersk schreibt: »What ex cites me is the reality of something that eludes control and therefore truly has the character of process«,21 dann formuliert sie damit eine Prozessualität und ein Werden der Dinge, der Wassertropfen, der Pappen oder der Kleidungsstücke. Diese sind keine präexistenten Einheiten, die sich mit anderen Objekten berühren, sie entstehen vielmehr in den Prozessen und in den Bewegungen der Berührungen. Wenn der Regen auf die Pappen prasselt, dann interferieren diese beiden Elemente und es entsteht eine neue Konfiguration von Materie und Bewegung: In dem Moment, in dem das Wasser die Pappe erweicht, schwingen die Blätter der Palme hin und her, dreht und neigt sich der Hals des Schwanes und es faltet sich das Dach der Hütte zusammen. Sie alle gehen neue Relationen ein, neue Gebilde entstehen, ohne jedoch eine finale Form oder einen stabilen Zustand zu erreichen. Die Regen-Papp-Figuren sind metastabil, sie sind voller Potenzialität zur Veränderung. Wenn die Pappe scheinbar das Wasser ›aufnimmt‹ und weicher Matsch entsteht, so bildet sich doch keine einheitliche Masse. In unendlich vielen Faltungen entstehen neue Figuren und mit ihnen neue Differenzen, neue Berührungen und neue Bewegungen. Das Aufweichen der Pappe ist weder die Auflösung von Form noch von Differenz, es ist vielmehr die Möglichkeit neuer und anderer Bewegungen. Die Bewegungsgefüge von Blessed ziehen sich transversal durch die vielfältigen Materialien, durch ihre Werdensprozesse und vielfältigen Welten. Es sind die unzähligen Berührungen, die immer neue Relationen und neue Gefüge hervorbringen. Bewegungen und Berührungen werden von den Objekten weder passiv erfahren noch werden die Dinge selbst zu handelnden Einheiten (und damit zu neuen Subjekten), vielmehr lösen die Bewegungen jene Einteilungen von aktiv und passiv auf, sie durchkreuzen diese, so wie sie auch die Dinge selbst durchkreuzen. In ihrer Autonomie bzw. Abstraktion sind sowohl die Bewegungen als auch die Berührungen den Dingen immanent.
21 | Dziersk: »The set as a condition«, S. 90.
6. Meteorologie der Berührungen
Wenn der Regen von oben auf die Bühne prasselt, dann lässt sich dieser nicht einfach als eine Menge von Wasser oder eine Ansammlung von Tropfen beschreiben. Es sind das Fallen und die unzähligen Bewegungen des Wassers, die dieses zum Regen machen. In seinen Studien zum Wetter argumentiert Ingold, dass dieses nicht aus handelnden Einheiten, sondern aus Bewegungen besteht: »We are not required to believe that the wind is a being that blows, or that thunder is a being that claps. Rather the wind is blowing, and the thunder is clapping«.22 Im Anschluss lässt sich auch für den Regen argumentieren, dass dieser nicht einfach etwas ist, sondern die Bewegung des Regnens selbst. Der Regen ist das tausendfache Fallen der Tropfen und ihre unzähligen kleinen Berührungen, beim Aufschlagen auf dem Boden; der Regen ist das Prasseln und Spritzen; er ist eine unüberschaubare Anzahl von Bewegungs- und Berührungsereignissen. Der Regen ist ein meteorologischer Berührungs-Bewegungs-Exzess. Doch nicht nur der Regen, die gesamte Aufführung von Blessed lässt sich im Anschluss an Ingold als meteorologisches Ereignis beschreiben. Ingold geht es in seinen anthropologischen Studien weniger darum, das Wetter als ein spezifisches Verhältnis oder ein Set von Handlungen zu verstehen, die die bereits bestehenden Elemente (wie Erde, Steine, Himmel, Sonne) in ein Verhältnis zueinander setzen. Vielmehr beschreibt er mit dem Konzept der »weather-worlds« eine Prozessualität und Offenheit der Welt selbst, in der nicht mehr zwischen Aktion und Materialität unterschieden werden kann. So wie der Wind nicht etwas ist, das bläst und der Regen nicht etwas ist, das regnet, so bilden auch der Grund, die Erde, die Steine, die Bäume etc. nicht einfach bestehende Einheiten oder Objekte, sie selbst sind Prozesse in einer Welt voller Bewegungen und somit Teil der Wetter-Welten. »Indeed wherever we look, the ground bears witness to the liveliness of the processes that have gone on or are going into its formation – to the effects of rain, wind, frost and so on.«23 22 | Ingold: Being Alive, S. 73, Herv.i.O. 23 | Ebd., S. 132.
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Ingold beschreibt diese Wetter-Welten als prozessuale Welten, die nicht aus einer Ansammlung von Objekten bestehen, sondern aus Bewegungen. Steine, Berge, Wolken oder Häuser sind nicht gegeben, sie werden vielmehr durch die Bewegungen des Wetters hervorgebracht: Der Stein wird erst durch den Regen rund und glatt, die Berge und Täler entstehen erst durch das schmelzende Eis und das fließende Wasser, das Haus ist erst durch den Wind schief und sein Gemäuer rissig geworden. Diese Bewegungen des Wetters bilden eine Welt im Werden. Dabei treffen so unterschiedliche Zeitlichkeiten und Geschwindigkeiten wie das Blasen des Windes, das Wachsen des Baumes, das Verschieben der Kontinentalplatten oder das Schmelzen von Eis zusammen. Doch sie alle finden nicht losgelöst von den anderen statt: So wie die Berge und Täler durch das Eis entstanden sind, bringen diese wiederum Wolken und Gewitter hervor. Sie alle interferieren miteinander, verknüpfen sich und bilden immer neue Wetter-Assemblagen, mal stürmisch, mal nass, mal brennend heiß, mal hart, mal weich – unzählige meteorologische Intensitäten und Rhythmen. Mit seinen Studierenden am Strand stehend und über Wasser und Land blickend schreibt Ingold: »[L]ooking out to sea we saw a world in movement, in flux and becoming, a world of ocean and sky, a weather-world. We saw a world without objects.«24 Wetter-Welten sind keine statischen Landschaften, sie sind keine Ansammlungen von Objekten – Steinen, Bergen, Bäumen, Häusern, Tieren, – sie sind Welten ohne Objekte bzw. Welten, in denen die Objekte selbst die vielfältigen Prozesse des Werdens bilden. Sie sind Bewegungs-Welten, Prozess-Welten, sie sind Objektil-Welten statt Objekt-Welten. Diese Welten bilden weder zu durchquerende Landschaften noch zu bespielende Bühnen. Ingold sieht in beiden Konzepten das Problem einer passiven, statischen Umwelt, die durch den Menschen lediglich betreten wird. Ins Wetter jedoch taucht der Mensch ein: »As an experience of light, sound and feeling that suffuses our awareness, the weather is not so much an object of perception as 24 | Ebd., S. 131.
6. Meteorologie der Berührungen
what we perceive in, underwriting our very capacities to see, to hear and to touch.«25 Dieses Eintauchen ist jedoch keines, das den Menschen oder das Wetter unverändert lässt, Wetter ereignet sich hier sowohl als Ereignis menschlicher als auch nicht-menschlicher Kräfte, sie alle sind Teil dieser spezifischen Prozesse des »weathering«.26 Die Wetter-Welten bestehen dabei aus spezifischen Relationen von Bewegungen – menschliche Bewegungen interferieren mit nichtmenschlichen und produzieren somit neue Rhythmen, neue Intensitäten und neue Wetter-Welten. Wetter-Welten sind Welten im Werden, sie sind aber zugleich auch haptische Welten, Welten der Berührung, die über die materiellen Kontakte hinausgehen und ebenso immaterielle Elemente mit einbeziehen. Doch diese Empfindungen gehen nicht von einem gegebenen Körper aus, es sind – wie Deleuze und Guattari schreiben – Perzepte und Affekte, die sich zu Gefügen von Bewegungen verkoppeln. In den Berührungen ereignet sich ein worlding, das nicht nur mehr als menschlich ist, sondern zugleich jegliches bereits Geformte auf bricht, unterläuft und übersteigt.27 Die zentrale Position des Menschen (aber auch der Sonne, des Mondes, der Sterne etc.) 25 | Ebd., S. 130. 26 | Ebd., S. 121. 27 | In Bezug auf ein Konzept des Weltens, das nicht vom Menschen ausgeht, schreibt Manning: »An otherness of worlding does not begin with the human: it engages with and across in a vibratory expression that must be ›read between.‹ An otherness of worlding is always more than one. It composes-with experience, refuting the notion that the world is already known, pre-formed. This worlding is thought in motion, thought individuating in an amplifying incorporeality, a vibratory materiality.« (Manning: Always More Than One, S. 169). Auch Ingold verwendet den Begriff des worlding, bezieht sich dabei jedoch auf Heideggers Begriff des »Weltens«. (Ingold: Being Alive, S. 130). Ingolds Ausführungen verbleiben oftmals in einer a priori existierenden Aufteilung von Welt(en) und wahrnehmendem Menschen, der in diese(s) eintritt. Doch gerade die Setzung dieser Gegebenheit des Menschen gilt es in Frage zu stellen.
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löst sich auf, dieser wird zu einem Element unter vielen, zu einem je singulären Bewegungsknoten – auch er entsteht in den Prozessen des weatherings. Berührungen bilden keine menschlichen Aktionen mehr, sie übersteigen diese um ein Tausendfaches; die Berührungen werden zu spezifischen Verknüpfungen und Interferenzen von menschlichen und nicht menschlichen, materiellen und nicht-materiellen Bewegungen; Berührungen werden zu Szenarien des Wetters, zu meteorologischen Ereignissen. Die Berührung übersteigt hier nicht nur den menschlichen Körper, sie übersteigt jegliche materielle Form. Pappen, Palmen, Schwäne, Stoffe, Wasser befinden sich in einem ständigen Wandel, in Prozessen der Materialisierung. Diese mannigfaltigen Prozesse finden in keiner Weise unabhängig voneinander statt, sie sind vielmehr relationale Ereignisse, Interferenzen verschiedener Bewegungen – in ihnen berühren sich die unzähligen Kräfte der Aufführung und sie bringen immer wieder neue materielle Konstellationen hervor. Blessed wird zu einer meteorologischen Assemblage: RegenWerden des Wassers, Matsch-Werden der Pappe, Wetter-Werden der Berührungen. Der Regen, die sich immer wieder verändernden Papp-Figuren oder die Stoffe der Kleidung, vor allem aber die unzähligen Berührungen zwischen ihnen sind eine Welt im Werden, sie sind eine Wetter-Welt. In diesem meteorologischen Szenario gibt es weder ein Zentrum noch einen Ausgangspunkt, die Aufführung wird nicht durch eine handlungsmächtige Kraft hervorgebracht, weder eine Autorin oder ein Autor noch eine Protagonistin oder ein Protagonist können diese Kräfte in Gänze steuern. Blessed bildet das relationale und zugleich autonome Ereignis einer Welt im Entstehen – a world’s worlding, a weather’s weathering. Diese Wetter-Szenarien in Blessed, die Regen-Schauer und -Güsse unterspülen nicht nur die Pappfiguren auf der Bühne – die Palme, den Schwan oder die Hütte –, sie unterspülen die Fixiertheit und Bestimmbarkeit der Objekte selbst. Der Regen dringt in die Pappen ein und weicht sie auf, verändert sie, lässt sie etwas anderes werden. Blessed ist nicht einfach eine Konstellation gegebener Ob-
6. Meteorologie der Berührungen
jekte, auch nicht das Zusammenspiel von Subjekten und Objekten, es sind die Bewegungen, die je singulären Weisen der Individuationen, die das Wetter der Aufführung bilden. Doch wie konfigurieren sich diese Prozesse? Welcher »Modus der Individuation« ist möglich, der nicht a priori mit einem ›fertigen‹ oder bestehenden, einheitlichen Subjekt verbunden ist? Deleuze und Guattari nennen diese Haecceïtas, »Diesheiten«: »Eine Jahreszeit, ein Winter, ein Sommer, eine Stunde oder ein Datum haben eine vollkommene Individualität, der es an nichts fehlt, auch wenn sie nicht mit der eines Dinges oder eines Subjektes zu verwechseln ist. Sie sind in dem Sinne Diesheiten, daß in ihnen alles ein Verhältnis von Bewegungen und Ruhe zwischen Molekülen oder Teilchen ist, ein Vermögen zu affizieren oder affiziert zu werden.« 28
Mit dem Konzept der Haecceïtas greifen Deleuze und Guattari einerseits die Prozessualität und Offenheit der Individuation auf, wie sie Simondon entwickelt hat, sie beziehen sich aber andererseits auch auf Konzepte der Meteorologie, vor allem jene meteorologischen Bewegungen, wie sie von Michel Tournier beschrieben wurden: »Zwischen den äußersten Langsamkeiten und den schwindelerregenden Schnelligkeiten der Geologie oder der Astronomie siedelt Michel Tournier eine Meteorologie an, bei der die Meteore im Rhythmus unserer Geschwindigkeit leben.«29 Rhythmen der Subjektivierung, Bewegungen der Meteore bilden eine »Konsistenz- oder Kompositionsebene von Haecceïtas […], wo es nur Geschwindigkeiten und Affekte gibt«. Diese Ebene unterscheidet sich deutlich von einer »ganz anderen Ebene von Formen, Substanzen und Subjekten«.30 Es sind die Haecceïtas, die die weatherings bevölkern. Es ist die »Individuation eines Tages, einer Jahreszeit, eines Jahres, eines Lebens (unabhängig von der Dauer) – eines Klimas, eines Windes, eines 28 | Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 354f. 29 | Ebd., S. 355f. 30 | Ebd., S. 356.
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Nebelschwadens, eines Schwarms, einer Meute (unabhängig von der Regelmäßigkeit)«.31 Haecceïtas sind das »Wie« der Individuationen des Tanzes, sie bilden das Wetter der Aufführung Blessed: Das Prasseln des Regens auf die Pappe: Haecceïtas. Das sanfte Fallen der Palmenblätter vom Tänzer-Baumstamm zu Boden: Haecceïtas. Die Härte der Pappe des Schwans: Haecceïtas. Das langsame Erweichen der Pappe im Wasser: Haecceïtas. Blessed wird zu einer Vielheit von Diesheiten und einem Tanz von Haecceïtas; keine Choreographie einzelner Elemente und Objekte, sondern Weisen der Individuationen, Relationen und Berührungen. Haecceïtas, so schreiben Deleuze und Guattari, sind keine Einheiten, keine bestehenden Wesen oder Dinge, sie sind Knotenpunkte, Qualitäten relationaler Mannigfaltigkeiten: »Klima, Wind, Jahreszeit oder Stunde haben kein anderes Wesen als Dinge, Tiere und Personen, die sie bevölkern, die ihnen folgen, in ihnen schlafen oder aufwachen.«32 Haecceïtas bilden keine Einheit, Blessed ist nicht die Assemblage oder Choreographie einzelner Haecceïtas, diese sind vielmehr selbst immer schon Gefüge, Vielheiten, die sich zu neuen und anderen Vielheiten verknüpfen. Sie wirken auf je singuläre Weise auf die Prozesse der Individuation ein, doch sind sie zugleich als qualitative Dynamiken nicht von diesen loszulösen. So ist auch das meteorologische Szenario nicht in einzelne Prozesse zu unterteilen und doch verändert jede singuläre Haecceïtas dessen Qualität. Es sind die Kälte des Regens, die Feuchtigkeit der Luft, die zwar keine ursprünglichen Prozesse, jedoch die Dynamiken der Aufführungen bilden. Sowohl das Haecceïtas-Gefüge als auch die Meteorologie sind voller Intensitäten der Bewegungen sowie Relationen und Qualitäten von Berührungen. Diese Berührungen bringen als Interferenz mannigfaltiger Dynamiken und Bewegungen singuläre Beziehungen und damit spezifische Szenarien hervor. Sie sind kein Modus der Vereinheitlichung, hier entsteht nicht etwas oder ein neues Ganzes, in den Berührungen werden immer neue und ande31 | Ebd., S. 357, Herv.i.O. 32 | Ebd.
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re Relationen und mit ihnen auch weitere Differenzen produziert. So wie der Regen niemals aus einem Wasserstrahl besteht oder der Wind niemals konstant in eine Richtung bläst, so entstehen auch keine einheitlichen, homogenen Gefüge in Blessed. Die vielfältigen, unterschiedlichen Mikro-Berührungen ziehen sich quer durch den Regen, die Pappe, die Stoffe, den Boden, quer durch das Licht und die Musik und bilden so die Kompositionsebene von Blessed. Weder die Regentropfen noch ihr Fallen, sondern die Weisen der Berührungen mit der Pappe, mit dem Gummi oder der Haut des Tänzers bilden die Haecceïtas. Sie schaffen neue Möglichkeiten und neue Individuationen und damit die Qualitäten von Blessed. Nancy hat in seiner Heidegger-Lektüre beschrieben, wie die Steine sich zur Welt wenden, wie sie beginnen, Welt zu werden. Die Steine werden zu Welten, die aus Bewegungen und Relationen bestehen – sie sind Teil der Wetter-Welten: Kälte hat sich in den Boden gefressen und die Steine abgespalten, Wasser hat sie durchdrungen und umspült, Wind hat sie umhergetrieben, ihre Oberfläche geschliffen. Diese Steine bilden kein Fundament der meteorologischen Szenarien, sie selbst sind Teile dieser Prozesse; so wie jeder Regentropfen den Stein verändert, verändert sich auch der Regen selbst: Das Prasseln des Regens auf dem feinen Sand am Meer ist ein anderes als auf den steilen Gebirgsklippen. Mannigfaltige Haecceïtas. Oder wenn sich die Echsen am Abend eines Sonnentages auf die warmen Steine legen, dann berühren sie nicht einfach einen beliebigen Stein. Stein, Echse und Sonne individuieren sich in den unzähligen Berührungen der Wärme und des Wetters. Sie alle sind schon längst keine Dinge oder Objekte mehr, sondern das Werden vielfältiger Welten. Blessed und Ingolds Wetter-Welten zeigen die Bewegung von Welten des Mit-Seins, Bewegungen, die von keinem einzelnen Punkt, keiner Akteurin bzw. keinem Akteur im klassischen Sinne ausgehen, sondern Bewegungen, die sich in meteorologischen Szenarien verbinden, die interferieren und sich berühren. Diese Welten sind nicht die Welten eines Gegenstandes (und schon gar nicht eines Menschen), sie sind Prozesse des worldings bzw. des weather-
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ings, eine Vielzahl von Bewegungen, in denen weder ein Ding noch ein Körper im Zentrum steht, in denen es gar kein Zentrum gibt, sondern nur eine Meteorologie von Berührungen. Sowohl Forsythes White Bouncy Castle als auch Stuarts Blessed dezentrieren in ihren Arbeiten die/den menschliche/n Akteur/-in und ihre bzw. seine Berührungen. Beide entwerfen ein Gefüge von Berührungen, das die Dichotomien von Subjekt und Objekt, menschlich und nicht-menschlich auf bricht und aus den Berührungen selbst, ihrer Autonomie, ihrer Prozessualität und Relationalität besteht. Beide Arbeiten produzieren auf ihre je unterschiedliche Weise keine eindimensionalen Beziehungen, sondern offene Relationen: Die Hüpfenden in White Bouncy Castle sind nicht mehr die alleinigen handlungsmächtigen Akteurinnen und Akteure, die die passive Burg berühren, vielmehr zeigen die Berührungen, dass jene Aufteilungen in aktive Subjekte (menschlich) und passive Objekte (nicht-menschlich) hier nicht mehr möglich sind. Hier entsteht eine Berührungslandschaft, in der immer neue und andere Assemblagen von Berührungen und Bewegungen erzeugt werden. In Blessed wird die menschliche Perspektive noch etwas weiter verschoben, da hier Welten mannigfaltiger Haecceïtas produziert werden, die zwar nicht unabhängig von dem menschlichen Körper operieren, diesen jedoch nicht als zentralen Akteur einbeziehen. Diese Wetter-Welten der Berührung sind »mehr als menschlich«, sie bestehen aus den Dynamiken des Regnens, dem Erweichen der Pappe und dem Fallen der Blätter, sie bilden meteorologische Berührungs-Assemblagen, die weder von den Menschen ausgehen noch zwangsläufig auf diese bezogen sind, sondern die die menschlichen Berührungen um ein Tausendfaches übersteigen. Dies bedeutet nicht, dass diese Wetter-Welten rein natürliche Ereignisse sind. Wetter ist kein distanziertes Szenario, es ist ein Ereignis des Klimawandels, ein Zusammenspiel menschlicher und nicht-menschlicher Kräfte. Hurrikan Katrina hat auf grausame Weise verdeutlicht, dass das Wetter nicht losgelöst von politischen, ökonomischen, historischen und medialen Bewegungen betrachtet
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werden darf, und doch bilden diese menschlichen Kräfte nicht das Zentrum dieser Ereignisse.33 In der Aufführung von Blessed entstehen ein komplexes Zusammenspiel, eine Verflechtung und Verknotung mannigfaltiger Bewegungen. Zudem interferieren auch die Empfindungen der Zuschauerinnen und Zuschauer mit jenen des Regens und der Pappe, auch das Publikum ist Teil der Meteorologie Blessed. Ihre Empfindungen sind dem Bühnengeschehen keineswegs äußerlich: Schon wenige Augenblicke nachdem es zu regnen beginnt, durchzieht den Zuschauer/innenraum eine Kälte und Feuchtigkeit; eine Betrachtung ›aus dem Trockenen‹ ist hier unmöglich. Als meteorologisches Ereignis stellt Blessed die Distanz der Zuschauerinnen und Zuschauer in Frage. White Bouncy Castle hat gezeigt, dass sich die Unterteilungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Kräften in den Berührungen verschieben und auf brechen; Wahrnehmen und Empfinden sind hier keine von Menschen ausge33 | John Protevi hat in seinem Text Katrina auf das Zusammenspiel der vielfältigen Bewegungen aufmerksam gemacht, die das Ereignis Katrina bilden: Neben den Bewegungen der Flut und des Sturmes sind es das Fließen des Mississippi, die vielen Dämme, die bereits weiter im Norden den Fluss begradigen sollen; es sind die Bewegungen der Sonne und der Winde, die sowohl den Hurrikan als auch den transatlantischen Sklavenhandel mit Segelboten möglich gemacht haben, es sind die Verschleppungen und die Flucht der Sklavinnen und Sklaven zwischen Afrika, der Karibik und Louisiana; es ist die Erosion der Küste im Golf von Mexiko durch die Ölplattformen; es sind die Evakuierungsbewegungen vor dem Sturm wie auch die Unmöglichkeit New Orleans während der Flut zu verlassen; es sind die Zwangsumsiedlungen all jener, die ihre Häuser verloren haben; es sind die Tänze der Second Line, um die Opfer zu beerdigen und es ist die Reise des Präsidenten, die viel zu spät stattfand (vgl. John Protevi: »Hurricane Katrina: The Governmental Body Politic«, in: Political Affect, Minneapolis u. London: University of Minnesota Press 2009, S. 163-183) Für eine ausführliche Diskussion von Hurrikan Katrina in Beziehung zu Choreographie vgl.: Gerko Egert: »Choreographing the Weather – Weathering Choreography«, in: TDR, (im Erscheinen).
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führten Handlungen, sie sind auch nicht auf ein Objekt, noch nicht einmal auf einen Prozess gerichtet, sie sind selbst Teil der Prozesse des Werdens, sie sind Teil der Wetter-Welten. Wenn, wie anhand von Forsythe und Stuart argumentiert, die menschlichen Akteurinnen und Akteure dezentriert werden, so bedeutet dies nicht, dass sie sich außerhalb des Geschehens befinden, sie sind Teil der Assemblagen, die die Aufführung bilden. So wie ein Regenschauer, ein Sturm oder ein Gewitter nicht von außerhalb betrachtet werden kann, sondern immer nur von Innen empfunden wird, so findet auch die Aufführung Blessed nicht bloß vor den Augen des Publikums statt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sind Teil der Aufführung, ohne jedoch ihren zentralen Ausgangspunkt zu bilden, sie sind Haecceïtas, Knotenpunkte mannigfaltiger Berührungen, mal hervorgebracht durch haptischen Körperkontakt wie in White Bouncy Castle, mal durch visuell-haptische Beziehungen, wie im Falle der Zuschauerinnen und Zuschauer von Blessed. Dieses berührende Sehen ist keineswegs nur eine Beziehung zwischen dem Publikum und dem Tänzer, es ist vielmehr eine Vielzahl von Relationen, eine Assemblage der Berührungen von menschlichen und nicht-menschlichen Bewegungen und Empfindungen, es ist ein Gefüge von Beziehungen – mehr als menschlich und mehr als optischvisuell.
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Aufführungen sind singuläre Gefüge von Berührungen, von Bewegungen, Empfindungen, Ereignissen und Körpern. Die Berührungskonstellationen sind dabei keineswegs unabhängig von den Empfindungen der Zuschauerinnen und Zuschauer. Letztere bilden keine Erfahrungen zweiter Ordnung, sie sind vielmehr auf komplexe Weise mit denen der Tanzenden verwoben. Zentral für diese Verflechtungen ist das Verhältnis von Sehen und Berühren: Nur wenn Sehen und Berühren nicht als kategorial unterschiedene Wahrnehmungen verstanden werden, sind diese Netzwerke möglich. Doch wie konfiguriert sich das Verhältnis der verschiedenen Sinne? In welcher Beziehung stehen Sehen und Berühren zueinander? Zwei Ebenen sind in den Wahrnehmungsbeziehungen zentral: einerseits die Empfindungen zwischen den Tanzenden und dem Publikum und andererseits die Beziehung der verschiedenen Sinne – vor allem Sehen und Berühren – zueinander. Welche Gefüge der Wahrnehmung entstehen, wenn nicht die einzelnen Objekte bzw. die Körper (der Tänzerinnen oder Tänzer) empfunden werden, sondern vielmehr die Relation und die Berührung selbst?
D as F alten der S inne und die V irtualität des H ap tischen Berührungen sind die Ereignisse relationaler Bewegungen, sie sind aber auch spezifische Weisen des Empfindens, sie sind Beziehungen, die affizieren. Sehen und Berühren, visuelle und haptische
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Wahrnehmung bilden weder distinkte Bereiche noch lassen sie sich voneinander trennen. Sie durchkreuzen einander, überlagern sich, bedingen sich und stören sich. Sie sind keine voneinander abgrenzbaren Sinne, sondern tausendfache Empfindungen, die immer neue und unterschiedliche Komplexe von Sehen und Berühren bilden. In welcher Weise ziehen sich die haptisch-visuellen Empfindungs-Assemblagen quer durch die traditionellen Aufteilungen von BühnePublikum, Wahrnehmende/r-Wahrgenommenes und brechen diese auf? Wenn die Rhythmen der Berührung in What they are instead of die Empfindungen verkoppeln und je singuläre Konstellationen der Körper in der Aufführungssituation hervorbringen, dann bildet der Rhythmus nicht nur die je spezifischen Beziehungen und Berührungen der Tänzerin und des Tänzers, in ihm verketten sich dann auch mannigfaltige Ereignisse des Empfindens, die auch das Publikum durchziehen. Bebend, aufwallend, verebbend, stockend, überschlagend – diese Begriffe beschreiben die Bewegungen und Körper der Tanzenden, sie sind aber auch die Dynamiken der Empfindungen der Zuschauerinnen und Zuschauer. In der Verkettung mannigfaltiger Ereignisse wird What they are instead of zu einem Rhythmus: Schubots Rücken prallt an Gradingers Brust und federt zurück nach vorn, sie zieht seinen Kopf zu sich und stößt ihn wieder fort. Beben: Sie liegen beide nebeneinander, Bewegungswellen durchziehen die Körper, bewegen diese, verbinden diese. Beben: Der Rhythmus wird schneller, der Atem überschlägt sich, lautes Hecheln intensiviert die Bewegungen. Beben. Die Wahrnehmung ist selbst zu einem Beben geworden: Das Pulsieren der Formen lässt die Körper kommen und gehen. Zwei Körper werden zu einem Rhythmus: Bebende Empfindungen. Plötzlich, Synkope: Schlagartig sind zwei Körper da. Doch mit ihnen ein neuer Rhythmus, ein neues Beben.
Distanz und Nähe, Relation und Differenz, Form und In-Formation bilden den Rhythmus der tanzenden Körper sowie die Empfindungen des Publikums in What they are instead of. So wie sich die Tänzer/innen in einer pulsierenden Spannung zwischen dis-
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tinkten Körperformen und dem abstrakten Rhythmus der Bewegungen befinden, sind auch die Empfindungen nicht statisch: Die Bewegungsereignisse der Aufführung durchbrechen immer wieder Formen distanzierter Wahrnehmung; sie interferieren mit den Empfindungen der Zuschauenden, lassen diese schwingen und verkoppeln sich somit zu neuen Rhythmen der Aufführung. Gefüge von Berührungen entstehen, die sich nicht mehr auf den Bereich des Taktilen (und damit auf die Berührungen der beiden Tänzer/ innen) beschränken lassen, sondern ebenso die anderen Sinnesmodalitäten durchziehen, vor allem die visuellen Wahrnehmungen des Publikums. Ausgehend von seinen Studien zur antiken Architektur entwickelt der Kunsthistoriker Alois Riegl ein Konzept des »haptischen Sehens«.1 Neben der »Gewissheit der (tastbaren) Undurchdringlichkeit« sind die Aspekte des »taktischen Zusammenschlusses« und der Verbundenheit zentral.2 Diese Relation wird dabei weniger durch das Hinzufügen einer Verbindung zu bereits bestehenden Objekten erzeugt, sondern vielmehr durch das Verschwinden ihrer »Schatten« und »Grenzen«.3 Die Bewegung ist dabei für das hapti1 | Vgl. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973. Aufgrund einer Kritik seines Kollegen Joseph Strzygowski ändert Riegl den noch in der 1. Auflage seines Buches verwendeten Begriff des »taktischen Sehen« später in »haptisches Sehen«. Zur Begründung schreibt Riegl in einem Zeitungsbeitrag 1902: »Man hat beanstandet, daß diese Bezeichnung [taktisch, G.E.] zu Mißverständnissen führen könne, da man geneigt sein müsse, sie gleich dem dazu in Gegensatz gestellten »Optischen« als Lehnwort aus dem Griechischen zu fassen, und hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Physiologie dafür längst die passende Bezeichnung ›haptisch‹ […] in Gebrauch gesetzt hat. Diese Beobachtung scheint mir gerechtfertigt, und ich gedenke mich künftig dieses vorgeschlagenen Terminus zu bedienen.« (Ders.: »Spätrömisch oder Orientalisch?«, in: Allgemeine Zeitung 93, 1902, S. 153-156, hier: S. 155, FN 1). 2 | Ders.: Spätrömische Kunstindustrie, S. 32 und S. 35. 3 | Vgl. ebd., S. 32f.
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sche Sehen grundlegend: Anders als beim starren und distanzierten optischen Sehen gleitet hier der Blick in großer Nähe über die Flächen und ihre feinen Modellierungen. Bestimmt sich das optische Sehen vor allem durch seine distanzierte Wahrnehmung, zeichnet sich das haptische Sehen durch seine Nähe zum betrachteten Objekt aus. Optisches Sehen hat – so Riegl – eine klare Identifizierung zur Folge: »[D]ie einzelnen Theile (Ausladungen) der Individuen isolieren sich gegeneinander und lösen damit den früheren taktischen Zusammenhang der Oberfläche«.4 Die betrachteten Objekte sind hier keine Einheiten, die in der Wahrnehmung zusammengefügt werden, vielmehr ist es das optische Sehen, und damit die Distanzierung zum Wahrgenommenen, die diese Trennungen erst erzeugt. Deleuze und Guattari greifen Riegls Konzept des haptischen Sehens auf, verschränken jedoch die Ebenen des Haptischen und Optischen: Auch wenn sie in der Koppelung von haptisch-nah und optisch-fern verbleiben, beschreiben sie deren Verhältnis als einen Rhythmus: Haptisches und Optisches falten sich immer wieder ineinander ein, sie bedingen einander, das Haptische drängt zur optischen Kerbung, die zugleich erneut Haptisch-Glattes produziert. Anders als der Begriff des Taktilen, der sich auf die Wahrnehmung durch die Berührung und somit auf ein spezifisches Sinnesorgan (die Haut) bezieht, bezeichnet die haptische Empfindung bei Deleuze und Guattari keinen distinkten Sinnesmodus, sie ist vielmehr eine transversale Ebene der Wahrnehmung, die sich quer durch alle Sinne zieht: »Haptisch ist ein besseres Wort als taktil, da es nicht zwei Sinnesorgane einander gegenüberstellt, sondern anklingen läßt, daß das Auge selber diese nicht-optische Funktion haben kann.«5 Als Sinn, der nicht auf ein Organ zu beschränken ist, ist das Haptische amodal. Die amodale Wahrnehmung lässt sich nicht auf ein Sinnesorgan beschränken, sondern durchkreuzt und übersteigt 4 | Ebd., S. 35. 5 | Deleuze u. Guattari: Tausend Plateaus, S. 682.
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jegliche Formen phänomenologisch-sinnlicher Empfindungen.6 Auf einer virtuell-abstrakten Ebene werden Bewegungsdynamiken, Affekte, Rhythmen und Intensitäten empfunden, die sich weder rein visuell noch rein taktil (oder in einem anderen Sinnesmodus) ausdrücken. Die anschwellenden Rhythmen der Berührung in What they are instead of werden weder von Schubot oder Gradin ger ausgedrückt noch werden sie vom Publikum bloß visuell oder auditiv erfahren, sie verbinden die Bewegungen und Körper, das Hecheln und Beben. Sie sind Rhythmen der Berührung: haptisch und amodal. Sehen und Berühren sind keine getrennt voneinander operierenden Empfindungsmodi, in ihren Faltungen widersetzen sie sich jenen Vorstellungen von naher/direkter und entfernter/vermittelter Wahrnehmung. In den haptisch-visuellen Empfindungen sind Relation und Differenz keine Gegensätze, sondern operieren zugleich, sie bilden einen Rhythmus des Werdens, Konfigurationen der Körper, der Bewegungen, der Perzepte und Affekte, sie sind Ereignisse der Berührung. Ähnlich dem Beben in What they are instead of operieren auch die experimentellen Konstellationen in Stuart und Gehmachers the fault lines im Bereich des Amodalen: Ein unruhiges Zittern durchzieht die immer wieder aufeinanderprallenden Körper und die Linien des Stiftes, die suchenden Bewegungen des Beamerstrahls und das eingespielte Rauschen des Meeres. Diese Elemente verbinden sich gerade in den Schwingungen und durch die Bewegungen des Rhythmus. The fault lines ist keine Ansammlung mehrerer distinkter Phänomene, die durch einen kognitiven Akt der Zuschauerin bzw. des Zuschauers verbunden und zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. In dieser Aufführung werden die Relationen selbst empfunden: Die Rhythmen des Zitterns bilden virtuelle Verbindungen und bringen je spezifische Gefüge hervor. Diese entstehen nicht vor dem Publikum, sondern ziehen sich in gleichem Maße 6 | Vgl. zum Konzept der amodalen Wahrnehmung: Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, S. 79.
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durch Bühne und Publikum.7 Die Zuschauerinnen und Zuschauer wohnen keinem äußerlichen, lediglich auf der Bühne stattfindenden Ereignis bei, dieses Ereignis findet auch nicht zwischen ›dem Publikum‹ und ›den Tanzenden‹ statt, sie alle sind Teil einer Berührungs-Empfindungs-Assemblage, die sich im Ereignis der Aufführung aktualisiert.8 Haptische Empfindungen operieren auf der Ebene der Affekte, sie produzieren virtuelle Relationen, die sich nicht auf die Verbindungen bereits gegebener Körper und ihrer Sinnesorgane beschränken lassen – weder zwischen den Tänzerinnen und Tänzern noch zwischen ihnen und dem Publikum. Im Rhythmus der Berührung, in den Bewegungen von Differenz und Relation aktualisieren sich die konkreten Wahrnehmungskonstellationen. Diese sind dabei sowohl abstrakt als auch konkret: Als amodale Empfindung ist die Berührung abstrakt, sie erscheint virtuell in den anderen Sinnen, doch steht sie dabei nicht den modal-konkreten Sinnesorganen entgegen, vielmehr ist sie in diese eingefaltet und ermöglicht immer neue Erfahrungsgefüge. In Bezug auf Riegl und Worringer beschreibt Massumi das Haptische im Sinne einer »Berührung, die 7 | Zur direkten Erfahrung der Relationen vgl. William James’ Konzept des »Radikalen Empirismus« und seine Kritik an dem klassischen Empirismus, wie er von Hume vertreten wird. »Um radikal zu sein, darf der Empirismus innerhalb seiner Deutungen weder ein nicht unmittelbar erfahrenes Element zulassen noch ein unmittelbar erfahrenes daraus ausschließen. Für eine solche Philosophie müssen jene Beziehungen, durch die Erfahrungen miteinander verbunden sind, ihrerseits erfahrene Beziehungen sein, und jede Art von erfahrener Beziehung muß für genauso ›wirklich‹ wie alles andere im System erklärt werden.« (William James: »Eine Welt der reinen Erfahrung«, in: Pragmatismus und radikaler Empirismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 28-57, hier: S. 29, Herv.i.O.). 8 | Vgl. für ein Konzept des Werdens der Zuschauer/innen im Akt der Wahrnehmung: Julia Bee: Gewalt, Begehren, Differenz. Zu einer Politik der Wahrnehmung«, in: Jochem Kotthaus (Hg.): Sexuelle Gewalt im Film. Aspekte der Inszenierung des Leides. Landsberg: Beltz Juventa 2015, S. 305-329.
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virtuell beim Sehen erscheint – Berührung wie sie nur gesehen werden kann. Alle Abstraktionstechniken arbeiten an allen Sinnen zur gleichen Zeit, virtualisieren einige, um andere mit der abstrakten Kraft dessen zu steigern, was dann doch nicht erscheint.«9 Das haptische Ereignis der Empfindung produziert im Akt der Aktualisierung immer neue Aufteilungen der Sinnesorgane. Diese Aufteilungen sind dabei weder an ein Subjekt noch an einen Körper gebunden, sie sind temporäre Assemblagen, empfindsame Körper im Werden, die weder durch einen transzendentalen Kern noch durch die Synthese einer Wahrnehmung verbunden werden, sondern aus dem singulären Zusammenspiel der Sinne bestehen. Es sind die Empfindungen, die die Sinne differenzieren und nicht der menschliche Sinnesapparat, der die Empfindungen zusammenführt. Da das Haptische weder Sinnesmodalität noch transzendenter Supersinn ist, führt es zu immer neuen Bewegungen der Sinne, zu neuen Rhythmen und Faltungen, es entstehen Überlappungen und Interferenzen, neue Sinne und neue Empfindungen.10 Hier geht es nicht um die Frage nach Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den Sinnen wie Sehen und Berühren. Diese werden durch die ereignishaften Empfindungen zwar auf komplexe und immer andere Weise ineinander verschränkt, zugleich übersteigen sie sich aber auch und bringen neue Relationen, neue Bewegungen und neue Empfindungen hervor.
9 | Massumi: Ontomacht, S. 156. 10 | Anders als bei Aristoteles und Herder, die die Berührung als einen Möglichkeitssinn beschrieben haben, ist hier die Berührung gerade nicht der grundlegendste aller Sinne, er ist auch keine allgemeine Möglichkeit der Sinneswahrnehmung überhaupt. Diese Konzeptionen wurden mit Recht von Derrida als haptozentrisch kritisiert. In den Bewegungen und spezifischen Weisen der Faltung bringt das Haptische singuläre Empfindungskonstellationen hervor, die zwar abstrakt, jedoch nicht auf alle Sinneswahrnehmungen in gleicher weise anwendbar sind. Zum Begriff des Haptozentrismus vgl. Derrida: Berühren, S. 202.
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Erfahrung ist immer schon vielfältig, eine Verbindung von Sinnen, Empfindungen, Bewegungen und Prozessen. Haptisch ist somit auch nicht bloß eine Weise visueller Sinneswahrnehmung, die unabhängig von den anderen Empfindungen und ihren Aufteilungen operiert, haptisches Sehen wird zu einer Beziehung und einer Bewegung, die diese übersteigt. Deleuze schreibt in Bezug auf die von ihm sogenannte »barbarische Kunst« (eine Kunst, die mit dem glatten, haptischen Raum verbunden ist): »Man bewegt sich nicht mehr in Richtung auf eine reine Optik; im Gegenteil, man gibt dem Tastsinn seine bloße Aktivität zurück, man überträgt ihn wieder der Hand, man verleiht ihm eine Geschwindigkeit, eine Gewalt und ein Leben, dem das Auge kaum folgen kann.«11 Diese Bewegungen, die ständig die Richtung wechseln, ereignen sich zwischen Auge und Hand: Sie sind visuelle Perzepte, jedoch zu schnell, als dass das Auge sie erfassen könnte. Wirbelnde Bewegungen, visuell und zugleich darüber hinausgehend. Wenn sich Berührungen ereignen, sei es als zögernde, stockende, strauchelnde Bewegungen in Maybe Forever, explosionsartig in the fault lines, anschwellend und abklingend in What they are instead of oder prasselnd in Blessed, dann werden diese nicht bloß auf einer rein visuellen Ebene empfunden. Die Bewegungen gehen über die optisch wahrnehmbaren Körper hinaus: Als abstrakte Bewegungen und als relationale Affektdynamiken durchziehen sie die materiellen Konstellationen. Diese haptischen Rhythmen übersteigen die Ebene des Sichtbaren, sie werden visuell gefühlt: Indem sich die Berührung in die visuellen Wahrnehmungen der Körper und Bewegungen faltet, werden die Empfindungen haptisch-visuell. Sie sind amodal, affektiv, »›nonsensuously‹ perceived«.12 Die visuell-haptischen Empfindungen sind Bewegungsereignisse: Vielfältige Bewegungen interferieren und lassen so je spezifische Konstellationen von Relationen und Differenzen entstehen. Es werden keine präexistenten Entitäten, Körper und Objekte erfahren, 11 | Deleuze: Francis Bacon, S. 79. 12 | Massumi: Semblance and Event, S. 107.
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sondern Differenzen, Kontraste und Rhythmen. Diese Erfahrungen der Berührungen werden im Zusammenspiel der Bewegungen ermöglicht. Der Wahrnehmungspsychologe James Gibson hat in seinem Buch Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung auf die Notwendigkeit der Bewegung für das Sehen hingewiesen. Auch er geht nicht von der Erfahrung gegebener Objekte, sondern von einem »Fluß optischer Reizung« aus.13 In diesem Strom bewegen sich sowohl die Position der Beobachterin bzw. des Beobachters als auch die Verhältnisse der Oberflächen und die Quellen des Lichtes, das in vielfacher Weise reflektiert und gebrochen wird.14 Dabei beschreibt Gibson nicht nur die Bewegungen, die durch die Blicke ausgeführt werden, das Sehen wird selbst zu einem Zusammenspiel vielfältiger Bewegungen: Das Lebewesen »sieht die Bewegung seiner Füße relativ zum Körper und ebenso über den Boden hin. Wenn es während der Fortbewegung herumschaut, dann sieht es die Wendungen seines Kopfes«. Diese »Fälle der visuellen Kinästhesie« sind noch vielfältiger: In der »[ö]kologische[n] Optik […] suchen, erkunden oder tasten die Augen ab, und dabei treten selten weniger als mehrere Sakkadensprünge pro Sekunde auf. Die Augen schauen hin, aber sie fixieren nicht.«15 Selbst die auf den Stühlen sitzenden Zuschauerinnen und Zuschauer des Theaters lassen sich hier nicht als statische Betrachterinnen und Betrachter beschreiben. Im Akt des Zuschauens falten sich auf mannigfaltige Weise visuelle, haptische und propriozeptive Empfindungen ineinander und bilden so – gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern – eine Ökologie der Bewegungen und Empfindungen. Massumi geht in seinen Ausführungen zum Verhältnis von Sehen und Berühren auch von den Bewegungen aus. Dabei fragt er, wie wir in diesem »chaos of vision« überhaupt etwas wie eine Figur 13 | James J. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München, Wien u. Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1982, S. 239. 14 | Vgl. ebd., S. 69-98. 15 | Ebd., S. 224 und S. 228, Herv.i.O.
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oder einen Körper empfinden können. Die Antwort ist auch hier: Bewegung. Die Kinetik des Sehens lässt sich weder auf den Bereich der absoluten Entropie, noch auf den der Formen und Einheiten beschränken, es ist der Prozess des Übergangs, der selbst eine Bewegung bildet: »The objective extraction of identity arises out of movement. Vision’s synesthetic result stands on an oscillating kinesthetic ›ground.‹ Perceived stability and order emerge from perceptual chaos. Vision is the process of that passage: from the giddiness of light-struck eyes to the practical grip of abstract oversight. From the invisible abyss of the proto-figural to relative objective clarity.«16
Sehen besteht nicht nur aus den vielfältigen Bewegungen des Stroms, sondern auch aus den Bewegungen der Formierung. Doch diese Formierungen sind zugleich Prozesse der In-Formierung, sie gehen über die Form hinaus, verändern diese und führen zurück in den »Fluß optischer Reizung«. Als das Zusammenspiel von Bewegungen wird das Sehen zu einem Rhythmus der In-Formierung.17 Sehen ist nicht einfach das Wahrnehmen gegebener Objekte, es ist nicht bloß ein optisches Sehen, es ist ein Sehen in Bewegung. Doch diese Bewegung, das Einfalten propriozeptiver Empfindungen ins Visuelle ist eine doppelte: Einerseits ermöglicht sie die visuelle Wahrnehmung, andererseits übersteigt sie diese in der Bewegung. Das Sehen wird zu einem haptisch-visuellen Rhythmus, es wird eine Bewegung bzw. das Zusammenspiel vieler Bewegungen, ein Muster der Interferenz. An die optischen Forschungen zur Interferenz anknüpfend, lassen sich zwei Aspekte der visuellen Wahrnehmung besonders hervorheben: Erstens ist das Ereignis haptischvisueller Empfindung keines der Repräsentation, hier wird nicht ein äußeres Bild der Welt in einem inneren Auge gespiegelt, vielmehr 16 | Massumi: Parables of the Virtual, S. 97. 17 | Zur In-Formation vgl.: Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, S. 43.
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entstehen aus der Interferenz vieler Empfindungen und Bewegungen je spezifische Muster der Differenzen. Das Ereignis der Empfindung ist somit produktiv, nicht repräsentativ. Zweitens zeigt sich in der Interferenz die Unmöglichkeit einer a priori gegebenen Unterscheidung zwischen Betrachter/in und Betrachtetem, zwischen den Körpern des Publikums und denen der Tänzerinnen und Tänzer. Haptisch-visuelle Empfindungen sind keine Wahrnehmungen bestehender Körper, sie verbinden keine gegebenen Einheiten, sie bringen diese erst in den Gefügen der Aufführung hervor.18 Die Rhythmen in What they are instead of werden nicht einfach gesehen, sie werden haptisch-visuell empfunden. Die Bewegungen durchziehen sowohl die Körper der Tänzerinnen und Tänzer als auch das Publikum, ohne dabei auf eine Richtung beschränkt zu sein. Es ist gerade das Zusammenkommen verschiedener Bewegungen, Geschwindigkeiten und Richtungen, die miteinander interferieren und so die Rhythmen, die Körper und die Empfindungen der Aufführung produzieren. Nur wenn das Beben der Bühne mit dem Blinzeln der Lider, dem Hin- und-Her-Schweifen der Pupillen, den wechselnden Konturen des Lichtes, dem Auf und Ab der atmenden Körper (auch jene vielfältigen und singulären Atemrhythmen der Zuschauerinnen und Zuschauer) aufeinandertreffen, lässt sich von einem produktiven Ereignis der Aufführung und von einem Gefüge mannigfaltiger Berührungen sprechen. In dieser Assemblage der Bewegungen werden Sehen und Berühren ineinander gefaltet und es entstehen haptisch-visuelle Empfindungen, die sich nicht mehr bloß auf eine Wahrnehmungsmodalität beschränken lassen, sondern den amodalen Rhythmus der Berührung bilden.
18 | Vgl. zur Interferenz als Wahrnehmungskonzept: Haraway: Modest_Witness, S. 268.
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F ür eine hap tische Ö kologie der E mpfindungen Wenn am Ende von herses die Tänzerinnen und Tänzer zu einer Rolle werden, dann sind nicht mehr ihre einzelnen, distinkten Körper wahrzunehmen. Es ist ein Drehen zu sehen, eine langsame, träge Bewegung, die sich über die längliche Bühnenfläche zieht. Und zugleich bewegt sich noch viel mehr: In mannigfaltigen Berührungen kommen die Körper zueinander und entfernen sich voneinander, neue Konfigurationen entstehen und lösen sich auf. Die Rolle wird zu einer Mannigfaltigkeit von Bewegungen, von Berührungen und Relationen, ohne dass dabei ein Körper oder eine Berührung im Zentrum stehen würde. Wenn sich die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer in Le Roys low pieces zu Beginn der Aufführung zu einer Maschine verkoppeln, produzieren sie ein Feld der Relationen. In der haptisch-visuellen Wahrnehmung erscheint keine präfigurierte Ordnung, kein Körper bildet das Zentrum des Tanzes, sondern es wird ein Feld von Bewegungen empfunden, das jegliche optische Einheiten durchkreuzt und übersteigt. Selbst jene lediglich von Gehmacher und Stuart getanzten Szenen oder die Duette in herses bestehen aus einer Vielzahl von Bewegungen und Empfindungen, so wie sie immer auch aus mehr als nur zwei Körpern bestehen. Jedes Ereignis der Berührung ist immer schon eine Interferenz vieler Bewegungen, Empfindungen und Affekte und zugleich finden diese Berührungen niemals isoliert statt, jede Umarmung ist umgeben von Füßen, die auf dem Boden stehen, von Lidern, die die Augen bedecken oder von einem Scheinwerfer, dessen Licht auf den Bühnenhintergrund fällt; eine Aufzählung, die sich ins Unendliche fortsetzen ließe. Dass die Berührung der beiden Tänzer/innen als besonders, als zentral oder gar als einzige Berührung empfunden wird, ist nicht nur der Privilegierung der menschlichen Position, sondern auch einer Ausblendung der vielfältig haptisch-visuellen Empfindungen geschuldet. Haptischvisuelles Sehen ist die Empfindung eines Feldes, einer Welt voller Berührungen.
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Dieses Feld ist auf vielfältige Weise mit den Empfindungen – sowohl der Tanzenden als auch jenen des Publikums – verknüpft. Gibson nennt dieses Feld »die umgebende optische Anordnung« und die damit verknüpfte Wahrnehmung »ökologisch«.19 Dieses Feld bzw. diese Anordnung des Visuellen besteht dabei aus mannigfaltigen, immer wieder gebrochenen und reflektierten Lichtstrahlen. Licht, so Gibsons Ausgangspunkt, eilt »mit enormer Geschwindigkeit zwischen Oberflächen hin und her […] und [erreicht] dabei eine Art von Fließgleichgewicht (steady state)«.20 Was Gibson hier entwirft, ist nicht nur ein Gegenmodell zu einer Theorie des Sehens, die die Betrachterin bzw. den Betrachter als distanziert und vom betrachteten Objekt klar getrennt versteht, Gibson erteilt hier auch eine Absage an jene Konzepte, die das Sehen als eine direkte und vor allem lineare Verbindung zwischen Sehender bzw. Sehendem und Gesehenem beschreiben. Ausgehend von René Descartes’ Analogisierung des Sehens mit dem tastenden Stock des Blinden21 wird die visuelle Wahrnehmung meist als zielgerichtet, punktuell und damit klar auf ein bereits bestehendes Objekt bezogen verstanden: Das Objekt ›sendet‹ einen gebündelten Lichtstrahl, der direkt auf die Netzhaut trifft.22 Doch weder ein einzelnes Objekt, 19 | Vgl. zum Konzept der »umgebenden optischen Anordnung« das gleichnamige Kapitel in: Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 69-98. 20 | Ebd., S. 16f. 21 | Vgl. hierzu die Ausführungen René Descartes’ zum Sehen in seinem 1637 erschienenen Essay Die Dioptrik (René Descartes: »Die Dioptrik«, in: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie, Hamburg: Felix Meiner 2013, S. 73, siehe auch: Jay: Downcast Eyes, S. 74ff.). 22 | Vgl. hierzu die Ausführungen Gibsons (Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 62-65). Diese Kritik einer linearen, gerichteten Wahrnehmung, wie sie im Anschluss an Descartes’ Berührungsstab formuliert und immer wieder aufgegriffen wurde, wurde auch aus feministischer Perspektive kritisiert. Vor allem aus psychoanalytischer Sicht wurde dieser Blick als phallisch beschrieben. Gegen diese distanzierte und punktuelle, aufs Objekt gerichtete Wahrnehmung
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noch ein einzelner Lichtstrahl lassen sich im Ereignis des Sehens isolieren. Und so postuliert Gibson »eine aus beleuchteten Oberflächen bestehende Umwelt« sowie »einen ineinandergeschachtelten Komplex von Raumwinkeln«.23 Es sind die trennend-verbindenden Oberflächen zwischen den mannigfaltigen Substanzen und Medien der Umwelt, die durch ihre je unterschiedlichen Lichtbrechungen ein optisches Feld erzeugen. Statt eines Strahls, der auf das Auge trifft, durchzieht nun ein Feld unendlich gebrochener Reflexionen die Sinne der Betrachterinnen und Betrachter. Sehen wird hier zu einem ökologischen Sehen, einem Prozess, der nicht von einem Objekt, sondern von der Mannigfaltigkeit der Gefüge ausgeht. Auch die Berührung ist nicht auf den punktuellen Körperkontakt zwischen zwei Menschen zu reduzieren, sondern bildet ein weitaus komplexeres Szenario, eine Interferenz von Bewegungen, ein Ereignis, einen Rhythmus oder eine Meteorologie mannigfaltiger Geschwindigkeiten, Affekte und Empfindungen. Im Gegensatz zu Descartes’ Paradigma findet das Berühren nicht zwischen zwei Einheiten (einer berührenden und einer berührten) statt, sondern ist ökologisch-mannigfaltig. In keiner der Aufführungen ist es möglich, einen Berührungsmoment zu isolieren und diesen fokussiert und separiert von den anderen Ereignissen zu betrachten. In dem komplexen Zusammenspiel von Bewegungen und Empfindungen formuliert Bracha L. Ettinger ihr Konzept eines »matrixial gaze«. Dieser ist weder auf das Objekt noch das Subjekt als gegebene Einheit bezogen. »In the matrixial perspective, becoming-together precedes being-one.« (Bracha L. Ettinger: The Matrixial Borderspace, Minneapolis u. London: University of Minnesota Press 2006, S. 72, Herv.i.O., zu ihrer Kritik des phallischen Blicks siehe: S. 50ff.). Im matrixial gaze wird gerade das Unabgeschlossene, Involvierte, Geteilte empfunden. »The matrixial gaze thrills us while fragmenting, multiplying, scattering, and assembling together the fragments.« (Ebd., S. 154). Das Zuviel der Empfindungen übersteigt auch hier die Einheit der männlichen Wahrnehmung. Empfinden wird zu einer Mannigfaltigkeit: mehr als ein Blick, mehr als eine Wahrnehmung. 23 | Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 74.
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ereignet sich mehr als nur eine Berührung: Prallen, stehen, schweifen, scheinen, liegen, suchen, statt bloß einer Umarmung zwischen Zweien in Maybe Forever. Prasseln, fallen, falten, kauern, sinken, erweichen, statt bloß einen Gegenstand festzuhalten in Blessed. Indem sich Sehen und Berühren, Haptisches und Visuelles ineinander falten, ereignen sich vielfältige Interferenzen, neue Gefüge von Empfindungen entstehen und mit ihnen immer wieder auch die Objekte und Subjekte der Berührung. Geht Gibson von einer Betrachterin bzw. einem Betrachter aus, die bzw. der sich durch die Welt bewegt, sind die Betrachterinnen und Betrachter der Berührung in keiner Weise a priori gegeben, sie besitzen – wie die Objekte – keinen ontologischen Status, sondern sind lediglich vorübergehende Zustände, operative Einheiten, die sich zugleich im Prozess ihrer Auflösung befinden. Haptisch-visuell bildet hier keine alternative Weise der Wahrnehmung, es ist keine Empfindungsweise, die erlangt werden kann, es ist vielmehr die Möglichkeitsbedingung des Sehens und zugleich jene Bewegung, die dieses übersteigt und durchbricht. Im Konzept des Haptisch-Visuellen sind es die Relationen, die Bewegungen, die Oberflächen und ihre tausendfachen Reflexionen der Lichtstrahlen, die die Empfindungen zu einer Ökologie werden lassen, die nicht mehr durch ein Subjekt, ein Objekt und einen Strahl ersetzt werden können. Arbeiten wie herses, low pieces oder Blessed bilden mannigfaltige Welten, voller Berührungen und haptisch-visueller Empfindungen. Sie verweigern sich der Zentralität einer privilegierten Berührung: Wenn einzelne Berührungen in den Vordergrund gestellt werden, so bedeutet dies nicht, das sie sich von dem komplexen Gefüge all jener zu großen oder zu kleinen, zu schnellen oder zu langsamen, zu intensiven oder zu zarten Berührungen abtrennen lassen. Forsythes Schlag in Solo auf das Knie ist nicht relevanter als das Zusammentreffen seiner Finger und auch Gehmachers Umarmungen in Maybe Forever sind nicht unabhängig von dem matten Licht, das auf den Teppichboden fällt. Diese Privilegierungen sind immer sekundäre Ordnungsakte, Versuche die mannigfaltigen Empfindun-
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gen auf den menschlichen Körper zu beziehen. Doch die Ökologie der Berührungen übersteigt die Körper der Tanzenden sowie die der Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Berührungen sind – wie beispielsweise das Fallen des Regens in Blessed, das Beben in What they are instead of oder das Vibrieren in Maybe Forever – für unser Bewusstsein zu schnell. Wir sehen die Effekte, die Körper und Spuren, wir spüren die Berührungen – sie alle sind haptisch-visuelle Empfindungen. Die Bewegungen, Empfindungen und Affekte bringen nicht nur die menschlichen Körper hervor, sie finden auch neben, unter, über, hinter ihnen statt. In einer Welt voller Berührungen sind die menschlichen Empfindungen eher die Ausnahme als die Regel: Die Wassertropfen berühren den Bühnenboden, die Pappe faltet sich ein, das Licht fällt auf die Wände. Und es sind diese Meteorologien der Berührung, die auch auf mannigfaltige Weise mit den Empfindungen des Publikums verknüpft sind. Die Feuchtigkeit und der Geruch des Regens durchziehen den Raum des Theaters, das Publikum, die Stühle, den Tänzer und die Pappen. Dieses Wetter kann nicht von außen betrachtet werden, denn all die haptisch-visuellen Empfindungen sind selbst Teil dieser Meteorologie der Berührungen, der Relationen und Bewegungen. Wie die Meteorologie die Bühne und das Publikum umfasst, so durchzieht auch Gibsons »umgebende optische Anordnung« die Aufführung und verändert sich dabei ständig. Hier gibt es keine unveränderliche Perspektive einer Betrachterin bzw. eines Betrachters, zu viele Empfindungen bewegen sich durch den Raum und bringen immer neue Konstellationen und Beziehungen hervor. Jene bei Gibson noch deutlich dem Menschen zugeschriebene Position des Subjekts hat sich hier vervielfältigt. Das Subjekt ist weder eine ontologische Gegebenheit noch ist es per se menschlich, es ist vielmehr die temporäre Relation, die im Prozess des Empfindens entsteht. Das Subjekt ist somit nicht der Ausgangspunkt der Empfindung, sondern abhängig von der betrachteten Beziehung. Subjekt-ObjektKonstellationen werden durch das relationale Feld der Erfahrungen bestimmt und ändern sich ständig mit diesem. Indem jedes Ob-
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jekt zugleich auch Subjekt sein kann, meist sogar beides zugleich ist, ist die Empfindung keine privilegierte Beziehung zwischen Mensch und Welt, vielmehr ist die Welt voller Empfindungen, eine Welt, die immer neue Prozesse und damit temporäre Subjekt-Objekt-Beziehungen hervorbringt: Die Pappe empfindet das Prasseln des Regnens, der Boden empfindet den Rhythmus der Füße, das Publikum empfindet die Nässe, das Licht und die Kälte. Blessed ist eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen und eine »Gesellschaft von Vorgängen« (Whitehead): Körper-Prozesse, Wetter-Prozesse, Materie-Prozesse, Empfindungs-Prozesse – sie alle bilden das sensitive worlding der Aufführung. Blessed wird zu einem komplexen Gefüge, einer Ökologie von Empfindungen, die sich nicht mehr in Berührungen und Blicke unterteilen lassen. Es ist eine Assemblage haptisch-visueller Beziehungen, die quer durch den Raum der Aufführung, durch Bühne und Publikum verlaufen. Die Meteorologien der Berührung bzw. die Ökologien des Erfassens bringen die je spezifischen Verhältnisse und die mannigfaltigen Prozesse der Aufführung hervor. Diese Vielfalt macht eine kategorische Unterteilung der Berührungen in taktile Ereignisse des Hautkontakts auf der einen Seite und ein distanziertes Berühren im Sehen auf der anderen unmöglich. Nicht nur würde eine solche Aufteilung die komplexen Konfigurationen von Bewegungen, Empfindungen und Affekten negieren, sie würde ebenso eine Hierarchisierung einführen, an deren Spitze das Phantasma einer Eigentlichkeit, einer ›wirklichen Berührung‹ stehen würde. Doch diese Unterteilung ist nur möglich, wenn wir von dem menschlichen Körper und seinen Sinnesorganen als gegebene Einheiten ausgehen: Nur dort, wo Auge und Hand klar voneinander getrennt und mit einer je spezifischen Wahrnehmungsmodalität verbunden sind, lassen sich diese in eine Hierarchie der Unmittelbarkeit einordnen. Die unzähligen Berührungen der Aufführung, die nicht von einer menschlichen Akteurin oder einem menschlichen Akteur ausgehen, entziehen sich diesen anthropozentrischen Kategorisierungen. Die Berührungen des Regens sind weder taktil noch visuell, sie durchkreuzen die Aufteilung der Sinnesapparate: Das haptische
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Empfinden des Regens ist immer sowohl ein a- als auch ein supermodales, es ist weniger und zugleich mehr als bloß eine Sinnesempfindung – die Empfindungen des Regens sind immer schon vielfältig. Es ist diese Mannigfaltigkeit der Berührungen, taktil, haptisch, visuell, die die Ökologien der Aufführung bilden – ohne vorgegebene Hierarchien und Ordnungen und doch voller Differenzen. In diesen Ökologien der Berührungen ist das Publikum selbst Teil der Aufführung. Die Zuschauerinnen und Zuschauer nehmen nicht ein abgeschlossenes Ereignis wahr, vielmehr werden sie selbst – als Körper, als Zuschauende und als Publikum – erst in den Empfindungen hervorgebracht. Indem sich vielfältige Empfindungen verknüpfen und Berührungen ereignen, lassen sie neue Konstellationen von Körpern und Bewegungen, von Empfindungen und Affekten sowie neue Publika entstehen.
Tangente IV: Tanz -G efüge Aufführungen sind Gefüge von Berührungen, die sich jedoch nicht nur auf die Bühne und auf die Relationalität der Tanzenden beschränken lassen. Ihre Relationen wuchern über die Bühne und über Grenzen des Theaters hinaus und durchziehen die Proben, die Recherchen, die Erinnerungen der Zuschauer/innen sowie diesen Text. Diese Ökologien der Berührung durch einen gesetzten Rahmen wie »die Aufführung« in ihrer räumlichen oder zeitlichen Dimension zu beschränken, würde einer verkürzenden Logik von Präsenz dienen und jenen zentralen Aspekt der Berührung, eben jene Gleichzeitigkeit von Relation und Differenz negieren. Wenn die Berührung eine Bewegung ist, die sowohl die Beziehung als auch die Differenzen hervorbringt, dann ist die Aufführung kein Ereignis, das sich von vornherein bzw. von außen bestimmen lässt. Immer wieder werden haptische, visuelle, affektive, mentale Beziehungen produziert, die zugleich neue Differenzen und mit ihnen temporäre Einheiten und Körper hervorbringen.
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Die Berührungen sind weder auf das Ereignis des Körperkontakts noch auf einen Moment unmittelbarer Nähe zu reduzieren und so ereignen sie sich auch niemals nur während einer Aufführung. Berührungen sind vielfältig: Sie sind Konfigurationen von Bewegungen, sie sind affektiv und sie sind haptisch-visuell. Berührungen schaffen Assemblagen von Bewegungen und Empfindungen, die Konstellationen von Körpern hervorbringen und verändern. Sie durchziehen die Aufführung, aber ebenso die Proben, die Recherchen der Tanzenden sowie die wissenschaftlichen Arbeiten dieses Textes. Keine dieser vielfältigen Berührungen ist dabei zentraler als die anderen, keine ist ursprünglicher, keine nachträglicher. In diesen Netzwerken bilden sich Zonen der Intensivierung, von denen die Aufführung eine, jedoch nicht die einzige ist. Die Berührungen auf der Bühne werden nicht von Tänzerinnen und Tänzern ausgeführt, die mit ihren trainierten und geformten Körpern auf der Bühne zusammen kommen. Ihre Körper sind den Berührungen nicht vorgängig, sie werden durch diese hervorgebracht. Wenn Körper nicht als gegebene Form, sondern als Prozess verstanden werden, dann sind die vielfältigen Probentechniken, ihr Experimentieren mit Berührungen ebenso Teil einer transduktiven In-Formierung der Körper, wie es das Ereignis der Aufführung selbst ist. Techniken wie Stuarts One hour shaking oder Forsythes Improvisation Technologies bilden nicht bloß eine Formierung der Körper im Dienste der Aufführung (in der diese dann nur noch präsentiert würden), sie sind Phasen in einem transduktiven Prozess der In-Formierung.24 Diese Berührungsexperimente führen zwar zu und in die Aufführung, gehen aber keineswegs restlos in dieser auf. Die Prozessualität der Körper führt durch die Aufführung hindurch und verbindet diese mit den Proben (wenn dies noch die richtige Bezeichnung ist), mit anderen Aufführungen und zukünftigen Choreographien. Auch die Videos sind nicht bloß nachträgliche Aufzeichnungen und unvollständige Abbilder: Sowohl die öffentlich 24 | Zum transduktiven Prozess der In-Formation vgl.: Simondon: »Das Individuum und seine Genese. Einleitung«, S. 43.
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ausgestellten Videos wie Solo oder une lente introduction als auch die Videos der anderen Aufführungen sind neue Individuationen und neue Verbindungen in einem sich immer wieder verändernden und erweiternden Gefüge. Die Kompilation von »Übungsvideos« und »Tanzvideos« auf Forsythes Improvisation Technologies-CD-ROM entwirft eine Möglichkeit der nichtlinearen Verkettung. Nebeneinander auf dem Bildschirm angeordnet, ermöglichen sie es, von einzelnen Lektionen zu anderen, zu Ausschnitten der Choreographien und dem Solo zu springen. Die Berührungsnetzwerke gehen noch weiter: Sie gehen über die Arbeit des Choreographen und des Tänzers hinaus. In den Ökologien der Berührung verbinden sich vielfältige Prozesse und mit ihnen entstehen neue Konfigurationen von Körpern, die sich transversal durch die Aufführungen, aber ebenso durch die Arbeitsweisen der verschiedenen Choreographinnen und Choreographen und durch die unterschiedlichen (Bewegungs-) Praktiken ziehen. Die Aufführungen stehen in vielfältigen Verhältnissen zu den Gegebenheiten, den Prozessen, Szenarien und Ordnungen einer Welt, die sie zwar nicht repräsentieren, deren mannigfaltige Spuren sich aber in ihnen intensivieren. Es sind Abdrücke, produktive Spuren von Bewegungen, die keine Markierungen bereits existierender Körper oder Szenen bilden, sondern die Entstehung von neuen Konstellationen und von intensiven Gefügen der Berührung sind. Wenn Stuart und Gehmacher in Maybe Forever die liebevollen Berührungen oder melancholischen Bewegungen aufnehmen, dann stellen sie keine Liebesbeziehung, keine Szene des VerlassenWerdens dar, es ereignen sich keine Berührungen im Modus des Als-ob, vielmehr eröffnen die vielfältigen Bewegungen der Liebesbeziehungen Möglichkeiten weiterer Beziehungen, und neuer Gefüge von Berührungen. Die Ökologie der Berührungen lässt sich nicht auf den Bereich tänzerischer Praktiken beschränken, sie umfasst ebenso das Lesen, Schreiben und Denken. Philosophische Praktiken sind dabei selbst Bewegungen und bilden keine nachgeordneten Tätigkeiten, die
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versuchen, die Berührungen zu fassen oder abzubilden.25 Denken ist eine Bewegung, die nicht von außen hinzukommt, sondern in der Mitte der Erfahrungen beginnt: »Nonconcious or preconcious thought is everywhere active in experience. It moves at differential speeds. […] It always begins in the milieu, in the midst of experience.«26 Philosophie, so schreiben Deleuze und Guattari, ist das Schöpfen von »Begriffen«, »Schwingungszentren«, in denen sich »mannigfaltige Wellen, […] heben und senken«.27 Philosophie ist kein Akt der Repräsentation, sondern der Produktion, ihre Kraft ist das Denken. Doch auch »[d]ie Kunst denkt nicht weniger als die Philosophie, aber sie denkt in Affekten und Perzepten«.28 Affekte, Perzepte, Begriffe bevölkern hier die Ökologien der Berührung. Dieser Text ist keine Repräsentation oder (Ein-)Ordnung verschiedener Tanzaufführungen, Tänzerinnen und Tänzer sowie Choreographinnen und Choreographen, sondern die Erweiterung eines Netzwerks von Bewegungen. Schreiben ist kein Schreiben-über, sondern wird selbst zu einem Ereignis der Berührung. »Schreiben [meint] weder das Zeigen noch das Aufzeigen einer Bedeutung, vielmehr eine Geste, um an den Sinn zu rühren. Ein Berühren, 25 | Manning beschreibt das Verhältnis von Denken, Empfinden und Bewegen wie folgt: »Thought is more than a form-taking of words. It is an incipient that proposes articulation through sensation. Thought is a proposition for feeling-in-motion. It is experience’s complex instigator, a force that operates at the relational cusp of becoming-events.« (Manning: Relationscapes, S. 215). 26 | Dies.: The Minor Gesture, Durham u. London: Duke UP 2016, im Erscheinen. 27 | Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 30 u. S. 42, vgl. auch: S. 21-41. »Begriff« ist die deutsche Übersetzung des französischen Wortes concept, das sich auch als »Konzept« übersetzen ließe (und ins Englische als »concept« übersetzt wurde). Konzept ist dabei wesentlich weniger sprachgebunden als der Terminus »Begriff« und eröffnet eine leichtere Anknüpfung an Bereiche nicht-sprachlicher Konzepte, wie sie bspw. im Tanz zu finden sind. 28 | Deleuze und Guattari: Was ist Philosophie?, S. 75.
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ein Tasten, das wie ein Anschreiben ist: wer schreibt, der berührt nicht, indem er anfaßt, in die Hand nimmt, *begreift, sondern er berührt, indem er sich richtet, sich sendet an die Berührung eines Draußen, Entwendeten, Auseinandergerückten, Aufgespannten.«29 Im Schreiben ereignen sich neue Berührungen, der Text wird zu einer Erweiterung des Netzes der Berührung, in ihm Berühren sich verschiedene Aufführungen, Tänzerinnen und Tänzer, Choreographinnen und Choreographen; vor allem verbinden sich Erfahrungen, Perzepte und Affekte mit philosophischen Begriffen. In den Berührungen des Schreibens, des Empfindens, in den vielfältigen Bewegungen, die sich durch die Körper der Tanzenden, der Zuschauenden, durch die vielfältigen Elemente des Tanzes sowie die Praktiken des Denkens und des Schreibens ziehen, verknüpfen sich all diese Bewegungen zu Assemblagen der Berührung und neue Konzepte entstehen. Diese sind weder einheitlich noch kategorisch geordnet, sie sind Prozesse des Werdens, in ihnen entstehen neue Relationen, aber ebenso neue Differenzen. Doch wo, so ließe sich nun fragen, findet die Berührung statt? Keine und keiner hat die Berührung gesehen und doch ist sie keine Konstruktion des Schreibens. Die Berührungen entstehen in den Interferenzen; dort, wo Bewegungen, Perzepte, Affekte, Denken und Schreiben zusammenkommen. Berührungen sind nicht etwas, das in einem Probenprozess durch die Tänzerinnen und Tänzer einstudiert und dann bei der Aufführung präsentiert wird. Berührungen werden auch nicht einfach durch das Publikum gesehen und dann nachträglich analysiert. Diese lineare Kettung der Ereignisse würde erstens zu einem Verhältnis von Tanz und Wissenschaft führen, das diese beiden Bereiche klar voneinander scheidet, und zweitens würde dies die Aufführung als zentrales Ereignis der Präsentation privilegieren. Nur was in der Aufführung geschieht, könnte somit durch den Text wiedergegeben werden, und Berührungen würden bloß zu Abbildungen und Repräsentationen früherer Berührungen werden. Doch Berührungen lassen sich nicht linear verknüpfen, sie 29 | Nancy: Corpus, S. 20, Herv.i.O.
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bilden Netzwerke, produktive Assemblagen von Bewegungen, die immer neue Anordnungen und neue Gebilde produzieren. Die Aufführung, die Probe, der Text sind keine a priori abgegrenzten Einheiten, sondern Netzwerke, die selbst wiederum aus Gefügen und Relationen bestehen.
Z um S chluss , zur M it te , zum M ilieu Aufführungen bilden keine geschlossenen Ereignisse, die klar in ihren raum-zeitlichen Dimensionen abzugrenzen sind. Sie sind vielmehr Gefüge von Relationen, von Empfindungen und Praktiken, denen die Proben, die Recherchen, das Schreiben etc. nicht untergeordnet sind. Die Aufführungen sind Assemblagen der Berührung: prozessual, relational und differierend. In der Prozessualität der Körper der Tänzerinnen und Tänzer, aber auch des Publikums, in der Autonomie der Bewegungen, der Empfindungen und der Affekte weist die Aufführung über sich selbst und über den Raum des Theaters hinaus. Prozessualität wird nicht als eine Handlung von einem Individuum oder einem Körper ausgeführt, sie ist ein dis/kontinuierliches Werden, eine immanente Bewegung, sie ist die transduktive Bewegung, die immer neue Individuationen hervorbringt. Manning hat im Anschluss an Simondon dieses »spring board for individuations« als Milieu beschrieben und auch die Aufführung bildet solch ein relationales Feld. Die Aufführung ist nicht ›etwas‹, das sich ereignet und dabei durch andere von außen wahrgenommen wird, sie ist auch nicht ›etwas‹, das im Zusammenkommen von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren, Zuschauerinnen und Zuschauern stattfindet. Das Milieu der Aufführung entsteht im Zusammenspiel verschiedener Individuationen auf der Bühne und im Publikum und bringt neue Möglichkeiten und neue Individuationen hervor. Jede Aufführung wird zu einem Strudel mannigfaltiger Kräfte und Bewegungen, der die Empfindungen, Erinnerungen und Spekulationen verwirbelt.
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Die Aufführung ist eine Zeit des Ereignisses und der Individuation. Ein Beginn oder ein Ende der Aufführung ist nicht zu bestimmen. Zurück zum Anfang, in die Mitte: the fault lines ist ein Milieu, ein Milieu der Berührungen. Immer wieder bringen die mannigfaltigen Bewegungen, das Zögern, das Straucheln, die Drehungen und Wendungen Berührungsereignisse hervor und umgekehrt entstehen in diesen Ereignissen neue Bewegungen und Möglichkeiten, neue Körper und Empfindungen. Wenn die Berührungen in the fault lines Konfigurationen der Melancholie hervorbringen, dann bilden diese keineswegs Abbildungen eines Zustands ›wie es ist‹, sondern sie eröffnen Möglichkeiten ›wie es sein könnte‹. Diese sind in keiner linear vorausliegenden Zukunft angesiedelt, sondern bringen die chronologische Zeit selbst ins Schleudern. Melancholie ist dann kein individuelles Gefühl, sondern das relationale Gefüge, in dem sich die Möglichkeit einer anderen Vergangenheit eröffnet. Hier ist die Relation wesentlich: Jene Berührungen der beiden Tänzer/innen, die Relationen und Differenzen ihrer Zu- und Abwendung bilden den Rhythmus und mit ihm die Öffnung und die Möglichkeit neuer Beziehungen. So wenig, wie hier zwei Individuen aufeinander treffen, werden sie durch die Berührung eins. Die Prozesse der Individuation verändern sich in der Beziehung, sie sind nicht auf einen Körper, auf eine/n Beteiligte/n zu beschränken, sondern sie durchqueren die Körper der Tanzenden und gehen über diese hinaus. Die Individuationen führen zu immer neuen transduktiven Berührungen und damit zu neuen Individuationen. Das Ereignis der Aufführung wird zu einem Begehren nach mehr Bewegungen, mehr Relationen und mehr Berührungen. Die Berührungen beginnen zu wuchern, sie bringen mannigfaltige neue Relationen und Möglichkeiten der Individuierung hervor. Die haptisch-visuellen Empfindungen der Zuschauerinnen und Zuschauer, die Erinnerungen an andere Beziehungen, Vergangenheiten und Berührungen sowie die Affekte bilden Intensitäten, die die Individuationen der Tänzer/innen mit jenen des Publikums verbinden, zugleich interferieren sie mit den Rhythmen der Musik, des Lichtes, den wechselnden Farben. Es ent-
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steht ein Feld der Individuation, ein Milieu, das nicht mehr auf ein Paar oder auf einzelne Individuen zu beziehen ist. Hier bringen Individuationen transduktive Relationen und damit Möglichkeiten für neue Individuationen hervor. In der Aufführung individuiert sich auch das Publikum, es ist Teil der Berührungs-Assemblage, es entsteht wie die Tänzer/innen im transduktiven Ereignis der Aufführung. Die Aufführung ist ein Milieu, sie ist ein Gefüge von Berührungen, von Bewegungen, Empfindungen und Affekten und in ihrem Werden, den Ereignissen ihrer Interferenz entstehen neue Individuationen: die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer, die Empfindungen des Publikums aber ebenso die Konzepte dieses Textes: »[W]hat moves as a body returns as a movement of thought.«30
30 | Gil: »The Dancer’s Body«, S. 124, Herv.i.O.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: the fault lines (Foto: Eva Würdinger) Abb. 2: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: the fault lines (Foto: Eva Würdinger) Abb. 3: Agnolo Bronzino: Noli me tangere, le Christ apparaissant à la Madeleine (Copyright: bpk/RMN – Grand Palais/Mathieu Rabeau) Abb. 4: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: Maybe Forever (VideoStill) Abb. 5: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: Maybe Forever (VideoStill) Abb. 6: Philipp Gehmacher und Meg Stuart: the fault lines (Foto: Nina Gundlach) Abb. 7: Boris Charmatz: herses (une lente introduction) (Foto: JeanMichel Cima) Abb. 8: Boris Charmatz: herses (une lente introduction) (Foto: Fred Kihn) Abb. 9: Xavier Le Roy: low pieces (Foto: Vincent Cavaroc) Abb. 10: Xavier Le Roy: low pieces (Foto: Vincent Cavaroc) Abb. 11: Xavier Le Roy: low pieces (Foto: Vincent Cavaroc) Abb. 12: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (Foto: Marc Doradzillo) Abb. 13: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (Foto: Marc Doradzillo) Abb. 14: Jared Gradinger und Angela Schubot: What they are instead of (Foto: Marc Doradzillo)
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Berührungen
Abb. 15: William Forsythe: Solo (Video-Still) Abb. 16: William Forsythe: Solo (Video-Still) Abb. 17: William Forsythe: White Bouncy Castle (Foto: Dominik Mentzos) Abb. 18: Meg Stuart: Blessed (Foto: Julieta Cervantes) Abb. 19: Meg Stuart: Blessed (Foto: Chris Van der Burght)
TanzScripte Timo Skrandies, Katharina Kelter (Hg.) Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance Juli 2016, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3420-4
Kirsten Maar Entwürfe und Gefüge William Forsythes choreographische Arbeiten in ihren architektonischen Konstellationen Mai 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2377-2
Bayerisches Staatsballett (Hg.) Aus Leidenschaft! 25 Jahre Bayerisches Staatsballett (mit Texten von Dorion Weickmann und Katja Schneider) 2015, 296 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3311-5
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August 2016, ca. 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3107-4
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Julia Wehren Körper als Archiv in Bewegung Choreografie als historiografische Praxis März 2016, 274 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3000-8
Stefan Apostolou-Hölscher Vermögende Körper Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik 2015, 398 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3051-0
Jens Richard Giersdorf Volkseigene Körper Ostdeutscher Tanz seit 1945 (übersetzt aus dem Englischen von Frank Weigand)
Gabriele Brandstetter, Reinhild Hoffmann, Patricia Stöckemann (Hg.) CALLAS Ein Tanzstück von Reinhild Hoffmann 1983/2012 2014, 174 Seiten, kart., zahlr. Abb., mit DVD, 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2509-7
Melanie Haller Abstimmung in Bewegung Intersubjektivität im Tango Argentino 2013, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2523-3
Stephan Brinkmann Bewegung erinnern Gedächtnisformen im Tanz 2012, 328 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2214-0
Franco Barrionuevo Anzaldi Politischer Tango Intellektuelle Kämpfe um Tanzkultur im Zeichen des Peronismus 2011, 168 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1794-8
Yvonne Hardt, Martin Stern (Hg.) Choreographie und Institution Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung 2011, 316 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1923-2
2014, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2892-0
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