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German Pages 140 [145] Year 2001
Jürgen-H. Mauthe (Hrsg.)
Affekt und Kognition
Verlag Wissenschaft & Praxis
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Affekt und Kognition : / Jürgen-Η. Mauthe (Hrsg.) - Sternenfels : Verl. Wiss. und Praxis, 2001 ISBN 3-89673-105-X
ISBN 3-89673-105-X © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2001 Nußbaumweg 6, D-75447 Sternenfels Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094 Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Wichtiger Hinweis - Produkthaftung: Der Verlag kann für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen keine Gewähr übernehmen. Da trotz sorgfältiger Bearbeitung menschliche Irrtümer und Druckfehler nie gänzlich auszuschließen sind, müssen alle Angaben zu Dosierungen und Applikationen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Printed in Germany
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Vorwort Affekt und Kognition - werden häufig als Gegensätze gesehen. Während Affekte subjektiv aufwühlen und emotional einstimmen, sowie über Lust und Unlust entscheiden, sollen kognitive Prozesse in einem objektiven „abgeklärten" Raum der Problemlösung stattfinden. Doch Denken im affektfreien Raum ist unmöglich, denn für das Denken wirken Gefühle wie Zugänge, die Gedächtnisspeicher öffnen und schließen. Gefühle funktionieren wie Filter, die Unmengen von auf den Menschen einströmende Informationsfluten und Sinneseindrücke sortieren. Sie steuern somit die Richtung unserer Aufmerksamkeit und unseres Denkens. Ausgehend von diesen Überlegungen stellt Ciompi fest, "dass nicht nur Zustände, bei denen Emotionen klar im Vordergrund stehen - also in der Psychopathologie etwa die sogenannten Affektiven Psychosen - sondern überhaupt alle Psychodynamismen affektgesteuert sind". Während sich die Hirnforschung lange Zeit vor allem mit der „affektfreien" Kognition und den neuronalen Schaltkreisen beschäftigte, widmen sich Neurowissenschaftler seit einigen Jahren auch den Emotionen. Spitzer spricht in diesem Zusammenhang von "kortikalen Landkarten", die sich insgesamt durch neue Erfahrungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt bilden und verändern. Hinsichtlich dieses Zusammenwirkens stellen sich Fragen nach der Art der neuronalen Verknüpfungen, die für emotionale Zustände verantwortlich sind, nach ihren Veränderungen bei psychischen Erkrankungen und ihrer Ansprechbarkeit auf therapeutische Maßnahmen. Während der 17. Psychiatrietage mit dem Themenschwerpunkt "Affekt und Kognition" stellten Wissenschaftler unterschiedlicher Forschungsbereiche in der Psychiatrie und Psychotherapie in Königslutter ihre neuesten Untersuchungsergebnisse zur Diskussion. Dieser Tagungsband soll für alle interessierten Leser eine Anregung darstellen, sich mit dieser umfangreichen und spannenden Thematik zu befassen. Den Autorinnen und Autoren danke ich für ihre Beiträge, ebenso wie der Arbeitsgruppe Psychiatrietage und dem örtlichen Fortbildungsverein (VPPF), die die Tagung und die vorliegende Veröffentlichung mitgetragen haben. Prof, Dr. Jürgen -Η. Mauthe
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Autorenverzeichnis Prof.
Dr. Luc Ciompi, Vorm. Direktor der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern, Inititator des Berner Soteria-Projektes
Dr. Franz Ebner, Facharzt für Psychiatrie, EMDR Facilitator, Oberursel Dr. Dipl.-Psych. Thomas Frittrang, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen Prof. Dr. Martin Hautzinger Leiter der Abteilung Klinische und Physiologische Psychologie, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Prof. Dr. rer. nat. Gerald Huether, Neurobiologe, Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen Prof Dr. Rainer Krause, Universität des Saarlandes, Klinische Psychologie, Saarbrücken Prof. Dr. phil. Julius Kühl Différentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, Fachbereich Psychiatrie, Universität Osnabrück PD Dr. Dr. Georg Northoff Oberarzt für Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Prof.
Dr. phil. habil. Roland Simon-Schaefer, Philosophie II, Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Prof Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor, Psychiatrische Klinik der Universität Ulm Prof. Dr. Gerhard Stemmler, Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg PD Dr. Rainer Thomasius, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Hamburg, Universitätskrankenhaus Eppendorf
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Inhaltsverzeichnis Vorwort
I
Autorenverzeichnis
II
Die Anthropologie der Sinne - Zur Dialektik von Emotionalität und Rationalität
Roland Simon-Schaefer
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Das Zusammenspiel von Fühlen und Denken nach dem Konzept der Affektlogik. Grundthesen und psychiatrischpsychotherapeutische Implikationen
Luc Ciompi
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Beeinflussung von Affekt und Kognition durch synthetische Drogen: Konsummotive, Konsumkontexte und Auswirkungen des Konsums
Rainer Thomasius
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Die Auswirkung von Angst und Streß auf das Gehirn: von der psychischen Krise zur psychischen Erkrankung
Gerald Huether
26
Konzepte zur Psychotherapie schizophrener Patienten im Spannungsfeld von Kognition, Emotion und sozialer Interaktion
Thomas Frittrang
43
Wo sind Affekte und Kognitionen im Gehirn? - Funktionelle Bildgebung in der Psychiatrie
Georg Nonhoff
63
Testgestützte Therapiegestaltung und Evaluation: Soziale Motive, affektivkognitive Stile und Selbststeuerungsfunktionen
Julius Kühl
72
IV Neurophysiologische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung und ihre Veränderung nach Therapie mit EMDR
Franz Ebner
96
Zur Neurologie von Affekt und Kognition
Manfred Spitzer
114
Psychophysiologie der Emotionen
Gerhard Stemmler
116
Das Soteria Projekt
Luc Ciompi
Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen
Martin Hautzinger
127
Anwendung der Affektforschung auf die Psychopathologie und den psychotherapeutischen Prozess
Rainer Krause
135
125
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Die Anthropologie der SinneZur Dialektik von Emotionalität und Rationalität Prof. Dr. Roland Simon-Schaefer Ich freue mich sehr, die diesjährigen Psychiatrietage mit einem philosophischen Vortrag eröffnen zu dürfen. Es ist bereits das fünfte Mal, daß ich anläßlich der Psychiatrietage spreche. Das Thema „Affekt und Kognition" berührt - wie könnte es auch anders sein Bereiche des Wissens, die in unserer abendländischen Tradition ursprünglich von der Philosophie verwaltet wurden. Die Psychologie gehört ja - wie etwa auch die Physik oder die Soziologie - zu jenen Disziplinen, die im 19. Jahrhundert aus der Philosophie hervorgegangen sind und zu empirisch forschenden Einzelwissenschaften wurden. Wenn ich das ausgedruckte Programm betrachte, in dem alle wichtigen Aspekte des Themas von kompetenter Seite angesprochen werden, dann komme ich nicht umhin, die philosophiekritische Frage zu stellen: Was kann die Philosophie auch wenn sie sich als die Mutter aller Disziplinen aufführt - den emanzipierten Töchtern überhaupt noch mitteilen? Sie kann mindestens problem- und ideengeschichtlich die Fage nach dem Verhältnis von Verstand und Gefühl darlegen, und sie kann - im Sinne von Aufklärung - die wertenden Implikationen aufzeigen, die in unserer abendländischen Kultur mit dieser Unterscheidung immer verbunden waren. Beginnen wir also mit dem Thema, und zwar in der Antike. In der griechischen Philosophie lautet die Definition für den Menschen: „anthropos zoon logon echon", der Mensch ist das Tier, bzw. das Lebewesen, das den Logos besitzt. Logos bedeutet sowohl Vernunft als auch Sprache. Im Lateinischen lautet die entsprechende Definition „animal rationale", das bedeutet: der Mensch ist das vernunftbegabte Lebewesen. Die aus dem Griechischen stammende Gleichsetzung von Vernunft und Sprache hat dazu geführt, daß wir in der abendländischen Tradition Denken fast durchgehend als inneres Sprechen gefaßt haben und daher Tieren, die erwiesenermaßen nicht über ein unserer elaborierten Sprache vergleichbares Kommunikationssystem verfügen, alle Denktätigkeit
2 abgesprochen und sie zu reinen Reflexautomaten und Instinktmaschinen degradiert haben. Aber gerade auf diesem Gebiet hat die Primatenforschung in der Gegenwart eine Reihe von tradierten Vorurteilen abgeschafft und uns zugleich den Blick auf uns selbst in neuer Weise geschärft.(l) Bis in die Gegenwart kann man die Auswirkungen der griechischen Definition verfolgen, die nicht nur rein klassifikatorisch verstanden werden wollte, sondern auch immer normative Implikationen enthalten hat. Diese normative Festlegung des Menschen auf seine Vernunft kann einerseits „vernünftig", d.h. gemäßigt und auf der anderen Seite „unvernünftig", d.h. extrem ausgelegt werden. Das bedeutet konkret: Man kann die Vernunft als die Instanz ansehen, die die Sinnennatur des Menschen in der für ihn vorteilhaftesten Weise lenkt, auf der anderen Seite ist es möglich, den Verstand oder die Vernunft als die den Sinnen entgegengesetzte Instanz anzusehen. Für beide Interpretationsmöglichkeiten lassen sich Beispiele anführen. So hat Piaton eine Theorie von der Unsterblichkeit der Seele verfochten, der zufolge die Seele als eine eigene Entität im Körper wie in einem Kerker gefangen ist. Wenn sie sich vom Körper lösen kann, dann wird sie frei. Entsprechend hat er in seiner politischen Philosophie einen puritanischen Vernunftstaat entworfen. In Analogie zu den drei Vermögen der Seele, Vernunft, Tapferkeit und Begehren, die körperlich repräsentiert werden durch Kopf, Herz und Bauch, teilt er die Bevölkerung in Kasten ein. An der Spitze des Staates soll der Philosophenkönig stehen, die Verkörperung der Vernunft. Ihm untergeordnet ist eine Funktionärs- und Militärelite, die sogenannten Wächter, die sich durch ihre Tapferkeit auszeichnet. Das einfache Volk, der Bauch, hat für Befriedigung der notwendigen leiblichen Bedürfnisse zu sorgen. Sparta hat bei der Konzeption des platonischen Vernunftstaates Pate gestanden. Aristoteles hingegen, der Anhänger eines aristokratischen bürgerlichen Staates war, wie er im klassischen Athen tendenziell verwirklicht war, hat in seiner Nikomachischen Ethik einen Verhaltenskodex für den gebildeten Bürger formuliert, der für unser Thema von zentralem Interesse ist, insofern es ihm um eine Ausgewogenheit der psychischen Kräfte geht. Zentral für seine Theorie ist die sogenannte Mesoteslehre. „Mesotes" bedeutet Mitte. Dieser angestrebten mittleren Lage entspricht der griechische Wahlspruch „mäden agan", „nichts zu sehr" bzw. „nichts im Übermaß". Darunter ist die Forderung an den antiken Gentleman zu verstehen, alle seine Wünsche und Leidenschaften unter Kontrolle zu halten, nicht sie zu unterdrücken, aber sie nicht bis zum Exzeß auszuleben. Die Nikomachische Ethik enthält eine Fülle von Anweisungen, wie man sich schicklich in der Gesellschaft verhält, wie man mit Freunden umgehen soll, je
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nach ihrer unterschiedlichen sozialen Stellung, wie man die richtige Mitte zwischen Verschwendung und Geiz findet, wie man zwischen Verwegenheit und Feigheit die richtige Mitte, die Tapferkeit nämlich, wählen soll etc. Wenn man aufzeigt, wie durch die Kontrolle der Vernunft der Mensch glücklich werden kann, dann ist es natürlich auch möglich aufzuzeigen, wie der Mensch fehlgeht, wenn er die richtige Mitte zwischen den Extremen der Affektionen verfehlt. Theophrast, der Schüler des Aristoteles und sein Nachfolger als Leiter der Schule, hat eine Schrift verfaßt, die „Charaktere", in der er die schrulligen und komisch kauzigen Verfehlungen geschildert hat, die sich in das Verhalten von Menschen einschleichen können. Es ist eine Typologie lächerlicher Menschen, die Theophrast uns vorführt. Da ist der Geizige, der Vorschnelle, der Neugierige, der Aufdringliche, der Geschwätzige, der Verschwender, der Spätgebildete etc. Anders als Plutarch, der große Griechen und Römer porträtierte und ihre Charaktergröße schilderte, hat Theophrast die kleinen Charaktere beschrieben. Seine Typen bildeten den Stoff für die antike Charakterkomödie des Plautus, die in der Neuzeit bei Moliere ihre Wiederaufnahme gefunden hat. Ich erinnere nur an Harpagon, die weltberühmt gewordene Gestalt des Geizigen aus Molieres Komödie „der Geizhals". Das Ideal des kultivierten Menschen, das Aristoteles aufgestellt hat, läßt sich natürlich auch in einer Entwicklungslinie bis in unsere Gegenwart verfolgen. Nach dem Untergang der antiken Welt in der Völkerwanderung entwickelt sich im Abendland im Schöße der Feudalgesellschaft allmählich eine neue höfische Kultur, die zur Zeit der Kreuzzüge starke Impulse von der verfeinerten sarazenischen Kultur empfängt, aber spätestens seit der Renaissance autark ist. In dieser Zeit verwandelt sich das mittelalterliche Ritterideal in das Ideal des gebildeten Menschen bei Hofe. Das berühmteste Zeugnis aus der Zeit liegt uns vor in Baldassare Castigliones Schrift „II Cortegiano", dem „ B u c h V O m Hofmann". Von diesem Werk läßt sich eine Abstammungslinie verfolgen über den „Umgang mit Menschen" des Freiherrn von Knigge im 18. Jahrhundert bis zu den Büchern über Benehmen und Etikette der Gegenwart, etwa das für die frühe Bundesrepublik maßgebende Buch der Erika von Pappritz, in dem der Politprominenz der fünfziger Jahre die rechten Umgangsformen vorgeführt wurden. Ziel all dieser Bemühungen ist immer gewesen, den einzelnen Menschen in seinem Auftreten den anderen gegenüber in geordnete Bahnen zu lenken, in ihm eine soziale und emotionale Sensibilität zu erzeugen, die das Zusammenleben der Menschen ermöglicht.
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Als letztes über die Antike möchte ich noch folgendes erwähnen: Wenn wir auf die Vielgötterei der Griechen blicken, so fällt auf, daß die Griechen für alle wichtigen psychischen Regungen des Menschen Götter als Personifikationen dieser Fähigkeiten eingesetzt haben. Athene, die jungfräuliche, ist die Göttin der Erfindungsgabe, Aphrodite, alles andere als jungfräulich, ist die Göttin der Schönheit, Amor, der Liebesgott, ist ein mutwilliger Knabe, dessen Streichen mit seinen Liebespfeilen die seriösesten Menschen zum Opfer fallen, Dionysos als Gott des Weines und des orgiastischen Rausches ist ebenso bei den olympischen Göttern geduldet wie der Götterbote Hermes, der als Gott des Handels und der Diebe fungiert. Und der Göttervater Zeus setzt allem die Krone auf, wenn er unermüdlich junge hübsche Mädchen verführt, die anschließend von der eifersüchtigen Hera drangsaliert werden. Die griechische Philosophie hat in der sophistischen Aufklärung dieses menschliche Verhalten der Götter zum Anlaß genommen, an ihrer Existenz zu zweifeln. Aber vom psychologischen Standpunkt können wir einwenden, daß diese Vergöttlichung der menschlichen Sinne und Emotionen den Menschen insgesamt in seiner Leiblichkeit rechtfertigt. Gänzlich anders ist die Stellung des Christentums zum diesseitigen Leben. Was bei Piaton bereits anklang, die Minderstellung des Körperlichen, wird im Christentum verschärft. Als eschatologische Sekte, die den baldigen Weltuntergang erwartet, haben die Christen das Leben im Diesseits als eine Prüfung definiert. Wer das Diesseits überwindet, gewinnt das ewige Leben. Vom weltanschaulichen Rigorismus in dieser Hinsicht zeugen die Märtyrerschicksale. Die Abwertung des Lebens führt zur Abwertung des Köiperlichen und zur Abwertung der Frau, die als sexuelle Verführerin angesehen wird, wenn es ihr nicht gelingt, zur quasi unkörperlichen Heiligen zu werden. Der Kirchenvater Origenes hat sich um des Himmelreiches willen selbst entmannt. Die unterdrückte und verteufelte Sexualität hat sich natürlich Auswege gesucht. So erscheint der Teufel den christlichen Heiligen gemeinhin in Gestalt einer verführerischen Frau, womit der Aphroditekult in Form seiner Ablehnung ins Christentum integriert wird. Mittelalterliche und vor allem frühneuzeitliche Hexenverfolgung ist eine der perversen Folgen dieser Haltung.(2) Die Vorstellung, daß der eigentliche Mensch Geist sei, erlebt in der neuzeitlichen Philosophie eine neue Blüte durch die Philosophie Descartes4. Mit der Definition des Menschen als „res cogitans", d.h. als „denkende Substanz" und der entsprechenden Zuordnung der Körperweit zur Kategorie der „res extensa", der „ausgedehnten Substanz", ist eine für das neuzeitliche Denken folgenreiche Unterscheidung getroffen worden.
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Im Bereich der Naturwissenschaften hat die „Entsinnlichung" der Körperwelt zur reinen Ausdehnungswelt die Möglichkeit zur Mathematisierung auch des Qualitativen eröffnet. Das bedeutet: aus Farben werden Wellenlängen des Lichtes, aus Tönen Schallwellen, aus Wärme bzw. Kälte Schwingungen von Teilchen. Weil dieses Verfahren so erfolgreich war, deshalb konnte sich in einem oberflächlichen Materialismus die falsche Vorstellung durchsetzen, diese wissenschaftliche Beschreibung sei der Wirklichkeit näher als die lebensweltliche, auf unsere Sinne bezogene. In der Philosophie hat Descartes mit seiner Unterscheidung der zwei Substanzen die neuzeitliche Bewußtseinsphilosophie begründet. Charakteristisch für diese Richtung des Philosophierens ist der Ausgang vom denkenden Subjekt, das als erste Erkenntnis seines Denkens feststellt, daß es existiert: „Ich denke, also bin ich". Von dieser ersten, unbezweifelbaren Erkenntnis muß der Mensch sich den Zugang zur Welt erarbeiten. Das gelingt nicht automatisch, denn es könnte durchaus sein, wie Descartes sich schon selbst klargemacht hatte, daß dieses Ich plötzlich aus einem Traum aufwacht und erkennen muß, daß seine bisherige Realität nur ein Traum war. Ein weiteres Problem hat Descartes durch sein Philosophieren in die Welt gesetzt, denn er hat behauptet, daß die zwei von ihm postulierten Substanzen, denkende Substanz und ausgedehnte Substanz, keinerlei Verbindung mit einander haben. So mußte für ihn zum Problem werden, wie die denkende Substanz, das eigentliche Ich des Menschen, auf den Körper einwirken kann. Descartes behalf sich mit der Hypothese, die Zirbeldrüse, deren Funktion zu seiner Zeit unbekannt war, sei die Schnittstelle, an der der Wille des Ich in Befehle an den Körper umgesetzt werde. Wir wissen in der Gegenwart besser über unseren Körper Bescheid, daher hat sich die Zirbeldrüsenhypothese erledigt, aber das Problem, wie ein als geistig, d.h. immateriell vorgestelltes Ich zum Körper kommt, ist immer noch in der Diskussion. Jüngst erst hat der Hirnforscher Eccles eine modifizierte Zirbeldrüsenhypothese aufgestellt mit seiner Behauptung, in den noch nicht erforschten Hirnarealen sei diese Schnittstelle angesiedelt. (3) Es würde den Rahmen meiner Einführung sprengen, wollte ich die zweifellos interessanten Positionen aus der Geschichte der Philosophie alle anführen. Ich möchte lediglich Kant erwähnen. Seine Transzendentalphilosophie, die er in der „Kritik der reinen Vernunft" entwickelt, führt diesen Titel, weil Kant das Problem lösen will, wie das denkende und vorstellende Ich zur Welt gelangt, wie es also die Sphäre des Bewußtseins zur Welt hin transzendieren, d.h. überschreiten kann.
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Vom Standpunkt einer Psychologie oder Soziologie der Philosophie aus könnte man formulieren, es sei schon bezeichnend für den Berufsstand der Philosophen, daß sie, als politisch und gesellschaftlich nicht Handelnde, vielmehr Beobachtende, ihren Zugang zur Wirklichkeit verabsolutieren. Für sie ist der Mensch in erster Linie ein betrachtendes Wesen, sie verwechseln möglicherweise ihre Weise der „vita contemplativa" mit dem Leben in der Welt. Daher mußte Kant auch zuerst eine theoretische Philosophie über den Zugang zur Welt entwickeln, bevor er sich der praktischen Philosophie zuwenden konnte. Aber natürlich hat die Philosophie insgesamt den Zugang zur Welt durchaus gefunden, nicht nur die pragmatischen Engländer, die politische Philosophien entwickelten, ohne zuvor Ontologie getrieben zu haben. (4) Mit dem Werk Schopenhauers kommt ein neuer Gedanke in das Philosophieren hinein, der in der Existenzphilosophie der Moderne in vielfältigen Variationen zum Ausdruck gebracht worden ist. Schopenhauer hat in seinem Hauptwerk, „die Welt als Wille und Vorstellung" den Menschen als das vom Willen bestimmte Wesen erfaßt, daher kommt die Sinnlichkeit nicht als etwas Sekundäres zum kontemplierenden Ego hinzu, sie ist unmittelbar mit dem Ich verbunden (5). Die in der einseitigen philosophischen Verstandeskultur unterschätzte emotionale Seite des Menschen ist folgerichtig seit dem 19. Jahrhundert in das Zentrum des philosophischen Fragens gerückt. Als Beispiele mögen genügen Kierkegaard, der eine tragische, biographisch bedingte Philosophie der religiösen Angst formulierte, Nietzsche, der Schopenhauers Willen zum Leben als Willen zur Macht interpretierte, und mit seiner Gegenüberstellung von Dionysischem und Apollinischem der Kunstphilosophie einen entscheidenden Impuls in Hinsicht auf die Avantgardekunst der Moderne gab, schließlich Heidegger, der in der Aufnahme und im Weiterdenken der Ansätze Kierkegaards und Nietzsches in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit" eine Analytik des Daseins formulierte, die den Begriff der Sorge zur zentralen Kategorie menschlicher Existenz erklärte. Werfen wir einen Blick auf die Ethik, so zeigt sich die abendländische Dichotomie von Affekt und Kognition in zwei unterschiedlichen Herangehensweisen an das Problem des guten Handelns. Auf der einen Seite steht die Theorie von Adam Smith. Smith ist nicht nur der Begründer der modernen Ökonomie geworden durch sein berühmtes Werk „Wealth of Nations", in dem er höchst folgenreich den Nachweis geführt hat, daß eine Gesellschaft rein ökonomisch erfolgreich und gesellschaftlich harmonisch sich entwickeln kann ohne besondere ethische Qualitäten der Akteure. Seine bestechende Idee bestand in der Behauptung, daß aus dem Egoismus der
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Einzelnen sich durch das Wirken des Marktmechanismus von selbst allgemeine Wohlfahrt entwickele. Diese Vorstellung wird in der Gegenwart von den „global players", die unser soziales System demontieren, besonders gerne als Rechtfertigung herangezogen. Aber dabei wird übersehen , daß Adam Smith eine „Theorie der moralischen Gefühle" geschrieben hat, in der er das Mitgefühl als die wichtigste menschliche Fähigkeit darstellt. Die Möglichkeit, mit einem anderen zu fühlen, sich in seine Lage hineinzuversetzen, Mitleid empfinden zu können, ist seiner Theorie zufolge die soziale Emotion schlechthin, die Gemeinschaft überhaupt erst ermöglicht. Gegen eine solche „Gefühlsethik" richtet sich Kantsrigoristische Vernunftethik. Mit der Formulierung des berühmten Kategorischen Imperativs - Handele nur nach der Maxime, nach der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde - hat Kant die Maxime ausdrücken wollen, daß alle Menschen gleich angesehen und entsprechend behandelt werden müssen. Diese Gleichbehandlung gebührt ihnen, unabhängig davon, ob sie uns sympathisch sind oder nicht. Deshalb hat Kant rigoros behauptet, daß die moralische Leistung dann am größten ist, wenn man durch keinerlei Gefühl dazu getrieben wird. Schiller hat gegen diese „Pflichtethik" ironisch eingewendet, er sei so unglücklich, weil er seinen Freunden nicht helfen dürfe, denn er tue es ja aus Neigung und nicht aus Pflicht. Damit ist Kant natürlich nicht ad absurdum geführt, aber es zeigt sich, daß die emotionale Komponente nicht einfach negiert werden kann. Im Gegenteil, sie kann, wo ein falsches Pflichtgefühl zu Unheil führt, ein Korrektiv sein. Als Heinrich Himmler seine SS-Wachmannschaften mit dem berühmt-berüchtigten Satz lobte, es sei ihre große Leistung, „dies getan zu haben und dabei anständig geblieben zu sein", da argumentierte er durchaus kantianisch. Im Bereich der Moral spielen Affekte und kognitive Einsichten offenbar beide eine Rolle, und es verhält sich in diesem Bereich gewiß nicht so schön einfach, wie der Kantianer Lawrence Kohlberg in seiner „Psychologie der Moralentwicklung" (6) uns vorgeführt hat. Gemäß seiner Vorstellung von moralischer Entwicklung durchläuft der Mensch 6 Stufen, beginnend mit Angst vor Strafe, gefolgt von Streben nach Belohnung. Das ist das unterste Niveau, das Kohlberg als prämoralisch bezeichnet. Ihm folgen zwei Stufen der Rollenkonformität und abschließend das oberste Niveau, Moral als selbstakzeptiertes moralisches Prinzip. Dieses oberste Niveau, ebenfalls zweistufig, führt zur Kantischen Position. Natürlich rangiert in dieser Stufenfolge der Kopf über dem Herzen. Das hat in der Praxis der Anwendung dazu geführt, daß Berufung auf moralische Emotionen niedriger bewertet wird als Berufung auf Maximen, mit der Folge, daß Frauen als die vermeintlich immer gefühlvollen
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Wesen nur bis zu Kohlberg 5 aufsteigen können. Sie teilen dieses Schicksal mit Jesus von Nazareth, der behauptet hat, regelkonformes Verhalten sei vergebens, wenn die Liebe dabei fehle. Das mag ein wenig trösten. Einen letzten Bereich möchte ich noch anführen, in welchem Emotionen eine komplexe, durch den Verstand nicht nachvollziehbare Rolle spielen. Es ist der Bereich der Kunst. Bereits in der Antike wußten die Menschen, daß künstlerische Fähigkeiten etwas Außergewöhnliches sind, das bedeutet, sie sind nicht jedem Menschen gegeben. Ihnen haftet etwas Göttliches an. Sie werden verwaltet von den Musen, neun an der Zahl. Der Dichter Homer ruft in der Ilias wie auch in der Odyssee die Muse an und bittet um Inspiration. Im Bild vom Kuß der Muse ist die Einsicht ausgesprochen, daß ein künstlerischer Einfall nicht auf Befehl sich einstellt. Man kann ihn nicht herbei zitieren ebensowenig, wie die Göttin auf Wunsch herbei eilt. Piaton hat Sokrates in seiner Verteidigungsrede vor Gericht die Künstler kritisieren lassen, weil sie nicht verständig über die Methode ihres Schaffensprozesses sprechen konnten, im Gegensatz zu den Handwerkern, die eine genaue Vorstellung von ihrem Tun hatten. Damit hat Piaton - fälschlich kritisierend - das Problem des Künstlerischen korrekt erfaßt. Was an den Künsten gelehrt werden kann, ist nicht das Künstlerische, sondern das Handwerkliche. Das Künstlerische hingegen, der Einfall, die Inspiration, die Phantasie kann nicht auf Regeln gebracht werden. Der Philosoph Schelling hat diesen Sachverhalt mit der Formulierung umschrieben, die Kunst mache etwas sichtbar, was jenseits des Begriffs liege. Für den Künstler bedeutet das ganz konkret: Er muß auf den Einfall warten. Schon immer haben die Künstler versucht, sich in irgendeiner Weise zu stimulieren, sozusagen die Phantasie freizusetzen, indem sie aus der Gestimmtheit des alltäglichen Lebens entfliehen. Die unterschiedlichsten Rauschmittel, Alkohol, Kaffee, den ζ J3. Balzac in Unmengen zu sich nahm, Tabak, Opium sollten dazu dienen, die Banalität des logischen Denkens hinter sich zu lassen und in künstlerische Extase zu fallen. Bereits in der Antike war bekannt, was der italienische Arzt Cesare Lombroso 1864 in seinem Buch „Genie und Irrsinn" (Genio e follia) zum Thema machte, eine Beziehung zwischen Genialität und Wahnsinn. Im Kunstbetrieb der Spätmoderne ist diese Beziehung zum Gemeinplatz verkommen. Das führt dazu, daß jeder, der glaubhaft ein Genie darstellen möchte, zuerst einmal sich als Exzentriker gebärden muß. Aber die modische Anwendung widerlegt nicht die zugrunde liegende Gegebenheit, daß künstlerische Produktion, aber auch auf der Seite des
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Publikums künstlerisches Erleben Bewußtseinszustände zur Voraussetzung haben, die dem leidenschaftslosen diskursiven Denken, wie es die abendländische Philosophie in ihrem mainstream und die neuzeitliche Wissenschaft betreiben, vollkommen entgegengesetzt sind. Künstlerische Produktion wie auch Rezeption sind beide wesentlich bestimmt durch Spontaneität. Spontaneität der Rezeption und der Urteilsbildung im Bereich der künstlerischen Tätigkeit sind aber nur spezielle Anwendungsgebiete für Fähigkeiten, die insgesamt ein Lebewesen überlebenstauglich machen, denn ein Lebewesen, das angesichts einer auftauchenden Gefahr anfängt zu philosophieren, ist gefressen, bevor es die Wahrheit ergründet hat. Analog verhält es sich mit der Funktion von Gefühlen, Stimmungen, etc., die uns die Welt in ihrer jeweiligen Bedeutung für uns in einer speziellen Situation erschließen. Offensichtlich ist das System der Affekte, über das der Mensch verfügt, kein chaotisches und irrationales System, es hat vielmehr eine lange Evolutionsgeschichte hinter sich, in der es sich bewährt hat. Die kognitiven Fähigkeiten, die den Menschen vor anderen Lebewesen auszeichnen, sind kein Konkurrenzsystem, sondern eine Ergänzung, deren Wirken das Sinnen- und Gefühlswesen Mensch so erfolgreich hat werden lassen. Damit bin ich am Ende meiner Überlegungen und zugleich wieder am Ausgangspunkt bei den Griechen. Meiner Ansicht nach ist die Vorstellung von der Mesotes, der anzustrebenden Mitte zwischen möglichen extremen Gefühlslagen, die vernünftigste Theorie, die die Menschen bisher über sich aufgestellt haben. Dieses Ideal schließt nicht Gefühle aus, unterdrückt sie nicht zugunsten einer dogmatischen Verstandeskultur, sondern gibt einen Sollwert der Ausgewogenheit vor. Damit ist der Mensch weder Sklave seiner Gefühle, noch Sklave des Verstandes.
Anmerkungen 1. Vgl. hierzu: Frans de Waal. Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen. 1989. Dt. Übers. München Wien 1991. De Waal zeigt in seiner Untersuchung an Schimpansen und Bonobos auf, wie differenziert die soziale Kommunikation bei unseren nächsten Verwandten bereits ist. Ohne eine der unseren vergleichbare Lautsprache und ohne Machiavelli gelesen zu haben handeln sie höchst zielbewußt und „diplomatisch". Bei de Waal deutet sich ein Paradigmawechsel des Forschens an. Die Tiere werden bei ihm nicht als
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Exemplare einer Spezies begriffen, sondern als Individuen geschildert, die ihre persönliche Geschichte haben, wie die Menschen auch. 2. 2. Die christlich-abendländische Verdrängung der Sexualität, wie sie im viktorianischen puritanischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde, bildet sogar noch den Hintergrund für die Psychoanalyse. 3. Vgl. hierzu: R. Simon-Schaefer. Monismus oder Dualismus? Das LeibSeele-Problem aus philosophischer Sicht. XIII. Psychiatrietage Königslutter 1995. Hg. Von J.-H. Mauthe. Königslutter 1996. 4. Deutsche Philosophie hat zum Teil überheblich den mangelnden philosophischen Tiefgang des englischen Denkens bemängelt. So war Heidegger der Ansicht, man könne nur in zwei Sprachen philosophieren, auf Griechisch und auf Deutsch. 5. Schopenhauer formuliert sehr plastisch: Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivirte Hunger; die Genitalien der objektivirte Geschlechtstrieb ... Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Band. Zürich 1988.S.162 6. Lawrence Kohlberg. Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M 1996
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Das Zusammenspiel von Fühlen und Denken nach dem Konzept der Affektlogik. Grundthesen und psychiatrisch-psychotherapeutische Implikationen Prof. Dr. Luc Ciompi Ich bedanke mich für die Ehre, hier über das Zusammenspiel von Fühlen und Denken nach dem Konzept der Affektlogik berichten zu dürfen. Allerdings wird es nicht möglich sein, dieses über rund 20 Jahre entwickelte Konzept so differenziert darzustellen, wie ich gerne möchte. Vielmehr muß ich mich damit begnügen, einige für das heutige Thema besonders interessante Aspekte herauszugreifen und im übrigen auf meine Schriften (Ciompi 1986, 1993a,b, 1997b, 1998, 1999) zu verweisen, darunter insbesondere auf das Buch „Affektlogik" (1982) sowie die kürzlich unter dem Namen „Die emotionalen Grundlagen des Denkens" (1997a) erschienene Synthese neuesten Standes, in welcher neben erkenntnistheoretischen, sozialen und ethischen auch psychiatrisch-psychotherapeutische Aspekte anhand von Beispielen ausfuhrlich diskutiert werden. Mit anderen Worten, der affektlogische Ansatz hat sich, ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem Schizophrenieproblem, mit den Jahren zu einer recht umfassenden und, wie ich glaube, in mancher Hinsicht auch recht revolutionären Grundlagentheorie entwickelt, die nicht nur für die Psychiatrie, sondern ebenfalls für die Psychologie und Soziologie von Interesse zu sein scheint. Daß dem so ist, hat mit zwei Umständen zu tun: Einerseits mit der jahrzehntelangen Vernachlässigung von Affekten und ihren Wirkungen auf Denken und Verhalten in den Psycho- und Sozialwissenschaften überhaupt, und andererseits mit der enormen Rolle, die gerade solche Wirkungen zweifellos in fast allen Lebensbereichen spielen. Seit einiger Zeit zeichnet sich hier indes eine Wandlung ab. Das Thema „Emotion" ist in Mode gekommen. Manche sprechen - wohl zu Recht - schon von einer „emotionalen Wende", die die seinerzeitige einseitig kognitive Wende ablöse. Darauf deutet in der Tat nicht
12 nur die aktuelle Flut von Publikationen und Diskussionen - mit Einschluß nicht zuletzt der heutigen Tagung - zu diesem Thema, sondern ebenfalls das rapid wachsende Interesse, das neuerdings auch die neurobiologische Forschung den Emotionen und ihren Wechselwirkungen mit dem Denken entgegenbringt. Auf diesem Hintergrund bringe ich •
erstens einige Grundthesen zum Konzept der Affektlogik
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zweitens beleuchte ich psychopathologische und
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drittens alltagspraktische und therapeutische Aspekte
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und schließe mit einigen allgemeinen Gedanken
Als übergreifender Rahmen dient die allgemeine Systemtheorie mit Einschluß von chaostheoretischen Erkenntnissen zur nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme. Dieser Ansatz ist, verbunden mit Maturanas Konzept der Autopoiese und reziproken psycho-soziobiologisch Koppelung, ausgesprochen intergrativ. Damit möchte die Affektlogik auch einen Beitrag zur Behebung der beklagenswerten Tatsache leisten, daß der Psychiatrie nach wie vor keine fächerüberschreitende Theorie zur Verfügung steht, die offensichtlich zusammengehörige affektive und kognitive, subjektive und objektive sowie soziale und biologische Komponenten praxisrelevant miteinander verknüpfen würde. Zunächst also einige
Grundthesen zum Konzept der AfTektlogik •
Die zentrale These der Affektlogik lautet, daß affektive und kognitive Komponenten - oder Fühlen und Denken, Affekte und Logik - in sämtlichen psychischen Leistungen gesetzmäßig zusammenwirken. Ursprünglich vorwiegend aufgrund von klinisch-psychopathologischen, psychonalytischen und psychologischen Befunden mit Einschluß der Lehren von Piagets postuliert, zeigt neuerdings auch die Hirnforschung vgl. etwa die Publikationen von Damasio (1994), LeDoux (1989, 1996), Roth (1998), Derrybeny (1992), Goleman (1995) - klar, daß Fühlen und
13 Denken, speziell limbisches System und Stirnhirn, ständig aufs engste interagieren. •
Vorab ist indes zu klären, was mit dem Begriff „Affekt" überhaupt gemeint sein soll, denn einheitliche Definitionen gibt es hierzu bisher nicht. In Anlehnung an aktuelle neurobiologische Tendenzen verstehe ich Affekte als globale psycho-physische Gestimmtheiten von unterschiedlicher Dauer, Qualität und Bewußtseinsnähe. Ein Affekt in diesem Sinn ist somit ein Oberbegriff über mehrere ebenfalls uneinheitlich definierte und breit überlappende Termini wie „Emotion", „Gefühl", „Stimmung", „mood" etc. Wichtig ist, daß man so definiert, gar nie affektfrei sein kann, denn irgendwie gestimmt ist man schließlich immer. Selbst sog. „neutrale" Zustände wie Entspannung oder Apathie sind in diesem Sinn noch typische Affekte, die Denken und Verhalten tief, wenn auch meist unbewußt, beeinflussen. Auch „affizieren" Affekte immer auch den ganzen Körper (sie lassen, wie man sagt, „das Herz höher schlagen", „laufen den Rücken herunter", „kriechen über die Leber", oder „machen Schiß"). Sehr ansteckend, entfalten sie zudem selbstähnliche (sog. „fraktale") Wirkungen auf alle möglichen sozialen Ebenen. Dank seiner sowohl subjektiven wie psychosomatischen, neurobiologischen wie soziodynamischen Dimension ist auch der verwendete Affektbegriff somit ausgesprochen intergrativ.
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Unter Kognition (grob: „Denken") ist im Rahmen der affektlogischen Theorie dagegen das Wahrnehmen von sensorischen Unterschieden und deren weitere (neuronale) Verarbeitung, und als Logik im weiten Sinn die Art und Weise zu verstehen, wie solche Kognitionen miteinander verknüpft werden. So gesehen gibt es also nicht nur eine Logik, sondern deren mehrere - ein Schluß, den bekanntlich ebenfalls die moderne Philosophie und Erkenntnistheorie, speziell der Konstruktivismus ziehen.
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Affekt und Kognition und Verhalten verbinden sich aufgrund der Aktion zu operational integrierten Fühl-Denk- und Verhaltensprogrammen (abgekürzt FDV-Programmen). Ein elementares Beispiel hierfür zeigt das Sprichwort: „Gebrannte Kinder fürchten das Feuer". Grundsätzlich nicht anders entstehen aber auch komplexe Übertragungshaltungen etwa im Sinn der Psychoanalyse. Aus einer flexiblen Hierarchie von solchen „Programmen" besteht letztlich die ganze Psyche. Neuroplastisch encodiert, funktionieren erfahrungsgenerierte kontextspezifische FDV-Programme in der Folge wie „affektiv-kognitive Brillen", die alles weitere Wahrnehmen und Denken stark beeinflussen. Mit der Zeit entstehen richtige „affektiv-
14 kognitive Schienen" bzw. person-, gruppen- oder kulturspezifische Fühl-, Denk- und Verhaltenswelten, mit Einschluß von abwegigen FühlDenkentwicklungen aller Art. •
Zentral sind auch ständige sog. Operatorwirkungen von Affekten auf alles Denken und Verhalten: Allen Grundaffekten wie Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude ist gemeinsam, daß sie wie Motoren oder Bremser fortwährend Tempo und Form aller kognitiven Aktivität bestimmen, d.h. die eigentliche Enegetika von Denken und Verhalten sind. Auch steuern sie laufend die Aufmerksamkeit, bestimmen was wichtig/unwichtig ist, speichern selektiv im Gedächtnis und verbinden ähnliche Inhalte wie ein Leim zu größeren Ganzen - also zu einer „Logik" genau im definierten weiteren Sinn. Weit davon entfernt, biologisch unsinnig zu sein, sind Affekte somit wichtigste Komplexitätsreduktoren in der Flut des Begegnenden. Über ihre affektspezifischen Wirkungen geben sie zugleich allem Erleben Sinn und Richtung: Interesse schafft Zuwendung, Angst schafft Distanz und Wut grenzt ab, und Lust und Liebe knüpfen lebenswichtige Bindungen, die bei Verlust Trauer (-arbeit) wieder löst.
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Erfahrung verleiht jeglichem kognitiven Objekt - jedem Ort, jeder Person, Sache, Theorie - eine spezifische Farbe oder Valenz. Ähnlich gefärbte Kognitionen neigen dazu, sich im Sinn unserer Definition zu einer typischen „Angstlogik", „Wutlogik", „Freudelogik", „Liebslogik", „erotischen Logik" etc. zu verbinden. Durch Gewöhnung verflachen zwar ursprünglich starke Emotionen - doch unbewußt steuern sie weiter die ganze scheinbar neutrale „Alltagslogik", d.h. all unsere gewohnten Fühl-Denk-Verhaltensweisen und Vorurteile. So wäre z.B. weder ein gefahrloses Autofahren noch das einfache Queren einer Straße ohne die latenten Effekte einer adäquaten Dosis von Angst, Lust und auch Aggression überhaupt möglich. Genau besehen, steuern Lust und Unlust untergründig selbst noch alles sog. „rationale Denken". Denn stimmige Denkwege sind lustvoll, weil ökonomisch, spannungslösend; Widersprüche dagegen sind „unlustig", weil spannungsvoll, unökonomisch. Ein wirklich „reines Denken" gibt es deshalb nicht einmal in der Mathematik.
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Sog. Grundaffekte wie Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude sind - wie übrigens schon Darwin (1872) erkannt hatte - evolutionär tief verankert. Sie können als unterschiedliche Energieverteilungsmuster auf die verfügbaren Kognitionen oder, chaostheoretisch ausgedrückt, dissipative
15 Strukturen bzw. Fliessgleichgewichte verstanden werden, deren Koppelung mit bestimmten Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmustern überlebenswichtig sind. Diese energetische Betrachtungsweise ist, wie wir noch sehen werden, theoretisch wie praktisch von großer Bedeutung. Wichtig ist indes die folgende Präzisierung: Wenn ich von Energie rede, so meine ich nicht irgendwelche mysteriöse „Lebensenergie" oder sonst etwas wissenschaftlich schwer Faßbares, sondern handfeste Bioenergien, wie sie in Hirn und Körper zunehmend meß- und lokalisierbar sind. Bei Angst, Wut, Trauer z.B. sind ganz bestimmte zerebrale Zentren aktiv, die ihrerseits den Körper energetisch umstimmen. Von hier bis zur affektspezifischen Erfassung des zerebralen wie peripheren Energiehaushalts ist, sollte sich diese Sichtweise durchsetzen, nur noch ein Schritt.
Psychopathologische Implikationen Der affektlogische Ansatz führt, insbesondere in Verbindung mit chaostheoretischen Erkenntnissen und dem Begriff der Autopoiese dazu, affektiven Kräften in der Psychopathologie und Psychodynamik im weitesten Sinn einen weit zentraleren Stellenwert einzuräumen, als dies gängigerweise der Fall ist. Wenn Affekte spezifische energetische Zustände sind, die Kognition und Verhalten sowohl aktivieren wie auch - vorwiegend unbewußt, d.h. mit ökonomischen Mikroenergien - kontextgerecht organisieren und hierarchisieren, so sind nicht nur Zustände, bei denen Emotionen klar im Vordergrund stehen - also in der Psychopathologie etwa die sog. Affektiven Psychosen -, sondern überhaupt alle Psychodynamismen affektgesteuert. Mit anderen Worten, die gesamte Psychopathologie erscheint in neuem Licht einem Licht übrigens, das an sich keineswegs so neu ist, wie es scheinen mag: Schon Heinroth, Ideler und andere Autoren des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch wieder Maier, Jung und Bleuler, später in z.T. durchaus ähnlicher Weise wie ich selber auch schon Janzarik wandelten auf verwandten Spuren. In seinem Werk über „Affektivität, Subjektivität, Paranoia" (1926) bezeichnete Eugen Bleuler sogar die Affekte ausdrücklich als „Grundlage aller Psychopathologie und Psychotherapie". Aber auch aktuelle Forscher wie Flack und Laird (1998) in den USA oder Machleidt (1992, 1994) in Deutschland bewegen sich auf der gleichen Linie.
16 Im erwähnten Buch über „Die emotionalen Grundlagen des Denkens" (Ciompi 1997) habe ich versucht, die Schlüsselrolle von Affekten anhand von Beispielen quer durch die ganze Psychopathologie zu analysieren, von den reaktiven und neurotischen Entwicklungen über Persönlichkeitsstörungen und Suchtkrankheiten bis zu den großen Psychosen, ja zu organischen Erkrankungen. Aus Zeit- und auch Anschaulichkeitsgründen konzentriere ich mich hier auf die manisch-depressiven und schizophrenen Psychosen. Dass die Affektivität bei ersteren eine zentrale Rolle spielt, ist derart evident, daß ihre Einteilung als „affektive Psychosen" m.W. nie auch nur in Frage gestellt wurde. Dem Leitsyndrom der euphorisch-manischen oder traurigen Verstimmung ordnen wir sämtliche psychopathologischen Veränderungen mit Einschluß, bedeutsamerweise, von Denk- und Sprachstörungen, ja sogar von sog. katathymen wahnhaft-halluzinatorischen Phänomenen ohne Bedenken nicht nur zu, sondern auch unter. Mit andern Worten, bei den manischdepressiven Psychosen sind wir - ganz gleich übrigens wie bei den Stimmungsschwankungen Gesunder - ohne weiters bereit, der Affektivität genau die energetisch-organisatorischen Wirkungen auf Denken und Verhalten zuzuerkennen, die ihr nach der Theorie der Affektlogik generell zukommen. Ganz anders dagegen bei der Schizophrenie, die deswegen auch - meines Erachtens zu Unrecht - als primär kognitive bzw. nicht-affektive Psychose gilt. Störungen des Denkens werden hier - eigentlich aus unerfindlichen Gründen als primär, sog. „begleitende" Affektveränderungen dagegen als „sekundär" verstanden. Dies obwohl zumindest in der akuten Schizophrenie Affekte wie Angst, Wut Panik, ekstatische Glücksgefuhle, tiefe Trauer oder Apathie mindestens so sehr im Vordergrund stehen wie Denkstörungen. Umgekehrt fehlen, wie schon vermerkt, massive kognitive Auffälligkeiten auch in den „affektiven Psychosen" keineswegs. Vor allem aber finden wir ebenfalls in der Schizophrenie, bei Licht besehen, meist durchaus den selben Parallelismus wie in Manie und Melancholie zwischen dem affektiven Zustand einerseits und dem Denken andererseits - und dies nicht nur in den chronischen Stadien, in denen mit der affektiven Verflachung eine ganz gleichsinnige Verarmung des Denkens wie Verhaltens einhergeht, sondern ebenso in der akuten Psychose, in welcher Denken und Verhalten unter dem Einfluß etwa von Angst oder Panik, von Wut, Glück oder Trauer durchaus affektkonform verändert sind. Mit einer entsprechenden Affektlabilität gehen ebenfalls die schizophrenen Kardinalsymptome der Ambivalenz und Zerfahrenheit praktisch immer einher. Entgegen geläufigen Meinungen driften also Emotion und Kognition in der Schizophrenie in der Regel keineswegs auseinander. Sogar bei den hierfür angeblich typischen
17 Parathymien - z.B., wenn ein Kranker eine traurige Botschaft mit Lachen statt Weinen quittiert - zeigt die genaue Exploration fast immer, daß dieses Lachen durchaus „Sinn machte", d.h. geheimen Gegengedanken entsprach. Richtig ist dagegen, daß in der Schizophrenie die Verbindungen zwischen Emotion und Kognition sehr viel labiler sind als bei den diesbezüglich abnorm stabilen „affektiven Psychosen", wo entweder gehobene oder traurige Affekte Denken und Verhalten wochenlang bestimmen können. Gerade diese übergroße Labilität von affektiv-kognitiven Bindungen - und nicht das Affekt- oder Kognitionsprimat - ist aus affektlogischer Sicht der pathogenetisch wohl wesentlichste Unterschied zwischen der Schizophrenie einerseits und der Manie und Depression andererseits. Auch die schizophrene Vulnerabilität dürfte, ganz im Gegensatz zum bekanntlich oft rigid-obsessionellen„typus melancholicus" nach Tellenbach (1983), eng mit einer solchen - teils wohl genetisch und teils lebensgeschichtlich bedingten - Labilität von wichtigen affektiv-kognitiven Zuordnungen zusammenhängen: Wenn Werte und Beziehungen, Rollen und Identitäten in ihrer affektiven Valenz nicht mehr hinreichend feststehen, wird die Welt unsicher, unzuverlässig. Es bleibt viel Raum für Angst, Mißverständnis, überschießende Reaktionen und wahnhafte Interpretationen. Zusätzlichen emotionalen Belastungen ist ein solches „Terrain" schlecht gewachsen. Speziell unter den großen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz (Ablösung vom Elternhaus, Berufs- und Partnerwahl, Sexualität usw.) kann es zum Zusammenbruch der ganzen bisherigen Fühl-Denk-, und Verhaltensmuster bis zum mehr oder weniger plötzlichen „Überschnappen" in etwas Neues, nämlich in die Psychose kommen. Gerade auch in Bezug auf diesen rätselhaften Phasensprung bringt die affektenergetische Betrachtung neue Einsichten. Wenn wir das Alltagsdenken und -verhalten als ein zwar gut eingeschliffenes, aber doch bei Gefährdeten untergründig labiles Muster von Verbindungen von spezifischen Emotionen und Kognitionen verstehen, so imponiert der „Sprung in die Psychose" als nichtlinearer Umschlag von einem globalen Fühl-Denk- und Verhaltensmuster einer selbstorganisatorischen „dissipativen Struktur" im Sinn von Prigonine et al. (1983) - in ein anderes. Nach Hermann Haken, dem Begründer der Synergetik, erfolgen solche Sprüngen bei kritischer Veränderung von bestimmten sog. Kontrollparametern (beim Laser z.B. der Energiezufuhr, beim Wetter der Temperatur oder Luftfeuchtigkeit), und die neu sich bildenden Muster entstehen unter dem „versklavenden" Einfluß von sog. Ordnungsparametern in Form von vorher randständigen, nun aber plötzlich dominant werdenden Strukturelementen. Sowohl die klinische Beobachtung wie
18 auch die ganze sog. „Expressed emotion-Forschung" (Leff et al. 1985; Kavanagh 1992) sprechen dafür, daß kritisch steigende emotionale Spannungen beim Umschlag vom Normalverhalten zur Psychose wichtige Kontrollparameter sind, während zunächst bloß periphere Wahnelemente zu alles „versklavenden" Ordnungsparametern aufrücken können, um die herum sich alsbald ein ganzes Wahnsystem aufbaut. Wiederum ein typisches Wechselspiel zwischen Emotion und Kognition also, das nun aber nicht nur ein einzelnes Fühl-Denkelement oder eine einzelne „affektiv-kognitive Schiene", sondern das Fühl-DenkVerhaltenssystem als Ganzes betrifft.
Alltagspraktische und therapeutische Konsequenzen Es liegt wohl auf der Hand, daß die mit dem Konzept der Affektlogik versuchte Neubewertung der dynamischen Rolle der Affekte in allem Denken und Verhalten vielfaltige praktische und auch therapeutische Implikationen hat. Die Zeit reicht nicht aus, um sie mehr als kursorisch zu skizzieren. Im Alltag sind affektive Komponenten insbesondere in jeder Art von Kommunikation hochwichtig, vom banalen Treppenschwatz über das Vorstellungs- oder Verkaufsgespräch bis zu Politik und Wirtschaft (nicht umsonst haben Kurse fur Manager über „emotionale Intelligenz" zur Zeit Hochkonjunktur). Auch die Reklame macht sich die Wirkung von Affekten auf Denken und Verhalten längst raffiniert zunutze. Überall gilt, daß ohne eine gemeinsame „emotionale Wellenlänge" eine erfolgreiche Kommunikation, bei der beim Empfänger etwa das ankommt, was der Sender beabsichtigt, kaum möglich ist. Dies ist ebenfalls in der Pädagogik zentral. Wenn die Stimmimg beim einen Kommunikationspartner (insbesondere beim dominanten) aggressiv gespannt ist, so werden beim anderen fast unweigerlich ähnliche Gefühle mitsamt den zugehörigen Gedanken und Bildern geweckt und umgekehrt, mit entsprechender Verengung von Aufmerksamkeit und Gedächtnis, während beide in freundlich entspannter Stimmung sich füreinander weit öffnen. Jeder erfahrene Vertreter, und erst recht jeder Politiker und Redner weiß, welch enorme Bedeutung der „emotionalen Einstimmung" vorgängig jeder Sachdiskussion zukommt - wobei nicht zu vergessen ist, daß nach unserer Definition auch betonte Ruhe und Sachlichkeit einer spezifischen Stimmung mit starken Wirkungen auf Denken und Verhalten gleichkommt. Wichtig ist ferner, daß zur Information im Wortsinn bevorzugt nur solche Inhalte werden, die auch affektiv leicht an die vorbestehenden Fühl-Denk-Verhaltenspro-
19 gramme des Empfängers „angedockt" werden können: Wenn ich davon überzeugt bin, daß alle Juden oder Araber, oder Weißen oder Schwarzen, oder was immer grundsätzlich Gangster sind, werde ich alles, was zu diesem Vorurteil paßt, begierig aufnehmen, alles Gegenläufige dagegen verdrängen. Auch Information ist also, entgegen dem Dogma, keineswegs rein kognitiv, sondern eminent affektiv-kognitiv. All dieses gilt natürlich ebenfalls, und sogar in besonderem Masse, für die Psychiatrie und Psychotherapie. Der „emotionalen Atmosphäre", in welcher eine psychiatrische Behandlung stattfindet, kommt sehr viel mehr Bedeutung zu, als uns bisher vielleicht bewußt war. Gerade auch die schon erwähnte - und übrigens neuerdings weit über das Feld der Schizophrenie hinaus expandierende - Expressed emotion - Forschung hat gültig nachgewiesen, daß emotionale Spannungen keineswegs bloß unspezifische Begleitumstände einer psychischen Störung sind, sondern zum Umschlag etwa von Angst zu Aggression, von Liebe zu Haß, vom Alltagsverhalten zu Psychose im Sinn von Kontrollparametern oft entscheidend beitragen. Mangelnde Transparenz, Diskontinuität, Lärm, Gewalt und Durcheinander sind - speziell ftir vulnerable Schizophrene - antitherapeutisch. Nicht nur die menschliche Atmosphäre, sondern auch die ganze Organisation, die Raum- und Milieugestaltung und vor allem die Größe einer therapeutischen Abteilung bedarf deshalb im Lichte dieser Erkenntnisse der Neubewertung. Besonders wichtig scheint außerdem, daß der emotionale Faktor künftig auch bei Effizienzstudien aller Art, insbesondere aber bei Medikamentenvergleichsuntersuchungen gebührend kontrolliert wird, da sonst vielfach verzerrte Resultate zu erwarten sind. In unserem nunmehr seit 15 Jahren laufenden Soteria-Projekt - über das ich leider jetzt nichts Genaueres berichten kann - haben wir nachweisen können (Ciompi et al. 1991, 1993), daß Akutschizophrene in einem emotional systematisch entspannend gestalteten Milieu für gleiche Therapieresultate 3-5 mal weniger Neuroleptika benötigen als eine im üblichen Spitalmilieu behandelte Vergleichspopulation. Dies bedeutet, überspitzt formuliert, daß ein entspannendes Milieu neuroleptikaartig wirkt - freilich ohne die entsprechenden Nebenwirkungen. Umgekehrt legt dieser Befund auch nahe, daß Neuroleptika primär auf die Emotion und erst sekundär auch auf die Kognition einwirken - eine klinisch und neurobiologisch vielfach gestützte Hypothese, die innovative Möglichkeiten der Komplementarität und Kombination zwischen Pharmakotherapie, Psychotherapie und Milieutherapie zugänglich macht.
20 Eine andere „therapeutische Schiene", zu der die Affektlogik neue Zugänge eröfihet, läuft über den Körper im weitesten Sinn, d.h. über alle Arten von Körpertherapien, Bewegungstherapien, Tanz- und Sporttherapien etc. Sie ergibt sich zwingend aus dem Verständnis von Affekten als umfassende körperlichpsychische (und nicht nur psychische) Gestimmtheiten bzw. energetische Zustände mit vielfaltigen Operatorenwirkungen auf Denken und Verhalten. Mehr als dieser kurze Hinweis ist hier nicht möglich; für eine weitere Vertiefung derselben Themen kann ich nur nochmals auf mein Buch oder auch meinen heutigen Workshop verweisen. Ich komme zu einigen
abschließenden allgemeinen Gedanken Affekte spielen nach meiner Oberzeugung in aller Psychodynamik eine energetisch-organisatorische Schlüsselrolle. Die Psychiatrie des 21. Jahrhunderts wird sicher fähig werden, solche Affektenergien zu lokalisieren, zu quantifizieren und damit auch gezielter zu dosieren. Wenn man die Psyche, wie ich es vorschlage, als ein hochkomplexes System oder Fließgleichgewicht von (vorwiegend) aktionsgenerierten operationalen Fühl-Denk-Verhaltensprogrammen auffaßt, das sich im Dienste des Überlebens des Gesamtorganismus ständig autopoietisch regeneriert, so kann man psychiatrische Therapie jeder Art nicht mehr als ein „Flicken" von Einzelelementen dieses Systems konzipieren. Vielmehr muß es darum gehen, als (zu) krankhaft bzw. leidvoll imponierende selbstorganisierende Fließgleichgewichte durch kombiniert psychologische, psychologische, soziale und biologische „Verstörung" gesamthaft zu verändern. Ein guter Weg, erwünschte Veränderungen kontinuierlich oder in Form von nichtlinearen Phasensprüngen zu provozieren, ist die gezielte Beeinflussung wichtiger Kontrollparameter (z.B. der psychischen Umgebungsspannungen) nebst der gezielten Einfuhrung von neuen Ordnungsparametern. Verschwindet, wie Scharfetter (1999) kürzlich befürchtete, bei einer solchen vielleicht allzu mechanistisch-futuristisch anmutenden Sichtweise das wichtigste, nämlich „das Ich", die „Person", die „irreduktible Subjektivität" ganz aus dem Blickfeld? - Mitnichten: Sie steht, auch wenn es offensichtlich keinen Dirigent des zerbralen Orchesters im Sinn einer sog. „Großmutterzelle"
21 gibt, weiter als Rätsel hinter allem. Denn mit was anderem als gerade mit diesem rätselhaften „Ich" wären wir denn in der Lage, wissenschaftliche Hypothesen wie die vorgebrachten sowohl zu konzipieren wie auch - hoffentlich positiv - zu beurteilen?
Literatur Bleuler, E.: Afifektivität, Subjektivität, Paranoia. Carl Marhold, Halle 1926 Ciompi, L.: Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart, Klett-Cotta 1982 Ciompi, L.: Zur Integration von Fühlen und Denken im Licht der „Affektlogik". Die Psyche als Teil eines autopoietischen Systems. In: Psychiatrie der Gegenwart, Bd 1, Springer, Berlin-Heidelberg-New York-Tokyo S. 373410, 1986 Ciompi, L.: Die Affekte als zentrale Organisatoren der Psyche. Zum psychosozio-biologischen Integrationsmodell der Affektlogik und seinen Konsequenzen. System Familie 6: 196-208, 1993b Ciompi, L.: Die Hypothese der Affektlogik. Spektrum der Wissenschaft 2: 7682, 1993 b Ciompi, L.: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1997a Ciompi, L.: Is schizophrenia an affective disease? The hypothesis of affect-logic and its implications for psychopathology. In: Flack W.F., Laird J.D. (eds) Emotions in psychopathology: theory and research. Oxford University Press, New York Oxford 1998, pp. 283-297 Ciompi, L.: Affekte als grundlegende Organisatoren des Denkens: Argumente für die Affekthypothese der Schizophrenie aus der Sicht der „fraktalen Affektlogik", In: Machleidt, W,. Haltenhof, H., Garlipp, P., Schizophrenie, eine affektive Erkrankung? Schattauer, Stuttgart-New York 1999 Ciompi, L., Dauwalder, H.P., Maier, CH., Aebi, E.: Das Pilotprojekt „Soteria Bern" zur Behandlung akut Schizophrener. I. Konzeptuelle Grundlagen, praktische Realisierung, klinische Erfahrungen. Nervenarzt 62: 428-435, 1991 Ciompi, L., Kupper, Z., Aebi, E., Dauwalder, H.P., Hubschmidt, T, Trütsch, K., Rutishauser, Ch.: Das Pilotprojekt „Soteria Bern" zur Behandlung akut
22 Schizophrener. II. Ergebnisse einer vergleichenden prospektiven Verlaufsstudie über 2 Jahre. Nervenarzt 64: 440-450, 1993 Damasio, Α.: Descartes'error. Emotion, reason and the human brain. Avon Books, New York, 1994 Darwin, C.R.: The expression of emotion in man and animals. University Chicago Press, Chicago, 1965 (1872) Derryberry, D., Tucker, D. M.: Neutral mechanismes of emotion. J. of Consulting and Clinical Psychology 60: 329-338, 1992 Flack, W.F., Laird, J.D. (eds) Emotions in psychopathology: theory and research. Oxford University Press, New York Oxford 1998 Goleman, D.: Emotional Intelligence. Why it can matter more than IQ. Bantam, New York, 1995 Haken, Η.: Evolution of order and chaos. Springer, Berlin 1982 Haken, Η.: Synergetics. An introduction. Springer, Berlin 1990 Hatfield, E., Cacioppo, J.T., Rapson, R.I.: Emotional contagion. Cambridge University Press, Paris, 1994 Janzarik, W.: Dynamische Grundkonstellationen in endogenen Psychosen. Springer, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1959 Janzarik, W.: Strukturdynamische Grundlagen der Psychiatrie. Enke, Stuttgart, 1988 Kavanagh, D.J.: Recent develeopments in expressed emotion and schizophrenia. Brit. J. Psychiat. 160:601-620, 1992 Kuhn, Th.S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp Taschenbuch 1979 (1962) LeDoux, J.E.: Cognitive-emotional interaction in the brain. Cognition and Emotion 3: 267-289, 1989 LeDoux, J.: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. Hanser, München-Wien 1998. (The emotional brain. The mysterious underpinnings of emotional life. Simon ans Schuster, New York 1996) Lefif, J., Vaughn, C : Expressed emotions in families. Ist significance for mental illness. Guilford Press, New York -London 1985 Machleidt, W.: Typology of functional psychosis - new model on basic emotions. In: Ferrerò, F.P., Haynal, A.E., Sartoriu, N. (eds): Schizophrenia and affective psychoses. Nosology in contemporary psychiatry. John Libbey CIC. Pp 97-104, 1992 Machleidt, W.: Ist die Schizophrenie einen affektive Erkrankung?. Psycholog. Beiträge 36: 348-378, 1994 Maturana, H. (Hrsg.) Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Roth, G.: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive
23 Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1994 Scharfetter, Chr.: Das eine Bewusstsein mit den Funktionen Affekt und Kognition - Anfragen eines Psychopathologen. Vortrag am Symposium „Affekte und psychische Störungen. Die fraktale Affektlogik im Diskurs", organisiert von den Universitären Psychiatrischen Dienste Bern, Oktober 1999 Prigogine, I., Stengers, I., Order our of chaos. Heinemann, London 1983 Tellenbach, H. (1961): Melancholie. 4. Aufl. Springer, Berlin-Heidelberg-New York-Tokyo, 1983 Wimmer, M.: Evolutionary roots of emotion. Evolution and Cognition 1:38-50, 1995
24
Beeinflussung von Affekt und Kognition durch synthetische Drogen: Konsummotive, Konsumkontexte und Auswirkungen des Konsums Kurzbericht über den von PD Dr. Rainer Thomasius gehaltenen Vortrag
Dr. Angela Wagner Der Vortrag von PD Dr. R. Thomasius aus Hamburg beschäftigte sich mit der Droge Ecstasy. Noch 1995 gab es kaum Erkenntnisse über den Konsum dieser Droge. Erste Untersuchungen zeigen, daß mehr Männer als Frauen konsumieren und daß das Einstiegsalter bei 18 - 19 Jahren liegt. Hauptsächlich wird die Droge in Diskotheken genommen, aber auch der häusliche Konsum nimmt zu. Etwa ein Drittel der Probanden konsinniert ein- bis dreimal pro Monat. Die Motive sind: Es ist aufregend, Glücksgefuhle, erweiterte Wahrnehmung, wobei zwei Drittel aus Neugier einsteigen. 90 % der Konsumenten kombinieren mit Marihuana oder Haschisch, 73 % mit Amphetaminen. Die Droge wirkt auf das serotonerge System. Die psychologische Wirkung besteht aus: psychotropen Akutaffekten, verbesserte Introspektion, Stimulationen, Aufmerksamkeitsfokussierungen. Die Inhaltsstoffe von Ecstasy wechseln stark. Der Konsument kann nicht erkennen, was er zu sich nimmt. Anhaltende Folgeerscheinungen durch Ecstasy sind atypische Psychosen, Affektverflachung, Denkstörungen, Kontaktstörungen. Neurologisch können u. a. Krampfanfalle, Hirninfarkte, Hirnblutungen, Hirnthrombosen auftreten. Internistisch ist bedeutsam die Trias Überhitzung, Blutgerinungsstörungen und akutes Nierenversagen. Dauerkonsumenten sind am stärksten betroffen.
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Bei Hochdosierten gibt es signifikante Unterschiede bezogen auf die Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung und Abwehr im Vergleich zu Gelegenheitskonsumenten. 50% aus der Gruppe der Dauerkonsumenten haben psychotische Störungen. In der Kontrollgruppe ohne Ecstasy beträgt der Anteil 4,9%. Das Resümee von Dr. Thomasius ist, Ecstasy ist gesundheitsschädigender als bisher angenommen wurde.
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Die Auswirkungen von Angst und Streß auf das Gehirn: von der psychischen Krise zur psychischen Erkrankung Gerald Huether
Einleitung Erst seit wenigen Jahren haben auch die Hirnforscher damit begonnen, die Verschaltungen zwischen den für die Entstehung emotionaler Störungen zuständigen neuronalen Netzwerken in den ontogenetisch und phylogenetisch älteren limbischen Hirnregionen und den für kognitive Verarbeitungsprozesse zuständigen neocortikalen Netzwerken genauer zu untersuchen. Dabei sind sie auf intensive reziproke Verschaltungen zwischen den limbischen Gebieten (cingulärer Cortex, Hypothalamus, Hippocampus und Amygdala) und einer Vielzahl anderer Hirnstrukturen (im Hirnstamm, im Striatum, im paralimbischen und neocortikalen Regionen) gestoßen (Carmichael und Price, 1995; Pandya und Yeterian, 1996). In Tierversuchen konnte gezeigt werden, daß diese komplexen Verschaltungen entscheidend an der Regulation motivationaler, affektiver und emotionaler Reaktion beteiligt sind (Rolls, 1990; Dias et al., 1996). Sie bilden offenbar auch beim Menschen das neurobiologische Substrat, das für die Integration äußerer und innerer Zustandsbilder verantwortlich ist und die gleichzeitige sensorische, cognitive und autonome Verarbeitung und Verankerung emotionaler Erfahrungen ermöglicht (Tucker et al., 1995; Damasio, 1996). Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse wird die Informationsverarbeitung im ZNS heute als ein gleichzeitig seriell und parallel ablaufender Prozeß der Aktivierung bzw. Hemmung multifokaler, eng miteinander verschalteter neuronaler Netzwerke verstanden. Jedes dieser Netzwerke besitzt strukturell festgelegte Verschaltungsmuster mit anderen Netzwerken, die im Verlauf der Individualentwicklung herausgebildet und zeitlebens durch die Art ihrer Nutzung umgeformt und überformt werden („experience-dependent plasticity").
27 Die Aktivität und die Effizienz der in verschiedenen Bereichen des ZNS operierenden, lokalen Netzwerke wird durch „überregionale" Systeme mit weitreichenden und ζ. T. überlappenden Projektionen beeinflußt und aufeinander abgestimmt („harmonisiert", vgl. Übersicht in Mesulam, 1990; Spoont, 1992). Diese Systeme unterscheiden sich - aufgrund der unterschiedlichen Reichweite ihrer Projektionen - durch das Ausmaß der von ihnen erzeugten „globalisierenden" Wirkungen sowie - aufgrund der unterschiedlichen Wirkungen der von ihnen benutzten Signalstoffe (Azetylcholin, Catecholamine, Histidin, Peptide, Serotonin) - auch hinsichtlich der von ihnen jeweils ausgelösten Effekte. Manche dieser überregionalen, harmonisierenden Transmittersysteme sind tagsüber ständig aktiv und kaum durch äußere Faktoren beeinflußbar (z.B. serotonerges System, vgl. Übersichten in Jacobs und Fornai, 1991; Jacobs und Azmitia, 1992). Andere werden erst mit der Wahrnehmung neuartiger Reize aktiviert (noradrenerges System, vgl. Übersichten in Moore und Bloom, 1979; Cole und Robbins, 1992). Neben ihrer Funktion als Modulatoren der in weit auseinanderliegenden lokalen Netzwerken generierten neuronalen Aktivität haben diese großen, globalen Transmittersysteme eine weitere trophische, stabiliserende Funktion: Die in den distalen Projektionsgebieten ausgeschütteten Transmitter stimulieren die Produktion und Freisetzung von Wachstumsfaktoren durch benachbarte Asterocyten und nachgeschaltete Nervenzellen und tragen in jeweils charakteristischer Weise zur Stabilisierung bzw. Bahnung der in den und zwischen den lokalen Netzwerken angelegten synaptischen Verschaltungen bei. Die Ausreifung und Ausformung dieser globalisierenden Transmittersysteme ist in besonderem Maße während der frühkindlichen Entwicklung, aber wohl auch noch im erwachsenen Hirn durch verschiedene Faktoren beeinflußbar (psychosoziale Belastungen, Psychopharmaka, vgl. Huether, 1998, Wegerer et al., 1999). Diese Vorstellungen über die Bedeutung von Gefühlen und individuellen Bewertungen auf zentralnervöse Verarbeitungsprozesse sowie über die Rolle globalisierender Transmittersysteme für die integrative Regulation der in regionalen Netzwerken generierten neuronalen Aktivitäen markieren ein neues Denken, das sich innerhalb der neurobiologisch orientierten Psychiatrie auszubreiten beginnt. Wer die neurobiologische Forschung der letzten Jahre aufmerksam und kritisch verfolgt hat, wird festgestellt haben, daß sich in diesem Bereich eine Wandlung vollzieht, etwas, das von Karl Jaspers „Achsenzeit" und von Thomas Kuhn „Paradigmenwechsel" genannt worden ist. Alte, bisher für richtig gehaltene, bisweilen sogar als Dogma vertretene und von
28 anderen Disziplinen übernommene und dort zu Theoriebildung benutzte Ansichten beginnen allmählich aufzuweichen: Jahrzehntelang war man davon ausgegangen, daß die während der Hirnentwicklung ausgebildeten, neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen unveränderlich seien. Heute weiß man, daß das Gehirn zeitlebens zur adaptiven Modifikation und Reorganisation seiner einmal angelegten Verschaltungen befähigt ist. Fast ebenso lange wurden die Gliazellen, insbesondere die Astrozyten als eine passive Kitt- und Hüllsubstanz für die Neurone betrachtet. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß diese Astrozyten nicht nur weitaus zahlreicher sind als die Neurone, sondern daß sie in entscheidender Weise an der Regulation des Wirkungsraumes und des Wirkungsradius von Nervenzellen beteiligt sind, daß sie miteinander und mit den benachbarten Nervenzellen in engster Weise kommunizieren, daß plastische Umbauprozesse im ZNS wesentlich durch astrozytäre Wachstumsfaktoren und astrozytäre Veränderungen des „Mikroenvironments" benachbarter Nervenzellen gesteuert werden. Noch bis vor wenigen Jahren war man der Ansicht, daß Nervenzellen für die synaptische Erregungsübertragung nur einen einzigen, ganz bestimmten Transmitter benutzen. Heute weiß man, daß in den präsynaptischen Vesikeln ein ganzer Cocktail unterschiedlichster Signalstoffe bereitgehalten und bei elektrischer Stimulation ausgeschüttet wird. Lange Zeit glaubte man, daß die von den Axonterminalen einer Nervenzelle bei elektrischer Stimulation freigesetzten Substanzen lediglich der synaptischen Signalübertragung dienten. Inzwischen ist auch diese Vorstellung längst überholt. Die einst ausschließlich als Neurotransmitter angesehenen und deshalb so bezeichneten Substanzen dienen eben nicht nur der chemischen Signalübertragung, sondern wirken in einem viel umfassenderen Sinn als Neuromodulatoren, als trophische Signalstoffe, als Gewebshormone, als Stabilisatoren und Organisatoren neuronaler Netzwerke sowie als Regulatoren der Genexpression sowie des Ionen- und Energiehaushaltes von Nerven-, Glia- und Endothelzellen im ZNS. Jahrzehntelang ging man davon aus, daß Nervenzellen für die Erregungsweiterleitung nur die typischen in den Lehrbüchern abgebildeten Synapsen verwenden. Heute wissen wir, daß bestimmte Nervenzellen, unter anderem auch die serotonergen Neurone der Raphe-Kerne, eine Unmenge freier Nervenendigungen, sog. Parasynapsen besitzen, die ihren
29 Botenstoff einfach so, wie ein Hormon in den extrazellulären Raum ausschütten, wo dieser mit unterschiedlichsten Rezeptoren benachbarter Nerven- und vor allem auch Gliazellen interagiert. Vor Jahren konnte sich noch kein Hirnforscher vorstellen, daß psychosoziale Einflüsse in der Lage wären, die Struktur des Gehirns in irgendeiner Weise zu verändern. Heute sind die meisten von ihnen davon überzeugt, daß die im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen strukturell im Gehirn verankert werden. War man bisher stillschweigend davon ausgegangen, daß der Mensch sein großes Gehirn zum Denken besitzt, so haben Forschungsergebnisse der letzten Jahre nicht nur deutlich gemacht, daß das Gehirn auch einen Körper hat, ihn braucht und von ihm abhängt, sondern daß der Bau und die Funktion des menschlichen Gehirns in besonderer Weise fur Aufgaben optimiert sind, die wir unter dem Begriff „soziale Interaktionsfahigkeit" zusammenfassen. Unser Gehirn ist demnach weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan. Fast ein ganzes Jahrhundert lang wurde heftig darüber gestritten, ob das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen stärker von angeborenen Verhaltensprogrammen oder von den im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen bestimmt wird, ob psychosozialen und psychodynamischen Aspekten eine entscheidendere Bedeutung für die Herausbildung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale wie auch für die Entstehung psychischer Störungen zukommt als den sogenannten biologischen Aspekten, ob für die Manifestation psychischer Auffälligkeiten eher genetische oder aber vor allem epigenetische Faktoren verantwortlich zu machen sind. Heute setzt sich auf Seiten der Verfechter der psychischen und psychosozialen Determiniertheit menschlichen Verhaltens allmählich die Einsicht durch, daß das Fühlen, Denken und Handeln des Menschen eine materielle, d.h. neurobiologische Grundlage hat. Andererseits müssen die Anhänger der biologischen Determiniertheit psychischer Erscheinungen inzwischen eingestehen, daß sowohl für die Stabilisierung der genetischen Anlagen innerhalb der Population wie auch für die Herausbildung bestimmter neuronaler bzw. synaptischer Verschaltungsmuster die intrapsychische Verarbeitung psychosozialer Erfahrungen zumindest beim Menschen von erheblicher Bedeutung ist. Viele dieser neuen, in ihren Auswirkungen auf andere, anwendungsbezogene Bereiche der Neurowissenschaften kaum abschätzbaren Erkenntnisse der neuro- und psychobiologischen Grundlagenforschung des
30 ausklingenden 20. Jahrhunderts sind mit der Flut wissenschaftlicher Publikationen an Psychiatern, Neuropharmakologen, Psychologen und Psychotherapeuten bis heute weitgehend unbemerkt vorübergerauscht. „Experience-dependent plasticity", „long-term potentiation", „trophic factors", „parasynaptic" oder „volume transmission", oder gar so etwas wie „the social construction of the human brain" sind im Sprachgebrauch der potentiellen Nutzer dieser Erkenntnisse noch immer Fremdworte geblieben. Besonders deutlich läßt sich dieser, in der neurologisch-psychiatrischen Grundlagenforschung seit einigen Jahren stattfindende Paradigmenwechsel am Beispiel der Auswirkungen psychischer Belastungen auf das Gehirn illustrieren.
Die wichtigsten Auslöser von Angst und Streß beim Menschen Die stammesgeschichtlich älteren Anteile und Mechanismen der neuroendokrinen Streßreaktion des Menschen sind weitgehend mit denen aller anderen Säugetiere identisch. Die Wahrnehmung neuartiger und durch assoziative Verarbeitung als bedrohlich eingestufter Reizkonstellationen geht mit der Generierung eines unspezifischen Aktivitätsmusters in gedächtnisspeichernden, assoziativen kortikalen und subkortikalen Strukturen einher. Eine besondere Rolle spielt hierbei der präfrontale Cortex, eine Region die insbesondere für die Interpretation sensorischer multimodaler Eingänge und für antizipatorische Phänomene verantwortlich ist. Die Aktivierung dieser assoziativen Cortexareale bewirkt die Generierung eines charakteristischen Aktivierungsmusters im limbischen System. Innerhalb des limbischen Systems ist die Amygdala von besondere Bedeutung, da hier die eingehenden Erregungsmuster durch Aktivierung angeborener, phylogenetisch alter neuronaler Netzwerke mit einer affektiven Qualität versehen werden (Davis, 1992). Durch absteigende Projektionen insbesondere zu den noradrenergen Kerngebieten im Hirnstamm kommt es zur Aktivierung noradrenerger kortikaler, limbischer und hypothalamischer Projektionen und zur Stimulation des peripheren sympathischen und adrenomedullären Systems (Lachner et al. 91; Zigmond et al. 1995). Aufsteigende Fasern dieser noradrenergen Neurone verstärken die Aktivierung im Bereich der Amygdala und der hypothalamischen Kerngebiete, sowie - über Aktivierung mesokortikaler dopaminerger Projektionen - im Bereich des präfrontalen Cortex (Moore & Bloom, 1979). Auf diese Weise entsteht ein sich aufschaukelndes Erregungsmuster zwischen Cortex, limbischem System und den zentralen noradrenergen Kerngebieten, das - wenn
31 es nicht durch andere Eingänge unterdrückt wird - zur Aktivierung der neurosekretorischen Zellen im Nucleus paraventricularis und damit zur Stimulation der HPA-Achse fuhrt (Chrousos and Gold, 1992; Cullinan et al. 1995). Zu langanhaltenden Aktivierungen der HPA-Achse und zu langfristigen Erhöhungen zirkulierender Glucocorticoidspiegel kommt es immer dann, wenn die Streßbelastung sich als unkontrollierbar erweist, d. h. wenn keine der vorhandenen Verhaltens- (incl. Verdrängungs-)strategien auch nur ansatzweise geeignet ist, das ursprüngliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Bei Versuchstieren beobachtet man unter diesen Bedingungen ein Phänomen, das „behavioural inhibition" genannt wird. Die wiederholte Konfrontation mit verschiedenen unkontrollierbaren Stressoren führt zu einem Zustand von „learned helplessness" und dient als Tiermodell für depressive Erkrankungen (Katzetal., 1991). Gegenüber diesen unkontollierbaren Streßbelastungen zeichnen sich kontrollierbare Belastungen dadurch aus, daß zwar Verhaltens- (incl. Verdrängungs-) Strategien zur Vermeidung oder Beseitigung des Stressors verfügbar sind, die Effizienz der vorhandenen Kompensations- und Regelmechanismen jedoch (noch) nicht ausreicht, um die Aktivierung einer neuroendokrinen Streßreaktion zu verhindern. Unter diesen Bedingungen kommt es zu einer präferentiellen Aktivierung des zentralen noradrenergen und des peripheren SAM-Systems und (wenn überhaupt) nur zu einer kurzzeitigen Stimulation der HPA-Achse (Huether, 1996; Huether et al. 1996). Vieles spricht dafür, daß die an Versuchstieren gewonnenen Vorstellungen über die Mechanismen der zentralnervösen Aktivierung der neuroendokrinen Streßantwort in ihren Grundzügen auch für den Menschen gelten. Die Besonderheiten der Streßreaktion beim Menschen ergeben sich aus der enormen Ausdehnung des assoziativen Cortex und der daraus resultierenden Fähigkeit zur langfristigen Speicherung äußerst komplexer Gedächtnisinhalte, zur Bewertung und Kontrolle von Emotionen und zur Steuerung situationsgerechten Verhaltens. Wichtige, die Streßantwort bestimmende Faktoren, die von der tierexperimentellen Streßforschung erst in den letzten Jahren erkannt wurden, etwa die Bedeutung der Vorerfahrung eines Individuums mit einem bestimmten Stressor, das Ausmaß der von einem Individuum empfundenen Kontrollierbarkeit eines Stressors, oder der Einfluß von sozialen Faktoren („social support", „social status") auf die Streßantwort spielen beim Menschen eine weitaus größere Rolle als bei Versuchstieren und sind entscheidend für die enorme interindividuelle Varianz seiner Streßantwort. Eine Frage, mit der sich die experimentelle Streßforschung bisher kaum beschäftigt hat, ist die nach den
32 normalen Auslösern und der Häufigkeit der Aktivierung der Streßreaktion unter den jeweiligen, artspezifischen Lebensbedingungen. Bei allen sozial organisierten Säugetieren und insbesondere beim Menschen ist psychosozialer Konflikt die wichtigste und häufigste Ursache fur die Aktivierung der Streßreaktion. Vor allem unkontrollierbarer Streß spielt im Leben des Menschen eine besondere Rolle. Besonders exponiert sind Individuen mit einem unzureichend entwickelten Repertoire an sozialen Verhaltens-(Coping) Strategien. Aber auch rasche, unerwartete Veränderungen des sozialen Rahmens, für den erfolgreiche Coping-Strategien entwickelt wurden, etwa Veränderungen des sozialen Beziehungsgefüges durch Verlust eines Partners oder durch einen raschen Wandel kultureller und sozialer Normen sind Ursachen für unkontrollierbare Belastungen der betroffenen Personen. Eine weitere häufige Ursache für unkontrollierbaren Streß ist die Unerreichbarkeit von vorgestellten Zielen und die Unerfüllbarkeit von als zwingend empfundenen Bedürfnissen und Wünschen innerhalb des gegebenen soziokulturellen Kontexts. Ebenso wie ein Defizit an relevanter Information die Ursache für inadäquates Verhalten und damit psychosozialen Streß darstellt, kann auch ein Informationsüberschuß zu Handlungsunfähigkeit und damit einhergehenden unkontrollierbaren Streßbelastungen führen, weil es nicht gelingt, die vorhandenen Informationen hinsichtlich ihrer aktuellen Relevanz zu klassifizieren. Schließlich ist nur der Mensch aufgrund seiner assoziativen Fähigkeiten in der Lage, sich ein Szenario vorzustellen, das eine Streßbelastung nicht nur beinhaltet, sondern die entsprechende neuroendokrine Reaktion tatsächlich auslöst. Da das furchterregende Szenario nur in der Vorstellungswelt existiert, ist keine adäquate Reaktion möglich und eine unkontrollierbare Streßreaktion unausweichlich.
Die Auswirkungen psychischer Herausforderungen und Belastungen auf die im ZNS angelegten neuronalen Verschaltungen Der Nachweis von Kortikoidrezeptoren im Gehirn hat den Blick für ein Phänomen geschärft, das bisher in der Streßforschung kaum beachtet wurde: Das Gehirn ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern auch das wichtigste Zielorgan der Streßreaktion. Mit der schrittweisen Aufklärung der an der Auslösung der neuroendokrinen Streßreaktion beteiligten Mechanismen ist darüber hinaus deutlich geworden, daß die durch einen Stressor im ZNS ausgelösten Reaktionen (z.B. verstärkte Katecholaminausschüttung im Zuge der
33 Aktivierung noradrenerger Kerngebiete, vermehrte Ausschüttung von CRF und Vasopressin durch intra- und extrahypothalamische Axone, Stimulation der Endorphinausschüttung z.B. durch ACTH produzierende Zellen der Adenohypophyse) in der Lage sind, die im Verlauf der Streßreaktion ablaufenden zentralnervösen Verarbeitungsprozesse auf vielfaltige Weise zu beeinflussen. Auch die streßinduzierte Stimulation des sympathischen Nervensystems und der Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin aus dem Nebennierenmark hat eine ganze Reihe direkter und indirekter Effekte auf das ZNS (Gold and McCarty, 1995). Sie reichen von Änderungen der Hirndurchblutung über die vermehrte Bereitstellung von Substraten fur den Energiestoflwechsel bis hin zu Änderungen der Verfügbarkeit von Vorstufen für die Katecholamin- und Serotoninsynthese. Durch ansteigende Spiegel zirkulierender Glukokortikoide kommt es nicht nur zu einer direkten Aktivierung von Glukokortikoidrezeptoren im ZNS mit weitreichenden und oft langfristigen Konsequenzen für die Funktion der betreffenden Nerven- und Gliazellen (Duman, 95: Joels and DeKloet, 92; McEwen et al., 1993). Auch indirekte, Glukokortikoid-vermittelte periphere Effekte (Abfall der Sexualhormonspiegel, Suppression der Synthese und Ausschüttung von Mediatoren der intrazellulären Kommunikation wie Prostaglandine und Zytokine, Änderungen der Substratversorgung etc.) können zu langfristigen Veränderungen der Struktur und Funktion neuronaler Verschaltungen im ZNS führen (McEwen, 1995). Welche dieser Mechanismen im Zuge einer Streßbelastung aktiviert und welche langfristigen Veränderungen dadurch ausgelöst werden, hängt von der Art der Belastung ab, der sich eine bestimmte Person ausgesetzt sieht, also von der individuellen Bewertung der Kontrollierbarkeit des Stressors. Zu einer kontrollierbaren Streßreaktion kommt es immer dann, wenn die bisher angelegten Verschaltungen zwar prinzipiell zur Beseitigung der Störung geeignet, aber einfach noch nicht effizient genug sind, um diese vollständig und gewissermaßen routinemäßig zu beantworten. Eine derartige Stress-Belastung ist besser mit dem Begriff „Herausforderung" zu beschreiben. Sie beginnt, wie jede Reaktion auf einen psychischen Stressor, mit einer unspezifischen Aktivierung kortikaler und limbischer Hirnstrukturen, die zur Stimulation des zentralen und peripheren noradrenergen Systems führt („arousal"). Sobald im Zuge dieser unspezifischen Aktivierung eine Möglichkeit zur Lösung der betreffenden Anforderung gefunden wird, so kommt es mit der Aktivierung der an dieser Verhaltensreaktion beteiligten neuronalen Verschaltungen zum Erlöschen der initialen unspezifischen Aktivierung. Vor allem die verstärkte Ausschüttung von Noradrenalin in den initial aktivierten cortikalen und limbischen Hirnregionen führt zu einer ganzen Reihe von
34 funktionellen und metabolischen Veränderungen in Nerven- und Gliazellen, die direkt oder indirekt dazu beitragen, daß es zu einer Stabilisierung und einer Verbesserung der Effizienz der in die Antwort involvierten neuronalen Verschaltungen kommt (Boyeson and Krobert, 1992; Cole and Robbins, 1992; Stone et al., 1992). Wiederholt auftretende, kontrollierbare psychosoziale Belastungen (oder besser: Herausforderungen) fuhren so zu einer sukzessiven Stabilisierung, Bahnung und verbesserten Effizienz der in die Antwort involvierten neuronalen Netzwerke und Verschaltungen. Dieser zentralnervöse Anpassungsprozeß ist in gewisser Weise vergleichbar mit peripheren Anpassungen an physische Stressoren, etwa der durch Kältebelastung induzierten Verdichtung des Haarkleides. Sehr komplexe, verschiedenartige und vielseitige kontrollierbare Belastungen sind offenbar notwendig, um die individuellen genetischen Möglichkeiten zur Strukturierung eines entsprechend komplexen Gehirns nutzen zu können. Wenn eine Belastung auftritt, für die eine Person keine Möglichkeit einer Lösung durch ihr eigenes Handeln sieht, an der sie mit all ihren bisher erworbenen Reaktionen und Strategien scheitert, so kommt es zu einer sog. „unkontrollierbaren Streßreaktion". Sie ist durch eine langanhaltende Aktivierung cortikaler und limbischer Strukturen sowie des zentralen und peripheren noradrenergen Systems gekennzeichnet, die sich wechselseitig so weit aufschaukelt, daß es schließlich auch zur Aktivierung des HPA-Systems mit einer massiven und lang anhaltenden Stimulation der Cortisolausschüttung durch die Nebennierenrinde kommt. Solche unkontrollierbaren Belastungen haben andere, weitreichendere Konsequenzen auf die im Gehirn angelegten Verschaltungen als die soeben beschriebenen kontrollierbaren Streßreaktionen. Beobachtungen an Versuchstieren deuten darauf hin, daß vor allem die aus unkontrollierbaren Belastungen resultierenden massiven und langanhaltenden Erhöhungen der Glucocorticoid-Spiegel zur Destabilisierung der bereits angelegten synaptischen Verbindungen und neuronalen Netzwerke führt (Uno et al., 1989; Sapolsky, 1990; Fuchs et al., 1995). Im Zuge unkontrollierbarer Belastungen wird die Noradrenalinausschüttung vermindert (Tsuda and Tanaka, 1985), der cerebrale Energieumsatz gehemmt (Bryan and Lehmann, 88) und die Bildung neurotropher Faktoren unterdrückt (Smith et al., 1995). Halten derartige Belastungen länger an, so kann es sogar zur Degeneration noradrenerger Axone im Kortex (Nakamura et al., 1991) und zum Absterben von Pyramidenzellen im Hippokampus (Sapolsky, et al., 1985) kommen. Verhaltensbiologische Untersuchungen zeigen in diesem Zusammenhang einen sehr interessanten Effekt: Hohe Spiegel von Glucokortikoiden, wie sie physiologischerweise bei unkontrollierbaren Streß erreicht werden, fordern die
35 Auslöschung von erlernten Verhaltensreaktionen und fuhren zur Elimination vor allem solcher Verhaltensweisen, die für eine erfolgreiche Beendigung des Streß-Reaktionsprozesses ungeeignet sind (von Wimersma-Greidanus and Rigter, 1989). Die Aneignung neuer Bewertungs- und Bewältigungsstrategien, grundlegende Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln werden durch die vorangehende Destabilisierung und Auslöschung unbrauchbar gewordener Muster erst ermöglicht. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß vor allem Umbruchphasen wie die Pubertät, die zu psychosozialen Neuorientierungen zwingen, besonders häufig mit langanhaltenden, unkontrollierbaren psychischen Belastungen einhergehen. Damit tragen beide Arten von Streßreaktionen, also die kontrollierbaren Herausforderungen wie auch die unkontrollierbaren Belastungen, in jeweils spezifischer Art und Weise, zur Strukturierung des Gehirns, d.h. zur Selbstorganisation neuronaler Verschaltungsmuster im Rahmen der jeweils vorgefundenen äußeren, psychosozialen Bedingungen bei: Herausforderungen stimulieren die Spezialisierung und verbessern die Effizienz bereits bestehender Verschaltungen. Sie sind damit wesentlich an der Weiterentwicklung und Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale beteiligt. Schwere, unkontrollierbare Belastungen ermöglichen durch die Destabilisierung einmal entwickelter, aber unbrauchbar gewordener Verschaltungen die Neuorientierung und Reorganisation von bisherigen Verhaltensmustern. Die von unkontrollierbaren Belastungen getriggerten langanhaltenden neuroendokrinen Reaktionen können offenbar über die von ihnen ausgelöste Destabilisierung neuronaler Verschaltungsmustern in limbischen und kortikalen Hirnregionen zu u.U. sehr grundsätzlichen Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns einer Person fuhren. Das Ersetzen eines alten, unter dem Einfluß bisheriger Anforderungen stabilisierten assoziativen Verschaltungsmusters durch ein neues kann dazu führen, daß bisher unkontrollierbare psychosoziale Konflikte kontrollierbar werden. Ein derartiger Reorganisationsprozeß ist jedoch immer mit dem Risiko der Entgleisung und des unkompensierbaren Verlustes bestimmter Fähigkeiten im Bereich des Denkens, Fühlens oder Handelns behaftet (Huether et al., 1996).
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Von der psychischen Krise zur psychiatrischen Erkrankung Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, daß sowohl kontrollierbare als auch unkontrollierbare psychische Belastungen entscheidend an der Herausformung der unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmenden neuronalen Verschaltungen beteiligt sind und daß die Störung der inneren Struktur und Organisation eines Systems die notwendige Voraussetzung für jede Weiterentwicklung und Anpassung dieser inneren Ordnung an sich ändernde äußere Bedingung darstellt. Nicht immer kann diese Chance genutzt werden und nicht zwangsläufig erweisen sich die dabei entstandenen Anpassungen langfristig als biologisch sinnvoll. Bisweilen sind die Belastungen ganz einfach viel zu stark und führen zu einer so tiefgreifenden Destabilisierung der inneren Organisation, daß kaum noch Möglichkeiten für eine nachfolgende Reorganisation verbleiben. Auf der Ebene von Ökosystemen sind solche (meist durch menschliches Eingreifen verursachten) Destabilisierungsprozesse besonders augenfällig. Ärzte beobachten sie vor allem bei solchen Menschen, die im Laufe ihres Lebens nur sehr selten das Gefühl erlebt haben, eine Herausforderung so zu meistern, daß sie mit dem Resultat zufrieden sind, sei es, weil die Ansprüche, die sie an sich selbst stellen, oder die Erwartungen, die andere an sierichten, viel zu groß, oder weil die Belastungen, die sie durchzustehen haben, einfach unbewältigbar sind. Sie sind nicht in der Lage, das für ihre Stabilität erforderliche Ausmaß an innerer Ordnung im Bereich ihres Denkens, Fühlens und Handels zu entwickeln. Sie bleiben in dieser Hinsicht labil und wenig strukturiert und sind anfallig für Belastungen, die von anderen Menschen routiniert verarbeitet und daher kaum noch wahrgenommen werden. Die Gefahr der Entgleisung dieses streßmediierten Destabilisierungsprozesses durch die im Zuge unkontrollierbarer Belastungen ablaufenden neuroendokrinen Aktivierungsprozesse ist bei solchen Menschen besonders groß. Häufig kommt es zu Entgleisungen auf der Ebene somatischer Regelmechanismen. Bei denjenigen, die weniger somatisch reagieren, ist eine Entgleisung auf psychischer Ebene um so wahrscheinlicher und die Art ihrer Manifestation ebenso vielgestaltig. Sie reicht von Schlafstörungen über Depressionen, Angsterkrankungen und Eßstörungen bis hin zu Suchterkrankungen. Das andere, genau entgegengesetzte Extrem fehlerhafter Anpassungsprozesse läßt sich besonders bei solchen Personen beobachten, denen es bisher gut gelungen ist, Störungen ihrer inneren Ordnimg, die als Angst und Bedrohung erlebt werden, mit Hilfe ganz bestimmter Strategien immer wieder „erfolgreich" zu bewältigen. Um den Einklang zwischen sich und der ihn umgebenden Welt
37 herzustellen, kann ein Mensch versuchen, nicht mehr so viel an störenden Einflüssen aus dieser Welt wahrzunehmen. Dazu muß er sich stärker verschließen, sich abwenden und unsensibler gegenüber allem werden, was auf ihn einstürmt und was er zu bewältigen außerstande ist. Er wird so in sich gekehrt, der Welt zunehmend fremd und gerät in Gefahr, das zu verlieren, was er für sein Überleben ebenfalls braucht: Stimulation aus einer sich immer wieder verändernden Außenwelt, damit die Regelmechanismen zur Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung nicht verkümmern. Er kann auch versuchen, diese ihn störenden und ihn in ihrer Veränderlichkeit immer wieder bedrohenden Einflüsse aus seiner ihn umgebenden Welt unter Kontrolle zu bringen. Dazu muß er diese seine Welt - und das sind immer die anderen Menschen, die ihn durch ihre Aktivitäten, ihre Wünsche, Forderungen und Wirkungen bedrohen - zu beherrschen suchen. Er muß Macht ausüben, die Anderen zwingen oder sie mit subtileren Mitteln dazu zu bringen, sich so zu verhalten wie es ihm gefallt. Er wird so hart und rücksichtslos, unsensibel und gerät ebenfalls in Gefahr, in der von ihm nach seinen Maßstäben geschaffenen Welt das zu verlieren, was er für sein Überleben braucht: Stimulation aus einer sich immer aufs neue verändernden Außenwelt, damit die Regelmechanismen zur Aufrechterhaltung seiner inneren Ordnung nicht verkümmern. Leider fuhren Streß-mediierte zentralnervöse Anpassungsprozesse allzuoft zur Stabilisierung und Bahnimg, und damit zur zunehmenden Verfestigung von Vorstellungen und Überzeugungen, die falsch sind. Wenn bestimmte Herausforderungen sehr häufig auftreten, werden die zu ihrer Bewältigung entwickelten und deshalb immer wieder eingeschlagenen Strategien für allgemeingültiger gehalten, als sie das in Wirklichkeit sind. Im Ergebnis dieser Bahnungsprozesse kann es zu einer Vielzahl „erfolgsgebahnter psychischer Erblindungsphänomene" kommen, die sich schließlich sogar als psychische Abhängigkeiten von eben diesen, immer wieder eingeschlagenen Strategien des Denkend, Fühlens und Handelns manifestieren. Es ist bemerkenswert, daß wir im deutschen (im Gegensatz zum englischen) Sprachgebrauch für all diese, bis zur Abhängigkeit gebahnten Bewältigungsstrategien den Ausdruck „Sucht" verwenden (Machtsucht, Karrieresucht, Prunksucht, Geltungssucht, Vergnügungssucht etc.).
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Zusammenfassung Nicht nur unser Fühlen, Denken und Handeln, sondern auch die diesen Reaktionen zugrundeliegenden neuronalen Verschaltungen werden ganz entscheidend durch die Erfahrungen geprägt, die wir in unseren Beziehungen zu anderen Menschen und der uns umgebenden Welt machen. Die engsten Beziehungen entwickeln wir zu einem anderen Menschen immer dann, wenn wir in dieser Beziehung Sicherheit und Geborgenheit, Mut, Selbstvertrauen und Zuversicht finden, wenn uns diese Beziehung also hilft, unser emotionales Gleichgewicht zu finden und zu bewahren. Geht uns diese psychosoziale Unterstützung verloren, so verlieren wir auch diese emotionale Balance. Das Gehirn reagiert auf diese Störung ebenso wie auf jede andere Störung, nämlich mit der Aktivierung einer Notfallreaktion, die dazu beitragen soll, entweder das alte Gleichgewicht wiederherzustellen oder - wenn das nicht geht - ein neues zu finden. Ersteres nennen wir kontrollierbare, letzteres unkontrollierbare Streßreaktion. Wird die aufgetretene Störung des emotionalen Gleichgewichtes als kontrollierbar bewertet, so kommt es nur zu einer kurzzeitigen Aktivierung neuronaler und neuroendokriner Systeme. Sie hat einen stabilisierenden und bahnenden Einfluß auf die zur Bewältigung des Verlustes erfolgreich eingesetzten neuronalen Verschaltungen. Bleibt die Störung unbewältigbar und sieht eine Person keine Möglichkeit, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden, so kann es im Verlauf der dann einsetzenden langanhaltenden, unkontrollierbaren Streßreaktion zu tiefgreifenden Destabilisierungsprozessen bisher entwickelter, aber unbrauchbar gewordener neuronaler Verschaltungen kommen. Besonders betroffen sind davon Areale mit einer hohen Dichte von Cortisolrezeptoren (präfrontaler Cortex, Amygdala, Hippocampus) sowie die großen, globalisierend wirksamen Transmittersysteme (noradrenerges, serotonerges System). Auf diese Weise kann es zu permanenten Verschiebungen der Balance neuronaler Aktivitäten in insbesondere limbischen und frontocortikalen Netzwerken kommen, die dann u. U. als psychische Erkrankungen, wie depressive Syndrome und Angststörungen zutage treten Übersichten in Huether, 1996; Huether 1997, Huether et al. 1999).
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Konzepte zur Psychotherapie schizophrener Patienten im Spannungsfeld von Kognition, Emotion und sozialer Interaktion Dr. Thomas Frittrang
1. Einleitung In modernen ätiopathogenetischen Modellen der Schizophrenie, wie dem Vulnerabilitäts-Streß-Coping-Kompetenz-Modell von Liberman (Liberman et al., 1986), wird versucht, in einer systemischen Betrachtungsweise den gemeinsamen Einfluß von biologisch-hereditären und psychosozialen Faktoren für Entstehung und Verlauf schizophrener Erkrankungen darzustellen. Im Zentrum dieser integrativen Modelle steht die Vulnerabilitätshypothese, wonach eine hereditäre, peripartale oder lebensgeschichtlich erworbene Dispositon besteht, bei Belastungen, die umweltbedingt oder aus der Person selbst heraus auftreten können, an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis zu erkranken. Zu den personalen Vulnerabilitätsfaktoren werden Dysfunktionen von Neurotransmitter-Systemen, Defizite in der Informationsverarbeitung, eine autonome Hyperaktivität bzw. eine unzureichende Modulationsfahigkeit der psychovegetativen Erregung und schizotypische Persönlichkeitszüge gerechnet. Als psychosoziale Belastungsfaktoren gelten unerwartete Lebensereignisse, ein überstimulierendes und überforderndes soziales Umfeld sowie kritisierende, emotional überinvolvierte aber auch resignativ-gleichgültige Bezugspersonen. Andererseits wirken protektiv die antipsychotische Medikation, die individuelle Bewältigungskompetenz der Patienten sowie unterstützende Angehörige und ein tragfahiges soziales Netzwerk. Diese protektiven Faktoren können den Einfluß von Stressoren modifizieren und die Entwicklung einer Krankheitsepisode verhindern.
44 Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell hat nicht nur auf die Grundlagenforschung der Schizophrenie stimulierend gewirkt, sondern auch wichtige Impulse für die psychosoziale Behandlung schizophren Erkrankter gegeben und die Entwicklung von neuen psychotherapeutischen Interventionsprogrammen angeregt. Im folgenden werden therapeutische Konzepte und empirische Befunde von einigen dieser psychotherapeutischen Verfahren näher dargestellt. Zunächst werden Interventionsverfahren angesprochen, die eine Modifikation von psychosozialen Stressoren beabsichtigen, entweder durch die Entlastung und Unterstützung der Angehörigen in Angehörigengruppen oder durch therapeutische Familieninterventionen, die eine Veränderung von emotional belastenden intrafamiliären Interaktionsformen intendieren. Im Anschluß werden psychoedukative und bewältigungsorientierte Ansätze beleuchtet, die unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Patienten und der Vermittlung eines auf dem Vulnerabilitäts-Stress-Modells basierenden Krankheitskonzepts versuchen, das Krankheitsmanagement der Patienten zu verbessern sowie bei fortbestehenden produktiven Krankheitssymptomen symptomkontrollierende Bewältigungsstrategien zu erarbeiten. Unter Gliederungspunkt 4 und 5 werden dann Behandlungskonzepte vorgestellt, die spezifisch auf Vulnerabilitätsfaktoren im sozialen und kognitiven Bereich abzielen. Zur Beeinflussung der sozialen Defizite wurden in Kalifornien von der Arbeitsgruppe um Liberman hochstrukturierte Übungseinheiten fur den Erwerb von sozialen Fertigkeiten („social skills") entwickelt und durchgeführt. Zur Therapie der kognitiven Dysfunktionen wurde von Brenner und Mitarbeitern, zunächst in Mannheim, dann in Bern ein hierarchisch aufgebautes „Integriertes Psychologisches Therapieprogramm für schizophrene Patienten" (IPT) konzipiert und und empirisch evaluiert. Eine Fortentwicklung des ΓΡΤ in den neunziger Jahren fokussiert auf die Verarbeitung belastender Emotionen und wird als „Training zur Bewältigung maladaptiver Emotionen" unter Gliederungspunkt 6 vorgestellt. Auch an der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen konstituierte sich Ende der achtziger Jahre eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung und Durchführung von psychologischen Behandlungsverfahren bei schizophrenen Patienten. Mit dem Ziel, ein Interventionsverfahren zu schaffen, welches unter Berücksichtigung von Befunden der experimentellen und klinischen Grundlagenforschung besonders auf die emotionalen und sozialen Aspekte schizophrener Erkrankungen eingeht, ist dabei das Sozial-Emotionale Training (SET) ent-
45 standen. Auf das SET wird unter Gliederungspunkt 7 eingegangen. Einige Schlußbemerkungen sollen das Vorgestellte schließlich vorläufig zusammenfassen.
2. Angehörigenberatung und verhaltenstherapeutische Familienintervention In der Forschungsliteratur und der klinischen Alltagserfahrung finden sich vielfaltige Hinweise, daß die Einbeziehung der Angehörigen in der Behandlung von schizophrenen Patienten unterstützend und hilfreich ist (Falloon et al., 1985; Buchkremer & Rath; 1989; Bebbington & Kuipers, 1994; Hahlweg et al., 1994; Wiedemann & Buchkremer, 1996). Je nach therapeutischer Zielstellung kann sie entweder in Form von Angehörigengruppen parallel zur Behandlung der Patienten oder in Form von Familieninterventionen gemeinsam für Patienten und Angehörige erfolgen. Ziele der therapeutischen Gruppenarbeit mit Angehörigen sind: Entlastung und Informationsvermittlung, Fokussieren von Einflußmöglichkeiten, eine Förderung der Autonomie sowie der Einbezug in Früherkennung und Krisenmanagement bei einem drohenden Krankheitsrezidiv der Patienten. Das Vorgehen besteht in der Vermittlung von Informationen über Entstehung, Symptomatik, Verlauf, Prognose und Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung. Dabei ist zu beachten, daß die Angehörigen ihre eigenen Kenntnisse und Erfahrungen einbringen und als Partner in den Gesamtbehandlungsplan einbezogen werden. Der Transfer von Informationen über die Erkrankung trägt zu einem besseren Verständnis der Reaktionen und Interaktionseigenarten der Patienten bei und kann den Angehörigen helfen, sich von Schuld und übertriebenen Verantwortungsgefühlen frei zu machen. Dabei ist auch der Erfahrungsaustausch mit anderen Angehörigen hilfreich. Eine wichtige Voraussetzung fiir die Entspannung einer emotional hochgespannten Familienatmosphäre sehen Buchkremer et al. (1995) darin, daß die Angehörigen lernen, zwischen ihrer objektiv nicht vorhandenen Schuldhaftigkeit und ihren eigenen Schuldgefühlen zu unterscheiden. Zu einer Verringerung des Leidensdrucks trägt ferner bei, die Autonomie der Angehörigen zu fordern, sie zur Artikulation eigener Wünsche und Aktivitäten aufzufordern und sie zu ermuntern, diese in die Tat umzusetzen. Ein weiterer Aspekt der therapeutischen Angehörigengruppe betrifft die Früherkennung eines drohenden Krankheitsrezidivs der Patienten, wobei anhand der individu-
46 eilen Frühwarnzeichen mit Patient und Angehörigen ein individueller Krisenplan mit konkreten Maßnahmen festgelegt wird. Demgegenüber setzen verhaltenstherapeutische Familieninterventionen an Kommunikationsstrukturen und konkreten Verhaltensweisen innerhalb der Familie an (Falloon et al. 1984; 1985; Hahlweg et al., 1994). Das therapeutische Vorgehen basiert auf einer funktionalen Verhaltensanalyse der familiären Interaktion und umfasst neben der psychoedukativen Vermittlung von Wissen über die Erkrankung und deren Therapiemöglichkeiten ein Kommunikations- und Problemlösetraining. In den Familiensitzungen werden Angehörige und Patienten gemeinsam angeleitet, in strukturierter Form familiäre Probleme zu bewältigen. Wesentliche Schritte bestehen in der Beschreibung und Spezifikation des Problems, der Suche nach Lösungsmöglichkeiten und der Planung der konkreten Umsetzung der vereinbarten Problemlösung. Der Therapeut versucht, während der familiären Problemlösesitzungen spannungserzeugende Kommunikationsformen aufzudecken und zu verändern. Mit dem Ziel, eine Verbesserung im Ausdruck von Gefühlen zu erreichen, werden kommunikative Fertigkeiten geschult. Dabei wird neben dem aktiven und aufmerksamen Zuhören besonders auf die klare und eindeutige Kommunikation von positiven und negativen Gefühlen hingewiesen. Kritikäußerungen sollen nicht persönlich verletzen, sondern annehmbar, d.h. sachlich und konstruktiv unter Verwendung von Ich-Botschaften erfolgen.
Empirische Evaluation In einer Studie von Hogarty et al. (1991) wurden 103 Patienten, die alle aus High-Expressed Emotion-Familien stammten, vier unterschiedlichen Therapieformen zugeteilt. Alle Gruppen wurden medikamentös behandelt; eine Gruppe erhielt ein Training sozialer Fertigkeiten, die zweite Gruppe eine verhaltenstherapeutische Familienbetreuung, die dritte Gruppe eine Kombination der beiden genannten Therapiemöglichkeiten, eine vierte Gruppe war Kontrollgruppe und erhielt lediglich Pharmakotherapie. Hauptergebnisse dieser vielzitierten Studie sind, daß Familientherapie über zwei Jahre die anhaltend besten Ergebnisse zeigt, der zunächst sehr positive Effekt des Trainings sozialer Fertigkeiten ist jedoch nach zwei Jahren nicht mehr
47 nachweisbar, auch kann nicht von einem anhaltend positiven Effekt der Kombination von Familienbetreuung und Social-Skills-Training ausgegangen werden. Allerdings konnte gezeigt werden, daß insbesondere die Patienten im Verlauf von zwei Jahren ohne Rückfall sind, bei denen es gelingt, die hochkritische Familienatmosphäre günstig zu verändern. Die von der Arbeitsgruppe um Buchkremer in Münster (Buchkremer et al., 1995; Hornung et al. 1999) gewonnenen Befunde über die ambulante Behandlung von schizophrenen Patienten (n=191; l-J.-Kat.: n=138; 2 J.-Kat.: n=134) und ihren Angehörigen zeigen hingegen, daß mittelfristig durch eine Kombinationsbehandlung von Psychoedukation (PMT: 10 Sitzungen), kognitiver Psychotherapie (KP: 15 Sitzungen Problemlösetraining) und BezugspersonenBeratung für die Angehörigen (BB: 10 professionell geleitete Sitzungen, dann Selbsthilfegruppe) geringere Rückfallraten (24%) resultieren als in der Kontrollbedingung (50%) und den anderen Interventionsgruppen (nur PMT: 44%; PMT+KP: 44%; PMT + BB: 39%). Der rezidivprophylaktische Effekt des komplexen psychoedukativ-psychotherapeutischen Behandlungsangebotes deutet sich nach 12 Monaten an, wird jedoch erst innerhalb des zweiten Katamnesejahrs signifikant. Die Befunde zeigen, daß die Durchführung von Angehörigengruppen parallel zu psychoedukativ-psychotherapeutischen Interventionen bei den Patienten eine sinnvolle und ökonomische Alternative zur aufwendigeren verhaltenstherapeutischen Familienintervention darstellen kann.
3. Psychoedukative, symptom- und bewältigungsbezogene Verfahren
3.1 Psychoedukation In den vergangenen Jahren sind von verschiedenen Arbeitsgruppen psychoedukative Konzepte zur Behandlung schizophrener Patienten in den Blickpunkt gerückt worden (Bäuml 1994; Kieserg & Hornung, 1994; Wienberg, 1995). Ziele dieser störungsbezogenen Gruppeninterventionen sind einerseits eine Wissensvermittlung und kognitive Neuorientierung, andererseits eine emotionale Entlastung der Patienten durch den Erfahrungsaustausch mit Gleichbetroffenen.
48 Durch Informationen über Krankheitssymptome, Entstehung, Verlauf und Prognose sowie Behandlimgsmöglichkeiten soll unter Berücksichtigung der individuellen Krankheitserfahrungen der Patienten ein angemessenes, auf dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell basierendes Krankheitskonzept erarbeitet und eine tragfähige Behandlungsmotivation aufgebaut werden. Ferner sollen die Patienten zu Experten ihrer Erkrankung werden und durch Kenntnis der individuellen Frühsymptome in Krisensituationen anhand der erarbeiteten Krisenpläne eigene Bewältigungskompetenzen entfalten.
Empirische Evaluation Bäuml et al. (1996) finden in ihrer randomisierten Studie nach acht informationszentrierten psychoedukativen Sitzungen in acht Wochen eine Verbesserung der Reohospitalisierungsrate um 17 % nach einem Jahr (n=163:Therapiegruppe 21 %, Kontrollgruppe 38 %) und nach zwei Jahren (n= 153: Therapiegruppe 41%, Kontrollgruppe 58%). Ferner wird eine signifikante Zunahme des Wissens über eine Psychose und ihre Behandlung sowie eine höhere Zufriedenheit mit der familiären Situation bei der Interventionsgruppe berichtet. Dagegen war in der o.g. Studie von Buchkremer und Mitarbeitern Psychoedukation allein hinsichtlich der Rückfälligkeit der Patienten nicht ausreichend.
3.2 Symptombezogenes Coping bei chronischem Wahn und Halluzinationen Therapiekonzepte zur Bewältigung von chronisch produktiven Symptomen werden in Übersichtsarbeiten von Tarrier, (1994); Vauth & Stieglitz, (1994); sowie Fowler et al. (1995) dargestellt. Der erste Schritt dieser meist im Einzelsetting durchgeführten Behandlungen besteht in einer genauen verhaltensanalytischen Diagnostik. Mit Hilfe eines Symptomtagebuchs werden Auftretenszeit, Dauer, Häufigkeit und Intensität der Symptome protokolliert sowie nach diskriminativen Stimuli gesucht. Ferner werden emotionale und körperliche Begleitphänomene sowie bisherige Bewältigungsstrategien erfragt. Im Hinblick auf das Bewältigungsverhalten lassen sich vier verschiedene Strategie-Ebenen differenzieren: a. Kognitive Bewältigungs-Strategien sind z.B. Aufmerksamkeitverlagerung oder aktive Suche nach Ablenkung, verbale Selbstinstruktionen sowie Übungen
49 zur Neuattribuiening bzw. Plausibilitätsprüfung der Ursachen von wahnhaft interpretierten Ereignissen b. Coping-Strategien auf Verhaltensebene sind ζ. B. Aktivitäten wie Spazierengehen oder Sport, ein kurzfristger Rückzug aus sozialen Belastungssituationen oder konkrete Handlungen zur Realitätsüberprüfimg c. Coping-Strategien auf physiologischer Ebene sind z.B. Entspannungsmethoden und Atemkontrolltechniken. d. Beim Coping durch externen sensorischen Input wird z.B. durch Radiomusik oder Fernsehen versucht, die Intensität akustischer Halluzinationen zu reduzieren. Probleme zeigen sich bei dieser Therapieform einerseits bei Symptomen, die keinen erkennbaren Leidensdruck verursachen und daher keine ausreichende Veränderungsmotivation besteht. Andererseits haben wahnhafte Größenideen oder positiv konnotierte Halluzinationen häufig stabilisierende Funktion für die Selbstwertregulation der Patienten und werden erst aufgegeben, wenn die Selbstwertstabilisierung auf andere Weise erreicht werden kann.
Empirische Evaluation Tarrier et al. (1993) berichten, daß neuroleptikaresistente Patienten (n=15) nach zehn Einzelsitzungen einer bewältigungsorientierten Therapie in fünf Wochen gegenüber Patienten einer gleichfrequenten Problemlösegruppe (n=12) und einer Warte-Kontrollgruppe (n=14) signifikant mehr effiziente Bewältigungsversuche und eine tendentiell stärkere Abnahme der psychotischen Symptomatik zeigen. Garety et al., (1994) berichten von neuroleptikaresistenten chronisch produktiven Patienten (n=12), die nach 16, sich über sechs Monate erstreckende Einzelsitzungen im Vergleich zu Patienten mit Standardbehandlung (n=7) einen signifikanten Rückgang ihrer Wahnsymptomatik, ihrer Depressivität und ihrer Gesamtpsychopathologie sowie weniger Stresserleben zeigen. Diese Befunde unterstreichen trotz der bislang kleinen Fallzahlen das Potential dieses Ansatzes. Die bisherigen Erfahrungen legen ein langzeitig angelegtes Einzeltherapiesetting in nicht allzu hoher Frequenz und mit gelegentlichen
50 Auffrischsitzungen nahe. Allerdings gibt es bislang keine katamnestischen Daten über den längerfristigen Verlauf und keine Prädiktoren für ein Ansprechen auf diesen Therapieansatz.
3.3 Bewältigungsorientierte Gruppentherapie Dieses von Mitarbeitern um Brenner (Schab et. al., 1996; Andres et al., 1998) entwickelte 3-monatige Verfahren umfaßt 28 Sitzungen und gliedert sich in die drei folgenden inhaltlichen Blöcke: einen ersten Block Gesundheit, Krankheit und Therapie mit 15 psychoedukativen Sitzungen, einen zweiten Block zu Stressbewältigung mit acht Sitzungen, davon vier allgemeine Sitzungen zu Definition, Anzeichen und Analyse von Stresssituationen und vier Sitzungen zu Stresssituationen in den Lebensbereichen Arbeit, Krankheit und zwischenmenschliche Beziehungen. Der dritte Block Gesundheitsverhalten umfaßt fünf Sitzungen zu gesunder Lebensführung, angenehmen Situationen und Freizeitverhalten.
Empirische Evaluation Andres et al., (1998) zeigen in einer explorativen Studie mit chronisch schizophrenen Patienten, daß die Teilnehmer der bewältigungsorientierten Therapie (n=17) im Vergleich zu einer wenig strukturierten supportiven Gruppentherapie (n=16) einen stärkeren Wissenszuwachs über die Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten erzielen. Das therapeutische Outcome nach zwölf Monaten wird dadurch jedoch weniger prädiziert als durch die Ausprägung aktiver Bewältigungsstrategien, die soziale Anpassimg, das Medikamentenvertrauen und die Problemlösefähigkeit der Patienten.
4· Training sozialer Fertigkeiten (Social-Skills-Trainings) Bei schizophrenen Patienten gibt es oft einen seit Kindheit bestehenden Mangel an sozialen Fähigkeiten. Ferner ist nach Manifestation der Erkrankung das Ausmaß an sozialer Kompetenz ein signifikanter Verlaufsprädiktor der Schizophrenie. Vorausetzungen für sozial kompetentes Verhalten sind Fähigkeiten zur Wahrnehmung, zur Verarbeitung und zum Ausdruck von verbalen und nonverbalen Informationen in der sozialen Interaktion.
51 Ursprünglich fokussierten Social-Skills-Trainings darauf, in kleinen Gruppen mit schwer chronischen Patienten elementare verbale und nonverbale Kommunikationsfertigkeiten einzuüben (Liberman, 1982). Dabei wurden in systematischer Form verhaltenstherapeutische Techniken wie Instruktion, Modellvorgabe, verhaltensformende Rollenspiele und Transfer-Übungen im natürlichen Umfeld angewendet. Später wurden von Liberman und seiner Arbeitsgruppe sog. Module entwickelt (Liberman & Eckman, 1989; Liberman & Corrigan, 1993), bei denen in ebenfalls hochstrukturierter Form Fähigkeiten in folgenden Lebensbereichen vermittelt werden: Selbstversorgung und persönliche Hygiene, Zubereitung von Mahlzeiten, Umgang mit Geld und Behörden, Wohnungssuche und Haushaltsführung, Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und Gemeindeeinrichtungen, Freizeitaktivitäten und Erholung, Umgang mit Medikamenten sowie Umgang mit bzw. Modifikation von persistierenden psychotischen Symptomen. Als schwierig erweist sich trotz Hausaufgaben und in-vivo Übungen der stabile Transfer des Gelernten in Alltagssituationen. Kritisch wird ferner angemerkt, daß ein Zugewinn an sozialen Kompetenzen Belastungen provozieren und somit vermehrt zu Symptomverschlechterungen und Rückfallen führen kann (Buchkremer & Fiedler, 1987). Empirische Evaluation Penn & Mueser (1996) referieren in ihrer Übersichtsarbeit über den SocialSkills-Ansatz sechs kontrollierte Studien mit insgesamt 345 Patienten in den Jahren 1984-1995. Bemerkenswert ist die hohe Behandlungsintensität bei den ζ. T. sehr chronischen Patienten mit einer Frequenz zwischen 75min und 10h pro Woche und einer Behandlungsdauer von neun Wochen bis zu zwei Jahren. Zusammenfassend konstatieren die Autoren, daß Social-Skills-Trainings gegenüber Kontrollgruppen zu einer Verbesserung der sozialen Fertigkeiten, der sozialen Anpassung und der Lebensqualität der Patienten beitragen. Inkonsistent sind die Studien hinsichtlich Krankheitssymptomatik und Rückfallhäufigkeit. Zumindest bei einem Teil der Studien konnten im ein- bis zweijährigen Verlauf mit Hilfe von Social-Skills-Trainings die Symptomatik gebessert und die Rehospitalisierungen gemindert bzw. verzögert werden.
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5. Therapie kognitiver Dysfunktionen Bei der kognitiven Therapie schizophrener Störungen sind nicht primär die klassischen Methoden kognitiver Verhaltenstherapie wie Selbstinstruktion, Problemlösetrainings oder kognitive Therapieformen irrationaler bzw. dysfünktionaler Kognitionen sensu Beck oder Ellis gemeint. Vielmehr wird bei diesem schizophreniespezifischen Ansatz versucht, experimentalpsychologisch nachgewiesene Störungen kognitiver Prozesse bei der Aufnahme und Weiterverarbeitung von Informationen anhand gezielter Übungen zu verbessern. In der Forschungsliteratur gibt es eine Vielzahl von Befunden (Ruckstuhl, 1981; Nuechterlein & Dawson, 1984; Straube & Oades, 1992), die Störungen der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Abstraktionsleistung sowie der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit bei schizophren Erkrankten nahelegen. Nuechterlein & Dawson (1984) sehen in der verminderten Informationsverarbeitungskapazität ein überdauerndes Vulnerabilitätsmerkmal, das sich bei Patienten sowohl in der akuten Phase als auch im remittierten Zustand und ferner bei genetisch verwandten Personen finden läßt. Die Arbeitsgruppe um Brenner unternahm Ende der 70er Jahre den Versuch, die Fülle der vorliegenden kognitionspsychologischen Befunde therapeutisch in einem neuartigen „Training der kognitiven Differenzierung,, (Brenner et al., 1980) nutzbar zu machen. In der Pervasivitätshypothese formulierte Brenner die Annahme, daß eine trainingsbedingte Besserung elementarer kognitiver Defizite auf höhere, komplexere Informationsverarbeitungsebenen generalisiert (Brenner et al., 1987). Deshalb wurde für notwendig erachtet, daß die Patienten im ersten Unterprogramm des Integrierten Psychologischen Therapieprogramms (IPT, Roder et al., 1988) zur Stabilisierung kognitver Funktionen zunächst Übungen zur Konzept- und Begriffsbildung machen (z.B. Kärtchen nach Form und Farbe sortieren, Synonyme, Antonyme und Begriffshierarchien und Wortdefinitionen bilden), bevor in weiteren Unterprogrammen auf soziale Wahrnehmung, verbale Kommunikation, soziale Kompetenz und interpersonelles Problemlösen eingegangen wird. Für die Gesamtdurchführung des ΓΡΤ wird bei chronischen Patienten ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren genannt, was in einem stationär psychiatrischen Setting kaum realisierbar scheint. Für postakute Patienten in der stationär psychiatrischen Regelversorgung wird eine Auswahl von Übungen aus den verschiedenen Unterprogrammen empfohlen.
53 Empirische Evaluation In der ersten kontrollierten Therapievergleichsstudie wurde das IPT mit der stationären Standardbehandlung und unspezifischen Freizeitaktivitäten verglichen. Die IPT-Gruppe (n=14) zeigte gegenüber den beiden Vergleichsgruppen (n=14) nach Therapieende signifikante Verbesserungen der Aufmerksamkeitsleistung (d2), der Psychopathologie (BPRS) sowie nach 18 Monaten eine signifikant geringere Wiederaufnahmerate und eine Reduktion der Psychopathologie. In einer EPT-Replikationsstudie von Theilemann 1993, die nur kognitive Zielvariablen einschloß, waren die ursprünglich signifikanten Therapieeffekte sechs Wochen nach Therapieende jedoch nicht mehr nachweisbar. Wesentlich mehr Studien gab es zur differentiellen Wirksamkeit des neuartigen Trainings zur kognitiven Differenzierung, welches allerdings meist modifiziert oder mit einzelnen Elementen anderer Unterprogramme kombiniert wurde. Bei inkonsistenter Befundlage zeigte das Training zur kognitiven Differenzierung insgesamt jedoch wenig Effekte auf Psychopathologie und psychosoziale Anpassung (Hödel & Brenner, 1994). Die Pervasivitätshypothese und die damit verbundene Forderung, daß einem verhaltenstherapeutischen Programm, das auf Vermittlung sozialer Kompetenzen abzielt, ein Training zur Stabilisierung kognitiver Funktionen vorausgehen müßte, ließ sich empirisch nicht ausreichend untermauern.
6. Training zur Bewältigung maladaptiver Emotionen Mit dem Ziel, die kognitive und verhaltensbezogene Bewältigung von belastenden Emotionen zu verbessern, entwickelten Hödel & Brenner (1996) unter Einbezug experimentalpsychologischer Befunde zur Informationsverarbeitung von Emotionen ein achtschrittiges Trainingsprogramm zur Bewältigung maladaptiver Emotionen. Anhand der Dia-Serie des IPT-Unterprogramms „Soziale Wahrnehmung" müssen die Patienten in einem ersten Schritt die bildlich dargestellten Emotionen sowie diesbezüglich erkennbare Hinweisreize benennen. In einem zweiten Schritt sollen die Patienten thematisch vergleichbare eigene emotionale Erlebnisse beschreiben und hinsichtlich Qualität, Intensität, Dauer und Hinweisrei-
54 zen bewerten. In einem dritten Schritt werden die Patienten zu ihrem spontanen Umgang mit diesen Emotionen befragt, in einem vierten Schritt werden die beschriebenen Erfahrungen durch alternative Bewältigungsvorschläge in der Gruppe ergänzt. Danach werden die Patienten gebeten, die Bewältigungsstrategien als „konstruktiv" oder „nicht anwendbar" zu bewerten und auf die individuelle Durchführbarkeit zu prüfen. Im siebten Schritt werden die Bewältigungsstrategien in Rollenspielen ausprobiert, im achten und letzten Schritt mit dem Cotherapeuten in weiteren Rollenspielen bis zur Habituation gezielt eingeübt. Das Training umfaßt 14 Sitzungen zu 45 Minuten und erstreckt sich über sieben Wochen.
Empirische Evaluation: In zwei Studien mit nach Alter, Hospitalisationsdauer, Intelligenz und Geschlecht parallelisierten schizophrenen Patienten wurde das Training zur Bewältigung maladaptiver Emotionen bei einer Gruppe (n=7) mit einem bewegunstherapeutischen Programm (n=9) und bei einer anderen Gruppe (n=8) mit dem IPT-Unterprogramm „kognitive Differenzierung" (n=7) verglichen. In beiden Studien zeigten Teilnehmer der Index-Therapiegruppe nach Ende signifikant bessere Ergebnisse hinsichtlich der Emotionswahrnehmung, der kognitiven Leistungen, der subjektiven Befindlichkeit sowie der Verhaltensbeobachtung durch Pflegekräfte (Hödel & Brenner, 1996).
7. Das Sozial-Emotionale Training (SET) Das SET ist ein in Tübingen entwickeltes kognitiv-behaviorales Gruppeninterventionsprogramm für postakute schizophrene Patienten (Frittrang, 1991, 1998). Übergeordnete Zielsetzung ist, durch eine Förderung von Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Kommunikation emotionaler Prozesse rückfallrelevante Belastungen im Alltag zu erkennen und deren Bewältigung zu optimieren. Das SET umfaßt drei aufeinander aufbauende Trainingsteile, in deren Entwicklung experimental- und neuropsychologische Forschungsergebnisse über Störungen der Wahrnehmung und des Ausdrucks von Emotionen, Befunde über insuffiziente sozial-kognitive Schemata, Erkenntnisse über belastende Kommunikations- und Interaktionsmuster in den Familien schizophren Erkrankter,
55 sowie Befunde über das soziale Netzwerk, Selbstkonzept und Strategien Krankheitsbewältigung der Patienten eingingen. Wichtige Inhalte des ersten Trainingsteils betreffen Wahrnehmung und Ausdruck von körpersprachlichen, paraverbalen und situationsbezogenen emotionalen Botschaften. Ferner wird durch das Erkennen von Regeln, Zielen und Affekten in sozialen Interaktionssituationen eine Konsolidierung sozialkognitiver Schemata gefordert. Auf dem Boden eines differenzierteren Verständnises von sozialen Situationen werden im weiteren Verlauf in problemlöseorientierter Form sozial-kommunikative Handlungsstrategien vermittelt. Hierzu zählen der Ausdruck und das Annehmen von Lob und Kritik, das Formulieren von Wünschen, das Führen von Streitgesprächen, Übungen zum Nein sagen, Recht durchsetzen, zur Aufnahme und Gestaltung von sozialen Kontakten sowie der Umgang mit erkrankungsbezogenen Fragen und Reaktionen in der sozialen Umgebung. Das therapeutische Vorgehen in den Gruppen ist strukturiert und themenzentriert. Anhand von Fallgeschichten auf speziell entwickelten Arbeitsblättern werden Rollenspiele vorbereitet, in die auch biographische Erfahrungen der Patienten einbezogen werden. Für die Zeit zwischen den Sitzungen werden Hausaufgaben und in vivo Übungen vereinbart.
Empirische Evaluation: In einer explorativen Pilotuntersuchung mit 18 einstündigen Sitzungen in sechs Wochen resultierten bei einer Gruppe von zehn schizophrenen Patienten signifikant positive Veränderungen hinsichtlich Affektwahrnehmung, kognitiver Leistung, Selbstkonzept, Selbstsicherheit und psychopathologischer Symptomatik (Frittrang, 1995). Mit dem Ziel, die Pervasivitätshypothese von Brenner zu überprüfen, wurde in einer Therapievergleichsstudie (Van Voorthuizen, 1993; Rechsteiner-Fiesel et al., 1994) das SET mit dem Kognitiven Training (KT) verglichen, einer in Tübingen entwickelten, eng an experimentalpsychologischen Befunden ausgerichteten Modifikation des Trainingsprogramms zur kognitiven Differenzierung nach Brenner (Wiegand, 1987; Rechsteiner-Fiesel, 1988). In dieser Studie mit jeweils zwölf in Alter, Intelligenz, Hospitalisationsdauer und aktueller Psychopathologie vergleichbaren schizophrenen Patienten, zeigte
56 die KT-Gruppe in sieben von zehn kognitiven Zielvariablen des Aufmerksamkeits- und Gedächtnisbereich signifikante Verbesserungen, während sich die SET-Gruppe bei deutlich höheren Ausgangswerten in vier kognitiven Zielvariablen verbessern konnte. In den Tests zur Afifektwahrnehmung zeigte die SET-Gruppe in zwei von drei Zielvariablen tendenziell signifikante Verbesserungen, während sich bei der KT-Gruppe und im direkten Gruppenvergleich keine signifikante Veränderung ergab. Im Selbstkonzeptbereich zeigte die SET-Gruppe in vier von zehn Subskalen signifikante und in zwei weiteren Subskalen tendentiell signifikante Verbesserungen, während sich die KT-Gruppe nicht positiv veränderte. Allerdings hatte hier die KT-Gruppe höhere Ausgangswerte. Wenngleich aufgrund der unterschiedlichen Ausgangswerte keine eindeutigen Aussagen gemacht werden können, deuten die Befunde an, daß auch auf emotionale und soziale Prozesse fokussierende Interventionen zu Verbesserungen von kognitiven Funktionen fuhren können. Ferner unterstützen die besonders in den psychosozialen Subskalen erkennbaren positiven Veränderungen des Selbstbildes die Annahme, daß das SET zu einer Verbesserung der Selbstwirksamkeitserwartung für die Bewältigung interaktioneller Probleme führen kann. Seit 1995 ist das SET Bestandteil einer integrativ-verhaltenstherapeutischen Behandlung schizophrener Patienten, die inzwischen im Rahmen einer DFGgeförderten Therapievergleichsstudie in Tübingen evaluiert wird (Wiedemann et al., 1998). Im Rahmen des 8-wöchigen stationären Behandlungsteils werden neben dem SET psychoedukative Gruppen mit Informationen über Erkrankung, Medikation, Rezidiverkennung und Krisenmanagement, sozialtherapeutische Gruppen zu den Bereichen Wohnen, Arbeit/Ausbildung und Freizeit sowie psychoedukative Angehörigengruppen und ambulant über ein Jahr problemlöseorientierte Therapiegruppen in ausschleichender Frequenz angeboten. Von Oktober 1995 bis Dezember 1998 nahmen insgesamt 108 schizophrene Patienten an der spezialisierten Behandlung teil. Die Analyse der 16 SETSitzungen anhand des Feedbacks einer Teilstichprobe von 52 Patienten zeigt, daß Gruppenintegration und persönliches Befinden unabhängig vom Thema einer Sitzung als gut bewertet und ein günstiges Verhältnis von Lernzugewinn und Aufgabenschwierigkeit rückgemeldet wird. Ferner heben die Patienten die Durchführung der Rollenspiele und die Sitzungen zum Umgang mit erkrankungsbezogenen Fragen in der sozialen Umgebung positiv hervor (Frittrang et al., 1999).
57
8. Schlußbemerkungen Die im Vulnerabilitäts-Stress-Modell dargelegte, multifaktorielle, auf komplexen Wechselwirkungsprozessen beruhende Ätiopathogenese schizophrener Erkrankungen unterstreicht die Bedeutung einer multimodalen Therapie der Patienten. Psychosoziale Interventionsverfahren, die speziell auf Vulnerabilitätsfaktoren im kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich abzielen, sind wesentliche Bausteine einer umfassenden Behandlung schizophrener Patienten. Sie finden ihren Platz neben differenzierten Ansätzen der medikamentösen Akut- und Langzeitbehandlung, einfühlenden, stützenden und die IchFunktionen stärkenden Gesprächen sowie milieu-, physio-, ergo-, kunst-, und musiktherapeutischen Maßnahmen. Für alle der referierten psychosozialen Therapieverfahren liegen Wirksamkeitshinweise vor. Die größte empirische Evidenz besteht für behaviorale Familieninterventionen, was auch insofern hervorzuheben ist, als daß Angehörige, soweit vorhanden, langfristig häufig der wichtigste Quell von Unterstützung für die Patienten darstellen. Penn & Mueser (1996) resümieren in ihrer Übersichtsarbeit, daß zukünftig neben weiterer Wirksamkeitsforschung vor allem Fragen der Integration verschiedener psychotherapeutischer Maßnahmen und Fragen der dififerentiellen Indikation bei verschiedenen Patienten-Subgruppen zu intensivieren sind. Corrigan (1997, S. 311) führt aus, daß „laboratory based models of cognitive deficits do not have sufficient ecological validity for explaining social cognition". Die referierte Befundlage legt nahe, daß Interventionen, die sich ausschließlich auf die kognitive Informationsverarbeitung beziehen, in ihrer Wirksamkeit begrenzt sind, weil eine Generalisierung auf andere Funktionsebenen und ein Transfer in das Alltagsleben fraglich bleiben. Die mangelnde ökologische Validität dieser Verfahren zeigt sich auch daran, daß die Therapieefifekte in Belastungssituationen außerhalb des klinischen Schonraums nicht fortbestehen. Die Pervasivitätshypothese von Brenner konnte empirisch nicht erhärtet werden. Vielmehr zeigte sich, daß sozial-emotional orientierte Programme auch zu Verbesserungen von kognitiven Funktionen führen können. Es wird deutlich, daß Informationsverarbeitung im Sinne der Affektlogik von Ciompi (1982, 1997) sowohl auf kognitve und affektive Elemente und im Sinne
58 von Corrigan (Corrigan & Green, 1993; Corrigan, 1997) auch auf situationsbezogene Aspekte („features") ausgeweitet werden sollte. Im Sinne dieses breiteren Verständnis von Informationsverarbeitung sind Störungen der emotionalen und sozial-kognitiven Verarbeitung in therapeutischen Interventionen zukünftig stärker zu berücksichtigen. Eine abschließende Überlegung betrifft das Behandlungssetting. Während die Behandlung neuroleptikaresistenter chronischer Wahnsymptome im Einzelsetting, wenn über einen längeren Zeitraum angeboten, durchaus erfolgsversprechend sein kann, sind psychosoziale Interventionen bei Patienten und Angehörigen unabhängig von ökonomischen Erwägungen auch deswegen im Gruppensetting sinnvoll, weil der Austausch ähnlicher Erfahrungen entlastet und solidarisiert. Ferner kann aufgrund ähnlicher affektiver Grundstimmung der Betroffenen der Austausch kognitiver Informationen und die Initiierung psychischer Veränderungsprozesse gefordert werden.
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Wo sind Affekte und Kognitionen im Gehirn? - Funktionelle Bildgebung in der Psychiatrie Georg Northoff
Einleitung Was Emotionen sind, scheint selbstverständlich zu sein und doch - wenn man Emotionen genau erfassen will - scheinen sie sich einer exakten Beschreibung zu entziehen. Das Klügste, was über ihre Natur bisher gesagt wurde, ist, dass jeder weiss, was sie sind - bis man ihn bittet, sie zu definieren. Schon die Umgangssprache - im Englischen gibt es 137 allgemein gebräuchliche Gefühlsbeschreibungen - macht die babylonische Sprachverwirrung durch verschiedene Begriffe wie Gefühle, Emotionen, Affekte, Stimmungen und Gemütsbewegungen deutlich. Zwar fehlt es nicht an Versuchen, den Begriff Emotionen zu klären, doch steht dabei nur ein Einzelaspekt im Vordergrund. Im folgenden Beitrag sollen die Emotionen selber behandelt und definiert werden, ihr Zusammenhang mit anderen Funktionen aufgezeigt werden, und ihre psychologischen und physiologischen Grundlagen sowie deren Veränderungen bei psychiatrischen Erkrankungen dargestellt werden. Daher gliedert sich der vorliegende Beitrag in 2 Teile, im 1. Teil werden die Emotionen selber dargestellt, im 2. Teil werden die physiologischen und psychologischen Substrate der Veränderungen von Emotionen bei psychiatrischen Erkrankungen dargestellt.
Emotionen: Definitionen, neuroanatomische Grundlagen und funktionelle Bedeutung Was sind Emotionen? Es gibt verschiedene Definitionen der Emotionen. An der Stelle einer bestimmten Definition sollen hier in einem ersten Schritt die verschiedenen Aspekte der Emotionen geschildert werden. Emotionen sind komplexe mentale Zustände, die sich durch die folgenden Aspekte auszeichnen:
64 (1) Emotionen zeichnen sich durch einen subjektiven und phänomenalqualitativen Erlebnisaspekt aus, welcher nur in der 1.-Person Perspektive erfassbar ist; (2) Emotionen gehen mit physiologischen bzw. vegetativen Veränderungen im Körper und Nervensystem einher; (3) Emotionen weisen eine motorisch-expressive Komponente auf, so dass sie äusserlich beobachtbar sind; (4) Emotionen weisen einen engen Bezug zu kognitiven Funktionen auf, welche sich vor allem auf die Antizipationen, das Erkennen und die Bewertung von Emotionen beziehen; (5) Emotionen weisen einen Bezug zu phylogenetischen Funktionen auf und haben damit eine bestimmte Rolle sowohl in der psychophysischen Regulation der Person als auch in der Evolution inne. Eine gesunde, vollständige Emotion zeichnet sich dadurch aus, dass alle Komponenten vorliegen und in einem normalen Maße auftreten. Affektstörungen sind durch Störungen dieses normalerweise ausgewogenen Zusammenspiels zwischen den verschiedenen Aspekten der Emotion gekennzeichnet. Neben den verschiedenen Aspekten der Emotionen müssen auch noch verschiedene Funktionen in Hinsicht auf die Emotionen unterschieden werden: 1. Es muss die Wahrnehmung bzw. Perzeption von Emotionen hervorgehoben werden. Wenn ζ. B. eine Person ein Bild mit einem Gesicht sieht, so nimmt sie bestimmte Emotionen im Gesicht der Person des Bildes wahr. 2. Die Wahrnehmung von Emotionen muss nicht notwendig mit einer Induktion bzw. Auslösung von eigenen Emotionen einher gehen, d. h. Induktion und Perzeption müssen voneinander unterschieden werden. 3. Eine Person kann sich Emotionen auch imaginieren, so ζ. B. wie es sein muss, wenn eine andere Person depressiv ist oder man kann sich die Angst in einer Situation imaginieren bzw. vorstellen, ohne die Angst mit einem phänomenal-qualitativen Gehalt selber zu erleben. 4. Emotionen müssen evaluiert und bewertet werden; d. h. selbst wenn ich eine bestimmte Emotion erlebe, kann es sein, dass ich diese Emotion nicht in einem entsprechenden Maße bewerten kann, so dass hier ein enger Zusammenhang zwischen emotionalem Zustand und kognitiver Funktion gegeben ist. 5. Es besteht weiterhin ein enger Zusammenhang zwischen Emotionen und Bewusstsein. Nicht alle Emotionen geraten in das Bewusstsein, sie werden zum Teil auch imbewusst prozessiert, so ζ. B. bei verschiedenen Persönlichkeitsstö-
65 ningen. Emotionen müssen daher nicht notwendig mit Bewusstsein verknüpft sein. Darüber hinaus werden von einigen Autoren (ζ. B. Ekmann, Machleidt) noch sogenannte Basisemotionen bzw. Grundgefuhle unterschieden. Dabei werden vor allem 6 sogenannte Basisemotionen voneinander unterschieden: 1. Angst; 2. Ärger; 3. Trauer; 4. Ekel; 5. Freude; 6. Überraschung. Dabei gehen die Autoren davon aus, dass diesen Basisemotionen jeweils unterschiedliche psychophysische Korrelate zugrunde liegen, welches zum Teil auch schon in der funktionellen Bildgebung (s. unten) gezeigt werden konnte.
Neuroanatomische Grundlagen Bei der Generierung und Verarbeitung von Emotionen im Gehirn spielen sowohl kortikale als auch subkortikale Regionen eine Rolle. Hier ist vor allem das limbische System mit dem Papez-Kreis von entscheidender Bedeutung. Eine zentrale Rolle, vor allem bei negativen Emotionen, spielt die Amygdala mit ihren Verknüpfungen zum orbitofrontalen Kortex, wobei sowohl die medialen als auch die lateralen Anteile beteiligt sind. Neben der Amygdala und dem orbitofrontalen Kortex spielen das vordere Cingulum, subgenuale Regionen und die Insula eine entscheidende Rolle. Möglicherweise sind auch die Basalganglien beteiligt, hier vor allem der Nucleus accumbens. Neben diesen Regionen stellt sich auch die Frage nach einer unterschiedlichen Beteiligung des rechten und linken Gehirnes bei der Verarbeitung von Emotionen. Häufig wird das rechte Gehirn mit der Generierung von negativen Emotionen in einen Zusammenhang gebracht, wohin positive Emotionen eher linksdominant sind. Dabei ist diese Lateralisierungshypothese allerdings nicht ganz unumstritten, da sowohl diese Hypothese verifizierende als auch diese Hypothese falsifizierende Befunde in der funktionellen Bildgebung erhoben worden sind. Zusammenfassend spielt dabei nicht eine einzige Region eine entscheidende Rolle bei der Generierung von Emotionen, sondern ein komplexes Netzwerk von verschiedenen Regionen, die miteinander mittels der effektiven Konnektivität verknüpft
66 sind. Darüber hinaus scheint die Generierung von Emotionen auch mit einem bestimmten Muster von Aktivierung und Deaktivierung einherzugehen. So unterscheiden sich negative und positive Emotionen, ζ. B. durch das Muster der Aktivierung und Deaktivierung im medialen und lateralen orbitofrontalen Kortex. Während es bei negativen Emotionen zu einer Aktivierung im medialen orbitofrontalen Kortex und zu einer Deaktivierung im lateralen orbitofrontalen Kortex kam, zeigte sich bei den positiven Emotionen ein fast inverses Muster mit einer Deaktivierung im medialen und einer Aktivierung im lateralen orbitofrontalen Kortex. Neben den beteiligten Regionen, dem neuronalen Netzwerk mit einem bestimmten Muster von aktivierten und deaktivierten Regionen, und der rechts-links Lateralisierung muss somit auch in Hinsicht auf das physiologische Korrelat zwischen positiven und negativen Emotionen, und hier möglicherweise auch noch differenzierter in Hinsicht auf die Art und Weise der verschiedenen negativen und positiven Emotionen, differenziert werden.
Bedeutung und Rolle der Emotionen Die Bedeutung und Rolle der Emotionen ist bisher nicht ganz klar. Spezifische Störungen der Emotionen, welche vor allem bei psychiatrischen Erkrankungen auftreten, zeigen aber, dass sie eine zentrale Rolle für die Regulierung und Aufrechterhaltung des psychophysischen Gleichgewichtes einer Person spielt. Im Folgenden sollen drei verschiedene Bedeutungen der Emotionen hervorgehoben werden. 1. Die Emotionen spielen bei der Konditionierung eine zentrale Rolle. Die Furchtkonditionierung ist eine der am besten verstandenen emotionalen Vorgänge. Im Tierexperiment wird ein ursprünglich neutraler Ton zu einem konditionierten Stimulus, in dem er wiederholt von einem unangenehmen Reiz gefolgt wird. LeDoux konnte an der Ratte zeigen, dass die Furchtkonditionierung sowohl auf einer kortikalen sowie auch auf einer subkortikalen Route erfolgen kann. Der kortikale Weg läuft über Hörbahn, Thalamus und Hörkortex hin zur Amygdala; die Amygdala, in der der Tonreiz noch einmal verarbeitet wird, erzeugt durch verschiedene inzwischen bekannte Effektorsysteme eine Angstreaktion. Die zentrale Rolle der Amygdala an emotionalen Konditionieningsprozessen konnte kürzlich auch beim Menschen mit Hilfe der funktionellen Bildgebung nachgewiesen werden. Als Stimuli wurden neutrale menschliche Gesichter verwandt, die mit einem unangenehmen Ton oder Geräusch konditioniert wurden. Es fand sich eine rechtsbetonte bilaterale Amygdala-Aktivierung in Abhängigkeit von dem Bewusstseinsgrad des Stimulusmaterials. Dement-
67 sprechend wird hier auch von der Möglichkeit einer Dissoziation zwischen bewusster und unbewusster emotionaler Emotionsverarbeitung unterschieden. Neben der Amygdala spielt bei der Angstkonditionierung auch die mediale temporale Region und hier vor allem der Hippocampus eine entscheidende Rolle; d. h. die Generierung der Emotionen im Rahmen von Konditionierung steht in einem engen Zusammenhang mit Gedächtnisprozessen und somit der Erinnerung an emotional stark besetzte Emotionen. 2. Die Emotionen spielen eine zentrale Rolle bei der Bahnung von kognitiven Prozessen. Emotionen können in verschiedenen sozialen Situationen antizipiert werden, welches zu einer Erleichterung der Regulierung des Verhaltens führt. Darüber hinaus können die Emotionen nicht nur antizipiert werden, sondern die betrachteten bzw. erlebten Emotionen, sowohl die eigenen als auch die anderer Personen, müssen evaluiert werden, um einen Einfluss auf das Verhalten ausüben zu können. Diese Fähigkeiten der Antizipation und der Evaluation von Emotionen sind kognitive Fähigkeiten und stehen möglicherweise in einem engen Zusammenhang mit der Funktion des lateralen orbitofrontalen Kortex. Wie bereits oben dargestellt, zeigte sich bei der Darbietung von positiven und negativen Emotionen ein bestimmtes Muster von Aktivierung und Deaktivierung im medialen und lateralen orbitofrontalen Kortex, so dass sich beide Regionen möglicherweise gegenseitig regulieren. Aufgrund von neuropsychologischen Untersuchungen und Läsionstudien wird dabei dem medialen orbitofrontalen Kortex ein direkter Zusammenhang mit der Generierung emotionaler Zustände selber zugeordnet, wohingegen der laterale orbitofrontale Kortex eher mit kognitiven Fähigkeiten im Zusammenhang mit emotionalen Zuständen, und somit der Antizipation und der Evaluation, verknüpft wird. Diese Verknüpfung der Emotionen mit Kognitionen bildet somit möglicherweise die Grundlage für das Konzept einer „emotionalen Intelligenz", wodurch Emotionen in einen entsprechenden Kontext gesetzt werden können, so dass sie zu einem adäquaten sozialen Verhalten führen. Mittels der Verknüpfung von Emotionen mit Kognitionen kommt es somit zu einem adäquaten sozialen Verhalten. Dementsprechend führt die Läsion des orbitofrontalen Kortex und somit der Fähigkeit der Verknüpfung emotionaler Zustände mit Kognitionen zu einem sozialen Fehlverhalten bzw. zu einer „erworbenen Soziopathie", welches durch eine empirisch nachgewiesene Korrelation zwischen emotionalen Beeinträchtigungen und der Schwere der sozialen Verhaltensstörung zusätzlich gestützt wird. 3. Die Emotionen spielen mit ihren vegetativen und motorisch-expressiven Aspekten eine zentrale Rolle bei der „Markierung" von kognitiven und somatischen Ereignissen. Auf dieser Grundlage hat Damasio daher eine „Theorie der somatischen Marker" entwickelt. Während Basisemotionen fest verdrahtet sind,
68 entstehen sekundäre Gefühle in einer durch limbische Areale vermittelnde Überlagerung einer mentalen Vorstellung mit einer Repräsentation des Körperzustandes. Dieser ist Damasio zufolge vorwiegend im insulären und somatosensorischen Kortex der rechten Hirnhälfte lokalisiert. Vor einer Entscheidung stellt sich eine Person die Ergebnisse verschiedener Handlungsalternativen vor. Technischer ausgedrückt: Sie simuliert kontrafaktische Situationen mental. Diese Vorstellungen werden wie im orbitofrontal Kortex an die Amygdala weitergeleitet, die neben den emotionalen auch körperliche Reaktionen bewirkt. Die Repräsentation des Körperzustands im Gehirn, welche laufend „Online gehalten wird", hängt von frühen Lernerfahrungen ab. Sie wirkt als „somatischer Marker", der uns vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen intuitiv spüren lässt, ob eine vorgestellte Entscheidung richtig oder falsch ist. Dieser wertende Abgleich ist bei den Patienten gestört und führt zu den beschriebenen sozialen Verhaltensdefiziten.
Änderung der psychophysiologischen Korrelate von Emotionen bei psychiatrischen Erkrankungen Angsterkrankungen Gerade diese Erkrankungen, welche früher häufig als „rein psychologisch" abgetan wurden, zeigen erhebliche physiologische Veränderungen vor allem bei der Stimulation mit emotionalen Stimuli. So zeigte sich bei Patienten mit Tierphobien in Provokationsstudien mit visuellen Stimuli ein erhöhter Blutfluss im sekundären visuellen Kortex und gleichzeitig ein erniedrigter Blutfluss im Hippocampus, präfrontalen, orbitofrontalen, temporopolaren und posterioren cingulärem Kortex. Bei taktiler Provokation wurde bei den selben Patienten dagegen eine Erhöhimg des Blutflusses in paralimbischen Arealen (rechter Gyrus cingulus anterior und vorderer Temporalpol, linke Insula und hinterer orbitofrontaler Kortex) sowie den linksseitigen somatosensorischen Kortex im Thalamus beschrieben. Unterschiede werden zum Teil dadurch erklärt, dass beide Studien durch angstpotenzierte Aktivität in stimulationsspezifischen Arealen zeigten, bei taktiler Provokation mit geschlossenen Augen im somatosensorischen Kortex und Insula bei visueller Stimulation dagegen im visuellen Kortex. Darüber hinaus wurde eine erhöhte Synchronizität mittels der Korrelation von Aktivitätsveränderungen in der Amygdala, Thalamus, Putamen und Nucleus caudatus in dem restlichen Gehirn während provozierter phobischer Angst gefunden. Patienten mit einer sozialen Phobie zeigten im Unterschied zu einer gesunden Kontrollgruppe bereits bei der Präsentation eines neutralen Gesichtes
69 eine bilaterale Aktivierung der Amygdala, selbst wenn die Gesichter bewusst nicht als bedrohlich erlebt wurden. Dementsprechend scheint bei den Patienten mit einer sozialen Phobie eine erniedrigte Erregungs- bzw. Aktivierungsschwelle in der Amygdala vorzuliegen, da bei gesunden Probanden keine Aktivierung in der Amygdala bei den gleichen Gesichtern gefunden wurde. Darüber hinaus zeigte sich bei denselben Patienten bei der Konditionierung des neutralen Gesichts mit einem ekelerregenden Geruch eine bilaterale Aktivierung in Amygdala und Hippocampus, welches bei gesunden Patienten nicht der Fall war. Bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen zeigte sich bei Symptomprovokation eine Aktivierung der rechten Amygdala, des ventralen Gyrus cingulus anterior und des medialen orbitofrontalen Kortex. In Abhängigkeit von der Provokationsmethode zeigte sich dabei auch teilweise eine Aktivierung des temporalen Kortex und der vorderen Insula. Die beobachtende Aktivierung des rechtsseitigen sekundären visuellen Kortex wurde durch lebhafte visuelle Vorstellungen erklärt. Gleichzeitig beobachtete linksseitige Deaktivierung im medio temporalen und inferioren präfrontalen Kortex (Brucker-Areal) könnten Ausdruck der bekannten verminderten verbalen Zugänglichkeit traumatischer Erlebnisse sein. Erste Ergebnisse einer Behandlungsstudie zeigten, dass klinische Erfolge mit einer erhöhten Aktivierung des Cingulum und des linken präfrontalen Kortex einhergehen. Dies ist vereinbar mit der These, dass sie kognitive Bewältigung einer Exposition mit Stimuli traumatisch und inhaltlich nicht in der Amygdala, sondern in mehr frontalen Regionen erfolgt. Bei Zwangsstörungen liegen extreme emotionale Zustände in Verbindung mit bestimmten Kognitionen bzw. Gedanken vor, wodurch ein extremer Zwang entsteht. Dementsprechend konnte in mehreren Untersuchungen eine Hyperaktivität im orbitofrontalen Kortex nachgewiesen werden, welches mit der oben postulierten Rolle des medialen und lateralen orbitofrontalen Kortex bei der Generierung von emotionalen Zuständen und ihrer Verknüpfung mit Kognitionen in voller Übereinstimmung steht. Neben dem orbitofrontalen Kortex wurde auch eine Hyperaktivierung im Nucleus caudatus der Basalganglien gefunden, so dass hier vor allem der Funktionskreis zwischen dem orbitofrontalen Kortex, Nucleus caudatus, anderen Basalganglien und präfrontalen Kortex von zentraler Bedeutung ist. Es wird von einer gestörten Filterfunktion im Nucleus caudatus ausgegangen, dadurch bedingt kann vom frontalen Kortex ein vermehrter „Sorgeninput" in einen frontosubkortikalen Kreislauf gelangen, um schliesslich in einer selbstverstärkenden Schleife zu „kreisen". Über dessen motorische Anteile, welche vor allem mit den Basalganglien zusammenhängen, kommt es
70 dann zu den Zwangshandlungen, welche aufgrund der starken emotionalen Beteiligung nur unter grösster Anstrengung kontrollierbar sind. Sowohl eine erfolgreiche medikamentöse Therapie mit serotonergen Antidepressiva als auch eine isolierte non-medikamentöse erfolgreiche Verhaltenstherapie führten zu einer Verminderung der initial erhöhten Aktivität im Nucleus caudatus und im orbitofrontalen Kortex.
Depressionen Die Depression zeichnet sich durch extreme Ängste, Grübelgefühle und depressive Stimmung aus, so dass hier eine einseitige Veränderung der Emotionen in negativer Hinsicht vorliegt. Darüber hinaus sind die depressiven Patienten nicht mehr in der Lage, positive Emotionen zu erleben, so dass hier ein entsprechendes emotionales Ungleichgewicht vorhanden ist. In der funktionellen Bildgebung zeigt sich häufig eine Minderaktivierung des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex, im vorderen Cingulum und im orbitofrontalen Kortex. Darüber hinaus finden sich auch Hinweise auf Dysfunktionen in medialen temporalen Regionen bei der Depression. Von zentraler Bedeutung ist bei der Depression vor allem der Serotonin-Stoffwechsel. Gesunde Versuchspersonen zeigten nach Gabe des Serotonin-Agonisten Fenfluramin eine linksseitige Erhöhung des Glucoseverbrauchs im dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie eine Verminderung im rechten präfrontalen Kortex. Im Unterschied dazu fanden sich bei depressiven Patienten keine signifikanten Veränderungen, welches mit einem herunter regulierten oder einem erschöpften Serotonin-Stoffwechsel vereinbar ist. Dementsprechend gehen erfolgreiche Therapien der Depressionen mit serotonergen Substanzen mit entsprechenden Veränderungen der Hirnaktivität einher. Nach einer erfolgreichen Therapie mit Fluoxetin, SerotoninWiederaufnahme-Hemmer, kam es zu einer Erhöhung des Blutflusses im linken dorsolateralen präfrontalen Kortex und im orbitofrontalen Kortex. Cerebrale Aktivitätsmuster im vorderen Cingulum können so als Therapieerfolge prädestinieren. Therapieresponder zeigten vor Behandlungen mit Schlafentzug oder Medikamenten einen erhöhten Blutfluss bzw. Glucoseverbrauch, der sich nach erfolgreicher Therapie wieder normalisierte. Im Unterschied dazu wiesen NonResponder eine normale oder verminderte Aktivität vor Therapie auf. Die Hyperaktivität im vorderen Cingulum könnte somit eine kompensatorische Reaktion darstellen, die zu einem günstigen Therapieverlauf prädisponiert. Bei extrem depressiven Patienten, welche in einen katatonen Zustand geraten, fand sich ein inverses Muster von Aktivierung und Deaktivierung im medialen
71 und lateralen orbitofrontalen Kortex bei negativen und positiven Emotionen. Die katatonen Patienten zeigten bei negativen Emotionen eine Deaktivierung im medialen und eine Aktivierung im lateralen orbitofrontalen Kortex, welches sich bei gesunden Patienten und non-katatonen psychiatrischen Kontrollpatienten genau in umgekehrter Form fand. Dieses inverse Muster konnte durch, bei katatonen Patienten sehr gut therapeutisch wirksame Substanz Lorazepam, welche an den GABA-A-Rezeptoren bindet, moduliert werden. Eine ähnliche Veränderung des Musters von Aktivierung und Deaktivierung fand sich ebenfalls bei depressiven Patienten mit der gleichen Normalisierung nach erfolgreicher Therapie mit serotonergen Substanzen.
Zusammenfassung 1. Zusammenfassend zeichnen sich die Emotionen durch eine psychologische Differenzierung aus, so dass Emotion nicht mit Emotion gleichgesetzt werden kann, d.h. der untersuchende bzw. in Frage stehende Prozess sollte in psychologischer Hinsicht mehr charakterisiert werden. Weiterhin zeichnen sich die Emotionen durch eine enge Verknüpfung sowohl mit kognitiven als auch somatischen bzw. vegetativen Funktionen aus. 2. Es zeichnen sich die Emotionen durch eine gewisse Komplexität ihrer neuroanatomischen Korrelate aus, so dass hier nicht eine einzelne Region, sondern ein komplexes Netzwerk von verschiedenen Regionen, welche bei den verschiedenen Formen der Emotionen in jeweils unterschiedlicher Weise beteiligt sind. 3. Es liegen eindeutige Befunde zu physiologischen bzw. pathophysiologischen Veränderungen bei sogenannten „psychologischen" Erkrankungen vor, wie z. B. von Angsterkrankungen und der Zwangsstörung. Die neuronalen Korrelate bzw. das neuronale Netzwerk, welches für die Generierung von emotionalen Zuständen verantwortlich ist, scheint hier in unterschiedlichen Formen verändert zu sein. 4. Erste therapeutische Untersuchungen zeigen, dass das für die Generierung von Emotionen zuständige neuronale Netzwerk pharmakologisch durch serotonerge, dopaminerge und / oder GABA-erge Substanzen moduliert werden kann, so dass die für die Emotionen zentralen Muster von Aktivierung und Deaktivierung im neuronalen Netzwerk möglicherweise durch verschiedene Neurotransmitter moduliert und reguliert werden.
72
Testgestützte Therapiegestaltung und Evaluation: Soziale Motive, affektivkognitive Stile und Selbststeuerungsfunktionen Julius Kühl Das Thema dieser Einführung ist die Messimg von Funktionsstörungen, die psychische Symptome verursachen können. Ich werde mich zunächst auf Funktionen konzentrieren, die krankheitsübergreifend relevant sind, deren Beeinträchtigung also allgemein das Risiko erhöht, irgendeine psychische Krankheit zu entwickeln. Anschließend gehe ich auf die Funktionen ein, die spezifisch für bestimmte Erkrankungen sind. Die funktionsanalytische Interpretation spezifischer psychischer Störungen stelle ich am Beispiel der Zwangserkrankung dar. Dabei wird sich der „funktionale Ort" dieser Erkrankung von anderen Störungen wie Depression und Angst im Rahmen einer neuen systemanalytischen Theorie abgrenzen lassen (PSI-Theorie). Schließlich werde ich auf eine therapiebegleitende Untersuchung eingehen, in der Patienten mit Zwangsstörungen verglichen wurden mit Patienten, die an Angststörungen bzw. Depression litten. Diese Untersuchung zeigt, daß sich Therapie-Effekte auch auf der Ebene krankheitsverursachender Störungen des Gleichgewichts affektiver, kognitiver, motivationaler und volitionaler Prozesse nachweisen lassen. Methoden zur Analyse psychischer Funktionen mit psychometrischen Instrumenten gibt es seit einigen Jahrzehnten im Bereich der Kognitions- und der Neuropsychologie, z.B. zur Diagnose von Gedächtnisfunktionen und Wahrnehmungsleistungen. Im Bereich der Diagnostik persönlichkeitsrelevanter Prozesse, welche am Zustandekommen neurotischer Störungen beteiligt sind, ist die Funktionsanalyse alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Freuds Psychoanalyse hat zwar viele dynamische Prozesse postuliert, die neurotische Symptome verursachen sollen. Moderne analytische Ansätze unterscheiden sich zwar von der klassischen Psychoanalyse in den postulierten Krankheitsursachen (z.B. mangelnde Widerspiegelung von Selbstäußerungen statt verdrängte Triebkonflikte), haben jedoch eines mit klassischen Ansätzen gemeinsam: Meßbar sind die meisten der postulierten Verursachungsprozesse bis heute nicht, je-
73 denfalls nicht so, daß die Messung sowohl den Anforderungen des klinischen Alltags als auch wissenschaftlichen Kriterien genügen. In der Medizin ist es geradezu eine Selbstverständlichkeit, daß der Behandlung eine eingehende Funktionsanalyse vorausgeschickt wird. Es ist selbstverständlich, daß sich ein Arzt nicht auf die minutiöse Beschreibung der Symptome etwa auf die Beschreibung der Intensität und Häufigkeit der Kopfschmerzen einer Patientin - beschränkt, sondern mit geeigneten Methoden nach den Ursachen sucht: Ist der Kopfschmerz lediglich eine Begleiterscheinung eines Infekts oder wird er durch einen Tumor verursacht? Im Falle eines Infekts würde im Rahmen der weiteren Ursachenanalyse zwischen einer Virusinfektion und einer bakteriellen Infektion zu unterscheiden sein. Die Funktionsanalyse kann dann weiter fortgesetzt werden, z.B. in Richtung einer allgemeinen Funktionsprüfung der Abwehrkraft bis hin zu einer zunehmend verfeinerten Analyse einzelner Parameter des Immunsystems. In der Psychotherapie gibt es ein vergleichbar ausgearbeitetes System der Funktionsdiagnostik nicht. Die Verhaltenstherapie hat ihre historischen Wurzeln in der experimentellen Lernpsychologie behavioristischer Prägung. Die einseitige Fokussierung auf die Verhaltens- und Symptomebene war zunächst durchaus als bewußte Abkehr von der Psychoanalyse gemeint, die zwar ein komplexes Modell krankheitsverursachender Prozesse angeboten hatte, nicht aber wissenschaftlich akzeptable Methoden zur Messung solcher Prozesse. Inzwischen hat sich auch die Verhaltenstherapie längst von einer einseitigen Zentrierung auf das Symptom gelöst und sich der Analyse von Vermittlungsprozessen geöffnet: So wird die funktionale Bedeutung ungünstiger kognitiver Schemata berücksichtigt - etwa in der rational-emotiven Therapie von Albert Ellis (1962/1977) oder in der kognitiven Verhaltenstherapie von Aaron Beck (1979); die Berücksichtigung der Rolle von Emotionen ist längst selbstverständlich und sogar Funktionen, die lange Zeit sog. „erlebniszentrierten Ansätzen,, (wie z.B. der Gesprächs- und der Gestalttherapie) vorbehalten waren, werden mit einbezogen, etwa individuelle Formen der Angstbewältigung, Aspekte der Selbstwahrnehmung und der Selbstbehauptung (Perls, 1973; Rogers, 1961; Sachse, 1992). Diese Öffnung der Verhaltenstherapie, die von dem Berner Psychotherapeuten Klaus Grawe (Grawe, 1998) besonders überzeugend vorangetrieben wird, ist sicher ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine funktionsdiagnostische Psychotherapie. Sie kann dazu beitragen, daß Spaltungen zwischen verschiedenen Therapieschulen bald überwunden sein werden. Trotz dieser positiven Perspektive macht die erweiterte Verhaltenstherapie das diagnostische Defizit erst richtig deutlich. Das liegt u.a. daran, daß die Persönlichkeitsdiagnostik in den vergangenen Jahrzehnten nicht in erster Linie um die
74 experimentelle Separierung persönlichkeitsrelevanter Funktionen bemüht war, sondern im Gegenteil die Aggregierung ähnlicher bzw. kovariierender Merkmale zu wenigen Faktoren wie Extraversion oder Neurotizismus angestrebt hat. Dieser Ansatz, der von Hans-Jürgen Eysenck (1967) schon in den 50er Jahren vertreten wurde und heute wieder mit dem Modell der Big Five (gemeint sind „Persönlichkeitsfaktoren") eine Renaissance erlebt (McCrae & Costa, 1987), hat dazu beigetragen, daß wenige Energien dafür investiert wurden, sich dem zu stellen, was normalerweise die große Herausforderung jeder Wissenschaft ist, nämlich Variablen, die in der Natur untrennbar verflochten sind, durch geschicktes Experimentieren zu isolieren, um ihre Beteiligung am Verursachungsgeschehen separat einschätzen zu können. Aufgrund der jahrzehntelangen Fokussierung auf die Aggregationsmethodik der Faktorenanalyse steckt die Messung von kognitiven Stilen und emotionalen Prozessen noch in den Kinderschuhen, ganz zu schweigen von einer Messung der vielen Einzelfunktionen, die dazu beitragen, daß Menschen ihr Leben aus eigener Kraft, d.h. selbstgesteuert gestalten können. Fast gänzlich darnieder liegt die klinische Anwendung von Methoden zur Messung sozialer Motive, also den Bedürfnissen nach mehr oder weniger engen menschlichen Beziehungen (dem sog. „ASiliationsmotiv"), nach Steigerung der eigenen Kompetenz („Leistungsmotiv") und nach Selbstäußerung, Selbstentwicklung und Selbstbehauptung („Machtmotiv"). Man muß gewiß nicht ein eingefleischter Psychoanalytiker sein, um einzusehen, daß die Frustration solcher grundlegender Bedürfnisse in der Kindheit, aber auch im Erwachsenenalter zur Bildung psychischer Störungen beitragen kann. Um so erstaunlicher ist es, daß gerade der Bereich der Motivmessung in der Praxis stark vernachlässigt wird. Das mag z.T. an Vorurteilen gegenüber klassischen Methoden der Motivmessung liegen, wie dem Thematischen Apperzeptions-Test (TAT). Inzwischen sind die hervorragenden psychometrischen Eigenschaften solcher Methoden mit modernen stochastischen Testmodellen (Kühl, 1978) und über Jahrzehnte reichenden Zusammenhängen zwischen TAT-Kennwerten und Lebensverlaufsdaten längst nachgewiesen worden (McClelland, 1985; Winter, 1996). Wir haben in verschiedenen Osnabrücker Projekten neue Methoden zur Messung solcher bewußt nicht immer zugänglicher, d.h. „impliziter" Motive entwickelt. In unserer Methodik werden sowohl die Fortschritte der kognitionswissenschaftlichen Gedächtnisforschung berücksichtigt als auch die Fortschritte in der theoretischen Analyse handlungssteuernder Prozesse und der Separierung einzelner Funktionen mit Hilfe neuer Meßverfahren (Kühl & Scheffer, 1999).
75 Warum ist gerade eine funktionsanalytisch konzipierte Persönlichkeitsdiagnostik zur Ermittlung der Ursachen psychischer Symptome so wichtig? Heute können wir diese Frage präziser beantworten als noch vor wenigen Jahren. Das in Abbildung 1 skizzierte Modell der Entstehung psychischer Erkrankungen stellt krankheitsübergreifende Verursachungsmomente heraus. Die Kästchen des abgebildeten Modells sind in der Richtung numeriert, in der wir uns in der Ursachenanalyse bewegen: Die Ursachenanalyse beginnt (in der Abb. rechts) bei den Symptomen (Kasten 1) und endet (links unten) bei der Selbststeuerung (Kasten 5). Die Abkürzungen in den einzelnen Kästchen beziehen sich auf die neuen Instrumente, mit denen die Funktionen in dem jeweiligen Persönlichkeitsbereich gemessen werden sollen. Das abgebildete Modell versucht eine Antwort auf die Frage: Gibt es - abgesehen von krankheitsspezifischen Faktoren - auch Ursachen psychischer Störungen, die verschiedenen Symptomen wie Depression, Angst-, Zwangs- und Eßstörungen etc. gemeinsam sind?
Ein allgemeines Modell der Neuroseentstehung Ich denke, wir haben heute das theoretische und das methodische Rüstzeug, um zu zeigen, daß eine all diesen Störungen gemeinsame Ursache in der Frustration sozialer Basisbedürfnisse nach Leistung, persönlichen Beziehungen und Selbstverwirklichung (einschließlich Macht) liegt. Daraus ergibt sich gleich die nächste Frage: was ist die Ursache dafür, daß ein Mensch immer wieder und sogar in bedürfnisfreundlichen Umgebungen in seinen psychischen Bedürfnissen frustriert wird? Eine Ursache, die in dem mittleren Kasten der Kausalkette illustriert ist (Kästchen 2), liegt darin, daß sich jemand immer wieder Ziele setzt, die nicht zu seinen unbewußten Bedürfnissen und Motiven passen. Die Verursachungssequenz läßt sich weiter hinterfragen: Worin liegt die Ursache solcher Diskrepanzen zwischen expliziten Zielen und unbewußten Motiven? Eine Ursache kann in den Einseitigkeiten der kognitiven Stile liegen, die mit den bekannten Persönlichkeitsstilen und -Störungen assoziiert sind (vgl. Beck & Freeman, 1993). Wer z.B. auf analytische, strategisch-manipulative Schemata festgelegt ist, dürfte Schwierigkeiten haben, intime persönliche Beziehungen aufzubauen. Wer allzu sehr auf nüchternes Analysieren festgelegt ist, kann sogar Schwierigkeiten haben, die liebevollen Gefühle, die ein anderer Mensch ihm entgegenbringt überhaupt zu bemerken, geschweige denn wirklich zu fühlen. Ein analytisch-strategischer Stil führt auch leicht dazu, daß man sich Ziele setzt, die weit weg von der Befriedigung der eigenen verborgenen Beziehungsbedürfnisse liegen. Wer andererseits auf spontane Herzlichkeit oder gar histrio-
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Abbildung 1: Modell der krankheitsübergreifender Ursachen der Entstehung neurotischer Symptome
nisch-unverbindlichen Impressionismus festgelegt ist, wird frustriert werden, wenn die Befriedigung von Bedürfnissen einmal stärker Verbindlichkeit und Planung als spontanen Gefühlsausdruck erfordert (z.B. zum Erreichen schwieriger Ziele im Leistungsbereich oder zur Verwirklichung von Verläßlichkeit in der Partnerschaft). Ich frage weiter: Wenn die Fixierung auf kognitive Stile störend sein kann, wo liegen wiederum die Ursachen solcher Fixierungen? Eine Antwort zeichnet sich in neueren Befunden zur Wechselwirkung zwischen Kognition und Emotion ab: Es gibt deutliche Hinweise darauf, daß die Fixierung auf bestimmte kognitive Schemata wie pessimistische oder optimistische, mißtrauische oder naive Überzeugungen ihrerseits durch affektive Fixierungen verursacht sind, die oft in der
77 frühen Kindheit entstanden sind (d.h. Über- oder Unterempfindlichkeit für positiven bzw. negativen Affekt). Diese Verursachungsebene ist im Kästchen Nr. 3 in Abbildung 1 angedeutet. Hier wird theoretisch erklärbar, warum die Fixierung auf hoch komplizierte kognitive Schemata bereits in der frühen Kindheit erfolgt: Es ist ja bekannt, daß der frühe Austausch zwischen dem Kind und der Mutter wie auch anderer Bezugspersonen stärker von affektiven Prozessen als von kognitiven Prozessen begleitet ist (Keller, 1997; Papousek & Papousek, 1987). Komplexe kognitive Einseitigkeiten können also in der frühen Kindheit noch gar nicht entstehen, wohl aber affektive Fixierungen, die dann sehr viel später erst zu kognitiven Einseitigkeiten fuhren. Warum fuhren Fixierungen auf positiven bzw. negativen Affekt zu kognitiven Einseitigkeiten? Ein Erklärungsansatz läßt sich aus den Modulationsannahmen der PSI-Theorie ableiten, die ich gleich skizzieren werde. Und selbst hier ist die Verursachungskette nicht zu Ende: Es gibt Befunde, die zeigen, daß affektive und kognitive Fixierungen keineswegs zwingend in die psychiatrische Erkrankung münden. Wer die Fähigkeit entwickelt hat, kognitive Überzeugungen und affektive Zustände aus eigener Kraft, also selbstgesteuert zu verändern, hat ein erheblich verringertes Erkrankungsrisiko: Eine Beeinträchtigung der Selbststeuerung („Lageorientierung") wurde als krankheitsübergreifendes Merkmal bei Patienten mit depressiven Störungen, mit Zwangs-, mit Angst- und auch bei Patienten mit Eßstörungen gefunden (Hautzinger, 1994). Das Modell in Abbildung 1 nimmt eine Wechselwirkung zwischen affektiven und kognitiven Fixierungen (Kästchen 3 und 4) einerseits und der Selbststeuerung andererseits an (Kästchen 5): Eine affektive Fixierung auf überempfindliche Verletzbarkeit kann bei gut ausgebildeter Selbststeuerung sogar eine besonders tiefgreifende und harmonische Entwicklung der Persönlichkeit begünstigen, weil die Person durch die hohe Sensibilität immer wieder Neues aus der Innen- und Außenwelt dazu lernt, Ängste und Enttäuschungen wahrnimmt, statt sie zu verdrängen, und weil sie - bei gleichzeitig guter Selbststeuerungskompetenz - schmerzhafte Erfahrungen immer wieder bewältigen und in das sich entwickelnde Selbstsystem integrieren kann. In einer rezenten Untersuchung von David Scheffer, der seine Dissertation innerhalb eines gemeinsamen Projekts der von Heidi Keller geleiteten entwicklungspsychologischen Forschungsgruppe und meiner Arbeitsgruppe in Osnabrück erarbeitet hat, ließ sich diese theoretische Ableitung empirisch bestätigen. Abhängige Variable war das mit unserem projektiven Motivtest (PMMT) erfaßte „Intimitätsmotiv", welches ein Maß für eine angstfreie, selbstbestimmte und ausgeglichenen Gestaltung von persönlichen Beziehungen darstellt. Personen mit einem hohen Kennwert in einem borderline-analogen Persönlichkeits-
78 Stil, der durch Überempfindlichkeit und abrupte Gefuhlsreaktionen gekennzeichnet ist, zeigten paradoxerweise sogar höhere Werte in dem erwähnten PMMT-Kennwert für die reife und selbstbestimmte Form der Beziehungsgestaltung, und zwar wenn sie über eine hohe Selbststeuerungskompetenz verfugten. Tabelle 1: Überblick über die Instrumente der TOP-Diagnostik (Therapiebegleitende Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik) (1)
Systemausprägung (BES) Intensität, Veränderungen, Befindlichkeit
(2) Bedürfnisse und Motive (MUT und PMMT): a) Motiv- Umsetzungs-Test (MUT): Bewußte Repräsentationen von Beziehungs-, Leistungs- und Machtbedürfnisse und die Art ihrer Umsetzung (intrinsisch, extrinsisch, strategisch, passiv) b) Projektiver Multi-Motiv-Test (PMMT): Implizite Repräsentationen von Beziehungs-, Leistungs- und Machtbedürfnissen und die Art ihrer Umsetzung (intrinsisch, extrinsisch, selbstgesteuert, aktionistisch, hilflos) (3) Persönlichkeits-Stil und -störungs-Inventar (PSSI): affektiv-kognitive Schemata wie z.B. paranoid, schizoid, unsicher, abhängig, histrionisch, borderline etc. (4) Basisemotionen (BEF): traurig, gehemmt, nervös, gelassen, fröhlich, tatkräftig, ärgerlich (5) Selbststeuerungs-Inventar (SSI): Mikroanalyse von über 30 Funktionskomponenten der Selbststeuerung in den Makrobereichen: Willensbahnung, Zielorientierung, Willenshemmung, Selbsthemmung
In einem Projekt mit der entwicklungspsychologischen Forschungsgruppe von Heidi Keller in Osnabrück ergaben sich nun erste Hinweise darauf, daß Fixierungen auf affektive und kognitive Stile ganz anders entstehen, als die Fähigkeit affektive und kognitive Funktionen selbstgesteuert zu verändern bzw. situationsangepaßt auszuwählen (d.h. Boxen 4 und 5 haben ihrerseits wieder unter-
79 schiedliche Ursachen): Kognitive und affektive Einseitigkeiten beruhen z.T. auf genetischer Veranlagung (Pedersen et al., 1988) und z.T. auf der Häufigkeit positiver bzw. negativer Erfahrungen besonders in der frühen Kindheit, die sich z.B. in persönlichkeitsprägenden Bindungsmustern niederschlagen (z.B. Egeland & Farber, 1984). Andererseits scheint die Fähigkeit, die aus solchen Veranlagungen resultierenden Zustände selbstgesteuert und situationsangepaßt zu verändern, davon abzuhängen, ob es mindestens eine Lebensphase gegeben hat, in der Selbstäußerungen beachtet und sowohl prompt als auch inhaltlich angemessen beantwortet wurden (Chasiotis, 1998; Keller, 1997; Kühl & Völker, 1998).
Überblick über die Therapiebegleitende Osnabrücker Persönlichkeitsdiagnostik Wir haben auf der Grundlage der experimentellen Erforschung der genannten Persönlichkeitsbereiche Fragebogenitems entwickelt, die einen möglichst hohen Zusammenhang mit objektiven Kennwerten für die jeweiligen Funktionskomponenten der Persönlichkeit aufweisen. Wie sieht diese Therapiebegleitende Osnabriicker Prozeßdiagnostik im einzelnen aus? Ich beschränke mich auf die von uns entwickelten Fragebogenmethoden, die in erster Annäherung einen Überblick über verschieden Funktionsbereiche („Makro-Profil") und in einem zweiten Schritt das Screening einer großen Zahl psychischer Einzelfunktionen ermöglichen. Tab. 1 gibt einen Überblick: Wir haben ein 25-Item Instrument zur Beurteilung der Symptombelastung entwickelt, das in Ergänzung zu krankheitsspezifischen Instrumenten (wie z.B. im Bereich der Zwangserkrankung die YBOCS) krankheitsübergreifende Belastungsmomente erfaßt (BES). Entsprechend dem ersten Schritt des skizzierten Verursachungsmodells (Kästchen 2 in Abb. 1), das von den Symptomen retrograd zu immer tiefer liegenden Verursachungsmomenten fortschreitet, sollte am Anfang der Ursachensuche die Motivdiagnostik stehen. Wir haben einen neuen Fragebogen entwickelt (MUT), der nicht nur die Ausprägung bewußt zugänglicher Bedürfnisse nach Leistung, persönlichen Beziehungen und Macht erfaßt, sondern auch ermittelt, auf welche Weise jemand seine Bedürfnisse zu befriedigen versucht, z.B. ob eher Intuition oder eher Planung und analytisches Denken eingesetzt wird (letzteres kann zur Befriedigung von Leistungsbedürfnissen günstig, zur Befriedigimg von Beziehungsbedürfnissen aber ungünstig sein). Dieses Verfahren kann durch einen neuen projektiven Test ergänzt werden, um die Ausprägung von Bedürfnissen und Motiven auf
80 einer bewußt nicht immer zugänglichen Ebene zu messen. Der Vergleich von Motivkennwerten aus dem Fragebogen (MUT) und dem projektiven Test (PMMT) kann Diskrepanzen zwischen bewußten Zielen und unbewußten Bedürfnissen aufdecken. Solche Diskrepanzen können latente „Streßgeneratoren" sein, die laufend negativen Affekt und Streßsensibilität erzeugen, selbst wenn Außenstehenden und der Person selbst die Lebensumstände in sehr positivem Licht erscheinen, so daß die psychische Erkrankung „wie aus heiterem Himmel" über die betreffende Person hereinzubrechen scheint. Zur Messung der zweiten Verursachungsebene wurde ein Test zur Messung kognitiver Stile entwickelt, die mit verschiedenen Persönlichkeitsstilen assoziiert sind: das Persönlichkeitsstil- und -störungs-Inventar (PSSI) erfaßt nichtpathologische Entsprechungen der aus den diagnostischen Manualen bekannten Persönlichkeitsstörungen. Hier liegt der Schwerpunkt der Messung auf einseitigen kognitiven Schemata, etwa ein starkes oder übertriebenes Mißtrauen gegenüber anderen Menschen beim paranoiden Stil oder eine Verengung auf kategorische Schemata, welche beim borderline-analogen Stil zu der Schwierigkeit fuhren, gegensätzliche Eigenschaften eines Menschen innerhalb eines Schemas zu integrieren. Fixierungen auf bestimmte affektive Basisdispositionen, die zu kognitiven Fixierungen fuhren können, messen wir mit einer Adjektivcheckliste, die aus einer Reihe international anerkannter Verfahren zusammengestellt ist (BEF). Zur Messung der vierten Verursachungsebene (Kästchen 5 in Folie 1) haben wir schließlich ein Instrument zur Messung von über 30 Einzelfunktionen der Selbststeuerung entwickelt (SSI). Da die überwiegende Zahl psychischer Erkrankungen mit einer Beeinträchtigung der Fähigkeit einhergeht, das Leben aus eigener Kraft zu gestalten, kann man um so praktikablere Hinweise erwarten, je genauer die Funktionskomponenten dieser Fähigkeit zu selbstgesteuertem Handeln gemessen werden. Das SSI wurde an objektiven Meßwerten für die verschiedenen Funktionskomponenten validiert. Die objektiven Maße beruhen auf experimentalpsychologischen Methoden und auf neuen EEG-Techniken, besonders ereigniskorrelierten langsamen Potentialen (Haschke & Kühl, 1994). Auf diese Weise kann beurteilt werden, ob psychische Symptome wie Zwangsstörungen, aber auch Angst, Depression, Spannungskopfschmerz etc. dadurch verursacht werden, daß die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse auf ungeeignete Weise gesucht wird. Abbildung 2 gibt ein Beispiel. Sie zeigt das sog. Makro-Profil eines hochbegabten Schülers, der depressive und zwanghafte Symptome entwickelt hatte. Wir sprechen von einem „Makro-Profil", weil es in noch relativ geringer Auflösung einen groben Überblick über die wichtigsten Funktionsbereiche der Persönlichkeit gibt. Wo immer Auffälligkeiten zu
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Abb. 2: Makroprofil eines Schülers (Selbstbestimmung)
(Zielorientierung)
(Zielumsetzung)
Intuitives HandeIn:A+
Planen: A(+) (Leistungsmotiv) — -
-
(Beziehungsmotiv)
Kognitive Stile Selbststeuerung Bedürfnisse
(Lageorientierung)
Empfindsamkeit: A-
verzeichnen sind, kann dann die Mikroanalyse einsetzen. Eingezeichnet sind normierte Testwerte (T-Werte), die in der Eichstichprobe einen Mittelwert von 50 und eine Standardabweichung von 10 aufweisen. Warum entwickelte dieser Schüler depressive und zwanghafte Symptome? Eine mögliche Ursache wird bereits durch das Makro-Profil nahegelegt (Abb. 2): Es liegt eine starke Ausprägung des Bedürfnisses nach warmherzigen, persönlichen Beziehungen vor (Affiliationsmotiv). Dieses Bedürfnis dürfte jedoch häufig frustriert werden, da es offensichtlich auf sehr einseitige Weise umgesetzt wird: Vertrauen und Herzlichkeit löst man bei anderen Menschen nicht gerade dadurch aus, daß man sehr planend oder gar manipulativ vorgeht. Diese Diskrepanz zwischen dem vorherrschenden kognitiven Stil (analytisches Denken und Planen) und dem für ein starkes Beziehungsmotiv notwendigen kognitiven Stil (intuitive Verhaltenssteuerung) kann im vorliegenden Fall leider auch nicht durch eine gute Selbststeuerungskompetenz kompensiert werden: Von den Selbststeuerungsfunktionen ist zwar die Zielorientierung gut entwickelt, sie hilft aber wenig bei der Umsetzung von Zielen, solange die Fähigkeit fehlt, aus eigener Kraft (d.h. „selbstgesteuert") die notwendige Energie zur Umsetzung der durchaus bewußten Ziele zu mobilisieren. Ich will nicht auf die Mikroanalyse eingehen, die in diesem Fall die Funktionsdefizite aufdeckte, welche zu dem Energiedefizit und der Fixierung auf strategisches Denken beitrugen. Das Beispiel mag ausreichen, um zu veranschaulichen, wie die umfassende Diagnostik persönlichkeitsrelevanter Prozesse die Ursachensuche und damit die Präzisierung von Therapiezielen unterstützen kann.
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"Selbstmotivierung" f
3 Extensionsgedächtnis (EM: PSSI) Kontext-und
J
Selbstwissen, kongruenzbetonte . Aufmerksamkeit
"Verdrängung"
•mJ
I Selbsthemmung i 1 1 ! 1 1 1 Τ
/
6 Intentionsausführung (PSSI) Intuitive Verhaltensroutinen
Ì
V
Γ ^r
1
Objekterkennung (PSSI) inkongruenzbetonte Aufmerksamkeit
Theorie der willentlichen Handlungssteuerung (Kern der PSl-Theorie) Hemmungsrelation; A+ = positiver Affekt; A(+) = Hemmung von A+ Bahnungsrelation; A- = negativer Affekt; A(-) = Hemmung von A-
Abbildung 3: Affektmodulierte Interaktion der vier kognitiven Makrosysteme (PSI-Theorie)
*
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Einführung in die PSI-Theorie Bevor ich abschließend auf eine Untersuchung eingehe, die zeigt, wie unser neues Instrumentarium auch die Effekte einer Therapie objektivieren kann, die über die Symptomebene hinaus auch vermutete Ursachen psychischer Störungen erreicht, möchte ich noch einige Bemerkungen über die theoretischen und experimentellen Grundlagen unsere Ansatzes machen. Die Interaktion der für das Zustandekommen krankmachender Bedürfnisfrustrationen so kritischen und affektiven Funktionen wird in der PSI-Theorie präzisiert, deren Kernannahmen in Abb. 3 skizziert sind: Die relative Stärke, mit der die für persönlichkeitsrelevante Prozesse wichtigsten vier kognitiven Systeme aktiviert werden, wird nach dieser Theorie von positiven und negativen Affekten moduliert. Positiver Affekt enthemmt den Antagonismus (gestrichelter Pfeil) zwischen dem Gedächtnis für bewußte Vornahmen (Intentionsgedächtnis) und dem Ausführungssystem. Das bedeutet, daß positiver Affekt nicht nur den in der Literatur beschriebenen Verhaltensbahnungseffekt hat, sondern auch eine Willensbahnung bewirkt, vorausgesetzt, es liegt eine bewußte Absicht vor (im IG). Das ist normalerweise nur der Fall, wenn Schwierigkeiten bei der Realisierung auftreten. Eine geringe Sensibilität für positiven Affekt (z.B. Introversion) und - in noch stärkerem Maße - die Unfähigkeit, den bei auftretenden Schwierigkeiten oder Frustration verloren gegangenen positiven Affekt selbstgesteuert wiederherzustellen (z.B. prospektive Lageorientierung), kann gemäß dieser 1. Modulationsannahme der PSI-Theorie zu einer passiven Fixierung auf unrealistische Ziele und Ideale fuhren und zu einer stärkeren Konformität gegenüber den Wünschen und Erwartungen anderer (Fremdsteuerung): Wenn die Fähigkeit, eigene Ziele umzusetzen fehlt (d.h. das IG mit IVS durch A+ zu verbinden), können fremde Ziele sich im System ausbreiten und das Verhalten bestimmen (vorausgesetzt sie sind so gefaßt, daß sie direkt durch vorhandene intuitive Verhaltensroutinen, d.h. ohne Umweg über Planen und das IG umgesetzt werden können). In diesem Fall kann das fremdgesteuerte Verhalten trotz der Willenshemmung (d.h. IG —> IVS) ausgeführt werden, da das IVS direkt, d.h. ohne Umweg über das IG angesteuert werden kann, wenn es sich um einfache, direkt abrufbare Routinen handelt. Auch die Fragen des SSI sind an objektiven Maßen für die Verwechslung fremder mit eigenen Zielen (Kühl & Kazén, 1994) und für andere Funktionskomponenten der Selbststeuerung validiert (Kühl & Fuhrmann, 1998). Wir konnten unlängst die 1. Modulationsannahme auf geradezu spektakuläre Weise bestätigen: Die mit einer schwierigen Willenshandlung verbundene erhöhte Reaktionszeit beim sog. Stroop-Effekt läßt sich praktisch vollständig beseitigen, wenn man jeder Stroop-Aufgabe (z.B. das Wort ROT, das in grüner
84 Farbe geschrieben ist und dessen Farbe benannt werden muß) für 200 msec oder länger ein positives Wort (z.B. „Glück") vorausschickt (Kühl & Kazén, 1999). Die 2. Modulationsannahme der PSI-Theorie (rechte Seite des TheorieAusschnitts in Abb. 3) betrifft den Antagonismus zwischen dem Wahrnehmungssystem, das auf das Wiedererkennen einzelner Empfindungen und Unstimmigkeiten spezialisiert ist (Objekterkennungssystem: OES) und dem impliziten Gedächtnis für persönlich relevante Erlebnisse (einschließlich dem sog. episodischen Gedächtnis: Tulving 1985; Squire, 1992), das in sein ausgedehntes assoziatives Netzwerk (Extensionsgedächtnis: EG) auch Motive, integrierte Selbstrepräsentationen und entfernte Assoziationen wie z.B. ungewöhnliche und kreative Handlungsmöglichkeiten mit einbezieht. Diese beiden Systeme müssen (ähnlich wie IG und IVS) in einer Art „synergistischem Antagonismus" stehen, vergleichbar dem Zusammenspiel von Strecker und Beuger bei Armbewegungen: Das OES meldet neue, unerwartete und sogar unerwünschte Wahrnehmungen, die einerseits die Konzentration auf momentane Aufgaben stören können (deshalb wird es von EG gehemmt: vgl. gestrichelter Pfeil zwischen EG und OES in Abb. 3), andererseits aber auch nicht chronisch unterdrückt werden dürfen, da sonst Gefahren übersehen werden können und das System nichts Neues über die Umwelt oder sich selbst dazu lernen würde: Wenn das EG unerwünschte Wahrnehmungen aus dem OES chronisch hemmen würde, wäre die Person zwar immer sehr selbstbewußt. Ihr Selbstsystem würde aber recht flach bleiben und wenig dazu lernen. Ein Beispiel ist die „unreife Persönlichkeit" eines antisozialen Menschen (Kühl & Kazén, 1997). Extrem wichtig ist es, daß Rückmeldungen über erzielte Handlungsergebnisse in das EG eingespeist werden, damit Handlungsabläufe auch dann deaktiviert werden können, wenn sie nicht exakt mit dem bewußt repräsentierten Ziel (im IG) übereinstimmen: Nur das EG ist in der Lage zu registrieren, daß ein erzieltes Handlungsergebnis (z.B. das „Gefühl" nach dem Waschen der Hände) ausreicht, auch wenn es nicht exakt so ist, wie es vielleicht bewußt oder unbewußt antizipiert war (die konkrete Waschprozedur und das sich einstellende Gefühl ist ja bei jeder Wiederholung anders als beim vorigen Mal). Die Perseveration von Zwangshandlungen und Zwangsgedanken kann durch eine Systemkonfiguration erklärt werden, in der das EG und damit die Selbstwahrnehmung blokkiert ist (auch für Rückmeldungen über Handlungsergebnisse). Das EG vermittelt auch ein Gefühl von Sinn und Unsinn einer Handlung, so daß bei seiner Blockierung (z.B. durch negativen Affekt oder Streß, der nicht herabreguliert werden kann) sinnlose Handlungen nicht abgestellt werden können (Sinn läßt sich funktionsanalytisch durch ein „ausgedehntes Netzwerk von Relevanzbezügen" zu vielen impliziten Aspekten des Selbst erklären). Den Antagonismus
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Fühlen
Abbildung 4: Das STAR-Modell der Persönlichkeitsstile (Innenkreis).und Persönlichkeitsstörungen (Außenkreis); Jeder Stil und jede Störung ist als eine Systemkonfiguration dargestellt, d.h. als eine Kombination positiver und negativer Basisemotionalität (jeweils 3-stufig) und der sich gemäß der Modulationsannahmen der PSI-Theorie sich daraus ergebenden Dominanzen der kognitiven Makrosysteme
zwischen OES und EG kann man sich so vorstellen, daß das EG trotz seiner kreativitätsforderlichen Ausdehnung bis hin zu entfernten und ganz ungewöhnlichen Assoziationen ein konservatives Element hat: Es unterdrückt aufgrund des besagten Antagonismus nicht passende Empfindungen („Verdrängung") und bahnt Wahrnehmungen, die zu den gerade aktivierten Strukturen des EG passen („kongruenzbetonte Aufmerksamkeit"). Mit Hilfe der PSI-Theorie und den in diesem Rahmen entwickelten Instrumentenn können wir beginnen, die funktionalen Orte näher zu bestimmen, in denen sich verschieden Störungen unterscheiden. Wo liegen z.B. funktionale
86 Orte der Zwangsstörung? Der bereits erwähnte Ort, den wir mit unseren Instrumenten messen können, ist die Blockierung des EG und damit der Selbstwahrnehmung. Weiterhin können wir davon ausgehen, daß eine Überfunktion der intuitiven Verhaltenssteuerung vorliegt: Verhaltensroutinen verselbständigen sich und können selbst dann nicht mehr abgestellt werden, wenn sie keinen „Sinn" mehr machen. Wenn das System, das den Sinn einer Aufgabe beurteilen kann (d.h. das EG) nicht zugänglich ist, kann „sinnloses" Verhalten nicht mehr erkannt, geschweige denn unterbunden werden. Eine der wichtigsten Ursachen für diese Verselbständigung von automatischen Routinen, kann wie erwähnt darin gesehen werden, daß der Zugang zu Selbstrepräsentationen blockiert ist: Solange Zwangskranke sich selbst nicht spüren, ist natürlich auch selbstgesteuerte Regulation von Fühlen und Handeln nicht möglich und Rückmeldungen über erzielte Handlungsresultate können dem System nicht zugeführt werden, das für das Erkennen der Zielerreichung entscheidend ist (Extensionsgedächtnis). Das Selbstsystem ist nach unseren Befunden allerdings nicht nur bei der Zwangserkrankung gestört. Trotzdem lassen sich funktionale Orte angeben, in denen sich der Zwang von anderen Störungen abgrenzen läßt: Bei der Depression ist meist die Verbindung zwischen Intentionsgedächtnis und den Ausfuhrungssystemen beeinträchtigt. Bei den Angststörungen liegt das Problem mehr bei einer überhöhten Sensibilität für negativen Affekt und - im Unterschied zur Depression - nicht in einer erniedrigten Sensibilität für positiven Affekt. Es gibt zahlreiche entwicklungs- und persönlichkeitspsychologische Befunde, die darauf hinweisen, daß individuelle Unterschiede in der Sensibilität für positiven und negativen Affekt z.T. auf angeborenen, z.T. auf frühkindlichen Erfahrungen beruhen. Seit der Antike (Hippokrates) bis heute (Cloninger, Eysenck, Gray) wurden Typologien entwickelt, die Persönlichkeitsunterschiede an unterschiedlichen Sensibilitäten für positiven und negativen Affekt festmachen. Mit Hilfe der Modulationsannahmen der PSI-Theorie lassen sich solche affektbasierten Typologien mit einem Klassifikationssystem verbinden, das die Unterschiede in der kognitiven Informationsverarbeitung zwischen verschiedenen Persönlichkeitstypen beschreibt (Abb. 4). Das STAR-Modell der Persönlichkeitsstile und -Störungen beschreibt die bekannten Persönlichkeitstypen als unterschiedliche Systemkonfiguarationen, d.h. als für den jeweiligen Typ charkteristische Interaktionsmuster der beiden affektiven und der vier kognitiven Systeme. So wird z.B. das mißtrauische kognitive Schema des paranoiden Typs im STAR-Modell mit einer niedrigen Sensibilität für positiven und für negativen Affekt erklärt. Aus dieser Hypothese ergibt sich durch Anwendung der beiden
87 Modulationsannahmen, daß bei paranoiden Menschen sowohl die expliziten Absichten (IG) als auch die implizite Selbstwahrnehmimg (EG) stark aktiviert ist. Trotz dieser hohen Wahrnehmung des eigenen Willens müssen Menschen mit diesem Stil aufgrund der niedrigen Sensibilität fur positiven Affekt häufig die Erfahrung manchen, daß ihrer Absichten nicht umgesetzt werden (vgl. 1. Modulationsannahme: Bei Hemmung positiven Affekts ist die Verbindung zwischen IG und IVS gehemmt; s. Abb. 3). Die Ursache für die ständige Vereitelung eigener Interessen können sie nicht selbstkritisch in der eigenen Umsetzungsschwäche sehen, da das stark aktivierte Selbstsystem solche selbstkritischen Wahrnehmungen unterdrückt. Ein Beispiel für die empirische Validierung diese Modellabschnitts ist der Befund, daß Mütter mit einem stark ausgeprägten mißtrauischen Stil mit ihren Babies zwar durchaus liebevoll umgehen, ihre (liebevollen) Absichten aber auch dann, wenn das Baby in einer negativen Stimmung ist (und eigentlich ein Ruhebedürfnis signalisiert) dem Kind aufdrängen (Scheffer et al., 1998). Dieses intrusive, autonomiemißachtenden Verhalten läßt sich einerseits aus der niedrigen Sensibilität für negativen Affekt ableiten (Mütter dieses Typs können demnach die negative Stimmung ihres Kindes nicht gut aushalten und reagieren aufgrund ihres dispositionell verfestigten Ignorierens negativer Signale gemäß der 2. Modulationsannahme mit einer Aktivierung des Selbst, die dazu führt, daß sie sehr „selbstbewußt" ihre eigenen durchaus gut gemeinten Intentionen spüren und durchsetzen: „Jetzt lächel mich doch mal an!"). In ähnlicher Weise kann aus der Einordnung der anderen Stile und Störungen der jeweils charakteristische Phänotyp aus den Modulationsannahmen der PSITheorie abgeleitet werden, etwa die Kombination von Impulsivität und dem Verlust des Gefühls für die eigene Identität beim Borderline-Typ, die sich aus dem Zusammentreffen einer hohen Sensibilität sowohl für positiven als auch für negativen Affekt ergibt.
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Persönlichkeitsstile (PSSI) von Zwangspatienten zu Therapiebeginn (Oaten aus der Psychosomatischen Klinik Windach am Amrame und dar Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf)
Abbildung 5: Ausprägungen der mit dem PSSI gemessenen Persönlichkeitsstile für 21 Zwangspatienten zu Beginn der stationären Therapie im Vergleich zur Normierungsstichprobe (signifikante Unterschiede zur Normierungsstichprobe sind bei Zwangskranken mit Ζ gekennzeichnet; D = signifikanter Unterschied bei Depressiven; A = signifikanter Unterschied bei Angstpatienteni
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Der Nachweis von Therapie-Effekten auf der Verursachungsebene Ich komme abschließend zu der Frage, ob sich Therapie-Effekte auch in den Kennwerten unserer Instrumente niederschlagen. Das wäre jedenfalls zu erwarten, wenn die folgenden drei Thesen stimmen: Erstens, wenn es stimmt, daß mit unseren Instrumenten gemessene Faktoren zu den Ursachen psychischer Erkrankungen einschließlich der Zwangserkrankungen gehören (Abb. 1); zweitens wenn die genannten Instrumente diese Ursachen zumindest annäherungsweise valide erfassen (Tab. 1); und drittens, wenn erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten in der Lage sind, über die Symptomebene hinaus auch die hier erörterte Ebene verursachender Prozesse zu erreichen. Therapiebegleitende Untersuchungen in der Psychosomatischen Klinik in Windach am Ammersee und im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE Hamburg) bestätigen diese Erwartung (Abb. 5). In dieser Abbildung ist zu sehen, daß sich Zwangspatienten in der Tat signifikant von der Normierungsstichprobe in fast allen Persönlichkeitsstilen unterscheiden (gemessen mit dem PSSI). Die Annahme, daß die einseitige Fixierung auf Persönlichkeitsstile und die damit assoziierten emotionalen und kognitiven Fixierungen unspezifische Indikatoren für psychische Störungen sind, wurde ebenfalls bestätigt: Die meisten Signifikanzen gelten auch für Depressive (D) und Angstpatienten (A) (vgl. Folie 7). Zwangsspezifische Befunde zeigten sich lediglich in erhöhten Werten auf der Skala „zwanghafter Stil" und erniedrigten Werten auf der Skala „rhapsodischer Stil" (d.h. übertriebener Optimismus). Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Messung von Selbststeuerungsfunktionen (Abb. 6). Signifikante Defizite gab es in jedem der fünf Makrobereiche der Selbststeuerung, und zwar meist unspezifisch, d.h. nicht auf Zwangspatienten beschränkt. Das bestätigt die theoretische Annahme, daß die Hemmung von Selbststeuerungsfunktionen ein krankheitsübergreifendes Symptom einer psychischen Dekompensation ist (analog zum Fieber in der Medizin als unspezifischem Indikator für eine Überlastung des Abwehrsystems). Zwangsspezifische Defizite gab es bei den Skalen Selbstbestimmung, positive Selbstmotivierung und Anstrengungsvermeidung: Damit sind die vermuteten funktionalen Orte der Zwangserkrankung bestätigt: Die Beeinträchtigung der Selbstwahrnehmung ist offensichtlich für die Zwangserkrankung noch charakteristischer als für Angst und Depression und das daraus theoretisch ableitbare Überhandnehmen automatischer Routinen bedeutet, daß Verhalten „anreizunabhängig" (d.h. auch ohne positiven Affekt) gebahnt werden kann. Das System wird durch die Überaktivierung automatischer Routinen sozusagen „kurzgeschlossen": Die Willens-
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Abbildung 6: Unterschiede in den mit dem SSI (engl.: VCQ) gemessenen Selbststeueningsfunktionen zwischen Zwangspatienten (Z) und der Normierungsstichprobe (signifikante Unterschiede zur Normierungsstichprobe sind bei Depressiven mit D und bei Angstpatienten mit A gekennzeichnet)
bahnung durch positive Affekte („Selbstmotivierung") und die Kontrolle durch das Selbstsystem entfällt, so daß selbstkongruentes, willentlich gesteuertes Handeln erschwert wird. Der Zwangskranke führt seine Routinen aus, unabhängig davon, ob sie Spaß machen oder zu seinen Bedürfnissen, Werten, seinem Sinneserleben oder anderen Selbstwahrnehmungen passen. Da willentliches Handeln i.d.R. mehr Anstrengung erfordert als das Abspulen automatischer Verhaltensprogramme, ist auch der hohe Kennwert für Anstrengungsvermeidung erklärbar. Schließlich zeigen uns die Veränderungen in den Messungen von der Aufnahme bis zur Entlassung, die im Durchschnitt nach ca. 3 Monaten erfolgte, daß die Zwangserkrankten auch bei den affektiv-kognitiven (PSSI) und volitionalen (SSI) Einseitigkeiten, die sie mit anderen Erkrankungstypen gemeinsam haben, signifikante Verbesserungen in Richtung von mehr Gleichgewicht psychischer Kräfte aufweisen (Abb. 7). So zeigen Zwangskranke nach durch-
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Abbildung 7: Veränderungen der Kennwerte von 21 Zwangspatienten im PSSI vom Beginn bis zur Beendigung der Therapie nach durchschnittlich 3 Monaten stationärem Aufenthalt.
schnittlich 3 Monaten Klinikaufenthalt weniger von der Fixierung auf das analytische Denken des schizoiden Stils, weniger Selbstunsicherheit, interessanterweise auch weniger von dem schizotypischen Stil, der u.a. durch magische Denkmuster charakteristisch ist, die bei Zwangskranken nicht selten zu beobachten sind. Bei den Selbststeuerungsfunktionen zeigen sich gerade bei den „zwangstypischen" Funktionen (Abb. 6) signifikante Verbesserungen, d.h. bei der Selbstbestimmung und bei der positiven Selbstmotivierung (Abb. 8). Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche nachweisbare Verbesserungen bei Störungen von Willensfunktionen, die die Zwangskranken mit ängstlichen und depressiven Patienten gemeinsam haben, z.B. eine Verbesserung des Stimmungsmanagements, ein Zurücknehmen übermäßigen Planens und ein Nachlassen des gemäß der 1. Modulationsannahme aus übermäßigem Planen (IG) resultierenden Energiedefizits (Abb. 8). Auch die perzeptive Rigidität (können sich nicht auf neue Situationen umstellen) und die Fragmentierung des Selbst nehmen
92 genauso deutlich ab, wie die ungünstige Strategie, sich einerseits durch negative Gefühle zu motivieren („Ich muß das machen, sonst passiert etwas Schlimmes").
Übrigens ergaben sich keinerlei signifikante Veränderungen bei einer Zwischenmessung mit unseren Instrumenten nach 6 Wochen Klinik-Aufenthalt (Kreps, 1998). Dieser Befund schwächt nicht nur das Argument ab, daß die Verbesserung auf sozialen Erwünschtheitseffekten beruhen, sondern zeigt auch, daß sich die Erfahrung der beteiligten Institutionen, daß man bei den meisten Patienten mindestens 3 Monaten Klinik-Aufenthalt benötigt, mit den hier vorgestellten Instrumenten bestätigen läßt. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, daß sich in einer weiteren Untersuchung bei mehreren hundert Patienten eines niedergelassenen Nervenarztes zwar vergleichbare Effekte bei der Verminderung des Symptome zeigten, jedoch keine signifikanten Veränderungen in unseren Kennwerten für die vermuteten zugrundeliegenden Ursachen der Erkrankung. Hier wird es besonders spannend sein, die Hypothese zu untersuchen, daß die Rückfallgefahr, bei einer isolierten Symptombeseitigung höher ist, als wenn man die Defizite in krankheitsrelevanten psychischen Funktionen therapiert.
93 Schließlich ist es nicht verwunderlich, daß sich die Behandlungsfortschritte in einer Steigerung des Selbstvertrauens niederschlagen. Die Analyse mit dem SSI zeigt allerdings deutlich den Vorteil der mikroanalytischen Diagnostik gegenüber den heute in der Psychologie vorherrschenden Globalmaßen für Selbstvertrauen oder Kontrollüberzeugungen (z.B. Bandura, 1986): Für eine effektive und umsetzbare Planung und Evaluation konkreter Therapieschritte reichen globale Aussagen über „verminderte Kontrollüberzeugungen" nicht aus, sondern es ist von entscheidender Bedeutung, die spezifischen Funktionen zu messen, deren Beeinträchtigung zu einer Senkung des globalen Selbstvertrauens fuhren (vgl. Kühl & Fuhrmann, 1998).
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Neurophysiologische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung und ihre Veränderung nach Therapie mit EMDR Franz Ebner
1. Posttraumatische Belastungsstörung (= PTBS) 1.1 Symptomatik nach ICD 10 Nach ICD 10 (4) sind 5 Kriterien für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) nötig: •
A
Traumatisches Ereignis „Die Betroffenen sind einem kurz- oder langdauerndem Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde."
•
Β
Intrusive Erinnerungen „Anhaltende Erinnerung oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flash-backs), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen."
97 •
C
Vermeidung „Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Ereignis."
•
D
Dissoziation-Amnesie/Übererregbarkeit (entweder 1. oder 2.) 1. „Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern." 2.
•
E
Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: a.
Ein- und Durchschlafstörungen
b.
Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c.
Konzentrationsschwierigkeiten
d.
Hypervigilanz
e.
erhöhte Schreckhaftigkeit
Zeitkriterium Die Kriterien B, C und D treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden). Was in ICD 10 als Symptomatik nur als nachrangige Symptomatik erwähnt wird, ist der Wechsel zwischen Intrusion und emotionaler Taubheit, Abgestumpftheit, d.h. der Wechsel von Intrusion und Konstriktion.
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PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung oder Psychotraumatisches Belastungssynndrom (in D S M I V und ICD 10) • • • •
Traumatisches Ereignis Intrusive Erinnerungen Vermeidung/Betäubung Übererregbarkeit
1.2 Bedeutung der Symptomatik für die Patienten Das traumatische Ereignis erschüttert die Grundfesten unseres Seins. Die Seele wird von dem Trauma überwältigt, kommt mit den starken Eindrücken und Gefühlen nicht zurecht, kann diese nicht in bisher erlebte sinnvolle Zusammenhänge einordnen. Wie ζ. B. bei einer Mutter, deren beide Kinder ums Leben kamen, als sie aus Versehen eine rote Ampel überfuhr. Oder der langjährige leidenschaftliche LKW-Fahrer, der bei einem nächtlichen Überfall ein offenes Schädel-Hirn-Trauma erlitt, nur knapp mit dem Leben davonkam und stundenlang aus nicht nachvollziehbaren Gründen von den Tätern mit Schlägen gequält wurde, ohne Grund, ohne Sinn, sinnlose Gewalt. Das Auftreten ist plötzlich und unerwartet, es beinhaltet ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit, Inkompetenz, Scham oder Erniedrigung. Die Grundannahmen unseres Lebens und unserer Weltsicht werden erschüttert: •
„Mich trifft's
nicht"
•
„Schlechte Dinge passieren nur schlechten Leuten "
•
„Das Leben, die Welt ist vorhersagbar, fair, kontrollierbar.
"
Der traumatisierte Mensch verliert seine Kohärenz, daß Gefühl der Sinnhaftigkeit, den Überblick und die Weite der Lebensperspektive, er wird
99 eingeengt auf die Bruchstücke an Wiedererleben, die nun unkontrolliert auftauchen. Ein Weiterleben wie vorher ist nach einem traumatischen Ereignis nicht mehr möglich. Es ist eine starke Krise im Leben, eine Chance persönlich zu wachsen und zu reifen oder zurückgeworfen zu werden und zu zerbrechen. Diese Patienten leiden meist stark. Die immer wieder auftauchenden schrecklichen Bilder und Gefühle sind für sie wie ein Horrorfilm, der immer wieder und wieder abläuft, tags durch die oft überraschenden Auslöser, nachts durch die unberechenbaren Alpträume. Dieses Erleben durchbricht immer wieder die sich langsam aufbauende Erholung, die aufkeimende Hoffnung, die Situation doch noch unter die Füße zu kriegen, wird wieder zerstört. Das „Alarmsystem" ist überstimuliert und signalisiert ständig, daß die ganze Welt ein unsicherer Ort ist, wodurch gar kein Raum und keine Zeit mehr bleibt, Neues zu lernen, um in Zukunft besser mit derartigen Problemen umgehen zu können. Was bleibt ist der Rückzug, die soziale Abkapselung, die Isolierung. Lieber gar keine Gefühle, keine Anregungen oder Neues, da dies alles die Gefahr des Wiedererlebens beinhaltet. Die Patienten versinken in Desinteresse, Angstvermeidung, trüben Gedanken und Sinnlosigkeit, stumpfen ab. Teilweise wurde dieser Zustand mit der schizophrenen Minussymptomatik verglichen. Es ist ja auch die Minussymptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung. Unterbrochen wird dieses Dahinleben von Episoden unvermeidbarer Trigger, ein Film, den sie doch mal wieder angeschaut haben, eine Nachricht in der Zeitung, eine unbeabsichtigte Nebenbemerkung des Nachbarn. Dann kommt es zu heftigen Gefühlsausbrüchen oft auch aggressiver Art, die Kontrolle geht verloren, was bleibt ist die Angst vor den nach außen unberechenbar erscheinenden Wutausbrüchen der Traumatisierten und deren Scham, daß ihnen so etwas passiert ist, gefolgt von erneuten meist noch stärkerem Rückzug. Die Folgen des Traumas stecken weiter in den Knochen, die Neurose ist die schwer kontrollierbare Körpersymptomatik, wie Kardiner 1941 (zit. nach 17) beschrieb eine Physioneurose oder später der Traumaforscher van der Kolk (17): „The body keeps the score." Diese Patienten sind keine Neurotiker um Kompensation zu bekommen, ihnen steckt etwas im Körper, daß sie nur allzu gerne loswerden würden - das immer wiederkehrende Erleben ihrer Traumatisierung - eine ständigen Retraumatisierung. Auch für Therapeuten ist die Hilflosigkeit in der Beziehung zum Patienten schwer aushaltbar, sicher auch die Erkenntnis eigentlich könnte so etwas auch mir passieren, ich bin nicht unverwundbar.
100 1.3 Gelungene und gestörte Verarbeitung von Trauma im Modell Täglich verarbeiten wir viele Erlebnisse und Informationen, die zu Erfahrungen werden und so zu einem besseren und erfüllteren Leben und Überleben beitragen. Dies ist auch biologisch sinnvoll. Es muß also ein angelegtes Verarbeitungssystem (13 und 15) geben, das immer wieder die optimale Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen herstellt und fur das Überleben des Individuums und der Spezies Mensch wichtig ist. Dies ist in der Regel auch nach traumatisierenden Ereignissen wie sie oben beschrieben wurden der Fall. Die Verarbeitung dauert zwar länger und braucht mehr Ruhe und Unterstützung, ist aber durchaus möglich, sonst würden wir noch sehr viel häufiger posttraumatische Belastungsstörungen sehen, da traumatische Ereignisse auch nach dem Traumakriterium A doch sehr vielen Menschen einmal oder öfter im Leben zustoßen. Je schwerer allerdings ein Trauma subjektiv und objektiv ist, desto größer auch die Gefahr, daß das Verarbeitungssystem überlastet wird (5). Das überwältigende Erleben eines Traumas wird in seinen einzelnen Sinneseindrücken gespeichert und am Anfang als sinnvoller Verarbeitungsmechanismus stückweise in Intrusionen wieder angeboten, was in günstigem Falle dann langsam in den nächsten Wochen zu einer sinnmachenden Verarbeitung und Integration der Erfahrung führt. Die dazwischen liegenden Konstriktionsphasen mit sozialem Rückzug können dabei als eine Form der Regression in Dienste des Ichs gesehen werden, die wesentlich zur Verarbeitung beiträgt. Die Integration des traumatischen Erlebens in die bisherigen Erfahrungen kann so zu einer positiven Ressource werden, so daß eine vorher sehr belastende Situation zu einer wertvollen Erfahrung wird, die in Zukunft bei weiteren traumatischen Erlebnissen als Bewältigungsstrategie gespeichert ist („Ich habe aus dieser Erfahrung gelernt"). Daß dies selbst nach schweren Traumata wie einer Inhaftierung im KZ möglich ist, beweisen eindrücklich Lebensgeschichte und Werk von Viktor Frankl (6), der sich eingehend mit dem Thema der Sinnfindimg zur Bewältigung problematischer Lebensumstände beschäftigte. Bei der Erkrankung PTBS scheint dieses Anpassungs- und Verarbeitungssystem jedoch aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Es kommt zu einer Blockade der adäquaten Weiterverarbeitung und die Erinnerungen werden gleichsam „eingefroren" (15), tauchen aber dann immer wieder unverarbeitet auf (in state specific form - in dem Zustand wie sie damals erlebt wurden) und führen so zu den belastenden Symptomen. Die vorher sinnvollen Intrusionen werden nun zu einem quälenden Symptom (den Flashbacks), die weiter bestehende
101 Konstriktion führt zu einer Verschlechterung der Alltagsbewältigung und zu einer Abnahme der Bewältigungsmechanismen. Nun soll die Psychotherapie helfen und versuchen, die Balance wiederherzustellen. Aber wie ?
Zwei Formen von Gedächtnis 1. Explizites Gedächtnis •
Erzählen einer Geschichte
2. Implizites Gedächtnis • Triggerbarkeit/V ermeidung •
Wiederholung
• •
Problem sprachlicher Faßbarkeit Affektiv geladene Informationsfragmente
1.4 Neurophysiologische Aspekte Die zentrale Erkenntnis der neurophysiologischen Studien vor allem der funktionellen bildgebenden Verfahren über posttraumatische Zustände ist: •
Traumatische Erinnerung ist fragmentierte
Erinnerung
Bei der Theorie über Gedächtnis und Erinnerung (5, 8 und 21) kann man grundsätzlich zwei Formen von Gedächtnis unterscheiden: a.
Explizites Gedächtnis
b.
Implizites Gedächtnis
102 Zum expliziten Gedächtnis gehören alle analytischen, logischen Denkvorgänge, das was normalerweise im Intelligenztests bestimmt wird. Dazu gehört auch das Sprachzentrum - die Broccaregion - wenn wir eine Geschichte über ein Erlebnis erzählen, dann sind hier die Zellen aktiv. Hier können wir unser Inneres explizit formulieren. Es wird auch narratives Gedächtnis genannt, da hier narrative Erinnerungen gespeichert werden, d.h. worüber man eine Geschichte erzählen kann. Das implizite Gedächtnis speichert eher affektiv geladene Informationsfragmente, Stimmungen, Fähigkeiten wie Radfahren, Schwimmen, episodische, szenenhafte Erinnerungen und Abläufe. Dieses Gedächtnis ist schwer sprachlich faßbar, neigt zu unbewußten Wiederholungen, da es sich eher in Handlungen und Wiedererkennen von bereits erlebten äußert, es ist deshalb leicht triggerbar und stark am Vermeidungsverhalten beteiligt. Eine Studie von van der Kolk (20, siehe auch 8) untersuchte diese spezifische Verarbeitung traumatischer Erlebnisse. Typisch ist direkt nach dem Erleben einer traumatischen Situation, daß sie noch nicht als zusammenhängende Geschichte erzählt werden kann, sondern zunächst sensorische Erinnerungsfragmente (Bild, Geräusch, Geruch usw.) mit starker Wiedererlebenskomponente auftreten, wobei hier der Zusammenhang zwischen Trauma und Wiedererleben klar ist. Erst im Verlauf des normalen Verarbeitungsprozesses entsteht eine narrative Geschichte und die Häufigkeit und Intensität der Erinnerungsfragmente nimmt deutlich ab. Die schematische Betrachtungsweise der Neurophysiologie stellt sich modellhaft so dar (5, 8 und 19): Die Informationen werden normalerweise über den Thalamus an den Mandelkern weitergegeben, der die affektive Komponente beifügt und u.a. die „Alarmglocke" des Gehirns ist. Der benachbarte Hippocampus mit vielen v. a. frontal gelegenen projektiven Hirnarealen ist eine weitere Schaltstation. Hier befindet sich sozusagen die kognitive Landkarte des Gehirns, hier werden neue Informationen auf Wiedererkennen überprüft und mit ähnlichen Schematas von bereits erlebten Situationen verglichen und so eine Einordnung in gewohntes und neues Erleben erreicht, was sehr schnell unser Wahrnehmen, Einschätzen und Handeln beeinflußt. Nach einem traumatisierenden Erleben scheint diese kognitive Verarbeitung zunächst unterbrochen zu sein, d.h. die Einordnung in bereits bekannte Erfahrungszusammenhänge gelingt nicht, die Integration der neuen Erfahrung mißlingt, der starke sich wiederholende Affekt macht das ruhige darüber
103 nachdenken unmöglich. Die Abspeicherung über den Hippocampus ist behindert, was wahrscheinlich viel an der Heftigkeit der emotionalen und neurophysiologischen Streßreaktionen auf das Trauma liegt. Die feine und für Schädigung jeder Art empfindliche Hippocampusstruktur benötigt fur ein gutes Funktionieren einen relativ ruhigen Gehirnzustand ohne Übererregung. Ohne Beteiligung des Hippocampus kann jedoch nichts Neues hinzugelernt werden, also keine neuen notwendigen Bewältigungsstrategien. Eine weitere Studie von van der Kolk und seinen Mitarbeitern (10) brachte mehr Erkenntnisse über die ablaufende Neurophysiologie bei PTBS. In PETAufnahmen (Positronen-Emmisions-Tomographie) - einer Methode, die den regionalen Stoffwechsel im Gehirn bei bestimmten Tätigkeiten oder Zuständen messen kann - wurde Patienten mit PTBS zur Symptomprovokation das durch vorhergehende Interviews erstellte ausfuhrliche und detaillierte Skript der erlebten traumatischen Situationen vorgelesen. Dadurch konnten bei allen 6 Probanden Symptome eines Flashbacks getriggert werden. Als Kontrolle wurde den gleichen Personen ein emotional neutrales Skript vorgelesen. Ein Vergleich der PET-Aufnahmen im Flashback und bei neutraler Stimulation erbrachte eine deutliche rechtshirnig lateralisierte Aktivierung im Flashback vor allem in Strukturen, die bei emotionaler Erregung beteiligt sind: Die Amygdala (Mandelkerne), Areale der Insel, aber auch der visuelle Cortex, wo assoziierte neuronale Netzwerke aktiviert wurden. Das bedeutet, daß im Gehirn das Wiedererleben von traumatischen Situationen aktiviert wird, die Person die sensorischen Wahrnehmungen fühlt, hört oder sieht wie während des Traumas, oft wird die Szene dabei sehr genau und detailliert erinnert (Hypermnesie). Dazu passend war bei den PET-Scans die linke Hemisphäre in der Aktivierung unterdrückt, v. a. auch das für den Sprachausdruck mitverantwortliche BroccaAreal. Diese Ergebnisse passen zu der bereits oben erwähnten klinischen Beobachtung, daß Menschen direkt nach Traumatas oder Personen mit posttraumatischer Belastungsstörung oft wenig in der Lage sind, die traumatischen Situationen kognitiv adäquat einzuordnen und davon zu erzählen, ohne daß es ihnen „die Sprache verschlägt". Die Forschergruppe von van der Kolk überlegte dann eine weitere Studie (18) zu machen, um die Hirnphysiologie nach erfolgreicher Verarbeitung eines Traumas zu untersuchen. Deshalb hielten sie nach einer wirksamen Therapie für posttraumatische Belastungsstörungen Ausschau. Die Forschergruppe war mehrheitlich für EMDR als therapeutisches Mittel, obwohl van der Kolk selbst anfangs skeptisch war (18).
104 Was beinhaltet diese Methode EMDR aber eigentlich?
2 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) 2.1 Entwicklung von EMDR Francine Shapiro (13 und 15) entwickelte EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, wörtliche Übersetzung: Augenbewegungsdesensibilisierung und -reprozessierung) zunächst durch die Beobachtung, wie bei ihr selbst spontan der Verarbeitungsprozeß von belastenden Gedanken und Situationen vor sich ging. Sie bemerkte, daß sie beim Nachdenken über belastende Erlebnisse unwillkürlich die Augen bewegte und sich anschließend sehr viel besser fühlte und die negativen Auswirkungen der Erinnerungen abnahmen. Sie induzierte dann die von ihr beobachteten Augenbewegungen bei Freunden und Bekannten während sie diese an belastende Situationen denken ließ und stellte fest, daß diese skurril wirkende Intervention durchweg Erleichterung brachte. Sie entwickelte durch weiteres Experimentieren den grundsätzlichen Ablauf der Therapieprozedur, bei der nun die Augenbewegungen nur ein Baustein waren. Dann folgten die ersten Anwendungen an Patienten und eine kleine Studie, bevor sie begann, die Methode in Seminaren zu lehren und dadurch auch mehr Erfahrung und Rückmeldung von andern Therapeuten zu bekommen. Zunächst wurde die Methode von ihr nur EMD (14) benannt, da sie es für eine spezielle gut wirksame Form der Desensibilisierung hielt. Die erzielten Veränderungen waren jedoch deutlich umfassender als die der Desensibilisierung allein. Deshalb wurde R für Reprozessierung hinzugefugt, da es meistens zu einer komplexen positiven Änderung auf kognitiver, emotionaler, verhaltensmäßiger und physiologischer Ebene kam. Obwohl Frau Shapiro zunächst in kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapien ausgebildet war, enthält EMDR Anteile (v. a. während der Durcharbeitung mit Augenbewegungen), die am ehesten einer rasch ablaufenden Assoziationskette eines analytischen Prozesses entsprechen, bei der der Therapeut, wenn möglich, nicht in den Prozeß eingreift. Eine Grundannahme von EMDR ist eine immanente Tendenz der Seele, auch schlimme und belastende Lebensereignisse in einer heilsamen für die ganze Person sinnvollen Weise zu verarbeiten. Nach
105 mehr oder weniger schlimmen traumatisierenden Ereignissen kann es aber zu einer Blockade dieses Verarbeitungssystems kommen und die Erinnerungen werden „eingefroren", tauchen aber dann immer wieder unverarbeitet auf und fuhren so zu den belastenden Symptomen. 2.2 Methodisches Vorgehen bei EMDR Auf der Suche nach einem Ausweg aus der „traumatischen Tretmühle" der PTBS war es wie bei anderen Erkrankungen hilfreich, sich nicht nur mit der Pathogenese sondern eher mit der Salutogenese (nach Antonowsky, siehe 1) zu beschäftigen. Francine Shapiro beobachtete bei sich und anderen genau wie eine erfolgreiche Bewältigung von belastenden Erinnerungen abläuft. Sie entwickelte daraus einerseits ein eigenes Modell wie in hypothetischen Erinnerungsnetzwerken die „beschleunigte Informationsverarbeitung" ablaufen kann (siehe 16, Seite 59ff.). Anderseits sind die 8 Phasen in ihrem umfassenden Therapiekonzept wie das ganze methodische Vorgehen bei EMDR stark an dem natürlichen psychischen Verarbeitungsmechanismus des Menschen orientiert. Die Behandlungsphasen von EMDR sollen im weiteren kurz skizziert werden:
1. Anamnese und Behandlungsplanung 2. Vorbereitung 3. Bewertung der traumatischen Erinnerung 4. Desensibilisierung/Reprozessierung 5. Verankerung 6. Körpertest 1. Abschluß 8. Nachbefragung
106 1. Anamnese und Behandlungsplanung Dazu gehört die Erhebung der Traumavorgeschichte, Erfragen von Bewältigungsmechanismen, Ressourcen, Risikofaktoren, sozialpsychologischen Begleitumständen und Umgebung des Patienten. 2. Vorbereitung Mit dem Patienten werden Behandlungsplan, methodisches Vorgehen und Sicherheitsvorkehrungen besprochen und eingeübt. Weiter müssen die Indikation für ein Vorgehen zur Bearbeitung des Traumas überprüft werden und gegebenenfalls zunächst weitere Stabilisierungsmaßnahmen eingeleitet werden. 3. Bewertung der traumatischen Erinnerung Die ausgewählte Erinnerung wird detailliert in verschiedenen Qualitäten (visuell, affektiv und sensorisch) eruiert und bewertet und relevante negative Kognitionen und Alternativen werden gesucht und überprüft. 4. Desensibilisierung/Reprozessierung Bei dieser Phase wird der Patient angewiesen, sich auf die Erinnerung mit den verschiedenen zuvor erhobenen Qualitäten zu konzentrieren und den ablaufenden Prozeß zuzulassen, während der Therapeut bilaterale Augenbewegungen induziert oder evtl. alternative Stimuli verwendet. Dies führt im unkomplizierten Fall zu einer Veränderung der Erinnerung mit spontanen Assoziationsketten ähnlich denen einer Psychoanalyse mit der mehr oder weniger schnell sich einstellenden Tendenz, daß heilsame, entlastende Assoziationen, Erinnerungen, Erkenntnisse oder andere Phänomene von selbst mit in den Prozeß einfließen. Dabei ist „Fingerspitzengefühl" und therapeutische Erfahrung notwendig, um einerseits dem Patienten seinen eigenen Prozeß zu lassen, andererseits bei auftretenden Schwierigkeit eine adäquate Hilfestellung geben zu können. Außerdem sollte der Therapeut eine haltende, Sicherheit vermittelnde therapeutische Beziehung zum Patienten haben und bewahren können, da es in einem nicht geringem Prozentsatz zu einer emotionalen Abreaktion kommen kann, die unbedingt kompetent begleitet werden muß, da hierbei ein höheres Risiko für eine Retraumatisierung besteht. Bei normalem Verlauf führt dieses Vorgehen jedoch zu einer eindeutigen Entlastung des Patienten in allen Komponenten. Wie die Lösung endgültig aussieht und der Prozeß im einzelnen verläuft, läßt sich vorher nicht sagen, wobei die aufkommende Kreativität der Betroffenen oft äußerst wirksame und eigenständige Ergebnisse bringt.
107 5. Verankerung Nach der Entlastung des Patienten wird nun in einem weiteren Schritt die positive Kognition, die in Phase drei erarbeitet wurde, mit der Ausgangserinnerung verbunden und scheint durch nochmalige Augenbewegungen verstärkt und besser aufgenommen zu werden. 6. Körpertest Hier wird durch Abfragen von Körpersymptomatik nach weiteren sensorischen Fragmenten der traumatischen Erinnerung gesucht (sogenannte Körpererinnerungen), die dann eventuell weiter durchgearbeitet werden. 7. Abschluß Am Ende erfolgt ein Nachbesprechung über die Erfahrung und über mögliche später auftretende Phänomene. Es wird über Verhaltensmöglichkeiten zwischen den Sitzungen gesprochen und Bewältigungsstrategien werden angeboten. Bei einer nicht komplett abgeschlossenen Sitzung muß der Therapeut auch Hilfestellungen geben, wie der Patient sicher auf den Boden der Realität zurückkommt und angemessen abgesichert aus der Stunde gehen kann. 8. Nachbefragung Hierbei wird die Stabilität der erreichten Änderungen geprüft und eventuell weitere therapeutische Schritte unternommen, je nach Verlauf und bisherigem Ergebnis. Dieses Grundprotokoll muß bei verschiedenen spezifischen Störungen in etwas modifizierter Form angewandt werden (ζ. B. bei Angststörungen, dissoziativen Störungsbildern), da es an sich zur Behandlung der unkomplizierten PTBS entwickelt wurde. Ein unkompliziertes PTBS ist normalerweise gut in 1 - 3 Sitzungen EMDR zu behandeln mit stabilen Nachuntersuchungsergebnissen (22). Da jedoch die Rate der Komorbidität bei PTBS sehr hoch liegt - 50 - 90% je nach Studie (siehe 3) - muß mit Komplikationen gerechnet werden, wobei es nur zu Teilerfolgen kommen kann und das Ziel des vollständigen Durchaibeitens mehrere Sitzungen und noch andere Therapieverfahren (dazu siehe 11) zusätzlich braucht. Außerdem kommt es bei der Therapie sehr auf die korrekte Durchführung der Methode EMDR, das therapeutische Geschick und die Erfahrung des Anwenders an. Zwei wesentliche Mißverständnisse des Wirkprinzips der EMDR Methode sind einerseits die Behauptung, es handle sich im Grunde um eine gute kognitive Verhaltenstherapie und die Augenbewegungen hätten keine spezifische darüber
108 hinausgehende Wirkung und andererseits die Annahme, die Augenbewegungen allein würden für die therapeutischen Wirkungen verantwortlich sein und die anderen Schritte seien nur überflüssiges Beiwerk. Die erste Behauptung kann allenfalls für leichtere Verarbeitungsstörungen gelten, wo allein die kognitive Strukturierung schon eine Lösung ergibt. Bei Komponentenanalysen wurden solcherlei Verarbeitungsstörungen als Behandlungsfokus gewählt, wodurch sich dann nur geringe oder keine Unterschiede zwischen EMDR mit und ohne Augenbewegungen nachweisen ließen. Im direkten Vergleich zwischen EMDR und Verhaltenstherapie in der Behandlung von Patienten mit PTBS konnte nur das emotional sehr belastende Flooding (12) gleich gute Therapieergebnisse wie EMDR nachweisen, jedoch bei längerer und aufwendigerer Behandlung und deutlich mehr Therapieabbrüchen unter Flooding (7). Die zweite Behauptung ist ebenso zweifelhaft, da zwar eine unspezifische Wirkung der Augenbewegungen sicher existiert, aber gerade das exakte Fokusieren der Symptomatik und der Lösungsstrategien für eine adäquate Verarbeitung notwendig sind. Der Effekt von bilateralen Augenbewegungen reduzierte sich bei Anwendung ohne weitere Instruktionen auf eine physiologisch nachweisbare relaxierende Wirkung, die sicher als angenehm empfunden wurde, jedoch die ausgeprägten Änderungen sowohl im klinischen Bild als auch in der Neurophysiologie in sehr kurzer Zeit sicher nicht erklären kann. Diese sollen nun dargestellt werden. 2.3 Neurophysiologische Veränderungen nach EMDR Die Forschergruppe um van der Kolk untersuchte nun tatsächlich die traumatisierten Patienten nach 3 EMDR Therapiesitzungen wieder unter den gleichen Bedingungen mit dem PET (18 und 19). Nur bei den 4 erfolgreich mit EMDR behandelten von den 6 Patienten zeigten sich gravierende neurophysiologische Veränderungen. Wie van der Kolk in einem Videointerview (18) dargelegt hat, sind die beiden Hauptveränderungen die vermehrte Aktivität des anterioren Cingulum und des orbitofrontalen Cortex. Das Cingulum ist an der Unterscheidung von internalen und externalen Reizen beteiligt, sozusagen ob die Gefahr äußerlich real oder innerlich als Empfindung auftritt. Die Aktivierung dieser Strukturen war auch in einer anderen Studie (2) von traumatisierten Patienten ein Merkmal der Gruppe von traumatisierten Patienten ohne Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der orbitofrontale Cortex ist eine Struktur, die erst im Laufe der ersten beiden Lebensjahre geprägt und vollständig ausgebildet wird und die über unsere individuellen Verhaltensweisen, Bewältigungsstrategien und Grundannahmen bestimmt, d. h. unser konkretes Verhalten vor allem in sozialen Situationen wird über diese Zentren gesteuert. Diese Strukturen hemmen auch die
109 unbewußten Reaktionsweisen von untergeordneten neuronalen Abläufen und können so Befinden und Verhalten steuern. Die Patienten nach erfolgreicher Behandlung nehmen dieses subjektiv als Wiedergewinn von Kohärenzgefiihl und der Möglichkeit wahr, das Trauma als Geschichte mit adäquater Distanz wiederzugeben und oft mit dem Eindruck, daraus tiefgreifendes gelernt zu haben. 2.4 Indikation und Vorsichtsmaßnahmen für EMDR Das Indikationsfeld ist zunächst eine posttraumatische Belastungsstörung nach einem singulärem Ereignis im Erwachsenenalter, da hierbei die Rate der möglicherweise auftretenden Komplikationen am geringsten ist. Aber auch dabei können Schwierigkeiten auftreten, die dann auch anderes therapeutisches Know-how erfordern als es ein lediglich in EMDR trainierter Therapeut oder gar Laie mitbringt (deshalb die unten erwähnten Richtlinien, daß nur Therapeuten mit abgeschlossener weiterer Therapieausbildung in EMDR zusätzlich ausgebildet werden und dies dann auch anwenden dürfen). Die Sicherheit des Patienten und die Bewahrung vor weiterer Traumatisierung durch inkompetente Behandlung ist eines der wichtigsten Gebote bei EMDR. F. Shapiro rät deshalb in den Trainings auch immer, nur Störungen zu behandeln, die man auch ohne Kenntnis der EMDR-Methode therapieren würde. Ein weiteres wichtiges Feld ist auch die Vorbereitung der Patienten (8) vor dem ersten Anwenden von EMDR. Zunächst muß dazu der Betroffene motiviert sein, sich einer erneuten Auseinandersetzung mit dem traumatisierenden Thema in therapeutischer Begleitung zu stellen. Er braucht genügend Ich-Stärke und Afifektkontrolle, um mit der Möglichkeit eines erneuten unangenehmen Affektausbruchs umgehen zu können. Das erneute Annähern an das Trauma sollte im Idealfall so erfolgen, daß es zu keinem totalen Kontrollverlust kommt, sondern zu einem zwar zunächst unangenehmen aber im weiteren Verlauf hilfreichem und Sinn machenden Wiedererleben. Ziel ist es, das Erlebte als zwar schreckliches aber vergangenes Erleben erinnern zu können, aus dem man gelernt hat. Bei diesem Prozeß bietet EMDR an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt eine gute, rasch und tiefgreifend wirksame Methode zum Reprozessieren. Je schwerer und komplexer jedoch die traumatische Störung, desto flexibler, breitgefächerter und zeitintensiver ist auch die Behandlung und desto mehr therapeutisches Wissen zusätzlich zu EMDR ist notwendig.
110 Eine Erfahrung mit EMDR ist, daß man nie voraussagen kann wie eine Sitzung konkret abläuft. Es kann zu unglaublichen und höchst kreativen Lösungen (die auch anhalten) kommen bei scheinbar unendlich traumatischen Geschichten. Es können jedoch umgekehrt bei einem scheinbar einfachen Fall große Probleme auftreten, die viel therapeutisches Geschick und Wissen im Umgang traumatischen Störungen erfordern, um möglichen Schaden zu begrenzen. 2.5 Weiterbildung in EMDR Zu den zwei 2 Vi tägigen Kursen für EMDR-Weiterbildung (siehe auch 8) werden nur bereits vorqualifizierte Psychologen und ärztliche Psychotherapeuten zugelassen (d.h. sie müssen eine anerkannte psychotherpeutische Weiterbildung in einem anderen Verfahren haben). Schon der Gründerin der Methode, F. Shapiro, war an diesem hohen Standard der Anwender von EMDR gelegen, da die zunächst sehr einfach wirkende Methode durch unkontrollierte und inkompetente Anwendung sicher bald als Hokuspokus abgetan worden wäre. Wie deutlich geworden ist, besteht die Therapie jedoch keineswegs nur darin, einem Betroffenen durch ein paar Augenbewegungen alles Unangenehme wegzuzaubern. Die effiziente Anwendung erfordert wie andere Therapiemethoden auch viel Erfahrung. Von der EMDR International Association (EMDRIA) wird deshalb zusätzlich zu den zwei Ausbildungswochenenden eine Supervision von mindestens 3 eigenen Fällen empfohlen. In Deutschland werden Ausbildungswochenenden für EMDR vom EMDR Institut Deutschland Dr. Arne Hofmann organisiert und durchgeführt in Zusammenarbeit mit dem Institut für Psychotraumatologie (ΓΡΤ) von Prof. Fischer an der Universität Köln. Außerdem organisiert das IPT auch eine breiter angelegte „Weiterbildung in der Psychotherapie psychotraumatischer Störungen" in dem neben EMDR auch noch diverse andere Therapieverfahren einbezogen sind. Aufgrund der Komplexität der verschiedenen Arten psychischer Störungen durch traumatische Erlebnisse ist dieses umfassendere Weiterbildungsangebot sehr zu begrüßen und wird hoffentlich diesen Therapiezweig in Deutschland dem internationalen Standard näher bringen.
Ill
3 Zusammenfassung und Diskussion Neuere Studien mit den nun erweiterten technischen Möglichkeiten der bildgebenden Verfahren der Gehirnfunktion werden in den nächsten Jahren sicher weitere interessante Ergebnisse zu neurophysiologischen Zusammenhänge der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen bringen. Dazu tragen schnell wirksame Methoden wie EMDR in Vergleichsstudien vor und nach Therapie entscheidend bei. Außerdem wird es durch diese funktionelle Darstellung in den Aufnahmen (z.B. bei PET) immer mehr möglich, Effekte von psychotherapeutischen Verfahren als Änderungen in der Physiologie zu erfassen. Aus den bisherigen vorläufigen Ergebnissen läßt sich folgendes schließen: •
Traumatische Erlebnisse werden zunächst und wahrscheinlich auch auf längere Sicht als emotionale sensorische Erinnerungsfragmente gespeichert.
•
Im Laufe der normalen Verarbeitung traumatischer Erlebnisse werden diese Fragmente zu einer zusammenhängenden Geschichte umgesetzt und in der Erinnerung als vergangene Erfahrungen gespeichert. Dabei scheint das Hippocampussystem, der orbitofrontale Cortex und das Cingulum eine zentrale Funktion zu haben.
•
„Emotionale Erinnerungen" scheinen eine zumindest sehr stabile Qualität zu besitzen und lang zu überdauern, was möglicherweise für die Hartnäckigkeit der Symptome bei der PTBS eine Rolle spielt. Normalerweise gibt es aber höhergeordnete komplexere Hirnfunktionen (wahrscheinlich sind diese bei traumatischen Erinnerung im Cingulum lokalisiert), die über aktuelle Auswirkungen der Erinnerung auf das Verhalten und Fühlen der Person entscheidet.
•
Durch EMDR ist es möglich, einen Teil der psychotraumatischen Störungen in der Neurophysiologie in wenigen Sitzungen zu verändern, was auch der klinischen Änderung in Fühlen, Denken und Verhalten des Betroffenen entspricht.
Hiermit steht mit EMDR eine wirksame und umfassende Therapiemethode für die posttraumatische Belastungsstörung und andere traumabedingte Störungen zur Verfügung. Bei der Methode handelt es sich jedoch um eine komplexe und stark durchstrukturierte Methode, die hochwirksam ist, aber auch Risiken birgt. Da die Sicherheit der Patienten vor Retraumatisierung oberstes Gebot bei der
112 Traumatherapie ist, sollte EMDR nur von erfahrenen Therapeuten angewandt und erlernt werden. Dadurch kann höchstmögliche Sicherheit für den Patienten und eine größtmögliche Wirksamkeit zur Linderung erzielt werden. Wenn die Intervention erfolgreich verläuft gelingt das, was uns Menschen am besten über schwere Erlebnisse hinweghilft, nämlich trotz der Widrigkeiten einen persönlichen Sinn in unserem Erleben finden oder wie Viktor Frankl es ausdrückte (6): „Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muß auch Leiden einen Sinn haben."
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Zur Neurologie von Affekten und Kognition
Kurzbericht über den von Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer gehaltenen Vortrag Dr. Angela Wagner Prof. Dr. Dr. M. Spitzer aus Ulm steigt in das Tagungsthema ein mit der Betrachtung der Vorliebe für bestimmte Männertypen bei Frauen. Er stellt einen Zusammenhang her zwischen der Präferenz für einen eher männlich aussehenden Partner und der für einen eher weiblich aussehenden Partner. Diese Präferenz ist abhängig von der aktuellen Konzeptionsmöglichkeit der Frau. Ist diese hoch, so wählt sie einen männlich wirkenden Partner, von dem Zeugung erwartet werden kann. Ist sie niedrig, so wählt sie einen Partner, der weiblicher wirkt und für sie und schon vorhandene Nachkommen zu sorgen verspricht. Prof. Spitzer sieht in diesen Gesetzmäßigkeiten des Handelns eine evolutionäre Konstanz. Der Cortex enthält sog. cortikale Karten, d.h. sinnvoll vernetzte gespeicherte Informationen, von denen eine große Zahl erkannt ist und immer neue entdeckt werden. Es gibt ca. 735 Landkarten im kognitiven System, die interagieren. So kann man nachweisen, daß bei bilingualen Kindern die Sprachareale vermischt sind, während es bei zweisprachigen Kindern (Sprachen nacheinander gelernt) zwei abgegrenzte Areale sind. Kontrast und Schärfe der Informationsverarbeitung verändern sich durch Neuromodulation. Hierbei spielen auch die Emotionen eine wichtige Rolle: So erhöht Angst das scharfe Denken, aber nicht die Kreativität. Diese wird vielmehr durch positive Stimmung gefördert. Emotionalität hilft uns rasch sinnvoll zu entscheiden. Mit Magnetfeldern kann man Nervenzellen stimulieren und so zentralnervöse Prozesse beeinflussen. Mit TMS, der Transcorinal-Magnetic-Stimulation, wird durch die Variation der Stimulationsfrequenz die Aktivität bestimmter Bereiche
115 der Großhirnrinde herauf- oder heruntergeregelt. So kann man zum Beispiel durch hochfrequente Stimulation das Hören von Stimmen mit der TMS kurzfristig ausschalten.
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Psychophysiologie der Emotionen Gerhard Stemmler Emotionen können auf verschiedenen Abstraktionsebenen verstanden und untersucht werden. Eine zentrale Ebene ist die Frage nach der Funktion von Emotionen. So hat Ekel die Funktion der Ausscheidung, Ärger die der Zerstörung, Furcht die des Schutzes, Trauer die der Absonderung oder Freude die der Fortpflanzung (Plutchik, 1980). Diese Funktionen haben neben ihrem Einfluss auf das kognitive System, also dem, was wir denken und als Gefühl wahrnehmen, immer auch eine verhaltensformende Funktion. Übergeordnetes Ziel dabei ist die Protektion des Organismus. Darunter ist die Aufrechterhaltung der Unversehrtheit des Organismus zu verstehen, was durch autonome Reflexe (ζ. B. Erbrechen, Blutumverteilung, Aufmerksamkeitsfokussierung) und durch die Bereitstellung von Verhaltensprogrammen (ζ. B. Notfallreaktion, Weglaufen, Angriffsvorbereitung) erzielt wird. Andere Funktionen betreffen die interpersonale Kommunikation, womit anderen Personen eine Verhaltensabsicht vermittelt wird, auf die sich die andere Person in ihrem Verhalten einstellen kann (z. B. Erröten bei Scham, Gesichtsausdruck bei Ärger, etc.), als auch die intraorganismische Kommunikation, womit das Gehirn entsprechende Regulationsprogramme an das autonome Nervensystem und an das somatische Nervensystem weiterleitet und umgekehrt die Reafferenzen aus der Körperperipherie an das Gehirn zurückgeleitet werden. In diese Funktionen von Emotionen ist die somatoviscerale Aktivität und das Gewahrwerden dieser organismischen Vorgänge, d. h. die Psychophysiologie, eng eingebunden. Psychophysiologie befasst sich mit den Prozessen, die an der Schnittstelle von Gehirn und Verhalten angesiedelt sind und durch die das Verhalten überhaupt erst ermöglicht wird. Die Protektion des Organismus bedient sich somatovisceraler Regulationsprozesse, die vom limbischen System des Gehirns, dem Hirnstamm und dem Rückenmark angesteuert und koordiniert werden. Die interpersonale Kommunikation wie auch die intraorganismische Kommunikation werden über solche somatovisceralen Prozesse vermittelt. Insofern liegt es nahe, die Funktion von Emotionen mit psychophysiologischen Methoden zu untersuchen. Im Vordergrund dieser Untersuchung steht dabei die Frage, inwieweit verschiedene Emotionen zu verschiedenen physiologischen Regulationszuständen führen und was wir daraus über die Funktion von Emotionen im einzelnen lernen können.
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Die Annahme einer physiologischen Emotionsspezifität wird durch verschiedene neuere neurophysiologische und neuroanatomische Befunde unterstützt. So wurde von der Arbeitsgruppe um O.A. Smith (Smith, De Vito, & Astley, 1990) eine Neuronengruppe im lateralen Hypothalamus identifiziert, durch die bei Primaten eine konditionierte emotionale Reaktion im kardiovasculären System vermittelt wird. LeDoux (1993) beschrieb ein subkortikales Netzwerk, in dem unkonditionierte und konditionierte Furchtreize verarbeitet und somatomotorische, endokrine und autonome Reaktionen ausgelöst werden. Lane et al. wiesen beim Menschen in Studien mit dem PET distinkte neuroanatomische Korrelate von Freude, Traurigkeit und Ekel (Lane, Reiman, Ahern, Schwartz, & Davidson, 1997a) sowie Korrelate von angenehmen bzw. unangenehmen statischen Bildern (Lane et al., 1997b) nach. Bis auf den heutigen Tag wird der Forschung zur emotionsspezifischen somatovisceralen Aktivität die Sichtweise von Cannon (1929) entgegengehalten, wonach das autonome Nervensystem in seinem sympathischen Ast eine weitgehend undifferenzierte, diffuse Innervation der Zielorgane vermitteln würde, sodass schon aus physiologischer Sicht kein Raum für spezifische Regulationsmuster des autonomen Nervensystems vorhanden sein könne. Tatsächlich ist diese Auffassung jedoch falsch (Jänig & Häbler, im Druck-a; Jänig & Häbler, im Druck-b). Die autonome Regulation der verschiedenen Körperfunktionen erfordert die anatomisch und funktional hochselektive neuronale Verschaltung von zentralem und peripherem Nervensystem bis hin zu den Zielorganen. Anders würde kaum die Genauigkeit und auch die Flexibilität der Kontrolle autonomer Organe bei schnell wechselnden Anforderungen eines sich in seiner Umwelt verhaltenden Organismus gegeben sein können. Diese Körperregulationen und ihre Koordination mit unterschiedlichen motorischen Verhaltensweisen sind im Gehirn repräsentiert, insbesondere im Rückenmark, im Hirnstamm und im Hypothalamus. Mit diesem dramatischen Wechsel im Verständnis des funktionalen Aufbaus des autonomen Nervensystems könnte die Möglichkeit emotionsspezifischer physiologischer Aktivierungen eine Neueinschätzung erfahren. Die Theorie von James (1884) zur Entstehung von Gefühlen wies den somatovisceralen Afferenzen aus dem Körper eine Schlüsselrolle zu. Die anfanglich für vernichtend gehaltene Kritik von Cannon an dieser Position (Cannon, 1931) ist inzwischen einer wesentlich moderateren Einschätzung gewichen. Damasio (1994) hat die James'sche Position modifiziert und neu belebt. Emotionen sind danach Teil der neuronalen „Maschinerie", die für die homöostatische Kontrolle des inneren Mileus für Antriebe und Instinkte bereitstehen. Gefühle werden
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nach Damasio auf zwei voneinander getrennten Wegen vermittelt. Der erste Weg („Als-ob-Schleife") ist die chemisch vermittelte Reafferenz der somatovisceralen Ansteuerungen der Körperperipherie vom Hirnstamm direkt zurück an das Telenzephalon. Der zweite Weg wird durch die somatovisceralen Afferenzen aus der Körperperipherie gebildet. Damit soll in einer Konvergenzzone im präfrontalen Kortex die Rückmeldung über die tatsächliche Aktivität der Körpersysteme mit den mentalen Bildern, die die Emotion ausgelöst hatten, verglichen werden. Gefühle geben uns somit Kognitionen unserer visceralen und musculo-skelettalen Zustände. Viele weitere Befunde aus dem psychophysiologischen Labor liegen inzwischen vor, aus denen hervorgeht, dass somatoviscerale Aktivität in ihrem Muster hoch differenziert und reliabel ist (Stemmler, 1992). So lassen sich auf der somatovisceralen Ebene nicht nur verschiedene Aktivitätszustände der Motorik deutlich unterscheiden, sondern auch psychische Prozesse differenzieren. Allerdings darf nicht erwartet werden, dass subjektive Gefühle und somatoviscerale Aktivität in einer eins zu eins Relation aufeinander abgebildet werden. Dieser empirische Nachweis einer differenzierten Musterbildung in der Psychophysiologie weist ebenfalls die Cannonsche Auffassung zurück, dass Emotionen im wesentlichen eine „Massenaktion" des sympathischen Nervensystems bewirken und daher eine Emotionsdifferenzierung unmöglich sei. Die Differenzierung von Emotionen aufgrund von berichteten Körperempfindungen gelingt sowohl bei Erwachsenen (Rimé, Philippot, & Cisamolo, 1990) als auch bei Kindern (Janke, 1998) recht gut. Hieraus könnte abgeleitet werden, dass Emotionen mit spezifischen physiologischen Reaktionsmustern einhergehen. Allerdings könnten konsistente Körperwahrnehmungen auch mit der Wirksamkeit von universellen kulturellen Schemata erklärt werden. Woher aber stammen solche Schemata, wenn nicht aus der Selbsterfahrung, vielleicht zumindest exemplarisch von Episoden mit besonders hoher emotionaler Intensität, oder auch aus den sichtbaren Ausdruckserscheinungen von Emotionen bei anderen Personen? Wenn also genügend Voraussetzungen für physiologische Emotionsspezifität vorhanden zu sein scheinen, welche Einwände verbleiben gegen dieses Postulat? Ein Haupteinwand besteht darin, dass das autonome und somatische Nervensystem den unterschiedlichsten Einflüssen unterworfen sind, etwa Einflüssen der Homöostase, der Regulation der Körperhaltung und anderer fortlaufender motorischer Aktivität oder etwa der Thermoregulation, und dass deshalb anstelle somatovisceraler doch besser zentralnervöse Aktivität analysiert werden sollte. So richtig dieser Einwand im Prinzip sein könnte, stehen doch nach wie
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vor nur wenige indirekte Erfassungsmethoden für zentralnervöse Aktivität zur Verfügung. Und auch hier gilt derselbe Einwand: die Aktivität in bestimmten Hirnregionen, wie sie in der elektroenzephalographischen Hirnrindenaktivität oder mit bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht wird, ist, bislang jedenfalls, keinesfalls eindeutig mit Emotionen in Verbindung zu bringen. Insofern kommt es mehr auf die Qualität der experimentellen Untersuchung von Emotionen unter möglicher Ausschaltung von Alternativerklärungen für die beobachtete physiologische Aktivität an als darauf, bestimmte Markiervariablen für bestimmte emotionale Zustände zu entdecken. Dies wird nach aller Evidenz ohne invasive Verfahren, ζ. B. Einzelzellableitungen im Gehirn, nicht möglich sein, und damit zur Beantwortung der viel weitergehenden Frage nach den Funktionen von Emotionen nicht weiterführen können. Ein weiterer Einwand gegen Emotionsspezifität besagt, dass somatoviscerale Aktivität nicht im Sinne von „Basisemotionen", sondern im Sinne der dimensionalen Struktur von Aktivierung und Valenz organisiert wäre. Statt „Angst", „Ärger" oder „Freude" würde die physiologische Aktivität nach der Intensität der Emotion und ihrer positiven bzw. negativen Valenz kodiert sein. Dies ist eine durch empirische Forschung zu klärende Frage, wobei im Prinzip die Auffassung von Basisemotionen nicht deijenigen von Emotionsdimensionen im Sinne der Ausschließlichkeit einander entgegenstehen müsste; beide Auffassungen könnten in unterschiedlichen zeitlichen und lokalisatorischen Emotionseffekten koexistieren. Der letzte Einwand gegen physiologische Emotionsspezifität ist vielleicht der schwerste: Bisherige Studien sind widersprüchlich und erlauben daher keine abgesicherte Stellungnahme zur Frage einer möglichen Spezifität. In der Tat ergibt eine Analyse der Publikationen, etwa zur Psychophysiologie von Angst und Ärger (andere Emotionskombinationen wurden weitaus seltener in denselben Studien untersucht), dass die Konsistenz der Ergebnisse in Bezug auf spezifische Zielvariablen, auf die sich Angst bzw. Ärger auswirken sollten, sehr gering ist. Am ehesten könnte noch resümiert werden, dass für Angst Erhöhungen des Herzminutenvolumens und Abnahmen der Fingertemperatur, für Ärger Erhöhungen des diastolischen Blutdrucks und des totalen peripheren Widerstands sowie der muskulären Aktivität (außerhalb des Gesichts) charakteristisch sein könnten. Auf der anderen Seite ergab eine eingehende Untersuchung von 14 Studien zur Psychophysiologie von Angst und Ärger, dass viele spezifische Reaktionen festgestellt wurden - erheblich mehr, als nach dem Zufall zu erwarten wäre (Stemmler, Heldmann, Pauls, & Scherer, 1998). Meine Hypothese ist nun, dass sich in diesen widersprüchlichen Ergebnissen gerade
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die oben beschriebenen Einflüsse des nicht-emotionalen Kontextes, der zwischen den verschiedenen Studien wegen der ganz unterschiedlichen verwendeten Emotionsinduktionen deutlich variiert, widerspiegeln. Darüber hinaus interessierte mich, welche zusammenhängenden Regulationsmuster - und nicht Aktivitäten einzelner, isoliert herausgegriffener physiologischer Variablen den Emotionen Angst und Ärger zugrunde liegen könnten. Eine großangelegte Untersuchung zur Psychophysiologie von Angst und Ärger sollte helfen, diese Fragen weiter zu klären. Ν = 158 Probanden wurden einer von vier Versuchsgruppen zugewiesen: Experimentalgruppe Angst, Kontrollgruppe Angst, Experimentalgruppe Ärger, Kontrollgruppe Ärger. Jeder Proband wurde an zwei Sitzungstagen im Wochenabstand zunächst unter „Reallife", sodann unter Imaginationsbedingungen in ein- und derselben Emotionsbedingung untersucht. Die Real-life Angstinduktion wurde über die Ankündigung einer Rede, die die Probanden in fünf Minuten zu halten hatten, realisiert. Die Real-life Ärgerinduktion war eingebettet in die Bearbeitung verschiedener kognitiver Aufgaben und bediente sich nörgelnder und direkter Provokationen durch den Versuchsleiter. Die Angst- und Ärgerkontrollgruppen erhielten völlig identische Induktionen wie die Experimentalgruppen mit dem Unterschied, dass ihnen vorab die Induktionsabsicht mitgeteilt worden war. Damit wurden sie zwar exakt den gleichen physikalischen Reizen ausgesetzt, die Bedeutung dieser Reize war jedoch für sie durch die Voraufklärung von emotionalem Gehalt weitgehend befreit. Während der Angst- bzw. Ärgerimagination wurden die einzelnen Elemente der eine Woche zuvor erlebten Real-life Emotionsinduktionen in der Vorstellung nacherlebt. Aus den physiologischen Ableitungen des Elektrokardiogramms, des Impedanzkardiogramms, der Hauttemperatur, der Hautdurchblutung, der elektrischen Hautleitfähigkeit, des Blutdrucks, der Atemtätigkeit, des Elektrookulogramms sowie verschiedener Elektromyogramme wurden 29 somatoviscerale Variablen extrahiert, die eine Musteranalyse der somatischen und der kardiovaskulären Aktivität gestatten sollten. Die Registrierung dieser Variablen erfolgte in Ein-Minuten-Abschnitten während und direkt anschließend an die Induktionsphasen, sowie zur Kontrolle von individuellen Reaktionseigenarten auch während Ruhe und physikalischen Standardtests. Direkt im Anschluss an die physiologischen Registrierphasen wurden Befindlichkeitsvariablen erhoben, mit denen spezifische Emotionen (Scham, Angst, Traurigkeit, Freude, Ärger und wahrgenommenes Herzklopfen) sowie bipolare Zustandsdimensionen (Anspannung, Energiegeladenheit, Valenz, Aufnahmebereitschaft und Interesse) erhoben wurden.
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In einer ersten Analyse wurde überprüft, inwieweit die erwarteten Kontexteffekte der Real-life bzw. Imaginationsinduktionen von Angst und Ärger in den somatovisceralen Variablen, und im Vergleich dazu in den Befindlichkeitsvariablen, sichtbar werden würden. Tatsächlich zeigten sich hochsignifikante Unterschiede in den physiologischen Mustern der Kontrollgruppen, die den nicht-emotionalen Kontext der Emotionsinduktionen widerspiegeln. Wie zu erwarten, war die somatoviscerale Aktivität unter Real-life Bedingungen erheblich höher als unter Imaginationsbedingungen. Ganz im Gegensatz hierzu verhielten sich die Kontexteffekte der Befindlichkeiten. Hier gab es nur marginale Unterschiede zwischen Real-life und Imagination. Dieser Befund dokumentiert eindrucksvoll, dass die somatoviscerale Aktivität während Emotionsinduktionen in einem erheblichen Anteil durch den nicht-emotionalen Kontext mitbestimmt wird, der umgekehrt in den Befindlichkeitsangaben nicht ersichtlich ist. Im folgenden werden die Effekte der Emotionsinduktionen beschrieben. Dabei wird stets der Effekt der Emotionsinduktion an dem Unterschied der Reaktion zwischen Experimentalgruppe und Kontrollgruppe innerhalb derselben Induktion (Angst oder Ärger) und innerhalb desselben Kontextes (Real-life oder Imagination) gemessen. In Bezug auf die Befindlichkeit Angst ergaben sich sowohl unter Real-life als auch unter Imagination bedeutsame Anstiege während der Angstinduktionen. Entsprechendes konnte für die Befindlichkeit Ärger während der Ärgerinduktionen festgestellt werden. Eine zunächst summarische Auswertung der durchschnittlichen somatovisceralen Aktivität, die als allgemeine Aktivierung interpretiert werden kann, ergab hohe Auslenkungen während der Angst- und Ärgerinduktionen unter dem Real-life Kontext und unter dem Imaginationskontext auch während der Ärgerinduktion, nicht hingegen während der Angstinduktion. Dieser differenzierte Befund weist darauf hin, dass mit Ausnahme der Angst-Imagination die Emotionsinduktionen erfolgreich waren. Die genauere Analyse der somatovisceralen Emotionseffekte, die aus Platzgründen hier nicht im einzelnen dokumentiert werden kann (s. Stemmler, Heldmann, Pauls & Scherer, submitted), zeigte, dass die Emotionsmuster zwei Komponenten aufwiesen. Die erste Komponente, die nur unter dem Kontext Real-life gleichermaßen bei den Angst- und Ärgerinduktionen feststellbar war, konnte tentativ als Defensivreaktion identifiziert werden. Eine Defensivreaktion kann bei Säugetieren durch Stimulation des Gehirns im Bereich des zentralen Höhlengraus ausgelöst werden. Dabei wird ein relativ festes kardiovasculäres Muster mit chronotroper, inotroper und pressorischer Aktivität erhalten. Diese Defensivreaktion dient einer allgemeinen organismischen Vorbereitung für eine bevorstehende Auseinandersetzung im Sinne von Cannons Furcht-Flucht-
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reaktion. Die zweite Komponente scheint emotionsspezifische somatoviscerale Aktivität zu enthalten. Im Falle einer Angstinduktion gleicht diese Reaktion der Wirkung, die Adrenalin auf das kardiovasculäre System ausübt, d. h. chronotrope und inotrope Aktivierung, aber keine Zunahme des diastolischen Blutdrucks oder des totalen peripheren Widerstands (wie es umgekehrt bei der Defensivreaktion zu beobachten ist). Im Fall einer Ärgerinduktion scheint die spezifische Reaktionskomponente in einem Anstieg des diastolischen Blutdrucks, der Stirntemperatur und der Muskelspannung am Arm zu bestehen. In diesem Mehrkomponentenmodell somatovisceraler Angst- und Ärgerreaktionen wird also der Einfluss des „nicht-emotionalen" Kontexts, des „emotionalen" Kontexts und der Einfluss der „Emotionssignatur" unterschieden. Der nichtemotionale Kontext gibt den Rahmen für weitere Reaktionsmöglichkeiten vor und ist bestimmt aus Körperlage, ambienter Temperatur, nicht-emotionalen kognitiven Prozessen, Konstitution, etc. Der emotionale Kontext bildet den Hintergrund, vor dem die funktionalen Ziele einer Emotion situativ realisiert werden können. So macht es einen Unterschied, ob unter Bedrohung Flucht überhaupt eine Verhaltensalternative für den Organismus ist, ob Verhaltenshemmung oder eine Defensivreaktion erfolgen sollen. Es ist auch denkbar, dass Personen sich in der mit größerer Wahrscheinlichkeit gewählten Reaktion habituell unterscheiden. Im vorliegenden Experiment konnte jedenfalls gezeigt werden, dass die Defensivreaktion nur unter Real-life, nicht jedoch bei Imagination auftrat. Die Emotionssignatur schließlich wird als relativ fixierte, möglicherweise „festverdrahtete" Reaktionsbereitschaft interpretiert, die den Organismus für ein prototypisches Verhalten vorbereitet. Funktionelles Ziel dieser Reaktionsbereitschaft ist Schutz des Organismus. Vermutlich gibt es nur eine geringe Anzahl solcher Emotionssignaturen. Wahrscheinlich gehören hierzu Angst und Ärger als subjektive Wahrnehmung einer organismischen Abwehr unter Bedrohung entweder durch Flucht oder durch Konfrontation. Wenn die vorgehenden Überlegungen auch nur zum Teil zutreffend sind, geben sie eine klare Antwort auf die Ausgangsfrage nach physiologischer Emotionsspezifität. Sie wird vermutlich für einige (wenige) Emotionen gelten, insoweit als eine Emotion an einen bestehenden, weitgehenden festverdrahteten Mechanismus der somatovisceralen Reaktion im Verlauf der Phylogenese angekoppelt worden ist. Die dargelegte Komponententheorie physiologischer Emotionsreaktionen vermag darüber hinaus zu erklären, warum die empirischen Befunde zu physiologischer Emotionsspezifität zwar quantitativ überzeugen, von den berichteten Mustern her aber relativ inkonsistent gewesen sind. Der Grund ist dort zu suchen, wo die nicht-emotionalen und die emotionalen Kontexte verschiede-
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ner Untersuchungen nicht miteinander vergleichbar waren. Dort, wo die Vergleichbarkeit eher gegeben ist, ζ. B. bei der Emotionsinduktion über Imagination, sind die vorliegenden Befunde auch wesentlich weniger heterogen als unter Real-life Bedingungen.
Literatur Cannon, W. B. (1929). Bodily changes in pain, hunger, fear and rage. New York: Appleton. Cannon, W. B. (1931). Again the James-Lange and the thalamic theories of emotion. Psychological Review, 38, 281-295. Damasio, A. R. (1994). Descartes' error. Emotion, reason, and the human brain. New York: Avon Books. James, W. (1884). What is emotion? Mind, 19,188-205. Jänig, W., & Häbler, H.-J. (im Druck-a). Organization of the autonomic nervous system: Structure and function. In O. Appenzeller (Ed.), Handbook of clinical neurology. Jänig, W., & Häbler, H.-J. (im Druck-b). Specificity in the organization of the autonomic nervous system: A basis for precise neural regulation of homeostatic and protective body functions. In E. A. Mayer & C. Saper (Eds.), The biological basis for mind-body interactions . Janke, B. (1998). What do children know about the bodily changes accompanying anxiety, sadness, anger and happiness? In A. Fischer & N. Frijda (Eds.), Proceedings of the Xth Conference of the International Society for Research on Emotion (pp. 233-237). Amsterdam: International Society for Research on Emotion. Lane, R. D., Reiman, E. M., Ahern, G. L., Schwartz, G. E., & Davidson, R. J. (1997a). Neuroanatomical correlates of happiness, sadness and disgust. The American Journal of Psychiatry, 154, 926-933. Lane, R. D., Reiman, Ε. M., Bradley, M. M., Lang, P. J., Ahern, G. L., Davidson, R. J., & Schwartz, G. E. (1997b). Neuroanatomical correlates of pleasant and unpleasant emotion. Neuropsychologia, 35, 1437-1444. LeDoux, J. E. (1993). Emotional networks in the brain. In M. Lewis & J. M. Haviland (Eds.), Handbook of emotions (pp. 109-118). New York: Guilford.
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Plutchik, R. (1980). A general psychoevolutionary theory of emotion. In R Plutchik & H. Kellerman (Eds.), Emotion: Theory, research, and experience (Vol. 1, pp. 3-31). New York: Academic Press. Rimé, Β., Philippot, P., & Cisamolo, D. (1990). Social schemata of peripheral changes in emotion. Journal of Personality and Social Psychology, 59, 38-49. Smith, Ο. Α., DeVito, J. L., & Astley, C. A. (1990). Neurons controlling cardiovascular responses to emotion are located in lateral hypothalamusperifornical region. American Journal of Physiology, 259, R943-R954. Stemmler, G. (1992). Differential psychophysiology: Persons in situations. New York: Springer. Stemmler, G., Heldmann, M., Pauls, C. Α., & Scherer, T. (1998). Fear and anger specificity in somatovisceral responses (Berichte aus dem Fachbereich Psychologie Nr. 116): Philipps-Universität Marburg. Stemmler, G., Heldmann, M., Pauls, C. Α., & Scherer, T. (submitted). Constraints for emotion specificity in fear and anger: The context counts.
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Das Soteria Projekt
Kurzbericht über den von Prof. Dr. Luc Ciompi gehaltenen Vortrag Dr. Angela Wagner Prof. Dr. L. Ciompi aus Bern stellt die alternative Schizophreniebehandlung ,,Soteria"(Geborgenheit) vor. 1984 startet das Projekt in Bern nach einem Modell aus den USA. In dem Konzept spielt die Affektivität eine zentrale Rolle. Das Konzept ist nicht antipsychiatrisch, verwendet indessen nur geringe Dosen von Neuroleptika. Prof. Ciompi postuliert in seiner Affektlogik: „kein Denken ohne affektive Komponente". Die Grundgestimmtheit beeinflusst die Weise des Denkens, also auch die Denkstörungen in der Schizophrenie. Denkstörungen werden von einem emotionalen Zustand beeinflusst - in der akuten Psychose meist von starker Angst. Schwerverängstigte hochgespannte Menschen haben ein anderes Fühl-Denk-Verhaltensmuster. Die Frage war: „Was ist zu tun?" - Die Antwort: Entspannung, Ruhe, Geborgenheit, Vertrautheit, Kontinuität - ein vertrautes Setting ist zu schaffen. Soteria ist entstanden fur junge Leute mit psychotischen Ersterkrankungen, ein kleines Haus mit sechs bis acht Plätzen, konstantem Personal, ein familienartiges Zusammenleben. Eine Besonderheit ist das sogenannte „weiche Zimmer". Es handelt sich um ein helles freundliches Zimmer, das nach den farblichen Wünschen des Patienten gestaltet werden kann. Er wird dort nicht in erster Linie „behandelt", sondern der Patient wird in seiner Befindlichkeit begleitet. Es geht darum zu vermitteln : „Schau, ich bin da; es geht vorüber." Es soll ein echter Kontakt bzw. eine echte Bindung hergestellt werden, die Dienstpläne sind entsprechend gestaltet - 24 bzw. 48 Std. kontiniuierlich. Von den sechs bis acht Plätzen sind ein bis zwei für akute Patienten. Das Schlüsselelement ist die Nähe - Distanz - Regulation.
126 In der Soteria wird nur ein Fünftel an Neuroleptika gebraucht im Vergleich zu einer normalen Behandlung. Die Aufenthaltsdauer beträgt im Durchschnitt drei Monate. Die Kosten sind identisch mit denen der Normalbehandlung. Etwa 5% der Patienten mußten in einer geschlossenen Abteilung einer Klinik untergebracht werden, es bestand akute Selbst- oder Fremdgefährdung. In all den Jahren gab es einen Suizid.
Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen Martin Hautzinger
1. Erklärungskonzept Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) geht davon aus, daß zwischen Affektzuständen (Emotionen, Stimmungen), Kognitionen (Denken, Wahrnehmungen, Einstellungen, Erklärungen) und Verhalten (Aktivitäten, Handlungen, Fertigkeiten, Kompetenzen, Interaktionen) ein enger und wechselseitiger Zusammenhang besteht. Typische Probleme depressiver Menschen liegen in der dysfunktionalen Art zu denken, der ungeschickten Art sich zu verhalten, der Inaktivität, dem Übermaß belastender, aversiver Lebensbedingungen, dem Mangel an verstärkenden, positiven Erfahrungen. Dabei wird nicht übersehen, daß häufig reale Belastungen (z.B. Verluste, Krankheiten, kritische Ereignisse, Benachteiligungen usw.) vorliegen bzw. sich akkumulieren und diese den Hintergrund bzw. den Auslöser für die depressive Entwicklung darstellen (Abbildung 1).
2. Behandlungsfokus Entsprechend liegt der Fokus der KVT (Hautzinger, 1997) auf Kompetenzsteigerung, Kognitionsveränderung sowie Abbau belastender, aversiver Bedingungen und Steigerung positiv verstärkender Aktivitäten. Diese Elemente sind eingebunden in einen allgemeinen Rahmen wirkungsvollen therapeutischen Verhaltens bei der Depressionsbehandlung. Diese wirkungsvollen Merkmale sind: Erklärungs- und Begründungskonzept erarbeiten und voranstellen, daraus eine Struktur und einen Plan für die Behandlung ableiten, konkrete Ziele formulieren und abstimmen, Orientierung an Fertigkeiten zur Bewältigung alltäglicher Probleme, gestuftes Vorgehen, Anwendung und Übung des Besprochenen außerhalb des Therapierahmens (siehe Abbildung 2).
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Abbildung 1
Integrative Modellvorstellungen als Heuristik des verhaltenstherapeutischen Handelns (Bedingungsgefüge von psychologischen Variablen, die wesentlich an der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression beteiligt sind)
Hintergrund- und Umweltbedingungen (sozial, materiell etc.)
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Abbildung 2 Kooperation Interesse Verständnis Transparenz Direktivität (VJI r mUnUdUpÇl l^km fnt^ UlvuiV
Strukturiertheit Problemzentriertheit Zusammenfassungen Rückmeldungen Hausaufgaben
Aktivitätssteigerung
Erhöhung angenehmer Erfahrungen Abbau belastender Bedingungen
Gelenktes Fragen Erkennen automatischer Gedanken
Kognitionsänderung
Tagesprotokoll negativer Gedanken Kognitives Neubenennen Realitätstesten und rationale Alternativen Wahrnehmung sozialer Bedingungen Rollenspiele
Kompetenzsteigerung
Kontaktaufbau Kommunikationsübungen
Therapieerfolges
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3. Vorgehen und Behandlungselemente Ein typischer Behandlungsablauf (sei es in Form von Einzel- oder von Gruppentherapie) läßt sich in 5 Phasen (oder auch Module) gliedern, wobei die Abfolge der Phasen nicht zwingend festliegt und die Relevanz der einzelnen Phasen bzw. Module von Patient zu Patient variiert. Die 1. Phase beinhaltet Beziehungsaufbau, Entlastung und beruhigende Versicherung, Problemübersicht, Arbeitsbündnis. Die 2. Phase beinhaltet die Erarbeitung und Vermittlung eines Modells, in dem der Patient sich und seine Problematik wiederfindet und woraus sich eine Struktur für die nachfolgende KVT ergibt. Je nach Problemlage schließen sich dann die Module bzw. Phasen zum Aktivitätsaufbau, zur Verbesserung der sozialen Kompetenz oder die Kognitiven Methoden an. Ergänzt werden diese Vorgehensweise häufig durch Gespräche bzw. therapeutische Maßnahmen mit dem Ehepartner und/oder der Familie. Explizites Ziel der KVT ist es, den Patienten neue Fertigkeiten zum Umgang mit zukünftigen Belastungen, Schwierigkeiten, Krisen und depressiven Phasen zu vermitteln. Die während der Therapie erlernten, erprobten und eingesetzten Veränderungsstrategien sollen beibehalten werden oder in Form von Unterlagen (Materialien aus der Therapie) zugänglich sein. Zur Verhinderung von Rückfällen bzw. Chronifizierung ist es üblich, nach Abschluß der Therapie in größeren Abständen oder nach Bedarf Aufirischungssitzungen bzw. einzelne Therapiekontakte anzubieten.
4. Anforderungen an den Therapeuten Die Therapeuten sind problem- und lösungsorientiert, strukturiert, aktiv, direktiv, neugierig bemüht, unterstützend und erklärend.
5. Anforderungen an die Patienten Von Patienten wird erwartet, daß es möglich ist, sie in ein Gespräch und eine auf Veränderung und Lösung orientierte Interaktion einzubinden. Dabei ist dies keine Voraussetzung, sondern es ist Teil und Resultat des Bemühens um die Situation, die Lebenslage und die Geschichte der Patienten.
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6. Setting, Dosierung, Frequenz Die KVT kann als Einzel- oder Gruppentherapie angeboten werden. Die Kombination mit einer Pharmakotherapie ist möglich und im stationären, klinischen Rahmen die Regel. Es ist üblich von 20 bis 30 (Einzel-)Sitzungen mit einer Dauer von je 45-60 Minuten für eine ambulante Akutbehandlung auszugehen. Diese Behandlungstermine finden anfangs meist zweimal pro Woche, dann in wöchentlichen oder auch vierzehntägigen Abständen verteilt über einen Zeitraum von 4 bis 6 Monaten statt. Zur Stabilisierung bzw. Vertiefimg des Erreichten schließen sich meist therapeutische Kontakte in größeren Abständen (monatlich) über ein Jahr an. Beginnt die KVT stationär, dann ist es sinnvoll nach Klinikentlassungen eine regelmäßige (wöchentliche) ambulante Therapie über 2 bis 3 Monate anzubieten. Eine Gruppen-KVT hat einen ähnlichen Umfang (ca. 20 Sitzungen), wobei die Gruppentermine meist 1 V* bis 2 Stunden (mit einer Pause) dauern. Dabei kann stationär die Gruppe zweimal pro Woche, ambulant wöchentlich angeboten werden (siehe Abbildung 3).
7. Wirkungsnachweise Empirisch ist die KVT bei Depressionen gut abgesichert (Hautzinger, 1998). Es liegen zahlreiche gut kontrollierte, methodisch anspruchsvolle Effizienz- und Vergleichsstudien mit anderen Behandlungen und Kontrollgruppen sowie längeren Katamnesen vor. In keinem Fall war die KVT den Vergleichsbedingungen unterlegen (siehe Tabelle 1). In 22 Vergleichen war die KVT besser als Kontrollbedingungen bzw. tiefenpsychologische oder pharmakologische Behandlungen. Bei 30 Vergleichen zeigte die KVT Effekte wie die Pharmakotherapie, die Kombinationstherapie (KVT plus Medikament), die tiefenpsychologische Therapie oder auch unspezifische Interventionen. Ein bzw. zwei Jahre nach Behandlungsende waren die Patientengruppen, die KVT alleine oder in Kombination mit anderen Interventionen erhielten deutlich weniger symptomatisch, weniger rückfällig und zeigten insgesamt einen deutlich höheren Anteil gebesserter Patienten.
132 Abbildung 3
Sitzungen 1 bis 3
Beziehungsaufbau, Lebensgeschichte erheben, Problemanalyse, Erklärung für Depression erarbeiten, Zusammenhang von Denken, Fühlen und Handeln erarbeiten, Ziele definieren
Sitzungen 4 bis 7
Aktivitätsaufbau, Steigerung positiver Erfahrungen, Abbau von aversiven Erfahrungen, Tagesstrukturierung, Wochenplan
Sitzungen 8 bis 13
Kognitionen ändern, Herausarbeiten automatischer Gedanken, Evidenzüberprüfung, Erarbeiten von alternativen, hilfreicheren Denkweisen, Tagesprotokoll negativer Gedanken
Sitzungen 14 bis 17 Kompetenztraining, Verbesserung sozialer und interaktionaler Fähigkeiten, Kommunikationsübungen, Rollenspiele
Sitzungen 18 bis 20 Vorbereitung auf die Zeit nach der KVT, Umgang mit Krisen und zukünftigen Belastungen, Beibehaltung des Gelernten, Stabilisierung der Erfolge
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Tabelle 1
Zusammenfassung von Forschungsbefunden zur Wirksamkeit polaren Depressionen
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) verglichen mit
KVT überlegen
von KVT bei u
VerVergleichbare gleichsbeWirkung dingung besser
15
7
0
Interpersonelle Psychotherapie
0
1
0
Tiefenpsychologische Therapie
4
5
0
2
8
0
1
8
0
Kontrollbedingung/unspezifische Therapie
Psychopharmakotherapie Kombinationstherapie (Medik. + KVT)
8. Indikation, Kontraindikation, Einsatzbereiche Der besondere Wert der KVT liegt im längerfristigen Nutzen, also der Erfolgsbeibehaltung und Rückfallverhinderung. Dies ist noch 2 Jahre nach Ende der KVT nachzuweisen. Vergleichbare Effekte erbringt nur eine kontinuierliche Pharmakotherapie oder die Interpersonelle Psychotherapie. Bei der Kombination mit einer Psychopharmakotherapie zeigt sich, daß die KVT dazu beiträgt, daß die Patienten die Medikation besser tolerieren, komplianter sind, weniger Nebenwirkungen berichten und weniger Patienten die Pharmakotherapie abbrechen. Die KVT ist bislang bei unipolaren Depressionen (Depressiven Episoden, Major Depression, Dysthymien, depressiven Anpassungsstörungen) empirisch untersucht.
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9· Offene Fragen Forschungsbedarf besteht bei der Anwendung der KVT auf Bipolare Affektive Störungen, auf klar phasisch verlaufende, deutlich somatische Depressionen (was früher als endogene Depression galt). Bei sehr schweren Depressionen ist meist eine Kombinationsbehandlung bzw. eine anfängliche Pharmakotherapie angezeigt. Weitere Studien sind auch bei der Aufklärung der längerfristigen Wirkung (Rückfallprophylaxe) der KVT sowie bezüglich der Aufklärung der Wirkmechanismen und möglichen (Erfolgs-) Prädiktoren erforderlich.
Literatur Hautzinger, M. (1996) Die Rolle kognitiver Verhaltenstherapie bei der Behandlung von Depressionen. Zeitschrift für Klinische Psychologie 25, 332-334. Hautzinger, M. (1997) Kognitiver Verhaltenstherapie bei Depressionen (4. Aufl.). Psychologie Verlags Union, Weinheim Hautzinger, M. (1998) Zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei Depressionen. Psychotherapie in Psychiatrie, Psychotherapeutischer Medizin und Klinischer Psychologie 3, 71-80.
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Anwendung der Affektforschung auf die Psychopathologie und den psychotherapeutischen Prozess
Kurzbericht über den von Prof. Dr. Rainer Krause gehaltenen Vortrag Prof. Dr. Rainer Krause Prof. Dr. Rainer Krause aus Saarbrücken berichtet über das modular aufgebaute Emotionssystem. Es besteht aus sechs Modulen: motorisch expressiv, physiologisches Modul, willkürmotorisches System, Situationswahrnehmung, Wahrnehmung von Körperfunktionen und Semantik der Affekte. Die Motorik, Willkürmotorik und Situationswahrnehmung ist „affektansteckend" in der Interaktion mit Personen. Betrachtet man die Mimik und die Situationswahrnehmung, so ist beides kulturübergreifend ähnlich, während sich die Sprache über Gefühle stärker kulturabhängig unterscheidet. Bei Kindern bis zu sechs Monaten findet man ähnliche Muster in der affektiven Mimik wie bei Erwachsenen, wobei bei Vorliegen einer Erkrankung psychischer Art die bevorzugten Muster von ihr abhängen. Traumatisierungen sind eher mit Angst, Vernachlässigung eher mit einer Reduktion der Afifektivität verbunden. Die mimischen Affekte von Erwachsenen steuern das verhaltende Erleben der Kinder in spezifischer Weise. Diesen Vorgang nennt man „social referencing". Frauen zeigen in Alltagssituationen im allgemeinen mehr positive Emotionen als Männer, allerdings nur in gleichgeschlechtlichen Dyaden. In gemichtgeschlechtlichen zeigen die Männer gleich viel wie die Frauen. Vergleicht man psychisch Gesunde mit Kranken in dyadischen Situationen, zeigen Gesunde im allgemeinen mehr mimische Emotionen. Dies gilt allerdings nur fur Patienten mit niedriger Struktur im Sinne der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik. Neurotische Patienten wie konventionshysterische produzieren eher mehr. Auffallig ist, dass die gesunden Partner sich stets dem quantitativen Niveau der Patienten anpassen. Unter Rückgriff auf zahllose Studien über den psychotherapeutischen Prozess zeigte
136 der Autor auf, dass die kurativen Elemente therapeutischer Prozesse schulenübergreifend in einer Abstinenz gegenüber diesen normalerweise bei Interaktionen mit psychisch Kranken zu beobachtenden reziproken Anpassungsmustern besteht.
Literatur: Krause, R. (1997) Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre. Band 1: Grundlagen. Stuttgart, Kohlhammer. Krause, R. (1998) Allgemeine Psychoanalytische Krankheitslehre. Band 2: Modelle. Stuttgart, Kohlhammer. Merten, J. (2000) Beziehungsregulation in Psychotherapien. Maladaptive Beziehungsmuster, die therapeutische Beziehung und der therapeutische Prozeß. Habilitationsschrift an der Fakultät für empirische Humanwissenschaften der Universität des Saarlandes. Erscheint im Kohlhammer Verlag, Stuttgart.