Wirtschaftsreformen in Kuba: Konturen einer Debatte 9783964563330

Die aktualisierte Auflage enthält zahlreiche Statistiken zur wirtschaftlichen Transformation in Kuba.

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German Pages 223 [228] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Wirtschaftsreformen in Kuba. Konturen einer Debatte. Vorwort zur 2. Auflage
Die Krise — eine Bestandsaufnahme. Die Herausforderungen, vor denen die kubanische Wirtschaft steht
El Soneto del Plan Alimentario / Das Sonett vom Nahrungsmittelplan
"Einige dieser Maßnahmen sind uns zuwider". Dokumentation der Rede zur Legalisierung des US-Dollars
"Erklärung vom 19. August" Ein Vertrauensvotum aus Miami für die wirtschaftlichen Veränderungen in Kuba
Ist Kuba auf dem Weg zur Marktwirtschaft? Probleme und Perspektiven der kubanischen Wirtschaftsreform
"... dann haben wir damit gar nichts gelöst." Eine Meinungsumfrage, die nie veröffentlicht wurde
Die Rückkehr der Ungleichheit. Kubas Sozialismus im Schatten der Dollarisierung
Statistischer Anhang
Unterwanderung oder Rettungsanker des Sozialismus? Die sozialen Folgen steigender Auslandsinvestitionen in Kuba
Ciento por ciento cubano / Hundertprozentig kubanisch
Der Alltag der Krise. Betrachtungen einer Ethnologin zum Gegen-, Mit- und Ineinander verschiedener Weltbilder in der kubanischen Alltagskultur
Todos se roban / Jeder beklaut jeden
Kubas Transition. Öffnung und Reform der kubanischen Wirtschaft: Die Transformation der Institutionen
Hay mucha gente huyendo / Es gibt viele Leute, die fliehen
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Wirtschaftsreformen in Kuba: Konturen einer Debatte
 9783964563330

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Bert Hoffmann (Hrsg.) Wirtschaftsreformen in Kuba - Konturen einer Debatte

Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 38

Bert Hoffmann (Hrsg.)

Wirtschaftsreformen in Kuba Konturen einer Debatte 2. aktualisierte Auflage

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg

Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut In Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wirtschaftsreformen in Kuba : Konturen einer Debatte / Bert Hoffmann (Hrsg.). - 2. aktualisierte Aufl. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Bd. 38) ISBN 3-89354-238-8 NE: Hoffmann, Bert [Hrsg.]; Institut für Iberoamerika-Kunde : Schriftenreihe des ...

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1994, 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Printed in Germany: Rosch-Buch, Hallstadt

Inhalt Bert Hoffmann Wirtschaftsreformen in Kuba. Konturen einer Debatte. Vorwort zur 2. Auflage Julio Carranza Valdés Die Krise — eine Bestandsaufnahme. Die Herausforderungen, vor denen die kubanische Wirtschaft steht Anonym El Soneto del Plan Alimentario / Das Sonett vom Nahrungsmittelplan Fidel Castro "Einige dieser Maßnahmen sind uns zuwider" Dokumentation der Rede zur Legalisierung des US-Dollars

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42

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Eloy Gutiérrez Menoyo (Cambio Cubano) "Erklärung vom 19. August" Ein Vertrauensvotum aus Miami fiir die wirtschaftlichen Veränderungen in Kuba

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Carmelo Mesa-Lago Ist Kuba auf dem Weg zur Marktwirtschaft? Probleme und Perspektiven der kubanischen Wirtschaftsreform

67

Dokumentation "...dann haben wir damit gar nichts gelöst." Eine Meinungsumfrage, die nie veröffentlicht wurde

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Bert Hoffmann Die Rückkehr der Ungleichheit. Kubas Sozialismus im Schatten der Dollarisierung

101

Statistischer Anhang

134

Gillian Gunn Unterwanderung oder Rettungsanker des Sozialismus? Die sozialen Folgen steigender Auslandsinvestionen in Kuba Pedro Luis Ferrer Ciento por ciento cubano / Hundertprozentig kubanisch Ingrid Kümmels Der Alltag der Krise Betrachtungen einer Ethnologin zum Gegen-, Mit- und Ineinander verschiedener Weltbilder in der kubanischen Alltagskultur Carlos Varela Todos se roban / Jeder beklaut jeden Pedro Monreal / Manuel Rüa del Llano Kubas Transition Öffnung und Reform der kubanischen Wirtschaft: Die Transformation der Institutionen Pedro Luis Ferrer Hay mucha gente huyendo / Es gibt viele Leute, die fliehen

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Wirtschaftsreformen in Kuba Konturen einer Debatte Vorwort zur 2. Auflage Ohne Frage: Kuba durchlebt die schwerste Krise seit der Revolution von 1959. War die größte Insel der Karibik einst Modell eines bescheidenen sozialistischen Wohlstands in einem Land Lateinamerikas, so hat der wirtschaftliche Niedergang in den letzten Jahren teilweise dramatische Ausmaße erreicht. Es geht um das Überleben der Revolution, sagt Staatschef Fidel Castro; und es geht für die elf Millionen Kubaner und Kubanerinnen auf der Insel um das Auskommen in einem Alltag, der so prekär geworden ist, wie es nach mehr als drei Jahrzehnten socialismo cubano kaum mehr vorstellbar schien. Die alltäglichen Lebensbedingungen der Bevölkerung unterschreiten mittlerweile viele Schmerzgrenzen. Und unter dem massiven Druck der Ökonomie hat sich auch die Regierung in Havanna zu grundsätzlichen Veränderungen gezwungen gesehen. Die Abkehr von einstigen Prinzipien erreichte ihren symbolischen Höhepunkt, als Revolutionsführer Castro im Juli 1993 die Legalisierung des US-Dollars auf Kuba verkündete. Diese Konzession an die Währung des Imperiums trifft nicht nur das nationalistische Selbstbewußtsein der Revolution, sondern sie bedeutet auch eine fundamentale Veränderung der wirtschaftlichen Grundregeln auf der Insel. Damit steht die Debatte um die Reform der Wirtschaft sehr viel offener auf der kubanischen Tagesordnung als zuvor und mit noch mehr Dringlichkeit. Daß die erste, 1994 erschienene Auflage dieses Buches binnen eines Jahres vergriffen war, zeigt das große Interesse, das die Veränderungen in Kuba und die Debatte um die Transformation des kubanischen Sozialismus hierzulande findet. Die nun vorliegende 2. Auflage bietet die Möglichkeit, in aktualisierter Form den Fortgang dieser Prozesse zu verfolgen. So wird in einem ausfuhrlichen, für diese Auflage neu verfaßten Aufsatz ein Überblick über die Entwicklung der letzten zwei Jahre und eine Analyse der sozialen Konsequenzen der Veränderungen gegeben. Neu in dieser Ausgabe ist ebenfalls ein umfangreicher statistischer Anhang, der grundlegendes, weitgehend bisher nicht verfügbares Datenmaterial über die ökonomische Entwicklung Kubas seit 1989 zusammenträgt. Er basiert auf dem ersten umfassenden Wirt7

schaftsbericht, den die kubanische Regierung nach sechs Jahren eines weitgehenden "Daten-black-outs" im Sommer 1995 erstellen ließ. Neu in dieser 2. Auflage ist darüber hinaus der bemerkenswerte Aufsatz der Ethnologin Ingrid Kümmels, die nachzeichnet, wie die Kubaner und Kubanerinnen den "Alltag der Krise" erleben. Die vorliegende Publikation versucht so in sieben längeren Beiträgen, drei davon aus Kuba und vier von auswärtigen Sozialwissenschaftlern, verschiedene Momente des kubanischen Krisen- und Transformationsprozesses aus unterschiedlicher Perspektive darzustellen und zu untersuchen. Den Beginn macht eine Studie von Julio Carranza Valdes, dem Vize-Direktor des Zentrums für Amerika-Studien (CEA) in Havanna. Als dieser Aufsatz Anfang 1993 erschien, erregte er nicht nur im Ausland großes Interesse, sondern er wurde auch zu einem Markstein in der wissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Debatte in Kuba selbst. Denn offener als irgendein zuvor auf der Insel veröffentlichter Artikel leistet Carranza darin eine umfassende Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen Krise des Landes. Da in Kuba seit 1989 keine systematischen Wirtschaftsstatistiken veröffentlicht worden sind, ist es das besondere Verdienst des Artikels von Carranza, das vorhandene, oft sehr verstreute Zahlenmaterial zu einer nüchternen Gesamtschau der Situation der kubanischen Ökonomie zusammengetragen zu haben. Dabei fangt die Analyse keineswegs erst bei dem Fall der sozialistischen Verbündeten in Europa und der UdSSR an; 1989 markiert in Kubas Ökonomie einen dramatischen Einschnitt, aber keine Stunde Null. Dem Absturz der Wirtschaftsbeziehungen zu Ost-Europa war bereits ein Niedergang der weltmarktvermittelten Wirtschaftsbeziehungen zu den kapitalistischen Ländern (samt Verschuldungskrise) seit Beginn der 80er Jahre vorangegangen. Und nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in Kuba war das Modell des extensiven Wachstums und das aus der Breschnew-Zeit übernommene "System der Wirtschaftslenkung und -planung" Mitte der 80er Jahre an seine Grenze gekommen, ohne jedoch — so Carranza — durch ein anderes kohärentes Wirtschaftssystem ersetzt zu werden. Gerade die dramatische Verschärfung der Krise seit 1989 macht jedoch — dies das Fazit des Autors — eine fundamentale Neukonzeption der staatlichen Wirtschaftspolitik unumgänglich. Der Aufsatz von Carranza skizziert so die Entwicklung und die Zwänge, die zu der spektakulären Legalisierung des Dollars im Sommer 1993 geführt haben. Die Rede, in der Fidel Castro diesen Schritt gerade bei der Feier zum 40. Jahrestag des Revolutionsbeginns verkündete, wird in der vorliegenden Publikation dokumentiert. Die Freigabe des Dollars bedeutet eben wegen ihrer hohen Symbolkraft einen tiefen (nicht nur wirtschafts-)politischen Einschnitt. Und während hierzulande in aller Regel nur Zitatbrocken oder Gesprächsfragmente von Fidel Castro in die Medien kommen, zeigt dieser lange, "programmatische" Text ein aufschlußreiches Panorama davon, wie Kubas Revolutionsführer die Krise seines Landes sieht, welche Ursachen er für sie benennt, 8

welche Lehren er aus dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion zieht, welche Ansätze zur Überwindung der Krise er sieht und wie er sie darstellt. Der gewandelte Diskurs des Comandante en Jefe der kubanischen Revolution ist dabei gerade in seiner Inkohärenz und Zwiespältigkeit aufschlußreich (und auch nicht frei von Komik, etwa wenn Castro feststellt, daß die kubanischen Ökonomen zwar wunderbar ausgebildet sind, nur halt in einer sozialistischen Ökonomie, die es nicht mehr gibt...). Noch in der Ankündigung der Reformschritte lehnt Castro selbst diese scheinbar ab, als "Maßnahmen, die uns zuwider sind". In einer Form, wie sie früher undenkbar gewesen wäre, präsentiert der kubanische Revolutionsfiihrer sich selbst als Exekutant von Sachzwängen, die seinen eigenen Überzeugungen zutiefst widersprechen. Castro erscheint damit aber auch einmal mehr als der "oberste Kritiker seiner eigenen Politik" und immunisiert sich auf diese Weise in der Praxis mit erstaunlicher Effizienz gegen weitere Kritik. Nun setzt die Freigabe des Dollars zwar Zeichen, aber sie macht noch keine Wirtschaftsreform. In der Folge sorgten vor allem zwei weitere Maßnahmen für Aufsehen: Zum einen die Zulassung einer Reihe von privaten Kleinstbetrieben durch das "Gesetz über Arbeit auf eigene Rechnung", zum anderen die Kooperativisierung der bisherigen Staatsfarmen in der Landwirtschaft. Diesen "Sommer der Reform" in Kuba unterzieht Carmelo MesaLago von der Universität Pittsburgh (USA) einer kritischen Analyse. Dabei verweist er insbesondere auf die Inkohärenz und Halbherzigkeit der Maßnahmen. Auch der fehlende politische Konsens für ein umfassendes Reformprogramm erweise sich als problematisch; nur eine sehr viel entschiedenere Orientierung auf die Marktkräfte könne die kubanische Wirtschaft sanieren, so die Überzeugung des Autors. Die im Titel seiner Arbeit gestellte Frage, ob Kuba auf dem Weg zu einer Marktwirtschaft sei, beantwortet er dennoch mit Ja. Ein solcher Prozeß scheint ihm irreversibel; die Frage sei nur, so MesaLagos Fazit, ob er friedlich oder gewaltsam erfolge. Dem "Sommer der Reform" folgte zunächst jedoch kein weitergehender Veränderungselan. In einem neu für die zweite Auflage geschriebenen Aufsatz versucht der Herausgeber daher, jene Entwicklung nachzuzeichnen, die zur offenen Eskalation der Krise im Sommer 1994 führte. Nach gewaltsamen Unruhen in Havanna kam es zu der deprimierenden Massenflucht von über 30.000 Kubanern auf halsbrecherischen Flößen. Die Bilder gingen um die Welt. Dennoch markiert, wie die Darstellung zeigen soll, diese Fluchtwelle nicht nur den Tiefpunkt der Krise, sondern auch einen Wendepunkt: Nur eine Woche, nachdem die Grenzen wieder geschlossen waren, gab die Regierung die Öffnung von freien Bauernmärkten bekannt — der bislang wichtigste Schritt in der Transformation der kubanischen Binnenökonomie. Darüber hinaus kann die Regierung seit 1994 auch eine Reihe von makroökonomischen Erfolgen vermelden. Dennoch bleibt die Situation prekär. 9

Zwar ist der Sturz des Bruttoinlandprodukts gestoppt, doch die vorsichtige Erholung der Volkswirtschaft geht mit einer zunehmenden Verschärfung sozialer Ungleichheiten einher. Denn gerade auch weil die Reformschritte vielfach so wenig kohärent und stückwerkhaft vorankommen, schlagen sich die aufgestauten Probleme und finanziellen Ungleichgewichte in der kubanischen Ökonomie besonders bitter nieder. Wo der durchschnittliche Lohn in der kubanischen Staatswirtschaft umgerechnet ganze 8 Dollar monatlich (!) beträgt, droht die zunehmende Dollarisierung die einst relativ egalitäre Gesellschaft kraß zu zerreißen. Im Anschluß an diesen Überblick über die jüngste Entwicklung soll vertieft ein Aspekt der Wirtschaftsreformen diskutiert werden, der in Kuba selbst wie auch im Ausland besonderes Aufsehen erregt hat: die Öffnung für Jointventures mit kapitalistischen Auslandsunternehmen. Am Beispiel einer Werft in Havanna und der Tourismuszentren in Varadero untersucht Gillian Gunn von der Georgetown University (USA) die sozialen Veränderungen infolge der Umwandlung in Joint-venture-Betriebe. Dabei geht sie insbesondere der Frage nach, inwieweit die Joint-venture-Betriebe als quasi-kapitalistische Enklaven zu einer schrittweisen Aushöhlung des sozialistischen Systems fuhren. Gunn zeigt dabei auch die verschiedenen Mechanismen, über die der kubanische Staat recht erfolgreich versucht, die Kontrolle über diesen Prozeß zu behalten. In diesem Kontext haben — so Gunn — die ausländischen Investitionen durchaus systemstabilisierende Funktion. Je weiter sie allerdings anwachsen, so die Bilanz der Autorin, desto stärker werden sie zu einer Erosion der sozialistischen Werte und einer verstärkten Orientierung auf Marktmechanismen fuhren. (Der in der ersten Auflage abgedruckte Beitrag von Robert Lessmann über Stand und Perspektiven der Joint-ventures in Kuba, wurde für diese Auflage herausgenommen, da er von der Entwicklung der letzten Jahre überholt worden ist. Eine vom Autor aktualisierte und erweiterte Fassung soll aber noch 1996 von der Friedrich-Ebert-Stiftung publiziert werden.) Wie bereits eingangs erwähnt, wurde in die 2. Auflage dieses Buches ein Text der Ethnologin Ingrid Kümmels aufgenommen. In ihren immer wieder auch persönlich geprägten Betrachtungen zum Mit-, Gegen- und Ineinander verschiedener Weltbilder im kubanischen Alltag lenkt sie den Blick auf die Lebenswirklichkeit der "kleinen Leute", die bei den großen Diskussionen über die wirtschaftspolitischen Perspektiven oder die makroökonomischen Reformprobleme allzuoft übersehen wird. Pedro Monreal und Manuel Rüa del Llano vom Zentrum für AmerikaStudien (CEA) in Havanna analysieren die Öffnung und Reform der kubanischen Wirtschaft als Transformation der Institutionen. Dabei gehen sie davon aus, daß die theoretische Analyse dieses Prozesses in Kuba seiner realen Entwicklung entscheidend hinterherhinkt. So findet die kubanische Wirtschaftspolitik begrifflich noch immer weithin unter dem diffusen Dach der "Verbes10

serungen" {perfeccionamiento) oder der "Korrektur von Irrtümern" (rectificación de errores) statt — oder gar, siehe oben, von "Maßnahmen, die uns zuwider sind", "die uns das Leben und die Wirklichkeit aufzwingen" etc. — , ohne jedoch eine eigene Positiv-Definition zu artikulieren. Insbesondere gegen diese Sprachlosigkeit schreiben Monreal/Rúa an, wenn sie eine neue Begrifflichkeit für die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung reklamieren, um diese auch konzeptionell in neuen Kategorien interpretieren zu können. Beispielsweise führt der auch in anderen Ländern des Kontinents gängige Begriff der apertura (Öffnung) Kuba bewußt zurück in den Kontext der lateinamerikanischen Wirtschaftsdebatte (während die "Korrektur von Irrtümern" sich sprachlich in der Welt der sozialistischen Staatengemeinschaft verortete). Eine ganz ähnliche Bedeutung hat die nüchterne Feststellung, daß der Begriff der "Transition" auch für die kubanische Entwicklung anwendbar ist, womit der "Sonderfall Kuba" in den Rahmen der internationalen sozialwissenschaftlichen Diskussion gestellt wird. So unspektakulär derartiges hierzulande klingen mag, so bedeutet diese kleinteilige Arbeit an der Sprache in Kuba doch einen erheblichen konzeptionellen Wandel. Am deutlichsten wird das hier angesprochene Problem vielleicht an dem Begriff "Reform". Immer wieder werden im Ausland kubanische Politiker — der Wirtschaftsverantwortliche Carlos Lage, Außenminister Robaina, Wirtschaftsminister Rodríguez etc. — als "Reformer" bezeichnet. Wenn Monreal/ Rúa jedoch die wirtschaftliche Öffnung Kubas als "partielle Reform" charakterisieren und in der Folge für eine "umfassende Wirtschaftsreform" plädieren, dann gehen sie damit über den auf der Insel herrschenden Sprachkanon hinaus. Denn der Begriff "Reform" — darauf weisen die Autoren auch hin — ist in Kuba keineswegs akzeptiert, sondern klingt allzu vielen noch immer nach Verrat und Konterrevolution. Ihn ausdrücklich für die Revolution zu reklamieren, ist weit mehr als nur eine semantische Spielerei: Gerade wenn die fehlende Kohärenz der bisherigen Wirtschaftsmaßnahmen deren Erfolg behindert, dann wird ein überzeugendes Reformprojekt nicht ohne eine analytische Sprache auskommen, die diese Reform auch benennen kann. Damit wird auch ein grundlegendes Problem der vorliegenden Publikation berührt. Wo schon die "Wirtschaftsreformen in Kuba", die sie im Titel fuhrt, in Kuba nur mühsam als solche bezeichnet werden, bewegt sich die Unterzeile auf noch dünnerem Eis: Wenn hier "Konturen einer Debatte" umrissen werden sollen, dann ist dies eine Debatte, die auf der Insel so nicht — zumindest nicht öffentlich — stattfindet. Und je dringlicher die fortwährende Krise wirtschaftspolitische Veränderungen macht, desto schmerzlicher machen sich die Beschränkungen bemerkbar, unter denen die Diskussion um sie in Kuba geführt wird. Diese sind zum Teil materieller Art: Papier für Publikationen fehlt, Forschungsinstitute können ausländische Zeitschriften mangels Devisen nicht mehr beziehen etc., etc. Schwerer noch wiegt jedoch ein politisches und intellektuelles Klima, das die 11

Grenzen für öffentliche Kontroversen und kritische Debatten überaus eng steckt beziehungsweise sie in vielen Bereichen nicht zuläßt. (An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß in Kuba wirtschaftliche Reform und politische Öffnung keineswegs immer parallel gedacht werden. Auch etliche erklärte Wirtschaftsreformer streben eine notfalls "mit harter Hand" durchgesetzte "Reform von oben" an; gerade die Notwendigkeit wirklich tiefgreifender wirtschaftlicher Transformation, so ihre Argumentation, mache eine autoritäre Führung dieses Prozesses unabdingbar.) Ohne Zweifel ist ein externer Faktor von überragender Bedeutung für alle wirtschaftlichen Perspektiven Kubas der Kalte Krieg, den die USA seit nunmehr über drei Jahrzehnten gegen die Insel 90 Meilen südlich ihrer Küste aufrechterhalten. Konnte Kuba die Folgen des US-amerikanischen Handelsembargos über lange Jahre durch die Einbindung in die Wirtschaftsgemeinschaft der sozialistischen Staaten auffangen, war der Preis dafür eine extrem starke Abhängigkeit von diesen. Umso verheerender wirkt sich das Embargo seit dem Zusammenbruch von UdSSR und RGW aus. Noch ein Wort hierzu. Es ist immer wieder argumentiert worden, daß die Blockade-Politik der USA sowohl auf der politischen wie auf der wirtschaftlichen Ebene eines der entscheidenden Hindernisse für einen Öffnungsprozeß darstellt und daß die politische Frontstellung zwischen Washington und Havanna vielmehr die rigidesten Positionen innerhalb des kubanischen Machtapparats stärkt. So zutreffend dies ist, so sehr muß aber darauf bestanden werden, daß die Kuba-Politik Washingtons nicht nur "taktisch unklug" ist, sondern daß der Hegemonialmacht USA ganz fundamental die moralische Legitimation dafür abzusprechen ist. Die wirtschaftliche Strangulierungspolitik Washingtons ist skandalös. Und es ist bestürzend, daß der US-Kongreß 1996 mit dem sogenannten "Helms-Burton-Gesetz" das Embargo gegen Kuba noch weiter verschärft hat (s. S. 125 ff.). Trotz dieses Erfolgs der Anú-C&sXro-Hardliner in den USA darf nicht übersehen werden, daß sich auch die kubanische Exil-Gemeinde verändert hat. Zwar noch immer in der Minderheit, doch vernehmlicher als je zuvor haben sich dort in den letzten Jahren auch moderate Kräfte zu Wort gemeldet. Die prominenteste dieser ausdrücklich auf Dialog und Versöhnung orientierten Gruppen ist die 1993 von Eloy Gutiérrez Menoyo gegründete Organisation "Cambio Cubano". In der in diesem Band dokumentierten Stellungnahme zu den wirtschaftspolitischen Veränderungen in Kuba betont Menoyo zwar, daß der Übergang zur Marktwirtschaft sehr viel weiter gehen müsse, verbindet diese Kritik aber gleichwohl mit einem "Vertrauensvotum" für die Reformkräfte in Kuba. Doch nicht nur die kubanische Exil-Gemeinde in den USA ist vielfaltiger und differenzierter als es das Klischee-Bild von Miami oft darstellt; auch die kubanische Gesellschaft auf der Insel ist längst nicht so monolithisch, wie es die offizielle Rhetorik und die staatskontrollierten Medien suggerieren wollen. 12

In kleinen Einschieben zwischen den Beiträgen soll diese Diskrepanz zumindest ansatzweise auch aus kubanischen Stimmen reflektiert werden. So wird eine Umfrage zu den wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Sommers 1993 dokumentiert, die von einer der Kommunistischen Partei unterstehenden Institution durchgeführt wurde, deren Ergebnisse jedoch nie veröffentlicht wurden. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine fundierte empirische Untersuchung, und sie entspricht auch nicht den hierzulande gängigen Anforderungen an demoskopische Erhebungen (angefangen bei dem Umstand, daß die Umfrage von einer für alle Befragten als sehr regierungsnah zuzuordnenden Institution durchgeführt wurde). Dennoch gibt sie, indem sie verschiedene Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung sammelt, Einblicke in die gesellschaftliche Stimmungslage jenseits der "veröffentlichten Meinung". Und in einem konkreten Beispiel zeigt sie auch die Form, in der dies von den offiziellen Institutionen wahrgenommen wird. Kritische Stimmen und gesellschaftliche Gegenreaktionen gegen die weitgehende politische Eindimensionalität finden in Kuba oft am ehesten im kulturellen Bereich öffentlichen Ausdruck. Vier" Beispiele dafür werden in diesem Band in spanischer Originalfassung und in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Der Autor des "Sonnets vom Nahrungsmittelplan" bleibt anonym. Das bissig-ironische Gedicht im klassischen Versmaß zirkuliert in Havanna nur informell, in privaten Abschriften, von Mund zu Mund weitergereicht. Carlos Varela ist der prominenteste Sänger — für etliche ein Idol — jener lost generation, als die sich gerade in Havanna viele inkonforme Jugendliche empfinden. Viele von Varelas Liedern sind von einem traurigen, zuweilen auch bitteren Tonfall geprägt. Auch das in diesem Band dokumentierte Lied "Todos se roban" (Jeder beklaut jeden) ist Ausdruck einer desillusionierenden Wirklichkeit und der Wut, die daraus entsteht. "Guillermo Teil", Varelas bekanntestes Lied, ist auf der Insel eine Art Generationenhymne geworden: In seiner kubanischen Version des Wilhelm Teil ist der Sohn des Apfels auf seinem Kopf müde geworden, und er beschließt, daß es nun am Vater sei, sich selbst den Apfel auf den Kopf zu legen und die Armbrust an den Sohn zu übergeben... Pedro Luis Ferrer ist ein in Kuba seit langem populärer Liedermacher, dessen Musik über alle Gesellschaftsschichten hinweg bekannt ist. Drei Platten von ihm erschienen, bis ihm 1986 fast jegliche öffentliche Verbreitung entzogen wurde. Konzerte in Privatwohnungen wurden die Regel, öffentliche Auftritte und reguläre Konzertveranstaltungen die Ausnahme. Seiner Popularität tat dies keinen Abbruch, eher im Gegenteil. Ihr Publikum finden Ferrers Lieder über tausendfach privat vervielfältigte Kassettenmitschnitte. Das hier abgedruckte "Hundertprozentig kubanisch" etwa ist in ganz Kuba bekannt, obwohl es nie offiziell als Platte oder Kassette erschienen ist.

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Auch in seiner kritischen Kunst, dies sei an dieser Stelle ausdrücklich betont, versteht sich Pedro Luis Ferrer immer als Teil der Revolution, keinesfalls als ihr Gegner. Und wenn er in "Hundertprozentig kubanisch" einen in Kuba auf vielen Stelltafeln zu lesenden Slogan der Regierungspropaganda aufnimmt und ihn der alltäglich erfahrbaren Realität entgegenstellt, dann auch, um das darin enthaltene Ideal gegen die Realität (und gegen die Propaganda) hochzuhalten. Gleichwohl hat ihm, wie er sagt, kein Lied mehr Ärger von offizieller Seite eingebracht als dieses. Die vorliegende Publikation hat die ökonomische Situation Kubas zum Thema, und entsprechend wurden auch die Texte von Ferrer und Varela ausgewählt. Dennoch lassen gerade sie erahnen, in welchem Maße die gegenwärtige Krise Kubas keineswegs nur eine wirtschaftliche ist, sondern wie sehr sie auch die soziale und moralische Substanz der kubanischen Gesellschaft zerreißt. Im Frühjahr 1994, noch vor der großen Flüchtlingskrise des Sommers, hatte Pedro Luis Ferrer erstmals das Gedicht "Es gibt viele Leute, die fliehen" in Havanna vorgetragen. Es soll am Ende dieses Bandes stehen. Die Brücken zu jener Vergangenheit voller Hoffnung, die die kubanische Revolution war, sind in der Tat zerschlagen. Neue Brücken sind erst im Entstehen, neue Hoffnungen sind voller Ungewißheit. Die Wunde, das ist die Gegenwart, heißt es in dem Gedicht, voll reifer Gründe / und noch grüner Wirklichkeiten. *

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Auf die Einschränkungen, unter denen in Kuba die Debatte um den wirtschaftlichen Reformprozeß gefuhrt wird, ist hingewiesen worden. Dennoch hatten Publikationen und ein selbstbewußteres Auftreten kubanischer Wissenschaftler in den letzten zwei, drei Jahren die Hoffnung genährt, daß sich die Spielräume für die intellektuelle Auseinandersetzung auf der Insel schrittweise ausweiten könnten. Die im Zentrum für Amerika-Studien (CEA) erarbeiteten und in diesem Band publizierten Aufsätze von Julio Carranza und Pedro Monreal/Manuel Rúa del Llano sind Beispiele dafür. Besonders bedrückend ist daher der Angriff der Parteiführung gegen genau diese Ansätze einer offeneren Diskussion. Vorgetragen von Armee-Chef Raúl Castro rief das Politbüro Ende März 1996 zu einem "ideologischen Feldzug" gegen "subtile Formen der Glasnost" und "Diversionismus" auf (s. auch Seiten 129 ff.). Diese "negativen Tendenzen", die man entschieden unterbinden müsse, wurden vor allem in den sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen ausgemacht — namentlich im Zentrum für Amerika-Studien (CEA). Mehrere Mitarbeiter dort hätten sich zum Instrument der Politik des Feindes machen lassen, so Raúl Castro. Der Direktor des CEA, Luis Suárez Sálazar, wurde umgehend abgesetzt. Eine Partei-Kommission soll über das weitere Schicksal des Zentrums und seiner Mitarbeiter entscheiden. 14

Die Erklärung des Politbüros greift explizit das Zentrum fiir Amerika-Studien an, darüber hinaus aber auch die akademische Welt insgesamt, nicht namentlich genannte Presseorgane sowie die in den letzten Jahren entstandenen (de facto zumeist halbstaatlichen) "Nichtregierungsorganisationen". Reichweite und Konsequenzen dieser Attacke sind zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches noch nicht abzusehen. Es ist nur zu hoffen, daß sich die Brandrede Raúl Castros lediglich als eine Drohgebärde mit begrenzter Wirkung erweist und nicht einen nachhaltigen ideologischen roll-back auf breiter Front zur Folge hat. Für die Zukunft Kubas wäre es tragisch, wenn sich die kubanische Regierung selbst derart der intellektuellen Ressourcen vergibt, die fiir eine an nationaler Selbständigkeit, demokratischer Partizipation und sozialer Verantwortung ausgerichtete Bewältigung der Krise unverzichtbarer sind als Auslandsinvestitionen oder internationale Kredite.

Gedankt werden soll an dieser Stelle allen, die an der Entstehung dieser Publikation in der einen oder anderen Weise beteiligt waren. Insbesondere gilt der Dank den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Iberoamerika-Kunde, die bei der Arbeit an diesem Band und auch bei der Neubearbeitung für die vorliegende 2. Auflage wertvolle Anregungen und Hilfen gaben, die neuen Texte durchsahen, korrigierten und gestalteten, kurzum: die das Buch in dieser Form erst möglich machten. Bert Hoffmann, im April 1996

P. S.: Daß in dieser zweiten Auflage auf die spanischsprachige Zusammenfassung verzichtet wird, hat einen guten Grund: Inzwischen ist das vorliegende Buch auch in einer spanischen Fassung erschienen — gemeinsam herausgegeben vom Institut fiir Iberoamerika-Kunde Hamburg und dem Verlag "Nueva Sociedad" in Venezuela: Bert Hoffmann (ed.): Cuba — Apertura y reforma económica. Perfil de un debate; Caracas 1995. Este libro también ha sido publicado en una versión española, editada en conjunto por el Instituto de Estudios Iberoamericanos de Hamburgo y la Editorial "Nueva Sociedad" de Venezuela: Bert Hoffmann (ed.): Cuba — Apertura y reforma económica. Perfil de un debate; Caracas 1995. 15

Julio Carranza Valdés1

Die Krise - Eine Bestandsaufnahme Die Herausforderungen, vor denen die kubanische Wirtschaft steht Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre befindet sich Kubas Wirtschaft in einer schwierigen Lage, wie die ökonomischen Rahmendaten zeigen. So flachte das Wachstum des Materiellen Bruttoprodukts 2 zunächst ab, stagnierte später und ging in den letzten Jahren sogar zurück. Diese Entwicklung ist die Folge davon, daß eine Reihe verschiedenartiger Faktoren zusammenwirkten und starken Druck auf die nationale Ökonomie ausübten.

Das Modell des extensiven Wachstums stößt an seine Grenzen Zwischen 1975 und 1985 hatte die kubanische Wirtschaft bedeutsame Wachstumsraten erreicht. Das Modell des extensiven Wachstums basierte auf der Eingliederung Kubas in den RGW und der Reorganisation der Wirtschaft nach dem Vorbild der sozialistischen Planwirtschaften in Euro1

Julio Carranza Valdés ist stellvertretender Direktor des "Centro de Estudios sobre América" (CEA) in Havanna. Der im folgenden leicht gekürzt wiedergegebene Aufsatz erschien im Frühjahr 1993 unter dem Titel "Cuba: Los retos de la economía" in "Cuadernos de Nuestra América", Vol. IX, N° 19, La Habana (datiert: Juli-Dez. 1992). Er wurde im November 1992 fertiggestellt. Übersetzung des Artikels: Karin Gabbert. — Das bisher umfassendste Konzept eines wirtschaftlichen Reformprojekts in Kuba hat Julio Carranza in Zusammenarbeit mit Pedro Monreal und Luis Gutiérrez 1995 in dem Buch "Cuba: La restructuración de ia economía - una propuesta para el debate" entworfen (Editorial de Ciencias Sociales, La Habana).

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Während in marktwirtschaftlich organisierten Staaten das Bruttosozialprodukt die grundlegende Größe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung darstellt, ist dies in Kuba - ähnlich den früheren RGWStaaten — das Materielle Bruttoprodukt (Producto Social Global, PSG), im folgenden in der Regel nur "Bruttoprodukt" genannt.

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pa. Das Land bekam dadurch Zugang zu externen Ressourcen, über die es bis dahin nicht verfügte, und konnte einen alternativen Markt aufbauen, der die Auswirkungen der nordamerikanischen Blockade abschwächte. Darüber hinaus konnten durch eine kohärentere Wirtschaftsführung die Fehlentwicklungen der Wirtschaftspolitik der 60er Jahre korrigiert werden (vgl. Departamento de Orientación Revolucionaria 1976). Obwohl zwischen 1981 und 1985 ein durchschnittliches jährliches Wachstum des Bruttoprodukts von 7,9 Prozent erreicht werden konnte, wurde jedoch schon ab 1984/85 deutlich sichtbar, daß das Modell des extensiven Wachstums an seine Grenzen gekommen war. Zu dieser Zeit beginnen sich auch die Probleme mit dem angewandten System der Wirtschaftslenkung zu zeigen3. Das klarste Zeichen hierfür war, daß ein immer größerer Teil der Wirtschaftseinnahmen aufgewendet werden mußte, um die gleichen Produktionsergebnisse zu erhalten.

Die Wirtschaftsbeziehungen zum Westen verschlechtern sich Obwohl Kuba 1972 in den RGW aufgenommen wurde und die Blockade der USA seit 1962 unverändert bestand, wickelte Kuba bis in die 70er Jahre hinein circa 40 Prozent seines Außenhandels mit kapitalistischen Ländern ab. (Davon entfielen 30 Prozent auf die entwickelten und 10 Prozent auf die unterentwickelten kapitalistischen Länder.) Eine Reihe von ökonomischen Faktoren beeinträchtigten in der ersten Hälfte der 80er Jahre diese Handelsbeziehungen: a) Die Verschärfung der Blockade durch die USA. Insbesondere versuchten die USA, die Blockade auch auf andere Teile der Welt auszudehnen. Ein Beispiel dafür ist das Verbot, Produkte in die USA zu importieren, bei deren Herstellung kubanisches Nickel verarbeitet wurde. b) Der Fall der Ölpreise. Von 1983 bis 1985 konnte Kuba von den jährlich über zwölf Millionen Tonnen Öl, die es von der UdSSR geliefert bekam, zwei bis drei Millionen Tonnen auf eigene Rechnung weiterexportieren. In diesem Zeitraum erwirtschaftete Kuba durch den Ölverkauf 40 Prozent seiner Deviseneinnahmen. Dementsprechend hart wurde die kubanische Wirtschaft ab 1985 vom Verfall des internationalen Ölpreises getroffen.

3

Vgl. Alvarez 1991a. [Mit dem 1975 eingeführten "System der Wirtschaftsleitung und Planung" (Sistema de Dirección y Planificación de la Economía, SDPE) wurde in Kuba in seiner Grundstruktur die sowjetische Wirtschaftsordnung der Breschnew-Zeit übernommen. W o im Original nur von "Sistema de Dirección" die Rede ist, wurde dies mit "System der Wirtschaftsleitung" übersetzt; es bleibt oft ambivalent, inwieweit es das konkrete Modell des SDPE, dessen Weiterentwicklung oder ein neues, anderes Wirtschaftsmodell meint. - Anm. B.H.]

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c) Der Rückgang der Zuckerproduktion. Die Zuckerproduktion, wichtigstes Exportprodukt des Landes, wurde Mitte der 80er Jahre durch ungünstige klimatische Verhältnisse stark beeinträchtigt. d) Das Sinken der internen wirtschaftlichen Effizienz. Dies war die Folge davon, daß das Modell des extensiven Wachstums an seine Grenzen gestoßen war und das seit 1975 eingeführte System der Wirtschaftslenkung die oben erwähnten Probleme geschaffen hatte (vgl. Castro 1987). e) Der Anstieg der Verschuldung gegenüber dem Westen. Die bisher genannten Faktoren und das hohe Importniveau als Folge des extensiven Wachstumsmodells setzten die Spirale der Auslandsverschuldung in Gang. Verstärkend kamen die Prozesse der internationalen Wirtschaft hinzu, die ab 1982 in Lateinamerika die Verschuldungskrise auslösten. Die Devisenverschuldung Kubas stieg von 2,8 Milliarden US-Dollar im Jahre 1983 auf 6,1 Milliarden 1987. Die kubanische Regierung bittet deshalb im Sommer 1986 die im Pariser Club versammelten Gläubiger um eine Neuverhandlung der Schulden. Das Ergebnis war jedoch negativ, und so war Kuba gezwungen, ein Defacto-Moratorium seiner Schuldendienstzahlungen zu erklären. Die Gläubiger antworteten mit einer Sperre der Kredite. Unter diesen Bedingungen war es nicht mehr möglich, die für die kubanische Ökonomie notwendigen Importe in harter Währung in Höhe von jährlich 1,6 Milliarden Dollar aufrechtzuerhalten (vgl. Banco Nacional de Cuba 1987, S. 3-15). Von diesem Zeitpunkt an wurde eine strenge Handhabung der verfügbaren Devisen angeordnet. Zwischen 1985 und 1987 gingen die Devisenimporte um 30 Prozent zurück, was natürlich die nationale Wirtschaft beeinträchtigte. Aus diesen Gründen beschließt die kubanische Regierung 1986, die Wirtschaftsbeziehungen mit den kapitalistischen Ländern auf ein Minimum zu reduzieren und sie stattdessen auf die Länder des RGW, vor allem auf die UdSSR, zu konzentrieren. Diese Entscheidung wurde dadurch bestärkt, daß die sozialistischen Länder damals als ökonomisch stabil eingeschätzt wurden. 1987 waren so 88,5 Prozent der Außenwirtschaftsbeziehungen Kubas mit den sozialistischen Staaten 4 (70 Prozent allein mit der UdSSR), mit den kapitalistischen Ländern hingegen nur 11,5 Prozent. Konkret heißt das, daß von Kubas Exporten 63% des Zukkers, 73% des Nickels, 95% der Zitrusfrüchte und 100% der Elektroerzeugnisse in die sozialistischen Länder gingen und 63% der Nahrungsmittel, 86% der Rohstoffe, 98% der Treibstoffe, 80% der Maschinen und technischen Geräte und 74% der Manufakturwaren aus diesen Ländern 4

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Diese Zahl bezieht sich auf die Gesamtheit der sozialistischen Staaten, inklusive China. Falls nur die Länder des R G W berücksichtigt werden, beträgt ihr Anteil 86,4 Prozent. Vgl. Comité Estatal de Estadística (CEE) 1989 (im folgenden zitiert als: Statistisches Jahrbuch Kuba).

importiert wurden 5 . Damals war es schwierig, das Ausmaß der Krise vorherzusehen, die zweieinhalb Jahre später in Osteuropa eintreten würde. Im Rahmen des Prozesses der rectificación de errores, der "Korrektur von Fehlern", wurden 1986 Änderungen in der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftslenkung beschlossen, die vor allem Probleme lösen sollten, die durch das bis dahin praktizierte Modell entstanden waren. Befriedigt werden sollten die durch die Investitionspolitik der vorangegangenen Periode aufgestauten sozialen Forderungen, vor allem der Bau von Wohnungen, Kindergärten und Gesundheitseinrichtungen. Außerdem wurden neue Programme zur Exportförderung und Importsubstitution in Gang gesetzt. Doch diese Änderungen sahen noch keine Strukturanpassung in dem Ausmaß vor, wie sie die Wirtschaft kurze Zeit später vornehmen mußte, als die Krise des sozialistischen Lagers mit voller Wucht einsetzte. Tatsächlich mußte ab 1989/90 die Wirtschaftsstrategie des Landes erneut verändert und die im vergangenen Jahrzehnt begonnenen Investitionsprogramme für nichttraditionelle Exportprodukte beschleunigt werden.

Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen mit Osteuropa Die ersten wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit den sozialistischen Ländern treten 1988 auf, und sie verstärken sich ab Ende 1989 in dem Maße, in dem in einem Land nach dem anderen ein Machtwechsel stattfindet 6 . Durch die folgende Auflösung des R G W und den Zerfall der UdSSR verlor die kubanische Wirtschaft ihren über Jahrzehnte aufgebauten alternativen Markt sowie Außenwirtschaftsbeziehungen mit Vorzugspreisen, leichtem Zugang zu Krediten, der Koordination von Wirtschaftsplänen, Entwicklungshilfe, technischer Beratung und gemeinsamen Entwicklungsprojekten mit Technologietransfer. Mit diesem Bruch verlor Kuba also nicht einfach nur einen günstigen Handelsraum, sondern eine umfassende wirtschaftliche Einbindung. Obwohl die Beziehungen zum R G W und der UdSSR zeitweilig auch konfliktiv waren und sich die terms of trade von Fünf-Jahres-Plan zu 5Jahres-Plan verschlechterten (allein 1985 war dieser Faktor für 70% des Außenhandelsdefizits verantwortlich), so hatten sie lange Zeit positive Auswirkungen auf die kubanische Wirtschaft. Die günstigen Handels- und Kreditbedingungen der sozialistischen Länder ermöglichten es der kubanischen Ökonomie, bis 1989 ein hohes Importniveau und ein Defizit in 5

Zusammengestellt auf Grundlage des Statistischen Jahrbuchs Kuba 1988; vgl. Alvarez 1991b.

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Besonders stark spürbar werden diese Schwierigkeiten bei dem Regierungswechsel in jenen Ländern, mit denen Kuba wichtige Handelsbeziehungen unterhielt, wie der DDR, Bulgarien und der Tschechoslowakei. So beendete beispielsweise die deutsche Wiedervereinigung die wichtigen Exporte von Zitrusfrüchten und Zucker in die DDR.

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der Handelsbilanz aufrechtzuerhalten, das zwischen 1986 und 1989 über zwei Milliarden Pesos jährlich betrug. Im letzten Jahrzehnt lagen die Einnahmen aus den Beziehungen mit dem RGW um beinahe 50 Prozent höher als sie zu Weltmarktpreisen gewesen wären (vgl. Alvarez/Fernändez 1992). Die kubanische Wirtschaft mußte plötzlich und ersatzlos auf diese Einkünfte verzichten. Die Außenwirtschaftsbeziehungen konzentrierten sich zu 70 Prozent auf die UdSSR. Hierin ist der Tausch von Zucker gegen Öl enthalten sowie weitere 700 Produkte, für die Kuba günstige Preise und Kredite erhielt. 1990 und 1991 gingen die Importe aus der UdSSR drastisch zurück. Insbesondere 1991 wurden nur 50 Prozent der zu Jahresbeginn abgeschlossenen Vereinbarungen erfüllt, die bereits geringer als im Vorjahr waren (vgl. Lage 1992a). Insgesamt erhielt Kuba 1991 so 70 Prozent weniger als 1989. Dabei ist der Rückgang bei Treibstoffen besonders einschneidend. Kuba verfügte 1989 über 13,3 Millionen Tonnen importierten Öls; dies verringerte sich 1990 auf 10 Millionen Tonnen und 1991 auf 8,6 Millionen. Für 1992 werden circa 6,1 Millionen Tonnen erwartet. Trotz der Beschränkungen der letzten drei Jahre hat Kuba eine gewisse Verhandlungsfähigkeit gegenüber den einstigen Sowjetrepubliken aufrechterhalten können, da diese auf einige kubanische Produkte, vor allem Zucker, Nickel und Zitrusfrüchte angewiesen sind (vgl. Rodriguez 1992). Einige Untersuchungen besagen jedoch, daß der Bedarf an Zuckerimporten der ehemaligen UdSSR in den nächsten Jahren tendenziell fallen wird, da absehbar ist, daß einerseits die Zuckerrübenproduktion gesteigert werden wird und andererseits der Konsum sinken wird. Danach könnten diese Länder mittelfristig ihre Importe von vier bis fünf Millionen Tonnen pro Jahr auf zwei bis drei Millionen reduzieren 7 . Entscheidend hierbei ist zudem der Preis, den der kubanische Zucker auf den heutigen sowjetischen Märkten erzielen kann. Dieser bestimmt größtenteils die Kaufkraft der kubanischen Produkte gegenüber den Produkten der GUS, besonders für Erdöl. Ausgehend vom Weltmarktpreis für Zucker wurde bisher Öl direkt gegen Zucker getauscht. In den letzten Jahren senkte die UdSSR/GUS den Preis für ein Pfund kubanischen Zuckers von über 30 Centavos - also über dem Präferentialpreis der EG - auf 15 Centavos; sie bezahlten also unter EG-Preis, aber immer noch über dem sogenannten Weltmarktpreis.

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Vgl. den Bericht über Zuckerproduktion und -konsum im laufenden Jahrzehnt, von der Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation der U N O (FAO) und der Internationalen Zuckerorganisation (OIA) (nach einer Meldung der Nachrichtenagentur E F E vom 11. November 1992); vgl. auch Torres Vila (1992), dessen Studie einen noch stärkeren Fall der Zuckerimporte der Ex-Sowjetunion auf nur noch ein bis zwei Millionen Tonnen pro Jahr prognostiziert.

Der nächste brenzlige Punkt in den Beziehungen zu den alten Sowjetrepubliken ist die Verschuldung Kubas. Nach russischen Angaben beträgt sie 15 Milliarden Rubel. Kuba hat diesen Betrag nicht offiziell anerkannt. Zunächst muß die Diskussion über die Bedingungen beendet werden, unter denen diese Schuld aufgenommen wurde: über die Währung, ihren heutigen Wert gegenüber den Devisen usw. Nichtoffizielle Berechnungen schätzen den endgültigen Betrag in frei konvertierbarer Währung auf 40 Prozent des oben genannten. Im Ganzen sank Kubas Importkapazität von 8,139 Milliarden US-Dollar im Jahre 1989 auf ungefähr 2,2 Milliarden 1992. Kuba hat also in nur drei Jahren durch die Auflösung von RGW und UdSSR 70 Prozent seiner außenwirtschaftlichen Kaufkraft verloren (vgl. Centro de Estudios de la Economia Cubana 1992). Hinzu kommt, daß sich im gleichen Zeitraum die terms of trade auf dem Weltmarkt stark zuungunsten Kubas verändert haben 8 . *

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*

Die gegenwärtige Krise Kubas ist die Folge des Zusammenwirkens der genannten Faktoren: Sinken der internen wirtschaftlichen Effizienz; Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zu den kapitalistischen und den osteuropäischen Ländern; der Kreditstopp von Seiten der kapitalistischen Länder sowie eine immer aggressivere Politik der US-Regierung. Diese wirtschaftliche Krise findet ihren Ausdruck nicht nur in dem Fall des jährlichen Bruttoprodukts, sondern auch in starken makroökonomischen Ungleichgewichten. Die negativen Folgen der Reduzierungen, Verspätungen und anderen Schwierigkeiten bei den Importen trafen als erstes jene Wirtschaftszweige, die stark vom Ausland abhängig sind, wie die Maschinenbau- und die Leichtindustrie, und erfaßten dann die gesamte Wirtschaft. Die enorme Wirkung, die diese Schrumpfung des externen Sektors auf die kubanische Volkswirtschaft hatte, läßt sich vielleicht daran ermessen, daß die interne Nachfrage Kubas zu 50 Prozent durch Importe gedeckt wird (vgl. Instituto Nacional de Investigaciones sobre la Economía 1992). Trotz der Schwierigkeiten wurde von 1985 bis 1989 der Investitionsprozeß weiter beschleunigt. Dennoch müssen drei Punkte beachtet werden:

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1990 wurde Weizen zum Preis von US$ 82 pro Tonne importiert; 1992 mußten schon US$ 114 bezahlt werden. Hühner kosteten 1992 US$ 1000 die Tonne und 1992 US$ 1200. Importe von Milchpulver stiegen von US$ 1700 pro Tonne im Jahr 1990 auf US$ 1900 im Jahr 1992. Öl kostete 1990 US$ 112 und 1992 US$ 142. Auf der anderen Seite ging der Weltmarktpreis für Kubas Zukkerexporte von US$ 200 pro Tonne 1990 auf US$ 185 1992 zurück. Der Nickelpreis sank im gleichen Zeitraum von US$ 7.800 pro Tonne auf US$ 5.800.

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a) Zwischen 1986 und 1990 stieg der Anteil der Investitionen im nichtproduktiven Sektor im Vergleich zum vorherigen Jahrfünft von 16,6 Prozent auf 20,2 Prozent 9 . b) Bei den gegenwärtigen Beschränkungen des externen Sektors und in einer abhängigen und nicht integrierten Wirtschaft bestimmen nicht die physisch vorhandenen Produktionskapazitäten das Produktionsniveau, sondern vielmehr die Menge der Inputs - Rohstoffe, Arbeitsmaterialien, Zwischenprodukte - , die das Land importieren kann. c) Im Jahrfünft von 1986 bis 1990 ging die Effizienz des Investitionsprozesses zurück: Von 1981 bis 1985 wurde mit jedem investierten Peso noch ein Produktionszuwachs von 53 Centavos erzielt; für den Zeitraum 1986 bis 1990 war dieser Wert auf einen Produktionszuwachs von nurmehr zwei Centavos pro investierten Peso gefallen10. Einige Gründe dieses Problems sind bereits oben beschrieben, doch lassen sich darüberhinaus weitere interne Ursachen für die mangelnde Effizienz feststellen. Denn trotz der Schwierigkeiten konnte bis 1989 die externe Versorgung relativ stabil gehalten werden. 1989 wurde sogar mehr importiert als jemals zuvor in der kubanischen Wirtschaftsgeschichte (vgl. Statistisches Jahrbuch 1989). Schon 1986 und besonders seit 1989 wurde bewußt versucht, die Schwierigkeiten zu meistern, die sich durch die Stagnation der materiellen Produktion ergaben, ohne dabei weder das Beschäftigungsniveau noch die soziale Versorgung grundlegend zu gefährden und gleichzeitig den Investitionsprozeß voranzutreiben. Dadurch haben sich jedoch die gravierenden Finanzungleichgewichte verstärkt. Während des letzten Jahrfünfts (1986-90) mußte ein Teil des Zuwachses der erwerbstätigen Bevölkerung (circa 600.000 Personen 11 ) ineffizient eingesetzt werden, um die Arbeitslosigkeit nicht zu erhöhen; natürlich verstärkte dies die negative Wirkung, die die Unterbeschäftigung bereits zuvor auf die Arbeitsproduktivität hatte. Im gegenwärtigen Jahrfünft (1991-95) werden noch circa weitere 300.000 Personen hinzukommen. Seit Ende 1990 wird eine strengere Beschäftigungspolitik durchgeführt und damit eine gewisse strukturelle Arbeitslosigkeit in Kauf genommen. Die hierdurch hervorgerufenen Ungleichheiten sollten durch die Beibehaltung des Sozialsystems abgeschwächt werden. Die jährlichen Kosten hierfür betragen 1,2 Milliarden Pesos (vgl. Linares Calvo 1991). Obwohl so eine gleichmäßigere Verteilung der Einnahmen erreicht wird, ändert dies jedoch nichts an den Folgen der wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die durch hohe Einkommen und hohe soziale Ausgaben bei gleichzeitig

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Geschätzt nach den Zahlen des Statistischen Jahrbuchs Kuba 1989.

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Nach Berechnungen des INIE, April 1991.

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Berechnungen des Autors auf Grundlage des Statistischen Jahrbuchs Kuba 1989.

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stark eingeschränkter Produktion von Gebrauchsgütern und Dienstleistungen hervorgerufen werden. Allein zwischen 1985 und 1989 stiegen Löhne und Sozialversicherung um 1,45 Milliarden Pesos, während das Angebot an Waren und Dienstleistungen nur um 465 Millionen anwuchs (Statistisches Jahrbuch 1989). Diese Differenz wurde fast zur Hälfte durch höhere offizielle Preise aufgefangen. Der Rest produzierte einen höheren Geldumlauf, der natürlich negative Auswirkungen, wie sinkende Arbeitsdisziplin und eine Ausweitung des Schwarzmarkts, mit sich brachte. Die Reallöhne sanken von 1985 bis 1989 um circa 4 Prozent, und zwischen 1990 und 1992 müssen sie noch weiter gefallen sein. Die Menge des im Umlauf befindlichen Geldes stieg von 1989 bis 1991 um 47 Prozent an, während gleichzeitig der Warenumlauf im Einzelhandel um 30 Prozent zurückging. Der akkumulierte Währungsüberhang betrug Ende 1991 circa 6,125 Milliarden Pesos; davon tauchen nur 53 Prozent auf Sparkonten auf12. Dieser Währungsüberhang ist nicht gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt, sondern konzentriert sich in wenigen Händen, beispielsweise bei den Schwarzmarkt-Spekulanten. 1989 hatten 70 Prozent der Sparer weniger als 200 Pesos auf ihren Bankkonten und nur 30 Prozent eine größere Summe. Logischerweise dürfte das außerhalb der Bank gehortete Geld noch höher konzentriert sein. Das zeigt, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, den überschüssigen Geldumlauf in erster Linie durch eine Politik der Preiserhöhungen abzuschöpfen. Diese treffen die Mehrheit der Bevölkerung, die außer ihren Löhnen kaum weitere Einkünfte hat; unter diesen um so stärker diejenigen mit niedrigen Löhnen. Daher ist eine komplexere Politik gefragt, die Instrumente wie Steuern, Einkommenskontrollen, neue Formen von Sparanreizen et cetera einsetzt. Die Darstellung der wichtigsten makroökonomischen Ungleichgewichte vervollständigt sich durch folgende Daten: ein durchschnittliches Defizit der Außenhandelsbilanz von zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr im Zeitraum von 1986 bis 89; eine Auslandsverschuldung in harter Währung, die 1990 6,5 Milliarden US-Dollar betrug (ohne die Schulden bei der Ex-UdSSR mit einzurechnen 13 ); und ein geschätztes Haushaltsdefizit von 1,071 Milliarden Pesos im Jahr 1990. *

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*

In den letzten Jahren geriet die kubanische Wirtschaft in eine Zwickmühle: Auf der einen Seite wurden die Beziehungen zu den kapitalisti-

Berechnungen des Centro de Investigaciones de la Economía Mundial (CIEM). Berechnungen des Centro de Estudios de la Economía Cubana.

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sehen Ländern schwieriger, da die Deviseneinnahmen sanken, sich die Schulden im westlichen Ausland verdoppelten und seit 1986 keine neuen Kredite mehr gewährt werden. Auf der anderen Seite fallen seit 1990 die vorteilhaften Beziehungen zum ehemaligen sozialistischen Block weg, da diese Länder nun auch ein Teil des kapitalistischen Weltmarkts geworden sind und dort nun die gleichen Regeln herrschen. Dieser doppelte Druck verstärkt die Auswirkungen der bereits über drei Jahrzehnte andauernden nordamerikanischen Wirtschaftsblockade, die in den letzten Jahren noch verschärft wurde. Im Oktober 1992 unterschrieb der US-amerikanische Präsident das sogenannte 'Toricelli-Gesetz", mit dem die Neugestaltung von Kubas Außenwirtschaftsbeziehungen verhindert werden soll. Neben anderen Punkten sieht dieses Gesetz Wirtschaftssanktionen gegen Länder vor, die Kuba "unterstützen"14; es verbietet Tochtergesellschaften von nordamerikanischen Unternehmen in Drittländern, mit Kuba Handel zu treiben 15 , und es verbietet Schiffen, die Kuba angelaufen sind, für die folgenden sechs Monate in einem Hafen in den USA anzulegen16. Das TorricelliGesetz ist international wegen seiner Extraterritorialität und als Verstoß gegen internationales Recht abgelehnt worden. Dennoch bedeutet es in der Praxis einen neuerlichen Druck auf die kubanische Wirtschaft. Nach Schätzungen des Instituto Nacional de Investigaciones Económicas (1992) hat die mehr als dreißigjährige US-Blockade für Kuba direkte Kosten von 30 Milliarden US-Dollar verursacht (JUCEPLAN 1992). Ein solcher externer Faktor schafft ernste Probleme für eine kleine Wirtschaft, die arm an natürlichen Ressourcen ist und Probleme mit der Effizienz hat. Der strukturelle Charakter der Situation erfordert von der kubanischen Regierung eine schnelle Neubestimmung ihrer Strategie für die ökonomische Entwicklung. Sie hat eine Etappe der Not und des aktiven Widerstandes ausgerufen, die mit dem Bruch der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern beginnt und bis zu dem Moment geht, in dem sich die Wirtschaft durch die neu aufzubauende Strategie erholt und wieder eine Entwicklungsdynamik erreicht. Diese Etappe ist Período Especial en Tiempo de Paz genannt worden ("Sonderperiode in Friedenszeiten").

Als "Unterstützung" werden im Torricelli-Gesetz auch gängige Handelspraktiken, wie etwa die Gewährung von Krediten für Handelsgeschäfte, definiert. Nach Daten des Finanzministeriums der USA betrug 1990 der gesamte Handel Kubas mit US-amerikanischen Tochtergesellschaften US$ 705 Millionen. Davon sind US$ 533 Millionen Importe nach Kuba, US$ 172 Millionen kubanische Exporte. 93,81 Prozent der Importe sind Getreide, Weizen und andere Nahrungsmittel (vgl. Rich/Kaplowitz 1992, sowie Zimbalist 1992). 1992 wird Kuba nur rund 20 Prozent seines Außenhandels mit seiner eigenen Flotte transportieren (Lage 1992b).

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Hierbei stellen sich die Aufgaben auf drei Ebenen. Es geht darum: 1) Die kubanische Wirtschaft an die neuen Bedingungen anzupassen; 2) sie auf neuen Grundlagen wieder in den Weltmarkt einzugliedern und 3) die interne Ökonomie zu reorganisieren, um eine größere allgemeine Effizienz zu erreichen. Diese wirtschaftlichen Ziele werden begleitet von Zielen der Politik und der Sicherheit, da es auch auf diesem Gebiet ernste Herausforderungen gibt. Der sinkende Lebensstandard der Bevölkerung hat die internen soziopolitischen Konflikte gesteigert, weil bei einer Abnahme des materiellen Wohlstands auch die Konsensfindung komplexer wird. Außerdem steigert die Regierung der USA ihre Aggressivität auf allen Gebieten in der Annahme, es sei die Stunde gekommen, um durch eine ins Extreme gesteigerte Hetzjagd Kubas Revolution als gangbare historische Erfahrung zu liquidieren17. Die Antwort auf all die genannten Punkte erfordert einen komplexen Prozeß der Kreativität und des Wandels, der die strategische Neudefinition des kubanischen Revolutionsmodells im Angesicht eines gewandelten und feindlichen internationalen Kontextes bedeutet. Von der Fähigkeit der Führung der Revolution und des kubanischen Volkes, rechtzeitig die notwendigen Verbesserungen vorzunehmen, hängt die Lebensfähigkeit der Revolution unter den neuen Bedingungen ab. Dies ist die Herausforderung. Gebraucht werden Kreativität und politische Kühnheit. Die Geschichte der Revolution in den letzten 33 Jahren war ein permanenter Kampf gegen Hindernisse, die im jeweiligen Moment unüberwindbar schienen. Doch zurück zur Wirtschaft, dem eigentlichen Thema. Die Probleme auf den drei oben genannten Ebenen stellen sich folgendermaßen dar: An erster Stelle geht es um die Anpassung der Wirtschaft an die neuen Bedingungen. Wegen der Einnahmenverluste und des internationalen Kreditstopps mußte notwendigerweise das Handelsdefizit gesenkt werden. Das hat unweigerlich zu einer Senkung der Importe geführt: 1989 betrugen sie noch 8,124 Milliarden US-Dollar, 1991 nur noch 4,04 Milliarden, und 1992 werden sie wahrscheinlich um weitere 1,5 Milliarden US-Dollar sinken. Dadurch reduzierte sich die ökonomische Aktivität, was sich 1991 in einem Fall des Bruttoprodukts um 24 Prozent ausdrückte (1990 war es um 3,6 Prozent zurückgegangen). Für 1992 erwarten wir einen weiteren Rückgang um mehr als 15 Prozent, und für 1993 ist noch nicht damit zu rechnen, daß die Bedingungen gegeben sind, die eine Umkehrung solcher Tendenz erlauben. Dieser Rückgang bringt die Notwendigkeit mit sich, die Verwendung des Bruttoprodukts anzupassen, sprich: die soziale Ver-

ü b e r die aktuelle Politik der USA gegenüber Kuba s. Monreal/Carranza 1992.

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sorgung, der private Konsum und die Bruttoinvestitionen. Jeder dieser drei Bereiche stellt dabei Herausforderungen unterschiedlicher Art. a) Die soziale Versorgung ist zwischen 1985 und 1991 um circa 980 Millionen Pesos gekürzt worden18. Vor allem in den letzten beiden Jahren mußte die Bevölkerung daher auf einige soziale Leistungen verzichten, über die sie bisher verfügte. Dennoch ist versucht und erreicht worden, daß die wichtigsten sozialen Errungenschaften der Revolution: Gesundheit, Bildung, Kultur und soziale Sicherheit, selbst inmitten der schlimmsten Krise aufrechterhalten wurden. Dies erhält heute eine wichtige politische Bedeutung. Weitere Kürzungen in diesem Bereich können nicht ausgeschlossen werden, insbesondere durch die Streichung einiger nicht haltbarer Subventionen. b) Der private Konsum ist ein politisch sensibler Faktor. Deshalb sind Anstrengungen unternommen worden, ihn sowenig wie möglich zu beeinträchtigen. Zwischen 1989 und 1990 sank der Konsum um circa 15 Prozent, und 1991-92 dürfte sich diese Tendenz erheblich verstärkt haben. Die Einschränkungen betrafen vor allem das Angebot an Dienstleistungen (auch Transporte) und Industriegütern, wie Kleidung und Schuhe, sowie die Nahrungsmittelrationen. Zwar ist die Zuteilung von Wasser noch nicht ernsthaft reduziert worden, die Energieversorgung der Haushalte jedoch schon. Seit der zweiten Hälfte 1992 wird die Stromversorgung täglich für einige Stunden eingestellt. Eine der wichtigsten Anstrengungen in dieser Hinsicht ist die Entwicklung des Nahrungsmittelplans {Plan Alimentario). Mit seiner Hilfe soll die landwirtschaftliche Produktion gesteigert werden, um das Angebot an Nahrungsmitteln auf einem Stand zu halten, der der Bevölkerung das Minimum einer angemessenen Energie- und Kalorienversorgung sichert. Noch bedarf es allerdings Ernährungsgewohnheiten, die mit jenen Produkten übereinstimmen, die im Land selbst angebaut werden können. Eine entscheidende Maßnahme im Umgang mit dem persönlichen Konsum ist die verstärkte Politik der Rationierung der Waren des täglichen Grundbedarfs. Dies ermöglicht, die Auswirkungen der Versorgungskrise gleichmäßig auf die Bevölkerung zu verteilen - was aus politischer Sicht von fundamentaler Bedeutung ist. Dennnoch muß diese Politik eine vorübergehende sein und sich in dem Maße verändern, in dem das Angebot wieder zunimmt, um die schädlichen Auswirkungen des Egalitarismus zu vermeiden: die Ungleichgewichte in Einnahmen und Ausgaben der Bevölkerung (und damit auch in den

Schätzungen des Autors auf der Grundlage von Zahlen des Comité Estatal de Estadísticas und JUCEPLAN.

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staatlichen Finanzen), die sinkende Arbeitsproduktivität und die abnehmende Arbeitsdisziplin, c) Die Bruttoinvestitionen gingen zwischen 1989 und 1991 um circa 43 Prozent zurück, was sich 1992 noch verstärken wird. Dies erfordert eine extrem überlegte Investitionspolitik, die genau abwägt zwischen der Sicherung der einfachen Reproduktion und der Förderung der Exportprogramme - insbesondere der nichttraditionellen - sowie der Programme zur Substitution unverzichtbarer Importe. Es ist unbedingt nötig, die Auslandsabhängigkeit der Wirtschaft durch eine größere interne Integration zu verringern. Die genannten Elemente sind deshalb so wichtig, weil die Importfähigkeit des Landes augenblicklich eine der entscheidenden Variablen für den Ausweg aus der Krise ist; unter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalen Kreditsperre hängt dies ganz entscheidend davon ab, wieviele Exporte auf den internationalen Märkten abgesetzt werden können. Die kubanische Wirtschaft steht also vor der Herausforderung zu exportieren. Die Möglichkeit, sie zu bestehen, hängt grundlegend von den Wachstumsraten der nichttraditionellen Exporte ab, vor allem der auf der Biotechnologie aufbauenden Pharmaindustrie und der Herstellung medizinischer Ausrüstung auf der Basis der Mikroelektronik, wie auch vom Wachstum im Tourismussektor. Um eine mittelfristige wirtschaftliche Erholung zu erreichen, müssen hier die Einnahmen genauso gesteigert werden wie bei den traditionellen Exportprodukten Zucker, Tabak, Nikkei, Zitrusfrüchte usw. Warum sind nun gerade diese drei Produktionsbereiche als Spitzensektoren der Wirtschaft ausgewählt worden? Im Fall der Biotechnologie und der computergestützten medizinischen Geräte handelt es sich um Hochtechnologieproduktionen, die hochqualifizierte Arbeitskräfte erfordern. Dank des durch die Revolution erreichten Ausbildungsniveaus sind diese Arbeitskräfte in Kuba vorhanden. Jeder achte kubanische Arbeiter hat eine Fachausbildung (tecnico medio), jeder fünfzehnte einen Universitätsabschluß. Außerdem profitieren diese Produktionsbereiche von dem Wissen, das Kuba im Gesundheitsbereich angesammelt hat. Hinzu kommt, daß beide Bereiche wenig natürliche Ressourcen und insbesondere wenig Energie verbrauchen. Der Tourismus ist ausgewählt worden, weil Kuba dafür sehr vorteilhafte Bedingungen, wie tropisches Klima, Strände, soziale Stabilität et cetera, bietet. Außerdem amortisieren sich in dieser Branche Investitionen sehr schnell, was außerordentlich wichtig für eine Politik des beschleunigten Wachstums ist. Bis in die 80er Jahre hatte die Revolutionsregierung die Förderung des internationalen Tourismus in großem Stil vermieden, da dieser in verschiedenen Bereichen - der Ökologie und der Gesundheit sowie auf der sozialen und politisch-ideologischen Ebene 27

beträchtliche Kosten mit sich bringt. Gerade letztere verstärken sich noch, wenn die Vergnügungsindustrie für ausländische Besucher zusammenfällt mit der Forderung an die eigene Bevölkerung, ihren Konsum immer weiter einzuschränken. Dennoch kann die kubanische Wirtschaft unter den augenblicklichen Bedingungen nicht auf diese potentielle Devisenquelle verzichten. Deshalb wurde entschieden, den Tourismus mit aller Kraft voranzutreiben und gleichzeitig seine unvermeidlichen Folgen durch politische Maßnahmen abzuschwächen. In diesem Sinne gibt es auf Kuba noch viel zu tun. Obwohl dies einen relativen Verlust an Einnahmen bedeutet, so erscheint es doch notwendig, einen Teil des touristischen Angebots für die interne Nachfrage zu reservieren. Zusammenfassend läßt sich sowohl über den Bereich der Hochtechnologie als auch über den Tourismus sagen, daß es sich um ökonomische Aktivitäten handelt, bei denen Kuba über komparative Kostenvorteile verfügt. Deshalb sind sie geeignet, Kubas Wiederanbindung an den Weltmarkt auf neuen strukturellen Grundlagen zu fördern. Bei den Exporten von pharmazeutischen Produkten und medizinischen Geräten ist konkret der Verkauf von 10 Millionen Meningitis-Impfungen im Wert von 100 Millionen US-Dollar nach Brasilien in den Jahren 1989 und 1990 bekannt und für weitere 15 Millionen im Jahr 1991 (Rodriguez 1992). Obwohl die Informationen nicht ausreichen, um den Zuwachs dieser Exporte zu berechnen, kann angesichts der Art von Produkten und der Förderung ihrer Entwicklung in Kuba für die Zeit von 1995 bis 2000 mit Exporten von über einer Milliarde US-Dollar gerechnet werden19. In diesen Bereichen gibt es bereits hochentwickelte Forschungszentren, die bedeutende Ergebnisse bei der Entwicklung und Herstellung neuer Produkte und Geräte vorweisen können. 1991 sind mit Hilfe der Gentechnologie mehr als 160 Produkte erzeugt worden. Damit ist ein gutes Tempo in der Phase von Forschung und Entwicklung gesichert. Als schwieriger erweist sich jetzt die Phase der Massenproduktion und vor allem der Vermarktung, da es darum geht, auf hochspezialisierte transnationale Märkte vorzustoßen (vgl. Centro de las Naciones Unidas sobre las Empresas Transnacionales 1991). Um diese Probleme zu lösen, wird der Aufbau von Industrieanlagen für diese Produkte beschleunigt. Für die Vermarktung werden Verträge mit ausländischen Unternehmen abgeschlossen, die sich besser auf den jeweiligen Märkten und mit Verkaufsstrategien auskennen (vgl. Alvarez 1992). Die Tourismusindustrie wird mit hohen Investitionen und einer großen Beteiligung ausländischen Kapitals entwickelt. Die Hoffnung dabei Die kubanische Regierung war gezwungen, die statistischen Daten mit großer Diskretion zu behandeln, da die Regierung der USA versucht hat, diese strategischen Sektoren im Rahmen ihrer Blokkade und aggressiven Politik gegen Kuba zu schädigen.

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ist, 1995 über 30.000 Hotelzimmer zu verfügen. Damit könnten mehr als eine Million Touristen aufgenommen werden, die Einnahmen von über 900 Millionen US-Dollar bringen würden. 65 Prozent dieser Hotelzimmer werden mit ausländischem Kapital gebaut. 1991 lagen die Einnahmen aus dem Tourismus bei 290 Millionen US-Dollar (INIE 1992), und für 1992 werden 400 Millionen erwartet (Lage 1992b). Einigen Schätzungen zufolge betragen die direkten Kosten für jeden eingenommenen Dollar 40 Centavos. Jenseits aller Berechnungen ist es jedoch offensichtlich, daß der Tourismussektor noch effizienter und rentabler werden muß. Auf der anderen Seite wirkt der Tourismus stimulierend auf andere Wirtschaftszweige, wie das Baugewerbe und die Baustoffindustrie; letztere könnte in der Zukunft exportfähig werden. Kuba besitzt auch mehrere Produktionsanlagen für Zement, drei davon mit einer Kapazität von einer Million Tonnen im Jahr. Durch Abkommen mit ausländischem Kapital könnten hier in der Zukunft Märkte erschlossen werden. Im Karibischen Becken hat kein Land außer Mexiko eine ähnlich große Zementproduktion. Was die traditionellen Exporte angeht, so bleibt Zucker das wichtigste Produkt und auch generell der wichtigste Sektor in der kubanischen Volkswirtschaft. Die Zuckerproduktion erwirtschaftet 20 Prozent des nationalen Bruttoprodukts, nimmt 57 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ein, macht 80 Prozent der Exporte aus, beschäftigt 440.000 Arbeitskräfte und steuert 30 Prozent zur Energiebilanz Kubas bei. Darüber hinaus wirkt er als Verbindungsglied für eine große Zahl von Wirtschaftszweigen. Der Zucker hat eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des revolutionären Wirtschaftsprogramms gespielt. Nach Angaben der Internationalen Zuckerorganisation exportierte Kuba 1989 und 1990 ungefähr je 7,1 Millionen Tonnen, 1991 6,4 Millionen und 1992 6,3 Millionen (vgl. CIEM 1992). Hier müssen einige Probleme bedacht werden: a) Wegen widriger Wetterverhältnisse und Effizienzproblemen mußte in den vergangenen Jahrfünften Zucker importiert werden, um die Exportverpflichtungen einzuhalten. Dem konnte 1989-90 durch erfolgreiche Ernten entgegengesteuert werden. b) Augenblicklich tauchen durch die generellen Wirtschaftsprobleme auch Schwierigkeiten bei der Zuckerproduktion auf. 1992 konnten durch ungeheure Anstrengungen trotzdem 7 Millionen Tonnen geerntet werden. Dabei wurde die Ernte um zwei Monate verlängert und nur ein Drittel der Ressourcen eingesetzt. [Die Zuckerrohrernte 1993 erbrachte lediglich 4,2 Millionen Tonnen - Anm. B.H.] c) Wie oben bereits beschrieben, belegen Untersuchungen mittelfristig eine ernste Beeinträchtigung der "sowjetischen" Märkte. Deshalb muß der Zuckersektor weiter diversifiziert werden, um alternative Märkte zu erschließen und den internen Bedarf abzudecken. Auch müssen 29

Ertrag und Effizienz gesteigert werden20. Der Zucker wird noch für einige Zeit die Haupteinnahmequelle Kubas bleiben. Wichtig ist auch das Nickel, dessen Produktion und Export gesteigert werden muß. Circa 37 Prozent der weltweiten Nickelreserven befinden sich auf Kuba. Die technologisch rückständigen Anlagen zum Nickelabbau, die mit Hilfe der UdSSR gebaut worden waren, sind in der letzten Zeit mit der Beteiligung ausländischen Kapitals modernisiert worden; vor allem wurde dabei ihr Energieverbrauch gesenkt. Für 1992 werden eine Produktion von 40.000 Tonnen und Einnahmen von 300 Millionen Dollar erwartet. Bis 1996 könnte die Produktion auf 80.000 Tonnen steigen (Leo 1992). Obwohl der Anteil der neuen dynamischen Exportprodukte im erwarteten Maß steigt, wird auch in den nächsten Jahren der größte Teil der Deviseneinnahmen mit traditionellen Produkten vor allem aus dem Zukkersektor erwirtschaftet werden. Dies bedeutet, daß ihre Entwicklung in den nächsten Jahren nicht vernachlässigt werden darf. Allgemein sind die Exporte in den letzten fünf Jahren stark beeinträchtigt worden durch die bereits genannten negativen Faktoren, die die gesamte Volkswirtschaft erfaßt haben. Trotz der positiven Wirkung, welche nichttraditionellen Produkte zeigen, betrug ihr durchschnittliches jährliches Wachstum bis 1990 im Vergleich zu 1985 nur 0,6 Prozent 21 . In den letzten beiden Jahren müßte diese Rate angestiegen sein. Ein entscheidendes Ziel für die wirtschaftliche Erholung und das Entwicklungsprogramm ist es, die Exportstruktur zu ändern und die neuen Produkte, die auf dem Weltmarkt expandieren (Pharmaindustrie, Mikroelektronik, Tourismus) gegenüber den sogenannten "regressiven Produkten" (Zucker, Zitrusfrüchte, Nickel, Fischfang usw.) zu fördern (vgl. Informe... [O.A.] 1989). Trotz der Impulse für die neuen Produkte und Dienstleistungen war die Exportstruktur 1990 zu 90 Prozent auf Produkte ausgerichtet, die auf dem Weltmarkt stagnieren oder rückläufig sind. Die kubanische Ökonomie muß unbedingt ihre Exporteinnahmen steigern. Die Dynamik der neuen Produkte und des Tourismus erlauben die Annahme, daß dies in den nächsten fünf Jahren tatsächlich passieren wird. Doch auch wenn sich alle Erwartungen an das Wachstum der Exportprodukte erfüllen, würden die Einnahmen nicht für die benötigte Menge an Importen genügen.

Die Fläche für den Zuckerrohranbau wird 1992 auf 20.000 Caballerías ausgeweitet, 4000 mehr als 1991. Zudem wird in die Produktion und den Gebrauch von nationalen Düngemitteln investiert. Doch die Auswirkungen dieser Maßnahmen werden sich nicht kurzfristig einstellen (vgl. Lage 1992b). Rechnung auf Basis der Daten des Statistischen Jahrbuchs Kuba 1989 und der Außenhandelsjahrbücher des Ministerio de Comercio Exterior (MINCEX).

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Wenn wir 8 Milliarden US-Dollar pro Jahr für Importe als Grundlage annehmen (das liegt unter den Ausgaben für Importe im Jahr 1985, als das Land noch Präferenzbedingungen besaß), dann sind das bis zum Ende des Jahrfünfts [1990-95] 40 Milliarden Dollar. Wenn wir jedoch von der geschätzten Entwicklung jedes der Wirtschaftszweige ausgehen und den jährlichen Durchschnitt von Exporteinnahmen in der Folge bei fünf Milliarden Pesos anlegen, dann ergäbe das für das Jahrfünft Gesamteinnahmen von 25 Milliarden Pesos. Das sind fast 40 Prozent unter dem angenommenen minimalen Importbedarf für ein normales Funktionieren der Wirtschaft. Außerdem müssen von den Exporteinnahmen weitere Zahlungsverpflichtungen des Landes beglichen werden. Die Schwierigkeiten bei der Aufnahme von Krediten verhindern eine Begleichung der Differenz durch externe Finanzierung. Hinzu kommt, daß die Notwendigkeit von Importen in der Zukunft durch einen weiteren Faktor verstärkt werden wird: den Kauf von Waffen und anderer militärischer Ausrüstung. Bisher war der Bedarf immer durch Abkommen über militärische Zusammenarbeit mit der U d S S R abgedeckt, die nun nicht mehr existieren. Wegen der ständigen Bedrohung durch die feindselige Politik der U S A muß die hohe Kampfbereitschaft der kubanischen Streitkräfte aufrechterhalten werden. Daher müssen die für die Verteidigung notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden, auch wenn dies unvermeidlich einen zusätzlichen Druck auf die Wirtschaft bedeutet. Dabei ist jedoch auch zu bedenken, daß Kuba die Grundausstattung an nötigen Waffen aller Art für die nächsten Jahre besitzt. Die Streitkräfte haben sich in ihren Manövern und Kampfübungen effektiv an die neuen Bedingungen angepaßt. Und schließlich basiert die Landesverteidigung auf dem Konzept eines allgemeinen Volkskrieges, für den die Bevölkerung gut ausgebildet und bewaffnet ist. Zusammenfassend läßt sich absehen, daß Kubas Wirtschaft für einige Jahre mit einem niedrigeren Importniveau leben muß als sie benötigen würde. Damit schränken sich die Möglichkeiten Kubas beträchtlich ein gegenüber jenen Zeiten, als durch die guten Beziehungen zum sozialistischen Block die Märkte gesichert waren und das Außenhandelsdefizit finanziert wurde. Dies erlaubte, gleichzeitig die Investitionen und die sozialen Ausgaben zu steigern. Durch die neue Situation ist es überlebensnotwendig, Maßnahmen in den Bereichen Handel, Finanzen und Produktion zu ergreifen. a) Handel: Der Außenhandel muß angepaßt, dezentralisiert und besser organisiert werden. Das heißt auch, in geeigneten Fällen Verbindungen mit ausländischem Kapital einzugehen. In diesem Bereich ist man in den letzten Jahren um einiges vorangekommen; einer Reihe von Firmen wurde ermöglicht, ihre Außenwirtschaftsbeziehungen direkt 31

abzuwickeln, und es wurden Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit ausländischem Kapital gemacht. Auch wenn in der Zukunft Veränderungen nötig sind, so wird der kubanische Außenhandel mit den ehemaligen Republiken der Sowjetunion noch für einige Zeit von entscheidender Bedeutung sein. b) Finanzen: Es müssen weiter Lösungen für die Neuverhandlung der Auslandsverschuldung gesucht und auch alternative Zahlungsformen erwogen werden. Es geht darum, neue Kreditmöglichkeiten zu eröffnen, um Hindernisse in den Handelsbeziehungen aus dem Weg zu räumen 22 . Außerdem ist ein wirtschaftlich angemessener Wechselkurs des Peso nötig, um die internen Kosten und den nationalen Beitrag zu Joint-venture-Geschäften genauer bestimmen zu können. c) Produktion: In diesem Bereich sind die Herausforderungen am größten. Die Steigerung des Exports hängt in erster Linie von dem quantitativen und qualitativen Wachstum der Produktion ab. Dies ist schwierig in einer Situation wie der gegenwärtigen, in der zahlreiche Beschränkungen - etwa die unsichere Energieversorgung - diesem Wachstum Grenzen setzen. Zum einen bedarf es dafür eines gut untermauerten und kontrolliert realisierten Investitionsprogramms. Zum anderen muß ein System der Wirtschaftslenkung entwickelt werden, das die Arbeitseffektivität steigert. Durch neue Formen der Arbeitsorganisation, wie beispielsweise die "Kontingente", konnten bei den vordringlichsten Bauprojekten Arbeitskollektive eingesetzt werden, deren Produktivität bis zu 52 Prozent über der der übrigen Wirtschaft liegt. Diese neue Form der Arbeit in "Kontingenten" funktioniert jedoch nur für weniger als sechs Prozent der Arbeitskräfte des Landes, und es ist unmöglich, sie sehr viel weiter auszudehnen. Daher müssen weitere geeignete Mittel gesucht werden, um die Arbeitsproduktivität in der gesamten Volkswirtschaft zu steigern. Dies gilt auch für den Investitionsprozeß, der integrierter und besser vernetzt sein sollte. Er müßte sich auch auf die Produktion für den Export beziehungsweise die Substitution von Importen konzentrieren, und zwar so weit es geht in wenig kapital- und energieintensiven Produktionszweigen. Genau Unzulänglichkeiten dieser Art waren es, die im vergangenen Jahrzehnt eine größere Wirkung der durchgeführten Investitionen auf die Volkswirtschaft verhindert haben. All die genannten Maßnahmen müssen durch außergewöhnliche Anstrengungen bei Einsparungen und Rationalisierung der Kosten ergänzt werden. Dies gilt besonders für die Produkte, die in starkem Maße von Im-

In der Resolution zur Wirtschaftsentwicklung auf dem IV. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas heißt es: "Kuba wäre bereit, flexible Neuverhandlungen der Schulden zu erwägen, die auch neue Formen der Zahlung beinhalten können, wenn sie für Gläubiger und Schuldner vernünftige und akzeptable Lösungen bieten."

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porten abhängen. Hierfür ist ein allgemeines Klima von hohen Anforderungen und verstärkter Kontrolle in der Wirtschaft nötig. Wie gesagt und mit Zahlen belegt, ist die Treibstoffversorgung eine Achillesferse der kubanischen Wirtschaft. Durch den Rückgang der verfügbaren Menge Öl von über 13 Millionen Tonnen 1989 auf weniger als sieben Millionen Tonnen 1992 mußten wichtige Produktionszweige wegen ihres hohen Energieverbrauchs stillgelegt oder gedrosselt werden, unter anderem in den Bereichen Zement, Papier, Transport usw. Daher ist es genauso dringlich, Technologien zu entwickeln, die weniger Primär- und Sekundärenergie verbrauchen. In einigen Fällen, wie zum Beispiel bei der Nickelgewinnung, konnten gemeinsam mit ausländischem Kapital Investitionen vorgenommen werden, um den Energieverbrauch dieser Anlagen effizienter zu gestalten und die Produkte damit auf ausländischen Märkten konkurrenzfähig zu machen. Auf diese Weise kann es mit relativ geringen Investitionen gelingen, wichtige industrielle Kapazitäten verschiedener Wirtschaftszweige wieder rentabel zu machen. Darüber hinaus werden Forschungsprojekte und Initiativen entwickelt, um alternative Energiequellen zu erschließen. Diese reichen von Treibstoff-Emulgatoren über den Einsatz von Zugtieren in der Landwirtschaft bis zur massiven Einführung von Fahrrädern als individuellem Transportmittel23. Eines der strategischen Energieprojekte, das Atomkraftwerk Juraguä, mußte im September 1992 gestoppt werden (Castro 1992). Die Vertragsbedingungen mit der UdSSR haben sich nach dem Wandel der Beziehungen so ungünstig verändert, daß das Projekt zumindest augenblicklich nicht durchführbar ist. Zu diesem Zeitpunkt waren rund eine Milliarde Pesos investiert worden, und zur Fertigstellung fehlte noch eine beträchtliche Menge Geld. Wäre das Atomkraftwerk in Betrieb gegangen, hätte das Land circa drei Millionen Tonnen Öl pro Jahr eingespart. Allerdings wäre Kuba auch abhängiger von der Lieferung der Kernbrennstoffe und Nukleartechnologie geworden - heute von Ländern, die keine strategischen Verbündeten Kubas sind. Bei einer eventuellen Wiederaufnahme dieser Investition müßten die Vor- und Nachteile sehr genau abgewogen werden. Ein weiteres strategisches Projekt ist die Suche nach Erdölvorkommen, die verschiedene ausländische Unternehmen vor der Küste des kubanischen Festlands durchführen. Obwohl sie bisher nur zu schweres Öl gefunden haben, sollten bessere Resultate nicht ausgeschlossen werden. Falls größere Vorkommen entdeckt werden, würde dies die Wirtschaftsdaten ganz grundlegend ändern. Obwohl die Förderung des Öls große

1992 zirkulierten in La Habana bei einer Einwohnerzahl von 2,1 Millionen mehr als 500.000 Fahrräder.

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Investitionen und viel Zeit erfordern würde, könnte das Land damit jedoch bereits in kurzer Zeit wieder Zugang zu Krediten erhalten. Diese Möglichkeit ist zwar nicht auszuschließen, doch im Augenblick rechnet die kubanische Regierung nicht mit ihr, um die schwierige wirtschaftliche Situation zu meistern. Momentan produziert das Land nur 900.000 Tonnen sehr schweres und schwefelhaltiges Öl. Eine weitere zentrale Achse der wirtschaftlichen Reorganisation ist die Substitution von Importen in allen Wirtschaftszweigen, in denen es möglich ist. Besonders wichtig ist dabei der "Plan Alimentario", mit dem die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln gesteigert werden soll. Dieser Sektor war in beträchtlichem Maße vom Ausland abhängig: 1989 waren 57 Prozent der in Kuba konsumierten Proteine und 51 Prozent der konsumierten Kalorien importiert. Durch die Einschränkungen des Außenhandels fehlen grundlegende Inputs für die landwirtschaftliche Produktion, wie Treibstoffe, Düngemittel, Herbizide, Futtermittel und Ersatzteile24. Der Nahrungsmittelplan hat nun zum Ziel, die daraus resultierenden negativen Folgen abzumildern. Die besten Resultate konnten bei grünem und Knollengemüse erzielt werden, wo für 1992 ein Wachstum um 13 Prozent erwartet wird. Am negativsten betroffen ist die Produktion von tierischem Eiweiß. Generell gesehen, müssen die Anpassungsmaßnahmen das Ausmaß der augenblicklichen makroökonomischen Ungleichgewichte verringern. Die Wirtschaftspolitik muß die offene Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben der Bevölkerung verringern, um deren schädliche Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben soweit wie möglich zu mildern. Es muß ein System eingeführt werden, das Löhne und Arbeitsergebnisse stärker miteinander koppelt und das der Bevölkerung Anreize zum Sparen gibt. Dies muß auch den Übergang zu einer Politik staatlicher Subventionen umfassen, mit der diese in eingeschränkter Form und selektiv eingesetzt werden, um in erster Linie den Familien mit niedrigen Einkommen Schutz zu bieten. Notwendig ist auch, die Existenz eines informellen Wirtschaftssektors anzuerkennen, die in den letzten Jahren als Folge der zunehmenden Knappheit an Produkten spürbar angewachsen ist. 1990 zirkulierten auf dem Schwarzmarkt schätzungsweise 2 Milliarden Pesos25, und in den vergangenen zwei Jahren hat sich diese Zahl wahrscheinlich verfünffacht.

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1989 wurden 1.300.000 Tonnen Düngemittel importiert, 1992 nur 300.000. 1989 wurden 1.600.000 Tonnen Getreide und Proteine zur Tierfütterung importiert, 1992 nur 475.000 Tonnen. 1989 wurden täglich 1.500 Tonnen Diesel in der Landwirtschaft (ohne Zuckerrohr) verbraucht, 1992 nur noch 1.000 Tonnen. 1989 wurden für 80 Millionen Dollar Herbizide und Pestizide importiert, 1992 werden es nur für 30 Millionen sein (Lage 1992).

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Daten des Instituto de la Demanda Interna.

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Der Geldumlauf des offiziellen Einzelhandels beläuft sich auf circa sieben Milliarden Pesos. Es wäre notwendig zu entscheiden, welche informellen Aktivitäten aus Veruntreuung, Raub und Spekulation erwachsen, um sie durch die strenge Anwendung der Gesetze weiter zu bekämpfen. Jedoch kann auch festgestellt werden, welche informellen Aktivitäten einen legitimen Ursprung haben und zur Entlastung spezifischer Situationen beitragen können. Beispielsweise könnte die Zahl der auf eigene Rechnung Arbeitenden erhöht werden, indem die organisatorischen und steuerlichen Bedingungen sowie ein kontrollierter Zugang zu Arbeitsmaterialien geschaffen werden, die eine legale und angemessene Entwicklung erlauben. Natürlich ist dies in der aktuellen Situation ein komplexer Prozeß, der mit der größten Vorsicht umgesetzt werden muß, um seine möglichen Deformationen unter Kontrolle zu halten, als da wären: a) die übermäßige Abwanderung von Arbeitskräften in den nichtstaatlichen Sektor; b) ein unkontrolliertes Abzweigen von Ressourcen durch das Fehlen eines ausreichend ausgestatteten Marktes, auf dem die nötigen Materialien und Arbeitsmittel erworben werden können; c) eine unverhältnismäßige Einkommenskonzentration. Auf alle Fälle hat das Land hier jedoch wichtige produktive Reserven, die, wenn sie gut eingebunden werden, sich positiv auf Beschäftigung und Angebot auswirken können. Natürlich besteht der grundsätzliche Weg zur Lösung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte darin, das nationale Produktionsniveau wieder herzustellen und zu erhöhen. Wegen der augenblicklichen Schwierigkeiten wird dies jedoch ein langsamer und komplexer Prozeß sein. *

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Mit Sicherheit ist eine der bemerkenswertesten Veränderungen, die bisher stattgefunden haben, die Öffnung der nationalen Ökonomie für ausländisches Kapital. Dieser konzeptionelle Wandel in einem Land, dessen Wirtschaft dem Inhalt und den Zielen nach sozialistisch ist, erklärt sich aus der Notwendigkeit heraus, den Widerspruch zu lösen zwischen großen produktiven Möglichkeiten auf der einen Seite und der Unmöglichkeit, diese auszunutzen, auf der anderen. Das Potential und die produktiven Möglichkeiten Kubas beruhen zusammengefaßt auf folgenden Faktoren: a) Kuba verfügt über eine beträchtliche industrielle Infrastruktur. Diese wurde insbesondere in den letzten zehn Jahren verstärkt aufgebaut, als von Gesamtinvestitionen in Höhe von 38 Milliarden Pesos 35 Prozent in den industriellen Sektor flössen. 35

b) D a s Land verfügt über eine ausgedehnte Infrastruktur in Form von Straßen, Brücken, Flughäfen, Stromleitungen, Kommunikationsnetz usw. c) Auf Kuba gibt es hochqualifizierte Arbeitskräfte und ein beträchtliches wissenschaftlich-technisches Potential. Einige Zahlen wurden bereits genannt: Jeder achte kubanische Arbeiter hat eine Fachausbildung, jeder 15. einen Universitätsabschluß. Hinzugefügt werden muß noch, daß 1991 in Kuba 159 Forschungszentren existierten und 1.050 Wissenschaftler und Ingenieure auf eine Million Einwohner kommen. Diese Zahlen liegen über denen jedes anderen Dritte WeltLandes und sind mit vielen entwickelten Ländern vergleichbar (Rodriguez 1992). d) Die politische Stabilität, die auf dem gesellschaftlichen Konsens basiert, den das revolutionäre Projekt bisher erreicht hat, indem es trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten und der Blockade der U S A ein System der sozialen Gleichheit und der Befriedigung der Grundbedürfnisse geschaffen und aufrechterhalten hat. Auf der anderen Seite sind es, kurz gesagt, die Mängel an Kapital, modernen Technologien und internationalen Absatzmärkten, die verhindern, die oben genannten Möglichkeiten auszuschöpfen. Mit der Öffnung gegenüber ausländischem Kapital sollen diese Mängel überwunden werden. Natürlich werden die ausländischen Investoren nur dann wie gehofft reagieren, wenn das Land ein entsprechendes Rentabilitätsniveau anbieten kann. Die augenblicklichen gesetzlichen Regelungen bieten günstigere und stabilere Bedingungen an als in vielen anderen kapitalempfangenden Ländern: Rückführung von Gewinnen, Steuerbefreiung für bestimmte Zeiträume (je nach Investition), Steuern von unter 30 Prozent des jährlichen Nettogewinns und 25 Prozent Steuern auf die Einnahmen der kubanischen Arbeiter. Obwohl das Gesetz festlegt, daß die ausländischen Investoren bis zu 49 Prozent der Aktien erwerben dürfen, ist man so flexibel, unter besonderen Bedingungen auch größere Beteiligungen bis zu 100 Prozent zu gewähren. Ein Grundprinzip bleibt jedoch, die ausländische Investition mit der internen Wirtschaft zu verknüpfen. So erhalten die nationalen Unternehmen die Vorzugsoption dafür, die Unternehmen mit ausländischer Beteiligung mit Materialien und Dienstleistungen zu beliefern. Allerdings muß dies auf der Grundlage internationaler Wettbewerbsfähigkeit erfolgen, da es weiterhin das Recht gibt, alles zu importieren, was nicht effizient auf dem lokalen Markt erworben werden kann. Die Ineffizienz der internen Wirtschaft hat bisher verhindert, diese Beziehungen dynamischer zu gestalten. Trotz einiger Hindernisse (bürokratische Ineffizienz, die allgemeine Lage der Wirtschaft und der ungeheure Druck der nordamerikanischen 36

Regierung auf einige Investoren) sind die ausländischen Investitionen in den letzten Jahren in relativ wichtigem Maße gewachsen. Auf jeden Fall bringt die steigende Präsenz ausländischen Kapitals neue Risiken mit sich, die im voraus gesehen und reduziert werden sollten. Dies erfordert ein systematisches und rational entwickeltes Konzept, in dem der staatliche Sektor durch die Kontrolle über die wichtigsten Entwicklungsvariablen weiterhin eine bestimmende Rolle behält. Trotz der bestehenden Schwierigkeiten muß vermieden werden, daß die Unternehmen mit ausländischem Kapital objektiv als der effiziente und dynamische Sektor erscheinen und der Rest der Wirtschaft zurückbleibt und die ineffizienten Bereiche des Systems akkumuliert. Dies ist ein weiterer Grund, um die Neuordnung der Wirtschaft unter einem neuen System der Wirtschaftslenkung zu vollenden, das sie organisch integriert und führt. Bei diesem Punkt zeigt sich ein ernstes Problem, das so schnell wie möglich gelöst werden muß. Als absehbar wurde, daß das Modell des extensiven Wachstums zu Ende ging und die Fehler offensichtlich wurden, gab es harte Kritik an dem von 1975 bis 1985 angewandten Sistema de Dirección y Planificación de la Economía (SDPE). Jenseits der damals geführten Debatte, ob dieses "System der Wirtschaftslenkung und -planung" selbst negativ sei oder ob die von ihm erzeugten Probleme durch seine falsche und unvollständige Anwendung entstanden waren, ist sicher, daß dieses Konzept die neuen wirtschaftlichen Herausforderungen nicht mehr lösen konnte. Daraus entstand die Notwendigkeit, das System durch ein neues, der augenblicklichen Situation angepaßtes, zu ersetzen. Dies ist natürlich eine ganz besonders komplexe Aufgabe, da sie bisher von keinem sozialistischen Land durchlaufen wurde. Die Krise der sozialistischen Länder Europas erklärt sich - zumindest im wirtschaftlichen Bereich - unter anderem aus der Unfähigkeit, von der Etappe extensiver Entwicklung und extensiven Wirtschaftswachstums zu einer Etappe intensiver Entwicklung überzugehen. Damit einher geht die Unfähigkeit, ein System der Organisation und Leitung der Wirtschaft aufzubauen, das sich den Erfordernissen der sozialistischen Entwicklung anpaßt. Der unter dem Namen "Perestroika" bekannte Versuch, der am Anfang das Ziel verkündete, diese Widersprüche und die neuen Probleme beim Aufbau des Sozialismus zu lösen, wandte sich am Ende gegen das System. Er schuf die Bedingungen für das Ende des Sozialismus in der UdSSR und damit ein ungeheures Wirtschaftschaos in der heutigen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Unserer Meinung nach liegen die grundlegenden Erklärungen für die Konterrevolution in Osteuropa in den historischen und vor allem politischen Gründen dieses Prozesses. Aber das Gewicht der Ökonomie und

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der wirtschaftspolitischen Projekte zu den verschiedenen Zeitpunkten sollte nicht unterschätzt werden. Für Kuba ist der Aufbau eines neuen Systems der Wirtschaftslenkung, das die Aufgaben verbindet, die sich im Moment stellen, eine schöpferische Herausforderung. Es geht nicht nur darum, die wirtschaftliche Reproduktion des sozialen Systems im engeren Sinne zu garantieren, sondern auch, seine politische Reproduktion zu erreichen. Seit 1986 wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen, um die hauptsächlichen Verzerrungen und Fehler des vorangehenden Systems der Wirtschaftslenkung zu korrigieren. Doch wurde es nicht durch ein neues System ersetzt. Die verschärfte Wirtschaftskrise durch die Auflösung des Sozialismus in Europa und das Verschwinden der UdSSR haben innerhalb der Wirtschaftspolitik eine Dynamik in Gang gesetzt, bei der es nur noch um die Lösung der dringendsten Probleme ging. Die Suche nach einem neuen System der Wirtschaftslenkung ist dabei in den Hintergrund gerückt. Unserer Meinung nach muß diese Aufgabe so schnell wie möglich wieder in Angriff genommen werden. Dies wird umso dringender, desto mehr Akteure in der Wirtschaft auftauchen, wie dies vor allem durch den Eintritt ausländischen Kapitals der Fall ist. Das anzustrebende System der Wirtschaftslenkung muß auf organische Weise die Formen definieren, nach denen die Sektoren miteinander verflochten werden, sowie die Eigentumsformen, den jeweiligen Grad von Autonomie und Unterordnung von Unternehmen, den Einsatz und den Charakter von staatlicher Planung, die Funktionsweise von Banken, die Normen, die Preisbildungsmechanismen, das Steuersystem, Lohnstaffelungen et cetera. Nach und nach sind eine Reihe von wichtigen Änderungen eingeführt worden. 500 Unternehmen, das sind 23 Prozent aller im Land existierenden, sind zu einem System der Eigenfinanzierung in Devisen übergegangen, und es wurde eine generelle Preisreform beschlossen. Ein integraler Systemvorschlag jedoch ist noch nicht präsentiert worden. Ein grundlegendes Prinzip des neuen Systems der Wirtschaftslenkung sollte es sein, die Einnahmen von Arbeitern und Betrieben stärker an die Ergebnisse ihrer Arbeit und der Unternehmensführung zu binden sowie die größtmögliche Übereinstimmung zwischen individuellen, unternehmerischen und nationalen Interessen herzustellen. Die Definition dieses Systems muß zu einem besonders komplexen Zeitpunkt erfolgen, an dem die notwendige Zentralisierung im Umgang mit den knappen Ressourcen, die die Krise aufzwingt, in Widerspruch steht zu der Dezentralisierung, die für die Herausbildung eines neuen Systems notwendig ist. *

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Mehr als drei Jahrzehnte nach ihrem Beginn zwingen die internationalen Veränderungen die Kubanische Revolution dazu, Beziehungen zu einer Welt einzugehen, die andere, oft sogar feindliche politische, wirtschaftliche sowie soziale Logiken und Werte hat. Für ein kleines, unterentwikkeltes, nach außen offenes Land, das von einer Weltmacht angegriffen wird, sind dies unvorstellbar große Herausforderungen. Natürlich kann Kuba nicht genau so bleiben wie früher, als die Welt eine andere war. Die Situation erfordert Änderungen und Anpassungen, um die Revolution zu aktualisieren und zu verbessern. Worum es geht, ist im Kern, die historischen Ziele eines vor über 100 Jahren begonnenen Prozesses zu bewahren, die in der Sozialistischen Revolution Gestalt angenommen haben: nationale Unabhängigkeit, soziale Gleichheit, Volksdemokratie und ökonomische Entwicklung. Um unter den gegebenen Bedingungen diese Prinzipien weiterhin zu garantieren, bedarf es einer strategischen Anpassung des revolutionären Projekts. Die nötigen Änderungen im Sinne einer höheren Effizienz in der Wirtschaft und einer stärkeren demokratischen Partizipation in der Politik müssen ausgehend von der Volksmacht durchgeführt werden. Ohne Revolution würde das Land in seinen historischen Errungenschaften um ein Jahrhundert zurückfallen; die Unabhängigkeit wäre gefährdet. Der Augenblick erfordert es, realistisch zu sein und klar die Größe der Schwierigkeiten zu sehen. Es war die Absicht dieser Arbeit, die wirtschaftlichen Probleme in ihrer ganzen Härte darzustellen und die zu bewältigenden Aufgaben zu durchdenken. Obwohl das Bild der Wirtschaft sich äußerst komplex darstellt, müssen auch die ökonomischen, politischen und moralischen Reserven berücksichtigt werden, die das Land besitzt, um die Schwierigkeiten zu meistern. Dazu gehören insbesondere der Charakter des kubanischen Volkes und das Gewicht seiner Geschichte.

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El Soneto del Plan Alimentario La yuca que venía de Lituania, el mango, dulce fruto de Cracovia, el ñame, que es oriundo de Varsovia y el café que se siembra en Alemania. La malanga amarilla de Rumania, el boniato moldavo y su dulzura; de Siberia el mamey, con su textura y el verde plátano, que cultiva Ucrania. Todo eso falta, y no por culpa nuestra. Para cumplir el plan alimentario se libra una batalla ruda, intensa, y ya se advierta la primera muestra de que se hace el esfuerzo necesario: hay comida en la tele y en la prensa. anonym

Sonett vom Nahrungsmittelplan Der Maniok, der aus Litauen kam, die Mango, süße Frucht aus Krakau, der Ñame, der aus Warschau stammt und der Kaffee, den man in Deutschland pflanzt. Die gelbe Malanga aus Rumänien, der moldawische Boniato in seiner Feinheit aus Sibirien der Mamey in seiner Reinheit und die grünen Bananen aus der Ukraine. All dies fehlt uns, doch daran tragen wir keine Schuld. Um den Nahrungsmittelplan zu erfüllen, führt man eine harte, intensive Schlacht, und man sieht bereits den ersten Beweis, daß die notwendige Anstrengung erbracht wird: Es gibt Essen im Fernsehen und in der Zeitung. (Obersetzung: Bert Hoffmann)

Fidel Castro1

"Einige dieser Maßnahmen sind uns zuwider" Dokumentation der Rede zur Legalisierung des US-Dollars Werte Gäste! Compañeras und Compañeros! Wir beabsichtigten eine einfache und ruhige Feier, feierlich aber ernst, um mit Ihnen zu sprechen. Wir hätten gerne alle Teilnehmer des Forums von Säo Paulo eingeladen, das Diplomatische Corps, viele Journalisten; aber all das bedeutet Flugkosten, insbesondere Treibstoffverbrauch, und vor allem anderen wollten wir Sparsamkeit. Wir hätten gerne das ganze Volk von Santiago de Kuba dabeigehabt wie zu anderen Zeiten. Aber wir wissen, daß wir Probleme mit dem Transport haben, und daher wollten wir keine große Mobilisierung. Außerdem ist es auf solchen Großveranstaltungen nicht einfach zu reden. Das erfordert eine gewaltige körperliche Anstrengung. Wir gedenken hier des 40. Jahrestages des Beginns unseres bewaffneten revolutionären Kampfes und der 34 1/2 Jahre der Revolution, in denen wir ein enormes Werk geschaffen haben. Es ist nicht der Moment, all das aufzuzählen, was geschaffen wurde, es ist vielmehr der Moment, daran zu denken, wie wir das, was geschaffen wurde, verteidigen werden. Trotz der ungerechtfertigten und grausamen Blockade waren viele Dinge möglich, weil das sozialistische Lager existierte, und vor allem, weil die

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Kubas Staatschef Fidel Castro hielt diese Rede am 26. Juli 1993 zum 40. Jahrestag des Angriffs auf die Moncada-Kaserne, der in Kuba als Beginn der Revolution gilt und der wichtigste staatliche Feiertag ist. Auf spanisch ist sie vollständig abgedruckt in: Granma Internacional, 11.8.93, S. 2-5. Die hier dokumentierte Übersetzung wurde in einem Reader der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba e.V. publiziert ("a.d.Span.: mschw"). Sie wurde für die vorliegende Publikation teilweise gekürzt und sprachlich überarbeitet.

Sowjetunion existierte. Sie stellte eine gewaltige Stütze dar, nicht nur um der Blockade zu widerstehen, sondern auch den unzähligen Aggressionen des Imperialismus. Das erlaubte uns, eine wichtige Rolle in der Geschichte der letzten Jahrzehnte einzunehmen, das Ansehen unseres Landes wuchs beständig. Vorher kannte man Kuba in der Welt kaum, und wenn, dann kannte man es gerade nicht von seinen besten Seiten. Das sozialistische Lager ist zusammengebrochen. Ich will nicht sagen, daß die sozialistischen Länder in Osteuropa Ergebnisse echter Revolutionen waren. Aber die UdSSR war gewiß Ergebnis einer echten Revolution. Doch auch diese echte Revolution ist zusammengebrochen - wir könnten besser sagen: Man hat sie zusammenbrechen lassen. Und dies bedeutet für unser Land einen fürchterlichen Schlag in jeder Hinsicht, denn es hat uns politisch, militärisch und vor allem wirtschaftlich geschadet. Ich will keine Zahlen wiederholen. Trotzdem ist es notwendig, daran zu erinnern, wie unser Land, ausgehend von Einfuhren für 8.139 Millionen Dollar, die es 1989 erhielt, drei Jahre später nur noch für 2.236 Millionen Dollar Waren erhielt. Dabei ist diese drastische Reduzierung nicht innerhalb von drei Jahren vor sich gegangen, sondern praktisch innerhalb eines Jahre, zwischen 1991 und 1992. Um noch genauer zu sein: Schon 1990 begannen die Einschränkungen. Aber die wirklich brutalen Reduzierungen erfolgten in dem Moment, als die UdSSR zerfiel und wir uns praktisch einer doppelten Blockade ausgesetzt sahen. Das Jahr 1992 war hart. Aber als wären die Prüfungen noch nicht ausreichend gewesen, traten sehr ungünstige Umstände in anderer Hinsicht auf, um unsere Situation zu verschärfen. Das zweite Halbjahr 1992 war sehr trocken, und das erste Halbjahr 1993 war, vom Klima her gesehen, wirklich infernalisch. Der sogenannte Jahrhundertsturm fegte über mehr als die Hälfte der Insel, von West nach Ost, zu einer Zeit, zu der es sonst eigentlich keine Unwetter oder Wirbelstürme gibt. Während der Zuckerrohrernte gab es ständige Regenfälle, und unsere Zuckerproduktion, die 1992 bei sieben Millionen Tonnen gelegen hatte - eine Sache, die bedeutsam war wie eine wahre Heldentat, - reduzierte sich erheblich. Ausgehend von 7.030.000 Tonnen Zucker, die während der Ernte 1991/92 produziert worden waren, verringerte sich die Produktion 1992/93 auf 4.280.000 Tonnen, das heißt 2.750.000 Tonnen weniger. Sicherlich, wir hatten für dieses Jahr keine sieben Millionen Tonnen eingeplant. Wir leiden derzeit unter den Folgen des Mangels an Düngemitteln und anderen Problemen. Aber wir hatten auf eine Zuckerrohrernte von etwas über sechs Millionen Tonnen gehofft. Nun verlieren wir in diesem Jahr Einnahmen von annähernd 450 Millionen Dollar, und das in einer Situation, in der sich unsere Importe praktisch schon auf 25 Prozent verringert haben. Ich wiederhole: In diesem Jahr haben wir beim 45

Zucker, allein beim Zucker, 450 Millionen Dollar weniger. Und für dieses Jahr erwarten wir Einfuhren in Höhe von rund 1.719 Millionen Dollar. Der Jahrhundertsturm hat Schäden von schätzungsweise rund einer Milliarde Dollar angerichtet; insbesondere war ein großer Teil der Tabakernte betroffen, ein großer Teil der Bananenplantagen und anderer Pflanzungen. Er verursachte auch erhebliche Schäden an Wohnhäusern, Industrieanlagen, landwirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen, was leider die Situation noch weiter verschlimmerte. Hinzu kamen weitere ungünstige Einflüsse: Der Preis für Sintermaterial und Nickeloxid sank um mehr als 1.000 Dollar pro Tonne - zum Teil die Folge der Überschüsse an Erzen, die die früheren sozialistischen Länder besaßen und aus ihren Reserven heraus auf den Markt brachten, was zu einem erheblichen Preisverfall bei diesen Rohstoffen führte. Die Preise für Nickelsulfat sanken um etwa 2.000 Dollar pro Tonne, die Preise für Garnelen sanken um 1.600 Dollar, die Preise für Langusten um mehr als 500 Dollar. Praktisch alle Exportprodukte fielen im Preis. Abgesehen von den erlittenen Schäden - wie die bereits erwähnten beim Tabak - verringerten sich dadurch unsere Exporte und Deviseneinnahmen. Das ist die Situation, die ich Ihnen in aller Offenheit und mit aller Freimütigkeit darstelle - und zwar gerade nicht, damit Sie sich grämen und mutlos werden, sondern damit Sie die Wahrheit kennen. Ich weiß, daß sich um diese Veranstaltung zum 40. Jahrestag in Santiago de Cuba enorme Erwartungen gebildet haben, und zwar nicht nur in Kuba, sondern auch außerhalb Kubas. Nun gut, wenigstens dient sie als Beweis dafür, daß es die kubanische Revolution gibt und daß Kuba etwas bedeutet. Es waren Maßnahmenpakete im Gespräch, Zauberformeln. Aber es gibt keine Maßnahmenpakete, es gibt auch keine Zauberformeln und kann sie auch nicht geben. Wenn wir tatsächlich Dinge aus dem Hut zaubern könnten, würden wir als allererstes die Welt vom Imperialismus befreien, und zwar ohne einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen. (Applaus) Eines unserer ernstesten Probleme - und mit einigen dieser Dinge muß sich unsere Öffentlichkeit anfangen zu befassen; unsere öffentliche Meinung beschäftigt sich zwar reichlich damit, aber, wie ich denke, noch nicht ausreichend - ist unser gravierender Mangel an konvertierbaren Devisen. Und ich spreche von konvertierbaren Devisen, weil das die einzigen sind, für die wir heutzutage etwas einkaufen können. Früher gab es konvertible Devisen und Verrechnungs-Devisen: der Rubel, die DDRMark, die Währungen der sozialistischen Länder. Mit dem Verschwinden der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers verschwanden diese Verrechnungsdevisen. Es verblieben noch einige Vereinbarungen dieser Art mit China und mit Vietnam, aber das Gros unseres Handels wurde mit den europäischen sozialistischen Ländern und der UdSSR abgewickelt. 46

Heute muß man alles in konvertiblen Devisen bezahlen, bis zum letzten Centavo. Wir müssen mit den Erlösen unserer Produkte bezahlen, die sich, wie ich schon sagte, sehr verringert haben und die auch von der internationalen Wirtschaftskrise beeinträchtigt sind. Aber es müssen viele Dinge für diese Devisen gekauft werden, vor allem Treibstoff, damit das Land weiterhin mobil bleibt. Und mit dem Treibstoff haben wir ein besonderes Problem, das die Situation extrem verschärft. Es unterscheidet sich von den ersten Jahren der Revolution, als wir zum Weltmarktpreis acht Tonnen Treibstoff für eine Tonne Zucker bekamen. Und man muß das sagen, wiederholen, deutlich machen, denn heute, da das Öl ja einen Monopolpreis hat, und der Zucker auf dem Weltmarkt einen, wie wir oft gesagt haben, Müllhaldenpreis, einen Minimalpreis, kann man für eine Tonne Zucker nur 1,4 oder 1,5 Tonnen Öl kaufen. Dieses Problem hatte das Land nicht im Jahr 1959, und auch nicht 1960, auch nicht, als die Blockade verhängt wurde und die Sowjets uns zu Hilfe kamen, indem sie Zucker von uns kauften - damals bezahlten sie uns dafür den Weltmarktpreis - und uns dafür Öl verkauften. Später, aufgrund des Ausbaus der Beziehungen, wurden unsere Produkte - Zukker und andere - zu wirklich gerechten Preisen abgenommen. Und als die Ölpreise anstiegen, stiegen parallel auch die Preise unseres Zuckers durch die Vereinbarungen, die wir mit der Sowjetunion hatten. Das ist eines der ernsten Probleme, die das Land hat. Und mit Devisen muß man Öl kaufen, muß man Nahrungsmittel kaufen, muß man Medikamente kaufen, muß man Rohstoffe kaufen, muß man Ersatzteile kaufen, muß man alles das kaufen. Wie sind wir bisher unter diesem brutalen Preisverfall mit dem Importvolumen des Landes zurechtgekommen? Es ist unglaublich und eine wahrhaft historische Heldentat, daß das Leben im Land trotz der großen Opfer organisiert funktionieren konnte. Man kann diese Probleme, die über Nacht für uns mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers entstanden sind, nicht in einigen Tagen, in einigen Monaten oder in einigen Jahren lösen. Wann werden wir wieder in der Lage sein, über acht Milliarden Dollar zu verfügen? Man muß darüber nachdenken. Alle die, die aufrichtig dem Land, der Revolution helfen wollen, müssen darüber nachdenken, wann wir das wieder können. Und das Land verliert natürlich nicht die Hoffnung, daß wir das eines Tages wieder erreichen, aber heute ist dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen. Wir stehen deshalb vor der Notwendigkeit, nach Deviseneinnahmen zu suchen. Wir tun das auf verschiedene Weise. Der Tourismus wächst, und die Einkünfte daraus steigen jährlich um einen hohen Prozentsatz. Der Tourismusbereich erzielte bereits annähernd 500 Millionen Dollar an Bruttoeinnahmen, und für 1993 sollen es mehr als 500 Millionen Dollar 47

werden - Brutto- nicht Nettoeinnahmen. Diese Einnahmen wachsen mit einer jährlichen Steigerungsrate zwischen 30 und 40 Prozent. Aber das ist unbedeutend neben den Zahlen und dem Umfang der Importfähigkeit, die das Land verloren hat. Unsere nationale Ölproduktion vergrößert sich, aber es ist noch sehr wenig verglichen mit dem großen Bedarf an Treibstoff. Das Land muß ja mindestens sieben Millionen Tonnen importieren - mindestens! - , damit die Wirtschaft in Gang bleibt, damit die Ökonomie unter vielen Schwierigkeiten funktioniert. Früher haben wir fast 14 Millionen Tonnen verbraucht, die aus der Sowjetunion kamen. Die Bevölkerung war gewachsen, die Elektrifizierung hatte 95 Prozent der Wohnungen erreicht, man hatte bereits das elektrische Netz ausgebaut und das ganze Netz elektrischer Generatoren, um diese Energie für 95 Prozent unserer Familien in der Stadt und auf dem Land zu liefern. Die Steigerung unserer Ölproduktion hilft jetzt manchmal, entscheidende Anlagen in Gang zu setzen oder die Stromerzeugung zu unterstützen, aber sie gleicht nicht unseren Bedarf an Treibstoff aus. Deshalb ist die Frage der Steigerung von konvertiblen Deviseneinnahmen für das Land lebensnotwendig. Einige Maßnahmen, über die bereits gesprochen wurde, führen in diese Richtung. Man hat so auch die berühmte Straffreiheit für den Besitz konvertibler Devisen erwähnt. Dieses eine Wort, dieser eine Satz hat eine ganze Reihe von Spekulationen und Gerüchten hervorgerufen. Es ist eines der Mittel, um die Deviseneinnahmen zu erhöhen. Eine andere Maßnahme ist die Ausweitung von Genehmigungen für Familienbesuche kubanischer Bürger oder Bürger kubanischer Abstammung, die im Ausland leben. Ein weiteres Mittel, um das Ziel zu erreichen, ist eine größere Öffnung für ausländische Kapitalinvestitionen. Wer hätte uns das vorhergesagt, Shafik [Handal; Comandante der FMLN, El Salvador - Anm. d.Ü.])? Daß wir, die wir so prinzipiell und so vehement ausländische Kapitalinvestitionen bekämpft haben, sie jetzt als dringende Notwendigkeit sehen, nachdem das sozialistische Lager verschwunden ist, aus dem wir Fabriken erhielten, Kredite, große Mengen von Gütern und woher wir nichts mehr erhalten, weder aus einem sozialistischen Lager noch aus einer UdSSR, die beide nicht mehr existieren, nichts von irgendeiner internationalen Finanzinstitution, die alle vollständig von den Vereinigten Staaten beherrscht werden. Nun denn, größere Öffnung für ausländische Investitionen, das ist eines der Rezepte, die wir heute haben, in der schwierigen Situation, mit der wir konfrontiert sind. Alle Produktions- und Dienstleistungsbereiche ankurbeln, die konvertible Devisen erwirtschaften, mehr Anstrengungen im Ausbau und der Nutzung der Kapazitäten in den touristischen Einrichtungen, das sind erfolgversprechende Mittel, die wir maximal einset48

zen müssen. Auch die Vermarktung und der Export von Produkten der pharmazeutischen und biotechnologischen Industrie muß so weit wie möglich beschleunigt werden. Wir müssen auch verschiedene Maßnahmen verwirklichen, die sich auf unsere Binnenwirtschaft und unsere Dienstleistungen beziehen. Ich will sie hier nicht aufzählen, weil ich nicht Ideen vorstellen will, die sich um Fragen drehen, die sorgfältig überdacht und abgewogen sein sollten, auch wenn wir mit aller Eile handeln müssen. Unter Druck oder Zeitdruck zu handeln, bedeutet nicht, Dinge schlecht zu machen, abenteuerliche Initiativen zu ergreifen oder Sachen zu tun, die später eine ganze Reihe von unvorhergesehenen Konsequenzen haben. Neben anderen Faktoren ist es unabdingbar, die Frage nach dem Überschuß an zirkulierendem Geld zu stellen; dieser Währungsüberhang erreicht Grenzen, die wirklich sehr schädlich sind. Die Etappe der Revolution, in der wir den höchsten Überschuß an zirkulierendem Geld hatten, war das Jahr 1970, es waren ungefähr 3,5 Milliarden in Umlauf. Heute gibt es eine größere Bevölkerung, selbstverständlich ist auch die Wirtschaft seit damals gewachsen, aber heute ist dreimal soviel Geld in Umlauf als 1970, und zwar etwa neun Milliarden Pesos. 1970 war es möglich, Methoden zu entwickeln, diesen Überschuß zu reduzieren, Methoden, die uns derzeit nicht zur Verfügung stehen. Wodurch ist das zirkulierende Geld dermaßen stark angewachsen? Einfach weil nicht einmal in der Período Especial die Revolution bereit war, bereit ist, noch bereit sein wird, das Volk zu opfern. In anderen Ländern hat man die bekannten Schock-Methoden angewandt: Die Freigabe der Preise, mit wahrhaft schrecklichen Auswirkungen auf Rentner, auf alle, die ein geringes Einkommen haben. Man sucht einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage und opfert unbarmherzig die großen Massen. Aber unsere Revolution setzte nicht einmal in der Período Especial auch nur einen einzigen Arbeiter auf die Straße, ließ keinen einzigen Bürger im Stich, keinen Rentner, kein einziges Kind, keine einzige Mutter, keine Kleinfamilie mit niedrigem Einkommen. Sie ließ keinen Universitätsabsolventen ohne Anstellung, Tausende von graduierten Medizinern, Ingenieure, unterschiedliche Spezialisten unserer Universitäten, alle erhalten eine feste Anstellung, bevor sie die Universität verlassen. Sie haben das Recht, mindestens das, was ihnen zusteht, das Wenige, was ihnen zusteht, zu erhalten, ohne irgend jemanden darum bitten zu müssen, denn sie kaufen es sich von ihrem Lohn. Die drastische Verringerung der Konsumgüter hat ein Ungleichgewicht geschaffen zwischen dem im Umlauf befindlichen Geld und den Konsumgütern; logischerweise hat sich dieses Geld angesammelt. Es gibt viele Menschen in diesem Land, die mit dem leben, was sie haben. Aber

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es gibt auch einen Teil von Leuten, die diese Situation ausnützen, um auf viele unterschiedliche Arten zu spekulieren. Die berühmte Straffreiheit für Devisenbesitz wurde als Idee viel diskutiert. Was sind die Quellen dieser Devisen? Es gibt verschiedene. Die Öffnung für ausländische Investitionen führt zu einer großen Zahl von Büros, darin arbeitendem Personal und Deviseneinnahmen, die in der einen oder anderen Form in bestimmte Sektoren gelangen. Der Tourismus ist eine der Hauptquellen von konvertiblen Devisen, die auf unterschiedlichen Wegen zu den Menschen gelangen. Die Geldsendungen aus dem Ausland sind eine andere wesentliche Quelle für Devisen, die im Lande zirkulieren, genauer: die im Besitz der Leute sind. Eine ganze Zeit lang existierte ein System, mittels dessen man Geld in Devisen überweisen konnte, das man in unseren Bankinstituten in Pesos wechselte. Aber in der Situation der Periodo Especial verliert der Peso stark an Wert, und es gibt deshalb niemanden, der Devisen schickt, um sie bei der Nationalbank in Pesos zu wechseln. Man sucht andere Mittel, um sie zu schicken, und sie dringen praktisch heimlich ins Land ein. Es ist unmöglich, das zu verhindern, denn es reisen Hunderttausende von Touristen ein, und es genügt, daß ein kleiner Teil von ihnen dies zu dem Zweck tut, ausländische Währungen zu übergeben. Und sie können dies tun. Wir werden unsere Polizei nicht dazu verwenden, alle Devisen zu jagen, die über den Tourismus ins Land kommen, denn dann hätten wir keinen Tourismus mehr. Die berühmten Trinkgelder, eine weltweite Angewohnheit, gegen die wir seit langer Zeit kämpfen, waren eine Realität, die sich schließlich und endlich durchgesetzt hat. Es gab die entsprechenden Mechanismen, und viele in der Gastronomie Beschäftigte wechselten ihre DevisenTrinkgelder Eins zu Eins in kubanische Pesos. Aber je mehr der kubanische Peso an Wert verlor, desto mehr reduzierte sich der Tausch von Devisen in Pesos. Sie wurden angesammelt und zirkulierten in der einen oder anderen Form, weil es Geschäfte für Touristen gibt. Manchmal war es der Angestellte selber, der zum Touristen sagte: "Kaufen Sie mir ein Paar Schuhe, oder kaufen Sie mir dieses oder jenes. Geben Sie mir kein Geld, denn mit dem Geld kann ich nichts kaufen. Tun Sie mir den Gefallen und kaufen Sie mir dies." Oder man sagte dem Touristen: "Wenn Sie mir ein Trinkgeld geben wollen, geben Sie es mir in Naturalien." All das ist dem Tourismus wirklich nicht gerade förderlich. Es gab innerhalb des Landes noch eine andere Form von Einkünften, nicht in Form von Geld, sondern in Form von Waren. Diese Paketsendungen gibt es seit langem, und sie wurden mit einer hohen Gebühr belegt, vor allem, weil es sich um Luxusgüter handelte oder jedenfalls nicht um so notwendige Dinge wie Medikamente und Nahrungsmittel. Nach Beginn der Periodo Especial haben wir für eine bestimmte Zeit die 50

hohen Gebührensätze beibehalten, um dafür andere Waren zu schicken. Allerdings reduzierte man die Beträge stark, die für Medikamentensendungen zu zahlen waren, und es ist noch nicht lange her, daß die Verschickung von Lebensmittelpaketen gestattet wurde. Denn wenn es einen Mangel an Medikamenten gibt, und es kommen Tausende von Paketen mit Medikamenten an, dann ist das kein Schaden für das Land, vielmehr nützt es dem Land in einer Zeit, da Mangel herrscht. Es hätte keinen Sinn, dies zu verbieten. Es ist eine Form der Hilfe, und man muß bedenken, was Medikamente bedeuten. Wenn Tausende von Familien, Zehntausend, Hunderttausend ein Lebensmittelpaket erhalten können, schadet das nicht dem Land. Geldsendungen gibt es überall auf der Welt. Es gibt zahlreiche Länder, in denen die Haupteinkünfte an konvertierbarer Währung die Geldsendungen aus dem Ausland sind. Es sind Milliarden, die zum Beispiel Mexikaner in ihr Land zurückschicken, genauso im Fall der Dominikanischen Republik oder bei vielen anderen Bürgern, die aus wirtschaftlichen Gründen emigriert sind. In Kuba hat es unterschiedliche Auswanderungsbewegungen in die Vereinigten Staaten und andere Länder gegeben. Vor der Revolution emigrierten ziemlich viele Leute aus ökonomischen Gründen in die USA, obwohl man ihnen die Einreise verweigerte oder stark einschränkte. Seit der Revolution emigrierte eine Anzahl von Leuten aus politischen Gründen, angefangen bei den Batista-Anhängern. Später folgten all jene, die das Land aus Anlaß der revolutionären Gesetze zur Agrarreform, zur Stadtreform sowie all jener Maßnahmen verließen, die die privilegierten Sektoren des Landes berührten. Aber wie der Imperialismus Schritt für Schritt die Türen für jene öffnete, die Kuba verlassen wollten, um Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Techniker und Facharbeiter abzuziehen - um so viele Leute abzuziehen, wie gehen wollten, - ergriffen viele Leute die durch die Revolution entstandene Gelegenheit, aus wirklich wirtschaftlichen Gründen zu emigrieren eine Wanderungsbewegung, wie sie in der ganzen Welt auftritt, aus den weniger entwickelten Ländern, aus den ärmeren Ländern in die reicheren Länder. Dies ist heute eine der größten Tragödien in der entwickelten kapitalistischen Welt, daß Hunderte von Millionen Menschen dorthin emigrieren wollen und man sie daran hindert. Es gibt auch viele Kubaner, die aus ökonomischen Gründen emigriert sind. Unabhängig davon, daß auch die politische Emigration selbst sich immer mehr zu einer wirtschaftlichen Emigration entwickelt. Nachdem sie sich niedergelassen haben, nachdem sie Geschäfte aufgebaut haben, spielt die Rückkehr in ihr Land für sie gar keine Rolle mehr, und sie entwickeln sich zu einer wichtigen ökonomischen Kraft.

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Gerade wegen der Konflikte mit den Vereinigten Staaten und mit den schlechtesten Elementen dieser Emigration waren wir in all diesen Angelegenheiten des Geldtransfers sehr strikt gewesen. Trotzdem war er nicht verboten, und in bestimmter Höhe wurde er normal über die Banken durchgeführt. Dies war eine Quelle der Devisen, die hier im Umlauf sind. Mit der Straffreiheit für Devisenbesitz verfolgt man unter anderem das Ziel, eine große Belastung für die Polizei zu vermeiden - zu vermeiden, daß ein Teil unserer Polizei damit beschäftigt ist, Devisen durch die ganze Republik zu verfolgen, und daß unsere Gerichte damit beschäftigt sind, Leute für Devisenbesitz zu bestrafen. So wie man andere Dinge legalisiert hat, kann man auch das legalisieren. Das ist der erste Gedanke: daß es nicht mehr, wie bislang, eine Straftat ist, konvertible Devisen zu besitzen. Man kann sogar Devisenkonten eröffnen, wenn man die Devisen auf Bankkonten haben möchte. Es ist klar, daß die Devisen keinerlei Sinn haben, wenn es keine Gelegenheit gibt, sie auszugeben. Heute gibt es diese Gelegenheit, weil mit dem Tourismus im Land viele Geschäfte eröffnet wurden, und, wie ich bereits erläuterte, kaufen diejenigen, die Devisen besitzen, auf die eine oder andere Weise in diesen Geschäften ein. Dahinter steht die Absicht, einen wesentlichen Teil dieser Devisen abzuschöpfen, aber nicht, indem man sie beschlagnahmt, sondern über ein Netz von Geschäften und Dienstleistungsbetrieben. Diese Strukturen haben wir aber noch nicht, obwohl es eine ganze Reihe von Geschäften gibt, die mit dem Tourismus verbunden sind. Man wird teilweise diese touristischen und andere bestehende Strukturen nutzen müssen, aber auch weitere Einrichtungen zu diesem Zweck schaffen. Ziel ist es, Devisen für das Land abzuschöpfen. Dies ist die wesentliche Bedeutung der Legalisierung des Besitzes von konvertierbaren Devisen. Dies war nun Anlaß für viele Untersuchungen: ob man die Auslandswährung so einführt, wie sie ist, gleiche Farbe und alles, der gleiche Geldschein. Eine Mehrheit der Fachleute neigt dazu, eine konvertierbare kubanische Währung auszugeben, oder Bescheinigungen, wie sie eine Reihe von kubanischen Bürgern verwenden, wenn sie verreisen und einen Teil dessen sparen - das ist schon länger erlaubt - , was sie für die Aufwendungen im Ausland erhalten. Das betrifft etwa Matrosen oder Flugzeugbesatzungen. Für verschiedene Personengruppen ist es schon länger erlaubt, daß sie in bestimmten Läden einkaufen, wofür sie Anrechtscheine erhalten. Sie tauschen die Devisen gegen Anrechtscheine. Die Mehrheit tendiert zu der Ausgabe einer nationalen konvertierbaren Währung. Aber das alles braucht Zeit, braucht ziemlich viel Zeit. Es gibt Dinge, bei denen abzusehen ist, wie sie sich entwickeln; aber da wir ja, wie es scheint, anfangs nicht über dieses nationale Zahlungsdokument verfügen, wird es notwendig sein, die Devisen selbst zu verwenden 52

- eine Reihe von konvertiblen Devisen, nicht eine einzige Währung, sondern verschiedene konvertierbare Devisen - , bis man über eine nationale konvertible Währung verfügen kann, die vom kubanischen Staat ausgegeben wird. Aber das braucht ziemlich viel Zeit, und die Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, müssen wir mit einer gewissen Dringlichkeit ergreifen. Das heißt nicht, daß diese Devisen den kubanischen Peso ersetzen werden. Jeder wird weiterhin in nationaler Währung alle seine Ausgaben bezahlen und auch seinen Lohn so erhalten. Das, was man über die Libreta [die Rationierungskarte, die jedem Kubaner zusteht], bekommt, wird man nicht in Devisen zahlen müssen. Wenn wir nur alle Millionen der Welt hätten, um jeden Bürger in konvertibler Währung zu bezahlen! Wie wunderbar! Die Stromausfälle wären zu Ende, viele Mangelerscheinungen hätten ein Ende! Viele Probleme wären gelöst, wenn wir sie herstellen könnten, wenn wir eine kleine Druckmaschine für Dollars hätten. Aber diese Maschinchen befinden sich in Washington, und sie sind, wie es scheint, sehr schwer nachzubauen, und außerdem kann man sie nicht legal nachbauen. Also müssen wir uns damit abfinden, daß wir keine Druckmaschine für Dollars, für Pfund Sterling oder für Deutsche Mark haben. Wir können nämlich nicht, noch wollen wir es, noch erstreben wir es, noch dürfen wir unter irgendwelchen Umständen Währungen anderer Länder herstellen. Ich rede darüber, wie Sie verstehen werden, im Spaß. Das heißt, daß wir die Devisen, die ausländische Währung derjenigen Länder, die eine weiter entwickelte Wirtschaft haben, erhalten müssen durch die Maßnahmen und Vorgehensweisen, über die wir derzeit sprechen, aber nicht, um unsere nationale Währung zu ersetzen, die unsere Währung bleiben wird. Wir werden sehen, was geschieht, denn das Leben, die Praxis müssen uns noch viele Dinge lehren. Doch wir sind dabei, die Maßnahmen zu ergreifen, damit wir in der Zukunft über eine nationale konvertierbare Währung verfügen können, so daß diejenigen, die Devisen mitbringen und etwas kaufen oder bezahlen möchten, sie in diese nationale Währung umtauschen. Diese Vorgehensweise haben die Chinesen eingeführt: die Touristen und alle übrigen tauschen um. Allerdings sind die Umstände nicht die gleichen, zwischen einem Land und einem anderen gibt es immer sehr große Unterschiede. Sie haben eine Währung, in die man die konvertiblen Devisen, die ins Land kommen, wechseln kann. Wir haben auf diese Möglichkeit verzichtet, aber der Peso wird letztendlich unsere Währung bleiben. Es wird dadurch möglich werden, daß einige auftreten und in Dollars kaufen wollen; aber wer jemandem etwas in Dollar bezahlt, während er das Recht hat, in Pesos zu bezahlen, handelt nicht richtig, weil er keine Verpflichtung hat, in Dollars - oder besser: in konvertibler Währung 53

zu bezahlen. Es wird einer kommen, der sagt: "Ich bringe dir die alte Kiste in Ordnung, wenn du mir Devisen dafür gibst." Und natürlich werden wir nicht die Polizei einsetzen, um alle diejenigen zu verfolgen, die ein altes Auto reparieren und dafür konvertierbare Devisen verlangen wollen, oder diejenigen, die sie ihnen geben. Unsere Polizei muß sich um andere Dinge kümmern, und so etwas muß man mit anderen Mitteln lösen, die nicht repressiv sind. Aber von den Bürgern wird viel abhängen, ob sie es zulassen werden, daß jemand sie übervorteilen, erpressen oder etwas von ihnen verlangen will; denn alle Güter und Dienstleistungen werden in nationaler Währung bezahlt werden, mit Ausnahme der Einrichtungen, die für den Tourismus oder für Geldsendungen in konvertibler Währung bestimmt sind. Alle diese ökonomischen Fragen und jegliche Maßnahme, welcher Art auch immer, geben natürlich Anlaß zu einer großen Anzahl von Meinungen. Und es urteilen nicht nur die normalen Bürger, es urteilen Tausende und Zehntausende von Fachleuten und von Personen, die Ökonomie studiert haben. Natürlich muß ich lachen, weil man mich fragen könnte, wo sie denn Ökonomie studiert haben; und wir haben wahrhaftig ausgezeichnete und sehr intelligente Companeros, aber, caramba!, sehen Sie, wo sie waren, um Ökonomie zu studieren! Sie waren nicht in Harvard, wo die Ökonomie des Kapitalismus gelehrt wird! Sie waren stattdessen im ehemals sozialistischen Lager, um die Ökonomie des Sozialismus zu studieren. Heute zeigt sich, daß dieser Sozialismus nicht existiert, und ich frage mich, was für einen Gebrauch wir von der Ökonomie des Sozialismus unter den Bedingungen der Periodo Especial machen können (Gelächter und Applaus). Im Studium der Wirtschaft gibt es natürlich viele allgemeine Grundsätze, und Karl Marx zeichnete sich gerade durch das Studium des Kapitalismus aus. Daher sollte ein marxistischer Ökonom besser als jeder andere über den Kapitalismus Bescheid wissen, wenn überhaupt jemand auf dieser Welt etwas über den Kapitalismus weiß. Natürlich habe ich nicht den geringsten Zweifel, daß Marx sehr viel wußte, aber jener Kapitalismus war ein anderer, der sich vom heutigen unterschied. Der heutige ist schlimmer, ist noch ausbeuterischer. (Gelächter) Aber gut, wir haben dieses Problem, daß viele Leute, die Politikwissenschaft studiert haben, die Ökonomie studiert haben, auch ihre Meinung haben, und es ist gut, daß sie eine Meinung haben, wir freuen uns darüber. Wenn sie uns doch eine Menge helfen könnten mit ihren Einschätzungen! Aber zur Zeit sind tausend Schulen politischer Ökonomie aufgekommen - ich spreche von tausend, um eine Zahl zu sagen. Wo immer drei oder vier Ökonomen sich treffen, haben sie schon eine Schule, haben sie schon ein Rezept und haben sie schon eine Formel, wie wir unsere Probleme lösen können.

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Aber es gibt tausend ökonomische Schulen. Es gibt einige, die die Devisen verteilen möchten, bevor sie eingenommen sind, wie ich zu einigen Compañeros im Spaß gesagt habe. Es gibt andere, die von einem Parallelmarkt sprechen. Ach, könnten wir bloß Parallelmärkte machen, wir würden schnell das Problem des Währungsüberhangs lösen, mit Preisen, die weit unter denen des Schwarzmarktes liegen. Hören Sie, nach einigen Monaten wäre der Geldüberschuß weg, wenn wir Parallelmärkte schaffen könnten. Aber: Was sollen wir auf den Parallelmärkten verkaufen? Man muß Waren verkaufen. Und woher nehmen wir das Geld, um diese Waren einzukaufen? Einige sagen mit sehr guter Logik: Man nimmt etwas Geld von dem, was überwiesen wird, und gibt das für den Parallelmarkt aus. Aber es ist so, daß wir andere, dringendere Notwendigkeiten und Prioritäten haben: Woher nehmen wir die Brennstoffe und die Treibstoffe für die Elektrizität und für alle die grundlegenden Tätigkeiten im Land? Woher nehmen wir die Devisen für die Nahrungsmittel, die über die Libreta verteilt werden? Woher nehmen wir die Devisen für die Medikamente, die wir täglich brauchen? Wir wissen, daß annähernd 300 verschiedene Medikamente fehlen. Woher nehmen wir die Rohmaterialien, wie beispielsweise Baumwolle oder Grundstoffe für Düngemittel? Wenn wir in einer Situation, wo wir die Importe von über acht Milliarden auf weniger als zwei Milliarden sinken sahen, die Devisen, die wir auf der einen Seite einnehmen, für die Beschaffung von Gütern für den Parallelmarkt verwenden, reduziert sich natürlich das in Umlauf befindliche Geld; aber wir hätten rundweg nichts, was wir den Menschen in die Geschäfte liefern könnten, und man könnte nicht mal mehr eine Glühbirne anmachen. Was ich sagen will, ist, daß diese Idee, die anscheinend logisch ist, heute in der Praxis unmöglich anzuwenden ist, weil wir jeden Centavo für lebenswichtige Dinge brauchen, die wichtiger sind, als einen Parallelmarkt zu organisieren. Die Idee des Parallelmarktes ist gut in einer anderen Epoche, in einem anderen Moment. Er hilft, Gelder einzunehmen, er verwandelt sich irgendwie zu einem Arbeitsanreiz, es ist ein Weg des Übergangs, bis vielleicht der Tag kommt, an dem die Libreta verschwindet. Wann wird dieser Tag sein? Mir scheint, daß er so weit entfernt ist, daß vielleicht die Enkel oder Urenkel von einigen von Ihnen diesen Tag erleben werden. Trotz allem, was man mir sagt, ist die Libreta das gerechteste System, das auf der Welt erfunden wurde. Jedesmal, wenn es in diesem Land ein knappes Produkt gab, und jene es kauften, die nicht arbeiteten und anstehen konnten oder einen Ersatzmann in der Schlange bezahlen konnten, dann kamen die Leute und forderten, es auf die Libreta zu setzen. Es sind die Leute selbst, die hunderte Male gefordert haben, daß man ein Produkt auf die Libreta setzte. Es gab hier Zeiten, in denen viele 55

Produkte frei verkauft wurden; weil sie einen höheren Preis hatten, gab es ein bedeutendes Angebot, und das richtete sich nach der Nachfrage. Aber es war einmütige Willenserklärung der Bevölkerung, daß, jedes Mal, wenn ein Produkt knapp wurde, man es auf die Libreta setzte. Wann werden wir von allen Waren ausreichend haben, damit sich ihre Verteilung über den veränderlichen Preis reguliert? Das Land muß dazu einen gewaltigen ökonomischen Entwicklungsstand erreichen oder auf die soziale Gerechtigkeit verzichten. (Zwischenrufe: Nein! Eher sterben wir! Niemals!) Wir können nicht verzweifelte Methoden übernehmen, und wir können auf diesem Gebiet auch keine abenteuerlichen Maßnahmen anwenden. Wir müssen schnell handeln, unter Zeitdruck. Aber wir müssen auch gut handeln, jene Dinge anpacken, die unter unseren sehr spezifischen Bedingungen, in den sehr unterschiedlichen Bereichen getan werden können und müssen. Wir dürfen niemals in die Irrtümer verfallen, denen die sozialistischen Länder verfallen sind oder die UdSSR. Denn in der UdSSR hatte man begonnen, darüber zu reden, daß man etwas verbessern wollte. Tatsächlich gab es in der UdSSR viele Fehlentwicklungen, wir wissen das wohl. Sie sagten, daß sie den Sozialismus verbessern wollten, und alle Welt war zufrieden, sehr gut, sie wollen den Sozialismus verbessern, was für eine großartige Sache, den Sozialismus zu verbessern. Der Sozialismus mußte verbessert werden. Aber er mußte mitnichten zerstört werden! Niemals hätte man dem Yankee-Imperialismus die Weltherrschaft schenken dürfen, wie sie das getan haben, ohne einen einzigen Schuß abzugeben! Man zerstörte die Geschichte in der Sowjetunion, machte das Schiff manövrierunfähig inmitten des Ozeans, ohne Ersatzteile und ohne Rettungsringe versenkte man das Schiff. Und welchen Schaden haben sie der Welt zugefügt! Welchen Schaden insbesondere jenem kleinen Land namens Kuba, das so standhaft war, so treu, so internationalistisch! Uns betraf das größte Ungemach, weil sich gegen uns der ganze Haß des Imperialismus richtete, weil wir hier vor seinen Toren waren, in seinem Hinterhof; und die Kühnheit hatten, eine Revolution zu machen und den Sozialismus aufzubauen, hier, 90 Meilen vor den Vereinigten Staaten und wenige Zoll von ihrer Marinebasis [in Guantänamo] entfernt. Das konnten sie uns nicht verzeihen, und der entstandene Haß mußte sehr groß sein. Daher war man so hart zu uns, so aggressiv, deshalb blockierte man uns so stark, und deshalb hatte die Existenz der Sowjetunion so eine große Bedeutung für uns. Jetzt haben wir allein weitergehen müssen, ohne sozialistisches Lager und ohne die UdSSR. Falls jemand den Mut, die Würde, den Patriotismus und die Ehre unseres Volkes auf die Probe stellen wollte, nun gut, man hat es durch das Geschehene getan (Applaus). 56

Wieviele Völker wären fähig gewesen zu dieser Tapferkeit, dieser Geistesgegenwart, dieser Prinzipienfestigkeit, wie es das kubanische Volk gewesen ist? Heute stecken wir in diesem schrecklichen Dilemma, das uns umfängt; aber unsere Revolution kann sich weder verkaufen noch ergeben (Applaus). Das Land kann weder verkauft noch ausgeliefert werden (Rufe aus dem Publikum: Eher sterben wir! Applaus). Heute hat unser Land eine vordringliche Aufgabe, die wir so definiert haben: Das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus zu retten (Applaus). Ich spreche von den Errungenschaften des Sozialismus, denn das ist es, worum wir heute kämpfen, aber ohne jemals auf den Sozialismus zu verzichten. Heute müssen wir das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus retten, was gleichbedeutend damit ist, das Recht zu verteidigen, seinen Aufbau in der Zukunft fortzusetzen. Wir würden niemals resignieren und darauf verzichten. Das ist es, was wir ausdrücken wollen, wenn wir sagen: Sozialismus oder Tod! Heute müssen wir Zugeständnisse machen, wie wir vor dem Forum erklärt haben. Wir haben die Insel auf der Landkarte aufteilen und eine internationale Ausschreibung machen müssen, damit ausländische Gesellschaften nach Öl forschen und bohren können - Explorationen, wie sie das nennen. Wir mußten ihnen einen Teil des Öls überlassen, das gefördert wird. Als die UdSSR existierte, führten sie diese Forschungen durch, wir machten die Bohrungen, und das Öl gehörte allein uns. Heute zwingen das Leben, die Wirklichkeit, die dramatische Situation, der die Welt ausgesetzt ist, diese unipolare Weltordnung, uns dazu, Dinge zu tun, die wir andernfalls nie getan hätten, wenn wir das Kapital und die notwendige Technologie gehabt hätten. Einige der neuen Investitionen sind ausschließlich unsere eigenen; vor allem auf dem pharmazeutischen Gebiet, in der Biotechnologie, in Forschungszentren, die wir mit unseren Mitteln geschaffen haben. Im Tourismusbereich haben wir zum Teil mit eigenen Mitteln investiert, aber wenn wir beschleunigt alle touristischen Möglichkeiten entwickeln wollen, können wir das nicht ohne ausländisches Kapital. Wir hätten es gerne, wenn wir weniger vom Tourismus abhängig sein würden, und während mehr als 20 Jahren arbeitete die Revolution für den nationalen Tourismus, nicht für den ausländischen Tourismus. Wirklich, wenn wir das Öl Kuwaits oder anderer Länder hätten, hätten wir den Tourismus praktisch ausschließlich zur Nutzung durch unsere Landsleute ausgebaut. Aber die derzeitigen Umstände zwingen uns dazu, den Tourismus generell zur Nutzung durch ausländische Touristen zu entwickeln und zu versuchen, damit jene konvertiblen Devisen zu erwirtschaften, die uns andere Probleme lösen, die für die Kubaner dringlicher sind als Tourismus.

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Allen unseren Bürgern gefällt natürlich der Urlaub, uns gefällt das Meer, und uns gefällt die Erholung. Aber das Leben zeigt uns ständig, daß es wichtigere Dinge gibt. Wenn jemand erkrankt, ist es wichtiger, die Gesundheit wiederzuerlangen, als 15 Ferientage an einem Strand zu verbringen. Das ist sicher. Und wir müssen heute die Prioritäten im Gesundheitswesen setzen. Wenn ich nun von Gesundheit spreche, erinnere ich mich, daß wir inmitten all' der Katastrophen von 1993 mit einer unbekannten Epidemie konfrontiert waren, die das Land viele Mittel und ungeheure Anstrengungen kostete. Heute können wir sagen, daß die Epidemie in einem wesentlichen Umfang zurückgeht. Ausgehend von der Ernährungs- und Vergiftungsthese, der wahrscheinlichsten, ohne jedoch andere mögliche Ursachen biologischen Ursprungs außer Acht zu lassen, haben wir dank der enormen Anstrengungen, die unser Volk innerhalb der Periodo Especial erbrachte, Zehntausenden von Menschen die Gesundheit wiedergegeben und durch die Vorsorgemaßnahmen wer weiß wieviele weitere Erkrankungen verhindert. Ich glaube, es gibt nicht ein einziges anderes Land auf der Welt, das an die gesamte Bevölkerung ein Vitaminpräparat zur täglichen Einnahme austeilt (Applaus). Es gibt kein Land, dem es durch soziale Vorsorge gelungen ist, elf Millionen Vitaminpillen täglich zu verteilen, um damit 100 Prozent des Bedarfs abzudecken. Elf Millionen! Allein die Produktion von elf Millionen Tabletten ist schon eine enorme Leistung. In den USA, einem so reichen Land, gibt es Millionen Kinder, die weder geimpft werden, noch irgendein vorbeugendes Medikament erhalten. Das ist eine Realität, und es ist eines der reichsten Länder der Welt. Das zeigt den Unterschied zwischen dem Kapitalismus und dem Sozialismus. Ich sagte Ihnen, daß wir bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus zu retten. Das bedeutet, daß wir nicht dogmatisch sein werden - weder dogmatisch noch verrückt. Einige sind vom Dogmatismus zur Verrücktheit gekommen, aber da wir nie dogmatisch gewesen sind, müssen wir auch nicht verrückt werden. Weder halten wir uns an Dogmen fest, noch machen wir Verrücktheiten; wir wenden die notwendigen Maßnahmen an. Heute müssen wir unsere Intelligenz schärfen und vervielfachen, aber der Erfolg wird vom Volk abhängen, von der Unterstützung durch das Volk, vom Verständnis durch das Volk. Einige dieser Maßnahmen sind uns zuwider, sie gefallen uns nicht. Wir haben uns so sehr an die Gleichheit gewöhnt, und mit Recht: So sehr haben wir uns an die Gerechtigkeit gewöhnt, daß wir darunter leiden, wenn wir sehen, daß jemand ein Privileg genießt, denn das kommt uns nicht in den Sinn. Aber gut, es wird diejenigen geben, die Privilegien

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haben, die die meisten nicht haben, weil sie einen Verwandten haben, weil sie Beziehungen haben, weil man ihnen Geld schickt. Am besten wäre es, wenn alle und jeder einzelne dieses Geld erhalten würden. Aber das Volk wird einen beachtlichen Teil dieses Geldes für seine lebenswichtigsten Bedürfnisse bekommen. Wir wollen etwas tun, damit sich das, was heute die Spekulanten ausnutzen, in eine Quelle des Einkommens verwandelt, damit die kommerziellen Erträge von allem, was ins Land kommt - durch Geldsendungen aus dem Ausland oder auf irgendeinem anderen Weg, durch Investitionen, Trinkgelder, Tourismus - , direkt der Volkswirtschaft zugute kommen. Das ist es, was wir beabsichtigen, was wir versuchen. Aber dafür braucht man Verständnis. Zermürben wir uns nicht innerlich. Das wird nicht die richtige Haltung eines Menschen sein, nicht die Haltung eines Revolutionärs. Niemals wird das die richtige Haltung des Revolutionärs sein, denn der Revolutionär verbringt sein Leben in Aufopferung. Ein Revolutionär denkt an sein Anliegen, an dessen Schönheit, und wenn er weiß, daß man zur Rettung dieser edlen und schönen Sache ein Privileg schlucken muß, ein Privileg dulden muß, und auch Dinge ansehen muß, die nicht vereinbar sind mit unseren strikten Vorstellungen von Gleichheit, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Bewußtsein diesen Realitäten anzupassen, die uns das Leben aufgezwungen hat, die wir uns nicht ausgesucht haben. Das geschieht nicht, um unsere Prinzipien über Bord zu werfen, sondern um ihnen treu zu sein; nicht um die revolutionären Ideen aufzugeben, sondern um diese zu retten. Das dafür Notwendige zu tun, dazu müssen wir entschlossen sein. Ich glaube, daß in keiner historischen Epoche sich irgendein Land in der Situation befand, in der unseres sich befunden hat, als das sozialistische Lager zusammenbrach und wir unter der unbarmherzigen Blockade der USA blieben. Welches Land hat sich vorher in einer so schwierigen Lage befunden, in einer solchen Período Especian Wie behandeln wir in einer Período Especial diese ökonomischen Fragen? Ich erinnere daran, daß die Período Especial nicht für Friedenszeiten konzipiert ist, sondern für Zeiten des Krieges. Niemand stellte sich jemals vor, daß wir eine "Sonderperiode in Friedenszeiten" würden erleben müssen, denn niemand stellte sich je vor, daß etwas, das so unerschütterlich und sicher wie die Sonne schien, eines Tages verschwinden würde, wie es beim Zerfall der Sowjetunion geschah. Aber wir haben die Sonderperiode in Friedenszeiten erleben müssen, und zwar für noch unbestimmte Dauer. Es ist logisch, daß die Fachleute und Ökonomen sich den Kopf zerbrechen. Aber ich wiederhole, daß alles abhängen wird von der Fähigkeit des Volkes, diese Realität zu verstehen, diese Probleme zu verstehen und die Maßnahmen zu unterstützen, die getroffen werden, um das Land zu retten. Dieser Satz, der an der Wand gegenüber erscheint, ist sehr gut, 59

nicht weil ich den glücklichen Einfall hatte, ihn eines Tages auszusprechen, sondern wegen seiner Aussage: Wir haben keine andere Alternative als den Sieg! (langer Applaus). Wir finden uns nicht mit der Niederlage ab, wir können das nicht tun. Es ist unmöglich, sich damit abzufinden, für ein Volk, dem es gelungen ist, die Freiheit zu erleben, und die Würde, die unser Volk erfahren hat. Entweder Sklaven und Bettler im Kapitalismus oder aufrechte Männer und Frauen an der Seite ihres Vaterlandes, der Revolution und des Sozialismus! Menschen aus Santiago, ich frage Euch, ob wir das Vaterland, die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus verteidigen werden bis zum letzten Atemzug oder nicht (Applaus und Ausrufe: JA!). Ich frage Euch, ob wir alle nur vorstellbaren Schwierigkeiten zu ertragen und zu überwinden in der Lage sein werden oder nicht (Ausrufe: JA!). Ich frage Euch, ob es etwas Größeres und Gerechteres als die Revolution geben kann (Ausrufe: NEIN!). Ich frage Euch, ob es etwas Größeres, Erhabeneres und mehr Geliebtes geben kann als unsere Märtyrer (Ausrufe: NEIN!). Dann sage und wiederhole ich in deren Namen: Sozialismus oder Tod! Vaterland oder Tod! Wir werden siegen!

(Beifallssturm)

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Cambio Cubano "Erklärung vom 19. August" Ein Vertrauensvotum aus Miami für die wirtschaftlichen Veränderungen in Kuba Cambio Cubano trat im März 1993 als neue politische Organisation des kubanischen Exils in Miami an die Öffentlichkeit. Ihre Führungsfigur ist mit Eloy Gutiérrez Menoyo ein "gestandener Castro-Gegner", der über 20 Jahre lang in Kuba im Gefängnis saß. Für Aufsehen sorgte so vor allem, daß Cambio Cubano mit einer ausgewiesen moderaten, auf den Dialog mit der Regierung in Havanna orientierten Programmatik gegründet wurde. Diese steht in offenem Widerspruch zu der unversöhnlichen Anti-Castro-Haltung, wie sie die von Jorge Mas Canosa geführte "KubanischAmerikanische Nationalstiftung" (CANF) - zweifelsohne die bislang politisch mächtigste und ambitionierteste Exilorganisation in Miami verkörpert. In der hier dokumentierten "Erklärung vom 19. August" (erschienen in: El Nuevo Herald, Miami, 23.8.93; Übers.: B.H.) steckt Eloy Gutiérrez Menoyo die Position von Cambio Cubano zu den wirtschaftspolitischen Maßnahmen der kubanischen Regierung und der wenige Wochen zuvor bekanntgegeben Dollarfreigabe ab.

Optimismus und Sorge Seit am 13. März diesen Jahres [1993] unsere Erklärung "Por Cuba, Por el cambio" ("Für Kuba, für den Wandel") veröffentlicht wurde, hat Cambio Cubano positive Schritte bei der Aufgabe der Versöhnung zwischen der kubanischen Regierung und der Opposition gemacht. Dies ist der Weg, der zur Demokratisierung des Landes führt. 61

Heute nun können wir sagen, daß wir uns optimistisch fühlen - auch wenn wir erkennen, daß Opposition und Regierung vor Tagen voller Schwierigkeiten stehen. Um eine Gegenseitigkeit des Vertrauens und unseres Austausches zu erreichen, ist es notwendig, mit Toleranz, Diskretion und gutem Willen vorzugehen. Und dazu gehört auch die Gewißheit, daß niemand als absolut unversöhnbar mit den Idealen von Frieden und Freiheit betrachtet werden sollte. Gleichwohl bereitet uns das Tempo Sorge, mit dem in Kuba die Probleme eines Uberlebens in der Verfolgung - die fast jeden Bürger trifft -, das Klima der NichtZustimmung und andere Faktoren anwachsen, die zu Erschütterungen führen könnten.

Embargo und Selbst-Embargo Wir sind mit zwei ernsten Hindernissen konfrontiert. Das von den Vereinigten Staaten verhängte Handelsembargo gegen Kuba hat direkten Einfluß auf die politischen Realitäten in unserem Land. Es behindert und verzögert den Prozeß seiner demokratischen Wiedereingliederung. Die kubanische Regierung ihrerseits hält ein Selbst-Embargo gegen die Freiheiten des kubanischen Volkes aufrecht und erschwert damit ebenfalls den Prozeß der Demokratisierung. Cambio Cubano arbeitet unermüdlich daran, dieses Damoklesschwert mit zwei Schneiden zu beseitigen. Auf der anderen Seite wenden wir uns gegen das sogenannte Demokratie-in-Kuba-Gesetz (Torricelli-Gesetz), das ein echtes Abkommen der Einmischung und ein Ergebnis der Pressionen von reaktionären Interessen des kubanischen Exils ist und das von der zivilisierten Welt in großer Breite als illegitim verurteilt worden ist.

Die Veränderungen in Kuba Dennoch: Nichts wird die Veränderungen in Kuba aufhalten können. Cambio Cubano definiert auf diese Weise seine Position hinsichtlich der jüngsten Maßnahmen der kubanischen Regierung. Wir ermuntern dazu, in sie Vertrauen zu haben, um eine neue Etappe für unser Land zu beginnen. Auch wenn die Gründe für diese Entscheidungen in der wirtschaftlichen Situation liegen, die das Land durchlebt, so können doch beide Seiten einen Willen zur Veränderung nicht ausschließen. Und wenn einige hinzufügen, daß diese Veränderungen Teil einer Etappe des opportunistischen Revisionismus sind, so glauben wir, daß im Angesicht der Trägheit es das Vernünftigste ist, in aller Klarheit für den Wandel zu optieren. Mit Behutsamkeit, Respekt und Optimismus - ohne daß wir unsere Vorbehalte verstecken würden - gibt 62

Cambio Cubano den Planern der Politik innerhalb der kubanischen Regierung ein Vertrauensvotum, um die Veränderungen zu stimulieren und damit wir - schon bald - neue und kühnere Entwicklungen erleben. Wir verstehen, daß die schrittweise Form der Veränderungen nicht aus der Eitelkeit gegnerischer Gruppen heraus infrage gestellt oder auf schub Weise durch Intrigen angegriffen werden darf. Nur die Mängel und Widersprüche oder auch das schob Tempo dieser Veränderungen anzuprangern, kann nicht ausreichend sein für uns, die wir mit Geduld daran arbeiten, das schwierige Gleichgewicht zu erreichen, das der kubanischen Nation tatsächlich hilft bei ihrer Suche nach Frieden und Fortschritt sowie bei der Aufrechterhaltung ihrer Souveränität. Auch wenn es offensichtlich scheinen mag, so kommen wir doch nicht umhin, auf der anderen Seite auch die kubanische Regierung zu gemahnen, daß es humanistisch und revolutionär wäre, diese neue Entspannung auch auf die Bereiche von Meinungs- und Gewissens-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit auszuweiten, die - unter dem Argument der externen Belagerung und der Gefahr der Konterrevolution - durch Gesetzeskonstruktionen beschnitten worden sind.

Die Veränderungen Erstens: Die Legalisierung des Devisenbesitzes Wenn wir diese neue Politik begrüßen, so weisen wir gleichzeitig darauf hin, daß sie von der - notwendigen - politischen Geste begleitet sein sollte, all jene aus den Gefängnissen zu entlassen, die wegen des Delikts des Besitzes eben dieser Devisen gegenwärtig Haftstrafen verbüßen. Ökonomisch bleibt die Freigabe des Dollars so positiv wie blaß, wenn mit ihr nicht umfassende wirtschaftliche Maßnahmen einhergehen, die die kubanische Ökonomie effizienter machen; und diese Effizienz müßte auf der Grundlage erreicht werden, daß sie eine Verbesserung für die weniger mächtige Mehrheit der Bevölkerung bedeutet und sie zu der Nutzerin und Nutznießerin jedweden Reichtums wird. Wir könnten uns fragen: Ist die Beibehaltung der Rationierungskarte ad eternum ein gangbarer Mechanismus, um soziale Gerechtigkeit und die solidarischen Ideale der Mehrheit zu gewährleisten inmitten von Maßnahmen, die offensichtlich neue Sektoren von Privilegierten in der Gesellschaft schaffen? So interessant es für die Neugierde eines jeden Beobachters ist, so gefährlich ist es für die kubanische Regierung, wenn mit dem erlaubten Zugang zu Dollars eine neue, überlegene sozio-ökonomische Gruppe geschaffen wird, die erstmals materielle Vorteile hat, ohne daß diese auf Verdiensten in ihrer phy63

sischen oder intellektuellen Arbeit basiert - und sich erst recht nicht nach dem Grad ihrer politischen Loyalität oder Unterstützung bemißt. Zweitens: Die erhöhte Zahl von Erlaubnissen für Familienbesuche von kubanischen Bürgern oder Bürgern kubanischer Abstammung, die im Ausland leben. Es ist ein universelles Recht, in sein Land ein- und ausreisen zu dürfen. Die kubanische Regierung sendet ein positives Signal ihrer Flexibilität aus; damit zu beginnen, die Kubaner innerhalb und außerhalb der Insel als eine Gemeinschaft zu sehen, ist ein positiver Schritt. Dennoch müßte diese Maßnahme auch auf jene Kubaner ausgeweitet werden, die in jüngster Zeit die Insel verlassen haben. Es ist an der Zeit, der Manipulation von Ein- und Ausreise der Kubaner in ihr Land je nach politischer Befindlichkeit der kubanischen Regierung ein Ende zu setzen. Drittens: Eine erweiterte Öffnung für Investitionen von Auslandskapital Viele Vorhaben für eine Steigerung der Investitionen in Lateinamerika haben zu Enttäuschungen geführt, weil sie für die Völker übermäßig defizitär blieben und währenddessen dem ausländischen Kapital gewaltige Vorteile brachten. Die kubanische Regierung muß daher Abkommen vorantreiben, die für das Auslandskapital interessant sind, aber deswegen nicht die Interessen des kubanischen Volkes beeinträchtigen. Gleichermaßen ist es notwendig, kreative Mechanismen zu entwickeln, die den Arbeitskollektiven eine Teilhabe an den Aktien des Staates an diesen Gemeinschaftsunternehmen erlauben. Tatsächlich ist es angebracht, daß die kubanische Regierung sich in die Richtung von Maßnahmen zur Entstaatlichung der Betriebe bewegt, in denen die "sectores populäres" (Volkssektoren) engagiert sind. Dies könnte über einen Eklektizismus von Formen, wie Selbstverwaltung, Miteigentümerschaft und Besitz via Anteilsaktien, erreicht werden. Mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt kann heute verhindert werden, daß es in Kuba wieder zu den extremen sozialen Unterschieden kommt, durch die sich die Schwarzen, die Mestizen und der gegenwärtig ärmste Teil der Bevölkerung sich von der Gesellschaft ausgeschlossen sehen würden. Damit würden erneut die schlimmsten Formen von Klassen- und Rassendiskriminierung erzeugt werden, so wie es bei der Errichtung der Ersten Republik der Fall war.

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Viertens: Die Förderung aller Produktions- und Dienstleistungsaktivitäten, die Deviseneinkünfte erbringen Die Aufgabe ist so groß, wie es die Regierung zuläßt. Es ist empfehlenswert, die freien Bauernmärkte wieder einzuführen, die einen Markt von Überschußproduktion darstellten. Es ist heute - mehr als zuvor - möglich, die Arbeiter in der Landwirtschaft zu Besitzern in den volkseigenen Gütern aufzuwerten. Es ist möglich, die Kontrolle der Kooperativen flexibler zu gestalten, so daß sie nicht der Starrheit eines zentralen Plans unterworfen sind Möglich ist es auch, die ungenutzten Ländereien an Familien, Gruppen und letzten Endes auch Individuen zu übergeben, die sich zur Bewirtschaftung des Landes verpflichten. Die Reform der Wirtschaft muß bei der Reform der Landwirtschaft beginnen.

Fünftens: Eine gesteigerte Anstrengung bei Bau und Betrieb der touristischen Einrichtungen. Wegen seiner natürlichen Geltung und Gangbarkeit muß der Tourismus-Sektor auf unserer Insel gefördert werden (wie, in unterschiedlichem Maße, auch Zucker und Nickel stimuliert werden können). Die touristischen "Enklaven" abzuschotten ist jedoch ein gefährlicher und schädlicher Schritt, der bislang eine moralisch integre Führung der Geschäfte behindert hat. Die kubanische Regierung muß sich von diesem Fehler überzeugen und nach Möglichkeiten zu seiner Behebung suchen, da diese Praxis ßr die nationale Bevölkerung diskriminierend und erniedrigend ist.

Schlußfolgerung Die genannten Maßnahmen der kubanischen Regierung müssen Schritte zum Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft und eines demokratischen Rechtsstaates sein. Wir ermutigen die kubanische Regierung dazu, die Veränderungen in einem Klima der Transparenz und absoluter Offenheit fortzusetzen, mit dem klaren Ziel, daß die wirtschaftlichen Veränderungen auch die ersehnten politischen Freiheiten und von keiner Angst beeinträchtigte Bürgerrechte mit sich bringen. Tausende von exilierten Kubanern arbeiten heute daran mit, zu irgendeiner Erleichterung der sozio-ökonomischen Krise beizutragen, die Kuba durchlebt. Cambio Cubano begrüßt diese Anstrengungen und versichert diesen Landsleuten - im Gegensatz zu der Rhetorik der Extremisten -, daß es nichts 65

Verwerfliches an diesen Akten der menschlichen Solidarität und der Liebe zur Familie und zum Heimatland gibt. Beginnen wir mit dem Übergang zu Formen eines friedlichen Miteinander, so daß wir es als Ehre empfinden können, auf der gleichen Erde zu leben. Wir haben die Hoffnung auf das Schicksal eines gemeinsamen Projektes aller Frauen und Männer Kubas gerade erst geweckt. Wichtig ist dies nicht nur wegen seiner Notwendigkeit und seiner Dringlichkeit, sondern weil es möglicherweise eines der gigantischen Unterfangen unserer Geschichte wird. Für Kuba, für den Wandel! Für Cambio Cubano! Eloy Gutiérrez Menoyo Miami/Florida, 19. August 1993

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Carmelo Mesa-Lago1

Ist Kuba auf dem Weg zur Marktwirtschaft? Probleme und Perspektiven der kubanischen Wirtschaftsreform

Als Antwort auf die aktuelle Wirtschaftskrise verließ sich die kubanische Regierung zunächst auf eine Politik, die im wesentlichen auf den externen Sektor konzentriert war. Die Wirtschaft des Landes wurde für Handel, ausländische Investitionen und internationalen Tourismus geöffnet. So entstand, zumindest den Gesetzen nach, eine duale Wirtschaft: Auf der einen Seite der externe Sektor, dem in wachsendem Maße Autonomie gewährt wurde und der dem Einfluß der Marktkräfte unterliegt; und auf der anderen Seite die interne kubanische Ökonomie, die nach wie vor in hohem Maße kollektivistisch, zentralisiert und von Marktkräften unangetastet blieb. Dieser Dualismus hat nicht nur zu Spannungen zwischen diesen beiden Wirtschaftssektoren geführt, sondern auch auf der politischen Ebene zu Spannungen zwischen Reformkräften, die für eine moderate Einführung von Marktmechanismen in die nationale Wirtschaft eintreten, und Orthodoxen, die dies noch immer ablehnen. In der Praxis allerdings haben die Marktkräfte bereits heimlich begonnen, die Ordnung der Gesetze und der Orthodoxie zu untergraben. Das Anwachsen der informellen Privatökonomie ist die Folge.

Carmelo Mesa-Lago ist Professor für Ökonomie und Lateinamerika-Studien an der Universität Pittsburgh (USA). Der vorliegende Text wurde erstmals am 2. Dezember 1993 unter dem Titel "Are Economic Reforms Propelling Cuba to the Market?" vor dem Council on Foreign Relations, N e w York City, präsentiert. Für den vorliegenden Band wurde dieser Aufsatz auf die Diskussion der internen R e f o r m der kubanischen Ökonomie beschränkt. Eine weitergehende Darstellung und Diskussion der außenwirtschaftlichen Veränderungen in Kuba durch den Autor findet sich in dem von ihm herausgegebenen Buch: Cuba After the Cold War, Pittsburgh, University of Pittsburgh Press, 1993, insbesondere S. 133-196. Einen generellen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte des sozialistischen Kuba bietet: Carmelo Mesa-Lago: Historia econömica de Cuba Socialista, Madrid, Alianza Editorial. — Übersetzung des Artikels: Bert H o f f m a n n .

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Im Sommer 1993 wurden nun einige marktorientierte Reformen in der nationalen kubanischen Wirtschaft durchgeführt. Unter dem Zwang der Realität hat die Regierung widerstrebend eine Reihe gesetzlicher Hemmnisse beseitigt. Diese Maßnahmen blieben jedoch zaghaft, griffen zu kurz, und setzten auf exzessive Regulierung, um die Entwicklung beständig unter Kontrolle zu halten.

A.

Kann Kuba das erfolgreiche chinesische Modell nachahmen?

Zahlreiche kubanische Wissenschaftler und Funktionäre glauben, daß eine Variante des chinesischen Reformmodells helfen sollte, die Krise der Insel zu überwinden. Das chinesische Rezept gradueller Marktreform plus politischer Repression hat sich als wirtschaftlich erfolgreich erwiesen: Zwischen 1978 und 1990 wuchs das Bruttosozialprodukt um 8,5% (199192: 7,5%), der Wert der Exporte vervierfachte sich, ausländische Direktinvestitionen stiegen um das Dreifache. China wurde von einem Importeur zu einem Exporteur von Nahrungsmitteln. Die Inflation betrug zwischen 1990 und 1992 durchschnittlich 3%, die offene Arbeitslosigkeit lag bei unter 1%, die Realeinkommen stiegen beträchtlich, und das bei den Banken deponierte Geld nahm um 26% zu (vgl. Perkins 1992). Der Erfolg des chinesischen Modells basierte jedoch auf Voraussetzungen und Veränderungen, die in Kuba nicht gegeben sind beziehungsweise noch nicht stattgefunden haben. Eine Schlüsselrolle etwa spielte Hongkong, das den größten Teil der Investitionen in China tätigte und als Vermittler in Handelsgeschäften fungierte. Aber die Analogie für Kuba wäre Miami, und die wohlhabenden Kubano-Amerikaner dort werden diese Rolle nicht spielen, solange in Kuba Fidel Castro an der Macht ist. Hinzu kommt, daß die USA mit China beste Handelsbeziehungen unterhalten (einschließlich Meistbegünstigungsklausel), US-Firmen dürfen dort investieren, und China ist Mitglied der Weltfinanzinstitutionen mit Sitz in den USA. Gegen Kuba hingegen halten die USA ein Handelsembargo aufrecht. Darüber hinaus hat China aber auch seine Landwirtschaft grundsätzlich umgestaltet, indem es Familien und Dörfern nicht nur unbefristete Verträge über die Nutzung des Landes gegeben hat, sondern auch die Freiheit, ihre Erzeugnisse zu freien Preisen zu verkaufen. Ebenso ist in China heute mehr als die Hälfte der Industrie in den Händen von Dörfern, Gruppen von Arbeitern oder Privatunternehmen. In Kuba hingegen war bis vor sehr kurzer Zeit Fidel Castro nicht nur öffentlich gegen jede 68

Änderung der Eigentumsverhältnisse in der heimischen Ökonomie, sondern er stemmte sich auch gegen jegliche Wiederbelebung der Freien Bauernmärkte, die mit guten Ergebnissen Anfang der 80er Jahre legalisiert worden waren, von ihm jedoch 1986 abgeschafft wurden. Im Sommer 1993 wurden einige Änderungen eingeführt, die einen Wandel in der Position Castros signalisieren könnten. Vor der Analyse dieser Maßnahmen soll jedoch ein zentrales Element der nationalen Wirtschaftspolitik diskutiert werden: der Nahrungsmittelplan (Plan Alimentario).

B.

Das Scheitern des Nahrungsmittelplans

Der Nahrungsmittelplan wurde 1990 begonnen und verfolgte zwei entscheidende Ziele. Erstens: In den Provinzen Havanna und Santiago, den beiden bevölkerungsreichsten Kubas, die Selbstversorgung mit Grün- und Knollengemüse zu erreichen und Überschüsse für andere Provinzen zu erzeugen. Und zweitens: Die Steigerung der Produktion von Agrarexporten (insbesondere Zucker und Zitrusfrüchte) sowie von Nahrungsmitteln für den nationalen Verbrauch (Reis, Kochbananen, Rindfleisch, Milch, Geflügel, Eier, Fische). Die Zieldaten des Plan Alimentario projektierten für 1989-95 folgende Steigerungen der Erträge: Milch um 121%, Schweinefleisch und Zitrusfrüchte um 100%, Knollengemüse um 49%, Zucker und Fisch um 39% und Eier um 29%. (Der Vergleich der tatsächlichen Ergebnisse mit den Erträgen im vorangehenden Jahrfünft 1984-89 zeigt stattdessen bei allen außer zwei der genannten Produkte einen Rückgang-) Die für die genannten Produktionsziele benötigten Voraussetzungen waren noch ehrgeiziger abgesteckt: - Der Zuwachs der landwirtschaftlichen Fläche mit systematischer Bewässerung sollte verdoppelt werden. (Die gesamte Fläche für Bewässerungslandwirtschaft erreichte in 31 Jahren 896.500 Hektar; in nur fünf Jahren sollte sie nun auf eine Million Hektar ausgeweitet werden.) - Die Mobilisierung von Arbeitern für die Landwirtschaft. Allein für die Provinz Havanna sollten jährlich 200.000 Arbeiter für je 15 Tage mobilisiert werden, was den Bau von 62 Arbeitscamps und 44 neuen Dörfern erforderlich machen würde. - Der Import von Bewässerungstechnik, Hunderten von Bulldozern, Lastwagen, Kränen und anderen Maschinen, sowie von Hunderttausenden Tonnen Düngemittel, Pestiziden, Herbiziden, Futtermitteln und Saatgut.

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- Die Entwicklung neuer Futtermittel für Schweine und Kühe sowie der Einsatz der Biotechnologie im Bereich des Saatguts. - Der Aufbau eines neuen Netzwerks von Kühl- und Lagerhäusern und eines neuen Wagenparks für die Versorgung von Hunderten von lokalen Lebensmittelläden. Im April 1992 gab Fidel Castro bekannt, daß mehrere der entscheidenden Grundlagen für den Nahrungsmittelplan gestoppt seien, so etwa der Bau von neuen Dämmen und Bewässerungssystemen, die Organisation neuer Arbeitsbrigaden und der Bau neuer Dörfer. Im November 1992 und Anfang 1993 räumte der oberste Wirtschaftsverantwortliche der kubanischen Regierung, Carlos Lage, ein, daß der Plan Alimentario nicht das Minimum an Ressourcen erhalten habe, um seine Ziele zu erreichen und die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen (Lage 1992 und 1993a). Hauptgrund sei der Rückgang der Importe zwischen 1989 und 1992: Düngemittel minus 81%, Futtermittel minus 72%, Fungizide und Herbizide minus 62%, für die Landwirtschaft verfügbarer Treibstoff minus 92%. Carlos Lage berichtete auch von einem ernsten Mangel an Ersatzteilen und Hindernissen in der Verteilung aufgrund von Transportproblemen. (Das kubanische Institut für Wirtschaftsforschung (IIE) fand heraus, daß die Produktion eines Pesos in den Arbeitscamps unter Einrechnung aller versteckten Kosten nicht weniger als das Elffache kostet.) Zu alledem kam auch noch der Hurrikan "Andrew" 1992 und das gewaltige Unwetter 1993 hinzu, die gravierende Schäden in der Landwirtschaft anrichteten. Der Verlust hierdurch wird auf eine Milliarde Pesos geschätzt. Statt des projektierten Zuwachses war das Ergebnis ein Rückgang in der Produktion von Geflügel, Rind- und Schweinefleisch. Zwischen 1990 und 1992 fiel die Milchproduktion auf die Hälfte. Die Erträge von Grünund Knollengemüse hätten jedoch, so Carlos Lage, im gleichen Zeitraum um 16% zugenommen. Durch den drastischen Rückgang bei anderen Nahrungsmitteln sei dieser Zuwachs jedoch unzureichend, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen (Lage 1993a).

C.

Kubas Sommer der Reform

Mit dem Plan Alimentario scheiterte der Grundpfeiler der staatlichen Wirtschaftsstrategie im Bereich der Binnenökonomie. Da auch die externe Strategie nicht in der Lage war, den wirtschaftlichen Niedergang aufzuhalten, sah sich die kubanische Führung im Sommer 1993 zu drei wichtigen Reformmaßnahmen gezwungen.

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1. Die Jagd nach dem Dollar a) Wachsender Schwarzmarkt und Dollarisierung Bis Mitte 1993 gelangten Dollars auf verschiedenen Wegen in die Hände von Kubanern: durch illegale Geldsendungen aus dem Ausland, ausländische Studenten und Touristen, Exilkubaner auf Rückbesuch in Kuba oder kubanische Angestellte, die im Ausland oder in Joint-venture-Unternehmen auf der Insel arbeiteten, sowie durch ausländische Investoren selbst. Alle diese Möglichkeiten waren illegal und wurden mit harten Geld- und Gefängnisstrafen geahndet. Kubanische Künstler, die im Ausland arbeiteten und dort in Devisen entlohnt wurden, mußten ihre Einkünfte der Regierung aushändigen und erhielten im Tausch kubanische Pesos. Für 104.000 US-Dollar, die ein berühmter kubanischer Maler bei einer Ausstellung in Mexiko verdiente, erhielt er von der Regierung 42.000 Pesos - nach dem Schwarzmarktkurs 700 US-Dollar. Er verließ daraufhin das Land. Wer im Ausland erbte, erhielt die Hälfte der Erbschaft in harter Währung ausgezahlt, die andere Hälfte in kubanischen Pesos zum offiziellen Wechselkurs. Wer von Verwandten in den USA Dollars bekam, mußte sie der Regierung übergeben, die ihm zwei Pesos pro Dollar zurückgab. Das gleiche galt für Exilkubaner, die die Insel besuchten. Büros in Miami organisierten illegale Geldsendungen nach Kuba zu einem Kurs von 30 Pesos pro Dollar und machten damit einen Gewinn von 50 Prozent. Diese starren Regelungen brachten Millionen von Kubanern dazu, die Gesetze zu verletzen: Wer Dollars hatte, ließ sich von Touristen die kostbaren Konsumgüter in den Hotelshops kaufen oder besorgte sich die Waren einfach auf dem Schwarzmarkt. Der Wert der Spareinlagen bei der Bank fiel auf das niedrigste Niveau seit der Revolution, weil die Leute ihr Geld von den Konten nahmen, um damit auf dem Schwarzmarkt kaufen zu können. Um dem Wertverlust des Peso zu entgehen, tauschten viele auch ihre Löhne sofort in Dollars um. Der Schwarzmarkt wuchs rapide an, wurde zunehmend dollarisiert und in steigendem Maße mit Waren versorgt, die aus der staatlichen Wirtschaft "abgezweigt" worden waren oder - im Falle der Lebensmittel - von privaten Bauern stammten. Spekulanten kauften auch in den staatlichen Dollarshops ein, um diese Ware auf dem Schwarzmarkt zu höheren Preisen weiterzuverkaufen. 1990 betrug der Wert des Schwarzhandels mit Konsumgütern 2 Milliarden Pesos, aber 1991 und '92 versiebenfachte sich dieser Wert auf 14 Milliarden Pesos. Der offizielle Einzelhandel stellte mit 7 Milliarden Pesos Umsatz nur noch ein Drittel [des gesamten Handelswerts in Pesos, nicht des Warenvolumens - Anm. B.H.; s. auch Carranza in diesem Band], 71

b) Legalisierung des Devisenbesitzes und Öffnung für Exilkubaner Angesichts der widrigen Realität begann die kubanische Regierung im Sommer 1993, das Gesetz über Devisenbesitz zu lockern. So wurde im Juni zunächst zehn Kategorien von Kubanern der Besitz von Dollars und der Einkauf in speziellen staatlichen Läden gestattet. Dies umfaßte Arbeiter in touristischen Einrichtungen und Joint-venture-Betrieben genauso wie im Ausland arbeitende Regierungsangestellte und Künstler. Als Experiment wurde in dem Tourismus-Badeort Varadero ein Geschäft eröffnet, in dem Kubaner informell mit Dollars einkaufen durften. Einen Monat später erklärte Fidel Castro der kubanischen Nationalversammlung, daß der Prozeß der Dollarisierung eine Realität sei, zum einen aufgrund der wirtschaftlichen Situation Kubas und zum anderen, weil es nicht genügend Polizisten gäbe, die Einhaltung der Gesetze durchzusetzen, sei es nun an der Zeit, die Gesetze zu ändern: Niemand würde mehr harte Währung nach Kuba schicken, wenn die für Pesos getauscht werden müsse, so Fidel Castro; und wenn die Regierung Touristen daran hindern wollte, Dollars in den Schwarzmarkt zu bringen, "dann würden wir keinen Tourismus mehr haben". Vor hundert Gästen aus der Linken Lateinamerikas, die zur Feier des 40. Jahrestags der "Revolutionären Bewegung 26. Juli" eingeladen worden waren [der Sturm auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 wird in Kuba als der Beginn der Revolution gefeiert - Anm. B.H.], räumte Castro bitter ein: "Heute zwingen uns das Leben [und] die Wirklichkeit dazu, Dinge zu tun, die wir sonst nie getan hätten ... Wir müssen Zugeständnisse machen..., um die Revolution und die Errungenschaften des Sozialismus zu retten" (Castro 1993, S. 4f.; s. die ausführliche Wiedergabe der Rede Castros in diesem Band - B.H.). Im Anschluß kündigte er die neue Politik an (die am 13. August als Gesetzesdekret Nr. 140 in Kraft trat 2 ): - Es wird den Kubanern erlaubt, ausländische Währungen zu besitzen und mit diesen direkt in speziellen Geschäften einzukaufen. - Die Regierung wird die Ausgabe einer "konvertierbaren nationalen Währung" (wie in China) überlegen, mit der knappe Waren gekauft werden können. - Die kubanische Binnenökonomie wird nach wie vor auf der Basis des Peso funktionieren, aber etliche Operationen (sogar Busse) könnten in Dollars zu bezahlen sein. - Kubaner dürfen Arbeiter anstellen (z. B. für Reparaturarbeiten) und diese in Dollars entlohnen.

2

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im folgenden nach: Castro 1993, S. 4-5 sowie "Decreto Ley N° 140" und "Información del Banco Nacional..."; beide in: Granma, 14. August 1993, S. 2.

- Das Rationierungssystem wird beibehalten ("Wann wird dieser Tag kommen, [an dem die Rationierungskarte verschwindet]?", so Castro in seiner Rede, um darauf selbst zu antworten: "Mir erscheint, daß dieser Tag so weit entfernt ist, daß ihn vielleicht die Enkel oder Urenkel von einigen von Ihnen noch erleben werden"). - Einer größeren Zahl von Exilkubanern wird der Besuch Kubas genehmigt werden, ihre Dollars werden willkommen sein. - Kubaner werden legal Bankkonten in Dollars eröffnen dürfen. Nicht nur US-Dollars sondern die meisten westlichen Währungen können nun frei nach Kuba eingeführt, von kubanischen Staatsbürgern besessen, gegen Pesos getauscht oder zum Kauf von Waren und Dienstleistungen verwendet werden. Hierfür ist keinerlei Identifikation nötig, lediglich zur Eröffnung eines Bankkontos muß der Inhaber sich ausweisen. Ein zweiter Punkt ist die verstärkte Öffnung für Besuche von Exilkubanern. Die Zahl der hierfür gewährten Visas (in der Regel für die Dauer von einer Woche) könnte von gegenwärtig 4.700 auf 23-40.000 pro Jahr ansteigen 3 . Sie wird dennoch beträchtlich unter den 800.000 Visas bleiben, die die kubanische Regierung auf dem Höhepunkt der Öffnung zum Exil in den Jahren 1979-80 erteilte. Die Visas werden in zwei bis drei Tagen ausgestellt werden und nicht mehr wie bislang erst nach mehreren Monaten oder gar Jahren. Die Exilkubaner können nun unbegrenzte Mengen an Dollars einführen und unterliegen keinem Umtausch zwang. Gegenwärtig verdient die kubanische Regierung 200-300 Millionen US-Dollar jährlich durch Geldsendungen aus dem Exil, sowie weitere sieben bis neun Millionen durch Besuche. Diese Zahlen könnten auf 600-1.200 Millionen bzw. 70-140 Millionen anwachsen. Auch wenn diese Politik eine verzweifelt benötigte Dollarspritze für die sterbenskranke kubanische Ökonomie bereitstellen mag, so wird sie die Misere doch nicht beheben. Allein um das wirtschaftliche Niveau von 1989 wieder zu erreichen, wären acht bis 16 Milliarden Dollar nötig. Zusätzliche positive Aspekte dieser neuen Maßnahmen sind darin zu sehen, daß sie Arbeitsanreize schaffen und tendenziell die Bedeutung des Schwarzmarkts zurückdrängen. Und auf der politischen Ebene führen sie zu einer Spaltung der kubanischen Exilgemeinde.

3

Die Quellen nennen hier verschiedene Zahlen. [Wiederholt ist auch die Zahl von 200.000 geplanten Visas jährlich zu hören gewesen, wovon jeweils 100.000 für Exilkubaner in den USA und 100.000 für in "Drittländern" Exilierte vorgesehen sein sollen. - Anm. B. H.].

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c) Negative Folgen der Dollar-Freigabe Die genannten Positiv-Effekte der Dollar-Legalisierung können teilweise oder ganz durch eine Reihe von Problemen und Nachteilen konterkariert werden. So muß die Regierung verstärkt Konsumgüter importieren, ein Netzwerk von gut bestückten Läden errichten und diese systematisch und regelmäßig mit hochwertigen Waren versorgen. In einem vergeblichen Versuch, unter Ignorierung der Marktgesetze ihre Profite zu erhöhen, hat die Regierung parallel zur Devisenfreigabe alle Preise in den Dollar-Läden um 50% erhöht. In dem Maße jedoch, in dem die Preise dort zu hoch angesetzt werden, verlieren sie die Konkurrenz mit dem Schwarzmarkt, und der Gewinn der Regierung wird entsprechend geschmälert. Viele Preise in den staatlichen Devisengeschäften liegen für den Großteil der Bevölkerung unerschwinglich hoch; beispielsweise kostet ein kleines Huhn fünf Dollar, ein Viertelpfund Kaffee 10,50 Dollar, ein Dutzend Eier 3,30 Dollar. Die Versorgung durch den Schwarzmarkt ist jedoch sehr viel unsicherer und unregelmäßiger als durch die staatlichen Läden. Viele Käufer suchen so zunächst auf dem Schwarzmarkt, und erst wenn sie dort das gewünschte Produkt nicht finden, gehen sie in die Dollar-Shops 4 . Als unmittelbare Folge wird sich aller Voraussicht nach der Wertverlust des kubanischen Peso beschleunigen. Kurzfristig, solange der Zufluß von Dollars aus dem Exil noch gering ist, wird die Nachfrage nach Dollars auf dem Schwarzmarkt ansteigen, um in den Devisenläden kaufen zu können. Mittelfristig sollte die Nachfrage nach Schwarzmarkt-Dollars bei jenen sinken, die harte Währung von ihren Familienangehörigen aus dem Ausland geschickt bekommen. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung, die keine engen Verwandten außerhalb der Insel haben (vermutlich die Mehrheit), wird jedoch weiterhin für den Erwerb von Dollars auf den Schwarzmarkt angewiesen sein (und zwar zu einem schlechteren Wechselkurs). Die Nachfrage dieses großen Teils der Gesellschaft nach Dollars wird gleich bleiben oder steigen, da sie jetzt legalen Zugang zu den Devisengeschäften haben. Langfristig könnte es zu einer Stabilisierung des Peso kommen, wenn die Regierung die erwähnten Bedingungen erfüllen kann - in der Tat jedoch eine äußerst schwierige Aufgabe. Derweil breiten sich Privilegien und Ungleichheit rasch aus: vermutlich sind gerade die treuesten Unterstützer der Revolution diejenigen, die am wenigsten Kontakt zu Verwandten im Exil haben - und damit auch wenig Zugang zu Dollars. (Das Gegenteil sollte bei Oppositionellen der Fall sein.) Am stärksten benachteiligt durch die Dollarisierung werden insbesondere die schwarzen Kubaner, denn bis auf drei Prozent sind die

'

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"Cuba Raises Prices for Dollar Items"; in: Miami Herald, 10.8.93, S. 1A und 6A, sowie Gesprächen mit kubanischen Wissenschaftlern.

Exilkubaner "Weiße", die Mehrheit der Bevölkerung auf der Insel hingegen Schwarze oder Mulatten. Ungleichheiten entstehen aber auch als Folge der Arbeitssituation. Wer im Schwarzmarkt oder im externen Sektor der kubanischen Wirtschaft arbeitet, etwa im Tourismus oder den Joint-venture-Betrieben, hat Zugang zu Dollars, wer im staatlichen Peso-Sektor arbeitet nicht. So kommt es, daß Köche, Barkeeper, Kellnerinnen, Taxifahrer, inoffizielle Klempner oder Schreiner sehr viel besser leben als Intellektuelle, Universitätsprofessoren, Ingenieure, Lehrer, Künstler, mittlere Funktionäre oder Ärzte 5 . Bei dieser zweiten Gruppe machen sich in wachsendem Maße Demoralisierung und Unzufriedenheit breit; viele suchen nach Jobs in der Dollarsphäre oder wollen das Land verlassen. In seiner Rede vom 26. Juli griff Castro dieses Problem auf und forderte die Benachteiligten auf, eine revolutionäre Haltung zu beweisen und Verständnis, Geduld und Opferbereitschaft zu zeigen. Derweil wurde aber auch Parteikadern erlaubt, den Kontakt zu Verwandten im Exil wieder aufzunehmen, um an Dollars zu kommen. Zusätzlich hat die Regierung jüngst ein Geschäft in Havanna eröffnet (weitere sollen folgen), das nur prämierten Spitzenarbeitern offensteht und in dem diese einige der sonst nur in den Dollar-Läden verkauften Waren für Pesos kaufen können. Die Gruppe der so ausgewählten umfaßt Zuckerschnitter, deren Brigaden mehr als eine halbe Tonne Zucker geerntet haben, für die Tabak- und Bohnenernte Mobilisierte sowie herausragende Mitglieder von Aibeits-contingentes und Arbeitscamps auf dem Land 6 . Ein letzter, aber keineswegs unwichtiger Punkt: Eine massive Besuchswelle von Kubano-Amerikanern könnte auch zu sozialen und politischen Spannungen in Kuba beitragen. So könnten diese Kubaner etwa Dissidenten und Menschenrechtsorganisationen mit Dollars versorgen. Die Regierung hat vermutlich einige dieser Probleme vorhergesehen und ist dabei, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. d) Andere Komplikationen: Die Haltung der US-Regierung und des Exils7 Zu den genannten Problemen kommen noch Behinderungsmaßnahmen von Seiten der US-Regierung sowie die lauwarme Reaktion der kubanischen Exilgemeinde in den USA hinzu. Die gegenwärtigen US-Gesetze 5

Soledad Cruz, in: Juventud Rebelde, 20. Juni 1993, S. 10, sowie Gesprächen mit kubanischen Wissenschaftlern.

6

Vgl. Castro 1993, S. 7 und Pablo Alfonso: "Abren tienda para obreros destacados", in: Nuevo Herald, ... 1993, S. 3A.

7

Dieser Abschnitt basiert auf Informationen, die zwischen 24. Juli und 15. November im Miami Herald veröffentlicht wurden.

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erlauben Kubano-Amerikanern Geldsendungen von maximal 300 Dollar pro Vierteljahr an enge Verwandte auf der Insel. Bei Besuchen in Kuba dürfen Exilkubaner aus den USA höchstens 700 Dollar pro Woche ausgeben. Das billigste Touristenhotel in Havanna kostet jedoch fast 600 Dollar pro Woche, so daß gerade 100 Dollar für Ausgaben und Geschenke bleiben. Einige der Paketangebote für Besuchsreisen kosten bis zu 1.200 Dollar. Für Verstöße drohen Strafen von bis zu 250.000 Dollar und/oder Gefängnis. Diese Gesetze sind jedoch schwer durchzusetzen: Dollars über die erlaubte Höchstmenge können illegal nach Kuba mitgenommen oder mit Freunden und über Drittländer geschickt werden. Eine Kontrolle der USA über die Ausgaben in Kuba selbst ist praktisch unmöglich. Das "Department of Transportation" der US-Regierung genehmigte zunächst die zusätzlichen Reisen von Exilkubanern. Anfang August 1993 erklärte der Staatssekretär für Interamerikanische Angelegenheiten jedoch vor dem zuständigen Ausschuß des Repräsentantenhauses (unter Vorsitz von Robert Torricelli, der 1992 das Gesetz zur Verschärfung des Embargos gegen Kuba eingebracht hatte), daß die Genehmigung für die Flüge nach Kuba auf unbegrenzte Zeit suspendiert sei. Im September wurden die Flüge dennoch erlaubt. Die US-Regierung besteht allerdings darauf, daß Unterkunft in den Touristenhotels nicht obligatorisch sein darf; wenn Kuba nur Besucher zuläßt, die ein komplettes Paketangebot gebucht haben, werde die Genehmigung wieder zurückgezogen. Genau wie die kubanischen Behörden sind aber auch die Reisebüros in den USA am Verkauf von Alles-inklusive-Paketen interessiert. Die ersten Prognosen sprachen optimistisch von sechs Flügen pro Woche und 40.000 Besuchern jährlich. Einen Monat nach Aufnahme des Flugverkehrs sind die Flüge - drei pro Woche ä 128 Plätze - nur zur Hälfte belegt. Als Gründe für diese dürftige Antwort sind zu nennen: - politischer Druck und eine öffentliche Kampagne in Miami gegen diese Reisen, weil die Kubano-Amerikaner mit diesen Fidel Castro helfen würden, an der Macht zu bleiben; - Verwirrung, ob Paketangebote zwingend sind oder ob man auch ohne sie reisen kann; - und drittens eine abwartende Haltung der Mehrheit der im Exil lebenden in der Hoffnung, daß eine geringe Resonanz Castro dazu zwingen wird, billigere Reiseangebote zu machen und die verbleibenden Restriktionen aufzuheben.

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2. "Arbeit auf eigene Rechnung" und Boom des informellen Sektors Selbständige Arbeit auf eigene Rechnung und kleine Privatunternehmen im nichtagrarischen Bereich haben im Laufe der Revolution zahlreiche Aufs und Abs erlebt. 1968 enteignete die Regierung 58.000 private Kleinbetriebe. 1971 wurde ein Gesetz gegen Müßiggang verabschiedet, das die Möglichkeiten für Arbeiten außerhalb der Staatswirtschaft deutlich einschränkte. 1978 wurde selbständige Arbeit wieder zugelassen und florierte in den 80er Jahren, auch wenn sie 1982 und erneut 1986 durch harsche Kritik Fidel Castros zurückgestutzt wurde. Die Wirtschaftskrise veränderte die Lage erneut, und 1991 erklärte ein Regierungsfunktionär, angesichts wachsender Arbeitslosigkeit erwäge man eine flexiblere Haltung gegenüber selbständiger Arbeit. Er zeigte sich allerdings auch darüber besorgt, daß sich damit die bereits verbreitete Praxis unter den Arbeitern in den Staatsbetrieben weiter verbreiten könnte, Materialien und Arbeitsmittel aller Art "abzuzweigen" und zu stehlen. Der IV. Parteikongreß 1991 beschloß die grundsätzliche Legalisierung selbständiger Arbeit auf eigene Rechnung, die jedoch noch zu definierenden Regelungen unterworfen bleiben würde (vgl. Mesa-Lago 1994). Nichtsdestotrotz warnte die Regierung Mitte 1992 die Staatsangestellten, daß sie nur dann ihre Arbeitsplätze verlassen dürften, um eine selbständige Arbeit aufzunehmen, wenn sie dafür eine Genehmigung hätten. Darüber hinaus könnten die auf eigene Rechnung Arbeitenden nur solche Materialien in der Produktion verwenden, die in den Staatsunternehmen überschüssig sind oder in staatlichen Läden gekauft wurden 8 . Im September 1993 wurden die hinausgeschobenen Regelungen endlich beschlossen und veröffentlicht: Selbständige "Arbeit auf eigene Rechnung" wurde akzeptiert, um kritische Versorgungsengpässe zu überwinden und neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen; der Staat würde dabei verhindern, daß diese Ausweitung "schädliche" Formen annimmt. a) Zu Tode reguliert? Die neuen Bestimmungen legen im Detail fest, wer Arbeit auf eigene Rechnung ausüben darf und wer nicht, welche Anforderungen dabei erfüllt werden müssen, die Höhe der Besteuerung und die Form der Kontrolle durch die Regierung 9 . Die Erlaubnis zu selbständiger Arbeit haben demzufolge:

8

Cuba en el mes, La Habana, Juni 1992, S. 26.

9

"Sobre el ejercicio del trabajo por cuenta propia", in: Granma, 9. September 1993, S. 4-5.

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- Staatsangestellte, die die Arbeitsdisziplin einhalten und in ihrer Freizeit auf eigene Rechnung arbeiten (eine staatliche Arbeit darf nicht aufgegeben werden, um sich full-time selbständiger Arbeit zu widmen); - Umzusetzende Arbeiter aus dem Staatssektor, die aufgrund von Personalkürzungen oder Schließung ihrer Betriebe arbeitslos sind (die staatlichen Kompensationszahlungen für die Arbeitslosigkeit werden je nach Höhe des neuen Einkommens reduziert oder ganz gestrichen); - sowie Rentner, Behinderte und Hausfrauen. Die Regierung gab eine Liste von 117 Berufen bekannt, in denen zukünftig selbständige Arbeit möglich ist. Die meisten davon liegen im Dienstleistungsbereich (z.B. Taxifahrer, Elektriker, Maurer, Zimmerleute, Klempner, Friseure, Fotografen, Gärtner, Dekorateure, Schneider, Köche, Hausangestellte, Babysitter usw.), ein Teil allerdings auch im Kleinhandwerk (Schuhmacher, Seifensieder) und in der Produktion des Primärsektors (Blumen, Fisch, Milchwaren, Haustiere). Alle diese Tätigkeiten können von der Regierung nach Belieben ausgeweitet oder eingeschränkt werden. Private Taxis stehen so jetzt in Konkurrenz zu den staatlichen und bieten Touristen oft um einiges billiger ihre Dienste an. Die häusliche Schuhherstellung, der Straßenverkauf von Limonade, Sandwiches oder Obst und sogar der Bereich der Hausangestellten (der kurz nach der Revolution praktisch verschwunden war) erleben einen Boom und werden in Dollars bezahlt. [Seit Dezember '93 haben private Tätigkeiten, wie der Verkauf von Blumen, der Betrieb von Kleinrestaurants u.ä., wieder zahlreiche Einschränkungen erfahren. - Anm. B. H..] Von der Möglichkeit selbständiger Arbeit ausgeschlossen sind: - führende Regierungsfunktionäre; - Universitätsabsolventen; - entlassene Arbeiter, die vom Staat in andere Bereiche umgesetzt werden; - Angestellte, die Mängel in der Arbeitsdisziplin gezeigt haben; - sowie Arbeiter in Bereichen oder Regionen, in denen es im staatlichen Sektor einen Arbeitskräftemangel gibt. Von besonderer Bedeutung ist das Verbot selbständiger Arbeit für die Angestellten im Erziehungs- und Gesundheitsbereich, den beiden meistgefeierten sozialen Errungenschaften der Revolution. In der Wiege des lateinamerikanischen Sozialismus käme ihre Privatisierung einem Sakrileg gleich. Arbeit auf eigene Rechnung unterliegt zahlreichen gesetzlichen Bedingungen: - Sie darf staatliche Wirtschaftsaktivitäten nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.

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- Die Arbeiter müssen sich bei der Arbeitsbehörde ihrer Gemeinde registrieren lassen, die die notwendige Erlaubnis auf Basis der Meinung des örtlichen Gemeinderats erteilt. - Die Arbeiter, die die Bewilligung erhalten, müssen für die Lizenz zahlen und in der Folge - einige wenige Beschäftigungen ausgenommen - einen fixen Steuersatz von 20 bis 80 Pesos entrichten (dies entspricht ca. 10-40% des kubanischen Durchschnittslohns, auf dem Schwarzmarkt jedoch umgerechnet nur 0,10 - 0,40 US-Dollar). Der Steuersatz könnte angehoben werden, wenn die Profite "übermäßig" sind. Später könnte er in eine progressive Steuer umgewandelt werden, die mit der Höhe des Gewinns ansteigt. - Es dürfen keine Angestellten gegen Lohn beschäftigt werden. Die selbständigen Arbeiter dürfen die Preise für ihre Waren und Dienstleistungen frei nach Angebot und Nachfrage festlegen. Bei "übermäßigen" Preisen darf die Regierung jedoch einschreiten. Staatliche Inspektoren sollen nicht nur Preise und Profit kontrollieren dürfen, sondern auch die Qualität, den hygienischen Standard sowie die Herkunft der verwendeten Materialien und Zutaten. Der Staat will erklärtermaßen die exzessive Ausbreitung von Straßenhändlern verhindern sowie das Aufkommen von Zwischenhändlern, die als "Parasiten" verdammt werden. Den Vorschriften zufolge dürfen Staatsbetriebe weder Produkte oder Dienstleistungen von den selbständig Arbeitenden kaufen noch ihnen Arbeitsmaterialien liefern. Hier finden sich allerdings große Gesetzeslücken, da solche Aktivitäten erlaubt sind, wenn sie "zum Nutzen der Bevölkerung" sind. b) Spannungen zwischen Orthodoxen und Reformern, Durchsetzbarkeit der Regelungen und andere Fragezeichen Die Vorschriften zur Arbeit auf eigene Rechnung schaffen nichts neues, sondern legalisieren nur einen Großteil des bislang sowieso Geschehenden. Sie sind dennoch ein halbherziger Schritt vorwärts und versuchen einem Prozeß Zügel anzulegen, der kaum aufzuhalten ist. Der Gesetzestext spiegelt dabei auch die politische Spannung wider zwischen denjenigen, die noch immer davor zurückschrecken, wirtschaftliche Machtpositionen des Staates aufzugeben, und marktorientierten Reformkräften. (Bezeichnenderweise wurde das Dokument von beiden Seiten unterzeichnet: Präsident Castro auf der einen und Finanzminister José Luis Rodriguez auf der anderen Seite.) Der gefundene Kompromiß ist ein konfliktives Gemisch, das widersprüchliche Signale an die Bevölkerung gibt und zur Nichtbefolgung des Gesetzes reizt. Die erste Frage ist, ob man sich registrieren läßt oder nicht. 1991 gab es 200.000 Kubaner, die in der einen oder anderen Form eine Genehmigung für selbständige Arbeit hatten. Offiziellen Schätzungen zufolge wa79

ren 600.000 weitere illegal tätig10. Heute mag die Zahl derer, die auf eigene Rechnung arbeiten wollen oder es bereits tun, zwischen 1,5 und 2 Millionen liegen. Anreize, sich registrieren zu lassen, sind die Sicherheit der Legalität gegen andernfalls drohende Denunziationen und Strafen sowie die Möglichkeit, unter bestimmten Umständen einige Waren und Dienstleistungen an den Staat verkaufen zu können. Es gibt allerdings auch Faktoren, die abschreckend wirken: Mit der Registrierung verliert man die Vorteile der heimlichen Arbeit und erlaubt stattdessen dem Staat Eingriffe, allen voran die Kontrolle über Preis, Profit und Arbeitsmaterialien. Hinzu kommt die zu zahlende Steuer, die gegenwärtig zwar sehr niedrig liegt, in Zukunft aber steigen könnte. Und dann die mühselige Prozedur, um die Erlaubnis zu erhalten: Warum Monate warten, wenn man doch gleich anfangen kann? Entlassene Arbeiter verlieren zudem durch die Registrierung ihr Anrecht auf Kompensationszahlungen für ihre Arbeitslosigkeit. Und zu guter Letzt besteht auch noch das Risiko, daß die politische Führung ihre Meinung wieder ändern und die registrierten Betriebe enteignen könnte, wie es bereits früher passiert ist. Eine andere Frage ist, ob der Staat in der Lage ist, die verabschiedeten Vorschriften und Regeln auch durchzusetzen. Kann die Regierung tatsächlich gegen Hunderttausende von unregistriert auf eigene Rechnung Arbeitenden vorgehen? Wieviele Inspektoren werden nötig sein, um die Hunderttausende von registrierten Mini-Betrieben zu kontrollieren, die oft nicht einmal feste Standorte haben, sondern als fliegende Straßenhändler arbeiten? Wie soll verhindert werden, daß auch Nichtfamilienmitglieder gegen Bezahlung als Arbeitskräfte eingesetzt werden? Was genau sind "übermäßige" Profite und Preise? Wann ist die Ausbreitung des Straßenverkaufs "exzessiv"? Inwieweit ist die Unklarheit dieser Formulierungen eine Waffe der Regierung gegen die Arbeit auf eigene Rechnung für den Fall, daß ihr der Prozeß außer Kontrolle geraten sollte? Die Antwort eines kubanischen Ökonomen auf alle diese Fragen war: Die Führung weiß, daß das Gesetz nicht durchsetzbar ist; die Einschränkungen seien aus ideologischen Gründen verkündet worden, um a) den Eindruck zu erwecken, daß der Staat noch immer die Kontrolle über die Wirtschaft behält, und um b) den von selbständiger Arbeit Ausgeschlossenen zu vermitteln, daß solche Tätigkeiten in eng begrenztem Rahmen stattfinden und die so Arbeitenden gezwungen sind, einen Teil ihrer Gewinne an die Gesellschaft abzugeben. In dem Maße, in dem die selbständige Arbeit zunimmt, wird auch die Nachfrage nach Inputs und Arbeitsmaterialien steigen, die entweder vom Staat hergestellt oder vom Staat importiert werden: Seifensieder werden Chemikalien brauchen, Maurer Steine, Taxifahrer Benzin, Schuhmacher

10

80

"Official Discusses Private Restrictions", Havanna, Notimex, 8.4.1992.

Leder usw. Bislang stammen diese Materialien aus dem Diebstahl in Staatsbetrieben, und diese illegale Praxis kann sich weiter ausbreiten. Jetzt sind aber auch zwei legale Wege möglich: Zum einen kann zumindest ein Teil in den staatlichen Dollar-Läden gekauft werden; zum anderen kann auch die Regierung selbst die benötigten Materialien an selbständig Arbeitende verkaufen, entweder für Dollars oder gegen eine Beteiligung an den Gewinnen. Die Regierung würde damit auch über eine einheimische Quelle verfügen, aus der die Dollar-Läden mit gefragten Waren versorgt werden könnten. Des weiteren stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Kapitals für diese neuen Privataktivitäten. Eigene oder von mehreren Arbeitern zusammengelegte Ersparnisse sind genauso denkbar wie Partnerschaften, in denen einer das Geld gibt und ein anderer damit arbeitet. Darüber hinaus könnten Exilkubaner eine wichtige Kapitalquelle bilden, sei es durch Geschenke oder durch Darlehen. Und schließlich ist es auch nicht völlig undenkbar, daß möglicherweise staatliche Betriebe Kapital bereitstellen, wenn sie dafür im Austausch an Gewinn oder Produktion teilhaben. Die große Frage aber bleibt, ob die politische Führung willens ist, in der Folge auch kühnere Schritte in Richtung Markt zu gehen. c) Die Zunahme illegaler Aktivitäten und steigende Kriminalität Eine Vielzahl wirtschaftlicher Aktivitäten wird bereits ohne Genehmigung der Behörden betrieben. Privathäuser werden in informelle Restaurants verwandelt, Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte auch frei Haus geliefert, und in der Nähe der Touristenzentren und Dollarshops bieten Verkäufer den Besuchern nahezu alles feil, von Ersatzteilen bis hin zum Papagei. Ein anderer Geschäftszweig, der derzeit weite Verbreitung findet, ist das sogenannte tumbao: Barkeeper in einem staatlichen Hotel oder Restaurant kaufen selbst eine Flasche Rum in einem Dollar-Shop, um aus dieser versteckt gehaltenen Flasche auf eigene Rechnung Drinks auszuschenken. In aller Regel bleibt dabei eine ansehnliche Summe als Profit in ihrer Tasche. Das gleiche funktioniert auch bei Snacks, Sandwiches und anderen Lebensmitteln. Sehr profitabel ist auch der illegale Verkauf von Benzin zu Preisen unterhalb der offiziellen Dollar-Tankstellen. In diesem Fall kann das Benzin allerdings nur aus staatlichen Betrieben "abgezweigt" sein. Ein hoher kubanischer Funktionär hat die Justiz zu einer härteren Gangart gegen Wirtschaftsverbrechen - und speziell gegen den Schwarzmarkt und illegale "Arbeit auf eigene Rechnung" - aufgefordert. Von Razzien gegen illegale Straßenhändler wird berichtet. Noch gravierender ist, daß die dramatischen Versorgungsengpässe, das Abschalten der Straßenbeleuchtung und die Verzweiflung der Leute zu einem rasanten An81

stieg von Diebstählen und Gewaltverbrechen geführt haben. Verbrechen gegen Touristen nehmen dabei genauso zu wie Vandalismus und Mordtaten. Als Reaktion wurden die Comités de Defensa de la Revolución (CDR) - in jedem Straßenblock organisierte "Komitees zur Verteidigung der Revolution" - zu verstärkter Wachsamkeit gegen Verbrechen aufgerufen, und die Regierungszeitung "Granma" forderte im September in einem ganzseitigen Editorial härteres Durchgreifen gegen kriminelle und asoziale Elemente 11 , Todesurteile und längere Haftstrafen als früher werden verhängt 12 . d) Eine Bilanz: Vorteile und Nachteile Wie im Fall der Dollar-Freigabe, so bringt auch die verstärkte Zulassung selbständiger Arbeit auf eigene Rechnung der Regierung sowohl Nutzen als auch Probleme. Auf der Seite der Vorteile sind zu nennen: - Verringerung der Arbeitslosigkeit und damit auch Reduzierung der Kompensationszahlungen für die entlassenen Arbeiter; - Steuereinnahmen; - bessere Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen und damit eine potentielle Minderung der Unzufriedenheit; - und das Mehrprodukt, das durch die selbständige Arbeit geschaffen wird. Das kubanische "Institut für interne Nachfrage und Wirtschaftsforschung" schätzt den jährlich durch den informellen Sektor geschaffenen Wert auf zwischen 11 und 17 Milliarden Pesos. Diese Zahl fließt nicht in die offizielle Berechnung des Materiellen Bruttoprodukts (PSG) ein, das 1993 vermutlich in einer ähnlichen Größenordnung rangierte (vgl. Mesa-Lago 1993c). Wenn man von 1,5 Millionen - legal oder informell - auf eigene Rechnung arbeitenden Kubanern ausgeht, dann entsprächen 17 Milliarden Pesos einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 11.333 Pesos, mehr als das Fünffache des kubanischen Durchschnittslohns. In dem Maße, in dem selbständige Arbeit zunimmt, wird ihr Anteil am Nationalprodukt mehr und mehr vorherrschend werden. Die Regierung könnte verschiedenen Schätzungen zufolge von den selbständig Arbeitenden eine jährliche Steuermenge von 280-400 Millionen Pesos kassieren 13 . Die Ersparnisse bei der Zahlung der Arbeitslosig-

"La tranquilidad ciudadana - una conquista irrenunciable"; in: Granma Internacional, 22.9.93. Gesprächen mit kubanischen Wissenschaftlern zufolge haben diese Maßnahmen auch die Unterstützung von Reformkräften. Diese fürchteten nämlich, daß ein Ausufern der Kriminalität von den Orthodoxen als Waffe gegen sie gewendet würde mit der Begründung, daß die Verbrechen eine Folge der Öffnung für Marktmechanismen seien. Zugrunde liegt die Kalkulation von 600.000 bis einer Million auf eigene Rechnung Arbeitenden und einer Steuer von durchschnittlich 480 Pesos pro Jahr.

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keitskompensation könnten zwischen 149 und 667 Millionen Pesos jährlich liegen. Angesichts dieses enormen Potentials mag man sich fragen, warum die Regierung diese Art von Arbeit einschränkt anstatt sie zu stimulieren. Wo der staatliche Wirtschaftssektor unter beträchtlichem Arbeitskräfteüberschuß leidet, warum läßt die Regierung diese dann nicht freizügig in den informellen Sektor abwandern? Wie bereits erwähnt, mag ein Teil der Antwort sein, daß die Einschränkungen lediglich symbolischer Natur sind und die Regierung sie nicht umsetzen will oder kann. Aber es gibt auch andere, gewichtigere Gründe. Eine bedeutende Verschiebung der Arbeitskräfte vom staatlichen in den informellen Sektor würde zu einer sinkenden Produktion in ersterem und einem Anstieg der Produktion in letzterem führen. In dem Maße, in dem der informelle Sektor anwächst, wird auch ein wachsender Teil der Bevölkerung wirtschaftlich weitgehend unabhängig vom Staat. Darüber hinaus wird die Akkumulation von Kapital in diesem informellen Sektor zunehmen, und er wird in der Folge auch bessere Löhne anbieten können. Dieser expandierende unabhängige Privatsektor könnte zudem Druck auf die Regierung ausüben, eine weitere wirtschaftliche Liberalisierung zuzulassen, die etwa auch das Recht beinhaltet, Lohnarbeiter zu beschäftigen. Erfolg im informellen Sektor wird zudem noch größere Anreize für die Ausweitung illegaler Marktaktivitäten schaffen. Und er wird sowohl die durch die Dollar-Freigabe entstandenen Ungleichheiten verschärfen als auch die Unzufriedenheit all jener, denen die Ausübung selbständiger Arbeit verboten ist (vgl. etwa die in diesem Band dokumentierte Meinungsumfrage - Anm. B.H.). Kurz gesagt, steht die Regierung vor einem entscheidenden Dilemma, in dem sie eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation mit dem Verlust wirtschaftlicher (und möglicherweise auch politischer) Macht bezahlen muß.

3. Reform in der Landwirtschaft Im September 1993 veröffentlichte die kubanische Parteizeitung eine Grundsatzerklärung über eine Reform im Landwirtschaftssektor, die obskur und verwirrend war14. Offiziell wurden als Gründe für die Reform genannt: - Steigerung der Effizienz in der Landwirtschaft; - Schaffung von Arbeitsanreizen, um mit dem geringstmöglichen Einsatz an Ressourcen einen Zuwachs der Produktion zu erreichen;

"Acuerdo del Büro Politico"; in: Granma, 15.9.93, S. 1. Auch zwei Monate später waren noch kaum zusätzliche Informationen publik gemacht worden.

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- die Selbstfinanzierung der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten, ihre Selbstversorgung in den Bereichen Produktion und Konsum sowie ihre Verwaltungsautonomie. Der unausgesprochene Grund für die Maßnahmen war das Scheitern des Nahrungsmittelplans. Zwei verschiedene Bereiche umfaßt die Reform: a) Die genossenschaftliche Nutzung der Staatsbetriebe Die landwirtschaftlichen Staatsbetriebe sollen umgewandelt werden in sogenannte "Unidades Básicas de Producción Cooperativa" (UBPC) (Basiseinheiten der Genossenschaftlichen Produktion). Diese UBPCs werden entsprechend der Übereinkunft zwischen den Mitgliedern der Genossenschaft (den bisherigen Arbeitern der Staatsbetriebe) und dem Staat gegründet. Der Staat wird dabei die Arbeit der UBPCs kontrollieren und das Recht haben, jede UBPC bei Verstößen gegen die Vereinbarungen wieder aufzulösen. Die neue Regelung wahrt grundsätzlich die enorme Macht des Staates. Die UBPC erhält für unbestimmte Zeit das kostenlose Nutzungsrecht für das Land (dies bleibt jedoch Eigentum des Staates). Theoretisch ist die UBPC auch Besitzerin ihrer Produktion. Über die Selbstversorgung der Genossenschaftsmitglieder hinaus müssen jedoch alle Erzeugnisse an den Staat verkauft werden, und zwar zu den Bedingungen, die der Staat festlegt. Die Regierung kann daher den Preis genauso bestimmen wie das Plansoll der Produktion oder welche Produkte angebaut werden. Die UBPCs erhalten ein staatliches Darlehen, um die gegenwärtigen Einrichtungen und Maschinen des Betriebes sowie Düngemittel, Samen etc. zu kaufen. Aus dem Ertrag ihrer Produktion muß die UBPC dann ihren Mitgliedern Anteile auszahlen, das Darlehen bedienen (möglicherweise mit Zinsen) sowie Steuern zahlen. Über den darüber hinausgehenden Gewinn kann die UBPC selbst entscheiden. Jede UBPC muß ein Bankkonto eröffnen und ordentliche Buchführung gewährleisten. Sie ist dem Staat rechnungspflichtig. Ihr Leiter wird von den Mitgliedern gewählt. Ein kubanischer Wissenschaftler hat im Gespräch die letztendliche Verteilung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Kuba wie folgt vorhergesagt: 80% als UBPC, 12% in Form der bisherigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (CPA), 6% Privatbauern und nur noch 2% als Staatsbetriebe. Die ersten UBPCs wurden vor Beginn der Zuckerrohrernte im November 1993 in zuckerproduzierenden Betrieben organisiert. Die Regierung hat bereits öffentlich eingeräumt, daß aufgrund des Mangels an Treibstoff, Düngemitteln und anderen Inputs die kommende Zuckerernte

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sogar noch niedriger ausfallen könnte als die von 1992/93 (4,2 Mio t)15. In einem verzweifelten Versuch, mit weniger Ressourcen Zucker zu produzieren, greift die Regierung auf die Genossenschaften zurück. b) Regelungen für ungenutzte Kleinflächen Eine Neuerung ist auch, daß kleine Flächen brachliegenden Staatslandes (nicht größer als ein halber Hektar), die so isoliert liegen, daß sie nicht in Genossenschaften oder Staatsbetriebe eingegliedert werden können, zur Nutzung an Rentner oder "Personen, die aus gerechtfertigten Gründen nicht in der Lage sind, in der Landwirtschaft zu arbeiten"16 vergeben werden können. Die vorgeschlagene Organisationsform bleibt unklar 17 , sie ist jedoch in jedem Falle staatlicher Kontrolle untergeordnet. Das Ziel ist immer die Selbstversorgung der Familie. Der Unterschied zu den UBPCs liegt auf der Hand: Es handelt sich um kleine Flächen brachliegenden Landes, die Individuen für den Eigenverbrauch überlassen werden. Die Nutzer werden vermutlich keine Verpflichtung haben, Überschüsse zu produzieren und an den Staat zu verkaufen. Dennoch ist es denkbar, daß auf den Parzellen kleine Überschüsse erwirtschaftet werden, die dann illegal auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden. Informationen über die Gesamtfläche an Land, auf der eine solche Nutzung möglich ist, liegen nicht vor, sie ist vermutlich jedoch nicht sehr groß. c) Kann die "Dritte Agrarreform" funktionieren? Die neuen Maßnahmen kommen einer dritten Agrarreform in Kuba gleich, nachdem die ersten beiden (1959 und 1963) den Besitz und die Kontrolle des Staates über die Landwirtschaft generalisierten. Dabei ist die Struktur der neuen UBPC-Genossenschaften den bereits bestehenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, den CPAs, sehr ähnlich. Diese wurden 1977 eingeführt, und im Vergleich zu den Privatbauern waren sie chronisch ineffizient. Sie verloren viele Mitglieder (die scharenweise, die Vorzüge der nun auch für sie wirksamen Sozialversicherung ausnutzend, in Pension gingen), sie verschuldeten sich schnell, und die Hälfte von ihnen steht in den roten Zahlen.

15

Nuevo Herald, 1.10.93, S. 4A sowie 9.10., S. 4A und 2.11., S. 3A.

"

Granma, 15.9.93, S. 1. Diese Formulierung ist rätselhaft. Sie kann sich möglicherweise aber auf Staatsangestellte im Nichtagrarsektor beziehen, die außerhalb ihres normalen Arbeitstages eine kleine Parzelle bearbeiten wollen.

17

Ein Passus in der Erklärung des Politbüros spricht diesbezüglich von den UBPCs, ein anderer von Einzelpersonen mit Unterstützung durch eine Gruppe (nticleo).

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Es gibt jedoch einige Unterschiede zwischen den beiden Genossenschaftsformen. Die CPAs wurden aus ehemaligen Privatbauern gebildet, die ihr eigenes Land besaßen und dieses im Tausch für garantiertes Gehalt und Recht auf Rente dem Staat übereigneten. Im Gegensatz dazu waren die Mitglieder der neuen U B P C s zuvor als Arbeiter auf den Staatsbetrieben beschäftigt und besaßen kein eigenes Land, hatten schon zuvor festen Lohn und garantierten Rentenanspruch. Deshalb wird erwartet, daß die UBPC-Mitglieder härter arbeiten und die Arbeitseffizienz erhöhen, da sie jetzt ja statt durch einen fixen Lohn entsprechend den Erträgen der Produktion bezahlt werden. Und der Beitritt zur U B P C erfolgt auch nicht mit dem Ziel vor Augen, vor allem möglichst schnell in Rente zu gehen. Und dennoch gibt es in beiden Genossenschaftsformen Hindernisse für die Arbeitsmotivation, die die Hoffnungen des Staates zunichte machen könnten. Die gesamte Produktion der U B P C s muß an den Staat zu von diesem festgesetzten Preisen verkauft werden (üblicherweise deutlich unter Marktpreis). Und die U B P C kann auch nicht die rentabelsten Produkte für den Anbau wählen, vielmehr ist es das Vorrecht des Staates, über die angebauten Produkte zu entscheiden. Darüber hinaus hatten die Staatsbauern die niedrigste Produktivitätsrate, die privaten Landwirte (die auch die CPA-Genossenschaften bilden) die höchste. Würde nun eine eher begrenzte Profitmotivierung in der Lage sein, die in jahrzehntelanger Arbeit für den Staat entstandene Arbeitseinstellung der Staatsbauern (die jetzt UBPC-Mitglieder werden) rasch zu ändern? Einmal mehr ist die kubanische Führung hier auf halbem Reformweg stehengeblieben. So gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen dem kubanischen und dem chinesischen Ansatz bei der Agrarreform. China war sehr erfolgreich dabei, seit Beginn der Reform 1978 die landwirtschaftlichen Erträge und die Produktivität zu steigern. Heute arbeitet praktisch die gesamte Landwirtschaft unter dem neuen System. Die Produktionseinheiten in China sind jedoch sehr viel kleiner als in Kuba, in der Regel ist es die Familie, eine Gruppe von Familien oder das Dorf. Bedeutsamer noch ist aber, daß die Bauern ihre Erzeugnisse gleichermaßen an den Staat oder auf dem Markt verkaufen dürfen, zu Preisen, die sich nach Angebot und Nachfrage richten. (Anfangs waren die Preise strategisch wichtiger Produkte vom Staat festgelegt worden, doch nach und nach wurden die Kontrollen beseitigt.) Das Profitmotiv ist in dem chinesischen Modell daher wesentlich stärker als in dem kubanischen Ansatz. Darüber hinaus können aber auch kulturelle Eigenheiten eine wichtige Rolle für das Ergebnis gespielt haben: In China existiert eine bäuerliche Mentalität, die sich durch Bodenständigkeit, eine traditionelle Wertschätzung der Genügsamkeit und eine ausgeprägte Arbeitsethik auszeichnet, während in

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Kuba ein ländliches Proletariat existiert, dem diese Werte weitgehend fremd sind. Einige kubanische Sozialwissenschaftler glauben, daß es zwischen dem öffentlichen Diskurs der kubanischen Führung und ihrem versteckten Programm einen großen Unterschied gibt. Demzufolge würden die genannten Prinzipien möglicherweise anfangs Anwendung finden, mit der Zeit aber zunehmend liberalisiert werden. Sie argumentieren weiter, daß es extrem schwierig sein würde, manche der aufgestellten Regelungen durchzusetzen, etwa den "Abfluß" eines Teils der UBPC-Produktion in den (Schwarz-)Markt zu verhindern. Wenn die Regierung dies (mangels Kontrollmöglichkeiten) in größerem Ausmaße zuläßt, würden die UBPCMitglieder versuchen, ihre (in Pesos bezahlten) Erzeugnisse für den Staat auf ein Minimum zu reduzieren, die Produktion für den (in Dollars zahlenden) Markt hingegen auf ein Maximum zu steigern. Die Regierung könnte andererseits auch den UBPCs erlauben, die über die staatliche Planquote hinausgehende Ernte legal auf Märkten zu verkaufen. Genau dies war von 1980-86 für die Privatbauern und CPA-Genossenschaften der Fall gewesen, doch dann von Castro mit dem Verbot der freien Bauernmärkte abgewürgt worden. Und schließlich: Wenn es das letztendliche Ziel der Regierung ist, sich dem chinesischen Modell anzunähern - warum dann nicht von Anfang an? Einige kubanische Wissenschaftler nennen ideologische Gründe für das zögerliche Verhalten der Regierung. Die ungenaue Definition der Reformmaßnahmen sei Absicht, denn die Orthodoxen sträubten sich gegen das öffentliche Eingeständnis, daß die staatliche Landwirtschaft gescheitert ist und die Reform letzten Endes auf die Privatisierung der Landwirtschaft hinausläuft.

4. Andere wirtschaftliche Reformmaßnahmen Auch andere Schritte in Richtung Markt wurden bereits umgesetzt, und Gerüchte kursieren, daß bald weitere, sehr viel kühnere Maßnahmen durchgeführt werden sollen. a) Kubanische Privatfirmen Diese sogenannten "Sociedades Anónimas" (S.A.) (Aktiengesellschaften) bestehen seit Jahren, aber in sehr geringer Zahl und allesamt im Ausland. Sie waren vor allem für den Import strategisch wichtiger Waren zuständig. Jetzt jedoch existieren diese S.A.s auch in Kuba selbst. Berichten zufolge waren es Anfang 1993 bereits 80 (vgl. Monreal/Rúa in diesem Band). 87

Rechtlich sind diese S.A.s private, vom Staat unabhängige Firmen. Ihr Kapital gehört Aktienbesitzern, die kubanische Staatsbürger sind. Eine Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen wird angestrebt, die Dividende allerdings in Pesos ausgezahlt. Die Praxis sieht jedoch anders aus: Das Kapital kommt vom Staat, Unabhängigkeit ist eine Fiktion, Aktionäre sind Strohmänner, und aller Profit fließt in die Kassen des Staats. Castro hat die Möglichkeit klar zurückgewiesen, daß kubanische Bürger nationales Eigentum erwerben könnten: Kapital und Technologie dürften nicht von einheimischen Privatpersonen kontrolliert werden, sondern nur vom Staat in Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Investoren (Castro 1992, S. 40 ff). Carlos Lage ergänzte, daß kubanische Bürger nicht direkt mit Auslandskapital unternehmerische Verbindungen eingehen könnten, sondern daß eine solche Beziehung immer nur durch den Staat möglich ist. Selbst in Joint-ventures, so Lage, bleibe der Staat Eigentümer des Geschäfts, eine Privatisierung fände daher nicht statt. Der kubanische Partner in einem Joint-venture mache keinen Profit, sondern die Gewinne gingen alle an den Staat und der entscheide über ihre Verwendung 18 . Nichtsdestotrotz ist angeführt worden, daß in einer zukünftigen kubanischen Marktwirtschaft (und möglicherweise unter einem anderen politischen Regime) diese "Sociedades Anónimas" voll privatisiert werden könnten. Die kubanischen Aktienbesitzer (Schlüsselfunktionäre aus Partei und Regierung) würden dann deren tatsächliche Eigentümer werden und könnten der gegenwärtigen Führung eine fortgesetzte Kontrolle über die nationalen Ressourcen sichern (vgl. Domínguez 1993 und Gunn in diesem Band). b) Steuern Ende Oktober 1993 kündigte Carlos Lage an, daß die Regierung den Aufbau eines neuen Steuersystems vorbereite, dessen Ziel es sei, das riesige staatliche Haushaltsdefizit sowie den Währungsüberhang zu reduzieren (Lage 1993b). Gegenwärtig zahlen Staatsangestellte in Kuba keine Steuern auf ihr Einkommen, Selbständige müssen jedoch, wie beschrieben, einen festen Satz pro Monat entrichten. Das neue Steuersystem nun soll "umfassend und einheitlich" sein und dabei vermeiden, die Gesellschaftsgruppen mit den geringsten Einkommen zu belasten. Über die Art der geplanten Steuern sind noch keine Einzelheiten bekanntgegeben worden. Logischerweise sollte es eine progressive Einkommens- oder Lohnsteuer sein, die die Armen ausklammert. Bei lohnabhängig Beschäf-

18

88

Lage 1993 und Interview in "El Mercurio" (Santiago, Chile), 13.6. 1993, S. D-17.

tigten (gegenwärtig die Mehrheit) wird das Eintreiben dieser Steuer leicht sein, bei der schnell anwachsenden Gruppe der Selbständigen jedoch wird dies nur schwer durchsetzbar sein. Eine Verkaufssteuer wäre die am einfachsten zu erhebende Steuer, sie stünde jedoch der politisch beabsichtigten progressiven Staffelung der Steuerbelastung entgegen. c) Banken, Geld und Märkte

Es ist davon die Rede, daß die Funktionen der kubanischen Nationalbank auf die Aktivitäten einer typischen Zentralbank reduziert werden sollen19. Für Spareinlagen und einheimische Geldtransaktionen soll ein "parastaatliches" kommerzielles Bankennetz aufgebaut werden. Eine andere Bank wäre für internationale Kredite sowie Kredite für nationale Unternehmen im Exportsektor zuständig. Und schließlich soll es auch eigene Banken für die einheimische Landwirtschaft und Industrie geben. Zur Finanzierung der Joint-venture-Betriebe und der kubanischen "Sociedades Anónimas" sollen Niederlassungen ausländischer Banken und Versicherungsgesellschaften in Kuba zugelassen werden. Noch diskutiert werde die Frage, ob ausländische Banken auch Dollarkonten kubanischer Privatpersonen führen dürfen. Berichten zufolge haben sich spanische Banken dafür interessiert, die auch Dollarkredite an den Privatsektor vergeben wollten. Diskutiert wird auch eine Währungsreform. Es gibt Gerüchte, daß diese bis hin zu einem kompletten Währungswechsel gehen könnte (wie er 1961 durchgeführt worden war), um das überschüssige Geld aus dem Umlauf zu ziehen und dem Schwarzmarkt einen Hieb zu versetzen. Seit Jahren wird auch immer wieder über die Notwendigkeit debattiert, einen realistischen Wechselkurs für den Peso einzuführen, ohne daß bislang Taten gefolgt wären. Und schließlich sagen viele kubanische Wissenschaftler auch, daß die freien Bauernmärkte, die Castro 1986 abgeschafft hatte, demnächst wieder eingeführt werden, unter anderem Namen und mit gewissen Änderungen. Ähnliche Gerüchte gab es schon vor dem IV. Parteikongreß 1991 und vor dem 26. Juli 1993. Wenn diese Märkte tatsächlich wieder zugelassen würden, wäre dies ein schwerer Schlag für Castro, der sie vehement abgelehnt hatte.

19

Dieses Kapitel basiert weitgehend auf Gesprächen mit kubanischen Wissenschaftlern.

89

D.

Ist Kuba auf dem Weg zur Marktwirtschaft?

1.

Fehlender Konsens und fehlende Wirtschaftsstrategie

Es ist bereits von den Konflikten zwischen Wirtschaftsorthodoxen und -reformern in Kuba und den negativen Aspekten der daraus resultierenden Kompromißmaßnahmen gesprochen worden. Neue Ernennungen für Schlüsselpositionen, die Castro im August 1993 vornahm, haben diese Situation nicht verändert, sondern möglicherweise sogar weiter verschärft. An die Spitze des Staatskomitees für Finanzen wurde José Luis Rodríguez ernannt, bis dahin Vizedirektor des Studienzentrums für Weltwirtschaft (CIEM). Rodríguez ist Mitte 50, ein in Moskau ausgebildeter Ökonom und von allen kubanischen Wirtschaftswissenschaftlern der im Ausland bekannteste. In seinen zahlreichen Arbeiten hat er mit Nachdruck die offizielle Regierungslinie verteidigt. In den 80er Jahren galt er als der führende Kritiker der "Kubanologen" in den USA. Dennoch gilt er als moderater, vorsichtiger Reformer. Rodríguez steht vor der schwierigen Aufgabe, die Ungleichgewichte in der nationalen Wirtschaft zu beseitigen, die Inflation zu bekämpfen, den Währungsüberhang zu kappen und den mageren Staatshaushalt zu verteilen. Die zweite Neuernennung ist der Landwirtschaftsminister Alfredo Jordán. Heute Mitte 40, ist er vom Führer in der Pionierorganisation über den Kommunistischen Jugendverband und die Kommunistische Partei in seiner Provinz aufgestiegen. Er ist eher ein Politiker als ein Technokrat, und aus seinem neuen Arbeitsbereich, der Landwirtschaft, bringt er keine nennenswerten Erfahrungen mit. Und dennoch wird er für so zentrale Aufgaben wie die Nahrungsmittelproduktion und die Umsetzung der Agrarreform zuständig sein. Seine wichtigste Stärke liegt offensichtlich darin, daß er das Vertrauen Fidel Castros genießt. Neu als Minister für die Zuckerwirtschaft wurde Nelson Torres ernannt. Wie Jordán ist er ebenfalls Mitte 40 und hat auch er eine politische, keine fachliche Laufbahn hinter sich. Er ist kein Zuckerexperte, aber er hat die Unterstützung Castros. Torres steht vor der fast unlösbaren Aufgabe, die Zuckerproduktion wieder auf ihr früheres, "historisches" Niveau zu bringen. Sein Vorgänger wurde wegen der katastrophalen Ernte 1992/93 entlassen, und Torres droht ein ähnliches Schicksal, sollte die Ernte 93/94 noch niedriger ausfallen. Alle drei neuen Minister sind relativ jung. Nur einer von ihnen, Rodríguez, ist ein Technokrat, die anderen beiden sind Politiker. U n d möglicherweise ist Rodríguez der einzige Wirtschaftsreformer unter ihnen. Alle drei sind Vertrauenspersonen Fidel Castros, und von keinem ist zu erwarten, daß er von der offiziellen Linie - sprich: der Linie Castros - abweicht. 90

Der führende Mann in der kubanischen Wirtschaftspolitik bleibt weiterhin Carlos Lage, Anfang 40, Vizepräsident des Staatsrats und ein moderater Reformer. Inoffiziell zum "Architekten der Reform" gekürt, ist Lage auch das einzige Politbüromitglied innerhalb des Wirtschaftsteams. Seit dem IV. Parteikongreß 1991 gibt es Gerüchte, daß der Posten des Premierministers geschaffen werden soll und daß dieser dann Carlos Lage hieße. Auch zwei Jahre danach ist davon noch nichts zu sehen ein Anzeichen dafür, daß Fidel Castro damit zögert, Carlos Lage (oder irgendjemandem sonst) die Macht eines hochkarätigen "Nummer Zwei"-Postens in der kubanischen Hierarchie in die Hand zu geben. Den Orthodoxen in Kuba fehlt ein alternativer Vorschlag gegen eine marktorientierte Reform; sie unterstützen im Grunde die Fortsetzung des Status quo, obgleich dies offensichtlich nicht machbar ist. Der Führer dieser Gruppe soll José Ramón Machado Ventura sein, einer der altgedienten Revolutionäre und Mitglied des Politbüros. Es heißt, daß er auch verantwortlich ist für die Ernennung der beiden Politiker Jordán und Torres in das Wirtschaftsteam. Sowohl die alte "pro-sowjetische" als auch die "guevaristische" Gruppe sind in Ungnade gefallen und haben nur noch wenig Macht. Der altgedienteste Staatsmann und angesehenste Ökonom, Carlos Rafael Rodríguez, ist zu alt und hat praktisch jeglichen Einfluß verloren. Die Führungsfigur der Reformen nach sowjetischem Vorbild, Humberto Pérez, wurde 1985 unehrenhaft gefeuert. Er hatte die Zentrale Planungsbehörde (JUCEPLAN) gestärkt und die "Comités Estatales" (Staatskomitees) geschaffen. Nach seinem Fall und der Aufgabe des sowjetischen Modells haben alle diese Institutionen praktisch ihre Macht verloren. Gerüchten zufolge sollen sie bald ganz verschwinden oder in Ministerien umgewandelt werden. Das Komitee für Preise solle mit dem Komitee für Finanzen zu einem neuen Ministerium unter Führung von José Luis Rodríguez verschmelzen. Ein Teil der Funktionen des Komitees für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (CECE) würde dem Ministerium für Außenhandel übertragen werden. Die Komitees für Statistik und für technisch-materielle Versorgung sollen mit JUCEPLAN fusionieren und ein neues Wirtschaftsministerium bilden. Planung sollte dort verstärkt indikativ und weniger zentralisiert sein. Es würde die Position Lages stärken, wenn diese Veränderungen in die Tat umgesetzt würden. Doch letzten Endes basiert das Ergebnis darauf, wer von Castro ausgewählt wird. Die Ernennung von Roberto Robaina zum Außenminister und von Ricardo Alarcón zum Präsidenten der Nationalversammlung (wo er an die Stelle eines Hardliners trat) halfen Lage, da dem Vernehmen nach beide für Reformen aufgeschlossen sind. José Luis Rodríguez mag mit Carlos Lage auf einer Linie liegen oder eine dritte Position darstellen, in jedem Falle jedoch neigt auch er 91

zur Reform. Die Ernennung der zwei Politiker unter dem Einfluß von Machado kann aber die Position von Carlos Lage geschwächt haben. Es war immer Castros Rezept gewesen, durch das Spiel mit verschiedenen ideologischen Gruppen und die geschickte Postenvergabe an die konkurrierenden Seiten zu verhindern, daß eine bestimmte Gruppe zuviel Macht bekommen und seine Hegemonie infrage stellen könnte. Indem er die Schuld für die zahlreichen Fehlschläge und Krisen auf die eine oder die andere Gruppe schob, konnte der kubanische Präsident die Verantwortung für die Fehler der Politik von sich selbst abwälzen. Die gegenwärtige Krise jedoch ist von einem solchen Ausmaß, daß es einer maximalen gemeinsamen! Anstrengung bedarf. Das ideologisch so fragmentierte Wirtschaftsteam jedoch hat nicht nur einen Mangel an Kohärenz in den politischen Maßnahmen zur Folge, sondern verhindert es auch, einen grundlegenden Konsens zu erreichen und ein zusammenhängendes Reformpaket zu entwerfen. (Dieses Argument wurde Anfang 1993 von einem der führenden kubanischen Sozialwissenschaftler öffentlich benannt: Die durch die Krise entstandene Notsituation habe die Neukonzeption eines umfassenden Wirtschaftssystems in den Hintergrund gedrängt, aber genau diese würde zur Überwindung der Krise verzweifelt benötigt. [Gemeint ist der Aufsatz von Carranza Valdes in diesem Band — Anm. B. H.].) Castro hört verschiedene Ideen und Vorschläge an und wählt diejenigen aus, die ihm am günstigsten erscheinen. Doch er hat keinen übergreifenden Plan mehr, keine Blaupause, in der sich die einzelnen Maßnahmen zu einem großen Ganzen fügen. Gelegentlich geht Castro in der Umsetzung der Maßnahmen weiter, als sie ursprünglich gedacht waren (z. B. bei der Dollar-Freigabe). In den allermeisten Fällen jedoch geht er die Schritte nur halb. Oder er unterstützt die Seite der Orthodoxen dabei, Restriktionen einzubauen und verzögert die Umsetzung der Maßnahmen um Monate oder gar Jahre (wie im Falle der "Arbeit auf eigene Rechnung"). Und schließlich erfolgt auch die zeitliche Abfolge der Maßnahmen nicht überlegt und planmäßig; beispielsweise hätten die Reformen in der Landwirtschaft und die Zulassung selbständiger Arbeit der Dollar-Freigabe vorangehen sollen anstatt ihr zu folgen.

2.

Charakter und Dynamik der Wirtschaftsreform: Ist eine Umkehr möglich?

Unter ausländischen Wissenschaftlern gibt es einen Konsens darüber, daß sich Kuba im Übergang zum Markt befindet. Keine Einigkeit herrscht jedoch darüber, wie weit die Insel bereits in diese Richtung gegangen ist und wie weit

92

die politische Führung dort bereit ist, in Zukunft zu gehen20. Eine noch entscheidendere Frage ist, ob Castro möglicherweise an einem bestimmten Punkt entscheidet, den Prozeß wieder umzukehren, und ob dies überhaupt möglich wäre. Kubanische Sozialwissenschaftler, die die Reform befürworten, scheinen diesbezüglich in ihrer Einschätzung einen — wenn auch vagen — Konsens zu haben. Die politischen Anfuhrer der Reform, so sagen sie, wollen nicht die Marktwirtschaft in Kuba einfuhren, sondern begrenzte marktorientierte Veränderungen, die zu einer wirtschaftlichen Erholung beitragen und die zentralen Errungenschaften der Revolution bewahren. (Es ist immer weniger die Rede davon, den Sozialismus zu erhalten21.) Das Problem dabei ist, daß die Parameter für eine solche Transformation nicht definiert sind und daß das Kontinuum zwischen einer zentralen Planwirtschaft und einer völlig freien Marktwirtschaft sehr breit ist. Kuba bewegt sich also in Richtung auf eine gemischte Wirtschaft. Aber welcher Art ist diese, und an welchem Punkt auf dem Kontinuum steht Kuba? Grundsätzlich scheint die Entscheidung in Castros Händen zu liegen. In seiner Rede vom 26. Juli warnte er davor, daß seine Regierung nicht die gleichen Fehler (Reformen) machen werde, die zum Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und Osteuropa geführt haben: "Dort haben sie das Schiff mitten auf dem Meer auseinandergenommen, onhe Ersatzteile und ohne Rettungsringe versenkte man das Schiff." Im Jahr davor hatte er gesagt, daß es viele Unterschiede zwischen China und Kuba gäbe, die es schwierig machten, das chinesische Modell in Kuba anzuwenden. Aber, fügte er hinzu, man untersuche jene Elemente, die in Kuba anwendbar seien, "ohne den Sozialismus oder eine plangeleitete Entwicklung aufzugeben" (Castro 1992, S. 41 f.). Castro wies dabei auch das Modell der asiatischen Schwellenländer zurück, in denen eine starke Rolle des Staates in der Wirtschaft mit Marktwirtschaft einhergeht, weil die dortigen Bedingungen in Kuba nicht wiederholbar seien: "Asiatische Länder haben eine Arbeitstradition, die in den Tropen nicht existiert" (Castro 1992, S. 41 f.). Es scheint, daß Castro keine klare Vorstellung davon hat, wohin er sein Land führen will. Glaubt er wirklich an die Reform als den Weg, um die Krise und die strukturellen Probleme der kubanischen Wirtschaft zu überwinden? Oder benutzt er sie nur als einen vorübergehenden, taktischen Ansatz im Kampf gegen die Schwierigkeiten, die aus dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion und Osteuropa entstanden sind? In seiner Rede vom 26. Juli erklärte er, viele der von ihm angekündigten Änderungen gefielen

20

Verschiedene Positionen hierzu finden sich in: Cuban Research Institute (1993).

21

Auf der Basis von Gesprächen mit kubanischen Wissenschaftlern. Lage allerdings erklärte, Kuba brauche das Wirtschaftsmodell nicht zu verändern, sondern müsse den Sozialismus verteidigen (Lage 1993b, S. 6).

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ihm nicht und würden ihn zwingen, frühere Positionen zu revidieren (z.B. die einst abgelehnten und nun umworbenen Auslandsinvestitionen), aber solche Maßnahmen seien unumgänglich, um die Revolution zu retten (Castro 1993, S. 4-7) — und seine Macht, ließe sich hinzufügen. Kubas prominentester Dissident, Elizardo Sánchez, vertritt die Ansicht, daß Castro mit den neuen Maßnahmen auf Zeit spielen will, eine echte Wirtschaftsreform jedoch verhindern wird 22 . Die Dynamik der Reform drängt jedoch auf weitere Veränderungen. Indem die Regierung — wenn auch in streng regulierter Form — einen Teil der stattfindenden Wirtschaftstätigkeiten legalisiert hat, wird dies als grünes Licht für die Ausweitung solcher Aktivitäten gesehen, Restriktionen werden mißachtet, und neue unerlaubte Bereiche werden betreten. Hieraus wiederum entsteht Druck auf die Regierung, weitere Konzessionen zu machen, die wiederum weiter in Richtung Markt drängen. In seinen Reden Anfang 1990 warnte Fidel Castro vor der Gefahr einer derartigen Kettenreaktion als Konsequenz der wirtschaftlichen Reformen in der UdSSR und Osteuropa, die letzten Endes zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung führten. Aber er zeigte sich zuversichtlich, daß ein solcher Prozeß in Kuba nicht stattfinden würde. Und doch deuten die jüngsten Ereignisse daraufhin, daß die Geschichte sich diesmal in der Karibik wiederholt. Es ist argumentiert worden, daß illegale Aktivitäten — etwa der Schwarzmarkt, die Verkäufe der Privatbauern, die Zwischenhändler und die klandestinen Mini-Unternehmer — letzten Endes für die Regierung positive Funktionen erfüllen: — die Steigerung des Warenangebots und damit die Minderung des Risikos von Unruhen; — die Vermittlung von Angebot und Nachfrage; — die Unterstützung des Anpassungsprozesses, da die Preise auf dem Schwarzmarkt sehr viel höher sind als im legalen Verkauf; — die Abschöpfung des Währungsüberhangs und die Schaffung von Anreizen für Arbeiter mit höheren Einkommen (vgl. Domínguez 1993). Bislang jedoch waren diese Marktmechanismen nicht in der Lage, den Niedergang der kubanischen Wirtschaft aufzuhalten, und sie scheinen auch gegenwärtig nicht dazu in der Lage, eine wirtschaftliche Erholung einzuleiten. Darüber hinaus sollte dieser Aufsatz gezeigt haben, daß die halbgaren und halbherzigen Reformmaßnahmen auch negative Folgen für die Regierung zeitigen: — Ein zunehmend unabhängiger Teil der Bevölkerung hat seine eigenen Einkommensquellen und befürwortet weitere Schritte in Richtung Markt. — Der informelle Privatsektor, der zur Zeit möglicherweise so groß ist wie der staatliche Sektor, breitet sich rasch aus und saugt in zunehmendem

Andrés Oppenheimer: "Dissidents sceptical of Reform", in: The Miami Herald, 2.8.1993, S. 6A.

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Maße materielle und menschliche Ressourcen vom Staat ab, und er gewinnt mehr und mehr an Macht. — Die wachsenden Ungleichheiten in der Bevölkerung stärken tendenziell die Oppositionskräfte und benachteiligen die Stützen des Systems, wodurch bei diesen die Unzufriedenheit genährt wird. — Der Wertverlust des kubanischen Peso und der staatlichen Peso-Wirtschaft trägt zum Verlust der staatlichen Kontrolle über die nationale Wirtschaftspolitik bei. — Abnehmende Produktion in der staatlichen Landwirtschaft und ein möglicher Anstieg der Erträge der Kooperativen oder der Produkte, die auf den Schwarzmarkt gelangen, wird die Fähigkeit des Staates untergraben, über seine Kanäle die Ernährung der Bevölkerung zu gewährleisten. — Die Zunahme von Diebstählen und Kriminalität erzeugt ein allgemeines Klima der Unsicherheit. — Die wachsende Demoralisierung der Bevölkerung und der Verlust ihres Vertrauens in die Regierung, weil sie den Eindruck bekommen, daß ihre Führer die Probleme nicht nur nicht lösen können, sondern vielmehr eine ihrer wesentlichen Ursachen sind; in der Folge verbreitet sich die Haltung, daß man nur versuchen kann, mit Dollars, illegalen Aktivitäten und dem Schwarzmarkt seine eigenen Probleme so gut wie möglich zu lösen. Die meisten Wissenschaftler innerhalb und außerhalb von Kuba sind der Ansicht, daß Castro den gegenwärtig stattfindenden Reformprozeß nicht aufhalten oder gar umkehren kann. Würde er dies versuchen, würden die Leute ihn einfach ignorieren und mit ihren Geschäften weitermachen. Wenn er auf zunehmende Repression zurückgreift, wird die Wahrscheinlichkeit groß sein, daß es zu Revolten kommt. Der Prozeß scheint also unumkehrbar zu sein. Die einzige Frage ist, ob er sich weiterhin friedlich vollziehen oder von einem Bürgerkrieg überschattet sein wird.

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Literaturverzeichnis CARRANZA VALDES, Julio, 1993: Cuba — Los retos de la economía; in: Cuadernos de Nuestra América 19, S. 131-159 (auf deutsch in dem vorliegenden Band unter dem Titel: "Die Krise - eine Bestandsaufnahme") CASTRO, Fidel, 1992: A Way out of the Wilderness (Interview by Garry Evans); in: Euromoney (Juli 1992), S. 40-44 , 1993: Discurso en la clausura del 40 aniversario del asalto al Cuartel Moneada; in: Granma, 28. Juli 1993, S. 3-7 (auf deutsch in diesem Band) CUBAN RESEARCH INSTITUTE, 1993: Transition in Cuba - New Challenges for U.S. Policy, Miami, Florida International University DOMINGUEZ, Jorge I., 1993: The Secrets of Castro's Staying in Power; in: Foreign Affairs (Spring 1993), S. 102-103 LAGE, Carlos, 1992: Entrevista con Carlos Lage; in: Granma, 10. und 14. November 1992 , 1993a: De la forma más justa posible; in: Areíto 4/13 (Mai 1993), S. 4-12 , 1993b: Interview with Carlos Lage, in: Granma International, 10.11.1993 MESA-LAGO, Carmelo, 1993a: Cuba after the Cold War, Pittsburgh, University of Pittsburgh Press , 1993b: Sink or Swim; in: Hemisfile 4/5 (Sept. - Okt. 1993), S. 6-7 , 1993c: The Social Safety Net in the Two Cuban Transitions; in: Cuban Research Institute , 1994: Historia económica de Cuba Socialista, Madrid, Alianza Editorial PERKINS Dwight H., 1992: El enfoque 'gradual' de las reformas de mercado en China; in: Pensamiento Iberoamericano 22/23, II (Juli 92 - Juni 93), S. 121-154

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Dokumentation

"... dann haben wir damit gar nichts gelöst." Eine Meinungsumfrage, die nie veröffentlicht wurde Die folgende Umfrage ist im September 1993 von einer Institution in Havanna durchgeführt worden, die der Kommunistischen Partei untersteht. Ihre Ergebnisse wurden in Kuba nie veröffentlicht. Sie wird ungekürzt und in der Form wiedergegeben, wie sie von den Forschern dem Auftraggeber überreicht wurde. Bei der Übersetzung wurde versucht, so weit es ging den sprachlichen Duktus des Dokuments zu wahren. Lediglich an einigen Stellen wurden erklärende Anmerkungen in eckige Klammern gesetzt.

Umfrage über das Gesetz zur Arbeit auf eigene Rechnung und den Beschluß über die Verpachtung von [Staats-] Land Durch Einzel- und Gruppeninterviews mit einer nach dem Zufallsprinzip in Havanna-Stadt ausgewählten Stichprobe von 252 Personen - in denen die verschiedenen Beschäftigungsbereiche repräsentiert sind - haben wir versucht, die Meinungen über die zwei jüngsten Beschlüsse des Politbüros einzuholen und zu zeigen.

Wesentliche Schlußfolgerungen Zu dem Gesetz über Arbeit auf eigene Rechnung 1)

Als Vorteile werden angesehen: - Das Gesetz trägt dazu bei, einige Engpcisse in der Versorgung (mit Dienstleistungen und/oder Produkten) zu beseitigen, die der Staat gegenwärtig nicht in der Lage ist zu lösen (42,3%). 97

Es ermöglicht breitere Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gesellschaft (35,6%). Es hilft, den Währungsüberschuß zu beseitigen (0,5%). Alle Befragten mit Fachausbildung oder akademischem Abschluß (insgesamt 40,4% von denen, die das Gesetz kannten) erklärten sich nicht damit einverstanden, daß sie von dem Gesetz ausgeschlossen bleiben. Sie zeigten ihre Unzufriedenheit, indem sie im allgemeinen anführten, daß sie, wie jeder andere Teil der Gesellschaft, ökonomische Bedürfnisse haben, bei denen ihnen eine solche Art von unabhängiger Beschäftigung helfen könnte. Ihrer Meinung nach haben viele Universitätsabsolventen Fähigkeiten, die sie neben ihrem Beruf und außerhalb ihres normalen Arbeitstages entfalten könnten. Es ist interessant, daß dieses Problem nur von jenen angesprochen wurde, die selber direkt betroffen sind 32,1% der Befragten äußerten die Sorge, auf welche Weise die notwendigen Arbeitsmaterialien zu erhalten wären. Viele merkten an, wie der Staat, wenn er doch kaum die Ressourcen für seine eigenen Betriebe hat, die Verteilung von Materialien an die unabhängigen Produzenten garantieren könne? Auf der anderen Seite: 15,4% versicherten, daß diese Maßnahme nur Aktivitäten legalisiert, die seit langem ausgeübt werden. Einige von diesen Befragten hielten es für vorteilhaft, daß diese Arbeiter zukünftig in ihrem alltäglichen Leben nun nicht mehr das Gesetz übertreten müssen. Mit dieser Maßnahme hätte man nicht warten sollen, bis das Land sich in einer solch schwierigen Situation befindet (8,6%). 1% erklärte, daß diese Produkte und Dienstleistungen sehr hohe Preise haben werden. (Diese Prozentzahlen beziehen sich jeweils auf die Grundgröße aller Befragten, die das Gesetz kannten.) 10,3% aller Befragten kannten das Gesetz nicht. 7,1% wollte keine Meinung abgeben. Als Fragen und Zweifel wurden unter anderem genannt: Wie kann der Staat diesen Arbeitern die notwendigen Arbeitsmaterialien geben? Warum können die Fachleute, die ein Handwerk ausüben können, nicht außerhalb ihres Arbeitstages auf eigene Rechnung arbeiten? Warum können die Fachleute, die keine Arbeit in ihrem Beruf haben, nicht im Rahmen dieses Gesetzes eine Beschäftigung ausüben? Welchen Prozeß muß man durchlaufen, um eine offizielle Genehmigung [für das Arbeiten auf eigene Rechnung] zu bekommen? Wer wird autorisiert sein, diese Arbeit zu kontrollieren? Wie wird der Fall der Maler gehandhabt werden, die bereits jetzt einen Prozentsatz ihrer Erträge an den Kulturgüterfonds (Fondo de Bienes Culturales) bezahlen?

Einige Meinungen: Wenn die Arbeitsmaterialien weiterhin dort herkommen, wo sie jetzt herkommen, dann haben wir damit gar nichts gelöst. (Ein Lehrer) Es ist ein Raum, der die Kreativität und die Freiheit begünstigt und der Abhilfe für einige Probleme schafft, deren Lösung nicht nur vom Ausland abhängt, sondern auch von uns selber. (Eine Nonne) Ist es also eine Schande, studiert zu haben? (Ein Wirtschaftswissenschaftler) Ich brauche das Geld genauso wie alle anderen auch; es ist ungerecht, daß wegen meines Berufs meine übrigen Fähigkeiten eingeschränkt werden. (Ein Zahnarzt) Es ist eine höhere Form der sozialen Entwicklung, die mehr Unabhängigkeit fördert. (Ein leitender Kader) Wenn ich auf meiner Arbeit nichts kriege, wie können die mir dann Materialien verkaufen, um "auf der Straße" zu arbeiten? (Ein Mechaniker für Gefriertechnik) Man nimmt an, daß die Hochschulabsolventen die Gesellschaftsgruppe mit den höchsten Qualifikationen sind, und wir sind völlig ausgeschlossen worden. Wir müssen weiterhin kubanische Pesos verdienen, während der Rest anfangen kann, Dollars zu verdienen... Das ist absurd und ungerecht. (Ein Schriftsteller) Es ist paradox, aber es wird sich in einen Ehrgeiz verwandeln, nicht studiert zu haben. (Historiker) Es müssen Mechanismen geschaffen werden, die die mit dem Staat verbundenen Arbeiten für die Akademiker attraktiv machen, und nicht solche Gesetze, die uns von bestimmten Vorteilen ausschließen. (Ein Arzt) Wie kann es angehen, daß eine Fachperson sich angeblich "nicht von seinen Aufgaben abwenden" darf, und sie uns trotzdem so oft zw Arbeitseinsätzen in die Landwirtschaft schicken? (Ein Architekt) Es ist ein Beweis für die Entwicklung der Gesellschaft. Es wird helfen, viele Bedürfnisse zu befriedigen. (Ein Soldat) Es ist eine zweischneidige Sache, denn es ist unmöglich, auf legale Weise Arbeitsmaterialien zu bekommen - es gibt keine. Wer es schafft, etwas herzustellen, bei dem weiß man, daß es mit geklauten Materialien ist. (Ein Fischer) Diese Maßnahmen wurden bei dem Aufruf [für eine Debatte der aktuellen Probleme im Vorfeld des 4. Parteitags der KP Kuba: 1991] viel diskutiert. Auf dem Parteitag wurden sie nicht angenommen, und jetzt, wo es uns schlechter geht, werden sie eingeführt. (Ein leitender Kader)

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Uber den Beschluß zur Verpachtung von Land 1)

Zwei Tage nachdem die Information über die amtlichen Medien verbreitet wurde, haben 80,5% der Befragten noch keine Kenntnis von dem Beschluß. Diese Untersuchung wurde in der Stadt durchgeßhrt, weshalb wir nicht wissen, ob es unter den Agrarproduzenten einen ähnlichen Prozentsatz an Unkenntnis gibt. 2) Von denen, die das Gesetz kannten, - fanden 89,8%, daß sich [für die neuen Kooperativen] die Möglichkeiten des Verkaufs nicht ausschließlich auf den Staat beschränken sollten. - fanden 10,2%, daß es einen guten Weg darstellt, um brachliegende Ländereien zu nutzen. 3) Konkrete Fragen oder Zweifel wurden nicht geäußert. Havanna, September 1993

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Bert Hoffmann*

Die Rückkehr der Ungleichheit Kubas Sozialismus im Schatten der Dollarisierung

Im Sommer 1994 erreichte Kubas Krise ihren dramatischen Tiefpunkt. Es kam zu offenen Unruhen in den Straßen von Havanna und in der Folge zu der Massenflucht von mehr als 30.000 Kubanern, die auf selbstgezimmerten Flößen die Insel verließen. Die Bilder gingen um die Welt: Endzeitstimmung auf Kuba. Doch der Tiefpunkt war auch ein Wendepunkt. Die jungen Männer, die heute von Havannas Küstenpromenade aus mit aufgepumpten LKW-Schläuchen aufs Meer hinausfahren, versuchen nicht mehr, sich todesmutig nach Miami treiben zu lassen, sondern fangen Fische, die sie an Land zu Geld machen können. Denn wer in der Stadt drei Fische verkauft, verdient damit in einer Stunde mehr als ein Arbeiter in der staatlichen Industrie in einem ganzen Monat. Auf der sozialistischen Karibikinsel ist das Gefüge von Preisen und Löhnen völlig aus den Fugen. Zwischen den Dollar-Inseln und der Peso-Ökonomie, zwischen den neuen Preisen des Marktes und den alten der staatlichen Planwirtschaft klaffen Abgründe, die die kubanische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe stellen. Dennoch zeigt die Regierung in Havanna Optimismus; und sie kann diesen inzwischen auch mit einer Positiventwicklung bei wirtschaftlichen Eckdaten untermauern. So verzeichnete die kubanische Volkswirtschaft nach Jahren des tiefen Sturzes für 1994 erstmals wieder ein Wachstum von 0,7 Prozent. 1995 wuchs das Bruttoinlandsprodukt sogar um 2,5 Prozent (s. Tabelle 1).

Der Autor ist Politologe und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für IberoamerikaKunde, Hamburg. Der Artikel wurde für die zweite Auflage dieses Buches neu geschrieben und im April 1996 fertiggestellt.

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Die Talsohle der Krise ist überstanden, von nun an geht es wieder aufwärts, so die in vielen Variationen wiederholte Botschaft der Regierung. Oder in den Worten von Carlos Lage, dem zentralen Wirtschaftsverantwortlichen der Regierung Castro: "Vor mehr als fünf Jahren zerfiel das sozialistische Lager, wenig später löste sich die Sowjetunion auf, und die US-amerikanische Blockade wurde verschärft. Viele sahen das Ende der kubanischen Revolution gekommen. Heute hingegen fragt niemand mit gesundem Menschenverstand mehr: Bricht die Revolution zusammen oder nicht? Heute diskutiert man: Wieviel Zeit braucht Kuba, um seine gegenwärtigen Probleme zu überwinden?" (Lage 1995, S. 11). In der Tat ist Kuba nicht, wie so viele es erwartet hatten, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Staaten in Osteuropa wie ein weiterer Dominostein gefallen. Dennoch wirft die Entwicklung der letzten Jahre mehr Fragen auf, als nur das "Wie lange, bis die Krise überwunden ist?", von dem Carlos Lage spricht. Im folgenden soll daher versucht werden, die kubanische Wirtschaftspolitik seit der Dollarfreigabe im Juli 1993 nachzuzeichnen. Dabei wird ein besonderes Augenmerk nicht nur auf die ökonomischen Ursachen für die Regierungspolitik, sondern auch auf die Wechselbeziehung zwischen sozialem Druck und wirtschaftlicher Reformdynamik gelegt. So war es etwa erst die Flüchtlingskrise vom August 1994, die in der Folge die Zulassung der Bauernmärkte erzwang — ein Schritt, gegen den sich die Staatsfuhrung bis dahin vehement gesträubt hatte. Darüber hinaus sollen aber auch die vielfältigen sozialen Folgen und Differenzierungsprozesse untersucht werden, die sich aus den ökonomischen Transformationen für die kubanische Gesellschaft ergeben. Im Anschluß an den Artikel findet sich ein umfangreicher statistischer Anhang. Dieser basiert auf dem Wirtschaftsbericht der kubanischen Nationalbank vom Sommer 1995, der nach langen Jahren des "statistischen black-outs" erstmals einen kohärenten Überblick über die Entwicklung der wirtschaftlichen Eckdaten Kubas seit 1989 gibt. Er wurde für die Umschuldungsverhandlungen mit den kubanischen Gläubigerbanken verfaßt und bislang in Kuba noch nicht regulär veröffentlicht.

Der "Sommer der Reform" versandet Als Fidel Castro im Juli 1993 die Legalisierung des US-Dollars verkündete, folgten kurz darauf zwei weitere bemerkenswerte Maßnahmen: die Umwandlung der landwirtschaftlichen Staatsbetriebe in Kooperativen (UBPCs) sowie die Freigabe einer Reihe von Berufen zur "Arbeit auf eigene Rechnung" (s. Mesa-Lago in diesem Buch). Dies weckte bei vielen — sowohl in Kuba als auch außerhalb — Hoffnungen, daß von nun an die wirtschaftlichen Reformbestrebungen an Dynamik gewinnen würden.

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Doch dem "Sommer der Reform" (Mesa-Lago) folgte zunächst keine weitergehende Liberalisierung der kubanischen Ökonomie. Lediglich die Öffnung "nach außen" wurde kontinuierlich fortgeführt. Gegen Ende 1994 wurde ein neues Bergbaugesetz verabschiedet, das diesen für die kubanische Exportbilanz wichtigen Bereich für ausländische Investitionen attraktiver machen sollte. In der Binnenökonomie hingegen blieb trotz der Zulassung privater Kleinstbetriebe in der Praxis zumeist unklar, was im einzelnen genehmigt war und zu welchen Bedingungen, was nicht legalisiert aber akzeptiert und was verboten war und auch verfolgt würde. Ökonomen in Havanna sprachen diesbezüglich auch davon, daß sich die Wirtschaftsreform als "Reform durch die Hintertür" vollziehe (Gespräche des Verfassers). Die Grauzone als Prinzip: Nicht durch spektakuläre Einschnitte und Gesetzesänderungen, sondern durch die allmähliche Ausweitung des de facto Tolerierten würde die Umgestaltung der kubanischen Ökonomie erfolgen. Im Gefolge der Maßnahmen vom Sommer 1993 nun begann vor allem im Bereich der Nahrungsmittelversorgung diese Grauzone zu erblühen. In den Hinterhöfen wurden Garküchen eingerichtet und Pizzas gebacken, auf den Straßen wurde Limonade verkauft oder Kokosplätzchen feilgeboten. Die "Wirtschaftsreform durch die Hintertür" schien an Schwung zu gewinnen. Doch schon im Dezember wurde der Verkauf von Blumen explizit verboten, und zum Jahresanfang wurde die entstandende informelle Gastronomie von den Behörden geschlossen. Die Hintertür war fürs erste zugeschlagen.

Austeritätsprogramm zur Rettung der Staatsfinanzen Praktisch ein Jahr lang, bis zum Ausbruch der offenen Krise im August 1994, waren die wirtschaftlichen Reformmaßnahmen lediglich auf ihrer restriktiven Seite nennenswert vorangekommen: als Austeritäts- und Sparprogramm zur Sanierung der Staatsfinanzen. In dem Maße, in dem die Probleme des Haushaltsdefizits und des Wertverfalls der kubanischen Währung jahrelang aufgeschoben worden waren, hatten sie sich verschärft. So hatte sich das staatliche Haushaltsdefizit von 1989 bis 1993 mehr als verdreifacht und war mit 5 Milliarden Pesos auf knapp 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen (s. Tabelle 13). Das daraus resultierende Problem hatte Fidel Castro bereits ein Jahr zuvor in seiner Rede zur Legalisierung des Dollars benannt (s. in diesem Band, S. 49f.): Der beständig wachsende Überhang an Geld, dem keine Produktion mehr gegenüberstand, und der einen chronischen Wertverlust des kubanischen Peso zur Folge hatte (s. Tabelle 10). Im Mai 1994 erreichte die sich im Umlauf befindliche Geldmenge einen alarmierenden Höchstwert von 11,6 Milliarden Pesos (Granma Internacional [im folgenden kurz: Gl], 11.5.94, S. 13). Im statistischen Durchschnitt besaß damit jede Kubanerin und jeder Kubaner rund 15 komplette Monatsgehälter, für die sie keine Waren mehr zu kaufen fanden. 103

Unmittelbar Ausdruck dieser Ungleichgewichte in den Staatsfinanzen war der Fall des Peso-Kurses gegenüber dem US-Dollar auf dem Schwarzmarkt. Fern der theoretischen 1:1-Parität mußten Anfang 1994 auf dem Schwarzmarkt 100 bis 140 Pesos für einen Dollar gezahlt werden. (Eine halb-offizielle Statistik über den Schwarzmarktkurs des kubanischen Peso nennt 120 Pesos pro Dollar; s. Tabelle 14). Bei einem monatlichen Durchschnittsverdienst von 180 bis 200 Pesos entsprach damit der Lohn eines ganzen Monats Arbeit dem Gegenwert von nicht einmal mehr zwei US-Dollar. Diese Kluft zwischen der abstürzenden staatlichen Peso-Ökonomie und den neuen Dollar-Welten wurde zunehmend unhaltbar. Gerade zum "Tag der Arbeit", am 1. Mai 1994, präsentierte die Regierung auf einer Sondersitzung der kubanischen Nationalversammlung das unvermeidlich gewordene Sparprogramm zur Sanierung der Staatsfinanzen: Um das Haushaltsdefizit zu senken, müssen die Millionen-Subventionen für die defizitären Staatsbetriebe gekürzt werden; Preise für "nicht-lebensnotwendige" Produkte werden — teilweise um ein Vielfaches — erhöht, insbesondere für Zigaretten und Alkohol, aber auch für Benzin, Strom, Wasser sowie die Gebühren für Post- und Telefondienste; die Preise für Essen in Kantinen und Mensen sollen heraufgesetzt werden; für etliche bislang kostenlose Leistungen — etwa Sportveranstaltungen — sollen die Kubaner künftig bezahlen. Das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung allerdings sollen als zentrale Errungenschaften der Revolution und Grundpfeiler des kubanischen Sozialismus auch in Zukunft kostenlos bleiben (Gl, 11.5.1994, S. 12f). "Wir müssen jetzt ein Bündel rigoroser Maßnahmen ergreifen", so Fidel Castro vor den Delegierten: "Wir dürfen nicht bei der Hälfte stehen bleiben. Wenn wir halbherzige Maßnahmen ergreifen, sind wir verloren" (ebenda). Fidel Castro verkündete den Delegierten der Nationalversammlung, daß die einzige Alternative zu diesem Sparprogramm eine konsequente Kriegswirtschaft wäre. Schließlich habe man bezüglich der (ursprünglich nur für Kriegszeiten konzipierten) período especial auch diskutiert, ob das Geld insgesamt abzuschaffen sei. "Man hat sich aber entschieden, den Kampf mit der Existenz des Geldes fortzufuhren", so Castro: "Und da wir also das Geld beibehalten werden, müssen wir auch dafür sorgen, daß es Wert hat"1. Der Sondersitzung der Nationalversammlung war die Reorganisation aller wirtschaftsrelevanten Ministerien vorausgegangen, verbunden mit einer Reduzierung des Personalstands. Fünf neue Ministerien wurden geschaffen, in der Regel durch die Auflösung oder Zusammenlegung bisheriger "Comités Estatales" oder "Institutos". Ohne Ministerposten, gleichwohl politisch eindeutig übergeordnet bleibt der Wirtschaftsverantwortliche des Politbüros, Carlos Lage, der zentrale

ebenda. Es ist ernüchternd, in diesem Zusammenhang in Castros Rede vom 26. Juli '93 zu lesen, warum der nun bekämpfte Währungsüberhang entstanden ist: "Einfach, weil man nicht bereit ist, das Volk zu opfern" (S. 49 in diesem Buch). Nun erklärt d e r C o m a n d a n r e e n J e / e d e r k u b a n i s c h e n R e v o l u t i o n das genaueGegenteil, die entschiedeneBekämpfung des Währungsüberhangs, zur obersten Priorität der Politik — selbstverständlich genauso, "ohne das Volk zu opfern", sondern natürlich, um es zu retten.

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Architekt der kubanischen Wirtschaftspolitik. Unter den Ministern hat sich José Luis Rodriguez, der zunächst Finanzminister war und im Laufe des Jahres 1995 Minister für Wirtschaft und Planung wurde, allem Anschein nach als primus inter pares etabliert (s. auch die Übersicht über Schlüsselfunktionen und -personen in der kubanischen Wirtschaftspolitik am Ende des statistischen Anhangs).

Alarmsignale der Versorgungskrise Derweil wurde seit dem Sommer 1993 für die Mehrheit der Bevölkerung die Versorgungslage zunehmend schlechter. Besonders bitter wurde dies bei Lebensmitteln spürbar — Folge nicht nur der ausbleibenden Importe sondern auch des Einbruchs der einheimischen Nahrungsmittelproduktion (s. Tabellen 15 und 16). Die Mängel in der Versorgung unterschritten zunehmend die Schmerzgrenzen. Offiziellen Angaben der Regierung zufolge fiel in nur vier Jahren der Kalorienverbrauch pro Kopf in Kuba um mehr als ein Drittel: von 2.845 im Jahr 1989 auf nur noch 1.780 im Jahr 1993 (nach: El Pais, 1.5.94). Dramatischstes Alarmsignal der kritischen Ernährungssituation war der Ausbruch einer seltenen Augenkrankheit, der sogenannten Optikus-Neuritis, die sich 1993 epidemisch in Kuba ausbreitete und an der insgesamt mehr als 50.000 Kubaner erkrankten. Hatte die kubanische Regierung zunächst verschiedenste Spekulationen über die Gründe für die Krankheit in Umlauf gebracht und Ernährungsdefizite als Ursache ausgeschlossen, kamen Wissenschaftler zu eben diesem Ergebnis: Insbesondere der Mangel an tierischer und Vitamin-B-haltiger Nahrung könne als entscheidender Auslöser der Nervenerkrankung ausgemacht werden, so das Ergebnis der umfassenden Studie eines Expertenteams der Panamerikanischen Gesundheitsorgansiation (nach: taz, 22.1.96, S. 13). Dieses Resultat wird indirekt auch durch die — sehr erfolgreiche — Behandlung bestätigt, mit der die kubanischen Behörden auf die Krankheit reagierten: Durch die flächendeckende Ausgabe von täglichen Vitamin-Präparaten an die gesamte kubanische Bevölkerung konnte die Epidemie relativ rasch unter Kontrolle gebracht werden 2 . Auch sonst kann trotz der wirtschaftlichen Krise das kubanische Gesundheitswesen durchaus eindrucksvolle Erfolge vorweisen. Die Kindersterblichkeitsrate etwa ist nach wie vor die niedrigste Lateinamerikas und konnte den offiziellen Angaben zufolge auch in den Jahren der Krise weiter gesenkt werden (s. Tabelle 17).

2

InzwischenhabenauchoffiziellekubanischeStelIen"diezentraleRolledermangelhaftenund unausgewogenen Ernährung" alsUrsachefilrdie Epidemie anerkannt (so der "Plan Nacional de Acción para la Nutrición 1994"; zitiert nach: Habel, S. 1). Der gleicheBericht weist auch daraufhin, daß zunehmend wieder Kinder mit weniger als 2,5 Kilo Gewicht geboren werden. Gesundheitsminister Dotres nannte für 1994 eine Zahl von 8,9 Prozent Geburten von Kindern unter 2,5 Kilogramm. Diese Zahl habe man 1995 allerdings auf 8,0 Prozent senken können (Gl, 17.1.1996, S. 3).

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Die Eskalation der Fluchtbewegung Auslöser für den offenen Ausbruch der sozialen Krise Kubas war jedoch nicht der Schock durch die Neuritis-Epidemie, sondern etwas ganz anderes: die Eskalation der Fluchtbewegung. Da sie auch einen entscheidenden Wendepunkt in der gesamten wirtschaftspolitischen Debatte markiert, soll sie hier etwas ausfuhrlicher dargestellt werden (für eine Analyse der Migrationskrise aus kubanischer Sicht s. Rodríguez Chávez 1995). Seit 1989 hatte Jahr für Jahr die Zahl derer zugenommen, die Kuba illegal verließen. Bessergestellte Kreise setzten sich vorzugsweise auf einer Auslandsreise ab. Für viele andere blieb nur der lebensgefährliche Weg über das Meer: mit selbstgezimmerten Flößen und im Schutz der Dunkelheit von der Nordküste Kubas in See zu stechen und zu hoffen, daß der Golfstrom sie an die Küsten Floridas treiben würde. Auf legalem Wege war es für Kubaner nahezu aussichtslos, ein Einwanderungsvisum in die USA zu beantragen: 1993 etwa gewährte Washingnton ganze 964. Wer allerdings die Flucht über das Meer wagte und es bis an die Küste der USA schaffte (oder zuvor von der US-Marine aufgegriffen wurde), erhielt einen Empfang erster Klasse. Denn während Bootsflüchtlinge aus Haiti umstandslos zurückgeschickt wurden, ging es bei den kubanischen balseros (von balsa = Floß) für die USA um politische Punkte in der Propaganda-Schlacht gegen Fidel Castro: Flüchtlinge aus Kuba galten nicht als arme Immigranten, sondern als Freiheitshelden; in der Folge gab es für sie Aufenthaltsgenehmigung und Eingliederungsbeihilfen, Arbeitserlaubnis und Unterstützungsprogramme. Neben dem Wirtschaftsembargo war diese doppelbödige Migrationspolitik die zweite Säule im kalten Krieg der USA gegen Kuba. Mit der Zeit nahm die klandestine Flucht aus Kuba immer dramatischere Ausmaße an. Die Zahlen sind bedrückend. In nur 4 1/2 Jahren registrierte die kubanische Seite offiziell nicht weniger als 45.000 Fluchtversuche (s. Tabelle 20). Allein in den sieben Monaten bis August 1994 gelangten 4.092 kubanische boat people in die USA, weitere 10.975 Fluchtversuche wurden von den kubanischen Grenztruppen unterbunden. (Nicht in diesen Zahlen enthalten sind die Todesopfer. Die Schätzungen über deren Anzahl gehen weit auseinander; mit Sicherheit ist jedoch davon auszugehen, daß mehrere Tausend Kubaner bei der Flucht über das Meer gestorben sind.) Im Sommer 1994 spitzt sich diese Fluchtbewegung weiter zu (vgl. Rodríguez Chávez 1995, S. 14ff). Die Zahl der balseros wächst praktisch täglich. Immer wieder erzwingen Flüchtlinge auch mit Gewalt die Überfahrt nach Miami: Zwischen dem 4. Juni und dem 25. August werden nicht weniger als 25 kubanische Boote in die USA entführt. Dabei kommt es auch zu tödlichen Zwischenfällen. In der Marinebasis Tarará erschießt ein Flüchtling einen Grenzsoldaten, der ihn an der Flucht hindern will. 41 Flüchtlinge (nach kubanischen Angaben 32) sterben, als der von ihnen gekidnappte Schlepper "13 de Marzo" auf offener See zum Sinken 106

gebracht wird — nach Zeugenaussagen durch direktes Rammen und Beschuß durch kubanische Grenztruppen, nach Darstellung Castros durch einen bedauerlichen Unfall (Fidel Castro, in: Gl, 7.9.94, S. 6).

Der Bruch wird sichtbar: Die Unruhen vom 5. August Dann überschlagen sich die Ereignisse. Am 3. August wird im Hafen von Havanna eine Fähre entführt, um mit ihr nach Miami zu fliehen, am folgenden Tag eine weitere. Gleichzeitig tritt an diesem 3. und 4. August die kubanische Nationalversammlung zu einer zweitägigen Sitzung zusammen. Nichts zeigt deutlicher die gewachsene Distanz zwischen dem Reformdiskurs der politischen Führung und der Krisenstimmung in der Bevölkerung als diese Parlamentssitzung. Das zentrale Thema, das den Delegierten präsentiert wird (und von diesen wie immer einstimmig angenommen wird), ist die Einführung eines neuen Steuersystems — nicht etwa die Ausweitung von selbständigen Arbeitsmöglichkeiten, nicht die Wiederzulassung von Bauernmärkten zur Verbesserung der Ernährungssituation, nicht das Drama der Kubaner, die über das Meer aus dem Land fliehen. Nur einen Tag darauf, am 5. August, entlädt sich die aufgestaute soziale Krise in den ersten größeren offenen Krawallen, die Kuba seit der Revolution 1959 erlebt hat. Dabei ist es ist bezeichnend für die Tiefe des Risses, daß diejenigen, die am 5. August auf die Straße gingen, sich in keiner Weise auf die vorangegangene Parlamentssitzung bezogen, nicht einmal mehr in Form von Ablehnung. Noch ein Wort zu diesem 5. August. Das Ausmaß der Krawalle war letztlich bescheiden. Es wurden Steine geworfen gegen die Fensterscheiben von Hotels und Dollar-Shops, aber auch gegen Polizisten; aus der Menge wurden Anti-CastroParolen skandiert. Bereits nach zwei, drei Stunden hatte die Regierung die Lage wieder unter Kontrolle, ohne Panzer und ohne Blutvergießen 3 . Dennoch markiert der 5. August in Kuba eine Zäsur, und auch die Regierung nahm die Revolte — entgegen ihrer offiziellen Rhetorik — offenkundig als Alarmsignal wahr. Nur wenige Tage später entschloß sich Fidel Castro zur spektakulären Flucht nach vorne: Er gab die bis dahin strikt verbotene Flucht über das Meer frei (s. Gl 17.8.95. S. 7-10) — zum einen, um die USA zur Aufgabe ihrer zynischen Einwanderungspolitik gegenüber Kuba zu zwingen, zum anderen aber auch als soziales Ventil im Lande selbst. Ein Massenexodus war die Folge:

3

Bei der Unterdrückung des Aufruhrs hält sich die uniformierte Polizei im Hintergrund, der entscheidende Teil der Sicherheitskräfte tritt in zivil und als Avantgarde des revolutionären Volkes auf Dazu k o m m t eine rasche Mobilisierung der Arbeiter in den zentral gelegenen Betrieben sowie durch den Kommunistischen Jugendverband und die örtlichen "Komitees zur Verteidigung der Revolution". Ober die Zahl der an den Krawallen Beteiligten gehen die Angaben auseinander; zum Teil ist von "Hunderten", zum Teil von "Tausenden" die Rede. Das Staatsfemsehen meldet später 275 Festnahmen.

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In weniger als einem Monat verließen rund 31.500 Kubaner auf selbstgezimmerten Flößen die Insel (s. Tabelle 20). Unter dem Druck der Massenflucht sah sich die Clinton-Regierung in der Tat zu Verhandlungen mit Kuba gezwungen. Darin verpflichteten sich die USA, kubanische boat people künftig zurückzuweisen und dafür ein jährliches Kontingent von 20.000 legalen Einreisevisa zu gewähren — für die Regierung in Havanna zweifellos ein großer diplomatischer Erfolg. In Kuba selbst jedoch hatte sich in den Wochen der offenen Massenflucht eine Rette-sich-wer-kann-Stimmung breitgemacht, die den deprimierenden Tiefpunkt der sozialen Krise darstellte. Offensichtlich machte sie allerdings auch in den obersten Regierungskreisen deutlich, daß eine Politik des "Weiter-so" keine haltbare Position mehr war. Nur eine Woche nachdem Fidel Castro die Grenzen wieder für geschlossen erklärte, ließ er seinen Bruder, den Armee-Chef und Vize-Präsidenten Raul Castro, die Zulassung von Bauernmärkten bekanntgeben (Gl, 28.9.95) — zweifelsohne der bislang wichtigste und weitreichendste Schritt in der Transformation der kubanischen Peso-Ökonomie.

Wirtschaftsreform als nachholender Schwarzmarkt Sowohl in ihren praktischen Folgen für die Ökonomie als auch in ihrer ideologischen Bedeutung markiert die Zulassung der Bauernmärkte den Beginn einer neuen Etappe im wirtschaftlichen Reformprozeß. Zum einen ist diese Maßnahme für die Bevölkerung unmittelbar und tagtäglich durch die Existenz der Märkte positiv erlebbar. Zum anderen hat sie besonderen Symbolwert, da die Auseinandersetzungen um die Bauernmärkte im sozialistischen Kuba eine lange Geschichte haben. Die Mercados Libres Campesinos (Freie Bauernmärkte) waren 1980 eingeführt worden, in enger Anlehnung an das sowjetische Modell der Kolchosmärkte. Doch 1986, im Zuge der "Kampagne zur Berichtigung von Irrtümern" (Rectificación), hatte Fidel Castro sein ganzes persönliches Gewicht in die Waagschale geworfen, um diese Märkte wieder abzuschaffen, da sie angeblich zur Bereicherung einiger weniger und zu einer Aushöhlung des Sozialismus führten (vgl. Mesa-Lago 1994). Seitdem war die Wiederzulassung der Bauernmärkte auch innerhalb der KP immer wieder verlangt und genauso oft zurückgewiesen worden. Noch in seiner Rede zur Dollarfreigabe hatte Fidel Castro der Idee von "Parallelmärkten" eine Abfuhr erteilt. Gerade die kritische Nahrungsmittellage mache dies unmöglich und erzwinge die staatliche Rationierungspolitik: "Es war einmütige Willenserklärung der Bevölkerung, daß jedes Mal, wenn ein Produkt knapp wurde, man es auf die libreta setzte" (S. 55f. in diesem Band). Noch bei der Tagung der Nationalversammlung im August 1994 war nicht über die Zulassung von Märkten diskutiert worden. Erst die Unruhen in Havanna 108

und die folgende "Abstimmung mit den Flößen" erzwangen diesen entscheidenden Umschwung. Die Regierung interpretierte den Volkswillen kurzerhand um, und im September erklärte Raúl Castro, daß die Wiedereinführung der Märkte mit der "einstimmigen Unterstützung des Volkes erfolge" 4 . Auf den neuen Märkten würde, so erklärte der zweite Mann im Staat freimütig, das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ohne Einmischung des Staates die Preise bestimmen. Die Rechtfertigung für diese ideologische Volte ist bemerkenswert: "Die Preise mögen hoch sein", so Raúl Castro, "aber sie werden in jedem Fall niedriger sein als auf dem Schwarzmarkt" (Gl, 28.9.94, S.9). Schon die Legalisierung des Dollars hatte Fidel Castro damit legitimiert, daß in der Realität der Devisenbesitz bereits eine weit verbreitete Praxis ist ("Wir werden unsere Polizei nicht dazu verwenden, alle Devisen zu jagen..." etc., S. 50ff). Genauso wurde nun auch die Einführung der Bauernmärkte durch den real existierenden Schwarzmarkt gerechtfertigt. Die Reform von oben folgt der ökonomischen Realität, die die Bevölkerung gegen die Gesetze der staatlichen Wirtschaftsordnung geschaffen hat.

Bauernmärkte als Anreiz, das Plansoll zu erfüllen Anbieter auf den neuen Agrarmärkten können im Prinzip alle Kubaner sein: Privatpersonen mit Garten genauso wie unabhängige Bauern, landwirtschaftliche Kooperativen oder die Betriebe der Armee. Auch Zwischenhändler, einst Feindbild Nummer Eins, als es um die Abschaffung der Märkte ging, sind nun als Verkäufer auf den Märkten zugelassen; das Gesetzesdekret nennt sie "Repräsentanten" der Bauern. Bedingung für den Verkauf auf dem Markt ist aber in jedem Fall, daß alle Anbieter zuvor ihr Plansoll gegenüber dem Staat erfüllt haben und nachweisen können, daß sie lediglich Überschußproduktion zu freien Preisen verkaufen. Gänzlich ausgenommen vom freien Verkauf sind lediglich bestimmte Produkte, vor allem Rindfleisch, Zucker, Milch sowie jede Form von Milchprodukten, wie Käse, Quark oder Joghurt. Auf die Verkäufe auf den Bauernmärkten erhebt der Staat eine Steuer, die mit festem Prozentsatz auf den Gesamtwert der verkauften Produktion angelegt wird. Sie liegt im ganzen Land bei 15 Prozent, außer in den beiden Millionenstädten: in Santiago de Cuba sind es 10 Prozent, in Havanna nur noch 5 Prozent. Diese bewußte Bevorzugung soll einen Anreiz schaffen, die landwirtschaftliche Produktion in die großen städtischen Ballungszentren zu bringen. Gleichzeitig dürfte sie aber auch eine Reaktion auf die soziale Krise sein, die, wie die Ereignisse

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Gl, 28.9.94, S.9; um die Rückkehr zu den einst abgeschafften Mercados Libres Campesinos sprachlich zu kaschieren, erhielten die Märkte einen neuen Namen: Mercados Agro-Pecuarios (in etwa: Märkte für landund viehwirtschaftliche Produkte).

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des Sommers gezeigt hatten, am bedrohlichsten in den Städten und insbesondere in Havanna war. In der Folge ist in Havanna das Angebot auf den Märkten tatsächlich sehr breit und auch bei Fleisch und anderen knappen Produkten beständig, während es in den Provinzstädten teilweise erheblich spärlicher ausfällt. Gleichzeitig ist bei den Preisen ein zunehmend regionales Gefalle zu beobachten: In Havanna, wo die kaufkräftige Nachfrage am höchsten ist, liegen die Preise deutlich höher als in den Provinzen. Als zentraler Preisindikator gilt allgemein Schweinefleisch. Bei der Eröffnung der Märkte am 1. Oktober setzten die staatlichen Schweinemastbetriebe dafür allgemein einen Preis von 45 Pesos pro Pfund fest, der den damaligen Schwarzmarktpreis von 75 Pesos deutlich unterbot (nach: Deere 1995, S. 16). Weniger durch eine Ausweitung des Angebots als vielmehr durch die zunehmende Verknappung der kubanischen Währung sind mit der Zeit die Preise auf den Märkten gesunken. So kostete im Oktober 1995 ein Pfund Schweinefleisch in Havanna in der Regel circa 30, in Pinar del Rio hingegen nur 20 Pesos. Die von der Regierung ursprünglich in Aussicht gestellte Verbilligung der Waren auf den Märkten blieb jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Carlos Lage selbst erklärte, daß im ersten Jahr seit Bestehen der Märkte die Preise dort im allgemeinen um lediglich 10% gesunken seien (Lage 1996, S. 11). Damit bleiben die Preise auf den Märkten, gemessen an dem durchschnittlichen staatlichen Monatsverdienst von 180 Pesos, extrem hoch. (Im Vergleich zu den fast symbolischen Preisen der rationierten Waren sind sie exorbitant.) Die Steuern auf den Verkauf sind derweil zu einer nicht unerheblichen Einnahmequelle des Staates geworden. Zwischen Oktober 1994 und Juni 1995 betrug der Umsatz auf den Bauernmärkten nach offiziellen Angaben insgesamt 1,3 Milliarden Pesos (Banco Nacional de Cuba 1995, S. 30). Davon entfielen nicht weniger als 80 Prozent auf private Anbieter, nur 8 Prozent auf Kooperativen und 12 Prozent auf Staatsbetriebe (ebenda). In jüngster Zeit wurde von offiziellen Stellen eine stärkere Teilnahme des Staates an den Märkten verlangt, nicht zuletzt, so Vize-Landwirtschaftsminister Chao, "um damit mehr Einfluß auf die Regulierung der Preise" zu gewinnen (in: Gl, 17.1.96, S. 5). Neben der Aufforderung zur Produktionssteigerung in den Staatsbetrieben soll dies insbesondere dadurch erreicht werden, daß der Staat vermehrt als Zwischenhändler auftritt und Bauern wie Kooperativen deren Überschußproduktion zu attraktiven Preisen abkauft (ebenda).

Die "dritte Agrarreform" kommt nur zäh voran Die Öffnung der Bauernmärkte hat, darüber besteht in Kuba Einigkeit, die nationale Nahrungsmittelproduktion deutlich stimuliert. Für 1995 wird offiziell ein Wachstum

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der Nicht-Zucker-Landwirtschaft um 12 Prozent gemeldet 5 . Dennoch bleibt die Krise des Agrarsektors gravierend. So ist zwar die Reisproduktion von 70.000t 1994 auf ca. 100.000 t 1995 gestiegen, aber sie liegt damit nach wie vor weit unter der Ernte von 1988, die 259.000 t erbrachte — "und auch damals reichte dies nicht, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen", so der zuständige Vize-Minister (ebenda). Zudem geht die Positiventwicklung bei derNahrungsmittelversorgung in erster Linie auf die privaten Produzenten zurück. Diese selbständigen Bauern verfügen in Kuba zwar nur noch über 3,4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, stellen damit jedoch — wie bereits erwähnt — 80 Prozent des neuen Angebots auf den Bauernmärkten. Staatliche Agrarbetriebe, die noch zwei Jahre zuvor über 75 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche verfügten, machen jetzt nur noch knapp ein Drittel aus6. Mehr als 40 Prozent sind inzwischen in den Händen der neuen UBPC-Kooperativen (s. Tabelle 18). Diese Umwandlung hat bisher jedoch offenkundig noch nicht zu neuen Arbeitsanreizen und der erhofften Produktivitätssteigerung geführt. "Die Genossen dieser neuen Kooperativen haben sich noch nicht an die Idee gewöhnt", formuliert dies euphemistisch das Parteiorgan (Gl, 29.11.95). Dahinter verbirgt sich das Problem, daß die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Kooperativen nach wie vor sehr beschränkt ist: Der Plan, nicht die UBPC, bestimmt noch immer weitgehend, was und wo angebaut wird; und der Staat setzt auch als Monopolaufkäufer die Preise für die Produktion fest (außer für den geringen Teil, der auf die Agrarmärkte geht). Die staatlichen Ankaufpreise jedoch liegen sehr niedrig. Offiziellen Schätzungen zufolge arbeiten zwei Jahre nach ihrer Gründung lediglich 50 Prozent der Nicht-Zucker-UBPCs mit Gewinn. Bei den zuckerproduzierenden UBPCs sind es sogar nur 23 Prozent (ebenda). Erschwerend kommt hinzu, daß die UBPC-Kooperativen mit einem gewaltigen Berg von Schulden ins Leben traten, denn der Staat schenkte den UBPCs die bisherigen Staatsfarmen nicht, sondern verkaufte sie ihnen auf Kredit. (Das Land selbst ist lediglich verpachtet, dies allerdings gratis.) Die mit der Gründung "ererbten" Schulden für die Einrichtungen der Betriebe (Häuser, Ställe, Maschinen etc.) belaufen sich auf 1,3 Mrd. Pesos. Hinzu kommen weitere Kredite von 1,1 Mrd. Pesos für den laufenden Betrieb sowie 200 Millionen für Neuinvestitionen (ebenda). Insgesamt summiert sich die Schuldenlast der UBPCs also auf stolze 2,5 Mrd. Pesos. Erwirtschaftete Gewinne müssen daher zu erheblichen Teilen für die Schuldentilgung eingesetzt werden und können weder als Löhne oder Prämien

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Vize-AgraiministerChaoin: Gl, 17.1.96, S. 4. A l s e i n B e i s p i e l f ü h r t e r d i e R e i s p r o d u k t i o n a n , dievon 70.000 t 1994 auf ca. 100.000 t 1995 gewachsen sei. Dies liege jedoch weiterhin massiv unter der Rekorderate von 259.000 t im Jahr 1988. (Die Daten für die Agrarproduktion sind allerdings nicht einheitlich; fast gleichzeitig ist an anderer Stelle von einem Wachstum der Landwirtschaft allerdings um lediglich 4,2 Prozent die Rede; Gl, 10.1.1996).

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Zudem wurden 40.000 ha Land in kleinen Parzellen an Familien übergeben, die dort Kaffee oder Tabak anpflanzensollen (Gl, 17.1.96). Trotzdem verringertesich insgesamt die Landflächein Händen privaterBauem zwischen 1992 und 1994 geringfügig (s. Tabelle 18).

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an die Kooperativenmitglieder ausgezahlt noch für neue Investitionen verwandt werden.

Zucker: Absturz und Wiederbelebungsversuche Entscheidende Bedeutung für die Überwindung der Krise kommt der Zuckerwirtschaft zu. Sie ist das traditionelle Rückgrat nicht nur der Landwirtschaft, sondern der gesamten Ökonomie Kubas. Noch 1990 waren 8 Millionen Tonnen produziert worden, die Zuckerausfuhr machte fast 80 Prozent der gesamten kubanischen Exporte aus (s. Tabelle 3). Seitdem war der Einbruch jedoch verheerend. Nach bereits katastrophal niedrigen Ernteerträgen 1993 und 1994 brachte die 1995 zu Ende gegangene Ernte mit gerade noch 3,3 Millionen Tonnen einen neuen historischen Negativrekord. Fidel Castro selbst sprach von einem "Desaster". Ursachen für den fortdauernden Verfall der Zuckerproduktion liegen zum einen in materiellen Schwierigkeiten: Überall in den Betrieben fehlen Ersatzteile und Treibstoff, Düngemittel und Pestizide. Die Zuckermühlen befinden sich oft in schlechtem Zustand, ebenso Traktoren und Erntemaschinen. Daneben wirkt sich allerdings auch fatal aus, daß für die Betriebe — inzwischen fast durchweg UBPCKooperativen — und die Arbeiter kaum wirtschaftliche Anreize zu effizienter Produktion und höheren Erträgen bestanden. Die Verzerrungen in der kubanischen Ökonomie fordern hier einen hohen Preis: Das monatliche Grundgehalt von rund 300 Pesos, das die Zuckerrohrschnitter für ihre Knochenarbeit bekommen, steht in keinem Verhältnis mehr zu den Preisen auf dem Schwarzmarkt, den legalen Märkten oder den Dollarläden. Eine sinkende Arbeitsmotivation ist die kaum zu vermeidende Konsequenz. Wie sehr die wirtschaftlichen Mechanismen hier versagen, rechnete der kubanische Ökonom Julio Carranza vor: Für eine Kooperative, so die Schätzung, ist es bis zu 60 mal lukrativer, Produkte für den Marktverkauf anzubauen als Zuckerrohr für die Planerfüllung (Gespräch mit dem Verfasser). Den Marktmechanismen, die der Staat eingeführt hat, kann er selbst nur Zwang und Kontrolle entgegensetzen. Doch die Folgen sind naheliegend: Wo immer die Kontrolle umgangen werden kann, wandern knappe Ressourcen wie Düngemittel oder Herbizide nicht, wie vorgesehen, auf die Zukkerrohrfelder für den Export, sondern auf die kleinen Äcker, auf denen Nahrungsmittel zur Selbstversorgung oder für den Markt angebaut werden. Für 1996 hat die Regierung eine deutliche Steigerung der Zuckerrohrernte zur Priorität ihrer Wirtschaftspläne erhoben. Allerdings wurde das ursprüngliche Ziel von 5 Millionen Tonnen inzwischen auf 4,5 Millionen herunterkorrigiert — was immer noch einer Steigerung um über 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspräche. Zu diesem Zweck nahm Kuba Kredite in Höhe von 300 Millionen 112

Dollar auf, um dringend benötigte Inputs wie Herbizide, Düngemittel und Ersatzteile zu kaufen7. Unter anderem wurde in diesem Rahmen auch mit Mercedes Benz ein Vertrag abgeschlossen, der die Umrüstung von 800 Erntemaschinen russisch-kubanischer Bauart und den Einbau neuer Merdedes-Motoren vorsieht (taz, 3.11.95, S. 7). Als materieller Anreiz für die Arbeiter wurden in den Zuckerbetrieben zudem spezielle Läden eingerichtet, in denen sie abhängig von ihrer Arbeitsleistung hochwertige, sonst nur für Dollars erhältliche Waren für normale kubanische Pesos günstig kaufen können (Gl, 17.1.96, S. 5). Mit dieser externen Kreditfinanzierung der Zuckerrohrernte ist diese allerdings zu einer "Hoch-Risiko-Ernte" (Carlos Lage) geworden. Denn die aufgenommenen Kredite wurden zu harten Bedingungen gegeben: Mit Zinssätzen von 12 bis 15 Prozent und einer Laufzeit von einem Jahr oder kürzer (Financial Times, 8.12.95). Um an externe Finanzierung zu kommen, bleibt Kuba zur Zeit keine andere Wahl, als solch harte Konditionen zu akzeptieren. Die Auslandsverschuldung des Landes ist in den vergangenen Jahren weiter angewachsen und läßt nur noch wenig Spielraum (s. Tabelle 12); und zu den Geldern der internationalen Finanzinstitutionen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds hat die Insel trotz erster Annäherungen bislang keinen Zugang. (Selbst wenn Kuba die wirtschaftspolitischen Bedingungen dafür erfüllte, würde eine Kreditvergabe oder gar die Mitgliedschaft nach derzeitigem Stand der Dinge am Veto der USA scheitern.) Ein starker Zuwachs bei der Zuckerernte 1996 ist daher unverzichtbar, um die aufgenommenen kurzfristigen Kredite zurückzahlen zu können. Fidel Castro selbst warnte bereits vor zu großem Optimismus, auch wenn das Plansoll von 4,5 Millionen erreicht wird: "Der größte Teil dieses Zuckers ist bereits vorverpflichtet, um die Schulden zu tilgen."8. Eine neuerliche Mißernte wäre unter diesen Bedingungen fatal. "Die Revolution setzt alles aufs Spiel", erklärte Fidel Castro nicht ohne Dramatik zum Jahresende 1995 vor der kubanischen Nationalversammlung: "Alles kann zusammenstürzen", so der Comandante, "wenn die Zuckerrohrernte fehlschlägt" (El Pais, 28.12.95).

Wo die Erholung der Exporte gelingt: Das Beispiel Tabak Zwischen 1989 und 1993 fiel die kubanische Exportkapazität um fast 80 Prozent (s. Tabelle 7). Diesen Absturz zu bremsen und die Exporteinnahmen der Insel wieder zu steigern wurde angesichts der sich zuspitzenden Devisenknappheit zu

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C a r i b b e a n & Central American Report, 25.1.96; andere Quellen sprechen von 200 Millionen (Wirtschaftliche Mitteilungen 1/96, IAV Hamburg).

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Vgl. Gl, 27.9.95, S. 2. Hinzu kommen bereits eingegangene Lieferverpflichtungen: 400.0001, die 1995 mit China vereinbart wurden, sowie 1 Mio t, die im Rahmen des Zucker-gegen-Öl-Barter-Geschäftsbis März 1996 an Rußland geliefert werden müssen (Financial Times, 8.12.95).

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einer vordringlichen Aufgabe in der Krisenbewältigung. Trotz des fortgesetzten Rückgangs der Zuckerproduktion, dem traditionellen Devisenbringer Nummer Eins, ist seit 1994 wieder ein Wachstum der kubanischen Exporteinnahmen zu verzeichnen (ebenda). Einer der klassischen Exportsektoren Kubas, in dem eine signifikante Wiederbelebung erreicht wurde, ist die Tabakproduktion. Auch hier war der Einbruch nach 1989 dramatisch: In vier Jahren sank der Ernteertrag um über 50 Prozent (El País, 24.9.1995). Die Probleme ähneln denen in der Zuckerwirtschaft: Mangel an Düngemitteln und Treibstoff, Kapital und Herbiziden, Ersatzteilen und Arbeitsanreizen. Für die Ernte 1995 wurde jedoch ein Joint-venture-Abkommen mit der spanischen Firma "Tabacalera" abgeschlossen, das mehr als die Hälfte der gesamten Tabakanbaufläche Kubas umfaßt. Mit rund 40 Millionen D-Mark jährlich finanziert "Tabacalera" die Ernte vor und liefert praktisch alle zu importierenden Inputs, von den Traktorreifen bis hin zu den kleinen vergoldeten Nägelchen für die Zigarrenschachteln (ebenda). Im Gegenzug erhält "Tabacalera" das Recht auf die Vermarktung eines Großteils der Produktion. Wo kubanischer Tabak Weltruhm hat und "Havanna"-Zigarren international trotz sehr hoher Preise auf eine stabile Nachfrage zählen können, ist dies ein überaus lukratives Geschäft für das spanische Unternehmen 9 . Das Abkommen mit dem spanischen Unternehmen umfaßt auch jährlich 2 Millionen Dollar, mit denen ein System von Devisenanreizen für die in der Tabakproduktion Beschäftigten finanziert wird (ebenda). Diese Anreize in harter Währung werden in Form von Prämien neben den normalen Peso-Löhnen vergeben. Je nach Leistung kann es eine Arbeiterin in den Tabakfabriken auf 10, 15 oder 20 Dollar im Monat bringen. Dieser Zusatzverdienst scheint dabei oft wichtiger als der reguläre Peso-Lohn zu sein; auf dem Land stellt er für viele die einzige Möglichkeit dar, um die nur in den staatlichen Devisenläden erhältlichen Waren wie Seife, Shampoo und Hygieneartikel kaufen zu können. Vor Ort wurde bestätigt, daß sich mit der Einfuhrung dieses Devisen-AnreizSystems die Arbeitsdisziplin und -effizienz erheblich verbessert habe (Gespräche des Verfassers in der Tabakfabrik von San Juan y Martínez, Pinar del Río; s. auch: taz, 19.12.95, S. 11). Tatsächlich trug diese Joint-venture-Vereinbarung mit spanischem Kapital zu einer spürbaren Wiederbelebung der kubanischen Tabakwirtschaft bei. 1995 stieg die Produktion um fast 35 Prozent gegenüber dem Voijahr 10 . Wenn die schweren Regenfalle zu Beginn der Tabaksaison 1995/96 nicht zu negativ zu Buche schlagen, ist auch 1996 mit einem weiteren Wachstum zu rechnen.

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Dem Abkommennachkonnte "Tabacalera" 1995 rund28 MillionenZiganenund 7.500 Tonnen Schnitt-Tabak importieren, deren Gesamtwert auf ca. 60 Millionen US-Dollar geschätzt wird (El País, 24.9.1995; s. auch Carranza/Gutiérrez/Monreal 1995, S. 19ff).

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El País, 24.9.1995; Carlos Lage sprach gar von einem Zuwachs von 52 Prozent (in: Gl, 3.1.96, S. 5).

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Auslandskapital und Dollarüberweisungen Auch in anderen wichtigen Exportsektoren konnte die negative Tendenz gestoppt und ansatzweise umgekehrt werden. So werden aus der Zitrusproduktion Exportzuwächse vermeldet (Gl, 27.9.95, S.6), und die Fischwirtschaft konnte für 1995 ein Plus von 14 Prozent verzeichnen (Carlos Lage, in: Gl, 3.1.96, S. 5). In aller Regel spielte dabei die Beteiligung von Auslandskapital eine zentrale Rolle. Paradestück dieser Entwicklung sind die jüngsten Erfolge in der Nickelindustrie. Seit 1989 war die Produktion um mehr als 40 Prozent gesunken (s. Tabelle 5). 1994 wurde dann mit der kanadischen Firma Sherritt eines der umfangreichsten und spektakulärsten Joint-venture-Abkommen abgeschlossen. Dieses macht nicht nur den großen Nickelindustrie-Komplex im ost-kubanischen Moa zu einem kanadisch-kubanischen Gemeinschaftsunternehmen, sondern — und das ist bislang einmalig — sie gibt dem staatlichen Nickelunternehmen Kubas auch eine Beteiligung an der Sherritt-Raffinerie im kanadischen Fort Saskatchewan (Gl, 17.1.96, S. 7; Financial Times, 8.12.95). Der Kapital-Input aus Kanada zeigte in eindrucksvollem Maße Wirkung: Mit einem Wachstum von mehr als 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr konnte 1995 eine Nickelproduktion von über 40.000 Tonnen und damit praktisch wieder das Vor-Krisen-Niveau erreicht werden. Hinzu kommt ein kontinuierliches Wachstum des Tourismussektors. Mit 745.000 Besuchern erreichten die Bruttoeinnahmen 1995 fast eine Milliarde Dollar (s. Tabelle 6). Nach wie vor bleibt jedoch die sehr hohe Importabhängigkeit ein entscheidendes Problem der kubanischen Tourismusbranche, das die Nettoeinnahmen des Landes empfindlich schmälert. Nicht für den Export, jedoch als Importsubstitution für Kubas angespannte Devisenbilanz von Bedeutung ist die Steigerung der kubanischen Erdölproduktion, die von 1989 bis 1994 fast verdoppelt werden konnte (s. Tabelle 4). Eine Reihe ausländischer Konzerne ist insbesondere an Off-shore-Bohrungen beteiligt. Dennoch deckt die einheimische Erdölgewinnung weniger als ein Viertel des nationalen Verbrauchs. Der Importbedarf bleibt hoch: 1994 machten Öl und Treibstoffe nicht weniger als 39 Prozent der gesamten Einfuhr Kubas aus (s. Tabelle 8). Trotz einer Reihe bemerkenswerter Erfolge liegen die kubanischen Exporteinnahmen noch immer um mehr als 70% unter denen von 1989 (s. Tabelle 7). Damit bleibt auch bei einer radikalen Drosselung der Importe die kubanische Handelsbilanz chronisch defizitär (ebenda). Seit der Legalisierung des Dollars sind vor allem die Überweisungen von emigrierten Kubanern an ihre Verwandten auf der Insel zu einer entscheidenden Quelle geworden, um dieses Defizit auszugleichen. So weist die kubanische Nationalbank in der Zahlungsbilanz für 1994 einen Betrag von 574,8 Millionen Dollar unter der Rubrik "Laufende Transfers" aus, die, wie ausdrücklich erklärt wird, "hauptsächlich auf Schenkungen und Überweisungen" zurückzufuhren sind (Banco Nacional de Cuba 1995, S. 20f; s. auch Tabelle 9). Um die Größenordnung deutlich zu machen: 574,8 Millionen

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Dollar waren 1994 mehr als die gesamten Einnahmen durch die Zuckerexporte des Jahres. Ähnlich hoch liegt mit 563,4 Millionen Dollar der Kapitalzufluß, den Kuba 1994 durch ausländische Direktinvestitionen — in aller Regel im Rahmen von Jointventure-Vereinbarungen — verzeichnen konnte (ebenda). Offiziellen Angaben zufolge wurden bis Ende 1995 in Kuba insgesamt 212 Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Firmen gegründet. Die darin vereinbarte Kapitalsumme belief sich auf zusammen 2,1 Milliarden Dollar (Carlos Lage, in: Gl, 3.1.96). Um diesen Prozeß weiter voranzutreiben, verabschiedete die kubanische Nationalversammlung im September 1995 ein neues "Gesetz über ausländische Investitionen in Kuba" 11 , das über Mischuntemehmen hinaus auch lOOprozentige Auslandsinvestitionen zuläßt. Zudem werden bislang verschlossene Bereiche wie die Zuckerindustrie und der Immobiliensektor grundsätzlich für ausländische Investitionen geöffnet. Prinzipiell ausgeschlossen bleiben lediglich das Erziehungsund Gesundheitswesen sowie der Bereich von Militär und Landesverteidigung. Drei Durchfuhrungsgesetze sind in Arbeit: eines zu den geplanten Freihandelszonen, ein zweites zum Immobiliensektor und ein drittes zum Gesellschaftsrecht, das den quasi-staatlichen kubanischen "Aktiengesellschaften" eine neue rechtliche Grundlage geben soll (El Pais, 7.9.95). Nach wie vor dürfen ausländische Unternehmen jedoch nicht direkt Arbeiter anstellen, sondern müssen sich diese durch eine staatliche Beschäftigungsgesellschaft vermitteln lassen. Darüber hinaus sind die neuen, im Gesetz eingeräumten Investitionsmöglichkeiten eben auch nur das: Möglichkeiten. Die Regierung stellte klar, daß über jedes Projekt auf höchster staatlicher Ebene jeweils einzeln entschieden werde, und daß man nach wie vor Joint-venture-Y ormen hundertprozentigen Auslandsinvestitionen vorziehe (Nachrichten für den Außenhandel, 19.10.95). So ist nicht mit einem plötzlichen "Ausverkauf' des Landes zu rechnen; die Öffnung im Immobilienbereich etwa, die im Ausland teilweise große Begehrlichkeiten geweckt hatte, wird den bisherigen Plänen nach nur überaus vorsichtig und in geringem Umfang umgesetzt. Derzeit ist nicht vorgesehen, daß sich etwa Ausländer in Kuba bereits bestehende Häuser oder Gebäude von Privatpersonen kaufen können. Vielmehr ist davon auszugehen, daß allein der Staat bzw. eine halbstaatliche Firma Immobilien an Ausländer vermieten, verpachten oder verkaufen wird (zu den bisher angelaufenen Projekten s. Financial Times, 8.12.95). Bei der Verabschiedung des Auslandsinvestitionsgesetzes hob Fidel Castro ausdrücklich hervor, daß nicht nur US-Firmen, sondern auch Exil-Kubaner als Investoren auf der Insel erwünscht sind, sofern sie keine "feindliche Haltung" an den Tag legen (dpa, 5.9.95). In der Außenwirkung war dies ein geschickter Schachzug, um den "neuen Pragmatismus" der kubanischen Wirtschaftsöffnung zu unterstreichen; zudem ist das Locken mit Geschäftsmöglichkeiten die wirksamste

Gesetz Nr. 77 vom 5.9.95; der volle Wortlaut in autorisierter Übersetzung findet sich als Beilage in der deutschsprachigen Ausgabe der "Granma Internacional" vom November 1995.

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Waffe der kubanischen Regierung, um die Embargo-Front in den USA und auch innerhalb der kubanischen Exilgemeinde aufzubrechen. In Kuba selbst allerdings warfen die Äwimeis-Möglichkeiten, die künftig den Exil-Kubanern gewährt werden sollten, eine andere, oft mit großer Bitterkeit gestellte Frage auf: Und was ist mit den Kubanern, die auf der Insel geblieben sind? Schon die Privilegien, die ausländischen Touristen und Kapitalisten eingeräumt wurden, hatten bei ihnen vielfach ein Gefühl von "Bürgern zweiter Klasse im eigenen Land" hervorgerufen. (Das in diesem Band abgedruckte Lied "100% kubanisch" von Pedro Luis Ferrer ist ein ironisch gewendeter Ausdruck davon.) Nun sollte also noch eine Vorzugsbehandlung für jene Kubaner hinzukommen, die der Revolution den Rücken gekehrt hatten?12 Das Gesetz, das schon seinem Namen nach um ausländische, nicht um inländische Investitionen bemüht ist, warf damit auch ein Schlaglicht auf die Diskrepanz zwischen der Marktöffnung nach außen und dem Widerstreben der Regierung, gleiche wirtschaftliche Freiräume auch nach innen zuzulassen.

Haushaltssanierung und ihre Kosten Dabei sieht sich Kuba heute vor einem Problem, das man mit dem Sozialismus einst abgeschafft glaubte: Das Gespenst der Massenarbeitslosigkeit geht um. Denn wenn die Sanierung der Staatsfinanzen und des Haushalts dauerhaft gelingen soll, dann müssen die alljährlichen Milliarden-Subventionen für die defizitären Staatsbetriebe abgebaut werden. Damit aber steht ein massiver Personalabbau an. Ökonomen in Havanna gehen teilweise von einer Million und mehr Kubanern aus, die zwangsläufig ihre derzeitige Arbeit verlieren werden13. Und die neu entstehenden modernen Sektoren, die sich um die Joint-venture-Unternehmen herum bilden, kommen in der Regel mit sehr viel weniger Arbeitskräften aus, als es zuvor in der Staatswirtschaft üblich war. Als etwa das "Habana Libre"-Hotel in ein kubanisch-spanisches Mischunternehmen umgewandelt wurde, ging damit dem Vernehmen nach eine Reduzierung des Personalstands um 60 Prozent einher. Im Sommer 1995 hatte Fidel Castro selbst von 500.000 zu entlassenden bzw. "umzusetzenden" Arbeitern und Angestellten gesprochen. Nach einer Reihe von

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In bizarr anmutenden Wendungen versuchte der Präsident der Nationalversammlung, Ricardo Alarcön, zu argumentieren, daß das Gesetz für ausländische Investitionen die kubanischen Bürger nicht diskriminiere und diese "wie jeder andere kapitalistische Partner der kubanischen Regierung" in Kuba investieren könnten, wenn sie das Kapital hätten (El Pais, 7.9.1995).

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Gespräche des Verfassers; Carranza Vald6s sprach in einem Zeitungsinterview vorsichtig davon, daß "Schätzungen zufolge die Beschäftigtenzahl, die nicht ökonomisch gerechtfertigt ist, zwischen 500.000 und einer Million" liege (Pägina 12, Buenos Aires, 31.10.95). Bislang waren die Entlassungen vergleichsweise gering: So gingen 1994 nach offiziellen Angaben insgesamt nur rund 93.000 Arbeitsplätze verloren (El Pais, 20.7.95).

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Gewerkschaftskongressen und offenbar erheblichen politischen Auseinandersetzungen auf höchster Ebene wurden diese bereits angekündigten Massenentlassungen jedoch fürs erste verschoben; stattdessen soll nun eine landesweite "Bestandsaufnahme der Arbeitssituation" (diagndstico laboral) durchgeführt werden. Daß sich damit die aufgestauten Probleme verringern werden, ist indes kaum zu erwarten. Allerdings kann die Regierung bereits jetzt auf eine relative Sanierung des Haushalts verweisen (s. Tabelle 13). Dies wurde vor allem durch eine massive Kürzung der Subventionen erreicht. Daß dieser Abbau des Defizits 1994 derart spektakulär ausfiel (um mehr als 70 Prozent in nur einem Jahr!), war jedoch auch einem "technischen Trick" zu verdanken, der bislang zumeist unbeachtet geblieben ist. So wurden den Agrarbetrieben, die 1993 mit rund 3 Mrd. Pesos das Gros der staatlichen Subventionen verschlangen (Gl, 22.11.95), diese zwar drastisch zusammengestrichen, jedoch gleichzeitig eine Hintertür geöffnet, die einen massiven realen Geldzufluß vom Staat an die Betriebe auf andere Weise ermöglichte: in Form der 1,3 Milliarden Pesos, die den UBPC-Kooperativen 1994 als Kredite gegeben wurden. Diese tauchen damit nicht im Staatshaushalt als Ausgaben auf, sondern lediglich bei der Nationalbank als Außenstände. Gleichwohl sind sie kaum nach den Rentabilitätskriterien "normaler" Bankenkredite vergeben worden. Das so verlagerte Problem wird somit dann wieder akut werden, wenn die für 1996 angekündigte Reform des Bankenwesens umgesetzt wird, die auch in Kuba wieder die klassische Trennung von Zentralbank und Geschäftsbanken einfuhren soll.

Tauziehen um selbständige Arbeit Die Zulassung der Bauernmärkte im Oktober 1994 hatte das Augenmerk der wirtschaftlichen Umgestaltung stärker als zuvor auf die nationale Peso-Ökonomie gelenkt. Denn mit ihnen erhielt der ausgeuferte Schwarzmarkt erstmals spürbar legale Konkurrenz. Anfang Dezember folgte der Öffnung der Agrarmärkte die der staatlichen Märkte für Industrie und Handwerksprodukte, deren wirtschaftliche Bedeutung allerdings sehr viel geringer blieb. Dennoch wurde auch hier erstmals ein Angebot, das bislang oft nur über den Schwarzmarkt zu beziehen war, wieder an die Oberfläche der legalen Wirtschaft gehoben. Gemessen an den staatlichen Löhnen sind die Preise allerdings auch hier extrem hoch: Ein Rattan-Tisch mit vier Stühlen beispielsweise kostete im Oktober 1994 etwa 2.000 Pesos, circa 10 durchschnittliche Monatslöhne. Nur sehr vorsichtig wurde derweil die Palette von Berufen ausgeweitet, die als "Arbeit auf eigene Rechnung" betrieben werden können: Anfang 1996 war die ursprüngliche Zahl der erlaubten Gewerbe von 117 auf 160 angewachsen. Darunter befand sich allerdings auch der "Verkauf von leichten Mahlzeiten", was sehr schnell zu einem regelrechten Boom von kleinen Imbißständen führte, die auf 118

der Straße oder über den heimischen Gartenzaun Süßigkeiten und Kaffee, belegte Brote und hausgemachte Säfte, Teigtaschen und Sesamriegel verkauften. Auch den zuvor ausgenommenen Akademikern wurde nun prinzipiell selbständige Arbeit erlaubt, allerdings nur als Zusatzverdienst, nicht als Vollerwerbstätigkeit (Gl, 19.7.95). Grundsätzlich blieben jedoch die strukturellen Probleme privater Wirtschaftstätigkeit in Kuba unverändert bestehen: nach wie vor gibt es kaum Möglichkeiten für Selbständige, in nennenswertem Umfang Arbeitsmittel und Produktionsw/wto legal zu kaufen, von Rohren für den Klempner bis hin zum Zucker für die Süßwaren im Straßenverkauf. Überdies ist es in den besonders attraktiven Gewerben in der Praxis teilweise schwer bis unmöglich, Lizenzen zu bekommen. Als offenes Geheimnis etwa gilt, daß in Havanna die Lizenzen zum Taxi-Fahren großteils den Pensionierten des Innenministeriums und anderer staatlicher Stellen vorbehalten und für Kubaner ohne Beziehungen kaum zugänglich sind. Das Anmieten von Ladenräumen bleibt bis dato Privatpersonen genauso verboten wie die eigenständige Gründung von Kooperativen oder das Einstellen bezahlter Arbeitskräfte. In der Folge ist die Dynamik dieses legalisierten Sektors sehr begrenzt geblieben. Waren im Mai 1994 bereits 162.000 "auf eigene Rechnung Arbeitende" registriert (Gl, 19.7.95), stieg diese Zahl bis Anfang 1996 auf lediglich 204.000 an (Gl, 3.1.96, S.7) — bei einer erwerbstätigen Bevölkerung Kubas von circa 3 bis 4 Millionen Personen. Zudem waren ein Viertel der registierten Selbständigen Rentner und Pensionäre (ebenda). Fast die Hälfte der "auf eigene Rechnung Arbeitenden" verteilt sich auf nur fünf Gewerbe: Taxifahrer, Imbißverkauf, Automechaniker, Tischler und Kuriere (Carlos Lage, nach: Caribbean & Central American Report, 25.1.96). Der Großteil des rapide anwachsenden Kleingewerbesektors bewegt sich weiterhin im Bereich des Schwarzmarkts oder der großen Grauzone des in der Praxis vielfach Tolerierten, prinzipiell jedoch Verbotenen. Es ist bezeichnend, daß diese Grauzone in Kuba inzwischen auch von offiziellen Kreisen und sogar der Parteipresse oft nicht mehr als "illegal", sondern als "informell" bezeichnet wird' 4 . Unabhängig davon gibt es jedoch immer wieder polizeiliche Maßnahmen, wie Durchsuchungen, Beschlagnahmungen, Verhaftungen und Razzien, die — mit teilweise hohen Kosten für die Betroffenen — exemplarisch die Grenzen des Zulässigen abstecken 15 . So feierte Kubas "zweite Ökonomie" noch keineswegs den Durchbruch "from behind the scenes to center stage", wie es der Titel einer

So etwa auch bei der Einführung offizieller Geldwechselstuben Ende Oktober '95, die, wie das Parteiorgan "Granma" schrieb, für den Tausch zwischen Pesos und Dollar "den gleichen Kurs verwenden, der auf dem informellen Markt für Devisen herrscht" (Gl, 1.11.95, S. 5). Der Generalstaatsanwalt Juan Escalona nannte für 1995 eine offizielle Zahl von 541 Razzien gegen "Schwarzmarktbonzen"; dabei seien 208 Autos, 121 Motorräder, 56 Lastwagen sowie 188 Häuser konfisziert worden (Latin American Weekly Report 25.1.96).

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US-amerikanischen Untersuchung ankündigt (Pérez-López 1995), sondern sie bleibt unter dem jederzeit abrufbaren Damokles-Schwert prinzipieller Illegalität. Für Aufsehen sorgte ein Schritt im Juni 1995, als erstmals auch richtige KleinRestaurants, vom kubanischen Volksmund paladares genannt, legalisiert wurden. Damit wurde bei den Freiberuflern erstmals signifikant ein Niveau zugelassen, das über einen informellen Sektor auf niedrigem Niveau hinaus in Richtung Kleinunternehmertum weist — politisch eine noch immer überaus heikle Frage in Kuba. In wenigen Monaten entstanden in den Städten eine ganze Reihe von Restaurants mit teilweise bemerkenswerter Qualität, die der staatlichen Gastronomie auch bei der touristischen Kundschaft bereits einige Konkurrenz macht. Die Regierung ist bislang allem Anschein nach mehr um Begrenzung denn um Förderung dieser Entwicklung bemüht. Den neuen Klein-Restaurants wurde eine ganze Reihe von Einschränkungen auferlegt. So dürfen sie maximal 12 Sitzplätze haben, es dürfen keine Räume angemietet werden, und alle Mitarbeiter müssen theoretisch Familienmitglieder sein, die nicht individuell entlohnt werden. Darüber hinaus kann jederzeit die Lizenzvergabe von den lokalen Behörden verweigert werden. Erst Anfang des Jahres 1996 erteilte die Regierung im Zentralorgan "Granma" den Hoffnungen auf eine rasche Ausweitung der selbständigen Arbeitsmöglichkeiten eine Abfuhr: Es gehe darum, das Gegenwärtige zu konsolidieren, nicht es auszuweiten 16 .

Die Rückkehr der Ungleichheit In der Härte der Wortwahl ging Fidel Castro bereits sehr viel weiter. Mit Blick auf die selbständig Arbeitenden erklärte er vor der Nationalversammlung, Aufgabe der Revolution sei es, das Entstehen einer "neuen sozialen Klasse" Wohlhabender und "Neureicher" zu verhindern (El Financiero, México, D.F., 28.12.95). In der Tat erlebt Kubas Gesellschaft eine soziale Differenzierung, wie es sie seit der Revolution 1959 nicht gekannt hatte. Dabei sind jedoch die von Castro als "Neureiche" ausgemachten Selbständigen nur in relativ wenigen Fällen "reich", sondern eher eine Art spezifisch kubanische "Mittelschicht". Daß die mildtätigen Geschenke der Verwandten aus Miami, ein privates Klein-Restaurant im heimischen Wohnzimmer oder die Trinkgelder eines Hotelkellners zum Symbol für den

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Vizeminister für Arbeit und Soziales, Conrado Valladares in: Gl, 3.1.96; die Überschrift des Interviews vermittelte die Botschaft denkbar deutlich: "Trabajo por cuenta propia - Por ahora, solo controlar" (in etwa: "Arbeit auf eigene Rechnung - derzeit geht's nur darum, sie zu kontrollieren"). Neben administrativen Restriktionen soll diese verstärkte Kontrolle insbesondere durch den Aufbau eines neuen Steuersystems erfolgen, über die bisherigenLizenzgebtlhrenhinaus;ftlr Dollar-Einkommen wurde bereits eine(in Devisen zu zahlende) Steuerprogression beschlossen, die von 10% ftir Einkommen bis US$ 2.400 jährlich bis hin zu einem Steuersatz von 5 0 % für Einkommen Uber US$ 60.000 jährlich reicht (Gl, 20.12.95, S. 11).

Sozialneid auf eine "neue Klasse" werden können, verweist vielmehr vor allem darauf, wie tief die Löhne in der übrigen Peso-Ökonomie gesunken sind. Es sind daher gar nicht so sehr die halbherzigen Reformschritte, als vielmehr das Ausmaß und die Wucht der aufgestauten Probleme, die Kubas soziales Gefüge zu zerreißen drohen. Zwar sind die Gehälter in den staatlichen Betrieben, im Gesundheits- und Erziehungswesen oder in der Verwaltung nominell konstant geblieben. Doch in dem Maße, in dem die staatlich subventionierte Verteilungswirtschaft der Rationierungskarten und künstlich verbilligten Preise erodiert ist, haben die offiziellen Gehälter eine brutale Entwertung erfahren. Denn gemessen an den Löhnen sind die Preise auf den Märkten extrem hoch. In der Praxis sind deshalb fast alle staatlichen Arbeiter und Angestellten auf Zusatzverdienste irgendeiner Art angewiesen. Gerade auch in den Bereichen des Erziehungs- und Gesundheitswesens, die den Stolz der Revolution ausmachen, haben die schlechten Löhne zu massiven Problemen bei der Arbeitsmoral und zu einer hohen Kündigungsrate gefuhrt. Auch die sprunghaft gestiegene Zahl von "Frühverrentungen" ist ein Ausdruck dieser grundlegenden Krise der staatlichen Ökonomie und ihrer Arbeitsbeziehungen 17 . Zwar ist es der Regierung gelungen, den freien Wechselkurs des Dollars auf dem Schwarzmarkt seit Sommer 1995 recht stabil bei ungefähr 1 Dollar = 25 Pesos zu halten, dennoch ist dies ein dramatisch niedriges Niveau: Der durchschnittliche Monatslohn von 180 bis 200 Pesos entspricht damit gerade mal 7 bis 8 Dollar. Und seitdem im Oktober 1995 offizielle Wechselstuben eingerichtet wurden, die zu eben diesem Kurs ganz legal tauschen, kann dieses Mißverhältnis auch nicht mehr den Machenschaften finsterer Schwarzmarkthändler zugeschoben werden, sondern hat es höchsten staatlichen Segen18. Daneben allerdings fuhrt die nur partielle wirtschaftliche Liberalisierung gerade im Verbund mit den strukturellen Finanzungleichgewichten der kubanischen Ökonomie auch zu einer zunehmenden Konzentration des Geldvermögens in Pesos. Dies gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem die kubanische Währung an Wert gewinnt. Da die umlaufende Peso-Menge zu mehr als der Hälfte auf Bankkonten ruht (s. Tabelle 10), läßt sich die Vermögenskonzentration teilweise sogar in Zahlen fassen: Demzufolge lagen im Juni 1995 lediglich auf 2,4 Prozent aller Sparguthaben 47,4 Prozent des in den Banken deponierten Peso-Vermögens; demgegenüber waren am unteren Ende der Skala auf ganzen 64,4 Prozent der Guthaben lediglich 2,9 Prozent des deponierten Geldes (s. Tabelle 11). Die derzeitige Tendenz weist eindeutig in Richtung auf eine weitere Konzentration

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Erfolgten 1990 lediglich 25,9% der Verrentungen vorzeitig, waren es 1995 bereits 38,5%; das stärkste Wachstum sei dabei in den Bereichen "staatlicher Verwaltung und Dienstleistungen" zu verzeichnen (Gl, 3.1.96, S. 2). Die Parteizeitung führt dies auf "Vetternwirtschaft, Bestechung, Verantwortungslosigkeit und mangelnde professionelleEthik"derjenigenÄrztezurück,dieeineüberdimensionierteAnzahlvonArbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausstellen (ebenda).

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Die formelle Irl-Parität von dem normalen kubanischen Peso und dem US-Dollar lebt praktisch nur noch für die Statistiken weiter (s. Anhang).

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des Vermögens: Zwischen Dezember 1994 und Juni 1995 stieg der Anteil der gesparten Geldmenge auf den wenigen Konten (unter 1 Prozent) mit mehr als 100.000 Pesos von 0,6 auf 9,7 Prozent19. Durch die Verzerrungen in der kubanischen Wirtschaft funktionieren insbesondere die Bauernmärkte als riesiger "Peso-Staubsauger": Die Bauern oder Zwischenhändler, die hier zu hohen Peso-Preisen ihre Waren verkaufen, finden für die so eingenommenen Pesos kaum ein attraktives Warenangebot, für das sie das Geld wieder in den Wirtschaftskreislauf bringen würden. Hier findet eine Geldakkumulation statt, die bislang nicht in produktive Investitionen umgesetzt werden kann, da es praktisch keinen freien Verkauf von Agravinputs gibt. Der Währungsüberhang, der noch zwei Jahre zuvor zum zentralen Problem der kubanischen Ökonomie erklärt worden war, hat sich dermaßen verschoben, daß die Reduzierung der umlaufenden Geldmenge in nennenswertem Maße nur noch sehr selektiv erfolgen kann, wenn er nicht zu einer weiteren Verarmung breiter Bevölkerungskreise führen soll. Wie Finanzminister Miliares erklärte, wolle man den weitgehend auf dem Land akkumulierten Geldüberhang insbesondere durch das "Angebot bestimmter Artikel" abschöpfen (Gl, 20.12.95, S. 11). Gedacht ist da nach Angaben von kubanischen Wissenschaftlern zunächst an hochwertige Produkte wie Pferdesättel, Häuserbau und auch Agrarinputs. Einige Ökonomen argumentierten allerdings bereits, daß all dies kaum ausreichend sei, da dem Staat die materiellen Ressourcen dafür fehlen, in großem Stil hochwertige Produkte anzubieten; die Ressource, über die er jedoch "kostenlos" verfügt, sei Land, und man würde dazu kommen müssen, den Bauern in begrenztem Maße Land gegen Pesos zu verkaufen. Von anderen Wissenschaftlern wurde eine solche Vorstellung jedoch als "agrarische Konterreform" bezeichnet, die "politisch undenkbar" sei (Gespräche des Verfassers in Havanna, Oktober 1995).

Von der dualen Wirtschaft zur Dollarisierung ? Castros rhetorischer Hieb gegen die Gefahr einer "neuen sozialen Klasse" von "Neureichen", die er vor allem durch die Legalisierung selbständiger Arbeit drohen sieht, ist auch ein politisches Ablenkungsmanöver. Denn in der Tat bildet sich in Kuba eine neue Elite heraus. Diese jedoch wird — und dies unterschlägt der Comandante en Jefe der Revolution — zu einem erheblichen Teil aus der herrschenden Elite aus Staat, Partei und Armee rekrutiert. Gerade die fehlende wirtschaftliche Rechtssicherheit und die unhinterfragbare Einparteienherrschaft

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Ebenda. Es ist eines der zentralen Argumente von Carranza/Gutiérrez/Monreal(1995), daß diese so stark die soziale Ungleichheit verschärfende Entwicklung vermeidbar gewesen wäre, wenn vor Ö f f n u n g der Bauemmärkteein Währungsschnitt stattgefunden hätte, so daß die weiteren Reformschritte auf der Basis eines relativen monetären Gleichgewichts in der kubanischen Ökonomie hätten ausgehen können.

erlaubt es dieser, ihre politische Macht in neue wirtschaftliche Funktionen umzusetzen und sich in einer Art "Kader-Kapitalismus" den exklusiven Zugang zu den lukrativen Posten in Joint-venture-Firmen und Devisenläden, im Management der Touristenhotels und in den staatlich kontrollierten Handelsgesellschaften zu sichern (s. auch Gunn in diesem Band). Im Alltag spürbar werden die neuen materiellen Ungleichheiten in der kubanischen Gesellschaft sowohl an der ungleichen Verteilung des Peso-Vermögens, krasser aber vielleicht noch an der rasant zunehmenden Dollarisierung der Wirtschaft — und diese wird nicht betrieben durch "auf eigene Rechnung Arbeitende" als vielmehr durch den Staat selbst. So werden die staatlichen Devisenshops kontinuierlich landesweit ausgeweitet, und im Land der chronischen Energienot erleben die Dollar-Tankstellen der Staatsfirma "Cupet" sogar einen regelrechten Neubau-Boom, mit digitalen Zapfsäulen und modernsten Computerkassen. An vielen Orten werden auch Cafeterías, die vorher zu Peso-Preisen verkauften oder leerstanden, in modern ausgestattete Fast-Food-Läden umgewandelt, die "Burgui" oder "El Rápido" heißen, 24 Stunden am Tag geöffnet sind und gegen Dollars Hot-Dogs, Pepsi-Cola und Heineken-Bier verkaufen. Die anvisierte Kundschaft dieser Dollarinseln in der Hand staatlicher Firmen sind dabei keineswegs mehr Ausländer, sondern normale Kubaner mit Zugang zu Devisen. Gerade in Havanna, wo sich die Masse der ins Land kommenden Dollars konzentriert, ist die Nachfrage nach diesem Dollar-Angebot ungebrochen stark. Um an diesem Beispiel noch einmal deutlich zu machen, wie eklatant sich das ökonomische Auseinanderbrechen der kubanischen Gesellschaft darstellt: Eine Rentnerin, die vom Staat 80 Pesos monatlicher Rente erhält, könnte sich damit bei "El Rápido" nicht einmal einen Hamburger und eine Cola kaufen. Das, was früher bitter "Touristenapartheid" genannt wurde, ist vorbei; stattdessen hält eine neue, teilweise krasse Ungleichheit in die kubanische Gesellschaft Einzug. Das duale Wirtschaftsmodell war von einer Zweiteilung der Ökonomie in eine Dollar- und eine Peso-Sphäre ausgegangen (vgl. auch Henkel 1996). Nun jedoch kippt es zunehmend in Richtung einer Dollarisierung der Gesamtökonomie. Hierzu gehört auch die Einfuhrung eines neuen "konvertiblen Pesos", der fest 1:1 an den Dollar gebunden ist und in allen Devisenshops als Dollaräquivalent akzeptiert wird. Die Regierung garantiert die volle Devisendeckung dieses Peso convertible — womit dieser allerdings auch nur in geringem Maße ausgegeben werden kann, denn schließlich sind auch die Währungsreserven des Landes auf ein Minimum gesunken. Damit ist der "Devisen-Peso" zur Zeit in der Praxis eher eine Art "hausgemachtes Dollar-Kleingeld" als eine Währungsalternative, die in absehbarer Zeit den "normalen" kubanischen Peso ersetzen könnte. Dennoch ist die Regierung bemüht, etwa die Devisenanreize zur Arbeitsmotivation (wie in der Tabakproduktion, s.o.), in den neuen "konvertiblen" Peso-Scheinen und nicht in echten US-Dollars zu bezahlen. Derweil erlebt auch die Ökonomie des "normalen" kubanischen Peso ihrerseits eine Zweiteilung: auf der einen Seite die durch Angebot und Nachfrage bestimmte 123

Sphäre der Märkte und der selbständigen Arbeit, in der sich der kubanische Peso als inzwischen relativ stabile Währung, wenn auch auf niedrigem Niveau, behauptet; und auf der anderen Seite die alte Ökonomie der Rationierungskarten und staatlichen Billigpreise, die zunehmend erodiert und auf die Rolle eines löchrigen "sozialen Netzes" reduziert wird, an deren Preisen sich aber noch immer die staatlichen Peso-Löhne orientieren.

US-Embargo und kein Ende? Bei all dem hat die wirtschaftliche Außenöffnung Kubas die Blockade-Politik der USA deutlich stärker unter Druck gebracht, als es die alljährlichen Verurteilungen des Washingtoner Handelsembargos durch die UNO-General Versammlung vermochten. In dem Maße, in dem das sozialistische Kuba attraktive Geschäftsmöglichkeiten für ausländische Unternehmen bietet, wird das Embargo Washingtons zunehmend zu einem Ärgernis und "Standortnachteil" für die US-Firmen. Deren wachsendes Interesse ist kaum zu übersehen: So sind Unternehmen wie Pepsi- und Coca-Cola über Umwege längst in den kubanischen Devisenshops und Hotels im Angebot vertreten; und ihre Repräsentanten eruieren bereits die Möglichkeiten für eine Formalisierung und Ausweitung der Geschäftsbeziehungen für den Tag, an dem die politischen Verhältnisse dies gestatten (s. taz, 31.10.95, S. 7). Im Herbst 1995 reiste die bislang wohl hochkarätigste Gruppe von Geschäftsleuten aus den USA (mit Vertretern von großen amerikanischen Firmen, von General Motors über Sears bis Harley Davidson) öffentlich nach Havanna und traf dort auch mit Fidel Castro selbst zusammen — deklariert als "Informationsreise", um den Embargobestimmungen Genüge zu tun. Und als der kubanische Revolutionsfuhrer zum 50. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen New York besuchte, wurde er vom offiziellen Protokoll der US-Regierung zwar gemieden, doch von am Kuba-Handel interessierten Geschäftsleuten wurde ihm ein großer Empfang geboten. Mit einer Reihe von US-Konzernen bestehen nach Angaben der kubanischen Regierung bereits verbindliche Vorverträge. In einer langen Auflistung all der Behinderungen und Probleme, die das Embargo und seine Ausweitung auf Drittstaaten für Kuba bedeutet, bezifferte Außenminister Robaina die dadurch entstandenen Kosten allein für das Jahr 1994 auf eine Milliarde US-Dollar 20 . Derartige Rechnungen sind natürlich immer auch Teil der Regierungspropaganda und im einzelnen kaum nachprüfbar. Dennoch ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß — insbesondere seit die sozialistischen Handelspartner weggebrochen sind und Kuba auf eine Neu-Integration in die Weltwirtschaft zwingend angewiesen ist — die Blockade-Politik der USA ein

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Offener Brief an UNO-Generalsekretär Butros Ghali, in: Gl, 30.8.95, S. 3-5.

dramatisches, praktisch alle Bereiche der kubanisches Wirtschaft betreffendes Problem darstellt, das enorm schwer auf der Ökonomie Kubas lastet. Dabei sagen die Versuche, die Kosten des Embargos in Dollar und Cent zu beziffern 21 , letztlich noch wenig über die tatsächlichen Folgen und Probleme aus. Allein aufgrund der geographischen Nähe und ihrer Wirtschaftskraft wären die USA für die allermeisten Produkte und Dienstleistungen der natürliche Markt Kubas. Ohne Frage ist es für die wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven der Insel von allergrößter Bedeutung, ob die USA ihre Embargo-Politik in absehbarer Zeit aufheben oder lockern. Große Beachtung fand in Kuba daher, daß die USA Anfang 1994 das Wirtschaftsembargo gegen Vietnam aufhoben, trotz der historischen Erblast des Krieges und der fortgesetzten Herrschaft der Kommunistischen Partei. Im Fall Kuba ist man jedoch offenbar noch keineswegs so weit. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im August 1994 hatte Präsident Clinton eine weitere Ausweitung der Embargo-Bestimmungen verfügt, die vor allem die Dollar-Überweisungen von Verwandten sowie den Flugverkehr zwischen Miami und Havanna beschnitten. In anderen Bereichen, etwa der Wiederaufnahme regulären Telefonverkehrs, gab es Schritte der Annäherung. Auch das Immigrationsabkommen, das zur Beilegung der Flüchtlingskrise geschlossen wurde, weist auf eine tendenzielle Normalisierung der Beziehungen. Anfang Oktober 1995 gab Clinton ein weiteres Paket kleinerer Lockerungsmaßnahmen bekannt, die insbesondere den kulturellen und Medienaustausch erleichtern, Reisemöglichkeiten ausweiten und auch den — in der Praxis sowieso wenig wirkungsvollen — Bann auf Geldüberweisungen nach Kuba teilweise aufheben sollten22.

Sieg der Hardliner in den USA: Das Helms-Burton-Gesetz Derweil arbeiteten die rechten Hardliner im US-Kongreß und innerhalb der kubanischen Exilgemeinde mit Hochdruck an einer Gesetzesinitiative zur neuerlichen Verschärfung des US-Embargos. Dieses sogenannte "Helms-BurtonGesetz" 23 sieht eine entschiedene Ausweitung der bisherigen Sanktionen vor, die insbesondere ausländische Investoren abschrecken und zu einer strikteren

Zu der Diskussion um die ökonomischen Folgen und Kosten des US-Embargos s. etwa: Trueba, Gerardo: Los efectosdel bloqueo de Estados Unidos en Cuba - caracteristicasy perspectivas; sowie Zimbalist, Andrew: Magnitud y costos del embargo de Estados Unidos en Cuba y terceros paises; beide in: IRELA 1994. Die Reaktion der kubanischen Regierung darauf war eher frostig; nicht nur seien diese Maßnahmen nicht ausreichend, die in Aussicht gestellten neuen Kommunikationsmöglichkeiten seien vielmehr auch ein "vergiftetes Zuckerbrot", das die Revolution von innen zersetzen soll (s. Gl, 6.9.95, S. 15). So benannt nach seinen Initiatoren, dem Republikanischen Senator Jesse Helms und dem Demokratischen Abgeordneten Dan Burton. Offizieller Name: Cuban Liberty and Democratic Solidarity (LIBERTAD) Act of 1996.

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internationalen Isolierung Kubas durch die USA fuhren sollen. Im folgenden die zentralen Punkte: — US-amerikanische Bürger und Firmen, deren Eigentum in Kuba nach der Revolution enteignet wurde, können vor US-Gerichten ausländische Firmen verklagen, wenn diese sich durch Nutzung enteigneten Besitzes bereichern. Prekärerweise sieht das Gesetz vor, daß dies auch alle Exil-Kubaner umfaßt, die als Kubaner enteignet wurden und erst später die US-Staatsbürgerschaft annahmen. Für eine Klage muß der Wert des enteigneten Eigentums 50.000 US-Dollar überschreiten (§ 301-304). — Verbot der Einreise in die USA für leitende Angestellte, Eigentümer oder Mehrheitsaktionäre von ausländischen Unternehmen, gegen die ein solches Verfahren wegen der Nutzung enteigneter Besitztümer eingeleitet wurde. Dies umfaßt auch deren Familienangehörige (§ 401). — In allen internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank etc.) müssen die USA gegen jede Art von Darlehen, Finanzhilfe oder Aufnahme stimmen. Wenn Kuba dennoch ein Kredit gewährt wird, sollen die USA die entsprechende Summe aus ihren Beiträgen an die betreffende Institution streichen (§ 104). — Das Verbot für den Import von Produkten aus Drittländern, die kubanische Rohstoffe enthalten (z.B. Nickel oder Zucker), wird verschärft (§§ 108, 110). — Die US-amerikanische Finanzhilfe für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion muß um die Beträge gekürzt werden, mit denen diese Staaten Kuba unterstützen. Als Unterstützung zählt dabei auch Handel zu deutlich güngstigeren Bedingungen als sie der Weltmarkt böte (§ 106). — Die Finanzhilfe an Rußland soll um den Betrag gekürzt werden, den Rußland für die Nutzung der militärischen Abhöranlagen im kubanischen Lourdes zahlt (§ 106 d). Rußland hatte für die fortgesetzte Nutzung der Anlage Kuba im November 1994 einen Kredit von umgerechnet ca. US$ 200 Mio. gewährt. — Sperrung aller Finanzhilfe für Staaten, die — sei es über öffentliche Gelder oder über private Firmen — am Bau des kubanischen Atomkraftwerks Juraguä beteiligt sind oder dafür Kredite geben (§ 111). Darüberhinaus wird der Präsident verpflichtet, der kubanischen Regierung "mit allen in seiner Macht stehenden Mitteln klarzumachen", daß Fertigstellung und Betrieb eines Atomkraftwerks in Kuba als "Akt der Aggression" betrachtet wird, auf den die USA eine "adäquate Antwort" geben würden (§ 101, 4). Über diesen Katalog von Sanktionen und Drohungen hinaus gibt das Gesetz allen bislang von der US-Exekutive verfügten Sanktionen gegen Kuba nunmehr formellen Gesetzescharakter (§ 102); in der Folge können diese nicht mehr von der Exekutive, sondern nur vom Kongreß aufgehoben werden. Damit sind auf Dauer die Spielräume des Präsidenten für Veränderungen in der US-amerikanischen Kuba-Politik oder gar für Verhandlungen mit der kubanischen Führung empfindlich beschnitten. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Helms-Burton-Gesetzes ist das viel zu wenig beachtete Kapitel 2: Während die genannten Sanktionen gegen die gegenwärtige kubanische Regierung gerichtet sind, werden in diesem zweiten Teil die Grundzüge der US-Politik gegenüber den für die Zukunft erhofften kubanischen Regierungen 126

festgelegt (Titel: "Unterstützung für ein freies und unabhängiges Kuba"). Doch gerade hier, wo die Hardliner neben die Peitsche des Embargos das Zuckerbrot in Aussicht gestellter US-Hilfe legen wollen, bestätigen sie schlimmste Befürchtungen. Das Gesetz legt fest, daß der Präsident der USA erst dann "Schritte zur Aufhebung des Embargos" einleiten darf, wenn er zuvor dem Kongreß gegenüber nachgewiesen hat, daß in Kuba eine "Übergangsregierung" an der Macht ist (§ 204a). Was eine Übergangsregierung in Kuba ist, definiert das Gesetz in der Folge in einer langen Liste von Bedingungen: So muß diese "alle politischen Aktivitäten legalisiert" (§ 205a, 1) und "die gegenwärtige Abteilung für Staatssicherheit im Innenministerium aufgelöst haben, einschließlich der Komitees zur Verteidigung der Revolution und der Brigaden der schnellen Antwort" (§ 205a, 3). Darüber hinaus muß sie international überwachte Wahlen versprechen (§ 205a, 4), sowie den Aufbau einer unabhängigen Justiz (§ 205a, 6 A) und die Zulassung unabhängiger Gewerkschaften (§ 205a, 6 C) zusichern. Ferner muß sie nachweislich dafür Sorge tragen, daß private Medien und Telekommunikationsfirmen auf der Insel zugelassen sind (§ 205b, 2 A), daß das "Recht auf Eigentum gesichert ist" (§ 205b, 2 C) und daß "angemessene Schritte" unternommen werden, um enteigneten US-Bürgern oder -Firmen ihren Besitz zurückzugeben oder sie zu entschädigen (§ 205b, 2 D). Schließlich geht es auch um Fidel Castro. Zwar erklärt der Gesetzestext eingangs, daß "in bezug auf die Wahl des kubanischen Volkes über ihre zukünftige Regierung die USA keine Vorzugsbehandlung oder Einfluß für irgendeine Person oder Organisation ausüben werden" (§ 201, 10). Doch ein paar Absätze weiter heißt es ganz unverblümt: "Eine Übergangsregierung in Kuba ist eine Regierung, die (...) weder Fidel Castro noch Raul Castro beinhaltet" (§ 205a, 7). Aus Sicht kubanischer Funktionäre, so reformorientiert sie auch sein mögen, beschreibt dieser Katalog von Bedingungen weniger eine Übergangsregierung als vielmehr eine Situation nach einem schon ziemlich kompletten Machtwechsel. Doch selbst einer Regierung in Havanna, die all diesen Forderungen entspräche, verspricht das Helms-Burton-Gesetz keineswegs klipp und klar ein Ende des US-Embargos im Gegenzug. Die ganze Formulierung und Konstruktion läuft vielmehr darauf hinaus, daß auch dann die nur schrittweise Aufhebung der Sanktionen der Hebel bliebe, um die kubanische Regierung beständig auf Linie zu bringen — so wie in Nikaragua noch Jahre nach der Abwahl der Sandinisten auch die Regierung von Violeta Chamorro die ökonomischen Pressionen der USA zu spüren bekam. Zumal: Auch für das, was die USA schließlich nicht mehr nur als "Übergangsregierung", sondern als vollwertige "demokratisch gewählte Regierung" in Kuba anerkennen würden, gibt das Helms-Burton-Gesetz den USA breiten Spielraum für die Durchsetzung ihrer Interessen. § 206 ("Erfordernisse zur Bestimmung einer demokratisch gewählten Regierang") jedenfalls stellt klar, daß eine solche sich keineswegs nur dadurch bestimmt, daß sie demokratisch gewählt 127

ist. Vielmehr muß sie sich auch "substantiell auf ein marktwirtschaftliches System zubewegen, das auf dem Recht basiert, Eigentum zu besitzen und zu genießen" (§ 206, 3), sowie "vorzeigbare Fortschritte bei der Rückgabe oder Entschädigung konfiszierten US-Eigentums" (§ 206, 6) gemacht haben. Selbst für viele Kubaner, die entschiedene Castro-Gegner sind, ist dies ungenießbar. "Mit dem Helms-Burton-Gesetz würde Kuba von der Diktatur Fidel Castros in die Vormundschaft des US-Kongresses fallen", kritisiert dies etwa Alfredo Durän, einst Teilnehmer der Schweinebucht-Invasion und heute einer der prominentesten Führer der moderaten Kräfte innerhalb des kubanischen Exils. "All die Vorgaben in dem Gesetz legen Kriterien für Demokratie in Kuba fest, die zu bestimmen allein das Recht des kubanischen Volkes sein kann", so Durän bei einer Anhörung im US-Senat 24 . In seinen politischen Konsequenzen ist dieser zweite Teil des Gesetzes verhängnisvoll. Sollte es in Kuba tatsächlich zu einer politischen Wende im Sinne der Anti-Castro-Hardliner kommen, dann ist das Helms-Burton-Gesetz bereits heute der undemokratische Geburtsfehler der neuen Verhältnisse, so wie es das ominöse "Platt-Amendment" in Kubas erster Republik war25. Fürs erste aber tut das Helms-Burton-Gesetz vor allem eines: es stärkt die rigidesten Seiten des kubanischen Systems. All denjenigen in Kubas Führung und Funktionärsschicht, die einen begrenzten Mut zu einer eventuellen politischen Öffnung hätten, zeigt es nur einen tiefen Abgrund, aber keinen Raum für eine Reform in Würde. Der Erfolg der rechten Gesetzesinitiative war dabei lange Zeit ungewiß. Zwar wurde die Vorlage im Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit angenommen, nicht jedoch im Senat. Dort passierte sie erst, nachdem der Passus über die Klagerechte der Alt-Eigentümer ersatzlos gestrichen wurde. Anfang des Jahres 1996 hing die Vorlage damit im Vermittlungsausschuß des US-Kongresses fest. Zudem hatte Präsident Clinton wiederholt angekündigt, gegen das Gesetz sein Veto einzulegen. Die moderaten Kräfte in der US-Politik versuchten, mit vorsichtigen Schritten einer diskreten Entspannungspolitik der Offensive der Hardliner entgegenzusteuern. Am 8. Februar kündigte Präsident Clinton an, Nicht-Regierungs-Organisationen in den USA künftig Lizenzen für Hilfslieferungen nach Kuba zu gewähren, auch über rein humanitäre Projekte hinaus. Zwischen Washington und Havanna entwickelte sich eine bemerkenswerte Reisediplomatie. Als der demokratische Abgeordnete Joe Moackley zu einem sechsstündigen Gespräch mit Fidel Castro nach Havanna reiste, bat er ihn um "irgendeine Art Geste, die diejenigen unterstützen würde, die im US-Kongreß gegen das Helms-Burton-Gesetz opponieren" (El Pais, 22.1.1996).

Alfredo Durän ist Präsident des Comité C u b a n o p o r l a D e m o c r a c i a ( C C D ) . Seine am 14. Juni 1995 gehaltene Rede bei den Anhörungen im Senat ist abgedruckt in: Cuban Affairs / Asuntos Cubanos, Vol. II, N o 1-2, Spring / Summer 1995, S. 2-3. Dieser 1901 in der kubanischen Verfassung verankerte Zusatz räumte den USA das Recht auf Intervention in Kuba ein. Es wurde zum Symbol fllr die halbkoloniale Abhängigkeit der jungen Republik von den USA.

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Castro entschied sich, wie wir wissen, für eine andere Geste: den Abschuß zweier Flugzeuge der exil-kubanischen Organisation "Brüder zur Rettung" am 24. Februar, da diese den kubanischen Luftraum verletzt hätten. Vier Besatzungsmitglieder starben — und alle Entspannungsbemühungen waren mit einem Schlag zunichte gemacht. In den USA hatten die Rechten keine Mühe, die Empörung über den Abschuß für sich zu nutzen. Binnen nur zehn Tagen brachten sie ihre Vorlage durch beide Häuser des Kongresses. Auch der Senat stimmte nun mit satter Mehrheit von 74:24 für den ungekürzten Gesetzesentwurf, den er wenige Monate zuvor noch mit 74:22 Stimmen klar abgelehnt hatte. Unter dem Druck der Ereignisse und des aggressiven Wahlkampfklimas legte nun auch Präsident Clinton kein Veto ein, sondern unterzeichnete das Gesetz in einem öffentlichen Akt im Beisein der Familienangehörigen der vier getöteten Piloten26.

Ideologischer Feldzug gegen die Folgen der Reformen Bereits seit fast einem Jahr hatten rechte Exil-Kubaner eine Provokationsstrategie betrieben, bei der sie immer wieder mit zivilen Flugzeugen oder Booten den kubanischen Luftraum oder kubanische Hoheitsgewässer verletzten. Dies (und auch die passiv-tolerierende Haltung der US-Behörden) stellte zweifelsohne eine Verletzung internationalen Rechts dar. Dennoch war es die kubanische Regierung, die sowohl Zeitpunkt (zwei Wochen vor den Vorwahlen im US-Bundesstaat Florida) wie auch Form der Reaktion darauf bestimmte (zwischen dem Hinnehmen von Luftraumverletzungen und dem kalkulierten Abschuß ziviler Flugzeuge gibt es eine Vielzahl möglicher Antworten und Eskalationsstufen.) Die unmittelbaren außenpolitischen Folgen, die ein tödlicher Abschuß der zivilen Cessnas haben würde, waren für die Regierung in Havanna zweifelsohne vorhersehbar: Eine aggressive Rhetorik aus den USA und die Verabschiedung des Helms-Burton-Gesetzes. Damit war zwischen Kuba und den USA das alte Feindbild wieder voll reaktiviert. Die Regierung Castro nutzte dies, um die verschärfte äußere Frontstellung auf die inneren Verhältnisse in Kuba zu übertragen. Das für den 24. Februar geplante Treffen des Dissidenten-Bündnisses Concilio Cubano wurde verboten und rund 50 Regime-Gegner inhaftiert, da diese lediglich der Brückenkopf der US-Aggression seien, die die Revolution von innen unterwandern sollen.

Das einzige, was Präsident Clinton doch noch als Bedingung für seine Unterschrift aushandelte: Ein Aufschubsrecht (ein sog. "waiver"), mit dem der Präsident das Klagerecht der Alt-Eigentümer für jeweils sechs Monate aussetzen kann, wenn dies "im nationalen Interesse der USA" ist und den "Übergang zur Demokratie in Kuba beschleunigt" ( 306 b 1). Das Gesetztritt am 1. August 1996 in Kraft, so daß Clinton das erste Mal noch während des Präsidentschaftswahlkampfs von seinem Aufschubsrecht Gebrauch machen müßte - was angesichts der Bedeutung der kubanischen Wählerstimmen in Florida keineswegs sicher ist.

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Auf der Sitzung des Zentralkomitees der kubanischen KP am 23. März dann proklamierte die Parteiführung die neue Verhärtung offensiv als Kampfansage. In einer langen Grundsatzrede rief der zweite Mann im Staate, Armeegeneral Raúl Castro, im Namen des Politbüros zu einem "ideologischen Feldzug" gegen "negative Tendenzen" und "Diversionismus" auf (R. Castro 1996). Dabei nun ging es keineswegs nur gegen die offenen Dissidenten als vielmehr um das, was die Führung als bedrohliche Aufweichungserscheinungen und "subtile Formen der Glasnost" innerhalb der kubanischen Institutionen ausmachte. Zunächst aber listete Raúl Castro eine Vielzahl von Problemen und negativen sozialen Erscheinungen auf, die die wirtschaftliche Krise und die Maßnahmen der letzten Jahre mit sich gebracht hätten (alle Zitate: R. Castro 1996, S. 4 f.): — Die Entlassung von Arbeitern aus den Staatsbetrieben und die "Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit", die "eine enorme Wirkung auf einen Teil der Jugend hat". Darüber hinaus "fuhren die Arbeitslosigkeit und die Versorgungsmängel zu einem Anwachsen des Lumpenproletariats und der Kriminalität, wie im Falle der Prostitution und seiner Begleiterscheinung, der Zuhälterei." — Die Arbeit auf eigene Rechnung, die "von Tausenden auf die eine oder andere Weise ohne die entsprechende Legalisierung" betrieben wird. Doch auch in legalisierter Form sei sie problematisch, denn "die Psychologie des privaten Produzenten tendiert zum Individualismus und ist nicht Quelle sozialistischen Bewußtseins". Dies könne "die Basis sein für Gruppenbildung, Zusammenschluß und Aktivitäten in organisierter Form, die dem Staat fremd sind oder den Nährboden für die subversive Arbeit des Feindes bilden". — Eine "Schicht Neureicher" sei entstanden, die sich aus einem Teil der Bauern, der städtischen Selbständigen sowie Zwischenhändlern rekrutiere. Nicht selten seien dabei "undurchsichtige oder glatt illegale Geschäfte" mit im Spiel. — Die Legalisierung des US-Dollars, die "dazu tendiert, in bestimmten Teilen der Gesellschaft einen Wandel in einigen Warten hervorzurufen"; so zeigten sich "Fälle, in denen Personen ihren wichtigen Arbeitsplatz (Lehrer, Ingenieure etc.) verlassen, um stattdessen eine weniger qualifizierte Stelle an der touristischen Front zu übernehmen". — Die Entwicklung des Tourismus habe "einen nicht zu leugnenden Einfluß auf unsere Bevölkerung"; da die Touristen "aus dem Kapitalismus kommen, sind sie Träger der Ideen der Konsumgesellschaft". — Die Dollar-Überweisungen von Verwandten aus dem Ausland hätten "ein Element der Ungleichheit" in die Gesellschaft gebracht; "außerdem begünstigen sie die Propaganda für die nordamerikanische Konsumgesellschaft und haben bei den Empfangern einen direkt negativen Einfluß". — Die wachsende Zahl von Kubanern aus den USA, die die Insel besuchen, sei "unter dem Gesichtspunkt der ideologischen Penetration in gewissem Maße und bei bestimmten Personen schädlich". — Auch "die wachsende Präsenz ausländischer Kapitalisten, die in Kuba Mischunternehmen etablieren, hinterläßt seine Spuren im Bewußtsein unserer Arbeiter (...) Wer vereinfachend denkt, könnte meinen, daß die Behandlung der Arbeiter, die der Kapitalist bietet, besser ist als die des sozialistischen 130

Staates, und dadurch auf den Gedanken kommen, daß der Kapitalismus besser ist — oder zumindest, daß er nicht so schlecht ist wie wir ihn beschreiben." — "Ein anderer Aspekt, über den zu wachen ist, (...) ist die Korruption. Es hat bittere Erfahrungen gegeben. (...) Wir müssen sagen, daß die Korrupten einige Funktionäre der mittleren und unteren Ebenen waren." Die Schlußfolgerung aus all diesen Mißständen war bemerkenswert: Der bisherige Wirtschaftkurs wurde in keinem Punkt grundsätzlich in Frage gestellt; zu der betriebenen Politik gäbe es keine Alternative, alle getroffenen Maßnahmen seien richtig und notwendig, so die Erklärung des Politbüros. Man müsse aber die Einhaltung der neuen Spielregeln — etwa bei den Bauernmärkten, der Arbeit auf eigene Rechnung, der Erhebung von Steuern — genauer kontrollieren, reglementieren und überwachen. Darüber hinaus sei jedoch auf die genannten negativen Begleiterscheinungen nicht mit einer Änderung der Wirtschaftspolitik, sondern durch die entschlossene "ideologische Arbeit" der Partei zu antworten (ebenda). Dies betrifft zum einen die Partei selbst. Eine Umfrage innerhalb der Mitgliedschaft der KP habe, so Raul Castro, bei 13,5 % der Kader "Unverständnis oder Ablehnung" in bezug auf die Legalisierung des Dollars oder den veränderten Umgang mit der kubanischen Auslandsgemeinde gezeigt (ebenda, S. 7). Letztlich verblieb die Erklärung hier aber bei einem vagen Appell an die Basis, noch mehr Überzeugungsarbeit als bisher zu leisten. In der Folge jedoch wurde der Ton der Rede schärfer. Absätzelang zitierte Raul Castro einen Aufsatz der Washingtoner Kuba-Expertin Gillian Gunn 27 , um damit zu belegen, daß der US-Imperialismus in den kubanischen NGOs und Studienzentren das Einfallstor für die konterrevolutionäre Unterwanderung Kubas von innen sehe. Als Beispiel für die drohenden Gefahren wurde "die bittere Erfahrung, die man mit dem Zentrum für Amerika-Studium gemacht hat" explizit genannt. Dort hätten sich, so die Erklärung, "Blauäugigkeit und Pedanterie gemischt", seien "die Rassistischen Prinzipien aufgegeben worden" und sei man "der Versuchung erlegen, zu reisen und Artikel und Bücher nach dem Geschmack derer zu veröffentlichen, die bereit waren, dafür zu bezahlen." Raul Castro wörtlich: "Mehrere Genossen gingen den ausländischen Kubanologen ins Netz, die in Wirklichkeit den USA dienen, und ließen sich zum Instrument einer Politik machen, die darauf abzielt, eine Fünfte Kolonne aufzubauen." Tatsächlich konkrete Vorwürfe gegen bestimmte Mitarbeiter, Publikationen, Veranstaltungen oder sonstige Handlungen wurden dabei allerdings nicht erhoben. Dennoch wurde direkt im Anschluß an die Brandrede Raul Castros der Direktor des CEA, Luis Suärez Salazar, seines Amtes enthoben. Parteikommissionen wurden eingesetzt, die alle Studienzentren und akademischen Einrichtungen des Landes im Lichte dieser "Orientierungen" unter die Lupe nehmen sollen.

Gillian Gunn: C u b a ' s NGOs - Government Puppets or Seeds of Civil Society?; Georgetown University, Cuba Briefing Paper Series N o 7, Washington D.C., Februar 1995.

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Schlußbemerkungen Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes ist noch nicht abzusehen, welche weiteren Konsequenzen sich aus dem "ideologischen Feldzug" ergeben, den die Parteiführung lanciert hat. Mit Sicherheit aber haben gerade die Vagheit der Vorwürfe und die gezielte Ungewißheit über deren Folgen — verbunden mit dem überaus harten Tonfall der Rede — in Kuba zu einer Verunsicherung weit über die akademische Welt hinaus gefuhrt. Gerade angesichts der für die Mehrheit der Bevölkerung so prekären ökonomischen Situation wirft die Erklärung des Politbüros ein erschreckendes Schlaglicht darauf, in welchem Maße auch die Wirtschaftspolitik der Regierung letzten Endes von den Kalkülen einer maximalen Machtsicherung überschattet wird - und darauf, wie rigide und engstirnig diese Machtsicherung in den obersten Sphären noch immer verstanden wird. Worauf lassen sich Hoffhungen bauen, wenn es der Parteiführung schon bei so vorsichtigen Reformansätzen wie der selbständigen "Arbeit auf eigene Rechnung" oder den Diskussionen in den Forschungszentren vor allem um Kontrolle und Begrenzung, nicht um Entwicklung und neue Chancen geht? Die Bestandsaufnahme bleibt ambivalent. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wer das von der Regierung Erreichte sehen will, der sieht: daß Kubas Sozialismus auch im siebten Jahr nach dem Fall der Mauer keineswegs "gefallen" ist, wie es so viele prophezeit hatten; daß die Insel der Blockade-Politik der USA getrotzt hat; daß die Untergangsstimmung vom Sommer 1994 vergangen ist; daß der freie Fall der Wirtschaft gestoppt und bei einigen wichtigen Eckdaten sogar wieder eine positive Tendenz zu erkennen ist; daß noch immer alle kubanischen Kinder in die Schule gehen, und daß es noch immer Krankenhäuser gibt, die zwar unter tausend Mängeln ächzen, aber doch noch halbwegs eine medizinische Versorgung kostenlos und für alle bieten. Wie lange aber dieses "noch immer" gilt, ist eine bedrohliche Frage. Denn der Erosionsprozeß der Staatsökonomie und auch ihres sozialen Systems geht weiter, und der Reformprozeß kommt nur überaus stockend voran. Viele Probleme sind nur aufgeschoben, nicht gelöst, und viele Probleme stellen sich neu. Kubas Krise ist noch lange nicht überwunden, und ihr Ausgang ist ungewiß. Unter dem Mantel fast völliger politischer Kontinuität erleben die 11 Millionen Kubaner und Kubanerinnen ökonomische und soziale Transformationen, die das Leben auf der Insel grundlegend umstürzen und das gesellschaftliche Gefüge zu zerreißen drohen. Dennoch ist diese Krise nicht so ein gradliniger Absturz, wie es viele im Ausland nach 1989 gedacht hatten; aber sie bringt auch Veränderungen, krasse soziale Ungleichheiten und eine neue, bittere Armut mit sich, die viele auf der Insel nach 30 Jahren Sozialismus nicht mehr für möglich gehalten hätten.

132

Literatur: BANCO NACIONAL DE CUBA, 1995: Economic Report 1994; August 1995, La Habana. CARRANZA, Julio/GUTIERREZ, Luis/MONREAL, Pedro, 1995: Cuba - La restructuración de la economía. Una propuesta para el debate; La Habana: Editorial de Ciencias Sociales. CASTRO, Raúl, 1996: Informe del Buró Político; in: Granma Internacional, 10.4.96, S. 4-8; (zuerst in der kubanischen Tagesausgabe von Granma vom 27.3.96, S. 2-6). DEERE, Carmen Diana, 1995: The New Agrarian Reforms; in: Nacía 1995, S. 13-17. HABEL, Jeanette, 1995: Kuba zur Stunde der großen Reform; in: Le Monde Diplomatique (deutsche Ausgabe); 1. Jg., Nr. 7. HENKEL, Knud, 1996: Cuba zwischen Plan und Markt. Die Transformation zur "dualen Wirtschaft" seit 1985; Münster: Lit-Verlag (im Erscheinen). IRELA (Hrsg.), 1994: Cuba. Apertura económica y relaciones con Europa; Madrid. LAGE DA VILA, Carlos, 1995: Continuidad de la Estrategia Cubana. Discurso en el Foro Mundial, Davos, Suiza, Januar; La Habana: Editora Política. , 1996: Mientras mayores sean las dificultades mayor será el estímulo a nuestra intelegencia y a nuestro trabajo (Rede vor dem 5. Plenum des Zentralkomitees der KP Kubas am 23.3.96); in: Granma Internacional, 10.49.96, S. 9-12. MESA-LAGO, Carmelo, 1994: Breve Historia Económica de la Cuba Socialista. Políticas, resultados y perspectivas; Madrid: Alianza Editorial. , 1995: Balseros in Limbo; in: Hemisphere, Vol. 6, No 3; Miami: Florida International University. NACLA, 1995: Cuba. Adapting to a Post-Soviet World; Nacla Report on the Americas, Vol. XXIX, No. 2. PEREZ-LOPEZ, Jorge F., 1995: Cuba's Second Economy. From behind the Scenes to Center Stage; New Brunswick (USA) und London: Transaction Publishers. RODRIGUEZ CHAVEZ, Ernesto, 1994: La crisis migratoria Estados Unidos - Cuba en el verano de 1994; in: Cuadernos de Nuestra América, Vol. XI, No. 22, La Habana: Centro de Estudios sobre América.

133

Übersicht über die Tabellen Tabelle 1: Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1989-1996 Tabelle 2: Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Wirtschaftssektoren Tabelle 3: Zuckerproduktion 1990-1996 Tabelle 4: Erdölproduktion 1989-1995 Tabelle 5: Nickelproduktion 1989-1995 Tabelle 6: Tourismus: Besucherzahlen und Bruttoeinnahmen 1990-1995 Tabelle 7: Außenhandel 1989-1995 Tabelle 8: Zusammensetzung der Importe 1990-1994 Tabelle 9: Zahlungsbilanz 1993-1994 Tabelle 10: Umlaufende Geldmenge 1989-1995 Tabelle 11: Verteilung der Ersparnisse in Bankguthaben Dezember 1994 bis Juni 1995 Tabelle 12: Auslandsverschuldung in konvertibler Währung nach Gläubigern 1993-1995 Tabelle 13: Defizit des Staatshaushalts 1989-1996 Tabelle 14: Schwarzmarktkurs des kubanischen Peso zum US-Dollar Havanna Januar 1994 bis Oktober 1995 Tabelle 15: Entwicklung der land- und viehwirtschaftlichen Produktion Tabelle 16: Entwicklung der industriellen Nahrungsmittelproduktion Tabelle 17: Kindersterblichkeit 1985-1995 Tabelle 18: Verteilung der Landnutzung in der Landwirtschaft 1992 / 1994 Tabelle 19: Anteil an der Produktion ausgewählter Agrarprodukte 1995 Tabelle 20: Offiziell registrierte Zahl kubanischer Bootsflüchtlinge 1990-1994 Übersicht:

134

Schlüsselfunktionen und -personen in der kubanischen Wirtschaftspol itik

Tabelle 1: Bruttoinlandsprodukt (BIP) 1989-1996 (in konstanten Preisen von 1981)

Jahr

BIP gesamt:

in Mio. Pesos"

Veränderung gegenüber dem Vorjahr (in %)

akkumulierte Veränderung gegenüber 1989 (in %)

-0,7

...

BIP pro Kopf: in Pesos

Veränderung gegenüber dem Voijahr (in %)

1.861,3

1,1

1989

19.585,8

1990

19.008,3

-2,9

-2,9

1.787,2

-4,0

1991

16.975,8

-10,7

-13,3

1.580,1

-11,6

1992

15.009,9

-11,6

-23,4

1.385,8

-12,3

1993

12.776,7

-14,9

-34,8

1.171,6

-15,5

1994"

12.868,3

0,7

-34,3

1.173,8

0,3

c

13.190,0

2,5

-32,7

1.190,0

1,4

-29,3

...

1995 1996

d

13.850,0

2,5

...

Der offizielle Wechselkurs setzt Peso und US-Dollar 1:1. vorläufig Carlos Lage nannte ein Wachstum von "circa 2,5%" (in: Granma Internacional, 3.1.96, S. 5); von diesem Wert aus sind das BIP in Mio. Pesos sowie die akkumulierte Veränderung hochgerechnet. Planvorgabe: der von der kubanischen Nationalversammlung am 26.12.95 beschlossene Wirtschaftsplan 1996 sieht ein Wachstum von 5% vor (Granma Internacional, 10.1.96, S. 4); von diesem Wert aus sind das BIP in Mio. Pesos sowie die akkumulierte Veränderung hochgerechnet.

Quelle: Banco Nacional de Cuba; eigene Berechnung.

135

Tabelle 2: Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach Wirtschaftssektoren

1994 (in Mio. Pesos)

Veränderung 1993-1994 (in %)

12.868,3

+0,7

-34,2

879,4

-4,9

-54,3

97,5

+1,1

-20,7

3.340,6

+7,6

-31,6

Elektrizität, Gas, Wasser

350,6

+4,4

-22,6

Bauwesen

383,9

-0,5

-71,6

2.935,2

0,0

-43,0

Transport, Lagerhaltung, Kommunikation

708,7

-3,4

-47,6

Finanz- und Immobiliensektor, Geschäftsdienstleistungen

492,4

-4,1

-15,8

3.680,6

-1,8

-3,2

BIP Gesamt

Akkumulierte Veränderung 1989-1994 (in %)

Wirtschaftssektor: Landwirtschaft, Fischfang, Forstwirtschaft, Jagd Bergbau Verarbeitende Industrie

Handel, Gastronomie, Hotels

Kommunale, soziale und persönliche Dienstleistungen

Quelle: Banco Nacional de Cuba

136

Tabelle 3: Zuckerproduktion 1990-1996 Jahr (jeweils Abschluß der Ernteperiode)

in Mio. t

Veränderung gegenüber Vorjahr (in %)

Akkumulierte Veränderung gegenüber 1990 (in %)

1990

8,0

...

1991

7,6

-5,0

-5,0

79,7

Anteil des Zuckers an Gesamtexporten (in %) ...

...

1992

7,0

-7,9

-12,5

75,9

1993

4,2

-40,0

-47,5

68,8

1994

4,0

-4,8

-50,0

60,3

1995'

3,3

-17,5

-58,5

56,9

1996"

4,5

+36,4

-43,8

50,3

"

vorläufig

b

Planvorgabe (Granma Internacional, 10.1.96, S. 4).

Quelle: Banco Nacional de Cuba; eigene Berechnung.

Tabelle 4: Erdölproduktion 1989-1995 Jahr

in 1.000 t

Veränderung gegenüber Vorjahr (in %)

Akkumulierte Veränderung gegenüber 1989 (in %)

1989

718,4

...

1990

670,9

-6,6

-6,6

1991

526,8

-21,5

-26,7

1992

882,1

+67,5

+22,8

1993

...

1.107,6

+25,6

+54,2

a

1994

1.298,8

+17,1

+80,8

1995"

1.400,8

+7,9

+95,0

1996°

1.500,0

+7,1

+108,8

' vorläufig b geschätzt c

Planvorgabe (nach: Latin American Weekly Report, 11.1.96, S. 5). Quelle: Banco Nacional de Cuba; eigene Berechnung.

137

Tabelle 5: Nickelproduktion* 1989-1995 Jahr

in 1.000 t

Veränderung gegenüber Vorjahr (in %)

1989

46,6

1990

41,1

-11,8

-11,8

1991

34,0

-17,3

-27,0

1992

32,2

-5,3

-30,9

1993

Akkumulierte Veränderung gegenüber 1989 (in %)

...

...

30,2

-6,2

-35,2

a

1994

26,9

-10,9

-42,3

1995"

43,2

+60,6

-7,3

* Umfaßt Nickel und Kobalt; beide Produkte werden in den kubanischen Statistiken gemeinsam unter der Rubrik "Nickelindustrie" geführt, da sie im gleichen Produktionsvgerfahren gewonnen werden. Nickel ist dabei sowohl mengen- als auch wertmäßig der dominierende Anteil. " vorläufig b

geschätzt; Ende des Jahres nannte Carlos Lage ein Wachstum von 65% (Granma Internacional 3.1.96, S. 5).

Quelle: Banco Nacional de Cuba; eigene Berechnung.

Tabelle 6: Tourismus: Besucherzahlen und Bruttoeinnahmen 1990-1995 Jahr

Einreisende Touristen"

Bruttoeinnahmen (in Mio. Pesos)

Veränderung gegenüber Vorjahr (in %)

Akkumulierte Veränderung gegenüber 1990

1990

327.400

243,4

1991

418.000

387,4

+59,2

+59,2 %

1992

455.200

567,0

+46,4

+133,0 %

1993

544.100

720,0

+27,0

+195,8 %

1994

617.300

850,0

+18,1

+249,2 %

1995"

745.000

986,0

+16,0

+305,1 %

...



'

gerundet

b

Bruttoeinnahmen sind Schätzungen; die Zahl einreisender Besucher nach: Granma Internacional, 3.1.95.

Quelle: Banco Nacional de Cuba; eigene Berechnung.

138

Jahr

Veränderung gegenüber Vorjahr (in %) (in %)

Akkumulierte Veränderung gegenüber 1989

-4,0 +6,7

2.314,9 2.036,8 1.956,1 2.087,5

-67,1 -79,0 -75,7 -71,8

-40,3

-36,1

+ 15,6

+ 16,1

2.979,5

1.779,4

1.136,5

1.314,2

1.525,7

-8,9

ON ON

RI ON ON

M ON ON

ON ON

VI ON ON

o

ON ON

Akkumulierte Veränderung gegenüber 1989 (in %)

-8,9

3.173,3 3.270,3 3.613,2

-561,8

4.094,3

-535,5

-641,9

7.213,3

-1.254,3

-900,3

12.831,4

-2.001,6

20,2

Anteil des Defizits am Gesamtvolumen (in %)

28,4

15,5

NO ON'

-74,4

-76,0

-75,0

-71,6

-48,0

13.539,7

Außenhandel Gesamtvolumen (Mio. Pesos)

-2.739,9

Saldo der Handelsbilanz (Mio. Pesos)

R-"

-12,0

-45,3

-42,9

4.233,8

+0,3

O\ OO ON

-44,8

J

+0,3

:

-45,0

7.416,5

Veränderung gegenüber Vorjahr (in %)

8.139,8

(Mio. Pesos)

Importe (cif)

;

5.414,9

5.399,9

(Mio. Pesos)

Exporte (fob)

;

N© WL"

I

1

Tabelle 8: Zusammensetzung der Importe 1990-1994 (in %) Jahr

1990

1991

1992

1993

1994

Gesamt

100

100

100

100

100

Nahrungsmittel

12

20

25

26

23

Rohstoffe

4

3

2

3

2

Brenn- und Treibstoffe

27

30

36

37

39

Chemische Erzeugnisse

6

7

9

10

7

Maschinen und Ausrüstungsgüter

37

31

19

12

6

Andere Produkte

14

9

9

12

23

Quelle: Banco Nacional de Cuba.

Tabelle 9: Zahlungsbilanz 1993-1994 1993 (in Mio. Pesos) Exporte von Waren und Dienstleistungen*

1994 (in Mio. Pesos)

1.990,3

2.258,5

1.136,6

1.315,9

853,7

942,6

2.624,8

2.914,6

1.984,0

2.001,8

Dienstleistungen (v.a. Transporte und Zinsen)

640,8

912,8

Laufende Transfers (netto) (v.a. Geldüberweisungen und Schenkungen)

262,9

574,8

-371,6

-81,3

118,4

817,4

54,0

563,4

64,4

254,0

237,7

-733,9

15,5

-2,2

-584,3

-617,0

Warenexporte (fob) Dienstleistungen (v.a. Tourismus) Importe von Waren und Dienstleistungen

8

Warenimporte (je nach Kaufbedingungen)

Saldo der Leistungsbilanz Langfristige Kapitalflüsse (netto) Direktinvestitionen Andere Andere Kapitalflüsse (netto)

b

Veränderung der Devisenreserven Aktennotiz: Wertberichtigungen

" schließt Schenkungen ein. b Hierzu filgt das Dokument der kubanischen Nationalbank erklärend an: "Unter der Überschrift 'Andere Kapitalflusse (netto)' sind die wichtigsten Faktoren die Aktiva der Bevölkerung in frei konvertierbarer Währung sowie Irrtümer und Fehlerfassungen, die - obgleich sie über den Werten liegen, die international als akzeptabel für die Validität von Daten gelten - sich aus der Anwendung einer neuen Methodologie zur Errechnung der Zahlungsbilanz gemäß internationaler Praktiken ergeben." Damit jedoch bleibt der hohe, zudem für 1994 erstaunlicherweise negative Betrag in dieser Rubrik unerklärt. Der ebenfalls sehr hohe Posten "Wertberichtigungen" wird nicht näher erläutert.

Quelle: Banco Nacional de Cuba.

141

Tabelle 10: Umlaufende Geldmenge 1989-1995 Geldmenge gesamt (Mio. Pesos)

davon als Bargeld in Umlauf (in Mio. Pesos)

(in %)

davon Ersparnisse in regulären Bankguthaben (in Mio. Pesos)

(in %)

1989

4.162,5

2.101,7

50,5

2.060,8

49,5

1990

4.986,3

2.341,2

47,0

2.645,1

53,0

1991

6.662,9

3.317,4

49,8

3.345,5

50,2

8.361,1

4.081,5

48,8

4.279,6

51,2

1993

11.043,3

4.554,6

41,2

6.488,7

58,8

1994

9.939,7

3.598,0

36,2

6.341,7

63,8

1995"

9.221,4

3.331,0

36,1

5.890,4

63,9

Jahr

1992 a

' b

Im Mai 1993 erreichte der Währungsüberhang seinen Höhepunkt mit fast 12 Mrd. Pesos (Wirtschaftsminister Rodríguez in: Granma Internacional, 22.11.95). Daten bis Juni; Ende Oktober waren es 9,015 Mrd.; Zielvorgabe bis Ende 1995: unter 9 Mrd. Pesos (Finanzminister Miliares in: Granma Internacional, 20.12.95).

Quelle: Banco Nacional de Cuba; eigene Berechnung.

142

Tabelle 11: Verteilung der Ersparnisse in Bankguthaben Dezember 1994 bis Juni 1995 (in %) Höhe des Geldbetrags auf dem Bankguthaben (in Pesos)

Anteil an der Zahl der Bankguthaben (in %) Dezember 1994

unter

Anteil am Gesamtbetrag der Pesos in Bankguthaben (in %)

Juni 1995"

Dezember 1994

Juni 1995"

200

61,7

64,4

4,4

2,9

2.000

24,2

22,0

17,8

14,7

2.001 - 10.000

11,9

11,2

41,8

44,0

10.001 - 20.000

1,7

1,9

20,0

21,5

20.001 - 50.000

0,5

0,5

12,7

13,5

50.001 - 100.000

...

...

2,7

2,7



...

0,6

9,7

100,0

100,0

200 -

über

100.000

Gesamt

100,0

100,0

* vorläufig Anmerkung: Weiter zurückreichende Daten liegen nicht vor. Des weiteren erfaßt diese Tabelle nur Bankkonten, nicht aber Kontomhaber. So kann eine Person über mehr als ein Konto verfügen; auch von einer Streuung größerer Beträge auf die Konten verschiedener Familienmitglieder ist auszugehen. Die reale Konzentration dürfte daher vermutlich höher liegen, als es diese Obersicht zeigt.

Quelle: Banco Naciconal de Cuba.

143

Tabelle 12: Auslandsverschuldung in konvertibler Währung nach Gläubigern 1993-1995 (in Millionen US-Dollar) 1993

1994

1995'

gesamt

8.784,7

9.082,8

9.161,8

Bilaterale öffentliche Geber

4.046,8

3.991,7

4.028,6

40,3

43,6

43,6

151,3

164,2

169,2

3.855,2

3.783,9

3.815,8

438,3

502,5

515,4

Lieferantenkredite

1.867,1

2.057,8

2.071,9

Finanzinstitutionen

2.405,5

2.501,4

2.516,5

2.156,4

2.253,6

2.256,9

mittel- und langfristig

1.026,9

1.134,7

1.137,7

kurzfristig

1.129,5

1.118,9

1.119,2

249,1

247,8

259,6

27,0

29,4

29,4

Exportkredite mit staatlichen Garantien Kredite im Rahmen von Entwicklungshilfe Zwischenstaatliche Kredite Multilaterale öffentliche Geber

davon Bankkredite

davon Kredite für laufende Importe Andere Kredite

'

geschätzt

Anmerkung: Nicht eingerechnet ist Kubas Auslandsverschuldung in nichtkonvertibler Währung, die sich aus den Wirtschaftsbeziehungen innerhalb des RGW ergab: gegenüber der Sowjetunion 15,5 Mrd. Verrechnungsrubel (Nov. 1989); DDR: 2,0 Mrd.; Tschechoslowakei: 460 Mio.; Bulgarien: 300 Mio.; Ungarn: 170 Mio. (jeweils Juni 1990; CEPAL, zitiert nach: Carmelo Mesa-Lago: Breve Historia Econömica de la Cuba Socialista, S. 232; Alianza Editorial, Madrid 1994).

Quelle: Banco Nacional de Cuba

144

Tabelle 13: Defizit des Staatshaushalts 1989-1996 Veränderung gegenüber Vorjahr (in %)

Anteil am BIP (in %)

Jahr

in Mio. Pesos

1989

1.403,4

...

1990

1.958,1

+39,5

10,3

1991

3.764,8

+92,3

22,2

1992

4.869,0

+29,3

32,4

1993

5.050,6

+3,7

39,5

1994

1.421,4

-71,9

11,1

1995a

775,0

-45,4

5,9

1996"

580,0

-25,2

unter 3,0

7,2

a

Granma Internacional, 10.1.96, S. 5. von der kubanischen Nationalversammlung beschlossene Haushaltsplanung 1996 (Granma Internacional 10.1.96, S.5). Quelle: Banco Nacional de Cuba b

Tabelle 14: Schwarzmarktkurs des kubanischen Peso zum US-Dollar Havanna Januar 1994 bis Oktober 1995 1994

Januar-Juli August-Oktober

1995

120,0 100 - 82,5

Oktober-Dezember

70 - 55

Januar

45 - 50

Februar

35 - 40

April

35 15 - 25

August September

25

Oktober

25

Dezember

3

25

• Granma Internacional, 10.1.96, S. 5 Quelle: Hiram Marquetti Nodarse: La liberalización de la circulación de divisa en Cuba. Resultados y Problemas; La Habana (Centro de Estudios de la Economía Cubana), mimeo; Oktober 1995, S. 20.

145

Tabelle 15: Entwicklung der land- und viehwirtschaftlichen Produktion In 1.000 Tonnen

1989

1992

Geflügel

227

118

-77

Schweine

110

34

-69

Kuhmilch

924

365

Zwiebeln

22

10

-54

Obst ("Frutas variadas")

218

127

-42

15

10

-34

Hülsenfrüchte Quelle:

Veränderung in %

-60,5

Ministerio de Agricultura de Cuba; nach: El País, 1.5.94. Alle Angaben, auch die Veränderungen in %, werden entsprechend der Quelle wiedergegeben.

Tabelle 16: Entwicklung der industriellen Nahrungsmittelproduktion 1992

In 1.000 Tonnen

1989

Schweineschmalz

2.077,0

98,0

-95

2,4

0,3

-89

67,0

15,0

-87

14,0

-82

Milchpulver Schweinefleisch Frischgeflügel Käse Gesalzene Butter Nudeln Rindfleisch o. Knochen Gefrorener Fisch Weizenmehl Quelle:

146

76,0

Veränderung in %

16,0

3,0

-81,5

9,0

2,5

-71

52,0

22,0

-58

80,0

34,0

-57

3,4

1,5

-55

398,0

234,0

-41

Junta Central de Planificación; nach: El País, 1.5.94. Alle Angaben, auch die Veränderungen in %, werden entsprechend der Quelle wiedergegeben.

Tabelle 17: Kindersterblichkeit 1985 - 1995 (auf tausend Lebendgeburten)

Quelle:

1985

16,5

1986

13,6

1987

13,3

1988

11,9

1989

11,1

1990

10,7

1991

10,7

1992

10,2

1993

9,4

1994

9,9

1995

9,4

Dirección Nacional de Estadísticas del Ministerio de Salud Pública, in: Granma Internacional, 17.1.94, S. 3.

147

Tabelle 18: Verteilung der Landnutzung in der Landwirtschaft 1992 / 1994

Landwirtschaftliche Nutzfläche gesamt

1992: in 1.000 ha

in %

1994: in 1.000 ha

in %

6.774,9

100

6.685,8

100

davon Staatsbetriebe'

5.097,7

UBPC-Kooperativen"

b

1

'

32,7



2.825,6

42,3

690,3

10,2

669,0

10,0

d

752,7

11,1

772,8

11,6

234,2

3,5

232,3

3,4

Unabhängige Bauern Ä

2.186,1

c

CPA-Kooperativen CCS-Kooperativen



75,2

Umfaßt auch die Landwirtschaftsbetriebe des Ejército Juvenil de Trabajo (EJT; Jugendliches Arbeitsheer), das der Armee untersteht. Unidades Básicas de Producción Cooperativa (Basiseinheiten der genossenschaftlichen Produktion); davon entfallen 1,3 Mio. ha auf Zuckeranbau und ca. 1,5 Mio. ha auf die Nicht-Zucker-Landwirtschaft. Cooperativas de Producción Agropecuaria (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften). Cooperativas de Crédito y Servicios (Kredit- und Dienstleistungsgenossenschaften).

Quelle:

Ministerio de Agricultura; in: Granma Internacional, 17.1.96, S. 5.

148

Tabelle 19: Anteil an der Produktion ausgewählter Agrarprodukte 1995* (in %) Reis

Gemüse und Knollengemüse

Tabak

Staatsbetriebe

48

34,3

16

UBPC-Kooperativen

40

26,2

12

Agrarbetriebe des EJT

...

10,4

...

CPA-Kooperativen

8,2

15,5

18

Unabhängige Bauern

3,2

13,5

54

' erfaßt bis 30. September 1995

Quelle: Ministerio de Agricultura; in: Granma Internacional, 17.1.96, S. 5.

Tabelle 20: Offiziell registrierte Zahl kubanischer Bootsflüchtlinge 1990-1994 Fluchtversuche unterbunden

Flüchtlinge in die USA gelangt

1990

1.593

467

1991

6.596

1.997

1992

7.073

2.511

1993

11.564

4.208

Januar bis Anfang August 1994

10.975

4.092

13.8.-10.9.94'



ca. 31.500

" Zeitraum der Freigabe der Grenzen durch die kubanische Regierung

Quelle: Fidel Castro, in: Granma Internacional, 7.9.94, S. 6; für a Mesa-Lago, Carmelo: Balseros in Limbo; in: Hemisphere Vol. 6, No. 3; Florida International University, Miami 1995 (umfaßt die Flüchtlinge, die von der USMarine abgefangen und in die Auffanglager im US-Marinestützpunkt Guantánamo verbracht wurden).

150

Übersicht Schlüsselfunktionen und -personen in der kubanischen Wirtschaftspolitik

Wirtschaftsverantwortlicher des Politbüros mit zentralen Vollmachten

Carlos Lage Dávila

Minister für Wirtschaft und Planung

José Luis Rodríguez

Minister für Finanzen und Preise

Manuel Millares

Präsident der Nationalbank

Francisco Soberón Valdés

Vorsitzender der Wirtschaftskommission der Nationalversammlung

Osvaldo Martínez

Minister für Arbeit und Soziale Sicherheit

Salvador Valdés Mesa

Minister für Ausländische Investitionen und Wirtschaftliche Zusammenarbeit

Ibrahim Ferradaz García

Minister für Außenhandel

Ricardo Cabrisas Ruíz

Minister für Zuckerwirtschaft

Nelson Torres

Minister für Landwirtschaft

Alfredo Jordán

Minister für Tourismus

Osmany Cienfuegos

(Stand: Januar 1996)

151

Gillian Gunn1

Unterwanderung oder Rettungsanker des Sozialismus? Die sozialen Folgen steigender Auslandsinvestitionen in Kuba Die Zahl der Auslandsinvestitionen in Kuba wächst. Damit einher geht die Einführung quasi-kapitalistischer Managementmethoden in den entstehenden Gemeinschaftsunternehmen. Diese Entwicklung hat Beobachter zu der Frage gebracht, ob derartige Investitionen zu einer schrittweisen Aushöhlung des sozialistischem Systems Kubas führen. Konkret: Schaffen sie eine neue Klassenspaltung innerhalb der Arbeiter, weil die in den empresas mixtas Beschäftigten, im Gegensatz zu dem egalitären Ethos des Sozialismus, höhere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen erhalten? Rufen Auslandsinvestitionen nationalistische Ressentiments hervor, wenn Ferienzentren geschaffen werden, die nur für Ausländer zugänglich sind? Ändert sich die psychologische Perspektive der kubanischen Direktoren und Arbeiter in den Gemeinschaftsunternehmen, wenn sie mit der Effizienz und der eher individualistischen als kollektiven Arbeitsethik des Kapitalismus konfrontiert werden? Untergräbt

Giilian Gunn ist Professorin am Center for Latin American Studies der Georgetown University, Washington D.C., und Leiterin des dortigen Cuba-Project. Der hier leicht gekürzt wiedergegebene Aufsatz "The Sociological Impact of Rising Foreign Investment" wurde im Januar 1993 in der Cuba Briefmg Paper Series veröffentlicht. Seitdem sind in Kuba weitere wirtschaftliche Reformschritte umgesetzt worden, allen voran die Legalisierung des Devisenbesitzes (s. Mesa-Lago in diesem Band). Obgleich sich durch diese und andere Maßnahmen der ökonomische Kontext in gewissem M a ß e verändert hat, bleibt die zentrale Analyse dieses Artikels weiterhin relevant. Wertvolle Hilfe leisteten kubanische Wissenschaftler an der Universität von Havanna, Mitarbeiter des Außenministeriums, der Gewerkschaft (Central de Trabajadores de Cuba), der Unternehmen Cubanacán und Gaviota sowie der kubanischen Handelskammer. Manager privater kubanischer Betriebe, die Dienstleistungen für ausländische Investoren erbringen, waren ebenfalls überaus hilfreich. Schließlich gab auch der stellvertretende Direktor des Georgetown University Cuba Project, David Collis, unverzichtbare Unterstützung bei der Forschung und Niederschrift. Übersetzung: Bert Hoffmann.

152

dies ihre Bindung an den Sozialismus, verwandelt es sie in verkappte Kapitalisten? Und schließlich: Beschneiden Auslandsinvestitionen die politische Kontrolle über Beschäftigung und beruflichen Aufstieg, indem ein Teil der Arbeitskräfte der Allgewalt der Kommunistischen Partei Kubas entzogen wird? Diesen Fragen wurde auf drei Kuba-Reisen im November 1991 sowie im Mai und September 1992 nachgegangen. Dabei wurden Interviews geführt mit Fidel Castro, hochrangigen Parteimitgliedern, führenden Persönlichkeiten der Nationalversammlung, kubanischen Betriebsdirektoren und Arbeitern in Havanna sowie in Touristenhotels in Varadero, ausländischen Managern dieser Hotels, kubanischen und ausländischen Direktoren in der Werft von Havanna sowie einfachen kubanischen Bürgern. Die Methodologie der Untersuchung leidet unter dem Mangel an Fallstudien außerhalb des Tourismusbereichs. Aus Zeitgründen war das einzige Joint-venture-Unternehmen im Industriesektor, das näher erforscht wurde, im Schiffbau. Da die untersuchten Gemeinschaftsunternehmen so nur eine begrenzte Auswahl darstellen, können die oben gestellten Fragen nur unvollständig beantwortet werden. Die Resultate sind daher sehr provisorisch. Diese Einschränkung vorangeschickt, führen die gefundenen Ergebnisse zu widersprüchlichen Schlußfolgerungen: Der "subversive Effekt" der neuen Investitionen wird gegenwärtig ausgeglichen durch andere soziale Folgen, die eine Stabilisierung des kubanischen Systems bewirken. Zudem haben sich die kubanischen Behörden als einfallsreich erwiesen, mit neuen politischen Mechanismen den Einfluß der Kommunistischen Partei im Bereich der Joint-venture-Betriebe aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite gibt es klare Belege dafür, daß der Zufluß von Auslandsinvestitionen schrittweise die Psychologie der kubanischen Betriebsdirektoren, Wirtschaftswissenschaftler und Planer verändert, weg von einem zentralisierten, staatlich kontrollierten Modell, hin zu einem dezentralisierten Modell, in dem Marktmechanismen eine wichtige Rolle spielen. Wenn die Investitionen weiter zunehmen und von den Tourismusenklaven verstärkt auf Landwirtschaft und Industrie übergreifen, könnten die soziologischen Konsequenzen in der Tat zu grundlegenden Veränderungen des kubanischen Systems führen - ob nun mit oder ohne Fidel Castro an der Spitze.

Die offizielle kubanische Sicht Die kubanische Führung ist nicht blind gegenüber den potentiell "subversiven" Folgen steigender ausländischer Investitionen. Praktisch jedes Mal, wenn die Autorin im Gespräch mit Parteifunktionären das Thema an153

sprach, entgegnete ihr der Interviewpartner, daß seine oder ihre Institution sich mit genau dieser Frage beschäftige. So bemerkte der Berater eines Politbüromitglieds in einem Gespräch im Mai 1992, daß die Partei gerade eine eigene Studie über diese Problematik beginnen würde. Im September 1992 erklärte ein Funktionär des kubanischen Gewerkschaftsverbands Central de Trabajadores de Cuba (CTC), daß infolge der steigenden Auslandsinvestitionen neue Arbeitsfragen entstanden seien und daß die CTC an einem neuen Papier über das Verhältnis zwischen den kubanischen Arbeitern und den ausländischen Investoren arbeite. Auch Fidel Castro selbst hat beträchtliche Überlegungen zu der "ideologischen Kontamination" durch die Zusammenarbeit mit kapitalistischen Auslandsfirmen angestellt. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß trotz der Risiken Kuba keine Alternative hat, als diese Investitionen willkommen zu heißen (s. Kasten). Fast genau ein Jahr nach dem Interview der Autorin mit Fidel Castro, am 18. November 1992, trat sein wichtigster Wirtschaftsberater, Carlos Lage, in einer Fernsehsendung auf, bei der die Bevölkerung per Telefon Fragen stellen konnte. Diese wurden von Journalisten gesammelt und dann von diesen an den Studiogast gerichtet. So war Carmen Amador aus dem Stadtviertel Plaza in Havanna, wie die Journalistin Soledad Cruz sagte, "eine der vielen Anrufer, die fragen: Welche Untersuchungen hat die Regierung zu den sozialen Kosten durchgeführt (...), die die Entwicklung des Tourismus und der ausländischen Investitionen mit sich bringen können?" In seiner Antwort räumte Lage ein, daß dieses Thema "einem großen Teil unserer Bevölkerung Sorgen bereitet", und fügte hinzu: "Zunächst einmal würde ich sagen, daß es stimmt, daß Kubas Politik der zunehmenden Auslandsinvestitionen (...) soziale Kosten mit sich bringt. (...) Ich würde auch sagen, daß wir die Notwendigkeit anerkennen müssen, diese Kosten zu zahlen. " Später in der Sendung antwortete Lage auf eine andere Frage unter anderem: "In diesen Joint-venture-Unternehmen sind die kubanischen Manager weder Kapitalisten noch die Besitzer dieser Betriebe. Sie sind Mitstreiter der Revolution, die die Aufgabe ausführen, welche die Revolution ihnen übertragen hat." Hat Castro recht, neutralisiert Kubas politische Struktur die subversiven Effekte kapitalistischer Investitionen? Beruhigen Antworten wie die von Carlos Lage die Sorgen der Bevölkerung? Fallstudien in der Industrie und im Tourismus können dem Leser vielleicht helfen, seine eigenen Antworten zu finden.

154

Fidel Castro: "Wir vertrauen auf die Partei" Im November 1991 führte die Autorin ein Interview mit Fidel Castro, in dem sie auch nach den Auswirkungen steigender Auslandsinvestitionen fragte. Im folgenden Auszüge aus der Antwort Castros: "Ich bin bereit zuzugestehen, daß es kapitalistische Elemente (...) in einigen Bereichen unseres sozialistischen Systems gibt. Dafür habe ich auch eine theoretische Antwort. In keinem Buch von Marx, Engels oder Lenin steht, daß es möglich ist, den Sozialismus ohne Kapital aufzubauen, ohne Technologie, ohne Märkte. (...) Unter den Bedingungen eines kleinen Landes wie Kuba (...) ist es sehr schwer, sich zu entwickeln (...), wenn man sich nur auf seine eigenen Ressourcen verläßt. Aus diesem Grund haben wir keine andere Wahl, als (...) die Verbindung mit jenen ausländischen Unternehmen zu suchen, die Kapital, Technologie und Märkte anbieten können. (...) Die Alternative wäre, die Unabhängigkeit des Landes, die Revolution und den Sozialismus aufzugeben, um wieder eine Kolonie der Vereinigten Staaten zu werden. (...) Was werden die Konsequenzen davon für das politische und soziale Leben unseres Landes sein? Das bleibt abzuwarten. Im Augenblick kann man darüber nur spekulieren und Wetten abschließen. (...)" Wir vertrauen auf die Partei als Kraft der politischen und ideologischen Avantgarde. Wir vertrauen auf unsere Jugend, wir vertrauen auf die machtvollen Massenorganisationen, deren politische Bildung von den Prinzipien des Sozialismus geprägt ist und die verstehen, was in den gegenwärtigen Umständen getan werden muß (...), um das Vaterland, die Revolution und den Sozialismus zu retten. Mit diesen Faktoren hoffen wir, die ideologische Schlacht zu gewinnen, von der Sie gesprochen haben, und sicherzustellen, daß am Ende die Werte des Sozialismus obsiegen werden, und nicht die Werte der kapitalistischen Inseln. (...) Daß es ideologische Einflüsse des Kapitalismus geben wird (...), bestreitet niemand."

155

Joint-ventures im Industriesektor: Die CDM-Werft in Havanna Die große Mehrheit der kubanischen Kooperationsprojekte mit ausländischen Firmen befinden sich im Tourismus, im Handel- und Dienstleistungssektor sowie in der Exploration und Ausbeutung mineralischer Rohstoffe. In der Industrie hingegen gab es bislang nur wenige Aktivitäten. Umso mehr Beachtung fand daher ein neues Joint-venture im Bereich von Schiffbau und -reparatur, das am 1. Januar 1992 begonnen wurde. Der Industriesektor ist dabei ein politisch besonders sensibler Bereich. Wie ein kubanischer Ökonom im September 1992 betonte, galten "die Industriearbeiter traditionell als ein Teil des sozialen Rückgrats der Revolution, als der kämpferischste Teil der Arbeiterschaft. Wenn Auslandsinvestitionen bei diesen Arbeitern ideologische Veränderungen nach sich ziehen, dann wird das emste Konsequenzen für das ganze Land haben. Die Regierung ist sich dieses Potentials bewußt und unternimmt erheblichen Aufwand, um den negativen ideologischen Einfluß zu begrenzen." Der Wirtschaftswissenschaftler fügte hinzu, daß der Industriesektor, obgleich er bislang wenige Gemeinschaftsunternehmen aufweist, in bezug auf ausländische Investitionen gegenwärtig einer der dynamischsten Bereiche ist und die Zahl von Vertragsabschlüssen zunimmt.

Anpassungsmaßnahmen vor der Investition Die Einführung neuer Managementmethoden begann in der Werft von Havanna tatsächlich bereits, bevor die Zusammenarbeit mit der ausländischen Firma aufgenommen wurde. Im Rahmen des Prozesses der rectificación war im März 1991 ein neuer kubanischer Betriebsleiter für die in Casa Blanca, in den Außenbezirken von Havanna, gelegene Anlage ernannt worden. Seine einfache Anweisung war, den Betrieb effizient zu machen. In der Folge erklärte dieser, daß 90 Prozent der Probleme eher auf organisatorische Defizite als auf Materialmangel zurückzuführen waren: "Wir hatten zu viele Arbeiter, und jede Person, die nicht genug zu tun hat, stört die Arbeit von vier anderen." Im Frühjahr 1991, während die Werft noch nach einem ausländischen Investor Ausschau hielt, wurde die Zahl von bislang 2.309 Beschäftigten um 759 verringert, eine Kürzung um 33 Prozent. Am stärksten betroffen waren dabei die Angestellten in der Verwaltung, deren Zahl von 243 auf 55 reduziert wurde, eine Streichung um 77 Prozent. Ein Beschäftigungsbüro wurde eingerichtet, um für die entlassenen Arbeiter neue 156

Arbeitsplätze zu finden. Die Löhne wurden ihnen solange in vollem Umfang weiter gezahlt. Im November 1991 hatten 90 Prozent von ihnen neue Arbeitsplätze außerhalb der Werft bekommen. Neben den Entlassungen fanden auch Personalumsetzungen innerhalb des Betriebes statt. Viele Techniker, die mit Verwaltungstätigkeiten beschäftigt gewesen waren, kehrten zur Produktion zurück. Ungelernten Arbeitern wurden manuelle Arbeiten zugewiesen. Ein derart umgesetzter Arbeiter behielt in seiner ersten neuen Position sein ursprüngliches Gehalt. Bei einer zweiten Umsetzung allerdings wird er auf das der neuen Arbeit entsprechende Gehalt eingestuft. Eine Reihe niedriger Betonstümpfe entlang des Hauptwegs am Eingang zur Werftanlage zeugt davon, daß in dieser Phase strengere Arbeitsdisziplin eingeführt wurde. Diese Stümpfe sind alles, was von einer Reihe von Sitzbänken geblieben ist, die einst den Straßenrand zierten. Die Arbeiter beschwerten sich bitter darüber, als die Bänke abmontiert wurden, denn sie würden für die Erholung in der Mittagspause gebraucht. Die neue Betriebsleitung hingegen befand, zuviel "Herumhängen" sei schlecht für die Arbeitsmoral.

Die Investition Die Anpassungsmaßnahmen des neuen Managements sollten nicht nur dazu dienen, die Effizienz der Werft zu steigern, sondern sie auch attraktiver für potentielle kapitalistische Partner zu machen. Mit Firmen aus Japan, Deutschland und der Karibikinsel Curaçao wurden Verhandlungen geführt, die im Falle Cucarçao schließlich erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Nach Informationen aus dritter Hand soll die Curaçao Drydock Company (CDM) folgende Kalkulation aufgestellt haben: Wenn Kuba politisch stabil bleibt und mit einer anderen ausländischen Firma zusammenarbeitet, würde die Werft in Havanna der Werft in Curaçao Konkurrenz machen. Da Löhne und Lebenskosten in Kuba niedriger sind als in Curaçao, könnte die Casa-Blanca-Werft niedrigere Preise als CDM anbieten und damit deren Profite schmälern. Für den Fall von Castros Sturz hingegen, würde die Casa-Blanca-Werft in Havanna privatisiert werden und wiederum in Konkurrenz zur CDM treten. Aus diesen Überlegungen heraus bot die CDM den Kubanern besonders attraktive Bedingungen an. Die kubanischen Behörden hatten bei ihrer Entscheidung auch im Kopf, daß durch eine strategische Allianz mit der Firma aus Curaçao die beiden Werften ihre Herrschaft über das karibische Schiffsreparaturgeschäft ausbauen könnten. Die einzige andere derartige Anlage steht in Mexiko. Sie ist dem Vernehmen nach billig, aber langsam - ein schwerwiegender Nachteil in einem Gewerbe, in dem 157

jeder Tag, den ein Schiff im Dock liegt, den Verlust von einem Tag Frachteinnahmen bedeutet. CDM und ein Teil der Anlage in Casa Bianca schlössen sich dann zusammen und begannen ihre Gemeinschaftsoperationen am 1. Januar 1992. CDM hatte kein Interesse daran, mit der gesamten Werftanlage in Havanna zu verschmelzen, so daß ein Teil der Installationen und Arbeiter von Casa Bianca weiterhin als Staatsbetrieb operieren. Etwa die Hälfte der rund 1.600 Arbeiter ist regelmäßig in der fusionierten C D M / Casa-Blanca-Anlage beschäftigt, die andere Hälfte nach wie vor in dem ursprünglichen Staatsunternehmen. Allerdings können in Zeiten stark erhöhter Nachfrage bis zu 400 Arbeiter vorübergehend von dem Staatsbetrieb in das Joint-venture-Unternehmen verlegt werden. Durch Subkontrakte bezieht der Joint-venture-Teil der Werft bestimmte Dienstleistungen von dem Staatsunternehmen, für die es, wie für alle in Kuba gekauften Produkte und Dienstleistungen, in harter Währung zahlt. Die Arbeiter allerdings werden über einen Umweg entlohnt. Wie auch in anderen Gemeinschaftsunternehmen arbeiten alle Angestellten, sowohl die in der Staats- wie auch die in der Joint-venture-Hälfte, offiziell für eine empresa empleador, eine "Beschäftigungsfirma". In diesem Fall ist dies das Staatsunternehmen. Das CDM/Casa-Blanca-Joint-venture bezahlt die empresa empleador in harter Währung. Diese bezahlt ihrerseits die kubanischen Arbeiter in Pesos. Das Joint-venture-Unternehmen hat den Namen der Firma aus Curagao - CDM - übernommen. Beide Seiten besitzen jeweils 50 Prozent des Kapitalanteils, wobei der kubanische Anteil durch nicht näher benannte "private kubanische Aktienbesitzer" gehalten werden soll.

Die Auswirkungen auf die Arbeiter Der Joint-venture-Vertrag mit CDM löste bei den kubanischen Arbeitern etliche Sorgen aus. Der kubanische Betriebsleiter erklärte dazu: "Nachdem die Arbeitsdisziplin sehr viel straffer geführt wurde und zahlreiche Arbeiter entlassen wurden, als im März die neuen Managementmethoden eingeßhrt worden waren, fürchteten die Arbeiter mit der Aufnahme des Jointventure-Betriebs eine erneute Verschärfung." Dazu kam es jedoch nicht, da die vorangehende Umstrukturierung bereits zu einer angemessenen Effizienz geführt hatte. "Das Timing war zufällig. Die Veränderungen, die am stärksten das bisherige Leben der Arbeiter störten, führten wir durch, solange die Werft noch ein Staatsbetrieb war. Daher wurde der Einstieg des kapitalistischen Unternehmens nicht mit den Entlassungen und der rigideren Arbeitsdisziplin in Verbindung gebracht."

158

In den vier Wochen zwischen Vertragsabschluß und effektivem Beginn des Joint-venture-Betriebs versuchten die bestehenden politischen Institutionen, den Arbeitern die Bedeutung des Zusammenschlusses zu erklären. Der kubanische Generaldirektor des Betriebs instruierte die Führer der Gewerkschaft und der Kommunistischen Partei. Als er jedoch sah, daß diese die "Sorgen der Arbeiter nicht zerstreuen" konnten, traf er selbst sich direkt mit den Arbeitern der Werft. Deren größte Sorge war, ob neuerliche Entlassungen bevorstünden, und ob nun, da es sich ja um eine kapitalistische Firma handele, Arbeiter einfach "auf die Straße gesetzt" würden. Sie erhielten die Antwort, daß kein weiterer Stellenabbau geplant sei, und daß, wenn es doch dazu kommen sollte, dies auch zukünftig entsprechend der bisherigen Praxis geschehen würde. Nach der Aufnahme des Joint-venture-Betriebs erhielten die Arbeiter im CDM-Teil der Werft eine Gehaltserhöhung um 60 Prozent, die Arbeiter des staatlichen Teils um 40 Prozent. "Auf diese Weise hatten alle Arbeiter das Gefühl, daß sie von dem Zusammenschluß profitierten - auch wenn die Arbeiter im CDM-Teil natürlich größeren Nutzen daraus zogen", erklärte der kubanische Direktor. Der CDM-Teil der Anlage stellte auch sechs Busse für den Transport der Arbeiter zur Verfügung. Obwohl der Joint-venture-Betrieb alle Kosten dafür trägt, werden diese Busse jedoch von allen Arbeitern aus beiden Teilen der Werft benutzt. Das Joint-venture-Unternehmen wurde auch dazu überredet, einen Beitrag von einem US-Dollar pro Tag und Arbeiter für die Kantine zu leisten, die von allen Arbeitern gemeinsam genutzt wird. An dem Tag, an dem die Autorin den Betrieb besuchte, bestand das Essen aus Reis, einer großen Portion Schweinefleisch, Gemüse, Brot und Saft. Auch wenn dies für einen Auswärtigen nicht üppig klingen mag, so ist eine solche Mahlzeit in Kuba heute ein Festessen. Als das Joint-venture-Unternehmen begann, neue Arbeitskleidung und Seife an seine Arbeiter zu verteilen, tat der staatliche Teil des Betriebs das gleiche. Die Dollarzahlungen des CDM-Teils für Löhne und Dienstleistungen hatten, wie es hieß, einen Fonds an harter Währung geschaffen, der dem Staatsbetrieb derartige Ausgaben ermöglicht. Für einiges Aufsehen auch außerhalb des Betriebs sorgte, daß, obwohl Busse und Kantine gemeinsam benutzt werden, die beiden Belegschaftsteile während der Arbeit durch einen niedrigen Drahtzaun getrennt werden. Für diesen Trennzaun - der gegenwärtig zu einer imposanten Betonmauer ausgebaut wird - führt die Betriebsleitung zwei Gründe an. Zum einen kamen die Arbeiter der Staatsseite gerne zum Unterhalten auf die Joint-venture-Seite herüber, was "zu Indisziplin führte". Und zweitens sei das Joint-venture-Unternehmen über eine Sonderregelung von Importzöllen befreit, so daß der CDM-Teil der Werft als "eine Art

159

Freihandelszone" gelte, deren Umzäunung den kubanischen Zollbestimmungen entsprechen müsse. Die Meinung der Arbeiter zu dieser Frage zu erfahren, wurde dadurch erschwert, daß es nicht möglich war, sie in privaten Gesprächen zu befragen. Die Betriebsleitung behauptet, daß die Arbeiter auf der Jointventure-Seite stolz darauf sind, daß sie für diese prioritäre Aufgabe ausgewählt wurden, daß sie eine bessere Arbeitsmoral haben, weil sie unbeschwerten Zugang zu allen notwendigen Arbeitsmaterialien haben, und daß sie es schätzen, daß durch die verschärften Kontrollen auf der Arbeit weniger "abgezweigt" wird. Quellen außerhalb des Betriebs sprachen allerdings davon, daß Arbeiter sowohl aus der Staats- wie auch aus der Joint-venture-Seite den Trennzaun als "Berliner Mauer" bezeichnen. Darüber hinaus wurden unbestätigten Berichten zufolge bei dem Stellenabbau vor allem Angestellte mit bestimmten politischen Ansichten entlassen. Wer sich beschwerte, sei Opfer von "actos de repudio" geworden, der öffentlichen Beschimpfung durch einen organisierten Pöbel. (Die kubanische Betriebsleitung sagt, daß alle Entscheidungen über Entlassungen sowie die Auswahl der Arbeiter für den Joint-venture-Bereich allein nach Effizienzkriterien getroffen wurden.) Dem Management des CDM-Teils zufolge wurden im ersten Quartal 1991, also vor den Reformmaßnahmen, 412.000 Arbeitsstunden geleistet, in den ersten beiden(!) Quartalen 1992 hingegen nur 396.000. Dabei sei in dem gleichen Zeitraum die zur Reparatur eines Schiffes benötigte Zeit um 30 Prozent gesenkt worden. Wenn diese Zahlen stimmen, bedeutet dies, daß sich die Arbeitseffizienz mehr als verdoppelt hat. Im September 1992 schätzte die Betriebsleitung, daß die Werft auf 70 Prozent ihrer Kapazität arbeitet. Wie alle Schiffe, so zahlen auch kubanische Schiffe in der CDMWerft in harter Währung, erhalten jedoch einen Nachlaß von 12 Prozent. CDM schätzt, daß zwischen 50 und 60 Prozent der Deviseneinnahmen in Form von Löhnen und Zahlungen für Dienstleistungen in Kuba verbleiben.

Lehren aus der Fallstudie Welche Lehren über die soziologischen Folgen ausländischer Investitionen lassen sich aus der Erfahrung der Casa-Blanca-Werft in Havanna ziehen? Obgleich die Schlußfolgerungen nur provisorisch sein können, da die Autorin keine gelernte Soziologin ist und offene Gespräche mit den Arbeitern selbst unmöglich waren, so lassen sich doch einige Punkte benennen:

160

1)

Kubanische Arbeiter hatten Angst, daß die Zusammenarbeit mit einer kapitalistischen Firma massenhafte Entlassungen ohne Garantie einer anderweitigen Wiedereinstellung bedeuten würde. 2) Die etablierten politischen Institutionen, in diesem Fall die Gewerkschaft und die Kommunistische Partei, waren nicht in der Lage, die Ängste der Arbeiter ausreichend zu zerstreuen - ungeachtet der Frage, ob ihnen nicht geglaubt wurde oder ob sie die neuen Maßnahmen nicht verstanden hatten. Die Aufgabe wurde in der Folge der Unternehmensleitung selbst übertragen. 3) Die Betriebsführung glaubt, daß sie mit den Maßnahmen zur Effizienzsteigerung neun Monate vor der Aufnahme des Joint-venture-Betriebs zufällig auf einen Mechanismus gestoßen war, der indem er die psychologische Verbindung zwischen Entlassungen und kapitalistischer Beteiligung verwischte - den ideologischen Schock für die Arbeiter abfederte. Dennoch: Da die Arbeiter wußten, daß die Werft zur Zeit der Entlassungen auf der Suche nach einem ausländischen Investor war, muß diese Verbindung in einem gewissen Maße in den Köpfen der Arbeiter geblieben sein. 4) Die Investition hat eine kubanische Arbeiterelite geschaffen (jene, die in dem Joint-venture-Bereich arbeiten) und eine Gruppe mit niedrigerem sozialen Status (jene im Staatsbetrieb). Was auch immer die technischen Rechtfertigungen für den Trennzaun sein mögen, so ist sie doch der physische Ausdruck einer sozialen Kluft. Darüberhinaus deutet der Spitzname "Berliner Mauer" darauf hin, daß er für einige Arbeiter auch ideologische Bedeutung hat. 5) Die staatlichen Stellen sind sich der politischen Auswirkungen solcher Trennungen bewußt und versuchen, sie zu minimieren, etwa durch die gemeinsame Benutzung von Kantine und Bus. Ein weiteres Beispiel sind die Anstrengungen des Staatsteils der Werft, mit den von der Joint-venture-Seite gewährten Vergünstigungen für die Arbeiter Schritt zu halten. In dem hier untersuchten Fall hilft der ausländische Investor der Regierung dabei, obgleich unklar ist, ob eine derartige Kooperation eine Bedingung für das Joint-ventureAbkommen war oder nicht. 6) Zwei Dritteln der ursprünglich 2.309 Arbeiter der Werft geht es materiell besser als vorher, und sie wissen, daß dies zum großen Teil an der ausländischen Beteiligung liegt. Alle haben bessere Mahlzeiten, höhere Löhne, neue Arbeitskleidung, Seifenrationen und gesicherten Transport. Während die ausländische Investition offenkundig eine gewisse Unsicherheit, Neid und ideologische Aufweichung verursacht hat, so hat sie in der Bilanz sowohl die Werft als auch das kubanische System gestärkt. Wenn Arbeiter in Zukunft allerdings entlassen werden, ohne daß ihnen 161

eine Wiedereinstellung garantiert ist, oder wenn die Kluft zwischen dem materiellen Niveau der CDM-Arbeiter und dem der in dem Staatsbetrieb Verbliebenen spürbar zunimmt, könnte dieses Verhältnis jedoch kippen.

Joint-Ventures in Kubas Tourismus-Sektor Zur vorhandenen Forschung über Tourismus-Investitionen Es ist bekannt, daß Auslandsinvestitionen im Tourismussektor in jeder Gesellschaft sehr ernste Störungen hervorrufen können. In seinem Buch 'Tourismus und Entwicklung" (Tourism and Development, Cambridge University Press, 1973) hat John M. Bryden bemerkt, daß ausländische Besucher einen "Demonstrationseffekt auf den Verbrauch" haben: Die örtliche Bevölkerung entwickelt Geschmack für die Produkte, die sie die Touristen konsumieren sieht. Als einen anderen Aspekt der "sozialen Kosten" touristischer Investitionen identifizierte Bryden deren korrumpierenden Effekt auf die Kultur der Bewohner. Er zitiert dabei einen asiatischen Bischof, der klagt: "Die örtlichen Einwohner wurden angehalten, 'interessante Eingeborene' zu sein und traditionelle Bewegungen zu machen, damit die Fremden was zu glotzen haben. Die Leute wurden damit ihrer Würde beraubt und wie Objekte in einem Zoo behandelt. " Michael Peters hat in seinem Werk "Internationaler Tourismus" (International Tourism, Hutchinson Publishers, 1969) fünf potentielle Vorteile durch den Tourismus benannt: Die Einnahme harter Devisen; die Stimulation von Entwicklung in nichtindustrialisierten Regionen; die Schaffung von Arbeitsplätzen; positive Auswirkungen auf die Gesamtökonomie durch Multiplikatoren-Effekte und sozialer Nutzen durch die "Ausweitung des allgemeinen Interesses der Menschen an den weltweiten Beziehungen" und in der Folge ein "neues Verständnis für die Fremden und den Geschmack der Ausländer". In "Wachstum, Entwicklung und die Dienstleistungsökonomie in der Dritten Welt" (Growth, Development and the Service Economy in the Third World, Praeger, 1988) hat David McKee geschrieben, daß Tourismus ein "Wachstumspol" sein kann, es aber nicht notwendigerweise sein muß. Er baute damit auf dem Werk von Jean Paelinck auf, der "Wachstumspole" als eine Industrie definierte, die Produkte oder Einkünfte schafft, die das Wachstum anderer, damit verknüpfter Wirtschaftsaktivitäten stimulieren (La Théorie du développement regional polarisé, Cahiers de l'Institut de Science Economique Appliquée, März 1965). Paelinck hatte nur verarbeitende Industrie als Wachstumspole in Betracht gezogen. McKee argumentierte nun, daß unter bestimmten Umständen 162

auch Tourismus ein solcher Pol sein könne, weil "er Bedarf nach diversen auf den Konsumenten orientierten Einrichtungen oder unterstützendem Gewerbe schafft". Er hob hervor, daß Tourismus den Abnahmemarkt für die nationale Produktion erweitern sowie Arbeitsplätze im Bereich des Angebots von "Hoteleinrichtungen, Sportausrüstung, lokal produzierten Nahrungsmitteln und Handwerksprodukten" schaffen kann. McKee merkte dabei allerdings an, daß "das Potential für die Substitution von Importen im Tourismusgewerbe als Stimulanz für die örtliche Industrie in direktem Verhältnis mit der Größe und Stärke der Ökonomie des Gastlandes abnimmt". In welchem Maße nun sind diese Faktoren, die wissenschaftliche Studien in anderen Teilen der Dritten Welt benannt haben, auch in Kuba wirksam?

Der Demonstrationseffekt Hat Tourismus in Kuba jenen "Demonstrationseffekt auf den Verbrauch" gehabt, auf den Bryden hinweist? Ja, aber aufgrund der einzigartigen Situation in Kuba mit einem anderen Ergebnis als andernorts. Die wachsende Zahl von Touristen hat die Insel mit dem Lebensstil von Kanadiern und Westeuropäern konfrontiert. Diese Besucher fallen in ihren Herkunftsländern oft in die Kategorie der "unteren Mittelklasse", aber sie genießen dennoch einen sehr viel höheren Lebensstandard als die Mehrzahl der Kubaner. Der Kontakt mit ihnen hat den bereits großen Appetit auf ausländische Konsumgüter bei vielen Kubanern weiter verstärkt. Bryden ging davon aus, daß derartige Konsumwünsche der Gesellschaft des Gastlandes durch "negative Effekte auf die Nachfrage für lokal hergestellte Waren" schaden würden. Kuba erlebt zur Zeit allerdings eine so drastische Verknappung jeglicher im Land hergestellter Verbrauchsgüter, daß die Gefahr eines "negativen Effekts" dieser Art kaum besteht: Praktisch jede Ware, so ärmlich sie auch hergestellt sein mag, findet einen Käufer. Die negativen sozialen Folgen für die kubanische Gesellschaft resultieren eher aus dem Umstand, daß die von den Touristen konsumierten Waren nur gegen harte Währung verkauft werden (beziehungsweise auf dem Schwarzmarkt, der illegal und für viele unerschwinglich teuer ist). Wie jeder Besucher heute in Kuba sieht, hat diese Situation zu einem kontinuierlichen Anwachsen der Zahl der jineteras (wörtlich: "Reiterinnen") sowie - in geringerem Maße - deren männlichen Pendants geführt. Diese Personen, die in der Regel Teenager oder Anfang zwanzig sind, sammeln sich vor allem an den Eingängen zu Tourismuseinrichtungen, wobei die Frauen oft durch knallenge Kleidung auffallen. Sie hoffen, mit einem Ausländer "Freundschaft zu schließen" und zumindest in ein

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Dollarrestaurant eingeladen zu werden. Wenn die Beziehung eine sexuelle Komponente entwickelt, werden entsprechend höhere Belohnungen von dem Fremden erwartet. Dies ist nicht Prostitution in ihrer klassischen Form, da nur selten explizit "Sex für Geld" offeriert wird. Auch wenn es in der Tat Zuhälter gibt, so arbeiten die meisten jineteras in der Regel doch auf eigene Rechnung. [Mit der Legalisierung des Dollarbesitzes für Kubaner im Juli 1993 hat sich dies stark geändert; eine rapide "Professionalisierung" der Prostitution seitdem ist unübersehbar. - Anm. B.H.] In informellen Gesprächen haben Kubaner verschiedene Meinungen über das Phänomen der jineteras geäußert. Viele empfanden es als eine Schande für das Land und fühlten sich an die "schlechten alten Zeiten" unter Batista erinnert. Andere erklärten, daß sie diese Praxis zwar nicht mögen, die Motivation der Frauen allerdings verstehen. Eine Kubanerin meinte: "Im Augenblick kann man in Kuba bestimmte Dinge, die wir uns angewöhnt haben für unverzichtbar zu halten - Deodorant, Shampoo, ein neues Kleid ab und an -, nur entweder für Unsummen von Pesos auf dem Schwarzmarkt kaufen oder aber indem man mit einem Ausländer Freundschaft schließt. Mir gefällt das nicht, aber ich werde nicht sagen, daß die Frauen deswegen schlecht sind." Ein sehr gut gebildeter Kubaner Anfang 30 bemerkte: 'Wenn ein kubanischer Mann eine von diesen Frauen sieht, wird er wütend, weil sie ihren Körper nur ausländischen Männern anbietet. Wenn ein Kubaner sich ihr nähert, blickt sie durch ihn hindurch als ob er unsichtbar wäre." Die Tonlage dabei deutete darauf hin, daß dieser Vorgang ernstlich das Ego des kubanischen Mannes verletzt, der derart ignoriert wird.

"Touristenapartheid" Es gibt ein anderes soziales Problem in Kuba, das eng mit Brydens "Demonstrationseffekt" zusammenhängt: Das Ressentiment kubanischer Bürger darüber, daß sie von den neuen Joint-venture-Hotels ausgeschlossen werden. Der Begriff "Touristenapartheid" bringt dies auf den Punkt. Die Regierung ist sich bewußt, daß ein solcher Ausschluß eine ihrer wesentlichen Legitimitätsgrundlagen - das Prinzip sozialer Gleichheit - untergräbt und die Kubaner an die Zeiten erinnert, als bis auf die Elite alle von bestimmten Stränden und Clubs ausgeschlossen waren. Dieser Ausschluß steht auch in offenem Widerspruch zu Artikel 43 der kubanischen Verfassung, die allen Kubanern "ohne Ansehen der Rasse, Hautfarbe, Religion oder Abstammung" das Recht garantiert, "in jedem Hotel zu übernachten", "in allen Restaurants bedient zu werden" und "die gleichen Bäder, Strän-

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de, sozialen Clubs und andere Sport-, Freizeit und Erholungszentren" zu besuchen. Die Verärgerung über diese Zweiteilung wurde auch sichtbar in dem Aufsatz, den Lisandro Otero, ehemaliger Vizepräsident der Vereinigung kubanischer Künstler und Schriftsteller, Uneac, im April 1992 in "Le Monde Diplomatique" veröffentlichte. In dem Artikel, den viele Beobachter als ein Dokument des Protests sahen, heißt es, daß Tourismus gewichtige negative Kehrseiten hat, wie etwa "das Entstehen von Touristenoasen, zu denen die Kubaner selbst keinen Zugang haben, was starke Unzufriedenheit schafft." Eine Unzufriedenheit, die beispielsweise auch bei einem Vorfall im März 1992 in Havannas "Radio Rebeide" sichtbar wurde, als zwischen zwei Moderatoren des Programms "Hacer radio", Jorge Ibarra und Ana Margarita, folgender Dialog zu hören war: Ibarra: "Hast Du jemals gehört, daß ein Ausverkauf des Landes stattfindet? Etliche Leute in den Straßen sagen das." Ana Margarita: "Ein Ausverkauf des Landes?" Ibarra: "Jawohl, ein Ausverkauf des Landes. Der Tourismus scheint bei manchen Leuten Unruhe zu schaffen, weil nur die aus dem Ausland das Recht haben, bestimmte Produkte zu kaufen und Einrichtungen zu benutzen, die von Kubanern gebaut worden sind." Ana Margarita: "Dieses Thema taucht auch in dem Bericht des 6. Kongresses der Union Junger Kommunisten auf." Ibarra: "Das stimmt, und deshalb habe ich es hier auch erwähnt. Es gibt da Sachen, die wahr sind" Die Sorge der kubanischen Regierung über diese Unzufriedenheit läßt sich daran ermessen, daß die Zeit, die diesem Thema in offiziellen Reden gewidmet wird, beständig zugenommen hat. Am 11. Juni 1992 hat Castro die Hälfte seiner Rede vor der Nationalversammlung damit verbracht, diese Politik zu rechtfertigen. Er sagte, dies sei "kein Versuch, irgendjemanden zu diskriminieren", hob hervor, daß Kuba in seiner ganzen Geschichte immer schon den besten Tabak und die besten Meeresprodukte und Zitrusfrüchte exportiert habe, und erklärte, daß "Tourismus eine Export-Dienstleistung" sei. "Für fünf Kubaner, die zwei oder drei Tage in einem solchen Hotel blieben, könnte das Land eine Tonne Fleisch weniger an das Volk verteilen", fügte er hinzu. "Für jeweils sechs oder sieben Personen könnten wir eine Tonne Milchpulver weniger an das Volk verteilen."

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In einem Interview vom 18. November 1992 räumte Carlos Lage ein, daß Tourismus sowohl politische wie soziale Kosten hätte. Er sagte: "Es gibt Leute, die sich ärgern oder darüber aufregen, wenn sie mit der Notwendigkeit des Landes konfrontiert werden, den touristischen Dienstleistungen für Ausländer Vorrang zu geben. Sie verstehen nicht die komplexen Gründe, die die Revolution zu dieser Entscheidung bewegt haben."

Einnahmen in harter Währung Tourismus ist eindeutig eine Deviseneinnahmequelle für Kuba. Carlos Lage hat diese für 1992 auf circa 400 Millionen US-Dollar geschätzt. Ökonomischer Nutzen ist allerdings nicht notwendigerweise mit sozialem Nutzen gleichzusetzen. Ein gebildeter Kubaner bemerkte so etwa, daß seiner Einschätzung nach die Gewinne durch den Tourismus einfach wieder in den Tourismussektor zurückfließen und nicht sichtbar anderen Teilen der kubanischen Wirtschaft helfen. Der kubanische Journalist Pedro Martínez Pérez gab in dem Interview mit Carlos Lage am 7. November 1992 ein ähnliches Gefühl wieder. Nach der Bemerkung, daß "Tourismus ein kontroverses Thema im nationalen Leben" sei, fragte er: "In welchem Maße betrifft Tourismus (...) den einheimischen Konsum unseres Volkes? In welchem Maße garantiert Tourismus tatsächlich das Überleben unseres Landes?" Lage erwiderte, daß "Tourismus den einheimischen Konsum in keinster Weise negativ betrifft. (...) Tourismus erzielt einen Überschuß, und diesen Überschuß benutzt das Land dann, um Nahrungsmittel und Medizin, Transportmittel und Treibstoff zu bezahlen." Trotz Lages Antwort zeigt die Frage von Martínez, daß eine beträchtliche Skepsis hinsichtlich des tatsächlichen Nutzens des Tourismus existiert. Der kubanische Direktor eines Joint-venture-Hotels in Varadero zeigte sich des Problems bewußt, daß der Überfluß im Inneren des Hotels in schroffem Kontrast zu den wirtschaftlichen Engpässen in der kubanischen Gesellschaft steht. Wo möglich, so der Manager, "versucht das Hotel sehr diskret und unauffällig der umliegenden Gemeinde zu helfen". So hat das Hotel beispielsweise die Farbe für die Renovierung des örtlichen Krankenhauses gestellt, und die Gemeinde wußte dies auch. Auf die Frage, warum denn auf Diskretion so viel Wert gelegt werden müsse, antwortete er: "Wir sind nicht dafür gegründet worden, der Gemeinde zu helfen, sondern um ein Hotel zu führen."

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Verbreitung von Entwicklung auf nichtindustrialisierte Regionen Der Tourismus leistet in Kuba auch die zweite von Peters formulierte Funktion: Verbreitung von Entwicklung auf nichtindustrialisierte Regionen. Der Bau von Hotelkomplexen auf der Isla de la Juventud und einer Reihe anderer kleinerer Inseln ist das offensichtlichste Beispiel dafür. Die Autorin konnte diese jedoch nicht besuchen und kann daher keine Aussagen über deren soziale Auswirkungen machen. Allerdings konnten Belege für die "Verbreitung von Entwicklung" in einer unkonventionellen Form gefunden werden, die in der Zukunft gewichtige Folgen haben könnte. Einige Institutionen des kubanischen Staates, darunter auch Einrichtungen der Revolutionären Streitkräfte (FAR), haben Mechanismen entdeckt, um ihre weitverzweigte Infrastruktur für Tourismus-Einnahmen zu nutzen. Um diese Mechanismen effizienter zu gestalten, wird um ausländische Investoren geworben. 1986 wurde CUBANACAN S.A. als das zentrale kubanische Unternehmen im Bereich der Tourismus-Joint-ventures ins Leben gerufen. 1988 wurde dann eine kleinere Firma, Gaviota S.A., gegründet, um für finanzkräftige Besucher maßgeschneiderte Reisen anzubieten, bei denen oft sportliche Aktivitäten im Vordergrund stehen. Gaviota ist ein "privates" kubanisches Unternehmen mit bislang ausschließlich kubanischem Kapital. Verhandlungen mit ausländischen Firmen über eine Joint-venture-Beteiligung sind allerdings im Gange. Gesprächspartner aus dem Unternehmen selbst machten bei Interviews im September 1992 nur vage Angaben über die Identität der kubanischen Anteilseigner. In aller Regel verläßliche Quellen in den USA geben an, daß der Haupteigentümer die kubanische Armee ist. Wenn dieses stimmt, dann ist - mittels Gaviota der Tourismus auch eine Deviseneinnahmequelle für das kubanische Militär. Unabhängig von der tatsächlichen Identität der Anteilseigner spielt das kubanische Militär offensichtlich eine Rolle bei Gaviota, denn das Unternehmen begann seine Aktivitäten mit der Vermietung von Erholungseinrichtungen der Streitkräfte, der "Poder Populär" (Institutionen der Legislative), des Ministerrats, des Staatsrats, des Innenministeriums und der Kommunistischen Partei selbst. Yachthäfen, Jagdhütten, Kurbäder und kleine Hotels, die von den Mitarbeitern der jeweiligen Organisationen genutzt werden konnten, werden nun von Touristen belegt, die in harter Währung zahlen. Gaviota zahlt den Besitzern der Einrichtungen die Miete in Pesos, frühere Beschäftigte werden oftmals übernommen, und der Besitzer erhält über Sondervereinbarungen gelegentlichen Zugang zu der Anlage. Durch dieses Netzwerk verfügt Gaviota über Einrichtungen in entlegenen Gebieten Kubas. Wenn ausländische Investoren

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mit einsteigen, wird diese "Verbreitung von Entwicklung" noch deutlicher werden, sowohl in geographischer wie auch institutioneller Hinsicht.

Schaffung von Arbeitsplätzen Sowohl in den neuen als auch in den traditionellen Touristenzentren Kubas erfüllt der Tourismus auch die dritte von Peters benannte Funktion, die Schaffung von Arbeitsplätzen. Carlos Lage zufolge gab es 1992 im Tourismus-Bereich direkt 59.000 Arbeitsplätze. Da Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit wachsende Probleme in Kuba darstellen, ist dies eine positive Entwicklung für das Überleben des Regimes. D a jedoch die Joint-venture-Hotels mit westlichen Management-Methoden geführt werden, erscheint die Frage berechtigt, inwieweit die Beschäftigung in einem solchen Unternehmen auch das politische Denken der Arbeiter beeinflußt, indem es womöglich ihre Bindung an die sozialistischen Werte untergräbt. Interviews in vier Hotels in Varadero zeigten, daß die dort Beschäftigten aus ganz verschiedenen sozialen Verhältnissen kommen. So ist die Leiterin der Zimmermädchen in einem Joint-venture-Hotel eine ehemalige Wirtschaftswissenschaftlerin. Auf den Kontrast zwischen ihrer früheren Beschäftigung und ihrer jetzigen Arbeit angesprochen, antwortete sie: "Vorher hatte ich nicht das Gefühl, daß ich irgend etwas erreichen würde, indem ich in einem Büro sitze und Papiere herumschiebe. Jetzt habe ich das Geßhl, daß meine Arbeit etwas bedeutet." Drei junge Männer, die als Barkeeper in dem gleichen Hotel tätig sind, haben früher als Mechaniker, Busfahrer und Comic-Zeichner gearbeitet. Eine Frau Mitte dreißig, die in dem Laden des Hotels arbeitet, war früher Englisch-Lehrerin. Unter den kubanischen Managern in Varadero befand sich ein Elektronikingenieur, der früher in Erdölprojekten gearbeitet hatte, ein Universitätsprofessor und ein Tierarzt. Die meisten der kubanischen Arbeiter und Manager nannten mindestens einen der folgenden Gründe dafür, daß sie Arbeit im Tourismusbereich gesucht haben: - Ihre frühere Arbeit war durch Kubas ökonomische Schwierigkeiten gefährdet worden. - Ihre frühere Arbeit war weit von ihrer Wohnung entfernt, und Transportschwierigkeiten machten es unmöglich, zur Arbeit zu kommen. - Sie sahen Tourismus als ein Schlüsselelement in Kubas wirtschaftlicher Überlebensstrategie und waren daher der Meinung, daß Arbeit in diesem Sektor gesellschaftlich nützlich sei.

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Obwohl niemand verbesserte materielle Bedingungen und einen höheren sozialen Status als Motivation nannte, werden diese Faktoren doch zweifelsohne eine Rolle gespielt haben. Und die materiellen Bedingungen sind in der Tat beachtlich besser als in praktisch jedem anderen Bereich der kubanischen Wirtschaft. Der Durchschnittslohn im Tourismus etwa liegt bei 375 Pesos, während das nationale Durchschnittsgehalt nur rund 200 Pesos beträgt. Ein Koch in einem Fünf-Sterne-Hotel kann bis zu 570 Pesos verdienen, Trinkgeld und Zahlungen in Naturalien noch nicht eingerechnet. Diese letzten beiden Formen der Entlohnung sind oft sehr viel wichtiger als das reguläre Gehalt in Pesos. Früher hielt die kubanische Regierung die Besucher dazu an, keine Trinkgelder zu geben, da dies entwürdigend sei. Heute jedoch fördern die offiziellen Stellen diese Praxis aktiv zum einen, um zusätzliche Deviseneinkünfte zu erzielen, zum anderen aber auch, um einen größeren Anreiz für die Beschäftigten zu haben, effiziente Arbeit zu leisten. In jedem der besuchten Hotels in Havanna und Varadero waren die Angestellten dazu verpflichtet, ihre Devisentrinkgelder bei der Hotelleitung abzugeben. Sie erhielten dafür eine entsprechende Summe in kubanischen Pesos zum offiziellen Kurs von 1:1. [Diese Regelung existiert nicht mehr; seit der Legalisierung des Dollarbesitzes im Juli '93 darf das kubanische Hotelpersonal die Trinkgelder in harter Währung voll behalten. Die folgende Darstellung erscheint gleichwohl noch immer von Interesse, da sich anhand der "Trinkgeld-Frage" exemplarisch die Probleme erkennen lassen, die zu der Freigabe des Dollars führten. - Anm. B.H.] Abhängig von der Stellung und der Effizienz eines Arbeiters können die Dollartrinkgelder einen enormen Unterschied im Einkommen bedeuten. In einem Hotel in Varadero übergab ein Kellner der Hotelleitung in nur einem Monat nicht weniger als 609 US-Dollar. Ein US-Dollar ist auf dem Schwarzmarkt bis zu 40 kubanische Pesos wert [im April 1994 bereits 1:100 und mehr - Anm. B.H.], und man kann mit Dollars auch sonst kaum erhältliche Waren kaufen. Die Versuchung für Hotelangestellte, einen Teil ihrer Trinkgelder für sich zu behalten, ist daher ganz offensichtlich sehr groß. Ein kubanischer Hotelmanager schätzte, daß die Quote für die Befolgung der Trinkgeldregelung zwischen 10 und 100 Prozent variiert. Die Direktorin eines anderen Hotels sagte, daß die Summe der eingereichten Trinkgelder drei Prozent der Rechnungen ausmachen, entgegen den erwarteten zehn Prozent. Daraus würde folgen, daß die Regelung von den Arbeitern zu 70 Prozent nicht befolgt wird. In einem Hotel galt die Regelung, daß die Dollar-Trinkgelder statt in Pesos in Nahrungsmittel und Essen umgewandelt werden. Die Trinkgelder, die die Zimmermädchen der Hotelleitung übergeben, werden regi169

striert und gleichzeitig eine Liste des gesamten Reinigungspersonals geführt, die auch jene Angestellten umfaßt, die aufgrund ihres Arbeitsbereichs keine Trinkgelder erhalten. Wenn das Hotelrestaurant nun Nahrungsmittel überbehalten hat, bekommen die jeweils oben auf der Liste stehenden einen Teil dieses Überschusses, wandern ans Ende der Liste und die nächsten Angestellten rücken nach. Der Trinkgeld-Pool wird so als kollektive Einrichtung geführt, bei dem sich die jeweils zugeteilte Essensmenge nicht nach der Menge der persönlich verdienten Trinkgelder richtet. Die meisten Hotels werten die Trinkgeldabgaben ihrer Angestellten auch, wenn sie über die regelmäßig zu vergebenden "Wettbewerbsprämien" entscheiden. Die Prämien sind dabei in der Regel Dinge wie Fahrräder oder Fernseher, die in Kuba hoch im Kurs stehen, aber dennoch weniger Wert haben als die eingenommenen Devisentrinkgelder der Gewinner. Viele Joint-venture-Hotels nutzen einen Teil ihrer Einnahmen in harter Währung auch, um einen eigenen Bustransport für die Arbeiter zu organisieren. In einem Land, in dem unter dem Druck des Treibstoffmangels Fahrräder, Pferde und per Anhalter fahren zu den Haupttransportmitteln geworden sind, ist dies ein gewichtiger Vorteil. Das Joint-venture kann darüber hinaus das Leben in einer ganzen Reihe kleiner Probleme erleichtern. Ein Betriebsleiter etwa erklärte, daß ein Arbeiter, der ein leicht zu behebendes Problem mit der Elektrik in seinem Haus hat und ein kleines, billiges Ersatzteil dafür braucht, dieses Problem gerne mit der Betriebsleitung diskutieren kann. Wenn das Hotel das benötigte Teil in großer Zahl im Lager hat, könne man ihm das Stück als Geschenk überlassen. Diese Aspekte der Beschäftigung im Tourismus bringen ein Thema auf, das in den Standardwerken über Tourismus in der Dritten Welt nicht angesprochen wird: die Entstehung einer Arbeiterelite und ihre soziologischen Auswirkungen. Da eine der entscheidenden Legitimitätsgrundlagen der Regierung Castro ihr "egalitäres" Ethos ist, hat das Entstehen einer solchen Elite in Kuba andere Auswirkungen als anderswo. Die Funktionäre der Kommunistischen Partei sind über den verderblichen Einfluß einer solchen Elite auf die Moral der Kubaner besorgt. Dies hat zum Beispiel die Entscheidung über die Umtauschregelung für Devisentrinkgelder erheblich kompliziert. Anfang 1992 hatten führende Mitglieder der Kommunistischen Partei die Idee lanciert, daß Hotelangestellten offiziell erlaubt werden sollte, einen Teil ihrer Trinkgeldeinnahmen zu behalten und sie in den bislang Ausländern vorbehaltenen Devisengeschäften auszugeben. Das Argument war, daß die materiellen Bedürfnisse so stark sind und die Versuchung, Trinkgelder verbotenerweise einzubehalten, so groß, daß selbst vorbildliche Bürger 170

die Regel verletzen würden. Wenn sich aber sonst untadelige Personen angewöhnen, gegen die Regeln zu verstoßen, dann hat dies, so meinte man, einen sehr negativen langfristigen Effekt auf die Moral. Eine Änderung der Politik schien daher geboten. Nach ausführlichen Diskussionen wurde diese Idee verworfen, weil dies zur Entstehung einer Arbeiterelite führen würde. Einige Hotelmanager hielten dagegen, daß eine solche Elite so oder so existierte, ob nun die Trinkgeldregelung geändert würde oder nicht. Die Partei erwiderte, daß dies zwar stimmen möge, aber daß unter den jetzigen Bestimmungen verärgerte Arbeiter aus anderen Bereichen der kubanischen Wirtschaft zumindest nicht das Gefühl hätten, daß diese Ungleichheit von der Regierung gutgeheißen wird. Die Untersuchungen in der Region Varadero deuten darauf hin, daß ungeachtet aller Anstrengungen der Kommunistischen Partei die Arbeiter im Tourismussektor ohne Zweifel zu einer Elitegruppe in der kubanischen Gesellschaft werden. Manche kleiden sich bereits so gut, daß sie für Ausländer gehalten werden. In welchem Maße dies zu Gegenreaktionen in der übrigen Bevölkerung führt, bleibt allerdings unklar. Es gibt einige Hinweise darauf, daß der Neid durch den Umstand abgeschwächt wird, daß die Familienangehörigen und Freunde der im Tourismus Beschäftigten auch davon profitieren. Der Neideffekt wird auch dadurch gemildert, daß die Häuser der Arbeiter weit verstreut liegen. Vor vielen Jahren hatten die kubanischen Behörden den Einwohnern Varaderos verboten, ihre Häuser mit denen von Personen aus anderen Landesteilen zu tauschen. Dies sollte verhindern, daß Kubaner sich mit hohen, unter der Hand gezahlten Summen eine Wohnung an einem der schönsten Strände der Karibik hätten kaufen können. Aufgrund dieser Bestimmung leben fast alle Angestellten der Hotels außerhalb von Varadero, viele in den [15 bzw. 30 Kilometer entfernten] Städten Cárdenas und Matanzas. Es ließe sich auch erwarten, daß die Arbeit in einem Joint-ventureHotel mit marktkonformen Management-Praktiken die politische Einstellung einiger Arbeiter beeinflußt. Dieser Frage nachzugehen erwies sich jedoch als sehr schwierig, da vertrauliche Gespräche mit den Arbeitern kaum möglich waren. Berichten aus zweiter Hand zufolge haben einige Arbeiter argumentiert, daß die Hotels die größere Effizienz des Kapitalismus zeigen würden, und daß, wenn ausländische Kapitalisten akzeptiert werden, kubanische Privatpersonen auch das Recht haben sollten, derartige Unternehmen aufzubauen. Offenkundig ist, daß die Beschäftigung in den Joint-venture-Hotels den kubanischen Arbeitern die fordernde Seite des Kapitalismus gezeigt hat. Von Angestellten wird erwartet, daß sie jede Minute ihres Arbeitstages im Einsatz sind. Die Barkeeper etwa haben keine feste Mittagspause, sondern können lediglich für ein schnelles Sandwich davoneilen. 171

Wenn eine Mitarbeiterin, die für die Reinigung der Empfangshalle zuständig ist, alle ihre Aufgaben vor Ablauf ihrer Arbeitszeit beendet hat, wird ihr eine andere Aufgabe zugewiesen oder ihr die erneute Säuberung der gleichen Halle befohlen. "Der Anblick einer Angestellten, die herumsteht und nichts tut, macht einen schlechten Eindruck auf die Gäste und schadet der Arbeitsmoral der anderen", bemerkte dazu ein kubanischer Manager. Anders als in den staatlichen Hotels wird von den Angestellten auch erwartet, bei Arbeiten auszuhelfen, die nicht in ihren eigentlichen Arbeitsbereich fallen. Wenn beispielsweise ein Elektriker seine Arbeit bereits beendet hat während der Klempner noch beschäftigt ist, und plötzlich eine Toilette repariert werden muß, dann wird damit der Elektriker beauftragt. Obwohl dies für westliche Ohren logisch klingen mag, so bedeutet es doch eine ganz erhebliche Änderung gegenüber der bisher in Kuba üblichen Praxis. Die höhere Arbeitseffizienz, die von den Arbeitern verlangt wird, schlägt sich auch in den Beschäftigungszahlen nieder. In den staatlichen INTUR-Hotels kommt auf ein Zimmer durchschnittlich ein Angestellter. Soweit Zahlen vorliegen liegt in den Joint-venture-Hotels dagegen der Durchschnitt bei 0,6 Angestellten pro Zimmer, was einer Verbesserung der Arbeitseffizienz um 40 Prozent entspricht. Die Schwierigkeiten, die die kubanischen Arbeiter mit der Anpassung an diesen neuen Managementstil haben, belegt die hohe Fluktuationsrate der Angestellten nach Inbetriebnahme dieser Einrichtungen. Die Wirkung der Arbeitserfahrung im Joint-venture-Bereich auf die kubanischen Manager läßt sich leichter einschätzen. Während einige es scheinbar mühelos vereinbaren können, mit einer sozialistischen Ideologie in einer Quasi-Markt-Enklave zu arbeiten, haben andere damit offenbar größere Probleme. Ein Direktor war beispielsweise sehr unzufrieden mit der Politik der Regierung in bezug auf die Trinkgelder: "Ich denke, das System muß sich ändern. Wer 600 Dollar im Monat als Trinkgeld einnimmt, der bringt dem Land 6.000 bis 8.000 Dollar an Einnahmen im Jahr. Wenn er das auf dem Schwarzmarkt in Pesos tauschen würde, dann hätte er in einem Monat den Lohn von zehn Jahren verdient, und das weiß er." Ohne es explizit zu sagen, deutete er an, daß so ein Angestellter stärker als bisher belohnt werden müsse. "Es wäre besser, demjenigen, der die meisten Trinkgelder übergibt, eine Urlaubsreise nach Cancün [Luxusbadeort in Mexiko - Anm. B.H.] zu schenken, auch wenn Kuba das 1.000 Dollar kostet." Später fügte der gleiche Manager hinzu: "Die Revolution hatte zu manchen Zeiten zu viel Egalitarismus. Das muß sich ändern." Da Ungleichheit bereits existiert und die Hotelangestellten schon eine Elite darstellen, so offenbar sein Gedanke, macht es keinen Sinn mehr, daß die Regierung sich weigert, diese Ungleichheit auch "offiziell" zu akzeptieren. In diesem Fall hatte der Manager den wirklichen Wert von Dollar und Peso

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in der Weltwirtschaft verstanden und kämpfte darum, seinen Angestellten überzeugendere materielle Anreize bieten zu können. Die Manager in Joint-venture-Hotels entwickeln auch eine andere Definition des Begriffs "Erfolg" als zuvor im Staatssektor. "Bei INTUR ging es uns um die Brutto-Einnahmen", erklärte ein Hoteldirektor, der in den Joint-venture-Bereich gewechselt ist. "Jetzt geht es uns um Profit. Es geht uns um die Kosten, und wir wollen nicht einen einzigen Angestellten zuviel auf der Gehaltsliste haben." Die meisten kubanischen Manager haben irgendeine Form von Schulung im Ausland erhalten (zumeist in Westeuropa), wo sie diese neue Herangehensweise an das Geschäft lernten. Über die Frage freiwilliger Arbeitseinsätze kam es in einem Hotel zu einem Konflikt zwischen dem ausländischen und dem kubanischen Direktor. Der Kubaner hatte Arbeiter angewiesen, einen Teil des Hotelgartens in ihrer freien Zeit zu reinigen, als freiwillige Arbeit, wie es in Staatsbetrieben üblich ist. Der ausländische Manager war davon wenig angetan; wenn Angestellte arbeiten, sagte er, dann müssen sie auch bezahlt werden, und wenn sie freie Zeit hätten, dann sollten sie sich erholen. Ob der kubanische Direktor letzten Endes die Sichtweise des Ausländers übernehmen wird, bleibt offen. Auch durch den Austausch zwischen kubanischen Managern in Tourismus-Joint-ventures und ihren Kollegen in verschiedenen Bereichen der übrigen Wirtschaft haben sich Veränderungen in der Sichtweise ergeben. "Kubanische Direktoren sind jetzt fasziniert von dem Gedanken, ausländische Partner zu finden", bemerkte ein kubanischer Wirtschaftswissenschaftler, der mit diesen Gesprächen vertraut ist. "Wenn kubanische Betriebsleiter darüber nachdachten, wie man effizienter und konkurrenzfähiger arbeiten könne, dann konzentrierten sie sich noch vor einem Jahr darauf kubanische, sozialistische Modelle zu verbessern. Jetzt schauen sie fast ausschließlich auf ausländische, marktwirtschaftliche Modelle. (...) Es ist der Einzug des Kapitalismus durch die Hintertür. (...) Und dieses Modell wird in der übrigen Wirtschaft nachgeahmt. Es wird einen Pull-Effekt haben. In zehn Jahren mag Kuba sich noch immer sozialistisch nennen, aber es kann dabei in Wirklichkeit schon eine gemischte Wirtschaft haben." Es gibt auch eine eigentümliche Selbstzensur bei den Kubanern, wenn sie über die Veränderungen in der Mentalität reden, die durch die Tourismusinvestitionen hervorgerufen werden. Ein kubanischer Wissenschaftler erzählte der Autorin, daß "der Unterschied in der Einstellung enorm groß ist, das ist wie Tag und Nacht". Ein anderer kubanischer Wissenschaftler, Gerüchten zufolge mit engen Verbindungen zu offiziellen Stellen, trat hinzu. Dem ersten schien dies unangenehm zu sein; er wechselte die Platte und erklärte, so groß sei der Unterschied in Wirklichkeit nicht. Nachdem der erste dann den Raum verlassen hatte, sagte der 173

zweite Wissenschaftler, daß er seinem Kollegen nicht zustimmen könne: Die Auswirkungen der ausländischen Investitionen auf die Sichtweise der kubanischen Manager seien sehr beträchtlich. Die Autorin fühlte sich an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern erinnert: Jeder weiß, was passiert, aber niemand möchte es in Gegenwart einer als staatliche Autorität wahrgenommenen Person aussprechen. Auch ein anderer soziologischer Aspekt, der in Kuba von größter Bedeutung ist, taucht in den Standardwerken über die Folgen des Tourismus nicht auf: Die Rolle der Partei in bezug auf Arbeitsplatzsicherheit und Beförderungen. Es ist vielfach darüber spekuliert worden, daß die Zunahme von Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der direkten Kontrolle der Kommunistischen Partei deren Fähigkeit untergräbt, die Loyalität der Arbeiter zum sozialistischen System durchzusetzen. Einige Beobachter haben die Frage gestellt, ob dies auch für die Beschäftigung im Tourismus zutrifft. Denn die Regierung hat, um ausländisches Kapital anzulokken, den Investoren schließlich das Recht zugesichert, nach Gutdünken Personal einzustellen oder zu feuern. Die Untersuchungen in Varadero deuten darauf hin, daß die Kommunistische Partei sich dieser Gefahr sehr wohl bewußt ist und eine Palette von Mechanismen gefunden hat, um sich dagegen zu schützen. So wählt der ausländische Partner (oder das ausländische Management-Personal des Joint-venture-Betriebs) seine Arbeiter über das Beschäftigungsbüro von CUBANACAN aus. Dieses Büro seinerseits rekrutiert seine Arbeiter großteils aus Kubas staatlichen Hotelfachschulen. Um dort aufgenommen zu werden, brauchen Bewerber ein Empfehlungsschreiben des Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) in ihrer Wohngegend. Auch wenn das eigentliche Einstellungsgespräch mit dem ausländischen Manager keine politischen Fragen beinhaltet, so hat auf diese Weise die Liste der Bewerber doch eine politische Vorauswahl durchlaufen. Darüber hinaus gibt es in jedem Hotel eine Management-Kommission, die aus dem ausländischen Direktor, dem kubanischen Direktor, einem Vertreter der Kommunistischen Partei, einem des Kommunistischen Jugendverbands (UJC) und einem der Gewerkschaften (CTC) besteht. Viele, wenn auch nicht alle Entscheidungen des Managements werden von diesem Gremium im Konsens beschlossen. Wenn beispielsweise ein Arbeiter nicht die Beförderung erhält, die ihm seiner Meinung nach zusteht, kann er dies über einen seiner Vertreter in das Gremium tragen. Diese Management-Kommission entscheidet auch über die Vergabe der "Wettbewerbsprämien". In einem Hotel wurde explizit gesagt, daß ein Arbeiter, der seine Gewerkschaftsbeiträge nicht gezahlt oder keine freiwillige Arbeit geleistet hat, nicht als Gewinner dieser Prämien infrage kommt.

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In den Joint-venture-Hotels hat es auch einen seltsamen Zuwachs des Anteils der Arbeiter gegeben, die Mitglieder in der Kommunistischen Partei sind. So waren in einem Hotel bei der Eröffnung des Betriebs vor zwei Jahren knapp unter zehn Prozent der Angestellten Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbands oder der Partei. Heute liegt der Anteil bei 33 Prozent. Auf diese Entwicklung angesprochen, antwortete der Parteivertreter in dem Hotel: "Vielleicht liegt es daran, daß die Leute, die gerne hart arbeiten, oft auch Parteimitglieder sind Und die, die hart arbeiten, überstehen die Probezeit am besten." All diese Prozesse deuten darauf hin, daß die Kontrolle der Partei über die Arbeiter in den Joint-venture-Hotels zwar etwas gestutzt, jedoch keinesfalls weggefallen ist. Und die Partei entwickelt mit viel Einfallsreichtum Mechanismen, um zumindest einen gewissen Einfluß auf Arbeitsplatzsicherheit und Beförderungen zu behalten.

Der Multiplikatoren- oder "WachstumspoF-Effekt Der "Multiplikatoren-Effekt", den Peters als vierten potentiellen Nutzen des Tourismus nennt, hängt eng zusammen mit McKees Konzept der "Wachstumspole". Beide basieren auf der Annahme, daß der Tourismus andere Bereiche der Gesellschaft stimulieren kann, indem er neue Märkte für örtlich produzierte Waren und Dienstleistungen bietet. Es wurde bereits erwähnt, daß einige Kubaner ernste Zweifel anmelden, ob die übrige Wirtschaft vom Wachstum des Tourismussektors profitiert. Besuche in vier Hotels in Varadero und Interviews in Havanna deuten jedoch darauf hin, daß sich zumindest einige bescheidene "Multiplikatoren-Effekte" entwickelt haben. So brauchte beispielsweise ein Hotel große Mengen von Marmor sehr guter Qualität, und da der Investor aus Europa kam, bestellte er diesen bei seinem traditionellen Lieferanten dort. Der kubanische Partner wußte jedoch von vergleichbarem Marmor, der auf der Isla de la Juventud abgebaut wird, und überredete den ausländischen Investor, auf diese lokale Quelle zurückzugreifen. "Arbeiter im Marmorbruch auf der Isla de la Juventud waren arbeitslos", erklärte der kubanische Manager. "Jetzt haben sie wieder Arbeit, und sie wissen, daß sie ihre Arbeitsplätze dem Bau dieses Hotels verdanken." Auf ähnliche Weise ist das meiste Mobiliar in den Hotels aus kubanischer Produktion. Früher waren kubanische Möbel guter Qualität in die sozialistischen Staaten exportiert worden. Diese Absatzmärkte sind heute jedoch verloren. Wie im Falle des Marmors bietet der Bau von Hotels in Kuba den Möbelproduzenten Arbeit für ihre Angestellten und eine Einnahmequelle in Hartwährung.

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Auch im Dienstleistungsbereich und insbesondere bei den neuen quasi "privaten" kubanischen Firmen ist der Multiplikatoren-Effekt erkennbar. In den letzten Jahren hat die kubanische Regierung die Gründung solcher Firmen diskret zugelassen. Dem Kürzel hinter ihrem Namen folgend, werden diese Unternehmen allgemein nur "S.A." genannt, die Abkürzung für Sociedad Anönima, Aktiengesellschaft. Obgleich das kubanische Gesetz derartige Geschäftsformen immer schon erlaubte, so existierten bis 1989 nur sehr wenige. Heute sind es 63. (Einige Beobachter vermuten, daß etliche dieser sogenannten "privaten" Unternehmen in Wirklichkeit nur als Fassade für Staatsbetriebe fungieren; diese Annahme ist plausibel, bleibt jedoch unbestätigt.) Der bürokratische Weg, ein solches Unternehmen zu gründen, ist kompliziert und in einen Schleier der Geheimhaltung gehüllt. Man muß dafür offensichtlich einen guten Draht zur Kommunistischen Partei haben, und nur höchst vertrauenswürdige Personen können Kapitaleigner werden. Ihr Kapitalbeitrag erfolgt in kubanischen Pesos. Die Sociedad Anönima hat individuelle kubanische Anteilseigner, und deren Dividende wird ebenfalls in kubanischen Pesos ausgezahlt. Um ihren Betrieb aufzunehmen, benötigen die meisten dieser "S.A." jedoch Devisen, und der Ursprung dieses Kapitals in harter Währung ist nach wie vor unklar. In dem Maße, in dem sie wachsen, suchen diese Firmen im allgemeinen ausländische Partnerunternehmen. Auf diese Weise sollen kubanische Unternehmen entstehen, die in der Lage sind, mit den spin-off-Geschäften im Gefolge der großen Auslandsinvestitionen zu konkurrieren, statt diesen Markt ganz den ausländischen Dienstleistungsunternehmen zu überlassen. In der Folge sind Aktiengesellschaften entstanden, die als Consulting-Firmen für ausländische Unternehmen arbeiten, Werbe-Dienstleistungen für jene Firmen anbieten, die an dem Markt der Kuba besuchenden Touristen interessiert sind, oder die als Clearing-Stelle für Tauschgeschäfte zwischen ausländischen und kubanischen Unternehmen fungieren. Wer mit der kubanischen Entwicklung der letzten 34 Jahre nicht so vertraut ist, dem wird es möglicherweise schwerfallen zu würdigen, in welchem Maße diese neuen Firmen einen Bruch mit der Praxis der Vergangenheit darstellen. Letztlich erlauben die kubanischen Behörden hiermit nicht weniger als das Entstehen eines vom Staate geduldeten einheimischen kapitalistischen Sektors. Eine dieser Firmen hat ein Joint-venture-Abkommen mit einem ausländischen Unternehmen abgeschlossen, das fotografische Dienstleistungen für Kuba-Touristen anbietet. Dabei ist man darauf angewiesen, daß die Angestellten in den Hotels ihren Gästen das Fotogeschäft empfehlen. Für diese Werbetätigkeit erhalten die Hotelangestellten jedoch keinen zusätzlichen Lohn. Das Joint-venture suchte daher nach anderen Formen, 176

um ihre Kontakte in den Hotels zu belohnen. So verteilte es beispielsweise einen Pullover mit dem Firmennamen, mit der Begründung, daß dies der Werbung für das Geschäft dient (obgleich der Pullover für die Hotelangestellten natürlich auch als Kleidungsstück von Wert ist). Sechs Monate später belohnte der ausländische Partner des Joint-ventures die Kontaktpersonen in den Hotels, indem er diesmal Seife verteilte. Der kubanische Manager wehrte sich dagegen; dies sei ein ethischer Verstoß, weil es zu sehr als Provision für die Vermittlung eines Geschäfts erscheine; jeder geschenkte Artikel müsse eine MarketingFunktion erfüllen. Das ausländische Unternehmen schlug daraufhin vor, die Seife in Papier mit dem Firmennamen einzuwickeln. Während er diese Geschichte erzählte, brach der kubanische Manager in Gelächter aus und erklärte, daß er sich noch nicht sicher sei, wie er auf diesen raffinierten Vorschlag reagieren werde. Einige der "privaten" kubanisch-ausländischen Gemeinschaftsunternehmen haben begonnen, auf ernstere Konkurrenzprobleme mit Staatsbetrieben zu stoßen. In einem Falle stellte eine solche Firma ein Produkt für den Verkauf an Touristen her und stellte fest, daß zwei staatliche Firmen, die in diesem Bereich aktiv waren, von dieser Neuerung "nicht gerade begeistert" waren. "Das war deren Sphäre", so eine kubanische Quelle. "Es war klar, daß etwas getan werden mußte, aber sie taten es nicht. Jetzt sind sie sehr beunruhigt, daß wir sie vorgefahrt haben." Der Kommentar eines der kubanischen Partner in einem solchen Joint-venture-Unternehmen wirft ein Licht auf Gedanken von ihm, die von anderen in ähnlicher Position geteilt werden mögen. Die Person ist Mitglied der Kommunistischen Partei und offenbar loyal zu Castro. In dem Gespräch sagte er dennoch, daß seine Firma eine gute Ausgangsposition hätte, "si las cosas cambian" (wenn die Dinge sich ändern). Dies könnte bedeuten, daß die Person sich darauf einrichtete, individuell erfolgreich zu sein, wenn Kuba zu einer vollständigen freien Marktwirtschaft übergehen sollte. Es könnte allerdings auch bedeuten, daß die Partei loyale Kader in einem funktionierenden kubanischen Privatsektor etablieren will, um, sollte eine solche Wirtschaftsform angenommen werden, ihr Überleben zu sichern und wirtschaftlichen Einfluß zu behalten. Es gibt darüber hinaus auch Indizien dafür, daß die "ungefähr dreißig" Kinder der historischen Elite Kubas dabei sind, private Sociedades Anónimas zu bilden, die mit ausländischen Firmen Joint-venture-Unternehmen für den Tourismussektor gründen sollen. Von denen, die aufgrund ihrer Position den gegenwärtigen Kurs der Wirtschaft überblicken können, wird der Multiplikator-Effekt der ausländischen Investitionen sehr klar gesehen. Auch wenn die genannten Fälle weit davon entfernt sind, eine nach den Regeln der Statistik gültige Stichprobe darzustellen, so lassen sich 177

doch drei vorläufige Schlußfolgerungen formulieren. Erstens: Ausländische Investitionen im Tourismus haben bestimmte Multiplikatoren-Effekte, deren volles Ausmaß in dieser Untersuchung jedoch nicht eingeschätzt werden kann. Die verbreitete Meinung im kubanischen Volk hält diese Effekte für sehr begrenzt. Zweitens: Da die Behörden es quasi-privaten kubanischen Firmen erlauben, die so entstehenden Geschäftsmöglichkeiten auszunutzen, ist eine Konkurrenzsituation zwischen kubanischen Staatsbetrieben und kubanischen Sociedades Anónimas entstanden. Dieses Phänomen ist das klarste Beispiel für den Konflikt zwischen den marktwirtschaftlichen Enklaven und dem sie umgebenden sozialistischen System, das im Rahmen der durchgeführten Forschungen gefunden wurde. Und drittens: Der Multiplikator-Effekt kann es Mitgliedern der Kommunistischen Partei ermöglichen, ihr individuelles Rettungsboot für den Fall einer zukünftigen Marktwirtschaft in Kuba zu zimmern. Er kann andererseits aber auch von der Partei als ein Mechanismus instrumentalisiert werden, um auch in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Einfluß und Gewicht zu behaupten. Alles in allem erscheint die Schlußfolgerung plausibel, daß die Multiplikator-Effekte einen bescheidenen positiven Beitrag zu dem Überleben des Regimes leisten, gleichzeitig jedoch Nebeneffekte mit sich bringen, die sich längerfristig als destabilisierend erweisen können.

Ausweitung des Interessenhorizonts Peters hatte als letzten der fünf von ihm analysierten Effekte des Tourismus die "Ausweitung des allgemeinen Interesses der Menschen an den weltweiten Beziehungen" und ein daraus entstehendes "neues Verständnis für die Fremden und den Geschmack der Ausländer" genannt. Dieser Faktor spielt in Kuba gewiß eine Rolle, auch wenn er nur schwerlich in Zahlen zu fassen ist. Seit es mit Macht darum geht, für westliche Touristen attraktiv zu werden, ist in den Lehrplänen der Schulen Russisch durch Englisch ersetzt worden. Englischkenntnisse machen jedoch offensichtlich ein ganzes Spektrum ausländischer Publikationen und Radiosendungen für die kubanische Bevölkerung zugänglich. Ausländische Mode und Musik war in Kuba immer populär gewesen, und der neue Zustrom von internationalen Touristen fördert diese Tendenz eindeutig. Wie auch bei anderen Aspekten der Auslandsinvestitionen, die das kubanische System untergraben könnten, hat die Regierung einige Maßnahmen gegen diesen Einfluß ergriffen. Über viele Jahre hinweg wurde den Kubanern in deutlicher Form nahegelegt, nicht allzu regen Kontakt zu den Ausländern zu suchen. Es gibt sogar besonderes Wachpersonal, das aus diesem Grunde vor einigen Hotels in Havanna steht. Diese Stra178

tegie war nicht durchweg effektiv. Ausländer, die mit Kubanern sprechen wollen, finden unweigerlich Wege, dies auch zu tun. Und der im allgemeinen eher offene und extrovertierte Charakter der Kubaner führt dazu, daß schnell Freundschaften geschlossen werden. Darüber hinaus gab es aber auch aus den Reihen der Partei selbst Kritik an dieser "Anti-Fraternisierungs-Politik", da diese dazu führe, "daß die einzigen Kubaner, die ein ausländischer Tourist kennenlernt, Schwarzmarkthändler und jineteras sind". Wenn Ausländer von ihrem Aufenthalt ein gutes Kuba-Bild bekommen sollen, so die Argumentation, dann müssen sie sich auch völlig ungehindert mit "normalen" Kubanern treffen können. In der Folge hat Kuba heute ein ambivalentes Verhältnis zu den Kontakten der Kubaner mit Ausländern. Noch immer dürfen Kubaner nicht in den Devisenhotels übernachten. In der Nähe der Hotels befinden sich Polizeistationen, "um Schwarzmarktgeschäfte abzuschrecken", wie es heißt. Dennoch ist man bei der Frage der "Fraternisierung" um einiges offener geworden als früher.

Schlußfolgerungen Die gegenwärtige Situation in Kuba deutet darauf hin, daß zwar auf der einen Seite der Anstieg der ausländischen Investitionen Castros Macht in einigen wichtigen Punkten untergräbt, dieser subversive Effekt jedoch von anderen soziologischen Folgen aufgefangen wird, die das System eher stützen. Dieses Gleichgewicht ist jedoch prekär und könnte - insbesondere bei einer weiteren Zunahme ausländischer Investitionen - leicht umkippen. Eine neue Arbeiterelite, die das kubanische Gleichheitsethos aushöhlt, ist in der Tat im Entstehen. Die relativ geringe Zahl der privilegierten Arbeiter sowie deren Neigung, ihre materiellen Gewinne mit der erweiterten Familie und den Nachbarn zu teilen, hat die Ressentiments darüber zum Teil gedämpft. Die kubanische Regierung hat oft beträchtliche Mühen auf sich genommen, um die Arbeiter im Umfeld von Joint venture-Unternehmen, die am anfälligsten für Neid auf die Kollegen sind, mit einigen ähnlichen Vergünstigungen zu versorgen. In ähnlicher Weise mindern ausländische Investitionen die Kontrolle der Kommunistischen Partei über die Arbeitskräfte zwar, jedoch nur leicht. Denn die ausländischen Manager müssen die kubanischen Arbeiter von einer vorselektierten, von der staatlich kontrollierten empresa empleador aufgestellten Kandidatenliste auswählen. Diese Politik hat zur Folge, daß der ausländische Manager zwar Arbeiter ohne Blick auf deren 179

politische Haltung einstellen mag, dabei jedoch von einem Pool auswählt, der zuvor einer gründlichen Prüfung unterzogen worden ist. Daneben hat in einigen Unternehmen der höchste Vertreter der Kommunistischen Partei auch die Rolle übernommen, die Beschwerden von verärgerten Arbeitern gegenüber dem ausländischen Management zu artikulieren. Dies erlaubt es der Partei, sich als Verteidigerin der Arbeiterinteressen zu profilieren. Damit wird ihr Einfluß unter den Arbeitern eher gestärkt als geschwächt. Diese Einschränkungen vorweggenommen, zeigen die beiden anderen in der Einführung erwähnten Faktoren durchaus Wirkung: das nationalistische Ressentiment gegen nur Ausländern zugängliche Joint-ventureEinrichtungen sowie die Erfahrung von kapitalistischer Effizienz und individualistischer Arbeitsethik durch die kubanischen Manager und Arbeiter. Verärgerung über den ersten dieser beiden Punkte ist in allen Teilen der Bevölkerung sichtbar, sogar unter Anhängern Fidels. Darüber hinaus haben einige der kubanischen Betriebsdirektoren, die die marktförmigen Managementmethoden erlernt haben, Interesse daran entwikkelt, ein eigenes kapitalistisches Unternehmen aufzubauen. Eine sehr kleine Zahl von Kubanern, die als politisch zuverlässig gelten, haben die Erlaubnis erhalten, eigene private Unternehmen zu gründen. Diese arbeiten oft nach westlichen, nicht nach sozialistischen Managementmethoden. Einige kubanische Direktoren in Joint-venture-Betrieben, die sich zunehmend der Konkurrenz durch staatliche Einrichtungen in dem gleichen Bereich ausgesetzt sehen, beklagen sich über die "schmutzigen Methoden", mit denen diese sich Vorteilspositionen zu verschaffen suchen. Noch wichtiger jedoch ist vielleicht ein schwer in Zahlen festzumachender Wandel in der psychologischen Einstellung einiger Schlüsselgruppen der Elite, ein unterschwelliger Schwenk weg von der Identifikation mit sozialistischen Modellen hin zur Identifikation mit Marktmodellen. Dennoch: Bis September 1992 hatten die ideologisch subversiven Effekte dieser beiden Faktoren das soziale Gewebe Kubas noch nicht ernsthaft beschädigt. Ausländische Investitionen bringen, wenn auch in geringen Dimensionen, ausländisches Geld ins Land, und sie geben damit der Bevölkerung eine gewisse wirtschaftliche Hoffnung. Alles in allem, so das Fazit, fällt die Balance der sozialen Folgen steigender Auslandsinvestitionen positiv aus, wenn auch nur knapp. Dieses Gleichgewicht könnte jedoch schnell kippen. Wenn ausländische Investitionen schneller anwachsen und sich von den Tourismusenklaven auf die Landwirtschaft und die Industrie ausweiten, wird die Klasse der privilegierten Arbeiter größer werden. Der Kontrast zu der Mühsal und Not ihrer Nachbarn, die in staatlichen Betrieben beschäftigt sind, wird dann offensichtlicher werden. Ein rasches Wachstum der Investitionen würde es auch dem Parteiapparat schwerer machen, neue Mechanis180

men der indirekten politischen Kontrolle zu etablieren. Die steigende Nachfrage der Joint-venture-Betriebe nach Arbeitskräften könnte den von der empresa empleador angebotenen Pool politisch zuverlässiger Arbeiter erschöpfen. Die kubanischen Behörden ständen dann vor der Alternative, sich ausländische Investitionen zu verscherzen, oder aber es zuzulassen, daß auch weniger "integrierte" Arbeiter Teil der neuen Elite werden. In dem Maße, in dem Joint-venture-Unternehmen alltäglich werden, erscheint auch die Frage einer steigenden Zahl von kubanischen Bürgern plausibel, warum Kapitalismus für Ausländer zulässig ist, nicht jedoch für Kubaner. Die Situation der kubanischen Manager in Jointventure-Unternehmen, die sich plötzlich in Konkurrenz mit staatlichen Unternehmen in dem gleichen Bereich finden, würde üblich werden und zu wirtschaftlichen Rivalitäten führen, die potentiell eine beträchtliche Kluft aufreißen können. Auch auf zwei anderen Ebenen sind wichtige psychologische Faktoren zu erkennen. Was die allgemeine Meinung im Volk angeht, so betrifft die wichtigste Frage die Fähigkeit der kubanischen Regierung, dem durchschnittlichen "Mann auf der Straße" den tatsächlichen Nutzen dieser Investitionen für sein alltägliches Leben zu zeigen. Sie müßte wirksam vermitteln, daß mit solchen Investitionen nicht nur Wohlstand in die Hände der Elite und der Schwarzmarkthändler im Umfeld der marktwirtschaftlichen Enklaven geleitet wird. Nach Ansicht der Autorin unterschätzt die kubanische Regierung gegenwärtig die Skepsis der Bevölkerung in bezug auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen der ausländischen Investitionen. Wenn sie an diesem Fehler festhält und die Investitionen spürbar zunehmen, könnten dessen subversive soziale Folgen sehr weitreichend sein. Auf der Ebene der Elite dreht sich die entscheidende Überlegung um die erkennbare Tendenz, für die Lösung von Problemen zum Markt statt zu sozialistischen Modellen zu blicken. Je stärker ausländische Investitionen werden, desto prononcierter wird auch dieser Wandel. Die Anzeichen deuten daher darauf hin, daß Auslandsinvestitionen das Castro-Regime zur Zeit zwar geringfügig stärken, ihre Zunahme jedoch entlang der genannten Momente zu einer tiefgreifenden Erosion der sozialistischen Werte führen könnte. Zugespitzt formuliert: Untergraben ausländische Investitionen das kubanische System? Noch nicht.

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Ciento por ciento cubano Como que mi Cuba es ciento por ciento cubano mañana reservaré el mejor hotel de La Habana. Luego me iré a Varadero a reservar una casa con ese dinero mío que me gané en la zafra. Como que mi Cuba es cubana ciento por ciento mañana reservaré un yate allá en Barlovento. Quiero pasar una tarde capturando la langosta disfrutando a plenitud la riqueza de mi costa. Cuba como un espejo si repartimos parejo Cuba ciento por ciento Sí primero los de adentro! Como que mi Cuba es cubana ciento por ciento con dinero nacional convidaré al extranjero Compraré en todas las tiendas abiertas en mi país con este dinero mío cubano como el mambí. rep.: Cuba como un espejo si repartimos parejo Cuba ciento por ciento Sí primero los de adentro! Como que mi Cuba es cubana ciento por ciento mañana reservaré pasaje en el aeropuerto. Quiero viajar hasta el Sur a conocer la pobreza y volver como cubano ciento por ciento a mi tierra Pedro Luis Ferrer

Hundertprozentig kubanisch Mein Kuba ist ja hundertprozentig kubanisch, und so reservier' ich mir morgen das beste Hotel von Havanna. Dann fahr ich nach Varadero und miet' mir ein Haus am Strand mit diesem meinem Geld, das ich mir bei der Zuckerrohrernte verdient hob. Mein Kuba ist ja hundertprozentig kubanisch, und so reservier' ich mir morgen eine Yacht im Hafen von Barlovento. Ich will einen Nachmittag lang Langusten fischen gehen und in all seiner Pracht den Reichtum meiner Küsten genießen. Kuba, schön wie ein Spiegel, wenn wir gleichmäßig teilen. Kuba, kubanisch zu hundert Prozent, und ab erstes bekommen die Kubaner! Mein Kuba ist ja hundertprozentig kubanisch, und so lad' ich mit meinem kubanischen Geld gern auch die Ausländer ein. Ich werd' in allen Läden kaufen, die in meinem Land offen sind, mit diesem meinem Geld, das so kubanisch ist wie der Mambí. rep.: Kuba, schön wie ein Spiegel, wenn wir gleichmäßig teilen. Kuba, kubanisch zu hundert Prozent, und als erstes bekommen die Kubaner! Mein Kuba ist ja hundertprozentig kubanisch und so reservier' ich mir morgen, einen Platz im Flugzeug. Ich will in den Süden reisen um die Armut zu sehen und zurückkommen in meine Heimat als Kubaner, hundertprozentig kubanisch (Übersetzung: Bert Hoffmann)

Ingrid Kümmels*

Der Alltag der Krise Betrachtungen einer Ethnologin zum Gegen-, Mit- und Ineinander verschiedener Weltbilder in der kubanischen Alltagskultur Im Mai 1993 erreicht mich aus Havanna ein ungewöhnlicher Brief. Meine Cousine schreibt, daß sie dringend einen Fächer aus Pfauenfedern, Armreifen aus Meeresmuscheln, verschiedenfarbige Glasperlen, einen schneeweißen Pyjama und ein weiteres halbes Dutzend ähnlich wichtiger Dinge benötigt. Wenn irgend möglich, soll ich dies alles bei meinem nächsten Besuch nach Kuba mitbringen, denn ihr Mann, so schreibt meine Cousine, "muß seinen Heiligen machen". Es besteht kein Zweifel, daß er sich in die santería einweihen lassen will, in die Religion, die in Kuba aus den Glaubensvorstellungen der afrikanischen Sklaven hervorgegangen ist. Angesichts zahlloser Meldungen in deutschen Medien über die wirtschaftliche Not auf der sozialistischen Insel überrascht mich diese Wunschliste. Schließlich erreichen mich seit Jahren Briefe aus Kuba, in denen Schreiberinnen voller Sinn fürs Profane um Nylonstrümpfe, Büstenhalter und Ausgehschuhe — und auch mal um eine Sonnenbrille von Dior oder ein drahtloses Telefon — bitten. Der Gedanke, daß meine Verwandten sich in den Zeiten des Niedergangs der sozialistischen Zentralwirtschaft mit dem "Opium für's Volk" betäuben, liegt mir jedoch fern. Santería — ein Sammelbegriff für die Religion verschiedener Gemeinschaften, die selbst von "regla de ocha" sprechen — ist schon immer ein wesentlicher Teil der Weltanschauung und der Lebensorganisation der Kubaner gewesen. Doch erst seit einigen Jahren bekennen sich immer mehr offen zu den bisher vielfach diskriminierten Glaubensvorstellungen, die so sehr ein Teil von ihnen sind, daß man santería als die geheime und verkannte Volksreligion der Kubaner ansehen kann.

Die Ethnologin Ingrid Kümmels reist seit vielen Jahren regelmäßig zu Familienbesuchen nach Kuba. Ihr hier wiedergegebener Aufsatz erschien zuerst in dem Jahrbuch: Dirmoser et al. (Hrsg.): Jenseits des Staates? Lateinamerika Analysen und Berichte 18; Horlemann Verlag, Bad Honnef 1994.

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Bei meinem Besuch im August 1993 stellte ich fest, daß die santería mittlerweile sogar in den früher ausschließlich Diplomaten und ausländischen Touristen vorbehaltenen diplotiendas präsent ist. An der Kasse des größten diplotienda von Havanna drängen sich neben wenigen Ausländern gleichfalls mit Dollars gesegnete junge Kubanerinnen, die auch am hellichten Tag so etwas wie eine zweite schillernde Synthetikhaut tragen, und ein förmlich gekleideter Herr, der auffallt, weil er die begehrten und überteuerten Produkte — überwiegend US-amerikanischen Ursprungs — nicht mit Dollars, sondern mit Gutscheinen der sozialistischen Regierung bezahlt. Noch an der Kasse unterhält er sich angeregt mit zwei älteren Frauen über die vor einigen Tagen merklich angehobenen Preise für aguardiente de caña, einen Zuckerrohrschnaps, der für viele Rituale der santería unentbehrlich ist. Die Frauen sind ganz in Weiß angezogen und mit Halsketten aus bunten Glasperlen geschmückt. Als Novizinnen der santería müssen sie mehrere Monate lang auch in der Öffentlichkeit diese Kleidung tragen. Entspannt schieben sie ihr vor allem mit dem speziellen Schnaps beladenes Einkaufswägelchen als nächstes zur Kassiererin. Die ungewöhnlich und willkürlich anmutende Zusammensetzung in der Warteschlange der diplotienda kann man als typisch kubanisch ansehen. Sie steht für die Gleichzeitigkeit uns widersprüchlich erscheinender Weltanschauungssysteme und Organisationsformen des Sozialismus, Kapitalismus und der santería, die nicht erst seit jüngster Zeit gemeinsam die kubanische Gesellschaft prägen. Alle drei Systeme sind auch während des sozialistischen Staates für die Lebensorientierung vieler Kubaner wichtig geblieben, erfuhren aber im Laufe der Zeit unterschiedliche Gewichtungen. Dies wird besonders deutlich bei den sogenannten "kleinen Leuten". Mit ihren Traditionen, ihren Fertigkeiten und ihrem Wissen haben sie die heutige Situation Kubas und die Geschichte der letzten Jahrzehnte wesentlich "von unten" mitgestaltet. Vor allem im Bereich der häuslichen Wirtschaft, der Familienorganisation und der weltanschaulichen Orientierung haben sie für sich Lösungen gefunden und bewahrt, die einesteils Hand in Hand mit den Bemühungen der Kommunistischen Partei liefen, anderenteils diesen aber auch entgegensteuerten. Um diese Mitbestimmung von unten zu veranschaulichen, will ich ein wenig von den Bewohnern eines Stadtviertels von Havanna, des barrio de los tabaqueros, erzählen. Mit den Bewohnern dieses Viertels verbindet mich seit 1981 ein besonderes Verhältnis. Etwa einmal im Jahr reise ich seither regelmäßig nach Kuba und besuche dort für einige Wochen meine Verwandten; denn meine Mutter war Kubanerin. An dieser Stelle meiner Familienbiographie angelangt, muß ich stets eine "Erklärung" abgeben, von der sich Kubaner und Nicht-Kubaner eine Erhellung meines Verhältnisses zum Sozialismus versprechen. Hier ist sie: Meine Mutter lebte schon seit 1953 nicht mehr auf Kuba, und es waren eher private als politische Gründe, die sie später hinderten, auf Dauer dort zu 185

bleiben. Trotzdem wurde sie, wie viele nach der Revolution, in die Position einer Exilkubanerin gedrängt und durfte ihre Heimat nur in Ausnahmefällen besuchen. Dieses für sie schmerzhafte persönliche Schicksal hat auch meine Sichtweise in bezug auf Kuba beeinflußt. Es hat sicherlich meine Zuneigung zu den "kleinen Leuten" und ihren pragmatischen Fähigkeiten, Schwierigkeiten des Alltags zu meistern, verstärkt und mein Mißtrauen gegenüber den Funktionären der Regierungspartei und den von ihnen propagierten Idealen begründet. Trotzdem will ich im folgenden versuchen, diese beiden Bevölkerungsgruppen nicht zu polarisieren, sondern zu zeigen, wie sie im Alltag eng zusammenwirken. Das barrio de los tabaqueros war nie ein privilegiertes Viertel. Die Bewohner der Gründungszeit erzählen, daß er in den zwanziger Jahren von Tabakfabrikanten angelegt wurde, um ihre Arbeiter dort anzusiedeln. Die schmalen Grundstücke wurden aufgrund der großen Nachfrage unter denen, die sich den Kauf leisten konnten, verlost. Das sollte man wissen, wenn man den Ausspruch hört, der Großvater habe damals das Grundstück "in der Lotterie gewonnen".

Familienbiographie als Sozialgeschichte Mein Großvater war chinesischer Abstammung und in Schuldknechtschaft geboren. Als Jugendlicher hatte er sich mit dem Gewinn aus einer Nebentätigkeit als Kleinhändler von seinem Patron freikaufen können. Auch während seiner Arbeit in der Tabakfabrik bot er, unterstützt von seinen erstgeborenen Kindern, an einem fahrbaren Stand Obst und Gemüse feil. In dieser Zeit gab er die Mitgliedschaft in einem Traditionsverein der Chinesen von Havanna auf. Er fühlte sich nach und nach in der Gemeinschaft der "rassisch" heterogenen und klassenbewußten Tabakarbeiter wohler, zu denen überwiegend Leute gehörten, die als Schwarze und Mulatten klassifiziert wurden. Wie viele tabaqueros wurde mein Großvater begeisterter Anhänger sozialistischer Ideen. In den Fabriken ließen sich die Arbeiter beim eintönigen Zigarrendrehen aus den Werken von Marx, Engels und Lenin vorlesen. Die Oktoberrevolution beflügelte ihre Hoffnung auf eine gerechte, egalitäre Gesellschaft. So verwundert es nicht, daß mein Großvater seinem Anfang der dreißiger Jahre geborenen Sohn den Vornamen Lenin gab. Er selbst hatte bereits als Jugendlicher — mit prophetischer Weitsicht, so könnte man meinen — den Nachnamen Castro angenommen. Auch meine Großmutter, die mit 14 Jahren heiratete, stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wuchs weniger bei ihrem gutsituierten baskischen Vater auf, auf den die Familienmitglieder heute noch mit Stolz hinweisen, als vielmehr bei ihrer früh verstorbenen Mutter, über deren Herkunft und Hautfarbe man sich in der Familie hartnäckig ausschweigt. Wie viele Kubaner ver186

suchen die Familienmitglieder beharrlich, sich zu "verweißlichen", indem sie ihre afrikanischen Vorfahren verdrängen und notfalls ihre Hautfarbe auf eine als edler geltende Abstammung von Indianern zurückfuhren. Zu diesem "Verweißlichungsprozeß" gehörte auch, daß meine Großmutter sich als orthodoxe Katholikin ausgab und nach außen jegliche Bindung zur santería, die als Religion der Schwarzen galt, bestritt. Dies hatte auch ganz praktische Gründe. Ein Großteil ihrer 13 Kinder verdankt die Schulbildung karitativen Einrichtungen der katholischen Kirche, deren Vertreter großen Wert auf Distanz zum "Aberglauben" der Schwarzen legten. Diese als aufgeklärt geltende Haltung, die sich an den Vorstellungen der Oberschicht orientierte, verhinderte jedoch keineswegs, daß die santería den Alltag meiner Großmutter und ihrer Kinder durchdrang. Alle fühlten sich jeweils einem bestimmten Heiligen besonders verbunden, dessen "Tochter" oder "Sohn" sie sind. Diese Verbundenheit offenbarte sich für sie an der Wesensgleichheit, die ihnen mit diesem Heiligen nachgesagt wurde. So gilt die Jungfrau der Caridad, die Nationalheilige Kubas, die mit der afrikanischen Liebesgöttin Ochún identifiziert wird, unter anderem als großzügig, einnehmend, kokett, lebenslustig und untreu. Die Töchter der Caridad oder Ochüns trugen mit Vorliebe Gelb, die Farbe ihrer Heiligen. Da Ochún wie alle Heiligen ständig in die Angelegenheiten der Menschen eingreift, versucht man, sie durch Gaben und Gefälligkeiten wohlzustimmen und hofft, daß sie einem Wünsche — insbesondere in bezug auf Gesundheit — erfüllen werde. Einmal im Jahr brachte meine Großmutter ihrer Heiligen großzügige Essens- und Getränkegaben dar, die anschließend von den geladenen Gästen, Verwandten, Nachbarn und "Kindern" der gleichen Heiligen, verzehrt wurden. Doch sprachen die Familienmitglieder immer nur davon, daß lediglich der Namenstag meiner Großmutter gefeiert wurde. Die santería wurde derart im Verborgenen ausgeübt, daß man überspitzt sagen kann, einige ihrer Anhänger wußten selbst nicht, daß sie ebensolche waren. So hielt auch ich lange Zeit die reinigenden Abreibungen mit Weihwasser und Kölnisch Wasser, die mir meine Mutter regelmäßig zukommen ließ, damit böse Mächte von mir abgehalten wurden, für einen festen Bestandteil orthodoxer katholischer Praktiken. Den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und wirtschaftlicher Absicherung versuchte die Familie meiner Großeltern von Anfang an ganz pragmatisch über Kleinunternehmertum zu verwirklichen. Ihr gemauertes Haus inmitten der sonst im Viertel üblichen Holzhäuser weist noch heute auf die zwar ungewöhnliche, aber trotzdem nicht untypische Familiengeschichte hin. Unter gemeinsamer Anstrengung brachten meine Großeltern es Mitte der zwanziger Jahre zu einem eigenen Stand im Zentralmarkt von Havanna und damit zu einem bescheidenen Wohlstand. In der Folge des Schwarzen Freitags, der 1929 die Weltwirtschaftskrise einläutete, verloren sie jedoch ihre gesamten Ersparnisse. Danach konnte sich die Familie insbesondere durch 187

den wirtschaftlichen Beitrag ihrer Töchter über Wasser halten. Die Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, daß die elf Töchter ein Handwerk und auch Musik spielen lernten. Anfang der dreißiger Jahre traten die Schwestern zunächst als Son-Septett auf, später hatten sie als Jazz-Band auch international Erfolg. Die Musikerinnen verhalfen der Familie wieder zu wirtschaftlichem Aufstieg. An dessen Höhepunkt leistete sich mein Großvater eine Reise zur Weltausstellung nach New York und erfüllte einer seiner Töchter den Lebenstraum einer Audienz beim Papst. Das Liedgut der Frauenband schöpfte, wie ein großer Teil der kubanischen Musik, aus den Glaubensvorstellungen der santería. Just als nach gut 30 Jahren das Musikgeschäft den Schwestern keine allzu großen Perspektiven mehr bot, übernahmen in Kuba die Revolutionäre die Macht. Der sozialistische Staat forderte die Musikszene breit und großzügig. Meinen Tanten gelang es, das Frauenorchester bis Ende der achtziger Jahre weiterzuführen. So erhielten sie bis ins hohe Alter bei einem festen, relativ hohen Einkommen Anerkennung und Beschäftigung als Musikerinnen. Trotz ihrer Sympathien für den Sozialismus und für die Proteste der Studenten gegen den Diktator Machado engagierten sich die Familienmitglieder nicht in der Politik. In den Jahren, die von der wirtschaftlichen und politischen Krise bestimmt waren, verhielten sie sich abwartend und konzentrierten sich darauf, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen. Wie die meisten in ihrem Viertel ergriffen sie während des Guerilla-Kampfes nicht aktiv Partei für die Revolutionäre. Doch schon bald nach dem Machtwechsel wandelte sich bei vielen die Zurückhaltung in Begeisterung und Unterstützung für die ersten Veränderungen. Jene Tante, die zum Vatikan gereist war, konvertierte, so erzählt man sich, über Nacht vom Katholizismus zum Guevarismus und spendete — zum ungläubigen Erstaunen der Familienangehörigen — ihren Schmuck für den Aufbau des Sozialismus. Bis zu ihrem Tod verehrte sie Che und Fidel mit der gleichen Inbrunst wie die Jungfrau der Caridad und vormals den Papst. Sie wurde die Vorzeige-Sozialistin der Familie und somit die Spezialistin für Behördengänge und Kontakte mit Parteistellen.

Sozialisten, Kapitalisten und Santeros Eine vergleichbare Konstellation ergab sich in den ersten Jahren nach der Revolution bei vielen Familien des Viertels der tabaqueros: Einige wenige Familienangehörige bekannten sich nun öffentlich unzweideutig zum Sozialismus und erhielten bevorzugten Zugang zu Wohnungen, einträglichen Arbeitsplätzen und Luxusgütern, wie Fernsehern, Kühlschränken und Autos. Die Mehrheit der Bewohner des Viertels unterstützte Maßnahmen der Regierung jedoch eher sporadisch und hielt — in der für sie bewährten Art — Distanz zur Politik. 188

Bei der sozialistischen Staatspartei waren die Werte des individuellen Unternehmertums und des orthodoxen Katholizismus nicht mehr gefragt. Ganz im Stil der früheren Oberschicht wurde die santería auch von den neuen Regierenden als rückschrittlich, primitiv und gewaltverherrlichend zurückgewiesen. Die öffentliche Haltung eines Individuums zum Staatssozialismus war fortan für seine sozioökonomische Stellung entscheidend. Dies bewirkte, daß die Bewohner des Viertels in ihren Diskursen zunehmend die drei für sie wichtigen Weltanschauungssysteme — den kubanischen Sozialismus, den USamerikanischen Kapitalismus und die santería — isolierten, einander gegenüberstellten und plakativ nur für ein System Partei ergriffen. Der idealtypische Diskurs "des Sozialisten" läßt sich folgendermaßen karikieren: Der Sozialismus in Kuba ist ein Mann — er heißt Fidel. Dieser Mann ist unbesiegbar. Er hat Kuba die meisten Errungenschaften der modernen Welt gebracht — fließendes Wasser, Wohnungen, Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Er ist der einzige, dem es gelingt, schwerwiegende Mißstände durch persönliche Alleingänge zu beseitigen. In Kuba hungert niemand, alle haben die gleichen Bildungschancen und medizinische Versorgung; somit übertrifft Kuba sogar die auch von den Sozialisten im materiellen Bereich bewunderten USA. Die mißliche Versorgungssituation im Alltag ist auf die Unzulänglichkeiten der Menschen zurückzuführen, denn im Gegensatz zu Fidel (und Che, der eine Sonderrolle spielt) sind die normalen Menschen äußerst fehlbar. Für "den US-Kapitalisten" stellen dagegen nach wie vor die USA fraglos die Spitze der evolutionären Entwicklung dar. Die USA sind das Land des unbegrenzten freien Unternehmertums, das unter so günstigen Bedingungen wie dort ausgeübt unweigerlich zu den drei Herzenswünschen eines jeden Kubaners führen muß — zu gutem Essen, makelloser Garderobe und einem Auto. Da die Kubaner als Unternehmer unübertrefflich sind, so dieser Diskurs, sind sie im Prinzip die idealen US-Bürger, wie sie bereits in Miami unter Beweis stellen konnten. Der idealtypische Diskurs "des santero" hat es nicht nötig, die obigen Weltanschauungssysteme groß gegeneinander abzuwägen, denn beide sind der santería untergeordnet. So kreisen die Gedanken des santero konkreter um die Personen, die ihn im Alltag umgeben, und um die Frage, wie man mit Hilfe der Heiligen durch überirdische Mächte Ehepartner, Verwandte, Glaubensgenossen und andere beeinflussen kann. Doch als ausgesprochener Pragmatiker behält der santero zugleich die übergeordneten irdischen Kräfte im Auge und respektiert sie — solange sie auch von den Heiligen gestützt werden. Wie die polarisierten Weltanschauungen im Alltag zusammenfließen, das zeigte sich beim Abschluß der Panamerikanischen Spiele im Sommer 1991. Alle im Viertel schwärmten vom großen Erfolg der kubanischen Sportler. Sogar der Ärger über die immer mehr mit Sojaschrot gestreckten Hackfleisch189

rationen und die mit Süßkartoffelmehl versetzten Brötchen, die nach einem Tag zu backsteinähnlicher Härte mutierten, war kurzfristig vergessen. Auch die dem US-Kapitalismus zugetanen Leute, die sich Fidel zur Hauptfigur zahlloser bissiger Witze erkoren haben, führten den überragenden Erfolg der Sportler fast ausschließlich auf den Staatschef zurück. Eine für ihre freiwilligen Einsätze mehrfach ausgezeichnete Arbeiterin erklärte dies wie folgt: "Hast du bemerkt, daß er unter der Armbanduhr die farbigen Bänder seines Heiligen trägt und vor jedem Sieg der Kubaner unmerklich die Hand gehoben hatte?" Fidel ist nun mal nicht nur die Vaterfigur des Sozialismus, sondern zugleich für viele auch der größte santero. Trotz der nach außen gekehrten Gegensätze zwischen den Verfechtern des Sozialismus und des Kapitalismus gibt es im Alltag des Viertels eine enge Zusammenarbeit zwischen erklärten Sozialisten und "Nicht-Sozialisten". Ihre Kumpanei ist so zentral für die Wirtschaftsweise, daß viele Bewohner der Meinung sind, Kuba sei nicht vom socialismo, sondern von einem System des sociolismo (von socio = Genosse, Freund) bestimmt. Die Nicht-Sozialisten sind auf die Kooperation der Parteigänger angewiesen, um lukrative Arbeitsplätze in Fleischfabriken, im Tourismusgewerbe oder im Diplomatenviertel einnehmen zu können. Als einträglich erweisen sich diese Stellen durch die Möglichkeit, an Devisen, Fleisch, Rum und andere Waren heranzukommen, um sie dann auf dem Schwarzmarkt verkaufen zu können. Außerdem brauchen sie für ihr illegales Kleinunternehmertum die Protektion durch die Parteigänger. Nur mit ihrer Hilfe können sie die Güter beschaffen und produzieren, die die Zentralwirtschaft entweder gar nicht oder nicht in ausreichender Menge zur Verfugung stellt. Die erklärten Sozialisten wiederum benötigen die Geschäftemacher, um in den Genuß von illegal beschafften Waren zu kommen, ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen. Dabei sind die Macht und das soziale Prestige zwischen beiden Gruppen jedoch ungleich verteilt. Überspitzt könnte man sagen, daß, während die einen die Früchte ihres Bemühens stolz präsentieren können, die anderen permanent mit einem Bein im Knast stehen. Im Alltag aber ist das Zusammenwirken zwischen Sozialisten und Nicht-Sozialisten meist durch die familiäre Solidarität und die Einsicht abgesichert, daß die staatliche Planwirtschaft ohne die kleinen Geschäftemacher längst am Ende wäre.

Der Sozialismus und die Ökonomie der "kleinen Leute" Ob 1993, inmitten der wirtschaftlichen Krise, oder 1981, dem Jahr meines ersten Besuches (rückblickend kann man es als ein Jahr des wirtschaftlichen Wohlstandes bezeichnen): Die staatlich gelenkte Zentralwirtschaft mußte zu jeder Zeit von den privaten Initiativen der "kleinen Leute" ergänzt werden.

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Wie notwendig diese Ergänzung immer war, will ich am Beispiel der Nahrungsmittelversorgung illustrieren. Diesem Bereich widmeten die Revolutionäre schon bald nach ihrem Sieg große Aufmerksamkeit. Bezüglich der Zielvorstellungen wurden sie mit den "kleinen Leuten" schnell ein Herz und eine Seele: Jeder Kubaner sollte mindestens einmal in der Woche Hühnerfleisch essen und jedes Kind des öfteren ein Eis genießen können. Der Standard der Mahlzeiten, wie sie das kubanische Bürgertum genoß, wurde zum Maß der Dinge. Im Viertel der tabaqueros wurde zwar nie — wie im Zentrum und anderswo — ein Eispalast eingerichtet, doch tauchte bis 1989 mit geschätzter Regelmäßigkeit ein Kühlwagen auf, dessen Ladung von Pappkartons mit gefülltem Sahneeis reißenden Absatz fand. Die bis dahin selbstverständlichen monatlichen Rationen von Bier, Rum und Zigaretten waren während der Zeiten eines von der Sowjetunion mitgetragenen wirtschaftlichen Wohlstandes nicht unwesentlich für die breite Unterstützung, der sich die sozialistische Regierung erfreuen konnte. Bezüglich der Organisation der wirtschaftlichen Versorgung gab es allerdings keine Einigkeit. So trieb die sozialistische Regierung von Anfang an die gleichwertige Integration von Männern und Frauen in die Staatsbetriebe voran. Die sogenannten "Hausfrauen" des Viertels waren es jedoch gewohnt, zugleich als Kleinhändlerinnen und -produzentinnen tätig zu sein. Sie waren die Pfeiler der Familienorganisation und der häuslichen Wirtschaft und behielten diese Stellung auch nach der Revolution bei. Ein Grund dafür war, daß ein in die Arbeitswelt der Staatsbetriebe integriertes Ehepaar gar nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Die Betriebe garantierten zwar eine Grundversorgung mit Essen, jedoch nicht etwa mit Kleidung und Haushaltsgegenständen. Deren legale Beschaffung über die libreta, das Bezugsscheinheft, war normalen Werktätigen aus Zeitgründen ebensowenig möglich wie engagierten Parteimitgliedern. Für die Zeit vor der großen Wirtschaftskrise seit Anfang der neunziger Jahre läßt sich der idealtypische Ablauf des Alltags folgendermaßen beschreiben: Zwischen fünf und sechs Uhr morgens zwängen sich überwiegend Männer in die überladenen Busse oder steigen auf Lastwagen und entschwinden für den Rest des Tages in den dunklen Abgaswolken am Horizont. Dann übernehmen die Frauen das Viertel, das eher nach ihnen als nach den früheren Tabakarbeitern benannt sein müßte. Die Frühaufsteherinnen reihen sich mit den libretas mehrerer Familienmitglieder und Nachbarinnen gewappnet in die gefurchtete Brotschlange ein. Zeitraubendes Schlangestehen gehört jedoch nicht zu den größeren Herausforderungen für die Hausfrauen. Aufgrund der unregelmäßigen Belieferung der bodegas, der Verteilerstellen, müssen sie zunächst einmal ausmachen, wo überhaupt eine Schlange ist. Dieses Problem, so könnte man meinen, kommt den Bewohnerinnen des Viertels nicht ganz ungelegen. Ihre Lebensart, ihre nie endende Gesprächsbereitschaft sowie das Sozialleben, das sich in den 191

meist offenstehenden Häusern und unter den Vordächern abspielt, fördern die Kommunikation, die wahrscheinlich sowieso als das vorherrschende Grundbedürfnis der Kubanerinnen und Kubaner bezeichnet werden müßte. Dieses Informationsnetz ist so engmaschig und reaktionsschnell, auch Dank des Gebrauchs eines nicht zuletzt deswegen hoffnungslos überlasteten Telefonnetzes, daß oft schon die ersten in der Schlange stehen, bevor der Lieferwagen, behindert durch unzählige Schlaglöcher, den Weg durchs Viertel zur bodega gefunden hat. In den letzten Jahren ist der Bereich der Nahrungsmittel- und Güterbeschaffung zur Vollzeitbeschäftigung der Hausfrauen herangewachsen und füllt ein Gutteil des Vormittags aus: Gegen zehn Uhr hallt ein Schrei durch die offene Haustür. Eine Nachbarin meldet aufgeregt, daß endlich die kubanische Malanga angekommen ist. Die Hausbewohnerinnen sind erleichtert, denn sie behaupten, daß die vor kurzem als Malanga-Ersatz verwendeten russischen Kartoffeln stechende Bauchschmerzen verursacht hätten, was in nicht wenigen Fällen zu chronischer Appetitlosigkeit geführt haben soll. Die Nachbarin bekommt einige der frühmorgens erstandenen Brötchen und übernimmt dafür einen Stapel libretas für den Malanga-Einkauf. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon. Eine Verwandte, die einige Häuserblocks entfernt wohnt, hat den Gaslastwagen erspäht. Da seit Tagen das Gas zum Kochen im Haus ausgegangen ist, wird eiligst jemand zum LKW geschickt, der versuchen muß, den Fahrer mit ein paar Geldscheinen zu einem kleinen Umweg zu bewegen. Wenig später steht ein Rentner in der Tür. Umständlich kramt er aus einer verdeckt gehaltenen Stofftasche selbstgebastelte Papierblumen heraus. Die Hausbewohnerinnen mustern sie kritisch. Zwar ist das Geld knapp und der Preis für die Blumen eigentlich zu hoch, aber ausgerechnet gestern nacht sind einer Freundin die verstorbenen Eltern im Traum erschienen. Besorgt hatte sie gleich am Morgen angerufen und berichtet, sie befürchte, die Eltern könnten eines ihrer Kinder krankmachen und zu sich holen, weil sie sich so sehr nach den Kleinen sehnten. Mit den farbenfrohen Papierblumen lassen sich die toten Eltern gewiß besänftigen. Also werden sie dem Rentner abgekauft. Kurz danach übertritt eine andere Nachbarin ohne große Formalitäten die Schwelle des Hauses. Sie holt wieder einmal die Dosenmilch ab, auf die die Kleinkinder ein Anrecht haben. Die meisten Mütter des Viertels sind sich sicher, ebenso wie inzwischen auch viele kubanische Ernährungswissenschaftler, daß die Milch für Kinder nicht bekömmlich ist. Für einen relativ hohen Preis verkaufen die Mütter die Dosenmilch lieber an Hausfrauen, die sie zu traditionellen Süßspeisen wie flan — einer Art Pudding — verarbeiten und dann verkaufen. Das Schlangestehen wird von den Hausfrauen arbeitsteilig organisiert. Dabei kooperieren an erster Stelle die Familienmitglieder. Am Rande dazu gehören die novios, die männlichen Heiratsanwärter, die von den Familienmitgliedern ihrer Künftigen in einer Art Vorbrautdienst beim Schlangestehen 192

auf ihre Brauchbarkeit getestet werden. Manche Familien leisten sich professionelle Schlangesteher, wobei sich pensionierte Männer auf diese Dienstleistungssparte spezialisiert haben. Bei der Beschaffung von Gütern sind sich die Mitglieder von santería-Gemeinschaften besonders behilflich, die eine rituelle Verwandtschaft zueinander pflegen. Ähnlich, wie Familien es gerne sehen, wenn ein künftiges Mitglied aus einem attraktiven Produktions- oder Dienstleistungszweig kommt, tun dies auch Gemeinschaften der santería. Eine der am besten funktionierenden Gemeinschaften des Viertels ist bekannt dafür, daß sie mit Erfolg Vertreter der wichtigsten Berufssparten zur regelmäßigen Teilnahme an religiösen Treffen hat bewegen können: Angestellte von Fleisch- und Wurstfabriken, Großbäckereien, Hotels, Restaurants und Bars. In diesen schweren Zeiten, in denen die früher gerühmte Gastfreundschaft des Viertels zwangsweise suspendiert ist, finden die einzigen großen Einladungen zu einem Essen nur noch an den Festen zu Ehren der Heiligen im Lokal der santería-Gemeinschaft statt. Lange Zeit gehörte ein im Viertel sehr beliebter bodeguero zu diesem Kreis. Dank seines Heiligen, so erzählen sich die Bewohner des Viertels, entging dieser risiko- und lebensfreudige Mann dem Schicksal zahlreicher bodegueros: Als bevorzugte Sündenböcke für den illegalen Kleinhandel wurden sie nach einigen Jahren abgesetzt und kurzerhand für einige Zeit ins Gefängnis gesteckt. Aus ständiger Angst vor diesem Schicksal starb der hilfreiche bodeguero allerdings vorher an einem Herzinfarkt. Doch auch im Jenseits ist er für viele ein wichtiger, einflußreicher Mann geblieben. Man ist sich einig, daß der Totengeist des bodeguero seinen ungewöhnlichen Organisation- und Geschäftssinn nun in den Beziehungen zu den Heiligen einsetzen und mit seiner Hilfe viel erreicht werden kann. So achtet man in vielen Häusern am Namenstag des bodeguero darauf, für ihn eine Kerze aufzustellen. Eine besondere Solidarität gibt es auch unter den älteren Gründungsmitgliedern des Viertels. Aufgrund der steten Zuwanderung nach Havanna seit den dreißiger Jahren beherbergt das Viertel heute, neben den Nachkommen der Zigarrendreher, zahlreiche ehemalige "Landbewohner". Diejenigen, die seit der zweiten Generation in Havanna ansässig sind und sich deswegen getrost als Habaneros ausgeben dürfen, bezeichnen praktisch alles, was außerhalb ihrer kosmopolitischen Stadt liegt, geringschätzig als "el campo". Die Landbewohner, die "guajiros", betrachten sie im Gegensatz zu sich selbst als rückständig und mehr oder weniger unkultiviert. Doch in letzter Zeit müssen die Habaneros die früher herablassend behandelten guajiros umwerben, denn diese sind mit dem Vorteil ausgestattet, Verwandte auf dem Land zu haben, die allerlei nützliche Produkte besorgen können. Selbst die Sitte der guajiros, in den kleinen Höfen und Gemüsegärten (und zur Not auch in den Häusern selbst) Hühner, Ziegen und Schweine zu halten, wird nun von den Habaneros geschätzt und zunehmend übernommen.

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Im halblegalen und illegalen Bereich der Güterversorgung hat sich zwischen 1981 und 1993 ein dramatischer Wandel vollzogen: 1981 besorgte man sich bei spezialisierten Händlerinnen meist nur "Luxusgegenstände", wie Schuhe und Büstenhalter (beide Artikel gab es auf libreta nur einmal im Jahr), Extrarationen an Bier und Schweinefleisch — und auch mal Langusten. Auch wenn etwas Besonderes wie ein Geschenk zur Geburt oder ein Brautkleid gebraucht wurde, waren die Händlerinnen die bevorzugten Anlaufpersonen. Mit der Schließung der Geschäfte, in denen man legal für ein Vielfaches der libreta-Preise solche Artikel einkaufen konnte, erlosch der "graue Markt". Nach und nach mußten sich die Leute von den illegalen Spezialistinnen selbst Grundnahrungsmittel beschaffen lassen. Als 1990 die mit Kuba verbündeten Staaten des Ostblocks zusammenbrachen, und die Regierung den "periodo especial" ausrufen mußte, wuchs der illegale Bereich zum eigentlichen Versorgungsträger heran. Nun war man selbst bezüglich der elementarsten Zutaten der kubanischen Küche auf den teuren Zukauf von Reis, Bohnen und Eiern angewiesen. Zwar standen diese Grundnahrungsmittel jedem nach wie vor in reduzierter Menge auf libreta zu, doch wurden die Lieferungen an die bodegas immer unvollständiger und seltener.

Frauenrollen und Männerrollen Im Sommer 1993 muß man feststellen, daß die Hausfrauen für die wirtschaftliche Situation einer Familie bei weitem bedeutsamer sind als die werktätigen Männer und Frauen, die "nur" Geld nach Hause bringen. Aufgrund der Krise der nationalen Wirtschaft betätigen sich Hausfrauen zunehmend als Produzentinnen. Einige bereiten begehrte Speisen aus schwer zu beschaffenden Zutaten zu, etwa tamales aus Mais. Selbst kleine inoffizielle Restaurants werden mittlerweile im Viertel betrieben. Andere Unternehmen, die vornehmlich von Frauen geführt werden, sind Schneidereien, Maniküre- und Friseursalons. Welch wichtigen Teil der Versorgung die Privathaushalte übernehmen, wird an dem Umstand deutlich, daß dort mittlerweile selbst Seife und Schuhe hergestellt werden müssen. Jetzt betätigen sich zunehmend auch Männer, die wegen Rohstoffmangel in den Staatsbetrieben arbeitslos geworden sind, in den privaten Kleinmanufakturen. In der Zeit vor der Revolution waren die Versorgung des Viertels und die Familien ähnlich organisiert: Die Hausfrauen der Unterschicht ernährten als Kleinproduzentinnen und -händlerinnen die matrifokalen Familien. Viele Männer traten nur in einer Art Satellitendasein in den Familien in Erscheinung. Ihr Beitrag zum Familienleben und zur häuslichen Wirtschaft war eher unregelmäßig. Die Männer der Mittel- und Oberschicht hielten sich neben der Familie mit ihrer offiziell angetrauten Frau oft noch weitere Familien mit Nebenfrauen aus der Unterschicht. Die Männer der Unterschicht hingegen 194

durchliefen mehrere nicht legalisierte, monogame Beziehungen, die uniones libres. Bei Problemen fanden Frauen eher bei ihren Familienangehörigen als bei ihren Männern dauerhaften Rückhalt. Um sich und ihre Familie selbständig ernähren zu können, war es vor der Revolution üblich, daß Mädchen ein Handwerk lernten, etwa Friseuse, Näherin oder Stickerin. Diese Erwerbstätigkeit wurde als regelrechter Bestandteil der "Hausfrauentätigkeit" angesehen. Den familiären Beziehungen und der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern innerhalb der matrifokalen Familien entspricht ein spezifisches Selbstverständnis der Frauen: Sie empfinden sich als von Natur aus vernunftbegabter, berechnender und geschäftstüchtiger als die Männer. Diese gelten als von Natur aus triebhaft, unstet und eher künstlerisch begabt. In der Liebe kreisen daher die Diskurse der Frauen oft um die Taktiken, die anzuwenden seien, um einen Mann "festzubinden". Kurz vor ihrer ersten Hochzeit erhielt eine meiner Cousinen von ihren älteren Tanten folgenden Rat: "Du mußt deinen Ehemann immer fest an der Leine halten. Laß ihn ab und zu ein bißchen los, zieh' ihn aber immer wieder fest an dich heran!" Ich staunte damals vor allem darüber, daß eine Frau Mitte 20, trotz des Generationenunterschiedes, voll auf den Rat einging und gelassen erwiderte: "Macht euch keine Sorgen, ich habe ihn gut im Griff, er wird mir nicht entkommen. Dabei soll er aber den Eindruck haben, er wäre völlig frei." Tatsächlich hofieren die Männer mit Vorliebe in der Öffentlichkeit "fremde" Frauen und erbringen dabei künstlerische Hochleistungen in der Form von spontanen Kurzgedichten, den piropos. Die weitere Zuwendung an eine fremde Frau (auch eine Nebenfrau) geschieht indessen unter höchster Geheimhaltung und wird, wenn sie aufgedeckt wird, auch von den Männern mit der angeborenen Triebhaftigkeit entschuldigt. Wenn möglich aber projizieren sie die eigene Untreue auf die Frauen. Besonders gern spielen sie die Gefahr hoch, ihre eigene Frau könne andere Männer in den Bann ziehen, geben sich rasend eifersüchtig und rechtfertigen damit Vorschriften ihrer Frau gegenüber, etwa in bezug auf die Kleidung und ihre abendlichen Ausgehzeiten. Die sozialistische Regierung setzte der matrifokalen Familienorganisation das Ideal einer monogamen Kleinfamilie im Stil des europäischen Bürgertums entgegen — mit dem Unterschied, daß Mann und Frau gleichermaßen in das Arbeitsleben integriert sein sollten. Sie steuerte der traditionellen Geschlechterbeziehung auf mehrere Weisen entgegen. So hat sie die Legalisierung der "freien" Verbindungen wesentlich erleichtert. Doch hat diese Maßnahme Mehrfachehen und sukzessive Monogamie keineswegs eingedämmt. Auch mit dem Angebot kostenloser Schulbildung glaubte man das Hausfrauendasein untergraben zu können. Ansonsten beschränkten sich die Gegenmaßnahmen auf die Ebene des Parteidiskurses. Darin wurden die Lebensformen von "NurHausfrauen" und "Arbeiterinnen" polarisiert und der Beitrag der "Nur-Hausfrauen" zur nationalen Wirtschaft für unzureichend erklärt. Ende der achtziger Jahre reagierten die Funktionäre auch auf das "Problem" der Verbindung zwi195

sehen Hausfrauentätigkeit und sogenanntem Schwarzhandel. In einem Theaterstück, das direkt in den Wohnvierteln aufgeführt wurde, wurden die für Frauen und Männer typischen Rollenzuweisungen aufgegriffen und die "anachronistische Mentalität" als ein wichtiger Faktor dafür dargestellt, daß die von der Regierung propagierte Gleichberechtigung von Frau und Mann nicht erreicht worden sei. In der Praxis blieb jedoch die matrifokale Familienorganisation unangetastet, wohl weil die Regierung längst die wirtschaftliche Bedeutung dieser Struktur erkannt hatte. Auch im Bereich der Gesundheitsversorgung ging die Regierung auf die Vorstellungen und die Gewohnheiten der "kleinen Leute" relativ wenig ein. Da dieser Bereich die Existenz des Menschen betrifft, wird er meist in enger Übereinstimmung mit der jeweiligen Weltanschauung organisiert. So mag es nicht verwundern, daß es im Viertel seit langem eigenständige medizinische Spezialistinnen und Spezialisten gibt, die die Erkenntnisse der Volksmedizin, der santería und der "westlichen" Schulmedizin kombinieren. Sie behandeln bevorzugt Alltagskrankheiten, wie Kopf-, Magen- und Unterleibsbeschwerden, und verschreiben beispielsweise eine Mischung aus Penicillintabletten, Kräutern aus dem hauseigenen Gemüsegarten und Weihwasser. Diese Art von Krankenbehandlung war auch in den Zeiten einer hervorragend funktionierenden staatlichen Gesundheitsversorgung unter den Bewohnern des Viertels üblich. Sie nahmen beide Systeme in Anspruch, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Sogar das Renommierkrankenhaus von Havanna, das Hermanos Almejeiras, welches nach dem Stand der orthodoxen medizinischen Wissenschaften der USA ausgerichtet und hervorragend ausgestattet ist, ordneten die Leute ihrem eigenen Gesundheitsverständnis unter. Bezeichnend ist der Fall einer Frau, die vor Jahren unmittelbar vor einer wichtigen Herzoperation dieses Krankenhaus wieder verließ. Ein Pfleger hatte sie in der Ansicht bestärkt, daß sie vor der Operation noch eine offene Rechnung mit ihrer Heiligen begleichen sollte. Der Pfleger war ein Novize der santería und gehörte damals zu den wenigen Glücklichen, die sich ganz in weiß kleiden konnten, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Fast immer sind lebensbedrohende Krankheiten der Anlaß, einen religiösen Spezialisten aufzusuchen und sich in die santería einweihen zu lassen. Jetzt, wo in den staatlichen Krankenhäusern Einwegspritzen fehlen und die Bettwäsche selbst mitgebracht werden muß, wächst der Stolz auf das santeríasigene "Gesundheitssystem". Immer mehr Leute, so auch der Mann meiner Cousine, scheuen sich nun nicht mehr davor, sich mit einer Weihe öffentlich zur santería zu bekennen.

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Die Partei und die Religion Lange Zeit wurde die santería von der sozialistischen Regierung vehement bekämpft, wohl weil sie soziale Kräfte zu mobilisieren und als Weltanschauungssystem mit dem Sozialismus zu konkurrieren vermag. Sie wurde zwar offiziell nicht verboten, doch schloß man Partei- und iantena-Mitgliedschaft gegenseitig aus. Da die Ausübung der santería mit Nachteilen verbunden sein konnte, insbesondere für Familienmitglieder, die in Regierungsinstitutionen arbeiteten, gingen die santeros zwangsweise mit großer Diskretion vor. Die Porzellan- oder Terrakotta-Figuren, die Heilige repräsentieren, die Suppenterrinen, in denen die Essenzen der Heiligen aufbewahrt werden, die mit Wasser gefüllten Gläser für die Totengeister, das alles hatte — wie zu Zeiten vor der Revolution, als santería von der Oberschicht und der katholischen Kirche diskriminiert wurde, — den Charakter des Alltäglichen und war kaum vom üblichen Hausinventar zu unterscheiden. In den achtziger Jahren änderte die Regierung ihre rigide Haltung gegenüber dieser Volksreligion. Ihre Strategie war, die Musik und die Rituale der santería durch ihre Folklorisierung für den Tourismus zu nutzen und zugleich deren religiöse Bedeutungen auszuhöhlen. Diese Politik erwies sich jedoch als ein zweischneidiges Schwert. Immer mehr Ausländer und Einheimische erachteten jetzt santería als wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität der Kubaner. Auch überstand die religiöse Integrität der santeros offenbar unbeschadet das Pendeln zwischen den Nachtclubs der Hotels und den Heiligenfesten in ihrem barrio. Scheinbar boten diese Musiker dem Nachtclubpublikum dieselben heiligen Rhythmen wie bei den "echten" Zeremonien. Sie spielten auf Trommeln, die zwar genauso aussahen wie die "richtigen", jedoch — im Gegensatz zu diesen — nicht geweiht waren. Auch sind die Bewohner des Viertels überzeugt, daß die "richtigen" Trommelschläge, die die Heiligen zu rufen vermögen, weiterhin nur auf ihren religiösen Festen im barrio erklingen. Nur dort sind die Trommeln in der Lage, die Heiligen auf die Erde zu holen, damit sie von den willenlos gewordenen Körpern der santeros Besitz ergreifen und direkt zu ihnen sprechen. Beim letzten Parteitag Ende 1991 hat nun die Kommunistische Partei auch die Mitgliedschaft von Angehörigen der santería zugelassen. Im September 1993 öffnete die Regierung zahlreiche Wirtschaftsbereiche für die Privatinitiative der Kubaner und legalisierte somit die Aktivitäten vieler Kleinhändlerinnen und -produzentinnen im Viertel der tabaqueros. Dies sind späte Zugeständnisse an die "kleinen Leute", die nicht nur zwischen "Sozialismus oder Tod" wählen wollen, sondern verheißungsvollere Alternativen im Blick haben. Während der letzten Karnevalsaison, die wegen der Wirtschaftskrise offiziell abgesagt worden war, sangen sie am liebsten in den Straßen "Ojalá que llueva bistec" — hoffentlich regnet es Rindersteaks.

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Todos se roban A tu padre le robaron la radio del auto Tú le robas los cigarros Cuando está llegando el sábado Y a tí te roban cuando estás frente al televisor A tí te roban las ganas Te roban las ganas de amor Al vecino le robaron la ropa del patio El se robaba del dinero De la caja donde trabajó Y a tí te roban cuando estás en un mostrador A tí te roban las ganas Te roban las ganas de amor A tu padre le robaron las piezas del auto El las compra a sobreprecio Al mismo tipo que se las robó Y a tí te roban los porteros y el cobrador A tí te roban las ganas de amor Hay ladrones que se esconden dentro de tu cuarto Y se esconden en los libros En el diario y la televisión Y te roban la cabeza y el corazón Y así te roban las ganas Te roban las ganas de amor No me pregunte más Por los condenados a vivir en la prisión No me preguntes más Por los que robaron y ahora esconden su mansión Si todos se roban

Carlos Várelo, 1990

Jeder beklaut jeden Deinem Vater haben sie das Radio aus dem Auto rausgeklaut. Du selbst klaust ihm die Zigaretten, wenn es Samstag wird. Und Dich beklauen sie, wenn Du Femsehen schaust. Sie klauen Dir die Lust, Sie klauen Dir die Lust auf die Liebe. Dem Nachbarn haben sie die Wäsche aus dem Garten weggeklaut. Er selbst hat Geld aus der Kasse in seinem Betrieb geklaut. Und Dich beklauen sie, wenn Du an einem Schalter stehst. Sie klauen Dir die Lust, Sie klauen Dir die Lust auf die Liebe. Deinem Vater haben sie Teile von seinem Auto geklaut. Er kauft sie schwarz für einen Wucherpreis zurück bei dem gleichen Typen, der sie ihm geklaut hat. Und Dich beklauen die Pförtner und die Kassierer. Sie klauen Dir die Lust, Sie klauen Dir die Lust auf die Liebe. Es gibt Diebe, die sich in Deinem Zimmer verbergen, in den Büchern verstecken, in der Zeitung und im Fernsehen; und die klauen Dir Deinen Kopf und Dein Herz. So klauen sie Dir die Lust, Sie klauen Dir die Lust auf die Liebe. Frag' mich nicht weiter nach denen, die zum Leben im Gefängnis verurteilt wurden. Frag' mich nicht weiter nach denen, die geklaut haben und jetzt ihre Villen verbergen. Jeder beklaut doch jeden.

(Übersetzung: Bert Hoffmann)

Pedro Monreal / Manuel Rúa del Llano1

Kubas Transition Öffnung und Reform der kubanischen Wirtschaft: Die Transformation der Institutionen 1993 konsolidierte sich in Kuba der Prozeß der wirtschaftlichen Öffnung. Diese apertura ist Teil der Politik, mit der die Regierung der schwersten Wirtschaftskrise des Landes seit 35 Jahren begegnet. Sie umfaßt im wesentlichen drei parallele und miteinander verflochtene Elemente: die beschleunigte Entwicklung des Tourismus, die Neuorientierung des kubanischen Außenhandels sowie die Öffnung für ausländische Investitionen. Die Öffnung, die in diesen Bereichen stattgefunden hat, stellt eine partielle Reform in Richtung Markt dar. Sie existiert in Kuba heute neben dem sogenannten "System der Wirtschaftslenkung und Planung" (SDPE), das noch immer in den meisten Wirtschaftssektoren gültig ist. Diese Koexistenz von zwei offensichtlich einander widersprechenden Wirtschaftskonzepten hat zur Folge, daß in Kuba gegenwärtig ein duales Wirtschaftssystem existiert2. Wie fast immer, wo infolge einer Krise in kurzer Zeit drastische Veränderungen stattfinden, hinkt die theoretische Analyse der apertura ihrer realen Entwicklung hinterher. Bislang sind nur sehr spärlich wissenschaft-

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Pedro Monreal ist Wissenschaftler am Centro de Estudios sobre América (CEA) in Havanna. Dr. Manuel Rúa del Llano ist Mitarbeiter des CEA und arbeitet als Wirtschaftsexperte für die kubanische Handelskammer. Der vorliegende Artikel (Orig.: Apertura y reforma de la economía cubana: las transformaciones institucionales 1990-1993) wurde im Dezember 1993 fertiggestellt. Für wertvolle Kommentare zu dieser Arbeit danken die Verfasser Luis Suárez Salazar, Juan Valdés Paz, Tania García und Rafael Hernández (alle CEA, Havanna). 1995 ist von Pedro Monreal in Zusammenarbeit mit Julio Carranza und Luis Gutiérrez das Buch "Cuba: La restructuración de la economía — una propuesta para el debate" erschienen (Editorial de Ciencias Sociales, La Habana). — Übersetzung des Artikels: Bert Hoffmann.

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Siehe hierzu und zu den entscheidenden Herausforderungen, vor denen die kubanische Ökonomie steht: Carranza in diesem Band; (zum Konzept der SDPE vgl. ebenda Fußnote 4 — Anm. B.H.)

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liehe Untersuchungen über die institutionellen Veränderungen publiziert worden, die mit dieser partiellen Reform der kubanischen Ökonomie einhergehen 3 . Es ist die zentrale Hypothese des vorliegenden Artikels, daß das, was als selektive Öffnung der kubanischen Wirtschaft begonnen hatte, zu einer partiellen Wirtschaftsreform geworden ist, die durch bedeutsame marktorientierte Veränderungen auf der institutionellen Ebene geprägt ist. Diese partielle Reform kann aus ihrer eigenen Evolution heraus Tendenzen hervorbringen, die sie in eine weitergehende Wirtschaftsreform verwandeln, welche den gegenwärtigen dualen Charakter des kubanischen Wirtschaftssystems überwinden kann. Dieser Aufsatz hat weder den Anspruch, eine erschöpfende Analyse des Themas zu präsentieren, noch fertige Lösungsansätze zu geben. Er will lediglich die Debatte über die jüngsten wirtschaftlichen Veränderungen fördern, indem er eine Perspektive von zentraler Bedeutung verfolgt, die bislang nur unzureichend analysiert worden ist: die institutionellen Transformationen, die sich in dem Zeitraum von 1990 bis 1993 vollzogen haben, und deren Implikationen und Folgewirkungen. Auf der methodologischen Ebene wurde versucht, zwei gängige Ansätze bei der Analyse von Wirtschaftsreformen zu vermeiden. Zunächst betrifft dies eine teleologische Sichtweise, derzufolge die sozialen Prozesse (in diesem Fall die Reform) mehr oder weniger gradlinig auf ein letztendliches Ziel hinführen, das im allgemeinen als optimale Lösung erachtet wird4. Die wirkliche Geschichte ist viel komplexer und viel weniger linear; und es scheint keine Grundlage dafür zu geben, weder auszuschließen noch a priori zu behaupten, daß eine allgemeine Reform der kubanischen Ökonomie sich in Richtung Markt bewegen könnte. Die in dem vorliegenden Aufsatz verfolgte Hypothese soll daher untersucht und erklärt werden, ohne daß sie notwendigerweise als die optimale oder einzige Lösung gesehen werden muß. Zum zweiten sollte in der vorliegenden Arbeit auch ein Ansatz vermieden werden, der vor allem "Rezepte" gibt, sprich: die Tendenz, Analyse, Hypothesenüberprüfung und Theoriebildung zu vernachlässigen und sich stattdessen auf das Terrain der Empfehlungen und der Politikberatung zu begeben. Vielmehr steht tatsächlich die Kreativität und der Einfallsreichtum, den die Verantwortlichen für die kubanische Wirtschaftspolitik in der Praxis gezeigt haben, in Kontrast zu dem Fehlen

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Hervorzuheben ist hierbei allerdings das Instituto Nacional de Investigaciones Económicas (INIE, Havanna), das im Mai 1993 ein Seminar über die economía emergente organisiert hat. Mit diesem Ausdruck der "entstehenden Wirtschaft" bezeichnen die Wissenschaftler des INIE den Reformsektor der kubanischen Ökonomie.

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Für eine Kritik des teleologischen Ansatzes s. Schamis 1993.

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theoretischer Arbeiten zum Thema seitens der kubanischen Wissenschaftler.

Transitionen, Reformen und Institutionen Eines der "dichtesten" sozialwissenschaftlichen Studienfelder zu Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre ist das Thema der sogenannten 'Transitionen". Dieser Begriff wird mit einer beträchtlichen Breite angewandt: Er meint nicht nur die Prozesse sozialen Wandels in den ehemals sozialistischen Ländern Europas, sondern auch in anderen Regionen, insbesondere in Lateinamerika. Die konkrete Ausprägung dieser Studien war die Analyse der "wirtschaftlichen Liberalisierung" und der "Demokratie". Parallel dazu ist das Interesse der gegenwärtigen Sozialwissenschaft an der Frage der Transitionen vom Kapitalismus zum Kommunismus zurückgegangen, ein Thema, das über viele Jahre ein wichtiger Bereich der Forschung über 'Transitionen" war. Besondere Beachtung wurde den sogenannten "wirtschaftlichen Transitionen" zuteil. Dies mag daran liegen, daß, nachdem die erste Euphorie verflogen war, die viele der jüngsten Prozesse sozialen Wandels begleitet hatte, die kritische Bedeutung der ökonomischen Variable für diese Prozesse offensichtlich wurde. Zu beachten ist dabei jedoch, daß die Mehrzahl der von der aktuellen Literatur untersuchten wirtschaftlichen Transitionen über eine Wirtschaftsreform im konventionellen Sinne hinausgehen; bei ihnen fand nicht einfach eine relativ stabile Transition von einer ökonomischen Organisationsstruktur zu einer anderen statt, sondern sie waren Teil von größeren soziopolitischen Transformationen. Ohne Zweifel kann die Unterscheidung verschiedener Typen von wirtschaftlichen Transitionen sich als eine komplizierte Aufgabe erweisen. Auch können sich Prozesse, die als Wirtschaftsreform begannen (wie etwa die Perestroika), in ihrem Verlauf in weitreichende wirtschaftliche Transformationsprozesse verwandeln, die mit radikalen Veränderungen auf der sozialen und politischen Ebene einhergehen. Obgleich in den vergangenen Jahren sehr viel über die Transitionen geschrieben worden ist, so bleibt ihre Dynamik noch weitgehend unverstanden. In der gegenwärtigen Literatur zum Thema scheint es mehr Streitpunkte als Gemeinsamkeiten zu geben - was nicht nur theoretische, sondern auch praktische Implikationen hat. So ist beispielsweise die Verbreitung von Entwürfen radikaler und "sofortiger" Transitionsmodelle (shocks oder big bangs) Ausdruck einer Denkrichtung, die offenbar frustriert ist von den geringen Kenntnissen, die über die Dynamik von Transitionen verfügbar sind. Es wird dann versucht, dieses Theoriedefizit 202

durch die Negation des Forschungsobjekts aufzulösen, das heißt durch die Negation der Transition selbst; angenommen wird die - bislang noch nicht durch die Praxis bestätigte - Prämisse, daß es möglich ist, zu der neuen sozialen und wirtschaftlichen Ordnung zu kommen, ohne daß dazwischen ein Transitionsprozeß liegt. Es ist die Logik von "Wenn man über den Sumpf will, dann am besten mit einem einzigen Sprung." In Wirklichkeit aber hat die Anwendung von shock- oder big tang-Konzepten weniger mit theoretischen Überlegungen zu tun als vielmehr mit politischer Taktik: Es geht darum, die wirtschaftlichen Veränderungen schnell durchzusetzen, bevor die davon betroffenen Bereiche der Gesellschaft Zeit haben, politische Opposition dagegen zu organisieren. Diesen Ansätzen steht eine andere Sichtweise entgegen, die gleichermaßen die Notwendigkeit der Transitionen wie auch die Schwierigkeiten bei dem Verständnis ihrer Dynamiken anerkennt. Dabei wird die Idee zurückgewiesen, daß die alte Struktur sofort durch die letztendliche Zielstruktur ersetzt wird. Konzeptionell stützt sich dies auf eine Idee, die den Ökonomen als "Lucas' Kritik" bekannt ist: Während des Wandlungsprozesses verfügen die Verfechter des neuen Modells über sehr begrenzte Information, und es ist für sie ungemein schwer, die tatsächlichen Effekte von politischen Reformmaßnahmen abzuschätzen, da diese selbst wieder jene Wirtschaftsstrukturen verändern, die den Ausgangspunkt bildeten. Wenn dazu noch der komplizierte Lernprozeß der verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Akteure im Umgang mit den neuen Wirtschaftsstrukturen in Rechnung gestellt werden muß, wird leichter verständlich, warum diese Denkrichtung in der Praxis zu einer vorsichtigeren Herangehensweise an die Reform kommt - einem Ansatz, der der Logik näher steht, mit der die Chinesen selbst ihre Reform beschrieben haben: "Den Fluß überqueren, aber dabei die Steine unter den Füßen spüren" (vgl. Maloney 1993). Eine zweite Frage von großem Interesse ist das sogenannte "Problem der Abfolge", sprich: die Reihenfolge, in der die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen stattfinden 5 . In der jüngsten Literatur zu diesem Thema hat das "Problem der Abfolge" insbesondere die spezifische Form als Untersuchung des Verhältnisses zwischen "Demokratie" und "Marktwirtschaft" angenommen. Die ausführliche Diskussion, die nötig wäre, um die Bedeutung und Implikationen dieser beiden Begriffe zu klären, ist für die engeren Ziele dieses Aufsatzes nicht relevant. Jenseits davon ist jedoch bedeutsam, daß die jüngste Literatur dem Typ der "optimistischen" Theoriebildungen zu entsprechen scheint, die sich heute in weiten Teilen der Sozialwissenschaften ausbreiten und die, historisch

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Einige Autoren definieren als "Problem der Abfolge" auch die Reihenfolge, in der sich die verschiedenen Phasen des wirtschaftlichen Reformprozesses vollziehen (vgl. Edwards 1992).

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gesehen, eine "pendeiförmige" Interpretation für das Verhältnis zwischen "politischer Demokratie" und "kapitalistischem Markt" anbieten. In "schwierigen Zeiten" (Depressionen und Krisen) ist die Annäherung an dieses Verhältnis pessimistisch gewesen; in Zeiten wie heute - "normale Zeiten" für den Kapitalismus, wenn man die geringen sichtbaren Systemherausforderungen sowie die "Niederlage" des sozialistischen Systems in Europa bedenkt - ist der Ansatz über dieses Verhältnis seinem Wesen nach optimistisch: "Politische Demokratie" und "Markt" gelten demzufolge als Prozesse, die sich aufgrund der ihnen innewohnenden Charakteristik wechselseitig bestärken. Nichtsdestotrotz enthüllt eine genauere Analyse der Literatur zum "Problem der Abfolge" zumindest drei Fragen, die bei der Untersuchung der Transitionen zu beachten sind: Zunächst einmal darf die gegenwärtige Diskussion über das Verhältnis zwischen "Demokratie" und "Markt" nicht als die einzig relevante Debatte gesehen werden. Sie ist vielmehr nur eine der spezifischen Formen, die die allgemeinere Diskussion über das Verhältnis zwischen wirtschaftlichen und politischen Organisationsmodellen annehmen kann. Zum zweiten zeigt die Tatsache, daß zwischen den verschiedenen Autoren die Differenzen vorherrschen, daß es keinen Konsens über das genaue Verhältnis zwischen politischer und wirtschaftlicher "Liberalisierung" gibt6. Und drittens schließlich die von einigen Autoren entwickelte These von den sich widersprechenden Logiken der Prozesse "wirtschaftlicher Liberalisierung" und "politischer Öffnung": Während letzterer per Definition eine Dispersion der politischen Macht bedeutet, ist die Wirtschaftsreform ein Transformationsprozeß der staatlichen Strukturen in einem solchen Ausmaß, daß, um ihn zu beginnen, eine gewisse Machtkonzentration in den Händen der Reformkräfte unabdingbar ist. Diese Konzentration der Macht ist notwendig, um die Reform in Gang zu setzen, und auch, um sie in ihren ersten Etappen voranzutreiben; im Verlauf ihrer Entwicklung selbst aber hat die Wirtschaftsreform dennoch eine Dispersion der Macht zur Folge. Eine weitere mögliche Erklärung für die Widersprüche zwischen "politischer Öffnung" und "wirtschaftlicher Liberalisierung" ist die Annahme, daß sich beide Prozesse wechselseitig schwächen: Die politische Öffnung erschwert die Umsetzung der wirtschaftlichen Liberalisierung, indem sie deren politischen Gegnern Räume öffnet; die wirtschaftliche Liberalisierung ihrerseits hat eine Reihe sozialer Kosten zur Folge, die gegen die Stabilität wirken, die für einen Prozeß politischer Öffnung notwendig ist. Auch wenn diese Argumente ohne Zweifel Probleme der realen Welt der

6

Diese Meinungsuntersehiede erklären sich in gutem Maße dadurch, daß die praktische Schlußfolgerung aus der Analyse einiger Erfahrungen sich als unvereinbar mit bestimmten ideologischen Schemata erwies, denen zufolge eine Konzentration der politischen Macht für Marktreformen abträglich sei.

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Politik widerspiegeln, so läßt sich doch schwerlich ihre Allgemeingültigkeit beweisen. Theoretisch weiterreichender erscheint uns deshalb das in dem Absatz zuvor genannte Argument der sich widersprechenden Logiken von "wirtschaftlicher Liberalisierung" und "politischer Öffnung". Diese Überlegungen führen zu der zweiten theoretischen Frage, die eingangs gestellt wurde: der Rolle der Institutionen in der Wirtschaftsreform. Genauer: die Rolle, die die institutionellen Transformationen spielen. Traditionell ist der Institutionen-Begriff in den Sozialwissenschaften umstritten gewesen, was auch die Vielzahl an verschiedenen Definitionen erklärt. Ohne den Ehrgeiz, diesen Streit zu vertiefen, so macht der Charakter dieses Aufsatzes doch zumindest eine operative Definition dieses Begriffs notwendig: Eine Institution wird definiert als eine Serie von Konventionen, die die Beziehungen zwischen Individuen und sozialen Gruppen regeln. Diese Definition umfaßt sowohl formelle wie informelle Organisationen, explizite genauso wie implizite Normen und Regeln. Institutionen sind historisch geprägte soziale Erscheinungen. Die Transformation der Institutionen nun stellt das zentrale Element der Wirtschaftsreformen dar. Denn die Reformen sind nicht einfach der Übergang von einer Form der Wirtschaftsführung zu einer anderen, sondern sie sind ganz wesentlich Prozesse der Konstruktion und Rekonstruktion von Institutionen, die die beiden großen Handlungssphären, die organisatorische und die normative umfassen 7 . Selbst die sogenannten Prozesse "wirtschaftlicher Liberalisierung" sind im Grunde institutionelle Reformen, auch wenn die neoklassischen Theorien, die ihnen zugrunde liegen, den Markt fälschlicherweise als paradigmatischen Ausdruck einer spontanen Ordnung ansehen, die nicht institutionellen Regelungen und Mechanismen unterliegt. Die Wirklichkeit hingegen sieht sehr anders aus. Der Markt als eine dezentralisierte Form der sozialen Kooperation benötigt für sein Funktionieren die Konstruktion dessen, was einige Autoren "explizite institutionelle Instrumente" nennen (vgl. Schamis 1993). So bestehen die "Marktreformen" genau in der Transformation der künstlich geschaffenen Konventionen, die dem Markt Raum geben und sein Funktionieren ermöglichen. Die Veränderung der Struktur des Staates durch die institutionellen Transformationen bestimmt eine der wichtigsten Folgen der Wirtschaftsreformen: ihre Auswirkung auf den Prozeß politischer Herrschaft. In diesem Sinne ist jede Wirtschaftsreform im Prinzip ein Programm zur Konsolidierung oder Neubegründung der politischen Macht. Es trifft zu, daß die Wirtschaftsreformen in einigen Fällen am Ende die Grundlagen 7

Wirtschaftsreform wird in diesem Artikel als Sonderfall einer relativ stabilen wirtschaftlichen Transition verstanden, die in der Regel "von oben" - sprich: von den politischen Gruppen an der Macht vorangetrieben wird.

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der politischen Macht der Reformkräfte selbst untergraben haben. Diese Tatsache erklärt sich jedoch nicht so sehr aus "technischen" Fehlern des Reformentwurfs, sondern vielmehr aus der Komplexität der Umsetzung von sozialen Transformationsprozessen, die, wie die Wirtschaftsreformen, in hohem Maße von der Entwicklung des allgemeinen politischen Kontextes abhängig sind, in dem sie sich vollziehen. Es gibt einen weiteren theoretischen Aspekt, der bei der Frage des Verhältnisses zwischen wirtschaftlicher Transition und institutionellen Transformationen relevant ist: das relative Gewicht, das die politischen Entscheidungsträger der Anfangs- und der Endstruktur der Transition zuweisen. Hierbei gibt es zwei verschiedene Auffassungen, die sich in zwei unterschiedliche Vorstellungen von der Transition übersetzen. Dies hat auch unterschiedliche praktische Folgen für den Prozeß der institutionellen Transformationen. In dem einen Fall liegt die Betonung auf der Veränderung der ursprünglichen Struktur; hiervon ausgehend, bestimmt die politische Führung jene Aspekte der existierenden Struktur, die verändert werden sollen, und die politischen Maßnahmen, die dafür nötig sind. In dem anderen Fall hingegen liegt die Betonung auf der Endstruktur, die als Ziel der Transition gesehen wird; hierbei erarbeiten die politisch Verantwortlichen ein Modell der Endstruktur und entscheiden danach, mit welcher Art von Maßnahmen man dorthin gelangen könnte. In diesem Typ der Transition bestimmen die Ziele die politischen Maßnahmen. Zum Abschluß einige kurze Bemerkungen über die Relevanz der hier genannten theoretischen Überlegungen für den Fall Kuba. Zunächst einmal ist hervorzuheben, daß die Begriffe "wirtschaftliche Transition" und "Wirtschaftsreform" in dem gegenwärtigen Kontext Kubas sachgemäß und zulässig sind. Die Aussage, daß Kuba eine Transition von einer Wirtschaftsstruktur zu einer anderen erlebt, bedarf keiner besonderen Beweisanstrengung; diese Transition jedoch kann sich in zahlreichen alternativen Formen vollziehen, von denen die Wirtschaftsreform eine Möglichkeit ist. Klarzustellen ist allerdings, daß die Wirtschaftsreform nicht einfach irgendeine Art graduellen Wandels in der Wirtschaftspolitik ist. Sie ist vor allem ein Prozeß, der den Übergang von einer Wirtschaftsstruktur zu einer anderen ermöglichen soll - und dies ist ein entscheidender Punkt, denn unabhängig von ihren jeweiligen Formen geht doch jede Reform von der Einsicht aus, daß die ursprüngliche Struktur überwunden werden muß und daß dafür ein relativ radikaler Wandel vonnöten ist. Aus diesem Grund scheint die Debatte über die Reform auch mit der Frage der wirtschaftlichen Modelle einherzugehen. Im Fall Kuba wird die Diskussion über das Thema Wirtschaftsmodell oft in unvollständiger Form geführt. Wirklich wichtig ist nicht so sehr der ideologische Beiklang, den ein neues Modell haben könnte, sondern das, 206

was man die "politische Ökonomie" des Modells nennen könnte: es als ein Phänomen zu sehen, dessen kausale Bezüge aus sozioökonomischen Prozessen resultieren. Das Wirtschaftsmodell ist zu verstehen als eine nützliche analytische Abstraktion, um die Funktionsweise eines bestimmten Akkumulationsmusters zu erklären, das als Grundlage für die Wirtschaftspolitik dienen kann. Damit ist es aber in seinen Grundlagen nicht ein Phänomen, das von den Entscheidungen der politisch Verantwortlichen bestimmt wird. Zuweilen "wachsen" diese Modelle, ohne daß vorher ein Entwurf von ihnen gemacht worden wäre. In dem konkreten Fall Kubas ist das neue Modell "gewachsen", ohne daß danach gestrebt worden wäre, weil die Bedingungen wirtschaftlicher Akkumulation sich in den vergangenen Jahren für Kuba grundlegend verändert haben.

Die apertura und ihre institutionellen Transformationen Der Beginn der kubanischen Wirtschaftsreform in der Folge der wirtschaftlichen Außenöffnung ist kein zufälliges Ereignis, sondern resultiert vielmehr aus der Anerkennung der Tatsache, daß für die Gangbarkeit jedes neuen wirtschaftlichen Projekts in Kuba zwei Variablen eine Schlüsselrolle spielen: zum einen das Wachstum und die Diversifizierung der Exporte, zum anderen die Erschließung neuer Quellen externer Finanzierung 8 . Seit der ersten Hälfte der 80er Jahre hat die kubanische Regierung die Notwendigkeit gesehen, neue Geschäftsmodalitäten in den Beziehungen Kubas zu den marktwirtschaftlichen Ländern zu suchen. Gleichwohl wurde die Politik der wirtschaftlichen Öffnung in breiterer Form erst Anfang der 90er Jahre begonnen, als die Neueingliederung Kubas in die Weltwirtschaft zu einer entscheidenden Bedingung für das nationale Überleben wurde. Den Inhalt der apertura stellen im Grunde zwei Arten von institutionellen Transformationen dar, organisatorische und normative. Erstere beziehen sich auf Veränderungen in der Form und der Funktionsweise der Wirtschaftsakteure in Kuba sowie Änderungen in der staatlichen Struktur. Die normativen Transformationen umfassen die Veränderungen in der Gesetzgebung und in den administrativen Normen, die die Bedingungen und Regeln für die verschiedenen wirtschaftlichen Akteure in

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Der Prozeß der apertura hat in einem Teil des Exportsektors stattgefunden, der ungefähr 50% der Deviseneinnahmen des Landes ausmacht. Bis Dezember 1993 ist die Zuckerindustrie im wesentlichen nicht in diesen Öffnungsprozeß eingeschlossen worden, obgleich die Weiterverarbeitung und die Industrie im Bereich der Zuckerderivate für ausländisches Kapital geöffnet wurden.

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dem Kontext der partiellen Reform der kubanischen Ökonomie bestimmen. Organisatorische Transformationen Die wichtigsten organisatorischen Transformationen, die als Teil der apertura in Kuba stattgefunden haben, sind die folgenden: 1) Die Dezentralisierung der Geschäftsabwicklung im Außenhandel infolge der Aufhebung des staatlichen Außenhandelsmonopols. Gegen Mitte des Jahres 1993 war die Zahl der kubanischen Wirtschaftsakteure verschiedenster Form, die mit externen Handelsoperationen beschäftigt waren, auf 287 gestiegen (im Gegensatz zu nur 70 Anfang der 80er Jahre). Hervorzuheben ist auch die geringere Größe dieser Betriebe, was unternehmerische Strukturen möglich macht, die spezialisierter und dynamischer sind. 2) Der Aufbau einer Infrastruktur für Handel und Finanzgewerbe durch die Schaffung von Einrichtungen, die entsprechende Dienstleistungen anbieten: Information, Finanzierung, kommerzielle Bankdienstleistungen, juristische, technische und ökonomische Beratung, Marketing sowie Lagerung von Waren in Konsignation oder in Zolldepots (z. B. die Firma "Havana in Bond S.A.", Embryo der ersten Freihandelszone in Kuba). 3) Neue Formen der Geschäftsverhandlungen als Folge einer neuen Herangehensweise an Verhandlungen in Kuba. Bis November 1993 waren so 112 Gemeinschaftsunternehmen (empresas mixtas) und andere Formen wirtschaftlicher Verbindungen mit ausländischen Firmen vereinbart worden. Von diesen waren 83 nicht im Tourismussektor. Die größte Zahl ausländischer Investoren kam aus Spanien, gefolgt von Unternehmen aus Frankreich, Italien, Kanada und Mexiko. (Ein anderes, neues Element ist das wachsende Interesse kubanischer Einrichtungen, die Aufnahme wirtschaftlicher Kooperationsprojekte auch in anderen Ländern zu überlegen.) In dem Bereich des Handels finden die verschiedenartigsten Modalitäten Anwendung. So werden beispielsweise im Biopharmazie-Sektor Forschungs- und Entwicklungsverträge angeboten, in denen die kubanische Seite das wissenschaftliche Personal und die Nutzung der vorhandenen Einrichtungen einbringt. Auf der Ebene der Finanzen hat die kubanische Regierung ihre Bereitschaft erklärt, flexible Neuverhandlungen der kubanischen Auslandsschulden in Betracht zu ziehen, bei denen Mechanismen wie Bezahlung in Form von Warenlieferungen, die Zahlung aus den Dividenden der Gemeinschaftsunternehmen, an denen Gläubiger 208

teilhaben, und andere, komplexere Formen, wie die Kapitalisierung der Schulden (debt swaps), Anwendung finden. 4) Selbstfinanzierung in Devisen. Bis Mitte 1993 wurden 35 Modelle der Devisenselbstfinanzierung eingeführt. In der Zucker- und Nickelindustrie, im Fischfang und bei der Ölförderung sind damit ermutigende Ergebnisse erzielt worden. 5) Die Schaffung neuer Wirtschaftsakteure. Die wirtschaftliche Öffnung hat dazu geführt, daß eine Reihe organisatorischer Formen von wirtschaftlichen Institutionen entstanden sind bzw. sich ausgebreitet haben. In den letzten zehn Jahren haben sich so die Handelsgesellschaften {Sociedades Mercantiles) konsolidiert und ausgedehnt, die vor allem in Form von Aktiengesellschaften (Sociedades Anónimas, S.A.) organisiert sind9. Diese Firmen, die auch als kubanische Privatgesellschaften bezeichnet werden, existieren in zwei Arten: als eigenständige kubanische Firma oder als Gemeinschaftsunternehmen zwischen einem kubanischen und einem ausländischen Betrieb. Die Handelsgesellschaften mit kubanischem Kapital weisen substantielle Unterschiede zu den Staatsbetrieben auf, was Autonomie, Funktionsweise und die in ihnen herrschenden Arbeitsverhältnisse angeht. Mitte 1993 wies das neu herausgegebene Register der kubanischen Handelskammer 101 solcher kubanischer Privatfirmen des einen oder anderen Typs auf. Darüber hinaus ist eine steigende Zahl ausländischer Unternehmen in Kuba mehr und mehr als aktive Wirtschaftsakteure präsent. Dies ist sowohl eine Folge der vereinbarten Gemeinschaftsunternehmen und anderer Arten des wirtschaftlichen Zusammenschlusses zwischen kubanischen und ausländischen Firmen als auch ein Ergebnis der Tatsache, daß in Kuba 496 ausländische Unternehmen aus 40 Ländern mit Niederlassungen vertreten sind, davon 325 Direktvertretungen von Handelsfirmen. Alles in allem sind im Augenblick etwa 600 ausländische Wirtschaftsakteure in der kubanischen Ökonomie präsent. 6) Die "Management-Revolution", die in der zweiten Hälfte der 80er Jahre begonnen wurde und die seit 1991 größere Ausmaße und eine andere Qualität erreicht hat. Für die von der apertura erfaßten Betriebe hat die Anwendung dieser Arbeitsmethoden mehr oder weniger einen Systemsprung bedeutet. Diese neue Qualität ist vor allem auch die Folge eines allgemeineren wirtschaftlichen Prozesses, in dem sich die neuen Methoden der Betriebsführung mit einer größeren generellen betriebswirtschaftlichen Flexibilität und dem Herrschen von Geldbeziehungen zwischen den einzelnen Betrieben verbinden.

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Das in Kuba geltende Handelsrecht nennt vier Arten möglicher Handelsgesellschaften: die normale kollektive, die mit begrenzter Haftung, die Kommandit- und die Aktiengesellschaft. Dennoch operieren in diesem Bereich in Kuba heute lediglich Aktiengesellschaften mit Nominalaktien (vgl. Pico/ Mendoza 1993).

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7) Wachsende Bedeutung von Marketing und Konkurrenz in der kubanischen Ökonomie. Zumeist mit der Beratung spanischer, kanadischer und mexikanischer Experten wurden in Kuba seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre verstärkt Kurse und Seminare über Marketing und seine modernsten Anwendungsformen im internationalen Handel durchgeführt. Ein zweiter Faktor von Bedeutung waren die diversen kubanischen und Joint-venture-Betriebe im Tourismussektor, die in gewissem Maße zu einer Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Wirtschaftsakteuren geführt haben - etwas, das es in Kuba drei Jahrzehnte lang praktisch nicht gab. 8) Neue Funktionen und ein neuer Arbeitsstil in den staatlichen Institutionen Kubas. Bis Dezember 1993 hat noch keine grundsätzliche Neuorganisation der Institutionen des zentralen Apparats der kubanischen Regierung stattgefunden. In der Praxis allerdings ist eine Veränderung in Funktion und Arbeitsstil der verschiedenen Institutionen eingeschlagen worden, um diese auf die wachsende Rolle eines bis Ende der 80er Jahre in Kuba nicht existierenden Wirtschaftsakteurs - die ausländischen Investitionen - einzustellen. Unter den neuen Bedingungen ist dieser Sektor zu einem der dynamischsten Faktoren in der kubanischen Ökonomie geworden. Beispiele für die erfolgten Transformationen sind die neuen Funktionen, die das Staatskomitee für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (CECE) in dem Bereich der ausländischen Investitionen übernommen hat, die Bildung einer sogenannten "Zentralen Verhandlungsgruppe" innerhalb des CECE und die Schaffung einer neuen Instanz innerhalb der Organisationsstruktur der meisten einschlägigen Ministerien, deren sogenannte "Verhandlungsgruppen". 9) Die Reform der Großhandelspreise, die im Juli 1992 begonnen wurde. Als neues Prinzip etablierte sie die Einführung der realen externen Preise, zu denen das Land Waren importiert und exportiert, so daß die internen Großhandelspreise sich nach diesen jeweils aktualisierten externen Preisen richten. Gleichwohl löst die gegenwärtige Preisreform ein zentrales Problem noch nicht: die Bestimmung eines ökonomisch fundierten Wechselkurses. 10) Die wachsende Rolle von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) in der kubanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Im Laufe des Jahres 1993 zeigte sich, daß es möglich war, diverse gemeinsame Projekte von kubanischen NGOs und NGOs aus anderen Ländern durchzuführen. Diese Projekte zeichnen sich als ein Weg ab, um kleinere ausländische Kapitale für die Lösung von punktuellen Problemen sozioökonomischen Charakters zu kanalisieren. Zu Beginn erfolgt dies im Rahmen von humanitären, nicht gewinnorientierten Projekten, in der Zukunft ist aber auch eine Ausweitung auf kommerzielle Aktivitäten möglich.

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Es existieren auch andere, von den obigen sehr verschiedene kubanische NGOs, die eine wachsende Rolle im Land spielen. Ein Beispiel ist die Handelskammer der Republik Kuba, die über 200 Unternehmen, Handelsgesellschaften, Banken und andere mit dem Außenhandel verbundene Wirtschaftseinrichtungen vertritt. Die vielleicht wichtigste Lehre aus den genannten Veränderungen mag sein, daß die dargestellten organisatorischen Transformationen alleine nicht ausreichen, um eine allgemeine Wirtschaftsreform voranzutreiben. Sie könnten allerdings als "informelles" Modell für weitere organisatorische Veränderungen dienen. Im wesentlichen war der bis Dezember 1993 durchgeführte organisatorische Wandel mit externen Aspekten der kubanischen Wirtschaft verbunden. Dabei blieben sogar in diesem Bereich wichtige Probleme in bezug auf die Verbindung der externen Märkte mit der Binnenökonomie ungelöst. Im September 1993 allerdings wurde eine organisatorische Veränderung in der Landwirtschaft durchgeführt (s. u.). Dieser Schritt kann als erste bedeutsame organisatorische Transformation für einen zukünftigen wirtschaftlichen Reformprozeß in Kuba gesehen werden. In dem Maße, in dem dieser Wandel mit der Erzeugung von Exportprodukten (Zucker u.a.) verknüpft ist, stellt er teilweise eine Transformation im Zusammenhang der wirtschaftlichen Außenöffnung dar. Der wirkliche Inhalt der Maßnahme verortet sie aber ohne Zweifel im Bereich der Binnenwirtschaftspolitik.

Normative Transformationen Die wichtigsten normativen Transformationen in Kuba waren bis Mitte 1993 die folgenden: - die Verfassungsreform vom Juli 1992, - das Gesetzesdekret Nr. 50 vom Februar 1982 (das die zentrale Gesetzgebung in Bezug auf ausländische Investitionen in Kuba ist), - die Reaktivierung des Handelsgesetzbuches (das den juristischen Rahmen für die Arbeit der Handelsgesellschaften bildet), - die Resolution Nr. 151/92 des Banco Nacional de Cuba, - das Gesetzesdekret Nr. 124 des kubanischen Staatsrats vom 15. Oktober 1990, das die Zollsätze der Republik Kuba festlegt, - das Dekret Nr. 145/88 zur "Regelung des Nationalregisters über ausländische Vertretungen" und die Resolutionen Nr. 211/89 und Nr. 102/92 des Ministeriums für Außenhandel zum gleichen Thema, - die Resolution Nr. 61 des Ministeriums für Außenhandel vom 3. April 1990 und die Resolution Nr. DEP 03-92 der Hauptzollverwaltung der Republik Kuba, die die Einrichtung von Lagern für Konsignations211

güter und Zolldepots beziehungsweise die Eröffnung des Zollagers von Berroa erlauben, - andere ergänzende Regelungen in den Bereichen Finanzwesen, Rechnungsführung, Preise, Steuern, Zölle, Handel, Schiedsgerichtsbarkeit, Versicherungen, Arbeitsbeziehungen und Sonderzonen (vgl. CONAS S.A. 1993). Mit Ausnahme des wichtigen Gesetzesdekrets Nr. 50 aus dem Jahre 1982, das die Bildung von Gemeinschaftsunternehmen und anderen Formen des Zusammenschlusses mit Auslandskapital erlaubte, wurden die bedeutsamsten normativen Transformationen im Zusammenhang mit der apertura seit 1990 durchgeführt 10 . Das Gesetzesdekret Nr. 50 ist ein Schlüsselinstrument für die gegenwärtige wirtschaftliche Öffnung gewesen. In der Praxis hat es sich als ein adäquater und flexibler gesetzlicher Rahmen für die Bildung von Mischunternehmen zwischen kubanischen und ausländischen Firmen erwiesen. Die Stabilität ist einer der wichtigsten Züge des juristischen Apparats gewesen, der in Kuba zur Förderung ausländischer Investitionen geschaffen wurde. Dies hat den ausländischen Partnern Sicherheit und Vertrauen gegeben. Neben dem Gesetzesdekret Nr. 50 war vor 1990 auch schon mit dem Dekret Nr. 145/88 über die "Regelung des Nationalregisters für ausländische Handelsniederlassungen" und der Resolution Nr. 211/89 des Ministeriums für Außenhandel (MINCEX) der Prozeß der Zulassung und Einschreibung ausländischer Handelsvertretungen verbindlich festgelegt worden. Später wurde die Rolle der diesen Vertretungen gewährten Lizenzen noch erweitert (MINCEX-Resolution Nr. 102/92)11. Dennoch hat seit 1990 eine Verstärkung der gesetzgeberischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der apertura stattgefunden. Dieser Prozeß hat die Verabschiedung neuer Gesetze sowie ergänzender Regelungen umfaßt, vor allem aber auch eine Rechtspraxis, die eine weite und flexible Interpretation der geltenden Gesetze favorisierte. Seit 1990 sind diverse Regelungen für Konsignationsware und die Einrichtung von Zolldepots bekanntgegeben sowie die diese betreffende Steuerpolitik durch Resolutionen des Staatskomitees für Finanzen festge-

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Neben dem Gesetzesdekret Nr. 50 von 1982 wurden auch einige weitere der genannten neuen Gesetze und Gesetzesänderungen Anfang der 80er Jahre angenommen, insbesondere im Bereich der sogenannten ergänzenden Regelungen. Die Gültigkeit des Handelsgesetzbuches datiert in Kuba sogar aus dem vergangenen Jahrhundert.

"

Das Register vergibt an die Niederlassungen Lizenzen von fünf Jahren, die um jeweils diesen Zeitraum verlängerbar sind, wenn die Bedingungen und Gründe fortbestehen, die die Gewährung der Lizenz rechtfertigten. Im Rahmen ihrer Lizenz kann die ausländische Handelsvertretung eine Reihe klar definierter Aktivitäten durchführen. Die Lizenz berechtigt jedoch weder zum freien Warenverkauf noch zu direkten Import- oder Exportoperationen im Namen der Vertretung.

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legt worden. Auch die Verkündung der Zolltarife der Republik Kuba durch das Gesetzesdekret Nr. 124 des Staatsrats am 15.10.1990 stellte einen bedeutsamen Schritt in den normativen Veränderungen dar. Gleichwohl fanden die normativen Änderungen von größerer Tragweite im Rahmen der Verfassungsreform statt, die im Juli 1992 durchgeführt wurde. Es war die erste Reform dieser Art, seit die neue kubanische Verfassung 1976 angenommen worden war. Im wesentlichen etablierten diese Veränderungen neue Konzepte in den Bereichen des Eigentums und seiner Übertragung, der Rolle des Staates in der Wirtschaftsplanung- und ausführung sowie des Außenhandelsregimes. Artikel 14 der erneuerten Verfassung begrenzt so die Ausweitung des sozialistischen Eigentums und eröffnet die gesetzliche Möglichkeit, verschiedene Wirtschaftsaktivitäten in privater Form auszuüben. Darüber hinaus wurde auch der "unumkehrbare" Charakter des sozialistischen Eigentums aus der Verfassung gestrichen. Artikel 15 erlaubt dem Ministerrat beziehungsweise seinem Exekutivkomitee die teilweise oder vollständige Übergabe von staatlichen Wirtschaftszielen an juristische Personen, die diese zum Zwecke der Entwicklung des Landes einsetzen. Die Neuformulierung des Artikels 15 erlaubt auch eine Ausweitung der bestehenden Regelungen für ausländische Investitionen, da jetzt die volle Übertragbarkeit von Eigentum abgesichert ist. Offen gelassen wird auch die Möglichkeit, andere bislang gesetzlich untersagte Rechte zu übertragen, insbesondere im Bereich von Abgaben und realen Garantien für eingegangene Verpflichtungen. Darüber hinaus gibt die neue Verfassung in ihrem Artikel 23 vollständige Garantien für ausländische Investitionen. Obwohl der neue Verfassungstext die Rolle der Planung für die Entwicklung des Landes unterstreicht, wird den Unternehmen für ihren Betrieb, die Verfügung über ihr Vermögen und die Verwaltung ihrer Güter eine größere Unabhängigkeit und Flexibilität zugestanden. In der Tat läßt sich sagen, daß die Verfassungsreform von 1992 die Grundlagen für den Beginn einer neuen Phase bei den institutionellen Transformationen normativer Art geschaffen hat, die im wirtschaftlichen Bereich durch eine immer stärkere Orientierung auf die Regulierung durch Handelsmechanismen geprägt ist12. Auch in der Finanzsphäre sind im Rahmen der apertura Veränderungen normativer Art vollzogen worden. So legt die 1992 verabschiedete Resolution Nr. 151 der kubanischen Nationalbank die Normen für den Zahlungsverkehr jener Körperschaften fest, denen Transaktionen in frei konvertierbarer Währung erlaubt sind. Faktisch wird durch diese ResoluDieser Begriff der "Regulierung durch Handelsmechanismen" (regulación mercantil) wird in einem weiten Sinne gebraucht, der alle Arten von Märkten unabhängig von ihren Besitzverhältnissen umfaßt.

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tion das Segment kubanischer Wirtschaftsakteure definiert, die mit Devisen arbeiten dürfen. Wie bereits erwähnt, war 1992 ein entscheidendes Jahr in bezug auf die institutionellen Transformationen normativer Art, da mit der Verfassungsreform bei diesen eine neue Phase eingeläutet wurde. Dennoch muß der relativ begrenzte Charakter dieser Transformationen klar bleiben: Sie haben in einem allgemeinen gesetzlichen Rahmen stattgefunden, dessen generelle Ausrichtung nicht die Entwicklung des Marktes begünstigt, insbesondere im Bereich der Binnenwirtschaft. Dennoch ist es bedeutsam, daß (im Gegensatz zu vorangehenden Gesetzesbestimmungen im Zuge der apertura) die beiden wichtigsten normativen Veränderungen des Jahres 1992 - die Verfassungsreform und die Resolution Nr. 151/92 der kubanischen Nationalbank - nicht nur die außenwirtschaftliche Öffnung begünstigen, sondern daß sie darüber hinaus manifeste und potentielle Auswirkungen auf den internen Markt haben. Im Laufe des Jahres 1993 fanden andere gesetzliche Transformationen statt, die noch deutlicher zeigten, daß die bislang auf die außenwirtschaftliche apertura beschränkten Veränderungen auch auf die Binnenwirtschaft ausgeweitet werden. So begann 1993 die in den neuen Gesetzen und legalen Bestimmungen verankerte Ausrichtung auf Handelsmechanismen den Bereich des externen Marktes (Außenhandel, Tourismus und ausländische Investitionen) zu überschreiten; sie verlagerte sich klarer als zuvor auf die vorsichtige Ausweitung eines internen Marktes mit neuen Elementen. Im August 1993 verfügten das Gesetzesdekret Nr. 140 und die ergänzenden Regelungen der kubanischen Nationalbank die Straflosigkeit des Devisenbesitzes sowie die Normen für die Verwendung von Devisen durch kubanische Staatsbürger. Andere wichtige Maßnahmen waren das Gesetzesdekret Nr. 141 von September 1993 sowie die Gemeinsame Resolution Nr. 1 des Staatskomitees für Arbeit und Soziale Sicherheit und des Staatskomitees für Finanzen, die den gesetzlichen Rahmen und die allgemeinen Vorschriften für die Ausübung der Arbeit auf eigene Rechnung festlegten. Im wesentlichen wurde damit die Zahl der zugelassenen Tätigkeiten erweitert und genauere Regelungen für die Besteuerung erlassen. Die beiden Gesetzesdekrete Nr. 140 und Nr. 141 stellen "explizite institutionelle Instrumente" für die Legalisierung und Normsetzung von internen Märkten dar, die in beträchtlichem Maße bereits zuvor in illegalen Formen existierten. Es muß aber auch die Möglichkeit einer zukünftigen Ausweitung und Flexibilisierung der Aktivitäten in Betracht gezogen werden, die durch diese Gesetzgebung geregelt werden. Im Verlaufe des Jahres 1993 zeigte sich mit noch größerer Klarheit das, was als Beginn der Transition hin zu einer umfassenden Reform der 214

kubanischen Wirtschaft betrachtet werden könnte. Ein Schlüsselmoment in diesem Prozeß war der Beschluß des Politbüros der Kommunistischen Partei Kubas "über die Durchßhrung wichtiger Innovationen in der staatlichen Landwirtschaft". Im wesentlichen handelt es sich um eine Maßnahme, die beide - sowohl organisatorische wie normative - Formen institutioneller Transformation umfaßt. Durch die Entwicklung genossenschaftlicher (und in geringerem Maße auch privater) Produktionsformen begünstigt sie potentiell die Bildung von Märkten. Die Formen, die das neue Programm der Transformation im Agrarsektor zu Beginn angenommen hat, haben die Reichweite der marktorientierten Züge in ihm allerdings eingeschränkt. Nicht ausgeschlossen werden sollte aber dessen mögliche Ausweitung in der Zukunft in dem Maße, in dem die weitere Entwicklung des Programms selbst die Einführung neuer Formen der Handelszirkulation erfordert. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 1993 deuten die durchgeführten institutionellen Transformationen - insbesondere die normativer Art klar darauf hin, daß sich die apertura zu einer immer breiteren wirtschaftlichen Reform zu wandeln beginnt. Dieser Prozeß der Wirtschaftsreform ist noch in seinen Anfängen und partiell, aber er ist umfassender als die außenwirtschaftlich orientierte apertura, die ihm voranging.

Schlußbemerkungen Die wirtschaftliche Öffnung ist keine taktische oder konjunkturabhängige Reaktion auf die gegenwärtige Krise, sondern eine strategische und realistische Antwort, um sich dauerhaft in das neue politische und wirtschaftliche Gefüge der Welt einzupassen. Die apertura stellt einen zentralen Bestandteil in den kubanischen Plänen dar, ausgehend von einer Exportstrategie eine wirtschaftliche Erholung zu erreichen. Von daher teilt sie eine grundlegende Eigenschaft aller Exportstrategien: ihre Ausrichtung auf den Markt. Im Falle Kubas hat die apertura bedeutet, die Betriebsführung der von ihr erfaßten Unternehmen auf den Markt zu orientieren. Die Berechnung von Kosten und Preisen auf der Grundlage internationaler Konkurrenzbedingungen, der Zwang zur Rentabilität sowie die Schaffung dynamischer komparativer Vorteile stellen Marktfaktoren dar, die heute mehr als jemals zuvor in den vergangenen 35 Jahren in einer wachsenden Zahl von Firmen und Institutionen in der kubanischen Wirtschaft herrschen. (Dies trotz der Tatsache, daß in diesem Bereich noch Probleme gelöst werden müssen.) In Kuba hat dieser Prozeß nicht eine wesentliche Beschneidung der Rolle des Staates in der Wirtschaft des Landes bedeutet. Was stattgefun215

den hat, ist vielmehr eine Veränderung in den Rollen und relativen Gewichtungen zwischen Markt und staatlicher Wirtschaftsführung, wobei ersterer sich in einen sehr dynamischen Faktor verwandelt hat, während die Formen staatlicher Vermittlung sich diesen neuen Umständen angepaßt haben. In den von der apertura erfaßten Bereichen ist der Staat nach wie vor ein wichtiger wirtschaftlicher Akteur. Seine Tätigkeit entspricht jedoch mehr dem Modell eines "regulierenden Staates" als dem des traditionellen "Staat als Unternehmer". Die Flexibilität und Dynamik der von der apertura erfaßten Betriebe und Einrichtungen hat es erlaubt, eine "Industriepolitik" zu entwerfen und umzusetzen, die sich die Nachfrage des Exportsektors zunutze machen soll, um andere Sektoren der kubanischen Ökonomie zu reaktivieren. Dieser Prozeß steckt noch in der Anfangsphase, und viele Probleme bedürfen noch einer Lösung. Dennoch zeigt er deutlich den Versuch der kubanischen Regierung, keine konventionelle "Exportstrategie" anzuwenden, sondern vielmehr die Förderung der Exporte mit einer Politik zu verbinden, die auf die Wiederbelebung der nationalen Industrie abzielt. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Kopplungseffekte für die einheimische Produktion im Umfeld des Tourismus, obgleich dieser Prozeß noch Lernbedarf zeigt und auf organisatorische Probleme trifft, die die Effizienz der eingeschlagenen "Industriepolitik" mindern. Die Verbreiterung und Verbesserung dieser Politik würde eine potentielle Ausweitung der Reform auf andere Wirtschaftsbereiche bedeuten. Vermutlich ist dies eine der wichtigsten Reserven, über die die kubanische Regierung für die Reaktivierung der Wirtschaft des Landes verfügt, insbesondere weil dafür in erster Linie Veränderungen in Organisation und Funktionsweise der Binnenwirtschaft erforderlich wären. Die Notwendigkeit einer umfassenden Reform der kubanischen Wirtschaft, die die Existenz breiter und dynamischer Binnenmärkte beinhaltet, scheint sich auf die Notwendigkeiten zu stützen, die der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes selbst unter den neuen Umständen inhärent sind. Dies soll heißen: Die umfassende Wirtschaftsreform darf nicht als bloße Ausdehnung der außenwirtschaftlichen apertura verstanden werden; auch wenn sie miteinander verknüpft sind, so sind dies doch zwei zu unterscheidende Prozesse. Die Notwendigkeit einer Wirtschaftsreform hat Systemcharakter, der sowohl den internen wie den externen Bereich umfaßt. Der externe hat - in der Form der apertura - eine relativ wichtige Rolle bei der Möglichkeit gespielt, daß ein Prozeß von Veränderungen beginnt, der in eine umfassende Wirtschaftsreform münden könnte. Um einen der Klassiker der Politischen Ökonomie zu paraphrasieren: Die Notwendigkeit ist die Mutter der kubanischen Wirtschaftsreform; aber die apertura hat als ihr Vater gewirkt. 216

Die spezifische Form, in der sich in jüngster Zeit die Wirtschaftspolitik in Kuba entwickelt hat, scheint auf die Schlüsselrolle der wirtschaftlichen Öffnung für den Beginn und die weitere Entwicklung eines allmählichen Prozesses institutioneller Veränderungen hinzuweisen, der im Verlauf seines eigenen Voranschreitens über die ursprüngliche Betonung auf den externen Sektor hinausgegangen ist und in der Folge auch auf die Binnenökonomie weist. Ein Teil der Erklärung dafür liegt in der gewachsenen Einsicht in die Notwendigkeit, Möglichkeit und Zweckmäßigkeit, die apertura für die Stimulierung der Binnenökonomie zu nutzen. Noch wichtiger aber war möglicherweise die Rolle, die die apertura als "informelles Modell" für den Rest der Wirtschaftspolitik hatte, sowie der Umstand, daß die durchgeführten institutionellen Transformationen Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft hatten. Die Tatsache, daß am Ende des Jahres 1993 der Begriff der Wirtschaftsreform noch nicht vollständig in den offiziellen wirtschaftspolitischen Diskurs aufgenommen worden ist, bedeutet nicht, daß die mit einer Reform zu vereinbarenden politischen Maßnahmen nicht bereits jetzt ein zunehmend wichtigerer, wenn auch nicht der einzige Bestandteil der kubanischen Wirtschaftspolitik wären. Die NichtVerwendung des Begriffs "Reform" spiegelt die Komplexität eines Prozesses wider, der enorme politische und ideologische Implikationen hat. Dabei geht es nicht nur darum, daß die Wirtschaftsreform sich auf Politik und Ideologie auswirkt, sondern daß auch die Reform selbst bestimmter politischer und ideologischer Prämissen bedarf, die nur in einem bestimmten Zeitraum geschaffen werden können. Im Falle Kubas wird deutlich, daß die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes unter den neuen Bedingungen der Eingliederung in die Weltwirtschaft sich in den kritischen Faktor für die weitere Gangbarkeit des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems verwandelt haben, das seit Anfang der 60er Jahre besteht. In letzter Instanz handelt es sich um eine Herausforderung, die an die Grundlagen der seit über 30 Jahren gültigen politischen Ordnung geht. In diesem Sinne stellt die umfassende Wirtschaftsreform die Möglichkeit dar, die Erneuerung der wirtschaftlichen Fundamente des in Kuba existierenden politischen Projekts in Angriff zu nehmen, das in Kuba existiert. Diese Sicht der Wirtschaftsreform scheint jedoch nicht vorherrschend gewesen zu sein, als damit begonnen wurde, eine Antwort auf die Krise zu formulieren. Die ursprüngliche Reaktion scheint die Konzentration auf wirtschaftspolitische Schritte in zwei Richtungen gewesen zu sein: zum einen Anpassungs- und Sparmaßnahmen und zum anderen Strategien für bestimmte Wirtschaftssektoren. Die Zeit hat gezeigt, daß diese Entscheidung richtig, aber nicht ausreichend war. Vor allem unter dem Zwang externer Faktoren ist 1993 ein bestimmtes Niveau der An217

passung erreicht worden, das einherging mit wirtschaftlichen Überlebensmaßnahmen. Dennoch bestanden enorme Ungleichgewichte in der Volkswirtschaft fort, die neue und radikalere Anpassungsmaßnahmen erforderlich machten (vgl. Carranza in diesem Band). Auf der anderen Seite brachten die sektorialen Strategien keine einheitlichen Ergebnisse. Tatsächlich ist im Zeitraum von 1990 bis 1993 der einzige bedeutsame Versuch einer partiellen Reform im Exportsektor unternommen worden. Dies entsprach weitgehend dem Umstand, daß in einer offenen Ökonomie wie der kubanischen die Schwierigkeiten bei der Erzeugung eines wirtschaftlichen Mehrertrags in der Regel fast ausschließlich mit Devisenmangel identifiziert werden. Hierbei ist zu beachten, daß die Maßnahmen im Zuge der apertura anfangs praktisch von der Möglichkeit ausgingen, dem Exportsektor eine vom Rest der Wirtschaftspolitik "isolierte" Behandlung zu gewähren. Die Versuche, den Exportsektor durch eine "Industriepolitik" mit anderen Wirtschaftsbereichen zu verknüpfen, erfolgten erst später und blieben bis Mitte 1993 relativ begrenzt. Nichtsdestotrotz wurde 1993 offensichtlich, daß die Wirtschaftspolitik von ihrer Stabilisierungsphase zu einer neuen Phase tiefergehender Strukturveränderungen übergehen mußte. In dem Maße, in dem diese Sichtweise stärker wurde, haben auch die Entwürfe auf der institutionellen Ebene im Rahmen der Wirtschaftspolitik größeres Gewicht gewonnen. Wie bereits erwähnt, tendiert in diesem Sinne der Prozeß der apertura die wichtigste Erfahrung institutioneller Transformation in Kuba in jüngerer Zeit - dazu, die Idee einer umfassenden Wirtschaftsreform zu unterstützen. Die Erfahrung mit der apertura selbst hat dazu beigetragen, günstigere, wenn auch alleine noch unzureichende politische Voraussetzungen für eine umfassende Wirtschaftsreform zu schaffen. Diese Voraussetzungen sind von zweierlei Art: zum einen das notwendige Vertrauen der politischen Entscheidungsträger in ihre Fähigkeit, einen Prozeß institutioneller Reformen durchführen und unter Kontrolle halten zu können; und zum anderen die Idee, daß die Konzentration der politischen Macht einhergehen kann mit marktorientierten Wirtschaftsreformen. Die Entwicklung in Teilen des kubanischen Exportsektors zwischen 1990 und 1993 hat gezeigt, daß die Wirtschaftsreform (in diesem Fall eine partielle Reform) sich nicht auf die ökonomische Verwaltung beschränkt hat, sondern vielmehr ein Prozeß des Aufbaus von Institutionen war, den der kubanische Staat gefördert und adäquat kontrolliert hat. Diese Sichtweise ist von Bedeutung. Denn obwohl die Reform des Staates im allgemeinen als ein Prozeß verstanden wird, der die öffentliche Verwaltung effizienter machen soll, so ist in Wirklichkeit seine wichtigste Folge die Stärkung des Staates. Auf der anderen Seite hat die Erfahrung mit der apertura gezeigt, daß 218

die Durchsetzung komplexer institutioneller Transformationen in kurzer Zeit durch die Machtkonzentration in den Händen der Exekutive erleichtert wird. Diese Konzentration trägt gewaltig dazu bei, daß eine Reihe von grundlegenden Veränderungen möglich sind, die den Aufgaben einer Staatsbildung gleichkommen und einer außergewöhnlichen Dosis an Macht bedürfen. In diesem Sinne war die kubanische apertura ein Fall, in dem die Konzentration politischer Macht vereinbar war mit der Durchsetzung marktorientierter wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Die wichtigste analytische Lehre aus dieser Erfahrung ist vielleicht die, daß der kubanische Staat sich in einer relativ günstigen Position befindet, um eine umfassende Wirtschaftsreform in Angriff zu nehmen, die ihrem institutionellen Entwurf nach die Fundamente der politischen Koalition erhalten kann, die in Kuba seit Beginn der 60er Jahre an der Macht ist. Hierbei ist hervorzuheben, daß sich diese relativ günstige Position in großem Maße auf einen in Kuba vorhandenen Rahmen politischer Legitimität stützt, wie er in anderen Versuchen der Reform von zentralen Planwirtschaften nicht gegeben oder stark ausgehöhlt war. Unter den Bedingungen Kubas impliziert eine umfassende Wirtschaftsreform einen Prozeß von Entwurf und Umsetzung eines neuen, eigenständigen Wirtschaftsmodells. Dieses muß unter anderem auf folgende Punkte Antwort geben13: - Garantie der sozialen und politischen Errungenschaften der vergangenen drei Jahrzehnte, die heute ein Vermächtnis der kubanischen Nation darstellen: kostenlose Bildung und Gesundheitswesen auf hohem Niveau, soziale Gerechtigkeit14 sowie die Bewahrung der nationalen Unabhängigkeit und staatlichen Souveränität.

Die folgenden Punkte sind genereller Natur und stellen in keiner Weise einen Reformentwurf dar. Der vorliegende Artikel wollte es vielmehr vermeiden, "Rezepte" zu erteilen. Daher stellen die angeführten Punkte im wesentlichen eine Auflistung von Prinzipien dar, die in expliziter Form Teil der jüngsten Wirtschaftspolitik des Landes waren oder die, ohne explizit genannt zu sein, von den Autoren - und sei es auch in ihren Anfängen - als Teil dieser Politik gesehen werden. Einige der in den letzten Jahren durchgeführten Wirtschaftsmaßnahmen haben zu einer gewissen Aushöhlung des Begriffs der sozialen Gerechtigkeit und anderer damit verbundener ideologischer Konzepte geführt, die sich seit 1959 in Kuba durchgesetzt hatten. In der Tat hat die Anwendung eines Wirtschaftsprogramms mit einer stärkeren Ausrichtung auf den Markt - ein unvermeidlicher Prozeß unter den gegenwärtigen Umständen - eine Zuspitzung dieses Phänomens zur Folge gehabt. Nach Ansicht der Autoren versteht die politische Führung Kubas diese Situation sehr genau, und sie bereitet sich darauf vor, ihr entgegenzutreten. Im Unterschied zu den Reformprozessen, die in der Sowjetunion und den Ländern Osteuropas in den 80er Jahren versucht wurden, gibt es in Kuba nicht die naive Vorstellung, daß Marktreformen alleine schon zu allgemeinem Wohlstand führen würden. Soziale Gerechtigkeit läßt sich nicht spontan oder "zufällig" erreichen, sondern sie bedarf eines konkreten politischen Projekts, das von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen und verteidigt wird. Gleichzeitig kann aber auch soziale Gerechtigkeit nicht dauerhaft garantiert werden, wenn die wirtschaftlichen Krisenbedingungen lange anhalten. Die Überwindung der Krise aber erfordert Aktionen, die das Entstehen sozialer Unterschiede mit sich bringen. Dies ist tatsächlich ein Dilemma; aber es sollte verstanden werden, daß es in der gegenwärtigen Situation keine optimalen Lösungen für dieses Dilemma gibt.

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- Die Herausbildung einer neuen ökonomischen Kultur unter den Direktoren, Angestellten und Arbeitern, die die Kriterien von Rentabilität und Effizienz ins Zentrum der wirtschaftlichen Analysen rückt. - Die strikte Verknüpfung von Gehältern und anderen Einkommensformen mit den realen Ergebnissen der Wirtschaftstätigkeit. - Die zunehmende Anwendung von Marktmechanismen auf der betrieblichen und unternehmerischen Ebene. In diesen Kontext gehört auch eine wirklich aktive Rolle der Kategorien von Finanzierung und Kredit in der Ausarbeitung der Produktionsprogramme sowie bei der Stimulierung für bestimmte wirtschaftliche Ziele, etwa der rationalen Verwendung von Material und Energieressourcen, der Exportförderung etc. - Die Einführung neuer Konzepte, die die praktische Verwirklichung der Doppelrolle von Produzent-und-Eigentümer erlauben; dies insbesondere in jenen Wirtschaftszweigen, in denen dem Menschen die entscheidende Rolle zukommt, beispielsweise in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich. - Die Entwicklung eines Prozesses der "Re-Regulierung", der die qualitative Neudefinition der regulierenden Rolle des Staates ermöglicht. Dies würde zum einen über die Ausarbeitung eines indikativen Plans erfolgen, der so konzipiert ist, daß er die grundlegenden Interessen der Nation in einem bestimmten Zeitraum garantiert; und zum anderen über die Perfektionierung des unabkömmlichen normativen (gesetzlichen) Mindestrahmens, durch den Rolle, Funktion und Kontrolle über die verschiedenen Wirtschaftsakteure zu regeln sind. - Die Befriedigung der quantitativen und qualitativen Nachfrage der externen und internen Märkte ist ins Zentrum der Wirtschaftsführung der Betriebe zu rücken. Dies sollte die gegenwärtige Situation umkehren, in der der interne Kunde auf eine Nebenrolle verdrängt wird und konsumieren muß, "was produziert wird". Dies würde die Ausdehnung von Marketing-Techniken auf des gesamte System der Unternehmen und Betriebe erfordern. - Die Idee ist zurückzuweisen, daß der Markt eine zutiefst unkontrollierbare Größe ist. Eine solche Annahme entspricht nicht der praktischen Erfahrung aus Jahrhunderten sondern ist vielmehr ein Mythos, der im Rahmen einer umfassenden Wirtschaftsreform zu verwerfen ist15.

Die Begriffe "Markt" und "Marktwirtschaft" sind nicht identisch. "Markt" ist ein Begriff der Politischen Ökonomie, während "Marktwirtschaft" in den Bereich der Ideologie gehört. Die Ideologen bezeichnen als "Marktwirtschaft", was die Politische Ökonomie marxistischer Prägung begrifflich als "kapitalistische Produktionsweise" faßt. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, daß der Markt in seiner Rolle als Instanz sozialer Regulierung historisch immer in einem Kontext von "expliziten institutionellen Instrumenten" funktioniert hat. Das unzureichende Verständnis dieser Begriffe und Verhältnisse erklärt in gutem Maße den negativen politischen Beigeschmack, den der Begriff "Markt"

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- Die Einführung grundlegender Veränderungen in Steuer- und Geldpolitik, um das Haushaltsdefizit und den Währungsüberhang zu senken, zwei der Grundvoraussetzungen für die Sanierung der Staatsfinanzen. In der Bevölkerung ist das Entstehen einer "Kultur des Beitragszahlers" zu fördern, indem eine neue Steuerpolitik und neue Formen von Versicherungssystemen eingeführt werden. - Auf der Ebene der Betriebe und Unternehmen ist eine größere Autonomie bei der Ausarbeitung und Durchführung betrieblich-unternehmerischer Pläne zu gewährleisten; die bürokratischen Elemente, die die unternehmerische Initiative behindern, sind auf ein Minimum zu beschränken. - Schaffung einer soliden und breitgefächerten Dienstleistungsinfrastruktur für die Unternehmen (juristische und ökonomische Beratung, Finanzunternehmen, Informationsnetze etc.). - Volle Selbstfinanzierung (in Devisen und in Pesos) als Grundkriterium für die Existenz von wirtschaftlichen Tätigkeiten sowie die Reduzierung auf ein Minimum derjenigen Aktivitäten, die aus dem Staatshaushalt subventioniert werden. - Wo immer dies ratsam ist, ist Konkurrenz zu fördern, um die Qualität von Produkten und Dienstleistungen sowie die wirtschaftlichen Erträge zu erhöhen. - Die Perfektionierung der Preispolitik, so daß die interne Preisbildung auf der Grundlage aktualisierter externer Preise und auf ökonomisch fundierten Grundlagen erfolgt; weitestmögliche Dezentralisierung der Preisbildung, so daß diese die realen Produktionskosten widerspiegeln und sich die für die Verluste der Betriebe aufzuwendenden Subventionen auf ein Minimum senken lassen. #

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Es gibt zwei entscheidende Fragen in bezug auf das Voranschreiten eines wirtschaftlichen Reformprozesses in Kuba: zum einen die genaue konzeptionelle Bestimmung des Charakters und des Ausmaßes der notwendigen Veränderungen in der kubanischen Ökonomie und zum anderen die Definition einer politischen Strategie, die einen adäquaten subjektiven Kontext für die Transition zu einer neuen Wirtschaftsstruktur schafft. Was die erste Frage angeht, so ist es, wie bereits dargestellt, nicht entscheidend, daß von Anfang an ein fertig ausgearbeitetes Schema vorhanden ist. Entscheidend ist vielmehr, daß die relative Radikalität der notwendigen Veränderungen akzeptiert wird und daß von dieser Prämisse

in Kuba noch immer hat, auch wenn sich die jüngste wirtschaftspolitische Praxis durch ihre Orientierung auf Handelsmechanismen auszeichnet.

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ausgehend die konzeptionellen Erfordernisse bestimmt werden, die es erlauben, ein Projekt einer umfassenden Wirtschaftsreform zu entwerfen. Auf der anderen Seite ist die Definition einer politischen Strategie absolut notwendig für die Entwicklung der Wirtschaftsreform, da diese einen komplexen sozialen Prozeß mit weitreichenden politischen, sozialen und ideologischen Implikationen darstellt. Dabei ist diese Strategie nicht nur wichtig, um dem Reformprozeß selbst größere Kohärenz zu verleihen, sondern er ist auch unabdingbar, um adäquat auf die unvermeidlichen politischen Konsequenzen reagieren zu können, die sich aus der Transformation der Wirtschaft ergeben werden. Die Erfahrung hat gezeigt, daß der Erfolg der Wirtschaftsreformen nicht so sehr von deren technischer Ausarbeitung abhängt als vielmehr von der Evolution des allgemeinen - insbesondere des politischen Kontextes, in dem sie sich vollziehen. Ein Schlüsselfaktor für die Bewahrung eines adäquaten politischen Rahmens ist die Art der durchgeführten institutionellen Transformationen. Diese bestimmen in hohem Maße die Qualität des für den Erhalt der sozialen Grundlagen der politischen Macht notwendigen Umbaus des Staates. Und dies hängt wiederum in hohem Maße davon ab, daß eine politische Strategie für die Reform existiert. Die Öffnung der kubanischen Wirtschaft hat auf partieller Ebene gezeigt, daß die Transition von einer Wirtschaftsstruktur zu einer anderen bei gleichzeitigem Erhalt der sozialen Grundlagen der politischen Macht möglich ist. Aus der Erfahrung der apertura gibt es keine nennenswerten Anzeichen dafür, daß dies nicht auch bei einer umfassenderen Wirtschaftsreform möglich wäre. U m es zusammenzufassen: Gegen Mitte des Jahres 1993 schien es so, daß Kuba die schrittweise Transition zu einer neuen Wirtschaftsstruktur angefangen hat, in deren Ausprägung marktorientierte wirtschaftspolitische Maßnahmen eine wachsende Rolle zu spielen begannen. Die tiefe wirtschaftliche Krise schien die Vorstellung in Frage zu stellen, daß sie allein mit einer Reihe spezifischer Maßnahmen überwunden werden könnte. Als Antwort hierauf scheint das, was als selektive Öffnung der kubanischen Ökonomie begonnen hatte, dabei zu sein, sich in eine umfassende Wirtschaftsreform zu verwandeln.

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Literatur CARRANZA VALDEZ, Julio, 1992: Cuba. Los retos de la economia; in: Cuadernos de Nuestra América No. 19, Juli-Dez 1992 (CEA), La Habana; im vorliegenden Band auf deutsch unter dem Titel: Die Krise - eine Bestandsaufnahme CONAS S.A., 1993: Abstract of the Legislation on Investments in Cuba, La Habana EDWARDS, Sebastian, 1992: The Sequencing of Structural Adjustment and Stabilization; Occasional Papers No. 34, International Center for Economic Growth, San Francisco MALONEY, William, 1993: Lessons from Chile; Vortrag gehalten bei "The Southern California Workshop on Political and Economic Liberalization", University of Southern California, Los Angeles, 18.2.1993 PICO, Nieves / MENDOZA, Amelia, 1993: Caracterización de las formas legales y organizativas que operan en la economía emergente; Instituto Nacional de Investigaciones Económicas (INIE), La Habana, Mai 1993 SCHAMIS, Héctor, 1993: On the Relationship between Political and Economic Reform: Lessons from the Chilean Experience; Vortrag gehalten bei "The Southern California Workshop on Political and Economic Liberalization", University of Southern California, Los Angeles, 18.2.1993

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Hay mucha gente huyendo Hay mucha gente huyendo del pasado reciente. Unos porque gastaron su ilusión en quimeras, otros porque quisieran perpetuar sus placeres. Derribados los puentes del pasado sublime, el camino está libre para huir al presente. Más el presente es duro, y no es cosa de suerte, el presente es la furia, la herida es el presente, de razones maduras y realidades verdes. ¿Cómo escapar del tiempo que vino a nuestras sienes? ¿Acaso puede el susto, acaso el miedo puede? Adonde escaparán los que ya nada pierden, si el presente es la ruina de lo poco que tienen? Si con cerrar los ojos se juntaran las nueces, si gritando un insulto se llenaran los trenes, si cruzando los brazos multiplicaran pecesPero el presente es duro y no es cosa de suerte, el presente es la furia, la herida es el presente, de razones maduras y realidades verdes. El presente pregona con su idioma silvestre que nuestros reyes magos se acercan sin paquete; que de ahora en adelante - ¡y qué el Señor nos vele! • tendremos que pagar por enseñar los dientes. Pedro Luis Ferrer, 1993

Es gibt viele Leute, die fliehen Es gibt viele Leute, die fliehen vor der jüngsten Vergangenheit. Die einen, weil sie ihre Träume in Luftschlössern verbraucht haben; die anderen, weil sie ihre Freuden auf ewig verlängert sehen wollen. Zerschlagen die Brücken zur Vergangenheit voll Hoffnung, ist der Weg frei gemacht, um zur Gegenwart zu fliehen. Doch die Gegenwart ist hart und keine Sache von Glück oder Pech. Die Gegenwart ist die Furie. Die Wunde, das ist die Gegenwart voll reifer Gründe und noch grüner Wirklichkeiten. Wie der Zeit entkommen, die unsere Schläfen grau werden ließ? Schafft es vielleicht der Schrecken, kann es die Angst vielleicht schaffen? Wohin werden die fliehen die schon nichts mehr verlieren wenn die Gegenwart der Ruin ist des wenigen, das sie haben? Wenn durch das Schließen der Augen sich die Nüsse allein sammeln würden; wenn mit dem lauten Schrei eines Fluchs sich die leeren Waggons füllen ließen; wenn mit den Händen im Schoß sich die Fische vervielfachen würden... Doch die Gegenwart ist hart und keine Sache von Glück oder Pech. Die Gegenwart ist die Furie. Die Wunde, das ist die Gegenwart voll reifer Gründe und noch grüner Wirklichkeiten. Die Gegenwart schreit im Wildwuchs ihrer Sprache daß unser Heiliger Nikolaus ganz ohne Pakete daherkommt; daß von nun an und in Zukunft - und der Herrgott möge uns behüten! wir noch zahlen werden müssen, wenn wir nur unsere Zähne zeigen. (Übersetzung: Bert Hoffmann)

Institut für Iberoamerika-Kunde, Schriftenreihe Bd. 37:

Bd. 38: Bd. 39:

Bd. 40:

Bd. 41:

Bd. 42: Bd. 43:

Petra Bendel (Hrsg.), Zentralamerika: Frieden - Demokratie Entwicklung? Politische und wirtschaftliche Perspektiven in den 90er Jahren, 1993 Bert Hoffmann (Hrsg.), Wirtschaftsreformen in Kuba. Konturen einer Debatte, 2., aktualisierte Aufl. 1996 Barbara Töpper und Urs Müller-Plantenberg (Hrsg.), Transformation im südlichen Lateinamerika. Chancen und Risiken einer aktiven Weltmarktintegration in Argentinien, Chile und Uruguay, 1994 Dirk Kloss, Umweltschutz und Schuldentausch. Neue Wege der Umweltschutzfinanzierung am Beispiel lateinamerikanischer Tropenwälder, 1994 Robert Lessmann, Drogenökonomie und internationale Politik. Die Auswirkungen der Antidrogen-Politik der USA auf Brasilien und Kolumbien, 1996 Detlef Nolte und Nikolaus Werz (Hrsg.), Argentinien: Politik, Wirtschaft, Kultur und Außenbeziehungen, 1996 Gilberto Calcagnotto und Barbara Fritz (Hrsg.), Inflation und Stabilisierung in Brasilien. Probleme einer Gesellschaft im Wandel, 1996

Bd. 44:

Utta von Gleich (Hrsg.), Indigene Völker in Lateinamerika. Konfliktfaktor oder Entwicklungspotential?, 1996

Bd. 45:

Detlef Nolte (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, 1996

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