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German Pages 457 [462] Year 2023
Niklas Simon Aufklären und Fordern in der Pestizid-Debatte
Sprache und Wissen
Herausgegeben von Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning, Ingo H. Warnke und Martin Wengeler
Band 55
Niklas Simon
Aufklären und Fordern in der Pestizid-Debatte Zu einer Textwelt-Rhetorik der Wissenskonstitution
Zugl.: Dissertation (unter dem Namen „Text:Welt:Rhetorik. Zur Wissenskonstitution in der Neonicotinoid-Debatte“), Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, 2022
ISBN 978-3-11-107731-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-107736-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-107744-4 ISSN 1864-2284 Library of Congress Control Number: 2023938197 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
für Großvater
Danksagung Die vorliegende Arbeit ist eine leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die ich im Frühjahr 2022 an der TU Darmstadt eingereicht habe. Ich hätte sie niemals ohne die Unterstützung zahlreicher Personen schreiben können – allen werde ich hier nicht danken können. Ich möchte mich insbesondere bei meiner Doktormutter Prof. Nina Janich bedanken, zum einen natürlich dafür, dass sie mir die Möglichkeit zur Promotion gegeben und den Prozess über Jahre hinweg in vielen Gesprächen sorgsam betreut hat – vor allem aber für die Freiheit und Autonomie, die sie mir dabei gewährt hat, und das darin stets mitschwingende Vertrauen darauf, dass am Ende schon etwas Gutes dabei rumkommen würde. Bei Prof. Jan Engberg bedanke ich mich für das Übernehmen des Zweitgutachtens und die herzlichen Rückmeldungen. Bei Prof. Nico Blüthgen und Prof. Marcus Müller für die anregende Diskussion und ihre Tätigkeit als Prüfer. Ein großer Dank gilt meinen Kolleg*innen vom (erweiterten) Team der Angewandten Linguistik in Darmstadt für das herzliche Arbeitsumfeld, das Korrekturlesen und ihre Beteiligung an der Disputation. Der DFG danke ich für die Förderung des Forschungsprojektes. Prof. Ekkehard Felder und dem De Gruyter-Verlag für die Aufnahme in die Reihe Sprache und Wissen und die Betreuung der Veröffentlichung. Ein besonderer Dank gilt meiner Familie und meinen Freunden für die seelische Unterstützung, die nötige Ablenkung und die Bereitschaft sich längere Monologe über Dinge anzuhören, die vll. nur von geringem persönlichem Interesse sind – allen voran natürlich Chrissi. Und auch unserer Hündin Aila, die mich immer wieder zu Spaziergängen gezwungen hat, bei denen oft die besten Ideen kamen, gebührt Dank für ihren Anteil am Entstehen dieser Arbeit.
https://doi.org/10.1515/9783111077369-202
Inhaltsverzeichnis Danksagung
VII
Tabellenverzeichnis
XV
Abbildungsverzeichnis
XVII
Abkürzungsverzeichnis
XXI
1
Einleitung: Worum es gehen wird
2 2.1 2.2 2.2.1
Wissenskonstitution im Sprachgebrauch 8 Wissenskonstitution – Eine begriffliche Annäherung 8 Linguistische Perspektiven auf Wissenskonstitution 9 Die sprachliche Konstitution gesellschaftlicher Wissenssysteme 10 Wissenskonstitution auf der Ebene konkreter Sprachgebrauchsereignisse 12 Fazit: Globale und lokale Wissenskonstitution 13 Bedeutungskonstitution als lokale Wissenskonstitution 14 Darstellender und handlungsbezogener Bedeutungsaspekt 15 Kontextualisierung 16 Wissen als Verstehensvoraussetzung 18 Verstehensrelevantes Wissen 18 Frames 20 Geteiltes Wissen – Common Ground 24 Das beim Verstehen konstituierte Wissen 25 Frame-Aktivierungen 25 Mentale Räume 27 Mentale Modelle 29 Fazit 32
2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2
1
Die Textwelttheorie 34 Eine kurze Einführung in die Textwelttheorie (TWT) Zum Forschungskontext der TWT 34 Die Grundidee der TWT 35 Zum Universalitätsanspruch der TWT 38 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation 39
34
X
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Inhaltsverzeichnis
Textverstehen als inkrementeller Wissensaufbau 39 Propositionen und Frames 40 Mentale Repräsentationen beim Textverstehen 42 Multimodales Textverstehen 44 Bezugswelten 49 Fazit: Wissenskonstitution und TWT 50 Die Textwelt der TWT 51 Grundmerkmale der Textwelt 51 Der Hintergrund der Textwelt: World building elements und Hintergrund-Frames 52 Der Vordergrund der Textwelt – Function-advancing propositions (FAPs) 56 Die Äußerungswelt 59 Die Äußerungswelt bei Werth und Gavins 59 Die Äußerungswelt als Kontextmodell 61 Die Handlungsstruktur als Vordergrund der Äußerungswelt 62 Die Weltenarchitektur 66 Subworlds, world-switches und Fokusdomänen 66 Welt-Welt-Relationen 69 Eigenschaften der Weltenarchitektur 75 Fazit 78 Rhetorik und Textwelttheorie 80 Rhetorik und Textkommunikation 80 Handlungsfeld und Situation 80 Zweck-Mittel-Rationalität: Perlokution und Persuasion 81 Die rhetorischen Wirkdimensionen 83 Zwischenfazit: Die rhetorische Perspektive auf Sprachhandlungen 84 Plausibilitätsdimensionen des geteilten Wissens 85 Logos – Argumentation 87 Logos und Argumentation in der antiken Rhetorik 87 Argumentation und Neue Rhetorik 89 Ein linguistischer Argumentationsbegriff 92 Die TWT-Perspektive auf Argumentation 96 Ethos – Die Begegnung von Orator und Leserin 100 Das aristotelische Ethos und seine modernen Erweiterungen Das In-Erscheinung-Treten des Orators 102 Begegnungen in der Äußerungswelt 104 Rollenaspekte der Textkommunikation 106
101
Inhaltsverzeichnis
4.3.5 4.3.6 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5
Positionierung 109 Ethos und TWT 112 Pathos – Emotives Potential 113 Pathos in der antiken Rhetorik 113 Sprache und Emotion 115 Emotive Bedeutungsaspekte 118 TWT und emotives Potential 121 Fazit: Rhetorische Textstrategien und TWT-Modell
122
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Die Neonicotinoid-Debatte – Ein Überblick 124 Neonicotinoide 124 Neonicotinoide und europäische Pestizidzulassung 125 Das Debattenthema: Risiken für Bienen 126 Debattenakteure und Positionen 128 Die Neonicotinoid-Debatte in Deutschland – Eine chronologische Skizze 130
6 6.1 6.1.1 6.1.2
Studiendesign 134 Grundlagen des Studiendesigns 134 Die Forschungsfrage 134 Verstehen be-schreiben: Linguistik als praktische Hermeneutik 136 Transtextuelle rhetorische Strategien 138 Fazit: Das methodische Vorgehen der Arbeit 141 Das Untersuchungskorpus 143 Grundzüge der Debatte und Debattenbeiträge 144 Schlüsselakteure als strategische Oratoren der Debatte 146 Auswahl der Korpustexte 148 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht 154 Weltenarchitekturen rekonstruieren: Text, Diagramm, Interpretation 155 Die ÄW beschreiben: Domäne, Handlungsstruktur, Rollen 157 Die TW beschreiben 162 Architekturen beschreiben 168 Logos – Argumentation beschreiben 170 Ethos – Begegnungen beschreiben 175 Pathos – Emotive Potentiale beschreiben 177 Fazit 178
6.1.3 6.1.4 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.3.7 6.3.8
XI
XII
6.4 6.4.1 6.4.2
Inhaltsverzeichnis
Spezifizierungen der methodischen Basics für die vorliegende Arbeit 179 Quantifizierungen, digitale Werkzeuge und Darstellungsweisen 179 Spezifizierungen des Basis-Schemas 182
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 7.6
Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen 187 TW-Integration, Wissenskonstitution und TRS 187 TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen 187 Mittelbare und unmittelbare Formen der TW-Integration 189 TW-Integrationen in den TRS – Ein erster Überblick 193 Unmittelbare TW-Integration – FAP-Integration, Implikation und Hintergrundintegration 194 FAP-Integration 194 Hintergrund-Integration 199 Fokuswelt-Integration – Meinungen, Aussagen, Möglichkeiten 202 Integration in ‚redeinduzierte‘ und ‚kognitive‘ FWs 202 Integration in ‚epistemische‘ FWs 206 Integration in ‚negierende‘ FWs 210 Fokusraum-Integration 211 Forschungsräume 211 Vereinzelte Ereignisse 219 Komplexe TW-Integrationen in den TRS 222 Fazit: Einschließen, Ausgrenzen, Re-Integrieren 224
8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4
Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR 227 Der Aufklärer in der Debatte 227 Das AUFKLÄREN-Muster – Eine erste Annäherung 227 Der Blick auf die Debatte 230 Orientierungshilfe 237 Unrealistische Studien 249 Kommunikative Kompetenz 258 Fazit: AUFKLÄREN als Kernelement der AGRAR-TRS 260 Das ‚versteckte‘ Argument 260 Balance 261 Fundierte Entscheidungen 271 Genau Hinsehen! 274 Fazit: Der ‚versteckte‘ Argumentbau in der AGRAR-TRS 282
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.2 7.2.1 7.2.2 7.3
Inhaltsverzeichnis
8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5
Technische Lösungen 284 Alternativen? 284 Technik, Forschung, Fortschritt 292 Alles unter Kontrolle 299 Technische Lösungen und Orator-Engagement Fazit: Fortschrittliche Optimierung 307
304
9 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5
Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO 308 Wissen und Handeln 308 FODERUNGEN ABLEITEN – Die TRS als politisches Agieren 308 Die Kontaktsituation von Orator und Leserin 313 318 WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS als politische Angelegenheit Mit der Stimme der Wissenschaft 326 Trennungen von Wissen und Handeln 334 Fazit: Wissen verpflichtet 337 Der Kampf der Systeme 338 338 Zwei distinkte LANDWIRTSCHAFTS-Typen ‚Industrie‘ vs. ‚Natur‘ 342 Intensivierung und Expansion 348 Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit 351 Fazit: Emotives und argumentatives Potential 355 Gift! 358 Andersartigkeit und Ausschluss 359 Agentivität 362 Allgegenwart 372 Assoziation 376 Fazit: Gifte 383
10
Zusammenfassender Überblick über die Befunde – Wissenskonstitution, Weltenarchitekturen und Plausibilitätsstrukturen 384 Das Wichtigste in Kürze – Zusammenfassung der Befunde 384 ÖKO: ‚Wir sehen jetzt, was wir bereits wussten – also tun wir etwas!‘ 385 AGRAR – AUFKLÄREN im Stimmengewirr – oder: Hin zum Wissen, weg vom Handeln 387 Gegenüberstellung der jeweiligen Wissenskonstitution in den beiden TRS 390 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS: Akzeptanz, Übertragbarkeit, rhetorische Wirkung 391
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.2
XIII
XIV
Inhaltsverzeichnis
10.2.1 10.2.2 11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
Beziehungsarbeit 393 Das wissenschaftliche Wissen in der Neonicotinoid-Debatte Schlussfolgerungen und Ausblick 400 Evaluation des entwickelten TWT-Modells 400 Die beschriebenen TRS im Kontext der Biodiversitäts- und Agrardiskurse 401 Rhetorisch-hermeneutische Textkompetenz – eine Skizze Von der rhetorisch-hermeneutischen Textkompetenz zur Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit 405 Schlussbemerkung 411
Literatur
413
Register
437
396
403
Tabellenverzeichnis Tabelle 3.1 Tabelle 3.2 Tabelle 3.3 Tabelle 5.1 Tabelle 5.2 Tabelle 6.1 Tabelle 6.2 Tabelle 7.1 Tabelle 7.2 Tabelle 7.3 Tabelle 9.1 Tabelle 9.2 Tabelle 9.3 Tabelle 10.1 Tabelle 11.1 Tabelle 11.2
Mentale Repräsentationen beim Textverstehen 43 World-builders und WBEs der durch (01) konzeptualisierten TW 54 Strukturmomente von Kontextmodellen nach van Dijk und entsprechende WBEs nach Werth 61 In der EU (ehemals) zugelassene Pestizide 125 Wichtige Rahmenereignisse der Neonicotinoid-Debatte 133 Downloadbare Materialien der Schlüsselakteure, mit der zentralen Proposition der Debatte als Textthema 149 Die Texte des Fokuskorpus 151 Die 15 häufigsten Verben, durch die das FE ERKENNEN als VP realisiert wird 190 Verteilung der Annotationen von TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen 193 FAP-Integrationen im Korpus 197 Prototypische Eigenschaften des Handlungsmusters FORDERUNGEN ABLEITEN auf der Textebene innerhalb der ÖKO-TRS 312 ADJAS vor Landwirtschaft, Agrarsystem, Agrarmodell, Landwirtschaftssystem 339 363 Verursachungsverben in VPs mit Pestiziden als VERURSACHER bei ÖKO Gegenüberstellung zentraler Unterscheide der beiden TRS von ÖKO und AGRAR 390 Aspekte der rhetorisch-hermeneutischen Textkompetenz 406 Exemplarische Beobachtungen und mögliche Implikationen einzelner rhetorisch-hermeneutischer Teilkompetenzen für eine Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit 408
https://doi.org/10.1515/9783111077369-204
Abbildungsverzeichnis Abbildung 3.1 Abbildung 3.2 Abbildung 3.3 Abbildung 3.4 Abbildung 3.5 Abbildung 3.6 Abbildung 3.7 Abbildung 3.8 Abbildung 3.9 Abbildung 3.10 Abbildung 3.11 Abbildung 4.1 Abbildung 4.2 Abbildung 6.1 Abbildung 6.2 Abbildung 6.3 Abbildung 6.4 Abbildung 6.5 Abbildung 6.6 Abbildung 6.7 Abbildung 6.8 Abbildung 6.9 Abbildung 6.10 Abbildung 6.11
Abbildung 6.12 Abbildung 6.13 Abbildung 6.14 Abbildung 6.15
TWT-Notation der WBEs aus (01) nach Werth (1999: xvi) 54 TW-Rekonstruktion inklusive FAP von (02) 57 Mögliche Rekonstruktion der ÄW von (03) 64 Vereinfachte Rekonstruktion der TW von (03) 65 Rekonstruktion einer epistemischen Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Vielleicht macht Peter seine Hausaufgaben‘ 71 Rekonstruktion einer deontischen Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Peter muss seine Hausaufgaben machen‘ 71 Rekonstruktion einer volitiven Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Peter will seine Hausaufgaben machen‘ 72 Rekonstruktion einer kognitiven Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Jens denkt, dass Peter seine Hausaufgaben macht‘ 73 Rekonstruktion einer redeinduzierten Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Jens sagt, dass Peter seine Hausaufgaben macht‘ 74 Rekonstruktion einer negierenden Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Peter macht heute keine Hausaufgaben‘ 75 Mehrstufige Weltenarchitektur von ‚Jens hat gesagt, er glaubt, dass Peter noch seine Hausaufgaben machen muss‘ 78 Rekonstruktion der Weltenarchitektur im Falle einer epistemischen Quaestio 97 Rekonstruktion der Weltenarchitektur im Falle einer normativen Quaestio 98 Transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) eines Orators 140 Die zentrale Proposition der Debatte 145 Interesse am Thema Neonicotinoide laut Google-Trends 146 Die Textthemen-Matrix des Untersuchungskorpus 150 Allgemeines Schema eines TWT-Diagramms 156 Rekonstruierte Weltenarchitektur inklusive FAP für den zweiten Satz aus (01) 166 Lexikalisch bestimmte Propositionsstruktur im Frame-Format 167 Rekonstruierte Weltenarchitektur inklusive FAP für den ersten Satz aus (01) 168 TWT-Rekonstruktion der normativen Quaestio (Q1) ‚Sollten Neonicotinoide verboten werden?‘ 171 Simple TWT-Rekonstruktion des AGRAR-Standpunktes ‚Neonicotinoide sollten nicht verboten werden.‘ (SP1) 171 Klassische Argumentrekonstruktion für den Grund ‚Ein NeonicotinoidVerbot hätte negative Konsequenzen für die Landwirtschaft‘ (G1) nach dem Toulmin-Schema 172 Frame-Struktur der Proposition von G1 173 Mögliche Weltenarchitektur für G1 173 SR1 als Blaupause der Weltenarchitektur 174 TWT-Rekonstruktion des aus G1, SR1 und SP1 bestehenden Arguments 174
https://doi.org/10.1515/9783111077369-205
XVIII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 7.1 Abbildung 7.2 Abbildung 7.3 Abbildung 7.4 Abbildung 7.5 Abbildung 7.6 Abbildung 7.7 Abbildung 7.8 Abbildung 7.9 Abbildung 7.10 Abbildung 7.11 Abbildung 7.12 Abbildung 7.13 Abbildung 7.14 Abbildung 7.15 Abbildung 7.16 Abbildung 7.17
Abbildung 8.1 Abbildung 8.2 Abbildung 8.3 Abbildung 8.4 Abbildung 8.5 Abbildung 8.6 Abbildung 8.7 Abbildung 8.8 Abbildung 8.9 Abbildung 8.10 Abbildung 8.11 Abbildung 8.12 Abbildung 8.13 Abbildung 8.14 Abbildung 8.15 Abbildung 8.16 Abbildung 8.17 Abbildung 8.18
Unterschiedliche Formen von TW-Integrationen 188 Rekonstruierte Frame-Struktur der durch (01) realisierten FAP 190 Unmittelbare TW-Integration im Falle der Konstruktion [WISS. PRAKTIK] zeigt P in (01) 191 TW-Integration von P im Fall von (02) 192 TW-Integration von P im Fall von (03) 192 Unmittelbare TW-Integration durch einfache FAPs 194 Hintergrund-Integration in (24) 200 Schematische TWT-Rekonstruktion von (34) 203 Rekonstruiertes TWT-Diagramm für (35) 204 TWT-Rekonstruktion von (46) 208 Rekonstruierte Weltenarchitektur für (56) 213 Rekonstruiertes TWT-Diagramm für (64) 215 Vereinfachtes TWT-Diagramm von (69) 218 Schematische Darstellung der TW-Konstruktion in (73) 220 Rekonstruierte Weltenarchitektur für (76) 223 TW-Integration in (77) 223 Schematische Darstellung der typischen TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen im Rahmen der TRS von AGRAR und ÖKO 225 Weltenarchitektur nach dem ersten Satz in (01) 228 Weltenarchitektur nach dem zweiten Satz in (01) 229 Schema des initialen Weltenaufbaus im Zuge des AUFKLÄRENMusters 230 TW-Rekonstruktion anhand des Wortlauts der ersten drei Sätze aus (09) 232 Rekonstruierte Weltenarchitektur in (15) 238 Rekonstruierte Weltenarchitektur in (16) 239 TWT-Diagramm der rekonstruierten Weltenarchitektur der ersten Sätze aus (17) 241 TWT-Diagramm der rekonstruierten Weltenarchitektur der ersten drei Sätze aus (17) 242 AUFKLÄREN als multimodales Widerspruchsmuster in Bayer 2015a 244 Layout einer Doppelseite aus IVA 2016 246 TWT-Rekonstruktion von (22) 248 Vorschlag zur TWT-Rekonstruktion der Weltenarchitektur des ersten Satzes in (25) 250 TWT-Rekonstruktion der Weltenarchitektur des zweiten Satzes in (25) 252 Klassische Darstellungsweise des in (25) repräsentieren Arguments 254 Ausschnitt der Weltenarchitektur in (26) 256 Beispiele für gestalterische Varianz aus IVA 2014a (links) und IVA 2016 (rechts) 259 Gestalterische Aufarbeitung wissenschaftlicher Abbildungsformen bei AGRAR aus Bayer 2016 (links) und IVA 2014a (rechts) 260 Fokuswelt in epistemischer Relation zur Textwelt 265
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 8.19 Abbildung 8.20 Abbildung 8.21 Abbildung 8.22 Abbildung 8.23 Abbildung 8.24 Abbildung 8.25 Abbildung 8.26 Abbildung 9.1 Abbildung 9.2
Abbildung 9.3 Abbildung 9.4 Abbildung 9.5 Abbildung 9.6 Abbildung 9.7 Abbildung 9.8 Abbildung 9.9 Abbildung 9.10 Abbildung 9.11 Abbildung 9.12 Abbildung 9.13 Abbildung 9.14 Abbildung 9.15
Abbildung 9.16 Abbildung 9.17 Abbildung 9.18
Abbildung 9.19 Abbildung 9.20 Abbildung 9.21 Abbildung 9.22
Übertragung einer Teilstruktur der Quaestio auf die lokale Weltenarchitektur 266 Die argumentative Funktion des Balance-Topos in der Weltenarchitektur 266 Der Balance-Topos in einer Infografik aus Bayer 2016 268 Taxonomische Dissoziation des Konzepts BESTÄUBER in IVA 2014a 275 Der versteckte Argumentbau in der AGRAR-TRS 283 Abbildung und Bildunterschrift aus Bayer 2018 293 Ausschnitt aus dem Coverbild von Bayer 2015a 296 Abbildung aus IVA 2014b 302 Diagramm der Weltenkonstruktion in (01) 309 Beispiele für hervorgehobene Forderungslisten aus Greenpeace 2013a, Greenpeace 2013b, Greenpeace 2014a, BUND 2015 und BUND 2016 [2010] (von links oben nach rechts unten) 312 TWT-Rekonstruktion der Weltenarchitektur in (05) 314 Schematische Weltenrekonstruktion im Falle der Verwendung des explizit performativen Verbs fordern 316 Rekonstruierte Weltenarchitektur für (09) 317 Das Frame-Netzwerk WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS 319 Rekonstruierte Weltenarchitektur für (21) 322 Rekonstruierte partielle TW-Rekonstruktion für (30) 325 Schema der Weltenarchitektur des Lokutoren backing-Musters 328 Rekonstruierte Weltenkonstruktion für (43) 331 Typografische Hervorhebung direkter Zitate in Greenpeace 2013b 332 Ausschnitt einer Seite aus Greenpeace 2014b 333 Die Tabelle als ‚epistemisches Herzstück‘ in Greenpeace 2013b 336 Reduzierte TWT-Rekonstruktion von (53) 341 Bildliche Darstellungen im Kontext der Konzeptualisierung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT aus Greenpeace 2017 (oben links und mittig) Greenpeace 2014b (unten links) und Greenpeace 2015 (oben und unten rechts) 344 Bildliche Darstellungen im Kontext der Konzeptualisierung der ökologischen Landwirtschaft aus Greenpeace 2014b 345 Rekonstruierte TW und FW in (87) 354 Klassische schematische Darstellung des argumentativen Zusammenhangs der Propositionen ‚Die industrielle Landwirtschaft ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ und ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ 356 Das ‚Vorkommen-Problem‘ in (96)–(98) als schematische TWTRekonstruktion 361 Partielle TWT-Rekonstruktion von (102) 365 Ganzseitige Abbildung aus Greenpeace 2014b 368 Infografik aus Greenpeace 2015 373
XIX
XX
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 9.23
Abbildung 9.24
Abbildung 9.25 Abbildung 10.1 Abbildung 10.2
Assoziatives Verhältnis zwischen den Propositionen ‚Pestizide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen (Individuen)‘ und ‚Der Pestizideinsatz verursacht negative Konsequenzen bei Bienenvölkern‘ 376 Assoziatives Verhältnis zwischen den Propositionen ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ und ‚Pestizide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen‘ 377 ‚Klassisches‘ Schema der argumentativ in (128) miteinander verbundenen Propositionen 378 Textwelt-Integration und Handlungscharakter der TRS 384 Weltenarchitektur und Wirklichkeitsentwurf 392
Abkürzungsverzeichnis ÄW BUND CG FAP FR FW IVA NP PAN SP SR TRS TW TWT VP WBE
Äußerungswelt Bund für Umwelt und Naturschutz Common Ground function advancing proposition Fokusraum Fokuswelt Industrieverband Agrar Nominalphrase PAN Germany Pestizid-Aktions-Netzwerk Standpunkt Schlussregel transtextuelle rhetorische Strategie Textwelt Textwelttheorie Verbalphrase world building element
https://doi.org/10.1515/9783111077369-206
1 Einleitung: Worum es gehen wird Es erscheint mir zum Zweck der Orientierung nützlich, mein Forschungsvorhaben gleich zu Beginn innerhalb der Linguistik1 zu verorten (vgl. Kalwa 2018: 154): Ich verstehe die vorliegende Arbeit als Beitrag zu einer Angewandten Linguistik. Dieser Begriff beschreibt zugegebenermaßen ein ausgesprochen weites Feld. Ich möchte mich zunächst an der Arbeitsdefinition orientieren, die Meer & Pick (2019) in ihrem Einführungsbuch vorschlagen: Wir möchten unter Angewandter Linguistik im Weiteren diejenigen linguistischen Gegenstandsbereiche und (Teil-)Disziplinen verstehen, die sich unter Nutzung wissenschaftlich reflektierter Verfahren mit Formen und Funktionen empirisch erhobener (multimodaler) Sprach-/Kommunikationsdaten (Korpora) im Hinblick auf ihre semiotische Relevanz in konkreten gesellschaftlichen Kontexten analytisch und interpretativ auseinandersetzen. Dabei sind die Ergebnisse der empirischen Analysen potenziell dazu geeignet, in den jeweiligen Praxisfeldern für kommunikative oder strukturelle Veränderungen genutzt zu werden. (Meer & Pick 2019: 8; Hervorhebung im Original)
Diese Arbeitsdefinition entspricht im Wesentlichen dem Selbstverständnis der vorliegenden Arbeit. Hinter ihr steht, wie es für die Angewandte Linguistik typisch ist, ein „real world problem“ (Göpferich 2014: 151; vgl. auch Roth & Spiegel 2013: 7) und der Versuch, durch die linguistische Analyse ein Verständnis desselben zu ermöglichen, welches zu einer Lösung damit einhergehender kommunikativer Probleme und Herausforderungen beitragen kann. Der Aspekt des Problemlösens ist gleichzeitig ein zentraler wie auch problematischer Aspekt des Selbstverständnisses der Angewandten Linguistik (vgl. Göpferich 2014: 151–152). In der vorliegenden Arbeit halte ich es dabei zunächst mit Meer & Pick (2019) bei einem angestrebten Potential des Genutzt-werden-könnens, ohne den Anspruch zu erheben, ein Problem durch die linguistische Analyse wirklich bereits zu lösen. Im obigen Zitat aus Meer & Pick (2019: 8) tritt deutlich hervor, dass es sich bei der Angewandten Linguistik um eine größere und in sich durchaus heterogene Bandbreite linguistischer „Gegenstands(-bereiche) und Teildisziplinen“ handelt. Für ein konkretes Forschungsvorhaben ist es deshalb notwendig, den spezifischen Fokus bzw. das spezifische Erkenntnisinteresse, unter dem die empirischen Sprachdaten betrachtet werden, herauszustellen. Im vorliegenden Fall liegt dieser Fokus auf der sprachlich-kommunikativen Aushandlung gesellschaftlich relevanten Wissens.
Wenn im Folgenden von Linguistik die Rede ist, ist damit zumeist in erster Linie die deutschsprachige Linguistik gemeint. https://doi.org/10.1515/9783111077369-001
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1 Einleitung: Worum es gehen wird
Die kommunikative Konstruktion von Wissen ist in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu einem bedeutenden Thema in Philosophie und Sozialwissenschaften geworden und stellt dort ein zentrales Thema etwa der Diskursanalyse nach Michel Foucault oder des Kommunikativen Konstruktivismus dar (vgl. Knoblauch 2008; Reichertz 2013). Diese Strömungen haben starke Impulse an die Linguistik gegeben. In den letzten Jahrzehnten hat sich im deutschsprachigen Raum insbesondere die Diskurslinguistik2 in ihren vielen Gestalten und Facetten mit großem Erfolg den Fragen der gesellschaftlichen Konstitution von Wissen zugewandt. Dabei stehen insbesondere Fragen der Faktizitätsbehauptung und Sachverhaltsperspektivierung sowie gesellschaftlicher Macht im Vordergrund (vgl. hierzu bspw. Felder 2013; Spieß 2018; Warnke 2009; Wengeler 2015). Ich möchte in dieser Arbeit eine stärker auf konkrete Sprachgebräuche fokussierte rhetorische Perspektive einnehmen, die sich selbst nicht als Diskurslinguistik versteht, wenngleich sie durchaus anschlussfähig an diskurspragmatische Überlegungen ist (vgl. Spieß 2011; Roth 2015; Pappert & Roth 2016). Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht ein verstärkt kognitiver und textbezogener Zugang mit einem Fokus auf die lokalen Strukturen des konstituierten geteilten Wissens und der Frage danach, wie in der Textkommunikation Plausibilitätsstrukturen des geteilten Wissens entstehen. Von besonderem Interesse ist dabei im vorliegenden Fall die Konstitution wissenschaftlichen (Fach-)Wissens. In dieser Hinsicht ist die Arbeit auch anschlussfähig an Arbeiten aus den linguistischen Forschungsfeldern der Wissenschaftskommunikation (vgl. Janich & Kalwa 2018; Janich 2020) und der Wissenskommunikation (vgl. Engberg 2020). Durch die enge Verbindung von Konzepten der Kognitiven Semantik wie Frames und mentalen Modellen mit traditionellen rhetorischen Kategorien wie Ethos, Logos und Pathos kann die vorliegende Arbeit zudem als ein Beitrag zu einer von Till (2008) geforderten Kognitiven Rhetorik betrachtet werden. Das real world problem, mit dem ich mich in dieser Arbeit aus dieser disziplinären Perspektive auseinandersetzen möchte, betrifft die Wissenskonstitution im Rahmen rhetorischer Strategien von Schüsselakteuren in der Debatte um die sogenannten Neonicotinoide3. Bei Letzteren handelt es sich um Insektizide, die seit den 1990er Jahren in der Landwirtschaft in zunehmend hohem Maße eingesetzt wur-
Ich verwende den Begriff Diskurslinguistik hier als Sammelbegriff für verschiedene Strömungen wie Linguistische Diskursanalyse (Felder 2015), Kritische Diskursanalyse (Reisigl & Vogel 2020) oder Diskurslinguistik nach Foucault (Warnke 2007). Die vorliegende Arbeit resultiert aus der Projektarbeit im von der DFG geförderten Forschungsprojekt „‚Bye bye Biene?‘ – Funktionalisierungen wissenschaftlichen Wissens vs. Nichtwissens im Pestizid-Diskurs“ (2017–2020), geleitet von Prof. Dr. Nina Janich an der Technischen Universität Darmstadt.
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den und von großer ökonomischer Bedeutung für Hersteller und Landwirte sind. Gleichzeitig jedoch existieren wissenschaftliche Hinweise darauf, dass der Einsatz dieser Pestizide ein Risiko für Bienen und andere Bestäuber darstellt, weshalb es ab den späten 2000er-Jahren in Europa, wie auch andernorts, zu einer anhaltenden Debatte um ein Verbot des Neonicotinoid-Einsatzes kam4. Vor allem Agrarindustrie und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus dem Umweltschutzbereich können hier als Schlüsselakteure gesehen werden, die versuchen, durch rhetorische Strategien die Aushandlung des Wissens um Risiken und politische Folgen des Neonicotinoid-Einsatzes maßgeblich zu beeinflussen. Aus Sicht einer Angewandten Linguistik ist die Neonicotinoid-Debatte von Interesse, weil sie in zweierlei Hinsicht einen hochrelevanten Kontext für die Wissenskonstitution darstellt: Zum einen ist die Neonicotinoid-Debatte im diskursiven Konfliktfeld von Biodiversität und Landwirtschaft verortet, das wohl auch in Zukunft für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung hochrelevant sein wird. Zum anderen geht es in der Debatte um die Aushandlung der „epistemischen Qualität“ (Janich 2018: 558) von Wissen im Kontext einer Gestaltungsöffentlichkeit. Bevor die Fragestellung und das Vorgehen der Arbeit präzisiert werden, möchte ich kurz näher auf diese Aspekte eingehen, um den Relevanzrahmen der vorliegenden Arbeit zu verdeutlichen. Dem zunehmenden Schwund der Biodiversität entgegenzutreten, wird als eine der zentralen Herausforderungen der planetaren Zukunft angesehen, wie sie etwa im Konzept der planetaren Belastbarkeitsgrenzen (planetary boundaries) festgehalten werden (vgl. Steffen et al. 2015). Dass die Artenvielfalt weltweit schwindet, ist auch in Deutschland zu einem zunehmend wichtigen gesellschaftspolitischen Thema geworden. In der öffentlichen Wahrnehmung sind dabei die Schlagwörter Bienensterben bzw. Insektensterben zu wichtigen Kampfbegriffen geworden, an denen sich der Biodiversitätsdiskurs vielfach ausrichtet. So wurde etwa in Bayern im Jahr 2019 das Volksbegehren Artenvielfalt und Naturschönheit – Rettet die Bienen! durchgeführt, das laut dem Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz „das erfolgreichste Volksbegehren in der Geschichte des Freistaats Bayern“ war5. Als die wichtigsten Treiber des Biodiversitätsverlustes werden die großflächige Landnutzung und direkte Übernutzung von Tieren und Pflanzen angesehen (vgl. IPBES 2019: XVI). Insbesondere die Landwirtschaft stellt damit einen zentralen Einflussfaktor auf die Biodiversität dar (vgl. Kellermann 2020: 47–48)6. Bei dem möglichen negativen Einfluss der Landwirtschaft auf die Biodiversität im
Für eine ausführlichere Beschreibung der Debatte siehe Kapitel 5. https://www.stmuv.bayern.de/themen/naturschutz/bayerns_naturvielfalt/volksbegehren_arten vielfalt/index.htm. Alle Links in den Fußnoten zuletzt aufgerufen am 10.3.2022. https://www.umweltbundesamt.de/themen/boden-landwirtschaft/umweltbelastungen-der-land wirtschaft/gefaehrdung-der-biodiversitaet.
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Zuge der Intensivierung wird immer wieder der Einsatz von Pestiziden hervorgehoben (vgl. Feindt et al. 2019: 28). In einem Diskussionspapier der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina stellen Schäffer et al. (2018: 6) fest, dass „Einträge von Pestiziden [...] neben dem Klimawandel, massiven Veränderungen der globalen Nährstoffkreisläufe, der Zerstörung von Lebensräumen und weiteren Faktoren eine wesentliche Größe im Konzept der planetaren (Belastungs-)Grenzen [sind, NS], wonach das Überschreiten kritischer Grenzwerte zu tiefgreifenden Störungen im Erdsystem führt“. Gerade bei der Diskussion um die Auswirkungen der Landwirtschaft auf Insektenpopulationen spielen Pestizide eine zentrale Rolle (vgl. Fickel et al. 2020: 16). Die Neonicotinoid-Debatte steht somit – obwohl sie von großen Teilen der Bevölkerung trotz ihres Bezuges zum Thema „Bienensterben“ gewissermaßen unbeachtet bleibt – im Brennpunkt eines diskursiv hochrelevanten Feldes um zentrale Fragen der lokalen gesellschaftlichen Gestaltung mit Blick auf die erheblichen Herausforderungen der planetaren Zukunft. Bei der Diskussion um Neonicotinoide und deren Auswirkungen auf Bienen handelt es sich um eine Risikotechnologien-Debatte7, die in wissenssoziologischer Hinsicht mit den Konzepten einer Wissens- und Risikogesellschaft in Verbindung gebracht werden kann. Im Zentrum solcher Debatten steht die (kommunikative) Konstitution eines handlungs- und entscheidungsrelevanten Wissens auf der Basis wissenschaftlicher Forschung, wobei die Konfrontation mit bestehendem Nichtwissen und Ungewissheiten hier eine besondere Rolle spielt. In diesem Zusammenhang ist die Etablierung innovativer Technologien auch als Realexperiment bezeichnet worden (vgl. Groß et al. 2005). Die kommunikative Wissenskonstitution erfolgt in solchen Fällen laut Böschen (2015: 165–166; vgl. auch Böschen et al. 2008: 207) im Kontext von ihm so bezeichneter Gestaltungsöffentlichkeiten: Diese [Gestaltungsöffentlichkeiten, NS] lassen sich als themenzentrierte Verschränkungen von Akteursnetzwerken und diskursiven Strukturierungen verstehen, die im Spannungsund Konfliktfeld von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit gesellschaftliche Such- und Lernprozesse anleiten und institutionell stabilisieren. Gestaltungsöffentlichkeiten sind somit spezifische ‚Ausschnitte‘ aus der allgemeinen medialen und politischen Öffentlichkeit, von der sie selbstverständlich beeinflusst werden. Sie sind die sozialen Orte, an denen die für bestimmte Themen- und Problemstellungen relevanten Wissens- und Nichtwissenswahrnehmungen verhandelt werden. (Böschen et al. 2008: 206)
Die Diskurslinguistik hat sich in solchen Fällen der sprachlich diskursiven Risiko-Konstitution bereits zugewandt (vgl. Müller & Vogel 2014; Felder & Jacob 2014). In semantischer Hinsicht kann der Aufsatz von Fillmore & Atkins (1992) zum Konzept RISIKO als besonders einflussreich gelten. Auch die diskursive Funktionalisierung von Nichtwissen im Zusammenhang mit Realexperimenten ist bereits linguistisch betrachtet worden (vgl. Janich & Simmerling 2013; Janich & Simon 2017).
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Die kommunikative Aufgabe solcher Gestaltungsöffentlichkeiten – so könnte man sagen – besteht in der Aushandlung von usable knowledge und usable ignorance – also Wissen und Nichtwissen, das zur gesellschaftlich-politischen Entscheidungsfindung herangezogen werden kann (vgl. Ravetz 1987: 105–107). Die Brauchbarkeit solchen (Nicht-)Wissens hängt dabei nicht nur von dessen Inhalt ab, sondern auch davon, wie es kommuniziert wird, und somit nicht zuletzt von seiner sprachlichen Erscheinungsform (vgl. Kropp & Wagner 2008: 192). Gestaltungsöffentlichkeiten dienen somit nicht allein der Klärung von Sachfragen, sondern wesentlich auch der öffentlichen Meinungsbildung und Orientierung im Hinblick auf gesellschaftliches Handeln (vgl. Böschen 2015: 173). Sie zeichnen sich zudem unter anderem dadurch aus, dass sie offen für diskursive Beeinflussungen sind und unterschiedliche Differenzierungsgrade der Akteure sowie Grade an Institutionalisierung aufweisen (vgl. Böschen 2015: 177). Die Neonicotinoid-Debatte findet vor dem stark institutionalisierten Hintergrund der europäischen Chemikalienbewertung und Pestizidzulassung statt, in welchem eine Reihe von Verfahren wie Risikobewertungen, Monitorings und rechtliche Grundlagen zum Umgang mit Unsicherheiten wie das Vorsorgeprinzip institutionell fixiert sind. Allerdings stellt etwa Scheringer (2018: 63) fest, dass auch im Falle der stark institutionalisierten Chemikalienbewertung u. a. aufgrund hoher (ökologischer) Komplexität der Umgang mit Nichtwissen und Unsicherheiten eine große Herausforderung bleibt, die dazu führt, dass die institutionalisierten Prozesse der Risikobewertung sich notwendigerweise in einem fortwährenden Wandel befinden8. Der weltweit praktizierte Einsatz der Neonicotinoide kann somit im wissenssoziologischen Sinne durchaus als kollektives Experimentieren mit einer Technologie unter Risikobedingungen begriffen werden, das diskursiv in eine Gestaltungsöffentlichkeit eingebunden ist. Gerade die fortwährende Existenz einer öffentlichen Debatte macht deutlich, dass die hohe Institutionalisierung (zum Beispiel im Rahmen von Zulassungsverfahren) alleine den Umgang mit den damit einhergehenden Wissenskonflikten nicht regelt. Das spezifische Problem, das ich in der vorliegenden Arbeit aus linguistischer Sicht untersuchen möchte, zeichnet sich vor dem Hintergrund der sozial-ökologischen und wissenssoziologischen Relevanz der Neonicotinoid-Debatte ab: Die hochrelevante kommunikative Konstitution eines auf wissenschaftlichem Wissen (strittiger epistemischer Qualität!) beruhenden gesellschaftspolitischen Orientierungs- und Handlungswissens innerhalb einer Gestaltungsöffentlichkeit im diskursiven Spannungsfeld von Biodiversität und Landwirtschaft wird in der Neonicotinoid-Debatte
Diese Komplikation schlägt sich auch in der betreffenden Wissenschaftskommunikation nieder (vgl. Simon & Janich 2021).
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wesentlich durch die öffentlichkeitsadressierten rhetorischen Strategien von Schlüsselakteuren aus der Agrarindustrie und Umweltschutzorganisationen realisiert. Ein besseres Verständnis der rhetorischen Strategien einflussreicher Interessensvertreterinnen kann zu einem differenzierten und detaillierteren Blick auf die Prozesse der Wissenskonstitution in solchen Debatten führen9 und so zur Lösung spezifischer kommunikativer Herausforderungen beitragen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht dementsprechend darin: – zunächst ein Modell der lokalen Wissenskonstitution für rhetorische (Text-) Analysen zu Zwecken der Angewandten Linguistik zu entwickeln, – durch dieses Modell rhetorische Strategien der Wissenskonstitution im Kontext der Neonicotinoid-Debatte zu beschreiben – und somit zu einem besseren Verständnis der rhetorischen Dimension der Wissenskonstitution im Spannungsraum von Wissen und Macht vor dem Hintergrund planetarer Grenzen beizutragen. Hieraus wiederum können sich weitere Implikationen für die Angewandte Linguistik ergeben, die abschließend reflektiert werden sollen. Zur Erreichung dieser Ziele gliedert sich der Hauptteil der vorliegenden Arbeit in drei Blöcke: – Kapitel 2–4 stellen den theoretischen Teil der Arbeit dar. Hier wird insbesondere das von mir in dieser Arbeit genutzte Modell der Textwelttheorie in seiner rhetorischen Erweiterung entwickelt: Durch eine Auseinandersetzung mit dem linguistischen Begriff der Wissenskonstitution wird im Anschluss an die Kognitive Semantik eine textorientierte Auffassung von Wissenskonstitution im Sprachgebrauch hergeleitet, die den Aufbau von geteiltem Wissen anhand mentaler Repräsentationen von pragmatischem und propositionalem bzw. darstellendem Bedeutungsaspekt ins Zentrum stellt (Kapitel 2). Für eine Beschreibung der Wissenskonstitution unter dieser Perspektive wird die auf Paul Werth zurückgehende Textwelttheorie (TWT) von mir zunächst unter Betrachtung weiterer linguistischer Befunde vorgestellt und modifiziert (Kapitel 3). Anschließend wird diese modifizierte Form im Hinblick auf eine Beschreibung rhetorischer Strategien entlang der klassischen Dimensionen Ethos, Logos und Pathos spezifiziert und im Rückgriff auf gängige linguistische Erkenntnisse zu Argumentation, Selbstdarstellung bzw. Beziehungskonstitution und Emotionalität erweitert, um eine linguistisch fundierte Beschreibung
Eine stärkere Berücksichtigung der rhetorischen Plausibilitätsdimensionen Ethos, Logos und Pathos für eine Beschreibung des policy-Prozesses wird bspw. auch in der Politikwissenschaft gefordert (vgl. Gottweis 2007: 240).
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der Plausibilitätsstruktur des konstituierten geteilten Wissens zu ermöglichen (Kapitel 4). Das somit erweiterte TWT-Modell stellt den Grundstein des folgenden empirischen Teils der Arbeit dar und wird dort im Hinblick auf seine methodische Operationalisierung beschrieben (Kapitel 6.3). Kapitel 5–10 repräsentieren den empirischen Teil der Arbeit. Nach einer Skizzierung der Neonicotinoid-Debatte (Kapitel 5) und einer Beschreibung des Forschungsdesigns (Kapitel 6) erfolgt die Darlegung der analytischen Befunde: zunächst mit besonderem Fokus auf den von mir als besonders wichtig erachteten Aspekt der Textwelt-Integration zentraler epistemischer Propositionen (Kapitel 7) sowie anschließend jeweils in Bezug auf die jeweiligen Oratoren und ihre gesamten transtextuellen rhetorischen Strategien (Kapitel 8 und 9). Eine zusammenfassende bzw. gegenüberstellende Interpretation der Befunde erfolgt in Kapitel 10. In einem Ausblick (Kapitel 11) werde ich überdies einige Implikationen der durchgeführten Analysen und ihrer Befunde für die Angewandte Linguistik diskutieren, wobei ich auch kurz auf rhetorisch-hermeneutische Textkompetenzen eingehen werde, die eine Teilnahme an Debatten der Gestaltungsöffentlichkeit erleichtern können.
2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch 2.1 Wissenskonstitution – Eine begriffliche Annäherung Die Angewandte Linguistik hat sich in den letzten Jahren vor allem im Rahmen der Diskurslinguistik (z. B. Busse 2008; Felder 2009; 2013; Spitzmüller & Warnke 2011; Warnke 2009) und der Konversationsanalyse (z. B. Spranz-Fogasy & Lindtner 2009; Deppermann 2018) verstärkt der Frage zugewandt, wie Wissen (insbesondere Fachwissen) durch Sprache erzeugt, modifiziert und verbreitet wird. Während die einzelnen Teildisziplinen dabei unterschiedliche Fragestellungen, Begrifflichkeiten und Methoden verwenden bzw. in den Vordergrund rücken, spielt in diesen Zugängen der Begriff der Wissenskonstitution (manchmal auch Wissenskonstituierung) eine wichtige Rolle. Die v. a. im Kontext von Diskurslinguistik und Konversationsanalyse vorherrschende Annahme ist entsprechend, dass Wissen und Sprache sich weitestgehend gegenseitig bedingen: Sprache konstituiert Wissen und Wissen ist die Grundlage für Sprache. Ziem (2009: 171–172) bemerkt diesbezüglich jedoch, dass die vereinfachte Formel „ohne Sprache kein Wissen und ohne Wissen keine Sprache“ zu kurz greife, da die Annahme eines dyadischen Verhältnisses von Sprache und Wissen den ‚dritten Pol‘ dieses Verhältnisses – die Kognition – außen vorlasse. Ziem vertritt demgegenüber die These dass nicht Sprache Wissen schafft und Sachverhalte konstituiert, sondern dass Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer ausgehend von sprachlichen Tokens kognitive Modelle aufbauen, deren gestalthafte Erscheinung eine projizierte Wirklichkeit [...] erzeugt. Sprachliche Tokens erfüllen eine Art Stimulusfunktion, indem sie Anlass zur Konstruktion kognitiver Modelle geben; sie selbst schaffen jedoch kein Wissen! (Ziem 2009: 198)
Ziems Kritik speist sich aus einem Verständnis des Zusammenhangs von Sprache und Wissen, welches sich im Rahmen der Kognitiven Semantik etabliert hat. Mit dem Begriff Kognitive Semantik beziehe ich mich auf die Definition von Ziem (2013a), der darunter mehrere Semantik- und Grammatiktheorien versteht, die ab den 1970er Jahren v. a. in den USA in Abgrenzung zu (ebenfalls kognitiven) Sprachkonzeptionen wie der Generativen Grammatik sowie der strukturalistischen Sprachkonzeption und ihrer semantischen Ausprägung in Form der Merkmalssemantik entstanden sind. Diese einzelnen Ansätze bilden zwar kein übergreifendes Theoriegebäude aus, sie begreifen sich allerding auch gegenseitig als miteinander kohärent und zeichnen sich durch gemeinsame Grundprinzipien aus, wie die Annahme, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke aus kognitiv-konzeptuellen Kategorisierungen im Sprachgebrauch (re-konstruktiv) hervorgeht (vgl. dazu ausführlich Ziem 2013a: 220–223). Gemeinsam ist kognitiven Semantiktheorien insbesondere die Relevanz, die dem Wissen für das Verstehen https://doi.org/10.1515/9783111077369-002
2.2 Linguistische Perspektiven auf Wissenskonstitution
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eingeräumt wird. Innerhalb des Forschungsparadigmas wurden (v. a. in den 1980er und 1990er Jahren) verschiedene Modellvorstellungen entwickelt, die unterschiedliche Aspekte des Zusammenhangs von Wissen und Sprachgebrauch fokussieren, wie etwa die Theorie der konzeptuellen Metapher, die Frame-Semantik oder die Theorie der mentalen Räume (vgl. Ziem 2013a: 225–230). Das in der vorliegenden Arbeit vertretene Verständnis von Wissenskonstitution schließt sich der Kognitiven Semantik an. Ein grundsätzlicher Aspekt, der von zentraler Bedeutung für jede Auseinandersetzung mit Wissenskonstitution ist, betrifft die Tatsache, dass Wissen im Prozess der Wissenskonstitution immer sowohl im Hinblick auf die epistemischen Verstehensvoraussetzungen von Äußerungsbedeutungen als auch auf das Resultat des Verstehensprozesses derselben im Sprachgebrauch betrachtet werden muss (vgl. Deppermann 2018: 107–108). Dabei ist das durch Sprache konstituierte Wissen immer geteiltes Wissen etwa einer Gesellschaft, Diskursgemeinschaft oder von Interaktanten (vgl. Deppermann 2018: 108; Müller 2013: 114; Warnke 2009: 114). Der Begriff Wissenskonstitution drückt dabei aus, dass Sprachgebrauch geteiltes Wissen gleichzeitig (!) voraussetzt und erzeugt. Die Ausführungen im folgenden Kapitel sollen diesem doppelseitigen Charakter der Wissenskonstitution besondere Beachtung schenken. Ich werde in Anlehnung an die Ausführungen von Ziem (2013a) die folgende Arbeitsdefinition von Wissenskonstitution als Ausgangspunkt der in diesem Kapitel anschließenden Ausführungen wählen: Wissenskonstitution bezeichnet aus linguistischer Sicht den Aufbau kognitiver bzw. mentaler Modelle unter Rückgriff auf bestehende Wissensstrukturen der Sprachnutzerinnen bei der Herstellung von geteiltem Wissen im Sprachgebrauch.
Entsprechend werde ich im Folgenden ein Verständnis von sprachlicher Wissenskonstitution darlegen, das in wesentlichen Punkten auf Einsichten der Kognitiven Semantik und Pragmatik beruht, jedoch auch Erkenntnisse aus der Konversationsanalyse systematisch miteinbezieht, um dann im nächsten Kapitel mit der Textwelttheorie ein für (rhetorische) Textanalysen operationalisierbares Modell der Konstruktion mentaler Modelle zur Beschreibung der Wissenskonstitution in der Textkommunikation vorzuschlagen.
2.2 Linguistische Perspektiven auf Wissenskonstitution In der Linguistik lassen sich zwei grundsätzliche Perspektiven auf das Phänomen Sprache ausmachen. De Saussure (2001: 11–16) bezeichnet diese mit den Begriffen langue und parole. Diese Begriffe sind bis heute einflussreich und werden zumeist
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
mit Sprachsystem und Sprachgebrauch übersetzt (vgl. Feilke 2015: 87). An diese Grundunterscheidung anschließend, lassen sich für linguistische Arbeiten, Roth (2015: 63) folgend, ein grammatisches und ein pragmatisches Interesse unterscheiden: – Mit einem grammatischen Interesse werden Sprachgebräuche mit dem Ziel untersucht, etwa durch die Identifizierung von Mustern10 abstrahierende Aussagen über das zugrundeliegende Sprachsystem zu gewinnen (bspw. eine Grammatik, ein mentales Lexikon, die episteme o. ä.). – Das pragmatische Interesse richtet sich darauf, wie Sprache in konkreten Sprachgebrauchsereignissen funktioniert. Diese grundsätzlichen Perspektiven auf Sprache lassen sich auch auf die linguistische Auseinandersetzung mit dem abstrakten Forschungsgegenstand Wissenskonstitution übertragen: Hier kann zwischen einem (grammatischen) Forschungsinteresse an der sprachlichen Konstitution von gesellschaftlichen Wissenssystemen (Makroebene) und einem (pragmatischen) Interesse an der Konstitution von Wissensrepräsentationen in konkreten Sprachgebrauchsereignissen (Mikroebene) unterschieden werden. Ich werde mich in der vorliegenden Arbeit v. a. mit der Wissenskonstitution auf der Mikroebene (im vorliegenden Fall: der Textkommunikation) auseinandersetzen. Um dieses Interesse allerdings besser in den gesamten Forschungskontext einzuordnen, möchte ich die Makro- und die Mikroebene im Folgenden kurz skizzieren und miteinander in Verbindung bringen.
2.2.1 Die sprachliche Konstitution gesellschaftlicher Wissenssysteme Aus einer Makro-Perspektive richtet sich die linguistische Forschung zu sprachlichen Wissenskonstitution darauf, wie das kollektive Wissen einer Gesellschaft durch Sprachgebrauch konstituiert wird. Diese Makro-Perspektive der Wissenskonstituierung wird v. a. von der Diskurslinguistik vertreten, die sich in ihrer an Michel Foucault ausgerichteten Ausprägung auf die Analyse gesellschaftlicher Wissenssysteme11
Der Begriff der sprachlichen Muster ist in jüngerer Zeit insbesondere in der Korpus- und Diskurslinguistik prominent (vgl. Bubenhofer 2015: 493; Tereick 2016: 37). Allerdings besteht innerhalb der Diskurslinguistik keine Einigkeit bezüglich der Frage, was dieses Wissen nun sei bzw. welcher ontologische Status ihm zuzukommen habe. Während ein großer Teil des Forschungsfeldes sich der Annahme anschließt, dass auch das kollektive diskursive Wissen letztlich auf kognitiven Strukturen beruhe (vgl. Busse 2018a: 18; Felder 2015: 93; Konerding 2008: 123–126), lehnen andere Positionen solche Annahmen (zumindest forschungspraktisch) als mentalistisch ab und verorten das Wissen, welches Gegenstand diskurslinguistischer Untersuchungen sein kann, strikt in den Äußerungen selbst (vgl. Teubert 2018: 36; 2019: 38).
2.2 Linguistische Perspektiven auf Wissenskonstitution
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(der episteme) konzentriert und untersucht, wie diese durch diskursive Praktiken und die Formation von Aussagen in Diskursen zum Ausdruck kommen und erzeugt werden (vgl. Busse 2008: 59; 2018a: 4; Felder 2009: 30; Müller 2013: 99; Warnke 2009: 118). Die Diskurslinguistik betrachtet Wissenskonstitution vor allem im Hinblick auf die Etablierung, Ausübung und Aufrechterhaltung diskursiver Macht (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 97–98). Für das in Diskursen konstituierte Wissen ist deshalb insbesondere die intersubjektive Gültigkeit von Aussagen bzw. die gemeinschaftliche Akzeptanz von Erkenntnis relevant, die nie machtneutral, sondern stets diskursiv umstritten und umkämpft ist (vgl. Warnke 2009: 113–114). Diskursive Macht manifestiert sich darin, welches Wissen von Diskursakteuren als faktisch vertreten und weiterverbreitet wird (Felder 2013: 15). Aus diskurslinguistischer Perspektive lässt sich Wissenskonstitution somit als eine Anordnung von Wissen im diskursiven Raum durch Äußerungen begreifen. Innerhalb dieses Raums kulminiert die Aushandlung geltenden Wissens in sogenannten „agonalen Zentren“ (Felder 2013: 21; Felder 2015: 96), in denen konkurrierende Wahrheitsgeltungsansprüche und Perspektivierungen von Sachverhalten aufeinandertreffen. Der Prozess diskursiver Wissenskonstitution lässt sich laut Warnke (2009: 119–125) in die Bestandteile Konstruktion, Argumentation und Distribution untergliedern. Wissen wird demnach als Äußerung manifestiert, durch Widerlegung und Begründung gerechtfertigt und zur Durchsetzung von Geltungsansprüchen im Diskursraum distribuiert. Felder (2013: 24) identifiziert drei grundsätzliche Sprachhandlungsmuster „mittlerer Abstraktion“ der Faktizitätsherstellung in Diskursen: Die vor allem durch assertive bzw. repräsentative Sprachhandlungen vollzogene Sachverhaltskonstitution; die Einordnung eines festgesetzten Sachverhaltes in einen „umfassenden epistemisch-kognitiven Hintergrund unter Einbeziehung soziokultureller und sprachlich geprägter Wissensrahmen“ als Sachverhaltsverknüpfung; sowie die explizite oder implizite Bewertung dieses Sachverhalts, aus der sich mitunter „Konsequenzen für Individuen, gesellschaftliche Gruppierungen oder die Gemeinschaft ergeben“ (Felder 2013: 24; vgl. auch Felder 2015: 95). Während viele diskurslinguistische Arbeiten zur Beschreibung diskursiver Formationen von Äußerungen auf große Datenmengen zurückgreifen, wird etwa in der Diskurspragmatik betont, dass die linguistische Analyse von Diskursen einzelnen Sprachgebrauchsereignissen ebenfalls einen angemessenen Stellenwert zuzuschreiben hat (vgl. Pappert & Roth 2016: 40–41; Roth 2015: 47–48). Ziel der diskurspragmatischen Analyse ist es, anhand von detaillierten Einzelanalysen „einen punktuellen Einblick in die Dynamik und Flexibilität der diskurssemantischen Wissens-Strukturen im Ganzen zu bekommen“ (Roth 2013: 178). Wenngleich also die Diskurspragmatik analytisch einzelne Sprachgebrauchsereignisse in den Blick nimmt (und somit auf eine Mikroebene abzielt), richtet auch sie ihren Blick letztlich auf die dadurch ausgedrückten kollektiven Wissensstrukturen. Sie weist
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
damit bereits darauf hin, dass sich die Mikro- und Makro-Perspektive auf Wissenskonstitution komplementär zueinander verhalten und in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander zu betrachten sind.
2.2.2 Wissenskonstitution auf der Ebene konkreter Sprachgebrauchsereignisse Der von mir als Mikro-Perspektive bezeichnete linguistische Zugang zur Wissenskonstitution betrachtet konkrete Sprachgebrauchsereignisse nicht primär als Ausdruck kollektiver Wissenssysteme, sondern interessiert sich für die im Sprachgebrauch konstituierten epistemischen Strukturen v. a. als Repräsentationen von Äußerungsbedeutungen. Ein Beispiel hierfür stellen gesprächsanalytische Arbeiten zu Verständnissicherung und Bedeutungskonstitution dar (z. B. Deppermann 2006; Deppermann 2018; Spranz-Fogasy & Lindtner 2009). Die Gesprächsanalyse stellt dabei das Problem in den Vordergrund, dass Wissen als kognitive Größe auch den Interaktanten nicht direkt zugänglich ist, sondern einander anhand interaktionaler Praktiken verfügbar gemacht werden muss (vgl. Birkner & Burbaum 2016: 86). Dies kommt im zentralen Begriff der Verständigung zum Ausdruck: „Verständigung im Gespräch ist ein Prozess der Herstellung geteilten Wissens“ (Deppermann 2018: 117). Die Konversationsanalyse hebt hervor, dass es sich dabei um einen dynamischen und dialogischen Prozess handelt, der analytisch anhand der interaktionalen Aktivitäten von Verstehensdokumentationen und Verstehensanweisungen nachvollzogen werden kann (Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 162). In der dialogischen KoKonstruktion von geteiltem Wissen müssen Gesprächsteilnehmer sich in ihren Annahmen über die jeweiligen Wissenshintergründe permanent gegenseitig absichern und überprüfen, um Verständigung zu gewährleisten (siehe hierzu auch Kapitel 2.4.3). Dieser Prozess wird in einer auf Herbert Clark zurückgehenden Terminologie auch als grounding bezeichnet (vgl. Clark & Brennan 1991: 128–129; Deppermann 2018: 117–119). Dabei ist auch relevant, dass sich die Wissenshintergründe der Gesprächsteilnehmerinnen im Hinblick auf Umfang, innere Struktur etc. unterscheiden. Aus diesen Wissensasymmetrien resultieren Wissenshierarchien, die sich in interaktionalen Mustern wie bspw. Frage-Antwort-Sequenzen äußern (vgl. Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 141) und als territoriale Ansprüche auf Wissen auch zur Demonstration von Autorität und Macht dienen können (Heritage 2012: 2; Kamio 1994). Aus einer textlinguistischen Perspektive kann die textuelle Wissenskonstitution unter Rückgriff auf die aus der Kognitiven Semantik stammenden Wissensstrukturen – die Frames (siehe Kapitel 2.4.2) – beschrieben werden (vgl. Gardt 2018: 70–71). Aus einer frame-semantischen Sicht bilden die anhand textueller
2.2 Linguistische Perspektiven auf Wissenskonstitution
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Elemente evozierten Frames Kohärenzstrukturen, darüber hinaus werden sie im Textverstehen zu einem textuellen Weltentwurf zusammengefügt (vgl. Fillmore 1982: 122; Ziem 2013b: 46). Dem entspricht auch die Annahme von de Beaugrande & Dressler (1981:88), die Kohärenz in einer im Textverstehen aufgebauten Konstellation von schematischen Konzepten und Relationen begründet sehen, die sie als die „Textwelt“ bezeichnen und durch die es „Sinnkontinuität innerhalb des Wissens gibt, das durch Ausdrücke des Textes aktiviert wird [...].“ Zur Schaffung solcher textuell konstituierter „Wissenswelten“ (Antos 1997: 48) werden komplexe Wissensbestände von Autorin und Rezipientin in einer „textuellen Architektur“ unter einem von der Linearität des Texts ausgehenden Zwang selegiert und perspektiviert und Wissenselemente und -strukturen in „zeitliche, logische, kausale oder adressatenorientierte“ Zusammenhänge gestellt (Antos 1997: 49). Laut Gardt (2018: 65) resultiert Wissenskonstitution in Texten aus konkreten Textausdrücken („punktuell“) sowie aus der Gesamtheit mehrerer Textelemente („flächig“), wobei sich die „Fläche textueller Bedeutungs-/Wissenskonstitution [...] über den Einzeltext hinaus ausdehnen“ kann. Die Übergänge einer textanalytischen Sicht auf Wissenskonstitution zu einer diskursanalytischen Betrachtungsweise erweisen sich somit als fließend.
2.2.3 Fazit: Globale und lokale Wissenskonstitution Die knappe Skizzierung der beiden Forschungsrichtungen zeigt, dass es beim linguistischen Blick auf den Untersuchungsgegenstand ‚Wissenskonstitution‘ zwei Perspektiven gibt, die je unterschiedliche Prozesse fokussieren: – den kollektiven/globalen Prozess der Konstitution gesellschaftlichen Wissens, der sich anhand einer Vielzahl von Sprachgebrauchsereignissen ergibt, die quasi aus der Vogelperspektive in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenspiel betrachtet werden; – den lokalen Prozess der Wissenskonstitution, der sich anhand konkreter Sprachgebrauchsereignisse vollzieht, gleichsam jedoch immer in die Prozesse kollektiver Wissenskonstitution eingebettet ist. Beide Prozesse sind als komplementäre Bestandteile des abstrakten Forschungsgegenstands (sprachliche) Wissenskonstitution zu begreifen. Der Unterschied der Forschungsrichtungen liegt damit nicht eigentlich im Gegenstand selbst, sondern vielmehr darin, dass einhergehend mit der jeweiligen Fokussierung der Forschungsperspektive (wie beim Scharfstellen einer Kamera) bestimmte Aspekte in den Vordergrund treten, während andere in den Hintergrund rücken. Dies trifft auch auf die vorliegende Arbeit zu: Ich fokussiere darin die Wissenskonstitution
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
anhand rhetorischer Strategien von Akteuren, die sich in Form einer (konkreten) Menge (geschriebener) Texte manifestieren. Es geht mir damit vorrangig um die lokale Wissenskonstitution. Gleichsam wird diese ganz ausdrücklich als Bestandteil der kollektiven Wissenskonstitution innerhalb einer Diskursgemeinschaft begriffen, die durch sie beeinflusst werden soll. Im Gegensatz zur Perspektive der Diskurslinguistik geht es mir also nicht darum, konkrete Sprachgebrauchsereignisse als Ausdruck eines sich darin zeigenden kollektiven Wissenssystems zu analysieren. Stattdessen möchte ich diejenigen Wissensstrukturen in den Blick nehmen, die anhand konkreter Sprachgebrauchsereignisse (potentiell) konstituiert werden, um dann (rhetorisch) innerhalb diskursiver Kontexte Einfluss auf die Formation der Wissensordnungen zu nehmen.
2.3 Bedeutungskonstitution als lokale Wissenskonstitution Nach diesen einführenden Annäherungen an den linguistischen Begriff der Wissenskonstitution und der Skizzierung des entsprechenden Forschungsfeldes möchte ich nun darlegen, dass und inwiefern lokale Wissenskonstitution im Wesentlichen mit der Bedeutungskonstition in konkreten Sprachgebrauchsereignissen gleichgesetzt werden kann. Ich orientiere mich dabei an einem Verständnis des Bedeutungbegriffs, der das Verstehen in den Vordergrund stellt: Dass Verstehen für die soziale Interaktion eine fundamentale Rolle spielt, ist eine triviale Einsicht. Wozu sollten wir miteinander sprechen, wenn wir nicht verstanden werden? (Deppermann 2013: 1)
Trotz der hier von Deppermann diagnostizierten Trivialität dieser Einsicht stellt das Verstehen des Verstehens die Linguistik vor bedeutende Herausforderungen. Folgt man Karl Bühler, dann stellt genau diese Herausforderung den Ansatzpunkt jeder sprachwissenschaftlichen Tätigkeit dar (vgl. Bühler 1999: 12–15). Ausgehend von der Doppeldeutigkeit des englischen Wortes meaning betrachtet Grice (1957) in einem einflussreichen Aufsatz die Entstehung von Bedeutung im Sprachgebrauch als Prozess, bei dem eine Rezipientin versucht nachzuvollziehen (zu verstehen), welche Absichten ein Produzent beim Äußern einer Äußerung im Sinn hat (bzw. was dieser meint). Bedeuten, meinen und verstehen sind damit im Verständigungsprozess aufeinanderbezogene und ineinandergreifende Teilprozesse, bzw. Begriffe für jeweilige Perspektivierungen des Verständigungsprozesses mit Fokus auf Produzent, Äußerung/Text und Rezipientin (vgl. hierzu grundsätzlich Grice 1957: 385; Searle 2015: 91–94). Die Bedeutung einer Äußerung ist somit das rekonstruierbare Potential, etwas zu meinen bzw. auf bestimmte Weise verstanden zu werden. Im Anschluss an Grice bezeichnen Sperber & Wilson (2012: 262)
2.3 Bedeutungskonstitution als lokale Wissenskonstitution
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die Erklärung des Verstehens als Ziel der pragmatischen Theoriebildung: „The hearer’s task is to find the meaning the speaker intended to convey, and the goal of pragmatic theory is to explain how this is done“. Ich werde im Folgenden zunächst relevante Aspekte der Äußerungsbedeutung herausstellen, um dann aufzuzeigen wie diese in Bezug zum Wissen gesetzt werden können.
2.3.1 Darstellender und handlungsbezogener Bedeutungsaspekt Die Frage, die sich unmittelbar an diese grundsätzlichen Überlegungen anschließt, ist die nach dem Gegenstand der Bedeutungskonstitution: Worauf bezieht sich das Meinen, Bedeuten und Verstehen also? Vor allem in semiotischen Modellen wie dem Zeichenmodell von Ogden & Richards (1923: 11) wird das Problem der Referenz als zentral für die Frage nach der Bedeutung angesehen. Gerade der ReferenzGedanke hat viele semantische Theorien (v. a. auf der Satzebene) beeinflusst, die versuchen, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke auf wahrheitswertbasierte Prinzipien und Mechanismen zurückzuführen. Die Unzufriedenheit mit den Erklärungsmöglichkeiten solcher Modelle haben zur Herausbildung der Pragmatik geführt, die den Blick auf die Bedeutung sprachlicher Äußerungen über Aspekte der Referenz hinausgeführt hat. Dabei wurde der Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen als zentraler Teil von deren Bedeutung in den Vordergrund gerückt. In semiotischer Hinsicht findet sich dieser Gedanke bereits im bekannten und bis heute einflussreichen Organon-Modell von Karl Bühler wieder, wo zwischen einer Darstellungs-, Ausdrucks- und Apell-Funktion sprachlicher Zeichen unterschieden wird (Bühler 1999: 28). In der Sprechakttheorie wird die Bedeutung einer Äußerung als Komplex beschrieben, der sich aus der Komplexität des Sprachaktes ergibt. So unterscheidet Austin (1979: 117–126) zwischen lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem (Teil-)Akt, die gemeinsam im Vollzug des Sprechaktes vollzogen werden. Die Bedeutung einer Äußerung ist somit nicht allein an die referentiellen Bezugsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke geknüpft (Lokution), sondern umfasst nun insbesondere auch den Handlungsaspekt des Sprechakts (Illokution) sowie die damit verfolgten Zwecke einer Sprecherin (perlokutionärer Akt/Perlokution). In seiner Erweiterung von Austins Sprechakttheorie betont Searle (2015: 88), dass verschiedene illokutionäre Akte dieselben „nicht-illokutionären Akte der Referenz und der Prädikation“ vollziehen. Diese gemeinsame Kombination von Referenz und Prädikation bezeichnet er in „Ermangelung eines besseren Wortes“ als Proposition (Searle 2015: 88). Searles von der Modallogik inspirierte Konzeption propositionaler (d. h. referentiellprädikativer) Bedeutung ist in dieser Form in der germanistischen Linguistik nach dem pragmatic turn breit rezipiert worden.
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
Innerhalb der Pragmatik wurde mit dem Handlungscharakter auch die Rolle des situativen Kontextes für die Erschließung der Äußerungsbedeutung wichtig (vgl. Austin 1979: 166). Gerade die Theorie der konversationellen Implikaturen von Paul Grice zeigt, dass zur Interpretation einer Äußerungsbedeutung (regelbasierte) Interpretationsverfahren notwendig sind, die sich auf den Zweck der Konversation und weitere Kontextfaktoren beziehen (Grice 1957: 387). Der Pragmatik kommt somit das Verdienst zu, aufgezeigt zu haben, dass meinen, bedeuten und verstehen weitaus mehr beinhalten, als erfolgreich Referenzen zu vollziehen und Sachverhalte darzustellen12, nämlich dass sich diese Konzepte auf (absichtsvolles) aufeinander bezogenes Handeln in situativen Kontexten beziehen. Ein entsprechend weiter pragmatischer Bedeutungsbegriff findet sich insbesondere in der Konversationsanalyse wieder, wo er sich „auf alle Ebenen der Interaktionskonstitution, also etwa auch auf die Bedeutung von Äußerungen für die Sozialbeziehung der Beteiligten oder auf Handlungskategorisierungen“ bezieht (Deppermann 2006: 20). Ich werde – im Anschluss an die hier knapp skizierte pragmatische Grundeinsicht – im Fortlauf der vorliegenden Arbeit davon sprechen, dass die Bedeutung eines Sprachgebrauchsereignisses zwei dominante Teilaspekte hat (vgl. von Polenz 2008: 67, 101): – einen referentiell-prädikativen13 bzw. in der Terminologie von Bühler (1999) darstellenden Bedeutungsaspekt und – einen situativ-pragmatischen bzw. handlungsbezogenen Bedeutungsaspekt. Beide Aspekte sind jedoch nicht unabhängig voneinander zu verstehen und machen erst in ihrer gegenseitigen Verbindung die Gesamtbedeutung aus. Für das Verstehen beider Bedeutungsaspekte stellt sich Wissen als zentrale Größe dar.
2.3.2 Kontextualisierung Dass die Konstitution von (darstellender sowie handlungsbezogener) Bedeutung im Sprachgebrauch aus einer verstehensorientierten Sicht mit der lokalen Wissenskonstitution weitestgehend gleichgesetzt werden kann, ergibt sich aus der Auseinander-
Man könnte an dieser Stelle durchaus berechtigt einwerfen, dass es gerade der Sprechakttheorie gar nicht wirklich um das Verstehen ginge, sondern um dessen Gegenteil, nämlich das Sprechen. Ich bin dennoch der Meinung, dass die Pragmatik, gerade auch dann, wenn sie die Sprecherperspektive einnimmt, Prozesse beschreibt, von denen klar ist, dass sie letztlich vor allem auch das Verstehen problematisieren. Ich vermeide hier bewusst das Adjektiv propositional, da dieses im Fortlauf der Arbeit ohnehin noch zu terminologischen Herausforderungen führen wird (siehe Kapitel 3.2.3).
2.3 Bedeutungskonstitution als lokale Wissenskonstitution
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setzung mit dem Begriff der Kontextualisierung. Kontextualisierung wird in verschiedenen Teildisziplinen der Linguistik als Grundprinzip hinter dem Phänomen sprachlicher Bedeutung angenommen. Der Grundgedanke ist dabei, dass sprachliche Ausdrücke keine Bedeutung haben, sondern Bedeutung bekommen, indem sie im Prozess des Verstehens komplexe Wissenshintergründe bzw. Kontexte indizieren. Eine wichtige Rolle spielt Kontextualisierung bspw. in der (lexikalischen) Semantik. Zum einen gibt es dort schon länger die Annahme, dass die Bedeutung eines Ausdrucks, bspw. eines Wortes, erst durch die sprachliche Umgebung spezifiziert werde. Der Kontext eines Wortes wird dann häufig als die materielle Äußerungsumgebung aufgefasst. Einen etwas weiteren Begriff von Kontext vertritt demgegenüber etwa die Frame-Semantik. Laut Busse (2012: 71) besteht ein Verdienst von Fillmores Konzeption der Frame-Semantik in der Herausarbeitung einer „‚epistemische[n]‘ Kontextualisierung“, die über die reine Äußerungsumgebung hinausgeht und sich auf Wissenshintergründe bezieht. Wörter werden verstanden, indem sie in erfahrungsbedingte Wissensbestände eingeordnet werden (vgl. Fillmore & Atkins 1992: 77). Wörter tragen weder selbst Bedeutung (auch nicht im abstraktesten Sinne) noch tragen sie Bedeutung, indem sie Relationen zu anderen Wörtern unterhalten, zumindest nicht im strukturalistischen Sinne von rein langue-basierten Bedeutungsrelationen. Sie werden allein dann zu bedeutungsvollen Einheiten, wenn man sie in Bezug zu einem (Hintergrund-)Frame setzt. (Ziem 2008: 140–141)
Während Kontextualisierung sich im Rahmen der Frame-Semantik vorrangig auf den darstellungsbezogenen Bedeutungsaspekt bezieht, ist Kontextualisierung in der interaktionalen Soziolinguistik als zentrales Prinzip der pragmatisch-situativen Bedeutungskonstitution herausgearbeitet worden. Als besonders einflussreich kann hier die von John Gumperz entwickelte Theorie der Kontextualisierungsschlüssel gelten. Das Verstehen einer Äußerung beruht demnach im Wesentlichen darauf, in der Gestalt/Form der Äußerung Hinweise darauf zu finden, vor welche Wissenshintergründe diese einzuordnen sind und welcher (v. a. situative) Kontext somit sinnvoll für die Interpretation angenommen werden kann (vgl. Gumperz 1982: 131; Knoblauch 1995: 106–107). Dazu bedarf es geteilter Wissensbestände, die im Kommunikationsprozess zu Annahmen über bspw. kulturelle Hintergründe führen (vgl. Auer 1986: 24). Damit wir miteinander schnell und problemlos interagieren können, müssen wir nicht nur ‚bedeutungsvolle‘ Äußerungen von uns geben, sondern zugleich Kontexte aufbauen, innerhalb derer unsere Äußerungen verstanden werden. Solche Kontexte sind schematische Wissensbestände, die Informationen verschiedenen Typs in unterschiedlicher Stärke aneinanderknüpfen und so die Verarbeitung und Produktion sprachlicher und anderer Handlungen erleichtern,
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
indem sie Redundanzen zu erkennen erlauben. Dies ist die zentrale Idee, die hinter dem Kontextualisierungskonzept steckt. (Auer 1986: 41)
Ein wichtiger Aspekt der Kontextualisierungstheorie ist demnach, dass die Kontexte, in denen eine Äußerung erst Sinn ergibt (also sinnvoll interpretiert werden kann), nicht einfach vorliegen, sondern selbst durch die Kommunikation erzeugt werden (vgl. Auer 1986: 23; Knoblauch 1995: 103). Im Prozess der interaktionalen Bedeutungskonstitution gehen dabei semantisches Referieren und interaktionales Kontextualisieren Hand in Hand (vgl. Auer 1986: 41–42). Während Kontextualisierung in diesem Sinne zunächst v. a. auf eine handlungsleitende Definition der Interaktionssituation bezogen ist, weiten neuere soziolinguistische Ansätze das Verständnis von Kontext bedeutend aus. So sieht etwa Blommaert (2005: 67) in Diskursen einen übergeordneten Aspekt der Situiertheit von Texten: Aus seiner Sicht bedeutet die Situiertheit einer Äußerung immer ihre Eingebundenheit in Diskurse, die als indexikalische Verweisräume für Äußerungen fungieren und das Bedeutungspotential eines Texts erst bedingen (vgl. dazu auch Müller 2015: 38–39; Spitzmüller 2013b: 266). Kontextualisierung beruht so verstanden auf einem vielschichtigen Wissen um sprachliche Konstruktionen, Text- und Interaktionsmuster, Situationen, Gesellschaftsdomänen und damit verbundene interaktionale Rollen sowie Wissensdomänen, Themen und Diskurse (vgl. Müller 2015: 76–78). Unter Rückgriff auf den Begriff der Kontextualisierung lässt sich das Verstehen eines Sprachgebrauchsereignisses somit als wissensbasierte Suche nach Hinweisen begreifen, um sich die interpretationsleitenden Kontexte einer Äußerung zu erschließen.
2.4 Wissen als Verstehensvoraussetzung Um den Zusammenhang von Bedeutung und Wissen, der im Kontextualisierungskonzept erfasst wird, näher zu erfassen, möchte ich mich zunächst denjenigen Wissensstrukturen zuwenden, die bei einer Rezipientin als Verstehenshintergrund vorausgesetzt werden können. Diese auch als verstehensrelevantes Wissen oder als Common Ground bezeichneten Wissensbestände lassen sich aus meiner Sicht linguistisch am besten unter Rückgriff auf das Frame-Konzept beschreiben.
2.4.1 Verstehensrelevantes Wissen Indem sich die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Äußerungen stärker auf das Verstehen konzentriert, rückt auch das Wissen, über das eine Rezipientin zum Ver-
2.4 Wissen als Verstehensvoraussetzung
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stehen verfügen muss, stärker in den Vordergrund der linguistischen Betrachtung. Die Idee einer Semantik, „die in erster Linie interpretativ und verstehenstheoretisch ausgerichtet ist“, lenkt den Blick somit auf das sogenannte verstehensrelevante Wissen (Busse 2018a: 6). Mit diesem Begriff bezeichnet Busse (2017: 194) die Wissensstrukturen, die beim Verstehen eines Sprachgebrauchsereignisses/einer Äußerung bei einer Rezipientin aktiviert werden. Es handelt sich beim verstehensrelevanten Wissen somit zwar um kognitive Strukturen, die – gewissermaßen individuell – im Langzeitgedächtnis einer Rezipientin vorhanden sind, gleichzeitig ist es jedoch auch sozial (vgl. Ziem 2008: 121; Ziem 2013a: 224). Dies liegt daran, dass das (individuelle) verstehensrelevante Wissen untrennbar mit dem (sozial-kollektiven) Sprachgebrauch verbunden ist: Unser Wissen um die Bedeutung eines sprachlichen Zeichenausdrucks ist gleichzusetzen mit unserem Wissen über erfolgreiche frühere Fälle der Wissensaktivierung mithilfe eben dieses Zeichenausdrucks. (Busse 2015a: 40)
Innerhalb der Linguistik finden sich mehrere Vorschläge einer Systematisierung bzw. Klassifizierung der Wissenshintergründe, die für das Verstehen einer Äußerung vorausgesetzt werden müssen und die im Zuge dessen aktiviert werden. So führt etwa von Polenz (2008: 299–302) in seiner einflussreichen deutschen Satzsemantik die lexikalische/usuelle Bedeutung (bei ihm auch das Bedeutete) einer Äußerung auf Sprachwissen zurück, während die aktuelle/okkasionelle Bedeutung (das Gemeinte) zudem auf der „Kenntnis und Einschätzung von Kommunikationsprinzipien, Kontext, Person des Sprechers/Verfassers, Situation und Welt“ beruhe. Aus textlinguistischer Perspektive identifizieren bspw. Heinemann & Viehweger (1991: 93–111) mehrere Wissenssysteme, die beim Textverstehen aktiviert werden darunter grammatikalisches und lexikalisches Wissen, Interaktions- und Illokutionswissen, Wissen über allgemeine kommunikative Normen, metakommunikatives Wissen, Wissen über Textstrukturen und enzyklopädisches Sachwissen. Eine umfassende Darstellung der verschiedenen Wissenstypen findet sich bei Busse (z. B. 1992: 149; 2015c: 333–334), der die bereits angesprochenen Aspekte aufgreift und um weitere erweitert, etwa einem Wissen über die „epistemische Präsenz der Ich-hier-jetzt-Perspektive des Textrezipienten“ oder die „Präsenz von ‚Emotionalem‘“. Vergleicht man die genannten Typisierungsvorschläge, kann auf einer übergeordneten Ebene zwischen Sprachgebrauchswissen, Weltwissen, Personenkenntnis und (akuter) Situationskenntnis unterschieden werden. Letztgenannte Kategorie bezeichnet allerdings weniger die sozialen Wissensstrukturen, die beim Verstehen aktiviert werden, sondern eher akute situative Wahrnehmungsdaten. Ich werde diese Art der Situationskenntnis deshalb aus dem in der vorliegenden Arbeit vertretenen Verständnis des verstehensrelevanten Wissens ausschließen. Die von mir als Personenkenntnis bezeichneten Wissenstypen können überdies
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
auch als Teil des Weltwissens gefasst werden, womit letzten Endes Weltwissen und Sprachgebrauchswissen als Ordnungskategorien übrigbleiben. Tatsächlich allerdings zeigen sich bei genauerer Betrachtung zahlreiche Interrelationen, weshalb nicht im strengen Sinne kategorisch zwischen Welt- und Sprachgebrauchswissen unterschieden werden kann (vgl. Busse 2012: 534–535; 2018b: 75)14. Da eine strikte Trennung von Welt- und Sprachgebrauchswissen theoretisch schwer zu begründen und für die Analyse des verstehensrelevanten Wissens zudem hinderlich sei, empfiehlt Ziem (2008: 193; 2009: 176), diese weitestgehend aufzugeben.
2.4.2 Frames Ein nächster Schritt in der Beschreibung der Wissenshintergründe einer Rezipientin beim Verstehen besteht darin, sich eine systematische Vorstellung der kognitiven Strukturen zu machen, in denen dieses Wissen repräsentiert wird und davon, wie diese aus linguistischer Sicht beschreibbar sind. Als am besten geeignet hierfür erachtet Busse (2018b: 69–71) das vor allem im Rahmen der Kognitiven Linguistik entwickelte Frame-Konzept. Innerhalb der Linguistik kann der Begriff Frame allerdings auf zwei Auseinandersetzungen mit den im Kontextualisierungsprozess aktivierten Wissensstrukturen zurückgeführt werden. Im Folgenden möchte ich beide Konzeptionen kurz umreißen und ausgehend davon diskutieren, ob für diese Arbeit zu einem einheitlichen Frame-Begriff zur Beschreibung der lokalen Wissenskonstitution gelangt werden kann15. Frame-Semantik Wie bereits in Abschnitt 2.3.2 angemerkt, besteht eine Grundannahme der FrameSemantik darin, dass sprachliche Zeichen – insbesondere Wörter – Bedeutung nicht einfach enthalten, sondern auf reichhaltige Wissensstrukturen verweisen, die im Verstehensprozess bei einer Rezipientin evoziert werden – die namensgebenden Frames (auch Wissensrahmen). Laut Barsalou (1992: 21) handelt es sich bei Frames um
Hierin herrscht allerdings keine Einigkeit. So gibt es etwa auch Vertreter des Frame-Ansatzes, die den Standpunkt vertreten, „dass semantisches und Weltwissen theoretisch und methodisch unterschieden werden müssen“ (Löbner 2018: 193). Für eine Kritik an Busses Position aus konstruktionsgrammatischer Sicht siehe Welke (2021: 407–410). Auf eine Berücksichtigung des auf Entman (1993) zurückgehenden kommunikationswissenschaftlichen Framing-Ansatzes wird an dieser Stelle verzichtet.
2.4 Wissen als Verstehensvoraussetzung
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das grundsätzliche Repräsentationsformat menschlichen Wissens16. Sie organisieren dieses Wissen als kognitive Kategorien für alles Mögliche, bspw. für belebte Wesen, Objekte, Orte, Ereignisse, mentale Zustände usw. (vgl. ebd.: 29). Fillmore & Baker (2010: 314) bezeichnen Frames als organisierte Pakete von Wissen, Meinungen, Annahmen, Handlungsmustern etc., die unsere Weltwahrnehmungen leiten und ihnen Sinn und Gestalt verleihen. Sie resultieren aus der Beschaffenheit der ‚Welt‘, der menschlichen Körperlichkeit, Kulturgemeinschaft und aus der Teilhabe an einer Sprachgemeinschaft. Die im Sprachgebrauch evozierten Frames sind strukturierte Systeme enzyklopädischen Weltwissens (vgl. Fillmore 1982: 119), die „geordnete Strukturen von Wissenselementen“ darstellen (Busse 2018b: 75). Folgt man Fillmore (1982), der seine Konzeption einer Frame-Semantik aus Überlegungen zur Kasusgrammatik heraus entwickelt17 (vgl. ebd. 114), kann analytisch von sprachlichen – bspw. syntaktischen – Strukturen auf diese Wissensstrukturen geschlossen werden. So weisen bspw. syntaktische Positionen in Verbalphrasen auf thematische Rollen hin, die Elemente einer zugrundeliegenden Frame-Struktur darstellen (vgl. Ziem et al. 2014: 303). Grundsätzlich kann die Struktur von Frames auf drei Arten von Konstituenten zurückgeführt werden: Leerstellen (Slots), Füllerwerten (Fillers) und Standardwerten (Defaults) (vgl. Busse 2012: 553; Ziem 2008: 281–288): – Slots (bei Barsalou Attribute) sind offene und ‚auffüllbedürftige‘ Anschlussstellen von Frames. Fillmore spricht hier insbesondere in späteren Arbeiten von Frame-Elementen, wobei dieser Begriff auch als Überbegriff für Slots und Fillers genutzt werden kann (vgl. Busse 2012: 554–55). Im Anschluss an Lönneker (2003) und Konderding (1993) sieht Ziem (2008: 307) in den zu füllenden Slots das Prädikationspotential eines Frames. Allerdings sind Slots keine komplett freien Anschlussstellen: „Ein Slot legt immer bestimmte Bedingungen für diejenige Elemente fest, die an diesem Punkt eines Frames angeschlossen werden sollen und überhaupt nur können [...]“ (Busse 2012: 555). – Fillers bzw. Füllwerte (bei Barsalou Werte) sind Konzepte, die Slot-Positionen in Frames besetzen, wenn Frames beim Verstehen aktiviert werden (vgl. Busse 2012: 559–561). Sie erfüllen die „kognitive Funktion [...], verstehensrelevantes Wissen zu perspektivieren“ (Ziem 2008: 326).
Innerhalb der Kognitionswissenschaft wurden auch weitere Wissensrepräsentationen vorgeschlagen wie bspw. Bild-Schemata, die teilweise auch in der Kognitiven Linguistik aufgegriffen worden sind (vgl. Gibbs & Colston 2006). Ein verwandtes Wissensformat stellen die idealized cognitive models (ICMs) bei Lakoff (1987: 68) dar. Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der Frame-Semantik bei Fillmore siehe Busse (2012).
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
Defaults stellen die konventionell fest mit einem Wissensrahmen verbundenen Wissenselemente dar. Ziem (2008: 335) bezeichnet sie als „implizite Prädikationen“, die den größten Teil des in Texten auftretenden Wissens ausmachen.
Ein wichtiger Aspekt der Frame-Struktur ist, dass die Wissenselemente bzw. Konzepte, die als Fillers oder Defaults Strukturpositionen in Frames besetzen, wiederum selbst Frames mit entsprechenden Strukturen sind, woraus letztlich eine komplexe rekursive Netzwerkstruktur von Wissenselementen resultiert (vgl. Busse 2012: 561). Es ist deshalb davon auszugehen, dass Frames in größeren Komplexen (sog. Frame-Systemen oder Frame-Netzen) vernetzt sind (vgl. Busse 2018b: 81–83). Frame, activity type, Kontext und Genre Eine zweite Traditionslinie des Frame-Begriffes geht auf die Arbeit des Soziologen Erving Goffman zurück, der mit dem Begriff Frame Interpretationsschemata für soziale Situationen bezeichnet, um darin bspw. Beteiligungsrollen von Interaktanten zu erfassen (Goffman 1986: 10–11). Frames werden von Goffman zwar vorrangig im Hinblick auf ihre performative Wirklichkeit beschrieben, können jedoch als (typisierungsbasierte) kognitive Strukturen begriffen werden, über deren Struktur Goffman allerdings wenig Auskunft gibt (vgl. Kann & Inderelst 2018: 49). Gumperz (1982: 130) nimmt in Anschluss an Goffmans Frame-Theorie kognitive Strukturen an, die er activity types nennt. Das vielleicht am stärksten bestimmende Charakteristikum eines activity types ist seine Ausrichtung auf ein kommunikatives Ziel, das dadurch erreicht werden soll (vgl. ebd. 1982: 166; Gumperz & Cook-Gumperz 1983: 11). In derselben Traditionslinie begreift Auer (1986: 25) Kontexte als komplexe Wissensstrukturen, die aus mehreren v. a. interaktional orientierten Komponenten wie Objekten, Zuständen, Handlungen, Personen oder Normen und deren Verbindungen zueinander bestehen. Die Beschreibung solcher interaktionaler Schemata in Form kognitiver Netzwerkstrukturen bei Auer weist bereits einige Ähnlichkeiten zur Frame-Konzeption der Kognitiven Semantik auf. Allerdings arbeitet Auer die Struktur solcher Schemata nicht weiter aus, sondern führt fünf verschiedene Arten von Schemata an, die im Prozess der Kontextualisierung auf verschiedenen Ebenen herangezogen würden: auf der Ebene des fokussierten Interagierens, des turn-takings (darunter insbesondere die Beteiligungsrollen), auf der Handlungsebene, auf thematischer sowie auf der Beziehungsebene (vgl. Auer 1986: 27). In einer auf geschriebene Texte orientierten Sicht können auch Genres und Textsorten als (kognitive) Schemata der Situations-Deutung betrachtet werden (vgl. Paltridge 1997: 62). So leitet etwa Miller (1984: 156–157) den Genre-Begriff aus
2.4 Wissen als Verstehensvoraussetzung
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dem Typisierungsvorgang von Interaktionssituationen her. Genres seien das Resultat typisierter Situationsdeutungen, auf die durch spezifische Genres geantwortet werden könne. Vor diesem Hintergrund bringen Briggs & Baumann (1992: 141) Genres mit Frames in eine enge Verbindung: „Considered in these terms, genres may be seen as conventionalized yet highly flexible organizations of formal means and structures that constitute complex frames of reference for communicative practice” (ebd.). Frame-Konzepte – same same but different? Innerhalb der linguistischen Forschung wurde also aus verschiedenen Richtungen ein Konzept von schematischen Wissensstrukturen entwickelt, die dem Verstehensprozess zugrunde liegen und die in beiden Fällen als Frames bezeichnet werden können. Fillmores frame-semantischer Ansatz wird dabei überwiegend mit dem darstellenden Bedeutungsaspekt sprachlicher Zeichen in Verbindung gebracht – sowohl im Kontext der lexikalischen Semantik wie etwa im FrameNet-Projekt (vgl. Fillmore & Baker 2010: 320–324; Ruppenhofer 2018: 98–102) als auch in seiner Anwendung auf text- und diskurssemantische Fragestellungen (z. B. Ziem et al. 2014). Demgegenüber bezieht sich der auf Goffman zurückggehende Frame-Begriff insbesondere auf den situativ-pragmatischen Aspekt der Äußerungsbedeutung. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Frame-Konzepten sieht Tannen (1986; vgl. auch Tannen & Wallat 1987). Sie macht dies daran fest, dass Frames in der Tradition von Goffman (interactive frames) dynamische, online erzeugte Konstruktionen seien, während Frames in der Tradition von Fillmore (knowledge schemata) vorliegende kognitive Strukturen bezeichneten (vgl. Tannen 1986: 106–107; Tannen & Wallat 1987: 206–207). Ich halte diese Unterscheidung in dieser Form nicht für voll zutreffend: Zum einen beruhen auch die Frames der interaktionalen Soziolinguistik notwendigerweise auf vorliegenden kognitiven Strukturen, zum anderen werden auch die Fillmore-Frames beim Sprachverstehen dynamisch und interpretationsleitend erzeugt. Während Fillmore (1982: 117) noch analog zu Tannen zwischen cognitive frames und interactional frames unterscheidet, sehen Fillmore & Baker (2010: 338) keinen grundsätzlichen Unterschied mehr zwischen den Frames, die zur Erschließung des darstellungs- und des handlungsbezogenen Bedeutungsgehalts herangezogen werden: The same kind of frame analysis that can treat She ordered him to leave the room should be adaptable to I order you to leave the room and to Leave the room! In other words, the participants in a linguistic frame can easily be participants in the communication event itself. (Fillmore & Baker 2010: 338; Kursivdruck im Original)
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
Mein Eindruck ist, dass die beiden Forschungslinien letztlich heute getrennter dastehen, als sie es von der Sache her müssten. Neben unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Methodiken ist ein Grund für die Trennung auch in einer zuweilen antimentalistischen Haltung von Konversationsanalyse und interaktionaler Linguistik zu sehen (vgl. Deppermann 2011: 218; Marx & Meier 2018: 4). Auch die gemeinsame Grundauffassung von Bedeutungskonstitution und Kontextualisierung spricht dafür, keinen qualitativen Unterschied der jeweils zugrundliegenden und im Verstehensprozess konstituierten Wissensstrukturen zu vermuten (vgl. Poske 2018: 160). Aus meiner Sicht ist es somit gerechtfertigt, das verstehensrelevante Wissen, das sowohl bei der Erschließung des darstellenden als auch des handlungsbezogenen Bedeutungsaspektes eine Rolle spielt, in gleichem Maße als durch kognitive Frames strukturiert zu betrachten.
2.4.3 Geteiltes Wissen – Common Ground Ich habe in Abschnitt 2.4.1 darauf hingewiesen, dass das verstehensrelevante Wissen, das von einer Rezipientin aktiviert wird, sozial ist. Dies verweist darauf, dass Bedeutungskonstitution nur dann erfolgreich möglich ist, wenn Produzent und Rezipientin geteilte Annahmen über die durch sprachliche Zeichen indizierten Wissensstrukturen haben. Diese gemeinsame Wissensbasis wird auch als Common Ground bezeichnet. Eine einflussreiche Definition des Common Ground geht auf den Philosophen Robert Stalnaker zurück: It is common ground that φ in a group if all members accept (for the purpose of the conversation) that φ, and all believe that all accept that φ, and all believe that all believe that all accept that φ, etc. (Stalnaker 2002: 716)
Die so formulierte Annahme von geteilten Wissensbeständen als Verstehensvoraussetzung ist aufgrund ihrer infit-regressiven Struktur vielfach problematisiert worden (vgl. Horton 2012: 379; Sperber & Wilson 1995: 38; Clark 1996: 85–86). Alternative Vorschläge sprechen stattdessen von einer gemeinsamen kognitiven Umgebung (vgl. Sperber & Wilson 1995: 45; Liedtke 2018: 20) bzw. einer gemeinsamen Wissensbasis (Clark 1996: 94), die sich die Kommunikationsteilnehmenden gegenseitig indizieren und von der ausgehend sie Hypothesen darüber treffen können, welche Annahmen für sie und ihre Kommunikationspartner gelten. Dabei wird sowohl auf kulturell bedingte Wissensbasen (communal common ground) als auch auf persönliches bzw. personenbasiertes Erfahrungswissen (personal common ground) der Kommunikationsteilnehmenden zurückgegriffen (vgl. Clark 1996: 100–106; 113–115). So verstandener Common Ground muss in jeder Sprachgebrauchssituation zwischen den Sprachgebrauchsteilnehmerinnen etabliert werden, wozu wahr-
2.5 Das beim Verstehen konstituierte Wissen
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nehmbare – vor allem auch textuelle bzw. sprachliche – Hinweise auf gemeinsame Wissensbasen als Ausgangspunkt genommen werden. Dabei baut ‚neuer‘ Common Ground immer ‚schichtweise‘ auf bereits etabliertem Common Ground auf (vgl. Clark 1996: 119–120). Art und Umfang des Common Ground hängen dabei jeweils von der Konstellation der Gesprächspartnerinnen und dem Grad gegenseitiger Vertrautheit ab (vgl. Clark et al. 1983: 247). Je weniger vertraut die Interaktionsteilnehmer sind, desto mehr Aufwand muss betrieben werden, um eine gemeinsame Wissensbasis zu etablieren (vgl. Müller 2013: 109). In der mündlichen Face-to-Face-Kommunikation können Annahmen über geteilte Wissensstrukturen von den Kommunikationsteilnehmerinnen in den meisten Fällen ratifiziert oder korrigiert werden. Da dies in der schriftlich-textbasierten Kommunikation normalerweise weniger der Fall ist, kann hierbei ein größerer Aufwand zur Etablierung von Common Ground nötig sein. In dieser Beschreibung des geteilten Wissens zeigen sich somit deutliche Parallelen zum oben diskutierten Begriff der Kontextualisierung als Aktivierung des verstehensrelevanten Wissens anhand von Kontextualisierungsschlüsseln bzw. sprachlich-textuellen Indikatoren. Wie die Kontexte der Interaktionalen Soziolinguistik ist Common Ground also nicht allein Verstehensvoraussetzung, sondern auch Produkt der Verständigung selbst. Was analytisch als Common Ground zu erfassen ist, ist somit davon abhängig, an welcher Stelle des Interaktionsprozesses die linguistische Analyse ansetzt.
2.5 Das beim Verstehen konstituierte Wissen Die Auseinandersetzung mit dem verstehensrelevanten Wissen als geteiltem Wissen hat bereits angedeutet, dass der Übergang in der Betrachtung von Wissen als Voraussetzung des Verstehens zu Wissen als Produkt des Verstehens gewissermaßen fließend ist. Da es mir in der vorliegenden Arbeit primär darum geht, Wissen als Produkt des Verstehens zu beschreiben, möchte ich mich diesem Aspekt im letzten Abschnitt dieses Kapitels etwas näher zuwenden. Die hier angestellten Beobachtungen stellen gewissermaßen den Übergang zu Kapitel 3 dar, in dem ich mit der Textwelttheorie ein Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation vorstellen werde, das in vielen Punkten mit den folgenden Ausführungen übereinstimmen bzw. an diese anknüpfen wird.
2.5.1 Frame-Aktivierungen Dies bisherigen Ausführungen legen nahe, dass die lokale Konstitution geteilten Wissens im Verstehensprozess als Evozieren von Frames ausgehend von sprachlichen
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
Zeichen aufgefasst werden kann. Busse (2012: 539) bezeichnet die in einem konkreten textuellen Verwendungszusammenhang durch lexikalische Einheiten indizierten Frames als instantiierte Frames bzw. Frame-Instantiierungen. Dabei werden offene Slots durch textuell repräsentierte Informationen gefüllt und Frames ‚prädiziert‘ bzw. perspektiviert (vgl. Ziem 2008: 326). Eine wichtige Ergänzung zur Darstellung von Frame-Instanziierungen betrifft den Unterschied der Frame-Aktivierung, den Fillmore mit den Begriffen invocation und evocation bezeichnet (vgl. Fillmore & Baker 2010: 316). Im Anschluss an Fillmore unterscheidet Ziem (2008: 230) das Frame-Aufrufen (evocation) vom Frame-Abrufen (invocation): – Frame-Aufrufen beruht auf dem konventionellen Verhältnis von Form-Einheit (auf der langue-Ebene) und semantischer Einheit. – Frame-Abrufen betrifft das konkrete Verhältnis von phonologischer Konzeptualisierung (auf der parole Ebene) und Gebrauchsbedeutung (vgl. Ziem 2008: 233). Ziem gibt hier Fillmores Position wieder, dass das Verstehen einer Äußerung als Erschließen der Gebrauchsbedeutung deutlich mehr umfasse als das Aufrufen von Frames. Insbesondere müsse eine Rezipientin dabei drei Fragen beantworten (vgl. Ziem 2008: 234): – Welche Frames sind innerhalb der Textwelt zu diesem Zeitpunkt bereits aktiviert? – Welche Filler wurden den Slots dieser Frames zugewiesen? – Welche Funktion können diese Frames innerhalb des aktuellen Kommunikationssettings erfüllen? Ziem (2008: 234) spricht dabei von einem „interpretativen Prozess der Kontextualisierung im umfassenden Sinne“. Zur Herstellung von Kohärenz müssten dabei auch Frames abgerufen werden, die nicht unmittelbar von textuell-realisierten Sprachzeichen aufgerufen würden. Abgerufene Frames „resultieren stärker aus inferentiellen Konstruktionsleistungen“ (Ziem 2008: 235), um z. B. Kohärenz herzustellen. Aus dem Zusammegreifen dieser beiden Instanziierungsformen von Frames ergibt sich „some sort of ‚envisonment‘ of the ‚world‘ oft he text“ (Fillmore 1982: 122). Dies weist auf den unter 2.2.2. bereits angedeutet Aspekt hin, dass die Instanziierung/das Evozieren von Frames im Verstehen von Texten zum Aufbau einer komplexen mentalen Repräsentation der Textwelt beiträgt. Ich möchte im Nachfolgenden zwei Vorschläge für solche Repräsentationen aus dem Kontext der Kognitiven Linguistik darlegen: Die Theorie der Mentalen Räume und die Theorie der Mentalen Modelle.
2.5 Das beim Verstehen konstituierte Wissen
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2.5.2 Mentale Räume Ein elaboriertes Modell der Konstruktion lokaler Wissensrepräsentationen beim Textverstehen im Rahmen der Kognitiven Semantik stellt die Theorie der mentalen Räume (mental spaces) dar, die von Gilles Fauconnier entwickelt wurde (Fauconnier 1994; 1997; Fauconnier & Turner 1998). Fauconnier geht davon aus, dass beim Verstehen von Sprachgebrauchsereignissen wie Texten mentale Repräsentationen – vermutlich im Arbeitsgedächtnis – der Äußerungsbedeutung aufgebaut werden. Diese sogenannten mentalen Räume stellen dabei zunächst allgemein Sets von Elementen und deren Relationen zueinander dar (vgl. Fauconnier 1994: 16). Die daraus resultierenden Strukturen der Elemente in den mentalen Räumen beruhen auf Frames (vgl. Fauconnier 1997: 11). Mental spaces are small conceptual packets constructed as we think and talk, for purposes of local understanding and action. Mental spaces are very partial assemblies containing elements, and structured by frames and cognitive models. They are interconnected, and can be modified as thought and discourse unfold. (Fauconnier & Turner 1998: 137)
Während sich Fauconnier (1994: 29–32) bei seiner Systematisierung von verschiedenen Typen Mentaler Räume (u. a. time spaces und hypothetical spaces) auf die Repräsentation des darstellenden Bedeutungsaspektes beschränkt, weisen Dancygier & Sweetser (2005: 16–17) darauf hin, dass neben solchen content spaces auch speech-act spaces zur Repräsentation der pragmatischen Bedeutungskomponente sprachlicher Äußerungen angenommen werden müssten. Ehmer (2011: 35) und van Krieken & Sanders (2019: 503) bezeichnen die mentale Repräsentation der Kommunikationssituation in Form eines mentalen Raumes als reality space. Mentale Räume stellen selbst keine sprachlichen Strukturen dar. Sie beruhen jedoch auf textuellen Indikatoren, die als guidelines zum Aufbau von mentalen Räumen im Verstehensprozess interpretiert werden. Sprachliche Ausdrücke indizieren in dieser Form: – den Aufbau (neuer) Mentaler Räume, – das Einfügen von Elementen in Mentale Räume und – die Etablierung von (Frame-)Relationen zwischen diesen Elementen (vgl. Fauconnier 1994: 16–17). Zur Strukturierung der Elemente und ihrer Relationen wird beim Aufbau von mentalen Räumen auf Strukturen des Langzeitgedächtnisses in Form von Frames zurückgegriffen, die im Sprachverstehen evoziert bzw. auf- und abgerufen werden (siehe Abschnitt 2.5.1). Ein zentraler kognitiver Prozess ist dabei das mapping, bei dem Objekte oder Strukturen von Frames auf mentale Räume, von mentalen Räumen auf andere mentale Räume oder aber von mentalen Räumen auf Frames
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
übertragen (gemappt) werden. Innerhalb von mentalen Räumen können somit ‚neue‘ Frame-Strukturen arrangiert werden (vgl. Fauconnier 1997: 12). Dies geschieht bspw. beim sogenannten blending. Blending bezeichnet eine kognitive Operation, bei der mehrere mentale Räume miteinander zu einem neuen mentalen Raum (dem blend) verschmolzen werden (vgl. Fauconnier & Turner 1998: 137–142; Fauconnier 1997: 149–151). Der Aufbau von neuen mentalen Räumen bzw. der Rückverweis auf bereits aufgebraute mentale Räume erfolgt durch sog. space builders. Typische space builders sind Präpositionalphrasen, Adverbien, Konnektoren und bestimmte SubjektVerb-Kombinationen (sagen, dass; glauben, dass usw.) (vgl. Fauconnier 1994: 17). Durch den Gebrauch von space builders werden beim Sprachverstehen komplexe Netzwerke miteinander verbundener mentaler Räume aufgebaut. Sanders et al. (2012: 196) gehen davon aus, dass in sprachlichen Interaktionen grundsätzlich ein von ihnen sog. Basic Communicative Spaces Network aufgebaut wird, indem u. a. content spaces und reality spaces enthalten sein müssen – also sowohl der darstellungs- wie der handlungsbezogene Bedeutungsaspekt einer Äußerung repräsentiert werden. Neue mentale Räume (daughter spaces) sind dabei immer in bereits bestehende mentale Räume (parent space) eingebettet (vgl. Fauconnier 1994: 17). Gilles Fauconniers Theorie der mentalen Räume hat sich im Rahmen des kognitiven Paradigmas als sehr einflussreich erwiesen und sich insbesondere in Bezug auf die Operation des blending zu einer allgemeinen (nicht mehr nur sprach- und verstehensbezogenen) kognitiven Theorie entwickelt. Anwendungen innerhalb der Linguistik beziehen sich dabei vor allem auf die Beschreibung grammatischer Formen und Konstruktionen (Sanders et al. 2009). Im Kontext der Angewandten Linguistik findet sie bislang nur in geringem Umfang Verwendung. Ein Beispiel dafür stellt die Arbeit von Ehmer (2011) dar, der den Aufbau mentaler Räume in Gesprächen analysiert und dazu Annahmen der kognitiven Linguistik mit einer konversationsanalytischen Methode verbindet. Tatsächlich findet Ehmer in seiner Arbeit „starke empirische Evidenz dafür, dass ein gemeinsamer mentaler Raum aufgebaut wird“, wenngleich keine Aussage über prinzipiell mögliche Unterschiede der von den Sprecherinnen aufgebrauten mentalen Räume getroffen werden könne (Ehmer 2011: 323). Allerdings bezieht sich Ehmers Analyse auf Formen animierter Rede in Gesprächen, also auf Fälle, in denen Gesprächsteilnehmer die Rolle von Figuren einnehmen und an deren Stelle kommunikativ handeln. Somit bezieht sich Ehmers Analyse vorrangig auf die Aushandlung des mentalen Raums der aktuellen Interaktionssituation. Der Zusammenhang von pragmatischer und propositionaler Bedeutungskomponente bleibt auch hier theoretisch wie methodisch zunächst unbefriedigend reflektiert.
2.5 Das beim Verstehen konstituierte Wissen
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2.5.3 Mentale Modelle Einen weiteren Vorschlag zum Aufbau mentaler Repräsentationen im Verstehensprozess stellt die auf Johnson-Laird zurückgehende Theorie der mentalen Modelle18 dar. Während die Theorie der mentalen Räume als Bestandteil des Paradigmas der Kognitiven Semantik begriffen werden kann, ist die Theorie der mentalen Modelle stärker im Zusammenhang mit psycholinguistischen und textlinguistischen Fragestellungen entwickelt worden und bezieht sich zumeist explizit auf das Textverstehen. Textweltmodelle Ich habe in Abschnitt 2.2.2 darauf hingewiesen, dass die lokale Wissenskonstitution bei Texten auch als Aufbau eines Textweltmodells bezeichnet werden kann. In dieser v. a. durch die Arbeiten von Schwarz (2000; 2001) in der Textlinguistik etablierten Terminologie spiegelt sich wider, dass mentale Modelle als Repräsentationsformat der referentiell-prädikativen bzw. darstellenden Bedeutung von Texten betrachtet werden können (vgl. Marx 2011: 113). Die v. a. von Philip Johnson-Laird entwickelte Theorie der mentalen Modelle bezieht sich nicht allein auf den Sprachgebrauch, sondern stellt eine allgemeine Fähigkeit des Geistes zur Erschließung der Wirklichkeit dar: „[...] human beings understand the world by constructing working models of it in their minds“ (JohnsonLaird 1983: 10). Mentale Modelle sind – notwendigerweise reduzierte – kognitive Repräsentationen analoger wahrgenommener Zustände der Welt, wobei der Grad der Analogie je nach Abstraktionsgrad des Modells variieren kann (vgl. JohnsonLaird 1983: 156). Johnson-Laird zieht mentale Modelle insbesondere zur Erklärung menschlicher Schlussfolgerungs- und Entscheidungsfindungsprozesse heran, die durch die Annahme logischer Prozesse nicht adäquat beschrieben werden können (vgl. Johnson-Laird 2001). Die textlinguistische Rezeption von Johnson-Lairds Konzeption rührt daher, dass Johnson-Laird (1981; 1983) mentale Modelle als wesentlich am Prozess des Textverstehens beteiligt ansieht, wo sie als einzig schlüssige Erklärung für die Referenz sprachlicher Ausdrücke gelten können (vgl. Johnson-Laird 1981: 355). Die Annahme eines mentalen Modells beim Sprachverstehen wird dabei von Johnson-Laird (1983: 377–382) in Opposition zu van Dijk & Kintschs (1978) textgrammatischem Modell textsemantischer Mikro- und Makrostrukturen entwickelt. Diese eignen sich laut Johnson-Laird (1983: 380) selbst im einfachen Fall kurzer Texte nicht dazu, das Phänomen der Koreferenz sprachlicher Ausdrücke angemessen zu
Zur Geschichte des Begriffes mentales Modell in der Textverstehensforschung vgl. Marx (2011: 112–113).
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
beschreiben. Anstatt eine komplexe Repräsentation propositionaler Inhalte zu vermuten, sei es vielmehr geboten, die propositionale Repräsentationsebene von der Repräsentationsebene des mentalen Modells zu unterscheiden, welche die Referenzfläche propositionaler Ausdrücke darstelle. Im Prozess des Textverstehens werden demnach propositionale Strukturen auf prozessual aufgebaute mentale Modelle übertragen (vgl. Johnson-Laird 1983: 156). Interessanterweise erkennen van Dijk & Kintsch (1983) zeitgleich mit der Veröffentlichung von Johnson-Lairds Mental Models (1983) die Notwendigkeit der Annahme mentaler Modelle an, anhand derer sich zum ersten Mal eine „true referential dimension“ in ein Modell des Textverstehens integrieren ließe (van Dijk 1995: 394). Ziel des Textverstehens sei es demnach, im Rückgriff auf erfahrungsbasierte Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis sogenannte situation models prozessual im episodischen Gedächtnis aufzubauen und konstant zu updaten, welche das Ereignis oder die Situation repräsentierten, von denen ein Text handle (vgl. van Dijk & Kintsch 1983: 336; van Dijk 1995: 394). Die Annahme, dass beim Textverstehen neben weiteren mentalen Repräsentationsebenen mentale Modelle im Arbeitsgedächtnis einer Rezipientin aufgebaut werden, kann in der Textverstehensforschung als weitestgehend etabliert gelten (vgl. Marx 2011: 116; Schnotz 2006: 225–26). Schwarz-Friesel (2007: 36) bezeichnet diese mentalen Modelle in Anlehnung an de Beaugrande & Dressler (1981) als Textweltmodelle. Sinnerzeugung im Sprachverstehen „entsteht dadurch, dass zu jeder sprachlichen Äußerung ein passendes mentales Modell konstruiert wird, das eine plausible Relation zwischen den sprachlich präsenten Informationen und den konzeptuellen Konfigurationen des Weltmodells etabliert“ (SchwarzFriesel 2004: 85). Die kognitive Struktur eines Textweltmodells beruht – wie auch bei mentalen Räumen – auf den aktivierten schematischen Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis bzw. den Frame-Strukturen des verstehensrelevanten Wissens und kann in Lernprozessen zur Modifikation der entsprechenden Wissensstrukturen beitragen (vgl. Bremer & Müller 2021: 214; van Dijk & Kintsch 1983: 396). Ich werde auf dieses Modell des Textverstehens bei der Diskussion der Textwelttheorie als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation nochmals zu sprechen kommen (siehe Kapitel 3.2.3). Kontextmodelle Die meisten Auseinandersetzungen mit mentalen Modellen betrachten primär den darstellungsbezogenen Bedeutungsaspekt sprachlicher Äußerungen. Eine Erweiterung der Theorie mentaler Modelle um die Ebene der Äußerungskontexte stellt Teun van Dijks Theorie der Kontextmodelle (context models) dar. Van Dijk (2006) geht dabei von der allgemein geteilten Feststellung aus, dass die Produktion und Interpretation von Äußerungen wesentlich von den sozialen, kulturellen, institutio-
2.5 Das beim Verstehen konstituierte Wissen
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nellen und situativen Umgebungen (environments) mitbestimmt werden. Zur Erklärung dieser Beeinflussung sprachlicher Strukturen durch situative Faktoren ist für van Dijk die Annahme einer mentalen Repräsentation solcher kommunikativer Kontexte als Schnittstelle (interface) von Sprachgebrauch und Umwelt notwendig (vgl. van Dijk 2006: 160–163). Aus Sicht von van Dijk sind mentale Modelle ideal dazu geeignet, solche Wissensstrukturen zu repräsentieren: From this brief informal characterization of mental models we may already conclude that they are also ideally suited to represent the mental ‚constructs‘ we called ‚contexts‘. That is, also contexts are subjective definitions of events or situations, but in this case not of the situation we talk about but the situation in which we now participate when we engage in talk or text. That is, contexts are the participants’ mental models of communicative situations. (van Dijk 2006: 170)
Kontextmodelle haben laut van Dijk dieselben Eigenschaften wie mentale Modelle zur Repräsentation des darstellenden Gehalts einer Äußerung (situation models): Sie seien Repräsentationen im episodischen Gedächtnis, subjektiv und so handhabbar organisiert, dass man sie im alltäglichen Sprachgebrauch dazu nutzen könne, die große Menge an möglichen Situationen schnell interpretieren zu können (vgl. van Dijk 2006: 169–170). Kontextmodelle seien dabei sowohl der Ausgangspunkt einer Sprecherin in der Textproduktion als auch das Ziel der Interpretation einer Hörerin, da sie wesentlich bestimmen, wie ein Text interpretiert wird. Somit bestimmen Kontextmodelle fortlaufend die Produktion und das Verständnis von Äußerungen, wobei sie nicht fixiert sind, sondern dynamisch adaptierfähig und wandelbar bleiben (vgl. van Dijk 2006: 170–171). Auf diese Art legen sie letztlich die Angemessenheit und Relevanz von sprachlichem Handeln in einem Kontext fest (vgl. van Dijk 2006: 171; van Dijk 2001: 18). Somit steuern Kontextmodelle wesentlich die Informationsverarbeitung im Hinblick auf kommunikative Ziele (vgl. van Dijk 2001: 19). Kontextmodelle beinhalten als individuell variable Konstrukte zudem auch persönliche Meinungen und Einstellungen und können von Ideologien beeinflusst werden. Sie sind Spezialfälle von allgemeinen Erfahrungsmodellen, in denen Menschen auch sich und ihre sozialen Beziehungen repräsentieren (vgl. van Dijk 2001: 18–19). Für die Beschreibung von Kontextmodellen fordert van Dijk (2006) eine relativ beschränkte Anzahl von Strukturelementen bzw. Konstituenten wie Setting, Teilnehmer und Handlung sowie relevante soziale Eigenschaften der Teilnehmer wie Geschlecht oder Alter. Zudem müssten Annahmen über das geteilte Wissen und vorherrschende Meinungen sowie Handlungsziele Bestandteile von Kontextmodellen sein, um der strategischen Zielgerichtetheit von Interaktionen und entsprechenden Situationsinterpretationen gerecht zu werden (vgl. van Dijk 2006: 171). So verstanden, vereinen Kontextmodelle Elemente des ‚materiellen Kontexts‘
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2 Wissenskonstitution im Sprachgebrauch
mit Aspekten des activity types (siehe Abschnitt 2.4.2.). Hinzu kommen Annahmen über das geteilte Wissen der Interaktanten (vgl. van Dijk 2006: 172). Die Theorie der mentalen Modelle weist einige Ähnlichkeiten mit der Theorie der mentalen Räume auf, wie auch Abbot (2000: 153) in einem Review-Artikel zu Fauconnier (1997) feststellt. Allerdings scheinen beide Forschungsrichtungen einander nur selten wahrzunehmen. Ich werde vorerst in einiger Vereinfachung auch mentale Räume als mentale Modelle begreifen19, bevor in Kapitel 3 mit den von Paul Werth angenommenen Welten eine dritte begriffliche Alternative vorgeschlagen wird, der ich mich letztlich anschließen werde.
2.6 Fazit Ich habe in diesem Kapitel versucht zu zeigen, dass die lokale Konstitution geteilten Wissens als die mentale Repräsentation der Bedeutung eines Sprachgebrauchsereignisses betrachtet werden kann. Es scheint mir angemessen, an dieser Stelle bereits zu betonen, dass eine solche Bedeutung linguistisch nur als Potential rekonstruierbar ist – ich werde im methodischen Teil der vorliegenden Arbeit genauer darauf eingehen, was das für die linguistische Analyse der lokalen Wissenskonstitution bedeutet (siehe Kapitel 6.1.2). Eine Analyse der lokalen Wissenskonstitution muss zudem berücksichtigen, dass diese immer in kollektive bzw. globale Prozesse der diskursiven Konstitution gesellschaftlichen Wissens eingebettet ist. Ich habe außerdem darauf hingewiesen, dass die lokal konstituierten Wissensstrukturen zum einen den referentiell-prädikativen bzw. darstellenden Bedeutungsaspekt sowie den situativ-pragmatischen bzw. handlungsbezogenen Bedeutungsaspekt repräsentieren müssen. In beiden Fällen kann die mentale Repräsentation dieser Bedeutung nach der hier vertretenen Ansicht als der Aufbau (lokaler) mentaler Modelle im Verstehensprozess einer Rezipientin rekonstruiert werden. Vorläufig können diese Bedeutungsrepräsentationen als Textweltmodell und Kontextmodell bezeichnet werden. Die Wissensstrukturen, die diese mentalen Modelle strukturieren, werden durch aktivierte Frames im verstehensrelevanten Wissen erzeugt. Frames werden von sprachlichen Zeichen, welche als textuelle Hinweise bzw. Kontextualisierungsschlüssel verstanden werden, indiziert, aktiviert, auf die mentalen Modelle übertragen und dort zu kohärenten Modellen miteinander rekonfiguriert. Die in den lokalen menta Diese Vereinfachung erscheint mir in linguistischer Hinsicht hier angemessen, wenngleich sie aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive wohl inakzeptabel ist, da in diesem Kontext beide Begriffsbedeutungen über die Bezeichnung der Repräsentationsformen von Bedeutung im Sprachgebrauch hinausgehen.
2.6 Fazit
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len Modellen aufgebauten neuen Wissensstrukturen können dann wiederum auf die bestehenden Wissensstrukturen im Langzeitgedächtnis der Interaktanten zurückwirken. Im nachfolgenden Kapitel 3 werde ich ein Modell zur linguistischen Beschreibung des Aufbaus solcher mentaler Modelle in der Textkommunikation vorschlagen und im Fortlauf der vorliegenden Arbeit aufzeigen, wie dieses zur wissensorientierten linguistischen Analyse rhetorischer Strategien genutzt werden kann.
3 Die Textwelttheorie 3.1 Eine kurze Einführung in die Textwelttheorie (TWT) Zur linguistischen Beschreibung der (lokalen) Wissenskonstitution werde ich in der vorliegenden Arbeit auf das Modell der Textwelttheorie (TWT) zurückgreifen (Werth 1999; Gavins 2007). Da dieses bislang in der deutschsprachigen Linguistik kaum rezipiert wurde und zudem in weiten Strecken eine eigene Terminologie verwendet, werde ich zunächst einen kurzen Überblick über die TWT geben, bevor ich im Fortlauf des Kapitels im Detail darauf eingehen werde, wie sich durch die TWT ein Modell zur Beschreibung der (lokalen) Wissenskonstitution entwickeln lässt, das für Analysen der Angewandten Linguistik operationalisiert werden kann.
3.1.1 Zum Forschungskontext der TWT Die TWT wurde vom englischen Linguisten Paul Werth in den 1980er und -90er Jahren in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt und findet sich in umfassender Form in dem postum erschienen Buch Text worlds: Representing conceptual space in discourse (Werth 1999) dargelegt. Werth (1999: 50) wählt zur Bezeichnung seiner Theorie den Namen Cognitive Discourse Grammar und sieht sie als Zusammenführung von Kognitiver Semantik und Textlinguistik (vgl. Werth 1999: 46). Während die TWT innerhalb der Linguistik auf wenig Widerhall stieß, erfuhr sie eine Rezeption in den literaturwissenschaftlich ausgerichteten englischsprachigen cognitive stylistics bzw. poetics (Hidalgo-Downing 2000; Gavins 2005; 2007; Gavins & Lahey 2016; Stockwell 2020)20. Hier wurde auch der Name Text World Theory propagiert – insbesondere durch die Aufarbeitung und Weiterentwicklung von Werths Arbeit durch die englische Literaturwissenschaftlerin Joanna Gavins, die ein Einführungsbuch unter dem Namen Text World Theory – an introduction (Gavins 2007) verfasste. Auch wenn sie, wie sich im Verlauf dieses Kapitels zeigen wird, gewissermaßen verkürzend ist, werde ich mich dieser mittlerweile etablierten Bezeichnung anschließen und in der vorliegenden Arbeit von der Textwelttheorie (TWT) sprechen. Für die bisher ausbleibende Rezeption der TWT innerhalb der Linguistik mag es mehrere Gründe geben – einige davon werden in den folgenden Ausführungen zu Tage treten. Nach meiner Einschätzung stellt sie jedoch gerade für wissensbe-
Innerhalb der deutschsprachigen Literaturwissenschaft findet sich eine Rezeption der TWT bei Lukoschek (2019). https://doi.org/10.1515/9783111077369-003
3.1 Eine kurze Einführung in die Textwelttheorie (TWT)
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zogene linguistische Textanalysen aufgrund ihrer hohen Anschlussfähigkeit an etablierte linguistische Konzepte einen äußerst produktiven Ausgangspunkt dar. So lassen sich, wie im Verlauf dieses Kapitels klar werden wird, neben den Bezügen zur Kognitiven Semantik auch solche zur Theorie der mentalen Modelle (siehe Kapitel 2.5.3) sowie zu weiteren textlinguistischen Konzepten herausarbeiten. Ich werde im Folgenden eine auf den Zweck der vorliegenden Arbeit zugeschnittene Konzeption der TWT vorschlagen, die sich im Wesentlichen an den maßgeblichen Ausführungen bei Werth (1998; 1999) und Gavins (2005; 2007) orientiert, darüber hinaus jedoch einige von mir vorgenommenen Modifikationen und Erweiterungen aufweist, die eine bessere Integration in den Bestand der (text-)linguistischen Forschung zur Wissenskonstitution ermöglichen soll.
3.1.2 Die Grundidee der TWT Die TWT knüpft grundsätzlich an das bereits erwähnte Programm einer verstehensorientierten Linguistik an und betrachtet den Sprachgebrauch aus der Perspektive einer Rezipientin, die an einem Sprachgebrauchsereignis (discourse21) teilnimmt. Was sie dabei in erster Linie rezipiert, ist ein wahrnehmbares komplexes sprachliches Zeichen22 (text), dessen Interpretation eine Rezipientin zum Aufbau von geteiltem Wissen führt. Die TWT betrachtet Sprachgebrauchsereignisse als „joint venture for building up a common ground“ (Werth 1999: 85; vgl. auch Werth 1998: 417–418). Common Ground meint somit in der TWT nicht die Voraussetzung, sondern das Resultat des Textverstehens. Ich werde Common Ground deshalb im Fortlauf der vorliegenden Arbeit als TWT-Terminus mit dem lokal konstituierten geteilten Wissen gleichsetzen (siehe auch Abschnitt 3.2.1). Der Aufbau des geteilten Wissens im Verstehensprozess einer Rezipientin verläuft dabei text-driven, d. h. die lokalen Strukturen des geteilten Wissens werden immer ausgehend von den zu interpretierenden sprachlichen Zeichen rekonstruiert (Werth 1999: 150). In ihrer epistemischen Grundorientierung entspricht die die TWT somit dem in Kapitel 2 etablierten Verständnis von Textverstehen als lokaler Wissenskonstitution. Ich habe in Kapitel 2 dargelegt, dass die Konstitution geteilten Wissens im Verstehensprozess als lokaler und dynamischer Aufbau mentaler Modelle begrif-
Die in den Klammern angeführten englischen Begriffe, entsprechen der Begriffsverwendung bei Werth (1999) und Gavins (2007). Ich verwende den Begriff sprachliches Zeichen im Folgenden als Bezeichnung für die wahrnehmbare Seite des Sprachzeichens, in der Terminologie de Saussures (2001: 76–79) also das signifiant.
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3 Die Textwelttheorie
fen werden kann. Diese mentalen Modelle werden in der TWT Welten (worlds) genannt (vgl. Werth 1999: 51; 74). Sie stellen den Kerngegenstand der TWT dar: My main thesis is that all of semantics and pragmatics operates within a set of stacked cognitive spaces, termed ‘mental worlds’. Connections with ‘reality’ are stipulated rather than built in, and indeed the very notion of reality itself is an assumption, which we readily accept, but have no direct access to. My argument for this position, in a nutshell, is that uses of language presuppose occurrence in a context of situation, and that on top of this they also presuppose the existence of a conceptual domain of understanding, jointly construed by the producer and the recipient(s). The former is the immediate situation (the representation of which I will henceforth call the discourse world) and the latter a text world. (Werth 1999: 17)
Mit dem Begriff Welten werden in der TWT also modellhafte mentale Repräsentationen bezeichnet, durch deren Konstruktion Bedeutung im Sprachgebrauch erschlossen wird. Die verwendete Terminologie spiegelt wider, dass Werth (1999) seine Theorie ausgehend von der Mögliche-Welten-Semantik entwickelt. Er kritisiert an dieser, dass mögliche Welten für die Erklärung von textueller Bedeutung zu strikt definiert seien. Gerade im Hinblick auf kontextuelle und implizite Bedeutungsaspekte bedürfe es deutlich reichhaltigerer Modelle (rich models), die weitergehende kontextuelle Informationen beinhalten (vgl. Werth 1999: 68–72). Solche reichhaltigen Modelle sieht er durch die Theorie der mentalen Modelle ermöglicht, wobei er sich explizit auf die in Kapitel 2.5.3 erwähnten Arbeiten von JohnsonLaird und van Dijk bezieht (vgl. ebd.: 73). Es scheint daher angemessen, Welten als TWT-Bezeichnung für die im Verstehensprozess konstruierten mentalen Modelle anzusehen. An weiteren Stellen setzt Werth Welten außerdem mit den in Kapitel 2.5.2 erwähnten mentalen Räumen Fauconniers gleich (vgl. Werth 1998: 419; Werth 1999: 20). Allerdings, so bemängelt Werth, berücksichtige auch die Theorie der mentalen Räume den (situativen) Kontext nicht angemessen und bezöge sich weniger auf wirkliche Texte als auf einzelne Sätze (vgl. Werth 1999: 77–78). Laut Werth (1999: 20) brauche das Verstehen von Sätzen bzw. von den durch Sätze repräsentierten Propositionen aber einen deutlich reichhaltigeren „conceptual background“. Ähnlich wie Fauconnier begreift Werth (1999: 77) Welten als grundsätzlich räumlich konzeptualisierte mentale Repräsentationsformate. Im Gegensatz zu mentalen Räumen repräsentieren Welten allerdings „complex states of affairs23“ bzw. „richly defined situations, complete with characters, and specified objects having actual relationships, carrying out concrete actions in adequately depicted circumstances“ (ebd.: 76; 78).
Kursivdruck im Original.
3.1 Eine kurze Einführung in die Textwelttheorie (TWT)
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Welten stellen grundsätzlich mentale Repräsentationen von Situationen dar. Beim Verstehen einer Äußerung bzw. eines Textes müssen dazu zwei Arten von Situationen mental als Welten repräsentiert werden (vgl. Werth 1999: 81): – die Kommunikationssituation des Sprachgebrauchsereignisses, in dem sich die Rezipientin befindet: Durch die Repräsentation dieser Situation wird der handlungsbezogene Bedeutungsaspekt erschlossen. Die mentale Repräsentation der Kommunikationssituation wird in der TWT Äußerungswelt24 (discourse world) genannt. – die Situation der Gegenstände und Sachverhalte, die durch die Darstellungsfunktion des sprachlichen Zeichens repräsentiert wird: Dadurch wird der darstellende Bedeutungsaspekt erschlossen. Diese mentale Repräsentation wird in der TWT Textwelt (text world) genannt. Als mentale Repräsentation dessen, worüber der Text spricht, entspricht diese Annahme dem in Kapitel 2.5.3 besprochenen Textweltmodell. Äußerungswelt (ÄW) und Textwelt (TW) werden von einer Rezipientin im Verstehensprozess immer aufgebaut. Das betrifft auch Fälle, in denen das, worüber gesprochen wird (TW), die aktuelle Kommunikationssituation (ÄW) ist (vgl. Werth 1999: 86–87). In konkreten Fällen können jedoch noch weitere Welten hinzukommen, um komplexe Bedeutungsaspekte zu repräsentieren (siehe hierzu ausführlich Kapitel 3.5). Das resultierende Ensemble miteinander verbundener Welten (bzw. mentaler Modelle) werde ich in dieser Arbeit als Weltenarchitektur bezeichnen25. Die analytische Rekonstruktion dieser Weltenarchitektur, ausgehend von sprachlichen Zeichen, stellt gewissermaßen den Kern der TWT dar. Werth (1999: 182) nimmt an, dass alle im Verstehen konstruierten Welten grundsätzlich strukturell und qualitativ gleich aufgebaut sind (vgl. auch Stockwell 2020: 163). Der Unterschied von ÄW und TW bezieht sich aus Sicht der TWT lediglich auf die darin repräsentierten Bedeutungsdimensionen sprachlicher Äußerungen. Die Grundstruktur von Welten besteht aus den folgenden Komponenten (vgl. Werth 1999: 82–83): – Protagonisten (participants im Falle der ÄW bzw. characters im Falle der TW) – andere Entitäten wie bspw. Objekte, Gegenstände u. Ä. – Relationen zwischen Entitäten – Qualitäten von Entitäten – Orte – zeitliche Strukturen Ich wähle als deutsche Entsprechung den Begriff Äußerungswelt, da mir der Begriff Sprachgebrauchsereigniswelt als übermäßig kompliziert erscheint. Cushing & Giovanelli (2019: 205) sprechen von Text World Theory architecture. Mir erscheint Weltenarchitektur sowohl einfacher als auch zutreffender.
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3 Die Textwelttheorie
Ein zentrales Charakteristikum der TWT, das bei Werth und Gavins allerdings lediglich im Hinblick auf die TW besprochen wird, ist, dass das durch die Welten repräsentierte Wissen immer eine Vordergrund-Hintergrund-Struktur aufweist, die aus einer entsprechenden Vordergrund-Hintergrund-Struktur der Welten resultiert (vgl. Werth 1999: 119). Die Strukturen der TW repräsentieren bspw. als Hintergrund den deiktischen Rahmen, in den vordergründig Propositionen eingebettet sind, die etwa der Darstellung von Ereignissen, Erzählungen, aber auch bspw. von Argumentationen dienen. Die Vordergrundinformation der TW bezeichnet Werth als function advancing propositions (FAPs). Die Textwelt beinhaltet relevante Kontextinformation für das Verstehen der FAPs.
3.1.3 Zum Universalitätsanspruch der TWT Bevor ich im Detail darauf eingehen werde, wie sich der oben skizzierte Verstehensprozess im Rahmen der TWT beschreiben lässt, möchte ich als Abschluss der kurzen Einführung in die TWT eine wichtige Einschränkung vornehmen, die sich aus einer Betrachtung des von Werth (1999) und Gavins (2007) vorgeschlagenen TWT-Modells ergibt: Die von Werth und Gavins formulierte TWT erhebt einen umfassenden Universalitätsanspruch. Sowohl Werth (1999) als auch Gavins (2007) heben hervor, dass es sich bei der TWT ihrer Ansicht nach um ein grundsätzliches Modell des Sprachverstehens handle, mit dem sich prinzipiell alle Sprachgebrauchsereignisse beschreiben ließen. Als Prototyp eines Sprachgebrauchsereignisses betrachten sie dabei die unmittelbare Face-to-Face-Kommunikation (vgl. Werth 1999: 85; Gavins 2007: 18). Gleichzeitig jedoch lassen die Arbeiten im Kontext der TWT eine eindeutige Fokussierung auf geschriebene Texte erkennen. Tatsächlich entwickeln sowohl Werth (1999) als auch Gavins (2007) ihre Vorstellungen der TWT jeweils anhand empirischer Beispiele aus literarischen Texten. Dies wirkt sich nicht nur auf die eher mangelhafte Konzeption der ÄW aus (siehe Kapitel 3.4), sondern auch auf die ebenfalls kaum erfolgende Reflexion semiotischer und medialer Eigenschaften sprachlicher Zeichen. So werden etwa Aspekte der Multimodalität weder von Werth (1999) noch von Gavins (2007) mit in Betracht gezogen. Ich werde die TWT deshalb in der vorliegenden Arbeit – entsprechend ihrer empirischen Herleitung bei Werth (1999) und Gavins (2007) – in erster Linie als ein Modell der Textkommunikation begreifen. Dabei werde ich in der vorliegenden Arbeit ein sehr stark eingeschränktes Verständnis von Text zugrundlegen. Unter Text verstehe ich im Folgenden eine abgeschlossene „kommunikative Okkurrenz“ (de Beaugrande & Dressler 1981: 3), bei der komplexe sprachliche Zeichen als Schrift auf einem Canvas (bspw. einer Papierseite oder einer Bildschirmoberfläche) realisiert und in multimodale Komplexe integriert sind (vgl. Wildfeuer et al. 2020). Diese starke Einschränkung des
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation
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Gegenstandsbereichs und zugleich des explanatorischen Anspruchs der TWT führt zu einer signifikanten Erweiterung und Präzisierung ihres Modellcharakters. Ihre Übertragbarkeit auf andere Formen des Sprachgebrauchs jedoch muss demgegenüber momentan weiterhin als Desiderat angesehen werden.
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation Damit das linguistische Verständnis der Wissenskonstitution durch die TWT produktiv erweitert werden kann, muss gleichzeitig die TWT systematisch durch den Anschluss an etabliere linguistische Erkenntnisse (wie die in Kapitel 2 erwähnten) erweitert werden. Nach meiner Auffassung kann sie so als produktives Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation für Analysen der Angewandten Linguistik genutzt werden. Ich werde deshalb im Folgenden auf einige grundsätzliche Aspekte eingehen, die aus meiner Sicht in der TWT von Werth (1999) und Gavins (2007) eher problematisch sind und/oder um die die TWT im Lichte etablierter (text-)linguistischer Erkenntnisse nochmal erweitert bzw. modifiziert werden muss.
3.2.1 Textverstehen als inkrementeller Wissensaufbau Die TWT beschreibt den Aufbau von geteiltem Wissen als inkrementellen Prozess. Im Prozess des Textverstehens werden dabei schrittweise Wissensstrukturen, die Werth (1999: 130) als Propositionen bezeichnet, in den Common Ground eingeführt, wodurch dieser geupdatet wird. Was als Common Ground gilt, ist also relativ zu einer aktuellen Position im Verstehensprozess (vgl. Werth 1999: 49). Das geteilte Wissen ist somit hochdynamisch und wird fortwährend erweitert und überarbeitet. Dabei können auch zu einem Zeitpunkt bestehende Annahmen durch neue Information widerrufen und modifiziert werden (vgl. Werth 1999: 120). Relevant für die Übernahme von Propositionen in den Common Ground sind dabei die Meta-Kriterien Kohärenz (semantische Anschlussfähig einer Proposition), Informativität (kommunikative Zweckmäßigkeit) und Kooperativität (vgl. Werth 1999: 49–50). Das der TWT zugrundeliegende Verständnis von Common Ground-Konstruktion als inkrementellem Prozess stimmt im Wesentlichen mit etablierten text- und psycholinguistischen Theorien des Textverstehens überein. Allerdings zeigen sich dabei auch Probleme, auf die ich an dieser Stelle kurz eingehen möchte.
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3 Die Textwelttheorie
Zum einen findet sich bei der Diskussion des Inkrementationsprozesses der Begriff der Proposition zentral wieder, der aber an dieser Stelle nicht ausführlicher diskutiert wird. Insbesondere bleibt dabei unklar, welches kognitive Repräsentationsformat solche Propositionen und damit auch der Common Ground haben. Zum anderen suggeriert Werth (1999: 146) mit der Formulierung „propositions making up the text“, dass Propositionen in Texten auf nicht näher spezifizierte Weise enthalten seien. Gemäß des in Kapitel 2 etablierten Verständnisses sind jedoch jegliche semantische Bedeutungskomponenten eines Texts – und damit auch Propositionen – (Re-)Konstruktionsleistungen einer Rezipientin. Entsprechend erscheint also auch eine von Werth (1999: 146) vorgenommene Unterscheidung textueller Propositionen ‚außerhalb‘ des Wissensbasis einer Rezipientin und inferierter Propositionen ‚innerhalb‘ dieser Wissensbasis als wenig zielführend. Stattdessen scheint es sinnvoll, im Anschluss an Ziem (2008) von Propositionen zu sprechen, die anhand textueller Indikatoren aus dem verstehensrelevanten Wissen einer Rezipientin aufgerufen und abgerufen werden (siehe Kapitel 2.5.1). Als schwerwiegenderes Defizit an Werths Inkrementationskonzeption sehe ich jedoch an, dass Werth hier nicht systematisch auf die eigentlich in der TWT zentralen Welten eingeht. Aus den weiteren Ausführungen in Werth (1999; insbesondere 117–124) lässt sich allerdings schließen, dass Common Ground verstehensrelevantes Wissen (im Langzeitgedächtnis) einer Rezipientin bezeichnet, das text-driven aktiviert und in das lokal konstituierte Wissen in Form einer Weltenarchitektur (im Arbeitsgedächtnis) übertragen wird. Common Ground bezeichnet also in der TWT nicht im Allgemeinen kulturelle und persönliche Wissensvoraussetzungen, sondern das lokal konstituierte geteilte Wissen auf der Basis angenommener geteilter Wissensvoraussetzungen von Textproduzent und Textrezipientin. Eine solche Annahme des inkrementellen Common Ground-Aufbaus als einen dynamischen Prozess des Aufbaus mentaler Modelle (bzw. Welten), stimmt unter den hier angefügten Modifikationen im Wesentlichen mit anderen textlinguistischen Überlegungen überein, die ebenfalls von einer dynamisch-inkrementellen Konstruktion mentaler Modelle im Zusammenspiel von Inputdaten (bzw. Text) und (verstehensrelevantem) Weltwissen ausgehen (vgl. Marx 2011: 114; Schwarz 2001: 20).
3.2.2 Propositionen und Frames Ungeklärt und durchaus problematisch ist das Verständnis des Begriffs Proposition in der TWT, der dort an mehreren zentralen Stellen Verwendung findet. Neben der Beschreibung der Common Ground-Inkrementation betrifft dies insbesondere die Beschreibung der function-advancing propositions als epistemische Strukturen der Textwelt (siehe dazu ausführlich Kapitel 3.3.3). Es liegt nahe, Propositionen in der
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation
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TWT als das zentrale Repräsentationsformat des geteilten Wissens anzusehen. Das ist zum einen vorteilhaft, da der Begriff der Proposition ein gut etabliertes textsemantisches Kernkonzept darstellt (vgl. bspw. Adamzik 2016: 224; Heinemann & Heinemann 2002: 74). Auch in der Operationalisierung für rhetorische Analysen wird sich die Berücksichtigung von Propositionen in der TWT als sehr gewinnbringend herausstellen (siehe dazu Kapitel 4.2.4). Allerdings ist die Behandlung des Propositionsbegriffes in der TWT durchaus problematisch: Zum einen kommt der Begriff zwar an mehreren Stellen vor, allerdings werden diese nicht systematisch aufeinander bezogen. Außerdem sind Propositionen innerhalb der TWT nicht einheitlich definiert. Bei seiner Besprechung der function-advancing propostions verwendet Werth (1999) den Begriff Proposition nicht als Fachbegriff der (bspw. modalen) Logik, sondern versucht, ein genuin linguistisches Verständnis von Proposition zu entwickeln, indem er an die Erkenntnisse der Kognitiven Semantik anschließt. Für Werth (1999) ist eine Proposition zunächst eine „unit of meaning“ (194), die vergleichbar mit einem „scenario of some kind“ (195) sei, wobei er sich explizit an Fillmores Kasusgrammatik anlehnt (vgl. 196). Anschließend führt Werth (1999: 198) Propositionen grundsätzlich auf zwei Grundtypen (path-expressions und modifications) zurück, die er der Kognitiven Grammatik Robert Langackers entnimmt. Gavins (2007: 43; 56–62) übernimmt zwar die von Werth vorgeschlagene Notationsweise für Propositionen (horizontale und vertikale Pfeile), interpretiert diese jedoch im Sinne von Konzepten der Functional Systemic Linguistics um: An die Stelle von modifications treten relational processes, während paths durch material processes ersetzt werden. Später werden noch existential processes eingeführt, ohne jedoch deren Status oder Notationsweise zu klären (vgl. Gavins 2007: 62). Der Begriff der Proposition selbst bleibt bei Gavins abgesehen davon ungeklärt. In Anbetracht dieser Uneinigkeit möchte ich in der vorliegenden Arbeit eine dritte Alternative vorschlagen, die auf Werths (1999: 195) Anmerkung zurückgeht, Propositionen seien als Szenen im Sinne von Fillmore zu begreifen. Diesem Gedanken folgend, lassen sich die für die TWT hochrelevanten Propositionen als durch sprachliche Zeichen indizierte Frame-Strukturen begreifen. Der Gedanke, dass Propositionen als Frame-Strukturen rekonstruiert werden können, findet sich auch bei Ziem (2008: 286–288). Ziem leitet diese Auffassung aus Parallelen von Frame-Strukturen und der Beschreibung des Aussagegehalts von Sätzen durch „Prädikationsrahmen“ bei von Polenz (2008: 174) her: Ein evozierter Frame entspricht dem referentiellen Gehalt einer Proposition und das, was von einem Referenzobjekt prädiziert wird, stimmt strukturell mit Füllwerten und Standardwerten im hier favorisierten Frame-Modell überein. Leerstellen zeigen entsprechend an, welche Prädikationen potentiell vollzogen werden können. (Ziem 2008: 287)
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3 Die Textwelttheorie
Ein solches Verständnis von Propositionen als Frame-Strukturen bringt für die TWT einige Vorteile mit sich: Zum einen betont Werth (1999: 52; 122; 194) an mehreren Stellen, dass die Repräsentation der Elemente einer Textwelt auf dem Evozieren von Frame-Wissen beruhe. Auch wenn er diesen Punkt nicht weiter ausführt, halte ich es für plausibel, davon auszugehen, dass die konzeptuellen Komponenten einer TW dementsprechend grundsätzlich als (instantiierte) Frame-Strukturen repräsentiert werden. Die textlinguistische Auffassung, Propositionen als Frame-Strukturen zu begreifen, lässt sich zudem gut daran anschließen, dass auch in der psychologischen Textverstehensforschung Propositionen als Prädikat-Argument-Strukturen im Anschluss an Fillmores Kasusgrammatik aufgefasst werden (vgl. Christmann & Groeben 1999: 153). Dies wirkt sich besonders vorteilhaft auf den Versuch aus, die Konstruktion von Welten im Sinne der TWT in ein Verhältnis zu kognitiven Modellen des Textverstehens zu setzen, worauf ich im folgenden Abschnitt eingehen möchte.
3.2.3 Mentale Repräsentationen beim Textverstehen Ich habe in Kapitel 2.5.3 bereits darauf hingewiesen, dass die Annahme von mentalen Modellen aus der psychologisch inspirierten und kognitiv-orientierten Forschung zum Textverstehen entstammt. Wie auch in der TWT wird hier davon ausgegangen, dass die Konstruktion mentaler Modelle als wesentlicher Modus der kognitiven Repräsentation der referentiellen Textbedeutung dient. Daneben werden allerdings weitere kognitive Repräsentationsebenen angenommen, die beim Textverstehen aufgebaut werden und eng mit der Konstruktion der mentalen Modelle wechselwirken26 und die in der TWT nicht berücksichtigt sind. Zusätzlich zur Ebene der mentalen Modelle nehmen die gängigen Theorien des Textverstehens zwei weitere Repräsentationsebenen an: Eine Repräsentation der Textoberfläche sowie eine propositionale Ebene (vgl. Beckers 2012: 230; Christmann 2006: 613–618; Hausenblas 2017: 98–100; Seger et al. 2021: 1416–1417). Tabelle 3.1 gibt einen Überblick über die Bezeichnungen der einander weitestgehend entsprechenden mentalen Repräsentationsebenen in gängigen Theorien des Textverstehens. Sie führt vor Augen, dass die von der TWT in den Blick genommenen Welten im Verstehensprozess von weiteren mentalen Repräsentationen ergänzt werden. Im Unterschied zu den hier genannten Modellen setzt die TWT jedoch an die Stelle eines mentalen Modells eine komplexe Struktur der Weltenarchitektur, die immer zumindest aus ÄW und TW besteht.
Strohner (2006: 200) sieht in der Miteinbeziehung weiterer kognitiver Repräsentationsformate einen Vorteil von Theorien mentaler Modelle beim Textverstehen.
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation
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Tabelle 3.1: Mentale Repräsentationen beim Textverstehen. Johnson-Laird (: ); Kürscher & Schnotz (: ); Schnotz (: –)
van Dijk & Kintsch ()
Schwarz (: –); Schwarz (: ); Schwarz-Friesel (: )
Repräsentation der Textoberfläche
surface form
surface structure
propositionale Ebene
text base
lexical meaning of text structure, textsemantische Propositionsbasis
mentales Modell
situation model
Textweltmodell
Eine vor allem terminologische Herausforderung für die Zusammenführung von TWT und solchen Textverstehenstheorien betrifft das Verhältnis von propositionaler Ebene bzw. Propositionsbasis und der Ebene mentaler Modelle: Wie im letzten Abschnitt deutlich gemacht wurde, betrachtet die TWT Propositionen als kognitive Repräsentationsformate auf der Ebene der mentalen Modelle (siehe auch Kapitel 3.3.3), während Propositionen in den hier angegebenen Modellen des Textverstehens auf einer separaten propositionalen Ebene verortet werden27. Für eine Integration der TWT in das etablierte Modell des Textverstehens ist also zu prüfen, inwiefern sich diese Konzeptionen einander widersprechen, oder ob es dabei zu Redundanzen kommen könnte. Aufgrund der festen Verankerung in der bestehenden Forschung halte ich es grundsätzlich für sinnvoll, an einer Trennung von propositionaler Ebene und der Ebene der mentalen Modelle bzw. Welten festzuhalten. Tatsächlich wird mit der Annahme, dass Welten Propositionen enthalten, die Annahme einer zusätzlichen propositionalen Ebene oberhalb der Ebene der mentalen Modelle nicht obsolet. Vielmehr kann die TWT dadurch sogar an Erklärungstiefe und -schärfe gewinnen. Ich gehe davon aus, dass sowohl die mentalen Repräsentationen auf der propositionalen Ebene als auch jene auf der Ebene der mentalen Modelle grundsätzlich auf dem Frame-Format basieren. Letzteres stimmt meines Erachtens damit über ein, dass alle genannten Textverstehensmodelle davon ausgehen, dass mentale Modelle oder mentale Räume durch schematische Wissensstrukturen strukturiert werden (siehe Kapitel 2.5.2 und 2.5.3). Gleichzeitig ist auch die semantische Repräsentation ausgehend vom Wortlaut auf der propositionalen Ebene im Kontext der Kognitiven Semantik nur als Frame-Struktur sinnvoll beschreibbar. Dennoch sind beide Ebenen aufgrund des gleichen Repräsentationsformates nicht direkt auch redundant.
Dies trifft auch auf Schwarz (2001: 18) zu, die die Einheiten der semantischen Repräsentationsebene klar als Propositionen bezeichnet.
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3 Die Textwelttheorie
Vielmehr gehe ich davon aus, dass die kognitiven Strukturen der propositionalen Ebene im Interpretationsprozess auf die konstruierten Welten auf der Ebene der mentalen Modelle gemappt werden (siehe Kapitel 6.3.3). Da ich davon ausgehe, dass die Weltenarchitektur selbst ‚eigene‘ Strukturmerkmale aufweist (siehe ausführlich Kapitel 3.5), die der propositionalen Ebene nicht zukommen, ergeben sich trotz desselben Repräsentationsformates zwei unterschiedliche Repräsentationsebenen. Überdies ergibt sich so der Vorteil, dass das Mapping von einer Ebene auf die andere nicht durch Unterschiede im Repräsentationsformat verkompliziert wird.
3.2.4 Multimodales Textverstehen Mit der Integration der TWT in ein auf mehreren Ebenen mentaler Repräsentationen basierendes Verständnis des Textverstehens lässt sich nun auch einem weiteren Defizit begegnen, dass sich in der von Werth (1999) und Gavins (2007) vorgeschlagenen TWT ausmachen lässt: Nicht nur innerhalb der Linguistik hat sich unter dem Schlagwort Multimodalität ein Bewusstsein dafür herausgebildet, dass ein Text nicht alleine auf seinen sprachlichen Anteil reduziert werden kann, sondern daneben auch Aspekte wie Typografie oder Bilder beinhaltet, die die Textbedeutung ebenso wesentlich mitbestimmen (vgl. Bucher 2010: 44; 2019: 661; Stöckl 2015: 52). Der Aspekt der Multimodalität wird allerdings in der TWT bislang nicht berücksichtigt. Ich werde deshalb im Folgenden den Versuch unternehmen, das TWT-Modell im Rahmen des vorliegenden Untersuchungsinteresses und in Bezug auf Textkommunikation um einige multimodale Aspekte zu erweitern. Multimodale Texte Die zeitgenössische Linguistik versteht Texte nicht als rein ‚sprachliche‘ Entitäten. Im Zuge der „multimodalen Wende“ (Bucher 2010: 42) wird von einer ‚grundsätzlichen‘ bzw. konstitutiven Multimodalität des Sprachgebrauchs ausgegangen (vgl. Krämer 2010: 13; vgl. auch Müller 2015: 103). Laut Stöckl (2016: 20) lässt sich ein multimodaler Text „als Zusammenschluss mehrerer unterschiedlicher Zeichenmodalitäten zu einem kohäsiven und kohärenten Ganzen definieren, dessen musterhafte Inhaltsund Handlungsstruktur sowie Verwendungsweisen der Modalitäten typisierten Gebrauchssituationen entspringen und bestimmte kommunikative Funktionen erlauben“. Das sprachliche Zeichen bzw. der text, der in der TWT als Indikator für den Aufbau des geteilten Wissens angesehen wird, umfasst somit deutlich mehr als den verbalen Wortlaut und stellt sich vielmehr als multimodaler Zeichenkomplex dar. Für den hier eingegrenzten Textbegriff betrifft diese Multimodalität insbesondere die folgenden Aspekte:
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation
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Typografie: Bereits der verbale Text zeichnet sich durch paraverbale Multimodalität aus, indem er durch Schrift realisiert ist. Die Schrift kann in unterschiedlichen Schriftarten (Typen), -farben usw. realisiert sein, die einen wesentlichen Beitrag zur Bedeutungskonstitution leisten können (vgl. Spitzmüller 2013a). Es ist ein Charakteristikum von Schrift, dass sie stets räumlich auf einer (digitalen oder in Papier vorhandenen) Seite (dem canvas) realisiert ist (vgl. Wildfeuer et al. 2020: 321). Aus der räumlichen Anordnung der Schriftzeichen auf der Seite resultiert der Aspekt des Schriftsatzes, der ebenfalls einen wichtigen Faktor der Textkommunikation darstellt. Hier sind bspw. Absätze, Überschriften o. Ä. zu nennen. Bilder: Zum verbalen Text, der durch Schriftzeichen in räumlicher Anordnung auf einer Seite realisiert ist, treten zudem in der räumlichen Anordnung der Seite in vielen Fällen Bilder hinzu, die mit dem Text im engeren Sinne vielfältige Beziehungen eingehen können (vgl. Nöth 2000; Stöckl 2004). Layout: Auf einer Seite können – wie etwa für den Fall von Zeitungsseiten gut untersucht und beschrieben – mehrere Text- und Bildelemente in einer räumlichen Konstellation relativ zueinander konfiguriert werden, die in der Textkommunikation von einer Leserin interpretiert werden muss. Hier spielt der Aspekt der Gestaltung eine wesentliche Rolle (vgl. Antos 2001; Bucher 2007; 2010; 2019).
Alle genannten Modalitäten nehmen einen Einfluss auf die Interpretation der Leserin in der Textkommunikation. Eine textlinguistisch reflektierte TWT sollte auch diese Modalitäten als Indikatoren zum inkrementellen Aufbau des geteilten Wissens begreifen28. Eine multimodal erweiterte bzw. reflektierte TWT muss somit in ihr Grundverständnis die zentrale Frage der Multimodalitätstheorie danach miteinbeziehen, wie Textbedeutung als Zusammenspiel verschiedener Modalitäten zu begreifen ist (vgl. Bucher 2010: 46; 2019: 662). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass verschiedene Modalitäten in verschiedener Weise zu einer globalen Textbedeutung beitragen. Unter der Prämisse, dass die Textbedeutung wesentlich auf der Ebene der konstruierten mentalen Modelle/Welten zu verorten ist, muss demnach berücksichtigt werden, wie die Modalitäten Bild, Schrift und Gestaltung den Aufbau von Welten mitbeeinflussen können.
Diese Auffassung von Text ist im Vergleich zu den Textbegriffen vieler aktueller Arbeiten immer noch äußerst eingeschränkt (vgl. z. B. die Typologie multimodaler Texte bei Schmitz 2016: 335–336). Es handelt sich dabei um eine Arbeitsdefinition, die dem Zweck der vorliegenden Arbeit angepasst ist und die bei einer Übertragung des hier vorgeschlagenen TWT-Modells auf andere Bereiche des Sprachgebrauchs entsprechend zu erweitern ist.
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3 Die Textwelttheorie
Bilder und Textbedeutung Es existieren mehrere Theorien dazu, wie verbaler Text und Bilder zum Aufbau mentaler Repräsentationen beitragen (vgl. Zhao et al. 2020: 71). Gemeinsam ist den meisten Annahmen jedoch, dass verbaler Text und Bild zwar zunächst separat decodiert und mental repräsentiert werden, jedoch gemeinschaftlich zur Konstruktion mentaler Modelle beitragen und/oder dabei zumindest miteinander wechselwirken (vgl. Schnotz et al. 2021; Schnotz & Baadte 2012: 36). Es liegt demnach nahe, dass auch Bilder als semiotische Ressourcen Indikatoren für den Aufbau von Welten bereitstellen. Im Anschluss an die Überlegungen Rudi Kellers zu semiotischem Wissen, wird auch für multimodales Textverstehen auf die Rolle des verstehensrelevanten Wissens hingewiesen (vgl. Schmitz 2018: 250; Spitzmüller 2013a: 232). Eine Integration von Bildern in die TWT wird insbesondere dann möglich, wenn man annimmt, dass Bildverstehen auch im Rückgriff auf die Frame-Strukturen des verstehensrelevanten Wissens beschrieben werden kann. Tatsächlich finden sich in der linguistischen Forschung bereits einige erfolgreiche Anwendungen der Frame-Semantik auf das multimodle Text-Bildverstehen: So zeigen etwa Fraas & Meier (2013: 148) auf, dass in multimodalen Texten der Slot eines Frames durch sprachliche wie auch „bildliche Fillers kontextualisiert werden kann“, wodurch „Interpretationen nahegelegt, Salienzen gesetzt oder Perspektivierungen realisiert, also Framing-Effekte hervorgerufen“ werden können. Klug (2012: 213) baut ihre semantische Analyse multimodaler Texte auf der Prämisse auf, „dass ein Wissensrahmen nicht nur von verschiedenen sprachlichen Zeichenformen, sondern gleichermaßen auch von Zeichenformen anderer Modalität, also ebenso durch Bilder, aufgerufen werden kann“ (vgl. auch Klug 2016: 166–167). Für eine Integration von Bildern in die TWT spricht außerdem, dass Bildverstehen laut Stöckl (2004: 85) als Aufbau von mentalen Räumen modelliert werden könne, die mit anderen mentalen Räumen in konzeptuelle Beziehungen treten können. Die hier knapp skizzierten Ausführungen legen nahe, dass Bildverstehen und Sprachverstehen als komplementäre Prozesse beim Textverstehen begriffen werden können29 und Bilder somit eine Rolle beim Aufbau der Weltenarchitektur in der Textkommunikation spielen. Entsprechend der Vielzahl der identifizierbaren Bildtypen und Text-Bild-Relationen sind die potentiellen Konstruktionsweisen dabei zu diesem Zeitpunkt der Arbeit theoriegestützt nur schwer systematisch zu erarbeiten (vgl. Nöth 2000; Stöckl 2004). Zum Zweck der vorliegenden Arbeit kann jedoch bereits mindestens von zwei Beteiligungsweisen an der Weltenkonstruktion ausgegangen werden:
Skepsis hinsichtlich solcher Annahmen äußern bspw. Wildfeuer et al. (2020: 163).
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation
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Gemäß ihrer Darstellungsfunktion konzeptualisieren Bilder bereits vorhandene oder (im Sinne von Kohärenzbeziehungen) textlich noch nicht indizierte Entitäten und Strukturen von TWs. Bilder können dabei in besonderer Weise die Funktion der Perspektivierung und Hervorhebung von TW-Strukturen realisieren (vgl. Fraas & Meier 2013: 140; Mattfeldt 2015: 144). Bilder können zudem kontextualisierende Funktionen erfüllen, indem sie zur Indizierung von Textfunktionen, Handlungsfeldern und Akteursrollen beitragen, wobei Bilder im Hinblick auf ihre Funktionalität deutlich schwerer zu bestimmen sind als Sprache (vgl. Klug 2012: 95; Stöckl 2011: 55).
Textdesign und Textbedeutung Neben der Berücksichtigung von Bildern stellt sich auch die Frage, ob und wie das Textdesign in Form von Layout und Typografie Einfluss auf Wissenskonstitution und Weltenkonstruktion nehmen. Dass das Textdesgin grundsätzlich einen Einfluss auf die Bedeutungskonstitution nimmt, lässt sich kaum bezweifeln (vgl. Antos 2001: 57). Laut Bucher (2010: 57; 2007: 59–62) besteht die Funktion des Textdesigns (hier quasi synonym zu Layout verwendet) darin, verschiedene Kommunikationselemente zueinander in eine jeweilige non-lineare Konstellation der Seite einzubetten. Antos (2001: 60–61) erkennt überdies verschiedene wissensstrukturierende (epistemische und rekontextualisierende) und rezeptionsoptimierende (motivierende und synoptische) Funktionen der Textgestaltung. Schmitz (2010: 405) sieht eine Entlastung der Grammatik durch Layout und Design: „Grammatik und Design teilen sich die architektonische Aufgabe der Konstruktion von Sinn. Je augenfälliger die visuelle Gestaltung der Sehfläche Botschaften trägt und den Handlungsraum ihrer Nutzerin oder ihres Nutzers gliedert, desto weniger braucht Grammatik die verbalen Anteile zu strukturieren“ (ebd.). Dies macht deutlich, dass die Textgestaltung einen wichtigen Einfluss auf die Textrezeption und das Ablaufen des Verstehensprozesses nimmt. Des Weiteren wird erkennbar, dass durch die Gestaltung eines Texts Sinnbezüge hergestellt werden, die sich durchaus als Prozesse der Weltenkonstruktion begreifen lassen können. Durch die Regulation des Leseprozesses nimmt das Layout etwa Einfluss auf die Dynamik der inkrementellen Wissenskonstitution. Indem es Hinweise auf die Kommunikationspartner und -art gibt, beteiligt es sich außerdem nicht unwesentlich an der Konstruktion der ÄW. So attestieren bspw. Wildfeuer et al. (2020: 323) dem Layout eine textsorten-indizierende Funktion, wodurch wesentliche Parameter und Strukturen der ÄW mitbestimmt werden. Designelemente haben dabei – im Vergleich zu anderen Modalitäten wie Bild oder Text im engeren Sinne – keine referentielle Funktion (im eigentlichen Sinne), sondern eine kontextualisierende (vgl. Bucher 2010: 59–60; 2019: 659).
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3 Die Textwelttheorie
Neben dem Layout kommt der Typografie eine wichtige Rolle bei der Bedeutungs- und Wissenskonstitution in der Textkommunikation zu. Typografie erfüllt im Hinblick auf die Bedeutungskonstitution eine Art Doppelfunktion: Zum einen repräsentieren Schriftzeichen Sprachzeichen, zum anderen ist auch der Typografie ein Bedeutungspotential eigen, das sich als Kontextualisierungsfunktion begreifen lässt (vgl. Wehde 2000: 65). Laut Spitzmüller (2013a: 22) kann grafische Variation (zu der er auch die typografische Variation zählt) eine ganze Reihe bedeutungskonstitutiver Funktionen erfüllen. Hervorzuheben sind insbesondere die folgenden Aspekte: – Typografie kann, wie Layout auch, textsortenindizierende Funktion besitzen (vgl. Spitzmüller 2013: 238–241; Wehde 2000: 125). Auf diese Weise kann sie zur Indizierung von Textfunktionen (also Sprachhandlungsstrukturen), Akteursrollen und –beziehungen und Handlungsfeldern dienen und somit einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion der ÄW leisten. – Typografie kann auf weiteres kulturelles Wissen und Verwendungskontexte verweisen, etwa bestimmte geschichtliche Epochen oder kulturelle Kontexte (vgl. Wehde 2000: 153–164). – Typografie kann als Indizierung sozialer Identitäten sowie damit verbundener Wertungssysteme und Ideologien interpretiert werden (vgl. Spitzmüller 2013a: 429). In dieser Hinsicht beteiligt sich Typografie wie auch das Layout v. a. am Aufbau der ÄW. So kann etwa (bei entsprechendem Vorwissen) beim Lesen die Verwendung der Frakturschrift als ein Hinweis auf die Setting-Komponente der ÄW gedeutet und eine bestimmte zeitliche Distanz zwischen Produktions- und Rezeptionssituation vermutet werden. Alternativ kann die Verwendung aber auch Rückschlüsse auf die Identität des Autors geben, dem etwa eine bestimmte (in diesem Fall rechtsgerichtete) politische Ideologie zugeschrieben werden kann (vgl. Spitzmüller 2013a: 203–204). Die typografische Gestaltung kann aber auch bspw. durch Hervorhebungen von sprachlichen Einheiten etwa durch Fett- oder Farbdruck den Leseprozess und die Aufmerksamkeit der Leserin steuern und Verstehensanweisungen darstellen. Entsprechende Hervorhebungen können bspw. Hinweise auf die Textfunktion (ÄW) geben oder aber bestimmte WBEs der TW hervorheben (bzw. salient machen). Ebenfalls können so expressive Funktionen realisiert werden, die etwa eine Positionierung der Autorin zu bestimmten Sachverhalten oder emotionale Involvierung indizieren können (vgl. Spitzmüller 2013a: 224). Es liegt demnach nahe anzunehmen, dass auch Aspekte des Textdesigns wie Layout und Typografie text-driven zum Aufbau der Weltenarchitektur und somit der inkrementellen Common GroundKonstitution in der Textkommunikation beitragen und somit in entsprechenden TWT-Analysen mit zu berücksichtigen sind.
3.2 Die TWT als Modell der Wissenskonstitution in der Textkommunikation
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3.2.5 Bezugswelten Um die TWT als Modell der Wissenskonstitution zu begreifen, werde ich noch einen weiteren Aspekt ergänzen. Dieser zeigt sich bspw. bei einem Blick auf die Verwendung des Begriffes Welt innerhalb der deutschsprachigen Textlinguistik. Dieser findet sich prominent bei Adamzik (2016), wenngleich in einer deutlich vom Gebrauch der TWT abweichenden Verwendung: Für den Umgang mit Texten und mithin die Textlinguistik ist die Frage, welche Bezugswelt als Referenzsystem dient, d. h. welches Hintergrundwissen (common ground) vorausgesetzt werden kann, von herausragender Bedeutung. Konkrete Inferenzen können ja nur relativ zu einem Komplex von Rahmen und Schemata gezogen werden. Diese entscheiden schon darüber, auf welche Entitäten man sich in einem Text überhaupt beziehen kann und welche Aussagen über diese Entitäten zugelassen sind. Dies betrifft nicht nur das Thema, sondern auch die Dimension der Funktion, inklusive der Frage, welche Sprechakte zugelassen sind. (Adamzik 2016: 116; Hervorhebung im Original)
Wenngleich Adamzik hier die in der TWT wiederkehrenden Begriffe Welt, Referenz und Common Ground verwendet, spricht sie damit doch abweichende Aspekte der Wissenskonstitution an. Es geht ihr nämlich offenbar nicht um Welten im Sinne lokal und textindiziert konstruierter mentaler Modelle, sondern um epistemische Komplexe im verstehensrelevanten Wissen einer Rezipientin, zu denen lokal konstruierte Welten in Beziehung gesetzt werden. Als solche ist für Adamzik (2016: 118) dabei der „Realitätsstatus“ von Welten relevant. Adamzik (2016: 118–121) unterscheidet die folgenden Bezugswelten: – Standardwelt – Welt des Spiels/der Fantasie (auch literarische Welten) – Welt der Wissenschaft – Welt des Übernatürlichen – Welt der Sinnfindung Adamziks Klassifikation wirft dabei einige Fragen auf. So werden die Welttypen von sehr deutlich unterschiedlichen Perspektiven her begriffen: Die Welt der Wissenschaft aus Sicht eines komplexen gesellschaftlichen (Teil-)Systems, die Welt des Übernatürlichen aus der Sicht der kollektiven Überzeugungen ohne Systembezug (sonst wäre es ja die Welt des Glaubens oder der Religionen) und die Welt der Sinnfindung aus Sicht des Individuums. Adamzik selbst bemerkt: Wie gesagt, ist es für dieses Konzept wesentlich, die Welten nicht als gegeneinander abgegrenzte zu betrachten. Es geht also im Allgemeinen nicht darum, einen bestimmten Text der einen oder anderen zuzuordnen. Für die Frage, welchen Sinn Sprachteilhaber einem Text zuordnen, ist es vielmehr wichtig zu wissen, welche Welt oder auch Welten sie als Referenzsysteme einbeziehen. (Adamzik 2016: 122)
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3 Die Textwelttheorie
Ungeachtet der Klassifikationsprobleme halte ich die Berücksichtigung solcher Bezugswelten für eine wichtige Bereicherung des TWT-Modells. Damit wird ein Problembereich adressiert, der von Werth (1999) zwar angesprochen, aber nicht systematisch in das Modell eingearbeitet wird, nämlich die Frage danach, wie aus der unübersichtlichen Menge der Frame-Strukturen des verstehensrelevanten Wissens, die für das Textverstehen relevanten Bereiche aufgerufen werden können. Werth (1999: 149) geht dabei davon aus, dass das verstehensrelevante Wissen in „domains of knowledge“ organisiert ist, innerhalb derer Sinnbezüge festgelegt werden. Als Wirklichkeitsentwürfe repräsentieren Bezugswelten solche Sinnzusammenhänge, die das Auf- und Abrufen von relevanten Frame-Strukturen bei der Erzeugung eines kohärenten mentalen Modells regeln können. Die Annahme solcher Bezugswelten kann auch erklären, weshalb etwa fiktionale und alltagsweltliche Textwelten unterschiedliche Ontologien aufweisen, durch die bspw. unterschiedliche Kausalitätszusammenhänge inferentiell erschlossen werden können (vgl. Schwarz 2001: 22).
3.2.6 Fazit: Wissenskonstitution und TWT Führt man die TWT mit den genannten text- und psycholinguistischen Überlegungen zum Textverstehen zusammen, ergibt sich daraus ein umfassendes und produktives Modell der lokalen Wissenskonstitution im Textverstehen: Aus einer kognitiven und verstehensorientierten Perspektive wird lokale Wissenskonstitution als inkrementeller Prozess begriffen, der im Prozess des Textverstehens verankert ist. Dabei werden mentale Repräsentationen auf verschiedenen Ebenen aufgebaut. Das Ziel dieser Konstruktionsprozesse liegt im Aufbau mentaler Modelle, die als Repräsentation der verstandenen Textbedeutung aufgefasst werden können und als Welten bezeichnet werden. Die sich ergebende Struktur der Welten ist die Weltenarchitektur. In der systematischen und linguistisch fundierten Beschreibung dieser Weltenarchitektur liegt aus meiner Sicht der große Mehrwert der TWT für die Angewandte Linguistik. Bei der Konstruktion der Welten im Verstehensprozess werden verschiedene semiotische bzw. multimodale Ressourcen herangezogen. Der verbale Textteil wird dabei auf einer propositionalen Ebene als Frame-Struktur repräsentiert, die dann auf die Welten gemappt wird. Daneben können auch Bilder, Typografie und Layout als Indikatoren für die Konstruktion der Weltenarchitektur herangezogen werden. Bei der Indizierung der jeweiligen Frame-Strukturen im verstehensrelevanten Wissen einer Rezipientin werden Frame-Komplexe indiziert, die als Bezugswelten bezeichnet werden können. Diese organisieren zum einen mögliche Sinnbezüge und die Relevanz bestimmter Frames beim Aufbau der lokalen Wel-
3.3 Die Textwelt der TWT
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ten. Zum andern repräsentieren sie gewissermaßen den Sinnhorizont, vor dem die Textwelt interpretiert wird. Ein Aspekt, den auch ich in der Konzeption der TWT außen vor lassen werde, ist, dass die Rezeption eines Texts in Form des Lesens als „zielgerichteter, aufgabenorientierter kognitiver Prozess verstanden“ werden kann (Lehnen 2018: 175). Das bedeutet, dass der Aufbau mentaler Repräsentationen – und somit auch der Aufbau der Welten – als kognitiver Prozess stark von den Lesezielen bzw. -aufgaben einer Rezipientin abhängt. Die tatsächliche Textrezeption erfolgt dabei nicht immer als geordneter linearer Prozess, was Konsequenzen für die inkrementelle Wissenskonstitution haben kann. Hierbei handelt es sich allerdings um einen Aspekt, der experimentell (mit Methoden der Psycholinguistik) untersucht werden müsste und dem mit textlinguistischen Verfahren allein nicht nachgekommen werden kann.
3.3 Die Textwelt der TWT Ich werde im verbleibenden Teil dieses Kapitels näher darauf eingehen, wie die Strukturen der Weltenarchitektur aus Sicht der TWT beschrieben werden können. Beginnen möchte ich mit der namensgebenden Textwelt, die – zumindest im Hinblick auf die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wird – den Kern der TWT darstellt.
3.3.1 Grundmerkmale der Textwelt Ausgangspunkt der TWT-Konzeption der Textwelt ist das Problem der Referenz sprachlicher Ausdrücke (vgl. Werth 1999: 167). Aus Sicht der TWT – und diese Ansicht teilt sie mit den meisten text- und diskurslinguistischen Annahmen – erlaubt Sprache keinen direkten Zugriff auf eine außersprachliche Wirklichkeit. Stattdessen verweist jede Form von textueller Referenz auf mentale Repräsentationen von Objekten, Entitäten und Sachverhalten (vgl. Werth 1999: 156). Wie beim Deuten wird laut Werth (1999: 156) bei jedem Referenzakt ein Objekt aus einer wahrgenommenen Umwelt herausgegriffen, indem die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werde. Sprachlich-textuelle Referenzakte beziehen sich dabei auf mentale Repräsentationen von Objekten in einer räumlich konzeptualisierten mentalen Umgebung. Sie können dabei zum einen dazu dienen, solche mentalen Repräsentationen von Objekten einzurichten (bei erster Erwähnung) oder die Wahrnehmung eines bereits mental eingerichteten Objektes aufrechtzuhalten (vgl. Werth 1999: 157–158). Bei jedem Referenzakt wird ein Objekt somit immer auch in seiner Umgebung deiktisch situiert (vgl. Werth 1999: 157). Der konzeptuelle Ort bzw. „deictic space“ der mental
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3 Die Textwelttheorie
repräsentierten Objekte, auf die mit sprachlichen Ausdrücken referiert wird, ist die Textwelt (Werth 1999: 20), deren „working parameters of space“ bei jedem textuellem Referenzakt festgelegt werden (Werth 1999: 157). Werths Beschreibung des Referenzaktes weist starke Anklänge an wahrnehmungspsychologische Konzepte, wie die Figur-Grund-Konstellation auf. Insofern ist es wenig überraschend, dass er für die Textwelt eine grundsätzliche VordergrundHintergrund-Struktur annimmt30 (vgl. Stockwell 2020: 160). Allerdings verläuft die Unterscheidung von Vordergrund und Hintergrund der TW bei Werth (1999) im Fortlauf nicht mehr anhand der Unterscheidung von einem einzelnen referierten Bezugsobjekt und dessen deiktischer Umgebung, sondern wird anhand des Begriffes der function-advancing proposition (FAP) festgemacht (vgl. Werth 1999: 180). Die Sachverhalte, die durch solche Propositionen dargestellt werden, sind für Werth (1999: 180) dasjenige „what [the text, NS] is actually about“ und repräsentieren den wahrgenommenen Vordergrund der Textwelt31 (vgl. Werth 1999: 180). Ich werde in den nachfolgenden Abschnitten ausführlicher auf beide Aspekte eingehen. Die oben angesprochene Dynamik des Textverstehensprozesses legt nahe, dass die Bezeichnung von TW-Elementen als Hintergrund nur relativ zu einer aktuell (vordergründig) interpretierten FAP Sinn macht. Die Herausforderung einer eindeutigen Zuordnung von solchen Elementen zu Vorder- oder Hintergrund der TW ist somit ein Phänomen der linguistischen Analyse von größeren Textsegmenten und damit in erster Linie ein Darstellungsproblem, das auf der statischen Repräsentation eines dynamischen Textverstehensprozesses basiert. Ich halte es für sinnvoll, diese Elemente zunächst als Hintergrundstrukturen der TW zu klassifizieren, die relativ zu bestimmten FAPs in den Vordergrund treten können. Diese Herangehensweise entspricht der von Werth (1999: 180) angedeuteten Systematik.
3.3.2 Der Hintergrund der Textwelt: World building elements und Hintergrund-Frames Die (potentielle) Hintergrundstruktur der TW lässt sich durch sogenannte world building elements und Hintergrund-Frames beschreiben. Auf beide Aspekte möchte ich im Folgenden eingehen.
In diesem Verständnis spiegelt sich m. E. auch die starke Inspiration Werths durch die – ebenfalls das Figur-Grund-Verhältnis beinhaltende – Kognitive Grammatik Langackers wider (vgl. Werth 1999: 76). Eine ähnliche Annahme findet sich bspw. im event-indexing model von Zwaan et al. (1995: 292), die „events and intentional actions of characters“ als „focal points of situations models“ betrachten.
3.3 Die Textwelt der TWT
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World building elements und world-builders Die mit jedem textuellen Referenzakt einhergehende Konstruktion einer TW besteht, wie unter 3.3.1 festgestellt, wesentlich in der Festlegung von deren ‚deiktischen Parametern‘, die den konzeptuellen Raum der TW strukturieren. Diese deiktischen Parameter betreffen zunächst die räumlichen und zeitlichen Strukturen der TW (das Setting) sowie die in der TW enthaltenen Entitäten, welche anhand textueller Indikatoren text-driven erschlossen werden können (vgl. Werth 1999: 187): – die zeitlichen Strukturen der TW anhand von Tempusformen der verwendeten Verben sowie insbesondere durch Temporaladverbiale – die räumlichen Strukturen der TW analog dazu vor allem durch Temporaladverbiale – Entitäten anhand konkreter und/oder abstrakter Nominalphrasen Die entsprechenden sprachlichen Indikatoren werden als world-builders32 bezeichnet, die resultierenden konzeptuellen Strukturen der TW als world building elements (WBEs)33 (vgl. Gavins 2007: 36; Werth 1999: 180–182). Werth (1999: 181) bezeichnet räumliches und zeitliches Setting sowie die darin positionierten Entitäten als das „basic deictic arrangement“ der TW, zu dem im Textverlauf Qualitäten, Relationen und Funktionen hinzugefügt werden. Gavins (2007: 40) klassifiziert die WBEs in time, location, objects und enactors. Ich möchte diese Punkte anhand eines Textsegmentes eines Korpus-Texts34 dieser Arbeit illustrieren: (01) Die Wirkung von Clothianidin auf Bienen zeigte sich im Frühjahr 2008: Das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide, hergestellt von Bayer CropScience, bewirkte in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg den Tod oder die schwere Schädigung von zehntausenden Bienenvölkern. Die Vergiftung erfolgte über behandeltes Mais-Saatgut und Verwehung des staubförmigen Wirkstoffes durch den Wind auf benachbarte Äcker. (BUND 2016[2010])
Im Textsegment (01) finden sich eine Reihe sprachlicher Ausdrücke, die referentiell auf WBEs einer im Textverstehen konstruierten Textwelt verweisen und somit als world builders fungieren. Sie sind in Tabelle 3.2 dargestellt:
Werth verwendet den Begriff hier explizit in Anlehnung an die space-builders bei Fauconnier. Tatsächlich findet sich bei Gavins (2007) keine Differenzierung von sprachlichen Formen (world-builders) und konzeptuellen Einheiten (WBEs). Vielmehr nutzt sie den Ausdruck worldbuilding elements gerade auch zur Bezeichnung sprachlicher Formen (markers) (vgl. bspw. Gavins 2014: 204). Auch Werth (1999) führt diese nicht explizit aus. Ich halte sie aber für angemessen und überdies hilfreich. Referenzen für Textsegmente aus dem Untersuchungskorpus verweisen auf die in Tabelle 6–1 aufgelisteten Korpustexte mit dem dort angeführten Kürzel.
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3 Die Textwelttheorie
Tabelle 3.2: World-builders und WBEs der durch (01) konzeptualisierten TW. world-builder
World-building element (WBE)
Clothianidin Bienen im Frühjahr Das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide Bayer CropScience in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg zehntausenden Bienenvölkern behandeltes Mais-Saatgut des staubförmigen Wirkstoffes auf benachbarte Äcker
Entität in der Textwelt Entität in der Textwelt temporaldeiktischer Parameter der Textwelt Entität in der Textwelt Entität in der Textwelt lokaldeiktischer Parameter der Textwelt Entität in der Textwelt Entität in der Textwelt Entität in der Textwelt Verortung von Entität im Raum
Für die Darstellung von TWs schlägt Werth (1999: xvi) die in Abbildung 3.1 dargestellte Notationsweise vor, der sich Gavins (2007) weitestgehend anschließt. Die WBEs35 einer TW werden in Listenform gemäß der basalen WBE-Typen Zeit (t), Ort (l), character (c) und Objekt (o) in einem Kästchen festgehalten, das die jeweilige TW darstellt. Als problematischer erweist sich die Aufteilung der Entitäten in characters und Objekte. Tatsächlich finden sich bei Werth (1999: 327) auch bspw. character-objects. Solche Mischklassen führt er als offene Klasse in sein Notationssystem ein (vgl. Werth 1999: xvi). In diesem Sinne findet sich in Abbildung 3.1 unter dem Kürzel o/l für object location die durch den world-builder auf benachbarte Äcker repräsentierte Verortung einer Entität notiert. Anhand der Auflistung in Tabelle 3.2 wird auch deutlich, dass mehrere world-builders auf dasselbe WBE referieren können, wie im Falle von Clothianidin und das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide, was u. a. auf den Gebrauch des ‚deutenden‘ definiten Artikels zurückzuführen ist (vgl. Werth 1999: 56). WB t: Frühjar 2008 l: Region Oberrhein (Baden-Württemberg) c: Bienen, zehntausend Bienenvölker, Bayer Crop Science o: Clothiniadin (Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide), behandeltes Mais-Saatgut, staubförmiger Wirkstoff o/l: benachbarte Äcker
Abbildung 3.1: TWT-Notation der WBEs aus (01) nach Werth (1999: xvi).
Werth (1999) nutzt die Abkürzung WB statt WBE. Dadurch kommt jedoch, wie ich meine, der Unterschied zwischen world-builders und world-building elements nicht deutlich genug zum Ausdruck.
3.3 Die Textwelt der TWT
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In (01) repräsentiert die TW eine Situation, die sich von der unmittelbaren Situation der Textkommunikation deutlich im Hinblick auf ihre deiktischen Parameter unterscheidet. Folgt man Werth (1999: 86), kommt es allerdings auch dann zum Aufbau einer TW, wenn über die Kommunikationssituation selbst gesprochen wird. In einem solchen Fall dienen oft ‚klassische‘ deiktische Ausdrücke wie ich, hier und jetzt als world-builders für den Aufbau der TW, wobei die so indizierten WBEs einer TW dann gleichzeitig auch auf Elemente der ÄW verweisen. In solchen Fällen kommt es zu Verschmelzungen oder zumindest starken Korrelationen von ÄW und TW, die eine wichtige Eigenschaft von Weltenarchitekturen sein können (siehe Abschnitt 3.4.3 und 3.5.3). Ein Aspekt, der in der TWT oft wenig berücksichtigt wird, betrifft die Rolle des evozierten Frame-Wissens für die Konstruktion von WBEs. Werth (1999: 122) spricht von Frames vor allem als „larger systems of world-knowledge [...] with which we conceptualise our world“ (122). Sie spielen für Werth insbesondere als Ressource für Inferenzen beim Aufbau einer TW eine Rolle (vgl. ebd.: 108–109). Es ist nach meinem Verständnis unmöglich, dass bspw. eine sprachlich indizierte Entität innerhalb der TW repräsentiert wird, die nicht gleichzeitig auch durch Frame-Wissen repräsentiert wird. Um eine möglichst einfache Beschreibung dieses Umstands zu ermöglichen, gehe ich deswegen davon aus, dass WBEs grundsätzlich als Frame-Strukturen repräsentiert werden. Hintergrund-Frames Die von Werth (1999) und Gavins (2007) vorgenommene Beschreibung des TWHintergrundes muss jedoch noch um einen Gesichtspunkt erweitert werden. Tatsächlich besteht die TW bei genauerer Betrachtung nicht nur aus Setting und Entitäten. Die Fähigkeit, WBEs in die TW zu integrieren, basiert darauf, dass die entsprechenden Textsegmente (die world-builders) von einer Leserin angemessen verstanden bzw. kontextualisiert werden können und so ein entsprechendes Framewissen evoziert werden kann36, das dann in die TW integriert wird (vgl. Werth 1999: 20; 282). So kann die Ko-Referenz der world-builders Clothianidin und das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide nur dann verstanden werden, wenn die Leserin über ein gewisses Hintergrundwissen über landwirtschaftliche Praktiken verfügt. Tatsächlich zeigt sich, dass die world-builders Insektizid, behandeltes-Maissaatgut und benachbarte Äcker alle Frame-Wissen evozieren, durch welches der kohärenzerzeugende Frame LANDWIRTSCHAFT abgerufen wird. Indem world-builders also Frame-Wissen aufrufen und ggfs. abrufen, reichern sie die TW deutlich an: Strukturen zwischen
In diesem Sinne weist ein referentieller Akt sowohl eine indexikalische (Deuten auf Element der TW) als auch eine symbolische (Aktivieren von Frames) Komponente auf.
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3 Die Textwelttheorie
einzelnen WBEs werden etabliert und zusätzliche, nicht explizierte Wissensstrukturen können in die TW integriert werden. In diesem Sinne entstehen somit tatsächlich rich models. Neben den durch world-builders indizierten und als Frames repräsentierten WBEs stellen somit Hintergrund-Frames eine weitere wesentliche Komponente der Hintergrundstruktur der TW dar. Erst eine so verstandene TW kann als angemessener „conceptual background“ (Werth 1999: 20) für die von Texten dargestellten Propositionen begriffen werden.
3.3.3 Der Vordergrund der Textwelt – Function-advancing propositions (FAPs) Die bereits angesprochenen function-advancing propositions (FAPs) bilden den (jeweils aktuellen) Vordergrund der Textwelt und repräsentieren durch die Darstellung von Sachverhalten und Ereignissen den zentralen Inhalt der Textbedeutung (vgl. Werth 1999: 180): Set against the deictic background constructed by the world-building elements of the text, function-advancing propositions can be seen in many ways to be the items which propel a discourse forward. (Gavins 2007: 56)
Die Bezeichnung function-advancing bringt zum Ausdruck, dass es sich bei den FAPs um Propositionen handelt, die dazu beitragen, den von einem Text zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeführten Sprechakt zu realisieren (vgl. Werth 1999: 190). Gavins (2007: 59–64) geht näher auf den Aspekt der Funktionsbezogenheit der FAPs ein. Demnach können sich die FAPs auf einen bzw. mehrere kommunikative Zwecke beziehen, wobei diese wiederum ein Interpretationsprodukt der Rezipientin darstellen. Sie stellt fest: Our identification of the function-advancing elements of a text-world is thus entirely dependent on what we perceive the purpose of the text as a whole to be. (Gavins 2007: 61)
Allerdings merkt Gavins an, dass sich Annahmen über (Teil-)Textfunktionen dynamisch im Prozess des Textverstehens gemäß dem Prinzip der text-drivenness entwickeln. Der lokale Handlungscharakter einer Äußerung bzw. eines Teiltexts wird dabei anhand mehrerer Faktoren interpretiert (u. a. Textsorte, Illokutionsindikatoren), zu denen auch eine im engeren Sinne semantische Komponente zählt. Gerade die FAPs stellen somit wichtige Hinweise für die Interpretation einer Textfunktion dar. Handlungscharakter und FAPs werden also dynamisch miteinander in einem top-down-bottom-up-Prozess interpretiert. Ich bin in Abschnitt 3.2.2 bereits darauf eingegangen, dass ich Propositionen im Unterschied zu Werth (1999) und Gavins (2007) als Frame-Strukturen auffasse, was sich auch auf die Konzeption der FAPs überträgt. Wie die Rekonstruktion
3.3 Die Textwelt der TWT
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einer FAP in Form einer Frame-Struktur aussehen kann, möchte ich anhand einer FAP aus dem unter 3.3.2 zitierten Beispieltext aufzeigen. Ich werde mich an dieser Stelle zunächst nur auf die isolierte Proposition beziehen, die von dem folgenden Satz realisiert wird: (02) Das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide, hergestellt von Bayer CropScience, bewirkte in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg den Tod oder die schwere Schädigung von zehntausenden Bienenvölkern. (BUND 2016[2010])
Abbildung 3.2 stellt einen Vorschlag zur grafischen Darstellung einer Rekonstruktion der in (02) aufgebauten TW inklusive der FAP dar. Die FAP wurde hier als vereinfachte Frame-Struktur in Anlehnung an Barsalou (1992) dargestellt. Sie wird grundlegend durch den Frame VERURSACHEN strukturiert, indem zwei wesentliche FrameElemente hervorgehoben werden: AGENS/URSACHE und WIRKUNG bzw. EFFEKT37. Für beide Slots sind die entsprechenden Filler angegeben.
TW Setting: Frühjar 2008, Region Oberrhein (Baden-Württemberg) Entitäten: Bienen, zehntausend Bienenvölker, Bayer CropScience, Clothiniadin (Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide, hergestellt von Bayer CropScience) Hintergrund-Frames: LANDWIRTSCHAFT _______________________________________________________________________________ VERURSACHEN
FAP: AGENS /URSACHE
‚Clothianidin‘
EFFEKT
‚der Tod oder die schwere Schädigung von zehntausenden Bienenvölkern‘
Abbildung 3.2: TW-Rekonstruktion inklusive FAP von (02).
In Abbildung 3.2 ist nicht die gesamte Frame-Struktur der FAP dargestellt. Zum einen sind die WBEs nicht vollständig an die FAP angeschlossen. So ist die FAP in (02) bspw. durch eine Lokaladverbiale spezifiziert, auf deren Darstellung auf der FAP-Ebene in Abbildung 3.2 verzichtet wurde, da sich diese Information bereits auf der Ebene der WBEs unter dem Setting-Aspekt findet.
Die Rekonstruktion der Frame-Struktur orientiert sich am entsprechenden Eintrag im German Frame-Net der Universität Düsseldorf: https://gsw.phil.hhu.de/framenet/frame?id=1080.
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3 Die Textwelttheorie
Ebenfalls wurde mit der Bezeichnung Clothianidin als Filler lediglich ein Platzhalter eingefügt, der auf die entsprechende Entität verweist, welche ebenfalls bereits als WBE dargestellt ist. Die beiden dargestellten Filler repräsentieren zudem eigentlich selbst komplexe Frame-Strukturen. Während die entsprechende Struktur für Clothianidin im TW-Hintergrund verortet werden kann, entspricht sie im Falle des EFFEKTS ‚Tod oder Schwere Schädigung zehntausender Bienenvölker‘ erneut einer komplexen Proposition, die wiederum im Frame-Format dargestellt werden kann. Da die grafische Repräsentation der FAP hier allerdings beginnen würde, deutlich an Übersichtlichkeit zu verlieren, habe ich von einer entsprechenden Rekonstruktion abgesehen. Für die Darstellung von FAPs als Frame-Strukturen in grafischen TW-Rekonstruktionen gilt somit in besonderem Maße, dass ihr Detailgrad sich am analytischen Zweck der entsprechenden Rekonstruktion zu orientieren hat, weil eine Darstellung von FAPs als Frame-Strukturen nicht unmittelbar zu einer ‚besseren‘ (im Sinne von verständlicheren) grafischen Rekonstruktion führt. Ein bedeutsamer Vorteil dabei, FAPs als Frame-Strukturen zu begreifen, liegt darin, dass sie sich solchermaßen aufgefasst nicht grundsätzlich von der konzeptuellen Struktur des TW-Hintergrundes unterscheiden. Gleichzeitig wird so deutlich, dass FAPs nicht die einzigen Propositionen einer TW sind. So sind bspw. die in attributiven Partizipialphrasen oder Relativsätzen ausgedrückten Propositionen nicht Teil des Vordergrundes, sondern der Hintergrundstruktur einer TW. In (02) trifft dies etwa auf die Partizipialphrase von Bayer CropScience hergestellten zu, durch die konstruktionsindiziert eine Wissensstruktur evoziert wird, die ebenfalls als Proposition rekonstruiert werden kann, ohne dabei aber schon eine vordergründige FAP darzustellen. Erst wenn man alle Elemente und Strukturen der TW als Frame-Strukturen begreift, wird außerdem deutlich, wie FAPs (und weitere Propositionen) als Inkremente in die bestehenden TW-Strukturen eingefügt werden können: Frame-Elemente der FAPs entsprechen entweder (koreferentiell) WBEs der TW oder können als Fillers offene Slot-Positionen in TW-Frames (WBEs oder Hintergrund-Frames) besetzen und somit in der TW verankert werden. Werths Konzeption der FAPs ist innerhalb der literaturwissenschaftlichen Weiterentwicklung der TWT modifiziert worden (Gavins 2007; Lahey 2006). So nimmt bspw. Gavins (2007) keinen prinzipiellen Unterschied zwischen FAPs und WBEs an. Auch Lahey (2006: 160–162) sieht keinen Unterschied zwischen FAPs und worldbuilders, da auch FAPs zum Aufbau von Welten beitragen könnten. Nach meinem Eindruck ergibt sich diese Kritik zum einen aus einer unzureichenden Reflexion des Verhältnisses von linguistischen und epistemischen Strukturen – so unterscheidet bspw. Lahey (2006) nicht zwischen world-builders (also sprachlichen Elementen des Texts) und WBEs (also konzeptuellen Elementen der TW). Ebensowenig wird der Tatsache Beachtung geschenkt, dass WBEs fast immer ‚syntaktisch‘ (im Sinne
3.4 Die Äußerungswelt
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von syntaktisch und verbsemantisch indizierten konzeptuellen Relationen) unmittelbar in FAPs integriert sind.
3.4 Die Äußerungswelt In der Äußerungswelt (discourse world) wird laut Werth die unmittelbare Kommunikationssituation mental repräsentiert, in der sich eine Rezipientin im Fall der Textkommunikation beim Lesen befindet. Sie entspricht damit der kognitiven Domäne, die in Ansätzen der kognitiven Semantik teilweise auch als ground bezeichnet wird (vgl. Langacker 2008: 466; Turner 2015: 225). Die Integration der Äußerungswelt ist ein wichtiger Aspekt des TWT-Modells, da die systematische Einbeziehung des situativen Kontexts in eine kognitive Theorie des Verstehens in vielen Modellen des Textverstehens noch immer ein Desiderat darstellt. Gleichzeitig besteht eine Schwäche der TWT darin, dass sie diesen Aspekt nicht ausführlich und überzeugend genug behandelt.
3.4.1 Die Äußerungswelt bei Werth und Gavins Werth (1998; 1999) selbst behandelt die Äußerungswelt im Vergleich zur Textwelt eher nebensächlich. Dies mag seiner Überzeugung geschuldet sein, dass die Äußerungswelt im Normalfall weniger wichtig sei als die Textwelt (vgl. Werth 1998: 429). Laut ihm handelt es sich bei der Äußerungswelt ebenfalls um ein prozessual generiertes mentales Modell, das entsprechend in den Common Ground der Interaktion eingeht. Als solches gleicht sie in ihrem Aufbau grundsätzlich der Textwelt, d. h. sie beschreibt eine Situation mit den Parametern Ort, Zeit, Teilnehmer und Entitäten sowie Relationen und Qualitäten (vgl. Werth 1999: 82–83). The discourse world is the situational context surrounding the speech event itself. It contains all of those elements summarised in the previous section which are perceivable by (‘manifest to’) the discourse participants. The discourse world minimally contains the participants, and what they can see, hear, etc. (Werth 1999: 83)
Die Äußerungswelt wird bei Werth insbesondere im Hinblick auf den als prototypisch erachteten Fall der Face-to-Face-Kommunikation diskutiert, was dazu führt, dass die potentiell sensorisch wahrnehmbaren Aspekte der unmittelbaren Interaktionssituation in Form verschiedener Sinneseindrücke übermäßig stark in den Vordergrund gerückt werden. Ähnliches ist bei Gavins (2007: 22–23) der Fall, die ebenfalls ausführlich die Wissenshintergrunde diskutiert, die zur Konstruktion einer ÄW im Falle der Face-to-Face-Interaktion herangezogen werden. Tatsäch-
60
3 Die Textwelttheorie
lich lässt sich feststellen, dass auch Gavins (2007: 26) bei ihrer Beschreibung der ÄW diese zunächst vor allem als die sinnlich erfahrbare zeitliche und räumliche Umgebung von Interaktanten begreift, wobei sie feststellt, dass die ÄW im Falle geschriebener Texte aufgeteilt38 (split) sei, weshalb die materielle Umwelt weitestgehend irrelevant werde. Von Werth wird besonders die Rolle der participants für die Äußerungswelt betont. In den dafür verwendeten Bezeichnungen speaker, hearer und eavesdropper zeigt sich zwar erneut eine weitestgehende Verengung der ÄW auf Interaktionskontexte. Allerdings kommen somit implizit Beteiligungs- bzw. Interaktionsrollen (die eigentlich als Qualitäten von Entitäten begriffen werden können) als wichtige Aspekte der Äußerungswelt ins Spiel. Gavins (2007: 28–30) führt anhand der Beispielanalyse einer Sterbeanzeige vor, dass auch Autor- und Leseridentitäten als wesentlicher Bestandteil der ÄW angesehen werden können. Ein wichtiger Aspekt, den Gavins (2007) reflektiert, ist, dass Äußerungswelten immer in einem Verhältnis zu kommunikativen Zwecken stehen: Whenever we enter into a discourse-world situation with another human being, through either written or spoken means, it is always for a purpose. Whether that purpose be to share, to learn, to argue, or even to confuse, it will be necessarily driven by human volition. (Gavins 2007: 19)
An dieser Textstelle tritt der Aspekt des Handlungsaspektes und dessen Relevanz für die ÄW deutlich zutage. Allerdings wird er von Gavins im Folgenden nicht weiter aufgegriffen. Bei Werth (1999: 84), der ÄWs als „linguistic situations“ bezeichnet, spielen die vollzogenen Sprachhandlungen erstaunlicherweise keine Rolle. Weder Werth noch Gavins arbeiten somit eine umfassende Beschreibung der Struktur der Äußerungswelt aus, wenngleich sie einige wichtige Hinweise darauf geben, was die Struktur einer ÄW ausmacht. Insbesondere findet sich weder bei Werth noch bei Gavins der (ontologische) Status der ÄW als mentales Modell wirklich berücksichtigt. Vielmehr wird die ÄW anscheinend immer wieder weitestgehend mit der tatsächlichen Situation gleichgesetzt. Begreift man die ÄW jedoch konsequenterweise als ein interpretationsleitendes mentales Modell, das den situativen Kontext einer Äußerung repräsentiert, liegt es nahe, sie weitestgehend mit den in Kapitel 3 erwähnten Kontextmodellen von van Dijk gleichzusetzen. Im Folgenden möchte ich den Versuch unternehmen, anhand der Einbeziehung von Überlegungen zu Kontextmodellen einen Vorschlag zur Beschreibung der Struktur der ÄW zu erarbeiten.
Hier können Anklänge zu Konrad Ehlichs Ausführung über die „zerdehnte Sprechsituation“ bei Texten gesehen werden (vgl. Ehlich 1989: 91).
3.4 Die Äußerungswelt
61
3.4.2 Die Äußerungswelt als Kontextmodell Wie gezeigt, stellt Werth (1999: 82–83) heraus, dass eine ÄW aus denselben Komponenten besteht, die in Bezug auf TWs als WBEs – also als Hintergrundelemente – begriffen wurden. Es ist entsprechend davon auszugehen, dass die entsprechenden Wissenselemente auch im Falle der ÄW als Bestandteil der Hintergrundstruktur anzusehen sind. Wie Tabelle 3.3 zeigt, lassen sich die WBEs der Äußerungswelt problemlos mit einigen der von van Dijk (1997: 193; 2001: 21–23; 2006: 171) vorgeschlagenen Strukturmomenten von Kontextmodellen identifizieren (siehe Kapitel 2.5.3). Diese Entsprechung der Strukturmomente von Kontextmodellen und aus den allgemeinen Welt-Kriterien ableitbaren WBEs von ÄWs kann zunächst als ein deutliches Indiz für eine tatsächliche Entsprechung von Kontextmodell und ÄW angesehen werden. Tabelle 3.3: Strukturmomente von Kontextmodellen nach van Dijk und entsprechende WBEs nach Werth. Strukturmoment des Kontextmodells (van Dijk ; ; )
World-building element (Werth ; Gavins )
Setting
Setting (Zeit & Ort)
Teilnehmer
participants bzw. enactors
Interaktionsrollen (roles)
Finden sich bei Werth nur implizit und in Bezug auf gesprächsbezogene Beteiligungsrollen. Interaktionsrollen können prinzipiell im Sinne von Qualitäten von Entitäten begriffen werden (ausführlicher in Kapitel ).
Soziale Beziehungen
Relationen von Entitäten
–
–
Das Setting ist – wie bereits bemerkt – im Fall der Textkommunikation aufgeteilt in die örtlichen und zeitlichen Parameter der Textproduktions- und die der Textrezeptionssituation, wobei beide in einem Verhältnis zueinander stehen. So kann eine Leserin bspw. einem Text Hinweise über die spatio-temporale Distanz von Produktions- und Rezeptionssituation entnehmen, die für die Interpretation von Adressierung und Handlungscharakter eines Texts von unmittelbarer Bedeutsamkeit sein können (etwa beim Datum einer Mahnung). Als Teilnehmer bzw. Akteure der ÄW sind immer Autor und Leserin mental repräsentiert. Daneben können, unter bestimmten Bedingungen, auch weitere Akteure in der ÄW der Textkommunikation in Erscheinung treten, die
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–
3 Die Textwelttheorie
dann bspw. als Ko-Autoren fungieren können (dieser Aspekt wird in Kapitel 4.3.2 näher erläutert werden). Interaktionsrollen bzw. Textkommunikationsrollen können aus Sicht der TWT als dynamisch zugeschriebene Qualitäten von konzeptualisierten Akteuren der ÄW begriffen werden. Bei Werth (1999) findet sich ein Verweis auf Rollen nur implizit und in Bezug auf gesprächsbezogene Beteiligungsrollen wie bspw. eavesdropper. Eine weitere Diskussion des Rollen- wie auch des damit eng verbundenen Beziehungsaspektes erfolgt in Kapitel 4.3.4 der vorliegenden Arbeit.
Keine Entsprechung in Form von WBEs finden sich für die von van Dijk (2001: 21) als Strukturmomente von Kontextmodellen vorgeschlagenen Domänen (domains). In der Textlinguistik werden diese auch als Kommunikationsbereiche (Adamzik 2016: 126) oder Handlungsbereiche (Brinker et al. 2014) bezeichnet. Das Wissen um Kommunikationsbereiche kann textlinguistisch als Bestandteil des Textsortenwissens einer Rezipientin angesehen werden (vgl. Fix 1998: 75). Als schematische Kategorien leisten sie einen Beitrag zur Konzeptualisierung des situativen Kontexts in Textproduktion- und Rezeption (vgl. Jakobs 1997: 10; 2019: 253). Dies spricht dafür, Domänen bzw. Handlungsbereiche ebenfalls als Hintergrundelemente der ÄW anzunehmen.
3.4.3 Die Handlungsstruktur als Vordergrund der Äußerungswelt Wie schon mehrfach ausgeführt, ist es eine wichtige Annahme der TWT, dass die Welten der verschiedenen Ebenen grundsätzlich gleich aufgebaut sind (vgl. Werth 1999: 182; 336). Tatsächlich erscheint diese Annahme besonders plausibel und hilfreich, wenn es darum geht, Interrelationen von Welten auf verschiedenen Ebenen zu beschreiben (siehe Kapitel 3.5). Was jedoch weder bei Werth noch bei Gavins Erwähnung findet, ist, dass eine grundsätzliche Gleichheit der Repräsentationsform sich auch auf die Vordergrund-Hintergrund-Struktur der Weltenarchitektur beziehen müsste. Es stellt sich somit die Frage, was als Vordergrund-Struktur der ÄW angenommen werden kann. Tatsächlich geht Werth (1999: 192) auf diesen Aspekt kurz im Kontext der Erläuterung der FAPs ein. Er überlegt dort, ob in einer Übertragung der TW-Struktur Ereignisse auf der Ebene der ÄW als parallel zu den FAPs zu begreifen sein könnten. Allerdings bezieht er sich auf alle möglichen wahrnehmbaren Umgebungsereignisse in Face-to-Face-Situationen und übersieht dabei erneut den Aspekt der in der ÄW ausgeführten Sprachhandlung selbst. Nur so kann er zu der Feststellung gelangen, dass niemand für die Ereignisse der ÄW verantwortlich gemacht werden könne, während die participants der ÄW bspw. für die FAPs der TW verantwortlich
3.4 Die Äußerungswelt
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seien und Akteure der TW für die FAPs von Subwelten, woraus sich eine grundsätzliche Asymmetrie von ÄW und TW ergäbe (vgl. Werth 1999: 192). Aus meiner Sicht spricht hingegen einiges dafür, den Vordergrund der ÄW mit der textuell vollzogenen Handlungsstruktur zu identifizieren: – Die vollzogenen Sprachhandlungen werden von Werth und v. a. Gavins zwar an mehreren Stellen erwähnt, jedoch nicht systematisch und explizit in ihrem TWT-Modell verortet. Dafür, dass kommunikative Zwecke und Sprachhandlungen als wichtige Aspekte der ÄW anzusehen sind, spricht v. a. die Tatsache, dass van Dijk (2001: 21–23; 2006: 171) sie als zentrale Bestandteile von Kontextmodellen begreift. Da die Handlungen jedoch keinen der von Werth aufgeführten WBEs entsprechen (s. o.), bleibt nur noch die Vordergrundstruktur der ÄW als ihr ‚konzeptueller Ort‘. – Die Annahme einer TW als deiktischer Hintergrund wird von Werth auch damit begründet, dass sie notwendig sei, um einen Interpretationskontext für FAPs bereitzustellen. Da die von Werth (1999: 82–83) genannten Bestandteile einer ÄW lediglich deiktische Hintergrundelemente bzw. WBEs repräsentieren, stellt sich somit die Frage, für die Interpretation von was diese Hintergrundelemente notwendig sind. Nach meinem Verständnis kann hier nur der Handlungscharakter des Sprachgebrauchs als Antwort genannt werden. – Die Annahme, dass die Deutung kommunikativer Situationen insbesondere auf eine Interpretation des Handlungscharakters von Sprachgebräuchen abzielen, ist auch den Kontextmodellen der interaktionalen Soziolinguistik eigen und zeigt sich etwa bei Gumperz (1982) bereits in der Bezeichnung activity type. Auch in textlinguistischen Arbeiten spielt stets die Textfunktion eine entscheidende Rolle bei der Erschließung der kontextuell-situativen Einbettung (vgl. Brinker 2000: 179). Ich werde deshalb davon ausgehen, dass die Handlungsstruktur des Sprachgebrauchs bzw. der Textkommunikation die Vordergrundstruktur der beim Textverstehen text-driven aufgebauten Äußerungswelt repräsentiert. Erst so kann die ÄW wirklich als Modell zur Erschließung des handlugsbezogenen Bedeutungsaspekts begriffen werden. Dies hat auch Konsequenzen für die grafische Darstellung von ÄWs, die somit analog zur TW-Darstellung grafisch repräsentiert werden können. Gemäß gängigen linguistischen Konventionen kann dabei die Sprachhandlung zunächst in Großbuchstaben auf der Vordergrundebene der ÄW eingetragen werden. Da die ÄW eine mentale Repräsentation ist, muss es sich auch bei der dort repräsentierten Handlungsstruktur um eine Art der Konzeptualisierung handeln. Es liegt also nahe, die verstandenen Sprachhandlungen im Rahmen der TWT-Konzeption analog zu den FAPs der TW als Frame-Strukturen zu begreifen. Eine ähnliche Vorstellung findet sich bei Löbner (2018: 206–207), der einen
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3 Die Textwelttheorie
ÄUßERUNGS-Frame mit den Attributen Ort, Zeit, Sprecher, Adressat und Text annimmt39. Statt einem allgemeinen Frame für ÄUßERUNGEN anzunehmen, halte ich es für naheliegender, dass der Sprachhandlungscharakter einer Äußerung auch konzeptuell durch in entsprechenden Frames gespeichertes Sprachhandlungswissen repräsentiert wird. Dies entspricht der bereits in Kapitel 2.4.2 zitierten Annahme von Fillmore & Baker (2010: 338), dass die interpretierende Erschließung von kommunikativen Ereignissen, über die textuell berichtet wird, und die Erschließung von Ereignissen, an denen eine Rezipientin selbst teilnimmt, auf denselben Wissensstrukturen beruht. Dieses Frame-Wissen über Sprachhandlungen kann analog zu den FAPs als Frame-Struktur vor dem Hintergrund der ÄW konzeptualisiert werden. Die Handlungsstruktur stellt dabei ein Produkt des Interpretationsprozesses einer Leserin dar – mit Sprachhandlungen sind hier somit Interpretationsleistungen gemeint (und nicht tatsächliche Handlungsvollzüge). Begreift man eine frame-basiert konzeptualisierte Handlungsstruktur als Vordergrund der ÄW, dann bleibt die Annahme der grundsätzlichen Äquivalenz von ÄW und TW bestehen und die Interrelation von ÄW und TW lässt sich beschreiben. Diese Vorstellung lässt sich m. E. besonders gut am Beispiel explizit performativer Äußerungen nachvollziehen, bei denen die Hauptinformation sich nicht auf die TW, sondern auf die ÄW bezieht, wie im folgenden Beispiel einer Email aus dem Kontext der beruflichen Kommunikation: (03) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich informiere euch darüber, dass ich vom 7.-23.9. Urlaub habe und erst wieder ab dem 24.9. erreichbar bin. Viele Grüße, [...].
Ohne Zweifel besteht der Handlungscharakter von (03) darin, dass eine Autorin ihre Kollegen über ihre Urlaubszeit INFORMIERT. Die ÄW ließe sich in diesem Fall in erster Annäherung vereinfacht wie in Abbildung 3.3 dargestellt rekonstruieren: ÄW Setting: jetzt Akteure: Autor, Leserin Domäne: Beruf _____________________ Handlungsstruktur: INFORMIEREN
Abbildung 3.3: Mögliche Rekonstruktion der ÄW von (03).
Verwandte Überlegungen finden sich bspw. auch bei von Polenz (2008: 67–69) zum Zusammenhang von pragmatischer und propostionaler Satzbedeutung sowie bei Harras & Proost (2004: 66–67) zur Semantik von Kommunikationsverben.
3.4 Die Äußerungswelt
65
Das größere Problem ergibt sich bei der Rekonstruktion dessen, worüber die Autorin die Leser hier INFORMIERT. Diese Information sollte eigentlich in der von (03) text-driven indizierten TW repräsentiert sein. Eine Rekonstruktion der TW anhand der world-builders, WBEs sowie FAPs, die sich an den oben u. a. für deiktische Ausdrücke festgestellten Konstruktionsprinzipien orientiert, ergibt jedoch die in Abbildung 3.4 dargestellte vereinfachte Rekonstruktion einer TW: TW Setting: jetzt Akteure: Autor, Leserin Hintergrundframes: BERUF _____________________ FAP: INFORMIEREN
AUTORIN
LESERIN
‚THEMA‘ (URLAUBSPLANUNG)
Abbildung 3.4: Vereinfachte Rekonstruktion der TW von (03).
Es erscheint mir offensichtlich, dass diese von (03) ohne Zweifel konzeptualisierte propositionale Struktur nicht dem entspricht, worüber die Autorin informieren möchte. Denn sie informiert die Leser eben nicht darüber, dass sie sie informiert, sondern über ihre Urlaubszeit. Es ist jedoch nicht zulässig diesem Problem zu begegnen, indem man schlicht behauptet, im Fall explizit performativer Äußerungen werde keine entsprechende TW aufgebaut, da in diesem Fall für sämtliche Prozesse des Referenzaktes Ausnahmeregelungen gelten müssten, etwa für die Verwendung klassisch-deiktischer Ausdrücke. Dieses Problem lässt sich am besten lösen, wenn hier eine kognitive Operation angenommen wird, die in etwa dem in der Theorie der Mentalen Räume beschriebenen blending entspricht (vgl. Fauconnier 1997: 149–158): Im Falle von (03) verschmelzen Äußerungs- und Textwelt miteinander40. Dies ist dann möglich, wenn die Strukturen von ÄW und TW vollständig miteinander übereinstimmen. Damit dies der Fall ist, muss jedoch davon ausgegangen werden, dass die Handlungsstruktur der ÄW im selben Format repräsentiert ist wie die FAP der TW. Diese Möglichkeit der Verschmelzung würde also dafür sprechen, dass die Handlungsstrukturen
Die Annahme einer Verschmelzung wird noch plausibler, wenn man die gesamte in (03) konzeptualisierte Weltenarchitektur berücksichtigt. In dieser wird ausgehend von der TW als Matrixwelt eine Fokuswelt in redeinduzierter Welt-Welt-Relation aufgebaut (siehe Abschnitt 3.5.2), die mit dem Verschmelzen von ÄW und TW quasi zur neuen TW wird. Dies spricht außerdem dafür, dass TWs ihrerseits immer Ankerpunkte in der Handlungsstruktur der ÄW besitzen.
66
3 Die Textwelttheorie
der ÄW grundsätzlich ebenfalls als Frame-Strukturen aufzufassen sind. Für den Standardfall nicht explizit-performativer Sprachhandlungen stellt sich in praktischer Hinsicht an dieser Stelle allerdings das immer wiederkehrende Problem der Handlungsbeschreibung (vgl. Harras 2004: 14). Dieses grundsätzliche Problem kann auch in einem TWT-Modell nicht umgangen werden. Es erfordert weitestgehend forschungspraktische Lösungen und wird entsprechend im methodischen Teil dieser Arbeit (Abschnitt 6.3.2) erneut aufgegriffen.
3.5 Die Weltenarchitektur Mit Textwelt und Äußerungswelt sind die grundlegenden Ebenen (layers) des im Sprachgebrauch konstituierten geteilten Wissens aus Sicht der TWT beschrieben (Werth 1999: 336). Allerdings gehen sowohl Werth (1999) als auch Gavins (2007) davon aus, dass im Verstehensprozess weitere Welten konstruiert werden können. Ich werde im Folgenden die TWT-Annahme, dass das Textverstehen zum Aufbau potentiell komplexer Weltenarchitekturen bestehend aus miteinander verbundenen Welten auf verschiedenen Ebenen führt, übernehmen und einen Vorschlag zur weiteren Modifizierung bisheriger TWT-Annahmen erarbeiten.
3.5.1 Subworlds, world-switches und Fokusdomänen Die TWT geht davon aus, dass neben der Äußerungswelt und der Textwelt weitere Welten aufgebaut werden können. Eine Ursache für den Aufbau neuer Welten liegt demnach in einer Änderung der deiktischen Parameter (vgl. Gavins 2005: 81). Aber auch weitere Gründe können für den Aufbau neuer Welten angenommen werden, woraus verschiedene Typen von Welten mit verschiedenen Wahrnehmungeffekten für eine Rezipientin resultieren (vgl. Gavins 2007: 73). Werth (1999: 210) bezeichnet diese neuen Welten als Subwelten (vgl. auch Semino 2009: 49). Sie repräsentieren laut Werth (1999: 185) Situationen, die vom Standpunkt der Textweltakteure aus mehr oder weniger real seien, bspw. zukünftig und hypothetisch oder auf andere Zeiten und Orte bezogen. Sie sind immer von der TW aus zugänglich, die dann als Matrixwelt für die Subwelt fungiert. Er unterscheidet dabei: – deictic sub-worlds, die durch Variationen der world-building Parameter Zeit, Ort, Entität (Charakter oder Objekt) erzeugt werden, z. B. bei narrativen Flashbacks, – attitudinal sub-worlds, die Einstellungen von Teilnehmern oder Charakteren in Texten beinhalten, wie z. B. want sub-worlds oder believe sub-worlds, – epistemic sub-worlds, die sich auf verschiedene Domänen beziehen lassen, z. B. kognitiv, intentional, repräsentational, hypothetisch und epistemisch.
3.5 Die Weltenarchitektur
67
Der Aufbau von Subwelten wird durch bestimmte world-builders indiziert, wie bspw. Funktionsverbkonstruktionen (siehe die Beispiele in Abschnitt 3.5.2). Er kann dabei sowohl von Akteuren der ÄW (also v. a. dem Autor) als auch von Akteuren der TW initiiert werden (vgl. Werth 1999: 429–430). Im ersten Fall handelt es sich um participant worlds, also Welten, für deren Aufbau die Akteure der ÄW – also Autor und Leserin – verantwortlich sind (Die TW ist somit grundsätzlich eine participant world). Demgegenüber sind character worlds Welten, die von Akteuren der TW aufgebaut werden und für die diese verantwortlich sind. Welten sind grundsätzlich immer von der Ebene aus zugänglich, von der aus sie konstruiert werden (vgl. Werth 1998: 430–432; Gavins 2007: 76–77). Die Zugänglichkeit bezieht sich dabei wesentlich auf Wahrheitsbeurteilungen von Propositionen in (Sub-)Welten (vgl. Gavins 2005: 81). So kann bspw. die Wahrheit einer Proposition in einer attitudinal sub-world, in der ein Wunsch einer TW-Akteurin ausgedrückt ist, nicht sinnvoll von einer Leserin auf deren Wahrheit beurteilt werden. Bei einer epistemic sub-world, in der ein möglicher Sachverhalt beschrieben wird, kann dies hingegen durchaus der Fall sein. Eine 1:1-Zuordnung der drei oben aufgeführten Subwelttypen und ihrer Zugänglichkeits-Merkmale ist überdies kaum möglich. Zweifel an dieser Konzeption komplexer Textwelten äußert Gavins (2005; 2007). Insbesondere kritisiert sie die in Werths Modell implizite Hierarchisierung der im Textverstehen aufgebauten Welten. Gerade für die sie interessierenden literarischen Texte sei dies nicht zutreffend, weil in solchen Fällen Subwelten auch die primären Textwelten eines Texts darstellen könnten. Gavins unterscheidet in ihrem Alternativvorschlag zunächst zwischen world shifts und modal worlds. Bei world shifts variieren die deiktischen Parameter Ort oder Zeit einer Welt, sie entsprechen damit im Wesentlichen den deiktischen Subwelten von Werth. Eine größere Modifikation nimmt sie in Bezug auf die übrigen von Werth bestimmten Subwelten vor, die sie in die Klasse der modal worlds zusammenfasst (Gavins 2007: 94). In Anlehnung an Modalitätstheorien teilt sie diese wiederum in drei Typen: – deontic worlds sind Subwelten die eine Sprechereinstellung betreffen, die sich auf einen Grad an Obligation bezüglich einer zukünftigen Handlung beziehen, – boulomatic worlds repräsentieren sprachliche Ausdrücke des Wollens, – epistemic worlds dienen dem Ausdruck von „epistemic distance“ und „commitment to the truth of a proposition“ (Gavins 2005: 85–86). Generell sind Modalwelten durch eine ausgedrückte Einstellung des Autors zu ihnen gekennzeichnet. Gavins (2005: 87) bezeichnet dies auch als „varying degrees of remoteness from the speakers zero point“. Gavins Neu-Konzeption zielt explizit darauf ab, die hierarchische Struktur der Textweltarchitektur aufzuheben. An der
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3 Die Textwelttheorie
Stelle verschiedener Ebenen eines prozessual generierten Textweltkomplexes stehen nun verschiedene gleichberechtigte world shifts und Modalwelten, die jeweils die Sprecherin als origonalen Fixpunkt besitzen. Ich halte Gavins Kritik an Werths Subwelt-Typen zwar in vielerlei Hinsicht für berechtigt und ihren Vorschlag von Modalwelten für gewinnbringend, allerdings sehe ich auch Schwächen in Gavins Ansatz: – Gavins spricht mehrfach von Nähe-Distanz-Beziehungen, ohne die jeweiligen Relationspunkte deutlich zu machen. Fraglich ist etwa, was eine epistemische Distanz von epistemic world und Autorin bezeichnen soll. Dies ist insbesondere relevant, da Sprecherinnen selbst im Rahmen des TWT-Modells immer in Welten eingebettet sind, wie bspw. die Autorin auf der ÄW-Ebene. – In ihrer Charakterisierung der Modalwelten bleibt auch die Quelle der Modalisierung weitestgehend ungeklärt. Zwar führt sie diese grundsätzlich auf Sprechereinstellungen zurück, die in der Modalitätsforschung tatsächlich eine wichtige Rolle spielen (vgl. Milan 2001; Krause 2007: 9–10), allerdings berücksichtigt sie dabei nicht die modalitätsbedingenden Redehintergründe (vgl. Hundt 2003: 349). Ich möchte deshalb einen alternativen Beschreibungsansatz dieser dritten Ebene der Weltenarchitektur vorschlagen. Mein Ziel ist es dabei, die Stärken der jeweiligen Konzeptionen bei Werth und Gavins miteinander zu vereinen: Die Stärke von Werths Konzept der Subwelten liegt darin, dass die Weltenarchitektur durch den Verweis auf Ankerpunkte von Subwelten in Matrixwelten hier eine zusammenhängende Struktur gewinnt. Die Stärke von Gavins Konzeption auf der anderen Seite liegt darin, deutlicher zwischen deiktischen Welten (world switches) und verschiedenen Typen von Modalwelten zu unterscheiden. Mein Alternativvorschlag umfasst deshalb im Wesentlichen zwei Aspekte: – Statt neue Welten als Welten einer eigenständigen festgelegten Qualität (boulomatisch, epistemisch o. ä.) zu bestimmen, halte ich es sinnvoller, sie prinzipiell als Fokuswelten zu bezeichnen, die in Abhängigkeit zu ihrer Matrixwelt bestimmte Formen von Welt-Welt-Relationen aufweisen. Auf die Formen von Welt-Welt-Relationen werde ich im folgenden Abschnitt 3.5.2 ausführlicher eingehen. – Ich schlage außerdem vor, dass es nicht in allen von Werth (1998; 1999) und Gavins (2007) besprochenen Fällen zum Aufbau von Fokuswelten kommt. An der oben zitierten Unterscheidung von Werth (1999: 185), nach der Subwelten „more or less unreal“ seien, scheint mir besonders interessant, dass die Änderung der deiktischen Parameter Raum und Zeit offensichtlich auf eine andere Weise als bei hypothetischen Welten zu Abweichungen von der Textwelt führt. Meiner Meinung nach ist der Begriff unreal in diesem Zusammenhang
3.5 Die Weltenarchitektur
69
nur haltbar, wenn die Beurteilung der Subwelten aus der Perspektive des Protagonisten einer (literarischen) Narration erfolgt. Gibt man diese narratologische Fixierung auf, scheint es mir, dass nur eine Art von Subwelten – diejenigen, die Gavins als modal worlds bezeichnet – im Hinblick auf ihren Faktizitätsstatus von der Matrixwelt abweichen, während die deiktischen Subwelten denselben Faktizitätsstatus aufweisen wie ihre jeweilige Matrixwelt. Ich halte es für naheliegender, nur im Falle einer Änderung des Faktizitätsstatus davon auszugehen, dass es zum Aufbau einer Matrixwelt kommt. Bei einer Änderung der räumlichen und oder zeitlichen deiktischen Parameter gehe ich davon aus, dass bestimmte Bereiche innerhalb einer Textwelt zugänglich gemacht werden, die ich als Fokusräume bezeichnen möchte. Eine ausführliche Illustration der Rekonstruktion von Fokusräumen anhand empirischer Beispiele findet sich in Kapitel 7.4.
3.5.2 Welt-Welt-Relationen Im Folgenden möchte ich anhand von Beispielsätzen die Rekonstruktion von Weltenarchitekturen und Welt-Welt-Relationen illustrieren. Ich gehe davon aus, dass Gavins Typologie von Modalwelten auf relevante Typen von Welt-WeltRelationen hinweist, die es näher auszuarbeiten gilt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit gebe ich dabei an dieser Stelle vereinfachte Rekonstruktionen an, bei denen bspw. die FAPs nicht komplett im Frame-Format rekonstruiert werden. Die Beispielsätze sind außerdem von mir willkürlich erfunden und nicht empirisch erhoben. Der Vorwurf, hier in einer eigentlich überholten Weise eines armchair linguist vorzugehen, ist dabei durchaus berechtigt. Ich halte diese Vorgehensweise allerdings im vorliegenden Fall für instruktiv, da zwecks besserer Veranschaulichung und Verständlichkeit jeweils nur der relevante Parameter eines Satzes variiert und somit die jeweilige Relation auch im Verhältnis zu weiteren Relationen begreifbar wird. Ein weiterer berechtigter Vorwurf gegen dieses Vorgehen besteht darin, dass ich hier nicht nur künstliche, sondern überdies isolierte (also kontextfreie) Sätze nutze, statt reale Texte. Dies ist Platzgründen geschuldet, konsequenterweise müssten ansonsten sechs komplette Textanalysen folgen. Tatsächlich handelt es sich bei den folgenden Welt-Welt-Relationen zunächst um theoriebasierte Vorschläge, die ihre empirische Überprüfung im Laufe der vorliegenden Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt erfahren werden (siehe Kapitel 7.3).
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3 Die Textwelttheorie
Epistemische Welt-Welt-Relation Die Konstruktion von epistemic worlds dient bei Gavins dem Ausdruck epistemischer Modalität. Laut Hundt (2003: 349–351) beruht epistemische Modalität grundsätzlich auf der alethischen Modalität. Hierbei handelt es sich um ein modallogisches Konzept, das Aussagen im Hinblick auf die Wahrheitswerte notwendig, möglich, kontingent und unmöglich beschreibt. Im Rahmen der Möglichen-Welten-Semantik werden diese Wahrheitswerte als relativ zu den Parametern einer Welt begriffen. Neben einer rein alethisch-logischen Modalität, die ich für die grundsätzliche Erklärung sprachlicher Phänomene für ungeeignet erachte, resultiert daraus eine im Rahmen der TWT durchaus brauchbare Definition von alethisch-faktischer Modalität: Die alethisch-faktische Modalität ist an die faktischen Gegebenheiten der jeweiligen Bezugswelt, der jeweiligen möglichen Welt gebunden, die den semantischen Bezugsrahmen für die Interpretation aller Sätze abgibt. (Hundt 2003: 350)
Überträgt man diesen Grundgedanken auf das TWT-Modell, kann man sagen, dass eine ‚epistemisch-modalisierte‘ Proposition in der Fokuswelt in eine Relation zu den ‚faktischen Gegebenheiten‘ der Matrixwelt gesetzt wird. Diese Relation ist am ehesten mit einer möglichen Übereinstimmung gleichzusetzen. Es geht also darum, ob bzw. in welchem Grad die FAP der Fokuswelt einer möglichen FAP in der Matrixwelt entspricht. Eine solche skalare Übereinstimmung kann man – gemäß der prinzipiell räumlichen Konzeption der Weltenarchitektur – durchaus als eine Dimension der faktischen Nähe/Distanz begreifen, worauf sich Gavins Rede einer epistemic distance zu beziehen scheint. Im Fall der epistemischen Welt-Welt-Relation drückt die Sprecherin ihren Grad an ‚commitment‘ bezüglich der faktischen Übereinstimmung von Fokuswelt und Matrixwelt aus. Der Zweck der Konstruktion einer separaten Fokuswelt besteht in diesem Fall darin, dass eine Sprecherin so die faktische Nähe/Distanz von Fokus- und Matrixwelt betonen und entsprechend auch die eigene Verantwortlichkeit für die Übereinstimmung einer Fokuswelt-FAP und einer möglichen Matrixwelt-FAP signalisieren kann (siehe Abbildung 3.5 unten). Daraus resultieren mehrere Selbstdarstellungsleistungen, die an späterer Stelle besprochen werden. Deontische Welt-Welt-Relation Im Falle von deontic worlds betont Gavins, dass hierbei Sprecheinstellungen realisiert werden, die sich auf eine Obligation zu einer zukünftigen Handlung beziehen. Allerdings lässt Gavins hier außen vor, dass solche deontischen Obligationen auf normative Kontexte – bspw. Regeln, Gesetze oder sonstige Autoritäten – zurückverweisen, die solche Grade an Verpflichtungen erst bedingen (vgl. Hundt 2003: 351).
3.5 Die Weltenarchitektur
71
Vielleicht macht Peter seine Hausaufgaben. ÄW Setting: jetzt Akteure: Sprecher, Hörer ___________________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt) Setting: jetzt Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _________________ FAP:
FW Setting: ‚Zukunft‘ Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _____________ FAP: Peter macht seine Hausaufgaben
Abbildung 3.5: Rekonstruktion einer epistemischen Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Vielleicht macht Peter seine Hausaufgaben‘.
Solche normativen Kontexte lassen sich v. a. in den Hintergrund-Frames der Matrixwelt verorten. Die Obligation in einem Satz wie Ich muss meine Hausaufgaben machen beruht nicht (nur) auf meiner persönlichen Einstellung zu der Proposition ‚Ich mache meine Hausaufgaben‘, sondern auf einem für mich geltenden normativen Kontext, der diese Obligation festsetzt, etwa der Autorität meiner Lehrer im Kontext des Schulsystems. Die Sprechereinstellung beläuft sich in diesem Fall darauf, dass ich diese kontextbedingte Obligation akzeptiere. Rekonstruiert man Fälle deontischer Modalität innerhalb eines TWT-Modells durch die Annahme modaler Fokuswelten, dann ist das Verhältnis von Fokus- zu Matrixwelt durch die Existenz eines normativen Frames in Fokus- und Matrixwelt charakterisiert, der für Akteure der Matrixwelt eine Obligation festlegt, die Strukturen der Fokuswelt durch zukünftige Handlungen auf die Matrixwelt zu übertragen (Abbildung 3.6). Ein solchermaßen verstandene Deontik bzw. Obligation ist selbst kein sprachliches oder logisches, sondern ein sozial-kognitives Phänomen. Die Konstruktion einer Fokuswelt dient in solchen Fällen der (darstellenden) Repräsentation eines normbasierten Obligationsverhältnisses. Peter muss seine Hausaufgaben machen.
ÄW Setting: jetzt Akteure: Sprecher, Hörer ___________________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt) Setting: jetzt Akteure: Peter Hintergrund-Frame: Normativer Rahmen (z.B. AUTORITÄTDER ELTERN) _________________ FAP:
FW Setting: ‚Zukunft‘ Akteure: Peter Hintergrund-Frame: Normativer Rahmen (z.B. AUTORITÄT DER ELTERN) ______________ FAP: Peter macht seine Hausaufgaben
Abbildung 3.6: Rekonstruktion einer deontischen Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Peter muss seine Hausaufgaben machen‘.
Volitive Welt-Welt-Relation Boulomatic worlds dienen bei Gavins (2005; 2007) dem Ausdruck boulomatischer bzw. volitiver Modalität, d. h. sie stellen Wünsche und Absichten von Subjekten
72
3 Die Textwelttheorie
dar. Wie Hundt (2003: 353) betont, ist im „Unterschied zur deontischen und alethischen Modalität [...] hier die Quelle der Modalisierung im Subjekt angesiedelt“. Dies bedeutet, dass die spezifische Modalität in diesem Fall nicht auf faktischen Übereinstimmungen von Welten oder auf normativen Frames beruht. Wünsche und Absichten können vielmehr selbst als mentale Repräsentationen von Subjekten begriffen werden. Dabei konstruieren Subjekte mentale Repräsentationen (bzw. Welten), deren faktische Übereinstimmung mit der Wirklichkeit sie (nicht) wünschen oder aus eigenem Antrieb heraus zu verwirklichen planen. Die Konstruktion einer Fokuswelt dient also dazu, solche separaten mentalen Repräsentationen von Akteuren der Matrixwelt zu ermöglichen, wobei sich die spezifische Relation von Fokus- und Matrixwelt hier aus der Art der der Positionierung des Subjekts zu der in der Fokuswelt realisierten Proposition ergibt (Abbildung 3.7). Absichten, Wünsche und Pläne sind erneut weder eine sprachliche noch eine logische, sondern eine kognitive Kategorie unserer unmittelbaren Lebenserfahrung. Die Konstruktion von Fokuswelten in einer volitiven Welt-Welt-Relation im Textverstehen dient der textuellen Darstellung dieser alltagsweltlichen Erfahrungen. Peter will seine Hausaufgaben machen. ÄW Setting: jetzt Akteure: Sprecher, Hörer ___________________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt) Setting: jetzt Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _________________ FAP: ‚Peter will‘ FW
FW Setting: ‚Zukunft‘ Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE ________________ FAP: Peter macht seine Hausaufgaben
Abbildung 3.7: Rekonstruktion einer volitiven Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Peter will seine Hausaufgaben machen‘.
Kognitive Welt-Welt-Relation An dieser Stelle ist es nötig, weitere Arten von Welt-Welt-Relationen anzunehmen, die sich ebenfalls auf mentale Repräsentationen von Akteuren der Matrixwelt beziehen. Der erste Typ leitet sich daraus her, dass Werths Klasse der attitudinal subworlds nicht vollständig im Typ der volitiven Welt-Welt-Relation aufgeht und gleichzeitig die von mir beschriebene Form der epistemischen Relation nicht alle Formen epistemischer Modalität erfasst. Subjekte, und damit auch die Akteure einer TW, besitzen neben Absichten und Wünschen weitere mentale Repräsentationen (z. B. ihre Phantasie, Erinnerungen, Ahnungen, Wissen etc.). Dies ist etwa bei dem Satz Jens denkt, dass Peter seine Hausaufgaben macht der Fall. Offenbar handelt es sich hierbei nicht um dieselbe Art von Welt-Welt-Relation wie im Satz Vielleicht macht Peter seine Hausaufgaben (s. o.). Das kognitive Verb denken indiziert,
3.5 Die Weltenarchitektur
73
dass die Fokuswelt in diesem Fall der mentalen Repräsentation eines Akteurs der Matrixwelt (Jens) entspricht. In funktioneller Hinsicht können solche Fälle allerdings ähnlichen Zwecken dienen, wie im Fall der epistemischen Relation, also bspw. der Distanzierung des Sprechers von der FAP der Fokuswelt.41 Sie entsprechen in ihrem Grundaufbau volitiven Welt-Welt-Relationen, ohne jedoch eine intentionsbezogene Positionierung des entsprechenden Subjekts zu dem in der FW repräsentierten Sachverhalt anzuzeigen (Abbildung 3.8). Jens denkt, dass Peter seine Hausaufgaben macht. ÄW Setting: jetzt Akteure: Sprecher, Hörer ___________________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt) Setting: jetzt Akteure: Jens, Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _________________ FAP: ‚Jens denkt‘ FW
FW Setting: jetzt Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _____________ FAP: Peter macht seine Hausaufgaben
Abbildung 3.8: Rekonstruktion einer kognitiven Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Jens denkt, dass Peter seine Hausaufgaben macht‘.
Redeinduzierte Welt-Welt-Relation Bei einem weiteren Fall handelt sich um die Textwelten, die von Akteuren der Matrixwelt generiert werden, wenn die FAP der Matrixwelt sich auf Formen sprachlicher Interaktion bezieht. Dieser Schritt folgt meiner Meinung nach logisch aus der Theorie der Textwelten, wenngleich weder Werth (1999) noch Gavins (2007) ihn vollziehen. Es ist nach meinem Ermessen jedoch nur konsequent, für einen Satz wie Jens sagt, dass Peter seine Hausaufgaben macht anzunehmen, dass die Proposition ‚Peter macht seine Hausaufgaben‘ in solchen Fällen selbst in einer Textwelt repräsentiert ist, deren ÄW die Matrixwelt darstellt. In diesem Sinne handelt es sich in solchen Fällen tatsächlich um Sub-Welten (siehe Abbildung 3.9 unten). Die Annahme solcher Welten in redeinduzierter Welt-Welt-Relation, ist bspw. kohärent mit der Annahme, dass in Fällen indirekter Rede ein Text in einen anderen Text eingebettet sei (vgl. Thurmair 2006: 72). Da Sprechaktverben wie sagen (referentiell-prädikativ) Situationen darstellen, in denen eine Sprecherin eine Äußerung macht, bedeutet dies allerdings nicht nur, dass diese Äußerung bzw.
Man könnte die Hypothese aufstellen, dass sich diese Art Äußerung zur epistemischen Relation verhält wie der beschrieben Fall deontischer Relation zum Imperativ oder der beschriebene Fall der volativen Relation zum Optativ, dass es also in solchen Fällen performative und darstellende Ausdrucksmöglichkeiten gibt. Letztere hätten bei einem Gebrauch mit Subjekten der ersten Person eine gewisse Ähnlichkeit mit explizit performativen Sprechakten.
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3 Die Textwelttheorie
dieser Text auch einen propositionalen Inhalt hat, sondern dass die Sprecherin auch eine bspw. epistemische Haltung dazu einnehmen kann (vgl. Harras 2001: 27). Dies deutet darauf hin, dass FWs in mehrdimensionalen Welt-Welt-Relationen zur Matrixwelt stehen können. Jens sagt, dass Peter seine Hausaufgaben macht. ÄW Setting: jetzt Akteure: Sprecher, Hörer ___________________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt) Setting: jetzt Akteure: Jens, Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _________________ FAP: ‚Jens sagt‘ FW
FW Setting: jetzt Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _____________ FAP: Peter macht seine Hausaufgaben
Abbildung 3.9: Rekonstruktion einer redeinduzierten Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Jens sagt, dass Peter seine Hausaufgaben macht‘.
Negierende Welt-Welt-Relation Eine letzte Form der Welt-Welt-Relation stellt die negierende Beziehung von Fokus- zu Matrixwelt dar (siehe Abbildung 3.10 unten). Im Rahmen der TWT werden auch Negationen durch FWs erklärt. Demnach werden im Fall von Negationen Welten konstruiert, die die negierten Propositionen enthalten und faktisch explizit nicht mit der TW korrelieren (Gavins 2007: 102). Eine ausführlichere Diskussion von Negationen aus TWT-Sicht findet sich bei Hidalgo-Downing (2000). Hidalgo-Downing (2000: 222) betrachtet Negationen als Typen von epistemischen Subwelten im Sinne Werths, bei der mit der TW kontrastierende ‚nicht-faktische‘ Subwelten aufgebaut würden. In funktionaler Hinsicht besteht der Zweck von negierenden Subwelten demnach darin, (möglicherweise) bestehende Erwartungshaltungen über eine TW anzufechten. Diese kann sich laut Hidalgo-Downing (2000: 224) entweder auf die Hintergrundstruktur der TW oder auf die FAPs (sowie von FAPs implizierten Propositionen im Common Ground) beziehen. Fazit: Welt-Welt-Relationen Eine Rekonstruktion der Weltenarchitektur muss also neben der Rekonstruktion von ÄW und TW die verschiedenen FWs und deren Relationen zu ihren Matrixwelten herausarbeiten. Wie man erkennen kann, sind die Zwecke, für die Fokuswelten im Verstehensprozess konstruiert werden, heterogen. Es ergibt sich deshalb keine universale funktionale Herleitung von Fokusweltkonstruktionen, etwa zum Zweck der Positionierung oder als Ausdruck von Modalität. Ich möchte außerdem nochmals betonen, dass es mir bei dem hier vorgeschlagenen Konzept der Welt-Welt-Relationen
3.5 Die Weltenarchitektur
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Peter macht heute keine Hausaufgaben.
ÄW Setting: heute Akteure: Sprecher, Hörer __________________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt) Setting: heute (WERKTAG) Akteure: Jens, Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _________________ FAP:
FW Setting: heute (WERKTAG) Akteure: Peter Hintergrund-Frame: SCHULE _____________ FAP: Peter macht Hausaufgaben
Abbildung 3.10: Rekonstruktion einer negierenden Welt-Welt-Relation anhand des Beispielsatzes ‚Peter macht heute keine Hausaufgaben‘.
nicht um eine Theorie der Modalität geht, wenngleich ich denke, dass sich viele Fälle von Modalität im Rahmen solcher Welt-Welt-Relationen abbilden lassen. Die hier vorgeschlagene Konzeption der Welt-Welt-Relationen ermöglicht es zudem, einen bislang nicht beachteten Aspekt der Weltenarchitektur neu in den Blick zu nehmen: Das Verhältnis von ÄW und TW. Die naheliegende Annahme ist nun, dass die TW selbst in einer redeinduzierten Welt-Welt-Relation zur ÄW steht und damit die Handlungsstruktur der ÄW den Ankerpunkt der TWs in der Matrixwelt darstellen. So kann der darstellende Bedeutungsaspekt einer Äußerung als Funktion des pragmatischen Bedeutungsaspektes beschrieben werden. Tatsächlich ließe sich das auch in der Frame-Darstellung der Handlungsstruktur der ÄW beschreiben, in der sich jeweils ein Slot für den Rede-Inhalt findet.
3.5.3 Eigenschaften der Weltenarchitektur Im Prozess des Textverstehens werden also ggfs. komplexe Strukturen bzw. Arrangements von Welten auf verschiedenen Ebenen aufgebaut, die miteinander in verschiedenen Welt-Welt-Relationen stehen können. Stockwell (2020: 163) sieht in der Beschreibung dieser „fractal and layered structure“ eines der „most powerful features of Text World Theory“. Abschließend sollen an dieser Stelle noch einige allgemeine Bemerkungen dieser, von mir Weltenarchitektur genannten, Struktur ihren Platz finden. Statik & Dynamik Eine Weltenarchitektur scheint als Rekonstruktion zwar die Form eines komplexen statischen Gebäudes zu haben, tatsächlich allerdings bezieht sie sich auf ein dynamisch-prozessuales Gebilde im Verstehensprozess. Da wir allerdings sehr lange und komplexe Texte lesen können und das menschliche Arbeitsgedächtnis gleichzeitig über beschränkte Speicherkapazitäten verfügt, erscheint es mir unwahrscheinlich,
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3 Die Textwelttheorie
dass alle lokal aufgebauten Strukturen über den gesamten Prozess des Textverstehens aufrechterhalten werden. Eine rein textanalytische Sichtweise kann hierzu jedoch keinen Aufschluss geben (dies erfordert vielmehr experimentelle Methoden). Das Verstehen richtet sich in vielen Fällen komplexer Weltenkonstruktionen allerdings vornehmlich auf die Funktionen der lokal etablierten Welt-Welt-Relationen und weniger auf deren konkrete Strukturen. D. h. letztlich ist es bspw. im Fall epistemischer Welt-Welt-Relationen möglicherweise nicht so wichtig sich daran zu erinnern, in welcher Form eine entsprechende FW konstruiert wurde, sondern vielmehr verstanden zu haben, dass eine bestimmte Proposition nicht unmittelbar in die TW integriert werden konnte. Zugänglichkeit, Bewegung & Perspektivierung Werths Überlegungen zur Zugänglichkeit von Subwelten bleiben übertragen auf Welt-Welt-Relationen grundsätzlich gültig. So sind etwa FWs in volitiver und kognitiver Welt-Welt-Relation nur den entsprechenden Akteuren zugänglich, in denen die FW innerhalb der Matrixwelt verankert ist. Unter dem Stichwort der Zugänglichkeit werden auch die Aspekte Bewegung und Perspektive (viewpoint) zu relevanten Aspekten der Weltenarchitektur. So wird laut Werth (1999: 57) eine Leserin bspw. in deskriptiven und narrativen Passagen innerhalb der deiktischen Parameter (Zeit & Ort) der TW in einer ‚Beobachter‘-Position verortet, von der aus Bewegungen in der spatio-temporalen Struktur der TW nachvollzogen werden können. Dabei bewegt sich allerdings nicht die Leserin selbst, sondern ihre Perspektive bzw. ihr viewpoint. Ein populäres Beispiel für eine solche Bewegung stellen etwa Wegbeschreibungen dar, bei denen sich der viewpoint der Leserin durch die räumliche Struktur eines mentalen Modells bewegt (vgl. auch von Stutterheim & Caroll 2007). Eine Rolle bei Perspektivierungen spielt das Evozieren der Frames der TW durch bestimmte sprachliche Formen. So betont etwa Fillmore (1982: 121), dass bestimmte Frame-Evozierungen Sachverhalte und Gegenstände unterschiedlich perspektivieren, was er anhand der Beispiele coast und shore festmacht, mit denen derselbe Referenzgegenstand (eine Küstenlinie) einmal vom Festland und einmal vom Meer aus perspektiviert wird. „Our perception of these nuances derives from our recognition of the different ways in which the two words schematize the world“ (Fillmore 1982: 121). In der Theorie der Mentalen Räume gibt Fauconnier (1997: 49) an, dass jeweils ein mentaler Raum als viewpoint fungiert, von dem aus ein (möglicherweise anderer) Raum, den er als focus bezeichnet, aufgebaut wird (vgl. dazu auch Dancygier & Vandelanotte 2016). Übertragen auf das TWT-Modell wären demnach etwa im Fall von redeinduzierten oder kognitiven Welt-Welt-Relationen die Ma-
3.5 Die Weltenarchitektur
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trixwelten der viewpoint, von dem aus die FWs aufgebaut und entsprechend perspektiviert werden. Nähe & Distanz Sowohl Werth (1999: 177) als auch Gavins (2007: 73) betonen, dass im Aufbau von Welten und Subwelten bzw. Modalwelten Nähe- und Distanzrelationen zum Ausdruck kommen. Gavins (2007: 118) betont hierbei vor allem die durch epistemic worlds ausgedrückte epistemic distance. Es zeigt sich hierbei erneut, dass die Konstruktion mentaler Repräsentationen in der TWT grundsätzlich räumlich aufgefasst wird (vgl. Werth 1999). Dabei wird die Äußerungswelt als unmittelbare Umgebung der Interaktanten als die Ebene mit der größten Nähe gefasst, während alle weiteren Ebenen von (Text-)Welten unterschiedliche Grade an Distanz zur Äußerungswelt aufweisen. Diese Nähe- und Distanzbeziehungen lassen sich an dieser Stelle etwas genauer fassen. – Die oben vorgeschlagene Rekonstruktion explizit performativer Äußerungen legt nahe, dass hier ÄW und TW (lokal) miteinander verschmelzen (blending). In diesen Fällen wird die TW also in unmittelbare Nähe zu Autorin und Leserin gerückt. Ähnliches kann grundsätzlich für den Gebrauch ‚klassischer‘ deiktischer Ausdrücke angenommen werden. – Nähe- und Distanz richten sich außerdem auf die von mir beschriebenen Relationsdimensionen der spatio-temporalen Nähe/Distanz und den Graden der faktischen Übereinstimmung. FWs können in Bezug auf diese beiden Parameter näher oder distanzierter zu einer Matrixwelt sein. – Ein weiterer Ausdruck von Nähe und Distanz liegt in der Anzahl der Ebenen, die eine Welt von einer anderen (insbesondere der ÄW) trennt: In einer mehrstufigen Welt-Welt-Relation ist die ‚äußerste‘ FW am weitesten von der ÄW entfernt (siehe Abbildung 3.11, unten). Die beschriebenen Formen von Nähe und Distanz können in konkreten Äußerungen miteinander wechselwirken, um bestimmte funktionale Effekte zu erreichen. Ein (prominentes) Beispiel hierfür stellen Höflichkeitsformen dar. Wie Werth (1999: 177) bemerkt, zeichnen sich diese durch Formen der Distanzierung eines Sprechers zu Propositionen aus. Diese Distanzierungen werden oft durch grammatische Formen indiziert, die als world-builder für distanzierte Welt-Welt-Relationen fungieren wie etwa Vergangenheitsformen, Modus oder Hilfsverbkonstruktionen. Die Konstruktion von Distanz in der Weltenarchitektur kann auch genutzt werden, um die Verantwortlichkeit eines Textproduzenten für eine Proposition von sich zu weisen. Dies kann anhand des – zugegeben sehr konstruierten – Satzes Jens
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3 Die Textwelttheorie
hat gesagt, er glaubt, dass Peter noch seine Hausaufgaben machen muss demonstriert werden (Abbildung 3.11). Jens hat gesagt, er glaubt, dass Peter noch seine Hausaufgaben machen muss. ÄW Setting: jetzt Akteure: Sprecher, Hörer _______________ Handlungsstruktur: z.B. ERZÄHLEN
TW (Matrixwelt 1) Setting: ‚vor jetzt‘ Akteure: Jens, Sprecher _________________ FAP: ‚Jens sagt zu Sprecher‘ FW1
FW1 (Matrixwelt 2) Akteure: Jens, Peter Frame: bspw. ELTERLICHE
FW2 (Matrixwelt 3) Akteure: Peter, Jens Frame: bspw. ELTERL.
AUTORITÄT
AUTORITÄT
_____________ FAP: ‚Jens glaubt‘ FW2
_____________ FAP:
FW3 Setting: vor jetzt bis nach jetzt Akteure: Peter, Jens, Sprecher, Hörer Frame: bspw. ELTERLICHE
AUTORITÄT _____________ FAP: Peter macht seine Hausaufgaben.
Abbildung 3.11: Mehrstufige Weltenarchitektur von ‚Jens hat gesagt, er glaubt, dass Peter noch seine Hausaufgaben machen muss‘.
Beim Verstehen des Satzes wird hier eine mehrstufige Weltenarchitektur konstruiert, bei der die eigentlich zentrale Proposition (bezüglich Peter und seinen Hausaufgaben) in eine FW (FW 3) ausgelagert ist, die von der ÄW durch drei weitere Welten getrennt ist. Dabei ist nur die TW den Akteuren der ÄW zugänglich. Gleichzeitig wird der Sachverhalt zudem mehrfach perspektiviert. Zwischen dem Sprecher und der Proposition besteht demnach eine mehrstufige Distanzrelation, innerhalb der er die Verantwortlichkeit für die Gültigkeit der Proposition im Wortsinne weit von sich weist.
3.6 Fazit Ich habe in diesem Kapitel die Textwelttheorie (TWT) als Modell zur Beschreibung der lokalen Wissenskonstitution in der Textkommunikation vorgestellt. Die TWT ist anschlussfähig an gängige Konzepte aus kognitiver Semantik und Textlinguistik und zudem in etablierte Modelle des Textverstehens integrierbar, wenngleich sich dabei zeigt, dass sie stärker multimodale Aspekte in den Blick nehmen muss. Der besondere Vorteil der TWT liegt darin, dass sie eine linguistisch fundierte, systematische Re-Konstruktion auf der Ebene mentaler Modelle ermöglicht. Dabei fußt die TWT auf der Annahme, dass Textverstehen auf den inkrementellen Aufbau von als Welten bezeichnet mentalen Modellen anhand textueller Indikatoren abzielt. Diese Welten repräsentieren die Textbedeutung. Aus diesem Konstruktionsprozess resultiert eine konzeptuelle Struktur, die als Weltenarchitektur bezeichnet werden kann. Eine Weltenarchitektur weist die folgende Grundstruktur auf:
3.6 Fazit
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Immer repräsentiert wird eine Äußerungswelt (ÄW) als mentale Repräsentation der Kommunikationssituation. Sie beinhaltet insbesondere die Repräsentation von Autor und Leserin und die Zuschreibung von Interaktionsrollen sowie weitere Kontextfaktoren wie Setting und Handlungsbereich. Den Vordergrund der ÄW stellt die mentale Repräsentation der Handlungsstruktur dar. Ebenfalls immer wird die Textwelt (TW) als mentale Repräsentation der textuell dargestellten Sachverhalte und Ereignisse konstruiert. Sie stellt ein Netzwerk aus Frame-Strukturen dar, das insbesondere raum-zeitliche Parameter, Objekte und Entitäten als sog. world building elements sowie HintergrundFrames enthält. Den Vordergrund der TW stellen die als function-advancing propositions (FAPs) bezeichneten Propositionen dar. Zu diesem Basis-Ensemble können auf einer dritten Ebene Fokusräume (FRs) sowie Fokuswelten (FWs) hinzukommen. Letztere besitzen stets Ankerpunkte in Matrixwelten und stehen in Welt-Welt-Relationen zur Matrixwelt. Sie ermöglichen bspw. die Realisierung von Modalität.
Der Aufbau der konzeptuellen (Frame-)Strukturen der Welten beruht darauf, dass Strukturen des verstehensrelevanten Wissens einer Rezipientin von den sprachlichen Zeichen indiziert werden, welche dann auf die mentalen Modelle übertragen werden. So bilden sich im Textverstehen komplexe und miteinander verbundene textuelle Weltentwürfe heraus. Diese werden von einer Rezipientin in ein Verhältnis zu Bezugswelten gesetzt. Ich werde im nachfolgenden Kapitel darauf eingehen, dass sich aus dem Verhältnis von Weltenarchitektur und Wirklichkeitskonzeption einer Rezipientin die Möglichkeit einer rhetorischen Erweiterung des TWT-Modells ergibt, die sie für die Zwecke einer Angewandten Linguistik und insbesondere für das in dieser Arbeit vorliegende Erkenntnisinteresse besonders attraktiv machen.
4 Rhetorik und Textwelttheorie 4.1 Rhetorik und Textkommunikation Um mich weiter dem spezifisichen Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit anzunähern, werde ich im folgenden Kapitel das in Kapitel 3 vorgestellte Modell der Textwelttheorie (TWT) zum Zweck rhetorischer Analysen erweitern. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, eignet sich das TWT-Modell besonders zur Beschreibung lokaler Wissenskonstitutionsprozesse in der Textkommunikation. Eine Spezifizierung des TWT-Modells aus rhetorischer Perspektive erscheint somit als konsequenter und vielversprechender Schritt hin zu einer Analyse der Wissenskonstitution im rhetorischen Sprachgebrauch. Die hier vorgenommene rhetorische Erweiterung des TWT-Modells zielt deshalb schlussendlich auf ein Modell und entsprechende Kategorien ab, die den Analysen im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit zugrundeliegen. Das TWT-Modell rhetorisch zu erweitern, bedeutet, es nutzbar für eine rhetorische Analyse bzw. eine Analyse der rhetorischen Strategien zu machen. Bevor das Modell konkrete Modifizierungen erfahren kann, muss deshalb geklärt werden, was es denn heißt, Texte aus einer rhetorischen Perspektive zu betrachten. Einen Vorschlag für eine systematische Betrachtung von Textkommunikation aus rhetorischer Perspektive hat Luppold (2015a; 2015b) erarbeitet. Sie möchte darin die Textrhetorik als „Schwesterdisziplin“ der Textlinguistik profilieren (Luppold 2015b: 14). Wie sich im Laufe dieses Kapitels zeigen wird, liefert Luppolds Entwurf einer Textrhetorik relevante Anknüpfungspunkte, er weicht allerdings in einigen Punkten von der hier vertretenen Forschungsperspektive ab. Ich möchte deshalb die rhetorische Perspektive auf Textkommunikation zunächst nochmals ausdifferenzieren, also aufzeigen, was es heißt, wenn Texte als Ausdruck rhetorischen Sprachhandelns – als Sprachhandeln aus rhetorischer Perspektive – betrachtet werden.
4.1.1 Handlungsfeld und Situation Eine Möglichkeit, rhetorisches Sprachhandeln zu charakterisieren, richtet sich nach dem Handlungsfeld bzw. dem Kommunikationsbereich, in dem es verortet wird. Schon Platon begreift im Gorgias rhetorisches Handeln im Wesentlichen als öffentliches staatspolitisches Sprechen, womit er dem vorherrschenden antiken Verständnis entspricht: „Rhetorisches Handeln findet in der und für die Gesellschaft statt“ (Schirren 2016: 211). Rhetorisches Handeln im privaten Raum ist demgegenüber ein sekundäres Phänomen, bei dem die – auf den öffentlich-gesellschaftlichen Handhttps://doi.org/10.1515/9783111077369-004
4.1 Rhetorik und Textkommunikation
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lungsraum ausgerichteten – Redemittel in übertragener Form Einsatz finden können (vgl. ebd.). Die Bindung an staatspolitische Kontexte zeigt sich in der rhetorischen Theorie in Form der Redegattungen (genera) und damit der spezifischen Redeanlässe. Sie repräsentieren mit Gerichtsrede, Parlamentsrede und Festrede bestimmte staatspolitische Situationen, die der sprachlichen Intervention (gerade auch im Gegensatz zu anderen Interventionsformen) bedürfen (vgl. Ottmers 2007: 23). Insbesondere handelt es sich dabei um Entscheidungsfindungen unter demokratischen Bedingungen. Eine gattungsbezogene Einschränkung rhetorischer Handlungen ist allerdings (bereits seit der Antike) nicht zulässig (vgl. Ottmers 2007: 8). Diese Grundperspektive spiegelt sich auch in der einflussreichen Abhandlung über die rhetorische Situation (rhetorical situation) von Bitzer (1968) wider. Laut Bitzer (1968: 3) ist Sprachhandeln dann rhetorisch, wenn es als Reaktion auf eine bestimmte Art von Situation reagiert. Diese rhetorische Situation zeichnet sich insbesondere durch das Vorhandensein von bestimmten Anlässen aus, die es erfordern, dass durch rhetorisches Handeln reagiert und durch die oratorische Beeinflussung eines Publikums die Wirklichkeit gemäß dem Anlass geändert wird (vgl. Bitzer 1968: 6–10). Die Handlungskontexte rhetorischen Handelns zeichnen sich zudem insbesondere durch ihre Agonalität bzw. Diskursivität aus (vgl. Burke 1969: 52; Hetzel 2010: 187–188; Hetzel 2013: IX). Rhetorisches Sprachhandeln wird dabei meist in einer dialogischen Konstellation von Rede und Gegenrede verortet, bei der im Wettstreit der Meinungen durch sprachliche Überzeugungsarbeit ein Konsens oder zumindest eine demokratische Form der Einigung erreicht werden soll (vgl. Ottmers 2007: 8–10;18). Der in der Antike klar vorherrschende Bezug rhetorischen Handelns und rhetorischer Sprachreflexion auf das politische Handlungsfeld und diskursiv-agonale Kontexte hat sich in der modernen Rhetorikforschung allerdings weitestgehend aufgelöst (vgl. Gaonkar 1997: 26). In der deutschsprachigen Linguistik findet die Rhetorik weiterhin in der Analyse politischer Sprache die größte Anwendungsform (vgl. bspw. J. Klein 2007; 2014a; 2018; Reisigl 2007; 2014; Wengeler 2003). Daneben finden sich aber zunehmend auch Übertragungen auf weitere Bereiche, die in Punkto Handlungsfeld, Redeanlass oder Adressierung gewichtig davon abweichen, wie etwa Werberhetorik (z. B. Janich et al. 2023; Lehn 2011) oder Gesprächsrhetorik (z. B. Kallmeyer 1996; Hess-Lüttich 2020).
4.1.2 Zweck-Mittel-Rationalität: Perlokution und Persuasion Während also eine Eingrenzung auf das politische Handlungsfeld heute zur Bestimmung des rhetorischen Sprachhandelns weniger bestimmend ist, tritt die Annahme einer Zweck-Mittel-Rationalität als zentrales Charakteristikum in den
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4 Rhetorik und Textwelttheorie
Vordergrund: Die Rhetorik betrachtet Sprachgebrauchsformen als von Oratoren absichtsvoll eingesetzte Mittel zum Erreichen von Zwecken. Hierin zeigt sich eine grundsätzliche Handlungsorientierung der Rhetorik, die sie in die Nähe zur pragmatischen Sprachphilosophie und insbesondere der Sprechakttheorie rücken lässt (vgl. Hetzel 2013). Auch dort werden Sprachhandlungen grundsätzlich als zweckorientiert betrachtet, was unter dem Schlagwort der Perlokution in den Blick genommen wird (vgl. Eyer 1987: 7–8). Die Perlokution betrifft die Ebene der Handlungsbeschreibung, die die vom Sprecher intendierten „Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen“ einer Rezipientin miteinbezieht (Austin 1979: 118). Staffeldt (2010: 293) führt im Anschluss an Austin (1979) drei Dimensionen perlokutionärer Effekte auf: epistemisch, motivational und emotional. Alle drei liegen auf einer mentalen Ebene und können von tatsächlichen und beobachtbaren Anschlusshandlungen (perlocutionary sequels) unterschieden werden. Perlokutionäre Effekte als zunächst einmal mentale Zustände einer Rezipientin beruhen dabei wesentlich auf dem Verstehen der Äußerungsbedeutung: Perlokutive Akte sind gemäß der klassischen Bestimmung Austins Herbeiführungen von Wirkungen auf das Denken, Fühlen und Handeln des Hörers durch sprachliche Äußerungen, wobei für das Eintreten der Wirkung Sinn und Bedeutung der Äußerung instrumental sind. (Eyer 1987: 1)
Der Perlokutionsgedanke der Sprechaktteorie weist auf eine Zweck-MittelRationalität im Sprachhandeln hin, die in der Rhetorik eine besondere Rolle spielt. Als zentrales Ziel des rhetorischen Sprachhandelns wird im Allgemeinen die Persuasion betrachtet (Burke 1969: 61–62; Knape 2003: 874). Im Deutschen wird Persuasion meist mit Überzeugen (oder auch Überreden) übersetzt, womit zumeist eine Art kognitiver Vorgang als Resultat strategischen Sprachhandelns gemeint ist, bei dem Einstellungen bzw. Überzeugungen einen bestimmten Status verliehen bzw. aberkannt bekommen (vgl. Drescher 2019: 1): Mit [Persuasion, NS] wird struktural der Wechsel von einem mentalen Zustand in einen anderen bezeichnet, der bei Menschen als erwünschte Reaktion auf kalkulierte, Widerstand umgehende oder überwindende rhetorische Handlungen eintritt. Dies wird meistens als das eigentliche Erfolgsziel rhetorischer, also strategisch-kommunikativer Praxis angesehen. (Knape 2003: 874)
Damit es zu einem mentalen Wechsel kommt, müssen also (meist) Widerstände überwunden oder umgangen werden (vgl. Luppold 2015a: 21). Als Resultat dieses mentalen Wechsels können Anschlusshandlungen auftreten (etwa als Konsequenz von Wahl- oder Kaufentscheidungen). Dabei wird von einer Mittelbarkeit von rhetorischem Sprachhandeln und beobachtbaren Anschlusshandlungen ausgegangen. Im Lichte einer pragmatischen Linguistik bezeichnet Persuasion demnach das Herbeiführen eines bestimmten (bspw. epistemischen oder motivationlen) perlokutio-
4.1 Rhetorik und Textkommunikation
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nären Effekts gerade auch gegenüber möglichen Widerständen durch strategischen einsatz sprachlicher Mittel.
4.1.3 Die rhetorischen Wirkdimensionen Das Herbeiführen des intendierten perlokutionären Effekts im Rahmen der Persuasionsoperation wird aus rhetorischer Sicht auf den (planvollen) Einsatz bestimmter sprachlicher Mittel zurückgeführt (vgl. Knape 2003; Ortak 2004; Roth 2015: 65; Luppold 2015a: 25). Damit diese das Eintreten eines Effekts begünstigen, müssen sie zu einer bestimmten Verstehensleistung führen. Diese (beabsichtigte) Art des Verstehens kann als die (beabsichtigte) rhetorische Wirkung eines Sprachgebrauchs bezeichnet werden. Die klassische Rhetorik betrachtet Aspekte des Sprachgebrauchs ganz im Sinne der Zweck-Mittel-Rationalität im Hinblick auf ihren Beitrag zur Persuasion. Der systematisierende Blick auf Sprachgebrauchsformen wird dabei nicht von der Form, sondern von der Wirkung her gedacht. Als bestimmend ist hier nach wie vor die Dreiteilung der „Überzeugungsmittel“ (Ottmers 2007: 123) nach Aristoteles in Ethos, Logos und Pathos zu nennen (vgl. auch Ueding & Steinbrink 1994: 277). Aristoteles führt dabei drei verschiedene Ressourcen auf, auf die die Überzeugungskraft der Rede in einem Kommunikations- bzw. Situationsmodell des rhetorischen Handelns zurückgeführt werden kann (vgl. Knape 2010: 26)42: die Glaubwürdigkeit des Orators (Ethos), die argumentative Beweiskraft der Sachverhaltsdarstellung (Logos) und die emotionale Verfassung der Adressatinnen (Pathos). Von den durch die Rede geschaffenen Überzeugungsmitteln gibt es drei Arten: Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt, zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen, zuletzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen. (Aristoteles 1999: 12)
In der v. a. durch Cicero geprägten und von Quintilian systematisierten römischen Rhetorik wird die Aristotelische Trias der Mittel aufgegriffen und zu „Wirkungsfunktionen“ (Ueding & Steinbrink 1994: 277) umgedeutet, auf die der Redner zum Zweck der Persuasion abzielt: Dem Logos entspricht das rationale Belehren (docere) und dem Pathos das Erregen der Leidenschaften (movere). Das Ethos hingegen wird zum Unterhalten (conciliare, delectare) umgedeutet, welches sich durch eine nur leichte Gemütsregung auszeichne und lose mit der erkannten bzw. demonstrierten Sittlichkeit des Orators in einen Zusammenhang gesetzt
Zu Ähnlichkeiten des Aristotelischen Redemodells mit Bühlers Organonmodell vgl. Beck (1996: 37–39).
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wird (vgl. Plantin 2006: 283; Ueding & Steinbrink 1994: 280). Die römische Auffassung betont gegenüber der aristotelischen den funktional-prozessualen Aspekt der drei Überzeugungsdimensionen, vernachlässigt aus meiner Schicht allerdings die Komplexität des Ethos, weshalb ich mich in dieser Arbeit grundsätzlich auf die aristotelische Trias von Ethos, Logos und Pathos beziehe. Die auf Aristoteles zurückgehende Bezeichnung von Ethos, Logos und Pathos als Überzeugungsmittel halte ich jedoch für irreführend, da das einzige echte Mittel, welches der Orator strategisch einsetzen kann, das sprachliche Zeichen selbst darstellt. Mit Ethos, Logos und Pathos sind vielmehr drei Aspekte der Bedeutung bzw. der intendierten Verstehensleistung angesprochen, die sich in der rhetorischen Praxis als wirkungsvoll herausgestellt haben bzw. deren Beitrag zur Persuasionsoperation sich in der rhetorischen Praxis bereits seit der Antike erwiesen hat. Knape (2010: 27) spricht entsprechend von „drei semantische[n] Schichten“ des Redetextes, auf die das „Interaktionskalkül“ des Orators abziele (vgl. auch Knape 2012: 117–118). Ich schließe mich deshalb Roth (2018: 488) an, der Ethos, Logos und Pathos als „Trias aus drei Wirkdimensionen der rhetorischen Kommunikation“ bezeichnet. Sie dienen somit als kategoriale Hinweise auf die persuasionsrelevanten Aspekte der Äußerungsbedeutung, deren Herbeiführung durch den Einsatz sprachlicher Mittel in der rhetorischen Betrachtung fokussiert wird.
4.1.4 Zwischenfazit: Die rhetorische Perspektive auf Sprachhandlungen Bevor ein Zusammenhang bzw. eine Schnittstelle von Rhetorik und TWT diskutiert werden kann, möchte ich an dieser Stelle ein kurzes Zwischenfazit zu den bisherigen Ausführungen über die rhetorische Sichtweise auf Sprachgebrauch ziehen. Eine Sprachhandlung aus analytischer Perspektive als rhetorische Handlung zu betrachten, bedeutet zunächst ... – ... sie als soziale, d. h. gemeinschafts-orientierte Handlung zu betrachten (vgl. Gardt 2003: 386; Roth 2004: 114). – ... sie prototypisch als eingebettet in agonale Handlungszusammenhänge zu betrachten (wie sie insbesondere in Diskursen vorliegen). – ... sie als absichtsvolle Handlung eines Orators (also eines sozialen Subjekts), der damit bestimmte Ziele verfolgt, und somit als strategisches Mittel zum Erreichen eines (perlokutionären) Zwecks zu betrachten. – ... diesen Zweck in erster Linie als Beeinflussung mentaler Zustände des Fürwahr-Haltens, Wollens und Fühlens von Adressatinnen zu begreifen und die Handlung entsprechend der Zweck-Mittel-Rationalität unter diesem Gesichtspunkt als teleologisch zu betrachten.
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... die Erreichung dieses Zwecks auf eine rhetorische Wirkung entlang der als spezifische Verstehensleistungen begriffenen Dimensionen Ethos, Logos und Pathos zurückzuführen. ... an einer Sprachhandlung entsprechend nicht alles zu betrachten, sondern das, was zu diesem Prozess der Persuasion (also der so skizzierten sozialen Einflussnahme) systematisch beiträgt – also die rhetorischen Mittel im Rahmen der rhetorischen Strategie analytisch zu fokussieren.
Die Charakterisierung ist für das Selbstverständnis der vorliegenden Arbeit und entsprechend auch für die weiteren Überlegungen zur rhetorischen Erweiterung des TWT-Modells leitend. Es handelt sich dabei um eine sprachreflexiv-analytische Sichtweise, die auch eine weitere – bislang unerwähnte Facette des rhetorischen Blickes betrifft: Der rhetorischen Theorie wohnt eine gewisse demokratische Ethik inne, die sich auf das Zustandekommen von Einigungsprozessen bezieht und durch Prinzipien wie Dialogizität, Sozialität und Gewaltfreiheit ausdrückt (vgl. J. Klein 2014a: 197–200; Roth 2004: 107–124). Die rhetorische Sprachanalyse zielt auch darauf ab, einen Sprachgebrauch der Sprachkritik zugänglich zu machen (vgl. Gardt 2003), worauf ich im abschließenden Teil der Arbeit (Kapitel 11) kurz zurückkommen werde. Die rhetorische Perspektive richtet sich dabei bereits seit dem Mittelalter nicht alleine auf die Form der mündlichen Rede, sondern bezieht schriftliche Kommunikate mit ein und überträgt ihre Blickweise, ihre Systematik und ihr Erkenntnisinteresse somit auch auf die Textkommunikation (vgl. Ottmers 2007: 34). Texte werden dabei als „Manifestationen eines zweckrationalen Kalküls, eines erfolgsorientierten Plans, kurz: einer rhetorischen Textstrategie“ betrachtet (Luppold 2015b: 15).
4.1.5 Plausibilitätsdimensionen des geteilten Wissens Der rhetorische Blick auf Texte richtet sich also darauf, inwiefern der Einsatz bestimmter sprachlicher Formen zu einer bestimmten Verstehensleistung führt, welche das Eintreten eines beabsichtigten perlokutionären Effekts im Rahmen der Persuasionsoperation begünstigt. Wie ich in Kapitel 2 ausgeführt habe, betrachte ich in der vorliegenden Arbeit die Verstehensleistung einer Rezipientin als (lokale) Wissenskonstitution, die auf die (lokale) Konstruktion mentaler Modelle zurückgeführt werden kann. Aus dieser Perspektive muss die rhetorische Wirkung entlang der drei Wirkdimensionen Ethos, Logos und Pathos als spezifische Verstehensleistung in das Modell der (lokalen) Wissenskonstitution integrierbar sein. Eine rhetorische Perspektive richtet ihren Blick also darauf, wie
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sprachliche Formen so zum Aufbau mentaler Modelle (in TWT-Begriffen: Welten) beitragen, dass die darin verankerten Formen der Selbstdarstellung, Sachverhaltsdarstellungen und Emotionalisierungen zur Persuasion beitragen. Die Wirkungsdimensionen Ethos, Logos und Pathos können somit auf Strukturen des lokalen geteilten Wissens zurückgeführt werden, die ich als die Plausibilitätsstrukturen des geilten Wissens bezeichnen werde. Mit diesem Begriff soll ausgedrückt werden, dass die Konstruktion dieser epistemischen Strukturen bestimmte potentiell strittige Bedeutungsbestandteile – bspw. Propositionen – in einer geteilten „Verstehensumgebung“ von Orator und Rezipientin „mehrheitsfähig“ machen und somit die Anschlussfähigkeit des konstruierten Weltenmodells an die Wirklichkeitskonzeption (bzw. die jeweilige Bezugswelt) der Rezipientin begünstigen (Böhnert & Reszke 2015: 49–50). Ein ähnlicher Gedanke findet sich in Luppold (2015a: 193). Auch sie betrachtet Texte als Anweisungen zum Aufbau mentaler Modelle in Form von Textweltrepräsentationen: Die im Verstehen aufgebauten Textweltmodelle gäben einer Adressatin die Möglichkeit, Wirklichkeitsentwürfe beim Verstehen durchzuspielen. Ziel des Orators sei es, dass die im Verstehen aufgebaute Textweltrepräsentation von der Adressatin als Weltentwurf angenommen werde (vgl. Luppold 2015a: 196–198). Dazu würden die rhetorischen Überzeugungsmittel eingesetzt, die als „Strukturen, die dazu geeignet sind, den Adressaten über die Schwelle vom bloßen Verstehen einer Äußerung hinüber zum Zustimmen bzw. zum Anerkennen der Gültigkeit des Äußerungsinhalts zu führen“, bezeichnet werden (Luppold 2015a: 197). Allerdings führt Luppold (2015a) diese aus meiner Sicht hochrelevanten Grundannahmen weder weiter aus noch erfahren sie bei ihr eine methodische Spezifizierung. Dies mag auch daran liegen, dass sie auf ein Modell zur Beschreibung des Textverstehens und des konstituierten Wissens verzichtet. Genau hierauf jedoch liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit. Entsprechend geht es in diesem Kapitel darum, das in Kapitel 3 präsentierte grundsätzliche TWT-Modell als Modell für rhetorische (Text-)Analysen zu erweitern. Da sich solche Analysen vorrangig auf die rhetorischen Mittel richten, die auf eine Wirkung entlang der Dimensionen Ethos, Logos und Pathos zielen, geht es also darum zu sehen, inwiefern diese drei Wirkdimensionen im Rahmen des TWT-Modells erfasst werden können. Dazu werde ich in den folgenden Abschnitten immer jeweils nach einem dreischrittigen Prinzip vorgehen: Zunächst werde ich einen Überblick darüber geben, wie die entsprechende Wirkdimension in klassischen und neueren Rhetorikkonzeptionen aufgefasst wird (Schritt 1). Dann werde ich relevante linguistische Zugänge zum ‚Problemfeld‘ aufzeigen (Schritt 2) und daraus zuletzt eine Integration der rhetorischen Perspektive in das TWTModell ableiten (Schritt 3).
4.2 Logos – Argumentation
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4.2 Logos – Argumentation Die Wirkdimension des Logos bezeichnet laut Aristoteles die Überzeugungskraft, die durch die Rede selbst geschaffen wird: „Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt“ (Aristoteles 1999 [1356a]: 19). Dementsprechend wird Logos häufig mit sachlogischer Argumentation bzw. mit „sachlogischen Beweisverfahren“ (Ottmers 2007: 123) übersetzt und in Abgrenzung zu den beiden affektiven Dimensionen Ethos und Pathos als die rationale Komponente des Überzeugens begriffen (vgl. Luppold 2015b: 121; Ueding & Steinbrink 1994: 277). Die Bezeichnung sachlogisch erweckt dabei vielfach den Eindruck eines Zusammenhangs von Logos und Logik. Zwar ist die Entwicklung der Logik historisch mit der Entwicklung der antiken Argumentationstheorie gerade auch in der Person Aristoteles‘ verbunden. Allerdings ist in neuerer Zeit immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Argumentation als natürlichsprachliches Verfahren nicht durch Begriffe und Konzepte der formalen Logik beschreib- oder gar erklärbar sei (vgl. Kienpointer 2017: 190; W. Klein 1981: 232; Römer 2017: 89; Toulmin 1995: 7). Die formale Logik kann höchstens als eine mögliche Quelle der Argumentationskritik herangezogen werden (vgl. Hannken-Illjes 2018: 41). Die enge Verbindung von Argumentation und Rationalität bzw. Vernunft ist zudem bis zu einem gewissen Grad idealisierend, wenn es um die Betrachtung von Alltagsargumentation geht. Erschwerend kommt hinzu, dass aus rhetorischer Perspektive eigentlich alles als Argumentation aufgefasst werden kann (vgl. Roth 2004: 178). Tatsächlich findet sich ein entsprechend weites Argumentationsverständnis etwa in der sog. Neuen Rhetorik wieder (siehe Abschnitt 4.2.2), in der auch Selbstdarstellung und Emotionalität als Facetten der Argumentation betrachtet werden. Allerdings kann nach solchen Auffassungen dann nicht mehr analytisch zwischen den einzelnen Wirkdimensionen getrennt werden. Für diese Arbeit wird also ein Argumentationsbegriff benötigt, der zur Beschreibung natürlichsprachlicher textueller Verfahren bzw. Handlungsmuster geeignet ist, und der gleichzeitig nicht zu eng und nicht zu weit ist.
4.2.1 Logos und Argumentation in der antiken Rhetorik Das Lehrgebäude der antiken Rhetorik beinhaltet bereits eine umfangreiche Argumentationstheorie, die entsprechend in vielen Darstellungen des antiken Systems – neben der Figurenlehre – einen großen Platz einnimmt (bspw. bei Ottmers 2007). Im antiken rhetorischen System wird die Argumentationslehre v. a. anhand des paradigmatischen Falls der Gerichtsrede entwickelt. Dort lässt sie sich im Gliederungsteil (pars orationis) der namensgebenden argumentatio verorten, die auf die narratio,
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4 Rhetorik und Textwelttheorie
den Bericht über die zu verhandelnden Geschehnisse, folgt (Ottmers 2007: 58; Ueding & Steinbrink 1994: 236). Es geht dabei in erster Linie darum, Beweise dafür darzulegen, dass ein bestimmter Tatbestand erfüllt ist. Voraussetzung ist hierfür zunächst, dass man sich darüber im Klaren ist, welcher Art die zu verhandelnde rechtliche Angelegenheit/Frage ist (status). Aus dem Vertreten verschiedener Standpunkte zu dieser Angelegenheit durch Anklage (accusatio) und Verteidigung (depulsio) resultiert die Quaestio, die strittige Frage, die in der argumentatio zu beantworten ist (vgl. Ottmers 2007: 68–69; Ueding & Steinbrink 1994: 255). Die Quaestio wird argumentativ durch das Vorbringen von Beweisen beantwortet. Die antike Rhetorik unterscheidet zwischen technischen und atechnischen Beweisen (vgl. Fuhrmann 1990: 90–91). Technische Beweise sind die durch die Rede erbrachten Beweise, während atechnische Beweise etwa Zeugenaussagen, Testamente etc. umfassen. Als wichtigste Form des technischen rhetorischen Beweises wird in der aristotelischen Tradition das Enthymem hervorgehoben, das von Aristoteles in einer Analogie zum dialektischen Schluss, dem Syllogismus, entwickelt wird. Oft wird das Enthymem (heute) auch als verkürzter Syllogismus aufgefasst, wobei die antike Rhetorik darin ein eigenes Schlussverfahren sieht (vgl. Ueding & Steinbrink 1994: 266). Während ein Syllogismus grundsätzlich aus (mindestens) zwei Prämissen besteht, aus denen ein Schluss ableitbar ist, zeichnet das Enthymem aus, dass hier eine der Komponenten (meist die Schlussregel) fehlt. Zudem besitzt es keine formale Gültigkeit im logischen Sinne und zielt in seiner Verwendungsweise nicht auf den Nachweis zeitloser Behauptungen und Sätze, sondern auf den pragmatischen Erfolg in einem situativen Kontext (vgl. Ottmers 2007: 77). In den lateinischen Rhetoriken findet sich mit dem Epicherem (lat. ratiocinatio) zudem eine weitere Ausarbeitung des Enthymem-Schemas zu einem fünfgliedrigen Schema (vgl. Ottmers 2007: 80–83). Damit ein Enthymem vom Publikum als gültig aufgefasst wird, muss der Orator die Beziehung zwischen den Teilsätzen, insbesondere der spezifischen Prämisse und der Konklusion, anhand einer vom Publikum geteilten und allgemein als gültig angesehenen Aussagenrelation etablieren. Hierfür werden die – heute manchmal auch alltagssprachlich als Allgemeinplätze bezeichneten – Topoi (bzw. loci) herangezogen (vgl. Fuhrmann 1990: 94–95; Ottmers 2007: 89; Ueding & Steinbrink 1994: 243; Wengeler 2003: 177–178). Im klassischen rhetorischen System sind diese Topoi Fundplätze, das heißt heuristische Mittel zur Konzeption von Argumentationen. Sie wurden entsprechend meist in der Form von Inventaren oder Listen angegeben, auf die der Redner bei der Konzeption der Argumentation in der Produktionsphase der inventio als „starting points“ zurückgreifen konnte (Perelman & Olbrechts-Tyteca 1969: 83). Topoi bilden damit Argumentationsschemata, die für den konkreten zu verhandelnden Fall ‚rekrutiert‘ werden können.
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4.2.2 Argumentation und Neue Rhetorik Die klassische Rhetorik entwickelte mit den Konzepten Status, Quaestio, Enthymem und Topos ein beachtliches Instrumentarium, das sich für die Argumentationsforschung bis heute als prägend erwiesen hat. Tatsächlich kann die Argumentationstheorie als das Kernstück der modernen Rhetorik-Renaissance im Rahmen der sogenannten Neuen Rhetorik betrachtet werden, die insbesondere mit den Arbeiten von Stephen Toulmin und Chaim Perelman in Verbindung gebracht wird. Argumentation als Sprachgebrauch (Toulmin) Toulmin (2003) entwickelt in seinem 1958 erstmals erschienenen einflussreichen Buch The Uses of Argument ein prozessuales Argumentationsschema, das aus der Erkenntnis der Unzulänglichkeit eines rein logisch-formalistischen Argumentationsbegriffs erwachsen ist und darauf abzielt, natürliche Argumentationen erfassbar zu machen. Formal weist es zwar noch immer gewisse Ähnlichkeiten mit einem Syllogismus auf, weswegen es insbesondere für die Beschreibung von Enthymemen als geeignet angesehen wird (vgl. Niehr 2017: 168–170). Reisigl (2014: 74) weist zudem darauf hin, dass es dem Epicherem bei Cicero ähnelt. Im Gegensatz zu einem logischen Syllogismus jedoch geht das Schema nicht von Prämissen zu Konklusionen über, sondern betrachtet eigentlich den umgekehrten Weg – auch wenn das in der häufig genutzten Links-rechts-Darstellung nicht wirklich klar zum Ausdruck kommt: Behauptungen (claims) werden gerechtfertigt, indem Gründe (data) angegeben werden, die über Schlussregeln (warrants) die Plausibilität der Behauptungen sichern (vgl. Toulmin 2003: 92). Eine besondere Berücksichtigung im Schema erfahren dabei die Schlussregeln. Diese stellen die kohärente Verbindung von Gründen und Behauptungen her und sichern/bedingen so die Überführung der Geltung des Grundes auf die Behauptung. Gerade die Schlussregeln werden in natürlichen Argumentationen jedoch häufig nicht versprachlicht, sondern können als bei der Rekonstruktion des Arguments impliziert angenommen werden. Busse (2008: 63) verweist darauf, dass solche „Stützungselemente einer textbasierten Schlussregel“ als Teil des verstehensrelevanten Wissens einer Sprechergemeinschaft beschrieben und erklärt werden können. Als solches werden Schlussregeln häufig mit Topoi gleichgesetzt (z. B. Reisigl 2014: 75; vgl. dazu ausführlich Eggs 1996: 625; Kienpointer 2017: 191). Das Toulmin-Schema hat sich für die linguistische Argumentationsanalyse als sehr einflussreich erwiesen (vgl. bspw. Niehr 2017; Reisigl 2014). Römer (2017: 97) bemerkt zwar kritisch, man könne damit durchaus Argumente rekonstruieren, reale Argumentationen seien aber teilweise weniger bzw. anders strukturiert oder deutlich komplexer, weshalb eine „schablonenhafte Anwendung [...] in der
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konkreten Analyse von Diskursen grundsätzlich zu Problemen führen“ würde. Wie Luppold (2015b: 128) allerdings feststellt, sei das Toulmin-Modell trotz berechtigter Kritik „in der konkreten Textanalyse in vielen Fällen jedoch überraschend gut einsetzbar“. Argumentation im Reich der Rhetorik (Perelman) Den vielleicht bedeutendsten Beitrag zur Entwicklung der Neuen Rhetorik liefern Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca mit ihrer namensgebenden Arbeit The New Rhetoric (1969). Perelman & Olbrechts-Tyteca (1969) wollen dabei – ähnlich wie Toulmin (2003) – Argumentation als sprachliches Verfahren von den logischen Schlussverfahren der Demonstration deutlich abgrenzen. Sie betonen, dass Argumentation ein auf Konsens bzw. Zustimmung abzielendes sprachliches Verfahren sei (vgl. ebd.: 45; Perelman 1980: 30). Dazu müsse ein Sprecher eine Verbindung mit einem bestimmten Publikum herstellen und einen „contact of minds“ (Perelman & Olbrechts-Tyteca 1969: 14) ermöglichen, der zu einer „mental cooperation“ (ebd.: 16) führen könne. Die data (also das als gegeben Vorausgesetzte oder Präsentierte) der Argumente sind – im Gegensatz zu den Daten der logischen Demonstration – in ihrer Interpretation abhängig von der Präsentationsweise und damit einhergehenden Perspektivierungen durch die Sprecherin (vgl. ebd.: 121). Dabei werden durch die jeweilige sprachliche Form bestimmte Aspekte der Daten hervorgehoben (vgl. ebd.: 126). Dieses Perspektivieren und Hervorheben wird im Konzept der sogenannten Präsenz erfasst (vgl. Perelman 1980: 43): By the very fact of selecting certain elements and presenting them to the audience, their importance and pertinency to the discussion are implied. Indeed, such a choice endows these elements with a presence, which is an essential factor in argumentation and one that is far too much neglected in rationalistic conceptions of reasoning. (Perelman & OlbrechtsTyteca 1969: 116)
Die zentrale Rolle bei der Präsentationsweise spielt dabei der sprachliche Ausdruck, wozu auch rhetorische Figuren zählen. Allerdings betonen Perelman & Olbrechts-Tyteca (1969: 168–177), dass letztlich jede sprachliche Struktur als Figur betrachtet werden könne, wenn sie von den Analysierenden relativ zu einem bestimmten Effekt gedeutet werde. Ausgehend von der Rolle der sprachlichen Darstellungs- und Erscheinungsweise unterscheiden Perelman & Olbrechts-Tyteca (1969) verschiedene Argumentationstechniken. Dabei geht es ihnen offensichtlich weniger um rekonstruierbare (Schluss-)Schemata, als um deren sprachliches ‚Daherkommen‘. Sie unterscheiden hierzu:
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quasi-logische Argumentationstechniken, die ihre Gültigkeit vorgeblich aus ihrer Ähnlichkeit zu logischen Schlussverfahren und mathematischen Formeln beziehen, wie etwa aus dem Satz des Widerspruchs (vgl. ebd.: 193), Argumente, die auf der Struktur der Wirklichkeit aufgebaut sind, bei denen also eine „solidarity“ zwischen akzeptierten und zustimmungsbedürftigen Urteilen aus den Strukturen der Wirklichkeit abgeleitet werden soll, während die zugrundeliegenden Verhältnisse selbst nicht problematisiert werden (ebd.: 261), Relationen, die eine Struktur der Wirklichkeit etablieren, bspw. Beispielargumente und Illustrationen bzw. Veranschaulichungen (vgl. ebd.: 350), Dissoziationen von Konzepten, bei denen insbesondere Verbindungen von Strukturen der Wirklichkeit bzw. von Prämissen aufgebrochen werden (vgl. ebd.: 411).
Argumentation beruht dabei auf einem Übereinkommen zwischen Sprecherin und Publikum bezüglich bestimmter Fakten, Annahmen, Werte, Hierarchien und argumentativen Loci bzw. Topoi (vgl. ebd.: 65–83). Ob eine Argumentation erfolgreich ist, bemisst sich demnach wesentlich danach, ob eine Sprecherin sich eine zutreffende Vorstellung von ihrem Publikum macht (vgl. ebd.: 19–22), denn die Aufgabe eines Orators besteht darin, seine Argumentation bestmöglich auf das Publikum abzustimmen (vgl. Perelman 1980: 30). Dabei geht die Neue Rhetorik von einem ganzheitlichen Menschenbild aus, das auch in seiner Gänze – also sowohl Vernuft, Wille und Gefühle umfassend – adressiert werden müsse (vgl. ebd.: 22). Das Argumentationsverständnis der Neuen Rhetorik weist somit weit über ein auf den rhetorischen Logos beschränktes Verfahren hinaus und bezieht auch die Person des Redners sowie die Affektlage des Publikums mit ein (vgl. ebd.: 103). Die Neue Rhetorik erhebt damit einen Universalitätsanspruch, bei dem letztlich nicht mehr zwischen Argumentation und Rhetorik differenziert werden kann (vgl. ebd.: 163). Während es Toulmin (2003) also vorrangig darum geht, ein Rekonstruktionsschema für natürlichsprachliche Argumentationen zu entwickeln, welches Einsichten in die oft implizite Funktionsweise des Geltendmachens verschaffen soll, verzichten Perelman & Olbrechts-Tyteca (1969) auf eine methodische Darlegung abstrakter Strukturen und interessieren sich stattdessen stärker für die spezifischen sprachlichen Verfahren. Eine Kombination der beiden Ansätze, die sich komplementär ergänzen, bietet sich für den Zweck der vorliegenden Arbeit daher an.
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4 Rhetorik und Textwelttheorie
4.2.3 Ein linguistischer Argumentationsbegriff Die Linguistik hat sich bereits seit einiger Zeit mit starkem Interesse der Analyse von Argumentationen zugewandt und dazu die Erkenntnisse und Modelle sowohl der antiken als auch der Neuen Rhetorik als Ausgangspunkt gewählt (vgl. Kienpointer 2017; Niehr 2017; Wengeler 2003). Argumentation wird dabei zumeist als Sprachhandlungsmuster aufgefasst, wobei eine Integration der Argumentation in bestehende textlinguistische Systematiken sich durchaus als herausfordernd erweist. Als problematisch kann hier vor allem die Identifizierung von Argumentation als Vertextungsmuster gesehen werden (vgl. Gansel & Jürgens 2007: 158)43. Ich werde im Folgenden, ausgehend von W. Klein (1981) und den beiden zuvor dargestellten Ansätzen, einen Vorschlag für einen textlinguistisch nutzbaren Argumentationsbegriff aus einer vorrangig verstehensorientierten Perspektive entwickeln. Argumentation und Argument nach W. Klein (1981) Die meisten Linguistinnen begreifen Argumentation als komplexes Handlungsmuster, über dessen genaue Definition jedoch weitestgehend Uneinigkeit besteht (vgl. Kindt 2009: 66; W. Klein 1981: 226; Römer 2017: 87; van Eemeren 2019: 3). Statt den vermutlich aussichtslosen Versuch zu unternehmen, an dieser Stelle sämtliche linguistische Argumentationsbegriffe zu diskutieren, werde ich mich in dieser Arbeit grundsätzlich an dem Argumentationsverständnis orientieren, das Wolfgang Klein in seinem Aufsatz Logik der Argumentation (1981) entwirft. Kleins Bestimmung von Argumentation ist für mich deshalb noch immer richtungsweisend, weil er, im Gegensatz zu fast allen anderen Linguistinnen, einen nach meinem Ermessen bedeutsamen Unterschied hervorhebt: Er unterscheidet zwischen der komplexen natürlichsprachlichen Sprachhandlung ‚Argumentation‘ auf der einen und dem abstrakten Konstrukt ‚Argument‘ auf der anderen Seite. Die komplexe Sprachhandlung der Argumentation wird von ihm dadurch bestimmt, dass sie darauf abzielt, die Struktur des Arguments zu entwickeln: Ein bestimmender Faktor für eine komplexe sprachliche Handlung ist sicher die Art der Aufgabe, deren Lösung ansteht. Die konstitutive Aufgabe einer Argumentation ist es, ein ‚Argument‘ zu entwickeln. Ein solches Argument läßt sich als eine Menge von Aussagen darstellen, die in einer bestimmten (‚logischen‘) Weise miteinander verbunden sind und die in eine Antwort auf eine strittige Frage, die ‚Quaestio‘ der Argumentation, münden. Ein Argument be-
Ein entsprechender Beitrag (Eggs 2000) im HSK Text- und Gesprächslinguistik verzichtet bspw. auf eine Beschreibung des Musters ‚Argumentation‘ zugunsten eines Explizierens „logischer Grundlagen“, eine Abgrenzung zum Muster der Explikation fällt den Herausgeberinnen und Autorinnen des Handbuchs überdies offenbar schwer.
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steht also aus relativ abstrakten Einheiten: es sind Inhalte, die sich durch Aussagen in einer natürlichen oder künstlichen Sprache ausdrücken lassen. Eine Argumentation hingegen besteht – wie jede komplexe sprachliche Handlung – aus Äußerungen, beispielsweise Behauptungen, Fragen, Einwänden, Zurückweisungen, Zwischenrufen, usw., und ihr Zusammenhang ist im allgemeinen nicht in jenem Sinne ‚logisch‘, in dem die Einheiten eines Arguments miteinander zusammenhängen: ein Argument ist eine abstrakte Struktur, die bestimmten Kriterien zu genügen hat, eine Argumentation der oft durch Fehlschläge, Irrwege, Positionskämpfe bestimmte Versuch, eine solche Struktur zu entwickeln. (W. Klein 1981: 226)
Die linguistische Definition der Argumentation setzt somit eine nähere Bestimmung des Argument-Begriffs voraus. In der Struktur des Arguments lassen sich dabei zunächst mehrere Konstituenten ausmachen: Aussage, Verbindung, Antwort auf die Quaestio und Quaestio. Das legt nahe, dass sich Kleins Vorstellung eines Arguments mit den etablierten Vorschlägen einer Argument(ations)rekonstruktion wie insbesondere dem Toulmin-Schema gut vereinbaren lässt. Problematisch scheint an dieser Stelle jedoch, dass er die Einheiten des Arguments als Aussagen bezeichnet und sie nicht ausdrücklich mit linguistischen Größen in Verbindung bringt. Tatsächlich greifen die meisten linguistischen Argumentationsverständnisse bei der Bezeichnung solcher Argumentbestandteile auf logische Terminologien (wie bspw. Prämissen) zurück. In der einflussreichen Argumentationstheorie der Pragmadialektik werden hierfür die prädikatenlogischen Propositionen der Sprechakttheorie verwendet (vgl. van Eemeren 2019: 21). Da ich die abstrakten Einheiten des Arguments als Verstehensleistung einer Rezipientin begreife, liegt es aus meiner Sicht nahe, die Aussagen bei W. Klein (1981) mit den frame-semantisch aufgefassten Propositionen der TWT gleichzusetzen (vgl. dazu Kapitel 3.2.2). Eine Argumentstruktur besteht demnach aus den frame-basierten konzeptuellen Einheiten der im Textverstehen aufgebauten epistemischen Struktur. Das kollektiv Strittige: Die Quaestio Eine Argumentation setzt laut W. Klein (1981: 229) dreierlei voraus: Es muss für eine bestimmte Gruppe von Menschen „eine Frage geben, auf die – zu einem gegebenen Zeitpunkt – mehrere Antworten vertreten werden“; diese Frage muss strittig sein, d. h. es muss für die Gruppe pragmatische Gründe dafür geben, diese Frage entscheiden zu wollen/müssen; und es muss innerhalb der Gruppe Gründe dafür geben die Entscheidung über die Frage argumntativ zu fällen „und nicht z. B. durch Würfeln oder ein Duell“. Das Strittige als funktionaler Bezugspunkt der Argumentation findet sich in den meisten linguistischen Argumentdefinitionen wieder (z. B. Römer 2017: 87; Niehr 2017; Schröter & Thome 2020: 265; van Eemeren 2019: 3). Interessant am Ansatz von W. Klein (1981) ist, dass sowohl Argumentation als auch Argument von diesem Gesichtspunkt her gedacht werden. Die Quaestio wird zum definitorischen Fluchtpunkt des Argumentationsbegriffs: Der Bezug auf eine Quaes-
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tio macht aus einer verbundenen Menge von Aussagen bzw. Propositionen ein Argument. Und die Konstruktion eines Arguments macht aus einer Sprachhandlung eine Argumentation. Tatsächlich ist die Explizierung des Argumentationsbegriffes durch einen Quaestio-Ansatz, bei dem ein strittiger Sachverhalt als Auslöser der Argumentation angesehen wird, ein typisches Charakteristikum rhetorischer Argumentationsverständnisse (vgl. Kindt 2009: 65). Eggs (1996: 622) sieht darin ein „fast triviales Faktum [...]: Jede Argumentation antwortet notwendig auf ein Problem“44. Allerdings kann man in Eggs‘ Verständnis „zu Problemen argumentativ nur auf zwei Weisen Stellung nehmen [...]: pro oder contra“ (ebd.: 622). Eine argumentative Quaestio kann in diesem Sinne nur als geschlossene Frage beschrieben werden. Entsprechend grenzt Eggs den Begriff einer argumentativen Quaestio auch deutlich von dem Quaestio-Begriff aus der Textproduktionsforschung ab, der im Wesentlichen W-Fragen impliziere (vgl. Eggs 2000: 399). Folgt man allerdings dem Argumentationsverständnis von W. Klein (1981), lässt sich ein anderer Begriff einer argumentativen Quaestio ableiten: Die Quaestio ist demnach eben nicht eine strittige Aussage selbst. Vielmehr ist sie ein – einer solchen vorausgehendes – Problem, das „eine Klasse von Antworten“ (W. Klein 1981: 234) definiert, die alle in Bezug auf einen Geltungsanspruch – relativ zur Quaestio – angeführt werden. W. Klein (1981: 230) unterscheidet dabei zwischen faktischen und normativen Quaestiones, wobei er zu letzteren sowohl moralische als auch ästhetische Fragen zählt. Eine Bestimmung von Argumentationsweisen nach den in ihnen verhandelten Geltungsansprüchen ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Ich halte es mit Klein aber für sinnvoll, den Ursprung des jeweiligen Geltungsanspruches in der Art der Quaestio zu verorten. Gemeinsam ist den beiden Auffassungen von Eggs (1996; 2000) und W. Klein (1981), dass mit der Quaestio-Orientierung eine grundsätzliche Dialogizität von Argumentation ins Spiel kommt (vgl. Eggs 2000: 398), wodurch sich die Perspektive auf Argumentation um die Berücksichtigung der Argumentationskontexte erweitert. Tatsächlich betont Klein mehrfach die Rolle die Kollektivs für eine Bestimmung der Argumentation. So kann die Quaestio als das nicht kollektiv Geltende bzw. kollektiv Strittige angesehen werden. Was geltend und was strittig ist, ist – wie W. Klein (1981: 232) betont – relativ zu Personen und Zeitpunkten zu bestimmen. Quaestiones lassen sich also in dialogischen Argumentationskontexten (Gesprächen, Debatten, Diskursen usw.) verorten, die unterschiedliche Grade an Agonalität aufweisen (vgl. Hannken-Illjes 2018: 26).
Hervorhebung im Original.
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Das kollektiv Geltende – Die Rolle kollektiver Wissensbestände Ziel einer Argumentation ist es laut W. Klein (1981: 227), einer Antwort auf die Quaestio, die zu Beginn der Argumentation nicht kollektiv gilt, kollektive Geltung zu verschaffen. Dazu müssen strittige Aussagen nach kollektiv geltenden Regeln an kollektiv geltende Aussagen bzw. Wissensbereiche angeschlossen werden. Zum kollektiv Geltenden zählen nicht nur faktische Aussagen, sondern auch normative; insbesondere zählen aber auch Aussagen dazu, die besagen, von welchen Aussagen man zu welchen übergehen kann. Dies kann sich also mit der Zeit ändern, und es ist lediglich jeweils für bestimmte Kollektive festgelegt. (W. Klein 1981: 233)
Für die Struktur des Arguments sind also solche Aussagen bzw. Propositionen zentral, die kollektive Geltung besitzen, wobei besonders diejenigen Wissensstrukturen wichtig sind, die die Übergänge zwischen Aussagen festlegen. Letztere können mit den Schlussregeln im Toulmin-Schema bzw. mit den Topoi in Verbindung gesetzt werden (s. o.). In den letzten Jahren sind Topoi v. a. im Rahmen der Diskurslinguistik als Bestandteile des sozialen Wissens von Sprachhandelnden in diskursiven Zusammenhängen herausgearbeitet worden, d. h. des Wissens bestimmter Gruppen zu bestimmten Zeitpunkten zu bestimmten Themen (vgl. J. Klein 2018; Konerding 2008: 123–124; Reisigl 2014; Römer 2017; Spieß 2011; Wengeler 2003; 2009: 1644). Als offene Strukturen des verstehensrelevanten Wissens weisen Topoi eine bedeutsame Ähnlichkeit zu den Frames der Frame-Semantik auf (vgl. J. Klein 2014a: 209; Konerding 2008: 134; Wengeler 2015: 57). Es liegt deshalb nahe, das KollektivGeltende der Argumentation als das Evozieren bestimmter kollektiv gültiger Wissensrahmen – insbesondere zum Zweck der Aussagen-Verbindung durch Schlussregeln bzw. Topoi – beim Aufbau der Argumentstruktur zu begreifen. Eine (vorläufige) Arbeitsdefinition von Argumentation Die Diskussion von W. Kleins (1981) Argumentationsverständnis und deren skizzierte Einordnung in das linguistische Forschungsfeld der Argumentationsanalyse erlauben es nun, die folgende vorläufige Arbeitsdefinition von Argumentation zu entwickeln: Sprachgebrauchsformen (insbesondere Texte) sind demnach nicht aus sich heraus Argumentationen, sondern werden als Argumentationen verstanden. Texte werden dann als Realisationen von Argumentationen verstanden, wenn sie von Rezipientinnen als Antworten auf Quaestiones aufgefasst werden. Darunter verstehe ich, dass beim Textverstehen eine abstrakte Struktur von Propositionen – das Argument – konstruiert wird. Ein solches Argument besteht mindestens aus einem strittigen Standpunkt, der sich auf eine Quaestio bezieht, und kollektiven Wissensbeständen, die die Geltungsansprüche dieses Standpunktes stützen. Argumentation und Argument sind damit wechselseitig aufeinander bezogene Begriffe, die zwei nicht getrennt voneinander existierende Phänomene bezeichnen:
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Argumentation ist eine Bezeichnung für Sprachhandlungen, in denen Argumente entwickelt werden. Argumente sind in als Argumentationen aufgefassten Sprachhandlungen entwickelte, auf Quaestiones bezogene Wissensstrukturen. Dabei lassen sich die folgenden Struktur-Konstituenten von Argumenten ausmachen: – Ein in einem diskursiven Handlungskontext strittiger Sachverhalt, der als Quaestio bezeichnet wird. – Eine Proposition, die als Antwort auf eine Quaestio interpretiert wird. Diese kann im Anschluss an die Terminologie von van Eemeren (2019: 6) als Standpunkt (SP) bezeichnet werden. Ein Standpunkt besitzt in argumentativen Handlungskontexten (noch) keine kollektive Geltung. – Eine Proposition, die zur Stützung eines Standpunkts in der konzeptuellen Struktur des Arguments verankert ist. Diese kann als Grund bezeichnet werden. Eine solche Proposition muss kollektiv geltend sein, um einen Standpunkt zu stützen. Ist sie dies nicht, muss sie selbst wieder durch einen Grund gestützt werden. – Ein kollektiv gültiges Verknüpfungsprinzip, das Kohärenz zwischen einem Grund und einem Standpunkt herzustellen vermag und dabei eine Übertragung der Geltung des Grundes auf den Standpunkt bewirken kann/soll. Solche Verknüpfungsprinzipien stellen insbesondere argumentative Schlussregeln (SR) dar. Darunter verstehe ich argumentationsanalytische Formalisierungen von Topoi, die als Bestandteile des verstehensrelevanten Wissens einer Diskursgemeinschaft angesehen werden können. Eine so verstandene Arbeitsdefinition von Argument eignet sich, wie nun noch zu zeigen bleibt, für eine Integration in das TWT-Modell der Textkommunikation.
4.2.4 Die TWT-Perspektive auf Argumentation Die oben entwickelte Arbeitsdefinition ermöglicht es, Argumentation in ein TWTModell für Textanalysen zu integrieren. Im Folgenden werde ich darstellen, wie sich Argumentation aus Sicht der TWT beschreiben lässt, und dabei hervorheben, was eine TWT-Perspektive zur Argumentationsanalyse beitragen kann. – Argumentation im oben definierten Sinne ist ein Interpretationsprodukt. Es bezeichnet also eine Sprachhandlungsstruktur der Äußerungswelt (ÄW) im Verhältnis zur konzeptualisierten Textwelt (TW) und in Bezug auf eine Quaestio. – Argument bezeichnet demnach eine – durchaus komplexe – Struktur der Textwelt(-en) in Bezug auf eine Quaestio sowie in ihrem Verhältnis zur ÄW. Ein Argument ist wesentlich aus Propositionen, d. h. konzeptualisierten FrameStrukturen, aufgebaut.
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Dabei ist zu beachten, dass die Sprachhandlungsstruktur selbst nur als rekonstruierbares Produkt analytisch greifbar ist, in der Textkommunikation jedoch selbst als dynamischer Prozess wahrgenommen wird. Im Anschluss an die bereits etablierte Architektur-Metaphorik kann Argumentation in diesem dynamischen Sinne als das Bauen am Argument bezeichnet werden. What’s the Quaestio? Eine Quaestio hat, wie oben dargestellt, immer eine dialogische bzw. intertextuelle Dimension. Eine der Rezipientinnen muss, um eine Argumentation zu erkennen, wissen, dass ein bestimmtes Thema in einem bestimmten Handlungskontext strittig ist. Damit stellt sich die Frage, auf welcher Ebene des TWT-Modells die Quaestio zu verorten ist. Aus meiner Sicht liegt es nahe, dass die Quaestio, die eine Verbindung von Thema und Handlungskontext repräsentiert, als ein Verhältnis von ÄW und TW begriffen werden sollte. Etwas lapidar ausgedrückt: Eine Quaestio ist so etwas wie ein ‚offener‘ Weltentwurf in Abhängigkeit von einem intertextuellen/diskursiven Kommunikationszusammenhang. Ich werde für epistemische und normative Quaestiones aufzuzeigen, wie dies zu verstehen ist. Eine epistemische Quaestio bezeichnet demnach eine in einem Kommunikationszusammenhang strittige epistemische Welt-Welt-Relation einer Fokuswelt (FW) mit einer TW (siehe Kapitel 3.5.2), auf die sich verschiedene Akteure auf unterschiedliche Weise festlegen (Abbildung 4.1). Äußerungswelt Setting: Akteure: Proponent, Opponent, Publikum Handlungsfeld: ___________________ Handlungsstruktur: Debatte über ‚TW‘
Textwelt/Matrixwelt _________________ FAP: NN
Fokuswelt Strittiger Sachverhalt
Abbildung 4.1: Rekonstruktion der Weltenarchitektur im Falle einer epistemischen Quaestio.
Eine normative Quaestio hingegen bezeichnet eine in einem Kommunikationszusammenhang strittige deontische Welt-Welt-Relation von FW und TW, auf die sich verschiedene Akteure auf unterschiedliche Weise festlegen (siehe Abbildung 4.2 unten). So verstanden ist die Quaestio ein Element des Common Grounds, also das Resultat vorheriger Textverstehensprozesse einer Leserin, die wiederum beim Lesen eines Texts als Element des verstehensrelevanten Wissens indiziert werden kann. Indem sich die Quaestio dann beim Textverstehen auf die text-driven konzeptualisierte Weltenarchitektur überträgt (bzw. wie eine Schablone darüberlegt oder darüber projiziert wird), wird eine Sprachhandlungsstruktur der ÄW als Ar-
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Äußerungswelt Setting: Akteure: Proponent, Opponent, Publikum Handlungsfeld: ___________________ Handlungsstruktur: Debatte über ‚TW‘
Textwelt/Matrixwelt Normativer Hintergrund-Frame
Fokuswelt Strittiger Sachverhalt
Abbildung 4.2: Rekonstruktion der Weltenarchitektur im Falle einer normativen Quaestio.
gumentation interpretiert. Texte können zudem Quaestiones auch ohne bestehendes Vorwissen text-driven indizieren, indem sie Opponenten als Akteure der ÄW einführen und bestimmte Sachverhalte explizit als strittig darstellen. Ich werde im methodischen Teil dieser Arbeit genauer herausarbeiten, wie dies geschieht (siehe Kapitel 6.3.5). Die Quaestio ist somit nicht mehr ein strittiger Sachverhalt selbst, sondern das Wissen um die Strittigkeit eines Sachverhalts in einem Kommunikationszusammenhang. Ob ein Text als Argumentation wahrgenommen wird, hängt somit davon ab, inwiefern eine Rezipientin in der Lage ist, sich einen diskursiv-argumentativen Handlungskontext zu erschließen. Der Wortlaut des Texts kann dies auf unterschiedliche Art und in unterschiedlicher Deutlichkeit signalisieren, wobei dies stets auch vom Vorwissen einer Rezipientin abhängig ist. Texte weisen demnach in dieser Hinsicht ein unterschiedliches argumentatives Potential bzw. Maß an Argumentativität auf (vgl. Amossy 2009: 263). Vordergrund-Hintergrund-Struktur des Arguments Als Weltenkonstrukt weist ein Argument im Sinne der TWT notwendigerweise eine Vordergrund-Hintergrund-Struktur auf. Dies bedeutet in erster Linie, dass die Propositionen, die das Argument konstruieren, sowohl in den Vordergrund – als function advancing propositions (FAPs) – als auch in den Hintergrund der TWs eingeführt werden können. Dies kann, wie ebenfalls im empirischen Teil der Arbeit zu zeigen sein wird, mögliche Auswirkungen auf Geltung und Präsenz (im Sinne der Neuen Rhetorik, siehe Abschnitt 4.2.2) der Propositionen haben – bspw. können so Aspekte eines Arguments als vorausgesetzt und damit zunächst unstrittig eingeführt werden, während u. U. andere als problematisch hervorgehoben werden (siehe Kapitel 7). Die TWT-Perspektive ermöglicht in dieser Hinsicht einen erweiterten Blick auf Argumente in natürlichsprachlichen Argumentationsverfahren. Argumente sind aus Sicht der TWT zudem immer in TWs verankert. Die ‚Stabilität‘ des Arguments hängt demnach auch damit zusammen, wie sein ‚Fundament‘ in der TW beschaffen ist. Argumentation als Bauen am Argument beinhaltet demnach nicht alleine das Vorbringen und Verknüpfen von Propositionen, sondern auch deren Einbettung in TW-Kontexte,
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also auch die Konzeptualisierung von world building elements (WBEs) und Hintergrund-Frames. Topoi, Schlussregeln und Argumentationsschemata: Blaupausen des Argument-Baus Die für die argumentativ erzeugte Geltung zentrale Problematik des KollektivGeltenden bezieht sich aus Sicht der TWT darauf, wie beim Aufbau eines Arguments im Rahmen der TW-Architektur kollektiv-geltende Wissensstrukturen im verstehensrelevanten Wissen einer Leserin ‚rekrutiert‘ werden. Als entsprechende Strukturen des verstehensrelevanten Wissens können Topoi bzw. Schlussregeln als ‚Blaupausen‘ für den Aufbau von Argumenten in TW-Strukturen verstanden werden. Sie repräsentieren Baupläne für den Aufbau von Textwelten, Fokuswelten, FAPs, Mappings und Positionierungen. Ich werde diesen Punkt am Beispiel zweier Topoi verdeutlichen. Ottmers (2007: 96) nennt mehrere Schemata des Topos aus Ursache und Wirkung, u. a.: Wenn eine Ursache nicht vorliegt, dann liegt auch keine Wirkung vor. Als Beispiel dafür nennt er Wenn es nicht regnet, wird die Ernte nicht reif. Der allgemeine Topos bezieht sich dabei ohne Zweifel auf das verstehensrelevante Wissen bezüglich des Frames VERURSACHEN, die Spezifizierung auf bestimmte Wissensbereiche bzw. Frame-Netzwerke (WETTER, PFLANZENBAU) und darin repräsentierte Verursachungszusammenhänge. Der von Ottmers beschriebene Topos kann als Blaupause zum Weltenaufbau verstanden werden: Wenn in der TW der Sachverhalt, dass es nicht regnet, etabliert und relevant gesetzt ist, und zudem das Wissen um landwirtschaftlichen Pflanzenbau als relevanter Wissensbereich aktiviert ist – etwa als HintergrundFrame der TW –, dann kann eine Leserin inferentiell anhand ihres Wissens um das Konzept PFLANZENBAU und das darin verankerte Konzept VERURSACHEN als Strukturzusammenhang der Konzepte REGEN, PFLANZENWACHSTUM und ERTRÄGE, die entsprechende Wissensstruktur als konzeptuelle Struktur der Textwelt übertragen. Der Topos aus Ursache und Wirkung besagt demnach nichts anderes, als dass konzeptuelles Wissen um Verursachungszusammenhänge eine Rolle beim Aufbau von Textwelten spielt. Interessanter wird es bei spezifischen Topoi wie der folgenden Variation des Topos aus der Person: Wenn eine Person schlecht ist, wird sie immer Schlechtes tun. In diesem Fall beinhaltet der Topos ebenfalls Anweisungen für den Aufbau von TW-Strukturen: Wenn in einer TW ein TW-Akteur mit der Qualität ‚schlecht‘ attribuiert wurde, ist es demnach bspw. nicht möglich, ihn in die Agens-Position einer FAP zu setzen, die mit der Qualität ‚gut‘ attribuiert wurde. Wenn eine solche Blaupause bzw. ein solches Bau-Prinzip in einer TW gilt, kann somit eine Verbin-
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dung von Propositionen innerhalb der TW geschaffen werden, die einem Standpunkt Geltung verleihen können. Fazit: Argumentation als Bauen am Argument Die Auffassung von Argumentation als Bauen am Argument führt dazu, dass alle ‚Vertextungen‘ (also Argument-Bauweisen) als Argumentationen begriffen werden können, solange sie dem Lösen eines spezifischen ‚argumentativen‘ Problems dienen, d. h. sich auf eine Quaestio beziehen lassen. Das betrifft insbesondere auch die in jüngerer Zukunft vielbeachtete Rolle der Narration, die sich zwar als klassisches Vertextungsmuster deutlich von Argumentationen im Sinne von Eggs (2000) unterscheidet, jedoch in diskursiven Kontexten klar argumentative Funktionen erfüllen kann (vgl. Bleumer et al. 2019). Die sprachlichen Verfahren der Argumentation beinhalten somit auch die klassischen Argumentformen – gleichberechtigt neben anderen. Gleichzeitig können durch das Festhalten am Begriff der Proposition auch weiterhin Argumente durch etablierte Verfahren wie das Toulmin-Schema rekonstruiert werden. Da das Argumentationsverständnis der TWT den Zusammenhang von sprachlichem Zeichen und konzeptueller Struktur fokussiert, lassen sich zudem auch einige in der germanistischen Linguistik bislang weniger beachtete Ideen und Konzepte der Neuen Rhetorik von Perelman & Olbrechts-Tyteca (1969) damit erfassen, wie im empirischen Teil dieser Arbeit zu zeigen sein wird.
4.3 Ethos – Die Begegnung von Orator und Leserin Ethos im aristotelischen Sinne wird zumeist mit Selbstdarstellung übersetzt. In der römischen Rhetorik nach Cicero und Quintilian ist das Ethos mit der Funktion des delectare, also einer sanften Gemütsregung, gleichgesetzt worden, die lose mit der Sittlichkeit des Redners in Verbindung gebracht wurde (vgl. Ueding & Steinbrink 1994: 280). Im folgenden Kapitel werde ich mich jedoch bei der Skizzierung des rhetorischen Fundaments auf die aristotelische Konzeption beschränken (statt andere antike Ethos-Konzeptionen zu diskutieren) und deren aktuelle Rezeption darlegen. Ich werde anschließend eine Ethos-Konzeption der Textkommunikation entwickeln, die den Orator nicht isoliert betrachtet, sondern vielmehr die Beziehungen von Orator und Leserin in der ÄW fokussiert.
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4.3.1 Das aristotelische Ethos und seine modernen Erweiterungen Bezüglich der Rolle der Person der Rednerin für das Überzeugen ist die EthosKonzeption von Aristoteles von der Antike bis in die Gegenwart prägend. Im aristotelischen Verständnis betrifft Ethos die Selbstdarstellung des Orators. Dieser hat gegenüber seinem Publikum die Integrität seines Charakters herauszustellen, um die Überzeugungsraftseiner Rede durch seine persönliche Glaubwürdigkeit zu steigern (vgl. Aristoteles 1999: 19). Dieses Selbstbild muss sich laut Aristoteles „aus der Rede ergeben und nicht aus einer vorgefassten Meinung über die Person des Redners“ (ebd.). Gegen diesen Teil der aristotelischen Ethos-Konzeption wurden jedoch gerade in neuerer Zeit auch Einwände erhoben, da der Einfluss eines vor-diskursiven Images auf das oratorische Ethos gerade in politisch-öffentlichen Diskursen als relevant anzusehen sei (vgl. Olmos 2014: 52). Um sich selbst als glaubwürdig zu präsentieren, muss ein Orator laut Aristoteles drei Charaktereigenschaften zur Schau stellen: Einsicht, Integrität und Wohlwollen (vgl. Aristoteles 1999: 19). Diese drei aristotelischen Dimensionen liegen auch der zeitgenössischen psychologischen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensforschung zugrunde und sind dort bspw. im Kontext der Wissenschaftskommunikation auch experimentell differenziert gestützt (vgl. Bromme 2020: 119–121; Hendriks et al. 2015: 7–9; Mayer et al. 1995: 714–715). Die drei aristotelischen Aspekte der Glaubwürdigkeit sind häufig aufgegriffen oder leicht modifiziert worden. So nennt etwa Roth (2004: 211) in diesem Zusammenhang Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz, wobei er letztere unter Rückgriff auf psychologische Erkenntnisse in wahrgenommene Intelligenz, Autorität und die Fähigkeit zu informieren untergliedert. Unter Kompetenz können dann – neben den rein sachbezogenen Fähigkeiten eines Orators – auch seine interaktionsbezogenen Fähigkeiten gefasst werden, wie die im Lehrgebäude der klassischen Rhetorik in den Text-Qualitäten Angemessenheit (aptum), Sprachrichtigkeit (latinitas) und Klarheit (perspicuitas) zum Ausdruck kommenden kommunikativen Kompetenzen des Orators (vgl. Ueding & Steinbrink 1994: 221–224). Isaksson & Jörgensen (2010: 132–133) setzen in ihrem ethos model Wohlwollen zudem mit Empathie gleich. Aristoteles selbst gibt keine klaren Anweisungen dafür, mit welchen sprachlichen Mitteln ein so begriffenes Ethos herzustellen sei (vgl. Luppold 2015b: 147–148; Platin 2006: 283). In neueren Auseinandersetzungen werden häufig eine ganze Bandbreite von Phänomenen mit Ethos in Zusammenhang gebracht, darunter das Hervorheben von Titeln und die Selbstdarstellung als attraktiv und beliebt oder die behauptete Bekanntschaft mit Berühmtheiten sowie ggfs. Körperhaltung und Gesichtsausdruck (vgl. Knape 2012: 110). Beason (1991: 327–328) stellt für die Textkommunikation fest, dass Ethos zwar meist auf inhaltliche und stilistische Phänomene
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zurückgeführt wird, diese jedoch so vielfältig seien (vom Schriftbild bin hin zum Verweisen auf Weltbilder und Ideologien), dass ein systematischer Zugriff enorm schwierig sei. Einen systematischeren Zugang wählt Luppold (2015b: 148), die unter Rückbezug auf Bühlers Organon-Modell zwei Formen der oratorischen Selbstdarstellungstechniken anführt: Die darstellungsbezogene Persönlichkeitsthematisierung in Form von Persönlichkeitsstatements, -deskriptionen und -narrationen sowie die auf meist impliziten Signalen wie thematischen Konnotationen, Aspekten der illokutionären Kraft oder Gruppen- und Individualstil beruhende Persönlichkeitsexpression (vgl. Luppold 2015b: 162–169). Gerade letzteres scheint kohärent mit Maingueneaus (1996: 119) Überzeugung, dass das rhetorische Ethos vor allem die Art des Redners sei und nicht etwas, das er von sich demonstrativ verkünde. Eine Analyse des rhetorischen Ethos steht somit in besonderem Maße vor der problematischen Frage, worauf sie ihr Augenmerk richten soll – und worauf nicht.
4.3.2 Das In-Erscheinung-Treten des Orators Die Annahme von Selbstdarstellung als wesentlicher Dimension der rhetorischen Wirkung setzt voraus, dass der Orator für eine Rezipientin sichtbar ist. Im Vergleich zum klassischen Fall der mündlichen Rede ist dies in der Textkommunikation, die durch die Abwesenheit des Textproduzenten in der Rezeptionssituation gekennzeichnet ist (vgl. Hausendorf et al. 2017: 23), etwas schwieriger. Sichtbar wird hier im Verstehensprozess nicht die materielle Person der Textproduzentin, sondern vielmehr die abstrakte Instanz eines virtuellen Orators, womit durchaus auch kollektive Oratoren wie Parteien oder Unternehmen gemeint sein können (vgl. Luppold 2015a: 18–19; 175). Dieser virtuelle Orator kann bzw. muss analytisch deutlich von empirischen Textproduzenten unterschieden werden. Eine ähnliche Differenzierung findet sich auch innerhalb des Polyphonie-Ansatzes in der französischen Diskursanalyse in der Tradition Oswald Ducrots, der ebenfalls zur Beschreibung des rhetorischen Ethos herangezogen werden kann (vgl. Amossy 2001; Maingueneau 2000: 93–94). Hier wird zwischen einer real existierenden empirischen Textproduzentin (sujet parlant) und einer sprachlich realisierten Sprecherin (locuteur bzw. Lokutor) unterschieden, welche als Verantwortliche des Sprechaktes betrachtet wird und selbst eine rein textliche Instanz darstellt (vgl. Adamzik 2002: 224; Dreesen 2013: 227; Gévaudan 2008: 2–3; Maingueneau 2000: 88). Als solcher entspricht der Lokutor in der TWT dem Autor als Akteur der ÄW (siehe Kapitel 3.4). Dieser Lokutor der ÄW kann aus rhetorischer Sicht als (virtueller) Orator bezeichnet werden – auf ihn bezieht sich das rhetorische Ethos in aristotelischer Tradition (vgl. Maingueneau 2000: 94; Luppold 2015a: 179).
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Wie der Polyphonie-Ansatz betont, ist der Orator-Lokutor allerdings weder die einzige Erscheinungsform, die eine Autorin im Text annehmen kann, noch die einzige Stimme, die aus einem Text sprechen kann. Entsprechend werden weitere Differenzierungen vorgenommen, wenngleich auch hier keine terminologische Einigkeit bzw. Eindeutigkeit besteht (vgl. dazu Adamzik 2002: 225–226; Maingueneau 2000). Neben dem Orator können auch andere Lokutoren im Text sichtbar werden, etwa im Fall von Zitaten, direkter und indirekter Rede. Sie repräsentieren also weitere Stimmen, die aus einem Text sprechen können. Auch diesen entsprechen jeweilige reale Textproduzentinnen (sogenannte locuteurs-λ). Verschiedene Lokutoren vertreten dabei immer auch eigene Perspektiven (points du vue) und sind für diese verantwortlich (vgl. Gévaudan 2008: 3; Adamzik 2002: 226). In manchen Fällen des Sprachgebrauchs, etwa Ironie und Negation, kommen laut Polyphonie-Ansatz Perspektiven zum Ausdruck, die keinem Lokutor zugeschrieben werden können, sondern stattdessen auf die ‚virtuelle‘ Instanz des sogenannten Enunziators zurückgeführt werden müssen. Dieser entspricht – in etwa – einem unspezifiziertin Lokutor, der entsprechend auch nicht mit einer realen Textproduzentin in Verbindung gebracht werden kann. Wie Adamzik (2002: 227) bemerkt, beliebt das Konzept des Enunziators im Unterschied zum Lokutor jedoch „etwas undeutlich“. Die Überlegungen aus dem Polyphonie-Ansatz lassen sich weitestgehend auf die TWT übertragen und führen zu interessanten Erweiterungen v. a. der ÄW im Hinblick auf das rhetorische Ethos: – Der Orator als Lokutor entspricht, wie bereits festgestellt, dem Autor als Akteur der ÄW. Daneben kann der Orator auch als Akteur der TW in Erscheinung treten, etwa im Fall von selbstreferentiellen Aussagen unter Verwendung der Personalpronomen der ersten Person (s. o.). – Akteure der TW können ebenfalls als Lokutoren in Erscheinung treten, etwa im Fall von indirekter und direkter Rede. Dabei entstehen – wie in Kapitel 3.5.2 dargelegt – redeinduzierte Welt-Welt-Relationen. – Der Fall von Zitaten ist u. U. komplexer. So gibt es Fälle, in denen der Lokutor des Zitats als Akteur der TW konzeptualisiert ist. Hinzu kommen Fälle, in denen (ausgewiesene) Zitate nicht mit Akteuren der TW identifiziert werden können. Dies ist etwa häufig in wissenschaftlichen Texten der Fall. In diesen Fällen scheint es mir plausibel anzunehmen, dass die entsprechenden Lokutoren bei direkten Zitaten Akteuren der ÄW entsprechen. Der Orator kann in solchen Fällen die entsprechenden Lokutoren ‚für sich sprechen lassen‘ oder bspw. kritisch kommentieren – wobei in letzterem Fall die Lokutoren meist auch als TW-Akteure realisiert sind (siehe hierzu die empirischen Befunde in Kapitel 8.1.2 und 9.1.4). Die ÄW kann somit durchaus mehr Akteure enthalten als nur Autor-Orator und Leserin. Allerdings ist zu beachten, dass es auch
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Fälle impliziter Intertextualität gibt, bei denen es vom Wissen der Leserin abhängt, ob hier überhaupt erkannt wird, dass eine andere Stimme (mit-)spricht (vgl. Janich 2019: 170–173). Auf die systematische Integration des Enunziators in das TWT-Modell soll auch aufgrund seiner Unklarheit und seiner recht spezifischen Relevanz für Fälle wie Ironie zunächst verzichtet werden. Im Fall von Negationen etwa muss nicht immer ein unbestimmter Lokutor als Urheber einer Fokuswelt in negierender Welt-Welt-Relation angenommen werden – wenngleich dies durchaus der Fall sein kann. Im Beispiel von Peter macht heute seine Hausaufgaben nicht (vgl. Kap. 3.5.2.) mag es Verwendungskontexte geben, in denen die Aussage im spezifischen Handlungskontext einen Widerspruch realisiert. In einem solchen Fall hätte eine Akteurin der ÄW den Sachverhalt der FW (dass Peter seine Hausaufgaben gemacht hat) bereits in den Common Ground eingeführt, die aktuelle Sprecherin/Autorin möchte diesen durch ihre Äußerung aber aus der TW ausschließen. Allerdings ist dies wohl nicht für alle Fälle von Negationen der Fall (vgl. hierzu auch Hidalgo-Downing 2000).
Der Orator wird als (abstrakter) Akteur der ÄW also durchaus in der Textkommunikation sichtbar. Dies beinhaltet jedoch in den meisten Fällen auch eine Abgrenzung, Koalition o. ä. mit anderen Akteuren sowohl auf der Ebene der ÄW als auch der TW. Im Falle rhetorischer Textkommunikation ist bspw. ein argumentativer Opponent als erwartbarer Akteur des rhetorischen Basissettings als weiterer Akteur der ÄW neben Orator und Leserin erwartbar (vgl. Luppold 2015a: 73–75). Das rhetorische Ethos beruht demnach immer auch darauf, wie sich der Orator relativ zu den anderen Instanzen der Weltenarchitektur (also sowohl anderen Akteuren als auch Domänen, Frames o. ä.) positioniert.
4.3.3 Begegnungen in der Äußerungswelt Dem solchermaßen ‚sichtbar‘ gewordenen Orator tritt innerhalb der ÄW die Leserin gegenüber, die ebenfalls eine Akteurin (im Sinne einer mentalen Repräsentation) der ÄW darstellt. Im Polyphonie-Konzept wird diese Rolle der Adressatin des Sprechakts eines Lokutors auch mit dem Begriff Allokutor bezeichnet (vgl. Gévaudan 2008: 3). Laut Maingueneau (1996) besteht die Wirkweise des rhetorischen Ethos darin, dass Orator und Leserin in der Textkommunikation einander innerhalb der Szenografie des Diskurses begegnen. Unter Szenografie fasst Maingueneau eine Art vom Text vorgegebene Vorstellung des situativen Kontexts:
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In einer Szenographie verbinden sich die Figur des énonciateur (des Garanten der énonciation) und eine komplementäre Figur eines co-énonciateur, eine Chronographie (ein Moment) und eine Topographie (ein Ort), aus denen der Diskurs hervorzugehen scheint. (Maingueneau 1996: 123)
Die Szenografie kann als eine Art konzeptualisiertes interaktionales Schema begriffen werden und weist so deutliche Ähnlichkeit zur ÄW auf. Im Rahmen dieser durch eine Äußerung vollzogenen Situierung entsteht die Wirkweise des Ethos durch die Begegnung von co-énonciateur und enonciateur: Der co-énonciateur, der vom einvernehmenden und unsichtbaren Ethos eines Diskurses gefangen wird, entziffert nicht nur dessen Inhalte, er wird in seine Szenographie hineingenommen, er nimmt an einer Welt teil, wo er einen énonciateur treffen kann, der über die Vokalität seiner Rede als Garant der dargestellten Welt konstruiert ist. (Maingueneau 1996: 131)
Die Idee, dass die persuasive Dimension des Ethos erfasst werden kann, indem man versucht zu beschreiben, wie Autorin und Rezipientin im Text und durch den Text einander begegnen, hat auch Hyland (2005) im Blick. Er spricht bei seiner Untersuchung des akademischen Sprachgebrauchs davon, dass die Autorin den Leser in den Prozess des Textverstehens involviert. So ‚zeigt‘ sich die Autorin dem Leser durch verschiedene Positionierungsaktivitäten und durch sprachliche Mittel des engagements: Writers relate to their readers with respect to the positions advanced in the text, which I call engagement [...]. This is an alignment dimension where writers acknowledge and connect to others, recognizing the presence of their readers, pulling them along with their argument, focusing their attention, acknowledging their uncertainties, including them as discourse participants, and guiding them to interpretations. (Hyland 2005: 176)
Die textuellen Praktiken des engagement dienen dazu, die Leserin in den Text zu projizieren (vgl. ebd.: 182). Ziel sei es dabei, das Publikum rhetorisch zu positionieren: „Here the writer pulls readers into the discourse at critical points, predicting possible objections and guiding them to particular interpretations with questions, directives and references to shared knowledge” (ebd.: 182). Bei Hyland (2005: 191) sind diese engagement-Leistungen eng an das jeweilige Genre gebunden, das als konventionalisierter Kontextualisierungshinweis (bzw. als Repräsentationsformat) auf ein bestimmtes Kontextmodell verweist, indem soziale Beziehungen von Autorin und Leserin verortet werden können. Sowohl Maingueneau (1996) als auch Hyland (2005) liefern somit wichtige Hinweise darauf, dass das rhetorische Ethos keinesfalls nur im Sinne einer Selbstdarstellung isoliert auf den Orator bezogen werden darf, sondern wesentlich darauf beruht, wie Orator und Leserin in der Textkommunikation einander begegnen. Aus Sicht der TWT geht es somit darum, wie innerhalb der ÄW Beziehungen zwischen Orator und Leserin im Verstehensprozess etabliert werden. Schuster (2017: 265–267)
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bringt die sprachliche Konstitution von Akteursbeziehungen mit Goffmans FrameKonzept in Verbindung. Soziale Beziehungen sind demgemäß vor allem über kontextspezifische Rollen relativ zu Interaktions-Frames zu sehen, die enaktiert werden. Eine Analyse des rhetorischen Ethos hat sich dementsprechend auch auf die Interaktionsrollen zu richten, die Orator und Leserin innerhalb einer ÄW realisieren und somit soziale Beziehungen zueinander etablieren.
4.3.4 Rollenaspekte der Textkommunikation Soziale Rollenaspekte im Sprachgebrauch sind v. a. von der Konversationsanalyse beschrieben worden (vgl. Schwitalla 2001: 1355). Allerdings sind diese auf den Fall der Textkommunikation nur bedingt übertragbar (vgl. Adamzik 2002: 245–253). Eine Systematisierung von Interaktionsrollen im Kontext der Textlinguistik findet sich bei Adamzik (2002; 2016). Dabei können die im Folgenden beschriebenen Rollenaspekte herausgegriffen werden. Sprachhandlungsbezogene Rollenaspekte Sprachhandlungen stellen immer eine Beziehung zwischen Produzentin und Rezipient her. Adamzik (2002: 229–230) spricht hier von Interaktanten als Trägern der illokutionären Rollen. Etwas weniger beachtet als die Rolle des Produzenten ist jedoch meist die Rolle der Rezipientin als Adressatin eines Sprechaktes. Sprachhandlungsbezogene Rollen können insbesondere als Ausgangspunkt für weitere Beziehungsaspekte und Akteursattributionen gesehen werden. Ein gut beschriebenes Beispiel ist die Sprachhandlung FRAGEN: Die Rollen der Fragenden und des Gefragten indizieren hier einen Unterschied im Wissensstand (epistemic status) der beteiligten Akteure (vgl. Heritage 2012: 4–6). Handlungsfeldbezogene Rollenaspekte Kontextmodelle können institutionalisierte Aspekte aufwiesen, die sich auf die Konzeptualisierung der darin enthaltenen Akteure auswirken. Adamzik (2002: 230–234) spricht hier von Interaktanten als Funktionsträgern, womit sie sich auf bestimmte Rollen bezieht, die in gesellschaftlich-institutionellen, stark vorstrukturierten Handlungsbereichen auftreten. Noch deutlicher als beim rein sprachhandlungs(muster)bezogenen Aspekt spielen hierbei auch Hierarchien und Machtverhältnisse eine Rolle. Ein klassisches Beispiel hierfür sind z. B. die Verhältnisse von Chefin und Angestelltem oder Lehrerin und Schüler innerhalb der Handlungsfelder Beruf oder Schule.
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Genre- bzw. textsortenbezogene Rollenaspekte Bestimmte soziale Situationen (bspw. das Einkaufen) bringen – als Frames im Sinne Goffmans (siehe Kapitel 2.4.2) – ebenfalls bestimmte Rollenaspekte mit sich, die sich deutlich in der Handlungsstruktur niederschlagen (vgl. Spieß 2011: 150). Adamzik (2016: 139) spricht in diesem Zusammenhang von sozialen und kommunikativen Rollen im Handlungszusammenhang (bspw. Kunde, Notarin, Festredner). Genres bzw. Textsorten können als typisierte Situationen betrachtet werden, die bestimmte Rollenkonstellationen relativ zu kommunikativen Zwecken festschreiben (vgl. Miller 1984: 152–153). Genrebezogene Rollenaspekte stellen somit Generalisierungen dar, in die sowohl handlungs- als auch domänenspezifische Rollenaspekte einfließen können. Diskursbezogene Rollenaspekte Vor allem in agonalen Diskurskontexten signalisieren Akteure bspw. durch Positionierungshandlungen gegenüber zentralen Sachverhalten bestimmte ‚Diskurspositionen‘ wie bspw. Gentechnikbefürworterin, Abtreibungsgegner o. ä. „Eine Diskursrolle ist eine durch ein sprachliches Etikett ausgedrückte Selbst- und/oder Fremdbezeichnung von Sprecherinnen und Sprechern innerhalb eines Diskurses, die dadurch einer Akteursgruppe zuzuordnen sind, welche relativ zum Diskurs stabil ist“ (Müller 2015: 37). Kultur- und gemeinschaftsbezogene Rollenaspekte Die bisherigen Rollenaspekte ordnen die Interaktantinnen in das jeweilig kontextuell-situative Handlungsgeschehen ein. In mehreren Modellen zum Kontext einer Äußerung wird zudem der kulturelle Kontext bzw. die Kultur als Interpretationshintergrund von Sprachgebrauchsereignissen angenommen (vgl. Jakobs 1997, 2019; Müller 2015). Diesem Gedanken folgend können auch Positionierungen bezüglich kultureller Kategorien und Werte wie Glaube, Pazifismus o. ä. als Aspekte von Interaktionsrollen betrachtet werden. Sprachgemeinschaftsbezogene Rollenaspekte Ein weiterer Rollenaspekt betrifft die Teilhabe an einer Sprachgemeinschaft (relativ zu Einzelsprachen sowie Varietäten). Hierdurch werden zentrale Aspekte sozialer Identitäten von Sprecherin und Hörer dargestellt (vgl. Gumperz 1982). Dabei können Gruppenzugehörigkeiten auf verschiedenen Ebenen signalisiert werden (bspw. lokale, ethnische oder demographische Zugehörigkeiten). Die jeweiligen indizierten Beziehungskonstellationen von Orator und Leserin können
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so Gemeinsamkeit oder Abgrenzung signalisieren, was weitere funktionale Effekte nach sich ziehen kann, wie etwa die Indizierung von sozialen Hierarchien. Persönlichkeits- und personenbezogene Rollenaspekte Die Inszenierung persönlicher Eigenschaften im Sprachgebrauch ist bislang weniger ausführlich beschrieben worden. Tatsächlich spielt dies aber – gerade in alltäglichen Kommunikationssituationen – durchaus eine wichtige Rolle. Persönlichkeitsbezogene Rollenaspekte betreffen dabei v. a. die Attribuierung von bestimmten Charaktereigenschaften wie nett, engagiert, aufbrausend o. ä., während ich unter personenbezogenen Aspekten Rollen begreifen, die sich auf interpersonale Beziehungen wie bspw. Vertrautheit (in der Rolle des Freundes) beziehen. Laut Adamzik (2002: 236–240) stellen sich Interaktanten als Individuen vor allem dar, indem sie ihre Funktions- oder Diskursrollen unterschiedlich (bereitwillig) realisieren. Wissensbezogene Rollenaspekte Eines der wissenschaftlich meistbeachteten Rollenverhältnisse ist das ExpertenLaien-Verhältnis (vgl. bspw. Hitzler et al. 1994). Expertinnen werden dabei meist analytisch gekennzeichnet, indem ihnen ein „Spezialwissen“ zugeschrieben wird, das sie von Laien unterscheidet, welche über dieses Wissen nicht verfügen (Antos 1995: 116). Die strikte Dichotomie dieses Verhältnisses ist ebenso problematisiert worden, wie die Frage danach, worin diese Rollen letztlich zu begründen seien (vgl. bspw. Kasper & Purschke 2021). Aus linguistischer Sicht ist insbesondere die Inszenierung von Expertise durch die Verwendung von sogenannten Expertenwortschätzen und Fachsprache untersucht worden (vgl. Antos 1995; Wichter 1994). Laut Spitzmüller (2021: 13–14) ist Expertise das Resultat einer auf Positionierungspraktiken beruhenden Zuschreibung, die auf der Abgrenzung von in gleicher Weise interaktional konstruierten Laien beruht. Diese – vor allem soziologisch unterfütterte – Diskussion soll in der vorliegenden Arbeit nicht weiter vertieft werden. Meines Erachtens genügt es, die Zuschreibung von Experten- und Laienrollen auf einem sprachlich konstituierten Unterschied in bestimmten für den Zweck der Kommunikationssituation relevanten Wissensbereichen zurückzuführen. Sie stellen somit ein Beispiel für wissensbezogene Rollenaspekte dar und können mit sprachhandlungs-, handlungsfeld- und situationsbezogenen Rollenaspekten in ein unmittelbares Verhältnis gesetzt werden.
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Fazit: Rollen der Textkommunikation Grundsätzlich spielen die verschiedenen Rollenaspekte zusammen und stehen in einem engen Verhältnis zueinander, sodass sich die Beziehung von Orator und Leserin als komplexes Geflecht von Rollenattribuierungen relativ zu Sprachhandlungen, Handlungsfeldern, Genres, Sprachgemeinschaften, Diskursen, Persönlichkeiten und Wissenshintergründen darstellt, die text-driven durch eine große Bandbreite von sprachlichen Mitteln wie Sprachhandlungen, Varietäten, Stil und Positionierungsaktivitäten indiziert werden. Akteuren der ÄW kommt entsprechend nicht eine Rolle zu, vielmehr lässt sich die rollenbezogene Konstellation von Orator und Leserin unter verschiedenen Perspektiven beschreiben (vgl. Adamzik 2016: 137). Bestimmte Rollenaspekte können dabei unmittelbar mit Elementen der ÄW in Verbindung gesetzt werden wie Handlungsstruktur und Handlungsfeld. Andere beziehen sich stärker auf die Form des sprachlichen Zeichens (Sprachgemeinschaft) oder das Verhältnis von Sprecher zu Textwelt (Diskursrolle, Kulturbezug), wobei hier insbesondere Positionierungen eine Rolle spielen. Die aristotelischen Tugenden Einsicht, Integrität und Wohlwollen können dabei teilweise auf die entsprechenden Rollenaspekte und deren Kombination zurückgeführt werden: So kann beispielsweise sachbezogene Einsicht auf handlungsfeldbezogene, sprachgemeinschaftsbezogene und wissensbezogene Rollenaspekte zurückgeführt werden, etwa durch den Hinweis auf bestimmte Berufsrollen oder die sprachliche Teilhabe an fachlichen Varietäten. Ähnliches gilt auch für Autorität, bei der außerdem genrebezogene Aspekte (also bspw. die Inszenierung der Dozentenrolle in einem Seminarkontext) stärker hinzutreten. Persönlichkeitsbezogene Rollenaspekte können zudem mit Wohlwollen in Verbindung gebracht werden, Integrität überdies mit kulturbezogenen Rollenaspekten. Eine besondere Stellung nehmen sprachhandlungsbezogene Rollenaspekte ein, da diese mit allen Ethos-Tugenden gleichermaßen in Verbindung gebracht werden können. Obwohl also durchaus Zusammenhänge zwischen den (inszenierten) Rollenaspekten der Textkommunikation und den klassischen Dimensionen des rhetorischen Ethos gesehen werden können, lässt sich hier keine kategorische 1:1-Zuordnung vornehmen.
4.3.5 Positionierung Die Inszenierungen der beschriebenen Rollenaspekte können in einem weiten Sinne als Positionierungsakte begriffen werden.
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Positionierung bezeichnet zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen auf einander bezogen als Personen her- und darstellen, welche Attribute, Rollen, Eigenschaften und Motive sie mit ihren Handlungen in Anspruch nehmen und zuschreiben, die ihrerseits funktional für die lokale Identitätsher- und -darstellung im Gespräch sind. (Lucius-Hoene & Deppermann 2004: 168; Kursivdruck im Original)
Mit dem Begriff der Positionierung ist dabei (anhand einer räumlichen Metapher) ausgedrückt, dass solche Inszenierungen aus einer Relationierung von Orator, Leserin und Redegegenständen in Handlungskontexten bestehen – also ein wechselseitiges Verhältnis von ÄW- und TW-Elementen hergestellt wird. Im Zusammenhang mit akademischen Texten spricht Hyland (2008: 5) von Positionierung als „adopting a point of view to both the issues discussed in the text and to others who hold point of views on those issues“. Lucius-Hoene & Deppermann (2004: 172) stellen zudem fest, dass Positionierungen häufig „auf soziale und moralische Deutungshorizonte mit komplexen diskursiven Regeln und Konventionen“ verwiesen und ihre Geltung „vielfach sehr vom Kontext und der Interaktionssequenz abhängig“ sei. Dieses Verhältnis hat du Bois (2007) in seinem einflussreichen stance triangle dargestellt. Du Bois verwendet dabei stance als übergeordneten Begriff für Positionierung und zerlegt alle stance-Akte in die drei Komponenten evaluation, positioning und alignment (vgl. ebd.: 144). Evaluation verweist darauf, dass bei Haltungsbekundungen stets vor einem soziokulturellen Hintergrund Wertungen von Objekten durch Sprecherinnen vorgenommen werden (vgl. ebd.: 141). Positioning bezieht sich darauf, dass Akteure in Bezug auf die Verantwortlichkeit für eine Haltung und soziokulturelle Werte verortet bzw. situiert werden. Alignment bezeichnet den Grad der Übereinstimmung der Haltungen von verschiedenen Interaktanten (vgl. ebd.: 143–144). Einen Versuch den Prozess der Positionierung zu verdeutlichen, unternimmt du Bois (2007: 163) mit der Formulierung „I evaluate something, and thereby position myself, and thereby align with you“. Auch wenn hier nicht alle praktischen Implikationen von du Bois, der sein Modell im Kontext der Gesprächsanalyse entwickelt, übernommen werden, stellt das Positionierungs-Dreieck eine geeignete Grundlage dar, um die einzelnen Aspekte der Positionierung anhand der dargestellten Relationen systematisch zu betrachten. Hyland (2015: 33) unterscheidet zwischen positioning und proximity: Positioning betrifft das Verhältnis von Sprecherin und Gesagtem, proximity das zwischen Sprecherin und Gemeinschaft. Beides sind für ihn die elementaren Ressourcen der Identitätskonstruktion in Texten. In seiner Betrachtungsweise ist dabei proximity bezogen auf die Identifikation mit einer geteilten kollektiven Identität, während positioning die Profilierung der eigenen Individualität betrifft. Auch wenn sich im Hinblick auf die Terminologie Unterschiede erkennen lassen, zeigt sich, dass mit Positionierung stets eine Relationierung von Autorin, Lese-
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rin und Redegegenständen im Hinblick auf Aspekte von Kontextmodellen gemeint ist. Ich werde Positionierung daher (auch aufgrund seiner Mehrdimensionalität) als Überbegriff wählen. Positionierung erachte ich dabei als einen grundsätzlich zentralen Prozess der Weltenkonstruktion, der innerhalb der TWT bislang noch zu wenig berücksichtigt wurde. Im Fall der Textkommunikation spielen dabei die folgenden Aspekte der Positionierung eine wichtige Rolle: – Die Positionierung eines Orators zu den Redegegenständen im Sinne einer signalisierten Sprecherhaltung: Wie oben bereits gesehen, spielt diese Art der Positionierung auch eine wichtige Rolle für die Indizierung von Welt-WeltRelationen: Positionierungen können sich dabei auf die Verantwortlichkeit des Orators gegenüber der faktischen Integration von FAPs in den Common Ground beziehen (epistemisch) sowie auf volitive oder deontische Relationen zu Text- bzw. Fokuswelten. In diesem Sinne ist „Stellungnahme“ auch als ein zentrales Charakteristikum sprachlicher Modalität betrachtet worden (Gévaudan 2011: 31). Zudem bezieht sich Positionierung in dieser Hinsicht auf die Bewertung von in der TW dargestellten Sachverhalten vor einem soziokulturellen Hintergrund (vgl. Du Bois 2007: 141; Hyland 2005: 175). – Die Positionierung von Orator und Leserin vor dem Hintergrund der Äußerungswelt bzw. dem Kontextmodell: Dies betrifft zum einen die oben beschriebenen Rollenaspekte, zum anderen das Verhältnis von Orator und Leserin relativ zu den Gegenständen und Sachverhalten der TWs, das auch als alignment (Du Bois 2007) oder engagement (Hyland 2005: 176) bezeichnet wird. Dabei wird Positionierung weniger als eigenständige Handlung begriffen, sondern vielmehr als „diejenigen Aspekte sprachlicher Handlungen, mit denen ein Sprecher sich in einer Interaktion zu einer sozial bestimmbaren Person macht, eben eine bestimmte ‚Position‘ im sozialen Raum für sich in Anspruch nimmt“ (Lucius-Hoene & Deppermann 2004: 172). Positionierungen werden nicht mit einer bestimmten Klasse von sprachlichen Akten vollzogen – es ist eine Funktion beliebiger sprachlicher Handlungen, Positionen zuzuweisen. Jede interaktive sprachliche Handlung kann mehr oder weniger positionierungsrelevant sein bzw. mehr oder weniger positionierungsrelevante Anteile besitzen. (ebd.: 171)
Sie kann dabei sowohl explizit als auch implizit verlaufen und deutlich ausgedrückt oder nur vage angedeutet werden (vgl. ebd.: 171). Deppermann & Lucius-Hoene (2008: 26) sprechen in diesem Zusammenhang zudem vom Unterschied zwischen deskriptiven und performativen Positionierungen: Deskriptive Positionierungen resultieren aus einer spezifischen Art der Beschreibung von Wirklichkeit, während bei der performativen Positionierung „Rollen und Identitätsmerkmale [...] nicht explizit zugeschrieben oder durch erzählerische Darstellungen verdeutlicht“, son-
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dern, „situiert durch eine bestimmte Art und Weise des Handelns, enaktiert“ werden (ebd.). Positionierung und die Inszenierung von Rollenaspekten spielen in der Textkommunikation eng zusammen: So können die Inszenierungsleistungen mit Blick auf die oben beschriebenen Rollen als Positionierungsaktivitäten begriffen werden, wobei der von mir gewählte Oberbegriff der Positionierung wie gesagt über die Etablierung sozialer Beziehungen hinausgeht.
4.3.6 Ethos und TWT Die Beschreibung der rhetorischen Wirkdimension des Ethos im Rahmen der TWT betrifft, wie sich gezeigt hat, weit mehr als nur die persönlichkeitsbezogene SelbstDarstellung des Orators. Vielmehr geht es um die textuell etablierten Beziehungen von Orator und Leserin im Rahmen der Szenografie der ÄW: Oratoren werden in geschriebenen Texten als Akteure der ÄW repräsentiert, wobei sich ihre Repräsentation stark relativ zum Hintergrund der ÄW verhält. Die ÄW ist gleichsam der textuelle Ort, an dem der Orator der ebenfalls als ÄW-Akteurin repräsentierten Leserin begegnet. Die Art dieser Begegnung bzw. dieser Konstellation hat einen wesentlichen Einfluss auf die persuasive Kraft der Textkommunikation. Besonders wichtig sind dabei Fragen der inszenierten Rollen von Orator und Leserin, die als zentrale Aspekte der Positionierungsaktivitäten im Rahmen des Textverstehens begriffen werden können. Sowohl Orator als auch Leserin realisieren im Kontext der ÄW komplexe aufeinander bezogene Interaktionsrollen. Diese Interaktionsrollen positionieren die Interaktanten innerhalb der ÄW zueinander sowie zu der TW und den darin repräsentierten Sachverhalten. Daraus resultiert auch eine Reihe von Akteurs-Attribuierungen, die sich teilweise unmittelbar auf die in Abschnitt 4.3.1. identifizierten Orator-Qualitäten beziehen lassen, wie etwa Wissensstand/Einsicht und Autorität. Zu anderen hingegen lassen sich nur mittelbar Bezüge herstellen. Dies trifft etwa auf die Signalisierung gemeinsamer Gruppenzugehörigkeiten zu, die ebenfalls als relevante Ethos-Komponente begriffen werden kann (vgl. Beason 1991: 331–336; Kramer 1998: 374; Stucki & Sager 2018: 376). Die hier beschriebenen Aspekte von Beziehungs- und Rollenkonstellation ergeben somit gemeinsam mit Reflexionen der Orator-Qualitäten bspw. im Zuge selbst-referentieller Statements, bei denen Oratoren sich als TW-Akteuren Qualitäten zuschreiben, ein komplexes Bild der Begegnung von Orator und Leserin in der Textkommunikation. Kenneth Burke hat im letzten Jahrhundert zudem den Aspekt der Identifikation in die Rhetorik eingeführt (vgl. Burke 1969: 46; ausführlich dazu Kramer 1998). Dieser ist für die hier skizzierte Ethos-Konzeption in zweifacher Hinsicht relevant. Zum einen rückt so die Frage in den Vordergrund, ob sich die empirische Rezipientin mit der konzeptualisierten Leserin als Akteurin der ÄW identifi-
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zieren kann und sich entsprechend vom Text angesprochen fühlt, oder ob sie Teile der ÄW-Konzeptualisierung – etwa im Hinblick auf Rollenaspekte des Orators – ablehnt. Auch eine Identifikation von Orator und empirischem Sprecher kann von der Leserin abgelehnt werden (dies betrifft z. B. die Problematik der Authentizität). Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern sich die Rezipientin mit dem Orator identifizieren kann. Kann sie bspw. Empathie für seine Handlungsmotive aufbringen oder seine Positionierungsaktivitäten etwa gegenüber konzeptualisierten Sachverhalten in der TW nachempfinden? Die persuasive Kraft der Wirkdimension des Ethos beruht zusammengefasst also vor allem darauf, inwiefern eine Rezipientin die Konstellation der ÄW und darin insbesondere ihre eigene Rolle sowie die des Orators akzeptiert und ausgehend davon gewillt ist, dem Orator in der Konstruktion der TW-Strukturen zu folgen und diese zu akzeptieren.
4.4 Pathos – Emotives Potential 4.4.1 Pathos in der antiken Rhetorik Die antike Rhetorik zeichnet sich insbesondere durch die Anerkennung des Einflusses der emotionalen Verfasstheit des Publikums auf die Urteilskraft aus (vgl. Plantin 2006: 283). In systematischer Weise wird dies von Aristoteles hervorgehoben: „Mittels der Zuhörer überzeugt man, wenn sie durch die Rede zu Emotionen verlockt werden. Denn ganz unterschiedlich treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich sind, ob wir lieben oder hassen.“ (Aristoteles 1999: 19) In diesem postulierten Einfluss von Gefühlen auf die Urteilskraft zeigt sich eine Verbindung von Emotion und Kognition, die auch für die römische Rhetorik bei Cicero und Quintilian prägend ist (vgl. Till 2016: 42–43). Die Bedeutung der Emotionalität im persuasiven Sprachgebrauch beruht auf einem „Grundmodell rhetorischer Anthropologie“ (Kramer 2008: 315), in dem der Mensch als gleichermaßen emotionales wie rationales Wesen betrachtet wird. Aus diesem Verständnis heraus entwickelt die antike Rhetorik eine Emotionstheorie, die als praktische Theorie des Handlungswissens betrachtet werden kann. Sie zielt auf die technische Handhabung (psychagogie) der Seele (psyche) durch den Redner (vgl. Till 2016: 43; Coenen 2006: 17). Aristoteles erstellt dazu einen Katalog von Emotionen in der Form von Gegensatzpaaren. Die aristotelische Affekttheorie beschreibt Emotionen als triadische Struktur, die im Wesentlichen auf Bewertungen beruht (z. B.: Wer zürnt wem worüber?). Es zeigt sich dabei bereits eine gewisse Ähnlichkeit zu modernen Emotionstheorien aus Psychologie und Kognitionswissenschaft (siehe Abschnitt 4.4.2).
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Die Erzeugung der Emotionen beim Publikum wird somit zum systematischen Gegenstand der rhetorischen Technik, die Affekterregung wird in das systematische Lehrgebäude der Rhetorik integriert. Kramer (2008: 317) verweist darauf, dass aus der antiken rhetorischen Praxis einige sehr drastische Mittel bekannt seien, wie etwa das Mitführen eines eigens zum Zwecke der Mitleidserregung adoptierten Waisenkindes oder das Vorzeigen von erlittenen Kampfwunden, welche jedoch nicht in den Bereich der technischen Mittel fielen. Bei Letzteren geht es in aristotelischer Tradition vielmehr darum, die Emotionen durch die Rede selbst zu erzeugen. Als zentrales Mittel der Emotionserzeugung stechen dabei die rhetorischen Figuren heraus, deren Funktionalität weit über ästhetische Belange hinausgeht (Till 2016: 48–49). Bereits in der Antike wurden die rhetorischen Figuren als die „Sprache der Affekte“ betrachtet (Kramer 2008: 318). Rhetorische Figuren können demnach sowohl Emotionen erregen sowie der Darstellung der emotionalen Verfasstheit des Redners dienen. So ließe sich etwa ein elliptischer Stil als Zeichen der inneren Erregtheit des Orators verstehen. Das Emotionspotential der rhetorischen Figuren wurde dabei durch eine erkennbare Abweichung von der normalen Ausdrucksweise erklärt (vgl. Kramer 2008: 318–319). Allerdings wurde bereits von Quintilian in Frage gestellt, ob sich die rhetorischen Figuren systematisch spezifischen Emotionen zuordnen ließen. Till (2007: 298) bezeichnet dies als die „Polyvalenz von figuraler Struktur und pragmatisch-emotionaler Funktion“. In der rhetorischen Dreistillehre wird Pathos bzw. die rhetorische Funktion des movere/flectere zudem mit dem erhabenen Stil in Verbindung gesetzt, der das Publikum mitreißen solle (vgl. Fuhrmann 1990: 144–145; Ueding & Steinbrink 1994: 280). Die Bindung des Pathos an einen Stil bzw. ein genus birgt auch Implikationen für dessen Angemessenheit (vgl. Till 2007: 298). Die antike rhetorische Systematik rückt jedoch den mündlichen Vortrag des Redners in den Vordergrund. Insbesondere geht es darum, ob und in welcher Form sich der Redner selbst in einem emotionalen Zustand befinden solle (und dürfe) und wie er diesen durch Gestik, Mimik und Körperhaltung zur Schau zu stellen habe (vgl. Till 2016: 46–52). Das v. a. im Zuge der Aufklärung in Verruf geratene rhetorische Pathos wird in der neueren Rhetorikforschung rehabilitiert. Im Anschluss an die durchaus wohlwollende antike Einstellung werden der ohnehin untrennbare Zusammenhang von Emotion und Ratio hervorgehoben und die produktive Kraft der Emotionen beim Überzeugen betont: When seen as an integral component within the practice of judgement, emotion can come to be something other than the tyrannical force that Gorgias celebrates and that Kant sought to outlaw. Instead, emotion can be a source of knowledge, enabling both discrimination and action, and any account of thought that hopes to be adequate to the complexity of the human mind needs to go beyond an understanding of reason as a transpersonal or formal mode of inference and incorporate emotion in an appropriate way. (Kasteley 2004: 223)
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4.4.2 Sprache und Emotion Die linguistische Forschung hat sich verstärkt dem Zusammenhang von Sprache und Emotion zugewendet. Ortner (2014: 45) spricht von einem ganzen „Forschungsfeld der Emotionslinguistik“ – ein Begriff, den sie als Bezeichnung für „eine eklektisch anmutende Ansammlung von Erkenntnissen über Sprachsystem und Sprachgebrauch unter der spezifischen Perspektive der Emotionalität“ verwendet (Ortner 2014: 53). Als Beispiel für das heutige linguistische Engagement können die umfangreichen Monographien von Schwarz-Friesel (2007) und Ortner (2014) angesehen werden, die ältere linguistische Forschung umfangreich aufarbeiten und systematisieren und auf die im Folgenden hauptsächlich zurückgegriffen wird. Emotionen als Bewertungs- und Kenntnissysteme Eine sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Emotionen muss, so eine häufig vernommene Forderung, auf Emotionstheorien aufbauen, die durch andere Wissenschaften, insbesondere Psychologie und Kognitionswissenschaften, bereitgestellt werden (z. B. Ortner 2014: 5; Kindt 2009). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit einzelnen Emotionstheorien ist an dieser Stelle jedoch nicht zu leisten und ist in Schwarz-Friesel (2007) und Ortner (2014) bereits ausführlich erfolgt. Stattdessen berufe ich mich hier auf die bereits erfolgte Auseinandersetzung bei den beiden Autorinnen. Dort wird stets festgestellt, dass das Feld der Emotionsforschung sehr heterogen sei und von verschiedenen Auffassungen geprägt werde. Eine verbindliche und von allen anerkannte Emotionstheorie gibt es bislang nicht (vgl. Ortner 2014: 13; Schwarz-Friesel 2007: 43). Definitionsversuche beschreiben Emotionen häufig als durch bestimmte Impulse ausgerichtete hohe Erregungszustände von bestimmter Intensität, Dauer und Qualität in Individuen. Mit diesen gehen Veränderungen verschiedener Körpersysteme wie dem zentralen Nervensystem oder dem Hormonsystem einher. Emotionen stehen in einem Zusammenhang mit kognitiven Prozessen des Wahrnehmens, Bewertens und Kategorisierens und motivieren zu Handlungen und Verhaltensformen. Zudem haben sie eine soziale Dimension (vgl. Ortner 2014: 14). Viele Definitionen heben insbesondere den Aspekt der Bewertung in den Vordergrund: Emotionen sind mehrdimensionale, intern repräsentierte und subjektiv erfahrbare Syndromkategorien, die sich vom Individuum ichbezogen introspektiv-geistig sowie körperlich registrieren lassen, deren Erfahrungswerte an eine positive oder negative Bewertung gekoppelt sind und die für andere in wahrnehmbaren Ausdrucksvarianten realisiert werden (können). Die Prozesse der Bewertung betreffen Einschätzungen, mit denen ein Individuum entweder sein eigenes Körperbefinden, seine seelische Befindlichkeit, seine Handlungsimpulse, seine kogniti-
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ven Denkinhalte oder allgemeine Umweltsituationen (im weitesten Sinne) beurteilt. Die subjektiv erfahrbare Ebene der Emotionen ist die Ebene der Gefühle [...] Gefühle sind folglich subjektive Bewertungen introspektiv gefasster Emotionszustände. (Schwarz-Friesel 2007: 55)
Emotionen sind nicht irgendwelche – uns gänzlich unverständliche – Körper- und Geisteszustände, sondern gleichsam mentale Repräsentationen, die allerdings schwer eindeutigen Kategorien zuzuordnen sind (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 62–65). Bewusst wahrgenommene und kategorisierte Emotionen können nach einem Vorschlag von Schwarz-Friesel (2007) als Gefühle bezeichnet werden (vgl. auch Luppold 2015b: 186; Ortner 2014). In ihrer Eigenschaft als mentale Repräsentationsformen können Emotionen als Kenntnis- und Bewertungssysteme begriffen werden: Als Kenntnissysteme speichern Emotionskategorien teils universale, angeborene Empfindens- und Verhaltensmuster, teils sozial gesteuerte und individuelle Erlebens- und Erfahrungswerte [...] Als Bewertungssysteme werden sie (teils bewusst, teils unbewusst) benutzt, um innere und äußere Sachverhalte je nach Situation einzuschätzen und Urteile zu treffen. (Schwarz-Friesel 2007: 73)
Hierin, so ließe sich schließen, liegt auch das rhetorisch-persuasive Potential von Emotionen: Als Kenntnissysteme wechselwirken sie mit kognitiven und motivationalen Systemen und nehmen einen wesentlichen Einfluss auf Situationseinschätzungen und Schlussfolgerungen (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 73). So ist durch psychologische Forschung etwa bestätigt, dass die emotionale Verfasstheit eines Menschen ihn wesentlich in seinen Entscheidungen und Urteilen beeinflusst, wobei insbesondere spezifische Gefühle wie Wut, Ärger, Angst, Euphorie und Traurigkeit eine Rolle spielen (vgl. Angie et al. 2011). Emotionen wirken zudem auf die Textrezeption ein. Ein nachgewiesener Einfluss besteht darin, dass emotional aufgeladene Lexeme in Experimenten von Probandinnen besser memoriert werden. Subjektiv Bedeutsames werde beim Textverstehen allgemein intensiver bearbeitet (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 128–130). Emotionen und Sprachwissen Durch ihren Zusammenhang mit der Kognition und ihre Eigenschaft als Kenntnissysteme sind Emotionen eng mit unserem schematischen Wissenssystem verbunden (vgl. dazu Schwarz-Friesel 2007: 111–113). Viele Positionen nehmen etwa eine Integration von Emotionen und emotionsbezogenen Bewertungen in das konzeptuelle System des Weltwissens an (vgl. Ruppenhofer 2018: 95; van Dijk 1997: 192). Der Zusammenhang von Emotionen als Kenntnissystemen und Weltwissen zeigt sich auch in der linguistischen Auseinandersetzung mit Emotionen und Sprachsystem. Emotionen sind auf verschiedenen Ebenen und auf unterschiedliche Weise in Sprachsysteme eingeschrieben: „Denn als kognitiv und emotiv und prä-
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skriptiv geprägte Wirklichkeit erleben wir die Welt, und daher zeigt sich uns die Welt auch so in unserer Sprache, die jedoch auch umgekehrt das Ihre dazu beiträgt, wie die Welt geprägt ist, kognitiv und emotiv und präskriptiv.“ (Hermanns 1995: 165) Die Emotionslinguistik hat dabei eine ganze Reihe von emotiven sprachlichen Formen identifiziert, von denen an dieser Stelle einige exemplarisch genannt werden sollen: – Sprachen verfügen über Begriffe für Gefühle und emotionale Zustände, die auf konventionelles Wissen zu Emotionen verweisen. So verfügt etwa das Deutsche über einen Emotionswortschatz, der Substantive zur Bezeichnung von Emotionen umfasst wie Angst, Freude, Trauer, Wut sowie die entsprechenden Verben und Adjektive. Dieses Emotionsvokabular stellt ein vielbeachtetes Feld der Emotionslinguistik dar (vgl. Ortner 2014: 200–204). – Bestimmte Lexeme sind zudem über inhärente Bewertungen konventionell mit Emotionen assoziiert wie bspw. Hochwertwörter, abwertende Begriffe, Kosenamen oder Schimpfwörter (vgl. Fries 1996: 45; Herrmanns 1995: 152; Ortner 2014: 220–223; Schwarz-Friesel 2007: 152). Schwarz-Friesel (2007: 152) nennt zudem emotionsbezogene Konnotationen bei Lexemen wie flennen. – Außerdem gibt es eine Reihe sprachlicher Mittel, die ‚systematisch‘ in funktionaler Verwendungsweise zum Ausdruck von Emotionen genutzt werden. Auf lexikalischer Ebene sind dies v. a. Modalwörter wie leider oder endlich sowie bestimmte Partikel und Interjektionen wie au weih, pfui, uff, puh usw.45 (vgl. Herrmanns 1995: 145–146; Ortner 2014: 225–230; Schwarz-Friesel 2007: 153–157). – Daneben können auch syntaktische Strukturen, Konstruktionen wie Exklamativ- oder Optativsätze usw. als konventionell emotionsbezogene Sprachformen betrachtet werden (vgl. Ortner 2014: 248–252). – Ebenso sind bestimmte Sprechakte ‚systematisch‘ mit Emotionen assoziiert, bspw. Expressiva wie TRÖSTEN, GRATULIEREN oder BESCHIMPFEN (vgl. Ortner 2014: 263). – Emotionen sind außerdem (konventionell) mit bestimmten pragmatischen Regeln des Sprachgebrauchs verbunden (bzw. mit deren Verletzung), bspw. mit Höflichkeit und Tabus (vgl. Ortner 2014: 270–274), deren Einhaltung oder Verletzung erwartbar zu emotionsbezogenen Reaktionen bei Sprachbenutzerinnen führen können. – Emotionen sind mit manchen Textsorten (und evtl. auch Domänen) konventionell verbunden, wie bspw. Tagebüchern und Kondolenzschreiben (vgl. Ortner 2014: 304–309).
Eine Liste prototypischer Interjektionen mit zugeordneten Emotionen findet sich in SchwarzFriesel (2007: 155–156).
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4.4.3 Emotive Bedeutungsaspekte Bedeutsamer als die Frage nach einem Zusammenhang von Sprache und Emotion im Hinblick auf das Sprachsystem (langue) ist aus rhetorischer Perspektive jedoch die Frage danach, welche Rolle Emotionen im Sprachgebrauch (parole) spielen. Dabei kann von einer bzw. mehreren emotionsbezogenen – bzw. emotiven – Komponenten der Äußerungsbedeutung ausgegangen werden (vgl. Fries 1996: 54). Für eine Systematisierung emotiver Bedeutungsaspekte bietet sich erneut eine Orientierung am Organon-Modell Bühlers an (vgl. Ortner 2014: 66). Entsprechend lässt sich zwischen dem Emotionsausdruck eines Textproduzenten, der Darstellung von Emotion und der appellhaften Emotionalisierung einer Rezipientin unterscheiden. Emotionsausdruck Oftmals wird insbesondere die Ausdrucksfunktion der Sprache mit Emotionalität in Verbindung gebracht (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 135). Emotionsausdruck läuft in mündlichen Formen des Sprachgebrauchs v. a. ‚über‘ non- und paraverbale Phänomene (Mimik, Sprechtempo, Lautstärke, Intonation etc.). Zum textuellen Ausdruck von Emotionen kann nahezu die gesamte Bandbreite der oben genannten emotionsbezogenen sprachlichen Formen genutzt werden. Wie Hermanns (1995: 145) bemerkt, drückt ein Satz wie Ich habe Angst eine Emotion allerdings eigentlich nicht aus, sondern bezeichnet sie vielmehr.46 Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass der tatsächliche/konkrete Emotionsausdruck trotz der Konventionalität verwendeter sprachlicher Formen in allen Fällen stark von der kontextuellen Einbindung abhängt (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 170). Bei der Erschließung des emotionsausdrückenden Potentials einer Äußerung ist insbesondere das (verstehensrelevante) Weltwissen zu beachten, aufgrund dessen eine Hörerin Hypothesen über den emotionalen Zustand der Sprecherin anstellen kann. Bei einer Äußerung wie Ich hab‘ eine Sechs in Mathe kann man bspw. aufgrund des geteilten Wissens um Noten und deren Relevanz für Schüler darauf schließen, dass die Sprecherin betrübt sei (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 187).
Schwarz-Friesel (2007: 147) widerspricht Hermanns jedoch und möchte auch selbstreferentielle Aussagen mit emotionsbezeichnenden Wörtern wie Ich liebe dich deutlich dem expressivemotiven Funktionsbereich des Sprachgebrauchs zuordnen.
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Emotionsdarstellung Emotionen sind an Subjekte gebunden, von daher ist vor allem ihre Bindung an Sprecher und Hörerin relevant. Daneben können natürlich auch Menschen auf der Ebene der Darstellungsfunktion Emotionen zugesprochen werden. Aus TWTSicht betrifft dies die konzeptualisierten Emotionen von Akteuren der TW. Hierzu zählen bspw. Erlebensbeschreibungen von Oratoren und TW-Akteuren (vgl. Fiehler 1990; Ortner 2014: 254; Luppold 2015b: 193–194). Hermanns (1995: 144–145) merkt an, dass hier v. a. „quasi-psychologische Vokabeln“ zum Einsatz kommen, mit denen Gefühle beschrieben werden, wobei die entsprechenden Aussagen selbst zumeist weder emotionsausdrückend noch emotionalisierend seien. Emotionalisierung Texte können dazu führen, dass bestimmte emotionale Einstellungen bei einer Rezipientin aktiviert bzw. konstituiert werden (vgl. Schwarz-Friesel 2007: 85; Ortner 2014: 56). Gerade diese als Emotionalisierung bezeichnete Auslösung von Emotionen in einer Rezipientin stellt das zentrale Interesse des rhetorischen Pathos dar (vgl. Luppold 2015b: 188; Schwarz-Friesel 2007). Ein klares systematisches Verhältnis zwischen der Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel und einer entsprechenden Emotionalisierung ist jedoch kaum herleitbar. Einzig im Fall von Sprachhandlungen wie BELEDIGEN oder LOBEN lässt sich ein solches in Form von konventionell intendierten emotiven perlokutionären Effekten herleiten (vgl. Luppold 2015b: 204; Ortner 2014: 266–267). Für einen Orator besteht die Herausforderung entsprechend darin, „die adäquaten sprachlichen Anknüpfungspunkte für die von ihm erwünschten Appraisal-Prozesse im Text zu schaffen, durch welche entsprechende, persuasionsdienliche Emotionen – v. a. emotionale Einstellungen – beim Adressaten entstehen können“ (Luppold 2015b: 187). Hierzu muss insbesondere von Emotionsausdruck, -darstellung sowie der emotiven Perspektivierung (s. u.) von Texten Gebrauch gemacht werden (vgl. Luppold 2015b: 192). Als bedeutendes Mittel zur Emotionalisierung werden zudem Bilder genannt (vgl. Klug 2012: 102). Emotives Potential In allen Fällen der emotiven Bedeutung kann von Emotionsvokabular Gebrauch gemacht werden. Allerdings ist dies nur eine Möglichkeit neben vielen. Grundsätzlich können ganz verschiedene sprachliche Mittel als Hinweise auf emotionale Bedeutungskomponenten gedeutet werden. Hinzu kommt, dass sich die verschiedenen Ebenen auch gegenseitig beeinflussen und sich mittelbar zueinander verhalten können. So kann etwa Emotionalisierung eine empathische Reaktion der Rezipientin auf den Emotionsausdruck des Produzenten sein – Luppold (2015b: 189–191)
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nennt hier z. B. komplementäre und spiegelnde Emotionsverhältnisse von Sprecherin und Hörerin. Im Fall der Textkommunikation sind die Emotionen von Textproduzent und Textrezipientin nicht durch Textanalysen empirisch erhebbar. Dennoch können anhand der Texte Rückschlüsse darauf gezogen werden, ob und wie Emotionalität ein Bestandteil der Textbedeutung ist, wenngleich die systematischen Zusammenhänge sich durchaus als komplex und verwoben darstellen können (vgl. Ortner 2014). Ich werde deshalb von einem emotiven Potential sprechen, das sich textanalytisch rekonstruieren lässt. Das Emotionspotenzial ist nicht mit der Emotionalisierung gleichzusetzen. Emotionalisierung ist ein Prozess, das Emotionspotenzial eines Textes dagegen ist etwas im Text, in seiner Informationsstruktur Verankertes, und als solches als inhärente Eigenschaft des Textes zu beschreiben. (Schwarz-Friesel 2007: 212)
Emotive Perspektivierung Neben der Emotionsdarstellung gibt es eine weitere darstellungsbezogene Komponente des emotiven Potentials eines Texts: Die emotive Perspektivierung (Luppold 2015b: 195–196; Schwarz-Friesel 2007: 211–212). Dabei werden Gegenstände und Sachverhalte so dargestellt, dass Emotionen ausgedrückt oder ausgelöst werden können. Schwarz-Friesel (2007: 211–216) führt insbesondere die Emotionalisierung durch Texte auf die durch Fokussierungen und Auslassungen erzeugte perspektivische Darstellungsweise der Textwelt zurück: Emotionalisierung involviert nicht nur die Rekonstruktion der emotionalen Befindlichkeit der Textweltreferenten, sondern auch die Aktivierung bzw. Konstruktion der Gefühle des Lesers. Diese Gefühlskonstruktion wird von den textuellen Manifestationsformen gesteuert. Dabei muss es nicht notwendigerweise um Emotionen und Gefühle in der Textwelt gehen: Sachverhaltsdarstellungen können (je nach sprachlicher Gestaltung) eine Perspektivierung, die mit Emotionalisierung einhergeht, evozieren. (Schwarz-Friesel 2007: 222)
Emotive Perspektivierungen können als Hinweis auf Emotionsausdruck und Emotionalisierung gedeutet werden – allerdings ist das stets ein mittelbarer Interpretationsschritt. Unmittelbar werden emotionale Qualitäten zunächst an dargestellte Gegenstände und Sachverhalte gebunden, ohne dass explizit emotionswahrnehmende Subjekte (experiencer) erkennbar werden müssen (vgl. Polo et al. 2017: 305). In der Literatur werden dabei mehrere Aspekte genannt, die eine Rolle bei einer emotiven Perspektivierung spielen (vgl. Fiehler 1990: 124; Fries 1996: 55–56; Polo et al. 2017: 318; Plantin 1998; Stucki & Sager 2018: 379–380): – Positive bzw. negative Bewertung eines dargestellten Ereignisses oder Sachverhalts.
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Nähe/Distanz: Hier ist vor allem die (emotionale) Nähe von einem Individuum und einem Erlebnis bzw. einem Sachverhalt zu nennen (Fries 1996: 57). Es betrifft aber auch die raum-zeitliche Distanz eines negativ bewerteten Ereignisses oder Sachverhalts zu einem möglichen experiencer (Plantin 1998). Kontrolle: Hierbei spielt eine Rolle, ob und inwiefern ein Ereignis von einem (möglichen) experiencer kotrolliert werden kann (vgl. Plantin 1998). Intensität/Quantität von Aspekten des Ereignisses/Sachverhalts. Aspekte der Verursachung: Agens/Ursache und Verantwortlichkeit: Hier spielt auch eine Rolle, in welchem Verhältnis mögliche Verursacher und/oder Ursachen (bspw. auch Motivationen von Verursachern) zu (möglichen) experiencern, Betroffenen sowie Normen und Werten stehen (vgl. Plantin 1998). Patiens/Betroffener: Hier spielt Empathie mit Betroffenen eine wichtige Rolle (vgl. Ortner 2014: 283; Schwarz-Friesel 2007: 213) sowie sozio-kulturelle Emotionsassoziationen bspw. zu Kindern (vgl. Plantin 1998). Konsequenzen: Auch hier ist ein Bezug zu Leser-Interessen, Werten und Normen relevant (vgl. Plantin 1998). Verletzung/Einhaltung sozialer Normen (vgl. Polo et al. 2017: 317). Analogie des dargestellten Ereignisses/Sachverhalts zu Bereichen, in denen Emotionsbezüge sozial/kollektiv etabliert sind (vgl. Plantin 1998; Polo et al. 2017).
Solche Perspektivierungen als Schematisierungen können auch sehr verdichtet bspw. in Ereignisbenennungen identifiziert werden, die durchaus als Indikatoren für emotionale Einstellungen von Autorinnen/Sprecherinnen gedeutet werden können (vgl. Rothenhöfer 2011: 55; hierzu Ortner 2014: 297). Auch das große emotive Potential, das Bildern immer wieder zugesprochen wird, ist vermutlich auf emotive Perspektivierung zurückzuführen. Emotive Perspektivierungen beruhen auf geteiltem Wissen, Werten und Normen und spielen eine wichtige Rolle für Argumentationen (vgl. Polo et al. 2017: 321).
4.4.4 TWT und emotives Potential Die Überlegungen zur emotiven Sprachgebrauchsbedeutung lassen sich in das TWT-Modell integrieren, indem das emotive Bedeutungspotential – wie andere Aspekte des Bedeutungspotentials von Texten – im Rahmen der Weltenarchitektur rekonstruiert wird. Dabei lassen sich folgende Aspekte herausgreifen: – Der explizite Emotionsausdruck des Autors als Akteur der TW durch selbstreferentielle Emotionsstatements (Ich bin stinksauer).
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Der implizite Emotionsausdruck des Autors als Akteur der ÄW. Dieser muss interpretiert werden, kann aber bspw. durch Partikel wie leider, bestimmte Sprechakte und weitere emotive Mittel erschlossen werden (s. o.). Die explizite und implizite Emotionszuschreibung bzw. -beschreibung von Akteuren der TW (Peter war überglücklich). Die explizite Emotionalisierung der Leserin, bspw. als Adressatin von Sprachhandlungen mit erwartbarem emotionsbezogenem perlokutivem Effekt wie bei Invektiven/Beleidigungen oder aber Danksagungen, Komplimenten etc. Die emotive Perspektivierung von Strukturen der TW. Hierbei können die oben beschriebenen Perspektivierungsaspekte wie Nähe/Distanz, Kontrolle usw. auf die konzeptuellen Strukturen der TW zurückgeführt werden. Die emotive Perspektivierung von Strukturen der ÄW, die in analoger Weise rekonstruiert werden können. Die emotive Perspektivierung der gesamten Weltenstruktur, bspw. durch die Nähe/Distanz-Beziehungen von ÄW und TW entlang der in Kapitel 3.3 vorgestellten relationalen Dimensionen (spatio-temporal und faktisch).
Diese Aspekte können in der Realität der Textkommunikation eng ineinandergreifen und wechselwirken. Bspw. kann die Schilderung des emotionalen Erlebens eines TW-Akteurs zur emotiven Perspektivierung von TW-Strukturen (bspw. FAPStrukturen) und/oder WBEs beitragen, was wiederum der Emotionalisierung dienen kann.
4.5 Fazit: Rhetorische Textstrategien und TWT-Modell Als rhetorische Textstrategie betrachte ich aus TWT-Sicht den textgetriebenen Aufbau der Weltenarchitektur im Hinblick auf die darin verankerte Plausibilitätsstruktur des geteilten Wissens in rhetorischen Handlungskontexten. Hierbei spielen durchaus auch unterstützende Aspekte des Aufbaus eine Rolle, wie etwa die Rezeptionsoptimierung (vgl. Luppold 2015a: 223–227). Wie auch Luppold betrachte ich solche rhetorischen Textstrategien als analytische Konstrukte, die auf der Vorannahme eines absichtsvoll handelnden Orators beruhen. Wie die Ausführungen in diesem Kapitel zeigen, führt der Aufbau der Weltenarchitektur im Textverstehen zu einer lokalen Struktur des geteilten Wissens, in der sich persuasionsrelevante Aspekte relativ zu den Wirkdimensionen Ethos, Logos und Pathos bestimmen lassen: – der Aufbau einer auf eine Quaestio bezogenen Struktur von TW-Propositionen in Relation zur Handlungsstruktur der ÄW (Logos),
4.5 Fazit: Rhetorische Textstrategien und TWT-Modell
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die Konzeptualisierung von Orator und Leserin sowie weiteren möglichen Akteuren der ÄW und deren Begegnung miteinander im Rahmen der Handlungsstruktur der ÄW (Ethos), das emotive Potential der Weltenarchitektur (Pathos).
Die Wirkdimensionen Ethos, Logos und Pathos richten dabei den Blick nicht auf verschiedene Phänomene. Vielmehr stellen sie unterschiedliche Perspektiven auf dieselben Strukturen der Weltenkonstruktion dar, die im Hinblick auf bestimmte Verstehensleistungen das Potential zur persuasiven Wirksamkeit besitzen. Die rhetorische (Text-)Strategie ist somit im TWT-Modell als globales Phänomen mit zahlreichen Interrelationen und Wechselwirkungen systematisch beschreibbar, das auf einem ganzheitlichen Konstruktionsprozess im Rahmen des Textverstehens beruht. Die allesamt als (potentielle) Verstehensleistungen begriffenen und rekonstruierbaren lokalen Wissensstrukturen in Form dynamischer mentaler Modelle ergeben gerade in ihrer Vernetzung und Interdependenz miteinander die Plausibilitätsstruktur des lokal konstituierten geteilten Wissens. Sie stellen aus rhetorischer Sicht spezifische Anreize dafür dar, dass eine Rezipientin die lokale Wissensstruktur akzeptiert und (Elemente daraus) in ihren Wissensvorrat integriert. Über das Gelingen eines solchen (Persuasions-)Prozesses kann jedoch textanalytisch keine Aussage getroffen werden. Die TWT bietet allerdings, wie ich gezeigt zu haben hoffe, eine vielversprechende Möglichkeit, Texte im Hinblick auf ihre so verstandene (potentielle) rhetorische Wirkung zu beschreiben.
5 Die Neonicotinoid-Debatte – Ein Überblick 5.1 Neonicotinoide Im Zentrum der Neonicotinoid-Debatte stehen die namensgebenden Neonicotinoide. Bei diesen handelt es sich um eine Klasse von Pestiziden, die in der Landwirtschaft in großem Umfang zum Pflanzenschutz eingesetzt werden. Neonicotinoide sind Insektizide, d. h. Mittel, die zur Abtötung von Insekten im Pflanzenbau eingesetzt werden. Der Begriff Neonicotinoide bezieht sich dabei eigentlich auf die aktiven Substanzen bzw. Wirkstoffe, die in Pflanzenschutzmittelprodukten enthalten sind. Für den Pestizideinsatz werden weltweit die Neonicotinoide Imidacloprid, Clothianidin, Thiamethoxam, Thiacloprid, Acetamiprid, Dinotefuran und Nitenpyram von den Herstellern Bayer CropScience, Syngenta, Mitsui Chemicals, Nippon Soda und Sumitomo Chemical in ihren Produkten verwendet (vgl. Jeschke et al. 2011). Neonicotinoide können auf verschiedene Weisen in der Pflanzenzucht angewendet werden: In der Blattanwendung werden sie direkt auf die Pflanzenoberfläche aufgesprüht, in der Bodenanwendung in den Boden eingebracht, bei der Saatgutbeize wiederum wird das Saatgut der Pflanzen mit dem Pestizid ummantelt, bevor es eingepflanzt wird. Neonicotinoide wirken dabei systemisch. Das bedeutet, dass nicht der direkte Kontakt eines Schädlings mit oberflächlich aufgetragenen Stoffen zur Wirkung angepeilt wird. Stattdessen werden die Stoffe von den Pflanzen aufgenommen und verteilen sich darin. Ein ‚Schädling‘, der die Pflanze anfrisst, nimmt auch das Neonicotinoid auf und ist in der Folge seiner Wirkung ausgesetzt. Als erstes neonicotinoides Pestizid wurde Imidacloprid seit 1991 von der Bayer CropScience AG kommerziell produziert und in der Folge weltweit vertrieben. Neonicotinoide gewannen seitdem eine enorme kommerzielle Bedeutung für die Herstellerfirmen sowie für die landwirtschaftliche Produktion. 18 Jahre nach Markteinführung machten Neonicotinoide im Jahr 2008 bereits 24% des gesamten Marktvolumens der Insektizide aus. Ihr Anteil am Marktvolumen der Saatgutbehandlung betrug zu diesem Zeitpunkt sogar 80% (vgl. Jeschke et al. 2011: 2897–2898). Die für den Umsatz wichtigsten Neonicotinoide sind Thiamethoxam, Imidacloprid und Clothianidin, die zusammengenommen im Jahr 2014 fast 85% des weltweiten Neonicotinoid-Umsatzes ausmachten (vgl. Bass et al. 2015: 78–79).
https://doi.org/10.1515/9783111077369-005
5.2 Neonicotinoide und europäische Pestizidzulassung
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5.2 Neonicotinoide und europäische Pestizidzulassung In Europa ist die Zulassung von chemischen Wirkstoffen wie den Neonicotinoiden im Wesentlichen eine Angelegenheit der Europäischen Union. Wirkstoffe werden dabei üblicherweise für eine Dauer von 10 Jahren zugelassen, bevor die Zulassung erneuert werden muss. Die Zulassung von Pestiziden beruht auf einer Bewertung durch die europäische Lebensmittelbehörde EFSA. In der EU wurden bislang 5 Neonicotinoide zugelassen, wobei die Zulassung von 4 der Stoffe im Zuge der Neonicotinoid-Debatte wiederrufen wurde, so dass momentan (Stand März 2022) nur Acetamiprid in der EU zugelassen ist. Tabelle 5.1 zeigt die in der EU zugelassenen Neonicotinoide und gibt das Datum ihrer Zulassung an. Tabelle 5.1: In der EU (ehemals) zugelassene Pestizide. Neonicotinoid
Erfolgte EU-Zulassung
Acetamiprid Clothianidin Imidacloprid Thiacloprid Thiamethoxam
Die Zulassung konkreter Pflanzenschutzmittelprodukte erfolgt auf nationaler Ebene. In Deutschland ist hierfür das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zuständig48. Die Bewertung der Pestizide wird dabei mit unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten vom Umweltbundesamt (UBA), dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und dem Julius Kühn-Institut (JKI) durchgeführt. Den gesetzlichen Rahmen für die Pestizidzulassungen bilden das Gesetz zum Schutz der Kulturpflanzen49, die Verordnung (EG) 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln50 und die Richtlinie 2009/128/EG des europäischen Parlaments und des Rates
https://ec.europa.eu/food/plant/pesticides/eu-pesticides-database/active-substances; https:// www.bundestag.de/resource/blob/507406/a0df0277bfd54364117e19585dd7f578/WD-8-011-17-pdfdata.pdf. https://www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/pflanzenschutzmittel/zulassung-vonpflanzenschutzmitteln. https://www.gesetze-im-internet.de/pflschg_2012/BJNR014810012.html. https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:309:0001:0050:de:PDF.
126
5 Die Neonicotinoid-Debatte – Ein Überblick
vom 21. Oktober 2009 über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Verwendung von Pestiziden51. Im Zuge des Zulassungsverfahrens werden vor allem die Risiken für Mensch, Tier und Umwelt ermittelt. Eine besondere Rolle für die Zulassung von Pestiziden spielen dabei Risiken für Bienen (v. a. Honigbienen), die im Gesetz zum Schutz der Kulturpflanzen und der Verordnung 1107/2009 explizit erwähnt werden. Auch für die dabei im Zulassungsverfahren vorgeschriebenen Tests an Honigbienen gelten europaweit ausformulierte Richtlinien. Auf europäischer Ebene wurde hier 2013 das Guidance Document on the Risk Assessment of Plant Protection Products on Bees (Apis mellifera, Bombus spp. and solitary bees) von der EFSA entwickelt und veröffentlicht52. Die Tests erfolgen auf drei Stufen (Labor, Halbfreiland und Freiland)53. Die Bewertung des Risikos berücksichtigt dabei sowohl Stoffeigenschaften als auch Anwendungsarten. Es erfolgt eine Kennzeichnung auf verschiedenen Stufen (B1–B4) mittels des Begriffs bienengefährlich. Die Anwendung von auf diese Art eingestuften Pflanzenschutzmitteln wiederum ist in Deutschland durch die Verordnung über die Anwendung bienengefährlicher Pflanzenschutzmittel54 geregelt.
5.3 Das Debattenthema: Risiken für Bienen Mögliche Risiken des Neonicotinoid-Einsatzes für (Honig-)Bienen stehen im Zentrum der Neonicotinoid-Debatte. Obwohl Neonicotinoide in der EU als Pflanzenschutzmittel zugelassen worden sind (siehe Tabelle 5.1 oben), wurden spätestens ab den späten 2000er-Jahren zunehmend Bedenken geäußert, dass der Neonicotinoid-Einsatz ein Risiko für bestäubende Insekten, allen voran Bienen darstelle. Ein solches Risiko wird dabei auf mehrere Faktoren zurückgeführt, die in der Debatte unterschiedlich stark diskutiert werden. Zu nennen sind hier insbesondere: – Die hohe intrinsische Toxizität für Bienen, die zu letalen Wirkungen führen, also Einzelbienen bei Kontakt töten könne. – Die mögliche Exposition von Bienen mit in der Landwirtschaft eingesetzten Neonicotinoiden über die Expositionspfade Staubabdrift und Guttation (die Absonderung von Wassertropfen an Blatträndern). – Die Konzentration an Neonicotinoiden, denen Bienen in solchen Fällen ausgesetzt sind. Hierbei ist insbesondere die Bestimmung der sogenannten mittleren
https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:309:0071:0086:de:PDF. https://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/pub/3295. https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/04_Pflanzenschutzmittel/01_Aufgaben/09_Ge sundheitNaturhaushalt/02_SchutzNaturhaushalt/02_Bienenschutz/Bienenschutz_node.html. http://www.gesetze-im-internet.de/bienschv_1992/index.html.
5.3 Das Debattenthema: Risiken für Bienen
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letalen Dosis (LD50) – der Menge eines Stoffes, bei der 50% der kontaminierten Population sterben – ein wichtiger Kennwert. Die Möglichkeit sogenannter subletaler Wirkungen. So werden Pestizidauswirkungen bezeichnet, die nicht unmittelbar zum Tod von Individuen führen, Bienen oder ganze Populationen jedoch schädigen, indem sie individuelle und kollektive organische Funktionen beeinflussen wie etwa die Navigationsfähigkeit von Bienen oder die Aufzucht von Bienenlarven. Synergieeffekte, die aus der Wechselwirkung mit anderen in der Landwirtschaft eingesetzten Chemikalien entstehen können.
Die Übersicht über die Teilthemen der Risiko-Frage verdeutlicht deren enorme Komplexität und damit auch die großen Herausforderungen, denen sich eine wissenschaftliche Risikobewertung in diesem Zusammenhang zu stellen hat. Die Frage nach einem möglichen Risiko des Neonicotinoid-Einsatzes für Bienen kann aus argumentationsanalytischer Sicht als eine zentrale epistemische Quaestio der Neonicotinoid-Debatte bezeichnet werden. Flankiert bzw. ergänzt wird die Frage nach möglichen Risiken in der Debatte außerdem von der Frage, inwiefern der Neonicotinoid-Einsatz eine wichtige Ursache eines vermuteten Bienensterbens sei55. Diese weiterreichende Frage steht zwar auf institutioneller Ebene nicht im Zentrum des Zulassungsverfahrens, erweist sich jedoch im Hinblick auf die öffentliche Neonicotinoid-Debatte als äußerst relevant und wird insbesondere von Akteuren aus dem Umweltschutz in den Vordergrund gerückt. Die eigentlich zentrale Frage bzw. Quaestio der Neonicotinoid-Debatte ist allerdings weniger epistemischer als normativer Natur. Sie betrifft den gesellschaftlichpolitischen Umgang mit dem Wissen um die Auswirkungen von Neonicotinoiden auf Bienen. Vor allem die Möglichkeit eines Neonicotinoid-Verbotes – also der Rücknahme bestehender Zulassungen – wird dominant verhandelt und diskutiert. Tatsächlich bildet diese Fragestellung den wesentlichen Relevanzrahmen des im Folgenden untersuchten Debattenhandelns der Schlüsselakteure Agrarindustrie und Umweltschutzorganisationen.
Bspw.: https://www.spektrum.de/news/wie-sehr-schaden-neonicotinoide-den-bienen-tatsaech lich/1523993, https://www.sueddeutsche.de/wissen/moderne-pestizide-gift-fuer-bienen-und-voegel1.2038034, https://www.geo.de/natur/oekologie/566-rtkl-pestizide-bienensterben-comeback-derneonicotinoide.
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5 Die Neonicotinoid-Debatte – Ein Überblick
5.4 Debattenakteure und Positionen Versucht man, sich die Neonicotinoid-Debatte in Deutschland zwischen 2013 und 2018 (zur Chronologie siehe Abschnitt 5.5) zu erschließen, zeigt sich ein kaum zu überblickendes Feld an Akteuren. Ich werde im Folgenden die wichtigsten Akteursgruppen nennen und deren Positionen und Standpunkte auf die Fragen nach einem möglichen Risiko und einem eventuellen Verbot in groben Zügen wiedergeben. – Neonicotinoid-Hersteller: Die in der deutschen Debatte relevanten Neonicotinoid-Produzenten sind der Schweizer Konzern Syngenta sowie insbesondere die Agrarspalte (CropScience) des in Leverkusen ansässigen Chemiekonzerns Bayer. Als Lobbyverband der Agrochemie werden beide Konzerne zudem vom Industrieverband Agrar (IVA) vertreten. Die Hersteller vertreten in der Debatte die Ansicht, dass Einsatzbeschränkungen der Neonicotinoide sachlich ungerechtfertigt seien und sich Neonicotinoide bei einer fachgerechten Anwendung sicher, d. h. insbesondere ohne Schädigungen von Bestäuberinsekten, einsetzen ließen. – Landwirtschaftsverbände: Als Vertreter der landwirtschaftlichen Perspektive ist insbesondere der in Deutschland einflussreiche Deutsche Bauernverband (DBV) zu nennen. Auch der DBV kritisiert zunächst ein 2013 erlassenes Teilverbot und verweist auf die möglichen landwirtschaftlichen Schäden, die dadurch entstünden. Eine 2018 erfolgte Neubewertung der EFSA wird vom DBV allerdings nicht angefochten. Ein weiterer aktiver Landwirtschaftsverband ist der Bundesverband deutscher Pflanzenzüchter (BDP), der sich in seinen Standpunkten weitestgehend den Herstellern anschließt. Selbiges trifft auch auf die Union zur Förderung von Öl- und Proteinpflanzen (UFOP) zu. – Umwelt-NGOs: Als äußerst engagiert in der Debatte zeigen sich Umweltschutzorganisationen wie insbesondere Greenpeace, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Naturschutzbund Deutschland (NABU) und das Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN Germany). Hinzu kommen Bienenschutzinitiativen wie die Aurelia Stiftung und der Verein Mellifera e.V. Alle diese Umweltschutzorganisationen fordern seit Ende der 2000er-Jahre – bzw. bei jüngeren Organisationen wie der Aurelia Stiftung seit Bestehen – ein umgehendes Verbot der Neonicotinoide sowie weiterer Pestizide, da sie im Neonicotinoid-Einsatz nicht nur ein Risiko für Bienen, sondern für die gesamte Umwelt und überdies im Pestizideinsatz allgemein eine wichtige Ursache des Insekten- bzw. Bienensterbens sehen. – Imker: Hier sind vor allem der Deutsche Imkerbund und der Deutsche Berufsund Erwerbsimkerbund (DBIB) als Lobbyverbände zu nennen. Beide Verbände fordern ein Verbot der Neonicotinoide auf der Basis des von der EFSA
5.4 Debattenakteure und Positionen
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identifizierten Risikos. Sie gehen in der Neonicotinoid-Debatte deutlich erkennbare Allianzen mit den oben genannten Umwelt-NGOs ein. Wissenschaftliche Institutionen mit politischem Mandat: Auf der europäischen Ebene betrifft dies die europäische Lebensmittelagentur EFSA, auf der nationalen Ebene sind das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) sowie insbesondere das Julius Kühn-Institut (JKI) zu nennen. Die Institutionen vermeiden eine Positionierung zu normativen Fragestellungen – die EFSA sogar tut dies in einem auf ihrer Homepage veröffentlichten Q&A-Text sogar ausdrücklich mit Verweis auf geteilte Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im europäischen Regulierungsprozess56. Akademische wissenschaftliche Akteure: Auch einige einzelne Forschungsgruppen und Wissenschaftlerinnen treten als Akteure der öffentlichen Debatte in Erscheinung. Ein besonderes Engagement zeigt der Neurobiologie Randolf Menzel, der klar als Vertreter der auch von den Umwelt-NGOs vertretenen Standpunkte angesehen werden kann und bspw. auch als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Aurelia Stiftung fungiert. Politische Parteien: Aus dem Spektrum der politischen Parteien beteiligen sich vor allem der Bundestagsabgeordnete Harald Ebner sowie der Europaabgeordnete Martin Häusling (beide Bündnis 90/die Grünen) engagiert an der Neonicotinoid-Debatte. In parlamentarischen Debatten treten auch weitere agrarpolitische Sprecher anderer Fraktionen in Erscheinung. Politische Institutionen: Auf europäischer Ebene ist hier vor allem die Europäische Kommission zu nennen, auf nationaler Ebene v. a. das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und das Umweltbundesamt (UBA). Massenmedien: Die massenmediale Berichterstattung repräsentiert vor allem eine berichtende und somit weniger eine im engeren Sinne ‚aktive‘ Beteiligung an der Debatte der Gestaltungsöffentlichkeit. Neben der nachrichtenorientierten Berichterstattung in Tages- und Wochenzeitungen sowie im Rundfunk und den jeweils begleitenden Homepages und Social Media-Kanälen, berichten auch Wissensmagazine und fachlich orientierte Zeitschriften57 über die Neonicotinoid-Debatte.
Im Hinblick auf ihr kommunikatives Engagement stellen sich vor allem die Hersteller sowie die Umweltverbände als Hauptakteure für das hier vertretene Interesse https://www.efsa.europa.eu/sites/default/files/news/180228-QA-Neonics_de.pdf. In diesem Falle wird es zunehmend schwierig, von einer ‚rein berichtenden‘ Funktion zu sprechen, da sich mitunter recht deutliche diskursive Positionierungen erkennen lassen, etwa bei der Landwirtschaftszeitschrift topagrar.
130
5 Die Neonicotinoid-Debatte – Ein Überblick
an den rhetorischen Strategien der Wissenskonstituierung in der Gestaltungsöffentlichkeit dar. Diese Auswahl und Fokussierung wird in der Darlegung des Forschungsdesigns in Kapitel 6.2. näher ausgeführt und begründet.
5.5 Die Neonicotinoid-Debatte in Deutschland – Eine chronologische Skizze Im Folgenden möchte ich die Chronologie der Neonicotinoid-Debatte in Deutschland kurz skizzieren, um eine ungefähre Orientierung über das diskursive Geschehen zu bieten. Als besonders einschneidendes Ereignis – und gewissermaßen als Initialzündung – der öffentlichen Neonicotinoid-Debatte in Deutschland kann das Bienensterben in Südwestdeutschland im Frühjahr 2008 angesehen werden58, bei dem Imkern in einem kurzen Zeitraum über 11.000 Bienenvölker beschädigt wurden oder verloren gingen. Der Populationsverlust wurde auf den erheblichen Staubadrift bei der Verwendung des von Bayer hergestellten Pflanzenschutzmittels Poncho bei der Maisaussaat zurückgeführt, welches das Neonicotinoid Clothianidin enthält59,60. Als Konsequenz aus diesem Vorfall ließ das BVL die Zulassungen der Neonicotinoide für die Maissaatgutbehandlung zunächst vorsorglich ruhen. Die Vorschriften für die Anwendung von Neonicotinoiden für Raps und Zuckerrüben wurde im Juli 2011 verschärft61. Einen weiteren wichtigen Meilensteil in der Debatte stellt die Veröffentlichung eines EFSA-Gutachtens zum Risiko der drei Neonicotinoide Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam für Bienen dar. Dieses wurde im Januar 2013 veröffentlicht62, nachdem die EFSA im Vorjahr ein diesbezügliches Mandat der Europäischen Kommission als Reaktion auf die spätestens seit 2008 hitzig geführte Debatte erhalten hatte63. In ihrem Gutachten identifizierte die EFSA Risiken durch die Exposition mit Neonicotinoiden, wobei die Risikobewertung nicht in allen Fällen abgeschlossen werden konnte. Das EFSA-Gutachten erfuhr – wie zu erwarten – eine große Resonanz innerhalb der Gestaltungsöffentlichkeit. Wäh-
https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/04_pflanzenschutzmittel/2008/2008_ 05_13_hi_Bienensterben.html. https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/04_pflanzenschutzmittel/2008/2008_ 05_13_hi_Bienensterben.html. https://idw-online.de/de/news264587. https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/04_pflanzenschutzmittel/2011/2011_ 07_08_hi_neonikotinoide.html. https://www.efsa.europa.eu/de/press/news/130116. https://www.efsa.europa.eu/de/press/news/120601.
5.5 Die Neonicotinoid-Debatte in Deutschland – Eine chronologische Skizze
131
rend es von Umwelt-NGOs, Imkerverbänden und Abgeordneten der Grünen als Bestätigung ihrer Vorbehalte gegen den Neonicotinoid-Einsatz betrachtet wurde, reagierten die Hersteller und einige Landwirtschaftsverbände mit Kritik an dem Gutachten, das ihrer Meinung nach keine solide Basis für regulative Interventionen darstellte. Als Reaktion auf das EFSA-Gutachten erließ die Europäische Kommission im Mai 2013 eine Verordnung, durch die ein Moratorium in Form deutlicher Anwendungsbeschränkungen der drei Neonicotinoide verhängt wurde. Gleichzeitig wurde die Aufforderung ausgegeben, durch die Einreichung weiterer Daten und die Durchführung weiterer Studien zu einer Klärung der Risikobewertung beizutragen. Hierfür wurde eine Neubewertung durch die EFSA angekündigt. Die Zeitspanne zwischen 2013 und 2018 stellt die intensivste Phase der Neonicotinoid-Debatte dar. Bereits 2012 hatte Bayer ein weltweites Bee Care Programm ins Leben gerufen, im Zuge dessen auch ein sogenanntes Bee Care Center in Monheim gegründet wurde. Dieses Center sollte als Wissenschafts- und Kommunikationsplattform dienen64 – neben der Durchführung und Koordination von Forschungsarbeiten wurde somit auch die Aufgabe einer kommunikativen Partizipation an der Gestaltungsöffentlichkeit institutionell fixiert. Greenpeace hatte bereits kurz nach dem EFSA-Gutachten einen Report mit dem Namen Bye bye Biene? Das Bienensterben und die Risiken für die Landwirtschaft in Europa veröffentlicht, in dem das Verbot mehrerer Insektizide, darunter auch der drei von der EFSA neubewerteten Neonicotinoide, gefordert wurde. Weitere Veröffentlichungen auf nationaler und internationaler Ebene folgten. Die Kampagne wurde außerdem durch Aktionen wie das Hissen von Großtransparenten mit den Aufschriften Syngenta pesticides kill bees65 und Bayer Pestizide töten Bienen!66 auf dem Firmensitz von Syngenta in Basel und auf der Hauptaktionärsversammlung von Bayer in Köln medienwirksam inszeniert. Auch weitere Umweltschutzorganisationen wie der BUND oder der NABU beteiligten sich an der Debatte. Neben den tagesaktuellen Nachrichten wurde massenmedial auch in populären Wissensmagazinen wie GEO67 oder Spektrum Wissenschaft68 über Neonicotinoide berichtet. Darüber hinaus erschienen zahlreiche
https://docplayer.org/174770292-Presse-information-bayer-stellt-bee-care-center-in-monheimvor.html. https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2013-04/26550257-kletteraktion-in-basel-syn genta-pestizide-toeten-bienen-095.htm. https://rp-online.de/wirtschaft/bayer-reagiert-gelassen-auf-greenpeace-proteste_aid-15671473. https://www.geo.de/magazine/geo-magazin/15815-rtkl-tatort-wiese-pestizide-und-das-ende-un serer-insekten. https://www.spektrum.de/news/wie-sehr-schaden-neonicotinoide-den-bienen-tatsaechlich/ 1523993.
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5 Die Neonicotinoid-Debatte – Ein Überblick
Forschungsarbeiten, die teilweise sogar auf universitärer Ebene durch Pressemeldungen öffentlich begleitet wurden. Gerade in der massenmedialen Repräsentation war die Neonicotinoid-Debatte in diesem Zeitraum eng mit der Debatte um das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat verbunden, die aufgrund vermuteter karzinogener Effekte für den Menschen allerdings noch größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr (vgl. Kuhnhenn 2018; 2021; Simon & Janich 2021). Ein weiteres diskursives Ereignis, das mittelbar mit der Neonicotinoid-Debatte verbunden ist, stellt die aufsehenerregende Veröffentlichung der Krefelder Studie (Hallmann et al. 2017) im Jahr 2017 dar, bei der ein Rückgang der Fluginsekten-Biomasse von 76–82% im Zeitraum von 1989 bis 2016 festgestellt wurde und die zusätzliches Öl in Feuer der Debatte um das Insektensterben goss. Nach einigen Verschiebungen kam es schließlich im Februar 2018 zu der angekündigten Neubewertung von Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam auf europäischer Ebene, bei der die 2013 identifizierten Risiken bestätigt wurden69. Kurz darauf wurde von der Europäischen Kommission der Einsatz der drei Neonicotinoide im Freiland verboten70. Ein Jahr darauf wurde auch die Zulassung für ein viertes Neonicotinoid, Thiacloprid, von der Europäischen Kommission nicht verlängert. Bereits 2013 wurde die Kommissionsentscheidung für ein Teilverbot von Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam von den Neonicotinoid-Herstellern Bayer und Syngenta aufgrund eines angeblich fehlerhaften Verfahrens und einer ungenügenden Prüfung durch die EFSA gerichtlich angefochten. Ein entsprechender Antrag wurde vom Europäischen Gericht im Mai 2018 abgewiesen. Während Syngenta das Urteil akzeptierte, zog Bayer weiter vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH), wo das Verbot im März 2021 in letzter Instanz endgültig bestätigt wurde71. Dessen ungeachtet kam es auch seit 2018 mehrfach zu sogenannten Notfallzulassungen einiger Anwendungsbereiche von Neonicotinoiden auf europäischer Ebene. Die in Tabelle 5.2 skizzierte Neonicotinoid-Debatte in Deutschland ist überdies in einen größeren internationalen Kontext eingebunden, auf den allerdings in dieser Arbeit nicht ausführlich eingegangen werden soll. Neben weiteren die deutsche Debatte flankierenden Debatten in anderen EU-Ländern findet vor allem auch in den USA eine intensive Auseinandersetzung um den Neonicotinoid-Einsatz statt. Dort dreht sich die Diskussion hauptsächlich um die Verantwortlichkeit von Neonicotinoiden für ein als colony collapse disorder (CCD) bezeichnetes Phänomen. Suryanarayanan & Kleinman (2013; 2016) haben die kontroverse Auseinandersetzung, die vor
https://www.efsa.europa.eu/de/press/news/180228. https://ec.europa.eu/food/plants/pesticides/approval-active-substances/renewal-approval/neon icotinoids_en. https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=240844&pageIndex=0&doc lang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=199835.
5.5 Die Neonicotinoid-Debatte in Deutschland – Eine chronologische Skizze
133
Tabelle 5.2: Wichtige Rahmenereignisse der Neonicotinoid-Debatte. Datum
Ereignis
April & Mai
Bienensterben in Südwestdeutschland durch Verwehung von Stäuben, die Clothianidin enthielten.
Januar
EFSA-Gutachten zu Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam weist auf mögliche Risiken für Bienen hin.
Mai
Die EU-Kommission erlässt Anwendungsbeschränkungen von Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam, ruft zur Einreichung von Daten auf und kündigt Neubewertung an.
August
Bayer CropScience und Syngenta reichen Klage gegen die Anwendungsbeschränkungen ein.
Oktober
Die Krefelder Studie, die einen massiven Verlust der Insekten-Biomasse in Deutschland nachweist, löst ein großes Medienecho aus.
Februar
Die EFSA veröffentlicht Neubewertungen zu Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam, die die identifizierten Risiken bestätigen.
April
EU-Kommission entscheidet sich für ein Freilandverbot für Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam.
Mai
Die Klage von Bayer und Syngenta gegen die verhängten Anwendungsbeschränkungen werden vom Gericht der Europäischen Union (EuG) zurückgewiesen.
Mai
Der Europäischen Gerichtshof (EuGH) bestätigt das Gerichtsurteil von .
allem von Berufsimkern, Regulierungsstellen und Agrarkonzernen geführt wird, aus wissenssoziologischer Sicht beschrieben und dabei insbesondere auf die Rolle konfligierender epistemischer Kulturen im Prozess der Wissenskonstitution hingewiesen. Ich möchte zum Abschluss dieser kurzen Skizzierung der NeonicotinoidDebatte nochmals darauf hinweisen, dass die vorliegende Arbeit keine Diskursanalyse darstellt und die erfolgte Darstellung der Debatte in dieser Hinsicht auf einem gewissermaßen oberflächlichen Niveau erfolgt ist. Sie dient in erster Linie dazu, den diskursiven Kontext und somit den Sinnhorizont und die diskursiven Bedingungen der von mir im empirischen Teil der Arbeit untersuchten rhetorischen Strategien für eine Leserin transparent und nachvollziehbar zu machen.
6 Studiendesign 6.1 Grundlagen des Studiendesigns Die vorliegende Arbeit zielt auf eine Analyse der rhetorischen Strategien der Wissenskonstitution in der Neonicotinoid-Debatte. Nachdem diese im letzten Kapitel skizziert und erörtert wurde, werde ich in diesem Kapitel das der empirischen Untersuchung zugrundeliegende Studiendesign erläutern. Ich werde dazu in vier Schritten vorgehen: – In einem ersten Schritt werde ich die Forschungsfrage nochmals explizieren und im Hinblick auf das methodische Vorgehen problematisieren, woraufhin einige methodologische Grundlagen zu klären sind. – Anschließend werde ich die Auswahl der Untersuchungsdaten erläutern. – Um das methodische Vorgehen zu illustrieren, werde ich im dritten Teilkapitel zunächst darlegen, wie man eine rhetorische TWT-Analyse nach dem in Kapitel 4 erläuterten Verständnis grundsätzlich durchführen kann. – Das finale Teilkapitel spezifiziert das zuvor dargelegte methodische BasisSchema für die vorliegende Untersuchung und gibt somit einen Überblick über das von mir verfolgte Vorgehen bei der empirischen Untersuchung.
6.1.1 Die Forschungsfrage Für die Entwicklung des Studiendesigns stellt die zugrundeliegende Forschungsfrage den wichtigsten Ausgangspunkt dar. In der vorliegenden Arbeit kann diese wie folgt formuliert werden: Wie konstituieren relevante Akteure der Gestaltungsöffentlichkeit der Neonicotinoid-Debatte mittels rhetorischer Strategien wissenschaftliches (Nicht-)Wissen?
Mit den Ausführungen im theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 2.4) habe ich dargelegt, dass und warum die lokale Wissenskonstitution durch Textkommunikation aus rhetorischer Perspektive als die Konstruktion mentaler Modelle in Form von Weltenarchitekturen verstanden werden kann. Innerhalb der Weltenarchitektur können die Plausibilitätsdimensionen dieser epistemischen Strukturen anhand der drei Wirkungsdimensionen Ethos, Logos und Pathos beschrieben werden. In den Kontext der Neonicotinoid-Debatte wurde in Kapitel 5 eingeführt. Dabei wurden bereits einige Akteure genannt. Einige dieser Akteure erweisen sich beim Einlesen in die Debatte als besonders relevante Oratoren in der Debatte. Die von ihnen realisierten Texte repräsentieren aus analytischer Sicht rhehttps://doi.org/10.1515/9783111077369-006
6.1 Grundlagen des Studiendesigns
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torische Strategien, d. h. absichtsvolle, öffentlichkeitsadressierte und perlokutionsorientierte Sprachhandlungskomplexe, mit denen die Oratoren Einfluss auf die (diskursive) Wissenskonstitution im Rahmen der Debatte nehmen möchten, um damit gewisse Handlungsziele zu erreichen. Die so formulierte und explizierte Forschungsfrage wirft für das konkrete Studiendesign einige Implikationen auf, die vorab zu besprechen sind: Relationalität der gesuchten Phänomene: Eine dem in Kapitel 4 entwickelten rhetorischen TWT-Modell folgende Analyse zielt auf den Zusammenhang von (komplexen) sprachlichen Mitteln und (komplexen) epistemischen Strukturen unter der Perspektive der rhetorischen Wirkung ab. Gesucht werden also nicht primär sprachliche Formen oder konzeptuelle Wissensstrukturen, sondern Relationen von relevanten sprachlichen Formen und relevanten konzeptuellen Wissensstrukturen unter der Annahme eines Mittel-Zweck-Verhältnisses. Dabei ist jedoch zu beachten, dass hier keine klaren 1:1-Zuordnungen erwartbar sind. Sprachliche Formen sind, gerade im Hinblick auf ihre rhetorische Wirkung, in hohem Maße polyfunktional. Für die Entwicklung einer linguistischen Systematik im Forschungsprozess bedeutet dies, dass diese in gewissem Sinne zwischen sprachlichen Ausgangspunkten (die auf rhetorische Wirkungen verweisen können) und rhetorischen Zielkategorien (die auf sprachlichen Ausgangspunkten gründen müssen) ‚oszillieren‘ muss. Verstehen verstehen: Die in dieser Arbeit beabsichtigte Analyse zielt somit auf eine Beschreibung von Verstehenspotentialen und beinhaltet insbesondere die Beschreibung mentaler Modelle. Diese jedoch sind linguistisch nicht unmittelbar beobachtbar. Müller (2020: 49) betont zurecht, dass mentale Modelle „empirisch adäquat nur als instabile, dynamische und in ständiger Transformation befindliche Größen konzipiert werden können“. Auch van Dijk (2006: 163) verweist darauf, dass mentale Modelle linguistisch nur indirekt erschließbar seien. Da die Analyse also keine Aussage über die tatsächlichen Modelle liefern kann, sondern nur Potentiale von variablen und dynamischen Verstehensleistungen ausgehend von empirischem Datenmaterial rekonstruiert, ist hier besondere Aufmerksamkeit gefordert. So sieht etwa Müller (2020: 50) eine Gefahr darin, dass in solchen Fällen „einzelne „Kontextualisierungsangebot[e]“ von Forscherinnen in Einzeltextanalysen überbewertet werden können, weswegen er quantitativ-korpusbasierte Analyseschritte den qualitativen vorschalten möchte. Im Gegensatz dazu betont Luppold (2015a: 26), dass rhetorische Strategien aufgrund ihrer internen Komplexität vorrangig mit qualitativen Verfahren zu beschreiben seien. Das Miteinbeziehen quantitativer Verfahren kann die Aussagekraft analytischer Befunde in vielen Fällen ohne Zweifel erweitern. Im vorliegenden Fall werde ich für ein hermeneutischreflektiertes Vorgehen plädieren, bei dem der Einsatz konkreter qualitativer und
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6 Studiendesign
quantitativer Verfahren sich nach dem Nutzen für konkrete Teil-Fragestellungen bemisst (siehe Abschnitt 6.1.2 & 6.4.1). Transtextualität: Rhetorische Strategien werden in diskursiven Zusammenhängen zumeist durch mehr als einen Text realisiert. Tatsächlich zeichnen sich gerade die hier interessierenden Akteure durch ihr kommunikatives Engagement aus, das sich in der Veröffentlichung mehrerer Debattenbeiträge über einen gewissen Zeitraum zeigt. Somit muss geklärt werden, was unter einer transtextuellen – also die Ebene von Einzeltexten überschreitenden – rhetorischen Strategie verstanden werden kann (siehe Abschnitt 6.1.3). Diskursivität: Rhetorische Strategien sind – wie in Kapitel 4.1 gesehen – in agonaldiskursive Handlungszusammenhänge eingebettet. Im vorliegenden Fall ist dies die in Kapitel 5 dargestellte Debatte um Neonicotinoide. Eine Analyse von transtextuellen rhetorischen Strategien weist somit einige Ähnlichkeiten zu diskurslinguistischen Arbeiten auf. Im Gegensatz zu diesen zielt sie jedoch nicht auf die darstellende Beschreibung des Diskurses, seine Formationsprinzipien und die zugrundeliegende episteme, sondern auf die Interpretation konkreter Handlungsweisen in Diskursen (vgl. dazu Wengeler 2009: 1631). Sie kann somit am ehesten in einen Zusammenhang mit diskurspragmatischen Arbeiten gestellt werden (vgl. Pappert & Roth 2016: 40–41; Roth 2015: 47–48; 63). Während der Aspekt der Relationalität der gesuchten Phänomene als Grundsatzannahme im Hintergrund der folgenden Ausführungen wirksam bleiben wird, werde ich die methodologischen Aspekte der Verstehens-Beschreibung, der Transtextualität und – eng damit verbunden – der Diskursivität im Folgenden näher ausführen, bevor mit der Beschreibung des konkreten Studiendesigns begonnen wird.
6.1.2 Verstehen be-schreiben: Linguistik als praktische Hermeneutik Bereits Karl Bühler stellt am Anfang seiner Sprachtheorie programmatisch fest: „Wie immer man die Sache auch drehen und wenden mag, so muß der sprachforschende Beobachter ganz anders wie der Physiker das mit Ohren und Augen Erfaßte (sei es von außen oder innen, wie man zu sagen pflegt) verstehen“ (Bühler 1999: 12; Hervorhebung im Original). Erst unter der Annahme, dass der Gebrauch der Sprache jemandem etwas zu verstehen gebe, komme die Sprachwissenschaft überhaupt zu ihren Erkenntnissen (vgl. ebd.). Gleichzeit ist das Verstehen eine MitVoraussetzung der sprachwissenschaftlich-philologischen Analyse (vgl. Feilke 2007: 25). Die Linguistik ist somit als Wissenschaft grundsätzlich auf das Verstehen ausgerichtet. Aus dieser Orientierung der Linguistik am Verstehen resultiert die gerade in jüngerer Zeit hervorgehobene Bedeutsamkeit der Hermeneutik für die linguistische
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Forschungstätigkeit (vgl. Bär 2016: 282). Hermanns (2012a) betont dementsprechend, dass insbesondere Text- und Diskurslinguistik hermeneutisch verfahren würden. „Anders geht es nämlich gar nicht.“ (Hermanns 2012a: 113) Trotz alldem sieht Holly (2015: 89) grundsätzlich ein gewisses Defizit an hermeneutischer Reflexion innerhalb der linguistischen Praxis. Nach einem Systematisierungsvorschlag von Hermanns (2012b: 71) verfährt die Linguistik dann als praktische Hermeneutik, wenn sie sich in ihren Analysen darum bemüht, Äußerungen bzw. Texte zu verstehen und zu interpretieren. In einem solchen Fall müssen Linguistinnen sich laut Hermanns (2012b: 96) als „VerstehenskünstlerInnen“ erweisen. Dieser Ausdruck impliziert zwei Dinge: – Das Verstehen der Daten muss technisch bzw. methodisch vonstattengehen, d. h. auf eine bestimmte systematische Art und Weise – nämlich als interpretierende Tätigkeit. – Die Analysierende selbst muss dabei spezifische Kompetenzen unter Beweis stellen (vgl. auch Bühler 1999: 15). Der zentrale Aspekt dieses methodischen Verstehens besteht in seiner Selbstreflexion. Die Analysierende muss nicht das Verstandene beschreiben, sondern das Verstehen selbst. Dazu muss die Analysierende sich in systematischer Weise fragen, unter welchen Bedingungen eine bestimmte Verstehens- bzw. Interpretationsleistung bei ihr selbst zustande kommt. Die wichtigsten dieser Verstehensbedingungen sind die Wissenshintergründe der Analysierenden. Für die linguistische Reflexion des Verstehensprozesses sind dabei zwei Arten von Wissenshintergründen der Analysierenden zentral: – Ein Wissen um die lebensweltliche Eingebundenheit eines Texts, also um die Handlungssituation, die Epoche u. Ä. (vgl. Busse 2015b: 80–81). Die Analysierende muss sich, um das mögliche Verstehen eines Texts zu beschreiben, dieses Verstehen selbst ‚erfahrbar‘ machen. Sie muss sich dazu auf gewisse Weise und in gewissem Maße in den Handlungskontext oder sogar den Textproduzenten hineinversetzen können (vgl. Bühler 1999: 15; Hermanns 2012b: 86–87). Hierzu muss sie sich diesen Handlungskontext erschließen, bspw. indem sie sich in einen Diskurs einliest. – Ein Wissen um relevante linguistische Theorien, Modelle und Methoden, die einen reflektierenden und distanzierenden Blick auf das Verstehen ermöglichen. „Die Linguistik hat zahlreiche Kategorien entwickelt, die einer linguistischen Hermeneutik Instrumente in die Hand geben, welche den wissenschaftlichen Interpreten von Texten, z. B. von politischen Reden, tieferes und genaueres Erkennen und Auf-den-Begriff-Bringen ermöglichen“ (J. Klein 2007: 203).
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Der methodische Aspekt des hermeneutischen Verfahrens liegt nun darin, das eigene Verstehens-Verstehen zugänglich und reflektierbar zu machen. Neben dem analytischen Betrachten des Verstehensprozesses tritt deshalb das interpretierende Beschreiben in den Vordergrund der hermeneutischen Tätigkeit. In methodischer Hinsicht muss das Schreiben der Analysierenden ihr nachvollzogenes und durch wissenschaftliche Methoden und Begriffe weitestgehend objektiviertes Verstehen offenlegen und nachvollziehbar machen (vgl. Hermanns 2012b: 88–90). Das Ziel der linguistischen Hermeneutik liegt somit in der schreibenden Tätigkeit der Analysierenden, in der ihre Verstehensreflexion zur kritisierbaren Interpretation bzw. Auslegung wird (vgl. Biere 2016). Diese Interpretation ist eine Konstruktion, die notwendigerweise offen bleiben muss (vgl. Gardt 2018: 61). Der kritische Maßstab einer Textinterpretation ist somit ihre Plausibilität (vgl. Hermanns 2012a: 97). In der vorliegenden Arbeit wähle ich die pragmatische Forschungsperspektive auf Sprachgebrauch, die sich der Interpretation einzelner Sprachgebrauchsereignisse widmet, ohne dabei auf die Identifizierung sich darin zeigender, grammatischer Regularitäten abzuzielen (vgl. Roth 2015: 63). Ich verstehe sie aus diesem Grund als ein Verfahren der praktischen Hermeneutik nach den hier dargelegten Charakteristika. Den Wert solcher Arbeiten stellt Hermanns (2012b) heraus: Sie sind für die Linguistik wichtig, denn in ihnen kann sie unter Beweis stellen, dass ihre Begriffe und Gedanken dazu taugen, die soziale und sprachliche Welt, in der wir leben, besser verstehbar zu machen. ‚Anschauung ohne Begriff ist blind‘ – das können solche Interpretationen zur Erfahrung werden lassen, indem sie Aha-Erlebnisse vermitteln, wie sie ohne die in ihnen gebrauchten Begriffe nicht eintreten wurden. Umgekehrt verschaffen solche Interpretationen den Begriffen die Anschauung, ohne die sie ‚leer‘ sind. (Hermanns 2012b: 97)
6.1.3 Transtextuelle rhetorische Strategien Bislang wurde mit der rhetorischen Textstrategie der auf einen strategisch handelnden Orator rückführbare Einsatz sprachlicher Mittel zum Herbeiführen einer rhetorischen Wirkung in der Textkommunikation betrachtet. Um daraus eine Analyse über die Ebene des Einzeltextes heraus zu ermöglichen, muss – ausgehend vom Begriff der Strategie – ein Verständnis von transtextuellen rhetorischen Strategien (TRS) entwickelt werden. Unter Strategie kann zunächst ein „Plan zur optimalen Verwirklichung einer Absicht bzw. eines Ziels“ verstanden werden (Brinker 2000: 183; vgl. auch Spieß 2011: 152). Es handelt sich somit eigentlich um ein mentales Konstrukt, auf das linguistisch nicht unmittelbar zugegriffen werden kann. Luppold (2015b: 31) fasst eine Strategie etwa als „Handlungsplan“, hinter dem eine „rhetorische Supermaxime“ steht. Allerdings manifestieren sich Strategien, wie in Kapitel 4 erörtert, in Texten:
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Aus linguistischer – analytischer – Sicht besteht eine rhetorische Textstrategie somit aus dem Einsatz sprachlicher Mittel, um eine bestimmte Verstehensleistung bzw. lokale Wissenskonstitutionen zu bewirken. Heinemann & Heinemann (2002: 22) sehen strategisches Handeln neben spontanem wechselseitigen Agieren und geplantem Handeln als einen von „drei Grundtypen von kognitiven Ablaufschemata in der verbalen Interaktion“ und beziehen es auf die „Erreichung langfristiger und/oder grundlegender Ziele“, das gerade auch im „sukzessive Produzieren und Verarbeiten von miteinander korrespondierenden komplexen Texten/Diskursen“ besteht. Strategien manifestieren sich demnach u. U. in mehr als einem Text. In diskursiven Handlungskontexten können sie bspw. in Kampagnen zum Ausdruck kommen (vgl. Bartels 2015). Ich werde im Folgenden den Begriff der transtextuellen rhetorischen Strategie (TRS) verwenden und für die vorliegende Arbeit als zentral herausstellen. Darunter verstehe ich – einen auf das Erreichen langfristiger Ziele ausgerichteten kognitiven Plan eines Orators – bezüglich des Einsatzes sprachlicher Mittel – zum zweckmäßigen Herbeiführen intendierter Verstehensleistungen bei Rezipientinnen entlang der Wirkungsdimensionen Ethos, Logos und Pathos, – der sich in mehreren Texten manifestiert, – die in einem gemeinsamen (v. a. diskursiven) Handlungskontext verortet werden können. Es wäre wohl verfehlt anzunehmen, es handle sich hierbei um eine Art Masterplan, der von Beginn an feststeht und über die gesamte Dauer einer Debatte konstant bleibt. Strategien sind vermutlich dynamische Konstrukte, die sich im Verlauf einer Debatte ändern können – und dies vielleicht sogar müssen. Aus analytischer Sicht kann der Begriff TRS verkürzend als Bezeichnung für den Einsatz von sprachlichen Mitteln verwendet werden, die als Manifestation eines solchen – unterstellten – Plans angesehen werden, der durch diese Unterstellung linguistisch beobachtbar wird. Die Frage, die sich stellt, nachdem eine TRS in dieser Form definiert wurde, ist, was man zu ihrer Beschreibung in den Blick nimmt. Grundsätzlich lässt sich eine TRS analog zur Textstrategie beschreiben. Die Analyse richtet sich demnach auf die Erzeugung von Ethos, Logos und Pathos durch den Sprachgebrauch. Somit sind die Zielkategorien Ethos, Logos und Pathos gleichzeitig die Ausgangspunkte der analytischen Bestimmung relevanter (trans-)textueller Phänomene. Allerdings wird der analytische Blick im Falle der TRS im Vergleich zu Textstrategien in mehrfacher Hinsicht erweitert: Da sich die TRS (analytisch) aus mehreren Texten zusammensetzt, gilt es diese in eine Beziehung zueinander zu setzen. Von Relevanz für die Beschreibung der TRS
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sind dabei zum einen Muster, also wiederkehrende Vorkommnisse von identifizierten relevanten sprachlichen Phänomenen in mehreren Texten (vgl. zum MusterBegriff Bücker 2015: 450–452). Diese Art von Muster entspricht jedoch nicht einem Muster der sprachlichen Form. Entsprechend der rhetorischen Kategorienbildung muss es sich vielmehr um ein Muster der Verbindung von Form und rhetorischer Wirkungsfunktion, d. h. um ein relationales Muster, handeln. Neben dem musterhaft Wiederkehrenden bleibt auch das einzeln Vorkommende ein relevanter Bestandteil der TRS-Beschreibung. So kann sich eine Strategie nicht nur im Musterhaften (grundsätzlich/regelmäßig/nie X tun) ausdrücken, sondern bspw. auch im Sequenziellen (erst X tun, dann Y tun, dann Z tun) wie auch im Vereinzelten, was in der Dynamik der TRS begründet liegt, für die der richtige Zeitpunkt innerhalb eines Handlungszusammenhanges (gr. kairos) von hoher Relevanz ist. Die Bezugsgröße für das, was als musterhaft, sequenziell oder vereinzelt gilt, ist dabei der Text. Die Einzeltexte markieren singuläre Ereignisse des übergeordneten Handlungskontextes und bleiben demnach die Grundgrößen der TRS.
Abbildung 6.1: Transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) eines Orators.
Abbildung 6.1 illustriert in schematischer Weise, was eine Analyse von transtextuellen rhetorischen Strategien beschreibt. Die Abbildung ist in zwei Ebenen unterteilt: die Ebene der sprachlichen Form (unten) und die Ebene der lokalen Wissenskonstitution (oben). Auf der Ebene der sprachlichen Form repräsentieren die Dreiecke72 komplexe (sprachliche) Zeichen, also Texte, die auf der Ebene des konstituierten Wissens (oben) jeweils zum Aufbau von Weltenarchitekturen führen – aus Gründen der Übersicht wurden hier nur jeweils Äußerungswelt (ÄW) und Textwelt (TW) abgebildet. Die Anordnung der Dreiecke in der Horizontalen repräsentiert die
Die Ausrichtung der Dreiecke (Kante nach oben) erfolgt in Anlehnung an das Organon-Modell bei Bühler (1999).
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zeitliche Dynamik des Handlungskontextes.73 Die farbigen Punkte innerhalb der Dreiecke stellen bestimmte sprachliche Formen dar, die auf der Ebene des geteilten Wissens zum Aufbau von epistemischen Strukturen führen, welche als Aspekte der Plausibilitätsdimensionen interpretiert werden können.74 Diese sind in der oberen Ebene mit gleichfarbigen Punkten innerhalb des Textwelttheorie-Diagramms dargestellt. Die Relation von sprachlicher Form bzw. Text und indiziertem Aspekt des Weltenaufbaus ist durch eine Verbindungslinie dargestellt. Die unterschiedlichen Farben dieser relationalen Gebilde signalisieren, dass es sich um analytisch unterscheidbare relationale Phänomene handelt, bspw. in Bezug auf die jeweilige Wirkungsdimension. Abbildung 6.1 soll das analytische Ziel der TRS-Analyse illustrieren. Diese zielt auf eine Beschreibung des Aufbaus der Plausibilitätsstrukturen im geteilten Wissen durch mehrere Texte. Um dies zu tun, müssen relevante Form-Wirkungs-Phänomene identifiziert und deren Verteilung sowie Zusammenspiel im Korpus untersucht und beschrieben werden. Dabei ist zu beachten, dass die Phänomene der sprachlichen Form unter unterschiedlichen Beschreibungs- und Abstraktionsgraden in den Blick genommen werden können – so kann bspw. ein Wort als ein Repräsentant eines bestimmten Lexems, einer syntaktischen Wortform, einer morphologischen Wortart, einer syntaktischen Position o. ä. analytisch kategorisiert und beschrieben werden. Innerhalb eines Handlungskontextes ist in der Regel davon auszugehen, dass mehrere Oratoren TRS realisieren. Für eine Beschreibung der relevanten Phänomene einer TRS wird es deshalb nützlich sein, die TRS mehrerer Oratoren im Vergleich zu betrachten. Die Gegenüberstellung mehrerer TRS innerhalb eines Handlungskontextes kann dabei helfen, relevante Muster, Sequenzen und Einzelvorkommnisse in TRS zu identifizieren. Zudem ist in vielen Fällen davon auszugehen, dass die TRS der einzelnen Oratoren im Handlungskontext aufeinander bezogen sind (bspw. konkurrierend, kollaborativ oder auch nur intertextuell verweisend).
6.1.4 Fazit: Das methodische Vorgehen der Arbeit Die angestellten methodologischen Vorüberlegungen erlauben es nun, das methodische Vorgehen der Arbeit zu präzisieren. Die Analyse der TRS stellt eine hermeneu-
Je nach Fragestellung kann die Anordnung auch nach anderen Kategorien erfolgen. Die Darstellung durch Punkte greift allerdings gewissermaßen zu kurz, da es weder auf der sprachlichen noch auf der konzeptuell-epistemischen Ebene wirklich isolierte Phänomene gibt. Tatsächlich repräsentieren auch die Punkte Strukturen, die selbst in Strukturen integriert sind. Ebenfalls nicht in der Abbildung dargestellt ist der Umstand, dass sprachliche Formen auch den Aufbau zusätzlicher Welten und Relationen zwischen Welten und deren konzeptuellen Strukturen indizieren können. Diese Vereinfachungen sind der Lesbarkeit der Grafik geschuldet.
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tische Analyse transtextueller Phänomene in diskursiven Handlungszusammenhängen dar, welche für ihre Interpretation eine wesentliche Rolle spielen. Wenngleich sie keine diskursanalytische Arbeit im eigentlichen Sinne ist, kann sie sich an diskursanalytischen Analyseverfahren orientieren. Das methodische Vorgehen des hermeneutischen Text- und Diskursverstehens ist laut Hermanns (2012a: 110) keine den Naturwissenschaften vergleichbare Methode im Sinne einer fest vorgeschriebenen Ordnung von Arbeitsschritten, sondern kann schlicht als transparent gemachte Art und Weise des Vorgehens bezeichnet werden. Für das diskurshermeneutische Vorgehen definiert er die Methode dabei wie folgt (vgl. Hermanns 2012a: 111–112): – Zunächst muss ein Thema definiert und formuliert werden, zu dem dann in der Fachliteratur recherchiert wird. Im vorliegenden Fall ist dieses Thema die Wissenskonstitution in öffentlichen Debatten. Der entsprechende methodische Schritt der theoretischen Fundierung ist in den Kapiteln 2–5 dieser Arbeit geleistet. – Ausgehend von diesem Thema muss man sich für einen Untersuchungsgegenstand entscheiden. Im Fall der Diskurshermeneutik ist dieser Untersuchungsgegenstand ein Diskurs, im Fall der vorliegenden Arbeit handelt sich um die TRS innerhalb eines diskursiven Zusammenhanges, nämlich der Auseinandersetzung um die Wirksamkeit bzw. Schädlichkeit von Neonicotinoiden (siehe Kapitel 5). – Als nächstes ist ein Korpus zu erstellen, das den Untersuchungsgegenstand möglichst angemessen repräsentiert. Dieser Schritt der Arbeit wird im nachfolgenden Abschnitt 6.2 getan. – Um das Korpus zu analysieren, müssen anschließend Suchfragen formuliert werden, die das analytische Lesen der Korpustexte leiten. „Diese Fragen wiederholt man sich bei aller nachfolgenden Arbeit immer wieder. Das bewirkt ein Suchverhalten (ein ‚Explorationsverhalten‘), das der Arbeit Sinn und Ziel gibt“ (Hermanns 2012a: 111). Die leitende Suchfrage der vorliegenden Arbeit besteht darin, wie anhand konkreter sprachlicher Formen bestimmte Verstehenspotentiale erzeugt werden. Daraus ergeben sich Suchfragen wie die folgenden: Wie wird durch den Wortlaut und die Gestalt der Texte wissenschaftliches Wissen in einer bestimmten Plausibilitätsstruktur des lokal konstituierten Wissens verortet? Wie lässt sich dieser Prozess anhand relationaler Phänomene beschreiben? (siehe oben 6.1.1). – Als eine zentrale analytische Tätigkeit des hermeneutischen Prozesses steht das Lesen im Vordergrund: „Man liest. Und liest. Und liest. Mit verschiedenen Lesemethoden.“ (Hermanns 2012a: 111). Gerade in neuerer Zeit sind die Möglichkeiten solcher Lesemethoden durch digitale Tools deutlich erweitert worden, weshalb ein Einbezug solcher Verfahren auch in der vorliegenden Arbeit in Betracht gezogen wurde (siehe Abschnitt 6.4.1). Das Lesen wird dabei von
6.2 Das Untersuchungskorpus
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den Suchfragen geleitet, die sich im Verlauf dieses Prozesses immer weiter verändern können. Während des Lesens bemüht man sich um ein Gesamtverstehen von Texten, um ein Detailverstehen bestimmter Segmente sowie um ein Gesamtverstehen der transtextuellen Strukturen. Das Leseprozedere relativ zu den Suchfragen wird in der vorliegenden Arbeit unter Rückgriff auf das sich für einen solchen hermeneutischen Prozess besonders eignende Textweltmodell in den Kapiteln 6.3 und 6.4 transparent gemacht. Ausgehend von solchem analytischen Lesen werden Notizen erstellt, was als die ‚Methode des schreibenden Lesens‘ bezeichnet werden kann. Solche Notizen können in verschiedenen Formen vorliegen und auch durch digitale Tools wie Annotationssoftwares organisiert werden (siehe Abschnitt 6.4.1). Abschließend werden die im Lesen angestellten Beobachtungen ausgehend von Notizen zu Interpretationen geformt: „Man schreibt. Und schreibt. Und schreibt. In verschiedenen Schreibgängen.“ (Hermanns 2012a: 112). Dabei schreibt man sich Notizen machend, konzipierend, ausformulierend, korrigierend, redigierend, paraphrasierend usw. (vgl. ebd.). Im Falle von TWT-Analysen tritt zum Schreiben noch das Erstellen von Diagrammen hinzu. Das Ergebnis dieses Prozesses bieten die Kapitel 7–10.
Diese Schritte müssen während der Analyse mehrmals durchgeführt werden, da sich die Fragen im Fortlauf der Analyse verändern, sich das Korpus ändern kann usw., woraus sich ein hermeneutischer Zirkel ergibt. Das von Hermanns (2012a) beschriebene Vorgehen liegt in dieser Form der vorliegenden Arbeit in fundamentaler Weise zugrunde.
6.2 Das Untersuchungskorpus Die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus stellt einen wichtigen Bestandteil jeder empirischen linguistischen Untersuchung dar, da mit ihr die Basis jeglicher Evidenz geschaffen wird. Ob das Korpus die nötigen empirischen Evidenzen liefern kann, hängt wesentlich davon ab, inwieweit es für die Untersuchung der Forschungsfragen als angemessen erachtet wird. In einem ‚realistischeren‘ Verständnis allerdings passt sich in der Forschungspraxis nicht nur das Korpus der Fragestellung, sondern auch die Fragestellung dem Korpus an. Dass die Fragestellung und die Korpuserstellung eng miteinander verbunden sind, wirkt sich auch auf das Selbstverständnis der Arbeit aus. So bemerken Janich & Simmerling (2013: 66), dass die Korpuserstellung im Falle von Diskursanalysen durch die interessensgeleitete Selektion der Texte bereits eine erste Abweichung vom Ideal einer ‚reinen Deskription‘ darstelle.
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6 Studiendesign
Ein wichtiger Gesichtspunkt der Korpuserstellung betrifft den textlichen Umfang: „Es bleibt in jedem Fall eine wichtige Frage, wie man das Korpus konstituiert: kleiner, aufgrund von Interpretation, oder größer, vermutlich nach Gesichtspunkten der Verfügbarkeit.“ (Holly 2015: 99) Der Umfang der Textmenge richtet sich also sowohl nach Forschungsfrage inklusive der angestrebten Methodik als auch nach der Verfügbarkeit. Grundsätzlich muss eine Analyse von TRS pro Orator mehr als nur einen Text enthalten, wodurch die minimale Korpusgröße auf zwei Texte festgelegt ist. Die obere Grenze wird durch die Handhabbarkeit sowie die Verfügbarkeit der Texte festgelegt. Das analytische Verfahren der vorliegenden Untersuchung besteht in einem stark interpretationsbetonten qualitativ-hermeneutischen Verfahren, für das quantifizierende Methoden nur in einem eingeschränkten Umfang sinnvoll eingesetzt werden können (siehe Abschnitt 6.4.1). Deshalb wurde bei der Korpuserstellung eine für detaillierte qualitative Analysen handhabbare Korpusgröße angestrebt, die jedoch nach wie vor repräsentativ für die Analyse von TRS der Oratoren in der Neonicotinoid-Debatte sein sollte.
6.2.1 Grundzüge der Debatte und Debattenbeiträge Das vielleicht wichtigste Kriterium der Korpuserstellung bezieht sich darauf, dass die ausgesuchten Texte überhaupt als Debattenbeiträge gewertet werden können. Hierfür kann sich (erneut) an der diskurslinguistischen Methodik orientiert werden. In der Diskurslinguistik werden Texte in der Regel dann als Diskursfragmente (Jäger 2005: 61) bzw. Diskursrealisationen (Roth 2015) gewertet, wenn sich in ihnen Hinweise auf den thematischen Kern finden, anhand dessen der Diskurs selbst bestimmt wurde (vgl. Busse & Teubert 1994: 14). In ähnlicher Weise können Texte dann als Debattenbeiträge gewertet werden, wenn sich in ihnen Hinweise auf das Debattenthema finden. Somit muss für die Korpuserstellung eine linguistisch fundierte Festlegung auf das Debattenthema erfolgen. Das Debattenthema ist sowohl eine Vorauswahl, die am Beginn der Forschungsarbeit steht, sie vollzieht sich aber auch während der Beschäftigung und dem analytischen Einlesen in die Debatte (vgl. die Bemerkungen von Hermanns 2012a zum methodischen Vorgehen). Für die vorliegende Analyse kann das Debattenthema in erster Annäherung als Wirkung von Neonicotinoiden auf Bienen paraphrasiert werden. In einer stärker linguistischen Operationalisierung lässt es sich als propositionale Frame-Struktur75 repräsentieren (Abbildung 6.2).
Zum Zusammenhang von Frame und Proposition siehe Kapitel 3.2.2.
6.2 Das Untersuchungskorpus
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Abbildung 6.2: Die zentrale Proposition der Debatte.
Diese Frame-Struktur kann als zentrale Proposition der Debatte betrachtet werden. Die zentrale Proposition definiert die Debatte aus analytischer Sicht thematisch und eröffnet damit die Klasse derjenigen Texte, die als Debattenbeiträge in Betracht gezogen werden können. Korpustexte können also ermittelt werden, indem nach Texten gesucht wird, deren lexikalische Beschaffenheit auf eine Realisierung der zentralen Proposition im Text hinweist (s. 6.2.3). Ausgehend vom Einlesen in die Debatte kann eine weitere wichtige Beschränkung des Korpus vorgenommen werden, die sich auf die zeitliche Ausdehnung bezieht, welche das Korpus repräsentieren soll. Dies ist zum einen notwendig, da die konkrete Eingrenzung des Korpus auf einen bestimmten Zeitraum die Interpretation der Befunde und deren transtextuellen Zusammenhang wesentlich besser greifbar macht. Zum anderen verhindert dies, dass das Korpus mit der Fortdauer der Analyse ungehindert weiterwächst und so ein Ende der Korpuserstellung u. U. nie erreichbar ist. Für die Eingrenzung des untersuchten Debattenzeitraums (bzw. Diskursausschnittes) bieten sich insbesondere diskursive Ereignisse an, die klar datiert werden können. Für die Neonicotinoid-Debatte bieten sich hier die beiden Zeiträume an, die sich jeweils durch die Veröffentlichungen eines EFSA-Gutachtens und eine anschließende legislative Entscheidung auf europäischer Ebene auszeichnen, also das Frühjahr 2013 und das Frühjahr 2018. Die durch diese beiden Ereignisse festgelegte Zeitspanne scheint für die Forschungsfrage von besonderem Interesse, da sie den Zeitraum darstellt, in dem, dem Aufruf der EFSA folgend, ein besonderes Interesse am epistemischen Status der zentralen Proposition innerhalb der Gestaltungsöffentlichkeit ausgemacht werden kann. So legt bspw. eine Suchanfrage nach dem Thema Neonicotinoide bei Google Trends76 nahe, dass sich das größte Interesse am Thema in Deutschland (gemessen nach Suchanfragen auf Google) im April 2013 und im April 2018 feststellen lässt (siehe Kreise in Abbildung 6.3). Neben der thematischen und der zeitlichen Eingrenzung der Korpustexte ist die Sprachwahl ein weiteres grundsätzliches Kriterium für die vorliegende Arbeit. Die Analyse beschränkte sich auf Texte, die in deutscher Sprache verfasst sind. Dieses Kriterium resultiert auch daraus, dass der Aspekt der Mehrsprachig-
https://trends.google.de/trends/explore?date=2004-01-01%202021-06-20&geo=DE&q=%2Fm% 2F02qhgtq. (Zuletzt aufgerufen: 20.6.2021).
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Abbildung 6.3: Interesse am Thema Neonicotinoide laut Google-Trends.
keit eine zusätzliche relevante Dimension in die theoretische und methodologische Arbeit einbringen würde, die für diese Arbeit nicht im Vordergrund steht. Ergänzend zur Festlegung auf eine historische Einzelsprache wird eine geografische Spezifizierung der Debatte und der Debattentexte vorgenommen. So wurden nur Texte von deutschen Akteuren berücksichtigt, da bspw. Schweizer Akteure nicht in vergleichbarer Weise in die Debatte auf politischer Ebene involviert sind. Eine Ausnahme stellt hier der Schweizer Neonicotinoid-Hersteller Syngenta dar, der von einer Entscheidung auf EU-Ebene unmittelbar betroffen ist.
6.2.2 Schlüsselakteure als strategische Oratoren der Debatte Da TRS fest an Oratoren gebunden sind, stellt die Auswahl der relevanten Debattenakteure einen wichtigen Aspekt der Korpuserstellung dar. Texte wurden nur dann ins Korpus übernommen, wenn sie als Debattenbeiträge von relevanten Akteuren der Debatte verstanden werden konnten. Für eine Auswahl der Schlüsselakteure der Gestaltungsöffentlichkeit müssen unter den in Kapitel 5.4 genannten Akteuren diejenigen identifiziert werden, die sich in besonders engagierter Weise an der Wissenskonstitution innerhalb der Gestaltungsöffentlichkeit beteiligen. Eine Möglichkeit, dieses Engagement zu überprüfen, besteht darin, auf den Internetrepräsentationen der Akteure nach relevanten Debattenbeiträgen zu suchen, bspw. indem Schlagworte Neonicotinoide/Neonikotinoide und Bienen in den jeweiligen Suchmasken der Websites eingegeben werden. Auch eine Google-Suche nach diesen Schlagworten kann hierbei helfen. Dabei stellen sich die folgenden Akteure als besonders engagiert heraus: – Der Neonicotinoid-Hersteller Bayer, von 2012–2018 zusätzlich vertreten durch das von Bayer ins Leben gerufene Bee Care Center – Der Industrieverband Agrar (IVA) – Die Umweltschutzorganisation Greenpeace – Die Umweltschutzorganisation BUND Friends of the Earth Germany (BUND)
6.2 Das Untersuchungskorpus
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Das Pestizidaktionsnetzwerk (PAN) Die Umweltschutzorganisation NABU Die massenmedialen Akteure, insbesondere die Tageszeitungen
Erstaunlicherweise lässt sich bei dem Neonicotinoid-Hersteller Syngenta kein großes kommunikatives Engagement in der Gestaltungsöffentlichkeit ausmachen. Die massenmedialen Akteure stehen in der vorliegenden Analyse nicht im Fokus. Zwar ist der Einfluss massenmedialer Texte auf die diskursive Wissenskonstitution linguistisch umfassend erforscht und beschrieben worden (bspw. Bubenhofer 2009; Felder 2012; Fraas & Meier 2004; Spieß 2011; Tereick 2016). In der vorliegenden Arbeit sollen aber diejenigen Akteure in den Blick genommen werden, deren Texte – und vor allem die damit einhergehende Wissenskonstitution – vorrangig als Strategien zum Erreichen von gegenstandsbezogenen Handlungsabsichten begriffen werden können. Die verbleibenden engagierten Akteure können anhand der von ihnen vertretenen Positionen (vgl. hierzu Kapitel 5.4) in zwei Akteursgruppen unterteilt werden. – AGRAR: Zu dieser Akteursgruppe zählen die Vertreter der Agrarindustrie Bayer und IVA. AGRAR vertritt in der Debatte die Position, dass der Neonicotinoid-Einsatz kein unvertretbares Risiko für Bienen darstellt und dementsprechend kein Verbot auf europäischer Ebene erlassen werden sollte. – ÖKO: Zu dieser Akteursgruppe zählen die Vertreter der Umweltschutzorganisationen Greenpeace, BUND und NABU. ÖKO vertritt in der Debatte die Position, dass Neonicotinoide Bienen Schaden zufügen und eine wichtige Ursache für ein beobachtbares Bienensterben darstellen. Aus diesem Grund sollten sie auf europäischer Ebene umgehend verboten werden. Beide Akteursgruppen zeichnen sich durch jeweils gemeinsame Positionen aus, die auf gemeinsame Motivationen zurückgeführt werden können. Hinter der Position von AGRAR stehen ohne Zweifel vor allem auch bedeutende ökonomische Interessen an der Verfügbarkeit der Neonicotinoide auf dem europäischen Markt. Es lässt sich plausibel annehmen, dass die Debattenbeiträge der AGRAR-Akteure durch diese Motivation auf die Erreichung eines gemeinsamen Ziels ausgerichtet sind. Ähnliches gilt für ÖKO. Die Motivation hinter dem kommunikativen Engagement der ÖKO-Akteure speist sich aus einem gemeinsamen ideologischen Fundament, das sowohl den Artenschutz als ideologisches Ziel als auch die industrielle Landwirtschaft als ideologischen Feind vereint. Auch das kommunikative Engagement der ÖKO-Akteure kann somit als ausgerichtet auf die Erreichung eines gemeinsamen Ziels betrachtet werden. Dies rechtfertigt es, vorläufig die jeweiligen Akteursgruppen ÖKO und AGRAR als strategische Debatten-Oratoren der Neonicotinoid-Debatte zu betrachten, deren Debattenbeiträge in Form von Texten als Ausdruck zweier TRS betrachtet werden
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6 Studiendesign
können. Diese Vorannahme wird durch die empirischen Befunde der Arbeit zu stützen sein. Der Begriff strategischer Debatten-Orator ist an den Begriff „Strategischer Textorator“ angelehnt, den Luppold (2015a: 179) für den Orator als „Konstrukt des rhetorischen Textanalysten“ von der realen und dem virtuellen Autorin unterscheidet. Für die Korpusgenerierung wurden deshalb diejenigen Texte ausgewählt, die sich auf die beiden strategischen Oratoren AGRAR und ÖKO zurückführen ließen.
6.2.3 Auswahl der Korpustexte Unter den Debattenbeiträgen der strategischen Oratoren AGRAR und ÖKO müssen in einem nächsten Schritt diejenigen identifiziert werden, die sich in relevanter Weise an der Konstitution von wissenschaftlichem Wissen beteiligen. Hierzu muss zunächst ein Überblick über die (schriftlichen) Texte gewonnen werden, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen bzw. diese konstituieren. Ich gehe davon aus, dass die Oratoren in besonderer Form das Internet und hier insbesondere ihre eigenen Auftritte zur Realisierung von Debattenbeiträgen nutzen. Das heißt nicht, dass es nicht noch andere Möglichkeiten gibt, die sogar teilweise nicht öffentlich sind. Die Internetauftritte werden jedoch zum einen wegen ihrer Adressierung als Ausgangspunkte der Recherche gewählt. Zum anderen liegen die dortigen Inhalte wirklich in der Gestaltungsmacht der Oratoren. Ausgehend davon lassen sich die folgenden Textarten identifizieren: – auf den jeweiligen HPs veröffentlichte Pressemeldungen verschiedener Akteure, die v. a. darauf abzielen, die jeweiligen Standpunkte in den massenmedialen Diskurs einzubringen, – Social Media-Postings der Akteure, – Homepage-Themenseiten der Akteure zum Debattenthema, – Homepage-Artikelseiten der Akteure zum Debattenthema, – downloadbare Materialien der Akteure zum Debattenthema: Broschüren, Infosheets und Flyer (Die Download-Materialien sind auf den Homepages jeweils über die Rubrik „Publikationen“ abrufbar und teilweise auf Startseiten verlinkt.). Als besonders relevante Debattenbeiträge können die downloadbaren Materialien Broschüren und Infosheets/Positionspapiere angesehen werden. Die Gründe dafür sind: – Die Adressierung: Es kann davon ausgegangen werden, dass die Broschüren eine interessierte Rezipientin adressieren. Sie repräsentieren aufgrund ihrer Distributionsform, die einiges an Mehraufwand von einer Rezipientin erfordert, eine bestimmte Art von Kontaktsituation von Akteur und Rezipientin, die für die Wissenskonstitution besonders relevant ist. So kann man davon ausgehen, dass die Texte darauf abzielen, von einer Rezipientin anhand einer interessegeprägten Lesestrategie erschlossen zu werden (vgl. Heinemann & Heinemann 2002: 171).
6.2 Das Untersuchungskorpus
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Die Komplexität: Es ist davon auszugehen, dass die jeweiligen Texte aufwendig geplant und strategisch eingesetzt sind. Das rhetorische Handlungsziel der Oratoren ist ihnen in diesem Sinne auf besondere Weise eingeschrieben. Die Repräsentativität für die Oratoren: Die empirischen Textproduzenten verfassen die Texte hier in besonderer Weise als repräsentative strategische Oratoren der Debattenakteure. Der funktionelle Wissensbezug: V. a. Infosheets und Broschüren lassen textsortenbedingt als dominante Textfunktion INFORMATION vermuten, was für die Konstitution wissenschaftlichen Wissens als besonders relevant erscheint. Insbesondere lässt sich vermuten, dass sie Hintergrundwissen liefern sollen, was erneut einen besonderen Bezug zur Gestaltungsöffentlichkeit herstellt. Die Fixiertheit: Broschüren werden in einer bestimmten Form veröffentlicht und sind danach nicht in gleicher Weise abzuändern wie bspw. Homepage-Seiten. Auch dies spricht für einen besonderen Planungsaufwand und somit eine hohe Repräsentativität für die TRS.
Aus diesen Gründen habe ich mich für die Korpuserstellung in besonderem Maße auf die downloadbaren Texte der strategischen Oratoren fokussiert. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass die anhand dieser Texte identifizierten TRS nur einen Bestandteil der globalen Kommunikationsstrategie in der Debatte ausmachen. Das Ziel hinter der Korpuserstellung ist es allerdings, den für die Konstitution des wissenschaftlichen Wissens besonders relevanten Teil dieser Gesamtstrategie in repräsentativer Form zu erfassen, wofür die Download-Materialien den geeignetsten Untersuchungsgegenstand darstellen. Bei der Erstellung des Korpus anhand der somit explizierten Kategorien zeigt sich ein gewisses Problem: Die Anzahl der downloadbaren Broschüren, Flyer und Infosheets, die die zentrale Proposition in dieser Form als Textthema aufweisen, ist sehr begrenzt. Es sind dies lediglich die in Tabelle 6.1 dargestellten Texte: Tabelle 6.1: Downloadbare Materialien der Schlüsselakteure, mit der zentralen Proposition der Debatte als Textthema. Akteur
Text
Greenpeace Bayer PAN BUND
Dripping Poison Trendwende in Sicht? Pestizidbrief Nr. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gefährdung von Bienen durch das Neonikotinoid Thiacloprid Feld und Garten – Gefahr für Bienen Partner für Bienensicherheit Bienensicherheit der neonikotinoiden Insektizide
BUND Bayer Bayer
150
6 Studiendesign
Tabelle 6.1 (fortgesetzt) Akteur
Text
BUND BUND
Anhaltendes Bienensterben durch Pestizide Nervengift mit fataler Wirkung: Bienenkiller Neonikotinoide
Daneben finden sich jedoch eine Reihe von Texten, deren Textthemen in einem engen Zusammenhang mit der zentralen Proposition stehen. Diese Themen sind: – Bienen und Landwirtschaft – Pflanzenschutzmittel (allgemein) und Bestäuber (allgemein) – Pflanzenschutzmittel (allgemein) und Bienen – Pflanzenschutzmittel (allgemein) und Umwelt (allgemein) – Neonicotinoide und Umwelt Die entsprechenden Broschüren und Infosheets wurden immer dann als Debattenbeiträge und somit Bestandteile von TRS gewertet, wenn in ihnen die Begriffe Bienen✶ und Neonic/kotinoide✶ vorkommen. Daraus ergibt sich das folgende Textthemen-Matrix für das Korpus:
Abbildung 6.4: Die Textthemen-Matrix des Untersuchungskorpus.
Abbildung 6.4 soll verdeutlichen, dass die gewählten relevanten Textthemen in einer engen semantischen Beziehung zur zentralen Proposition stehen. Diese ist in der Abbildung durch die fettgedruckten Begriffe gekennzeichnet, die als Füllwerte SlotPositionen in einer durch den VERURSACHEN-Frame strukturierten Proposition einnehmen. Die darüber und darunter stehenden Begriffe repräsentieren jeweilige Oberbzw. Unterbegriffe, die ebenfalls die entsprechende Slot-Position in der Proposition einnehmen können. Andere Textthemen wie etwa „Pestizide und Gesundheitsrisken (für Menschen)“ entsprechen nicht diesem engen Bezug – Texte mit entsprechendem Thema werden aus diesem Grund nicht für das Korpus verwendet, selbst wenn dort die oben genannten Schlüsselbegriffe vorhanden sind.
151
6.2 Das Untersuchungskorpus
Das resultierende Korpus ist somit von überschaubarem Umfang. Aufgrund der Auswahlkriterien kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die darin auffindbaren Phänomene in besonderer Weise repräsentativ für die jeweilige TRS der relevanten Oratoren in der Debatte sind. Die so ermittelten Texte ergeben das so genannte Fokuskorpus der vorliegenden Arbeit. Tabelle 6.2 bietet eine Übersicht über die Texte des Fokuskorpus: Tabelle 6.2: Die Texte des Fokuskorpus. Orator Akteur
Titel
Typ
Länge (PDF) Jahr
Kürzel
ÖKO
Greenpeace Bienensterben und Insektizide – Verbote dringend erforderlich
Infosheet
Seiten
Greenpeace a
ÖKO
Greenpeace Bye bye Biene? Das Bienensterben und die Risiken für die Landwirtschaft in Europa
Broschüre (Report)
Seiten
Greenpeace b
ÖKO
Greenpeace „Dripping Poison“ – Zusammenfassung
Infosheet
Seiten
Greenpeace c
ÖKO
Greenpeace Gift im Bienengepäck
Broschüre (Report)
Seiten
Greenpeace a
ÖKO
Greenpeace Plan Bee – Leben ohne Broschüre Pestizide. Auf dem Weg in (Report) Richtung ökologische Landwirtschaft
Seiten
Greenpeace b
ÖKO
Greenpeace Europas Abhängigkeit von Broschüre Pestiziden. So schädigt die (Report) industrielle Landwirtschaft unsere Umwelt
Seiten
Greenpeace
ÖKO
Greenpeace Umweltrisiken durch Neonicotinoide: Eine Überprüfung der wissenschaftlichen Datenlage seit
Seiten
Greenpeace
Broschüre (Report)
Das PDF umfasst weitere 22 Seiten Anhang in Tabellenform als Begleitinformation zu einem Videoformat, die für die vorliegende Arbeit nicht berücksichtigt wurden.
152
6 Studiendesign
Tabelle 6.2 (fortgesetzt) Orator Akteur
Titel
Typ
Länge (PDF) Jahr
Kürzel
ÖKO
BUND
Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gefährdung von Bienen durch das Neonikotinoid Thiacloprid
Infosheet
Seiten
BUND a
ÖKO
BUND
Feld und Garten: Gefahr für Bienen
Flyer
Seiten
BUND b
ÖKO
BUND
Anhaltendes Bienensterben durch Pestizide
Infosheet
Seiten
(zuerst )
BUND []
ÖKO
BUND
Nationaler Bienenaktionsplan
Factsheet
Seiten
BUND
ÖKO
BUND
Nervengift mit fataler Wirkung: Bienenkiller Neonicotinoide
Artikel
Seiten
BUND
ÖKO
PAN
Verbot hoch bienengefährlicher Neonikotinoide durchsetzen
Offener Brief
Seiten
PAN
ÖKO
PAN
NeonikotinoidFeldversuch an Bienen: Vernebelung statt Aufklärung. SyngentaStudie in der Kritik
Offener Brief
Seiten
PAN
AGRAR IVA
Die Bedeutung der Bestäuber für die Landwirtschaft
Broschüre
Seiten
IVA a
AGRAR IVA
Moderne Beiz- und Sätechnik schont die Umwelt
Broschüre
Seiten
IVA b
AGRAR IVA
Faktencheck: Biene
Broschüre
Seiten
IVA
AGRAR Bayer
Neonicotinoide und Bienengesundheit – Trendwende in Sicht?
Magazin
Seiten
Bayer
AGRAR Bayer
Nature Outlook – Bees
Whitepaper Seiten
Bayer a
153
6.2 Das Untersuchungskorpus
Tabelle 6.2 (fortgesetzt) Orator Akteur
Titel
Typ
Länge (PDF) Jahr
Kürzel
AGRAR Bayer
Partner für Bienensicherheit
MagazinArtikel
Seiten
Bayer b
AGRAR Bayer
Bienensicherheit der neonikotinoiden Insektizide
Magazin
Seiten
Bayer
AGRAR Bayer
Bienenstudien und die Magazin Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln und ihre wissenschaftlichen Grundlagen
Seiten
Bayer
Die ausgewählten Texte sind alle entweder im relevanten Debattenabschnitt (Januar 2013 bis Juni 2018) auf den Homepages der Oratoren veröffentlicht worden, oder waren in diesem Zeitraum auf Meldungs- und Themenseiten oder der Downloadsektion einer Homepage eingebunden. Außerdem wurden nur diejenigen Texte gewählt, bei denen die Oratoren eindeutig als verantwortliche Textproduzenten identifiziert werden können. Neben dem Fokuskorpus liegt der vorliegenden Arbeit jedoch auch ein sekundäres Korpus zugrunde. Das sekundäre Korpus dient dem Versuch, die Verstehenshintergründe bei der Interpretation methodisch zu erfassen. Dabei geht es nicht, wie bei der Analyse des Fokuskorpus, um die Verstehenshintergründe einer möglichen Rezipientin, sondern um die Verstehenshintergründe des Analysierenden bei der Interpretation einer Äußerung. Der Unterschied ist, dass erstere realistisch kaum rekonstruierbar sind. Die Verstehenshintergründe des Analysierenden sind jedoch in gewissem Maße spezifisch und greifbar, da sie sich an seiner Interpretation und an den spezifischen Fragen, die er zu beantworten sucht (siehe oben), ausrichten. Für die vorliegende Interpretation besteht das sekundäre Korpus aus einer heterogenen Menge anderer Texte. Ein Großteil dieser Texte resultiert aus der Einbettung der vorliegenden Arbeit in den Kontext des DFG-Projekts „‘Bye bye Biene?‘ – Zur Funktionalisierung wissenschaftlichen Wissens und Nichtwissens im Pestizid-Diskurs“. Soweit es geht, sollen diese Texte hier auch systematisch benannt werden. Es sind dies: – die Homepages der Oratoren, auf denen die Texte des Fokuskorpus integriert waren, – ein Korpus aus 112 Pressemeldungen aus dem Zeitraum von 2013–2018, die zu einem früheren Teil der Projektarbeit als Fokusdaten in Betracht gezogen
154
– –
– –
–
6 Studiendesign
wurden – dieses Korpus enthält neben Texten von ÖKO und AGRAR auch Äußerungen anderer Akteure aus Wissenschaft und Politik, einzelne Broschüren und offene Briefe anderer Akteure, mehrere Texte aus dem (verwandten) Diskurs über das Breitbandherbizid Glyphosat, die einer anderen Untersuchung im Rahmen der Projektarbeit zugrunde lagen (vgl. Simon & Janich 2021), Texte der massenmedialen Berichterstattung über die Debatte, die teils bewusst aufgesucht, denen teils aber auch zufällig im Alltag begegnet wurde. eine kaum noch zu rekonstruierende Menge an Gesprächen und Diskussionen, die im Laufe der Projektarbeit mit verschiedenen Menschen zum Thema geführt wurden, Referenzkorpora, Lexika und Wörterbücher, wie das DWDS-Wortprofil 3.0, das Deutsche Referenzkorpus oder German FrameNet78, anhand derer v. a. lexikalische Befunde und Hypothesen überprüft wurden.
Wie aus der Auflistung erkenntlich wird, ist nur ein eingeschränkter Teil dieses sekundären Korpus unmittelbar verfügbar und zugänglich. Wo dies aber der Fall ist, soll in der Ergebnisdarstellung darauf hingewiesen werden.
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWTAnalyse macht Die Analyse von transtextuellen rhetorischen Strategien (TRS) beruht in der hier vorgeschlagenen Form auf einer rhetorischen Analyse von Texten nach dem Modell der Textwelttheorie (TWT). Ich möchte deshalb in diesem Abschnitt darstellen, wie methodisch von einem Text ausgehend eine Weltenarchitektur rekonstruiert werden kann und wie aufbauend auf einer solchen Vorgehensweise die Erzeugung der rhetorischen Wirkdimensionen Ethos, Logos und Pathos in der Textkommunikation beschrieben werden kann. Da dieses Vorgehen bislang gerade im deutschen Sprachraum noch nicht erläutert wurde, halte ich es für sinnvoll, an dieser Stelle zunächst noch ohne eine zu spezifische Konkretisierung auf die mir hier vorliegenden Daten und Werkzeuge vorzugehen. Interessierte können dieses Teilkapitel nutzen, um eigene Zugänge zu rhetorischen TWT-Analysen zu entwickeln.
https://www.dwds.de/wp/?q=.; https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-web/; https://gsw. phil.hhu.de/framenet/.
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
155
6.3.1 Weltenarchitekturen rekonstruieren: Text, Diagramm, Interpretation Eine TWT-Analyse stellt eine Rekonstruktion der lokalen Wissenskonstitution in der Textkommunikation unter Rückgriff auf das in Kapitel 3 ausführlich dargelegte TWT-Modell dar. Sie besteht nach dem hier vorgeschlagenen Modell immer aus drei Komponenten: – dem Text, der analysiert wird, – einem TWT-Diagramm, das ausgehend vom Text rekonstruiert wird, – einer Interpretation, die die Rekonstruktion des Diagramms anhand des Texts erläuternd nachvollzieht. Diese drei Komponenten müssen in der Präsentation der Analyseergebnisse enthalten sein. Der Text – bzw. ein Textsegment – ist notwendiger Bestandteil, da die Rekonstruktion eine Interpretationsleistung darstellt, die kritisierbar sein muss, um Plausibilität für sich beanspruchen zu können. Das TWT-Diagramm stellt ein Modell der im Textverstehen potentiell aufgebauten Wissensstrukturen dar. Es besteht immer aus einer Verbindung von Äußerungswelt (ÄW) und Textwelt (TW). Hinzu können deiktische Fokusräume (FRs) sowie Fokuswelten (FWs) in verschiedenen Welt-Welt-Relationen kommen (siehe Kapitel 3.5.2). Das TWT-Diagramm hat dabei für den Analysierenden während des Analyseprozesses sowohl eine repräsentative als auch eine heuristische Funktion. Der Detailgrad des Diagramms hängt dabei vom konkreten Forschungsinteresse ab (vgl. Gavins 2007: 40). Für die Präsentation der Analyseergebnisse erfüllt das TWT-Diagramm zudem eine illustrative Funktion, die einen gut nachvollziehbaren Überblick über die Ergebnisse ermöglichen soll. Die von mir in dieser Arbeit genutzte Darstellungsweise des TWT-Diagrammes lehnt sich stark an die in Werth (1999) vorgeschlagene Notationsweise an, weicht allerdings in einigen Punkten davon ab. Jede Welt wird als Rechteck dargestellt, die eine Vorder- und Hintergrundstruktur besitzt, die im oberen respektive unteren Abschnitt des Rechtecks dargestellt werden. Abgesehen von der ÄW muss jede andere Welt eine Verankerung in einer Matrixwelt aufweisen. Die repräsentierte Weltenarchitektur ist also ein Netzwerk (siehe Abbildung 6.5 unten). Auf detaillierte Aspekte der Darstellungsweise einzelner Teilkomponenten werde ich an den entsprechenden Stellen dieses Abschnitts eingehen. TWT-Diagramme können dabei durch weitere grafische Elemente ergänzt werden – etwa der Frame-Struktur von HintergrundFrames, WBEs o. ä. Die TWT-Rekonstruktion stellt in dieser Form eine Methode der praktischen Hermeneutik dar (siehe Abschnitt 6.1.2). Entsprechend wichtig ist deshalb die Interpretation, die eine Verbindung von Text und rekonstruiertem TWT-Diagramm darstellt. In ihr wird der rekonstruierte Verstehensprozess nachgezeichnet und die analytische Rekonstruktion plausibilisiert. Sie ist somit gleichzeitig ein wichti-
156
6 Studiendesign
Abbildung 6.5: Allgemeines Schema eines TWT-Diagramms.
ges Ergebnis als auch eine zentrale Form der Ergebnisrechtfertigung. Die drei Größen Text, Interpretation und Diagramm repräsentieren dabei in besonderer Form die drei Komponenten der im Rahmen rhetorischer Strategien gesuchten relationalen Form-Wirkungs-Phänomene, was für eine besondere Eignung der TWT-Analyse zur Beschreibung solcher Phänomene spricht. Neben dem Prinzip der drei Komponenten gelten für TWT-Analysen die folgenden Grundsätze: – Das Prinzip der text-drivenness ist als methodologischer Grundsatz zu betrachten. Rekonstruktionen müssen in der Interpretation immer auf die beobachtbare Realität des Texts (bzw. der empirischen Daten) zurückführbar sein. – Die Analytikerin reflektiert in der Interpretation ihre Verstehenshintergründe, die den Analysen und Interpretationen zugrunde liegen. Die TWT-Analyse muss dabei immer wieder Annahmen über das verstehensrelevante Wissen einer Leserin in ihre Überlegungen miteinbeziehen, die entsprechend zu plausibilisieren sind. – Die TWT-Analyse rekonstruiert immer nur ein Potential. Sie gibt keine Auskunft darüber, was empirische Rezipientinnen wirklich verstehen. – Die TWT-Analyse repräsentiert eine modellhafte Heuristik. Ihr Ziel ist es, interessante und relevante Beschreibungen von Sprachgebräuchen zu produzieren, auf deren Basis metasprachliche Reflexionen vorgenommen werden können. Im Folgenden werde ich zunächst für die einzelnen Bestandteile der Weltenarchitektur darlegen, wie sie analytisch erschlossen werden können, bevor ich ausgehend davon einige analytische Zugänge zur Beschreibung der rhetorischen Wirkdimensionen anhand des TWT-Modells skizzieren werde.
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
157
6.3.2 Die ÄW beschreiben: Domäne, Handlungsstruktur, Rollen Um die Äußerungswelt (ÄW) zu beschreiben, müssen insbesondere die Akteure identifiziert, Hinweise auf die Domäne gefunden und die Handlungsstruktur beschrieben werden. Die Akteure der TW erfassen Grundsätzlich können innerhalb der ÄW die folgenden Akteure analytisch erfasst werden: – Orator: Der Orator kann immer als Akteur der ÄW angenommen werden. Die Existenz des Texts selbst kann hier bereits als Hinweis auf die Existenz des Orators (und ggfs. eines ihm entsprechenden Textproduzenten) betrachtet werden. Allerdings muss es sich beim Orator keinesfalls um eine identifizierbare Person handeln, die einem realen Textproduzenten entspricht. In vielen Fällen gibt es stattdessen kollektive Oratoren wie Unternehmen, Organisationen o. ä. (Luppold 2015a: 175–177). Konkrete Hinweise auf den Orator liefern in Texten oftmals Autorenangaben zu Textbeginn oder -ende. Auch die Eingebundenheit eines Texts in einem größeren Kontext, etwa einem Buch oder einer Website, sind hier zu nennen (so ist der Orator eines wissenschaftlichen Fachartikels u. U. in anderer Weise personalisiert als der Orator einer Mahnung). In manchen Fällen kann aber auch mehr als ein Orator in der ÄW verortet werden, etwa wenn für verschiedene Teiltexte eines Texts unterschiedliche Autorinnen angeben sind. Hierfür muss es jedoch deutlich identifizierbare Hinweise im Text geben. – Leserin: Die Leserin ist neben dem Orator die zweite Akteurin der Textwelt, die immer angenommen werden kann. Relevant für die ÄW-Beschreibung sind hier vor allem Formen der Adressierung. Hinweise darauf können bspw. Verben in der zweiten Person liefern, die auf singuläre oder kollektive Leserinnen verweisen können. Weitere Hinweise beziehen sich v. a. auf die Sprachhandlungsstruktur und sind im Rahmen rhetorischer TWT-Analysen unter dem Aspekt des Ethos bzw. der Begegnung (siehe 4.3.6) zu behandeln. – Weitere Akteure: Neben Orator und Leserin könnens u. U. weitere Akteure der ÄW bestimmt werden. Allerdings sind diese in einigen Fällen schwerer zu identifizieren und entsprechend unter einem gewissen Vorbehalt zu postulieren. Im Falle der rhetorischen TWT-Analyse kann bspw. von Luppolds (2015a: 73–75) Annahme einer rhetorischen Basiskonstellation ausgegangen werden, zu der neben Orator und Leserin auch Ko-Orator, Opponent und Iudex gehören. Solche Konstellationen können an bestimmte Handlungsbereiche wie bspw. die rechtliche Kommunikation geknüpft und mit bestimmten Textsorten bzw. Genres verknüpft sein. Auch Fälle von Intertextualität können zur Annahme von weiteren
158
6 Studiendesign
ÄW-Akteuren, wie beispielsweise Fürsprechern führen. Allerdings sind entsprechende Annahmen in der analytischen Rekonstruktion in besonderer Weise begründungsbedürftig. Hinweise auf entsprechende Formen von Intertextualität können insbesondere auch auf der gestalterischen Ebene liegen (siehe Kapitel 9.1.4). Die Beziehungen, in denen die ÄW-Akteure zueinanderstehen, sind teilweise durch ihre Relationen innerhalb der ÄW bestimmt. Leserin und Orator sind bspw. in der konzeptuellen Handlungsstruktur der ÄW miteinander verbunden: der Orator als Agens und die Leserin als Adressat der jeweiligen Sprachhandlungen. Sie können auch innerhalb von Handlungsbereichen Funktionsrollen besetzen etc. Auch hier gilt es, dass entsprechende Beziehungen analytisch auf Signalisierungen im Wortlaut des Texts zurückgeführt werden müssen und nicht einfach so vom Analysierenden postuliert werden dürfen. Handlungsstrukturen von Texten beschreiben Handlungsstrukturen zu beschreiben, stellt eine grundsätzliche Herausforderung für linguistische Analysen dar. Insbesondere ist zu beachten, dass die Sprachhandlungen und Handlungsmuster, die von der Linguistik beschrieben werden, grundsätzlich als Interpretationskonstrukte zu erachten sind, die sich aus analytischer Sicht stets auf die diesen Handlungen zugrunde liegenden Textteile beziehen (vgl. Engberg 1997: 81; Liebert 2002: 25). Auf dasselbe Textsegment können dabei verschiedene Handlungsbeschreibungen zutreffen, je nachdem auf welcher Ebene diese vorgenommen werden, wobei zwischen den Beschreibungen Relationen bestehen können wie bspw. eine dadurch, dass-Relation bzw. eine indem-Relation (vgl. Harras 2004: 34; Liebert 2002). Die Handlungsbeschreibung eines Textsegments hängt zwar in gewissem Maße von Introspektion und Intuition ab, beruht aber wesentlich auf dem Datenmaterial des Wortlautes selbst (vgl. dazu auch Tuchen 2018: 12). Einflussreich ist hier die aus der Sprechakttheorie stammende Annahme von Illokutionsindikatoren, also Hinweisen, anhand derer konventionell aus der Beschaffenheit des Wortlauts auf einen Sprachhandlungstyp geschlossen werden kann. Illokutionsindikatoren liegen auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems. Für die Textkommunikation werden hier die folgenden Phänomene genannt (vgl. Brinker 2000: 179; Liedtke 1997: 190; Staffeldt 2014: 108): – performative Formeln unter Verwendung von explizit performativ verwendbaren Verben und/oder entsprechenden deverbalen Substantiven
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
–
– – – – –
159
Satztypen bzw. -arten (Frage, Aufforderungssatz) resultierend aus der Wortfolge im Satz, insbesondere der Stellung des finiten Verbs, und dem Modus des Hauptverbs Interpunktion Partikel (aber, doch, bitte etc.) Satzadverbien (unverzüglich) und Modalwörter (bestimmt, möglicherweise) Modalverben Formelhaftes (Wenn Sie bitte so freundlich wären)
Überdies spielt der propositionale Gehalt eines Textsegments eine überragende Rolle bei der Bestimmung des Handlungscharakters (vgl. Brinker 2000: 179). Solche Indikatoren sind jedoch, wie der Name bereits andeutet, lediglich Hinweise auf Illokutionen, keine hinreichenden Bedingungen o. ä. (vgl. Liedtke 1997: 197). Das entscheidende Legitimationskriterium der Zuschreibung bestimmter Sprachhandlungstypen zu Textteilen bleibt letztlich die intersubjektive Plausibilität (vgl. Engberg 1997: 83). Die Handlungsbeschreibung von Texten sieht sich zudem mit der Komplexität von Texten konfrontiert. Besonders im Rahmen der Textlinguistik hat sich die Annahme einer Textfunktion etabliert, die den globalen Handlungscharakter eines Texts beschreibt. Brinker (2000: 175) versteht darunter „die im Text mit bestimmten, konventionell geltenden, d. h. in der Kommunikationsgemeinschaft verbindlich festgelegten Mitteln ausgedrückte Kommunikationsabsicht des Textproduzenten“. Innerhalb der Textlinguistik haben sich unterschiedliche Systematisierungs- und Klassifizierungsvorschläge von Textfunktionen entwickelt (siehe den Überblick in Hausendorf et al. 2017: 237). Als besonders einflussreich kann die Klassifikation von Brinker (2000: 175) angesehen werden, der im Anschluss an die Illokutionsklassen von John Searle die Grundtypen Information, Appell, Obligation, Kontakt und Deklaration unterscheidet. Im Rahmen des textlinguistischen Forschungsprogramms wurde zudem die Handlungsstruktur von Texten in den Blick genommen. Ein im deutschsprachigen Raum einflussreiches Modell stellt die Annahme von Illokutionshierarchien dar (vgl. Motsch & Viehweger 1991; Motsch 1996; Motsch 2000). Texte werden dabei als „hierarchisch strukturierte Abfolge von elementaren Handlungen“ betrachtet (Brinker 2000: 177; vgl. auch Heinemann & Heinemann 2002: 83–84). Dabei werden – meist auf der Satzebene – elementare Illokutionen identifiziert, die miteinander koordinativ oder subordinativ verknüpft werden, woraus komplexe Illokutionsgefüge resultieren, in denen dominierende Illokutionen von subsidiären Illokutionen gestützt werden (vgl. Motsch & Viehweger 1991: 121–123). Die koordinativen oder subordinativen Relationen von Illokutionen können mit Konnektoren beschrieben werden, wie deshalb, aber, denn usw. Ein Text lässt sich dabei als Konstrukt aus glo-
160
6 Studiendesign
balen und lokalen Strukturen von verknüpften Illokutionen beschreiben (vgl. Motsch 2000: 419). Allerdings führt, wie Brinker (2000: 177) bemerkt, die Beschreibung der Illokutionshierarchie nicht automatisch zu einer befriedigenden Bestimmung der Textfunktion. Auch die Annahme elementarer Illokutionen sowie insbesondere die Zuordnung von Satz und Illokution wird kritisiert (vgl. ebd.; Motsch 1996). Die Auffassung, dass Texte grundsätzlich segmentierbare Handlungskomplexe repräsentieren, liegt auch der auf Swales (2011) zurückgehenden move analysis zugrunde. Demnach lassen sich Texte (die hier in erster Linie als Repräsentanten von Genres begriffen werden) als Sequenzen von moves begreifen, wobei moves Textsegmente mit bestimmten Funktionen sind. Die Funktionalität einzelner moves wird dabei v. a. top-down von der Funktionalität des Genres her bestimmt. Moves selbst werden durch einzelne steps realisiert (vgl. Samraj 2014: 387). Eine ähnliche Auffassung spiegelt auch die analytische Unterteilung in Haupthandlungen und Unterhandlungen bei von Polenz (2008: 329). Grundsätzlich kann – aufgrund der Komplexität von Texten – auch von einer Komplexität des in ihnen realisierten Handlungsgefüges ausgegangen werden, der auch in der TWT-Beschreibung Rechnung getragen werden sollte. Gemäß den meisten Systematisierungsvorschlägen erscheint es deshalb sinnvoll, die Handlungsstruktur von Texten auf drei Ebenen zu beschreiben: – auf der Makroebene der globalen Textfunktion, – auf der Mesoebene der lokalen Handlungsstruktur und des Handlungscharakters von komplexeren Textsegmenten, – auf der Mikroebene der elementaren Handlungen, wenngleich die Frage nach den sprachlichen Größen hier kritisch ist (man kann vielfach noch kleinschrittiger vorgehen) und letztlich auf rein forschungspraktischen Entscheidungen fußt. Die Handlungsbeschreibung auf der Mikroebene richtet sich neben den oben genannten Illokutionsindikatoren in erster Linie an der Proposition aus. Aus Sicht der TWT macht es Sinn, die Bestimmung solcher Mikro-Handlungen an die Bestimmung von function advancing propositions (FAPs) zu knüpfen. Die Segmentierung von Teiltexten auf der Mikroebene orientiert sich zwar grundsätzlich an Forschungsinteresse und -gegenstand. Am sinnvollsten erscheint mir aber die Annahme eines zusammenhängenden Segments, bestehend aus einem Illokutionstyp und einer Proposition. Die Annahme einer neuen Mikro-Handlung bezieht sich demnach auf eine Änderung des identifizierbaren illokutionären Charakters – bspw. ausgehend vom bekannten Klassifikationssystem nach Searle (1976: 10–16) – oder der rekonstruierbaren Proposition. Auf der Mesoebene bilden Mikro-Handlungen komplexere lokale Handlungsstrukturen. Dabei sind auch die Relationen zu beachten, die hier zwischen den
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
161
Mikro-Handlungen bestehen. Ebenfalls kann die sequentielle Ordnung eine Rolle spielen. Da die Mesoebene eine Art Mittler zwischen Mikro-Handlungen und globaler Textfunktion darstellt, ist ihre Beschreibung auch darauf ausgerichtet, inwiefern der dort lokalisierbare Handlungscharakter zur Textfunktion beiträgt. Die globale Textfunktion bildet die Makroebene der Handlungsbeschreibung. Nach Brinker (2000: 180) lässt sich die Textfunktion über Indikatoren sowohl auf textueller als auch kontextueller Ebene bestimmen. Textuelle Indikatoren stellen dabei sowohl die bereits als Illokutionsindikatoren bestimmten Phänomene und grafische und bildliche Darstellungen dar, als auch die Art des Textthemas, die Auswahl und Anordnung der Teilthemen, die Wahl des thematischen Entfaltungsmusters und die sprachlich stilistische Ausformung. Für besonders wichtig erachtet Brinker (2000) die Einstellung des Textproduzenten zum Textthema. Aus Sicht des hier entwickelten TWT-Modells kann diese als Positionierung des Orators zu den zentralen Propositionen der TW betrachtet werden. Hinzu kommen kontextuelle Indikatoren, wie die Einordnung in umfassendere Zusammenhänge, die mediale und situative Einbettung sowie der institutionelle Rahmen des Texts. Je nach Art des im analytischen Fokus stehenden Textsegments kann die Handlungsbeschreibung auf der entsprechenden Ebene in die grafische Repräsentation der TWT-Rekonstruktion integriert werden. Es handelt sich bei den von mir vorgeschlagenen Beschreibungsebenen nicht um die definitorische Identifikation von Handlungen an sich, sondern um Handlungsbeschreibungen, die verschiedenen Segmenten des Texts zugeschrieben werden können. Die hier vorgenommene Darstellung zielt demnach nicht darauf ab, die Handlungscharakter von Texten zu erklären, sondern im Rahmen der TWT zu beschreiben. Ich behaupte also nicht, dass ein Text aus Handlungen auf drei Ebenen besteht, sondern es für die TWT-Analyse sinnvoll ist, Handlungsbeschreibungen relativ zu drei Ebenen vorzunehmen. In Domänen verorten bzw. mit deren typischen Sprachgebrauchsformen abgleichen Die linguistische Beschäftigung mit Domänen (bzw. Handlungsfeldern) findet hauptsächlich innerhalb der Textlinguistik statt. Dort werden sie häufig als situative Kontextfaktoren der Textsortenbeschreibung herangezogen und in dieser Hinsicht auf ihre Anwendbarkeit diskutiert, wobei eine klare Abgrenzbarkeit der Domänen voneinander in Frage gestellt wird (vgl. Adamzik 2016: 130). Obwohl die Domäne gerade in linguistischen Modellen immer wieder auftaucht, scheint sie doch für die Linguistik eine schwer fassbare Größe zu sein. Statt klarer Definitionen finden sich häufig Nennungen von Beispielen wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, oder Alltag (vgl. Adamzik 2016: 129). Darüber hinaus wird aber auch ihre Rolle bei der Kontextualisierung betont: Die „mit Kommunikationsbereichen bzw.
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6 Studiendesign
Varietäten verbundenen Stilzüge“ ließen sich, so Adamzik (2016: 135), „gezielt als Kontextualisierungshinweis einsetzen, um einen (anderen) Kommunikationsbereich ‚aufzurufen‘“. Um die Kategorie der Domäne für die Analyse einer TW zu operationalisieren, bedarf es also einer Kenntnis identifizierbarer domänenspezifischer Sprachgebrauchsformen (vgl. Jakobs 1997; 1999: 52; Feilke 2010b: 222). Hierzu kann bzw. muss im weiten Feld der linguistischen Forschungslandschaft nach relevanten Sprachgebrauchsformen recherchiert werden. Zugänge zum Sprachgebrauch relativ zu Domänen finden sich bspw. in Habscheid (2011). Daneben haben sich innerhalb der Linguistik zahlreiche Teildisziplinen etabliert, die als Zugänge zum domänenspezifischen Sprachgebrauch begriffen werden, wie bspw. die Wissenschaftskommunikationsforschung, die Fachsprachenforschung, die Politolinguistik und weitere.
6.3.3 Die TW beschreiben Eine wichtige Teilaufgabe rhetorischer TWT-Analysen besteht darin, ausgehend von einem Textsegment eine Textwelt zu rekonstruieren. Hierzu muss ein systematischer Zugriff auf world-building elements (WBEs), Hintergrund-Frames und function-advancing propositions (FAPs) erfolgen. Wie dabei im Einzelnen vorgegangen werden kann, möchte ich im Folgenden darlegen und ggfs. problematisieren. WBEs identifizieren Zur Identifizierung der world-building elements (WBEs) kann man sich an den world-builders orientieren (siehe Kapitel 3.3.2). Eine Bestimmung der WBEs wurde in Kapitel 3.3.2 bereits ausführlich demonstriert und erfolgt an dieser Stelle nicht erneut. Auf der Ebene des Wortlauts können die folgenden sprachlichen Formen als typische world builders betrachtet werden: – NPs, Personalpronomen und Substantive, die auf identifizierbare Entitäten referieren wie Objekte, Lebewesen etc. – Lokaladverbiale und Temporaladverbiale in Form von Präpositionalphrasen oder Adverbien, die auf das raum-zeitliche Setting verweisen. Das Setting kann dabei punktuell (im Haus um 12 Uhr) oder flächig sein (von Berlin bis München zwischen 12 und 14 Uhr). Gerade Lokaladverbiale können aber z. B. auch Lokalisierungen innerhalb des Settings indizieren, bspw. im Satz Sie legt das Buch auf den Tisch: Das räumliche Setting ist in einem solchen Fall ein unspezifizierter Raum – nicht etwa der Tisch
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
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selbst. Die Präpositionalphrase auf den Tisch spezifiziert eine dynamische Positionierung zweier Entitäten innerhalb dieses Raums. Wichtig ist dabei zu beachten, dass WBEs selbst Frame-Strukturen repräsentieren. Das wirft die Frage auf, wie sie darzustellen sind. Innerhalb eines TWTDiagramms sind vereinfachende Bezeichnungen zu wählen, die sich am Wortlaut des Texts orientieren. Diese können im Zuge der Analyse und Interpretation jedoch durch andere Formen der Frame-Rekonstruktion ergänzt werden. Zu beachten ist außerdem, dass WBEs im Textverlauf ‚weiterentwickelt‘ werden können, dass also Informationen hinzugefügt werden können. Relevante (Hintergrund-)Frames identifizieren und rekonstruieren Die Rekonstruktion relevanter Hintergrund-Frames ist gerade im Vergleich zur Identifikation der WBEs eine größere textsemantische Interpretationsleistung. Eine Möglichkeit der Identifikation bezieht sich – wie in Kapitel 3.3.2 bereits angesprochen – auf die Kohärenz eines Textsegments. Nach de Beaugrande & Dressler (1981: 5) betrifft Kohärenz „die Funktionen, durch die die Komponenten der TEXTWELT, d. h. die Konstellation von KONZEPTEN (Begriffen) und RELATIONEN (Beziehungen), welche dem Oberflächentext zugrunde liegen, für einander gegenseitig zugänglich und relevant sind“ (Hervorhebungen im Original). Dabei müssen Rezipientinnen von Texten oftmals Relationen von Konzepten (und Relationen) ‚beisteuern‘, die nicht unmittelbar durch Textelemente aktiviert werden. Dieser Mechanismus entspricht dem in Kapitel 2.5.1 dargestellten Aufrufen und Abrufen von Frames nach Ziem (2008). Relevante Hintergrund-Frames lassen sich demnach identifizieren, indem die identifizierten WBEs interpretierend zueinander in Beziehung gesetzt und Hypothesen über plausible kohärenzstiftende Frames angestellt werden. Hierbei kann insbesondere eine Analyse der Frame-Strukturen einzelner WBEs hilfreich sein. Das Verfahren kann neben den WBEs auch auf die FAPs angewendet werden. Auch diese stehen in übergeordneten Frame-Zusammenhängen, die sich als kohärenzstiftende und funktionsbegünstigende Hintergrund-Frames der TW begreifen lassen. Einen weiteren Hinweis auf relevante Hintergrund-Frames können zudem WeltWelt-Relationen liefern – so ist beispielsweise jede deontische Welt-Welt-Relation in einem normativen Frame der Matrixwelt verankert (siehe Kapitel 3.5.1). Nach der Identifizierung der relevanten Frames lassen sich die Instantiierungen der Frames durch die Analyse der Frame-Strukturen herausarbeiten. Frame-Strukturen müssen dabei analytisch „auf der Grundlage von sprachlichen, ko-textuellen, kontextuellen und situativen Daten sowie ‚Hintergrundwissen‘“ rekonstruiert werden, wobei diese Rekonstruktion „immer interpretative Züge“ trägt (Busse 2012: 583). Im vorliegenden Fall interessieren instantiierte Fra-
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mes als Elemente bzw. Strukturen des konzeptualisierten Textweltmodells. Im Gegensatz zu Muster-Frames geht es bei instantiierten Frames darum, keine offenen, sondern mit konkreten Wissenselementen gefüllte Strukturen darzustellen (vgl. ebd.: 539). Insbesondere lassen sich anhand syntaktischer und semantischer Kategorien wie z. B. Phrasenstrukturen und thematischer Rollen strukturelle Relationen lexikalischer Einheiten herausarbeiten, die auf strukturelle Relationen von konzeptuellen Einheiten verweisen. Neben der induktiven Beschreibung der Instantiierung können auch Wörterbucheinträge über evozierte Frames etwa aus dem German FrameNet zur Orientierung und Überprüfung der Befunde herangezogen werden. Welche sprachlichen Indizien für Frames und Frame-Elemente in Frage kommen, wird sich vermutlich stark nach dem der Untersuchung zugrundegelegten Typ von Sprachmaterial und Quellenlage unterscheiden. Generell kann man nur sagen, dass es immer eine ‚Suchstrategie‘ sein muss, jegliches sprachliche Element in der Umgebung eines Ziel-Wortes oder –Satzes daraufhin genauestens zu prüfen, ob sich durch dieses Element, oder durch semantische Kombination und Synergie-Effekte dieses Elements mit anderen Elementen im Quellentext, ein Hinweis auf ein mögliches Frame-Element (Attribut / Slot oder Wert / Filler) ergibt. Häufig (oder sogar meistens) wird es so sein, dass sprachliche Indizien für Werte / Filler stehen, und die entsprechenden Attribute / Slots im Wege der Abstraktion erschlossen werden müssen. Es kann aber auch vorkommen, dass sprachliche Mittel für Attribute / Slots stehen, ohne dass konkrete Werte / Filler überhaupt eine Rolle spielen. (Busse 2012: 740)
Wichtig ist auch zu beachten, dass sich Hinweise auf Konzeptualisierungen nicht nur in sprachlichen Zeichen finden, sondern auch anhand anderer Modalitäten, insbesondere Bilder, ausgedrückt werden können. Hintergrund-Frames werden im TWT-Diagramm mit dem Frame-Namen angegeben und können, wie auch WBEs, an anderen Stellen innerhalb der Analyse genauer rekonstruiert werden. Die analytische Bestimmung von Hintergrund-Frames betrifft dabei in besonderem Maße Annahmen über das verstehensrelevante Wissen einer Rezipientin. Je nach Wissenshintergründen können diese unterschiedlich ausfallen, was bei der Interpretation und Rekonstruktion zu berücksichtigen ist. Die Analysierende muss also gerade hier reflektieren, welches Wissen bei einer Rezipientin plausiblerweise evoziert werden kann. FAPs rekonstruieren Die framebasierte Analyse von function advancing propositions (FAPs) beruht im Wesentlichen auf satzsemantischen Analysen, die wiederum auf syntaktische Analysen zurückgreifen. Folgt man den oben bereits erwähnten Überlegungen von Werth (1999) zu Fillmores Kasusgrammatik und von Ziem (2008) zur deutschen Satzsemantik, bieten sich hier v. a. valenz-bzw. dependenzorientierte Syntaxauffassungen als Ausgangspunkte an, die dann auf zugrundeliegende Frame-Strukturen
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
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übertragen werden können (vgl. Löbner 2018: 202). Dabei wird klar, dass für die FAP-Rekonstruktion Prädikatsausdrücke eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie repräsentieren die für den Aussagegehalt einer Äußerung zentralen Aspekt des Prädizierens bzw. der Prädikation, also des Aussagens von etwas über etwas (vgl. von Polenz 2008: 101; vgl. zur Prädikation auch Busse 2015c: 134–137). Prädikatsausdrücke können Verben in Haupt- und Nebensätzen sowie Substantive und Adjektive in Nominalphrasen sein und somit neben dem ‚klassischen‘ syntatischen Prädikat auch Zusatz- und Bezugsprädikate umfassen (vgl. Löbner 2015: 121; von Polenz 2008: 104–105). Innerhalb von syntaktischen Gefügen können somit Einbettungsstrukturen von Prädikationen entstehen. Prädikatsausdrücke verweisen nach der hier vertretenen Auffassung lexikalisch auf (bzw. evozieren) bestimmte Frames, die jeweils Prädikationsrahmen von (Satz-)Aussagen bzw. Propositionen realisieren (vgl. Busse 2015c: 140–144; von Polenz 2008: 156). Die syntaktischen Relationen von Konstituenten zu Prädikatsausdrücken repräsentieren dabei satzsemantische Relationen innerhalb des Prädikations- bzw. Bezugsrahmens. Sie besetzen somit als Filler Slot-Positionen innerhalb des vom Prädikatsausdruck evozierten Frames. Aus der hier vertretenen TWT-Sicht, beziehen sich FAPs im Prinzip auf Teiltexte relativ zu Sprachhandlungen. Für den analytischen Zugriff auf FAPs bietet sich jedoch die Satzebene als Ausgangspunkt an. Ich möchte dies an dem in Kapitel 3 bereits als Beispiel dienenden Textsegment aus dem Korpus illustrieren: (01) Die Wirkung von Clothianidin auf Bienen zeigte sich im Frühjahr 2008: Das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide, hergestellt von Bayer CropScience, bewirkte in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg den Tod oder die schwere Schädigung von zehntausenden Bienenvölkern. (BUND 2016[2010])
Betrachtet man zunächst den zweiten Satz (ab Das Insektizid ... ), so lässt sich das finite Verb verursachte als Prädikatsausdruck identifizieren. Der dadurch lexikalisch evozierte Frame VERURSACHEN beinhaltet – wie bereits in Kapitel 3.3.3 aufgezeigt – die Slots AGENS/URSACHE und EFFEKT, für deren Filler sich Hinweise anhand der syntaktischen Struktur des Satzes (Subjekt und Akkusativobjekt bzw. Ergänzungen) ausmachen lassen. Allerdings finden sich auch weitere Prädikationsausdrücke im Satz, die die Struktur der FAP beeinflussen. So evoziert bspw. das Partizip hergestellt den Frame PRODUKTION, welcher die Slots PRODUZENT und PRODUKT beinhaltet, die im vorliegenden Fall von Bayer CropScience und Clothianidin besetzt werden. Diese FrameStruktur wird über den Filler Clothianidin mit der FAP-Struktur von VERURSACHEN verbunden. Auch die Substantive Tod und Schädigung evozieren Frames, die an die SlotPosition EFFEKT des VERURSACHEN-Frames angeschlossen werden, und innerhalb derer die quantifizierte Menge an Bienenvölkern jeweils einen Slot besetzt. Die somit resultierende framebasierte Rekonstruktion der konzeptuellen Struktur der FAP kann wie in Abbildung 6.6 dargestellt in ein TWT-Diagramm integriert werden:
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Abbildung 6.6: Rekonstruierte Weltenarchitektur inklusive FAP für den zweiten Satz aus (01).
Die Rekonstruktion von FAPs kann sich jedoch auch als deutlich schwieriger erweisen, wie im Falle des ersten Satzes aus (01) (siehe Abbildung 6.7 unten). Die zunächst naheliegende Möglichkeit, die FAP-Struktur des ersten Satzes zu rekonstruieren, besteht darin, das finite Verb zeigte sich als Prädikationsrahmen mit propositionaler Struktur zu verstehen. Dabei evoziert das Lexem sich zeigen eine Frame-Struktur, bei der ein Objekt, das zuvor für ein wahrnehmendes Subjekt nicht sichtbar ist, an einer bestimmten Position in einem raum-zeitlichen Rahmen sichtbar wird79. Die Frame-Struktur wird anschließend durch die syntaktisch realisierten Konstituenten gefüllt: Den OBJEKT-Slot füllt eine eingebettete Proposition, die durch die NP die Wirkung von Clothianidin auf Bienen indiziert wird. Die Füllung des FOKUSPOSITION-Slots wird durch im Frühjahr 2008 indiziert und entspricht einer raum-zeitlichen Position innerhalb der TW. Die Füllung des Slots WAHRNEHMENDES SUBJEKT wird allerdings nicht expliziert. Ohne ein wahrnehmendes Subjekt jedoch ist Sichtbarkeit unmöglich. Ich bin der Meinung, dass die Slot-Position deshalb hier von den beiden Akteuren der ÄW Orator und Leserin eingenommen wird. Daraus ergibt sich die folgende FrameStruktur des propositionalen Gehalts des ersten Satzes: Diese konzeptuelle Struktur kann so allerdings nicht als FAP in die TW übertragen werden – alleine schon, weil die TW selbst als Filler in der Frame-Struktur enthalten ist. Nach meinem Verständnis zeigt sich hier, dass die syntaktisch basierte Rekonstruktion von propositionalen Frame-Strukturen zunächst einmal eine Rekonstruktion der propositionalen Repräsentationsebene (im engeren Sinne!) im Textver-
Vgl. hier bspw. den Duden-Eintrag von zeigen: https://www.duden.de/rechtschreibung/zeigen.
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Abbildung 6.7: Lexikalisch bestimmte Propositionsstruktur im Frame-Format.
stehen darstellt80 (siehe Kapitel 3.2.3). Um zu einer Beschreibung der propositionalen Strukturen der Weltenarchitektur auf der Ebene der mentalen Modelle zu gelangen, muss die in Abbildung 6.7 dargestellte Frame-Struktur auf TW und ÄW übertragen werden. Die HINTERGRUNDFLÄCHE ist in diesem Fall die TW selbst. Die FOKUSPOSITION markiert einen deiktischen Fokusraum innerhalb der TW. Das OBJEKT, hier die Proposition VERURSACHEN (C->B), wird dann sowohl in die HINTERGRUNDFLÄCHE (die TW) als auch in die FOKUSPOSITION (den deiktischen Fokusraum – siehe Abschnitt 6.3.4) übertragen. Dabei wird durch die Äußerung eine Handlung vollzogen, die sich in etwa als ‚Die Leserin auf die Sichtbarkeit einer Proposition an einer Position innerhalb der Textwelt hinweisen‘ bzw. LESERIN AUF DIE SICHTBARKEIT VON P IN TW HINWEISEN beschrieben werden kann. Die resultierende Weltenarchitektur ist in Abbildung 6.8 dargestellt. Die konzeptuelle Struktur, die sich anhand der lexikalischen Bedeutung von zeigte sich rekonstruieren lässt (Abbildung 6.7), repräsentiert somit in diesem Fall keine FAP der TW, sondern dient als Indikator zum Aufbau einer Weltenarchitektur (Abbildung 6.8). Es handelt sich hierbei also vermutlich um eine Konstruktion (in der Form P zeigte sich in O bzw. es zeigte sich in O, dass P), die als eine Art Illokutionsindikator (siehe Abschnitt 6.3.2) fungiert. Es wird anhand des Beispiels deutlich, dass die Rekonstruktion der FAP-Struktur zwar systematisch vorgenom-
Um möglichen terminologisch bedingten Irritationen entgegenzutreten, möchte ich an dieser Stelle nochmals darauf hinweisen, dass beim Textverstehen zwischen zwei mentalen Repräsentationsebenen unterschieden werden kann, die beide textsemantisch relevant sind: der propositionalen Ebene und der Ebene der mentalen Modelle. Die Weltenarchitektur, deren Beschreibung hier angestrebt wird, beinhaltet jedoch ebenfalls propositionale Frame-Strukturen, die von der propositionalen Ebene (im engeren Sinne) auf die Modell-Ebene übertragen werden (siehe dazu Kapitel 3.2.3).
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6 Studiendesign
Abbildung 6.8: Rekonstruierte Weltenarchitektur inklusive FAP für den ersten Satz aus (01).
men, jedoch in jedem Fall in einem teilweise umfassenden hermeneutischen Verfahren interpretiert werden muss. Die grafische Darstellung von FAPs kann dabei auf mehrere Weisen verfahren: – Bei der Rekonstruktion kürzerer Segmente und der Illustration bestimmter Phänomene in TWT-Diagrammen sind Frame-Darstellungen als Netzdiagramme möglich (Abbildung 6.6). Diese Notationsweise ist an die Darstellung von FrameStrukturen in Barsalou (1992) angelehnt. – Frame-Strukturen können außerdem in Listenform beschrieben werden, bei denen jeweils Filler relativ zu Slots angegeben werden (vgl. Busse 2012: 733). – Darüber hinaus sind verkürzende Notationen wie in Abbildung 6.8 möglich. Dabei wird der Name des Prädikationsrahmens angegeben und relevante Fillers entweder komplett oder abgekürzt in Klammern dahinter angegeben. In Abbildung 6.8 ist zudem die Relation der Filler innerhalb des Frames durch einen Pfeil angegeben. – Eine weitere Möglichkeit besteht in der aus der Sprechakttheorie bekannten Paraphrasierung von Propositionen bspw. durch dass-Sätze. Diese Möglichkeit ist insbesondere für die Angabe von komplexen FAP-Strukturen in TWTDiagrammen in Betracht zu ziehen.
6.3.4 Architekturen beschreiben Die Beschreibung einer gesamten Weltenarchitektur bezieht die Beschreibungen von ÄW und TW mit ein und ergänzt diese um die Beschreibung von Welt-WeltRelationen (siehe Abschnitt 3.5.2). Eine wichtige analytische Aufgabe besteht hier darin, den (möglichen) Aufbau von Fokuswelten (FWs) zu erkennen. Hinweise darauf im Text liefern vor allem:
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– – – –
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Modalverben, bspw. epistemische oder deontische Modalverben (vgl. dazu Scherr 2019), weitere Modalitätsindikatoren wie Adverbien (bspw. möglicherweise) oder Konnektoren (falls, wenn ... ) sowie der Verbmodus (Konjunktiv 1 + 2), Kognitionsverben (träumen, glauben, sich wünschen usw.), Sprechakt-Verben (sagen, fragen, befehlen etc.), insbesondere in Fällen indirekter Rede in Verbindung mit Konjunktiv. Sprechaktverben indizieren in erster Linie redeindizierte Relationen, allerdings können sich damit auch bspw. volitive Relationen verbinden, bspw. bei fordern. Formen direkter Rede und deren Indizierung durch Anführungszeichen, Typenvariation o. ä., Negationen.
Weitere Hinweise liefern bestimmte Sprachhandlungen, die auf der ÄW-Ebene identifiziert wurden, wie FORDERN. Die dargestellten sprachlichen Hinweise für den Aufbau von FWs geben darüber hinaus Hinweise auf die jeweiligen Welt-WeltRelationen. So deuten etwa Kognitionsverben auf kognitive Welt-Welt-Relationen und Sprechaktverben auf redeinduzierte Welt-Welt-Relationen hin. Die tatsächliche Art der Relation ist jedoch nicht nur an lexikalische, sondern auch an kontextuelle Hinweise gebunden und muss in der qualitativen Analyse erschlossen werden. Die Konstruktion deiktischer Fokusräume wird in erster Linie durch Präpositionalphrasen indiziert, die Lokal- und Temporaladverbiale realisieren wie im Frühjahr 2008 im obigen Beispiel (01). Daneben können auch bestimmte Sachverhalte und Ereignisse als Elemente von Präpositionalphrasen deiktische Fokusräume indizieren, wie etwa in dem Versuch. Dieser Interpretation liegt die Annahme einer grundsätzlich räumlichen Repräsentation konzeptueller Strukturen in mentalen Modellen zugrunde (vgl. Werth 1999: 74; 204). Ebenfalls zu beschreiben ist die Relation von ÄW und TW zueinander. Eine erste – relevante – Frage ist, ob sich ÄW und TW auf dieselbe Bezugswelt bzw. -wirklichkeit beziehen (siehe Kapitel 3.2.5). Wenn dies der Fall ist, können sich bspw. Parallelen in Bezug auf WBEs und Hintergrund-Frames ergeben. Der engste Zusammenhang von ÄW und TW wird, wie in Kapitel 3.4.3 dargestellt, im Falle von explizit performativen Sprechhandlungen hergestellt. Grundsätzlich sind in die Beschreibung der Weltenarchitektur die in Kapitel 3.5.3 angesprochenen Aspekte Nähe/Distanz und Dynamik miteinzubeziehen. Wie verhalten sich bspw. die deiktischen Parameter von ÄW und TW zueinander? Wie verändert sich die Architektur im Fortlauf des Texts? Werden bspw. bestimmte Welt-Welt-Relationen im Laufe der Interaktion aufrechterhalten und/ oder modifiziert? Gerade im Hinblick auf eine solche Dynamik kann sich die visuelle Darstellungsweise als problematisch erweisen. Je nach konkretem Untersu-
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chungsinteresse sowie der Größe des Texts oder Textsegments können unter Umständen auch mehrere Diagramme in Sequenzen als Darstellungsweisen von dynamischen Prozessen herangezogen werden.
6.3.5 Logos – Argumentation beschreiben Die Beschreibung von Argumentation besteht aus drei Teilaspekten: der Rekonstruktion der Quaestiones, der Rekonstruktion des Arguments sowie der Analyse der textgetriebenen Bauweisen von Argumenten in Texten. Die Schlüsselrolle spielt dabei die Rekonstruktion des Arguments. Ausgangspunkt der Argumentrekonstruktion ist immer die Identifizierung der jeweiligen Quaestiones. Relativ zu diesen können dann die entsprechenden Standpunkte der Oratoren rekonstruiert werden. Diese entsprechen den Positionierungen der Oratoren zu TWs und FWPropositionen relativ zu den Quaestiones – also bspw. zur Festlegung eines bestimmten Maßes von faktischer Korrelation einer bestimmten Proposition mit der TW (epistemische Quaestio) oder aber der Festlegung auf eine bestimmte Art des deontischen Zwanges, der von einer TW auf eine Proposition in einer FW ausgeübt wird (normative Quaestio). Ich schlage an dieser Stelle ein – möglichst einfaches – mehrschrittiges Verfahren der Argumentationsbeschreibung vor, das ich im Folgenden kurz exemplarisch darlegen möchte. Schritt 1 – Quaestiones erfassen Der strittige Sachverhalt bzw. das Thema wird durch Lektüre von einem oder mehreren Texten identifiziert und dann möglichst als Proposition bzw. FrameStruktur dargestellt (siehe Abschnitt 6.3.3 zu FAPs). Anschließend wird die Proposition in einer FW in eines der beiden in Kapitel 4.2.4 vorgeschlagen Schemata für Quaestiones (normativ oder epistemisch) eingeordnet. Abbildung 6.9 zeigt die TWT-Rekonstruktion der zentralen normativen Quaestio (Q1) aus der Neonicotinoid-Debatte. Die Lektüre führt zur Annahme einer Quaestio, die sich in einer ersten Vereinfachung mit ‚Sollten Neonicotinoide verboten werden?‘ paraphrasieren ließe. Die zentrale Proposition lässt sich erschließen, indem man das Modalverb sollen streicht (da es eine deontische Welt-Welt-Relation indiziert) und den Rest des Satzes ausgehend vom Verb als Frame-Struktur darstellt.
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6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
Abbildung 6.9: TWT-Rekonstruktion der normativen Quaestio (Q1) ‚Sollten Neonicotinoide verboten werden?‘.
Schritt 2 – Standpunkte identifizieren Als nächstes wird die Positionierung eines Orators im Quaestio-Schema vermerkt, wofür zunächst vereinfachende Symbole wie +, - o. ä. genutzt werden können. Der Standpunkt kann auch zusätzlich als Aussage paraphrasiert werden. - (kein deontischer Zwang)
Akteure: _________ Debatte
ÄW AGRAR
TW WBEs: Hintergrund-Frames: Regulierung, Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit _________
FW V Autorität
EU
/V Objekt
Konsequenz
Neonicotinoide
Abbildung 6.10: Simple TWT-Rekonstruktion des AGRAR-Standpunktes ‚Neonicotinoide sollten nicht verboten werden.‘ (SP1).
Abbildung 6.10 repräsentiert den von AGRAR vertretenen Standpunkt SP1 bezüglich der normativen Quaestio Q1, der mit der Aussage ‚Neonicotinoide sollten nicht verboten werden.‘ paraphrasiert werden kann. Das Diagramm verdeutlicht die in der Wissenskonstitution realisierte Verstehensleistung einer Rezipientin: Diese versteht den Text so, dass der Orator (AGRAR) sich bezüglich der im Handlungskontext der ÄW strittigen Frage nach einem Neonicotinoid-Verbot – also danach, ob von den Strukturen der TW ein deontischer Zwang auf eine das Verbot
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6 Studiendesign
repräsentierende Proposition in einer FW ausgeht – ablehnend gegenüber diesem deontischen Zwang positioniert. Schritt 3 – Argumente rekonstruieren Durch Lektüre des Texts werden die Gründe für einen Standpunkt identifiziert. Diese können zunächst als Aussagen paraphrasiert werden. Die als Aussagen paraphrasierten Gründe können mit den ebenfalls paraphrasierten Standpunkten nach dem Toulmin-Schema zueinander angeordnet werden, um Schlussregeln zu identifizieren (siehe Kapitel 4.2.2 und 4.2.3)81.
Abbildung 6.11: Klassische Argumentrekonstruktion für den Grund ‚Ein Neonicotinoid-Verbot hätte negative Konsequenzen für die Landwirtschaft‘ (G1) nach dem Toulmin-Schema.
Abbildung 6.11 repräsentiert die ‚klassische‘ Darstellungsweise eines Arguments für den auf die Quaestio Q1 bezogenen Standpunkt SP1 von AGRAR. Der Grund G1 lässt sich mit der Aussage ‚Ein Neonicotinoid-Verbot hätte negative Konsequenzen für die Landwirtschaft‘ paraphrasieren. Durch die Rekonstruktion anhand des Toulmin-Schemas lässt sich eine Schlussregel SR1 erschließen, die mit der Aussage ‚Wenn eine Maßnahme negative Konsequenzen für die Landwirtschaft hat, sollte sie nicht durchgeführt werden‘ paraphrasiert werden kann. Sie stellt eine Spezifizierung des Konsequenz-Topos dar. Diese Art der Argument-Rekonstruktion kann als Heuristik genutzt werden – sie ist jedoch nicht das Ende des Rekonstruktions-Prozesses. Um zu einer TWTBeschreibung des Arguments zu gelangen, wird ausgehend vom Wortlaut die konzeptuelle Struktur der Gründe analysiert und nach (Frame-)Anschlussstellen der Gründe in der Frame-Struktur des strittigen Sachverhalts gesucht. Im Falle von G1
Anleitungen zur aussagenbasierten Rekonstruktion von Argumenten finden sich in der linguistischen Fachliteratur zahlreich. Einführungsdarstellungen bspw. in Dürr & Schlobinski (2021: 238–241), Hannken-Illjes (2018: 115–134) oder Schröter (2021: 17–21).
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6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
besteht der Anknüpfungspunkt an den strittigen Sachverhalt in Form einer Füllung des Slots KONSEQUENZ des Frames NEONICOTINOID-VERBOT (siehe Abbildung 6.12).
Abbildung 6.12: Frame-Struktur der Proposition von G1.
Innerhalb einer aus einem möglichen Wortlaut rekonstruierbaren Weltenarchitektur, könnte diese Proposition bspw. in einer FW in epistemischer Welt-Welt-Relation verortet werden. Abbildung 6.13 repräsentiert die dann rekonstruierbare Weltenarchitektur: Die mögliche Welt, in der Neonicotinoide verboten werden und es als Folge davon zu negativen Konsequenzen für die Landwirtschaft kommt, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine offene FAP-Struktur der TW integriert werden, da sie ein hohes Maß an faktischer Korrelation mit der TW aufweist (was natürlich im Einzelfall möglicherweise näher begründet werden müsste).
Akteure: _________ Debatte
ÄW AGRAR
TW WBEs: Hintergrund-Frames: Regulierung, Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit SR1 _________ FAPs: (offen)
FW V Autorität
EU
/V Objekt
Neonicotinoide
Konsequenz
Negative Konsequenzen f. LWS
epistemische Welt-Welt-Relation
Abbildung 6.13: Mögliche Weltenarchitektur für G1.
Die durch die Rekonstruktion nach dem Toulmin-Schema identifizierte Schlussregel SR1 lässt sich als Blaupause der Weltenarchitektur auffassen (siehe Ausführungen in Kapitel 4.2.4), die aus dem verstehensrelevanten Wissen einer Rezipientin rekonstruiert wird, um dann neue Relationen innerhalb der Weltenarchitektur zu etablieren. Abbildung 6.14 illustriert SR1 als Blaupause für den Aufbau der Weltenarchitektur. Als solche legt SR1 fest, dass auf eine Proposition in einer FW, die eine Maßnahme mit negativen Konsequenzen für die Landwirtschaft repräsentiert,
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6 Studiendesign
Abbildung 6.14: SR1 als Blaupause der Weltenarchitektur.
ein negativer deontischer Zwang relativ zur TW ausgeht, solange in der TW gewisse normative Frames gelten. Da die Proposition von G1 das von SR1 repräsentierte Schema erfüllt, überträgt sich die in SR1 festgelegte deontische Welt-Welt-Relation auf die durch G1 aufgebaute Weltenarchitektur. Daraus resultiert eine erkennbare Positionierung des Orators bezüglich Q1 – also der Standpunkt SP1.
Abbildung 6.15: TWT-Rekonstruktion des aus G1, SR1 und SP1 bestehenden Arguments.
Abbildung 6.15 zeigt die finale TWT-Rekonstruktion des aus G1, SR1 und SP1 bestehenden Arguments in Form eines TWT-Diagrammes. Etwas vereinfacht ausgedrückt, repräsentiert die epistemische Relation von TW und FW den Grund G1, die deontische Relation repräsentiert die Schlussregel SR1 und die Positionierung von AGRAR zur deontischen Relation repräsentiert den Standpunkt SP1. Das so dargestellte Argument entspricht dem in Abbildung 6.11 dargestellten Argument nach dem Toulmin-Schema. Ein Vergleich der beiden in Abbildung 6.11 und 6.15 abgebil-
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
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deten Darstellungsweisen von Argumenten zeigt, dass eine Darstellung nach dem Toulmin-Schema intuitiv verständlicher ist. Allerdings lässt sich dadurch nicht dieselbe explanatorische Tiefe erreichen wie in der TWT-Rekonstruktion. Der Vorteil der TWT-Darstellung von rekonstruierten Argumenten liegt demgegenüber darin, dass hier unmittelbar zu weiteren Schritten übergegangen werden kann, die den prozessualen Aufbau von Argumenten in der Argumentation systematisch in die Darstellungsweise miteinbeziehen. Bspw. lassen sich die argumentativen Sprachhandlungen auf der Ebene der ÄW mit in die Darstellung integrieren. Außerdem lenkt letztere den Blick darauf, wie Hintergrundelemente in das Argument miteingebaut werden. Es scheint deshalb vielversprechend, das Potential beider Darstellungsweisen – TWT-Diagramme und Toulmin-Schema – in den Analysen zu nutzen und sie miteinander zu kombinieren. Schritt 4 – Bauweisen beschreiben Das so rekonstruierte Argument ist dann auf die Art seiner Erzeugung im Textganzen zurückzuführen. Dabei ist bspw. zu fragen, welche Textsegmente an welcher textuellen Position für welche Aspekte des Arguments eine Rolle spielen. Welche Sprachhandlungsstrukturen werden durch die entsprechenden Textsegmente realisiert? Auch die Frage nach dem möglichen bzw. indizierten Vorwissen einer Leserin ist hierbei relevant. Da auch Bilder eine Rolle bei der Konzeptualisierung der TW-Strukturen spielen, können sie ggfs. in die Analyse an dieser Stelle miteinbezogen werden.
6.3.6 Ethos – Begegnungen beschreiben Die Beschreibung der Ethos-Dimension greift in großen Teilen auf die Beschreibung der ÄW zurück. Eine relevante Fragestellung (die der Analysierende als hermeneutische ‚Lektürefrage‘ bei der Lektüre im Kopf hat) ist, wie sich der Orator relativ zu anderen Akteuren der ÄW positioniert, falls solche in der ÄW identifiziert werden können (s. o.). Unter welcher Bedingung und in welcher Rolle werden andere Akteure in die ÄW integriert? Wie positioniert sich der Orator zu den Aussagen anderer ÄW-Akteure? Aber auch Positionierungen zu Akteuren auf der Ebene der TW können eine wichtige Rolle spielen, etwa indem Vertrauen zu- oder abgesprochen wird. Der Orator kann zuletzt selbst als Akteur der TW in Erscheinung treten, dort Handlungen ausführen, Absichten zu erkennen geben, Attribuierungen erhalten usw. Entsprechende Phänomene sind aufgrund des recht deutlich identifizierbaren Repertoires des sprachlichen Selbstbezugs (Pronomen und Verben der ersten Person, Eigennamennennung, konventionalisierte Formen wie der Verfasser) analy-
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tisch gut greifbar und erfordern – gerade im Vergleich zu den übrigen relevanten Ethos-Phänomenen – recht wenig interpretativen Aufwand. Die vielleicht wichtigste Rolle für die Analyse des Ethos spielt allerdings die Analyse der Handlungsstruktur der ÄW (siehe Abschnitt 6.3.2). In ihr nehmen Orator und Leserin funktionale Rollen ein und etablieren diejenige Beziehung zueinander, die für das rhetorische Ethos grundlegend ist. Darüber spielt auch die in Sprachhandlungen ausgedrückte Positionierung des Orators gegenüber der TW eine Rolle für das Ethos. So kann etwa das KRITISIEREN eines bestimmten Sachverhaltes auf einen normativen Bezugsrahmen verweisen, den der Orator in dieser Handlung repräsentiert, was wiederum von einer Rezipientin als Demonstration moralischer Integrität aufgefasst werden kann. Während der Aspekt der sprechaktbezogenen Rolle also zentral ist, können auch andere der in Kapitel 4.3.4 beschriebenen Rollenaspekte als relevant für die Beziehung von Orator und Leserin interpretiert werden. Dient die indizierte Teilhabe an einer Sprachgemeinschaft etwa der Signalisierung von Gemeinsamkeiten von Orator und Leserin oder aber der Zugehörigkeit zu einer Expertengruppe? Auch die Rolle relativ zur Domäne kann für die Konstellation der Akteure innerhalb der ÄW eine zentrale Rolle spielen. Die Indikatoren für Rollenaspekte der Textkommunikation liegen dabei auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems: Die Verwendung linguistischer Varietäten, Ausdrücke von sozialem und individuellem Stil und Sprachhandlungen sind nur die wichtigsten Faktoren, die hier zu nennen sind. Dies gilt, wie Lucius-Hoene & Deppermann (2004: 171) hervorheben, letztlich für jede Art der sprachlichen Positionierung. Die Identifizierung relevanter sprachlicher Phänomene in Bezug auf das Ethos hängt deshalb in großem Maße von der qualitativ-hermeneutischen Tätigkeit des Analysierenden in einem induktiven Verfahren ab. Hinzuweisen ist hier insbesondere auch auf die Rolle der Textgestaltung für die Ethos-Dimension des rhetorischen Handelns. Oratoren können hier bspw. ihr kommunikatives Können unter Beweis stellen. Sie können durch die Textgestaltung Teilhabemöglichkeiten an Handlungsbereichen signalisieren oder wohlwollend gegenüber der Leserin in Erscheinung treten, wenn etwa Informationen mit viel gestalterischem Aufwand für die Leserin aufbereitet werden usw. Die beobachtbaren Selbst- und Fremdkonzeptualisierungen, Positionierungen und Rollenindizierungen sind abschließend auf die dadurch realisierte Beziehung zwischen Orator und Leserin zurückbeziehen. Dabei ist zu fragen, in welches Verhältnis die beiden somit zueinander gerückt werden, und wie sich dies auf die Art der Wissenskonstitution auswirkt. Insbesondere ist zu fragen, ob sich die beschriebenen Phänomene auf die Dimensionen des Ethos in aristotelischer Tradition rückbeziehen lassen und welches Gesamtbild sich daraus ergibt. Gerade letztes stellt u. U. eine Interpretationsleistung dar, die in besonderem Maße durch explizite Auslegung plausibilisiert werden muss.
6.3 Die methodische Basis: Wie man eine rhetorische TWT-Analyse macht
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6.3.7 Pathos – Emotive Potentiale beschreiben Die analytische Beschreibung des emotiven Potentials eines Texts bzw. Textsegments stellt – ebenso wie im Falle von Logos und Ethos – in hohem Maße eine Interpretationsleistung des Analysierenden dar. Zwar findet sich bei Ortner (2014: 189–196) eine lange Auflistung emotiver sprachlicher Mittel, an der man sich grundsätzlich orientieren kann. Allerdings ist deren tatsächlicher Beitrag zum emotiven Potential eines Texts oder Textsegments in jedem Fall stark kontextabhängig. Relevant ist es hierbei zu bedenken, ob und inwiefern ein identifizierbares emotives sprachliches Mittel im vorliegenden Text als Anzeichen von Emotionsausdruck, darstellung, Emotionalisierung oder Perspektivierung gedeutet werden kann, oder ob andere Kontextfaktoren das Vorkommen dieses Phänomens u. U. plausibler erklären. So ist nach Ortner (2014) etwa die Satzlänge potentiell ein emotives Mittel – ohne Zweifel jedoch ist der tatsächliche Beitrag der Satzlänge zum emotiven Potential abhängig von Faktoren wie Textsorte, Sozialstil o. ä. Ein gerade für Emotionalisierungen relevantes Phänomen betrifft die emotive Perspektivierung. Die Aufgabe einer TWT-Analyse besteht hier darin, die in Kapitel 4.4.3 aufgeführten Aspekte (Nähe/Distanz, Intensität, Dauer, Agentivität) innerhalb der konzeptuellen Strukturen der Weltenarchitektur zu beschreiben. Aussichtsreich ist hier vor allem eine frame-basierte Analyse der Darstellung bestimmter Ereignisse und Sachverhalte auf der TW-Ebene. Hier können bestimmte im qualitativ-hermeneutischen Verfahren als relevant erachtete Lexeme als Ausgangspunkt dienen, insbesondere solche, die sich auf Konzeptualisierungen von VERURSACHUNGEN beziehen oder emotive Konnotationen vermuten lassen. Dabei ist es wichtig, die Perspektivierungsaspekte Nähe, Intensität, Dauer und Agentivität innerhalb der aufgebauten konzeptuellen Strukturen im Zusammenhang der TW zu betrachten und analytisch nicht auf der Ebene lexikalischer Wortbedeutungen zu verbleiben (vgl. dazu Simon 2020: 134–136). Dazu kann auf die Analyse von WBEs, Hintergrund-Frames und FAPs – gerade auch im argumentativen Zusammenhang – zurückgegriffen werden. Zu diesen perspektivierenden TW-Strukturen tragen u. U. nicht nur sprachliche Ausdrücke, sondern auch Bilder bei. Neben TW-Strukturen können aber auch ÄW-Strukturen sowie Relationen innerhalb der Weltenarchitektur anhand der Perspektivierungsaspekte beschrieben werden, etwa die Nähe/Distanz eines emotiv perspektivierten Sachverhalts in einer FW zu den Akteuren der ÄW o. ä. Die somit identifizierten emotiven sprachlichen Mittel und resultierenden Verstehensleistungen können dann abschließend zu ableitbaren Hypothesen über die Rolle der Emotionalisierung in einer Debatte führen.
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6 Studiendesign
6.3.8 Fazit Den Aufbau von Weltenarchitekturen zu beschreiben und darin die Plausibilitätsstruktur des konstituierten Wissens auszumachen, ist wie gezeigt ein komplexes analytisches Verfahren, das einige weitreichende Interpretationsleistungen der Analysierenden erfordert. Diese lassen sich am besten in einem qualitativhermeneutischen Analyseverfahren am Datenmaterial entwickeln. In einem letzten solchen Interpretationsschritt werden am Ende die Befunde ausgehend von den drei Wirkdimensionen zusammengestellt und in ihrer Ganzheit aufeinander bezogen. Letztlich ist stets zu beachten, dass es bei der rhetorischen TWT-Analyse nicht darum geht, alles am Aufbau der Weltenarchitektur zu beschreiben, sondern das rhetorisch Relevante. Der den Analyseprozess leitende Blick des Analysierenden auf den Untersuchungsgegenstand muss dabei von den Wirkdimensionen Ethos, Logos und Pathos ausgehen und sich fragen: Was an dem, was ich lese, trägt möglicherweise wie zum Aufbau der Plausibilitätsstrukturen bei? Dazu ist es notwendig, eine Vorstellung von dem zu haben, wonach man sucht, und sich gleichsam bewusst zu sein, dass man immer auch auf Unerwartetes stoßen kann. Ein induktives Vorgehen ist somit einem deduktiven Verfahren vorzuziehen. Der hermeneutische Leseprozess wird dabei von einer Menge von Annahmen geleitet, die zu großen Teilen aus der linguistischen Fachliteratur entnommen werden können und auf die ich hier an den entsprechenden Stellen verwiesen habe. Letztlich jedoch verweisen alle von mir hier dargelegten Phänomene auf potentiell offene Analysekategorien. Insbesondere haben die in diesem Abschnitt angestellten methodischen Überlegungen gezeigt, dass ein linguistischer Zugriff über ein klar begrenzbares und bestimmbares Set an sprachlichen Formen und Phänomenen nicht möglich ist. Die rhetorische TWT-Analyse läuft somit Gefahr, sich in einer heterogenen und unübersichtlichen Fülle von sehr verschiedenartig gelagerten Einzelbefunden zu verlaufen. So mahnt etwa Holly (2015) an: Auf jeden Fall ist zu beobachten, dass der analytische Reichtum möglicher Analysekategorien zugleich mit einer unhandlichen Unübersichtlichkeit und unstrukturierter Vielfalt bezahlt wird, der – ähnlich wie in der Stilistik – einerseits kunstvolle Interpretationen ermöglicht, andererseits zu wenig aussagekräftigen Listen von kaum zu gewichtenden und integrierenden Befunden führen kann. (Holly 2015: 92)
Der Ausweg aus diesem Dilemma, den ich für rhetorische TWT-Analysen sehe, besteht in einer Bündelung aller relationalen Phänomene in Bezug auf die drei Zielkategorien Ethos, Logos und Pathos sowie die einheitliche und integrative Darstellungsweise im Rahmen des TWT-Modells.
6.4 Spezifizierungen der methodischen Basics für die vorliegende Arbeit
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Rhetorische TWT-Analysen sind in vielerlei Hinsicht fragile Konstrukte auf wackeligen Beinen. Die Antwort auf die Frage, ob sie es wert sind durchgeführt zu werden, hängt zweifelsohne davon ab, was man sich von einer solchen Analyse erwartet. Will man wissen, was eine Rezipientin tatsächlich versteht, liefern sie u. U. unzulängliche Evidenz. Will man jedoch wissen, wie eine Rezipientin unter bestimmten Voraussetzungen etwas mehr oder weniger Bestimmtes verstehen kann, liefern sie eine umfassende und doch übersichtliche Beschreibung und damit wichtige Einblicke in grundsätzliche wie spezifische Formen der Textkommunikation. Die TWT-Analyse verlässt sich auf die Umsicht des Analysierenden und die große Bandbreite bestehender linguistischer Verfahren und Erkenntnisse. Der in diesem Abschnitt vorgeschlagene Entwurf einer Methodik ist dezidiert offen für zukünftige Erweiterungen, Modifizierungen und Widersprüche.
6.4 Spezifizierungen der methodischen Basics für die vorliegende Arbeit Das im vorigen Abschnitt dargestellte methodische Vorgehen rhetorischer TWTAnalysen stellt das grundlegende Analyseverfahren der vorliegenden Arbeit dar. Die Befunde auf der Ebene der Einzeltexte ergeben dabei in der Gesamtschau bereits eine Beschreibung der TRS. Im nun folgenden letzten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich darauf eingehen, welche Spezifizierungen dieser Methode im vorliegenden konkreten Fall erfolgt sind und welche methodologischen Aspekte dabei zu beachten sind.
6.4.1 Quantifizierungen, digitale Werkzeuge und Darstellungsweisen Bevor konkret auf die Spezifizierung einzelner Analyseebenen eingegangen wird, sollen einige Bemerkungen zur Rolle von Quantifizierungen, dem Einsatz digitaler Analysewerkezeuge, den Darstellungsweisen und den Zielen der TRS-Analyse erfolgen. Quantifizierungen Es liegt nahe, für transtextuelle Analysen Quantifizierungen vorzunehmen, insbesondere wenn Verteilungen (wie Muster oder Sequenzierungen) potentiell eine Rolle spielen. Allerdings muss dabei genau festgelegt werden, was man zählen möchte, wenn man Strategien vergleicht. Eine besondere Herausforderung für quantifizierende Verfahren ergibt sich daraus, dass sich innerhalb der gesuchten relationalen
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Form-Wirkungs-Phänomene die Zielkategorien der Analyse – die rhetorischen Wirkdimensionen – erst in einer mehrschrittigen Interpretationsleistung aus dem Wortlaut ergeben. Es ist daher u. U. schwierig von Verteilungen auf der Ebene des Wortlauts auf Verhältnisse auf der Ebene der Wirkdimensionen zu schließen – zumal es auch keine Ansätze gibt, die Wirkdimensionen überhaupt quantifizierbar zu machen (✶20 Logos, ✶50 Ethos, ✶30 Pathos o. ä.). Sprachliche Mittel sind überdies polyfunktional in ihrem Verhältnis zu den Wirkdimensionen. D. h. dasselbe Textsegment kann mit mehreren Kategorien erfasst und gezählt werden. Ein größeres Problem für eine Quantifizierung ausgehend von den Zielkategorien ist zudem die für quantitative Verfahren unerlässliche Segmentierung des Texts. So sind bspw. manche Phänomene satzübergreifend verteilt oder nur sehr schwierig und aufwendig zu quantifizieren. Grundsätzlich sind die möglichen Phänomene pro Zielkategorie zudem heterogen über das Sprachsystem verstreut, was Verteilungen wiederum schwer interpretierbar macht (was heißt es bspw. für das emotive Potential der TRS, wenn sich in Korpus A 37 Optativsätze finden und in Korpus B 12 Emotionsvokabeln?). Zudem stellen sich viele konkrete sprachliche Phänomene erst in der qualitativ-hermeneutischen Analyse als relevant für eine Zielkategorie heraus. Die konkrete Funktionalität eines konkreten sprachlichen Zeichens im Hinblick auf die Wirkdimensionen ist außerdem sehr stark kontextabhängig. Eine weitere grundsätzliche Frage betrifft die Rolle, die quantitative Verhältnisse grundsätzlich für rhetorische Strategien spielen. Zwar kennt die Rhetorik bspw. Wiederholungsfiguren, weiß aber ebenfalls um die Rolle des wohlplatzierten Einzelfalles. Für die Analyse von TRS bleibt das qualitativ-hermeneutische Verfahren somit unerlässlich und das grundsätzliche Verfahren. Da die Analyse von TRS quantitative Verhältnisse in besonderer Form miterfasst, sind quantifizierende Verfahren aber grundsätzlich mitzubedenken. Der Nutzen konkreter Verfahren orientiert sich dabei allerdings stark an der konkreten Forschungsfrage und dem Datenmaterial. Für eine Beschreibung ganzer TRS können quantifizierende Verfahren gute Hilfeleistungen sein, sie erfordern allerdings ein sehr hohes Maß an Vor- und Umsicht in ihrer Interpretation. Insbesondere ist zu bedenken, dass die TRS-Analyse sich nicht in der Erhebung von Verteilungen erschöpft und TRS keine Zahlenverhältnisse sind, wenngleich diese für sie charakteristisch sein können. (Es ist also ebenso gut möglich, eine TRS zu beschreiben, ohne dabei Zahlenverhältnisse zu erheben, wie Zahlenverhältnisse im Korpus zu erheben, ohne dabei eine TRS zu beschreiben.) Daher liegt der Hauptfokus der vorliegenden Methodik auf der beschreibenden und interpretierenden Gegenüberstellung von Befunden auf der Ebene einzelner Texte und Textsegmente. Da das Korpus im vorliegenden Fall aus korpuslinguistischer Sicht klein ist, ist dies auch leistbar.
6.4 Spezifizierungen der methodischen Basics für die vorliegende Arbeit
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Digitale Werkzeuge und Annotation Nicht nur in Bezug auf Quantifizierungen spielen digitale Analysewerkzeuge für linguistische Analysen eine zunehmend wichtige Rolle. Im vorliegenden Fall wurde v. a. die Analysesoftware MAXQDA genutzt. Diese erlaubt vor allem Annotationen sowie stärker korpuslinguistische Methoden wie Wortlisten, KWIC-Anzeigen o. ä., die zur semi-automatischen Annotation genutzt werden können. Texte können in MAXQDA im TXT, Word- oder PDF-Format hochgeladen werden. Allerdings funktionieren gerade die quantitativen Tools der Software nur im Fall von TXT- und Word-Dateien problemlos. Die Frage des genutzten Dateiformats hängt somit auch eng mit der angestrebten Nutzungsweise der Software zusammen. Um das Potential der Software in dieser Hinsicht auszunutzen, wurde das Word-Format genutzt. Die Texte mussten also zunächst aus dem PDF-Format in Word-Format übertragen werden. Auf diese Weise gehen jedoch die meisten Aspekte der Textgestaltung verloren. Eine Analyse der entsprechenden multimodalen Phänomene fand somit ‚außerhalb‘ der Software statt. MAXQDA unterstützt zudem keine im Vorfeld annotierten Korpora, d. h. es konnte bspw. kein Part of speech-Tagging durchgeführt und für die semi-automatisierte Annotation genutzt werden. Die Software wurde vorrangig genutzt, um gezielt auf die verbalen Bestandteile des Korpus zuzugreifen, einzelne Textstellen gerade in der (transtextuellen) Gesamtschau gezielt zugänglich zu machen und den qualitativ-hermeneutischen Leseprozess somit auf einer transtextuellen Ebene zu ermöglichen. Die manuelle Annotation einzelner Phänomene war ebenfalls Bestandteil des analytischen Vorgehens innerhalb der Software. Bei der manuellen Annotation werden Textsegmente im Untersuchungskorpus anhand meist taxonomischer oder ontologischer Kategorienschemata ausgezeichnet, die entweder im Vorfeld der Textarbeit festgelegt wurden (deduktives Annotieren) oder aber im Verlauf der Analyse prozessual herausgebildet werden (induktives Annotieren) (vgl. Bender 2020: 7–8). Während das Ziel der Annotation im ersten Fall vor allem eine quantitative Auszählung ist, stellt im zweiten Fall bereits die Gewinnung der Kategorien ein Forschungsziel dar. Eine wichtige Aufgabe des (vor allem auf Auszählung zielenden) Annotierens ist die Formulierung möglichst klarer und trennscharfer Annotations-Guidelines, was insbesondere für pragmatische Fragestellungen, die durch eine Vielzahl inferentieller Bedeutungskomponenten geprägt sind, eine Herausforderung darstellt (vgl. Bender 2020: 13–14). Herausfordernd ist gerade in solchen Fällen das Problem der möglichst klaren Segmentierung von Textstellen (vgl. Bender & Müller 2020: 16). Für Römer (2017: 129) stellt die manuelle Annotation lediglich eine „elektronische Umsetzung traditionellen philologischen Arbeitens“ dar, die in der Analyse vor allem eine Ordnungs- und Überblicksfunktion erfüllt. Allerdings ist m. E. nicht zu unterschätzen, dass sich der Analysierende bei der Wahl des Werkzeugs einem technikdeterministischen ‚Zwang‘ aussetzt, der im Fall des Annotierens
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darin besteht, dass man sich auf die Suche nach linear zusammenhängenden Textsegmenten begibt, die zunächst nur durch den Abstand zweier orthographischer Zeichen definiert sind. Aus der Suche nach zu annotierendem Datenmaterial ergibt sich zudem eine Ungleichbehandlung von Nicht-Expliziertem oder gar Abwesendem (bspw. Implikaturen o. ä.). Die Nutzung digitaler Tools, insbesondere für die Annotation, erweist sich daher für die Analyse von TRS für bestimmte Aspekte und Phänomene als ausgesprochen nützlich, für andere jedoch nicht. Darstellungsweisen und analytische Ziele Das Ziel der TRS-Beschreibung stellen, wie oben bereits dargelegt, immer Beschreibungen von Form-Wirkungs-Relationen dar. Als präferierte Darstellungsweise solcher Relationen wurde von mir die TWT-Rekonstruktion vorgeschlagen. Die Darstellungsweise der Befunde bleibt in vielen Fällen an konkrete Beispielanalysen geknüpft, die mit dem Hinweis bzw. der Angabe weiterer vergleichbarer Textsegmente verbunden ist, woraus sich die Plausibilität der Ergebnisse schöpft. Wo es möglich ist, können neben Textsegmenten und TWT-Diagrammen auch Abstrahierungen in Form von Listen und Tabellen als Darstellungsweisen miteingebunden werden. TRS-Beschreibungen zielen nicht ultimativ auf Abstraktionen, sondern beziehen sich immer auf den konkreten Sprachgebrauch. Der Sinn vorgenommener Abstraktionen besteht vorrangig darin, die komplexe TRS überhaupt darstellen und beschreiben zu können. Auch die Identifizierung von abstrahierbaren Phänomenen muss somit immer wieder in den Handlungskontext der TRS rückverortet werden. Dabei ist es von großer Wichtigkeit, die Interrelation der identifizierbaren Phänomene innerhalb der Gesamtstrategie zu beschreiben: Wie wirken Ethos, Logos und Pathos bei der Wissenskonstitution zusammen? Dieses verwobene Gesamtkonstrukt der TRS muss dann auf die Debatte selbst rückbezogen werden. Erst dann kann die Beschreibung der relevanten Komponenten einer TRS als Antwort auf die Forschungsfrage angesehen werden.
6.4.2 Spezifizierungen des Basis-Schemas Abschließend sollen nun noch einige Spezifizierungen der oben ausgeführten Basis-Methode beschrieben werden, die für die vorliegende Arbeit vorgenommen wurden.
6.4 Spezifizierungen der methodischen Basics für die vorliegende Arbeit
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Debatten- und themenspezifische Spezifizierung: Relevante Domänen Da es quasi unmöglich ist, ein Korpus auf jegliche Form des domänentypischen Sprachgebrauchs zu testen (auch da es keine abschließende Liste von Domänen gibt), ist hier eine Vorauswahl erforderlich. Im vorliegenden Fall fiel die Entscheidung auf die Domänen Wissenschaft und Politik. Der Grund für diese Auswahl ist, dass die agonal-diskursive Wissenskonstitution innerhalb der Debatte sich zentral um Fragen der Faktizität wissenschaftlichen Wissens und des gesellschaftlichpolitischen Handelns dreht. Der für die Domäne Wissenschaft typische Sprachgebrauch ist in der Literatur gut beschrieben: Es handelt sich dabei vor allem um die Verwendung fachsprachlicher Begriffe (Kretzenbacher 1991; Weinrich 1989), korpuslinguistisch bestimmbare sprachliche Muster wie bestimmte Nominalgruppen (Brommer 2018), wissenschaftliche Textprozeduren (Czicza & Hennig 2011; Steinhoff 2007; 2013) sowie Mittel des academic meta discourse (Hyland 1998). Für die Domäne Politik stellt sich die Identifizierung domänentypischer Sprachverwendung komplizierter dar. So bemerkt etwa Spieß (2011: 57), dass sich politisches Sprachhandeln „in Institutionen, in öffentlich-politischen Meinungsbildungsprozessen, in politischen Prozessen der Akzeptanzschaffung und Zustimmungswerbung und in jeglichen gesellschaftlichen Bereichen, die politischer Gestaltung bedürfen“ findet. Aus der Ubiquität politischen Sprechens folgt eine bestimmte Problematik für das Identifizieren domänentypischer Sprachverwendung. Wie Holly (2017: 7) bemerkt, können politische Sprachhandlungsmuster weder an der professionellen Identität der Akteure (als Politiker) festgemacht werden noch an ihrer Verortung „in einem Kommunikationsbereich, den wir vorab als politisch identifiziert haben“. Entscheidend sei vielmehr, ob die Teilnehmer Träger kollektiv bindender Entscheidungen repräsentierten (vgl. Holly 2017: 6–7). Sprachhandlungsmuster würden dann zu politischen Mustern, wenn sie in politische Entscheidungszusammenhänge und Machtfragen eingebettet seien (vgl. ebd.: 13; vgl. dazu auch Roth 2004: 29, J. Klein 2014b; Spieß 2011: 174). Dennoch lassen sich aus der politolinguistischen Forschung einige Sprachverwendungen ableiten, die als spezifisch für diese Domäne betrachtet werden können und zumindest eine Art ‚Gegenpol‘ zur wissenschaftlichen Sprache darstellen. Auf der lexikalischen Ebene betrifft zum einen Instituts- und Ressortvokabular (vgl. Girnth 2015: 58–59) sowie insbesondere ideologisches Vokabular in Form sogenannter Schlag-, Fahnen- und Stigmawörter (vgl. Girnth 2015: 65; Wengeler 2017: 26–29). Charakteristisch ist hier insbesondere, der diskursive Streit bzw. semantische Kampf um Wörter und Benennungen. In pragmatischer Hinsicht diskutiert Spieß (2011: 169–172) einige typische Sprachhandlungsmuster der Domäne Politik, unter denen neben positiver Selbstdarstellung und Gegnerherabwürdigung insbesondere die poskative Funktion des Forderns hervorsticht. Als domänentypisch
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können solche Handlungsmuster betrachtet werden, wenn sie sich auf politische Entscheidungen beziehen. Es zeigt sich hierin eine deutliche Verknüpfung der Domäne zu Handlungsstruktur und kommunikativem Zweck. Laut J. Klein (2014b: 310) werden politische Handlungen und Handlungsaufforderungen zudem argumentativ durch Informationen über Daten (bspw. zur Situation) und deren Bewertungen, Bekenntnissen zu Werten und Normen, Angaben von Zielen sowie dem Hinweis auf Konsequenzen gestützt. Daraus resultiert ein „universelles topisches Muster politischer Argumentation“ (J. Klein 2014b: 313), bestehend aus Daten-, Motivations-, Prinzipien, Final- und Konsequenz-Topos (vgl. J. Klein 2007: 211; 2014b: 311). Die genannten Aspekte domänenspezifischen Sprachgebrauchs können demnach in der qualitativ-hermeneutischen Analyse der TRS als Hinweise auf die Domänenbezüge der Kontextmodelle bzw. ÄWs interpretiert werden. Erkenntnisspezifische Spezifizierung: Der Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS Da die vorliegende Arbeit sich durch ein spezifisches Interesse am wissenschaftlichen Wissen und seiner Instrumentalisierung in Debatten auszeichnet, wurde die Konzeptualisierung von wissenschaftlicher Erkenntnis als ein besonders relevanter Untersuchungsgegenstand erachtet. Dementsprechend wurde bei der Analyse der relevanten Hintergrund-Frames ein besonderer Schwerpunkt darauf gelegt, wie die Oratoren den Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS in spezifischer Form relativ zu den übrigen Strategieaspekten konzeptualisieren. Dahinter steht auch der in der psychologischen Wissenschaftskommunikationsforschung festgestellte Befund, dass der Umgang von Rezipientinnen mit Wissensbehauptungen auch von Laientheorien bzw. „epistemischen Überzeugungen“ abhängt, also kognitiven Modellen von Wissenschaft und Forschung (aus linguistischer Perspektive: Frames im verstehensrelevanten Wissen von Rezipientinnen) (Bromme & Kienhues 2014: 68). Transtextuelle Spezifizierung Zusätzlich zu Einzeltextanalysen wurden in einigen Punkten stärker transtextuell ausgelegte Analyseverfahren angewandt, die intratextuelle Phänomene in einen stärker intertextuellen Bezug stellen. Zu diesem Zweck wurde, wo möglich, auf manuelle Annotation zurückgegriffen. In der vorliegenden Analyse betraf das annotationsbasierte Vorgehen die folgenden Aspekte: – Sprachhandlungsstruktur: Die Auszeichnung von Textsegmenten erfolgte hierbei zunächst auf der Mikroebene der Handlungsstruktur. Die Annotation von Sprachhandlungen auf der Mikroebene zielt zunächst darauf ab, einen Überblick über das Inventar von Sprachhandlungen zu gewinnen, auf denen die Sprachhandlungsstruktur der Strategien einzeltextübergreifend basiert. Interes-
6.4 Spezifizierungen der methodischen Basics für die vorliegende Arbeit
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–
–
–
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sant scheint hierbei dann die Verteilung: Sind bspw. einige Handlungen typisch für einen der Oratoren? Eine Herausforderung der pragmatischen Annotation ist die „Interpretationstiefe im Kategorisierungsprozess“ (Bender & Müller 2020: 21), die sich aus der bereits angesprochenen Problematik der möglichen Handlungsbeschreibungen sowie insbesondere dem Problem der indirekten Sprechakte ergibt. Dabei wird auch hier die Regel verfolgt, „dass immer die flachst mögliche textpragmatische Interpretation zu wählen ist“ (ebd.). Im vorliegenden Fall habe ich mich an der Methodik orientiert, die Moreno & Swales (2018) für die Annotation von moves vorschlagen. Die annotationsbasierten Beobachtungen auf der Mikroebene lassen sich dann zur Analyse der Meso- und Makroebene der Handlungsstruktur nutzen. Domänenspezifischer Sprachgebrauch: Einige Aspekte des domänenspezifischen Sprachgebrauchs ließen sich annotationsbasiert erheben. Es waren dies: fachsprachliche Lexeme, wissenschaftliche Textprozeduren nach Steinhoff (2007) und Typen des academic meta discourse nach Hyland (1998) sowie Aspekte des universellen topischen Musters politischer Argumentation nach J. Klein (2014b). Da die jeweiligen Hinweise auf Domänen allerdings auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems liegen, wurde die Analyse hier im Hinblick auf die induktive Kategoriengewinnung und die Organisation der Korpusbelege durchgeführt, nicht jedoch mit dem Ziel quantitativ-distributioneller Auswertungen. Frame-Elemente von relevanten Hintergrund-Frames: Nach der Identifizierung der relevanten Hintergrund-Frames, können die Konzeptualisierungen einiger dieser Hintergrund-Frames annotationsbasiert erfasst werden. Hierbei ist eine grundlegend induktive Annotationspraxis vonnöten. Ziel der Analyse ist eine Beschreibung des Frames, die auch verteilungsbasierte Hypothesen über spezifische Konzeptualisierungsweisen bei den Oratoren erlauben. Emotionsvokabular und induktiv erhobene relevante Lexeme: In Bezug auf das emotive Potential können bestimmte Lexeme in der qualitativen Analyse als relevant erachtet werden und dann deren Verteilungen im Korpus anhand digitaler Methoden beobachtet werden. Wichtig ist aber, dass das emotive Potential jeweils stark kontextabhängig ist, so dass eine Orator-bezogene Verteilung von relevanten Lexemen zwar wichtige Hinweise liefern kann, aber für sich noch keine grundsätzlichen Aussagen über das emotive Potential der jeweiligen TRS zulässt. TW-Integrationen zentraler epistemischer Propositionen: Dieser Punkt wird in Kapitel 7 ausführlich dargestellt. Aus methodischer Sicht ist es wichtig anzumerken, dass eine Annotation der betreffenden Textsegmente eine bereits erfolgte Analyse des Arguments und damit einhergehend eine Identifizierung zentraler epistemischer Propositionen voraussetzt (siehe Kapitel 7.1). Da Pro-
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positionen als konzeptuelle Einheiten nicht selbst annotiert werden können, bezog sich die Annotation auf die entsprechenden Prädikatsausdrücke, also Verbal- und Nominalphrasen, wobei bei letztgenannten nicht nur das Nomen, sondern auch entsprechende Adjektivattribute wie bspw. hochbienengefährlich als Indikatoren einer zentralen epistemischen Proposition angesehen werden können. Eine weitere Form der transtextuellen Analyse besteht in der Rekonstruktion eines Super-Arguments: Für die transtextuelle Argument-Rekonstruktion wurde zunächst in Einzeltextanalysen jeweils das textuelle Argument rekonstruiert. Als Darstellungsweise wurde hier ein Baumdiagramm gewählt, da es die größte Übersichtlichkeit bietet. Für jede ‚Kante‘ dieses Baumdiagramms wurde zudem ein TWT-Diagramm inklusive Textsegment und Interpretation erstellt. Anschließend wurden die einzelnen Baumdiagramme der Texte eines Orators miteinander verglichen und zu einem transtextuellen Super-Argument zusammengefügt (vgl. dazu auch J. Klein 2014b: 314–315). Ausgehend von diesem konnten dann in einzelnen Fällen Textsegmente, die zuvor nicht als Argument-bauend erachtet wurden, in die Argumentationsanalyse integriert werden. Innerhalb des Super-Argumentss wurden ebenfalls die TWTDiagramme der Texte pro ‚Kante‘ miteinander verglichen. Die in dieser Form erfolgten Spezifizierungen ergänzen die Gegenüberstellung der Befunde auf der Einzeltextebene und erlauben es somit, die transtextuellen rhetorischen Strategien der Oratoren AGRAR und ÖKO in einem vorrangig qualitativ-hermeneutischen Verfahren nach dem rhetorischen TWT-Modell zu beschreiben.
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen 7.1 TW-Integration, Wissenskonstitution und TRS Der besondere Ansatz der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Wissenskonstitution im Sprachgebrauch anhand des hier vertretenen TWT-Modells zu beschreiben und auf transtextuelle rhetorische Strategien (TRS) zu beziehen. Als ein erster wichtiger Befund der unter dieser Perspektive durchgeführten Analyse kann die zentrale Rolle der Textwelt-Integration (TW-Integration) zentraler epistemischer Propositionen für die Wissenskonstitution betrachtet werden, die sich dabei zeigt. Ich möchte in diesem Kapitel dafür plädieren, dass eine Rekonstruktion der TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen einen wesentlichen Einblick in die geleistete Wissenskonstitution im Rahmen der TRS der Debattenakteure ÖKO und AGRAR gibt.
7.1.1 TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen Unter TW-Integration verstehe ich die Art und Weise, wie eine Proposition bei ihrer Einführung in den Common Ground (CG) innerhalb der Weltenarchitektur eingebettet wird. Grundsätzlich können Propositionen auf verschiedene Weisen in die Weltenarchitektur integriert werden. Die wichtigsten sind: – als function-advancing proposition (FAP) der Textwelt (TW), – als FAP eines Fokusraums (FR), – als FAP einer Fokuswelt (FW) sowie – als Hintergrundelement (WBE) von TW, FR oder FW. Abbildung 7.1 illustriert die verschiedenen Formen der TW-Integration einer Proposition (P) als TWT-Diagramm. Ich werde im nächsten Abschnitt anhand einiger Beispiele genauer auf die Unterschiede verschiedener TW-Integrationen eingehen. Ich gehe davon aus, dass die Art und Weise, wie Propositionen in der Weltenarchitektur verankert sind, Auswirkungen auf ihre Gültigkeit innerhalb der Textwelt haben. Ich gehe im vorliegenden Fall außerdem davon aus, dass die TW einem lokalen Wirklichkeitsentwurf entspricht. Propositionen, die innerhalb der gesamten TW gelten, können somit als faktisch angesehen werden. Während eine als FAP oder Hintergrundelement in die TW integrierte Proposition dort faktische Geltung beansprucht, ist die Geltung von in Fokusdomänen (FRs und FWs) ausgelagerten Propositionen u. U. eingeschränkt und nur mittelbar für eine Leserin beurteilbar. Wenn eine Behauptung bspw. durch ein direktes oder indirektes Zitat vorgebracht https://doi.org/10.1515/9783111077369-007
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7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
TW WBEs & Hintergrund-Frames: P ____________________________ FAPs: P
FW ______________ FAPs: P
FR ________________ FAPs: P
Abbildung 7.1: Unterschiedliche Formen von TW-Integrationen.
wird, bedeutet dies aus Sicht der TWT, dass die entsprechende Proposition im Rahmen einer FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation zur TW in die Weltenarchitektur integriert wird. Die Gültigkeit einer so integrierten Proposition hängt dann entsprechend davon ab, wie die Glaubwürdigkeit des jeweiligen Lokutors vom Orator inszeniert und letztlich von der Rezipientin eingeschätzt wird. Propositionen, die in Fokusdomänen (FRs und FWs) integriert sind, können in die TW re-integriert werden, um dort faktische Geltung zu beanspruchen (gestrichelte Pfeile in Abbildung 7.1). Auch hierfür werde ich in den nachfolgenden Abschnitten einige Beispiele aufzeigen. Da die vorliegende Untersuchung die Wissenskonstitution als Gegenstand hat, interessiert mich vor diesem Hintergrund insbesondere die TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen. Darunter verstehe ich diejenigen Propositionen, die das jeweilige epistemische Argument der TRS im Kontext der Neonicotinoid-Debatte konstituieren. Es handelt sich dabei um Standpunkte und Gründe, die Wahrheitsgeltungsansprüche beanspruchen, also epistemische Argumentationen realisieren. Im Kontext der Debatte um ein Neonicotinoid-Verbot betrifft dies in erster Linie Argumente, die auf die folgenden Quaestiones82 bezogen sind: – Gibt es ein Bienensterben? – Sind Neonicotinoide bzw. Pestizide im Allgemeinen eine wichtige Ursache des Bienensterbens? – Verursacht der Einsatz von Neonicotinoiden bzw. Pestiziden im Allgemeinen negative Konsequenzen für Bienen und die Umwelt?
Die Quaestiones sind hier der Verständlichkeit halber als natürlichsprachliche Aussagen paraphrasiert.
7.1 TW-Integration, Wissenskonstitution und TRS
–
189
Verursacht ein Verbot von Neonicotinoiden bzw. Pestiziden im Allgemeinen negative Konsequenzen für die Ertrags- und Ernährungssicherheit?
Die TW-Integration derjenigen Propositionen, die Standpunkte und Gründe im Bezug zu diesen Quaestiones darstellen, kann als ein wichtiger Aspekt des Argument-Baus der jeweiligen TRS betrachtet werden.
7.1.2 Mittelbare und unmittelbare Formen der TW-Integration Ganz allgemein lässt sich zwischen mittelbaren und unmittelbaren Formen der TW-Integration unterscheiden. Um diesen Unterschied aufzuzeigen, werde ich im nachfolgenden Abschnitt die TW-Integration anhand von Verbalphrasen (VPs) untersuchen, die das zentrale Frame-Element (FE) ERKENNEN/ERKENNTNIS des komplexen Frames WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS83 evozieren. Tabelle 7.1 zeigt die 15 häufigsten Verben, die solche VPs im Korpus ausmachen. Solche VPs sind für die Konstitution wissenschaftlichen Wissens besonders relevant, da sie FAPs realisieren, bei denen ein Zusammenhang von Propositionen und WISSENSCHAFTLICHEN PRAKTIKEN und/oder AKTEUREN hergestellt wird. Ein prominentes Beispiel dafür stellen VPs mit dem Verb zeigen dar, wie etwa in Textsegment (01). (01) Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Neonicotinoide, wie das Clothianidin dramatischere Auswirkungen haben, als bisher angenommen: [...] (BUND 2015a)
Textsegment (01) stellt ein Beispiel für die im Korpus immer wieder auftretende Konstruktion ‚[wiss. Praktik] zeigt [Proposition (P)]‘ dar. Als FAP lässt sich (01) zunächst wie in Abbildung 7.2 dargestellt rekonstruieren. Die Abbildung verdeutlicht, wie in Fällen wie (01) durch das Verb zeigen84 eine Verbindung des FEs WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK mit einer zentralen epistemischen Proposition hergestellt wird, was letztlich zur Konstitution wissenschaftlichen Wissens im CG führt. Um die Frage zu beantworten, wie in der Konstruktion ‚[wiss. Praktik] zeigt [P]‘ eine zentrale epistemische Proposition in die TW integriert wird, muss man jedoch weitere Überlegungen zur Semantik von zeigen anstellen. Ich möchte an dieser Stelle eine Interpretation vorschlagen, die von zwei Grundannahmen ausgeht: Zum einen ist dies die Annahme, dass mentale Repräsentationen wie insbesondere die hier interessierenden Welten grundsätzlich räumlich aufgebaut sind (vgl. Werth Für eine Darstellung des komplexen Frames WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS siehe Abbildung 9.6 in Kapitel 9.1.3. Genauer gesagt: Durch die mit dem Verb zeigen einhergehende Perspektivierung des evozierten Frames ERKENNTNIS.
190
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
zeigen (FE ERKENNEN) WISS. PRAKTIK
VERURSACHEN AGENS/URSACHE
wissenschaftliche Untersuchungen
Neonicotinoide, wie das Clothianidin
EFFEKT dramatischere Auswirkungen, als bisher angenommen
Abbildung 7.2: Rekonstruierte Frame-Struktur der durch (01) realisierten FAP.
Tabelle 7.1: Die 15 häufigsten Verben, durch die das FE ERKENNEN als VP realisiert wird. Verb zeigen nachweisen feststellen ergeben finden bestätigen zu Schluss kommen beobachten sich zeigen identifizieren belegen auf X hindeuten erkennen ermitteln
AGRAR
%AGRAR
ÖKO
%ÖKO
SUMME
, , , , , , , , , , , , , ,
, , , , , , , , , , , , , ,
1999). Zum anderen die Annahme, dass unserem Konzept WISSEN bzw. VERSTEHEN in vielen Fällen die konzeptuelle Metapher WISSEN/VERSTEHEN IST SEHEN zugrunde liegt (vgl. Lakoff & Johnson 2011: 62; vgl. für das Deutsche auch Schlosser 2003). Unter diesen Annahmen lässt sich das Verb zeigen in Fällen wie (01) zunächst ganz wörtlich interpretieren: Die wissenschaftliche Praktik, die in ihrer substantivierten Form hier als TW-Entität85 begriffen werden kann, lenkt die Aufmerksamkeit deiktisch auf eine Position in der TW, wobei sowohl die visuelle Aufmerksamkeit als auch die TW-Position hier konzeptuell-metaphorisch zu begreifen sind und dem
Die Tatsache, dass eigentlich abstrakte Dinge in der TW als konkrete Entitäten konzeptualisiert werden können, lässt sich bspw. als ontologische Metapher nach Lakoff & Johnson (2011: 35–36) erklären.
7.1 TW-Integration, Wissenskonstitution und TRS
191
Prozess des Erkennens respektive einer Wissensstruktur – also einer Proposition – entsprechen. Es wird also von einer TW-Entität eine Proposition in der Textwelt ‚sichtbar‘ gemacht. Abbildung 7.3 illustriert, wie durch die Konstruktion ‚[wiss. Praktik] zeigt [P]‘ eine zentrale epistemische Proposition in die TW integriert wird. Da es in (01) nicht zum Aufbau von Fokuswelten und Fokusräumen kommt und die Proposition unmittelbar in der TW verortet wird, werde ich davon sprechen, dass es sich hier um eine unmittelbare Form der TW-Integration handelt. TW WBEs: Hintergrund-Frames: WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS _______________________________ FAPs: WISS. PRAKTIK
P (zeigt)
Abbildung 7.3: Unmittelbare TW-Integration im Falle der Konstruktion [WISS. PRAKTIK] zeigt [P] in (01).
Dass allerdings von der in Tabelle 7.1 wiedergegebenen lexematischen Verteilung nicht einfach auf unmittelbare und/oder mittelbare Formen der TW-Integration geschlossen werden kann, zeigt das folgende Textsegment (02): (02) Von Asien nun einen Blick auf Lateinamerika, wo im Juli 2014 im chilenischen Temuco das 7. Imkersymposium4 stattfand. Dort verwies Dr. Karina Antúnez vom Clemente Estable Institut für biologische Forschung in Uruguay (Abtlg. Mikrobiologie), auf FAO Daten die zeigen, dass die Anzahl der bewirtschafteten Bienenvölker in der südlichen Hemisphäre stark zugenommen habe: +86% in Südamerika, +426% in Asien, +130% in Afrika und +39% in Ozeanien. (Bayer 2014)
Zwar findet sich auch in (02) das Verb zeigen als Vertreter der Konstruktion ‚[wiss. Praktik] zeigt [P]‘. Die Integration der zentralen epistemischen Proposition (‚Die Anzahl der bewirtschafteten Bienenvölker in der südlichen Hemisphäre hat zugenommen‘) findet sich hier jedoch eingebettet in eine FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation zur TW (siehe Abbildung 7.4). In einem solchen Fall werde ich von einer mittelbaren TW-Integration sprechen. Die Übernahme der zentralen epistemischen Proposition in die TW hängt in einem Fall wie (02) davon ab, welche Glaubwürdigkeit der TW-Akteurin zugesprochen wird, die als Ankerpunkt der die Proposition enthaltenden FW in der TW fungiert. Eine weitere komplexe Form der TW-Integration, die mit dem Verb zeigen einhergehen kann, findet sich in Textsegment (03).
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
192
TW WBE: Lateinamerika, Chile, Temuco, Dr. Karina Antúnez ___________________ FAPs: Dr. Karina Antúnez sagt, dass FW
FW Hintergrund-Frames: WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS _______________________________ FAPs: WISS. PRAKTIK
P (zeigt)
Abbildung 7.4: TW-Integration von P im Fall von (02). (03) Erst im Jahr 2012 konnte gezeigt werden, dass Arbeiterinnen, die das Neonicotinoid Thiamethoxam in niedrigen Dosen aus Pollen oder Nektar aufnahmen, vermehrt den Weg in ihren Stock nicht mehr fanden. (Greenpeace 2013a)
Sowohl die als Temporaladverbiale fungierende Präpositionalphrase im Jahr 2012 als auch die morphologische Realisierung des die zentrale epistemische Proposition enthaltenden Nebensatzes im Präteritum weisen darauf hin, dass die Proposition ‚Arbeiterinnen, die Thiamethoxam aufnehmen, finden den Weg in den Stock nicht mehr‘ in (03) nicht einfach als allgemeingültige Wissensstruktur in die TW integriert wird, sondern zunächst in einen abgrenzten TW-Bereich – also einen Fokusraum (FR) – verortet wird (siehe Abbildung 7.5). Ich werde solche Fokusräume als Forschungsräume bezeichnen und in Abschnitt 7.4.1 genauer auf ihre Beschaffenheit und ihre Funktionalität im Rahmen der beiden TRS eingehen. Grundsätzlich stellt sich auch bei der Verortung von Propositionen in FRs die Frage, inwiefern sie im Prozess des Textverstehens in die TW (re-)integriert werden können. TW FR
Setting: Jahr 2012 Hintergrund-Frames: WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS __________________________
FAPs: WISS. PRAKTIK
(zeigt)
P
Abbildung 7.5: TW-Integration von P im Fall von (03).
Die Diskussion der Beispiele (01)-(03) sollte sowohl den Unterschied zwischen unmittelbaren und mittelbaren TW-Integrationen klar gemacht haben sowie die Tatsache, dass von lexematischen Verteilungen, wie etwa der in Tabelle 7.1 dargestellten
7.1 TW-Integration, Wissenskonstitution und TRS
193
Erkenntnis-Verben, nicht ohne weiteres auf die damit einhergehenden Weltenkonstruktionen und TW-Integrationen geschlossen werden kann. Hinzu kommt, dass die derart integrierten Propositionen in solchen Fällen keinesfalls alle gleich relevant für das in der jeweiligen TRS konstruierte Argument sind. So erfolgt bspw. die TW-Integration in (04) in derselben (unmittelbaren) Weise wie in (01), allerdings besitzt die in (04) unmittelbar in die TW integrierte Proposition im Kontext der Debatte im Gegensatz zu (01) kaum argumentative Relevanz. (04) Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass Wildbienen in starkem Maße zur Bestäubung von Anbaukulturen wie Tomaten, Blattsalat (zur Saatgutproduktion) und Melonen beitragen, während die Blüten von Ackerbohnen und Zitrusfrüchte hauptsächlich von Honigbienen besucht werden. (Bayer 2015a)
7.1.3 TW-Integrationen in den TRS – Ein erster Überblick Um weiterführende Hinweise auf die Art der Wissenskonstitution im Hinblick auf die TW-Integration zu erhalten, kann zunächst annotationsbasiert vorgegangen werden. Textsegmente, in denen zentrale epistemische Propositionen in die Weltenarchitektur integriert werden, werden dazu im Hinblick auf die Art der TW-Integration annotiert. Tabelle 7.2 zeigt eine Verteilung der Annotationen im Korpus. Tabelle 7.2: Verteilung der Annotationen von TW-Integrationen zentraler epistemischer Propositionen. TW-Integration
AGRAR
ÖKO
FAP
(,%)
(,%)
FW redeinduziert epistemisch kognitiv negierend
(,%) (,%) (,%) (,%) (,%)
(,%) (,%) (,%) (,%) (,%)
FR
(%)
(,%)
Hintergrund
(,%)
(,%)
gesamt
Tabelle 7.2 kann als Hinweis darauf verstanden werden, wie sich die Weltenarchitektur darstellt, in die das Argument in der jeweiligen TRS von AGRAR und ÖKO eingebettet ist. Sie legt den Schluss nahe, dass die TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen bei AGRAR stärker in mittelbaren Formen verläuft,
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
194
als dies bei ÖKO der Fall ist. Laut der in Tabelle 7.2 angezeigten Verteilung werden in der AGRAR TRS epistemische Propositionen in fast 75% der Fälle nicht unmittelbar in die TW eingeführt, sondern in Fokusdomänen (FRs und FWs) ausgelagert. Allerdings ist die Aussagekraft dieser Verteilung eingeschränkt: So stellt sich die Gruppe der FW-Integration äußerst heterogen im Hinblick auf die jeweiligen Welt-WeltBeziehungen dar. Auch die Funktionalität der jeweiligen FWs kann sich stark unterscheiden. Besonders wichtig erscheint mir aber, dass Propositionen aus FWs und FRs in unterschiedlicher Weise in die TW re-integriert werden können. Ich werde deshalb im Folgenden genauer auf die Arten der jeweiligen TW-Integrationen eingehen, Sequenzen beleuchten und auf einige besonders komplexe Fälle der TW-Integration hinweisen. In der Gesamtschau von quantitativer Verteilung und qualitativen Analysen ergibt sich somit letztlich ein – hoffentlich – aufschlussreiches Bild der TWIntegration zentraler epistemischer Propositionen in den beiden TRS von AGRAR und ÖKO, bevor in den nächsten beiden Ergebniskapiteln (Kapitel 8 & 9) dann Positionen und rhetorische Strategien der beiden Akteursgruppen im Detail betrachtet und diskutiert werden
7.2 Unmittelbare TW-Integration – FAP-Integration, Implikation und Hintergrundintegration Bevor ich ausführlicher auf die unterschiedlichen Formen der mittelbaren TWIntegration eingehen werde, möchte ich mich zunächst der unmittelbaren TWIntegration von epistemischen Propositionen zuwenden.
7.2.1 FAP-Integration Die vielleicht offensichtlichste Form der unmittelbaren TW-Integration stellt die Realisierung zentraler epistemischer Propositionen als TW-FAPs dar. Wie Tabelle 7.2 oben zeigt, findet sich diese Art der TW-Integration insbesondere im Rahmen der ÖKO-TRS. Es lassen sich hierbei verschiedene Formen unterscheiden, die im Folgenden nochmals kurz dargelegt werden sollen. TW ___________________
FAPs: PE Abbildung 7.6: Unmittelbare TW-Integration durch einfache FAPs.
7.2 Unmittelbare TW-Integration – FAP-Integration
195
Zunächst können zentrale epistemische Propositionen unmittelbar als einfache FAPs in die TW integriert werden (siehe Abbildung 7.6). Die Segmente (05)-(12) zeigen Beispiele für einfache FAP-Integrationen aus der ÖKO-TRS. Interessant ist dabei, dass es sich hierbei um Standpunkte zu zentralen Quaestiones handelt, die unmittelbar als FAPs realisiert werden und somit in der TW als faktisch geltend eingeführt werden. (05) Insbesondere Insektizide stellen die größte direkte Gefahr für Bestäuber dar. (Greenpeace 2013b) (06) Die Bienenpopulationen gehen weltweit zurück. (Greenpeace 2013a) (07) Pestizide schädigen und töten Bienen, natürliche Feinde von Pflanzenschädlingen und andere wild lebende Tiere. (Greenpeace 2014b) (08) Eine besondere Rolle beim Bienensterben spielen die Neonikotinoide. (BUND 2015b) (09) Anhaltendes Bienensterben durch Pestizide (BUND 2016[2010]) (10) In den vergangenen Jahren sterben Bienen weltweit in nicht gekanntem Ausmaß. (BUND 2016[2010]) (11) Neonicotinoide stellen ein substanzielles Risiko für Bienen dar. (BUND 2016[2010]) (12) Eine besondere Gefahr für bestäubende Insekten geht vom hohen Pestizideinsatz aus. (BUND 2017)
Ebenfalls interessant ist die textuelle Position der entsprechenden Segmente: So handelt es sich bei (09) bspw. um die Überschrift des gesamten Texts. Die Segmente (05)-(08), (10) und (12) sind jeweils einleitende Sätze für Absätze und Teiltexte. Segment (11) wiederum stellt den letzten Satz eines Absatzes dar. Diese v. a. initiale (und auch die finale) Positionierung von einfachen FAP-Integrationen bei ÖKO spielt eine wichtige Rolle für die unten betrachtete Re-Integration von in FWs ausgelagerten Propositionen. Die einfache und unmittelbare Form der FAP-Integration kann gewissermaßen erweitert werden, indem Quellenangaben als intertextuelle Verweise hinzukommen: (13) Pestizide tragen maßgeblich zu Biodiversitätsverlusten bei: Fast ein Viertel (24,5 Prozent) der in der EU gefährdeten Arten sind durch aus Land- und Forstwirtschaft stammende Schadstoffe, darunter Pestizide und Düngemittel, bedroht.4 (Greenpeace 2015)
In (13) findet zwar auf den ersten Blick die auch in den obigen Beispielen beobachtete unmittelbare Form der TW-Integration statt, der intertextuelle Verweis in Form einer Fußnote indiziert jedoch, dass die Geltung dieser TW-Integration zusätzlich durch einen hier nicht explizierten Nachweis gestützt ist. Nichtsdestowe-
196
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
niger entsprechen die TW-Strukturen auch im Fall von (13) dem in Abbildung 7.6 dargestellten Schema. Auch bei AGRAR finden sich solche einfachen TW-Integrationen. Als Realisierungen von Standpunkten betreffen sie dort vor allem die Quaestio ‚Gibt es ein Bienensterben?‘. Wie (14) zeigt, erfolgt dabei jedoch teilweise im unmittelbaren Umfeld die Konstruktion widersprechender Aussagen in ‚redeinduzierten‘86 FWs. (14) Im Gegensatz dazu, was häufig berichtet wird, ist die Anzahl der bewirtschafteten Honigbienenvölker in den letzten 50 Jahren weltweit um ca. 45 % angestiegen. (Bayer 2015a)
Einfache FAP-Integrationen zu anderen Standpunkten, die vergleichbar mit den obigen Segmenten aus der ÖKO-TRS sind, finden sich hingegen kaum. Dies liegt allerdings auch daran, dass die Standpunkte von AGRAR vielfach Negationen beinhalten (siehe deshalb hierzu auch Abschnitt 7.3.3). Als Beispiele für einfache FAP-Integrationen von Standpunkten könnten etwa die Segmente (15) und (16) angesehen werden. (15) Für Blattanwendungen von nitro-substituierten Neonikotinoiden sind in den Anwendungsempfehlungen für die jeweiligen Produkte spezielle Sicherheitsmaßnahmen angegeben, um die Exposition von Bienen zu vermeiden (z. B. Vermeidung der Anwendung in blühenden, für Bienen attraktiven Kulturen). Auf diese Weise wird die bienensichere Anwendung der Produkte sichergestellt. (Bayer 2016) (16) Bei der Anwendung von Neonikotinoiden als Saatgutbeize ist das Potenzial für die Exposition der Bienen naturgemäß sehr gering, da das Produkt auf das Saatgut aufgetragen und mit dem Saatgut in den Boden eingebracht wird, sodass Bienen kaum damit in Berührung kommen. Deshalb ist die Saatgutbehandlung im Grunde eine sehr bienenfreundliche Anwendungsmethode. (Bayer 2016)
In beiden Fällen zeigt sich ein Verfahren, dass sich als Dissoziation begreifen lässt (siehe dazu Kapitel 8.2.3): Das Konzept NEONICOTINOID-EINSATZ wird dabei hinsichtlich verschiedener Stoffe wie auch verschiedener Einsatzmöglichkeiten ausdifferenziert. Der Geltungsbereich der somit eingeführten Propositionen in Bezug auf die jeweiligen Quaestiones ist somit deutlich stärker eingeschränkt, als dies in den obigen Beispielen (05)-(12) der Fall ist. Die Einschränkung des Geltungsbereiches von Propositionen zeigt sich bei AGRAR häufiger (siehe 9.3.2). Dieses Einschränken des Geltungsbereiches betrifft dabei auch das Relativieren von Propositionen, wie etwa in den folgenden Segmenten (17)-(19). Wie auch schon in Segment (16) zeigen
Der Einfachheit halber werde ich in diesem Kapitel hin und wieder statt von FWs in redeinduzierter/kognitiver/epistemischer/negierender Welt-Welt-Relation von ‚redeinduzierten‘/‚kognitiven‘/‚epistemischen‘/‚negierenden FWs sprechen. Die Anführungszeichen sollen signalisieren, dass es sich dabei allerdings strenggenommen um eine Vereinfachung handelt.
7.2 Unmittelbare TW-Integration – FAP-Integration
197
sich hier reduzierende und damit einschränkende Quantifizierungen (sehr gering, kaum, limitiert, nur wenige, begrenzt, geringere): (17) Das Potenzial für den Aufbau von chronischen Effekten ist limitiert, da die biologische Lebensdauer einer Arbeitsbiene nur wenige Wochen beträgt. (IVA 2016) (18) Auch ihre Akkumulation im Boden ist aufgrund ihrer Abbaukinetik begrenzt. (Bayer 2016) (19) Im Allgemeinen haben sie [systemische Pflanzenschutzverfahren, NS] geringere Auswirkungen auf die Umwelt, da das Pflanzenschutzmittel gezielter angewendet wird und geringere Mengen notwendig sind als beim Ausbringen mit der Feldspritze über dem Boden. (IVA 2014a)
Eine etwas komplexere Form der unmittelbaren FAP-Integration stellt die unter 7.1.2 bereits angesprochene Integration der Propositionen in FAPs dar, die durch Erkenntnis-Verben strukturiert werden und zu der in Abbildung 7.3 dargestellten unmittelbaren Form der TW-Integration führen. Gerade diese Fälle stellen eine wichtige Form der Konstitution wissenschaftlichen Wissens innerhalb der TRS dar. Ich habe allerdings auch schon darauf hingewiesen, dass epistemische Verben neben unmittelbaren FAP-Integrationen auch in vielen mittelbaren Fällen vorkommen. Da ich diese Art der TW-Integration bereits unter 7.1.2 diskutiert habe, werde ich hier nicht mehr ausführlich darauf eingehen. Ein interessanter Befund in diesem Zusammenhang zeigt sich allerdings in der in Tabelle 7.3 abgebildeten Verteilung. Tabelle 7.3 führt nochmals vor Augen, wie charakteristisch einfache FAP-Integrationen für ÖKO gerade im Vergleich mit AGRAR sind, und zeigt, dass AGRAR für FAP-Integrationen deutlich häufiger als ÖKO auf epistemische Verb-Konstruktionen zurückgreift. Tabelle 7.3: FAP-Integrationen im Korpus. Akteur
FAP-Integrationen
davon: + epist. Verb
AGRAR ÖKO
(,%) (,%)
Zwar handelt es sich bei allen bislang besprochenen FAP-Integrationen um unmittelbare Formen der FAP-Integration, allerdings bedeutet dies nicht, dass die Wissenskonstitution in solchen Fällen zwangsläufig ‚simpel‘ oder leicht verständlich sein muss. Tatsächlich können die unmittelbar integrierten Propositionen selbst eine hohe interne Komplexität aufweisen. Beispiele dafür finden sich vor allem in 2016:
198
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
(20) Diese Studien zeigen, dass die Rückstandsmengen in den Blüten nachfolgender Rotationskulturen selbst bei maximal möglichen Rückstandswerten im Boden (Plateaukonzentrationen) stets niedriger oder maximal vergleichbar den Konzentrationen sind, die bei Nutzpflanzen gefunden wurden, deren Saatgut direkt behandelt wurde (Bayer-Zulassungsdaten, unveröffentlicht). (Bayer 2016)
Erneut erfolgt in (20) eine unmittelbare FAP-Integration in Verbindung mit dem epistemischen Verb zeigen analog zu Beispiel (01) oben. Gleichzeitig ist die interne Struktur der epistemischen Proposition in (20) nicht anders als äußerst komplex zu nennen und – ganz im Gegensatz zu (01) – für eine Rezipientin nur mit enormem Vorwissen überhaupt zu verstehen, was sich auch auf die argumentative Funktionalität im Debattenkontext überträgt. Die TW-Integration der Proposition ist im Falle von (20) also zwar formal unmittelbar, und doch propositional und damit inhaltlich-argumentativ überaus komplex. Ein weiterer Aspekt, der schwieriger zu erschließen – und insbesondere annotationsbasiert zu erfassen – ist, ist die unmittelbare TW-Integration durch Implikationen, die von anderen FAPs ausgehen, wie im folgenden Beispiel (21): (21) Damit ein Pflanzenschutzmittel, das auf den Markt kommt, höchste Sicherheits- und Wirksamkeitsstandards erfüllt, sind im Durchschnitt 11 Jahre Forschung und Entwicklung und ein finanzieller Aufwand von 286 Millionen US-Dollar erforderlich (Phillips McDougall, 2016). [...] Für die Neonikotinoide wurden erheblich umfangreichere Studienreihen durch-geführt, als zum Zeitpunkt der Registrierung vorgeschrieben waren, insbesondere im Hin-blick auf ihre Auswirkungen auf Bienen, da sich Bayer stark für die Bienensicherheit seiner Produkte engagiert. Die durchgeführten Studien umfassen die unterschiedlichsten Arten von Tests, von einfachen Labortests bis hin zu hoch komplexen Feldversuchen, von denen einige die potenziellen Auswirkungen der getesteten Produkte auf Bienenvölker über mehrere Jahre untersuchen. Allein für Saatgutbehandlungen mit Imidacloprid wurden von verschiedenen Testeinrichtungen mindestens 18 Halbfreilandversuche und über 15 Feldversuche in unterschiedlichen Kulturen und mehreren Ländern durchgeführt. Ähnlich umfangreiche Studienreihen gibt es für Clothianidin und Thiamethoxam. (Bayer 2016)
Es scheint überaus naheliegend, dass in (21) durch den unmittelbaren Aufbau von FAP-Strukturen innerhalb der TW die Proposition ‚Neonicotinoide erfüllen höchste Sicherheitsstandards‘ impliziert und somit in den CG auf der TW-Ebene integriert wird. Allerdings erfordert diese TW-Integration eine deutlich stärkere Interpretationsleistung der Rezipientin als die oben beschriebenen Formen der FAP-Integration. Solche Implikationen von Propositionen finden sich an mehreren Stellen der AGRAR-TRS: (22) Registrierungen von praktisch allen modernen Insektiziden basieren auf sehr umfangreichen Studien-Paketen. Sie beinhalten komplexe Untersuchungen mit sehr hohen Anforderungen. In solchen Studien werden chronische Wirkungen getestet und bewertet. (IVA 2016)
7.2 Unmittelbare TW-Integration – FAP-Integration
199
(23) Pflanzenschutzmittel werden über Jahre hinweg auf ihre Sicherheit getestet, bevor sie für den Einsatz in der Landwirtschaft zugelassen werden. (Bayer 2018)
Die Segmente (22) und (23) können als Hinweise auf die Implizierung der Proposition ‚Zugelassene Pestizide haben keine negativen Auswirkungen auf Bienen‘ interpretiert werden. Allerdings wird dies von AGRAR nicht expliziert und muss von einer Rezipientin selbst erschlossen werden. Zusammenfassend zeigt eine Betrachtung der FAP-Integration bei ÖKO und AGRAR also, dass ÖKO in erster Linie einfache FAP-Integrationen mit weitem Geltungsbereich und entsprechendem Assoziationspotential vornimmt (siehe zu letztgenanntem Aspekt genauer Kapitel 9.3.4). Bei AGRAR weisen FAP-Integrationen einen eingeschränkteren Geltungsbereich und teils hohe interne Komplexität auf. Zudem finden sich bei AGRAR an mehreren Stellen Hinweise auf die Implizierung weiterer nicht explizierter Propositionen.
7.2.2 Hintergrund-Integration Eine weitere unmittelbare Form der TW-Integration stellt die Integration von Propositionen als Hintergrundstrukturen – also vor allem als Bestandteile von WBEs – der TW dar. Eine Möglichkeit einer solchen Hintergrund-Integration epistemischer Propositionen stellt die Verwendung von nominalen Lexemen (also Substantiven und Adjektiven) dar, die propositionale Strukturen sozusagen in verdichteter Form indizieren. Werden die entsprechenden Lexeme zur Bezeichnung von WBEs verwendet, überträgt sich die entsprechende propositionale Struktur auf die FrameStruktur der entsprechenden WBEs im TW-Hintergrund. Ein illustratives Beispiel stellt die Verwendung des attributiven Adjektivs (ADJAs) bienengefährlich in der ÖKO-TRS dar, wie etwa in Segment (24): (24) Verbot hoch bienengefährlicher Neonikotinoide durchsetzen (PAN 2013)
Segment (24) stellt die Überschrift von PAN 2013 dar. Wie Abbildung 7.7 zeigt, erfolgt in (24) durchaus die Konstruktion einer komplexeren Weltenarchitektur durch den Aufbau einer FW in deontischer Welt-Welt-Relation zur TW. Dennoch erfolgt auch hier eine unmittelbare Form der TW-Integration einer epistemischen Proposition. So findet sich in (24) die Verwendung des ADJAs hoch bienengefährlich im Rahmen einer Nominalphrase (NP), die als world-builder für das WBE NEONICOTINOIDE fungiert. Dabei wird die durch das ADJA indizierte Proposition ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ als Bestandteil des entsprechenden WBE-Frames NEONICOTINOIDE unmittelbar in die konzeptuelle Hintergrundstruktur der FW übertragen und gleichzeitig auf die Hintergrundstruktur der TW gemappt.
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
200
Letzteres geschieht, da die FW nur sinnvoll mit der TW verbunden sein kann, wenn das WBE NEONICOTINOIDE sowohl Bestandteil der FW als auch der TW ist (vgl. Werth 1999: 281). Einfacher ausgedrückt: Ein Neonicotinoid-Verbot kann nur relativ zu einer Welt gefordert werden, in der es Neonicotinoide gibt. In PAN 2013 wird die Proposition ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ somit gleich zu Textbeginn als unstrittiges Element des durch die TW vorgenommenen Wirklichkeitsentwurfs in den CG eingeführt. ÄW
TW
_____________
WBEs: Neonicotinoide (hoch
FORDERN
bienengefährlich) _________________
FW WBEs: Neonicotinoide (hoch bienengefährlich) ________ Neonicotinoide werden verboten.
Abbildung 7.7: Hintergrund-Integration in (24).
Ähnliche Fälle der Hintergrund-Integration zeigen sich in der ÖKO-TRS bei der Verwendung des ADJAs bienengefährlich sowie bei Verwendungen des Nomens (Nerven-)Gifte. (25) Thiamethoxam ist eines [sic.] der drei hochbienengefährlichen Neonikotinoid-Wirkstoffe, die seit Ende 2013 einem zweijährigen Teil-Verbot unterliegen (PAN berichtete). (PAN 2014) (26) Eine besondere Rolle beim Bienensterben spielen die Neonikotinoide. Das sind hochwirksame Nervengifte, die in der Landwirtschaft gegen Schädlinge z. B. im Raps und Obstbau sowie im Hobbygarten für Zierpflanzen eingesetzt werden. (BUND 2015b) (27) Gift im Bienengepäck (Greenpeace 2014a) (28) Nervengift mit fataler Wirkung: Bienenkiller Neonikotinoide (BUND 2018)
In den Segmenten (25) bis (28) wird der negative VERURSACHUNGS-Zusammenhang unmittelbar mit der Einführung von Neonicotinoiden als WBEs in den TW-Hintergrund übertragen. Bei den Beispielen handelt es sich erneut um (teil-)textinitiale Segmente. Am deutlichsten wird dies in der Überschrift von BUND 2018 (28). Hier wird die zentrale Proposition gleich zu Textbeginn durch zwei komplexe NPs unmittelbar als WBE in den TW-Hintergrund eingeführt. Zudem zeigt sich hier ein stark emotives Framing, das für die ÖKO-TRs charakteristische Merkmale aufweist (siehe Kapitel 9.3.2). Eine weitere Form der Hintergrund-Integration stellt die Einführung von wissenschaftlichen Studien als WBEs dar, die die Risiken von Neonicotinoiden als Inhalt haben, wie in (29):
7.2 Unmittelbare TW-Integration – FAP-Integration
201
(29) Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit [...] hat Bewertungen von Insektiziden aus der Wirkstoffgruppe der Neonicotinoide vorgelegt, die Gefahren der Substanzen für Honigbienen betreffen. (Greenpeace 2013c)
In (29) wird im Zuge der FAP eine wissenschaftliche Studie als TW-Entität – also ein WBE – eingeführt (Bewertungen). Die interne Frame-Struktur dieses WBEs wird anhand des Relativsatzes ausgebaut, wobei auch die zentrale epistemische Proposition ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ in die Hintergrundstruktur der TW übertragen wird. Ebenfalls betrifft diese Form der TW-Integration das Wissen um das Bienensterben. Während die Proposition ‚Es gibt ein Bienensterben/Die Bienen sterben‘ bei AGRAR als strittig dargestellt wird, wird sie bei ÖKO an einigen Stellen in nominalisierter Form unmittelbar in den TW-Hintergrund übertragen, wie in Beispiel (30): (30) Verbote bienengefährlicher Pestizide sind ein dringend notwendiger erster Schritt und sofort umsetzbarer Beitrag, um das in ganz Europa beobachtete Bienensterben auch in Deutschland zu stoppen. Zu diesem Ergebnis kommt der von Greenpeace im April 2013 veröffentlichte Report „Bye bye Biene? - Das Bienensterben und die Risiken für die Landwirtschaft in Europa“. (Greenpeace 2013a)
Die Konzeptualisierung des Bienensterbens findet in (30) im Rahmen einer FW statt, die in einer volitiven Welt-Welt-Relation mit der TW steht. Wie auch in (24) oben lässt sich hier die Übertragung der FW-Hintergrundstrukturen auf den TWHintergrund beobachten. Deutlich wird dies in (30) vor allem durch die Verwendung des definiten Artikels das ... Bienensterben. Der in der Finaladverbiale ausgedrückte Sachverhalt ‚das Bienensterben stoppen‘ ist nur dann mit der TW kohärent, wenn das Bienensterben selbst in dieser als faktisch angenommen wird. Tatsächlich wird ein Wissen um die Faktizität des Bienensterbens bei der Rezipientin bzw. Leserin an vielen Stellen erwartet bzw. text-driven signalisiert. Deutlichster Indikator dafür ist stets die Verwendung des definiten Artikels bei erstmaliger Konzeptualisierung durch eine NP. Ein ähnliches Prinzip findet sich auch in (31) und (32). In allen genannten Fällen wurde das Bienensterben nicht zuvor bspw. mittels FAP-Integration in den CG eingeführt. (31) Aufgrund der vorliegenden Daten nahm die EU-Kommission mit Wirkung zum 1. Dezember 2013 europaweit die Neonikotinoidwirkstoffe Clothianidin, Thiamethoxam und Imidacloprid für zwei Jahre für alle bienenrelevanten Kulturen vom Markt, da sie im Verdacht stehen, das Bienenvölkersterben wesentlich mit zu verursachen. (BUND 2015a). (32) Beim Bienensterben spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle. Das hatte Greenpeace bereits 2013 im Report „Bye Bye Biene? das Bienensterben und die Risiken für die Landwirtschaft in Europa“ gezeigt. (Greenpeace 2014a)
202
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
Dass ein Vorwissen über das Bienensterben bei ÖKO weitestgehend vorausgesetzt wird, zeigt sich noch deutlicher im folgenden Beispiel: (33) Die Honigbiene ist eines unserer wichtigsten Nutztiere. Gemeinsam mit ihren wildlebenden Verwandten ist sie für die Bestäubung von ungefähr zwei Dritteln unserer Nahrungspflanzen verantwortlich. Doch nicht nur die Honigbienen sind in Ge-fahr. Auch die Wildbienen sind auf dem Rückzug. (BUND 2015b)
In (33) lässt sich die Vorannahme des Bienensterbens bei der Rezipientin aus Überlegungen zur Kohärenzerzeugung ableiten. Im dritten Satz von (33) wird zum ersten Mal im Textverlauf das Konzept GEFAHR bzw. RISIKO mit Honigbienen in Verbindung gebracht. Dennoch wird dabei bereits die textdeiktische Verknüpfungskonstruktion nicht nur X, sondern auch Y verwendet, bei der eine bekannte Information (X) mit einer neuen Information (Y) in Verbindung gebracht wird. Das Wissen um die Gefährdung der Honigbienen wird also bei der Leserin vorausgesetzt und muss entsprechend von der Rezipientin nicht nur als TWHintergrund, sondern als Wissenshintergrund der Leserin ‚rekonstruiert‘ werden. Während die Hintergrund-Integration zentraler epistemischer Propositionen in dieser Form bei ÖKO also an mehreren Stellen zu beobachten ist, finden sich bei AGRAR kaum vergleichbaren Hintergrund-Integrationen.
7.3 Fokuswelt-Integration – Meinungen, Aussagen, Möglichkeiten Als erste Form der mittelbaren TW-Integration möchte ich die Einführung epistemischer Propositionen in Fokuswelten herausgreifen. Die entsprechenden FWs können dabei in verschiedenen Welt-Welt-Relationen zur TW stehen, die ich im Folgenden näher beleuchten werde.
7.3.1 Integration in ‚redeinduzierte‘ und ‚kognitive‘ FWs Wie Tabelle 7.2 oben (7.1.2) zeigt, machen redeinduzierte Welt-Welt-Relationen die meisten Fälle der FW-Integrationen aus. Die genauere Analyse zeigt hier jedoch deutliche Unterschiede zwischen AGRAR und ÖKO. Innerhalb der ÖKO-TRS findet sich insbesondere die Auslagerungen epistemischer Propositionen in FWs in redeinduzierter Welt-Welt-Relation. Dabei treten in erster Linie Wissenschaftlerinnen als Lokutoren in Erscheinung, durch deren Aussagen bereits von ÖKO in die TW eingeführte Propositionen gestützt werden. Ich werde dieses, von mir als Lokutoren-backing bezeichnete Schema in Kapi-
7.3 Fokuswelt-Integration – Meinungen, Aussagen, Möglichkeiten
203
tel 9.1.4 ausführlicher darlegen, ebenso wie weitere in diesem Kontext beobachtbare Allianzen von ÖKO und wissenschaftlichen Lokutoren. An dieser Stelle reicht es womöglich aus festzuhalten, dass die Integration epistemischer Propositionen in ‚redeinduzierten‘ FWs in den meisten Fällen der Stützung von TWPropositionen dient und zu einer Re-Integration der entsprechenden Propositionen in die TW führt, so etwa auch in Beispiel (34): (34) Bestäuber sind regelmäßig giftigen Chemikalien wie Insektiziden, Herbiziden und Fungiziden ausgesetzt. Die Auswirkungen dieser Expositionen sind derzeit noch nicht vollständig geklärt. Es wurde jedoch bereits wissenschaftlich nachgewiesen, dass insbesondere einige Insektizide die Gesundheit von Bestäubern – sowohl einzelner Organismen als auch ganzer Völker – unmittelbar schädigen. Dazu zählen eine Reihe sogenannter Neonicotinoide sowie weitere Insektizide. Insektizide aus der Familie der Neonicotinoide werden seit Mitte der 1990er-Jahre als „harmloser“ Ersatz für ältere und noch schädlichere Insektizide eingesetzt. [...] Seit Mitte der 2000er-Jahre wird jedoch seitens der Wissenschaft die Befürchtung geäußert, dass Neonicotinoide schädliche Auswirkungen auf Nichtzielorganismen, insbesondere Honigbienen und Hummeln, haben. (Greenpeace 2017)
Im letzten Satz von (34) wird die epistemische Proposition ‚Neonicotinoide versuchen negative Konsequenzen bei Bienen‘ zwar in eine FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation ausgelagert. Die entsprechende Proposition wurde jedoch zu Beginn von (34) bereits von ÖKO unmittelbar in die TW integriert. TW ____________________ FAPs: redeinduzierte Welt-Welt-Relation
Es wurde bereits nachgewiesen, dass: P FW Wissenschaft sagt, dass FW
________ FAPs: P
Abbildung 7.8: Schematische TWT-Rekonstruktion von (34).
Abbildung 7.8 verdeutlicht, dass die in der FW ausgelagerte Proposition P bereits in der TW verankert und somit faktisch geltend ist. Die FW-Integration dient somit vor allem dazu, die bereits im CG verankerte Proposition nochmals durch Verweis auf die epistemische Autorität des Lokutors (die Wissenschaft) zu stützen und dabei eine Übereinstimmung von eigener Aussage des Lokutors mit Aussagen anderer Debattenakteure zu signalisieren, wobei hier auch eine Übereinstimmung in der emotiven Perspektivierung der Sachverhalte vorliegt. Eine Rezipi-
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
204
entin muss also nicht selbstständig überlegen, ob die in der FW ausgelagerte Proposition innerhalb der TW gültig ist, da diese Gültigkeit vom Orator bereits vorausgesetzt wurde. Dieser Aspekt der Re-Integrierbarkeit von Propositionen aus FWs kann für ÖKO als charakteristisch angesehen werden. Dabei spielen auch die in 7.2.1 angesprochenen textinitialen unmittelbaren FAP-Integrationen von Propositionen eine Rolle, wie die Beispiele in Kapitel 9.1.4 verdeutlichen. Bei AGRAR finden sich ‚redeinduzierte‘ FW-Integrationen häufig im Rahmen des in Kapitel 8.1.2 ausführlicher beschriebenen Problematisierens, das den Ausgangspunkt des bei AGRAR dominanten AUFKLÄREN-Musters darstellt. Hier finden sich auch die deutlich selteneren Fälle von Integrationen in ‚kognitive‘ FWs. Teilweise kann zwischen beiden nicht trennscharf unterschieden werden, wie Segment (35) zeigt: (35) Immer mehr Bienenwissenschaftler und Fachleute bezweifeln, dass Neonikotinoide tatsächlich die Ursache der Bienenverluste sind. (Bayer 2014)
Satz (35) stellt die Unterüberschrift von Bayer 2014 und somit ein Beispiel für das textinitiale Problematisieren im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters dar. Die Proposition ‚Neonicotinoide sind die Ursache für Bienenverluste‘ wird dabei in eine FW ausgelagert (Abbildung 7.9). Die durch das Verb bezweifeln indizierte WeltWelt-Relation kann dabei sowohl als kognitiv wie auch als redeinduziert verstanden werden, da Zweifeln zwar in erster Linie ein mentaler Zustand der entsprechenden TW-Akteure ist, dieser allerdings im Kontext der Debatte gleichsam nur als solcher sichtbar wird, wenn die Akteure diesen Zustand auch entsprechend äußern. In beiden Fällen wird dadurch auch ein epistemic stance der TW-Akteure zu der in die FW ausgelagerten Proposition ausgedrückt, wodurch die Gültigkeit und somit die Integration der Proposition problematisiert wird. TW WBEs: Wissenschaftler, Neonicotinoide Hintergrund-Frames: WISS. ERKENNTNIS
redeinduzierte/kognitive Welt-Welt-Relation
_________________
FAPs:
FW ________ FAPs:
Immer mehr Wissenschaftler bezweifeln, dass FW Neonicotinoide sind Ursache für Bienenverluste.
Abbildung 7.9: Rekonstruiertes TWT-Diagramm für (35).
Der Folgetext von (35) dient (vorgeblich) dazu, diese nun für die Leserin als fraglich indizierte TW-(Re-)Integration der zentralen epistemischen Proposition für die selbige nachvollziehbar zu machen. Allerdings erfolgt in Bayer 2014 die anschließende TW-Integration nur in zwei Fällen als FAP-Integration, in 25 Fällen
7.3 Fokuswelt-Integration – Meinungen, Aussagen, Möglichkeiten
205
jedoch als FW-Integration, wobei 21 der betroffenen FWs in redeinduzierter WeltWelt-Relation zur TW stehen – darunter bspw. Segment (02) oben. Bayer 2014 stellt damit gewissermaßen den Extremfall der Auslagerung zentraler epistemischer Propositionen in ‚redeinduzierte‘ FWs dar. Dabei wird zunächst eine ‚aufzuklärende Proposition‘ in eine ‚redeinduzierte‘ FW ausgelagert und dieser dann weitere, widersprechende Propositionen in ebenfalls ‚redeinduzierten‘ FWs entgegengehalten. Die initial problematisierte TW-Integration wird dadurch von AGRAR nicht unmittelbar für die Leserin geklärt. Stattdessen muss die Rezipientin weitestgehend selbst auf Basis der Plausibilitätsstrukturen der Weltenarchitektur die Plausibilität einer jeden TW-Integration abwägen. Ein illustratives Beispiel dafür, dass die Problematisierung von Propositionen und das Dagegenhalten von Propositionen in ‚redeinduzierten‘ FWs bei AGRAR oft nicht zu einer unmittelbaren Klärung des TW- bzw. Faktizitäts-Status führen, stellt (36) dar: (36) In Europa wurde der Verlust von Bienenvölkern von den Imkern fälschlicherweise auf die „Colony Collapse Disorder“ zurückgeführt. CCD beschreibt das spurlose Verschwinden der erwachsenen Bienen im Stock. Dieses mysteriöse Sterben der Westlichen Honigbiene hat sich in den Vereinigten Staaten im Winter 2006/2007 massiv ausgebreitet und betraf stellenweise bis zu 80 % der Bienenvölker. In Europa dagegen hielt sich das Bienensterben in Grenzen. Bienenexperten und Behörden erklären einhellig, dass es das Phänomen CCD in Europa nicht gibt. Fest steht lediglich, dass das Bienensterben in Europa im Winter das Normalmaß übersteigt. (IVA 2014a)
Auch in (36) wird teiltextinitial eine Proposition in einer ‚redeinduzierten‘ FW ausgelagert und problematisiert. Anschließend finden sich weniger relevante FAP-Integrationen, bevor eine zweite ‚redeinduzierte‘ FW-Integration erfolgt, die eine widersprechende Proposition beinhaltet. Welche der beiden Propositionen nun in die TW re-integriert und dort als gültig angesehen werden kann, wird dabei vom Orator offengelassen. Dies wird durch die Konstruktion fest steht lediglich im letzten Satz von (36) sogar abschließend deutlich hervorgehoben. Auch in anderen Fällen, in denen eine Proposition durch Auslagerung in eine ‚redeinduzierte‘ FW problematisiert wurde, zeigt sich, dass die durch das AUFKLÄREN erfolgte Einordnung der Gültigkeit der Proposition in weiten Teilen auf Eigenleistungen einer Rezipientin beruht: (37) In der aktuellen Diskussion wird auch der langsame Bodenabbau von Neonikotinoiden kritisiert. Demnach zerfielen sie im Boden nur sehr langsam und die Halbwertszeit betrüge mehr als 1 000 Tage. Somit reicherten sie sich von Aussaat zu Aussaat im Boden weiter an. Das Zulassungsverfahren fordert von allen Wirkstoffen sogenannte Bodenabbaureihen, um Informationen darüber zu erhalten, wie rasch sich ein Wirkstoff unter verschiedenen Bodenbedingungen abbaut. Um einen „Nullpunkt“ zu erhalten, muss auch der Wert in einem
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7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
biologisch inaktiven Boden ermittelt werden, in dem fast kein Abbau stattfindet. Die Werte gelten für einen sehr langsamen Abbau in den nordwestlichen USA und in Kanada unter extremen Bedingungen (Kälte, Trockenheit). In den landwirtschaftlichen Regionen Europas beispielsweise ist der relevante Abbauwert immer wesentlich kürzer als ein Jahr. (IVA 2016)
Um den Text im zweiten Absatz als schlüssiges Gegenargument zu dem im ersten Absatz realisierten Vorwurf zu verstehen, muss eine Rezipientin eine Reihe von Zusammenhängen ableiten, die vom Text nicht expliziert werden: Etwa das Verhältnis von Halbwertszeit und relevantem Abbauwert, den Zeitintervallen 1000 Tage, weniger als ein Jahr und von Aussaat zu Aussaat sowie den TW-Bereichen USA und Kanada und den landwirtschaftlichen Regionen Europas. Erst dann kann die im letzten Satz als FAP eingeführt eingeführte Proposition als Widerlegung der initial in einer FW eingeführten Proposition begriffen werden, wodurch die initiale Proposition aus der TW ausgeschlossen bleibt – sie ist dann nur eine Behauptung.
7.3.2 Integration in ‚epistemische‘ FWs Bei der TW-Integration durch den Aufbau von FWs in epistemischer Welt-WeltRelation handelt es sich um eine höchst heterogene Kategorie von Fällen, die zudem funktional sehr unterschiedliche Rollen im Aufbau des CGs einnehmen können. Deshalb sagt die reine numerische Verteilung (zumal undifferenziert) hier nicht wirklich etwas aus. Die verschiedenen beobachtbaren Fälle unterscheiden sich bspw. darin, ob und wie vom Orator ein epistemic stance ausgedrückt wird. Hinterfragen Zum einen kann die Auslagerung von Propositionen in ‚epistemische‘ FWs bei AGRAR ähnlich wie bei den ‚redeinduzierten‘ FWs zur Problematisierung von Propositionen genutzt werden. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Interrogativsätze. Gerade hier zeigt sich, dass erneut nicht trennscharf zwischen epistemischen und redeinduzierten FWs unterschieden werden kann, wie Segment (38) verdeutlicht: (38) Subletale Schäden? In den letzten Jahren wurden verschiedentlich Befürchtungen geäußert, dass Neonikotinoide Honigbienen subletale Schäden zufügen könnten, sie also nicht töten, aber wichtige Parameter beeinträchtigen wie zum Beispiel das Heimfindevermögen, das Sammelverhalten etc. – also Faktoren, die letzten Endes zum Sterben der Kolo-nie führen könnten. (Bayer 2016)
7.3 Fokuswelt-Integration – Meinungen, Aussagen, Möglichkeiten
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Die Proposition ‚Neonicotinoide verursachen subletale Schäden‘ wird in der Überschrift des Abschnitts zunächst in eine FW in epistemischer Welt-WeltRelation zur TW integriert, wobei vom Orator (stellvertretend für die Leserin) durch das Fragezeichen ein ungewisser epistemic stance signalisiert wird. Im darauffolgenden Satz wird diese Proposition in der entsprechenden FW weiter ausgebaut, indem subletale Schäden näher erläutert werden. Gleichzeitig wird die WeltWelt-Relation dieser FW nun durch die VP des Hauptsatzes, die eine TW-FAP realisiert, klar als redeinduziert gekennzeichnet. Ein ähnliches ‚Doppel-Verhältnis‘ von FW zur TW lässt sich auch in weiteren entsprechenden Fällen von Interrogativsätzen vermuten, wie etwa in (39)-(41). Die Beispiele legen den Schluss nahe, dass sich für diese Art des Infragestellens insbesondere geschlossene Fragesätze (38, 39, 41) eignen. (39) Gibt es eine Bestäubungskrise? (IVA 2014a) (40) Woran leiden unsere Bienenvölker wirklich? (IVA 2014a) (41) Toxizität der Neonikotinoide – Gefahr für die Bienen? (IVA 2016)
Zwar findet sich auch bei ÖKO an einer Stelle eine ‚epistemische‘ FW-Integration anhand eines Interrogativsatzes, allerdings lässt sich hier nicht in vergleichbarer Weise das Hinterfragen einer Debattenposition rekonstruieren: (42) Der intensive Pestizideinsatz in der Landwirtschaft wirft entscheidende Fragen auf: Welche Auswirkungen gibt es auf einzelne Arten und Ökosysteme sowie die biologische Vielfalt insgesamt? Wie sehen die Bewertung, Zulassung und Regulierung dieser Chemikalien in der EU aus? (Greenpeace 2015)
Möglichkeiten Des Weiteren findet der Aufbau ‚epistemischer‘ FWs zum Ausdruck von Möglichkeiten statt. Dies kann bspw. durch die Verwendung des Modalverbs können erfolgen: (43) Diese Pestizide können entweder einzeln oder in Kombination für Bienen auf kurze Sicht extrem giftig sein oder in geringen Dosen chronische Wirkungen zeigen, die Bienen schwächen und letztendlich zu ihrem Tod führen (siehe unten). (Greenpeace 2013b) (44) Pestizide können eine abstoßende Wirkung auf Bienen haben. (Greenpeace 2013a)
In den beiden Beispielen (43) und (44) wird die jeweilige Proposition in eine FW in epistemischer Welt-Welt-Relation zur TW integriert. Die Funktion dieses Aufbaus besteht aber nicht darin, eine faktische Korrelation dieser FW mit der TW zu diskutieren. Vielmehr drückt ÖKO in diesen Fällen durch das Verb können deutlich aus, dass eine Integration der entsprechenden Proposition in die TW möglich ist. Tat-
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7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
sächlich zeigt sich bei ÖKO immer wieder, dass können auch im Sinne von in der Lage zu X sein interpretiert werden kann, wie im folgenden Beispiel (45): (45) Pestizide können sowohl das Erlernen visueller Muster bei Sammelflügen als auch die Übermittlung dieser Information im Bienenstock beeinträchtigen. (Greenpeace 2013b)
Interessant ist an diesen ÖKO-Beispielen, dass keine Bedingungen dafür angegeben werden, unter denen die Übertragung der Proposition aus der FW in die TW geschieht. Es ist deshalb naheliegend, die reine Ko-Präsenz der WBEs in FW und TW als Übertragungsbedingung zu sehen: Existieren die Pestizide in der TW, wird auch die Proposition in die TW übertragen. Dafür spricht auch die sequentielle Betrachtungsweise, wie etwa im Falle von (46): (46) Sie [Neonicotinoide, NS] sind relativ langlebig, reichern sich im Boden an und können durch Pflanzen und Tiere wieder aufgenommen werden. Dadurch schädigen sie wichtige Elemente der Nahrungskette. (BUND 2016[2010])
Hier zeigt sich, dass entsprechende FW-Propositionen bei ÖKO genauso ‚faktisch‘ in der TW fungieren wie TW-FAPs: In Segment (46) wird die unterstrichene Proposition isoliert betrachtet eigentlich in eine FW in epistemischer Welt-WeltRelation ausgelagert (siehe Abbildung 7.10). Im Gesamtkontext jedoch wird hier eine kausale Kette realisiert, bei der sowohl Anfang als auch Ende dieser Verkettung als faktische TW-FAPs eingeführt werden. Die in der FW verortete Proposition wird demnach unmittelbar in die TW re-integriert. (Nach dem Schema: Neonicotinoide können wieder aufgenommen werden, also werden sie es auch.) TW WBEs: Neonicotinoide, Pflanzen, Tiere _________________ FAPs:
Neonicotinoide sind langlebig. Neonicotinoide reichern sich im Boden an. (offen) Dadurch schädigen Neonicotinoide wichtige Elemente der Nahrungskette.
epistemische Welt-Welt-Relation
FW Neonicotinoide werden durch Pflanzen und Tiere wieder aufgenommen.
Abbildung 7.10: TWT-Rekonstruktion von (46).
Ganz anders zeigt sich der Aufbau von ‚epistemischen‘ FWs zum Ausdruck von Möglichkeiten bei AGRAR:
7.3 Fokuswelt-Integration – Meinungen, Aussagen, Möglichkeiten
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(47) Eine horizontale Verteilung in der Pflanze, für die ein Weitertransport im Phloem erforderlich wäre, ist, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Maße möglich. (Bayer 2016) (48) Im schlimmsten Fall können Bienen in Kontakt mit dem Wirkstoff kommen, wenn der Staub auf Pflanzen landet, die außerhalb des eingesäten Ackers wachsen. (Bayer 2015a)
In (47) und (48) sind klar einschränkende Bedingungen angegeben, unter denen die jeweilige Proposition in die TW übertragen werden können. In beiden Fällen drückt AGRAR zudem aus, dass das Eintreten einer faktischen Korrelation von FW und TW als äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit betrachtet wird. So wird etwa in (48) die entsprechende FW anhand einer Präpositionalphrase als schlimmster Fall bezeichnet, wobei hervorgehoben wird, dass es sich dabei um eine von vielen Möglichkeiten in der TW handelt. Selbiges zeigt sich auch im folgenden Beispiel (49): (49) Neben dem Kontakt mit Agrochemikalien können Honigbienen auch mit Produkten in Berührung kommen, die von Imkern zur Bekämpfung der Varroamilbe oder anderer Parasiten und Krankheiten eingesetzt werden, die Bienenvölker befallen können. (IVA 2014a)
Damit verwandt, aber dennoch anders gelagert ist der Aufbau von ‚epistemischen‘ FWs durch das Modalitätsverb scheinen, das Adverb scheinbar, das Adverb möglicherweise oder die Konstruktion mit hoher Wahrscheinlichkeit, durch die sich der Orator in unterschiedlichem Maße zu einer faktischen Korrelation von FW und TW positioniert (also seinen epistemic stance ausdrückt). (50) Angesichts der vielen verschiedenen Pestizidrückstände, die in der Umgebung von Bienen gleichzeitig vorkommen, scheinen Interaktionen zwischen verschiedenen Pestiziden durchaus möglich. (Greenpeace 2013b) (51) Das von vielen Imkern beobachtete anhaltende und massive Bienensterben ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch diese Nervengifte mitverursacht. (BUND 2016[2010])
In diesen Fällen ist die Re-Integration der Propositionen in die TW deutlich stärker relativiert, als dies oben bei der Verwendung von können der Fall war. Es handelt sich hier um recht typische Fälle von Wissenskonstitutionen einer niedrigen epistemischen Qualität – also von Ungewissheiten. Tatsächlich ist das Verhältnis von ÖKO zu solchen Ungewissheiten aber durchaus ambivalent, wie das folgende Beispiel (52) zeigt: (52) Um es auf den Punkt zu bringen: Der Bestand an Bienen und anderen Bestäubern scheint weltweit zurückzugehen. Das betrifft sowohl wilde als auch von Imkern gehaltene Arten, insbesondere in Nordamerika und Europa. (Greenpeace 2013b; Fettdruck im Original)
An dieser Stelle muss man den epistemic stance mitberücksichtigen, den der Orator vertritt. Die Konstruktion um es auf den Punkt zu bringen und die typografische Ge-
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7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
staltung als Fettdruck, die die Relevanz der Proposition hervorhebt, konterkarieren in gewisser Weise den in (52) durch scheinbar realisierten Heckenausdruck. D. h. der Orator legt sich zwar scheinbar nicht auf die faktische Korrelation mit der TW fest, scheint aber gleichzeitig stark dafür zu plädieren. Nicht zu vergessen ist, dass in Greenpeace 2013b die Faktizität des Bienensterbens durch den Untertitel „Das Bienensterben und die Risiken für die Landwirtschaft in Europa“ gemäß der in Abschnitt 7.2.2 diskutierten Prozesse bereits als Hintergrundstruktur der TW etabliert ist. Ich werde bei der Zusammenfassung der Ergebnisse in Kapitel 10 nochmals auf den Umgang mit Ungewissheiten und Nichtwissen in der ÖKO-TRS zurückkommen.
7.3.3 Integration in ‚negierende‘ FWs Ein Spezifikum der FW-Integration bei AGRAR ist, dass die Debattenkonstellation AGRAR gewissermaßen dazu zwingt, Propositionen in FWs in negierender WeltWelt-Relation zur TW auszulagern, da stets die Notwendigkeit zu Negationen und Widerspruch besteht. Die negierende FW-Integration kommt aus diesem Grund auch häufig in Verbindung mit Problematisierungen von Debattenaussagen vor, denen zu widersprechen ist, wie im folgenden Beispiel: (53) Leider kam es in den letzten Jahren immer wieder zu größeren Verlusten, vor allem sogenannten Winterverlusten, unter den Bienenvölkern. Oft wurden Pflanzen-schutzmittel dafür verantwortlich gemacht. Aber deren Einsatz ist in Deutschland so streng reglementiert, dass es in der Regel keine unvertretbaren Auswirkungen auf Nichtzielorganismen wie Honigbienen gibt. (IVA 2014b)
Die Proposition ‚Pestizide sind eine Ursache der Bienenverluste‘ wird in (53) zunächst in eine ‚redeinduzierte‘ FW ausgelagert. Anschließend wird die Proposition ‚Der Pestizideinsatz hat (in der Regel) keine negativen Konsequenzen für Bienen‘ in einer negierenden Welt-Welt-Relation eingeführt. Zu beachten ist, dass eine Integration in ‚negierende‘ FWs die TW-Integration von epistemischen Propositionen nicht problematisiert, fraglich macht und/oder die Rezipientin zu eigenen Schlüssen herausfordert, sondern diese vollständig blockiert. Im Hinblick auf die dadurch unmittelbar durch den Orator beanspruchte Faktizität ähnelt die negierende FW-integration somit eher der flachen FAP-Integration, deren Gegenstück sie darstellt. Entsprechend finden sich auch vielfach Realisierungen nach dem bereits für FAP-Integrationen beobachteten Muster einer Kombination mit der Konzeptualisierung WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS, etwa durch epistemische Verben:
7.4 Fokusraum-Integration
211
(54) Die vorliegenden umfangreichen Daten deuten übereinstimmend darauf hin, dass Neonikotinoide bei verantwortungsbewusstem Einsatz kein unvertretbares Risiko für Honigbienen und andere Bestäuber darstellen. (Bayer 2016) (55) Es gibt keinen Hinweis darauf, dass bei sachgemäßer Anwendung von Pflanzenschutzmitteln subletale Effekte auftreten, die negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Bienenvolks zeigen. (IVA 2016)
Wie die Segmente (54) und (55) zeigen, können Negationen hier entweder die zentrale epistemische Proposition selbst betreffen (54) oder aber die gesamten propositionalen Komplexe (53). Segment (54) zeigt außerdem die für Segment (04) in Abschnitt 7.1.2 festgestellte interne Komplexität der Proposition, die eine Interpretation zusätzlich verkompliziert. Ich werde in Abschnitt 7.5 anhand einiger Beispiele näher darauf eingehen, wie sich aus der Verbindung von Negationen mit anderen Integrationstypen immer wieder sehr komplexe Formen der TW-Integration epistemischer Propositionen bei AGRAR ergeben.
7.4 Fokusraum-Integration Die zweite Form mittelbarer TW-Integrationen stellt die Einbettung zentraler epistemischer Propositionen in Fokusräume der TW dar.
7.4.1 Forschungsräume Ein im gesamten Korpus immer wieder auftauchendes Muster der Konstitution wissenschaftlichen Wissens besteht darin, dass zentrale epistemische Propositionen innerhalb von räumlich und/oder zeitlich eingegrenzten Fokusräumen eingeführt werden. Der Aufbau dieser Fokusräume dient v. a. dazu, ÜBER STUDIEN und STUDIENERGEBNISSE ZU INFORMIEREN. Dementsprechend zeichnen sich die Fokusräume dadurch aus, dass sie durch den Hintergrund-Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS strukturiert sind. Sie lassen sich deshalb auch als Forschungsräume bezeichnen. Im Rahmen der beiden TRS wird diese Möglichkeit von den Oratoren zu unterschiedlichen Zwecken genutzt: Während ÖKO Forschungsräume vor allem nutzt, um wissenschaftliche Beweise für bestimmte argumentativ wichtige Propositionen anzuführen, wird wissenschaftliches Wissen bei AGRAR prinzipiell stärker an eine Verortung in Forschungsräumen rückgebunden, während eine Übertragung in die allgemeine TW-Struktur in vielen Fällen ausbleibt.
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7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
Was sind Forschungsräume? – Ein ausführliches Beispiel Um den Aufbau eines Forschungsraumes zu illustrieren, möchte ich auf einen Ausschnitt aus BUND 2015a zurückgreifen. Im Text werden mehrere Studienergebnisse präsentiert, die die negativen Konsequenzen des Neonicotinoids Thiacloprid für Bienen beweisen. Dazu wird die Veröffentlichung der Studienergebnisse beschrieben und deren Inhalt wiedergegeben. Unter anderem findet sich darin auch das folgende Textsegment (56): (56) In einem Experiment testeten die Wissenschaftler die Wirkung auf die Fähigkeit der Bienen, sich ausreichend orientieren zu können. Den Versuchsbienen wurde an der Futterstelle eine kleine Menge der Pestizide verabreicht. Es zeigte sich, dass ihr Orientierungsvermögen während der Heimkehrphase durch die Insektizide gestört wurde. Dies lässt sich daran belegen, dass bedeutend weniger Bienen erfolgreich zum Stock zurückfanden und die Flugwege insgesamt weniger direkt verliefen. Auch die Fluggeschwindigkeit war verringert. Die stärksten Effekte hatte hier im Übrigen das Thiacloprid. (BUND 2015a)
Einen ersten Hinweis für den Aufbau eines Fokusraumes liefert in (56) die Präpositionalphrase (PP) in einem Experiment, die als Lokaladverbiale fungiert und somit einen bestimmten TW-Bereich ausweist. Während das Tempus im unmittelbaren Vortext des Segments, der ebenfalls die Studie (als Veröffentlichung) beschreibt, zwischen Präteritum und Präsens wechselt, wird in (56) Kohäsion durch die fast durchgehende Verwendung des Präteritums erzeugt. Tempus und Ortsangabe grenzen somit einen deiktischen Raum innerhalb der TW ab, in welchem FAPs realisiert werden, die v. a. den Ablauf des Versuchs beschreiben. Die einzige Ausnahme davon stellt die VP dies lässt sich daran belegen dar, die eine Kommentierung einer Aussage innerhalb des Fokusraumes aus externer Perspektive darstellt. Die Kohärenz der Wissenselemente und -strukturen (FAPs und WBEs) innerhalb des Fokusraumes wird primär durch den Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS gewährleistet (Experiment, Wissenschaftler, Versuchsbienen, testen, verabreichen). Die FAPs innerhalb des Fokusraumes realisieren dabei in geraffter Form den zeitlich linearen Ablauf des durch den ersten Satz evozierten Frame-Elementes (FEs) WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK, dessen innere Struktur sich durch die Frame-Elemente VERSUCHSAUFBAU, BEOBACHTUNG und SCHLUSSFOLGERUNG auszeichnet. Die erfolgte Weltenarchitektur lässt sich somit im Fall von (56) wie in Abbildung 7.11 dargestellt rekonstruieren: Der Aufbau des Fokusraums endet in BUND 2015a mit dem letzten Satz von (56), der in typografischer Hinsicht zugleich den letzten Satz des gesamten Absatzes darstellt. Im darauffolgenden Textsegment wird dann ein neuer Fokusraum aufgebaut, der einen weiteren separaten Bereich der TW beinhaltet, welcher ebenfalls durch die Frames WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS und WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK strukturiert ist, und somit als weiterer Forschungsraum begriffen werden kann.
7.4 Fokusraum-Integration
213
TW WBEs: Hintergrund-Frames: WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS
ÄW
_____________________________________________________________________________ FAPs:
Akteure: Orator, Leserin ________________________
Handlungsstruktur:
FR Setting: Experiment; Vergangenheit Hintergrund-Frames: WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS ___________________________________________________________________
FAPs: ÜBER STUDIE INFORMIEREN
Wissenschaftler testen Wirkung von PSM auf Bienen.
BEOBACHTUNG
VERSUCHSAUFBAU Bienen bekommen PSM verabreicht.
SCHLUSSFOLGERUNG
Weniger Bienen kommen zurück zum Stock. Flugwege verlaufen indirekt. Fluggeschwindigkeit ist verringert.
PSM stört Orientierungsfähigkeit der Bienen. Thiacloprid verursacht stärkste Effekte.
Abbildung 7.11: Rekonstruierte Weltenarchitektur für (56).
Die Annahme solcher Forschungsräume als zeitlich und räumlich eingegrenzte TW-Bereiche scheint kohärent zu Textstellen, bei denen die Darstellung von WISSENSCHAFTLICHEN PRAKTIKEN anhand der konzeptuellen Gefäß-Metaphorik beschrieben werden kann. Bei dieser von Lakoff & Johnson (2011: 39) beschriebenen konzeptuellen Metapher werden Sachverhalte und Gegenstände metaphorisch als Gegenstände konzeptualisiert, die nach außen hin abgegrenzt sind und zudem einen Inhalt haben, den sie in sich tragen. Die Gefäß-Metapher zeigt sich in Bezug auf WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIKEN an mehreren Stellen im Korpus: (57) Diese Werte stammen aus Studien, die unter extremen (kalten und trockenen) klimatischen Bedingungen im Nordwesten Nordamerikas durchgeführt wurden. (Bayer 2016) (58) Zudem beinhalteten viele dieser Studien ausschließlich Tests, die an einzelnen Bienen außerhalb des Bienenvolks durchgeführt wurden. (Bayer 2016) (59) Trotz neuer Drillsaattechniken geht aus den verfügbaren Studien hervor, dass nach wie vor eine Abdrift von Stäuben stattfindet und dass diese für Bienen eine Quelle akuter Exposition darstellt. (Greenpeace 2017) (60) Ergebnisse aus Fütterungsstudien, mit denen untersucht wird, welche Auswirkungen die Exposition von Bienenvölkern gegenüber bekannten Konzentrationen eines Pflanzenschutzmittels in einer Trachtquelle hat, können mit Rückständen von Pflanzenschutzmitteln im Pollen und Nektar behandelter Pflanzen verglichen wer-den, um das Risikopotenzial besser zu quantifizieren. (Bayer 2018) (61) Eine Erkenntnis aus den Studien war, dass Imidacloprid- oder Clothianidin-Konzentrationen von mindestens 20 bis 25 μg/kg den exponierten Bienenvölkern unter realistischen Feldbedingungen keinen Schaden zufügten. (Bayer 2016)
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7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
(62) Aus den neuesten wissenschaftlichen Studien geht eindeutig hervor, dass es in Europa und Nordamerika bei Wild- und Honigbienen zu erheblichen Verlusten gekommen ist. (Greenpeace 2014b)
In den Textsegmenten (57)-(62) zeigt sich die Gefäß-Metapher anhand der lokalen Präposition aus insbesondere in Verbindung mit den Verben stammen aus X und aus X hervorgehen sowie des Verbs beinhalten. Ähnlich wie bei Forschungsräumen werden hier WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIKEN als nach außen hin abgegrenzte Entitäten innerhalb der TW dargestellt, die einen Inhalt besitzen. Dieser Inhalt kann in vielen Fällen als Erkenntnis bzw. als ‚epistemische‘ Proposition begriffen werden. Forschungsräume bei ÖKO Der Aufbau von Forschungsräumen dient innerhalb der ÖKO-TRS dazu, bestimmte Propositionen, deren Geltung stets für die gesamte TW behauptet wird, sichtbar werden zu lassen. Propositionen in Forschungsräumen stehen damit immer in Verbindung zu Propositionen in der gesamten TW. Ein illustratives Beispiel für dieses Muster findet sich in Kapitel 4 „Insektizide“ von Greenpeace 2013b. Dieses Kapitel dient dazu, den negativen Einfluss des Pestizideinsatzes auf Insekten – v. a. Bienen – anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse nachzuweisen. Insbesondere wird hier auf die Rolle sog. subletaler Effekte hingewiesen: (63) Trotz mangelnder Dokumentation gibt es genug Beispiele für nachgewiesene subletale Wirkungen (Desneux et al., 2007). (Greenpeace 2013b)
In (63) wird die Proposition ‚Pestizide verursachen (subletale) negative Konsequenzen für Bienen‘ innerhalb der TW eingeführt und trotz einer konzessiven Einschränkung klar als gültig dargestellt. Unter der Zwischenüberschrift „Beispiele für subletale Effekte“ werden dann ausgehend von bestimmten Wirkungsarten wissenschaftliche Erkenntnisse als Beweise für die Geltung dieser Proposition in der TW präsentiert. Bei der Konzeptualisierung dieser Erkenntnisse erfolgt dann der Aufbau mehrerer Forschungsräume, wie des folgenden: (64) Bei einem weiteren Laborexperiment führten subletale Dosen von Imidacloprid zu signifikanten Einschränkungen der Mobilität. Die Bienen zeigten sich weniger aktiv als unbehandelte Bienen, wobei dieser Effekt jedoch vorübergehend war. Außerdem wiesen die Bienen eine geringere Kommunikationsfähigkeit auf, was ihr soziales Verhalten grundlegend beeinflussen könnte. (Medrzycki et al., 2003). (Greenpeace 2013b)
Hinweise auf den Aufbau eines FRs liefern in (64) die PP bei einem weiteren Laborexperiment sowie die Verwendung des Präteritums. Interessant ist, dass sich auf der grammatischen bzw. der morphologischen Ebene im letzten Satz von (64) ein Bruch zeigt: Während der erste Teilsatz durch die Verwendung der Präteritums klar inner-
7.4 Fokusraum-Integration
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halb des FRs verortet wird, weist der zweite Satz nicht die eigentlich erwartbare Vergangenheitsform auf (beeinflusst haben könnte). Stattdessen verweisen Tempus und Modus hier auf den Aufbau einer FW in epistemischer Welt-Welt-Relation, wobei als Matrixwelt nicht der FR, sondern die gesamte TW angenommen werden kann. Die Frage, die sich dann stellt, ist, worauf sich der textdeiktische Verweis bzw. das Relativpronomen was im letzten Teilsatz bezieht. Die aus meiner Sicht naheliegendste Interpretation des Textsegmentes ist in Abbildung 7.12 als TWT-Diagramm dargestellt.
Abbildung 7.12: Rekonstruiertes TWT-Diagramm für (64).
Laut dieser Rekonstruktion beinhaltet die durch den letzten Teilsatz konstruierte FW die Proposition ‚Durch Pestizide verursachte Entwicklungsstörungen beeinflussen das Sozialverhalten von Bienen grundlegend‘. Das Relativpronomen was verweist demnach auf die TW-Proposition ‚Subletale Pestizid-Dosen verursachen Entwicklungsstörungen bei Bienen‘. Diese Proposition ist allerdings ausgehend vom Wortlaut von (64) explizit nur innerhalb des FRs verortet, nicht jedoch in der gesamten TW. Die sprachliche Form des letzten Teilsatzes von (64) spricht m. E. aber dafür, dass die Proposition des FRs hier direkt in die gesamte TW integriert wird (gestrichelter Pfeil in Abbildung 7.12). Die im Kontext der Debatte argumentativ höchst relevante Proposition ‚Subletale Pestizid-Dosen verursachen Entwicklungsstörungen bei Bienen‘ wird also zunächst innerhalb eines FRs in den CG eingeführt, jedoch gleichzeitig und ohne die Notwendigkeit zur Explizierung – also sozusagen selbstverständlich – in die gesamte TW übertragen. Im unmittelbaren Kotext von (64) erfolgt ein Weltenaufbau in analoger Weise nochmals in Segment (65). (65) Kürzlich konnte in Feldversuchen gezeigt werden, dass Honigbienen die mit dem Neonicotinoid Thiamethoxam kontaminierten Pollen oder Nektar aufnahmen, selbst bei geringen Dosen den Rückweg zum Bienenstock nicht immer finden konnten. Infolgedessen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie innerhalb eines Tages sterben, auf das Doppelte, was zu
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einer Schwächung des Volkes führt und das Risiko seines Kollabierens erhöht (Henry et al., 2012). (Greenpeace 2013b)
In beiden Fällen wird die im Forschungsraum konstruierte Proposition unmittelbar in die TW integriert. Dabei ist zu beachten, dass die jeweiligen Propositionen in einem argumentativen Stütz-Verhältnis mit der durch Segment (63) bereits in der TW etablierten Proposition ‚Pestizide verursachen (subletale) negative Konsequenzen für Bienen‘ stehen. Dafür, dass die Propositionen in (64) und (65) nicht innerhalb des FRs ‚verbleiben‘, spricht auch, dass die weiteren im Kotext angeführten „Beispiele für subletale Effekte“ zu einer unmittelbareren TW-Integration vergleichbarer ‚epistemischer‘ Propositionen ohne den Aufbau von Fokusräumen führen. Wie anhand der Segmente (63)-(65) aus Greenpeace 2013b bereits angeklungen ist, werden Forschungsräume bei ÖKO in erster Linie aufgebaut, um als Beweise für Propositionen zu dienen, die zuvor bereits in die TW eingeführt wurden. Vor allem diese Art der Nutzung von Forschungsräumen als Belegstellen für bereits in die TW eingeführte Propositionen kann als charakteristisch für die ÖKO-TRS angesehen werden. Dies zeigen etwa auch die Segmente (66)-(68): (66) Bienen vollbringen bemerkenswerte Leistungen beim Sammeln von Nektar und Pollen. Auf ihren ausgedehnten Flügen ist eine funktionierende Orientierung unerlässlich. Pestizide schädigen die Bienen hier entscheidend. Sie verringern im Experiment die Aktivität und behindern vor allem die Navigation der Insekten. Erst im Jahr 2012 konnte gezeigt werden, dass Arbeiterinnen, die das Neonicotinoid Thiamethoxam in niedrigen Dosen aus Pollen oder Nektar aufnahmen, vermehrt den Weg in ihren Stock nicht mehr fanden. Das Volk wird so entscheidend geschwächt, das Risiko seines Kollapses erhöht sich. (Greenpeace 2013a) (67) Analytische Untersuchungen von Grund- und Oberflächenwasserproben im Rahmen der offiziellen Monitorings ergeben regelmäßig, dass diese mit Pestiziden belastet sind. Eine in Deutschland über fünf Jahre (2009 bis 2013) durchgeführte Untersuchung zeigte: Pestizide oder ihre Metaboliten hatten bei 60 Prozent der 2280 untersuchten Probenahmestellen das Grundwasser erreicht. (Greenpeace 2015) (68) Neonikotinoide haben vielfältige negative Auswirkungen auf Bienen, die durch zahlreiche Studien belegt sind. So wirken Neonikotinoide auf das Nervensystem von Bienen: Forscher wie Randolf Menzel von der Freien Universität Berlin haben in Feldversuchen nachgewiesen, dass das Neonikotinoid Thiacloprid sowohl das Sammelverhalten als auch das Lernvermögen, die Orientierung und das Kartengedächtnis stört. (BUND 2018)
In (66) wird zunächst die Proposition ‚Pestizide schädigen die Orientierung von Bienen‘ unmittelbar in die TW eigeführt und dann unter Rückgriff auf eine Proposition in einem Forschungsraum gestützt. Anschließend wird durch SCHLUSSFOLGERUNGEN ABLEITEN explizit ein Bezug zwischen der FR-Proposition und der TW-Proposition hergestellt. In (67) erfolgt zunächst eine flache TW-Integration der Proposition ‚Pestizide kontaminieren Gewässer‘. Der im letzten Satz lokal konstruierte FR (indiziert
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durch die Verwendung des Präteritums) dient erneut als Stütze dieser bereits in die TW integrierten Proposition. Die hier diskutierten Beispiele illustrieren, dass der Aufbau von Forschungsräumen bei ÖKO vornehmlich dazu dient, zentrale epistemische Propositionen fest in der TW zu re-integrieren. Auch in (68) wird die Proposition zunächst als FAP in die TW eingeführt und dann durch Verortung in einem FR gestützt. Im ersten Satz zeigt sich überdies, dass die Proposition sogar zunächst unmittelbar als FAP eingeführt wird, bevor die etwas ‚komplexere‘ Integrationsweise mit epistemischem Verb im Nebensatz hinzugefügt wird. Forschungsräume bei AGRAR Auch innerhalb der AGRAR-TRS finden sich zahlreiche Belege für den Aufbau von Forschungsräumen. Allerdings unterscheidet sich die damit einhergehende TWIntegration zentraler epistemischer Propositionen bei AGRAR recht deutlich zu der oben für ÖKO skizzierten Art der Wissenskonstitution. (69) 2014 wurde mit Unterstützung verschiedener Forschungseinrichtungen, darunter das Bieneninstituts Oberursel, eine der bisher umfangreichsten Feldstudien auf Landschaftsebene zu Winterraps mit Clothianidin-gebeiztem Saatgut in Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt. Die Kontrollfläche und die behandelte Fläche waren jeweils 65 Quadratkilometer (6.500 Hektar) groß, und es gab 17 bis 18 Rapsfelder mit einer Gesamtfläche von ca. 600 bis 800 Hektar im jeweiligen Gebiet. In dieser für Bayer durchgeführten Studie wurden Honigbienen, Hummeln und eine Wildbienenart (Osmia rufa) untersucht, und zwar während und nach der Rapsblüte, sowie nach der folgenden Überwinterungssaison. Hierbei wurden keine negativen Auswirkungen durch die Saatgutbehandlung berichtet. (Bayer 2015a)
Segment (69) stellt ein typisches Beispiel für den Aufbau eines Forschungsraumes bei AGRAR dar. Wie Abbildung 7.13 deutlich macht, ist die zentrale epistemische Proposition in eine FW zusätzlich in eine redeinduzierte Welt-Welt-Relation integriert, die ihren Ankerpunkt im Forschungsraum hat. AGRAR tritt also als verantwortlicher Orator für den Aufbau des FRs, aber nicht selbst als verantwortlicher Lokutor der Proposition in der FW auf. Damit ist die Zugänglichkeit bzw. die Geltung der Proposition stark an den Forschungsraum rückgebunden. Die Proposition ‚Der Neonicotinoid-Einsatz hat (keine) negativen Auswirkungen auf Bienen‘ wird im vorangegangenen Kotext von Bayer 2015a vom Orator nicht selbst eingeführt, sondern im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters problematisiert (siehe dazu ausführlich Kapitel 8.1). Auch im nachfolgenden Kotext bleibt eine explizite Form der TW Re-Integration aus. Stattdessen werden in analoger Weise zu (69) weitere Forschungsräume eingeführt. Ein definitives Urteil über die Faktizität der Proposition verbleibt somit eine Interpretationsaufgabe der Rezipientin. Auffällig ist bei (69) zudem die Konzeptualisierung der Frame-Elemente (FEs) FORSCHUNGSDESIGN, AKTEURE, ORT, ZEIT und DURCHFÜHRUNG des Frames WISSENSCHAFTLICHE
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
218
TW
ÄW
FR ÜBER STUDIE INFORMIEREN ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIEREN
Setting: 2014, Mecklenburg-Vorpommern Akteure: verschiedene Forschungseinrichtungen, Bayer, Honigbienen, Hummeln
Hintergrund-Frames: WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS __________________________
redeinduzierte Welt-Welt-Relation
FAPs: Honigbienen, Hummeln und eine Wildbienenart wurden untersucht Es wurde berichtet, dass FW
FW Saatgutbehandlung hat keine negativen Auswirkungen auf Honigbienen, Hummeln und eine Wildbienenart
Abbildung 7.13: Vereinfachtes TWT-Diagramm von (69).
PRAKTIK. Der Forschungsraum wird dadurch sozusagen ausgestaltet. Insbesondere die damit einhergehende Betonung des Studienumfangs (eine der bisher umfangreichsten Feldstudien auf Landschaftsebene, 65 Quadratkilometer (6.500 Hektar) groß, 17 bis 18 Rapsfelder mit einer Gesamtfläche von ca. 600 bis 800 Hektar) verweist darauf, dass diese Ausgestaltung des Forschungsraumes in (69) darauf abzielt, den Geltungsanspruch von darin eingebetteten epistemischen Propositionen zu stützen. Genauso wie Propositionen durch die Konzeptualisierung des Forschungsraumes, in welchen sie eingebettet sind, Geltung verliehen wird, kann sie ihnen auf dieselbe Weise jedoch auch abgesprochen werden, wie dies etwa in (70) der Fall ist (siehe hierzu auch das ausführlich erläuterte Beispiel in Kapitel 8.1.4). Die Integration von Propositionen in Forschungsräume – bzw. der Aufbau von Forschungsräumen rund um Propositionen – ist für AGRAR also auch wichtig, um Studienerkenntnisse und insbesondere deren Aussagekraft zu kritisieren. Dabei wird insbesondere die Übertragbarkeit von Propositionen bzw. deren Geltung aus dem Forschungsraum heraus in die TW in Zweifel gezogen/bestritten (71). (70) In vielen Studien zu diesem Thema wurden tatsächlich subletale Wirkungen festgestellt (z. B. Änderungen im Verhalten). Es ist jedoch bezeichnend, dass fast alle diese Studien entweder mit höheren Expositionskonzentrationen durchgeführt wurden [...]. (Bayer 2016) (71) Die in den Studien gemachten Beobachtungen konnten in der imkerlichen Praxis nie beobachtet werden. (IVA 2016)
Forschungsräumen wird im Rahmen der TRS von AGRAR häufig eine starke Präsenz (im Sinne der Neuen Rhetorik, siehe Kapitel 4.2.2) verliehen. Auf der Ebene der Einzeltexte kann etwa Bayer 2015b in Gänze als eine Art Forschungsraum betrachtet werden. Auch auf multimodaler Ebene werden im Zuge der AGRAR-TRS Forschungsräume konzeptualisiert. So finden sich etwa immer wieder fotografische Abbildungen von Versuchsaufbauten. Motive sind dabei zum einen sogenannte Bienentunnel, also Versuchsaufbauten in Feldern, sowie insbesondere Forscherinnen. Interessant ist hier insbesondere auch die Inszenierung von for-
7.4 Fokusraum-Integration
219
schenden Individuen. Durch diese ‚Bevölkerung‘ des Forschungsraumes wird der Rezipientin eine Identifizierungsmöglichkeit geboten, deren Perspektive gleichsam übernommen werden kann (vgl. dazu auch die von Niederhauser 1999: 198–203 beschriebene Personalisierungsstrategie der Popularisierung von Wissenschaft). Die Leserin wird so ‚mit in den Forschungsraum genommen‘. Die Präsenz der Forschungsräume bei AGRAR unterstützt – gerade im Verhältnis zu deren ‚Unscheinbarkeit‘ bei ÖKO – die Annahme eines ‚Einschließens‘ von zentralen epistemischen Propositionen in diese Forschungsräume. Die Geltung von Aussagen ist somit stark an bestimmte TW-Bereiche gebunden, eine Geltung in der gesamten TW durch Re-Integration jedoch ergibt sich kaum. Anders ausgedrückt: Eine Gesamt-Geltung von Propositionen innerhalb der TW wird weniger oft vom Orator expliziert, sondern muss weitestgehend von der Rezipientin selbst erschlossen werden. Dies gilt insbesondere für das argumentative Widerspruchsmuster: Die Übertragbarkeit von ‚opponierenden‘ Propositionen in der TW wird abgestritten, was an manchen Stellen sogar expliziert wird. Die ‚besseren‘, also in die TW übertragbareren, Propositionen werden dennoch in FRs verortet – die Übertragung bleibt somit der Rezipientin vorbehalten (siehe dazu ausführlich Kapitel 8.1.4).
7.4.2 Vereinzelte Ereignisse Ein ähnlicher Mechanismus des Eingrenzens vs. Re-Integrierens von Propositionen in bzw. aus FRs zeigt sich beim Umgang mit dem 2008er Bienensterben, das von ÖKO an einer Stelle (69) im Sinne einer lokalen Sichtbarkeit bzw. Erkennbarkeit der in der gesamten TW geltenden Proposition ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ konzeptualisiert wird: (72) Die Wirkung von Clothianidin auf Bienen zeigte sich im Frühjahr 2008: Das Insektizid aus der Gruppe der Neonicotinoide, hergestellt von Bayer CropScience, bewirkte in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg den Tod oder die schwere Schädigung von zehntausenden Bienenvölkern. Die Vergiftung erfolgte über behandeltes Mais-Saatgut und Verwehung des staubförmigen Wirkstoffes durch den Wind auf benachbarte Äcker. (BUND 2016[2010])
Im Großteil von (72) wird die Proposition ‚Clothianidin verursacht negative Konsequenzen für Bienen‘ innerhalb eines spatio-temporal klar eingegrenzten FRs in den CG eingeführt (im Frühjahr 2008, in der Region Oberrhein in Baden-Württemberg). Bereits anhand des ersten Satz von (72) jedoch wird deutlich, dass diese Proposition auch außerhalb des FRs gilt – an diesem zeigt sich der allgemein gültige VERURSACHUNGS-Zusammenhang. Die auf dem Frame VERURSACHEN beruhende propositionale Struktur des FRs wird somit in die gesamte TW re-integriert.
220
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
Interessant ist der Fall des 2008er Bienensterbens auch deshalb, weil sich im Umgang damit bei AGRAR eine andere Funktionalisierung der FR-Integration zeigt, wie Segment (73) verdeutlicht: (73) Damals waren bei einem Unfall, der durch insektizidhaltigen Staub von schlecht aufbereitetem Mais-Saatgut ausgelöst wurde, Bienenvölker im badischen Oberrheingebiet massiv geschädigt worden [...] Inzwischen sind die Gründe für die damals entstandenen hohen Staubwerte bekannt. Die betroffenen Unternehmen haben darauf reagiert: Primär wurden die Beizverfahren so weiterentwickelt, dass die Staubabriebwerte heute nur einen Bruchteil der damals gemessenen Werte betragen. Zudem wurden Zusatztechnologien für Sägeräte entwickelt, die den Eintrag des Beizstaubes in die Umwelt und die Kontaktmöglichkeit für Bienen nochmals um 90 Pro-zent und mehr verringern. (IVA 2016)
Die Proposition ‚Der Neonicotinoid-Einsatz verursacht negative Konsequenzen für Bienen‘ wird in (73) ebenfalls zunächst innerhalb eines klar bestimmten spatiotemporalen Bereiches der TW (damals, im badischen Oberrheingebiet) – also innerhalb eines FRs – verortet. Anstatt jedoch eine Übertragbarkeit in den gesamten Raum der TW und somit die allgemeine Gültigkeit hinter dem singulären Ereignis zuzulassen, wird die Proposition im FR von der übrigen TW, insbesondere dem ‚heutigen‘ Teil der TW, separiert: In zeitlicher Hinsicht wird dies an den verwendeten kontrastiven Temporaladverbialen (inzwischen, heute ... damals) deutlich. TW Setting: vor 2008 - heute Entitäten: Bienen, Neonicotinoide Hintergrund-Frames: LANDWIRTSCHAFT _______________________________ FAPs: FR Setting: 2008, Rheintal
_________________ FAPs: P ENTWICKELN (TECHN. LÖSUNGEN) > KONSEQUENZ: quantitative & qualitative Veränderung
heute
t
Abbildung 7.14: Schematische Darstellung der TWKonstruktion in (73).
Die zeitliche Entwicklung der TW (Pfeil in Abbildung 7.14) geht mit einer Entwicklung der faktischen Gegebenheiten einher, die auf das Engagement des Orators zurückzuführen ist (siehe auch Kapitel 8.3.4). Es wurden neue Technologien ent-
7.4 Fokusraum-Integration
221
wickelt, die ein Verhältnis von Quantitäten bedingen (nur einen Bruchteil, nochmals um 90 Prozent und mehr), in dem sich die Strukturen des Fokusraumes und der nun geltenden TW zueinander verhalten. Ein ähnliches Vorgehen des Einschließens einer Proposition in einen FR zeigt sich auch im folgenden Beispiel (74): (74) Es gab nur sehr wenige Zwischenfälle, bei denen Bienen tatsächlich durch die Anwendung von Neonikotinoiden geschädigt wurden. Ein solcher Vorfall ereignete sich 2008 in Südwestdeutschland, wo zahlreiche Bienenvölker durch abdriftende Staubpartikel von behandeltem Maissaatgut Schaden erlitten (Pistorius et al. 2009). Derartige Unfälle sind selten und waren im Allgemeinen auf unsachgemäße Handhabung von Produkten zur Saatgutbehandlung zurückzuführen. Der Vorfall im Jahr 2008 wurde zum Beispiel durch die Missachtung der Best Practices für den Saatgutbehandlungsprozess verursacht, wodurch die Haftung des Insektizids am behandelten Saatgut beeinträchtigt wurde. Die Pflanzenschutzindustrie hat dieses Problem erkannt und Hand in Hand mit Behörden, Saatgutproduzenten, Maschinenherstellern und Forschungsinstituten zusammengearbeitet, um technische Lösungen zur Verbesserung der Saatgutbehandlungs- und Sämaschinen zu entwickeln. Die großen Erfolge, die seither erzielt wurden, haben die Umweltsicherheit von Saatgutbehandlungen deutlich verbessert und die Umweltexposition durch Staubemissionen von behandeltem Saatgut drastisch reduziert [...]. (Bayer 2016)
Auch hier wird die Proposition in einem FR eingegrenzt und in eine Spannung bzw. Distanz zur übrigen TW gestellt. Erneut wird zwischen FR und ‚heute‘ eine technologische Entwicklung ‚geschaltet‘, die eine quantitative und qualitative Veränderung propositionaler Strukturen relativ zum Fokusraum beinhaltet (seither ... deutlich verbessert, drastisch reduziert). Eine Re-Integration der Proposition aus dem FR in die übrige TW wird somit verhindert. Ein weiterer in (74) beobachtbarer Eingrenz-Mechanismus betrifft das Bezeichnen solcher FR-Ereignisse innerhalb der TW: Als nur sehr wenige Zwischenfälle die selten sind, werden die entsprechenden Fokusräume (indiziert durch bei denen + Proposition) an vereinzelten Stellen der TW positioniert. Etwas analytisch gesprochen: Die Betrachtung von geringen Verteilungen lässt weniger gut auf eine zugrundeliegende Regel schließen. Das Vorkommen der Proposition in einzelnen Fokusräumen lässt also – so die Botschaft – kein dahinterstehendes (bedingendes) Prinzip in Form einer allgemeinen TW-Gültigkeit erkennen. Entsprechend wird das Erscheinen der Proposition im FR auch nicht durch eine die Grenzen des FRs überschreitende Gültigkeit der Proposition in der TW begründet, sondern auf andere – technische – Ursachen zurückgeführt. Diese Strategie zeigt sich auch im folgenden Beispiel (75): (75) In der Vergangenheit kam es zu einigen wenigen Zwischenfällen, die Bienen betrafen. Die Ursache für die meisten dieser Zwischenfälle war die Verwendung unsachgemäß behandelten Saatgutes, das bei der Aussaat insektizidhaltigen Staub an die Umwelt abgab. Die
222
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
Folge war ein akutes Bienensterben. Die Vorfälle gaben den Anstoß für weitere Forschungen zur Risikobegrenzung, die zum Ziel haben, die Emissionen von Staubpartikeln bei der Aussaat zu reduzieren. (IVA 2014a)
7.5 Komplexe TW-Integrationen in den TRS Die bisherige Diskussion der TW-Integrationen hat gezeigt, dass es immer wieder auch zu Fällen kommt, in denen unterschiedliche mittelbare und unmittelbare Formen miteinander kombiniert werden und die somit als komplexe TW-Integrationen rekonstruiert werden können. Solche TW-Integrationen finden sich insbesondere bei AGRAR. Ich möchte im folgenden Abschnitt anhand einiger Beispiele aufzeigen, wie sich die TW-Integration in solchen Fällen darstellt. Die Komplexität der Weltenarchitekturen, in die zentrale epistemische Propositionen bei AGRAR integriert werden, macht Segment (76) deutlich. Dabei handelt es sich um zwei Stichpunkte aus einem Infokasten, der dem Fließtext am Textbeginn beigeordnet ist. (76) Bei Neonikotinoiden wurden in keiner Studie mit realistischem Expositionsszenario und korrekter Anwendung jemals schädliche Auswirkungen auf Honigbienen-völker beobachtet. In zahlreichen Monitoringprojekten wurde keine systemische räumliche oder zeitliche Korrelation zwischen der Anwendung von Neonikotinoiden und einer erhöhten Sterblichkeit von Honigbienenvölkern festgestellt. (Bayer 2016)
Die in (76) erfolgende Weltenkonstruktion ist in Abbildung 7.15 rekonstruiert. Sie macht deutlich, wie zentrale Propositionen bei AGRAR in FWs ausgelagert und in FRs eingeschlossen werden. Im ersten Satz findet sich die Proposition innerhalb eines FRs, der Teil einer FW in negierender Welt-Welt-Relation zur TW ist, d. h. die FW blockiert den Aufbau entsprechender Strukturen innerhalb der TW. Statt die TW-Integration direkt zu bestreiten, wird hier also von AGRAR lediglich die TW-Integration von FRs bestritten, die die Proposition enthalten. Im zweiten Satz werden innerhalb der TW FRs aufgebaut (aus Gründen der Einfachheit ist in Abbildung 7.15 nur einer davon stellvertretend dargestellt), innerhalb derer wiederum durch den Aufbau einer weiteren FW in negierender Welt-Welt-Relation die Integration der epistemischen Proposition verhindert wird. Durch diese sehr komplexen Formen der TW-Integration wird innerhalb der Weltenarchitektur Distanz zwischen der Proposition und der TW erzeugt (vgl. dazu Kapitel 3.5.3). Anschaulich illustriert dies etwa Segment (77): (77) „In dieser Debatte gibt es zwei große Verlierer“, so Hartfield, „(und das sind) die Wissenschaft und die Bienen. Wir konnten unter realen Feldbedingungen keine Schädigungen der Bienen durch Neonics feststellen.“ (Bayer 2014)
7.5 Komplexe TW-Integrationen in den TRS
223
FW FR TW
ÄW
__________________________ FAPs:
ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIEREN
Schädliche Auswirkungen werden beobachtet. negierende Welt-Welt-Relation
FR
FW Systemische räumliche oder zeitliche Korrelation zwischen der Anwendung von Neonicotinoiden und einer erhöhten Sterblichkeit von Honigbienenvölkern wird festgestellt.
__________________________ FAPs:
Abbildung 7.15: Rekonstruierte Weltenarchitektur für (76).
Beispiel (77) zeigt eine besonders komplexe Form der TW-Integration: Die Proposition ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen‘ ist hier in eine ‚negierende‘ FW integriert, deren Ankerpunkt ein FR innerhalb einer FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation zur TW ist (Abbildung 7.16). TW
redeinduzierte Welt-Welt-Relation
WBEs: Lokutor,Neonicotinoide, Bienen Hintergrund-Frames: WISS. ERKENNTNIS _________________
FAPs:
negierende Welt-Welt-Relation
FW FR Lokutor stellt fest, dass
Lokutor sagt, dass FW
FW Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen
Abbildung 7.16: TW-Integration in (77).
Die Komplexität der TW-Integration bei AGRAR zeigt sich auch in der Betrachtung von mehreren TW-Integrationen, wie in (78): (78) Diejenigen, die die Hypothese einer Bestäuberkrise vertreten, warnen davor, dass es in Zukunft infolge schwindender Bestäubungsleistungen zu einem erheblichen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktivität kommt. In den meisten Fällen werden diese Schlussfolgerungen abgeleitet vom Befund schrumpfender Bestäuber-populationen, die jedoch lediglich auf lokaler Ebene und innerhalb eines beschränkten Zeitraums beobachtet wurden. (IVA 2014a)
In (78) wird zunächst eine Proposition in eine ‚redeinduzierte‘ FW eingebettet. Die TW-Geltung dieser Proposition wird jedoch bestritten, indem die argumentative Grundlage dieser Behauptung als Proposition in einen FR eingeschlossen wird. Auch hier muss die Rezipientin selbst zunächst schlussfolgern, dass eine ReIntegration der stützenden Proposition aus dem FR in die TW nicht gültig ist, um anschließend auch die Re-Integration der Proposition aus der FW als ungültig abzulehnen. Die Komplexität solcher TW-Integrationen zentraler epistemischer Propo-
224
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
sitionen bedingt dabei auch eine entsprechende Komplexität des entsprechenden Argument-Baus bei AGRAR. Komplexe Architekturen finden sich an Stellen der ÖKO-TRS, wie der folgenden: (79) Neben den Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Pestiziden wurde weiterhin nachgewiesen, dass Insektizide mit anderen stressverursachenden Faktoren wie Parasitenbefall interagieren (Alaux et al., 2010). So war „die Sterblichkeit von Honigbienen aufgrund des Insektizids Imidacloprid (Neonicotinoid) [...] bei Bienen, die mit dem Parasiten Nosema infiziert waren, höher, und es zeigte sich, dass eine synergetische Interaktion zwischen beiden Faktoren die Enzymaktivität reduzierte, die mit der Sterilisierung der Nahrung für das Volk im Zusammenhang steht.“ (Alaux et al., 2010; Brittany und Potts, 2011). (Greenpeace 2013b)
Zwar ist auch in (79) ein FR in eine ‚redeinduzierte‘ FW integriert. Allerdings wird die entscheidende epistemische Proposition unmittelbar zuvor mittels FAPIntegration und epistemischem Verb (nachgewiesen) in den CG eingeführt. Die komplexe Konstruktion dient somit in (79) lediglich als Stütze zur Re-Integration – sie könnte prinzipiell sogar auch ohne eine Veränderung der resultierenden Textbedeutung von einer Rezipientin überlesen werden.
7.6 Fazit: Einschließen, Ausgrenzen, Re-Integrieren Tatsächlich legen die in diesem Kapitel dargelegten Analysen in ihrer Gesamtsicht nahe, dass sich die TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen bei AGRAR und ÖKO in einigen Aspekten deutlich, wenn nicht systematisch unterscheiden. Abbildung 7.17 verdeutlicht die verschiedenen typischen Integrationsweisen zentraler epistemischer Propositionen (in der Abbildung: PE) in die Weltenarchitektur bei AGRAR und ÖKO in der Darstellungsweise des TWT-Diagrammes. Bei AGRAR werden zentrale epistemische Propositionen typischerweise entweder an Fokusräume (FRs) gebunden oder in Fokuswelten (FWs) ausgelagert. In beiden Fällen bleibt eine explizite (Re-)Integration in die allgemeine Struktur der Textwelt häufig aus (in Abbildung 7.17 angezeigt durch die gestrichelten Pfeile). Propositionen besitzen also ihre Gültigkeit zunächst innerhalb der Parameter der jeweiligen Fokusdomäne. Die Möglichkeit einer im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters größtenteils problematisierten TW-Integration solcher Propositionen bleibt dabei vielfach unexpliziert und muss von der Rezipientin selbst erschlossen werden (in der Abbildung angezeigt durch die beiden Fragezeichen). Etwas einfacher ausgedrückt: Bei AGRAR werden Wissensbehauptungen von TW-Akteuren geäußert oder gedacht, in mögliche Welten eingebettet oder an ganz bestimmte raum-zeitliche Positionen und Bedingungen der TW gebunden. Ob diese Behauptungen dann in der
7.6 Fazit: Einschließen, Ausgrenzen, Re-Integrieren
AGRAR
ÖKO
TW Hintergrund-Frame: DEBATTE ______________________ FW PE
? ?
FR PE
225
TW WBEs & HintergrundFrames: PE ___________________
PE redeinduziert/kognitiv/ epistemisch/negierend
Abbildung 7.17: Schematische Darstellung der typischen TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen im Rahmen der TRS von AGRAR und ÖKO.
ganzen TW gültig sind, muss die Rezipientin sich zumeist selbst erschließen, indem sie etwa die Glaubwürdigkeit des entsprechenden TW-Akteurs prüft, die Möglichkeitsbedingungen einer möglichen Welt bedenkt oder die Rahmenbedingungen und Parameter eines bestimmten TW-Bereichs evaluiert. Dabei kommt es bei AGRAR immer wieder zu sehr komplexen TW-Integrationen. Bei ÖKO hingegen werden zentrale epistemische Propositionen entweder unmittelbar in die Textwelt eingeführt oder aber explizit aus Fokusräumen und -welten in die TW (re-)integriert. Ihre Gültigkeit ist somit deutlich weniger an begrenzende oder relativierende Parameter gebunden und ist für eine Rezipientin unmittelbar zu erschließen. Bei ÖKO handelt es sich bei den zentralen epistemischen Propositionen somit um fixe Strukturen einer TW, die zudem immer wieder mit der ÄW korreliert und somit in Nähe zur Leserin gebracht wird (siehe dazu ausführlich Kapitel 9.1.2). Es ist anzunehmen, dass diese Konstitutions-Mechanismen einen wesentlichen Einfluss auf die jeweilige epistemische Qualität des im Rahmen der TRS konstituierten geteilten Wissens haben. Hierin liegt, wie ich meine, der zentrale Kern und das strategische Ziel der rhetorischen Strategien der beiden Oratoren. Für ÖKO gilt es, das wissenschaftliche Wissen in der TW als gesetzt zu etablieren, damit daraus unmittelbar Konsequenzen im Hier und Jetzt folgen können. AGRAR hingegen scheint grundsätzlich die Strategie zu verfolgen, die Propositionen aus den Wirklichkeitsentwürfen der Rezipientinnen durch Ausklammerungen her-
226
7 Des Pudels Kern – TW-Integration zentraler epistemischer Propositionen
auszulösen und sich skeptisch dazu zu positionieren. Ich werde diesen Gedanken in der zusammenfassenden Betrachtung aller Analyseergebnisse in Kapitel 10 nochmals aufgreifen. Zuvor jedoch werde ich in zwei Kapiteln ausführlich die Plausibilitätsstrukturen beschreiben, die AGRAR (Kapitel 8) und ÖKO (Kapitel 9) in der Weltenarchitektur etablieren.
8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR 8.1 Der Aufklärer in der Debatte Als Ausgangspunkt einer ausführlichen Beschreibung der transtextuellen rhetorischen Strategie der Agrarindustrie (AGRAR-TRS) bietet sich das Handlungsmuster AUFKLÄREN an, das – wie ich im Folgenden darlegen möchte – den dominanten Sprachhandlungscharakter der Strategie weitestgehend repräsentiert. Das AUFKLÄREN-Muster prägt wesentlich die im Rahmen der TRS etablierte Beziehung von Orator und Leserin, den argumentativen Aufbau der Weltenarchitektur sowie den damit einhergehenden Zugriff auf/Zugang zu wissenschaftlichem Wissen
8.1.1 Das AUFKLÄREN-Muster – Eine erste Annäherung Bei dem von mir hier beschriebenen AUFKLÄREN-Muster handelt es sich um ein komplexes informierendes Sprachhandlungsmuster, bei dem der Orator der Leserin Wissen über die Faktizität einer Proposition (d. h. einer Wissensstruktur) vermittelt, die im Kontext einer Debatte als relevant gesetzt und als solche gleichsam problematisiert wird. Es kann in erster Annäherung als ein sequentielles Handlungsmuster begriffen werden, das durch Texte und Teiltexte realisiert wird: Zu Beginn eines (Teil-)Texts wird die Geltung einer im Debattenkontext verorteten Proposition, die der Leserin zu diesem Zeitpunkt bekannt ist oder bekannt gemacht wird, vom Orator problematisiert. Der darauffolgende Text erfüllt dann die Funktion, die Struktur und den epistemischen Status der Proposition in der Textwelt (TW) für die Leserin nachvollziehbar zu machen, wozu vorrangig wissenschaftliches bzw. fachliches Wissen konstruiert wird. Die initiale Problematisierung und Debatten-Verortung einer Proposition kann dabei als besonderes Charakteristikum des AUFKLÄREN-Musters gegenüber anderen informierenden Sprachhandlungsmustern betrachtet werden. Ich möchte dieses Vorgehen und die damit einhergehende Weltenkonstruktion zunächst anhand eines Beispiels aus Bayer 2016 illustrieren: (01) Teile der Öffentlichkeit und vor allem Umweltaktivisten glauben, neonikotinoide Insektizide seien für einen vermeintlichen Anstieg der Sterblichkeit oder vermehrte Völkerverluste bei Honigbienen verantwortlich.
https://doi.org/10.1515/9783111077369-008
228
8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Wie sehen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema aus, und welche Position vertritt Bayer Bee Care in Bezug auf die Sicherheit neonikotinoider Insektizide? (Bayer 2016)
Nimmt man ein minimales diskursives Vorwissen der Rezipientin an – wovon aufgrund der Textauswahl grundsätzlich ausgegangen werden kann – wird im ersten Satz von (01) die öffentliche Debatte um Neonicotinoide konzeptualisiert. Hinweise darauf liefern der propositionale Gehalt des Nebensatzes, der das Debattenthema enthält, sowie die Nennung der Debattenakteure Teile der Öffentlichkeit und Umweltaktivisten. Eine ÖFFENTLICHE DEBATTE kann demnach als Hintergrund-Frame der TW vermutet werden. Die durch das Verb glauben realisierte Verbalphrase stellt einen klaren Indikator zum Aufbau einer Fokuswelt (FW) in kognitiver Welt-WeltRelation dar, innerhalb welcher die Proposition des Nebensatzes verortet werden kann. Im Rahmen des Mikro-Handlungsmusters ÖFFENTLICHE DEBATTE SCHILDERN resultiert aus dem ersten Satz von (01) somit zunächst die in Abbildung 8.1 dargestellte Weltenarchitektur: kognitive Welt-Welt-Relation
ÄW Akteure: Orator, Leserin ___________________ Handlungsstruktur:
ÖFFENTLICHE DEBATTE SCHILDERN
TW WBEs: Teile der Öffentlichkeit, Umweltaktivisten, Neonics, Honigbienen D Hintergrund-Frames: ___________________ FAP:
FW WBEs: Neonics, Honigbienen Hintergrund-Frames: ___________________ FAP: V (Neonics, Honigbienen, ‚neg. Konsequenz‘)
Abbildung 8.1: Weltenarchitektur nach dem ersten Satz in (01).
Satz 1 in (01) realisiert also die Verortung einer Proposition im Kontext einer öffentlichen Debatte, wobei sich – je nach Vorwissen der Rezipientin um die AkteursKonstellation der Debatte – bereits eine Problematisierung andeutet. Diese erfolgt dann explizit in Satz 2 durch das Mikro-Handlungsmuster FRAGE AUFWERFEN. Dabei wird eine weitere FW in epistemischer Welt-Welt-Relation zur TW aufgebaut, die dieselbe FAP enthält wie die bereits aufgebaute FW in kognitiver Welt-WeltRelation und die zudem durch den Hintergrund-Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS ergänzt ist. Der Satztyp des Interrogativsatzes signalisiert, dass die faktische Korrelation dieser FW mit der TW hier durch den Orator problematisiert wird. Ebenso wird hier gemäß der konventionellen Frage-Antwort-Sequenzialität signalisiert, dass diese Problematisierung durch den Folgetext beantwortet werden wird. Dies betrifft neben der Problematisierung der faktischen Korrelation von FW und TW auch die (epistemische) Positionierung des Orators zur Proposition. Die resultierende Weltenarchitektur ist in Abbildung 8.2 dargestellt.
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
229
Abbildung 8.2: Weltenarchitektur nach dem zweiten Satz in (01).
Mit dem in (01) wiedergegebenen Textsegment ist das AUFKLÄREN-Muster noch nicht abgeschlossen. Die textinitiale Position von (01) und insbesondere der Interrogativsatz machen klar, dass der nachfolgende Text dazu dient, die erfolgte Problematisierung der faktischen Korrelation von FWs und TW bzw. der TW-Integration der zentralen Proposition, welche in die entsprechenden FWs ausgelagert wurde, für die Leserin zu klären. Dafür werden im Folgetext vor allem eine Reihe informierender Mikro- und Meso-Handlungsmuster genutzt, wie bspw. ÜBER BIOLOGIE VON LEBEWESEN INFORMIEREN, ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIEREN und weitere. Da es sich bei (01) um den unmittelbaren Beginn des Fließtexts von Bayer 2016 und damit um die Exposition des Gesamttextes handelt, kann hier zudem plausiblerweise geschlossen werden, dass auch der gesamte Text das Handlungsmuster AUFKLÄREN als dominante Textfunktion realisiert. Das AUFKLÄREN-Muster kann demnach sowohl als Meso- als auch als MakroHandlungsmuster im Korpus bestimmt werden. – Als Meso-Muster stellt es eine (sequenzielle) Kombination aus den MikroHandlungen ÖFFENTLICHE DEBATTE SCHILDERN oder WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS SCHILDERN oder ÖFFENTLICHE DEBATTE KOMMENTIEREN oder FRAGE AUFWERFEN gefolgt von Mikromustern des Typs ÜBER X INFORMIEREN dar. Als solches lässt es sich in 6 von 8 AGRAR-Texten ausmachen und kann im Korpus 24-mal annotationsbasiert erfasst werden – und zwar ausschließlich bei AGRAR. – Als Makro-Muster kann AUFKLÄREN – insbesondere in seiner Kombination mit dem Meso-Muster HINTERFRAGEN – bei (mindestens) zwei AGRAR-Texten deutlich als dominierende Textfunktion identifiziert werden: Bayer 2014 und IVA 2016 (siehe dazu Beispiel (16) unter 9.1.3). Aber auch bei weiteren Texten wie Bayer 2016 kann AUFKLÄREN als dominante Textfunktion angenommen werden (s. o.).
230
8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Eine solchermaßen auf Sequenzialität ausgelegte Bestimmung des Handlungsmusters AUFKLÄREN liefert zwar eine erste Annäherung an den dominierenden Handlungscharakter der AGRAR-TRS, allerdings ist es damit nicht umfassend umschrieben. Ich möchte deshalb im Fortlauf dieses Teilkapitels weitere Aspekte des AUFKLÄREN-Musters herausgreifen, die zum einen den Blick auf das Handlungsmuster selbst gewissermaßen ausweiten (da es gar nicht so einfach ist, das Ganze als klare Sequenz anhand klarer Indikatoren zu bestimmen) und zum anderen darüber einen Blick auf die rhetorische Funktionalität des AUFKLÄRENS im Rahmen der AGRAR-TRS erlauben.
8.1.2 Der Blick auf die Debatte Das vielleicht wichtigste Charakteristikum des AUFKLÄREN-Musters ist es, dass im Zuge dessen ein Blick auf die Debatte geworfen wird. Mit dieser Formulierung möchte ich aus Sicht der TWT ausdrücken, dass die öffentliche Debatte – an der sich die AGRAR-TRS ja selbst beteiligt – als TW-Struktur konzeptualisiert und als solche von Orator und Leserin perspektiviert und zugänglich gemacht wird, wobei zentrale Propositionen als Behauptungen, Meinungen o. Ä. immer wieder in FWs ausgelagert werden (siehe Schema in Abbildung 8.3). ÄW Akteure: Orator, Leserin __________ Handlungsstruktur: AUFKLÄREN
TW WBEs: Debattenakteure Hintergrund-Frame: ÖFFENTLICHE DEBATTE __________ FAPs: Debattenakteur sagt/meint
FW __________ ‚Proposition‘
Abbildung 8.3: Schema des initialen Weltenaufbaus im Zuge des AUFKLÄREN-Musters.
Ich werde in diesem Unterkapitel zunächst darlegen, wie diese Weltenarchitektur durch das Verorten v. a. problematisierter Propositionen im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters vonstattengeht und welche weiteren sprachlichen Phänomene dazu beitragen. Die Debatten-Verortung problematisierter Propositionen Die Beschreibung des Grundprinzips des AUFKLÄREN-Musters unter 8.1.1. zeigt bereits, dass die initiale Problematisierung einer Proposition als ein wichtiges Charakteristikum des AUFKLÄREN-Musters angenommen werden kann. Wie auch in (01)
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
231
erfolgt diese Problematisierung in vielen Fällen durch Interrogativsätze bzw. das Mikro-Handlungsmuster FRAGE AUFWERFEN. Weitere Beispiele hierfür stellen die Textsegmente (02) – (08) dar. In den meisten Fällen sind diese Fragen auffällig positioniert, d. h. vor allem zu Beginn von Texten und Teiltexten und zudem häufig typografisch hervorgehoben in Überschriften, was auf eine besonders relevante Funktionalität hinweist. (02) Gibt es eine Bestäubungskrise? (IVA 2014a) (03) Woran leiden unsere Bienenvölker wirklich? (IVA 2014a) (04) Wieso sehen aber so viele vorherige wissenschaftliche Studien eine klare Kausalität zwischen Neonikotinoiden und Bienensterblichkeit? (Bayer 2014) (05) „Die Zahl der Bienenvölker nimmt weltweit ab“, das ist eine oft geteilte Meinung. Aber stimmt sie auch? (IVA 2016) (06) Bienensterben – ein geeigneter Begriff? (IVA 2016) (07) Toxizität der Neonikotinoide – Gefahr für die Bienen? (IVA 2016) (08) Subletale Schäden? (Bayer 2016)
Charakteristisch ist zudem, dass die Realisierungen solcher Fragen zumeist dann als relevant erachtet werden können, wenn sie auf eine Debatte verweisen. In einigen Fällen, bspw. (03) – (06), ist dies – analog zu (01) – klar im Wortlaut der Frage und/oder im unmittelbaren Kotext erkennbar. In anderen Fällen jedoch ist diese Debatten-Verortung der in Frage gestellten Proposition nur implizit und/ oder durch Vorwissen der Rezipientin erschließbar, wie am folgenden Beispiel (09) illustriert werden soll: (09) Gibt es eine Bestäubungskrise? Stehen Honigbienen kurz vor dem Aussterben? Nimmt die Zahl an Bestäubern so stark ab, dass sich daraus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit ergibt? Um diese Fragen beantworten zu können, muss man zunächst den Zusammenhang zwischen Bestäubern und Bestäubung sowie die Notwendigkeit der Bestäubung für Kultur- und Wildpflanzen verstehen. Und auch die Merkmale dessen, was eine „Bestäuberkrise“ ausmacht, müssen sehr genau definiert werden. Unter idealen Bedingungen für die Bestäubung sollte die Anzahl der Bestäuber groß genug sein, um die zahlreichen und vielfältigen Bestäubungsdienstleistungen erbringen zu können, die sowohl die Kulturpflanzen der Landwirte als auch die Natur erfordern. (IVA 2014a)
(09) repräsentiert Überschrift und Vorspann bzw. Lead eines Kapitels in IVA 2014a. Die drei Interrogativsätze zu Beginn des Textsegmentes führen zur Konstruktion der in Abbildung 8.4 dargestellten Weltenarchitektur, in der die jeweiligen FAPs
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
(hier vereinfacht wiedergegeben) in eine FW in epistemischer Welt-Welt-Relation ausgelagert sind und somit zur Problematisierung der TW-Integration dieser Propositionen (siehe Kapitel 7.3). ÄW Akteure: Orator, Leserin ___________________ Handlungsstruktur:
TW WBEs: Honigbienen, Bestäuber, Menschen D ) Hintergrund-Frames: ( ___________________ FAP:
FRAGE AUFWERFEN
FW WBEs: Honigbienen, Bestäuber, Menschen Hintergrund-Frames: ___________________ FAP:
(offen) S A V
(Honigbienen) (Anzahl v. Bestäubern) (Risikoszenario)
epistemische Welt-Welt-Relation
Abbildung 8.4: TW-Rekonstruktion anhand des Wortlauts der ersten drei Sätze aus (09).
Aus meiner Sicht sind die ersten Sätze allerdings nur dann als im Kotext relevant zu erachten, wenn die Rezipientin ein bestimmtes Wissen über die in der FW ausgelagerten Propositionen besitzt. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass es sich hierbei um geschlossene Fragen handelt. Befunde aus der linguistischen Gesprächsanalyse legen nahe, dass solche Fragen stets auf ein in der epistemischen Qualität unsicheres, aber vorhandenes Vorwissen der Fragenden verweist (vgl. Bongelli et al. 2018: 29; Spranz-Fogasy & Lindtner 2009: 161). Im Fall von (09) kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesem unsicheren Vorwissen nicht um den Wissensstand des Orators handelt, sondern um den Wissensstand der Leserin. (Denn der Orator verfügt ja über dieses Wissen und beantwortet diese Fragen im nachfolgenden Text für die Leserin). Am nächstliegenden erscheint mir die Interpretation, dass es sich dabei um ein Wissen um Aussagen in der öffentlichen Debatte handelt, über das die Leserin verfügt – und zwar zunächst unabhängig davon, ob die Rezipientin tatsächlich darüber verfügt. Es scheint mir plausibel anzunehmen, dass hier durch die Interrogativsätze nicht nur die Problematisierung in Form der Konstruktion einer FW in epistemischer Welt-Welt-Relation geschieht, sondern gleichsam ein Hintergrund-Frame ÖFFENTLICHE DEBATTE in der TW impliziert bzw. evoziert wird. Die Relation von FW zur TW wäre dann nicht nur eine vom Orator unmittelbar signalisierte epistemische, sondern auch eine redeinduzierte oder kognitive, die ihren TW-Ankerpunkt in Akteuren der Debatte besitzt. Tatsächlich ist in IVA 2014a die öffentliche Debatte bereits in der Einleitung recht ausführlich konzeptualisiert, wobei sogar Debattenakteure wie Politiker, Behörden, Wissenschaftler, NGOs, Landwirte, Landbewirtschafter, Industrie und Medien wie Presse und soziale Medien als world-builders benannt werden. Die Annahme, dass im Falle von (09) eine implizite Konzeptualisierung der öffentlichen Debatte erfolgt, wird dadurch gestützt, dass der Begriff Bestäuberkrise –
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
233
der ohne entsprechendes Vorwissen ohnehin kaum zu verstehen ist – bei seiner zweiten Nennung in (09) in Anführungszeichen gesetzt ist, was m. E. klar auf eine FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation verweist. Problematisiert werden hier also nicht ‚irgendwelche‘ Propositionen, sondern solche, die in der bestehenden Debatte relevant sind und offenbar von Debattenakteuren als Behauptungen vorgebracht werden. Wie die Segmente (03) – (05) oben zeigen, wird diese Problematisierung zudem teilweise durch Abtönungspartikel signalisiert. Interessant an diesen Beobachtungen zur Problematisierung ist, dass somit in erster Linie die Debatten-Verortung einer problematisierten Proposition (also die Verortung einer Proposition in einer konzeptualisierten Debatte als TWElement) zum Charakteristikum des AUFKLÄREN-Musters bei AGRAR wird. Die Interpretation dessen, was unter das AUFKLÄREN-Muster fällt, ist letztlich nicht alleine auf bestimmbare Mikro- bzw. Meso-Handlungsmuster und Sequenzen aus diesen rückführbar, sondern kann auch andere (Teil-)Texte miteinbeziehen, in denen sich Hinweise auf die initiale Konzeptualisierung einer Debatte finden und Propositionen problematisiert werden, wie im folgenden Beispiel: (10) Eine kurze Geschichte des „Bienensterbens“ Menschen nutzen die Honigbienen seit Tausenden von Jahren. Die erste historische Überlieferung eines großen Bienensterbens stammt aus dem Jahre 950 nach Christus in Irland. Das gesamte Mittelalter hindurch wurde immer wieder von massiven Bienenverlusten berichtet, bis Ende des 17. Jahrhunderts schließlich Wissenschaftler in Europa damit begannen, den Ursachen für das wiederholte Massensterben von Bienen auf den Grund zu gehen. Die häufigste Ursache, so stellten sie fest, waren widrige Witterungsbedingungen. Doch auch andere Faktoren wie Krankheitserreger oder Parasiten wurden als mögliche Verursacher ausgemacht. (Bayer 2015a)
Zwar wird in (10) weder eine Proposition durch klar identifizierbare MikroHandlungen wie FRAGE AUFWERFEN oder ÖFFENTLICHE DEBATTE SCHILDERN problematisiert, noch finden sich lexikalische Hinweise auf die Konzeptualisierung einer Debatte; dennoch fügt sich das Textsegment in die Grundstruktur des AUFKLÄREN-Musters ein. Wie bereits in (09) können die Anführungszeichen um Bienensterbens hier als Hinweis darauf gesehen werden, dass die Weltenkonstruktion die Annahme einer öffentlichen Debatte und der dort zu verortenden Aussage über die Existenz eines Bienensterbens in einer FW in redeinduzierter Relation zur TW impliziert. Das der Überschrift nachfolgende – hier nicht in Gänze wiedergegebene – Textsegment widerspricht dieser Behauptung nicht explizit, sondern konstruiert durch eine Abfolge von assertiven Mikro-Handlungen wie ÜBER GESCHICHTE INFORMIEREN, SITUATION SCHILDERN, ÜBER BIOLOGIE VON LEBEWESEN INFORMIEREN und ÜBER STAND DER FORSCHUNG INFORMIEREN Fachwissen, das jedoch mit einer solchen Behauptung nicht vereinbar ist. Relativ zur textuellen Position
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
von (10) findet sich in Bayer 2015a eine lexikalisch indizierte Konzeptualisierung der öffentlichen Debatte zuvor nicht im Fließtext, allerdings bereits als Bildunterschrift eines Graphen (siehe Beispiel 19 unten). Allerdings erfolgt die Konzeptualisierung auf der TW-Ebene im späteren Textverlauf (siehe Beispiel 11 unten). Die Konzeptualisierung der Debatte (auf der TW-Ebene) Eine v. a. teiltextinitiale Konzeptualisierung der Debatte ist grundlegend für die AGRAR TRS. Sie findet sich sogar an Stellen, an denen sie zunächst deplatziert erscheint, wie bspw. in einer Zwischenüberschrift in Bayer 2015a: (11) Diskussion um Neonicotinoide Neonicotinoide stellen eine wichtige Klasse von Insektiziden dar, die Landwirten weltweit bei der Bekämpfung von Schädlingen helfen, die andernfalls zu Produktions- und Qualitätseinbußen in der Landwirtschaft führen. Sie sind für Säugetiere und Menschen nur von sehr geringer Toxizität. Ein weiterer Vorteil von Neonicotinoiden ist die Tatsache, dass sie systemisch wirken, sich also nach der Aufnahme über die Wurzel in der Pflanze verteilen, und so auch als Beizmittel in der Saatgutbehandlung eingesetzt werden können, um so die Pflanze in den frühen Wachstumsphasen zu schützen. Dadurch, dass das Pflanzenschutzmittel bereits in der Saatgutbehandlung eingesetzt wird und deshalb weitaus weniger Anwendungen als bei vielen anderen Insektiziden11 nötig sind, ist die Umweltverträglichkeit deutlich höher. Dies ist auch der Grund, warum Neonicotinoide an die Stelle vieler älterer Produkte mit weniger vorteilhaften Umwelteigenschaften treten. (Bayer 2015a)
Zwar wird hier an prominenter Position – in der Zwischenüberschrift (Diskussion) – klar eine (öffentliche) Debatte konzeptualisiert, allerdings wird diese im Folgetext nicht weiter als TW-Struktur ausgebaut. Stattdessen wird ausführlich ÜBER LANDWIRTSCHAFTLICHE PRAXIS INFORMIERT. Die weitere Konzeptualisierung der Debatte findet sich erst im darauffolgenden Absatz, der jedoch mit EU-weite Beschränkungen von Neonicotinoiden überschrieben ist. Erneut findet sich in (11) also die Konzeptualisierung der Debatte als Ausgangspunkt der Konstruktion von Fachwissen im Sinne des AUFKLÄREN-Musters. Diese grundsätzliche Bedeutsamkeit der Debatten-Konzeptualisierung als Ausgangspunkt der Wissenskonstitution zeigt sich auch auf der Textebene. So handelt es sich bei Bayer 2015b um einen Text, der nicht unmittelbar dem AUFKLÄREN-Muster entspricht. Stattdessen realisiert er als Bericht über eine bestimmte Studie eher eine ausführliche Version des auch als Meso-Muster bestimmbaren Handlungsmusters ERGEBNISSE AUS STUDIEN PRÄSENTIEREN. Doch auch hier findet sich zu Textbeginn der Hinweis auf die öffentliche Debatte:
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
235
(12) Partner für Bienensicherheit Speiseöl, Futtermittel, Energielieferant und Bienenweide – Raps ist ein Alleskönner. Doch auch Schädlinge weiden sich gerne an dem Ölgewächs und schmälern die Ernten. Landwirte brauchen daher effektive Wirkstoffe, um ihre Felder zu schützen – ohne damit Nützlinge wie beispielsweise Honigbienen zu gefährden. Eine von Bayer in Auftrag gegebene Studie untersuchte ein Pflanzenschutzmittel, das im Hinblick auf seine Bienenverträglichkeit immer wieder kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert wird. (Bayer 2015b)
Interessanterweise findet sich die Konzeptualisierung der Debatte in (12) in Form einer sogenannten Akkommodation (vgl. Werth 1999: 281), d. h. sie wird unmittelbar als Hintergrund-Element in die TW eingeführt, indem sie als Relativsatzattribut an einer NP angeschlossen ist, die als world-builder für ein WBE der TW (ein bestimmtes Pflanzenschutzmittel) fungiert. Nimmt man solche Fälle mit hinzu, finden sich Vorkommnisse einer teiltextinitialen Konzeptualisierung der öffentlichen Debatte auf der TW-Ebene in allen AGRAR-Texten außer Bayer 2018, was die Bedeutsamkeit solcher Konzeptualisierungen für die AGRAR-TRS nochmals hervorhebt. In ihrer Gesamtheit legen diese Befunde nahe, dass das AUFKLÄREN-Prinzip der gesamten AGRAR-TRS zugrunde liegt und dort nur unterschiedlich deutlich zum Ausdruck kommt. Grundsätzlich wird die Debatte dabei von AGRAR stärker konzeptualisiert, als dies bei ÖKO der Fall ist, wo sich nur vereinzelte Hinweise darauf ausmachen lassen. Dies legt auch ein Blick auf die Annotation der Mikro-Handlungen dar, wo sich das Handlungsmuster ÖFFENTLICHE DEBATTE SCHILDERN 28-mal in AGRAR finden lässt, bei ÖKO hingegen lediglich 5-mal annotiert wurde. Auch die Verteilung der Lexeme Debatte, Diskussion, debattieren und diskutieren stützt scheinbar diese Interpretation: Sie finden sich bei ÖKO 11-mal in insgesamt 6 Texten und bei AGRAR insgesamt 33mal in 8 (also allen) Texten. Allerdings sind solche quantitativen Verteilungen aufgrund der geringen Korpusgröße nur unter großem Vorbehalt zu interpretieren, zumal sich – wie aufgezeigt – gerade bei AGRAR zahlreiche Hinweise auf die Konzeptualisierung der Debatte in impliziter Form oder eingebettet in andere MikroHandlungsmuster finden. Stärkere Evidenz liefern m. E. die in diesem Kapitel dargelegten qualitativen Befunde. Auf multimodaler Ebene unterstützt etwa in IVA 2016 auch das Layout stellenweise die Sichtbarkeit der Debatte, wie Abbildung 8.10 in Kapitel 8.1.3 unten verdeutlicht. Ähnliches kann für Bayer 2014 festgestellt werden, wenngleich sich dort weniger einer öffentlichen als einer fachlichen Debatte zugewendet wird. In beiden Text werden immer wieder Aussagen verschiedener Akteure stellvertretend für die Debatte als Zitate präsentiert und typografisch durch Farbwahl (gelb oder grün), Schriftgröße und Kursivdruck hervorgehoben. Anders als in IVA 2016 handelt es sich in Bayer 2014 um zuvor eingeführte und personalisierte TW-
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Akteure, die als Experten in der fachlichen Debatte in Erscheinung treten und als solche zu Wort kommen. Zu ihrer Benennung werden komplexe NPs genutzt, die Eigennamen, Berufsbezeichnung, Funktion und Arbeitsstelle verbinden, wie etwa Dr. Michael Flüh, Abteilungsleiter für Chemische Stoffe, Kontaminanten und Pestizide der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz in der Europäischen Kommission oder Dennis van Engelsdorp, Bienenwissenschaftler an der Universität Maryland und einer der BIP-Direktoren. Die TW-Akteure bekommen dabei nicht nur fachliche Autorität und Expertise zugesprochen, sondern sie erscheinen so als Debattenakteure zudem individualisiert. In Bayer 2014 werden der öffentlichen Meinung und den kollektiven Annahmen und Behauptungen die (qualifizierten) Aussagen von personalisierten Experten-Individuen in der fachlichen Debatte entgegengesetzt. Mit der im Kontext der AGRAR-TRS immer wieder erfolgenden Konzeptualisierung der öffentlichen Debatte auf der Ebene der TW nehmen Orator und Leserin einen distanzierenden Blick auf dieselbige ein. Solchermaßen objektiviert wird die Debatte selbst zum Gegenstand des Aufklärens der Leserin durch den Orator. Dabei sind Orator und Leserin zwar in die Debatte auf der ÄW-Ebene involviert. Das zeigt zum einen das Sprachhandeln von AGRAR, wobei bspw. argumentiert und widersprochen wird (s. u.). Zum anderen legt dies das immer wieder erkennbare debattenbezogene Vorwissen der Leserin nahe (s. o.). Gleichzeitig treten die beiden ÄW-Akteure ‚gemeinsam‘ immer wieder einen Schritt zurück und betrachten die Debatte als TW-Struktur von außerhalb (aus der ÄW). Orator und Leserin treffen sich somit gleichermaßen innerhalb (relativ zu ÄW) wie außerhalb (relativ zur TW) der Debatte. Dies kann als ein besonderes Charakteristikum der Begegnungssituation von Orator und Leserin im AUFKLÄREN-Muster angesehen werden. Orator und Leserin betrachten auf diese Weise Propositionen als Aussagen in der Debatte und problematisieren sie, woraufhin der Orator die Leserin zum Wissen, das ‚hinter der Debatte steht‘, führt und dazu bspw. in Forschungsräume ‚hineinzoomt‘ (siehe Kapitel 7.4.1). Das Distanzieren von der Debatte hat auch Folgen für das emotive Potential: Im Grunde genommen kann das gesamte für AGRAR charakteristische Handlungsmuster AUFKLÄREN als eine Strategie der De-Emotionalisierung angesehen werden. In vielen Fällen wird die Debatte dabei als emotional aufgeladen geschildert: (13) Trotz der nachweislich multifaktoriellen Ursachen der Gesundheitsprobleme bei Bienen und anderen Bestäubern werden Pflanzenschutzmittel in der aktuellen öffentlichen Diskussion über dieses Thema als potenzieller Verursacher des Problems immer wieder hervorgehoben. Dies ist zumindest teilweise auf die grundsätzlich kritische Einstellung von Teilen der Öffentlichkeit gegenüber Pestiziden, auf Medienberichte zu diesem Thema und auf die Aktivitäten von NGOs mit kritischer Grundeinstellung zum Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel zurückzuführen. Die Frage, wie sicher Insektizide für Bienen sind, ist derzeit
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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ein öffentlich heiß und kontrovers diskutiertes Thema, und es werden aus vielen Richtungen Bedenken bezüglich ihrer potenziell schädlichen Wirkung auf Bienen geäußert. Im Mittelpunkt dieser Debatte stehen die Neonikotinoide. (Bayer 2016)
Interessant ist, dass die Debatte (oder zumindest einzelne Positionen) in (13) bereits in einem konzessiven Verhältnis zu wissenschaftlichem Wissen steht (Trotz der nachweislich multifaktoriellen Ursachen ... ). Mit dem Ausdruck von Emotionalität durch Körperempfindungen (heiß) liegt hier ein typisches Mittel der Emotionsbeschreibung vor. Die Thematisierung von Sorge in Bedenken entspricht dabei tatsächlich der für ÖKO identifizierbaren und auch dort thematisierten Emotionalität (siehe Kapitel 10). Auf das hier zitierte Textsegment folgt im Text ein begriffsbildender Abschnitt, indem das Handlungsmuster ERKLÄREN unter Verwendung wissenschaftlicher Fachsprache realisiert wird: (14) Die geringe Toxizität cyano-substituierter Neonikotinoide für Bienen ist auf das natürliche Entgiftungssystem der Bienen zurückzuführen, das die Substanzen extrem schnell metabolisieren kann (Iwasa et al. 2003). (Bayer 2016)
Hier offenbart sich ein charakteristischer Zug der Pathos-Strategie von AGRAR: Während der eigentliche situative Kontext – die Debatte – der eigenen Sprachhandlungen als emotional ausgewiesen wird, zeichnen sich die Texte von AGRAR als Debattenbeiträge gerade durch die weitestgehende Abwesenheit von Emotionalität aus. Im Rahmen des AUFKLÄRENS nimmt also AGRAR scheinbar nicht an der emotionalen Diskussion selbst teil. Stattdessen wird die Debatte objektiviert betrachtet, bestimmte Propositionen daraus werden herausgegriffen und es wird über deren TW-Integration durch die Konstruktion wissenschaftlichen Fachwissens informiert.
8.1.3 Orientierungshilfe Das AUFKLÄREN-Muster wirkt sich wesentlich auf die Begegnung von Orator und Leserin und die dabei etablierte Beziehung aus. Gerade auch der somit eingenommene Blick auf die Debatte ermöglicht es AGRAR, sich gegenüber der Leserin als kompetente, integre und wohlwollende Orientierungshilfe in der NeonicotinoidDebatte zu inszenieren. Beste Absichten Einen deutlichen Hinweis auf die Beziehung, die AGRAR im Zuge des AUFKLÄREN-Musters etablieren möchte, liefern die an mehreren Stellen auftauchenden Bekundungen kommunikativer Absichten, wie bspw. in (15):
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
(15) Um zu einem Bewusstsein für den zahlenmäßigen Rückgang der Bestäuber, für dessen mögliche Ursachen und für die Tragweite des Problems beizutragen, beschreibt die vorliegende Darstellung die Beziehung zwischen Bestäubern und Landwirtschaft, untersucht Bedrohungen, denen die verschiedenen Arten der Bestäuberinsekten ausgesetzt sind, und widmet sich wegen ihrer Bedeutung für die Bestäubung im Allgemeinen und die Bienenzucht im Besonderen ausführlich der Honigbiene (IVA 2014a).
In (15) wird die Handlungsabsicht expliziert, indem metasprachlich ÜBER DEN EIGENEN TEXT INFORMIERT wird. Dabei wird eine TW konstruiert, die vorgeblich der ÄW entspricht (siehe Abbildung 8.5). AGRAR tritt hier metonymisch realisiert durch die vorliegende Darstellung als Agens der kommunikativen Handlungen (beschreibt, untersucht, widmet sich) in Erscheinung und präsentiert seine kommunikativen Absichten dabei in Form einer FW in volitiver Welt-Welt-Relation. volitive Welt-Welt-Relation
ÄW Akteure: Orator, Leserin _______________________________ Handlungsstruktur: ÜBER EIGENEN TEXT INFORMIEREN
TW Akteure & Entitäten: Text (die vorliegende Darstellung), Orator Hintergrund-Frames: __________________________________ FAPs: B A M T
,U : Orator /Z : FW 1 : FW 2
redeinduzierte Welt-Welt-Relation
FW 1 Akteure & Entitäten: Orator, Leserin (?), Öffentlichkeit, Bestäuber Hintergrund-Frames: D ____________________________ FAPs: Orator trägt durch kommunikatives Handeln/Text zu Bewusstsein über ‚Thema‘ bei. FW 2 Akteure & Entitäten: Bestäuber insbes. Honigbienen Hintergrund-Frames: u.a. L ____________________________ FAPs: Beziehung (Bestäuber, Landwirtschaft), Bedrohungen
Abbildung 8.5: Rekonstruierte Weltenarchitektur in (15).
Dadurch wird AGRAR zum einen selbst in einem gewissen Maße ‚menschlicher‘ – immerhin sind Motivationen und Absichten typische Eigenschaften von Menschen. Zum anderen zeigt AGRAR hier – vorgeblich – Transparenz. Als Absicht wird zu einem Bewusstsein beitragen angegeben. AGRAR möchte demnach nicht etwa eigene Interessen durchsetzen, sondern sich an einem größeren und gemeinschaftlichen Projekt beteiligen, in das auch die Leserin selbst als Adressatin und Teil der Öffentlichkeit involviert ist. Die durch den Text – und die gesamte TRS – vollzogene (bzw. inszenierte) Handlung des AUFKLÄRENS wird somit auch zu einem Ausdruck des Wohlwollens des Orators gegenüber der Leserin wie auch der größeren Gemeinschaft einer am Thema interessierten Öffentlichkeit. Diese Selbstinszenierungsleistung zeigt sich auch in Textsegment (16) aus der Einleitung von IVA 2016:
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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(16) Die Autoren dieses Faktenchecks sind davon überzeugt, dass eine Fortsetzung der „Studienschlacht“ nicht zielführend sein kann und eher zur Verwirrung und Zementierung der bereits entwickelten Meinungen beiträgt. Wir wollen deshalb vor allem grundlegende Zusammenhänge aufzeigen, die sehr viel mit dem imkerlichen Wissen über die Bienen zu tun haben. Wir sind davon überzeugt, dass dies einen klareren Blick auf die Dinge ermöglicht. (IVA 2016)
Noch deutlicher tritt in (16) AGRAR repräsentiert durch den world-builder die Autoren als Akteur der Textwelt in Erscheinung. Ausgehend davon wird hier zunächst eine FW in kognitiver Welt-Welt-Relation konstruiert, die die Überzeugungen der Autoren repräsentiert und eine Evaluierung des zuvor im Kotext geschilderten Debattengeschehens enthält (siehe Abbildung 8.6). FW 1 Akteure & Entitäten: Debattenakteure, Oratoren, Leserin Hintergrund-Frames: D ____________________________ FAPs: ÄW Akteure: Orator, Leserin _______________________________ Handlungsstruktur: KOMMUNIKATIVE ABSICHT EXPLIZIEREN
TW Akteure & Entitäten: die Autoren Hintergrund-Frames: ‚normativer Debatten-Rahmen‘ __________________________________ FAPs:
Fortführung der Debatte wie bisher ist nicht zielführend und trägt zur Verwirrung bei. Aufzeigen von Zusammenhängen ermöglicht einen klaren Blick. FW 2 Akteure & Entitäten: Oratoren, Leserin Hintergrund-Frames: u.a. L ____________________________ FAPs: Oratoren zeigen der Leserin grundlegende Zusammenhänge auf.
Abbildung 8.6: Rekonstruierte Weltenarchitektur in (16).
Erneut zeigt sich dabei, dass die Oratoren zwar auf der TW-Ebene an der Debatte teilhaben, sie aber auch auf der FW-Ebene objektivieren. Die Evaluierung des Debattengeschehens beruht dabei auf einem nicht näher benannten normativen Rahmen, der in etwa beinhaltet, dass Debatten zielführend und aufklärend (also nicht verwirrend) sein sollten87. (Die Oratoren verpflichten sich hier also auch einer Art von Integrität). Daraufhin wird eine volitive FW konstruiert, die als FAP selbst Sprachhandlungen enthält, welche der Text auf der Ebene der ÄW repräsentieren soll (Zusammenhänge aufzeigen). Als Handlungsziel wird das Ermöglichen eines klareren Blickes einer adressierten Leserin angegeben. Die konzeptuelle Metapher WISSEN IST SEHEN drückt dabei nicht nur eine Verbesserung des (Hintergrund-)Wissens einer Leserin aus, sondern auch eine verbesserte Fähigkeit zur Orientierung. (16) konstruiert somit
Übrigens wird die Debatte hier als kollektive Bewegung hin zu einem Ziel (Weg-Metapher) konzeptualisiert. Das Zementieren hindert die ‚physikalische‘ Bewegung und damit das Weiterkommen in der Debatte.
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
als Adressatin eine Leserin, die innerhalb der Debatte verwirrt ist und das Verlangen nach besserer Orientierung verspürt. Der Orator wird so aus eigenem Willen und Antrieb heraus zum wohlwollenden Wegweiser über das ‚(Studien-)Schlachtfeld‘ (er ermöglicht somit der Leserin das Vorankommen auf dem Weg der Debatte und beteiligt sich somit auch an der kollektiven Bewegung hin zum Ziel). Involvierung und Empathie Ein weiteres wichtiges Mittel zur Etablierung einer Orator-Leserin-Beziehung im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters stellen die bereits mehrfach erwähnten Fragen dar. Laut Hyland (2005: 185), sind sie ein wichtiges Mittel für das engagement, indem sie einen dialogischen Begegnungsraum von Orator und Leserin erzeugen. Im Sinne der TWT verweisen sie auf die Ausgestaltung der ÄW. In wie fern AGRAR durch Fragen die Leserin am Aufbau der Weltenarchitektur beteiligt, möchte ich anhand des folgenden Beispiels (17) aufzeigen: (17) Im April 2014 befasste sich ein Bericht der Zeitschrift Environmental Toxicology and Chemistry (ETC) mit der Entwicklung der Bienengesundheit über mehrere Jahre und kam zu folgendem Schluss: „Die epidemiologischen Daten aus Europa zeigen keinen Zusammenhang zwischen Honigbienenverlusten und dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Sie weisen vielmehr auf die Präsenz anderer kausaler Faktoren.“ Wieso sehen aber so viele vorherige wissenschaftliche Studien eine klare Kausalität zwischen Neonikotinoiden und Bienensterblichkeit? Die ETC-Studie beantwortet diese Frage: Sie verweist auf die Unterschiede zwischen kontrollierten Laborexperimenten und Beobachtungen vor Ort im Feld. (Bayer 2014)
Der erste Satz von (17) sowie das in Anführungszeichen wiedergegebene Zitat lassen sich ohne größere Probleme als TWT-Diagramm rekonstruieren (siehe Abbildung 8.7). Der Orator tritt hier gegenüber der Leserin auf der ÄW-Ebene durch die Mikro-Handlung ÜBER WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS INFORMIEREN in Erscheinung. Ausgehend von dieser Sprachhandlung wird eine TW konstruiert, in der der ETC-Bericht in personalisierter Form als Sprachhandelnder in Erscheinung tritt. Die Propositionen des Zitates sind entsprechend in einer FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation ausgelagert. In Abbildung 8.7 ist die FAP auf der TW-Ebene durch ein stärker framesemantisches Repräsentationsformat wiedergegeben, da sich ein genauerer Blick auf die konzeptuelle Struktur für die Interpretation von (17) grundsätzlich empfiehlt. Auf der Ebene von FW1 jedoch ist ein vereinfachendes Repräsentationsformat gewählt, da sich die Darstellung dort unnötig weiter verkomplizieren
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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redeinduzierte Welt-Welt-Relation
ÄW Akteure: Orator, Leserin _____________ Handlungsstruktur: ÜBER WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS INFORMIEREN
TW Akteure & Entitäten: ETC-Bericht Setting: _____________ FAPs: S A T
: ETC-Bericht : FW 1
FW 1 Akteure & Entitäten: Daten, Honigbienen, Pflanzenschutzmittel Hintergrund-Frames: W . E _____________ FAPs: Daten zeigen keinen Zusammenhang von Honigbienenverlusten und PSMEinsatz.
Abbildung 8.7: TWT-Diagramm der rekonstruierten Weltenarchitektur der ersten Sätze aus (17).
würde. Aus demselben Grund wurde darauf verzichtet, hier eine weitere FW in negierender Relation zu FW1 darzustellen. Etwas schwieriger zeigt sich die TWT-Rekonstruktion für die anschließende Frage. Zunächst kann das Verb sehen in diesem Kontext ähnlich wie auch zu dem Schluss kommen als metonymische Bezeichnung für einen kommunikativen Akt gedeutet werden, mit dem eine Wissensbehauptung getätigt wird. Die konzeptuelle Struktur der entsprechenden FAP orientiert sich also eher an der FrameStruktur von BEHAUPTEN und bedingt somit ebenfalls die Konstruktion einer FW2 in redeinduzierter Welt-Welt-Relation. Das Interrogativadverb wieso verweist innerhalb der FAP auf einen offenen Slot MOTIVATION/GRUNDLAGE. Die syntaktische Form des Interrogativsatzes signalisiert in diesem Fall sowohl ein bestehendes Nichtwissen der Fragenden hinsichtlich der Füllung dieses Slots als auch eine Aufforderung zur Beantwortung durch den Adressaten. Beim nun folgenden Satz (Die ETC-Studie beantwortet diese Frage) handelt es sich offenbar um meta-sprachlichen Gebrauch – die Referenz der NP diese Frage ist nicht auf der TW-Ebene anzusiedeln, sondern auf der ÄW-Ebene. Der Orator verweist auf die Beziehung des sprachlichen Handelns auf der ÄW-Ebene und der anschließenden TW-Konstruktion, in welcher die ETC-Studie erneut als Sprachhandelnde konzeptualisiert wird (sie verweist auf). Während AGRAR als aufklärender Orator klar als Lokutor dieses vierten Satzes von (17) identifiziert werden kann, stellt sich die Frage, wer als verantwortlicher Lokutor der Sprachhandlung FRAGE AUFWERFEN in Frage kommt. Offenbar handelt es sich dabei um einen Lokutor, der das von AGRAR ausgeführte INFORMIEREN ÜBER DEN WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS und die damit einhergehende Weltenkonstruktion wahrgenommen hat. Darüber hinaus verfügt dieser Lokutor aber wohl über eigenes Wissen darüber, dass andere Studien zu abweichenden Schlüssen kommen. Dies hält er der Aussage des Orators entgegen, was durch den adversativen Konnektor aber indiziert wird. Somit sind scheinbar zwei ‚verschiedene‘ Lokutoren für verschiedene Sprachhandlungen auf der ÄW-Ebene und somit auch für verschiedene Bereiche der TW-Konstruktion verantwortlich. Dies wird in Abbildung 8.8 durch die gestrichelten Linien angezeigt. (17) verdeutlicht, wie durch das FRAGEN AUFWERFEN die
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
TW Akteure & Entitäten: ETC-Bericht, vorherige Studien ÄW Akteure: Orator, Leserin _____________ Handlungsstruktur: ÜBER WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS INFORMIEREN
_____________ FAPs:
FRAGE AUFWERFEN
S
S A T
: ETC-Bericht : FW 1
/ Agens: vorherige Studien Thema: FW 2 /G : (offen) M
FW 1 Akteure & Entitäten: Daten, Honigbienen, Pflanzenschutzmittel Hintergrund-Frames: W . E _____________ FAPs: Daten zeigen keinen Zusammenhang von Honigbienenverlusten und PSMEinsatz.
FW 2 Akteure & Entitäten: Hintergrund-Frames: W . E _____________ FAPs: Neonicotinoide verursachen Bienensterblichkeit.
Abbildung 8.8: TWT-Diagramm der rekonstruierten Weltenarchitektur der ersten drei Sätze aus (17).
ÄW als dialogischer Raum inszeniert wird, indem AGRAR die sprachhandlungsgebundene Interaktionsrolle einer Art fiktiver Fragender auf der ÄW-Ebene einführt, die bei entsprechender Identifikation von der Leserin besetzt werden kann (vgl. für ähnliche Verfahren Simon & Janich 2021). Dabei vollzieht AGRAR als Orator stellvertretend für die Leserin sprachliche Handlungen und involviert diese ‚virtuell‘ in den Aufbau der Weltenkonstruktion. Orator und Leserin stellen sich diese Frage somit ‚gemeinsam‘. Dass durch solche Fragen auch Empathie signalisiert werden kann, lässt sich im folgenden Beispiel (18) erkennen: (18) Wie sicher können wir sein, dass ein neues Pflanzenschutzmittel unbedenklich für Bienen ist? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich zuerst vor Augen führen, dass der Prozess der Entwicklung und Zulassung neuer Pflanzenschutzmittel extrem streng geregelt ist. (Bayer 2018)
Betrachtet man (18), ist klar, dass der Lokutor des ersten Satzes erneut eigentlich nicht der Orator (allein) sein kann. Vielmehr birgt der Lokutor hier deutliches Identifikationspotential für die Leserin. Verstärkt wird dies durch die Verwendung des inklusiven wir, wodurch eine Verbindung von Orator und Leserin demonstriert wird. Der Orator kann hier stellvertretend für die Leserin eine Frage stellen, da sie gemeinsame Interessen haben und er überdies ihre Sorgen und Ungewissheiten kennt und versteht. Im Anschluss an die Frage nimmt AGRAR unmittelbar die Rolle des Aufklärers ein. Der Orator demonstriert seinen epistemischen Status, indem er sich als imstande präsentiert, die Frage zu beantworten. Gleichzeitig bleibt die unmittelbare Beantwortung zunächst aus, stattdessen wird eine ‚Erkenntnisbedingung‘ genannt, durch die Leserin nicht nur der Autorität des Orators vertrauen soll, sondern auch selbst dazu befähigt werden soll, die Beantwortung der Frage auch ‚wirklich zu verstehen‘.
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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Durch die stellenweise Involvierung der Leserin beim Weltenaufbau und die Demonstration von Empathie inszeniert AGRAR das AUFKLÄREN als eine Art gemeinschaftlichen Prozess. Gerade an solchen Stellen wirkt sich das AUFKLÄRENMuster auf die Konzeptualisierung der adressierten Leserin aus: Sie wird in einer ‚neugierig-skeptischen‘ Haltung zum Debattengeschehen positioniert. Zwar hat sie Ahnungen von Wissenshintergründen, aber anscheinend keine bereits gefestigten Meinungen. Sie zeigt sich bereit dazu, mit dem Orator in einen Dialog zu treten, und akzeptiert darin seine interaktionale Rolle als Aufklärer. Als solchem kommt AGRAR ein höherer epistemischen Status als der Leserin zu. Dies wird immer wieder auch dadurch signalisiert, dass AGRAR im Rahmen des AUFKLÄRENS auf Fragen antwortet. Das AUFKLÄREN-Muster bietet AGRAR somit eine gute Möglichkeit zur Inszenierung eigener Expertise. Kommentieren und Evaluieren Wie sich bereits oben abgezeichnet hat, führt die Konzeptualisierung der Debatte als Struktur der TW und die dortige Verortung zentraler Propositionen (bspw. in redeinduzierten und kognitiven FWs) auch dazu, dass viele informierende Sprachhandlungen bzw. Textsegmente im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters als Widerspruch zu Aussagen anderer – oft nicht genauer charakterisierter oder benannter – Debattenakteure erkannt werden können. Immer wieder werden DebattenAussagen dabei als Irrtümer oder Fehlannahmen dargestellt, wie etwa in Beispiel (19) deutlich wird: (19) Im Gegensatz dazu, was häufig berichtet wird, ist die Anzahl der bewirtschafteten Honigbienenvölker in den letzten 50 Jahren weltweit um ca. 45 % angestiegen. (Bayer 2015a)
Beispiel (19) repräsentiert als Bildunterschrift einen Bestandteil eines größeren multimodalen Komplexes, der AUFKLÄREN als Meso-Handlung in Form eines Widersprechens realisiert (siehe Abbildung 8.9). Hier wird gemäß der TWTRekonstruktion eine FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation aufgebaut, die eine unexplizierte Proposition enthält (was häufig berichtet wird). Diese Proposition wird hier lediglich impliziert und bleibt entsprechend vage. Geht man vom Wortlaut von (19) aus, besagt sie, dass die Anzahl der bewirtschafteten Honigbienenvölker weltweit sinkt. Betrachtet man das Segment allerdings im Kontext der gesamten Debatte, liegt es nahe zu vermuten, dass es sich bei diesem Wortlaut um einen typischen Fall dissoziativer Argumentation von AGRAR handelt (siehe dazu Kapitel 8.2.3.). Dem folgend lässt sich annehmen, dass die Proposition in der FW lediglich so etwas besagt wie ‚Die Bienenpopulationen gehen (weltweit) zurück‘.
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Abbildung 8.9: AUFKLÄREN als multimodales Widerspruchsmuster in Bayer 2015a88.
Dieser Proposition, die eine Behauptung in der Debatte repräsentiert, wird hier durch die Text-Bild-Kombination widersprochen, wozu offensichtlich wissenschaftliches Wissen ins Feld geführt wird. Deutlich wird dies durch die terminologische Präzisierung in Form von attributivem Adjektiv (bewirtschaftet) und Kompositumbildung (Honigbienenvölker, Honigbienen-Kolonien) in Bezug auf das Referenzobjekt ‚Bienen‘ sowie durch die Nennung von Zahlen und vor allem die Darstellungsweise unter Nutzung des wissenschaftlichen Bild-Typs ‚Graph‘. Gleichzeitig ist die Gestaltung des Graphen adressatenorientiert aufbereitet, was sich durch die farbliche Gestaltung zeigt sowie an der Einfügung der großen und fettgedruckten Prozentangabe rechts oben. Hier wird also deutlich eine fachliche Expertise des Orators demonstriert, welche der ‚bloßen Meinung‘ in der Öffentlichkeit entgegengesetzt wird.
Abbildungen, die Ausschnitte aus Korpustexten zeigen, sind hier in Graustufen wiedergegeben. Ausnahmen bilden Fälle, in denen die Farbgebung besonders relevant für die Interpretation ist.
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
245
Besonders auffällig bzw. explizit ist das Widersprechen von Debattenaussagen in IVA 2016. Der Text beginnt unmittelbar mit einer Konzeptualisierung der öffentlichen Debatte (siehe Beispiel 20). Das Evozieren des Frames ÖFFENTLICHE DEBATTE erfolgt hier explizit durch NPs (Diskussion, Debatte, Kernfragen) und VPs (werden ... abgeleitet, werden ... angeführt). Durch diesen Frame wird somit klar eine TWStruktur – genauer gesagt eine raum-zeitliche TW-Position (dort) – konzeptualisiert. Diese dient dann als Ausgangspunkt für den Aufbau weiterer Architekturen. (20) Eine komplexe Diskussion Honigbiene und Wildbestäuber stehen im Mittelpunkt einer brisanten und äußerst kontrovers geführten Debatte. Dabei tauchen immer wieder drei Kernfragen auf: – Wie geht es den Bienen weltweit und gibt es ein Bienensterben? – Wie ist der Einfluss der Landwirtschaft und speziell des Pflanzenschutzes auf Bienen zu bewerten? – Welche Einflüsse wirken auf Bienen und Wildbestäuber? Neben vielen Emotionen ist die Diskussion geprägt von einer Flut an wissenschaftlichen Studien. Zum Teil werden dort Zusammenhänge abgeleitet, die eine weltweite Bedrohung der bestäubenden Insekten nahelegen. Andererseits werden vor allem die Ergebnisse von Studien und Monitoringprojekten, die unter Praxisbedingungen zustande kamen, als Beleg für das Gegenteil angeführt. (IVA 2016)
IVA 2016 realisiert das Aufklären-Muster in äußerst expliziter Form. Dies zeigen die an (20) anschließenden Absichtsbekundungen, in denen die Oratoren betonen, dass sie Wissen vermitteln wollen, um einen klaren Blick auf die Dinge zu ermöglichen (siehe Textsegment 16, oben). In einem ersten Teilkapitel werden dazu allgemein akzeptierte Aussagen präsentiert, die die Oratoren dann kommentieren, um ihnen auf den Grund zu gehen. Abbildung 8.10 zeigt das Layout zweier Seiten dieses Teilkapitels, auf denen die Aussagen zitiert und dann kommentiert werden. Abbildung 8.10 macht deutlich, wie sehr Layout und Typographie hier die Konstruktion mehrerer Lokutoren in der Weltenarchitektur unterstützen: Die Oratoren als verantwortliche Lokutoren des grau und schwarz gedruckten Fließtextes sowie die verantwortlichen Lokutoren der allgemein akzeptierten Aussagen, die durch Fettdruck, grüne Schriftfarbe und vorgerückte Satz-Position deutlich vom Fließtext abgegrenzt sind. Wenngleich eine solche typografische Differenzierung verschiedener Lokutoren für verschiedene Teiltexte eigentlich als Indiz für die Konstruktion weiterer ÄW-Akteure interpretiert werden kann, finden sich die verantwortlichen Lokutoren hier bereits als TW-Akteure realisiert, die durch die world-builder-NP Kritiker des Pflanzenschutzes eine (bisher offene) Akteurs-Position in der in (20) konzeptualisierten öffentlichen Debatte besetzen. Interessant ist, dass die Oratoren in IVA 2016 auch selbst deutlich in Erscheinung treten (die Verfasser), sich als TW-Akteure konzeptualisieren und somit
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Abbildung 8.10: Layout einer Doppelseite aus IVA 2016.
lokal in die TW-Debatte involvieren. Gerade dann allerdings, wenn den allgemein akzeptierten Aussagen widersprochen wird, treten die Oratoren wieder aus der TW zurück und agieren vorrangig als ÄW-Akteure. Die in FWs ausgelagerten und über redeinduzierte Welt-Welt-Relationen in der TW-Debatte verankerten Propositionen werden von den Oratoren nicht aus der TW, sondern aus der ÄW heraus kommentiert. AGRAR positioniert sich so nicht nur relativ zu den fraglichen Propositionen, die widerlegt werden, sondern auch zum diskursiven Sprachhandeln der Kritiker des Pflanzenschutzes, das somit als defizitär erscheint. Durch das Widersprechen bzw. Widerlegen von Debatten-Aussagen demonstrieren die Oratoren umfassende Kompetenzen: Zum einen demonstrieren sie eine fachliche Expertise, die den Kritikern des Pflanzenschutzes gleichsam abgesprochen wird. Zum anderen demonstrieren sie gegenüber der Leserin eine damit verbundene Orientierungs-Kompetenz innerhalb der Debatte. Die Oratoren haben nicht nur die fachliche Einsicht in die Wissenshintergründe, sondern auch den nötigen Überblick über das Debattengeschehen, um für die Leserin als kompetente Orientierungshilfe innerhalb der Debatte zu fungieren. Das Widersprechen von Debattenaussagen ist ein sich immer wieder zeigendes Element der AGRAR-TRS, wobei es nicht immer so deutlich in Erscheinung tritt wie in IVA 2016. Tatsächlich variieren diesbezüglich vor allem die Grade an
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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Explizitheit. Während in (21) klar die Konstruktion einer FW in redeinduzierter Relation expliziert wird (wurden Bedenken geäußert ... jedoch), können auch die unter 8.1.2 aufgezeigten impliziten Debatten-Verortungen hier mit-angesiedelt werden (wie in 22). Dies findet vor allem bei der Kommentierung von wissenschaftlichen Studien statt, die ich in 8.1.4 noch ausführlicher beschreiben werde. (21) Vor einigen Jahren wurden Bedenken geäußert, Neonikotinoid-Rückstände in Guttationstropfen, die von Pflanzen aus behandeltem Saatgut abgesondert werden, könnten Bienen vergiften. Es ist richtig, dass bei einigen Nutzpflanzen aus behandeltem Saatgut in den Guttationstropfen hohe Rückstandskonzentrationen zu finden sind. Umfangreiche Feldstudien von Forschungsinstituten, Behörden und der Industrie haben jedoch gezeigt, dass Guttationstropfen unter realistischen Bedingungen als Wasserquelle für Bienenvölker in der Regel eine geringe Rolle spielen. (Bayer 2016)
In einigen der entsprechenden Textsegmente wird die Involvierung des Orators bei gleichzeitiger Objektivierung des Debattengeschehens deutlich: (22) In ihren Schlussfolgerungen wies die EFSA darauf hin, dass die vorliegenden Datensätze nach ihrer Ansicht einige Lücken aufwiesen und deshalb gewisse Risiken der jeweiligen Anwendungen nicht ausgeschlossen werden konnten. Dazu ist festzustellen, dass die Einschätzungen der EFSA aufgrund zahlreicher Defizite und Unzulänglichkeiten vielfach kritisiert wurden (Bayer 2016).
Interessant ist in (22) die Konstruktion dazu ist festzustellen, dass. Der Orator tritt hier als Akteur der ÄW in Erscheinung und kommentiert die Äußerung eines Lokutors auf der TW-Ebene (der EFSA). Man beachte, dass es sich hierbei um einen explizit performativen Verbgebrauch handelt, wenngleich hier eine deagentivierte Verwendung vorliegt. Nichtsdestoweniger ist klar, dass es der Orator ist, der die folgende Feststellung trifft und somit die Sprachhandlung AUSSAGEKRAFT VON STUDIE KOMMENTIEREN vollzieht. Der Orator ‚betritt‘ an dieser Stelle sozusagen die Debatte der TW und positioniert sich gegenüber der Aussage in der ‚redeinduzierten‘ FW (siehe Abbildung 8.11 unten). Die Beurteilungskompetenz von AGRAR zeigt sich nicht allein im Kommentieren einzelner Aussagen, sondern auch in der Bewertung der Debatte selbst, wie in (23) deutlich wird. (23) Die Debatte um Bienenvergiftungen durch beizmittelhaltigen Staub hat eine grundsätzliche Diskussion um die Nebenwirkungen von Beizmitteln auf Bienengesundheit und Umwelt ausgelöst. Dabei wurden Tatsachen und Hintergründe teilweise nicht sehr ausgewogen dargestellt. (IVA 2014a_Moderne Beizmittel)
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ÄW Setting: Interaktanten: Leserin, Orator Handlungsfeld: _______________________ Handlungsstruktur
ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIEREN
AUSSAGEKRAFT VON STUDIE KOMMENTIEREN
TW Setting: Vergangenheit - Gegenwart Akteure & Entitäten: EFSA, Datensätze, unbekannte Debattenakteure , Orator Hintergrund-Frames: Bewertung, Regulierung, Debatte _______________________ FAPs
redeinduzierte FW 1 Setting: Vergangenheit Akteure & Entitäten: EFSA, Datensätze Hintergrund-Frames: Bewertung, Regulierung _______________________ FAPs (2) Die Daten weisen Lücken auf, weshalb Risiken nicht ausgeschlossen werden können.
(1) EFSA weist darauf hin, dass FW1
(3) Orator stellt zu (1) fest, dass FW2
redeinduzierte FW 2 Setting: Vergangenheit Akteure & Entitäten: EFSA, Datensätze, unbekannte Debattenakteure Hintergrund-Frames: Bewertung, Regulierung , Debatte _______________________ FAPs (4) Unbekannte Debattenakteure kritisieren (1).
Abbildung 8.11: TWT-Rekonstruktion von (22).
Im Rahmen von AUFKLÄREN werden in (23) drei Welten konstruiert: Die ÄW, die TW und eine redeinduzierte FW, die die Darstellung von Hintergründen und Tatsachen beinhaltet. Die Konstruktion nicht sehr ausgewogen lässt auf eine Positionierung des Orators schließen. Wie ich meine, demonstriert der Orator dabei auf zwei Ebenen Evaluationskompetenzen, auf denen diese Positionierungsaktivität beruht: Zum einen evaluiert er das kommunikative Handeln von Debattenakteuren. Diese Evaluierung beruht wiederum auf einer Evaluierung der ‚wahrheitsbezogenen‘ Qualität der Debattenbeiträge. Beide Evaluierungen verhalten sich dabei relativ zu jeweiligen Beurteilungsrahmen: Bei der Evaluierung der Wahrheit handelt es sich um einen epistemischen Rahmen – der Orator beansprucht also eigene Expertise und spricht gleichzeitig dem hier zitierten bzw. implizierten Debattenakteur die Expertise ab. Die Evaluierung des kommunikativen Handelns anderer beruht auf einem normativen Rahmen, der in etwa festlegt, dass man beim Sprachhandeln in einer solchen Debatte den Tatsachen verpflichtet sein sollte – wobei die konkreten Kritikpunkte letztlich offenbleiben. Man könnte dennoch mutmaßen, dass es hierbei um die Inszenierung von Integrität geht. Indem der Orator auf einen solchen normativen Rahmen verweist, impliziert er gleichsam, dass er selbst diesem Anspruch auf Integrität verpflichtet ist. Wie bereits unter 8.1.2 angedeutet, nimmt AGRAR in diesem Zusammenhang auch immer wieder Sprachkritik vor, etwa wenn die Debatte wie in (13) als heiß bezeichnet wird. Deutlich stärker wird die Kritik am Verhalten von Debattenakteure, wenn dieses in Bayer 2014 als rhetorische Hexenjagd bezeichnet wird – diese Metapher stellt einen der sehr seltenen lexikalischen Hinweise auf ein gesteigertes emotives Potential bei AGRAR dar. Es zeigt sich, dass sich die Sprachkritik von AGRAR vor allem auf das emotive Potential von Debattenbeiträgen bezieht, was offenbar dem geltenden normativen Rahmen einer öffentlichen Debatte entgegensteht:
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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(24) Aus diesem Grunde ist zu unterstellen, dass auch die oft zu hörende Einordnung als „Nervengift“ in der Absicht geschieht, die Diskussion mit einem weiteren abschreckenden Begriff anzureichern. Die meisten Insektizide wirken entlang der Reizleitung, die Neonikotinoide jedoch nur auf spezifische Rezeptoren bei Insekten. Die Ableitung des Begriffes „Nervengift“ in Bezug auf Menschen und Wirbeltiere ist deshalb irreführend. (IVA 2016)
Indem AGRAR also Aussagen und sprachliches Handeln in der Debatte kommentiert und evaluiert und dabei immer wieder mit der Konstruktion von ‚Hintergrundwissen‘ kontrastiert, liefert er der Leserin als kompetenter und integrer Aufklärer Orientierungswissen in einem für sie wohl ansonsten unverständlichen und womöglich irreführenden Debattengeschehen. Auf eine besonders auffällige Art des aufklärenden Widersprechens im Rahmen der AGRAR-TRS möchte ich im folgende Teilkapitel 8.1.4 eingehen.
8.1.4 Unrealistische Studien Eine besondere argumentative Rolle in der AGRAR-TRS spielt das KOMMENTIEREN von Studien bzw. deren Ergebnissen. Es zielt darauf ab, Aussagen der Gegenposition die epistemische Geltung abzusprechen und spielt somit eine wichtige Rolle für das etablierte Argument. Dieses geltungsbezogene Kommentieren findet sich als wiederkehrendes Element der AGRAR-TRS. Eine Schlüsselfunktion dabei nimmt das Adjektiv (un-)realistisch ein. Aufgrund seiner besonderen Rolle für die argumentative Funktionalität, werde ich im Folgenden genauer darauf eingehen. Ein ausführliches Beispiel Die vor allem argumentative Funktionalität des Kommentierens von Studien möchte ich zunächst anhand der ausführlichen Interpretation eines Textsegmentes vorführen. (25) ist ein Textausschnitt aus Bayer 2015a. Es handelt sich um den ersten Absatz eines größeren Abschnittes, der mit Weitere Feldversuche zu Neonicotinoiden überschrieben ist. Zuvor wurde bereits über das Verbot und eine (wissenschaftliche) Diskussion berichtet. Im nachfolgenden Text des Abschnittes werden mehrere Feldversuche geschildert, die Bayer zu dem Thema hat durchführen lassen. (25) In wissenschaftlichen Kreisen ist man sich einig, dass die Sicherheit eines Produkts nicht von seiner intrinsischen Toxizität abhängt, sondern von der Exposition gegenüber dem jeweiligen Produkt. Die intrinsische Toxizität einiger Neonicotinoide für Bienen wurde zwar in verschiedenen Studien nachgewiesen, jedoch wurden in vielen der in diesem Kontext durchgeführten Modellversuchen unrealistische Expositionsszenarien und überhöhte Expositionskonzentrationen16 getestet. Feldversuche unter realistischen Freilandbedingun-
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gen liefern dagegen aussagekräftigere Testergebnisse zu den Auswirkungen von Neonicotinoiden auf Bienenvölker. Diese müssen jedoch im großen Maßstab durchgeführt werden und erfordern demzufolge umfangreiche Ressourcen. (Bayer 2015a)
Strebt man eine detaillierte TWT-Rekonstruktion des Textsegmentes an, liegt es nahe, hier zunächst den lokalen (und möglicherweise nur ‚kurzfristigen‘) Aufbau eines Fokusraumes durch die PP in wissenschaftlichen Kreisen in Satz 1 anzunehmen, in dem dann durch die Verwendung von man implizierte Wissenschaftlerinnen als WBEs verortet werden können. Diese können dann wiederum Ankerpunkte für FWs in redeinduzierter oder kognitiver Relation zum Fokusraum darstellen. (Anders ausgedrückt: Solchermaßen implizierte Wissenschaftlerinnen können Aussagen tätigen oder Annahmen im Sinn haben.) Dass es hier tatsächlich darum geht, dass Menschen sich äußernd oder denkend zu Propositionen positionieren, zeigt die als Prädikationskern fungierende Verbkonstruktion sich einig sein, die als verbsemantische Ergänzungen prototypisch eine Gruppe von mehreren Menschen als Subjekt(-e) fordert sowie eine Proposition, ‚über die man sich einig ist‘. TW WBEs: Wissenschaftlerinnen, Produkt Hintergrund-Frames: W . E ______________ FAPs:
FW 1 Hintergrund-Frames: W . E ______________ FAPs: Sicherheit hängt von Exposition ab.
FR – ‚wissenschaftliche Kreise‘ WBEs: Wissenschaftlerinnen Hintergrund-Frames: W . E ______________ FAPs: Wissenschaftlerinnen sind sich einig, dass FW1
kognitiv? redeinduziert?
FW 2 Hintergrund-Frames: W . E ______________ FAPs: Sicherheit hängt von intrinsischer Toxizität ab.
negierend
Abbildung 8.12: Vorschlag zur TWT-Rekonstruktion der Weltenarchitektur des ersten Satzes in (25).
Im vorliegenden Beispiel betrifft das sich einig sein einen Komplex aus zwei Propositionen, die anhand der Konstruktion nicht X, sondern y miteinander koordiniert sind. Die Einbettung dieser Propositionen in die Weltenarchitektur ist hier nicht eindeutig rekonstruierbar. Eine Möglichkeit besteht darin, sich einig sein als Hinweis auf diskursive Tätigkeit zu interpretieren und somit eine erste FW in redeinduzierter Relation zum FR der ‚wissenschaftlichen Kreise‘ anzunehmen, in der dann der Propositionskomplex der Nebensätze verortet wird. Die Negation führt dabei zum Aufbau einer zweiten FW in negierender Relation, durch die ein Import der dort ausgelagerten Proposition ‚Die Produktsicherheit hängt von der intrinsischen Toxizität ab‘ in die erste FW verhindert wird. Anders ausgedrückt: Innerhalb des FR ‚wissenschaftliche Kreise‘ trifft kein Akteur die Aussage bzw. vertritt die Annahme, dass die Produktsicherheit von der intrinsischen Toxizität
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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abhängt. Stattdessen ist die Proposition ‚Die Produktsicherheit hängt von der Exposition gegenüber dem jeweiligen Produkt ab‘ in der ersten FW als FAP verortet. Die entsprechende Weltenkonstruktion ist in Abbildung 8.12 dargestellt. Unabhängig davon, wie detailliert man die Weltenarchitektur hier rekonstruieren möchte, kann man erkennen, dass der erste Satz in (25) dazu dient, eine Art Schlussregel (SR) in der TW zu etablieren: SR: Aussagen über die Sicherheit von Produkten müssen auf Aussagen zur Exposition beruhen und nicht auf Aussagen zur intrinsischen Toxizität89.
Die Tatsache, dass hier von Produkten gesprochen wird und nicht konkret von Neonicotinoiden, verleiht dieser Schlussregel zunächst eine Art von Allgemeingültigkeit, die durch die Verortung in wissenschaftlichen Kreisen und die dort behauptete Einigkeit zusätzliche Geltung erfährt. Was in Abbildung 8.12 von mir als komplexe Weltenarchitektur rekonstruiert ist, stellt nichts anderes dar als eine mögliche momentane Verstehensleistung einer Rezipientin. Diese dient wohl eher nicht dazu, als ‚Topografie‘ des geteilten Wissens während des gesamten Textverstehensprozesses aufrechterhalten zu bleiben, sondern fungiert vielmehr als Stützung einer Schlussregel, die im geteilten Wissen verankert wird und im Fortlauf des Textverstehens wirksam bleibt. Während je nach Vorwissen einer Rezipientin bereits hier ein Widerspruch gegen diskursive Aussagen vermutet werden könnte (s. u.), tritt der Widerspruchscharakter von (25) im zweiten Satz noch deutlicher hervor. Erneut wird ausgehend von der PP in verschiedenen Studien ein Fokusraum in der TW aufgebaut, der durch den Hintergrund-Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS strukturiert ist und, wie die Verwendung des Präteritums zeigt, einen auch temporal eingegrenzten Bereich der TW markiert (siehe Abbildung 8.13). In diesem Fokusraum, der auch als Forschungsraum bezeichnet werden kann (siehe Kapitel 7.4.1), wird zum einen die Proposition realisiert, ‚dass die intrinsische Toxizität von Neonicotinoiden für Bienen nachgewiesen wurde‘, zum anderen auch die Proposition, ‚dass dort – in diesem Kontext – (bzw. genauer gesagt in einer großen Teilmenge einer Menge von entsprechenden Fokusräumen) unrealistische Expositionsszenarien und überhöhte Expositionskonzentrationen getestet wurden‘.
Diese Schlussregel ist allerdings genau genommen nicht ganz wahr, denn die Toxizität eines Stoffes spielt für die Beurteilung des Expositionsrisikos natürlich eine wichtige Rolle. Der Faktor Exposition und der Faktor Toxizität sind somit voneinander abhängig.
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TW WBEs: Wissenschaftlerinnen, Produkt Hintergrund-Frames: WISS. ERKENNTNIS ______________ FAPs:
?
FR – ‚Verschiedene Studien‘ WBEs: Neonicotinoide, Bienen Hintergrund-Frames: WISS. ERKENNTNIS ______________ FAPs: Intrinsische Toxizität wird nachgewiesen. Unrealistische Expositionsszenarien und überhöhte –konzentrationen wurden getestet.
Abbildung 8.13: TWT-Rekonstruktion der Weltenarchitektur des zweiten Satzes in (25).
Die Tatsache, dass die syntagmatische Gestalt des zweiten Satzes durch die konzessiven bzw. adversativen Konnektoren zwar und aber strukturiert ist, verweist bereits deutlich auf den ihm innewohnenden Widerspruchscharakter (vgl. Acke 2020). Wie dieser genau verstanden wird, hängt durchaus davon ab, über welches Vorwissen eine Rezipientin verfügt, was sie insbesondere über wissenschaftliche Forschung (in diesem Kontext) weiß und wie gut sie sich entsprechend im Gemenge der in (25) verwendeten Fachbegriffe orientieren kann und sich mit dem Zusammenhang von Toxizität und Exposition auskennt. Ich möchte im Folgenden einige mögliche Interpretationen aufzeigen, die sich an verschiedenen Verständnissen des Textsegmentes orientieren: – Zunächst könnten die Adjektive unrealistisch und überhöht als Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Studien betrachtet werden. Das resultierende Verständnis bedeutete dann, dass die Ergebnisse solch fehlerhafter Studien schlicht keine Gültigkeit besäßen, was wiederum bedeuten würde, dass die Toxizität eigentlich gar nicht bewiesen sei. Die erste Proposition des FRs könnte demnach nicht in die TW integriert werden. Allerdings wird hier davon ausgegangen, dass eine Rezipientin relativ wenig Wissen bzw. Verständnis über die eigentlichen Zusammenhänge von Toxizität und Exposition mitbringt und dennoch versucht, Schlüsse über die Toxizität – also ein sehr fachliches Konzept – und nicht über das Risiko bzw. die Sicherheit abzuleiten. Zudem ergibt sich kein unmittelbar einsichtiger funktionaler Zusammenhang mit der etablierten Schlussregel aus Satz 1, denn wenn die Toxizität gar nicht erst bewiesen ist, erscheint es argumentativ sinnlos, ihr die Exposition gegenüberzustellen.
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
–
–
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Ebenso könnte von einer Rezipientin geschlussfolgert werden, dass die Studienergebnisse dahingehend mangelhaft seien, dass sie zwar die Toxizität nachgewiesen hätten, allerdings keinen aufschlussreichen Zusammenhang zur Exposition hergestellt hätten, weswegen sie für die Risikobeurteilung nicht brauchbar seien. Eine solche Interpretation setzt deutlich mehr fachliches Verständnis einer Rezipientin voraus. Die einfachste und meiner Meinung nach für viele Fälle schlüssigste Interpretation fokussiert sich stark auf das Adjektiv unrealistisch. Damit wird nach dem Laienverständnis ausgedrückt, dass die kontextuellen Bedingungen eines Sachverhaltes – bzw. die TW-Parameter einer Proposition – nicht der Wirklichkeit – bzw. der als Wirklichkeit geltenden TW – entsprechen. Dies führt zum einen dazu, dass – wie auch bei der ersten Interpretationsmöglichkeit – Propositionen aus dem FR nicht ohne weiteres in die TW übertragen werden können, da FR und TW offenbar unzureichend miteinander übereinstimmen. Wichtiger noch scheint mir, dass somit eine weitere Schlussregel etabliert wird, nämlich dass aus der Gültigkeit einer Proposition innerhalb eines solchen Fokusraumes keine weiteren Aussagen abgeleitet werden können, die auf dieser Basis eine Gültigkeit in der TW für sich behaupten können. Einfacher ausgedrückt: Die Erkenntnisse aus unrealistischen Studien sind keine Grundlage für Aussagen, die die Realität betreffen. Diese Interpretation wird durch Satz 3 in (25) weiter bekräftigt, indem der Aspekt des an Studiendesign bzw. -typ geknüpften Realismus weiter relevant gehalten und explizit mit der Aussagekraft einer Studie in Verbindung gebracht wird.
Gerade in der letzten vorgeschlagenen Interpretation zeigt sich der Debattenbezug des in (25) realisierten Widerspruchs. Dieser gilt nicht nur der Aussagekraft der kommentierten Studien, sondern verweist auch auf Behauptungen innerhalb der Debatte, die sich auf die entsprechenden Studien berufen und daraus ein Risiko für Bienen ableiten. Eine solche Interpretation erklärt auch den Zusammenhang von Satz 1 und Satz 2 in (25). Beide Sätze erfüllen die argumentative Funktion, Behauptungen in der Debatte zu widersprechen, die das Risiko der Neonicotinoide für Bienen an Nachweisen ihrer Toxizität festmachen. Das durch (25) konstruierte Argument bzw. der aufgebaute Argumentausschnitt lässt sich in klassischer Darstellungsweise wie in Abbildung 8.14 dargestellt rekonstruieren. Aus Abbildung 8.14 wird deutlich, dass es sich hier primär nicht um Gründe zur Stützung eines eigenen Standpunktes von AGRAR handelt, sondern um Einwände gegen das Argument einer Gegenposition, indem der Zusammenhang von Standpunkt (‚Neonicotinoide sind ein Risiko für Bienen‘) und Grund (‚Studien weisen Toxizität von Neonicotinoiden auf Bienen nach‘) angefochten wird. Das gestrichelte Kästchen links repräsentiert dabei die aus Bayer 2015a ableitbaren Propositionen. Es
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zeigt sich, dass diese argumentativ v. a. dann wirksam werden, wenn sie als bezogen auf ein vom Text nicht expliziertes opponierendes Argument im rechten gestrichelten Kasten verstanden werden.
Abbildung 8.14: Klassische Darstellungsweise des in (25) repräsentieren Arguments.
Eine plausible Rekonstruktion von (25) als widersprechende Argumentation beinhaltet somit das Implizieren eines ‚gegnerischen‘ Arguments im Kontext der Neonicotinoid-Debatte (vgl. hierzu auch ausführlich Simon 2020). Die Konstruktion der Fokusräume, das INFORMIEREN über Erkenntnisbedingungen und das KOMMENTIEREN von Studien beim Aufbau der lokalen Weltenarchitektur dient also offenbar dem Aufbau eines Gegenarguments zu einem gewissermaßen mitverstandenen Argument einer anderen Debattenposition. Dieses Argument entspricht einer Aussage in der vorher konzeptualisierten TW-Debatte. Diese Interpretation wird umso plausibler, je deutlicher sich im Kotext eines Textsegmentes Hinweise auf die Konzeptualisierung einer (öffentlichen) Debatte finden (in der solche Argumente bspw. in FWs verortet werden könnten), was bei (25) klar der Fall ist. Eine Rezipientin muss nicht unbedingt wissen, dass sich Debattenakteure wie bspw. Umweltschutzorganisationen in ihrer Argumentation (u. a.) darauf berufen, dass die intrinsische Toxizität von Neonicotinoiden für Bienen nachgewiesen ist. Die Hinweise in der sprachlichen Struktur, insbesondere die Widerspruch-markierenden Konnektoren zwar, jedoch und dagegen und das Adjektiv unrealistisch sowie Hinweise auf die Konzeptualisierung der Debatte und Bindung von Propositionen an FRs und FWs machen die Annahme, dass (25) in der geschilderten Weise Aussagen einer Gegenposition widerspricht, für eine Rezipientin als mögliche Verstehensleistung plausibel.
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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Unrealistische vs. realistische Studien als widerkehrendes Element der AGRAR-TRS Das oben ausführlich interpretierte Beispiel (25) ist in mehrfacher Hinsicht repräsentativ für das KOMMENTIEREN von Studien und die Widerspruchs-Argumentation in der AGRAR-TRS. Zunächst legt es nahe, dass das KOMMENTIEREN von Studien und die konstruierte Opposition von unrealistischen Studien und realistischen Feldversuchen auf deren argumentative Funktionalisierung in der Debatte abzielen. Dass sich die mit dem KOMMENTIEREN verbundene Argumentation auf Aussagen in der Debatte beziehen, verdeutlicht auch das Beispiel (26) aus Bayer 2014. (26) Wieso sehen aber so viele vorherige wissenschaftliche Studien eine klare Kausalität zwischen Neonikotinoiden und Bienensterblichkeit? Die ETC-Studie beantwortet diese Frage: Sie verweist auf die Unterschiede zwischen kontrollierten Laborexperimenten und Beobachtungen vor Ort im Feld. Werden Bienen im Labor mit Neonikotinoiden zwangsernährt oder in Kontakt gebracht, zeigen sich unerwünschte Effekte. Aber die meisten Entomologen sind heute zurückhaltend hinsichtlich der Aussagekraft solcher Forschungsarbeiten. Unter der Leitung des Harvard-Biologen Chensheng Lu wurden kürzlich zwei Studien durchgeführt, die häufig von Aktivisten zitiert werden. Dabei erhielten die Bienen Neonikotinoid-Dosen, die 10-100mal über den Mengen lagen, die man unter Feldbedingungen vorfindet. Außerdem waren die Bienen über weit längere Zeiträume dem Wirkstoff ausgesetzt. Dagegen haben Monitoring-Studien im Feld nur wenig oder gar keine negativen Auswirkungen des Neonikotinoid- Einsatzes auf die Bienen beobachtet. (Bayer 2014)
(26) verdeutlicht die Integration des kommentierenden Widersprechens in das AUFKLÄREN-Muster (siehe 9.1.3). Auch hier wird die Aussagekraft von Studien zunächst klar an deren Realismus (kontrollierte Laborbedingungen vs. vor Ort im Feld) geknüpft. Was mit Aussagekraft gemeint ist, zeigt sich im zweiten Absatz. Die verwendeten Zeitformen, die Temporaladverbiale kürzlich und der Konnektor dabei legen erneut die Konstruktion eines Fokusraumes nahe, während das im Präsens gehaltene Relativsatzattribut (die von Aktivisten häufig zitiert werden) durch Akkommodation TW-Strukturen in Form einer ÖFFENTLICHEN DEBATTE konzeptualisiert. Innerhalb dieser Debatte zitieren Debattenakteure (Aktivisten) die Studien von Lu – offensichtlich als Beweise für ihre argumentativen Standpunkte. Die resultierende Weltenarchitektur ist in Abbildung 8.15 dargestellt. Die durch (26) realisierte Argumentation entspricht nahezu genau den für (25) rekonstruierten Prozessen: Da aus unrealistischen Studien keine Aussagen über die Wirklichkeit abgeleitet werden können, kann die in der FW realisierte Argumentation der Aktivisten keine Gültigkeit in der TW der Debatte in Anspruch nehmen. Während in (26) die in (25) besonders hervorgehobene Verwendung von (un-) realistisch fehlt, zeigt sie sich an zahlreichen anderen Stellen der AGRAR-TRS, wie
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TW WBEs: Aktivisten Hintergrund-Frames: ÖFFENTLICHE DEBATTE ______________ FAPs:
FW FAPs: Studien von Lu beweisen, dass Neonicotinoide ein Risiko für Bienen darstellen.
Aktivisten zitieren Studien FR – ‚Studien von Lu‘ Setting: kürzlich Entitäten: Lu, Bienen, Neonicotinoide Hintergrund-Frames: WISS. ERKENNTNIS ______________ FAPs: Bienen erhalten ‚unrealistische‘ Neonicotinoid-Dosen. Bienen waren Neonicotinoiden länger (als realistisch) ausgesetzt.
redeinduziert
Abbildung 8.15: Ausschnitt der Weltenarchitektur in (26).
bspw. in (27). Hier sind die Forschungsräume selbst Ankerpunkte für redeinduzierte FWs, die die strittige Proposition beinhalten: (27) In den letzten Jahren hat die akademische Forschung zahlreiche Studien zum Thema Bienen und Neonikotinoide veröffentlicht. Viele der Studien, in denen behauptet wurde, Neonikotinoide hätten nachteilige Wirkungen auf Bienen, wurden im Labor oder unter anderen, unrealistischen Expositionsbedingungen durchgeführt. Häufig waren die Expositionsdosen oder -konzentrationen überhöht, und es wurden Substanzmengen verabreicht, die unter realistischen Feldbedingungen in dieser Form niemals auftreten würden. Unter solchen Bedingungen ist es natürlich nicht verwunderlich, dass Insekten wie Bienen durch ein Insektizid geschädigt werden. Dies gibt jedoch keinen Aufschluss darüber, welche Wirkung ein Produkt in einem realistischen Szenario hat, wie es im Feld unter praktischen landwirtschaftlichen Bedingungen gegeben ist. (Bayer 2016)
Tatsächlich findet sich gerade realistisch auch an Stellen der AGRAR-TRS, in denen kein unmittelbares Widerspruchspotential erkenntlich wird: (28) Im Landschaftsumfeld der Studienfelder gab es zur Zeit der Rapsblüte keine andere landwirtschaftliche Kultur, die von Bienen beflogen wurde. Die an der Studie aktiv beteiligten Landwirte, darunter auch Thieß und Kersten, bauten auf ihren Ackerflächen Winterraps an. Die Forscher konnten so direkt in der Agrarlandschaft testen und haben keinen künstlichen Versuchsaufbau anlegen müssen. „Die Bedingungen waren also sehr realistisch“, erklärt Dr. Fred Heimbach, Senior Expert Ecotoxicology bei tier3 solutions. (Bayer 2015b) (29) Der Nachweis der Sicherheit von Pflanzenschutzmitteln durch Monitoring-Verfahren ist besonders wichtig, da mögliche Wirkungen des Produktes unter realen Feldbedingungen und in der alltäglichen landwirtschaftlichen Praxis überprüft werden. Auch die Richtlinie 2010/21/EU der Europäischen Kommission schreibt den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vor, dass „Überwachungsprogramme zur Überprüfung der tatsachlichen Exposition von Honigbienen (...) in von Bienen für die Futtersuche oder von Imkern genutzten Gebie-
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ten eingeleitet“ und unter realistischen Anwendungsbedingungen durchgeführt werden sollen. (IVA 2014a)
Da es sich sowohl bei (28) als auch bei (29) nicht explizit um widersprechende Textsegmente handelt, stellt sich die Frage nach der Relevanz von realistisch in diesen Verwendungskontexten. Diese lässt sich m. E. besonders gut anhand des widersprechenden Potentials dieses Ausdrucks erklären: Würde eine Leserin nicht davon wissen, dass es auch die Behauptung in der Debatte gibt, dass einige Studien schädliche Auswirkungen auf Bienen nachwiesen, wäre sie vermutlich von der Existenz des Attributes realistisch eher irritiert. Geht man jedoch von einem solchen diskursiven Vorwissen als Element des Common Ground aus, ergibt sich unmittelbar das argumentativ-widersprechende Potential der Äußerung (vgl. dazu auch Simon 2020: 185-187). Die Opposition von realistischen Feldstudien und unrealistischen Laborexperimenten zieht sich durch die AGRAR-TRS. Dabei kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass AGRAR aufgrund der nötigen Ressourcen ein dominanter Förderer von Feldstudien in der Debatte war und ist, während NGOs diese nicht bzw. kaum finanzieren können. Das unrealistische Studien-Argument im Kontext der TRS AGRAR positioniert sich durch das KOMMENTIEREN von Studien als Orator relativ deutlich innerhalb der Debatte zu anderen Debattenakteuren und deren Aussagen. Entsprechend dem AUFKLÄREN-Muster wird der Leserin erneut Orientierung innerhalb der Debatte geboten, indem bspw. die Aussagekraft von Studien relativ zu den Fragen/Quaestiones der Debatte eingeordnet und Hintergrundwissen über wissenschaftliche Erkenntnispraktiken vermittelt wird. Besonders typisch für das AUFKLÄREN-Muster ist dabei, dass der Orator gewissermaßen in die Struktur des wissenschaftlichen Wissens ‚hineinzoomt‘, indem er der Leserin Einblicke in Forschungsräume verschafft. Dieser Effekt zeigt sich bspw. im Folgetext von (25), indem dann realistische Feldstudien und deren Ablauf etwas ausführlicher geschildert werden. Vor allem die von mir sehr ausführlich vorgenommene Interpretation des in (25) realisierten Widerspruchs soll aufzeigen, auf welche Weise das argumentative Widersprechen durch das KOMMENTIEREN von Studien in das AUFKLÄRENMuster der AGRAR-TRS eingebunden ist: – Es knüpft an die Konzeptualisierung der Debatte an. – Es beruht auf der Problematisierung der TW-Integration von in der Debatte relevanten Propositionen und führt diese fort, statt sie aufzulösen. – Es werden komplexe Weltenarchitekturen miteinander verbundener FRs und FWs aufgebaut.
258
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Es beruht häufig auf kognitiven Eigenleistungen der Rezipientin, die selbst Schlussregeln ableiten und daraus Konsequenzen für die Gültigkeit von Propositionen in der TW bzw. eigentlich von Aussagen in der Debatte ziehen muss. Die Rezipientin wird hier kognitiv ‚gefordert‘, was durchaus zur Annahme der Konstruktion einer ‚skeptischen Leserin‘ in der ÄW passt, die sich gerne ihr eigenes Bild machen möchte.
Dabei kann AGRAR zum einen eigene Expertise für sich beanspruchen, was bereits die Verwendung der Fachterminologie nahelegt. Das Muster beinhaltet zudem adversative bzw. konzessive Vertextungsmuster, die als besondere Prozeduren der Domäne Wissenschaft angesehen werden können (vgl. Steinhoff 2013: 104-105). Dabei demonstriert AGRAR in besonderer Weise evaluative Kompetenzen, die offensichtlich fachliche Expertise voraussetzen. Dies zeigt auch die in diesem Kontext auftauchende Nennung von wissenschaftlichen Grundsätzen (siehe 8.2.3), bei der AGRAR Bedingungen angibt, unter denen wissenschaftliche Erkenntnisse Geltung beanspruchen können. Gleichzeitig wird fremde Expertise bestritten: Zum einen diejenige der Forscher, die die mangelhaften Studien durchführen, und zum anderen diejenige der Debattenakteure, die daraus Aussagen über das Risiko der Neonicotinoide ableiten. Solche Akteure, so die Botschaft von AGRAR an die Leserin, wissen offenbar nicht, worüber man sich in wissenschaftlichen Kreisen einig ist – ganz im Gegensatz zu AGRAR, das selbst Zugang zur wissenschaftlichen Community zu haben bzw. Teil dieser Community zu sein scheint.
8.1.5 Kommunikative Kompetenz Neben Wohlwollen, Integrität und fachlicher Expertise lässt sich im Zuge des AUFKLÄREN-Musters auch die Demonstration kommunikativer Kompetenz ausmachen, was sich insbesondere an der Gestaltung der AGRAR-Texte erkennen lässt. Auffällig ist bei AGRAR zum einen die gestalterische Varianz der Texte, etwa auf der Ebene der Typographie, aber auch der Abbildungen. Abbildung 8.16 illustriert die gestalterische Varianz anhand zweier Seiten aus IVA 2014a und IVA 2016. Auf beiden Seiten zeigt sich die ausgeprägte Varianz zum einen auf der Ebene der Typografie, die hinsichtlich Schriftgröße, -farbe und Fettdruck variiert. Ebenfalls variiert die Zeichenmodalität: Neben Schrift finden sich jeweils Abbildungen sowie im rechten Beispiel Graphen, welche wiederum ebenfalls farblich variieren. Im linken Beispiel variieren auch Größe, Form und Farbschema der fotografischen Abbildungen innerhalb des Bild-Komplexes. Die proportionale Aufteilung des Seitenlayouts wiederum variiert im linken Beispiel relativ zu den üblichen Seiten von IVA 2014a, selbiges gilt für das rechte Beispiel und die übrigen Seiten
8.1 Der Aufklärer in der Debatte
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Abbildung 8.16: Beispiele für gestalterische Varianz aus IVA 2014a (links) und IVA 2016 (rechts).
von IVA 2016. Dabei variiert jeweils auch die Menge an Fließtext pro Seite. Das rechte Beispiel zeigt zudem eine Variation des Satzes, indem der Text-Abschnitt an die Kontur der Fotoabbildung der Hummeln angepasst ist. Diese Formen der gestalterischen Varianz, die hier natürlich nur in kleinem Ausmaß illustrativ dargestellt werden können, zeigen sich übergreifend, wenngleich unterschiedlich ausgeprägt in allen AGRAR-Texten. Sie demonstrieren den Aufwand sowie das technische Können, das AGRAR in die Produktion seiner Debattenbeiträge investiert hat. Die gestalterische Varianz kann – als Mittel der Aufmerksamkeitserhaltung – auch als ein Zeichen der professionellen Laienadressierung interpretiert werden. Die Texte werden durch die Rezeptionsoptimierung ‚zugänglicher‘, was vermutlich für das AUFKLÄREN-Muster von wesentlicher Bedeutung ist. Darüber hinaus signalisiert hier der Orator bzw. Textproduzent eine Zugewandtheit zur Adressatin, etwa durch den erkenntlichen Aufwand, mit dem der Orator hier einen Text ‚für die Adressatin‘ aufbereitet. Eine ähnliche Form der Zugewandtheit gegenüber einer Laien-Adressatin zeigt sich durch die gestalterische Aufarbeitung wissenschaftlicher Abbildungsformen bei AGRAR. Diese werden etwa durch farbliche Gestaltung, die Zufügung gestalterischer Elemente wie bspw. Piktogramme sowie durch Komplexitätsreduzierung für Laien
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
zugänglicher gemacht – und dabei in Bezug auf den Informationsgehalt auf leicht begreifbare Konzeptualisierungen wie OBEN IST VIEL reduziert (siehe Abbildung 8.17).
Abbildung 8.17: Gestalterische Aufarbeitung wissenschaftlicher Abbildungsformen bei AGRAR aus Bayer 2016 (links) und IVA 2014a (rechts).
Die Beispiele zeigen einen hohen gestalterischen Aufwand, der vor allem auf das kommunikative Können sowie das Engagement von AGRAR schließen lässt. Die aufwendige Gestaltung der Broschüren stellt ein rezeptionsoptimiertes Kommunikationsangebot dar, dass einer Rezipientin die Lektüre erleichtern soll. Als solches kann es durchaus auch als eine Art der Inszenierung von Wohlwollen gegenüber der Leserin aufgefasst werden.
8.1.6 Fazit: AUFKLÄREN als Kernelement der AGRAR-TRS AGRAR stellt sich innerhalb der TRS als Aufklärer in einer kontroversen Debatte dar, die objektiviert ‚von außen‘ betrachtet und einer Leserin zugänglich wird. Dies gibt AGRAR zum einen die Gelegenheit sich gegenüber der Leserin als kompetent und wohlwollend zu inszenieren. Gleichzeitig geht damit vielfach eine Ausgrenzung zentraler epistemischer Propositionen in Fokusdomänen einher (siehe dazu auch Kapitel 7). Dies geschieht bspw. durch das Problematisieren von Aussagen und Meinungen anderer – teils benannter teils unbestimmter – Debattenakteure oder das Kommentieren von Studien und deren Aussagekraft. Dieser zentrale Aspekt der AGRAR-TRS wird zudem durch zwei weitere wichtige Aspekte ergänzt, auf die ich im Folgenden weiter eingehen werde: Den hintergründigen Aufbau eines normativen Arguments sowie die Hervorhebung technischer Lösungen.
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument Ein weiteres Charakteristikum der TRS von AGRAR besteht darin, dass v. a. der normative Teil des Argumentbaus weitestgehend hintergründig verläuft, d. h. zentrale
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
261
normative Standpunkte werden nicht expliziert, sondern müssen von der Rezipientin im Textverstehen implizit erschlossen werden. Über die gesamte TRS verteilt finden sich jedoch immer wieder Textsegmente bzw. Teiltexte, deren argumentatives Potential auf die übergreifende Konstruktionsweise von auf normative Standpunkte orientierten Wissensstrukturen verweist. Ich werde hier von einem ‚versteckten‘ Argumentbau sprechen. Damit soll ausgedrückt werden, dass die Beantwortung der eigentlich normativen Quaestio (‚Sollen Neonicotinoide verboten werden?‘) im Rahmen der AGRAR-TRS weniger in Form einer klar ableitbaren Struktur von Standpunkten, Schlussregeln und Gründen erfolgt, sondern vielmehr durch ein gewisses Prinzip des Argumentbaus geschieht. Bei diesem werden zwar durchaus durch die Verankerung zentraler Topoi in der TW-Struktur inferierbare normative Positionierungen von Orator und Leserin begünstigt, in erster Linie wird darüber hinaus jedoch der argumentative Fokus weg von der normativen und hin zu epistemischen Quaestiones verschoben. Zur Erinnerung: Aus Sicht der hier vertretenen TWT bezeichnet Argumentation den Aufbau einer auf eine Quaestio bezogenen Wissensstruktur (siehe Kapitel 4.2.4). Diese zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass bestimmte Topoi in der TW verankert werden, bestimmte Slots in Frames auf gewisse Weise gefüllt werden und aus dieser Kombination ableitbare normative und/oder epistemische Positionierungen resultieren. Die in diesem Kapitel von mir behandelte Art und Weise des normativen Argumentbaus bezieht sich insbesondere auf die Konzeptualisierung der Frame-Struktur eines NEONICOTINOID-VERBOTES bzw. allgemein einer REGULATIVEN MAßNAHME und derjenigen Propositionen, die als Filler für bestimmte Slots innerhalb der Frame-Struktur– allen voran der Slots KONSEQUENZEN und ANLASS – fungieren können.
8.2.1 Balance Der erste Bestandteil des ‚versteckten‘ Arguments besteht darin, dass AGRAR innerhalb der TW eine Art Schlussregel in Bezug auf die normative Positionierung hinsichtlich regulativer Entscheidungen etabliert, die ich als den Balance-Topos bezeichnen möchte. Grundsätzlich handelt es sich dabei allerdings nicht um eine Schlussregel, die eindeutig und unmittelbar zu einer positiven oder negativen Positionierung führt. Vielmehr wird dabei betont, dass die Voraussetzung einer Positionierung in der gegenseitigen Abwägung von verschiedenen möglichen Konsequenzen einer regulativen Entscheidung bzw. eines Verbotes besteht. Der Balance-Topos nimmt innerhalb der TRS von AGRAR und insbesondere im Aufbau des versteckten Arguments eine Schlüsselposition ein. Ich möchte sowohl
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
seine spezifische Erscheinungsform als auch seine argumentative Funktionalität im Rahmen der AGRAR-TRS im Folgenden näher beleuchten. Die Etablierung des Balance-Topos in der Textwelt Was mit dem Balance-Topos gemeint ist, wie er im Rahmen des Textverstehens und des Aufbaus der Weltenarchitektur als Element des geteilten Wissens etabliert wird, um dann argumentativ wirksam werden zu können, möchte ich im Folgenden zunächst anhand eines längeren Textsegmentes aus Bayer 2016 ausführlich illustrieren. Der Text repräsentiert, wie anhand von (01) unter 8.1.1 gezeigt wurde, als Ganzes das AUFKLÄREN-Muster. Nach dem in (01) dargestellten Textsegment schließt sich unmittelbar der folgende Abschnitt (30) an: (30) Die Bedeutung der Bestäuber Bienen und andere Insekten spielen in der Landwirtschaft eine wichtige Rolle als Bestäuber. Viele der Kulturpflanzen, die den größten Teil unserer Grundnahrungsmittel liefern (z. B. Getreide, Mais, Reis, Kartoffeln), werden zwar nicht durch Insekten bestäubt, doch der Ertrag vieler anderer Kulturpflanzen hängt zu einem gewissen Teil von der Bestäubung durch Insekten ab oder wird dadurch verbessert (wie bei Erdbeeren, Sonnenblumen, Äpfel). (Bayer 2016)
Textsegment (30) realisiert das Mikro-Handlungsmuster BEDEUTUNG VON X HERVORHEBEN, wie an den Konstruktionen Die Bedeutung von X und X spielen eine wichtige Rolle klar ersichtlich wird. Interessant daran ist, dass sich dieses Handlungsmuster in Bezug auf Bienen und Bestäuber vor allem in der ÖKO-TRS immer wieder findet, wo es als Bestandteil des Meso-Handlungsmusters NOTSTAND VERDEUTLICHEN eine wichtige Rolle ausmacht (siehe Kapitel 9.1.3). Dies legt die Vermutung nahe, dass AGRAR sich hier in seinem strategischen Handeln der TRS von ÖKO anpasst. Als sprachhandelnder ÄW-Akteur signalisiert der Orator der Leserin, dass auch ihm durchaus etwas am Gegenstand – den Bienen und Bestäubern – gelegen ist. Allerdings lässt sich hier bereits eine kleine Einschränkung erkennen, die durch die konzessiven/adversativen Konnektoren zwar und aber indiziert wird und auf ein argumentatives Potential des Textsegmentes im Debattenkontext verweist: Bestäuber sind wichtig für die landwirtschaftlichen Erträge, aber auch ohne sie gäbe es noch Nahrungsmittel. Hier wird durch die Methode der Dissoziation (siehe dazu 8.2.3) der von ÖKO dargestellte (mögliche) Notstand relativiert. Dass Bayer 2016 tatsächlich auf die ÖKO-TRS reagiert, legt auch der weitere Textverlauf nahe. Als nächstes schließt sich dort ein mit Kein globaler Rückgang der Honigbienenvölker überschriebener Abschnitt an, indem v. a. durch das BERUFEN AUF STUDIENERGEBNISSE, das ABLEITEN VON SCHLUSSFOLGERUNGEN AUS STUDIENERGEBNISSEN und das SCHILDERN DER SITUATION (offensichtlich) der Behauptung
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
263
eines globalen Bienensterbens widersprochen wird. Der Balance-Topos – um den es mir hier geht – zeigt sich dann im nächsten unmittelbar anschließenden Teilabschnitt (31) von Bayer 2016: (31) Die Bedeutung des chemischen Pflanzenschutzes Der chemische Pflanzenschutz ist für die moderne Landwirtschaft von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Bestäubung durch Insekten. In jedem Jahr gehen bis zu 40 % der globalen Erträge durch Pflanzenschädlinge und Krankheiten verloren und diese Verluste könnten sich ohne Pestizide fast verdoppeln (EU, 2015; OECD/FAO, 2012). Der gezielte Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kann Ernteverluste durch Schädlinge, Pilzerkrankungen oder Unkräuter verhindern. Gleichzeitig können die Erträge pro Flächeneinheit beträchtlich gesteigert werden. Diesem Faktor kommt angesichts der wachsenden Weltbevölkerung und der begrenzten Anbauflächen, die nicht beliebig ausgedehnt werden können und sollen, eine besondere Bedeutung zu. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zum Schutz der Erträge verhindert die Art von Ernteausfällen, die in der Vergangenheit immer wieder zu Hungersnöten geführt haben (wie z. B. die Kartoffelfäule in Irland im 19. Jahrhundert), und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu unserer Nahrungssicherheit. [...] Die genannten Fakten zeigen deutlich, dass eine effiziente Landwirtschaft weder ohne gesunde Bienen und andere Bestäuber noch ohne moderne Pflanzenschutzmittel auskommt. Durch ihre Bedeutung für die Landwirtschaft ist die Bestäubung durch Bienen und andere Insekten auch für die Pflanzenschutzindustrie ein sehr wichtiges Thema. Das Gleichgewicht zwischen Bienen- und Pflanzenschutz zu wahren und zu optimieren, ist eine Herausforderung, der die Industrie mit verschiedensten Lösungsansätzen begegnet. (Bayer 2016)
Wie schon in (30), wird hier die BEDEUTUNG VON X HERVORGEHOBEN, nur dass der thematische Bezug nun nicht BIENEN und BESTÄUBER sind, sondern der PFLANZENSCHUTZMITTELEINSATZ. Die Sequenz der Textsegmente (30) und (31) legt also bereits auf der Ebene der Sprachhandlungen eine Parallelität bzw. Gleichwertigkeit zweier konzeptueller Bereiche der Textwelt nahe. Auf der Ebene des Wortlautes wird diese Gleichwertigkeit durch den syntaktischen Parallelismus der Überschriften von (30) und (31) indiziert: Bestäuber und chemischer Pflanzenschutz nehmen dabei jeweils dieselbe syntaktische Position (Genitiv-Attribut) innerhalb derselben Nominalphrase (Die Bedeutung + Genitiv-Attribut) ein. Diese Gleichwertigkeit wird im darauffolgenden Satz in (31) klar und deutlich expliziert (von ebenso entscheidender Bedeutung) und auch im letzten Abschnitt des Segments nochmals hervorgehoben. Sie zeigt sich hier in der Koordination weder ohne X noch ohne Y sowie referentiell explizit in der Nominalphrase das Gleichgewicht zwischen Bienen- und Pflanzenschutz. Gerade die letztgenannte Nominalphrase bzw. der letzte Satz in (31) kann dabei als deutlicher Indikator dafür gesehen werden, dass die in (31) etablierte
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Gleichwertigkeit sich eigentlich nicht auf die Entitäten BIENEN und PFLANZENSCHUTZMITTEL oder die Prozesse BESTÄUBUNG und PFLANZENSCHUTZ an sich bezieht. Die erneut auf der Ebene des Wortlautes, hier der Morphologie, erzeugte Parallelität von Bienen- und Pflanzenschutz scheint in thematischer Hinsicht etwas schief zu liegen. Denn von der Rolle des Bienenschutzes, der vor allem im Sinne eines normativen gesellschaftlichen Wertes und daraus ableitbarer Maßnahmen verstanden werden kann, war bislang weder in (30) noch in (31) explizit die Rede. Als gesellschaftlicher Wert (mit Konsequenzen für die Gewährleistung der Pflanzenbestäubung) liegt dieser auf einer ganz anderen Ebene als die landwirtschaftliche Praxis des Pflanzenschutzes. Ginge es in (30) und (31) wirklich nur darum, die Bedeutung eines Gegenstandes oder Prozesses relativ zu seinem Nutzen für die landwirtschaftlichen Erträge herauszustellen, dann sollten sich im letzten Satz von (31) nicht Bienenschutz und Pflanzenschutz gleichwertig verhalten, sondern Bestäubung und Pflanzenschutz. Der letzte Satz könnte somit einfach als holpriger Stil aufgefasst werden. Naheliegender jedoch erscheint es mir, gerade hierin einen Hinweis auf das argumentative Potential zu sehen, dass in (31) zum Ausdruck kommt. Die Rede davon, dass hier ein Gleichgewicht zu optimieren sei, impliziert klar, dass es nicht zu viel des Einen (Bienenschutz) auf die Kosten des Anderen (Pflanzenschutz) geben sollte. Als die jeweiligen Gewichte auf der Waage können m. E. nun der Wert Bienenschutz und entsprechende Maßnahmen einerseits und die Maßnahme des Pflanzenschutzes zur Gewährleistung landwirtschaftlicher Erträge andererseits angesehen werden. Die daraus resultierende Logik erscheint naheliegend: Pflanzenschutzmaßnahmen dürfen ebenso wenig (im Sinne von: in gleichem Maße) den Bienenschutz beeinflussen wie Bienenschutzmaßnahmen die nur durch den Pflanzenschutzmitteleinsatz gewährleistete landwirtschaftliche Ertragssicherheit. Im Kontext der Debatte um ein Neonicotinoid-Verbot lässt sich das argumentative Potential dieser Gleichwertigkeit im Hinblick auf die normative Quaestio ‚Sollten Neonicotinoide verboten werden?‘ als Balance-Topos bezeichnen, der als Schlussregel (SR) in etwa wie folgt formalisiert werden kann: SR: Die Konsequenzen einer Maßnahme, die Bienen und Pflanzenschutzmittel betrifft, müssen im Hinblick auf die Zielwerte Bienenschutz und landwirtschaftliche Ertragssicherheit ausgewogen sein.
Die – wie ich meine sehr plausible – Annahme einer solchen argumentativen Schlussregel als Folge der Etablierung einer Gleichwertigkeit der beiden konzeptuellen Bereiche bzw. ‚Werte‘ Bienenschutz und Ertragssicherheit in der TW speist sich aus zweierlei Überlegungen: Zum einen stellt sich die Frage, welche Relevanz eine solche Gleichsetzung innerhalb des Debattenkontextes besitzt, worauf die Etablierung einer argumentativen Schlussregel m. E. ein plausible Antwort liefert.
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
265
Zum anderen ist aus der Argumentationsanalyse bekannt, dass bei normativen Quaestiones die Bewertung der resultierenden Konsequenzen eine besondere Stellung in der Argumentation einnimmt. Eine Positionierung zu Handlungen, Entscheidungen o. Ä. erfolgt dabei relativ zu einer Bewertung der (antizipierten) Handlungsfolgen. Dieses Argumentationsmuster wird zumeist als pragmatisches Argument bezeichnet (vgl. Perelman & Olbrechts-Tyteca 1969: 266; van Eemeren 2019: 48-49). Ich möchte die Annahme eines solchen Balance-Topos weiter plausibilisieren, indem ich im Folgenden aufzeige, wie sich dadurch das argumentative Potential von (31) interpretieren lässt. Implizites Argumentieren mit dem Balance-Topos Unter der Annahme des Balance-Topos kann (31) von einer Rezipientin durchaus bereits als Realisierung einer Argumentation im Debattenkontext verstanden werden. Einen ersten Hinweis liefert die implizite Konzeptualisierung der Konsequenzen eines Neonicotinoid-Verbotes. So wird in (31) die Bedeutung des Pestizideinsatzes hervorgehoben, indem insbesondere auf die negativen Konsequenzen hingewiesen wird, die ein Verzicht auf Pestizide im Allgemeinen für die landwirtschaftliche Produktivität hätte. Dazu wird durch den Teilsatz ... und diese Verluste könnten sich ohne Pestizide fast verdoppeln eine FW in epistemischer Relation zur TW konstruiert, in der durch das Fehlen von Pestiziden starke Ernteverluste auftreten (siehe Abbildung 8.18).
ÄW Akteure: Orator, Leserin
TW WBEs: PSMs, Bienen, Ernten Hintergrundframes: LWS ________________
FW LWS ohne PSM führt zu starken Ernteverlusten
Abbildung 8.18: Fokuswelt in epistemischer Relation zur Textwelt.
Nimmt man nun ein diskursives Vorwissen einer Rezipientin in Form der normativen Quaestio (‚Sollten Neonicotinoide verboten werden?‘) an, lässt sich in (31) ein Argument-Bau erkennen: Das Wissen um die Quaestio beinhaltet eine FW, in der Neonicotinoide verboten werden, zu der der Orator sich dann im Hinblick auf eine deontische Relation zur TW positioniert (siehe dazu Kapitel 6.3.4). Überträgt man diese Architektur auf die im Textsegment lokal konstruierte Weltenarchitektur, wird die propositionale Struktur der epistemischen FW in Abbildung 8.18 in die Struktur der deontischen FW der Quaestio integriert. Ein Verbot wichtiger Pestizide wie der Neonicotinoide führt somit zu starken Ernteverlusten (Abbildung 8.19). Frame-semantisch ausgedrückt: Die lokale Wissenskonstitution in (31) führt dazu,
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
dass in der propositionalen Struktur von NEONICOTINOID-VERBOT nun der Slot KONSEQUENZ mit ‚starken Ernteverlusten‘ besetzt wird. Als Aussage ließe sich dies wie folgt formulieren: Wenn wichtige Pestizide wie Neonicotinoide verboten würden, hätte das starke negative Konsequenzen für die Landwirtschaft.
ÄW Akteure: Orator, Leserin
TW WBEs: PSMs, Bienen, Ernten Hintergrundframes: LWS ________________
FW NN-Verbot führt zu starken Ernteverlusten
Abbildung 8.19: Übertragung einer Teilstruktur der Quaestio auf die lokale Weltenarchitektur.
Gemäß der Quaestio ist nun die volitive bzw. deontische Positionierung zu einer solchen Fokuswelt relevant. Hier könnte nun zunächst das pragmatische Argument greifen, nachdem eine Handlung mit negativen Konsequenzen schlicht nicht ergriffen werden sollte. Allerdings liegen die Dinge in der Neonicotinoid-Debatte nicht so einfach. Denn tatsächlich wird als weitere und beabsichtigte (!) Konsequenz eines Verbotes von anderen Akteuren der Debatte ja auch immer wieder der daraus resultierende verbesserte Schutz der Bienen angeführt. Es erscheint mir überaus naheliegend anzunehmen, dass eine Rezipientin sich dessen im Falle einer Kenntnis der Quaestio auch bewusst ist. Somit sind für eine normative Positionierung gegenüber dem Verbot (bzw. gegenüber dem deontischen Zwang, den die TW auf die FW ausübt) zwei Konsequenzen gegeneinander abzuwägen (Abbildung 8.20): Verbesserter Bienenschutz vs. verschlechterte Ertragssicherheit.
ÄW Akteure: Orator, Leserin
TW WBEs: PSMs, Bienen, Ernten Hintergrundframes: LWS, Umweltschutz, BalanceTopos ________________
FW NN werden verboten KONSEQUENZ 1: starke Ernteverluste KONSEQUENZ 2: Bienen werden geschützt
? Abbildung 8.20: Die argumentative Funktion des Balance-Topos in der Weltenarchitektur.
An dieser Stelle nun greift der Balance-Topos und die ihm inhärente Metaphorik der Ausgewogenheit. Diese lenkt den Blick auf die mit den jeweiligen Konsequenzen (1&2 in Abbildung 8.20) verbundenen abstrakten Quantitäten: Das Ausmaß der
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
267
Konsequenzen relativ zum jeweiligen Ziel-Wert der regulativen Maßnahme muss gegeneinander abgewogen werden. Da die Ernteverluste offenbar enorm ausfallen (im Text werden zumindest für den Fall eines allgemeinen Pestizidverzichtes fast 80% benannt), sind sie durch den anvisierten Bienenschutz kaum aufzuwiegen. Tatsächlich scheint eine relative Quantifizierung der jeweiligen Konsequenzen nur schwer möglich. Aus den Strukturen einer TW, in die der Balance-Topos in dieser Form eingewoben wurde, resultiert somit zumindest nicht unmittelbar ein starker deontischer Zwang auf die FW, der eine klare bejahende Positionierung der ÄW-Akteure zu einem Verbot legitimieren würde. Stattdessen wird die Anwendung des pragmatischen Arguments auf die normative Quaestio in der Neonicotinoid-Debatte dadurch verkompliziert. Wichtig ist es an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, dass die das Neonicotinoid-Verbot enthaltende Fokuswelt zu diesem Zeitpunkt im Text nicht text-driven konstruiert wurde, sondern nur unter der Annahme eines diskursiven Vorwissens einer Rezipientin um die argumentative Quaestio auf die Weltenarchitektur übertragen werden kann (siehe zu dieser Problematik Kapitel 6.3.1). Gleichzeitig hoffe ich aber aufgezeigt zu haben, dass die Annahme eines entsprechenden argumentativen Potentials sich bereits aus einem relativ geringen Vorwissen einer Rezipientin ergibt. Darin zeigt sich deutlich, wie implizit die normative Argumentation an einigen Stellen bei AGRAR betrieben wird. Ebenfalls zeigt sich, welche Rolle dabei die eigenständige Tätigkeit der Rezipientin beim Textverstehen einnimmt: Wenn sie um die normative Quaestio weiß und die lokale Etablierung des Balance-Topos in der TW akzeptiert, dann gelangt sie selbst zu der Schlussfolgerung, dass ein NeonicotinoidVerbot zumindest nicht zwingend erforderlich ist, sondern genau abgewogen werden muss. Das Textsegment leitet somit auch in dieser Hinsicht zum nächsten wichtigen normativen Topos von AGRAR über – dem Fundierte-Entscheidungen-Topos (siehe Abschnitt 8.2.2). Für eine solche ‚argumentative‘ Interpretation des Textsegments (31) spricht meines Erachtens auch die Infografik, die (31) in Bayer 2016 ergänzt (Abbildung 8.21). In Abbildung 8.21 zeigt sich erneut das argumentative Potential des BalanceTopos und die damit verbundenen Rolle abstrakter Quantitäten. Auffällig ist an der Grafik, dass der repräsentative Gehalt der Balken nicht erläutert wird. Dies lässt insbesondere die Frage aufkommen, was der linke Balken eigentlich bedeuten soll. Er scheint zunächst eine Art Normal-Maß anzugeben, von dem die beiden anderen Balken in verschiedene Richtungen abweichen. Der rechte Balken lässt sich recht einfach verstehen: Der gesamte Balken scheint die eigentlich möglichen Ernteerträge zu repräsentieren, der rote Teil die Ausfälle durch Schädlinge und Krankheiten und der grüne Teil somit die tatsächlichen Erträge. Die Interpretation, dass der linke Balken die eigentlich möglichen Erträge repräsentiert, wird jedoch durch den mittleren Balken in Zweifel gezogen. Tatsächlich müsste dieser Balken dann ja als
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
Abbildung 8.21: Der Balance-Topos in einer Infografik aus Bayer 2016.
Ganzer die Gesamterträge repräsentieren, wovon die dunklere und gestrichelte obere Teilmenge den Beitrag der Bestäuber auszeichnet. Allerdings ist völlig unklar, warum der Bestäuber-Beitrag hier auf das Normal-Maß (den linken Balken) aufgerechnet wird oder in welchem Verhältnis der hier dargestellte Gesamtertrag zum tatsächlichen Ertrag (grüner Teil des rechten Balkens) steht. Die Infografik ist also als Ganze inkohärent, intransparent und unschlüssig. Somit kann weder eine nur illustrative noch eine wirklich erklärende Funktion erkannt werden. Aufschlussreicher scheint eine argumentative Interpretation der Infografik. Der mittlere Balken repräsentiert dabei schlechthin den Wert der Bestäuber und der rechte Balken den Wert der Pflanzenschutzmittel. Der linke Balken repräsentiert den Wert ‚landwirtschaftlicher Ertrag‘ an sich. Aus den dargestellten Quantitäten ergibt sich somit bereits auf den ersten Blick ganz oberflächlich, dass Pflanzenschutzmittel wichtiger für landwirtschaftliche Erträge sind als Bestäuber. Darüber hinaus lässt sich das durch die Grafik dargestellte Verhältnis aber auch auf die in Abbildung 8.20 dargestellte Weltenkonstruktion übertragen: Die dargestellten Proportionen repräsentieren die jeweiligen Konsequenzen, wobei die negativen Konsequenzen die positiven Konsequenzen auf den ersten Blick überwiegen. Eine solche Interpretation geht jedoch davon aus, dass eine Rezipientin die Grafik nicht rational zu begreifen versucht, sondern lediglich intuitiv von dargestellten Proportionen auf quantitative Aspekte der Weltenkonstruktion schließt, und stellt also nur eine von vielen Möglichkeiten des Textverständnisses dar, die die Grafik aufgrund ihrer internen Unschlüssigkeit zulässt. (31) stellt ein gutes Beispiel dafür dar, wie AGRAR den Balance-Topos im Common Ground etabliert. Insbesondere zeigt der von mir hier ausführlich dargelegte Interpretationsvorschlag auf, wie in solchen Fällen unterschwellig das normative Argument aufgebaut werden kann. Tatsächlich finden sich die entsprechenden Propositionen und Standpunkte im Text zunächst nicht expliziert. Im Fortlauf des
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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Texts wird vor allem der Anlass eines Verbotes bestritten und die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Anwendungsbeschränkungen deshalb als unangemessen bezeichnet. Für die Annahme des oben rekonstruierten Arguments spricht jedoch das 7 Seiten später auftauchende Textsegment (32): (32) Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die innerhalb der EU verhängten Anwendungsbeschränkungen für Neonikotinoide die Honigbienengesundheit verbessern. Die Völkerverluste im ersten Jahr nach der Verhängung der Beschränkungen lassen keinerlei Anzeichen für eine Verbesserung erkennen. (Bayer 2016)
Hier wird die in Abbildung 8.20 dargestellte KONSEQUENZ 2 konzeptualisiert und relativiert und somit das über den Text ‚verstreute‘ Argument weiter bzw. erneut aufgebaut. Der Balance-Topos als wiederkehrendes Element der AGRAR-TRS Der Balance-Topos wird von AGRAR an mehreren Stellen als Bestandteil der TRS in der TW etabliert. Dabei wird immer wieder in ähnlicher Form wie in (31) vorgegangen. Insbesondere rechtfertigen die weiteren Befunde die Annahme, dass der Balance-Topos auf eine Gleichwertigkeit der normativ-leitenden gesellschaftlichen Werte Bienenschutz und landwirtschaftliche Ertragssicherheit abzielt. Auf der sprachlichen Ebene wird die Etablierung des Balance-Topos musterhaft vor allem durch sogenannte Koordinationen wie weder X noch Y, sowohl X als auch Y oder einfach X und Y indiziert, wobei die Positionen innerhalb der Konstruktionen sowohl mit NPs als auch VPs besetzt werden können, die die jeweiligen Werte Bienenschutz und landwirtschaftliche Ertragssicherheit evozieren. Hinweise auf den Balance-Topos werden dabei häufig im Rahmen des Mikro-Handlungsmusters ANFORDERUNGEN NENNEN realisiert, d. h. in volitiven und/oder deontischen FWs integriert. (33) Bestäuber und Nahrungsmittelproduktion sind gleichermaßen lebenswichtig; wir als Gesellschaft tragen die Verantwortung dafür, beides zu erhalten. (IVA 2014a) (34) Es ist ungemein wichtig, dass Industrie, Landwirte und alle Beteiligten, die sich mit der Thematik befassen, Hand in Hand arbeiten, um die beste Verfahrensweise für den Umgang mit den rückläufigen Bestäuberpopulationen zu ermitteln und Lösungen anzubieten, die sich sowohl auf die Insekten als auch auf die landwirtschaftliche Produktivität positiv auswirken. (IVA 2014a) (35) Basierend auf diesen Ergebnissen kommt der für die Bewertung der Bienensicherheit zuständige Bayer-Experte Schmuck zu dem Schluss, dass „wirksamer Pflanzen- und Bienenschutz miteinander vereinbar sind.“ (Bayer 2015b)
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
(36) Denn nur bei gegenseitigem Verständnis landwirtschaftlicher und imkerlicher Belange kann langfristig für das Wohl der Bienen Sorge getragen und können die Erträge von Nutzpflanzen gesichert werden. (Bayer 2015b) (37) Wir hoffen, dass wir bessere Lösungen zum Wohle der Bienengesundheit weltweit finden werden – Lösungen, die sowohl der Natur als auch dem Menschen nützen. (Bayer 2015a) (38) Bienen und andere Bestäuberinsekten spielen eine wichtige Rolle bei der Bestäubung von Nutzpflanzen. Deshalb sind Pflanzenschutz und die Gewährleistung der Bienensicherheit keine „Entweder-oder“-Option, sondern müssen Hand in Hand gehen. (Bayer 2018)
Vor allem entsprechende Koordinationen finden sich bei AGRAR teils prominent positioniert, etwa in Unter- und Zwischenüberschriften oder Titelseiten. Die jeweiligen Textsegmente zeigen dabei häufig keine explizite argumentative Funktionalität, sondern entwickeln ihr argumentatives Potential vor allem implizit vor dem Hintergrund eines Wissens um die normative Quaestio der Debatte. Der Balance-Topos erfüllt innerhalb der TRS von AGRAR mehrere zentrale Zwecke: – Er setzt ein Gegengewicht zum reinen Umweltschutz-Topos bei ÖKO. Insbesondere stellt er ein Gegengewicht zum Vorsorgeprinzip dar. Gleichzeitig beinhaltet er eine Art Eingeständnis an das Ethos, da AGRAR sich kaum erfolgreich gegen den Bienenschutz positionieren kann. – Er verkompliziert die argumentative Bedeutung von konzeptuellen Füllungen des Slots KONSEQUENZ des NEONICOTINOID-VERBOTES. Er lenkt die Last des normativen Arguments somit vor allem auf den Slot ANLASS und bedingt insbesondere die Wirksamkeit und Bedeutsamkeit des Fundierte-EntscheidungenTopos (siehe 8.2.2). – Er führt zur argumentativen Positionierung von alternativen Schutzmaßnahmen, für die ebenfalls der Balance-Topos gilt und in denen er ‚deutlicher‘ umgesetzt ist. Insbesondere sind hier technische Lösungen zu nennen (siehe 8.3.1). – Der Balance-Topos macht tatsächlich auch auf die zentrale Spannung zwischen Kultur und Natur in der Landwirtschaft aufmerksam: dem Verdrängen der Natur zwecks Sicherung der Erträge und somit der Nahrungsmittelproduktion und der gleichzeitigen Notwendigkeit funktionierender Ökosysteme für die Produktivität der LWS (siehe dazu auch Kapitel 9.2). Bei AGRAR bleiben diese beiden Aspekte aber ‚getrennt‘, entsprechend muss die Waage gehalten werden. Wirklich ineinander integrierbar scheinen sie somit nicht zu sein.
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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8.2.2 Fundierte Entscheidungen Der Balance-Topos bezieht sich, wie oben dargestellt, auf die Konzeptualisierung der KONSEQUENZEN einer gesetzlich-regulativen Maßnahme wie in diesem Fall des Neonicotinoid-Verbotes. Gleichzeitig dient seine Etablierung in der TW offenbar dazu, die Ableitung einer normativen Positionierung zu einem Verbot ausgehend von vermuteten und/oder behaupteten Konsequenzen zu verkomplizieren. Insofern führt der Balance-Topos auch dazu, den argumentativen Fokus im Hinblick auf die normative Quaestio auf den ANLASS des Verbots zu verschieben. An dieser Stelle lässt sich bei AGRAR ein weiterer normativer Topos identifizieren, den ich als den Fundierte-Entscheidungen-Topos bezeichnen möchte. Der Fundierte-Entscheidungen-Topos stellt einen Zusammenhang zwischen der normativen Positionierung zu einer regulativen Maßnahme und dem epistemischen Status derjenigen Propositionen her, die den Anlass einer solchen Maßnahme repräsentieren. Im Hinblick auf eine normative Quaestio fokussiert der Fundierte-EntscheidungenTopos diejenigen TW-Strukturen, die etwa als Füllungen v. a. des Slots ANLASS sowie des Slots KONSEQUENZ in die konzeptuelle Struktur des Verbots in der FW übernommen werden. Diese Propositionen müssen insbesondere durch den HintergrundFrame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS strukturiert werden, um in dieser Form ihre epistemische Qualität abzusichern. Als argumentative Schlussregel ließe sich der Fundierte Entscheidungen-Topos etwa wie folgt formulieren: SR: Wenn eine regulative Maßnahme ergriffen wird, dann muss diese auf einer soliden Wissensbasis beruhen.
Der Fundierte-Entscheidungen Topos wird in der AGRAR-TRS auf den ersten Blick seltener expliziert als der Balance-Topos. Für seine große Bedeutsamkeit in Bezug auf das normative Argument von AGRAR spricht jedoch, dass sein klarstes InErscheinung-Treten mit der einzigen Explizierung des Standpunktes zur normativen Quaestio bei AGRAR zusammenfällt: (39) Auf der Grundlage dieser EFSA-Beurteilung, deren Einschätzung von den zuständigen Behörden vieler EU-Mitgliedsstaaten nicht geteilt wurde, verfügte die EU-Kommission 2013 eine Beschränkung für die Anwendung der oben genannten Neonikotinoide in bienenattraktiven Kulturen, obwohl sich dafür auch nach zweimaliger Abstimmung im Standing Committee der Mitgliedsstaaten keine qualifizierte Mehrheit gefunden hatte. Die Kommission ging sogar weit über die von der EFSA ausgesprochenen Bedenken hinaus und verbot auch eine Reihe von Anwendungen, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beurteilt worden waren und die auch nie mit möglichen Honigbienenvergiftungen in Verbindung gebracht worden waren. Aus der Sicht der Pflanzenschutzindustrie basieren die Anwendungsbeschränkungen insofern nicht auf seriösen wissenschaftlichen Grundsätzen und sind deshalb nicht gerechtfertigt. (Bayer 2016)
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Im letzten Satz von (39) wird die explizite normative Positionierung des Orators (aus Sicht der Pflanzenschutzindustrie), dass aus den Strukturen der TW kein deontischer Zwang auf ein in Frage stehendes Verbot folgt, mit dem unzureichend sicheren epistemischen Status der zentralen epistemischen Proposition ‚Der Neonicotinoid-Einsatz hat negative Konsequenzen für Bienen‘ begründet (basieren ... nicht auf seriösen wissenschaftlichen Grundätzen und sind deshalb nicht gerechtfertigt). Die mangelhafte wissenschaftliche Basis der Entscheidungen wird von AGRAR daraus abgeleitet, dass das zugrundeliegende EFSA-Gutachten in seiner Geltungskraft angefochten wird (deren Einschätzung von den zuständigen Behörden vieler EU-Mitgliedsstaaten nicht geteilt wurde) und auch wissenschaftlich angeblich nicht validierte Risikovermutungen in die Entscheidung miteinbezogen wurden (die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beurteilt worden waren und die auch nie mit möglichen Honigbienenvergiftungen in Verbindung gebracht worden waren). Beide Gründe zielen somit auf den epistemischen Status der Proposition ‚Der Neonicotinoid-Einsatz hat negative Konsequenzen für Bienen‘ ab, die im Kontext der Debatte fraglos als zentraler Anlass für ein Neonicotinoid-Verbot gelten kann. Da es sich bei (39), wie bereits gesagt, um die einzige explizite normative Positionierung von AGRAR zum Neonicotinoid-Verbot handelt, die sich im Korpus finden lässt, kann es als eine Schlüsselstelle für die Interpretation der normativen Argumentation angesehen werden. (39) verdeutlicht die argumentative Bedeutsamkeit bzw. Funktionalität des epistemischen Status des (wissenschaftlichen) Wissens bezüglich der zentralen epistemischen Proposition innerhalb der AGRAR-TRS. Diese Funktionalität wiederum stützt sich auf den Fundierte-Entscheidungen-Topos. Somit wird der Fokus der gesamten Argumentation auf den epistemischen Status des wissenschaftlichen Wissens gelenkt, das den Slot ANLASS der Frame-Struktur des VERBOTS besetzen kann. In dieser Hinsicht zeigt sich eine recht klare Parallele zwischen dem Fundierte-Entscheidungen-Topos und dem AUFKLÄREN-Muster in der AGRARTRS: Beide führen von der Debatte um ein Verbot hin zur epistemischen Qualität des wissenschaftlichen Wissens. Weitere Realisierungen des Fundierte-Entscheidungen-Topos im Korpus finden sich bspw. in (40) und (41) durch die Mikro-Handlung ANFORDERUNGEN NENNEN, wobei Fokuswelten in deontischer Welt-Welt-Relation konstruiert werden, was das normativ-argumentative Potential der jeweiligen Textstellen zum Ausdruck bringt. Allerdings wird an den beiden entsprechenden Stellen kein expliziter Bezug zum Neonicotinoid-Verbot hergestellt, sondern lediglich der Topos in der TW verankert. Der durchaus miterfolgende Argument-Bau bleibt an den entsprechenden Stellen somit weitestgehend ‚versteckt‘.
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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(40) Andere Fachleute lehnen die Hypothese einer Bestäuberkrise ab. Allerdings erkennen Befürworter und Gegner gleichermaßen die Bedeutung der Bestäubungsleistung und der biologischen Vielfalt an und befürworten eine kontinuierliche Forschung und Beobachtung, um Probleme erkennen und angemessene Maßnahmen ergreifen zu können. Wir sollten zudem grundsätzlich darauf achten, dass wir uns nicht zu Handlungen mit weitreichenden und negativen Folgen hinreißen lassen, bevor uns nicht die notwendigen Fakten vorliegen, um durchdachte Entscheidungen zu treffen. (IVA 2014a) (41) Die unterschiedlichen Regulierungsansätze für Bienenstudien müssen in Zukunft vereinheitlicht werden, um eine fundierte, transparente und aussagefähige wissenschaftliche Risikobewertung zu ermöglichen. (Bayer 2018)
In besonderer Weise wird der Fundierte Entscheidungen-Topos in Bayer 2014 wirksam. Der Text stellt die Kommissionsentscheidung aus dem Jahr 2013 in Frage, indem er auf eine anhaltende innerfachliche Diskussion um die wissenschaftliche Grundlage verweist. Bereits Überschrift und Vorspann/Lead des Texts zeigen die Rolle des Fundierte-Entscheidungen-Topos: (42) TRENDWENDE IN SICHT? Immer mehr Bienenwissenschaftler und Fachleute bezweifeln, dass Neonikotinoide tatsächlich die Ursache der Bienenverluste sind. Im Dezember 2013 ist die Einschränkung des Neonikotinoid-Einsatzes für bestimmte Anwendungsbereiche in Europa in Kraft getreten. Basis der Entscheidung waren Bedenken der EUKommission, diese Produktgruppe zur Schädlingsbekämpfung in Kulturpflanzen wie Mais oder Raps könnte ein Bienenrisiko darstellen. Jetzt stellt sich allerdings die Frage, ob die EUEntscheidung voreilig und ohne schlüssige wissenschaftliche Beweise getroffen wurde. Seit der Verhängung der Restriktion wächst die Zahl der Bienenwissenschaftler und Fachleute, die den monokausalen Ansatz der Entscheidung in Frage stellen. (Bayer 2014)
Die normative Geltung der Verbotsentscheidung wird erneut auf die epistemische Qualität des zugrundliegenden Fachwissens über den Verbotsanlass zurückgeführt. Interessant ist insbesondere, dass in Bayer 2014 eine Spannung zwischen politischem Handeln und wissenschaftlicher Erkenntnis dargestellt wird. Diese Spannung hat, wie das Adverb voreilig in (42) bereits andeutet, auch etwas mit Geschwindigkeit zu tun. Sie kommt ebenfalls im folgenden Textsegment (43) zum Ausdruck: (43) War also die Entscheidung der EU ein klassischer Fall von voreiligem politischem Aktivismus? Im vergangenen Dezember schien die Einschränkung den allgemeinen Konsens der wissenschaftlichen und öffentlichen Meinung widerzuspiegeln. Aber seitdem sind die Zweifel an vielen Fronten gewachsen. (Bayer 2014)
Die als typisch bezeichnete (klassischer Fall) übereilte Geschwindigkeit des politischen Zur-Tat-Schreitens wird hier deutlich mit dem kontinuierlichen und nicht
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linearen Entwicklungsprozess wissenschaftlicher Erkenntnis kontrastiert, die sich bereits in der Überschrift (Trendwende in Sicht) abzeichnet. Bezeichnend daran ist, dass sich dabei politisches Intervenieren offenbar grundsätzlich als defizitär gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis darstellt. Die Aussage, die darin mitschwingt, scheint klar: Bevor wir politisch aktiv werden, sollten wir uns der Klärung der wissenschaftlichen Faktenlage zuwenden. In dieser Form findet sich der Fundierte-Entscheidungen-Topos auch in (40) oben realisiert. AGRAR konstruiert somit eine auch auf die zeitliche Dimension bezogene Opposition von Fundierte-Entscheidungen-Topos und Vorsorgeprinzip.
8.2.3 Genau Hinsehen! Gerade der Fundierte-Entscheidungen-Topos führt dazu, im Rahmen der AGRARTRS das (wissenschaftliche) Wissen, das den Verbotsanlass darstellt, und dessen epistemische Qualität stärker in den Blick zu nehmen und als argumentativ relevant zu erachten. Neben der epistemischen Qualität dieses Wissens fokussiert AGRAR jedoch auch die interne propositionale Struktur dieses Wissens. Dabei betont AGRAR an mehreren Stellen die Wichtigkeit des genauen Hinsehens: (44) Um diese Fragen beantworten zu können, muss man zunächst den Zusammenhang zwischen Bestäubern und Bestäubung sowie die Notwendigkeit der Bestäubung für Kultur- und Wildpflanzen verstehen. Und auch die Merkmale dessen, was eine „Bestäuberkrise“ ausmacht, müssen sehr genau definiert werden (IVA 2014a) (45) Aber um Dinge nicht falsch zuzuordnen, braucht es einen genaueren Blick. Diesen Blick soll dieser Faktencheck ermöglichen (IVA 2016)
Mit dem genauen Hinsehen ist – gemäß der konzeptuellen Metapher SEHEN IST WIS– gemeint, dass sich die beteiligten Akteure, im Falle des AUFKLÄREN-Musters Orator und Leserin als Akteure der ÄW, den Strukturen des Wissens, also den einzelnen Konzepten und deren Zusammenhang zuwenden sollen. Im Zuge dessen findet sich bei AGRAR ein Verfahren, dass argumentationstheoretisch als Dissoziation bezeichnet werden kann (vgl. Perelman & OlbrechtsTyteca 1969: 41). Beim Verfahren der Dissoziation geht es darum, „begriffliche Elemente zu trennen, die in einem Denksystem als untrennbares Ganzes aufgefasst werden“ (Kienpointer 2003: 564). Laut van Rees (2006: 486) bearbeiten Dissoziationen ähnlich wie Präzisierungen und semantische Verschiebungen das Verhältnis von Begriff bzw. Lexem und konzeptuellem Referenzbereich. Dabei werden bestimmte konzeptuelle Aspekte des Bedeutungsbereiches eines Lexems abgespalten, um insbesondere Widersprüche aufzulösen. Aus Sicht der hier vertretenen TWT bezeichnet Dissoziation insbesondere den Ausbau und die StruktuSEN
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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rierungen argumentativ relevanter Frame-Strukturen der TW und deren Verbindung zu entsprechenden Lexemen. Als argumentatives Verfahren – also als Verfahren des Argument-Baus durch die Interpretation eines Texts – kommt ihm in der AGRAR-TRS insbesondere die Funktion zu, die internen konzeptuellen Strukturen von Argumenten auszudifferenzieren und argumentativ-verknüpfende Relationen zu verkomplizieren bzw. aufzubrechen. Ich werde im Folgenden einige Beispiele des Dissoziierens im Rahmen der AGRAR-TRS näher beleuchten, um zu erläutern, was darunter zu verstehen ist. Bienen sind Bienen sind Bienen? Die vielleicht stärkste Form der Dissoziation durch den Aufbau von taxonomischen TW-Frame-Strukturen lässt sich in IVA 2014a beobachten. Der erste Dissoziationsprozess betrifft dabei das Konzept BESTÄUBUNG, bei dem zwischen biotischer und abiotischer Bestäubung unterschieden wird: (46) Es gibt zwei Arten der Bestäubung, und zwar die abiotische und die biotische Bestäubung. Die abiotische Bestäubung erfolgt ohne die Beteiligung von lebenden Organismen, wie es zum Beispiel bei der Windbestäubung der Fall ist. Die biotische Bestäubung ist das Ergebnis des Transports von Pollen durch lebende Organismen. (IVA 2014a)
Unter dieser Voraussetzung werden auf den nachfolgenden 4 Seiten Bestäuber in Europa differenziert, was zu der in Abbildung 8.22 dargestellten komplexen taxonomischen Struktur führt. Bestäuber
Bestäuberinsekten
Hautflügler
Schmetterlinge
Echte Bienen (Apidae)
Honigbienen (apis mellifera)
Hummeln
Einsiedlerbienen
Kolibris
Nachtfalter
Vögel
Käfer
Buprestidae
Scarabaeidae
Stachellose Bienen
Fledermäuse
Zweiflügler (Diptera) Fliegen
Schwebfliegen
Abbildung 8.22: Taxonomische Dissoziation des Konzepts BESTÄUBER in IVA 2014a90.
Die in dieser Abbildung rekonstruierte Taxonomie orientiert sich am Wortlaut von IVA 2014a und stellt die mögliche resultierende Verstehensleistung einer Rezipientin dar. Wie etwa die Unterscheidung von Kolibris und Vögeln zeigt, erhebt sie keinerlei Anspruch auf biologische Korrektheit.
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Aus TWT-Sicht kann diese konzeptuelle Ausdifferenzierung als HintergrundArbeit bezeichnet werden, d. h. ein Hintergrund-Frame (BESTÄUBER) wird ausgebaut, intern strukturiert und ausdifferenziert. Dabei wird, wie man sehen kann, auch das Konzept BIENE dissoziiert. Der argumentative Effekt dessen ist klar: Honigbiene ist nicht gleich Biene, Biene nicht gleich Bestäuber. Anschließend widmet sich IVA 2014a in einem ganzen Kapitel der Honigbiene. Dabei wird das Konzept BIENE weiter ausgebaut und intern strukturiert, indem zwischen Bienenvolk und Einzelorganismus unterschieden wird sowie zwischen unterschiedlichen Bienentypen innerhalb eines Bienenvolkes (Königin, Arbeiterin, Drohne). Das Konzept bzw. der Frame BIENE wird dabei deutlich ausdifferenziert. Wenn allgemein von Bienen gesprochen wird, ist also eigentlich zu unterscheiden zwischen Bienenarten, Bienenvölkern und verschiedenen Typen von Einzelorganismen. Ähnliche Dissoziationen finden sich an mehreren Stellen in der AGRAR-TRS. Sie werden dabei auch in Form von gestalterisch abgegrenzten Infokästen und Infoseiten realisiert Dabei wird immer wieder auf die Vielfalt der Bienenarten hingewiesen, unter denen Honigbienen nur eine von mehreren sind, zudem werden einzelne Individuen hinsichtlich ihrer Rolle im Bienenvolk unterschieden. Im Sinne der generellen Argumentativität kann auch diesen vordergründig rein informativen Textsegmenten ein argumentatives Potential zugewiesen werden: Indem dort z. B. einer ganzen Reihe anderer Bestäuber Präsenz verschafft wird, wird der assoziative Link bzw. das Gleichsetzungspotential von Bestäuber und Biene gebrochen. Durch die Dissoziation der Konzepte wird es für eine Rezipientin zunehmend schwerer, Zusammenhänge bzw. konzeptuelle Links – und damit letztlich argumentative Schlüsse – herzustellen, wenn in Texten der Debatte von Bestäubern, Bienen, Insekten usw. gesprochen wird. Dass diese durchaus auffällige Vermittlung von ‚Bienen-Wissen‘ argumentative Relevanz besitzt, wird deutlicher, wenn man Textstellen betrachtet, in denen das Verhältnis von Biene als Einzelorganismus zum Bienenvolk als Kollektiv thematisiert wird: (47) Die einzelne Biene ist für das Volk nur eine Zelle. Das Bienenvolk, imkerlich gesprochen „der Bien“, besteht aus bis zu 60 000 Arbeiterinnen. Der Lebenszyklus einer Arbeiterin gliedert sich grob in Stockbiene (21 Tage) und Sammelbiene (14 Tage). Die Königin legt täglich bis zu 2 000 Eier. Das bedeutet: Der Bien regeneriert sich somit ungefähr alle 30 Tage. Er ist durch diesen hohen Umschlagfaktor deshalb in der Lage, ungünstige Einflüsse rasch und komplett zu kompensieren. (IVA 2016) (48) Aufgrund ihrer kurzen Lebensdauer und ihres schnellen Ersetzt-Werdens ist der Wert der Arbeiterinnen als Kontinuum zu sehen, die Arbeiterinnen sind als Teil des Ganzen zu betrachten und nicht als Individuum im eigentlichen Sinne. Die Evolution hat die Kolonie zum Kollektiv erhoben und in dieser Einheit – dem Superorganismus – demonstrieren die
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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Honigbienen, dass das Volk tatsächlich mehr ist als die Summe seiner einzelnen Bestandteile. (Bayer 2018)
Im Hinblick auf die Argumentation wird hier zunehmend deutlich, worum es bei dieser Form der Dissoziation geht: Aufgrund der Ausdifferenzierung des Frames BIENE kann nicht ohne Weiteres von Schäden an Bienen als Einzelorganismen auf Bienen als Kollektiv geschweige denn als Art geschlossen werden. Liest eine Rezipientin, die über ein solchermaßen dissoziiertes konzeptuelles Verständnis von BIENEN verfügt, etwa, dass Pestizide in Studien Bienen (verstanden als Individuen) Schaden zufügen, folgt daraus für sie nicht gleichzeitig die Interpretation, dass Pestizide auch Bienen (verstanden als Art) Schaden zufügen. Bienensterben? Ein weiteres wichtiges Vorkommen dissoziativer Verfahren bei AGRAR zeigt erneut eine enge Verbindung zum AUFKLÄREN-Muster: Es bezieht sich auf die Dissoziation des Konzepts bzw. Konzept-Komplexes BIENENSTERBEN, bei dem das in der öffentlichen Debatte fest verankerte Wissen um das Konzept BIENENSTERBEN nahezu aufgelöst wird. Das argumentative Ziel ist leicht einsichtig: Wenn es kein Bienensterben gibt, gibt es nicht den von ÖKO behaupteten Anlass für ein Neonicotinoid-Verbot. AGRAR bedient sich dabei bspw. der Sprachhandlung FRAGEN AUFWERFEN, wie in (49) und (50). Dabei wird das auch als Bestäubungskrise bezeichnete Konzept zum einen in seiner Existenz in Frage gestellt (gibt es X?). Darüber hinaus wird in (49) auch hinterfragt, was sich hinter dem Begriff verbirgt. (49) Gibt es eine Bestäubungskrise? Stehen Honigbienen kurz vor dem Aussterben? Nimmt die Zahl an Bestäubern so stark ab, dass sich daraus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit ergibt? (IVA 2014a) (50) Wie geht es den Bienen weltweit und gibt es ein Bienensterben? (IVA 2016)
Die Verwendung des Begriffs Bienensterben in der öffentlichen Debatte wird von AGRAR kritisiert, was auch mehrfach erfolgende Setzung in Anführungszeichen zeigt, s. o. Explizit wird diese Kritik in IVA 2016: (51) Bienensterben – ein geeigneter Begriff? In der aktuellen Diskussion hat sich das Bild verfestigt, wonach sich durch ein Verbot des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und besonders der Neonikotinoide negative Effekte auf die Bienenvölker deutlich vermindern ließen. Um die Argumente richtig einordnen zu können, muss man sich mit der Entwicklungsdynamik eines Bienenvolkes im Jahresverlauf und dem Begriff „Bienensterben“ befassen. Der allgemeine Begriff Bienensterben ist nach
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unserer Auffassung irreführend. Vielmehr müssen wir zwischen Sommer- und Winterverlusten unterscheiden. (IVA 2016)
Die Unangemessenheit des Begriffes bzw. des Lexems wird in (51) damit begründet, dass es sich hier nicht um ein Phänomen handle, sondern um mehrere, zwischen denen unterschieden werden müsse – das Konzept wird dissoziiert. Entsprechend finden sich in der AGRAR-TRS immer wieder Hinweise darauf, dass es das Bienensterben als ein bestimmbares Einzelereignis bzw. -phänomen nicht gebe, sondern dass es sich um verschiedene distinkte Phänomene und Ereignisse handle, die sich mehr oder weniger gut mit diesem Begriff bezeichnen ließen. Ein klarer Indikator dafür, dass Bienensterben bei AGRAR eher als generisches Konzept und weniger als Eigenname für ein bestimmbares Ereignis verwendet wird, ist die wiederkehrende Verwendung des unbestimmten Artikels, wie in den Beispielen (52)-(56). Dabei werden die von der jeweiligen NP bezeichneten Phänomene in der TW als zeitlich und/oder örtlich begrenzte Ereignisse konzeptualisiert: (52) In der Vergangenheit kam es zu einigen wenigen Zwischenfällen, die Bienen betrafen. Die Ursache für die meisten dieser Zwischenfälle war die Verwendung unsachgemäß behandelten Saatgutes, das bei der Aussaat insektizidhaltigen Staub an die Umwelt abgab. Die Folge war ein akutes Bienensterben. (IVA 2014a) (53) Örtlich begrenztes Bienensterben durch fehlerhaften Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kam mehrfach vor. (IVA 2014a) (54) Im Frühjahr 2008 kam es infolge eines Unfalls bei der Maisaussaat zu einem Bienensterben. (IVA 2014b) (55) Die erste historische Überlieferung eines großen Bienensterbens stammt aus dem Jahre 950 nach Christus in Irland. Das gesamte Mittelalter hindurch wurde immer wieder von massiven Bienenverlusten berichtet, bis Ende des 17. Jahrhunderts schließlich Wissenschaftler in Europa damit begannen, den Ursachen für das wiederholte Massensterben von Bienen auf den Grund zu gehen. (Bayer 2015a) (56) Im Jahr 2008 führte die unbeabsichtigte Staubfreisetzung zu einem massenhaften Bienensterben in Deutschland und Slowenien, über das viel in den Medien berichtet wurde. (Bayer 2015a)
Neben der Tatsache, dass der Begriff Bienensterben somit nicht ein distinktes Phänomen bezeichnet, sondern als generischer Begriff für verschiedene TW-Ereignisse genutzt werden kann, hebt AGRAR auch hervor, dass diese unter dem Begriff Bienensterben kategorisierbaren Ereignisse sich von anderen im diskursiven KonzeptKomplex BIENENSTERBEN enthaltenen Ereignissen unterscheiden, die daher auch mit anderen generischen Begriffen zu bezeichnen sind, wie im folgenden Beispiel (57):
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
279
(57) Darüber hinaus offenbaren diese Studien, dass das Bienensterben in den weitaus meisten Fällen innerhalb eines klar bestimmbaren und geografisch eingrenzbaren Raumes sowie innerhalb einer eng begrenzten Zeitspanne stattfand. Sie bestätigen auch, dass die untersuchten Erscheinungen nicht die beschriebenen Symptome des Colony Collapse Disorder (CCD) aufwiesen. Dieses in Nordamerika beobachtete Phänomen eines massiven Bienensterbens unterscheidet sich deutlich vom oben beschriebenen akuten Bienensterben. CCD betrifft ganze Regionen in Nordamerika und steht nicht im Zusammenhang mit dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. (IVA 2014a)
Diese Form der Dissoziierung zeigt sich auch in (58). Hier wird das Ganze sogar noch durch die typografische Gestalt unterstützt: Die einzelnen Stichpunkte sind klar voneinander abgrenzbare Sinnzusammenhänge. Somit bezeichnen die NPs überdurchschnittlich hoher Verlust von Bienenvölkern nach der Winterperiode, örtlich begrenztes Bienensterben, CCD bzw. Völkerkollaps offensichtlich voneinander unterscheidbare Phänomene. (58) –
– – – – –
Überdurchschnittlich hoher Verlust von Bienenvölkern nach der Winterperiode. Dieses Problem besteht sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene (siehe Abbildung 7). Als überdurchschnittlich werden Verluste oberhalb der 5–10 % bezeichnet, die im Winter als normal gelten. Örtlich begrenztes Bienensterben, bei dem in einem eindeutig abgrenzbaren Bereich die Sterberate von Arbeiterinnen deutlich über dem Durchschnitt liegt. Das Bienenvolk ist geschwächt, so dass es anfälliger für Belastungen wie Krankheiten und Parasiten wird. Eine deutliche Minderung der Honigerträge. Ein Zustand, der als „Colony Collapse Disorder“ (CCD), also als „Völkerkollaps“ bezeichnet wird. Überdurchschnittliche Verluste von Bienenvölkern in der Winterzeit sind keine neue Erscheinung, denn sie wurden bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder dokumentiert.[25] Und hinsichtlich des örtlich begrenzten Bienensterbens lässt sich feststellen, dass die Ursachen hierfür häufig schnell gefunden sind. Sind die Ursachen einmal erkannt, kann der Imker die Probleme in Zukunft vermeiden. (IVA 2014a)
Neben einer Dissoziation des Konzeptes selbst findet auch eine Dissoziation von Frame-Elementen dieses Konzeptes statt, insbesondere des FEs URSACHE. Hier wird immer wieder hervorgehoben, dass die verschlechterte Bienengesundheit auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen sei. Nachdem der Aspekt der Multikausalität etabliert wurde, wird dann die Varroa-Milbe in einer UrsachenHierarchie eingeordnet. Dies geschieht bspw. immer wieder durch die Verwendung von Superlativen und Komposita: (59) In der Forschung herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die meisten der aktuellen Probleme in der Bienenzucht in direktem oder indirektem Zusammenhang mit diesem Parasi-
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ten stehen. Die Varroamilbe verursacht in der Bienenzucht die größten wirtschaftlichen Schäden. (IVA 2014a) (60) Außerdem stellte sie fest, dass die meisten Kolonieverluste auf Faktoren wie die Nahrungsversorgung, die Zunahme von Monokulturen, Fehler in der Bienenhaltung, Pflanzenschutzmittel, interne/externe Kontamination sowie Klimawandel (u. a. Dürre) zurückzuführen seien. Aber der Feind Nummer eins, betonte sie, sei die Milbe Varroa destructor. (Bayer 2014) (61) Varroa-Milbe: Hauptfeind der Honigbiene erschwert Versuchsauswertung [...] Neben den Erfolgen der Feldstudie mussten die Forscher aber auch Rückschläge hinnehmen. Ein Parasit erschwerte die Arbeit der Forscher: die Varroa-Milbe. Sie gilt schon seit Jahren als größte Bedrohung der Westlichen Honigbiene und vermehrte sich auch in den Völkern auf den Versuchsfeldern. (Bayer 2015b) (62) Die Gesundheit von Bienen wird durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst. Die vorliegenden Daten legen den Schluss nahe, dass die bedeutendsten negativen Einflüsse in Europa und Nordamerika die parasitische Varroa-Milbe und Viruserkrankungen sind. (Bayer 2016) (63) Fazit: Der Bien als Gesamtorganismus zeigt sich als robust gegenüber Umwelteinflüssen. Die größte Gefahr, die ihm derzeit droht, ist die Varroa-Milbe. (IVA 2016)
Innerhalb der TW wird somit im Hinblick auf das FE URSACHEN der komplexen Frame-Struktur von BIENENSTERBEN bzw. einer konzeptualisierten aktuellen Situation der Bienen, die durch den Frame GEFÄHRDET SEIN perspektiviert ist, eine hierarchische Struktur erzeugt, innerhalb derer die Varroa-Milbe den ersten Platz einnimmt. Diese Hierarchisierung kann auch textstrukturell erzeugt werden, indem die Varroa bei einer Darlegung der Probleme als erstes genannt wird (so etwa in Bayer 2015a) oder durch bildliche Darstellungen wie bspw. Graphen, die die Ursachen für Bienenverluste visualisieren (siehe Abbildung 8.17, links). Da die Varroa-Milbe innerhalb der Struktur der Einflussfaktoren die wichtigste Position einnimmt, kann hier eine Art Struktur-Topos greifen: Wenn gehandelt werden muss, dann muss zuerst das Wichtigste getan werden. Die Dissoziation der Ursachen begünstigt damit – auch gemäß des Fundierte-Entscheidungen-Topos – die argumentative Rolle technischer Alternativen zu einem Neonicotinoid-Verbot. Etwas brisant ist es, dass AGRAR an dieser Stelle inkonsistent in Bezug auf Dissoziation und Assoziation ist. Im Prinzip wird das Bienensterben an die Stelle der Bestäubungskrise gesetzt, um so den Fokus auf die Honigbiene zu legen, die ja aber eben nicht dasselbe ist wie Bestäuber. Zu sagen: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Bestäubern reden? Okay, bspw. von Honigbienen. Die gehen aber – zumindest als Population – nicht zurück, also gibt es kein Bienensterben und deshalb gibt’s auch keine Bestäubungskrise erscheint inkohärent und fragwürdig.
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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Ent-Emotionalisierung, Expertise und argumentative Verkomplizierung Das Dissoziieren zentraler Konzepte bzw. konzeptueller Strukturen in der AGRARKommunikation kann in vielen Fällen als Gegengewicht zur stark emotiven Perspektivierung von TW-Strukturen in der ÖKO-TRS betrachtet werden. So liefert etwa das Dissoziieren von BIENENSTERBEN ein Gegengewicht zur stark emotiven Konzeptualisierung des Bienensterbens bei ÖKO. Dabei ist es nicht nur relevant, dass die Existenz des Ereignisses per se bestritten wird. Wie die entsprechenden Textbelege nahelegen, bleibt neben dem Lexem Bienensterben offenbar auch eine konzeptuelle Bedeutung erhalten, die durchaus auf TW-Strukturen referiert. Jedoch werden durch die Konzeptualisierung bei AGRAR sowohl die Einzigartigkeit als auch v. a. das räumliche und zeitliche Ausmaß eines solchen Ereignisses bzw. solcher Ereignisse bestritten. Eine mit der Dissoziierung einhergehende Ent-Emotionalisierung lässt sich auch für die Konzeptualisierung von RISIKO bzw. GEFAHR feststellen: (64) Risiko ist definiert als Gefahrenpotential (oder Toxizität) x Exposition (Bayer 2018)
Die Dissoziation wird in (64) durch die Verwendung von wissenschaftlichen Fachbegriffen (Toxizität, Exposition) sowie der wissenschaftlichen Textprozedur des Benennens (vgl. Steinhoff 2007) als wissenschaftliche Tätigkeit ‚vorgeführt‘. Die Dissoziation des Konzeptes RISIKO bzw. GEFAHR resultiert somit in der Fixierung eines fachlichen Konzeptes RISIKO und einer fachlichen Struktur (symbolisiert durch die Fachbegriffe und die durch das x symbolisierte formelhafte Syntax). Damit wird das fachliche Konzept RISIKO klar vom alltagsweltlichen Konzept GEFAHR unterschieden. Als Konsequenz daraus sind auch TW-Strukturen, die durch den fachlichen RISIKO-Frame strukturiert sind, einer Laiin nicht unmittelbar zugänglich. Gerade in (64) zeigt sich die Verbindung von Dissoziation und wissenschaftlichem bzw. fachlichem Wissen, die durch das ‚genaue Hinsehen‘ im Rahmen des AUFKLÄREN-Musters erzeugt wird. Auch hierin kann grundsätzlich eine Art der Ent-Emotionalisierung gesehen werden – gilt doch gerade wissenschaftliches Fachwissen gemeinhin als Ausdruck nüchterner Rationalität. Auch in Bezug auf wissenschaftliches Wissen und das Konzept WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS selbst lassen sich Dissoziationen erkennen. So bringt etwa die unter 8.1.4 angesprochene Differenzierung zwischen realistischen Feldversuchen und Laborexperimenten unter unrealistischen Bedingungen eine Dissoziation des Frames WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISPRAKTIK mit sich. Eine Dissoziation erfährt in diesem Zusammenhang auch das Konzept WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS. Dabei werden von AGRAR an mehreren Stellen ERKENNTNISBEDINGUNGEN GENANNT, die das Ableiten von Schlussfolgerungen aus Studienergebnissen systematisieren und an fachliche Konzepte rückbinden:
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8 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von AGRAR
(65) Es steht außer Frage, dass nitro-substituierte Neonikotinoide für Bienen intrinsisch toxisch sind. Um das potenzielle Risiko abzuschätzen, das sie für Bienen darstellen können, muss man jedoch die Dosis und die Konzentrationen kennen, denen die Bienen unter Praxisbedingungen ausgesetzt sein können. Denn bekanntlich hat die Dosis, der ein Organismus ausgesetzt ist, entscheidenden Einfluss darauf, ob sich eine Substanz schädlich auswirken kann. (Bayer 2016) (66) Toxizität der Neonikotinoide – Gefahr für die Bienen? Neonikotinoide sind Insektizide und Bienen sind Insekten. Kommen Bienen mit kritischen Konzentrationen von Neonikotinoiden in Berührung, nehmen sie Schaden. Für die Sicherheit eines Produkts ist aber nicht nur die toxikologische Eigenschaft seiner Aktivsubstanzen relevant, sondern vielmehr die Frage, ob eine Biene aufgrund der Anwendung in der Praxis mit kritischen Konzentrationen in Berührung kommt. (IVA 2016)
Somit werden durch die Dissoziation die TW-Strukturen komplexer und ausdifferenzierter, was Konsequenzen für den Argument-Bau nach sich zieht. Insbesondere werden stützende Übergänge und Inferenzen von Propositionen (durch ‚konzeptuelle Links‘) dadurch teilweise fragwürdig: Ist der experimentelle Nachweis eines Expositionsrisikos für Honigbienen (eventuell gar unter Laborbedingungen) ein Beweis für die Gefährdung von Bestäubern? Dies lässt sich aus den Strukturen einer solchermaßen dissoziierten Textwelt für die Rezipientin nicht ohne Weiteres mehr herleiten. Insbesondere aber lassen sich unter den Bedingungen dissoziierter TW-Strukturen nur noch schwierig generalisierende Aussagen treffen, die Basiskonzepte wie BIENEN oder PESTIZIDE betreffen. Begreift man (oder kennt man) das Dissoziieren – v. a. im Rahmen des INFORMIERENs – als wissenschaftstypisches Verfahren, bietet es AGRAR zudem auch die Möglichkeit der Inszenierung fachlicher Expertise. In der Verbindung von Ent-Emotionalisierung, Inszenierung von Expertise und der Fokussierung auf die konzeptuellen Strukturen des epistemischen Arguments fügt sich das Dissoziieren nahtlos in die durch das AUFKLÄREN-Muster gekennzeichnete TRS von AGRAR ein. AGRAR koppelt dabei die Geltung des in der Debatte konstituierten epistemischen Wissens an das Kriterium der Systematizität, der Schlüssigkeit, der Definition und der Differenzierung.
8.2.4 Fazit: Der ‚versteckte‘ Argumentbau in der AGRAR-TRS Balance-Topos, Fundierte-Entscheidungen-Topos und Genau-Hinsehen-Topos greifen in der AGRAR-TRS funktional ineinander und führen dabei zu dem, was ich als den ‚versteckten‘ Argumentbau bezeichne. Damit möchte ich ausdrücken, dass gewissermaßen hintergründig ein auf die normative Quaestio bezogenes Argument gebaut wird, das sich nicht nur durch seine propositionale Struktur (also
8.2 Das ‚versteckte‘ Argument
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die verknüpften Wissenselemente) auszeichnet, sondern durch seine Konstruktionsweise auch eine Art Verschiebung oder Shift in der Debatte ausdrückt: Charakteristisch ist, dass durch die Verankerung von Balance-Topos und FundierteEntscheidungen-Topos in den TW-Strukturen sowie durch das Vorführen des Genau-Hinsehen-Topos in Form von Dissoziationen der argumentative Fokus scheinbar weg von der normativen Quaestio und hin zur epistemischen Quaestio gelenkt wird91. Abbildung 8.23 soll diesen Gedanken grafisch illustrieren: Durch den Balance-Topos wird die Beantwortung der normativen Quaestio verkompliziert, der Fundierte-Entscheidungen-Topos verlagert den argumentativen Fokus auf die epistemische Quaestio, deren Beantwortung wiederum durch den GenauHinsehen-Topos verkompliziert wird.
Abbildung 8.23: Der versteckte Argumentbau in der AGRAR-TRS.
Als versteckt bezeichne ich den Argumentbau auch deshalb, da AGRAR sich im Zuge dessen lediglich an einer Stelle in der gesamten TRS explizit deontisch bzw. normativ zu einem Verbot positioniert (siehe Abschnitt 8.2.2). Die Annahme der argumentativen Quaestio lässt jedoch, wie in den einzelnen Teilkapiteln von 8.2. aufgezeigt, vielen Textsegmenten ein normatives argumentatives Potential zusprechen. Diese entsprechenden Textsegmente sind dabei jedoch innerhalb der Texte nicht explizit argumentativ miteinander verbunden und finden sich über die Einzeltexte und die gesamte TRS verstreut. Insbesondere lässt sich analytisch ein argumentativ-funktionaler Zusammenhang von Balance-Topos und Fundierte-Entscheidungen-Topos ausmachen, der jedoch von AGRAR so an keiner Stelle hervorgehoben wird: Da MAßNAHMEN wie ein Neonicotinoid-Verbot in Bezug auf ihre KONSEQUENZEN nur sehr schwer zu beurteilen sind, ist es umso wichtiger sicherzustellen, dass der notwendige ANLASS gegeben ist. Damit wird vor allem dem Vorsorge-Prinzip entgegengewirkt: Wären die möglichen Konsequenzen eines Verbotes einfacher zu beurteilen, dann wäre der epistemische Status des Wissens über die Folgen des Neonicotinoid-Einsatzes u. U. weniger relevant. Anders ausgedrückt: Würde ein Verbot dem Bienenschutz gerecht werden, ohne die Ertragssicherheit und somit die Ernährungssicherheit zu gefährden, würde Vgl. Deppermann (2000: 150-154) zu Quaestio-Verschiebungen in Diskussionen.
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bereits ein Anfangsverdacht bezüglich der Schädlichkeit für eine Pro-VerbotsArgumentation oder -Haltung ausreichen. So jedoch muss, folgt man der AGRARTRS, der epistemische Status des Wissens erst noch in besonderer Weise geklärt werden. Dementsprechend fokussiert und expliziert AGRAR in seiner TRS deutlich stärker die Argumentation der epistemischen Quaestiones. Hier wird irrtümlichen Annahmen und unrealistischen Studien widersprochen (siehe Kapitel 8.1.3 und 8.1.4), in Forschungsräume eingeführt (siehe Kapitel 8), über eine wissenschaftliche Debatte informiert (siehe Kapitel 8.1.2). Hier werden aber auch Konzepte wie BIENEN, BIENENSTERBEN oder STUDIEN dissoziiert (siehe Kapitel 8.2.3) – Zusammenhänge, die in der öffentlichen Debatte noch klar erschienen, sind es nun teilweise nicht mehr. Dies wird auch durch den Charakter des AUFKLÄREN-Musters deutlich: Die (initial konzeptualisierte) Debatte um ein Verbot (also die normative Quaestio) ist der textuelle Ausgangspunkt für Orator und Leserin, sich nun ausführlicher und vor allem genauer den wissenschaftlichen Erkenntnissen zuzuwenden. Die eigentliche Aussage des ‚versteckten‘ Arguments gegenüber der Leserin scheint somit: Statt uns mit Fragen über politisches Handeln aufzuhalten, sollten wir uns vorher lieber noch ausführlich dem wissenschaftlichen Wissen zuwenden.
8.3 Technische Lösungen Neben dem AUFKLÄREN-Muster und dem versteckten Argumentbau kann die Konzeptualisierung und Hervorhebung technischer Lösungen als drittes zentrales Element der AGRAR-TRS betrachtet werden. Darunter verstehe ich die Konzeptualisierung von MAßNAHMEN zum Bienenschutz, die statt auf gesetzliche Intervention etwa in Form von Verboten auf technologische Innovationen und bestimmte Vorgehensweisen setzen. Ich werde im folgenden Teilkapitel aufzeigen, wie sich die Konzeptualisierung technischer Lösungen auf die Konstruktion des normativen Arguments ebenso auswirkt, wie auf das emotive Potential der TRS und zudem erneut Möglichkeiten der Selbst-Inszenierung für AGRAR bietet.
8.3.1 Alternativen? Die Präsenz des Themenkomplexes ‚technische Lösungen‘ bei AGRAR erfüllt recht klar erkennbare argumentative Zwecke, die ich im Folgenden darlegen möchte. Im Wesentlichen geht es AGRAR dabei darum aufzuzeigen, weshalb ein NeonicotinoidVerbot die schlechtere unter mehreren alternativen Maßnahmen ist, die zum Bienenschutz ergriffen werden können. Dabei wird von AGRAR davon ausgegangen,
8.3 Technische Lösungen
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dass der Pestizideinsatz zum Pflanzenschutz grundsätzlich alternativlos sei, da sich sonst negative Konsequenzen für die Ertrags- und Ernährungssicherheit ergäben (vgl. 8.2.1). Technische Lösungen als bessere Alternativen Eine wichtige argumentative Funktion der Konzeptualisierung technischer Lösungen besteht darin, diese als bessere Alternativen für Bienenschutzmaßnahmen einem Neonicotinoid-Verbot gegenüber zu stellen. (67) Diese Zahlen erinnern daran, dass die Menschen, unabhängig von der Terminologie und der hitzigen Debatte rund um das Thema Bestäuberkrise, ihre Anstrengungen hinsichtlich eines verantwortungsvollen Umgangs mit den vielen Spezies, die auf unserer Erde leben, verstärken müssen. Es liegt in der Hand aller Beteiligten – Industrie und Landwirte eingeschlossen – die Bedingungen für Arten, die in Kulturlandschaften leben, durch gezielte und wirksame Maßnahmen wie die Nutzung multifunktionaler Landschaften zu verbessern. (IVA 2014a)
Wie (67) zeigt, leugnet AGRAR keinesfalls die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen für Arten, die in Kulturlandschaften leben. Allerdings stellt sich aus Sicht von AGRAR durchaus die Frage, welche Art von Maßnahmen zum Schutz von Bienen (im Hinblick auf die Pestizidbelastung) am besten zu ergreifen sei. In (67) zeigt sich etwa durch die Verwendung der spezifizierenden ADJAs gezielte und wirksame, dass an Schutzmaßnahmen klar Bedingungen hinsichtlich ihrer Qualität gestellt werden. Dementsprechend werden im Rahmen der AGRAR-TRS einige Schutzmaßnahmen mit einer positiven Qualität dargestellt, während die qualitative Bewertung eines Neonicotinoid-Verbotes als Schutzmaßnahme negativ ausfallen muss. Die meisten alternativen Maßnahmen zum Bienenschutz, die von AGRAR vorgestellt werden, lassen sich dabei als technische Lösungen begreifen. Eine von ihnen ist die Gestaltung der Agrarfläche durch das Hinzufügen von Blühstreifen. Diese Maßnahme wird vor allem als einfache und effektive Schutzmaßnahme dargestellt. (68) Wer mit einfachen Mitteln die Biodiversität fördert, trägt dazu bei, die,,ökologischen Dienstleistungen“ der Bestäuber zu erhalten: – Unbehandelte Randstreifen neben Ackerflächen mit blühenden krautigen Pflanzen liefern Pollen und Nektar. – Blühstreifen mit ein- oder mehrjährigen Blühpflanzen sind wichtige Futterquellen, vor allem in den Sommermonaten. – Sogenannte,,Eh da”-Flächen sind Klein- und Kleinstflächen, die landwirtschaftlich nicht genutzt werden, zum Beispiel kleine Inseln oder Säume, Wegböschungen und Straßenränder. Sie bieten Raum für blühende Büsche und Bäume und sind Lebens- und Rückzugsraum für Insekten und viele andere Tiere. (IVA 2014b)
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Segment (68) zeigt die Konzeptualisierung ackerbau-technischer Lösungen als einfache Mittel. Als Akteure solcher Maßnahmen werden hier deutlich Individuen konzeptualisiert (wer ... fördert), die offensichtlich der Gruppe der Landwirte angehören. Somit wird im Textsegment die Förderung der Biodiversität in eine individuelle Verantwortlichkeit übergeben. Ebenfalls auf der Ebene individueller Verantwortung sind die von Imkern zu ergreifenden Maßnahmen, die von AGRAR immer wieder als besonders wichtig hervorgehoben werden. Eine wirklich technologische Lösung stellt der Einsatz bestimmter Maschinen dar, wie etwa Deflektoren zum Ablenken von Stäuben während der Aussaat oder spezielle Spritzdüsen beim Ausbringen von Pestiziden. Die qualitative Bewertung solcher Maßnahmen wird durch ihre Wirksamkeit bemessen, die teilweise sogar prozentual quantifizierbar ist, sowie die Tatsache, dass diese gezielt eingesetzt werden können. (69) Noch im Jahr 2008 wurden für pneumatische Sämaschinen Deflektoren entwickelt. Sie lenken die Abluft aus der Sämaschine zum Boden und reduzieren die Staubabdrift auf weniger als zehn Prozent. (IVA 2014b) (70) Technische Innovationen spielen für den Bestäuberschutz eine wichtige Rolle. Moderne Applikationstechnologien für Pflanzenschutzmittel sind ein Beispiel aus der Welt der Agrikultur. Applikationstechnologien ermöglichen die Reduzierung von Abdrift, so dass Schaden durch Rückstände in Nichtzielbereichen verhindert werden. Erreicht wird dies durch die Verwendung entsprechender Düsen, deren Spritztröpfchen groß genug sind, um die Abdrift um bis zu 90 % zu verringern. (IVA 2014a)
Ein Neonicotinoid-Verbot wird hingegen als schlechte Maßnahme dargestellt. Zunächst führt es laut AGRAR zu negativen Konsequenzen für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit. Dies unterscheidet das Verbot deutlich von alternativen technischen Lösungen. (71) In Nordamerika wären potentielle Einschränkungen des Neonikotinoid-Einsatzes „verheerend für die nordamerikanische Landwirtschaft und die Kommunen, die davon leben“, sagt der angesehene Arzt und Molekularbiologe Dr. Henry I. Miller, Fellow der Hoover Institution an der Stanford Universität sowie Gründungsdirektor des US Food and Drug Administration‘s Office of Biotechnology. Im Juli 2014 führte Dr. Miller in einem Artikel17 für das Wall Street Journal aus, dass „[...] Neonics in Florida die letzte Verteidigungslinie der ZitrusIndustrie gegen die asiatischen Zitrus-Psylliden darstellen [...] (und) die erste Verteidigungslinie der Branche in Texas und Kalifornien [...]. Ohne den Schutz durch Neonikotinoide wären die Tomaten in Florida und die Gemüsekulturen in Arizona, Kalifornien und dem pazifischen Nordwesten in Gefahr. Wenn die Weiße Fliege nicht durch Neonics in Schach gehalten würde, ginge ein Großteil der US-Wintergemüseproduktion verloren.“ [...] In allen Fällen, so Dr. Miller, würde die Einschränkung des Neonikotinoid-Einsatzes die Wirtschaftlichkeit der Betriebe in den betroffenen Regionen ernsthaft gefährden. (Bayer 2014)
8.3 Technische Lösungen
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In (71) wird eine FW in epistemischer Welt-Welt-Relation aufgebaut, die eine mögliche Welt repräsentiert, in der ein Neonicotinoid-Verbot zu erheblichen negativen Konsequenzen für die landwirtschaftliche Ertragssicherheit führt (vgl. dazu auch 8.2.1). Interessant ist, dass die lokal-deiktischen Parameter dieser FW einen klaren geographischen Raum spezifizieren (in Nordamerika), der Text aber eigentlich die Verbots-Entscheidung in Europa thematisiert. Des Weiteren führt AGRAR an, dass ein Neonicotinoid-Verbot nicht zu einer Verbesserung des Bienenschutzes führe, es sich dabei also – im Gegensatz zu technischen Lösungen – nicht um eine wirksame Lösung handle: (72) Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die innerhalb der EU verhängten Anwendungsbeschränkungen für Neonikotinoide die Honigbienengesundheit verbessern. Die Völkerverluste im ersten Jahr nach der Verhängung der Beschränkungen lassen keinerlei Anzeichen für eine Verbesserung erkennen. (Bayer 2016)
Ein Verbot führe außerdem sogar zu einer grundsätzlichen Verkomplizierung der Entwicklung technischer Lösungen. Dies betrifft die Tatsache, dass drohende regulative Interventionen die Sicherheit von Investments der Unternehmen gefährden. (73) Bayer hat die Einschränkung der Neonikotinoid-Anwendung in der EU vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, um mit Blick auf künftige Investitionsentscheidungen zu erreichen, dass das Gericht sicherstellt, dass die Europäische Kommission einen klaren regulatorischen Rahmen vorgibt (Bayer 2016)
Es handele sich somit bei dem Neonicotinoid-Verbot nicht um eine gute Maßnahme für den Bienenschutz. Legt man die Schlussregel zugrunde, dass aus mehreren Handlungsoptionen die besten zu wählen und die schlechtesten zu unterlassen seien, führt die Konzeptualisierung besserer Alternativen zu einer ablehnenden deontisch-normativen Positionierung von Orator (und auch Leserin) zu einem Neonicotinoid-Verbot. Technische Lösungen als relevantere Alternativen Neben den besseren Alternativen für den Pestizideinsatz wird von AGRAR, wie in Kapitel 8.2.3 bereits erwähnt, immer wieder hervorgehoben, dass die VarroaMilbe die eigentliche Bedrohung für Bienen darstelle. Entsprechend seien technische Maßnahmen zum Varroa-Schutz die wichtigeren Schutzmaßnahmen für Bienen als ein Neonicotinoid-Verbot. (74) Die parasitäre Varroamilbe stellt nach wie vor die größte Bedrohung für die Gesundheit der Bienenvölker dar, und man ist sich allgemein einig, dass mehr dafür getan werden sollte, die verheerenden Auswirkungen, die diese Milbe auf die Bienenstöcke in Europa hat, einzudämmen. Hierfür stehen den Imkern bereits einige Mittel zur Verfü-
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gung, zu denen die Behandlung mit synthetischen und natürlichen Milbenmitteln ebenso gehört wie neue Applikationstechnologien. Das Entfernen stark befallener Zellen ist eine verbreitete Vorgehensweise. Kontinuierliche Forschung und die Entwicklung chemischer Behandlungsmethoden lassen auf zukünftige Verbesserungen im Umgang mit der Varroamilbe hoffen. Die Grundlage für alle diese Maßnahmen ist eine genaue Erfassung der Varroa-Befallsrate durch die Imker. Die ideale Lösung jedoch wäre die Identifikation und die Züchtung einer varroaresistenten Honigbiene. (IVA 2014a)
In (74) zeigt sich deutlich die in 8.2.4 bereits angesprochene Priorisierung der Varroa-Bedrohung für den Bienenschutz (die größte Bedrohung). Die Notwendigkeit weitreichenderer Schutzmaßnahmen wird durch eine ‚deontische‘ FW konzeptualisiert, die ihren Ankerpunkt innerhalb der Matrixwelt in einer unspezifizierten Personengruppe (man) besitzt, die sich darüber allgemein einig ist. Betrachtet man (74) im Zusammenhang mit der – für die AGRAR-TRS üblichen – Konzeptualisierung einer Debatte um das Neonicotinoid-Verbot (siehe Kapitel 8.1.2), wird der deutliche Kontrast zwischen Einigkeit und Kontroverse deutlich, der sich auch auf die Bewertung der jeweiligen Schutzmaßnahmen niederschlägt: Der kontrovers diskutierten Frage um ein Verbot der möglicherweise schädlichen Pestizide wird die allgemein anerkannte Wichtigkeit der technischen Varroa-Bekämpfung gegenübergestellt, die in diesem Licht als deutlich relevanter erscheint. Die genannten entsprechenden Mittel sind technischer Natur (synthetische und natürliche Milbenmittel, neue Applikationstechnologien). Die Verantwortlichkeit für deren Einsatz bzw. Umsetzung liegt – wie schon bei den oben genannten ackerbaulichen Maßnahmen – im Wesentlichen auf individueller Ebene (Imker). Diese Verantwortungszuschreibung zeigt sich an mehreren Stellen innerhalb der AGRAR-TRS: (75) Imker sollten sich zunächst auf gute imkerliche Praxis konzentrieren, und dazu gehört auch die fachgerechte Varroa-Bekämpfung. (Bayer 2014) (76) Ausschlaggebend für eine gute Überwinterung ist und bleibt die gute imkerliche Praxis und eine erfolgreiche Varroa-Behandlung. Gelingt diese nicht, verliert der Imker seine Bienenvölker. (IVA 2016)
Dazu passt auch, dass die gesetzliche Intervention zum Verbot von Neonicotinoiden von AGRAR als Aktivismus dargestellt wird (siehe auch Kapitel 8.2.2), da hier nicht die wichtigen Ursachen für Bienenprobleme angegangen würden, sondern lediglich diejenigen, die am schnellsten und einfachsten durch einen bloßen Rechtsakt angehbar sind: (77) „Die jüngste Entscheidung über die Aussetzung bestimmter Anwendungsbereiche von Neonikotinoiden wurde nicht getroffen, weil diese eine wichtige Bedrohung für die Bienengesundheit darstellen, sondern weil sie der einzige Faktor waren, den die EU-Kommission schnell regulieren konnte.“
8.3 Technische Lösungen
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Dieses Zitat stammt nicht etwa von einem Mitarbeiter der betroffenen NeonikotinoidHersteller Bayer oder Syngenta, sondern von einem unabhängigen EU-Beamten: Es handelt sich um niemand anders als Dr. Michael Flüh, Abteilungsleiter für Chemische Stoffe, Kontaminanten und Pestizide der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz in der Europäischen Kommission. (Bayer 2014).
Langfristig, teuer und aufwendig entwickelte technische Lösungen, die sich zudem auf wichtigere Probleme wie die Varroa-Milbe beziehen, scheinen gerade vor diesem Hintergrund erneut eine bessere Alternative zur pauschalen regulativen Intervention. An dieser Stelle lässt sich auch ein Zusammenhang mit dem unter 8.2. besprochenen ‚versteckten‘ Argumentbau und insbesondere der unter 8.2.3 besprochenen Dissoziation des Bienensterbens und seiner Ursachen feststellen: Die Hervorhebung technischer Lösungen ergänzt das hintergründig konstruierte und von einer Rezipientin durch viel kognitive Eigenlistung erschließbare normative Argument insbesondere im Hinblick auf die Frage nach der rechten Balance insbesondere vor dem Hintergrund fundierter Entscheidungen, die auf genauem Hinsehen beruhen. Neonicotinoide als (aktuell) beste technische Lösung Ebenfalls ist es wichtig, dass Neonicotinoide selbst als die beste technische Lösung dargestellt werden. Alternative Pestizide, insbesondere ältere ‚Vorgänger‘, hätten deutlich schlechtere Umwelteigenschaften als Neonicotinoide, wie AGRAR immer wieder betont: (78) Die Entscheidung der Kommission hinsichtlich der drei Neonikotinoide hat auch die Frage aufgeworfen, welche Alternativen es für die ausgesetzten Insektizide gibt. Neonikotinoide wurden vor über 20 Jahren u. a. als Ersatz für Organophosphate eingeführt, die diverse negative Auswirkungen auf Umwelt, Flora und Fauna gezeigt hatten. (Bayer 2014) (79) Dadurch, dass das Pflanzenschutzmittel bereits in der Saatgutbehandlung eingesetzt wird und deshalb weitaus weniger Anwendungen als bei vielen anderen Insektiziden nötig sind, ist die Umweltverträglichkeit deutlich höher. Dies ist auch der Grund, warum Neonicotinoide an die Stelle vieler älterer Produkte mit weniger vorteilhaften Umwelteigenschaften treten. (Bayer 2015a) (80) Die Toxizität von Neonikotinoiden für Säugetiere und Menschen ist sehr gering. Dies ist einer der Gründe dafür, dass sie seit den 1990er-Jahren viele ältere Pflanzenschutzmittel mit einem weniger günstigen Sicherheitsprofil ersetzt haben. (Bayer 2016)
Der Grund für die Überlegenheit der Neonicotinoide gegenüber älteren Pflanzenschutzmitteln liege zum einen darin, dass Neonicotinoide ein ausgefeiltes chemisches Design repräsentieren.
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(81) Die Neonikotinoide können in zwei Gruppen unterteilt werden: cyano-substituierte Neonikotinoide (Thiacloprid, Acetamiprid) und nitro-substituierte Neonikotinoide (Imidacloprid, Thiamethoxam, Clothianidin, Dinotefuran, Nitenpyram). Während die nitro-substituierten Neonikotinoide eine relativ ausgeprägte intrinsische Bienentoxizität aufweisen, sind cyanosubstituierte Neonikotinoide für Bienen nur wenig toxisch (Iwasa et al. 2003). Thiacloprid wurde zum Beispiel in Deutschland und anderen europäischen Ländern über Jahre hinweg auf Millionen Hektar blühender Rapsfelder angewendet, ohne dass es zu Bienenschäden gekommen wäre, obwohl Raps eine wichtige Bienenweide ist. Die geringe Toxizität cyanosubstituierter Neonikotinoide für Bienen ist auf das natürliche Entgiftungssystem der Bienen zurückzuführen, das die Substanzen extrem schnell metabolisieren kann (Iwasa et al. 2003). (Bayer 2016)
In (81) wird diese technologische Elaboration zunächst durch eine Differenzierung der Neonicotinoide anhand einer Reihe von Fachbegriffen indiziert, die auf ein der technologischen Entwicklung zugrundeliegendes komplexes Fachwissen verweisen. Die (chemische) Entwicklung der Neonicotinoide wird somit gewissermaßen zum Beweis technologischen Könnens (vgl. im Gegensatz dazu die Konzeptualisierung bei ÖKO in Kapitel 9.3.1). Dieses Können beweist sich im letzten Satz von (81), indem das chemische ‚Produktdesign‘ der Neonicotinoide als eine optimale durch Forschung gewährleistete technologische Anpassung an die natürliche Anatomie der Bienen dargestellt wird. Hierin zeigt sich auch, dass bei AGRAR keine klare Grenze zwischen Technologie und Natur besteht (siehe dazu auch Kapitel 8.3.3). Die technologische Überlegenheit der Neonicotinoide liegt laut AGRAR im Design der Wirkweise in Verbindung mit der Einsatzform (bzw. -technik) als Saatgutbeize (82) und der (in Verbindung mit dem chemischen Design) resultierenden systemischen Wirkweise (83). Neonicotinoide seien somit Beispiele einer optimal entwickelten Agrartechnologie, die in einer positiven Relation zu Natur und Lebewesen steht (bienenfreundlich). (82) Bei der Anwendung von Neonikotinoiden als Saatgutbeize ist das Potenzial für die Exposition der Bienen naturgemäß sehr gering, da das Produkt auf das Saatgut aufgetragen und mit dem Saatgut in den Boden eingebracht wird, sodass Bienen kaum damit in Berührung kommen. Deshalb ist die Saatgutbehandlung im Grunde eine sehr bienenfreundliche Anwendungsmethode. Nach dem Keimen der Pflanze wird die Substanz zum Teil von der jungen Pflanze aufgenommen, die dadurch gegen Schäden durch Schadinsekten geschützt ist. Wenn die Pflanze heranwächst, wird die absorbierte Substanz zunehmend verdünnt und metabolisiert, und auch die zur Aufnahme über die Wurzeln im Boden verbliebene Substanz verringert sich in gleicher Weise. Deshalb sind in den Blüten von Pflanzen aus behandeltem Saatgut und vor allem im Nektar und Pollen nur noch Spuren der Substanz zu finden, da die Blüten erst in einem viel späteren Entwicklungsstadium ausgebildet werden. (Bayer 2016).
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(83) Eine wichtige Eigenschaft der Neonikotinoide ist ihre Systemizität. Die Aufnahme in die Pflanze bietet vor allem in den frühen Wachstumsstadien Schutz gegen Schädlinge. Nachdem eine Pflanze die Substanzen über die Wurzeln aufgenommen hat, werden sie über das Xylem von unten nach oben in der Pflanze verteilt (Sur & Stork 2003). Neonikotinoide sind deshalb ideal für die systemische Saatgut- und Bodenbehandlung. Eine horizontale Verteilung in der Pflanze, für die ein Weitertransport im Phloem erforderlich wäre, ist, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Maße möglich. Aus diesem Grund ist auch die Translokation von Neonikotinoiden in den Pflanzen nach einer Blattbehandlung sehr limitiert. (Bayer 2016)
In der Summe sind Neonicotinoide, zumindest laut AGRAR, also die beste der verfügbaren Alternativen im Pflanzenschutz. Dies wird von AGRAR argumentativ auch verdeutlicht, indem aufgezeigt wird, dass ein Verbot von Neonicotinoiden durch den damit einhergehenden Umstieg der Landwirte auf schlechtere Pestizide letztlich negative Konsequenzen für Bienen und Umwelt habe: (84) Werden die EU-Landwirte gezwungen sein, für die Saison 2015 auf weniger anwenderund umweltfreundliche Alternativ-Insektizide zurückzugreifen, da sie die Neonikotinoidhaltigen Produkte nicht mehr einsetzen dürfen? Eins ist klar: Insektizide bieten als Saatbeize eine Reihe zusätzlicher Vorzüge, auf die auch der bereits erwähnte APVMA-Bericht hinweist: Der Einsatz von insektiziden Beizen bedeutet „dass Landwirte im Verlauf des Jahres deutlich weniger Chemikalien benötigen, um Pflanzen im Feld mit Spritzanwendungen zu schützen [...], die das Potential einer stärkeren Verbreitung des Pflanzenschutzmittels in der Umwelt bergen.“ (Bayer 2014) (85) Der Einsatz von Neonicotinoiden in der Saatgutbehandlung hat wesentlich zur Verringerung der Anwendung anderer Breitbandinsektizide beigetragen. Die Beschränkungen für einige Neonicotinoide in Europa haben dazu geführt, dass Rapsbauern ihre Felder in vielen Teilen Europas wieder mit älteren Insektiziden behandeln. Diese sind oft weniger wirksam gegen Schädlinge und weniger einfach anzuwenden. Trotz drei oder vier zusätzlicher Spritzanwendungen je Anbausaison, wodurch sich auch der Wasser- und Energieverbrauch erhöht, traten regional erhebliche Ernteschäden13 in wichtigen Rapsanbaugebieten auf, z. B. in Großbritannien und Deutschland. Da Raps eine der wichtigsten Nahrungsquellen für Bienen im Frühjahr ist, könnten die EU-Beschränkungen – aufgrund verringerter Mengen der blühenden Anbaukulturen – tatsächlich unbeabsichtigte Folgen für die Honigbiene haben. (Bayer 2015a) (86) Da insektizide Saatgutbehandlungsmittel für bedeutende Kulturpflanzen nicht mehr zur Verfügung stehen, werden außerdem häufiger Blattanwendungen von Insektiziden eingesetzt, was letztlich zu einer erhöhten Pflanzenschutzmittelexposition von Bienen führen kann. Zudem ist zu befürchten, dass der Anbau einiger bedeutender Bienenweidepflanzen wie zum Beispiel Raps ohne Saatgutbehandlung in einigen Regionen Europas kaum noch profitabel sein wird. In diesem Fall werden die Landwirte zu anderen Kulturen wechseln, die für Bienen nicht attraktiv sind, sodass möglicherweise Bienenweiden verloren gehen. (Bayer 2016)
Durch die Gegenüberstellung verschiedener alternativer Maßnahmen zum Bienenschutz, den Fokus auf die Aspekte Qualität/Wirksamkeit und Relevanz/Notwendigkeit
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sowie die Hervorhebung der bienenschützenden Eigenschaften von Neonicotinoiden im Vergleich zu alternativen Pflanzenschutzmitteln geht aus der AGRAR-TRS klar hervor, dass eine gesetzliche Intervention in die landwirtschaftliche Praxis durch ein Verbot der Neonicotinoide keine zu befürwortende Maßnahme zum Bienenschutz darstellen kann. Im Präferieren technischer Lösungsansätze zeigt sich deutlich eine neoliberalistische Grundeinstellung, nach der Handlungsoptionen individueller und/ oder unternehmerischer Verantwortung denjenigen staatlich-politischer Verantwortung vorzuziehen sind.
8.3.2 Technik, Forschung, Fortschritt Das Hervorheben technischer Lösungen bei AGRAR ist eng verwoben mit der Konzeptualisierung von Forschung und wissenschaftlicher Erkenntnis sowie dem Fortschrittsgedanken. Das Präferieren technischer Lösungen für Probleme im Bienenschutz spielt dabei zusammen mit einer Konzeptualisierung von wissenschaftlicher Forschung als Verfahren der Optimierung menschlicher Handlungsmöglichkeiten, insbesondere durch die Bereitstellung eines technischen Könnens, das es ermöglicht, menschliche Praktiken bis in die Sphäre des Natürlichen hinein zu optimieren. Forschung als ‚technisches‘ Verfahren Wie Forschung und technische Lösungen bei AGRAR zusammenhängen, zeigt sich bspw. darin, dass die Entwicklung technischer Lösungen wie Agrartechnologien und Einsatztechniken an mehreren Stellen als ANLASS (im Sinne eines Slots bzw. Frame-Elements) WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS konzeptualisiert wird. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen wissenschaftliche Forschung als Bestandteil des Zulassungsverfahrens erscheint, wie dies vor allem in Bayer 2018 der Fall ist. (87) Deshalb und weil sie [die Honigbiene, NS] relativ leicht zu halten und zu züchten ist, zielt die regulatorische Forschung zur Bestäubersicherheit im Wesentlichen darauf ab, die Wechselwirkungen zwischen Pflanzenschutzmitteln und Honigbienen besser zu verstehen, um Maßnahmen und landwirtschaftliche Methoden ableiten zu können, die Pflanzenschutz und Bestäubung durch Bienen in Einklang bringen. (Bayer 2018)
In (87) wird deutlich expliziert, dass das Ziel der in den Zulassungsprozess integrierten regulatorischen Forschung darin besteht, Maßnahmen und Methoden für den Pflanzenschutz zu entwickeln. Erneut wird dabei auch der Balance-Topos ersichtlich (in Einklang bringen). Wenig erstaunlich ist es deshalb, dass die genannten Maßnahmen und Methoden nicht etwa gesetzliche Intervention o. Ä. betreffen. Wie Foto und Bildunterschrift in Abbildung 8.24 verdeutlichen, handelt es sich dabei
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stattdessen um die Entwicklung und technische Optimierung neuer Technologien, wie dem in der Abbildung demonstrativ vorgeführten Abluftfilter, der als eine Art ‚technologische Prothese‘ an bereits existierendes Landwirtschaftsgerät (hier den Traktor) angehängt werden kann. Hinzu kommt die Ausarbeitung von Anwendungsrichtlinien, die als Regulativ menschlichen Verhaltens die technologische Optimierung ergänzt (siehe dazu auch Abschnitt 8.3.3).
Abbildung 8.24: Abbildung und Bildunterschrift aus Bayer 2018.
Die textuelle Integration von wissenschaftlicher Forschung und der Entwicklung von technischen Lösungen im Rahmen des Zulassungsverfahrens stellt ein wiederkehrendes Element der AGRAR-TRS dar: (88) Folglich werden im Zuge des Zulassungsverfahrens komplexe Datensätze erzeugt. Das Zulassungsverfahren umfasst verschiedene Prüfungsstufen wie beispielsweise Laborstudien, Semi-Feldstudien (Käfigtest) und Feldstudien. Gegebenenfalls wird im Rahmen des Zulassungsverfahrens ein Risikomanagement entwickelt oder die Substanz wird für bestimmte Anwendungen oder Kulturpflanzen nicht zugelassen. (IVA 2014a) (89) Das Zulassungsverfahren fordert von allen Wirkstoffen sogenannte Bodenabbaureihen, um Informationen darüber zu erhalten, wie rasch sich ein Wirkstoff unter verschiedenen Bodenbedingungen abbaut. (IVA 2016) (90) Pflanzenschutzmittel müssen vor ihrer Zulassung umfangreichen ökotoxikologischen Tests unterzogen werden, darunter auch vielen detaillierten Tests in Bezug auf Bienen. (Bayer 2016) (91) Jeder Zulassung eines neuen Pflanzenschutzmittels gehen jahrelange Tests für Hunderte Millionen Euro voraus, in denen sichergestellt wird, dass das Mittel auch tatsächlich den höch-
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sten Sicherheitsstandards gerecht wird. Besonders intensiv haben sich die Anforderungen an die regulatorisch vorgeschriebene Forschungstätigkeit im Bereich der Bewertung möglicher Risiken für Bienen entwickelt. (Bayer 2018)
Die Textsegmente (88)-(91) zeigen, dass das Zulassungsverfahren im Rahmen der AGRAR-TRS immer wieder den Slot ANLASS bei der Konzeptualisierung des Frames WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS besetzt. Forschung ist somit fest in den technischen Rahmen der Produktentwicklung integriert. Auch eine gewissermaßen direktere Involvierung von Forschung in die Produktentwicklung ohne die Konzeptualisierung des Zulassungsverfahrens zeigt sich bei AGRAR, etwa prominent realisiert in Bayer 2015a. Hier wird beispielsweise die Entwicklung von sogenannten DroplegSpritzdüsen von AGRAR als Ergebnis eines Projekts dargestellt, das insgesamt auf Erkenntnis abzielt (dessen Ziel es ist, ... besser zu verstehen) und somit als Ganzes eine WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK darstellt. (92) Effektivere Spritztechnik Bayer CropScience gehört zu den 14 Partnern des Verbundprojekts „FIT BEE“, einem deutschlandweiten Gemeinschaftsprojekt von bienenforschenden Instituten und Unternehmen, dessen Ziel es ist, das Zusammenspiel von Bienen und Umwelt besser zu verstehen. Das so genannte Dropleg-Projekt im Rahmen von FIT BEE richtet sich auf eine neue Unterblattspritzvorrichtung, die den Kontakt der Bestäuber mit den Pflanzenschutzmitteln weiter verringern soll. Droplegs – hakenförmige Verlängerungen, die senkrecht zum Spritzbalken angebracht sind – sorgen dafür, dass nur die grünen Pflanzenteile und nicht auch die Blüten behandelt werden (Abbildung 4). Forscher der Universität Hohenheim haben Anbaukulturen, die von oben besprüht wurden, mit jenen verglichen, die von unten besprüht wurden. Dabei wurde festgestellt, dass nach der Anwendung der Dropleg-Technik deutlich weniger Rückstände in den Pollen und im Nektar gefunden wurden. (Bayer 2015a)
Forschung ist somit in zweifachem Sinne ein technisches Unterfangen. Sie dient zum einen der Entwicklung von Technologien wie etwa Sweepair, Dropleg oder Varroagate. Sie ist zum anderen in ein technisches Verfahren eingebettet, findet also nicht frei oder aus eigenem Antrieb heraus statt, sondern besitzt weitestgehend institutionalisierte Anlässe und Ziele. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Art Vereinnahmung der wissenschaftlichen Forschung für den technologischen Fortschritt bei AGRAR sprechen. Forschung, Fortschritt und Potenz Wie die bisherigen Ausführungen bereits andeuten, zeigt sich Forschung und die damit verbundene Entwicklung technischer Lösungen bei AGRAR – ganz nach Art des Ingenieurs – als Problemlöseverfahren:
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(93) Nur wenn die vielen verschiedenen Beteiligten koordiniert zusammenarbeiten, können langfristig nachhaltige Lösungen zur Verbesserung der Bienengesundheit gefunden werden. Bayer beteiligt sich engagiert an dieser äußerst wichtigen Arbeit und ist bereits in verschiedene Projekte mit Partnern weltweit eingebunden, um die verschiedenen Aspekte dieser komplexen Angelegenheit zu untersuchen. (Bayer 2015a)
Forschung ist als solche integriert in das Projekt des technologischen Fortschrittes. In dieser Hinsicht weisen Forschung und Produktentwicklung eine parallelisierte lineare zeitliche Dimension auf, sie verlaufen koordiniert (93) bzw. gehen Hand in Hand (95). Sie führen zur stetigen Verbesserung von Technologien und somit zur Lösung von bestehenden Problemen, was sich in evaluativ-steigernden Formulierungen und Verweisen auf Prozessualität äußert. (94) Nach der erfolgreichen Einführung von Deflektoren blieb die Entwicklung jedoch nicht stehen. Es wurde weitergeforscht. Nun wird die zum Boden abgeleitete Luft durch zusätzliche Maßnahmen gereinigt. Dadurch lässt sich der Staubanteil um weitere 90 Prozent reduzieren. (IVA 2014b) (95) Die Pflanzenschutzindustrie hat dieses Problem erkannt und Hand in Hand mit Behörden, Saatgutproduzenten, Maschinenherstellern und Forschungsinstituten zusammengearbeitet, um technische Lösungen zur Verbesserung der Saatgutbehandlungs- und Sämaschinen zu entwickeln. Die großen Erfolge, die seither erzielt wurden, haben die Umweltsicherheit von Saatgutbehandlungen deutlich verbessert und die Umweltexposition durch Staubemissionen von behandeltem Saatgut drastisch reduziert (z. B. Friessleben et al. 2010, Forster et al. 2012). Feldstudien zeigen, dass nach gültigen Qualitätsstandards behandeltes Saatgut problemlos ausgesät werden kann. Die Entwicklung zusätzlicher Optimierungsmaßnahmen wird fortgesetzt, um die Sicherheit noch weiter zu erhöhen. (Bayer 2016) (96) Die betroffenen Unternehmen haben darauf reagiert: Primär wurden die Beizverfahren so weiterentwickelt, dass die Staubabriebwerte heute nur einen Bruchteil der damals gemessenen Werte betragen. Zudem wurden Zusatztechnologien für Sägeräte entwickelt, die den Eintrag des Beizstaubes in die Umwelt und die Kontaktmöglichkeit für Bienen nochmals um 90 Prozent und mehr verringern. (IVA 2016)
Die Konzeptualisierung der gewissermaßen ‚technischen‘ Forschung in (94)-(96) zeigt im Rahmen der TW immer wieder eine zeitliche Dimension, in der die Forschung in der Vergangenheit zu einer quantifizierbaren Optimierung im heute führt (siehe dazu auch Kapitel 7.4.2). Die Weiterführung der Entwicklung zusätzlicher Optimierungsmaßnahmen wird diesen Trend laut AGRAR anscheinend ohne Zweifel fortsetzen können. Hier kommt der Stolz über die großen Erfolge, die seither erzielt wurden ebenso zum Vorschein wie der Optimismus hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten. Der Fortschritt in der Entwicklung technischer Lösungen demonstriert eine Potenz, die es den Menschen ermöglicht, Probleme aus dem eigenen Können heraus zu bewältigen, wie Segment (97) zeigt:
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(97) Die Bedürfnisse und Ansprüche der Landwirtschaft werden von gesellschaftlichen und ökonomischen Variablen bestimmt, und diese können oft im Widerspruch zu idealen Anbauweisen stehen. Allerdings sind wir durchaus dazu in der Lage, vorbildliche Verfahren und neue Technologien einzuführen und zu optimieren, die dazu beitragen, dass die Felder sowohl für Bestäuber als auch für Landwirte sicher und einträglich sind. (IVA 2014a)
Diese zeitliche Konzeptualisierung von technischen Lösungen im Rahmen des Fortschrittsideals wirkt argumentativ auch auf die unter 8.3.1 besprochene Frage nach den Alternativen zurück: Da die durch Forschung optimierten Technologien immer besser werden, ist der durch ein Neonicotinoid-Verbot herbeigeführte Rückgriff auf ältere Pflanzenschutzmittel im Wortsinne ein Rückschritt. Die Optimierung der Natur Interessant ist, dass selbst lebende Organismen wie v. a. Bienen von AGRAR immer wieder – auch – als Technologien gefasst werden bzw. zumindest als durch menschliche Technologie optimierbar. Sehr anschaulich ausgedrückt wird dies etwa auf dem Coverbild von Bayer 2015a (siehe Abbildung 8.25).
Abbildung 8.25: Ausschnitt aus dem Coverbild von Bayer 2015a.
Im Zentrum steht hier die großformatige Abbildung einer Biene, bei der Teile des Körpers wie bei einem Cyborg durch Roboter-Komponenten ersetzt sind. Es re-
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präsentiert die Biene somit zu Teilen als biologischen Organismus und zu (geringeren) Teilen als technologisches Konstrukt. Erweckt wird der Eindruck, dass das Natürliche durch den Einsatz von Technologien optimiert wird. Kaum notwendig zu bemerken, dass eine solche Abbildung bei ÖKO nahezu undenkbar wäre (bzw. eine ganz andere – negative – Bedeutung vermitteln würde). Betroffen von dieser Technologisierung ist im Besonderen die Honigbiene. Diese wird deutlich aus der Sphäre der Natur herausgezogen und in die Sphäre des menschlichen Kulturraumes eingegliedert. Ursächlich dafür sind die Kulturtechniken Domestikation und Zuchtwahl. Wie (98) zeigt, wird von AGRAR auch die gefährdete Bienengesundheit zumindest zu Teilen auf die Domestikation zurückgeführt. (98) Die von Imkern geführten Bienenvölker haben viele Eigenschaften verloren, die ihren wild lebenden Vorfahren bei der Abwehr von Schädlingen und Krankheiten halfen. Dies ist aber kein Ergebnis der Landwirtschaft, sondern vielmehr der Züchtung. (IVA 2016)
Wie in (98) wird auch in (99) eine Unterscheidung von Wildbienen und Honigbienen hervorgehoben, indem die Natürlichkeit/Wildheit mit der Domestikation kontrastiert wird. Erneut zeigt sich hier die von AGRAR im Zuge der unter 8.2.3 beschriebenen Dissoziation, die mit einer Fokussierung des Debattenthemas auf Honigbienen einhergeht. Als domestizierte Spezies ist nicht nur die (stammesgeschichtliche) Existenz der Honigbiene, sondern auch ihr quasi alltägliches Leben abhängig und durchdrungen vom Einsatz menschlicher Werkzeuge und Techniken. (99) Auch wenn Honigbienen nach wie vor Wildtiere sind, die einer Betreuung durch den Menschen eigentlich nicht bedürfen, so kann man bei der Westlichen Honigbiene dennoch von einer domestizierten Spezies sprechen. Sie wird wegen ihrer Produkte und ihres Nutzens als Bestäuber gehalten, gezüchtet und angepasst. Die moderne Imkerei setzt Werkzeuge und Techniken ein, die die natürlichen Tätigkeiten von Bienenvölkern simulieren oder anregen. [...] Das Leben der domestizierten Honigbiene unterscheidet sich deutlich von dem der Wildbienen, die einst die Landschaften Europas besiedelten. Die Praktiken der Bienenzucht haben sich auf die genetische Vielfalt der Honigbiene, auf deren Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten, ihre Aggressivität und ihren Status als Wildtierart ausgewirkt. Es werden wissenschaftliche Debatten darüber geführt, ob es in Europa überhaupt noch echte Wildbienengattungen gibt. Möglicherweise sind sie in freier Wildbahn ausgestorben, und es ist wahrscheinlich, dass es sich bei den nicht von Imkern gehaltenen Bienenvölkern in Wahrheit um verwilderte (Ableger von ehemals domestizierten Bienenvölkern), nicht aber um wirklich wilde Exemplare handelt. (IVA 2014a)
Als so gewissermaßen ‚technisierte‘ Lebewesen können Honigbienen vom Menschen technisch in kulturellen Praktiken (also ebenfalls Techniken) genutzt werden: (100) Schon seit Urzeiten nutzt der Mensch Apis mellifera, zu der wir eine besondere und mitunter anspruchsvolle Beziehung pflegen. Den erstaunlichen Eigenschaften dieser Spe-
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zies, ihrem Wert für die Menschen und ihrer konsequenten (übertriebenen) Nutzung sollte unbedingt eine größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. (IVA 2014a) (101) Honigbienen (Apis mellifera) nehmen unter den landwirtschaftlichen Bestäubern eine besondere Stellung ein, da sie große Kolonien bilden und für den Menschen relativ leicht zu handhaben und zu züchten sind. Sie können deshalb in großer Zahl für Bestäubungszwecke eingesetzt werden, selbst an Orten, wo aufgrund der Landschaftsstruktur oder der Art der landwirtschaftlichen Nutzung von Natur aus keine vielfältigen Bestäuberpopulationen vorhanden sind. Honigbienen sind dadurch zum Beispiel auch für die Bestäubung in Monokulturen geeignet. (Bayer 2016)
Aus dieser Technologisierung der Honigbiene folgt zwar die Verantwortung des Menschen für das Wohlergehen für Bienen. Allerdings ist diese Verantwortung bei AGRAR klar an die Kulturtechnik der Imkerei gebunden, wie Segment (102) verdeutlicht. Dies liegt auch an der in Segment (98) oben zum Ausdruck kommenden Verantwortlichkeit der Imkerei für die behaupteten Gesundheitsrisiken von Bienen. (102) Als Nutztier des Menschen ist sie [die europäische Honigbiene, NS] vollkommen auf den Schutz durch den Imker angewiesen. (IVA 2016)
Entsprechend ist eine der von AGRAR vorgeschlagenen technischen Lösungen im Bienenschutz – v. a. dem Schutz vor Varroa – auch das technologische Optimieren von Bienen, etwa durch eine Züchtung varroaresistenter Bienen, oder die Applikation von als Varroagate bezeichneten Mechanismen am Eingang der Bienenstöcke (103). Zudem sollen auch die Abwehrmechanismen der Biene gegen Insektizide mit in den Entwicklungsprozess miteinbezogen werden (104). Die Biene wird somit quasi selbst zum Teil der Agro-Technologie. (103) Bayer arbeitet seit einiger Zeit an einer neuen Strategie zur wirksamen Bekämpfung der Varroa-Milbe am Eingang zum Bienenstock. Eine neu entwickelte Technik soll verhindern, dass immer neue Milben in den Stock gelangen bzw. sich gesunde Völker mit der Milbe anstecken. Die Forscher von Bayer und Bienenexperten von Universitäten verschiedener Länder arbeiten an einer Lösung namens Varroa-Gate, einem Kunststoffstreifen mit Löchern, der auf dem Eingang zum Bienenstock angebracht wird und ein Wirkstoff, der Milben kontrolliert (Akarizid), enthält. Wenn eine Biene durch die Öffnung schlüpft, bleibt das Akarizid an ihrem Körper hängen, wird so in den Stock transportiert, wo es dann die Milben abtötet. Der verbrauchte Wirkstoff wird augenblicklich aus dem Kunststoffstreifen nachgeliefert. Dank dieses innovativen Mechanismus funktioniert das Varroa-Gate über mehrere Wochen. (Bayer 2015a) (104) Um das Potenzial dieser Entgiftungsmechanismen zu erkunden, hat Bayer kürzlich in Zusammenarbeit mit dem britischen Institut Rothamsted Research, das Forschungsergebnisse aus seiner Arbeit an anderen Insekten einbringt, mit einem Toxikogenomik-Projekt für Bienen begonnen. Forscher von Bayer CropScience und Rothamsted Research arbeiten
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zusammen an der Erkundung spezieller Mechanismen, welche die Selektivität von Insektiziden beschreiben und dazu genutzt werden können, moderne Insektizide noch sicherer zu machen. (Bayer 2015a)
Es zeigt sich, dass technische Innovation aus Sicht von AGRAR keinesfalls störend in die Umwelt interveniert, sondern optimierend (und zwar auch hier in enger Kooperation mit der Wissenschaft: Die Forscher von Bayer und Bienenexperten von Universitäten verschiedener Länder, Forscher von Bayer CropScience und Rothamsted Research arbeiten zusammen). Natürlich wird auch von AGRAR eingestanden, dass Landwirtschaft negative Auswirkungen hat und Insektizide Insekten töten. Die Konsequenz aus diesen Feststellungen besteht aber immer darin, die Technologie zu optimieren und dazu eben ggfs. auch die Umwelt zu optimieren, nie aber darin, die Technologie als solche in Zweifel zu ziehen.
8.3.3 Alles unter Kontrolle Ein wichtiger Effekt der zentralen Rolle technischer Lösungen in der AGRAR-TRS ist die damit einhergehende Konzeptualisierung von KONTROLLE. Wie bereits in Kapitel 4.4.3 angesprochen, spielt diese eine wichtige Rolle für das emotive Potential einer TRS: Mit steigender Kontrolle sinkt tendenziell das negative emotive Potential eines konzeptualisierten bzw. perspektivierten Sachverhaltes. Die Konzeptualisierung von Kontrolle erfolgt dabei im Rahmen der Konzeptualisierung des Frames NEONICOTINOID-EINSATZ und dabei vor allem dessen Frame-Elementen WIRKSTOFF, WIRKWEISE, EINSATZTECHNIK, TECHNOLOGIEN, ANWENDUNG und ZULASSUNG. Gezielte Wirkweise Ein Konzeptualisierungskomplex betrifft dabei die Frame-Elemente WIRKSTOFF, WIRKWEISE und EINSATZTECHNIK: Neonicotinoide werden, wie bereits unter 8.3.1 angemerkt, als besonders gut designte WIRKSTOFFE konzeptualisiert, die in Kombination mit der richtigen EINSATZTECHNIK zu einer WIRKWEISE führen, die kontrolliertes und effektives Handeln ermöglicht. Bedingt wird dies zunächst durch das chemische Design der Wirkstoffe (siehe ausführlicher oben Beispiel (81)): (105) Die Neonikotinoide können in zwei Gruppen unterteilt werden: cyano-substituierte Neonikotinoide (Thiacloprid, Acetamiprid) und nitro-substituierte Neonikotinoide (Imidacloprid, Thiamethoxam, Clothianidin, Dinotefuran, Nitenpyram). [...] Die geringe Toxizität cyano-substituierter Neonikotinoide für Bienen ist auf das natürliche Entgiftungssystem der Bienen zurückzuführen, das die Substanzen extrem schnell metabolisieren kann (Iwasa et al. 2003). (Bayer 2016)
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Das chemische Design der Neonicotinoide führt dabei vor allem in Kombination mit der EINSATZTECHNIK der Saatgutbeizung zu einer offenbar besonders systematischen und präzisen (gezielten) WIRKWEISE: (106) Als Beizmittel legen sie sich wie eine hauchdünne Hülle um das Saatgut. Die sich entwickelnden Wurzeln des Keimlings nehmen den Wirkstoff auf – und bewahren so Raps, Mais und Co. in der empfindlichen Auflaufphase vor Insektenfraß. Dieser zielgerichtete Wirkstoffeinsatz sorgt direkt am Saatkorn für optimalen Schutz. (Bayer 2015b) (107) Zudem wirken Neonikotinoide vor allem im Einsatz in der Saatgutbehandlung sehr gezielt auf fressende oder saugende Schadinsekten, da sie von innen wirken. (IVA 2016)
Diese Kombination aus chemischem Design und Einsatztechnik führt nicht nur zu gezieltem Schutz, sondern aufgrund der offenbar vorab genau kalkulierten Verteilung der Neonicotinoide in der Pflanze und Stoffabbauprozesse zu einer besonderen Umweltverträglichkeit, also dem Ausbleiben negativer Konsequenzen durch eine technische – sozusagen mathematische – Kontrolle der Wirkweise: (108) Nach dem Keimen der Pflanze wird die Substanz zum Teil von der jungen Pflanze aufgenommen, die dadurch gegen Schäden durch Schadinsekten geschützt ist. Wenn die Pflanze heranwächst, wird die absorbierte Substanz zunehmend verdünnt und metabolisiert, und auch die zur Aufnahme über die Wurzeln im Boden verbliebene Substanz verringert sich in gleicher Weise. Deshalb sind in den Blüten von Pflanzen aus behandeltem Saatgut und vor allem im Nektar und Pollen nur noch Spuren der Substanz zu finden, da die Blüten erst in einem viel späteren Entwicklungsstadium ausgebildet werden. (Bayer 2016)
Kontrollierter Einsatz – Aufbereitung und Anwendung Die Konzeptualisierung von Kontrolle betrifft auch insbesondere die konkrete Art und Weise der ANWENDUNG durch Landwirte im landwirtschaftlichen Einsatz. AGRAR verweist immer wieder darauf, dass Landwirte bei der Anwendung von Neonicotinoiden in der Praxis bestimmten Regeln folgen müssen, die bestimmte Beschränkungen ebenso betreffen wie ein sorgsames und umsichtiges Vorgehen: (109) Deswegen müssen Landwirte beim Einsatz von Pestiziden sehr umsichtig vorgehen und die Gebrauchsanweisungen strikt befolgen, damit Bestäuber möglichst nicht mit den Mitteln in Berührung kommen (IVA 2014a) (110) Landwirte müssen darauf achten, Pflanzenschutzmittel nur bei Bedarf und unter Berücksichtigung der Gebrauchsanweisung einzusetzen. Auch Dosierung, Applikationszeit (inklusive Tageszeit und Wetterverhältnisse) und Applikationstechnik sind zu berücksichtigen. Für einige Insektizide gelten besondere Gebrauchshinweise, da sie bei falscher Anwendung bekanntermaßen negative Auswirkungen auf Honigbienen haben. (IVA 2014a)
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Das Elaborieren des Frames NEONICOTINOID-EINSATZ in der TW durch das MikroHandlungsmuster ÜBER LWS-PRAKTIKEN INFORMIEREN beinhaltet dabei, wie in den Beispielen (109)-(110) illustriert, häufig den Aufbau von FWs in deontischer Welt-Welt-Relation durch Modalverb-Konstruktionen wie müssen, sind zu, die einen starken normativen Zwang repräsentieren, der vom Hintergrund-Frame ANWENDUNGSREGELN auf die ANWENDUNG der Neonicotinoide im landwirtschaftlichen Einsatz ausgeht. Tatsächlich findet eine Beschreibung des Einsatzes hauptsächlich innerhalb solcher Fokuswelten statt – seine Konzeptualisierung ist also im Rahmen der Weltenkonstruktion durch Gebrauchsanweisungen deontisch ‚gerahmt‘. Innerhalb dieser FWs wird der Neonicotinoid-Einsatz durch Adjektive und Adverbien beschrieben wie umsichtig, strikt, genau und Verbkonstruktionen wie berücksichtigen, darauf achten, dass. Der Neonicotinoid-Einsatz ist also auch dadurch gekennzeichnet, dass Landwirte hier mit großer Sorgfalt vorgehen, aufmerksam sind, Entscheidungen treffen können und somit ein hohes Maß an Kontrolle über den Prozess selbst ausüben. Es handelt sich also um ein doppeltes Maß an Kontrolle: das kontrollierte Ausbringen der einzelnen Landwirte beim Einsatz und die durch den starken deontischen Zwang quasi sichergestellte Kontrolle dieser kontrollierten Vorgehensweise aller Landwirte durch verbindliche Regeln. Gezielte Technologie Zum anderen verbindet sich mit dem Aspekt der Kontrollstrenge und der Gebrauchssorgfalt auch – erneut – der Aspekt des technologischen Könnens. Dementsprechend wird der Einsatz technischer Lösungen als gezielte Maßnahme bezeichnet: (111) Die Vielfalt der Produkte erlaubt es dem Anwender, gezielt die richtigen Mittel auszuwählen, um Schaderreger zu treffen und andere Organismen zu schonen. (IVA 2014b) (112) Der gezielte Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kann Ernteverluste durch Schädlinge, Pilzerkrankungen oder Unkräuter verhindern. (Bayer 2016)
Gerade durch die Entwicklung und Einführung von technischen Geräten ist in der Konzeptualisierung des Neonicotinoid-Einsatzes bei AGRAR der gesamte Prozess und damit insbesondere auch die Ausbreitung und der mögliche daraus resultierende Kontakt mit Bienen kontrollierbar. Auf multimodaler Ebene wird dies ebenfalls aus der in Abbildung 8.26 wiedergegebenen Grafik aus IVA 2014b ersichtlich. Im oberen Bild in Abbildung 8.26 werden drei Pfeile gezeigt, die offenbar anzeigen sollen, wie Pestizide in die Luft ausgestoßen werden (Abluft). Die Pfeile sind dünn, lang und verfügen über einen spitzen Pfeilkopf, was als Konzeptualisierung von GESCHWINDIGKEIT angesehen werden kann. Außerdem geht jeder der drei Pfeile in einem anderen Winkel vom Ursprung ab. Es zeigt sich also kein System, der Ausstoßwinkel repräsentiert den Aspekt ZUFALL. Die Anfangs-
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Abbildung 8.26: Abbildung aus IVA 2014b.
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punkte der Pfeile ‚überschneiden‘ sich zudem, sodass keine Folgebeziehung zwischen den Pfeilen hergeleitet werden kann. Entsprechend resultiert für den ‚AusstoßTrichter‘ ein recht großer Öffnungswinkel und eine große STREUUNG. Das zweite Bild steht in einem deutlichen Kontrast dazu: Die Pfeile sind kürzer, breiter und ‚stumpfer‘, der Aspekt der GESCHWINDIGKEIT ist reduziert. Zudem sind die Pfeile in einer klaren Anordnung zueinander dargestellt. Die Pfeilköpfe verweisen (außer am unteren Rand) jeweils auf den Startpunkt eines weiteren Pfeils. Dadurch ergibt sich eine serielle Reihung der Pfeile. Beim Nachvollzug der Pfeilstruktur entsteht so die Vorstellung einer geordneten Reihenfolge von Bewegungen, die entlang einer nach außen klar abgegrenzten Laufbahn verfährt. Während man die Bewegung im oberen Bild ‚auf den ersten Blick‘ erfasst, nimmt der Nachvollzug im zweiten Blick etwas mehr Zeit in Anspruch. Die dargestellte Bewegung wird somit auch langsamer. Die Minderung von ZUFALL, STREUUNG und GESCHWINDIGKEIT repräsentiert in der Abbildung das Konzept KONTROLLE, das dem Konzept AGRARTECHNOLOGIE attribuiert wird. Damit werden wesentliche emotive Parameter der Sachverhaltsrepräsentation/Konzeptualisierung gemindert. Regulierung und Zulassung Ebenfalls wichtig für die Konzeptualisierung von Kontrolle ist die Thematisierung der strengen Zulassungspraxis: Forschung und technologische Entwicklung führen in deren Rahmen dazu, dass Kontrolle über die Prozesse ausgeübt werden kann (113). Das Zulassungsverfahren ermöglicht einen ordnenden Zugriff auf das mögliche Risikogeschehen und macht es zunächst rechnerisch beherrschbar (114). (113) Im Laufe der Jahre hat sich bestätigt, dass diese auf Basis anspruchsvoller Tests und Risikobewertungen zugelassen [sic.] wichtigen Hilfsmittel für die Landwirtschaft in der Regel bei korrekter Handhabung sicher für Bestäuber sind. (Bayer 2018) (114) Alle Risiken, die im Zusammenhang mit bestimmten Expositionsszenarien stehen, werden im Risikobewertungsverfahren quantifiziert. Wo das Risiko ein kritisches Niveau überschreitet, wird die Umsetzung von Maßnahmen zur Risikobegrenzung gefordert. Die Maßnahmen, die zur Risikobegrenzung durchzuführen sind, werden auf dem Etikett jedes Produktes beschrieben und sind für jeden Anwender von Pflanzenschutzmitteln verpflichtend. (IVA 2014a)
Hervorgehoben wird dabei meist die Strenge der Zulassung: (115) In Europa ist der Einsatz von Pestiziden streng reglementiert, was sich auch in modernen und angepassten Verfahren des Risikomanagements niederschlägt, die ausschließlich den Einsatz von Pestiziden erlauben, die den Bienenvölkern nicht schaden. (IVA 2014a)
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(116) Pflanzenschutzmittel (Pestizide) zählen zu den am strengsten regulierten Produkten in der gesamten Wirtschaft. Die für sie geltenden Zulassungsanforderungen sind ebenso streng wie diejenigen für Medikamente, und zudem sind umfangreiche Umweltverträglichkeitsprüfungen erforderlich, um zu gewährleisten, dass sie kein unvertretbares Risiko für die Tier- und Pflanzenwelt und die Umwelt im Allgemeinen darstellen. (Bayer 2018) (117) Leider kam es in den letzten Jahren immer wieder zu größeren Verlusten, vor allem sogenannten Winterverlusten, unter den Bienenvölkern. Oft wurden Pflanzenschutzmittel dafür verantwortlich gemacht. Aber deren Einsatz ist in Deutschland so streng reglementiert, dass es in der Regel keine unvertretbaren Auswirkungen auf Nichtzielorganismen wie Honigbienen gibt. (IVA 2014b)
Gerade (117) ist interessant: Hier findet sich eine seltene Stelle des unmittelbaren Emotionsausdrucks durch das Adverb leider. Nichtsdestoweniger ist das emotive Potential des gesamten Textsegments eher gering: Zum einen findet sich erneut eine Vermeidungs- und Dissoziationsstrategie bezüglich des Bienensterbens. Zum anderen wird der Aspekt der regulativ garantierten KONTROLLE explizit argumentativ ins Feld geführt. Indem der Frame ZULASSUNGSVERFAHREN inkl. seines deontischen Potentials in der TW-Struktur verankert wird, kann er quasi zu einem eigenen Topos werden, der eine argumentative Schlussregel ‚generiert‘, die sich auf das von AGRAR konstruierte Argument auswirkt (‚Wenn ein Pflanzenschutzmittel zugelassen ist, dann ist es sicher.‘). Mit der Stärke bzw. Strenge des deontischen Zwanges, der von dem Zulassungsverfahren ausgeht, gewinnt diese Schlussregel an Geltung. Gerade im Hinblick auf die den technischen Lösungen innewohnende Kontrolle wird deutlich, wie sich das Verhältnis von Mensch und Mitwelt in der AGRAR-TRS darstellt: Der Mensch demonstriert hier ein Können, durch das es ihm prinzipiell möglich ist, die Prozesse der Mitwelt zu kontrollieren. Die Befähigung dazu erhält er aus Forschung und wissenschaftlichem Wissen. Vorschriften, Regeln und Empfehlungen gewährleisten den systematischen/technischen Umgang mit Technologie und Mitwelt und garantieren somit die fortwährende Kontrolle der ablaufenden Prozesse. Eine zum Verzicht aufrufende Regulierung steht einem solchen Selbstverständnis natürlich entgegen. Warum sollte der Könner sein Können unterlassen? Wird dadurch nicht das enorme Fortschrittspotential des Menschen unnötig eingeschränkt? Wird sich das nicht negativ auf die zukünftige Entwicklung des Fortschritts auswirken?
8.3.4 Technische Lösungen und Orator-Engagement Neben den bisher hervorgehobenen argumentativen und emotiven Aspekten, die mit der Konzeptualisierung technischer Lösungen einhergehen, weist diese auch eine starke Ethos-Komponente auf. AGRAR hat somit die Möglichkeit, sein Engage-
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ment für die gute Sache zu demonstrieren, ebenso wie seine Expertise. Insbesondere ist dies der Fall, wenn AGRAR sich selbst auch als Akteur der TW darstellt und dabei die eigenen Motivationen und Handlungsabsichten expliziert, wobei sich AGRAR als engagiert und lösungsorientiert darstellt, wie auch dann, wenn AGRAR beschreibt, was schon alles unternommen wurde. (118) Bayer beteiligt sich engagiert an dieser äußerst wichtigen Arbeit und ist bereits in verschiedene Projekte mit Partnern weltweit eingebunden, um die verschiedenen Aspekte dieser komplexen Angelegenheit zu untersuchen. Wir hoffen, dass wir bessere Lösungen zum Wohle der Bienengesundheit weltweit finden werden – Lösungen, die sowohl der Natur als auch dem Menschen nützen. (Bayer 2015a) (119) Landwirte und agrochemische Industrie arbeiten Hand in Hand, um bestmögliche Verfahrensweisen anbieten zu können, mit deren Hilfe sich Fehlanwendungen so weit wie möglich reduzieren lassen. (IVA 2014a)
Indem AGRAR hier seine eigene Handlungs- und Problemlösekompetenz zur Schau stellt (also eine Art Expertise inszeniert), wird gleichzeitig demonstriert, dass ein regulatives Eingreifen zur Lösung nicht notwendig sei, da die Industrie die Dinge unter Kontrolle hat und bereits tätig ist. Das sich darin zeigende normative Ideal entspricht erneut und wenig verwunderlich einem typisch neoliberalistischen Denken (‚Unternehmen sind besser im Lösen von Problemen als Staaten.‘). In Bezug auf die Lösungsorientierung ist auch die auffällige Betonung von Kooperation und Zusammenarbeit zu nennen. Wie die Segmente (120)-(123) verdeutlichen, zeigt sich dies häufig im Rahmen des Handlungsmusters ANFORDERUNG/ NOTWENDIGKEIT BENENNEN, also im Rahmen der Konstruktion ‚deontischer‘ FWs (ungemein wichtig, unerlässlich), die als Möglichkeitsbedingungen für (gewünschte) Sachverhalte in ‚volitiven‘ FWs genannt werden. Der Bezug auf den normativen Rahmen legt auch hier die Inszenierung von Integrität nahe. (120) Es ist ungemein wichtig, dass Industrie, Landwirte und alle Beteiligten, die sich mit der Thematik befassen, Hand in Hand arbeiten, um die beste Verfahrensweise für den Umgang mit den rückläufigen Bestäuberpopulationen zu ermitteln und Lösungen anzubieten, die sich sowohl auf die Insekten als auch auf die landwirtschaftliche Produktivität positiv auswirken. (IVA 2014a) (121) Die Zusammenarbeit vieler verschiedener Interessengruppen ist unerlässlich, wenn wir die Forderung nach einer produktiven Landwirtschaft erfüllen und gleichzeitig den Bestand der Bestäuberpopulationen erhöhen wollen. (IVA 2014a) (122) Nur wenn die vielen verschiedenen Beteiligten koordiniert zusammenarbeiten, können langfristig nachhaltige Lösungen zur Verbesserung der Bienengesundheit gefunden werden. (Bayer 2015a)
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(123) Wenn für die Pestizidzulassung ein aussagekräftiges Datenpaket entwickelt werden soll, das dieser Komplexität Rechnung trägt, müssen Zulassungsbehörden und Wissenschaftler aus der Industrie einen wissenschaftlichen Dialog pflegen und eng zusammenarbeiten, um Testprotokolle zu validieren und Datentransparenz, Konsistenz und Reproduzierbarkeit zu gewährleisten. (Bayer 2018)
Obwohl AGRAR eine stark opponierende Strategie zu anderen Debattenakteuren wie insbesondere ÖKO verfolgt, wird neben dem hier sichtbaren Aspekt der konkreten Zusammenarbeit auf der Ebene von Forschung, Entwicklung und Zulassung auch der des gegenseitigen Verständnisses im Rahmen der AGRAR-TRS immer wieder stark hervorgehoben. (124) Denn nur bei gegenseitigem Verständnis landwirtschaftlicher und imkerlicher Belange kann langfristig für das Wohl der Bienen Sorge getragen und können die Erträge von Nutzpflanzen gesichert werden. Das Ziel gegenseitiger Rücksichtnahme schließt dabei natürlich ein, dass die zum Schutz der Kulturpflanzen erforderlichen Maßnahmen ausreichend bienenverträglich sind (Bayer 2015b) (125) Die Pflanzenschutzindustrie ist offen für einen weiteren Dialog, um diesen Prozess gemeinsam mit den europäischen Regulierungsbehörden zu verbessern (Bayer 2018)
Die verfolgten Ziele wie Ernährungssicherheit, repräsentieren zudem Werte, die für alle Menschen Gültigkeit besitzen. AGRAR handelt somit vorgeblich auch im Interesse der Leserin. Gleichzeitig scheint das Darstellen eigener Handlungsabsichten manchmal auch als um-Verständnis-werbend. Dies ist etwa der Fall, wenn AGRAR betont, dass es ein Gerichtsverfahren nur deshalb anstrebe, um Planungssicherheit zu haben, da die PSM-Entwicklung ein großes finanzielles Risiko berge (126). (126) Bayer hat die Einschränkung der Neonikotinoid-Anwendung in der EU vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, um die Rechtsgrundlage der Kommissionsentscheidung zu klären. Diese beruht auf einer Bewertung der EFSA, die weder auf einem validierten noch offiziell anerkannten Risikobewertungssystem basiert. Mit Blick auf künftige Investitionsentscheidungen möchte Bayer vor allem erreichen, dass das Gericht einen klaren regulatorischen Rahmen vorgibt. (Bayer 2016)
Durch die Angabe der Handlungsziele inszeniert sich der Orator somit quasi als Subjekt, dessen Handlungen nachvollzogen werden können – dies bietet Raum für (partielle) Identifikationen. Der Themenkomplex ‚technische Lösungen‘ wirkt sich also sowohl im Hinblick auf Argumentation, emotives Potential und Orator-Leserin -Beziehung auf die Plausibilitätsstruktur des geteilten Wissens aus.
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8.3.5 Fazit: Fortschrittliche Optimierung Die Konzeptualisierung technischer Lösungen innerhalb der AGRAR-TRS knüpft an das versteckte normative Argument (Kapitel 8.2) an und hebt hervor, dass es bessere Alternativen zu einer umstrittenen und möglicherweise unfundierten regulativen Intervention gibt. Dabei wird die Sphäre zwischen Kultur und Natur durch den fortschrittsorientierten Einsatz wissenschaftlicher Forschung und die Entwicklung neuer Technologien weitestgehend aufgehoben. Der Mensch – und insbesondere der Orator – demonstriert sein technologisches Können in der gezielten Kontrolle komplexer Vorgänge. Die Verantwortlichkeit für Bienenschutzmaßnahmen verlagert sich im Zuge dessen weg von (politischen) Kollektiven hin zu ausführenden und selbstverantwortlichen Individuen wie Landwirten und Imkerinnen. AGRAR nutzt die Darstellung und die damit einhergehende textuelle Präsenz technischer Lösungen nicht nur argumentativ (im engeren Sinne), sondern auch als Möglichkeit der Selbstinszenierung von Expertise, Integrität und Wohlwollen durch die Betonung von forschendem und auch kommunikativem Engagement innerhalb der Neonicotinoid-Debatte.
9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO 9.1 Wissen und Handeln Wie auch die AGRAR-TRS, lässt sich die TRS von ÖKO zunächst anhand des durch sie realisierten dominanten Handlungscharakters beschreiben. Ich werde in diesem Kapitel den Standpunkt vertreten, dass sich dieser Handlungscharakter am ehesten mit dem Handlungsmuster FORDERUNGEN ABLEITEN beschreiben lässt – wenngleich sich die ÖKO-TRS hier etwas weniger einheitlich darstellt, als dies bei AGRAR der Fall ist. Kennzeichnend für die ÖKO-TRS ist vor allem der Zusammenhang, der dabei zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischem Handeln hergestellt wird. Ich möchte deshalb zunächst aufzeigen, wie FODERUNGEN ABLEITEN als Handlungsmuster realisiert wird und welche Art des Kontaktes sich daraus zwischen Orator und Leserin innerhalb der Weltenarchitektur ergibt. Anschließend möchte ich näher beleuchten, wie sich in diesem Zusammenhang die Konstitution wissenschaftlichen Fachwissens darstellt.
9.1.1 FODERUNGEN ABLEITEN – Die TRS als politisches Agieren Der zentrale Handlungscharakter der ÖKO-TRS kann darin gesehen werden, normativ-politische FORDERUNGEN aus wissenschaftlichem Fachwissen ABZULEITEN. Die Mikro-Handlung des FORDERNs folgt dabei immer wieder auf Konstruktionen von wissenschaftlichem Wissen bzw. Fachwissen, die Konzeptualisierungen des Konzepts WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS beinhalten (siehe dazu ausführlicher Abschnitt 9.1.3). Das Handlungsmuster FORDERUNGEN ABLEITEN kann sowohl auf der Teiltext- wie auch der Textebene (bzw. der Meso- wie auch der Makroebene) festgestellt werden. FORDERUNGEN ABLEITEN auf der Ebene von Teiltexten Auf der Mesoebene der Sprachhandlungsstruktur zeigt sich der dominante Handlungscharakter insbesondere in der Verbindung der Mikro-Handlungen ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIEREN, SCHLUSSFOLGERUNGEN ABLEITEN und FORDERN bzw. NOTWENDIGKEIT BENENNEN. In einigen (selteneren) Fällen treten diese drei Mikro-Handlungen als Sequenzen auf, häufig wird auch eine der Handlungen in der (direkten) Sequenz ausgelassen, außerdem können weitere Mikro-Handlungen die jeweiligen Teiltexte ergänzen. https://doi.org/10.1515/9783111077369-009
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(01) Die Ergebnisse dieser Untersuchungen spiegeln die jüngsten Schlussfolgerungen der EFSA wider, die ebenfalls frühere Ergebnisse zur Gefährdung der Bienen bestätigen und weitere Risiken4 aufzeigen. Angesichts dieser Feststellungen wäre es unverantwortlich, diese Chemikalien weiterhin einzusetzen. Die bereits mit einem Teilverbot belegten drei Neonicotinoide Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam müssen vollständig verboten werden. (Greenpeace 2017)
Beispiel (01) repräsentiert das Handlungsmuster FORDERUNGEN ABLEITEN auf der Mesoebene. Nachdem in einem ersten Satz die im Vortext in den Common Ground (CG) eingeführten Untersuchungsergebnisse in den Forschungskontext eingeordnet werden (wobei eine Kohärenz festgestellt wird), wird im zweiten Satz eine normative Schlussfolgerung daraus abgeleitet. Dabei wird explizit durch einen textdeiktischen Verweis (angesichts dieser Feststellungen) auf die vorherige Wissenskonstruktion verwiesen. Anschließend folgt in Satz 3 das Vorbringen einer durch das Modelverb müssen indizierten FORDERUNG.
ÄW Sprachhandlungsstruktur: ÜBER STUDIENERGBNISSE INFORMIEREN
TW FAPs: Studie zeigt: Neonicotinoide gefährden Bienen (und weitere Insekten)
STUDIENERGEBNISSE IN FORSCHUNGSKONTEXT EINORDNEN
Studie ist mit anderer Studie kohärent
FW Neonicotinoide werden weiter eingesetzt
SCHLUSSFOLGERUNG ABLEITEN
FORDERN _____________________________ Akteure: Leserin, Orator
epistemische Welt-Welt-Relation
_________________ Hintergrund-Frame: U
FW Neonicotinoide werden verboten deontische Welt-Welt-Relation
Abbildung 9.1: Diagramm der Weltenkonstruktion in (01).
Abbildung 9.1 repräsentiert die Weltenkonstruktion in Fall von (01). Hinzugefügt wurde hier die Weltenkonstruktion des unmittelbar voranstehenden Kotextes, in dem ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIERT wurde. Zu beachten ist, dass Abbildung 9.1 im Gegensatz zur üblichen Darstellungsweise von TWT-Diagrammen auf den Kopf gestellt ist. Aus Gründen der Übersichtlichkeit sind relevante world building elements (WBEs) hier unterhalb der Sprachhandlungsstruktur bzw. den function-advancing propositions (FAPs) angegeben, statt wie bisher üblich oberhalb. Dadurch lässt sich im vorliegenden Fall die Sequenz der Mikro-Handlungen auf der Ebene der Äußerungswelt (ÄW) im Verbund mit der damit einhergehenden Konstruktion der Textwelt (TW) und dazugehöriger Fokuswelten (FWs) sowie der damit verbundenen Positionierungen (dargestellt durch die gestrichelten Pfeile) darstellen.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Die ersten beiden in Abbildung 9.1 dargestellten Mikro-Handlungen konstruieren dabei einen TW-Bereich, der klar als wissenschaftliches Wissen über relevante TWStrukturen bestimmt werden kann (gestricheltes Kästchen in Abbildung 9.1). Die dritte Mikro-Handlung SCHLUSSFOLGERUNG ABLEITEN konstruiert eine hypothetische Welt, in der Neonicotinoide weiter eingesetzt werden (FW1), und leitet aus dem für die ÄW-Akteure Orator und Leserin nun bereits sichtbaren TW-Bereich (angesichts dieser Feststellungen) eine normative Positionierung (unverantwortlich) zu FW 1 her (oberer gestrichelter Pfeil in Abbildung 9.1). Dabei wird in der TW als normativer Rahmen der Frame UMWELTSCHUTZ etabliert. Im letzten Schritt wird eine FW in deontischer Welt-Welt-Relation konstruiert, in welcher Neonicotinoide verboten werden, wobei sich der Orator hier bekräftigend zu einem starken deontischen Zwang positioniert (unterer gestrichelter Pfeil in Abbildung 9.1). Segment (01) und Abbildung 9.1 illustrieren anschaulich die Realisierung von FORDERUNG ABLEITEN als Meso-Handlungsmuster auf der Teiltextebene aus einer TWT-Perspektive. Auf die Konstruktion wissenschaftlichen Wissens (als TW-Strukturen) folgt die Konstruktion von FWs in deontischer Welt-Welt-Relation, wobei der deontische Zwang vom Orator bekräftigt wird. Besonders auffällig in Segment (01) ist, dass der Zusammenhang von erfolgter Wissenskonstruktion und vorgebrachter FORDERUNG vom Orator im Wortlaut anhand von Konnektoren und textdeiktischen Verweisen hervorgehoben wird. Die Segmente (02)–(04) stellen weitere Beispiele für entsprechende Verbindungselemente zwischen Wissenskonstruktionen und FORDERUNGEN in Realisierungen des Handlungsmusters FORDERUNG ABLEITEN dar: (02) Wie dieser Bericht zeigt, gibt es deutliche wissenschaftliche Belege dafür, dass Neonicotinoide und andere Pestizide eine wichtige Ursache für den derzeitigen Bienenrückgang sind. Folglich sollten politische Entscheidungsträger [...] (Greenpeace 2013b) (03) Die Studienergebnisse und der Blick in die aktuelle wissenschaftliche Literatur lassen den Schluss zu: Die derzeitige gesetzliche Regulierung des Pestizideinsatzes schützt die Bestäuberpopulationen nicht ausreichend. Die EU hat weitaus mehr Möglichkeiten, bienengefährliche Pestizide komplett zu verbieten. (Greenpeace 2014a) (04) Die bisherigen Erkenntnisse lassen den Schluss zu, dass die Zulassungspraxis keine Sicherheit gegen andauernde Schäden bei Bienen und anderen Insekten bietet und damit gravierende ökologische, gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden nicht ausschließen kann. Für Menschen und Umwelt gefährliche Pestizide dürfen keine Zulassung erhalten. (BUND 2016[2010])
Dabei lassen sich allerdings auch Unterschiede erkennen: Während in (02) in analoger Weise zu (01) eine Verbots-Forderung vorgebracht wird, wird diese in (03) zunächst lediglich impliziert (gemäß der Schlussregel: ‚Wenn die EU bessere Schutzmöglichkeiten hat, dann sollte sie diese auch nutzen.‘) und in (04) ex negativo formuliert. Sowohl in (02) als auch in (03) kommt es jedoch im unmittelbaren
9.1 Wissen und Handeln
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Fortlauf des Texts zu expliziten Verbotsforderungen. Ich werde in Abschnitt 9.1.3 näher darauf eingehen, wie an solchen Textstellen ein für die ÖKO-TRS charakteristisches Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischen Handlungen etabliert wird. FORDERUNGEN ABLEITEN auf der Textebene Noch deutlicher als auf der Mesoebene zeigt sich die Bedeutsamkeit von FORDERUNG ABLEITEN für die ÖKO-TRS auf der Makroebene ganzer Texte. Ein auffälliges Muster innerhalb der ÖKO-TRS ist es, Texte mit politischen Forderungen zu beenden. Häufig finden sich hier sogar typografisch bzw. gestalterisch hervorgehobene Teil-Texte am Textende, die das Mikro-Handlungsmuster FORDERN realisieren. Abbildung 9.2 zeigt Beispiele für typografisch und gestalterisch klar ausgewiesene Segmente am Textende aus Texten von Greenpeace und dem BUND, die die Handlung FORDERN erfüllen. Dabei wird der Handlungscharakter durch den Gebrauch performativer Verbformen an den typographisch hervorgehobenen Textpositionen klar inszeniert. Interessant ist, dass in vier der fünf Beispiele der jeweilige Text im Hauptteil vor allem der Konstruktion wissenschaftlichen Fachwissens dient. In diesen Fällen wird demnach das Handlungsmuster FORDERUNGEN ABLEITEN auf der Ebene des gesamten Texts nicht nur realisiert, sondern explizit inszeniert und kann als dominante Sprachhandlung für den gesamten Text angenommen werden. Auffällig ist in den in Abbildung 9.2 dargestellten Fällen des FORDERUNG ABLEITENs zudem die gestalterische Repräsentation der vorgebrachten Forderungen in Form von Stichpunkt-Listen. Dadurch wird zum einen deutlich, dass ÖKO konkrete und klar formulierbar Forderungen nach ebenso konkreten Maßnahmen vorbringt und nicht etwa nur allgemeine Grundsätze einfordert. Zum anderen wird hier auch klar, dass diese einzelnen Forderungen Bestandteil einer größeren Agenda sind: Es geht ÖKO offensichtlich nicht nur um isoliert-spezifische Probleme, sondern um das Große und Ganze, und es sind vielfältige Anstrengungen nötig, um dessen Herr zu werden (siehe hierzu Kapitel 9.2). ÖKO inszeniert sich somit als entschlossen und durchsetzungsfreudig und demonstriert gleichzeitig Expertise: Nur auf der Basis umfangreicher Auseinandersetzungen und Kenntnis ist es möglich, eine ganze Liste an Forderungen zu stellen. Das Vorbringen von Forderungen und politischen Empfehlungen am Textende kann gemeinsam mit der Realisierung des Meso-Handlungsmusters FORDERUNGEN ABLEITEN, der Verwendung explizit performativer Verben sowie der Realisierung von Forderungen und Empfehlungen im Listenformat als prototypische Charakteristika des dominanten Handlungscharakters FORDERUNGEN ABLEITEN innerhalb der ÖKO-TRS angesehen werden. Tabelle 9.1 zeigt eine Verteilung dieser Charakteristika auf die Korpustexte.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Abbildung 9.2: Beispiele für hervorgehobene Forderungslisten aus Greenpeace 2013a, Greenpeace 2013b, Greenpeace 2014a, BUND 2015 und BUND 2016[2010] (von links oben nach rechts unten). Tabelle 9.1: Prototypische Eigenschaften des Handlungsmusters FORDERUNGEN ABLEITEN auf der Textebene innerhalb der ÖKO-TRS. Text
Textfinale Forderungen & Empfehlungen
MesoHandlungsmuster
Performative Verben
Listen
PAN Greenpeace a Greenpeace b Greenpeace c Greenpeace a Greenpeace b PAN BUND a Greenpeace BUND b BUND [] Greenpeace BUND BUND
X X X X X X – – X X X X X X
X X X – – X – – X – X X – X
– X X – X – – – – X X – – X
– X X – X X – – X X X – X –
9.1 Wissen und Handeln
313
Die Tabelle macht deutlich, dass sich v. a. textfinale Forderungen und Empfehlungen als bestimmendes Element der ÖKO-TRS ausmachen lassen. Sie zeigt aber auch, dass es sich bei der Feststellung eines globalen Handlungscharakters der ÖKO-TRS um eine analytische Abstraktion handelt, für die nicht alle Texte gleichermaßen stellvertretend sind.
9.1.2 Die Kontaktsituation von Orator und Leserin Auch im Falle von ÖKO erweist sich der dominierende Handlungscharakter der TRS in besonderer Weise als prägend für die Kontakt- bzw. Begegnungssituation von Orator und Leserin in der Äußerungswelt der TRS. Dies betrifft hier insbesondere die Sichtbarkeit des Orators innerhalb der Weltenarchitektur, die Involvierung von Orator und Leserin in die Strukturen der Weltenarchitektur und die ‚Enge‘ der resultierenden Weltenarchitektur. In der Gesamtsicht ergibt sich dadurch das Bild einer Unmittelbarkeit von dargestellten Sachverhalten, geforderten Maßnahmen und aktuellem Interaktionsgeschehen, die eine emotive Perspektivierung der Weltenarchitektur mit sich bringt und einen gewissen Handlungsdruck aufbaut. Die Sichtbarkeit des Orators Im Hinblick auf die Kontaktsituation von Orator und Leserin fällt zunächst die Präsenz bzw. Sichtbarkeit von ÖKO als Orator beim Ableiten von Forderungen auf, etwa durch Selbstreferenzierungen in der dritten Person: (05) Aus Sicht von PAN gibt es ausreichend Evidenz, dass über das nun von der EU Kommission geforderte befristete Verbot von Clothianidin, Imidacloprid und Thiamethoxam hinaus, Neonikotinoide zukünftig generell und dauerhaft verboten werden sollen (PAN 2013)
In (05) expliziert ÖKO im Rahmen des Meso-Handlungsmusters FORDERUNG ABLEITEN einen normativen argumentativen Schluss. Der daraus rekonstruierbare Weltenaufbau ist in Abbildung 9.3 wiedergegeben. Die Konstruktion aus Sicht von platziert zunächst den Orator (PAN) innerhalb der TW und drückt eine eingenommene Perspektive des Orators als TW-Akteur auf die TW-Strukturen aus (in Abbildung 9.3 dargestellt durch das stilisierte Auge innerhalb der TW). Die entsprechenden TW-Strukturen werden in syntaktischer Hinsicht zunächst durch die Verbalphrase (VP) es gibt ausreichend Evidenz [dafür], dass realisiert. Hierbei werden propositionale TW-Strukturen als Evidenz für etwas bezeichnet, was bedeutet, dass sie einen entsprechenden Slot in einem übergeordneten Frame besetzen können. Einen klaren Hinweis auf diesen Frame liefert der Nebensatz, indem das Modalverb sollen zum Aufbau einer FW in deontischer Welt-Welt-
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Abbildung 9.3: TWT-Rekonstruktion der Weltenarchitektur in (05).
Relation führt (FW2), die durch den Frame VERBOT strukturiert ist. Dementsprechend kann das in der TW konstruierte wissenschaftliche Wissen, laut Orator, den Slot ANLASS im Frame VERBOT besetzen. Der Vollständigkeit halber ist in Abbildung 9.3 auch die Konstruktion einer FW in epistemischer Welt-Welt-Relation angegeben (FW1). Wie bereits für (01) oben festgestellt, stellt sich auch in (05) die Konstruktion von FWs in deontischer Welt-Welt-Relation als Folge einer Positionierung zu einem bestimmten als wissenschaftliches Wissen perspektivierten TW-Bereich als Charakteristikum des FORDERUNGEN ABLEITEN-Musters dar. Dabei zeigt sich in der Analyse von (05) ein weiterer Aspekt, der für den Handlungscharakter der ÖKO-TRS als kennzeichnend gelten kann: Eine weitestgehende Kongruenz von ÄW und TW. Diese zeigt sich in (05) zum einen darin, dass ÖKO als Akteur sowohl der ÄW als auch der TW in Erscheinung tritt. Darüber hinaus ist zudem die Perspektive, die PAN als TW-Akteur auf die TW-Strukturen einnimmt, identisch mit der Perspektive, die PAN als ÄW-Akteur auf die TW-Strukturen einnimmt (in Abbildung 9.3 jeweils durch die stilisierten Augen dargestellt). Ein weiterer Hinweis auf die Korrelation von ÄW und TW ist das temporaldeiktische Adverb nun, dass eine Übereinstimmung der temporalen Setting-Parameter von ÄW und TW signalisiert (s. u.). Ganz ähnlich zeigt sich diese Form der Perspektivierung auch in (06). Erneut tritt ÖKO als TW-Akteur in Erscheinung und expliziert seine Perspektive auf TWStrukturen und geforderte Maßnahmen, wobei Kongruenzen von ÄW und TW entstehen. (06) Nach Ansicht von Greenpeace sprechen die ermittelten Fakten dafür, den Einsatz einer Reihe bienenschädlicher Pestizide, darunter der Neonicotinoide, vernünftigerweise vollständig einzustellen. (Greenpeace 2013b)
9.1 Wissen und Handeln
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Weitere Selbstreferenzierungen von ÖKO finden sich etwa in den in Abbildung 9.2 dargestellten textfinalen Forderungs-Segmenten (z. B. Greenpeace fordert). Der Orator wird dabei v. a. zum Textende, d. h. an einer exponierten Stelle des Textverstehens, deutlich sichtbar, was durch die typografische und Layout-bezogene Gestaltung hervorgehoben wird. Da ÖKO hier sowohl als ÄW-Akteur wie auch als TW-Akteur in Erscheinung tritt, wird die Positionierung von ÖKO gegenüber den Strukturen der TW für die Rezipientin klar ersichtlich. Anders ausgedrückt: Der Orator gibt der Leserin deutlich zu verstehen, ‚wo er steht‘. In diesem Sinne kann dies als Ausdruck von Nachdrücklichkeit verstanden werden. Performative Verben und die Kongruenz von ÄW und TW Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es in den oben genannten Fällen der Selbstreferenzierung zu einer Übereinstimmung von ÄW und TW kommt. Noch stärker zeigt sich dieser Effekt dann, wenn fordern als performatives Verb eingesetzt wird, wie dies bspw. in einigen der oben in Abbildung 9.2 realisierten textfinalen Segmenten sowie in (07) und (08) der Fall ist: (07) Greenpeace fordert folgende Maßnahmen, um das Bienensterben aufzuhalten und die Zukunft einer nachhaltigen, auf gesunde Bestäuber dringend angewiesenen Landwirtschaft zu sichern: [...] (Greenpeace 2014a) (08) Der BUND fordert: [...]. (BUND 2015b)
Erneut tritt ÖKO durch die Selbstreferenzierung in der dritten Person sowohl als Orator als auch als TW-Akteur deutlich zu Vorschein. Noch stärker als in (05) und (06) kommt es hier jedoch zu einer nahezu vollständigen Kongruenz der ÄW- und TW-Strukturen: Die propositionalen Vordergrundstruktur der TW (die durch den Frame FORDERN strukturierte FAP) entspricht der – ebenfalls propositional aufgefassten – Vordergrundstruktur der ÄW (der mentalen Repräsentation des Handlungsmustern FORDERN). Auch die wesentlichen Setting-Parameter Zeit und Ort decken sich in solchen Fällen weitestgehend – es existiert somit quasi keine spatio-temporale Distanz von ÄW und TW. Abbildung 9.4 stellt eine schematische Darstellung der Weltenarchitektur in Fällen von explizit-performativen Verwendungen des Verbs fordern innerhalb der ÖKO-TRs dar. Der gestrichelte Kasten in der Abbildung soll verdeutlichen, dass es aufgrund der (fast) vollständigen Kongruenz der propositionalen Strukturen in solchen Fällen zu einer Art ‚Verschmelzung‘ von ÄW und TW kommt. Dadurch werden sowohl die epistemischen Strukturen der TW als auch der FWs innerhalb der Weltenarchitektur in eine konzeptuelle Nähe zur Leserin gebracht. Die von ÖKO dargestellte TW ist die Welt von Orator und Leserin (also die ÄW). Orator und Leserin werden somit gleichsam in das Geschehen der TW involviert.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Abbildung 9.4: Schematische Weltenrekonstruktion im Falle der Verwendung des explizit performativen Verbs fordern.
Dringlichkeit – Die spatio-temporale Nähe der FWs Nicht nur ÄW und TW werden beim FORDERUNG ABLEITEN innerhalb der Weltenarchitektur der ÖKO-TRS in (maximale) Nähe zueinander gerückt. Auch die propositionalen Strukturen der FWs in deontischer Welt-Welt-Relation weisen eine spatio-temporale Nähe zu ÄW und TW auf. Dies zeigt sich vor allem an der Verwendung des Adverbs dringend im Rahmen entsprechender FORDERUNGEN. (09) Damit der Schutz der grundlegenden Ökosystemdienstleistung der Bestäubung gewährleistet ist, müssen dringend Maßnahmen ergriffen werden. (Greenpeace 2013b) (10) Bienensterben und Insektizide – Verbote dringend erforderlich. Pestizideinsatz bedroht Bienen und Landwirtschaft. (Greenpeace 2013a) (11) Der Bericht beschreibt die Beeinträchtigung wesentlicher Ökosystemdienstleistungen und betont, wie dringend die Bestimmungen verschärft werden müssen, die den Einsatz von Pestiziden beschränken sollen. (Greenpeace 2015)
Das Adverb dringend signalisiert in (09)–(11) eine Kopplung deiktischer Parameter der ‚deontischen‘ FWs an die deiktischen Parameter der ÄW. Die in der FW konzeptualisierten geforderten Maßnahmen müssen aus Sicht von ÖKO ‚möglichst bald‘ – also möglichst in geringer temporaler Distanz zur ÄW – realisiert werden (siehe Abbildung 9.5). Alle drei Welten (ÄW, TW und FW) werden somit bezüglich ihrer zeitlichen Parameter (bzw. ihrer spatio-temporalen Distanz) eng zusammengeführt. Gleiches gilt für die deiktische Formulierung dafür ist es nun höchste Zeit in (12) sowie die Adverbien jetzt, zügig in (12) und sofort in (13). Durch den Superlativ höchste wird in (12) zudem deutlich INTENSITÄT ausgedrückt. (12) Auch Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt hat sich anlässlich der internationalen Bienenkonferenz Ende März 2017 in Berlin für den Schutz der Biene ausgesprochen. Geeignete Maßnahmen hat die Bundesregierung jedoch nicht ergriffen. Dafür ist es nun höchste Zeit. Die Bundesregierung muss jetzt einen nationalen Bienenaktionsplan entwickeln und zügig umsetzen. (BUND 2017)
9.1 Wissen und Handeln
317
(13) Kurz und mittelfristig liegen spezielle Probleme vor, die die Gesellschaft sofort in Angriff nehmen kann, um die globale Bestäubergesundheit zu stabilisieren. (Greenpeace 2013b)
Abbildung 9.5: Rekonstruierte Weltenarchitektur für (09).
Die so erfolgende Koppelung der deiktischen Parameter der FWs an die ÄW beruht in allen diskutierten Fällen auf dem deontischen Zwang, der von dem in der TW etablierten Frame UMWELTSCHUTZ auf die propositionalen Strukturen der ÄW ausgeht und zu dem sich der Orator klar erkennbar affirmierend positioniert. Diese Art der Affirmation von geforderter spatio-temporaler NÄHE und der INTENSITÄT des deontischen Zwangs entspricht dem Ausdruck von Dringlichkeit. Die Konzeptualisierung der gesamten Weltenarchitektur gewinnt somit durch die darin eingewobene Konzeptualisierung von NÄHE und INTENSITÄT ein gesteigertes emotives Potential. Dies wirkt umso stärker, da wesentliche epistemische Strukturen der TW – die wie gesehen mit der ÄW verschmilzt – selbst stark emotiv perspektiviert sind (vgl. dazu die Ausführungen in den Kapiteln 8.2 und 8.3). Adressierung und Domäne Die im Rahmen des FORDERUNGEN ABLEITEN-Musters konstruierte Weltenarchitektur ist somit durch eine Kongruenz propositionaler Strukturen und spatiotemporaler NÄHE ebenso gekennzeichnet wie einen starken deontischen Zwang, der die einzelnen Welten eng aneinanderkoppelt. Obwohl die Leserin auf diese Weise durchaus stark in das Textgeschehen involviert ist, kann sie gleichsam nicht als die eigentliche primäre Adressatin der zentralen Handlung des FORDERNs gelten, da sie nicht die unmittelbare Instanz zur Umsetzung der geforderten Handlungen und politischen Entscheidungen ist. Wie Beispiel (14) zeigt, adressieren die Forderungen eine bestimmte Akteursgruppe der Gestaltungsöffentlichkeit (hier: Politik und Anbieter). Gleichzeitig geht die Gruppe der durch den Text adressierten Rezipientinnen über diese Gruppe offensichtlich hinaus.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
(14) Greenpeace fordert Politik und Anbieter zum Handeln auf: für Bienen gefährliche Gifte haben in Kleingärten nichts zu suchen. (Greenpeace 2013a)
Für die Adressierung und die Beteiligung der Leserin wirft dies mehrere mögliche Konsequenzen auf: Zum einen kann die Leserin als handlungsmächtiger Souverän nur dann mit-adressiert werden, wenn sie als Bürgerin eines demokratischen Staates adressiert ist. Darüber hinaus jedoch ist sie als nicht-unmittelbare Adressatin gewissermaßen dennoch unmittelbar Beiwohnende eines – wohl politischrepräsentativen – Forderungsaktes an politische Entscheidungsträgerinnen. Die Enge der Weltenarchitektur und die Involvierung der Leserin unterstellt, dass sie sich – wenn sie nicht explizit widerspricht – dem von ÖKO geäußerten Apell als Kollaborateurin anschließt. Die Feststellung, dass die Leserin letzten Endes nicht die primäre Adressatin der durch die TRS realisierten Handlung des FORDERNS ist, legt auch nahe, dass die Leserin hier auf eine ganz andere Weise vom Orator mit dem im CG etablierten wissenschaftlichen Wissen in ‚Kontakt‘ gebracht wird, als dies bei AGRAR der Fall ist. Während dort die gesamte im Rahmen der AUFKLÄREN-Handlung erfolgte Weltenkonstruktion darauf abzielt, die Leserin ‚zum Wissen zu führen‘, wird dieses Wissen der Leserin innerhalb der ÖKO-TRS klar funktional als Beweis innerhalb eines politischen Arguments vor Augen geführt, um zu (von vornherein als geteilt unterstellten) politischen Forderungen zu gelangen. Wie in Kapitel 6.4.2 bereits angemerkt, kann gerade das FORDERN als vielleicht eindeutigstes politisches Sprachhandlungsmuster angesehen werden. Das textfinale FORDERN wirkt sich somit stark auf die Gestaltung der ÄW im Hinblick auf den Aspekt der Domäne aus: Am Ende des Leseprozesses und damit auch des Verstehens- und Weltenaufbauprozesses findet sich die Rezipientin als Leserin in einer ÄW, die klar der Domäne Politik zugeordnet werden kann. Sie wird sozusagen mit dem Wissen, dass sie durch die Lektüre erhalten hat, in den politischen Raum entlassen.
9.1.3 WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS als politische Angelegenheit Das dominante Handlungsmuster FORDERUNGEN ABLEITEN stellt, wie gesehen, eine (spezifische) Verknüpfung her zwischen der Konstruktion von wissenschaftlichem Wissen im CG und einer eng damit verbundenen bzw. daraus resultierenden politisch-agitatorischen Konzeptualisierung des Interaktionskontextes – also sowohl der ÄW als auch des Verhältnisses von ÄW und TW. Die bisherigen Ausführungen zeigen auf, wie dies als Konstruktion der Weltenarchitektur beschrieben werden kann. Ein weiterer Aspekt der ÖKO-TRS, der sich in kohärenter Weise in dieses
9.1 Wissen und Handeln
Schema einfügt, betrifft die spezifische Art der Konzeptualisierung des Frames SENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS im Rahmen der TRS.
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WIS-
Wissenschaftliche Erkenntnis als komplexer Frame Unter WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS verstehe ich dabei einen komplexen Frame, der sich v. a. aus der Verbindung der beiden Frames WISSENSCHAFT (Matrixframe INSTITUTION) und WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK (Matrixframe HANDLUNG) ableitet (zu Matrixframes vgl. Konerding 1993: 341–348; 425–431). WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS kann dabei gleichsam als Frame-Element (FE) RESULTAT/ZIEL von WISSENSCHAFTLICHEN PRAKTIKEN und als FE ZWECK der Institution WISSENSCHAFT begriffen werden. Abbildung 9.6 stellt den Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS dar, wie er anhand der Korpustexte annotationsbasiert rekonstruiert werden kann. Die beiden Kästen repräsentieren die Matrixframes WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK und WISSENSCHAFT aus deren konzeptueller Verbindung das Frame-Netzwerk WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS resultiert. Der gestrichelte Kasten repräsentiert den Kernbereich des Frame-Netzes, also die Produktion von wissenschaftlichen Fachwissen als Resultat WISSENSCHAFTLICHER PRAKTIKEN sowie als Ziel der Institution WISSENSCHAFT. Die Abbildung illustriert auch, dass bestimmte Filler (in der Abbildung in normaler Schrift) Slots (in der Abbildung in Kapitälchen) in beiden Matrixframes besetzten,, wodurch das Netzwerk eng ineinandergreift.
Abbildung 9.6: Das Frame-Netzwerk WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS.
Die in Abbildung 9.6 dargestellte Netzwerkstruktur ist aus dem gesamten Korpus rekonstruiert. Sie beruht also ebenso auf ÖKO- wie auf AGRAR-Texten. Spezifisch für die jeweilige TRS ist jedoch, wie welche Frame-Elemente auf welche Weise konzeptualisiert werden. Die Unterschiede der jeweiligen Konzeptualisierungsweise können als das jeweils spezifische ERKENNTNIS-Framing im Rahmen der TRS bezeichnet werden.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Lineare Integration von ERKENNTNIS in politische Entscheidungsprozesse Das ERKENNTNIS-Framing der ÖKO-TRS zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es einen engen Zusammenhang von WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS und POLITISCHEM HANDELN feststellt. So ist die Konzeptualisierung von WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS im Rahmen des FORDERUNGEN ABLEITEN-Musters unmittelbar mit der Konzeptualisierung von (politischen) Handlungen verknüpft. Dies zeigt sich insbesondere anhand der Mikro-Handlung SCHLUSSFOLGERUNG AUS ERKENNTNISSEN ABLEITEN, bei der sich aus dem durch WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIKEN gewonnenen FACHWISSEN unmittelbar politisch-normative Forderungen gewinnen lassen, wie in den folgenden Beispielen (15)–(18). (15) Die Befunde und ihre mögliche toxikologische Signifikanz für Bienen auf dem Niveau des Individuums sowie des ganzen Volkes unterstreichen nicht nur die Richtigkeit der aktuell verfügten Anwendungsbeschränkungen für drei Neonicotinoide. Sie legen zudem ihre zeitliche Ausdehnung nahe, bis die potentielle Bedeutung von Guttationswasser als eine Wasserressource für Bienen umfassend verstanden und die übrigen von der EFSA identifizierten Unsicherheiten und Datenlücken geschlossen worden sind. (Greenpeace 2013c) (16) Wie dieser Bericht zeigt, gibt es deutliche wissenschaftliche Belege dafür, dass Neonicotinoide und andere Pestizide eine wichtige Ursache für den derzeitigen Bienenrückgang sind. Folglich sollten politische Entscheidungsträger: [...] (Greenpeace 2013b) (17) Die Studienergebnisse und der Blick in die aktuelle wissenschaftliche Literatur lassen den Schluss zu: Die derzeitige gesetzliche Regulierung des Pestizideinsatzes schützt die Bestäuberpopulationen nicht ausreichend. Die EU hat weitaus mehr Möglichkeiten, bienengefährliche Pestizide komplett zu verbieten. (Greenpeace 2014a) (18) Die bisherigen Erkenntnisse lassen den Schluss zu, dass die Zulassungspraxis keine Sicherheit gegen andauernde Schäden bei Bienen und anderen Insekten bietet und damit gravierende ökologische, gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden nicht ausschließen kann. Für Menschen und Umwelt gefährliche Pestizide dürfen keine Zulassung erhalten. (BUND 2016[2010])
Vor allem in den Segmenten (16)–(18) ist der Zusammenhang VON WISSENSCHAFTLIERKENNTNIS (Befunde, deutliche wissenschaftliche Belege, Studienergebnisse, bisherigen Erkenntnisse) und POLITISCHEM HANDELN (Anwendungsbeschränkungen, derzeitige gesetzliche Regulierung, Zulassungspraxis) als eine auf einer gewissen Logik beruhenden Schlussfolgerung dargestellt (folglich, lassen den Schluss zu). Der so konzeptuell verfestigte Zusammenhang zeigt zweierlei: Zum einen verweist es auf eine Art der Zwangsläufigkeit oder zumindest Notwendigkeit, mit der politische Handlungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen zu folgen haben. Zum anderen zeigt der Verweis auf eine Art von Logik eine übergreifende Zusammengehörigkeit von WISSENSCHAFTLICHEM FACHWISSEN (als RESULTAT von ERKENNTNIS) und POLITISCHEM HANDELN relativ zu einem normativ-geordneten Wissenssystem, CHER
9.1 Wissen und Handeln
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innerhalb dessen die entsprechenden Zusammenhänge ‚logisch‘ herstellbar sind. Erkenntnis und Handeln stehen innerhalb der TW also in einem unmittelbaren epistemischen Zusammenhang zueinander. (19) Angesichts dieser Feststellungen wäre es unverantwortlich, diese Chemikalien weiterhin einzusetzen. Die bereits mit einem Teilverbot belegten drei Neonicotinoide Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam müssen vollständig verboten werden. (Greenpeace 2017)
Segment (19) zeigt, dass die Generierung von WISSENSCHAFTLICHEM FACHWISSEN mit einer Verantwortung bzw. Verantwortlichkeit für POLITISCHES HANDELN einhergeht (wäre es unverantwortlich). Der Aufbau einer epistemischen FW (die mögliche Welt, in der Neonicotinoide weiter eingesetzt werden), die moralisch evaluiert wird, sowie einer deontischen FW (die geforderte Welt, in der Neonicotinoide verboten werden) verweisen auf einen nicht explizierten normativen HintergrundFrame UMWELTSCHUTZ, der offenbar in einer engen konzeptuellen Verbindung mit WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS steht (siehe Abbildung 9.1, oben). WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS erscheint somit innerhalb der ÖKO-TRS als klar in ein normatives Wertesystem integriert. Während die Verknüpfung in den obigen Beispielen daraus resultiert, dass FWs in deontischer Welt-Welt-Relation aufgebaut werden, die als ‚logische‘ Resultate aus Wissenskonstruktionen bzw. ERKENNTNIS-Konzeptualisierungen erscheinen, kann sich die enge Verknüpfung von WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS und POLITISCHEM HANDELN bei ÖKO auch anhand der Konzeptualisierung des FEs MOTIVATION von WISSENSCHAFTLICHEN PRAKTIKEN zeigen. In den Textsegmenten (20) und (21) geschieht dies in Form eines Nebensatzes, der syntaktisch als Finaladverbiale fungiert. (20) Bienenschädliche Pestizide können in einer Liste zusammengefasst werden, damit angesichts ihrer potenziellen unmittelbaren Risiken für die Bestäubergesundheit gezieltes Handeln möglich ist. Auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Daten hat Greenpeace sieben wichtige Insektizide identifiziert, deren Einsatz eingeschränkt werden muss und die aus der Umwelt zu verbannen sind, damit Bienen und andere Bestäuber nicht mehr damit belastet werden. (Greenpeace 2013b) (21) Diese Überprüfung dient dazu, die seit dem Jahr 2013 in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlichten Untersuchungen über die Auswirkungen neonicotinoider Pestizide auf Nichtzielorganismen zusammenzutragen und zusammenzufassen mit dem Ziel, Entscheidungsfindungen in Kenntnis der Sachlage zu erleichtern. (Greenpeace 2017)
Beide Nebensätze indizieren den Aufbau von FWs in volitiver Welt-Welt-Relation zu einer TW, in der eine WISSENSCHAFTLICHE PRAKTIK konzeptualisiert wird. Der Aufbau der FW dient dabei der Konzeptualisierung der MOTIVATION der WISSEN-
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
PRAKTIK. In beiden Fällen beinhaltet die jeweilige FW klar eine Konzeptualisierung politischen Handelns (siehe Abbildung 9.7). Politisches Handeln wird in diesen Fällen über das FE MOTIVATION in den Frame WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS integriert.
SCHAFTLICHEN
TW Hintergrund-Frame: WISS. ERKENNTNIS __________________ WISS. PRAKTIK (Überprüfung, zusammentragen, zusammenfassen) volitive Welt-Welt-Relation
MOTIVATION FW
FW Entscheidungsfindungen werden erleichtert
Abbildung 9.7: Rekonstruierte Weltenarchitektur für (21)92.
In diesen Fällen ist WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS quasi durch das politische Handeln ‚gerahmt‘: Erkenntnis-Praktiken entstehen aus der Notwendigkeit zu Handeln und führen konsequenterweise auch zu politischem Handeln als ‚logischem‘ Schluss. In dieser Hinsicht ist WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS bei ÖKO gewissermaßen als Bestandteil eines linearen Prozesses konzeptualisiert. Die MOTIVATION von Forschung liegt in der (womöglichen) Notwendigkeit politischen Handelns begründet, und Forschung mündet in Maßnahmen als KONSEQUENZ von WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS. In ähnlicher Weise zeigt sich die MOTIVATION für ERKENNTNIS auch in Textsegment (22): (22) Seit diesem Teilverbot und den Schlussfolgerungen der EFSA zeigt die wissenschaftliche Gemeinschaft, getrieben von der Besorgnis der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger, ein noch stärkeres Interesse an den Ursachen, die hinter der Bestäuberkrise stecken; besondere Berücksichtigung finden hierbei die Auswirkungen bestimmter Pestizide. (Greenpeace 2017)
Die propositionale Struktur der FAP (bzw. ein Ausschnitt dieser Struktur) wurde hier im Frame-Format dargestellt, um den Aufbau einer Frame-Struktur durch die Weltenkonstruktion zu illustrieren. Tatsächlich ließe sich die entsprechende Frame-Struktur von WISSENSCHAFTLICHER PRAKTIK in Abbildung 9.7 auch auf die Hintergrund-Ebene der TW übertragen und dort in die Struktur von WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS integrieren.
9.1 Wissen und Handeln
323
In (22) wird die MOTIVATION zur Forschung an eine Situationsbewertung durch politische Akteure (Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger) gekoppelt. Dass diese Bewertung ein klar erkennbares emotives Potential hat (Besorgnis), lässt den Zusammenhang mit Handlungen noch stärker hervortreten. In Textsegment (23) lässt die Kohärenz in der textuellen Abfolge der Sätze darauf schließen, dass die im ersten Satz konzeptualisierte Besorgnis selbst als MOTIVATION für die im zweiten Satz konzeptualisierten WISSENSCHAFTLICHEN PRAKTIKEN (zahlreiche Forschungsarbeiten) fungiert. Erneut handelt es sich bei dieser Sorge um eine emotive Situationsbewertung. (23) Parallel zum steigenden Einsatz dieser Chemikalien ist auch die Sorge über ihre möglichen Auswirkungen auf Bestäuber, insbesondere Honigbienen und Hummeln, gewachsen. (Es entstanden zahlreiche Forschungsarbeiten sowie Berichte der UNEP und – erst kürzlich – der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit [EFSA].) (Greenpeace 2013b)
Ein besorgniserregendes Bild – WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS als emotive Situationsbewertung In diesem Zusammenhang lässt sich auf ein weiteres Charakteristikum der ERKENNTNIS-Konzeptualisierung bei ÖKO hinweisen: Das damit einhergehende gesteigerte emotive Potential. Dieser Aspekt ist eng mit den Meso-Handlungsmustern NOTSTAND VERDEUTLICHEN und MISSSTAND ANPRANGERN verbunden. Beide Handlungsmuster spielen für die ÖKO-TRS eine entscheidende Rolle. NOTSTAND VERDEUTLICHEN und MISSSTAND ANPRANGERN finden sich im Korpus in 9 von 13 ÖKO-Texten textinitial, also als Bestandteil der unmittelbaren Einleitung. In solchen Fällen können die in den Texten vorgenommen Konstitutionen wissenschaftlichen Wissens und die entsprechenden Konzeptualisierungen WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS in textueller Hinsicht als Reaktionen auf den initial konzeptualisierten Notstand angesehen werden. Nimmt man die textfinalen FORDERUNGEN hinzu, kann man hier auch auf der Textebene von einer handlungsbezogenen Rahmung WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS sprechen. (24) Um es auf den Punkt zu bringen: Der Bestand an Bienen und anderen Bestäubern scheint weltweit zurückzugehen. Das betrifft sowohl wilde als auch von Imkern gehaltene Arten, insbesondere in Nordamerika und Europa. Das Fehlen zuverlässiger regionaler und internationaler Programme zur Überwachung des derzeitigen Zustands und der Entwicklung von Bestäubern hat zur Folge, dass hinsichtlich des Ausmaßes dieses Rückgangs große Unsicherheit herrscht. Die bereits erfassten Verluste sind jedoch besorgniserregend. In den vergangenen Wintern lag die Sterberate bei Honigbienenvölkern in Europa im Durchschnitt bei etwa 20 Prozent (wobei die Zahlen der einzelnen europäischen Länder zwischen 1,8 Prozent und 53 Prozent stark variieren). (Greenpeace 2013b; Fettdruck im Original)
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(25) Empfindlicher noch als Honigbienen sind die Wildbienen. Der anhaltende Schwund bei den Arten und den Individuenzahlen ist dramatisch. Von den über 550 in Deutschland beheimateten Wildbienenarten sind laut Roter Liste mittlerweile 197 Arten gefährdet, 31 vom Aussterben bedroht und 42 Arten stehen auf der Vorwarnliste. Auch in anderen europäischen Ländern sieht es nicht besser aus: Erstmals wurde 2014 die europaweite Situation der Wildbienenarten durch die Weltnaturschutzunion untersucht – mit alarmierendem Ergebnis. Fast jede zehnte Wildbienenart ist in Europa vom Aussterben bedroht.2 (BUND 2017) (26) Bestäuber – dazu zählen Wild- und Honigbienen, aber auch viele andere Insekten – spielen für die Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion eine entscheidende Rolle. Drei Viertel der weltweit gehandelten Nutzpflanzen hängen mehr oder weniger von der Bestäubung durch Insekten ab. Doch diese so wichtigen Blütenbesucher schweben in höchster Gefahr. So verzeichnen einige Wildhummelarten dramatische Rückgänge und sind gebietsweise oder weltweit bereits ausgestorben. Die für andere Bestäuber verfügbaren Daten zeichnen ein ähnlich besorgniserregendes Bild. (Greenpeace 2017)
Betrachtet man die Textsegmente (24)–(26), kann man erkennen, dass WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS für die Handlungsmuster NOTSTAND VEDEUTLICHEN und MISSSTAND ANPRANGERN in mehreren Hinsichten eine Rolle spielt. Zum einen dienen WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE offensichtlich dazu, das emotive Potential der Situationsbeschreibung zu stützen bzw. sogar noch zu steigern. Sie verdeutlichen damit also implizit bereits die Handlungsnotwendigkeit angesichts dieser Situation. So zeigt sich in den Textsegmenten (24)–(26) das durch die Verwendung von Emotionsvokabular (Anlass zur Besorgnis, erschreckend, besorgniserregend, dramatisch, alarmierend, in höchster Gefahr) ausgedrückte emotive Potential der Situationsbeschreibung, das v. a. in (25) und (26) als unmittelbares Resultat WISSENSCHAFTLICHER PRAKTIKEN konzeptualisiert ist (mit alarmierendem Ergebnis, Die ... Daten zeichnen ein ... besorgniserregendes Bild). In ähnlicher Weise finden sich emotive Perspektivierungen von Wissen und Erkenntnis in den folgenden Segmenten (27)–(29): (27) Die meisten Wissenschaftler, die zu diesem Thema arbeiten, sind sich jedoch darin einig, dass es hinsichtlich der globalen Bestäubergesundheit drei wichtige Punkte gibt, die Anlass zur Sorge geben: (Greenpeace 2013a) (28) Das Fehlen zuverlässiger regionaler und internationaler Programme zur Überwachung des derzeitigen Zustands und der Entwicklung von Bestäubern hat zur Folge, dass hinsichtlich des Ausmaßes dieses Rückgangs große Unsicherheit herrscht. Die bereits erfassten Verluste sind jedoch besorgniserregend. (Greenpeace 2013b)
Die emotive Komponente von Wissen und Erkenntnis kann auch ausgedrückt werden, indem sie als Eigenschaft wissenschaftlicher Äußerungen gekennzeichnet wird, wie in (29) und (30).
9.1 Wissen und Handeln
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(29) So veröffentlichte die Fachgruppe für Hummeln der Weltnaturschutzunion (IUCN) im Jahr 2013 einen Report (IUCN BBSG 2013), demzufolge von den 68 in Europa lebenden Hummelarten 31 Arten (46 Prozent) zurückgehen. Die Situation der Hummeln in Europa wird in diesem Report als „besorgniserregend“ beschrieben. (Greenpeace 2014b) (30) Seit Mitte der 2000er-Jahre wird jedoch seitens der Wissenschaft die Befürchtung geäußert, dass Neonicotinoide schädliche Auswirkungen auf Nichtzielorganismen, insbesondere Honigbienen und Hummeln, haben. (Greenpeace 2017)
Abbildung 9.8 macht klar, dass in (30) eine argumentativ hochrelevante Proposition in eine FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation integriert ist. Diese besitzt ihren Ausgangspunkt innerhalb der TW in einer FAP, die durch den Frame ÄUßERN strukturiert ist und in der die Wissenschaft personifiziert als Lokutor konzeptualisiert wird. Hierbei wird nicht nur die Institution WISSENSCHAFT als verbündeter Lokutor von ÖKO vereinnahmt (siehe dazu das nächste Kapitel 9.1.4), sondern auch die Äußerung und deren propositionaler Gehalt selbst als Befürchtung emotiv perspektiviert. Verantwortlich für diese Perspektivierung ist in (30) nicht ÖKO als Orator, sondern die Wissenschaft als Lokutor. TW Setting: Mitte der 2000er Jahre - jetzt Entitäten: ‚die Wissenschaft‘ Hintergrund-Frames: WISS. ERKENNTNIS _________________ FAPs: Die Wissenschaft äußert, dass FW
redeinduzierte Welt-Welt-Relation
FW Neonicotinoide haben negative Auswirkungen auf Nichtzielorganismen, insbesondere Honigbienen und Hummeln.
Abbildung 9.8: Rekonstruierte partielle TW-Rekonstruktion für (30).
Auch die Präsentation von Studienergebnissen – also Erkenntnissen aus WISSENSCHAFTLICHEN PRAKTIKEN, die als eigene Propositionen realisiert sind – zeigt an einigen Stellen ein emotives Potential, bspw. durch die emotive Perspektivierung der darin beschriebenen Sachverhalte. In Beispiel (31) zeigt dies etwa die Verwendung der emotiv wertenden Lexem-Konstruktionen Symptome eines Nervengiftes und verendeten. WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNISSE bekommen somit eine emotive Komponente, die als impliziter Verweis auf Handlungsnotwendigkeit verstanden werden kann. (31) In diesen Tröpfchen sind sehr hohe Pestizidkonzentrationen nachweisbar, wenn das Saatgut vorher mit Clothianidin oder Imidacloprid gebeizt wurde. Bienen, die dieses Wasser aufnahmen, zeigten die typischen Symptome eines Nervengiftes, bevor sie verendeten. (BUND 2016[2010])
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Zudem resultiert aus der Situationsbeschreibung durch das NOTSTAND VERDEUTLICHEN-Muster gewissermaßen die Notwendigkeit dafür, die URSACHE FÜR DIE PROBLEMLAGE ZU NENNEN. Hier kommt WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS eine wichtige Funktion zu. Insbesondere liefert sie die Beweise für Aussagen, die Ursachen bzw. ‚Schuldige‘ benennen, wie etwa in Segment (32): (32) Die Hinweise verdichten sich, dass der Einsatz hochwirksamer und bienengefährdender Neonicotinoide eine entscheidende Rolle in dieser katastrophalen Entwicklung spielt. (BUND 2016[2010])
Fazit: Ein politisches ERKENNTNIS-Framing WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS ist innerhalb der ÖKO-TRS sowohl konzeptuell wie textuell von der Notwendigkeit politischen Handelns gerahmt. Sie fungiert als Diagnose von Notlagen, identifiziert Handlungsnotwendigkeiten und klagt Schuldige an, gegen die vorgegangen werden muss. Politische Handlungen werden als logische Schlussfolgerungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen dargestellt. Wissenschaftliche Erkenntnispraktiken erscheinen einer sich aus der textlichen Abfolge ergebenden Logik folgend auch als Reaktionen auf TW-Situationen und deren (emotive) Bewertungen. Begreift man die durch WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS gewährleistete Situationsbewertung – nicht zuletzt aufgrund ihres emotiven Potentials – als handlungsleitend, so kann diese Situationsbewertung zudem als eine Realisierung eines Aspektes des von J. Klein (2014b: 310) bezeichneten universellen topischen Musters politischer Argumentation und damit als typisch politisches Sprachhandeln aufgefasst werden. Dasselbe zeigt sich auch in (33), wo das Neonicotinoid-Verbot selbst das vorhergehende TW-Ereignis darstellt: (33) Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, hat Greenpeace Guttationswasser von unter normalen Feldbedingungen angebauten Maispflanzen in Ungarn untersucht. (Greenpeace 2013c)
Gerade die Konstruktion auf die Spur kommen rückt wissenschaftliche Erkenntnisprozesse stark in die Nähe kriminalistisch-investigativer Kontexte. Die Textfunktion von Greenpeace 2013c (ÜBER STUDIENERGEBNISSE INFORMIEREN) wird somit in einen forensischen Kontext eingeordnet.
9.1.4 Mit der Stimme der Wissenschaft Wie auch bei AGRAR, treten in den ÖKO-Texten neben ÖKO weitere Lokutoren in Erscheinung, die bspw. verantwortlich für die Konstruktion von FWs in redeinduzierter Relation zur TW sind. Allerdings zeigen sich hier deutliche Unterschiede
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zur AGRAR-TRS. In erster Linie finden sich bei ÖKO kaum vergleichbare Hinweise auf die wiederkehrende Konzeptualisierung einer öffentlichen Debatte als Teil der TW-Konstruktion (siehe Kapitel 8.1.2 und 8.1.3). Die klarsten Konzeptualisierungen auf der TW-Ebene finden sich in den beiden Pestizidbriefen des PAN. (34) Der Druck auf die Kommission ist groß, vor allem von Seiten der Pestizidhersteller, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirtschaft und Arbeitsplätze gefährdet sehen und unterstellen, dem Vorschlag der Kommission fehle die wissenschaftliche Basis. Syngenta bezeichnet den Vorschlag als unangemessen und politisch motiviert; Bayer CropScience kritisiert die „allzu konservative Auslegung des Vorsorgeprinzips durch die EUKommission“. (PAN 2013) (35) Die EU hat 2013 für drei Insektizide aus der Klasse der Neonikotinoide, Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam, sowie für das Insektizid Fipronil – ein Phenylpyrazol – ein zweijähriges Anwendungs-Moratorium erlassen. Es wird von den Herstellern als wissenschaftlich unbegründet kritisiert und juristisch angefochten. (PAN 2014) (36) Bayer CropScience betont zudem, dass die Schadensersatzzahlungen keineswegs ein Schuldeingeständnis seien. Der Fehler liege viel mehr bei „fehlerhaft behandelten MaisSaatgutpartien“. (BUND 2016[2010])
Während in (34) und (35) opponierende Debattenakteure (Pestizidhersteller, Bayer, Syngenta, den Herstellern) durchaus als Sprachhandelnde (unterstellen, bezeichnet ... als, kritisiert, wird ... kritisiert) in der TW erscheinen, finden sich in den übrigen ÖKO-Texten gerade im Vergleich zu den unter 8.1.3 beschriebenen Phänomenen bei AGRAR kaum Hinweise auf implizite Konzeptualisierungen von Debatte und Debattenakteuren. Ebenfalls finden sich mit Ausnahme von (36) keine Hinweise auf die Problematisierung von Debattenaussagen. Während die Konzeptualisierung der öffentlichen Debatte inklusive entsprechender Aussagen und Lokutoren damit im Rahmen der ÖKO-TRS weitestgehend ausbleibt, bezieht sich die Repräsentation weiterer Lokutoren vor allem auf Wissenschaftlerinnen bzw. deren Studien, die in personalisierter Form als Sprecher in Erscheinung treten. Dabei können bspw. Texte, Wissenschaftlerinnen als Textautorinnen oder Institutionen bzw. deren Texte als Lokutoren fungieren. Ich möchte im Folgenden anhand zweier Aspekte aufzeigen, wie die Etablierung wissenschaftlicher Lokutoren in der ÖKO-TRS in erster Linie darauf abzielt zu demonstrieren, dass ÖKO hier sozusagen im Wortsinne ‚mit der Stimme der Wissenschaft spricht‘. Lokutoren-backing Als erstes möchte ich hierzu das von mir so benannte Lokutoren-backing herausgreifen. Mit dieser Bezeichnung beziehe ich mich auf ein sequenzielles Muster, bei dem ÖKO TW-Akteure als Lokutoren ins Feld führt, um sie als Gewährleister der
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
eigenen Position zu präsentieren. Dabei führt zunächst der Orator als verantwortlicher Lokutor eine Proposition P in den CG bzw. die TW ein. Im Anschluss daran wird ein TW-Akteur als Lokutor konzeptualisiert, der diese Proposition stützt, indem er eine Proposition P‘ im Rahmen einer FW einführt (siehe Abbildung 9.9). Die vom TW-Akteur eingeführte Proposition P‘ entspricht dabei entweder P oder kann als Beleg für P verstanden werden. Die Sprachhandlungsstruktur der ÄW, durch die P und der Äußerungsakt des weiteren Lokutors in die Weltenarchitektur eingeführt werden, kann dabei variieren. ÄW Akteure: Leserin, Orator _________________________ Sprachhandlungsstruktur:
TW Akteure: Text/Wissenschaftlerin/Institution ________________________________________________ FAP:
z.B. ÜBER X INFORMIEREN
(1) P
z.B. AUSSAGE ZITIEREN
(2) Text/Wissenschaftlerin/Institution sagt, dass FW
FW P‘
Abbildung 9.9: Schema der Weltenarchitektur des Lokutoren backing-Musters.
Diese Art der Einführung weiterer Lokutoren in die TW kann zum einen auf der Ebene von Teiltexten beobachtet werden, wie die Segmente (37)–(39) illustrieren. Das Zitieren wissenschaftlicher Erkenntnisse kann dabei durch verschiedene Arten der intertextuellen Bezugnahme erfolgen, etwa durch Konstruktionen wie laut X oder nach Angaben von X oder durch direkte Zitate. In allen Fällen erfolgt jedoch eine Weltenkonstruktion nach dem in Abbildung 9.9 angegebenen Schema. (37) Empfindlicher noch als Honigbienen sind die Wildbienen. Der anhaltende Schwund bei den Arten und den Individuenzahlen ist dramatisch. Von den über 550 in Deutschland beheimateten Wildbienenarten sind laut Roter Liste mittlerweile 197 Arten gefährdet, 31 vom Aussterben bedroht und 42 Arten stehen auf der Vorwarnliste. (BUND 2017) (38) Für die Landwirtschaft sind Bienen von großer Bedeutung: Sie bestäuben viele Kulturpflanzen wie Obstbäume und Gemüsesorten und tragen so erheblich zum Ernteerfolg bei. 35 % der weltweiten Nahrungsmittelproduktion hängen nach Angaben der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) von Bestäubern ab. (BUND 2016[2010]) (39) Von Bienen gesammelter Pollen kann hohe Mengen verschiedenster Pestizidrückstände aufweisen. Pollen ist die Haupteiweißquelle der Honigbienen und spielt für die Ernährung der Biene und die Gesundheit des Volkes eine entscheidende Rolle. Angesichts der vielen verschiedenen Pestizidrückstände, die in der Umgebung von Bienen gleichzeitig vorkommen, scheinen Interaktionen zwischen verschiedenen Pestiziden durchaus möglich. Eine Studie kam zu folgendem Schluss: „Die Ernährung mit Pollen, der durchschnittlich sieben verschiedene Pestizide enthält, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit Auswirkung auf die Gesundheit der Bienen.“ (Mullin et al., 2010) (Greenpeace 2013b?)
9.1 Wissen und Handeln
329
Außerdem kann das Lokutoren-backing auch auf der Ebene ganzer Texte realisiert sein, wie BUND 2015a zeigt. Der Text präsentiert die Ergebnisse aus verschiedenen Studien, um dadurch die Forderung zu untermauern, dass auch das zu diesem Zeitpunkt von dem Verbot ausgeschlossene Neonicotinoid Thiacloprid verboten gehöre. Die zentrale epistemische These bzw. Proposition wird dabei im zweiten Absatz des Texts eingeführt: (40) Die Geschichte der Chemikalienpolitik und der Regulierung gefährlicher Chemikalien zeigt, dass sich Ersatzstoffe aus derselben Substanzklasse bei weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen häufig als ebenso gefährlich herausgestellt haben. Dies gilt auch für das Thiacloprid. Seit Frühjahr 2014 liegen hierzu zwei Studien vor, die der Neurobiologe Dr. Menzel von der Freien Universität Berlin zusammen mit anderen Wissenschaftlern veröffentlichte [...]. (BUND 2015a)
Die darauffolgende Präsentation der Studien und ihrer Ergebnisse dient ohne Zweifel dazu, diese Proposition ( ... , dass Thiacloprid genauso gefährlich ist, wie die bereits verbotenen Neonicotinoide) zu stützen. Dazu werden mehrfach TW-Akteure als Lokutoren eingeführt, die entsprechende stützende Propositionen äußern: (41) Menzel folgert daraus, dass subletale Dosen der drei untersuchten Neonikotinoide entweder das Kartengedächtnis stören oder es nicht mehr abrufbar machen. (BUND 2015a) (42) Neue wissenschaftliche Ergebnisse legten ebenfalls Wissenschaftler des Bieneninstituts des Landesbetriebes Landwirtschaft Hessen (Fachgebietsleiter Dr. Ralph Büchler, sowie zwei seiner KollegInnen Frau Dr. Brandt und Herr Dr. Siede) vor. Dr. Büchler stellte diese auf dem 88. Kongress deutschsprachiger Imker am 12.09.2014 in Schwäbisch-Gmünd vor. Im Ergebnis reduzierte Thiacloprid die Anzahl der Blutzellen (Hämozyten) sowie die Fettkörper der Bienen. (BUND 2015a)
Das Lokutoren-backing scheint auf den ersten Blick kein Verfahren zu sein, das ÖKOexklusiv ist, sondern ist in ähnlicher Form auch bei AGRAR zu finden. Im Unterschied zu ÖKO findet sich dort die Konzeptualisierung weiterer Lokutoren allerdings in den meisten Fällen im Rahmen einer explizit oder implizit konzeptualisierten TWDebatte. Außerdem werden Propositionen deutlich seltener zuvor vom Orator selbst in die TW eingeführt. Das Charakteristikum der ÖKO-TRS ist es also, weitere, v. a. wissenschaftliche Lokutoren in erster Linie als Gewährsmänner in die TW einzuführen, die – etwas vereinfacht ausgedrückt – ‚dasselbe sagen‘ wie ÖKO. Allianzen und die Vereinnahmung wissenschaftlicher Stimmen Ich habe bereits in Kapitel 9.1.3 anhand von Textsegment (30) darauf hingewiesen, dass ÖKO die Wissenschaft sozusagen als verbündeten Ko-Lokutor inszeniert, der sowohl im Hinblick auf geäußerte Propositionen als auch emotive Bewertungen mit der Position von ÖKO übereinstimmt. In einigen ÖKO-Texten finden sich
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darüber hinaus auch Stellen, an denen ÖKO als Orator sozusagen die Stimme weiterer Lokutoren vereinnahmt. Während mit dem Lokutoren-backing ein analytisch klar fassbares sequenzielles Muster der Weltenkonstruktion beschrieben ist, stellen diese Vereinnahmungen etwas subtilere und heterogene Phänomene mit ähnlichen Effekten dar. Was damit gemeint ist, möchte ich anhand des folgenden Beispiels (43) illustrieren: (43) Die Praxis kritisiert seit langem, dass sich die Stufen für die Bienengefährlichkeit B1 bis B4 ausschließlich auf die akute Toxizität beziehen. Für die Bewertung der Bienengefährlichkeit sind aber auch Aspekte wie die subletalen Effekte, die chronische Exposition, die Vielfalt gleichzeitig einwirkender Pestizide sowie eine mögliche Vorschädigung der Völker zu berücksichtigen; diese werden durch die Kriterien der Bienen-Schutz-Verordnung aber nicht erfasst. Gerade die noch bestehende Zulassung von einigen Neonicotinoiden (wie Thiacloprid) wird von vielen Wissenschaftlern kritisiert [...] (BUND 2015a).
Die durch (43) bedingte Weltenkonstruktion kann wie in Abbildung 9.10 dargestellt rekonstruiert werden. Dabei zeigt sich, dass ÖKO als Orator für die Konstruktion der TW und der deontischen FW unmittelbar verantwortlich ist, während die beiden redeinduzierten FWs jeweils mit der Praxis und viele[n] Wissenschaftler[n] über Sprecher verfügen, die als Akteure der TW repräsentiert sind. Sowohl der Orator als auch die Akteure der TW vollziehen dabei dieselbe Sprachhandlung des KRITISERENS der Zulassungspraxis. Das resultierende Kohärenzgefüge zeigt, dass alle drei Lokutoren in ihren Standpunkten so sehr übereinstimmen, dass beim ersten Lesen gar nicht genau klar ist, ob sich die Konstruktion der deontischen FW nicht gleichsam auf die von der Praxis geäußerte Kritik bezieht. Ebenso kann man dabei übersehen, dass – kontraintuitiv zum Gebrauch von gerade – das Subjekt von kritisieren im letzten Satz eben nichtmehr die Praxis darstellt, sondern die sozusagen entgegensetzte Position der (theoretischen) Wissenschaftler. Alle drei Sprecher scheinen in (43) mit einer Stimme zu sprechen. Der Orator geht somit eine Allianz mit Praxis und Wissenschaft – also zwei wichtigen Akteuren und auch Autoritäten in der Debatte – ein. Einen Hinweis auf eine Vereinnahmung stellt auch das folgende Segment (44) dar: (44) Neonicotinoide werden in der Landwirtschaft und im Gartenbau weiterhin eingesetzt. Das von vielen Imkern beobachtete anhaltende und massive Bienensterben ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch diese Nervengifte mitverursacht. In den vergangenen Jahren sterben Bienen weltweit in nicht gekanntem Ausmaß. In Deutschland gingen im letzten Halbjahr etwa ein Viertel1 bis ein Drittel2 der Bienenvölker verloren. Zeitgleich verschwinden in den betroffenen Regionen Wildbienen, Schmetterlinge und sonstige Nutzinsekten. Das Bienenvolksterben und das Nutzinsektensterben korreliere [sic] mit dem zunehmenden Einsatz von Neonicotinoiden in der Landwirtschaft2, 3 (BUND 2016[2010])
Die Vereinnahmung zeigt sich an dem Stilbruch im letzten Satz von (44). Auf einmal ist hier durch den Konjunktiv korreliere eine indirekte Rede angezeigt, die
9.1 Wissen und Handeln
ÄW Akteure : Orator, Leserin _______________________ Handlungsstruktur ZULASSUNGSVERFAHREN KRITISIEREN
TW Akteure & Entitäten: ‚die Praxis‘, Bienen (Völker), Pestizide, Wissenschaftler Hintergrund-Frames: Regulierung, Zulassung, Bewertung, Bienenschutz ______________________________ FAPs (1) Die Praxis kritisiert, dass FW1 (4) Verordnung erfasst weiteren Aspekte nicht. (5) Viele Wissenschaftler kritisieren, dass FW3
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redeinduzierte FW 1 Akteure & Entitäten: Bienen , Pestizide Hintergrund-Frames: Regulierung, Zulassung ___________________________ FAPs (2) Stufen der Bienengefährlichkeit beziehen sich nur auf akute Toxizität deontische FW 2 Akteure & Entitäten: Bienen , Pestizide Hintergrund-Frames: Regulierung, Zulassung ___________________________ FAPs (3) Bewertung berücksichtigt auch weitere Aspekte redeinduzierte FW 3 Akteure & Entitäten: Bienen , Pestizide Hintergrund-Frames: Regulierung, Zulassung ___________________________ FAPs (6) Einige Neonikotinoide sind immer noch zugelassen.
Abbildung 9.10: Rekonstruierte Weltenkonstruktion für (43).
zudem durch den Intertextualitätsmarker der Fußnote am Satzende unterstützt wird. Dies kann als morphologischer Hinweis auf die Konstruktion einer FW in redeinduzierter Relation zur TW verstanden werden, als deren Lokutor hier ein nicht explizierter wissenschaftlicher TW-Akteur angenommen werden kann (darauf verweist bspw. auch das wissenschaftssprachliche Verb korrelieren). Neben der Konzeptualisierung von Lokutoren als TW-Akteuren werden von ÖKO Wissenschaftlerinnen auch als Ko-Oratoren auf der ÄW-Ebene eingeführt. Als solches Verfahren kann die in Greenpeace 2013b vielfach erfolgende implizite Integration von Zitaten aus der Fachliteratur gewertet werden. Als wissenschaftstypische Textprozedur demonstriert ÖKO hier fachliche Kompetenz. Außerdem finden sich in Greenpeace 2013b direkte Zitate immer wieder typografisch durch Kursivdruck und gespiegelten Satz hervorgehoben (siehe Abbildung 9.11), wobei diese jedoch nicht durch Kohäsionsmittel in den Fließtext integriert sind. Aus Sicht des hier vertretenen TWT-Modells werden an solchen Textstellen recht deutlich wissenschaftliche Lokutoren als Ko-Oratoren auf der ÄW-Ebene eingeführt. Noch deutlicher ist die Allianz mit wissenschaftlichen Lokutoren als KoOratoren auf der Textebene in Greenpeace 2017 zu erkennen, wo ein Teil des Texts explizit ÖKO als Orator zugeschrieben wird (Vorwort von Greenpeace) und ein darauffolgender Teil explizit zwei Wissenschaftlerinnen. Dieser Unterschied der Autorschaft (also der verantwortlichen Oratoren) wird in den jeweiligen Überschriften der Teiltexte klar (auch typografisch) hervorgehoben. Auch in PAN 2014 werden Wissenschaftler von ÖKO als Ko-Oratoren eingeführt. In einem typografisch durch Kursivdruck hervorgehobenen Textsegment, dass dem eigentlichen Haupttext vorgeschaltet ist, tritt PAN als Orator in Erschei-
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Abbildung 9.11: Typografische Hervorhebung direkter Zitate in Greenpeace 2013b.
nung und informiert über die hauptverantwortlichen Oratoren des nachfolgenden Haupttextes: (45) Die Wissenschaftler und Autoren des nachfolgenden Artikels, Peter. P. Hoppe und Anton Safer haben eine von Syngenta finanzierte Studie, wonach von Thiamethoxam-Rückständen in Nektar und Pollen nur ein geringes Risiko für Bienen ausgeht, einer kritischen Betrachtung unterzogen. (PAN 2014)
Ein weiteres illustratives Beispiel dafür, dass ÖKO mit der Stimme der Wissenschaft spricht, zeigt sich in Greenpeace 2014b (siehe Abbildung 9.12, unten). Dort wirft ÖKO als Orator in einer typografisch hervorgehobenen Überschrift die Frage auf: Bienen in Agrarlandschaften: Was sagt die Wissenschaft?93 Interessanterweise treten im nachfolgenden Fließtext, der die Frage beantwortet, keine wis-
Anzumerken ist an dieser Stelle, dass sich weder im Wortlaut der Frage noch im umgebenden Kotext Hinweise auf eine konzeptualisierte Debatte und somit das bei AGRAR beschriebene AUFKLÄREN-Muster finden.
9.1 Wissen und Handeln
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senschaftlichen Akteure als Lokutoren auf der TW-Ebene in Erscheinung. Die im unmittelbar anschließenden Text erfolgende Konzeptualisierung WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS durch die Konstruktion Forschungsarbeiten zeigen führt ebenfalls nicht zum Aufbau einer FW in redeinduzierter Welt-Welt-Relation (siehe hierzu auch Kapitel 7.1). Vielmehr ist es hier scheinbar der Orator selbst, der dazu in der Lage ist ‚für die Wissenschaft zu sprechen‘. Erst im nachfolgenden Absatz finden sich wissenschaftliche Untersuchungen als redeinduzierende TWAkteure im Schema des oben beschriebenen Lokutoren-backings.
Abbildung 9.12: Ausschnitt einer Seite aus Greenpeace 2014b.
Neben dieser Vereinnahmung wissenschaftlicher Stimmen findet sich im in Abbildung 9.12 dargestellten Ausschnitt auch die bereits beschriebene Form der Allianz mit einem wissenschaftlichen Ko-Orator auf der ÄW-Ebene durch das typografisch und gestalterisch klar vom Fließtext abgegrenzte direkte Zitat in der rechten Spalte. Die Rezipientin wird dabei von ÖKO nicht explizit angewiesen, wie sie dieses Zitat in die Weltenarchitektur integrieren soll.
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9.1.5 Trennungen von Wissen und Handeln Trotz des überaus engen Zusammenhanges von wissenschaftlichem Wissen und politischem Handeln, der in der ÖKO-TRS bspw. durch das in 9.1.3 beschriebene politische Framing WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS‘ etabliert wird, zeigt sich auch, dass wissenschaftliches Wissen an mehreren Stellen der TRS gewissermaßen in der Wissenschaft verbleibt und der Leserin weniger stark zugänglich gemacht wird. So finden sich – auf den ersten Blick widersprüchlich zum beschriebenen engen Zusammenhang von Wissenschaftlichem und Politischem – immer wieder auch Trennungen der beiden Domänen Wissenschaft und Politik bei ÖKO. Auf der Ebene der gesamten TRS betrifft dies die beiden Texte BUND 2015a und PAN 2014, die – wie Tabelle 9.1 in Abschnitt 9.1.1 zeigt – das FORDERUNGEN ABLEITEN-Muster nicht analog zu den übrigen Texten repräsentieren. Ich meine jedoch, dass beide Texte trotzdem als Formen des Sprechens mit der Stimme der Wissenschaft und des Signalisierens von Allianzen mit der Wissenschaft aufgefasst werden können, welches sich auf transtextueller Ebene in das FORDERUNGEN ABLEITEN-Muster durchaus einfügt. Interessant ist auch, dass diese untypischen Texte das geringste Maß an gestalterischem Aufwand im Hinblick auf Abbildungen, Satz und Typografie zeigen. Das legt aus meiner Sicht nahe, sie als Zusatz- oder Hintergrundmaterialien der TRS zu betrachten. Eine ähnliche Trennung von Wissenschaft und Politik zeigt sich auf der Ebene von Teiltexten. So sind in den Greenpeace-Reports Greenpeace 2013b, Greenpeace 2014b und Greenpeace 2017 jeweils recht deutlich politische vorangestellte Zusammenfassungen von den bspw. im Hinblick auf die Verwendung von Fachlexemen und intertextuellen wissenschaftlichen Textprozeduren deutlich fachlicheren Haupttexten abgetrennt. Im Falle von Greenpeace 2014a orientiert sich der Hauptteil des Texts in seiner Struktur zunächst recht deutlich an wissenschaftlichen Textsorten. Während unter der Überschrift Einführung mit MISSSTAND ANPRANGERN zwar eine durchaus als politisch zu bewertende Sprachhandlung ausgeführt wird, wird dort ebenfalls eine Forschungslücke identifiziert, was als typisch für den Beginn bzw. die Einleitung von wissenschaftlichen Artikeln angesehen werden kann. Die folgenden drei Abschnitte dienen der Darlegung einer wissenschaftlichen Studie. Dabei wird das Forschungsdesign kurz skizziert (Zusammenfassung), in dessen Kontext sich sogar die einzige bildliche Darstellung eines Forschungsprozesses innerhalb der ÖKO-TRS findet. Im Abschnitt Das Ergebnis werden die Befunde in Form von zwei für Laien eher schwer zugänglichen Tabellen dargestellt. Interessant ist, dass sich unter der Überschrift Diskussion anschließend zunächst eine Einordnung in den Forschungskontext findet, in die auch ein sogenannter caveat – also ein Ungewissheit-markierender Vorbehalt – integriert ist (vgl. Stocking & Hol-
9.1 Wissen und Handeln
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stein 1993: 192), was insgesamt als eine deutlich wissenschaftstypische Textprozedur angesehen werden kann: (46) Im Hinblick auf die geografische Abdeckung und die Probenanzahl ist die GreenpeaceStudie eine der umfassendsten Untersuchungen von durch Bienen gesammeltem Pollen überhaupt. Die Probenahme stellt dennoch nur eine „Momentaufnahme“ in einem limitierten Zeitfenster in den zwölf europäischen Ländern dar. Es ist daher nicht möglich, an diesen Ergebnissen den allgemeinen Zustand in den einzelnen Ländern in Bezug auf die Pestizidbelastung festzumachen. Auch ein Vergleich der Länder eignet sich nicht, da die Proben an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher landwirtschaftlicher Nutzungsform und in unterschiedlichen Vegetationsphasen gesammelt wurden. (Greenpeace 2014a)
Dass (46) recht klar der Domäne Wissenschaft zugeordnet werden kann, zeigt sich auch daran, dass der Begriff Momentaufnahme hier in Anführungszeichen gesetzt worden ist. Diese Hervorhebung legt nahe, dass der Begriff stilistisch aus dem übrigen Textumfeld hervorsticht. Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass der Begriff vom Orator als unwissenschaftlich und dem domänentypischen Stil unangemessen wahrgenommen wurde. Erst nachdem die Studienergebnisse in dieser Hinsicht dargelegt wurden, folgt mit dem Meso-Muster FORDERUNGEN ABLEITEN der Übergang ins Politische: (47) Die Studienergebnisse und der Blick in die aktuelle wissenschaftliche Literatur lassen den Schluss zu: Die derzeitige gesetzliche Regulierung des Pestizideinsatzes schützt die Bestäuberpopulationen nicht ausreichend. Die EU hat weitaus mehr Möglichkeiten, bienengefährliche Pestizide komplett zu verbieten. (Greenpeace 2014a)
Noch deutlicher tritt dieser Übergang im darauffolgenden Abschnitt GreenpeaceForderungen hervor, der von einem explizit-performativen Verb und einer Selbstreferenzierung eingeleitet wird (Greenpeace fordert ... ). Tatsächlich scheint zu diesem Zeitpunkt der eigentliche Text des Reports jedoch bereits abgeschlossen, da das vorige Kapitel eine Reihe textfinaler wissenschaftlicher Textprozeduren genutzt hat und in seiner Gestalt damit weitestgehend dem Ende eines wissenschaftlichen Texts entspricht. Die expliziten politischen Forderungen wirken in dieser Hinsicht wie an den Text ‚angehängt‘. Diese Beispiele für textuelle Trennungen von Wissenschaft und Wissen auf der einen und Politik und gesellschaftlichem Handeln auf der anderen Seite sind innerhalb der gesamten TRS jedoch nach wie vor eng mit den in den Abschnitten 9.1.3 bis 9.1.4 beschrieben Aspekte verbunden und dienen insgesamt vor allem dem demonstrativen Stützen politischer Forderungen. Ein illustratives Beispiel hierfür findet sich in der textinitialen Zusammenfassung von Greenpeace 2013b. Obwohl diese in ihren Fließtextanteilen deutlich weniger wissenschaftstypische Prozeduren aufweist als der nachfolgende Hauptteil, finden sich hier wissenschaftstypische Sprachund Zeichengebräuche komprimiert in der Form einer doppelseitigen Tabelle
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(siehe Abbildung 9.13), die quasi das epistemische Herzstück des Gesamttextes ausmacht und auf die auch später im Hauptteil immer wieder zurückverwiesen wird.
Abbildung 9.13: Die Tabelle als ‚epistemisches Herzstück‘ in Greenpeace 2013b.
Zwar lässt sich durchaus der Versuch erkennen, die Tabelle, etwa durch die Wahl der Farben, ansprechend zu gestalten – nichtsdestoweniger offenbart bereits ein erster Blick ihre hohe Komplexität (7 Zeilen mit 8 Spalten). Die Spaltennamen enthalten teilweise Fachbegriffe, die auf wissenschaftliche Konzepte verweisen. Dies trifft insbesondere auf die beiden Spalten LD50 ORAL (µg pro Biene) und LD50 KONTAKT (µg pro Biene) zu. Der Begriff LD50 wird zwar im Kästchen rechts unten erklärt, die numerischen Angaben mit bis zu vier Nachkommastellen bleiben ohne entsprechendes Fachwissen dennoch schwer zugänglich. Weiterhin finden sich die Eigennamen von Handelsprodukten und chemische Bezeichnungen von Stoffklassen wie Phenylpyrazol sowie eine Reihe von Kürzeln, die auf Staaten verweisen. Obwohl die Tabelle in dieser Hinsicht also auf den ersten Blick als weiteres Beispiel für die Trennung von Wissenschaftlichem und Politischem gesehen werden könnte, verdeutlicht sie gleichzeitig das politische ERKENNTNIS-Framing bei ÖKO: Den meisten Platz nimmt die rechte Spalte Argumente für ein Verbot dieser Substanz, um die Gesundheit von Bienen zu schützen ein. In der Überschrift wird nicht nur der Frame REGULIERUNG evoziert, sondern zudem mit der Angabe von Handlungszielen erneut ein Teil des topischen Musters politischen Sprachgebrauchs ein-
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geführt. In der Spalte werden durch das Meso-Sprachhandlungsmuster SICH AUF STUDIENERGEBNISSE STÜTZEN wissenschaftliche Erkenntnisse als generische Aussagen gelistet, die somit als Bestandteile einer normativen Argumentation funktionalisiert werden. Somit findet sich auch im epistemisch-wissenschaftlichen Kern des Texts eine Integration des normativ-politischen Sprachhandelns. Tatsächlich könnte man aus der Links-rechts-Anordnung der Tabelle sogar durchaus auf eine Realisierung des FORDERUNGEN ABLEITEN-Musters schließen. Interessant ist an der Tabelle aber auch, dass sie bei der Lektüre des Zusammenfassungsteils übergangen werden kann, ohne dass sich dadurch Verständnisprobleme ergeben. Zwar bildet sie das epistemische Herzstück, allerdings kommt ihr im Zuge des Textganzen eher eine illustrative bzw. demonstrative Funktion zu: Sie verdeutlicht schon alleine durch ihre unmittelbar wahrnehmbare Beschaffenheit und Komplexität die Tatsache, dass die im Text vorgebrachten Standpunkte sowie die daraus abgeleiteten Forderungen auf fundiertem wissenschaftlichem Wissen basieren. Ob sie dazu konzipiert ist, von einem Leser auch im Detail gelesen und verstanden zu werden, darf jedoch zumindest in Frage gestellt werden. Einmal mehr wird somit deutlich, dass es ÖKO weniger darum geht, die Leserin mit in die Wissenschaft zu nehmen und zum Wissen zu führen, sondern zu demonstrieren, dass hinter den Forderungen von ÖKO wissenschaftliches Wissen steckt, das zu politischem Handeln verpflichtet.
9.1.6 Fazit: Wissen verpflichtet Wissenschaftliche Erkenntnis, Fachwissen und politisches Handeln sind innerhalb der ÖKO-TRS eng miteinander verwoben. Politisches Handeln erscheint ebenso als logische Konsequenz wissenschaftlicher Erkenntnis, wie jene als Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme begriffen werden kann. Wissenschaft steht dabei nicht für sich, sondern engagiert sich – teilweise sogar emotional involviert – in der politischen Entscheidungsfindung. Wissenschaftliche Akteure erscheinen dementsprechend als Alliierte und Ko-Oratoren von ÖKO innerhalb einer auf politische Forderungen abzielenden TRS. Wie bereits unter 9.1.2 festgestellt, führt das FORDERUNGEN ABLEITEN-Muster und das in 9.1.3 beschriebene politische Framing WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS im Rahmen des FORDERUNGEN ABLEITEN-Musters allerdings nicht dazu, dass ÖKO der Leserin das wissenschaftliche Wissen als solches zugänglich macht. Stattdessen fungieren Wissenschaft, wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis hauptsächlich als backing für epistemische und normative Standpunkte von ÖKO und legitimieren damit das Vorbringen politischer Forderungen.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
9.2 Der Kampf der Systeme Ein weiteres wichtiges Element der ÖKO-TRS zeigt sich in der von ÖKO vorgenommenen Konzeptualisierung des Frames LANDWIRTSCHAFT. Bei ÖKO werden – ganz im Gegensatz zu AGRAR – zwei Arten von Landwirtschaft unterschieden: industrielle Landwirtschaft und ökologische Landwirtschaft. Die Gegenüberstellung dieser beiden Landwirtschaftssysteme stellt ein wichtiges Element der ÖKO-TRS dar, auf dessen argumentative und emotive Funktionen ich im Folgenden näher eingehen möchte.
9.2.1 Zwei distinkte LANDWIRTSCHAFTS-Typen Dass bei ÖKO zwischen unterschiedlichen Formen der Landwirtschaft unterschieden wird, bedeutet, dass der TW-Hintergrund-Frame LANDWIRTSCHAFT – also der Wissensrahmen des gesamten landwirtschaftlichen Produktionssystems – typologisch bzw. taxonomisch ausdifferenziert wird. Unter argumentativen Gesichtspunkten kann man auch hier von einer Art der Dissoziation sprechen (vgl. Kapitel 8.2.3). Die resultierenden LANDWIRTSCHAFTS-Typen sind distinkt, d. h. voneinander unterscheidbar und nicht gleichzusetzen. Einen ersten deutlichen Hinweis darauf liefert ein Blick auf die Adjektivattribute (ADJAs), die in den ÖKO-Texten vor den Nomen Landwirtschaft, Agrarsystem, Agrarmodell und Landwirtschaftssystem stehen. Tabelle 9.2 zeigt, dass in mehr als 60% der Fälle die Nominalphrase (NP) durch ein Adjektivattribut ergänzt ist, wobei es sich dabei sowohl um beschreibende wie diskriminierende Adjektive handelt. Zu letzteren Zählen vor allem die drei häufigsten Adjektive ökologisch, biologisch und industriell. Tatsächlich lässt sich der fundamentale Unterschied der beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen, der im Rahmen der ÖKOTRS stark gemacht wird, anhand des Gegensatzpaars ökologische bzw. biologische vs. industrielle Landwirtschaft festmachen (siehe dazu ausführlich 9.2.2). Hinweise darauf, dass entsprechende NPs tatsächlich jeweils distinkte konzeptuelle Entitäten bezeichnen, liefert bspw. die Verwendung von finiten Artikeln, wie in (48)–(50): (48) Die Gründe für das Sterben von Wildbienen und Bienenvölkern liegen hauptsächlich in der industriellen Landwirtschaft. (BUND 2017) (49) Für das Sterben von Wildbienen und Bienenvölkern ist hauptsächlich die industrielle Landwirtschaft verantwortlich. (BUND 2018) (50) Die Bundesregierung muss die Gemeinsame EU-Agrarpolitik (GAP) nutzen, um die bäuerliche und ökologische Landwirtschaft voranzubringen. (BUND 2017)
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Tabelle 9.2: ADJAS vor Landwirtschaft, Agrarsystem, Agrarmodell, Landwirtschaftssystem94. kein ADJA mit ADJA Lexeme: ökologisch biologisch industriell intensiv europäisch chemisch-intensiv/chemieintensiv/intensiv chemisch modern derzeitig konventionell nachhaltig bäuerlich biologisch zertifiziert gesund naturnah auf Agrochemie basierend ausgewogen bienenfreundlich destruktiv kleinstrukturiert produktiv standortgebunden weltweit zukunftsfähig zukünftig
Das Hervorheben eines LANDWIRTSCHAFTS-Typs als distinkte TW-Entität lässt sich auch daran festmachen, dass die jeweilige konzeptuelle Entität auch in personalisierter Form als Agens von FAPs in Erscheinung treten kann, wie in (51) und (52). Die in (51) zu beobachtende agentivische Konzeptualisierung innerhalb eines VERURSACHUNGS-Zusammenhangs kann zudem als Bestandteil der emotiven Perspektivierung von argumentativ relevanten Propositionen begriffen werden – in Abschnitt 9.3.2 wird dieser Aspekt im Hinblick auf Pestizide weiter ausgeführt werden. (51) Eine Fülle wissenschaftlicher Daten weist darauf hin, dass die industrielle Landwirtschaft durch den fortschreitenden Biodiversitätsverlust, die Zerstörung von Nahrungshabitaten und den Einsatz giftiger Chemikalien zur Unkraut- und Schädlingsbekämpfung die
Einige der hier gelisteten ADJAs finden sich dabei als Kombinationen.
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Zukunft der bestäubenden Insekten, auf die sie dringend angewiesen ist, bedroht. (Greenpeace 2017) (52) Die ökologische Landwirtschaft verzichtet auf den Einsatz synthetisch-chemischer Pestizide. (Greenpeace 2014b)
Die Unvereinbarkeit der beiden unterschiedlichen LANDWIRTSCHAFTS-Typen wird anhand von Gegenüberstellungen, wie in (53), deutlich. Ich werde dieses Textsegment im Folgenden etwas ausführlicher aus TWT-Sicht interpretieren, um aufzuzeigen, wie der Aufbau der Weltenkonstruktion in konkreten Fällen zur Verankerung zweier opponierender LANDWIRTSCHAFTS-Typen in den TW-Strukturen führen kann. (53) Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Vielfalt und Abundanz natürlicher Feinde in biologisch wirtschaftenden landwirtschaftlichen Betrieben gesteigert werden. Heterogene und vielfältige Agrarlandschaften, die sich aus kleinen Feldern und mosaikartig strukturierten naturnahen Lebensräumen zusammensetzen, begünstigen eine größere Anzahl natürlicher Feinde und besitzen das höchste Potenzial für natürliche Formen der Schädlingsbekämpfung. Monotone und strukturarme Agrarlandschaften mit einem geringen Angebot an naturnahen Lebensräumen, die typisch für die intensive bzw. industrielle Landwirtschaft sind, fördern die Ansiedlung natürlicher Feinde hingegen nicht. (Greenpeace 2014b)
Die resultierende Weltenkonstruktion ist in Abbildung 9.14 dargestellt: Im ersten Satz wird eine epistemische Praktik (wissenschaftliche Untersuchungen) eingeführt, die die Gültigkeit der im Nebensatz realisierten Proposition indiziert. Der Nebensatz wiederum führt zum Aufbau eines Fokusraumes (in ... Betrieben), innerhalb dessen die Proposition ‚Die Vielfalt und Abundanz natürlicher Feinde wird gesteigert‘ verortet wird. Das ADJA biologisch wirtschaftend dissoziiert zunächst innerhalb des FRs den Frame LANDWIRTSCHAFT, wobei diese Dissoziation in die TW übertragen wird. Der zweite Satz realisiert in der TW eine FAP, die in ihrer konzeptuellen Struktur große Ähnlichkeiten zur FAP aus dem FR aufweist. Um Kohärenz zu erzeugen, kann deshalb das Agens des zweiten Satzes – die Agrarlandschaften – in einen thematischen Zusammenhang mit den Parametern des FRs gesetzt werden. Dies gelingt, wenn sowohl die entsprechenden Agrarlandschaften als auch die Betriebe dem Frame ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT zugeordnet werden. Der Hintergrund-Frame ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT wird somit im Hinblick auf das FE LANDSCHAFTSTYP anhand der Attribuierungen heterogen und vielfältig und aus kleinen Feldern und mosaikartig strukturierten naturnahen Lebensräumen perspektiviert. Der adversative Konnektor hingegen und die Negation im letzten Satz von (53) macht die nun erfolgende spannungsreiche Gegenüberstellung deutlich. Die hier in die TW eingeführten Agrarlandschaften werden explizit der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT zugeordnet (typisch für ... ) – dem bereits in die TW-Strukturen einge-
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TW LANDWIRTSCHAFT
Hintergrund-Frames: ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT
INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT
LANDSCHAFTSTYP
LANDSCHAFTSTYP
heterogen & vielfältig, kleine Felder & mosaikartig monoton & strukturarm, geringes Angebot an strukturierte naturnahe Lebensräume naturnahen Lebensräumen _________________________________________________________________________________________________ FAPS: FR belegen Setting: biologisch wirtschaftende landwirtschaftliche Betriebe Wiss. Untersuchungen Hintergrund-Frames: ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT _______________________________________________ FAPs: Vielfalt & Abundanz natürlicher Feinde wird gesteigert. ‚Ökologische‘ Agrarlandschaften begünstigen natürliche Feinde und Schädlingsbekämpfung.
‚Industrielle‘ Agrarlandschaften begünstigen natürliche Feinde und Schädlingsbekämpfung nicht.
Abbildung 9.14: Reduzierte TWT-Rekonstruktion von (53).
führten ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFTS-Typ wird somit klar ein opponierender Typ entgegengestellt. Die Attribuierung des FEs LANDSCHAFTSTYP der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT erfolgt anhand von Bezeichnungen, die mit den entsprechenden Attribuierungen der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT Gegensatzpaare bilden (heterogen und vielfältig – monoton, mosaikartig strukturiert – strukturarm, mit ... naturnahen Lebensräumen – mit einem geringen Angebot an naturnahen Lebensräumen). Die Perspektivierung der beiden Konzeptbereiche in (53) hebt also den Unterschied und die Unterscheidbarkeit mit Blick auf eine positive und negative Bewertung deutlich hervor. Eine weitere Form der Gegenüberstellung findet sich in (54), indem die beiden Landwirtschaftssysteme im Hinblick auf ihre KONSEQUENZEN für Bienen perspektiviert werden. Dabei wird – erneut unter Verwendung eines adversativen Konnektors (jedoch) – ein negativ emotiv perspektivierter VERURSACHUNGS-Zusammenhang mit einem positiven Effekt kontrastiert: (54) Aufgrund destruktiver Praktiken, die Nistmöglichkeiten für Bienen einschränken, und des Spritzens von Herbiziden und Pestiziden stellt die industrielle Landwirtschaft weltweit eine der größten Bedrohungen für Bestäubergemeinschaften dar. Landwirtschaftssysteme wie ökologische Anbausysteme, die sich die biologische Vielfalt zunutze machen und ohne den Einsatz von Chemikalien auskommen, können sich jedoch günstig auf kommerziell gehaltene und wilde Bestäubergemeinschaften auswirken. (Greenpeace 2013b)
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Die Gegenüberstellung der beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen zeigt sich in der ÖKOTRS auch auf der intertextuellen Ebene. So lautet der volle Name von Greenpeace 2014b Plan BEE – Leben ohne Pestizide. Auf dem Weg in Richtung ökologische Landwirtschaft. Der volle Name von Greenpeace 2015 ist hingegen Europas Abhängigkeit von Pestiziden. So schädigt die industrielle Landwirtschaft unsere Umwelt. Die prominente Platzierung dieser Lexeme in den Überschriften verdeutlicht die Rolle der Gegenüberstellung der beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen für die ÖKO-TRS. Sie macht aber auch deutlich, dass das Thema PESTIZIDE aus der Sicht von ÖKO nur einen Aspekt in einer größeren Debatte über die Zukunft unserer Landwirtschaft darstellt. An dieser Stelle möchte ich jedoch eine Anmerkung hinzufügen: Die Tatsache, dass sich im Wortlaut der ÖKO-Texte klare Hinweise darauf finden, dass das Konzept LANDWIRTSCHAFT typologisch/taxonomisch dissoziiert wird, bedeutet nicht, dass nicht auch immer wieder von der Landwirtschaft als Ganzem gesprochen wird. Wie ich unten ausführen werde, besitzt die Unterscheidung in INDUSTRIELLE und ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT eine zeitliche Dimension, die sich durchaus auf die LANDWIRTSCHAFT als Ganze bezieht.
9.2.2 ‚Industrie‘ vs. ‚Natur‘ Nachdem nun deutlich gemacht wurde, dass und wie sich innerhalb der ÖKO-TRS der sprachbedingte Welt-Entwurf durch die Unterscheidung zweier LANDWIRTSCHAFTS-Typen auszeichnet, ist als nächstes genauer zu fragen, wie bzw. worin sich diese beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen voneinander unterscheiden. Bezugssysteme – Natur und Industrie Der zentrale Aspekt der Unterscheidung der beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen in der ÖKO-TRS scheint die Ausrichtung an unterschiedlichen Bezugssystemen zu sein. Gleichzeitig lässt sich dieser Aspekt nur schwer in einer Rekonstruktion der Frame-Struktur darstellen. Ich werde dennoch versuchen klar zu machen, was damit gemeint ist. Die Ausrichtung an unterschiedlichen Bezugssystemen zeigt sich zunächst ganz unmittelbar in den bezeichnenden ADJAs ökologisch-biologisch und industriell-intensiv. Um etwas über die hiermit einhergehende Perspektivierung auszusagen, kann man sich in erster Annäherung die Wörterbucheinträge dieser Adjektive
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im Duden anschauen95. Dabei wird deutlich, dass die Bezeichnung ökologische/biologische Landwirtschaft den LANDWIRTSCHAFTS-Typ in eine Beziehung zur Umwelt und die dort anzusiedelnden Lebewesen setzt. Diese Form der Landwirtschaft und ihre entsprechende Praxis werden als dem System der lebendigen Natur zugehörig charakterisiert sowie beruhend auf natürlichen Prozessen und bestehend aus natürlichen Stoffen. Dabei wird auch der Wert UMWELTSCHUTZ evoziert. Die Bezeichnung industriell-intensive Landwirtschaft hingegen verdeutlicht, dass dieser LANDWIRTSCHAFTS-Typ ganz auf die Logik der massenhaften Produktion von Konsumgütern in Fabrikationsbetrieben entsprechend der ökonomisch-kapitalistischen Gewinnoptimierungslogik ausgerichtet ist. Schon in dieser rein lexikologisch-wortsemantischen Betrachtung zeigt sich, dass die beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen sich darin unterscheiden, dass sie an zwei unterschiedlichen Wissensbereichen ausgerichtet sind: NATUR vs. INDUSTRIE/KAPITALISTISCHE ÖKONOMIE. Diese von mir als Bezugssysteme bezeichneten Wissensbereiche können als weitreichende und komplexe Wissensstrukturen begriffen werden, die so etwas wie ‚Super-Konzepte‘ darstellen. Perspektivierung durch Bezugssysteme Dass NATUR und INDUSTRIE als Bezugssysteme zu begreifen sind, heißt zum einen, dass die Konzeptualisierung der Strukturen des LANDWIRTSCHAFTS-Frames im jeweiligen Fall durch die Frame-Strukturen des jeweiligen Bezugssystems perspektiviert werden. So wird bspw. die INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT durch den Einsatz von MASCHINEN UND TECHNOLOGIE konzeptualisiert. Dies lässt sich sowohl auf der sprachlichen Ebene als auch auf der Ebene der Bilder erkennen. Wie Abbildung 9.15 verdeutlicht, betrifft dies den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden – was mit Blick auf die Auswahl der die ÖKO-TRS konstituierenden Texte hinsichtlich ihrer Beteiligung an der Neonicotinoid-Debatte wenig verwunderlich erscheinen dürfte. Die ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT wird hingegen vor allem dadurch charakterisiert, dass sie ohne Pestizide als Agrartechnologie verfährt: (55) Ökologische und biologische Anbaumethoden, die eine hohe Artenvielfalt erhalten und ohne den Einsatz chemischer Pestizide und Düngemittel auskommen, haben sich wiederholt als vorteilhaft für die Verbreitung und die Vielfalt von Bestäubern erwiesen. (Greenpeace 2013b) (56) Im Rahmen der ökologischen Landwirtschaft werden keine synthetisch-chemischen Pestizide und Herbizide eingesetzt; die Bienen bleiben deshalb von den giftigen Auswirkungen dieser Agrochemikalien verschont. (Greenpeace 2014b)
https://www.duden.de/rechtschreibung/oekologisch, https://www.duden.de/rechtschreibung/ biologisch, https://www.duden.de/rechtschreibung/industriell, https://www.duden.de/rechtschrei bung/Industrie.
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Abbildung 9.15: Bildliche Darstellungen im Kontext der Konzeptualisierung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT aus Greenpeace 2017 (oben links und mittig) Greenpeace 2014b (unten links) und Greenpeace 2015 (oben und unten rechts).
Bildliche Darstellung der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT beinhalten zwar teilweise ebenfalls Maschinen, es finden sich aber vor allem Bilder in denen LEBEWESEN – in erster Linie Pflanzen – im Vordergrund stehen, während Maschinen und Technologien (bzw. Menschen im Allgemeinen) abwesend bleiben (Abbildung 9.16). Es scheint naheliegend, dass Technologie als Symbol eines industriellkapitalistischen Systems in dieser Art der Konzeptualisierung bzw. Kontextualisierung als Lösung für landwirtschaftliche Herausforderungen kaum in Frage kommt. Dies wird etwa deutlich, wenn man die Priorisierung der Pflanzenschutzmaßnahmen betrachtet, die ÖKO im Rahmen der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT vornimmt. Wie Segment (57) deutlich macht, ist der Einsatz von Agrartechnologie nur als eine Art ultima ratio zu begreifen, welche zudem als heilende (kurative) Maßnahme bezeichnet wird. (57) Die Schritte 4 und 5 sind direkte und kurative Maßnahmen der Schädlingsbekämpfung und umfassen die Verwendung biologischer Pflanzenschutzmittel (Biopestizide) und zugelassener Insektizide biologischen oder mineralischen Ursprungs. Diese Maßnahmen werden nur
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dann ergriffen, wenn sie in späteren Stadien der Pflanzenproduktion notwendig sind [...] (Greenpeace 2014b)
Abbildung 9.16: Bildliche Darstellungen im Kontext der Konzeptualisierung der ökologischen Landwirtschaft aus Greenpeace 2014b.
In einem engen Zusammenhang damit steht, dass die industrielle Landwirtschaft als wirtschaftliches Produktionssystem untrennbar mit der Pestizidproduktion verwoben erscheint. Als hauptsächliche AKTEURE der industriellen Landwirtschaft werden dementsprechend – ebenfalls gemäß des Handlungskontexts der TRS – die Unternehmen aus der Agrarindustrie genannt. Das HANDLUNGSMOTIV dieser Akteure innerhalb der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT wird als Profitstreben bzw. Gier angegeben. (58) Die Herstellung, der Vertrieb und die Nutzung chemisch-synthetischer Pestizide sind Teil einer Industrie, die Erträge in mehrfacher Milliardenhöhe erzielt und die von einer kleinen Zahl von Agrochemie-Konzernen dominiert wird. Im Jahr 2011 kontrollierten drei europäische Unternehmen – Syngenta (Schweiz), Bayer CropScience und BASF (Deutschland) – 52,5 Prozent des weltweiten Pestizidmarktes. Drei US-amerikanische Unternehmen – Dow AgroSciences, Monsanto und DuPont – vervollständigen die Liste der Top-6-Pestizidhersteller, die 2011 zusammen für 76 Prozent der weltweiten Pestizidverkäufe verantwortlich waren. (Greenpeace 2015) (59) 2006 wurden in Deutschland 29.850 Tonnen Pestizide versprüht. Obwohl die Mittel laut Chemie-Industrie immer wirksamer werden, ist die eingesetzte Menge von 2004–2006 um 10 % gestiegen. Zum Nutzen der Pestizidhersteller wie Bayer CropScience oder BASF, die Riesengewinne mit dem Verkauf der zum Teil gesundheits- und umweltgefährdenden Mittel erzielen. (BUND 2016[2010])
Die mit (58) und (59) einhergehende Perspektivierung der INDUSTRIELLEN LANDhebt insbesondere den ökonomischen Aspekt der Landwirtschaft hervor. Die Darstellung von wenigen großen Unternehmen als monetären Profi-
WIRTSCHAFT
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teuren eines Funktionssystems entspricht einem kapitalismuskritischen Motiv/ Narrativ. Im Hinblick auf die landwirtschaftliche Produktion sind diese Unternehmen eigentlich (nur) mittelbare Akteure. Interessant ist, dass die Landwirte selbst kaum als aktiv-handelnden Akteure der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT konzeptualisiert werden. Vielmehr erscheinen sie durch den von der Agrarindustrie erzeugten Druck in eine passive Rolle gezwungen: (60) Die meisten Bäuerinnen und Bauern stecken heute in einem System fest, das die Industrialisierung und Spezialisierung der Landwirtschaft weiter fördert. (Greenpeace 2015) (61) Darüber hinaus werden Landwirte unter diesem Paradigma zunehmend abhängig vom Saatgut und den chemischen Erzeugnissen multinationaler Konzerne. (Greenpeace 2014b)
Die individuellen Akteure dieses LANDWIRTSCHAFTS-Typs sind, wie (60) klar macht, nicht aus freiem Antrieb oder eigener Überzeugung heraus Teil des industriellen Landwirtschaftssystems. Anhand der konzeptuellen Metapher EIN SYSTEM IST EIN RAUM wird ihre (räumliche) Anwesenheit innerhalb des Systems in (60) als Feststecken bezeichnet. Entsprechend ergibt sich für ÖKO die Forderung: (62) Dennoch müssen Landwirte bei der Suche nach neuen ungiftigen und umweltverträglichen Maßnahmen zum Schutz ihrer Anbauprodukte vor Schädlingsbefall unterstützt werden. (Greenpeace 2013b)
In der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT kommen dagegen keine Unternehmen und/ oder Großbetriebe vor. Stattdessen scheint es hier vor allem um bäuerliche Betriebe zu gehen – hier werden also menschliche Individuen in der Konzeptualisierung fokussiert. Auch die Flächen sind klein und divers statt groß und homogen (siehe Segment (53) oben). Die Spannung von ÖKOLOGISCHER und INDUSTRIELLER LANDWIRTSCHAFT wird somit auch als eine Art ‚Kampf David gegen Goliath‘ konzeptualisiert. Die Übertragung der Strukturen des Bezugssystems NATUR auf die ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT zeigt sich auch daran, dass innerhalb der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT dieselben Systemlogiken gelten wie in der NATUR. Insbesondere zeigt sich dies am Prinzip der Biodiversität, wie das folgende Segment (63) illustriert: (63) In natürlichen Lebensräumen werden die durch Schadorganismen verursachten Schäden an Pflanzen in der Regel durch die vielfältigen Interaktionen zwischen den Schädlingen und ihren zahlreichen natürlichen Feinden unter Kontrolle gehalten. Diese Interaktionen umfassen unter anderem Konkurrenz, Prädation (Räubertum) und Parasitismus (Schmarotzertum). Im Rahmen der ökologischen Schädlingsbekämpfung wird die biologische Vielfalt innerhalb von Landwirtschaftssystemen erhöht. Ziel ist die Schaffung von Anbausystemen, in denen eine gesunde und vielfältige Population natürlicher Feinde gefördert wird, damit der Schädlingsbefall möglichst gering bleibt. (Greenpeace 2014b)
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In (63) wird zunächst ein FR konstruiert, der klar durch den Frame NATUR strukturiert ist und somit gewissermaßen der natürlichen Sphäre angehört (in natürlichen Lebensräumen). Innerhalb dieses FRs werden ökologische Interaktionen beschrieben, die auf biologischer Vielfalt beruhen und dazu führen, dass Pflanzen keinen übermäßigen Schaden nehmen. Stattdessen führt die natürliche Biodiversität dazu, dass einzelne Interaktionen wie die zwischen Schädlingen und Pflanzen unter Kontrolle gehalten werden. Somit wird eine gewisse Systemlogik des Bezugssystems NATUR etabliert. Diese Systemlogik wird im zweiten Teil von (63) auf die Praktiken der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT übertragen. Diese zeichnet sich somit dadurch aus, dass hier sozusagen ‚nach den Regeln der Natur gespielt wird‘. Segment (63) zeigt überdies den Stellenwert, den die Konzeptualisierung des LANDSCHAFTS-Typs für die ökologische Landwirtschaft einnimmt (siehe dazu ebenfalls Textsegment (53) oben). Bezugsysteme als ‚Attraktoren‘ Neben der Perspektivierung durch die entsprechende Konzeptualisierung von Frame-Strukturen bedeutet die Ausrichtung an einem Bezugssystem aber auch, dass die jeweiligen LANDWIRTSCHAFTS-Typen durch ihre Ausrichtung an und Positionierung relativ zu den Bezugssystemen (ideologisch) bewertet werden. Wie bspw. die Verwendung des ADJAs naturnah96 zeigt (siehe Segment (53) oben), ist der Aspekt der Positionierung durchaus räumlich zu begreifen: (64) Der Einsatz von Pestiziden kuriert Symptome eines sich immer weiter von der Natur entfernenden Systems. (Greenpeace 2013a)
Die in (64) erfolgende Konzeptualisierung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT stellt diese deutlich in einen räumlichen Zusammenhang mit einem (lokalen) Bezugssystem (sich von X entfernend). Die Konstruktion kuriert Symptome evoziert in (64) zudem den Frame KRANKHEIT, was als deutlicher Ausdruck einer negativen Evaluation gewertet werden kann, der zudem mit einer emotiven Perspektivierung einhergeht. Auch wenn in (64) eine Kausalbeziehung nicht expliziert wird, so lässt sich dennoch ein Zusammenhang von ENTFERNUNG und KRANKHEIT annehmen, der hier impliziert wird. Der Pestizideinsatz kuriert Symptome dieser Krankheit zwar, er führt damit allerdings zur nächsten Krankheit, der Abhängigkeit (65 und 66), während die Nähe der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT zur NATUR zu einer gesunden Landwirtschaft zu führen scheint (67):
Das ADJA naturnah findet sich 121-mal in ÖKO und nur 1-mal in AGRAR.
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(65) Die finanziellen Mittel für Forschung und Entwicklung von ökologischen Anbaumethoden sollten stark erhöht werden, um die Abhängigkeit von chemischer Schädlingsbekämpfung zu beenden. (Greenpeace 2014a) (66) Die übermäßige Abhängigkeit der Landwirtschaft von Chemikalien, insbesondere von Pestiziden, kann zu Kollateralschäden an Ökosystemen führen – Pestizide sind dafür gemacht, eine Vielzahl von Lebewesen zu schädigen. (Greenpeace 2015) (67) Sie [die ökologische Landwirtschaft, NS] verleiht Gemeinschaften die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft zu ernähren, und gewährleistet eine Zukunft, in der alle Menschen Anteil an einer gesunden Landwirtschaft und einer gesunden Ernährung haben. (Greenpeace 2014b)
Die LANDWIRTSCHAFTS-Typen positionieren sich neben ihrer Nähe auch in dem Sinne relativ zum Bezugssystem NATUR, als dass sie ‚für oder gegen‘ diese sind: (68) Die Bundesregierung muss die Gemeinsame EU-Agrarpolitik (GAP) nutzen, um die bäuerliche und ökologische Landwirtschaft voranzubringen. Wir brauchen eine Landwirtschaft, die mit der Natur wirtschaftet, statt gegen sie. (BUND 2017)
Landwirtschaft als menschliche Tätigkeit muss sich – so die ÖKO-TRS – am Bezugsund Funktionssystem NATUR ausrichten und mit ihm verträglich sein. Eine Ausrichtung am Bezugssystem INDUSTRIE hingegen führt automatisch dazu, dass gegen die NATUR gehandelt wird. Diese Argumentationslinie wird sich im Fortlauf dieses Kapitels immer deutlicher herauskristallisieren. Für einen Text-Interpreten (sowohl den wissenschaftlichen Analysten als auch die Rezipientin) aus Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist weitestgehend klar, dass mit der Positionierung und Perspektivierung relativ zu den Bezugssystemen NATUR und INDUSTRIE eine ideologische Evaluation und Positionierung miteinhergeht. Die Dissoziation bzw. Dichotomisierung der LANDWIRTSCHAFT bei ÖKO verläuft damit weitestgehend entlang bekannter und verbreiteter ideologischer Linien.
9.2.3 Intensivierung und Expansion Aufbauend auf der Unterscheidung der beiden LANDWIRTSCHAFTS-Typen, zeigen sich bei der Konzeptualisierung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT Aspekte von Dynamik und Progression, die für ihre (unten näher beschriebene) argumentativemotive Funktionalität eine wichtige Rolle spielen. Diese dynamische Progression betrifft zunächst die zeitliche Dimension des konzeptualisierten Landwirtschaftssystems in den – quasi ‚historischen‘ – temporalen Strukturen der TW. In (69) ist dieser Prozess als voranschreitende Intensivierung bezeichnet, der in einer Transformation bestimmter Textweltbereiche resultiert (aus X wurde Y).
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(69) Dies ist in erster Linie auf die landwirtschaftliche Intensivierung in den nordwestlichen Gebieten Europas zurückzuführen: Aus einst natürlichen Wiesen und Weiden mit einer großen biologischen Vielfalt wurde im Zuge der intensiven landwirtschaftlichen Nutzung nahezu „steriles“ Grünland; dort finden Schmetterlinge nur noch wenige wild blühende Pflanzenarten vor. (Greenpeace 2014b)
Gut erkennbar ist in (69), wie die Dynamik des technologisierten Fortschritts in der Güterproduktion in historischer Perspektive dem ursprünglichen Zustand der Unversehrtheit (natürliche Wiesen und Weiden mit einer großen biologischen Vielfalt) das Lebendige bzw. Natürliche entzieht („steriles“ Grünland). Das Resultat der Intensivierung wird dann im zweiten Satz aus der Sicht von gesellschaftlich wertgeschätzten Lebewesen (Schmetterlinge) perspektiviert, die die negativen Auswirkungen erleben. Die unter 9.2.1 diskutierte Antonymie von INDUSTRIE und NATUR kommt hier deutlich zum Ausdruck. Während die Progression der Landwirtschaft in (69) in der TW-Vergangenheit verortet wird, zeigen sich innerhalb der ÖKO-TRS mehrere Textstellen, in denen die Dynamik der Intensivierung als anhaltender Prozess konzeptualisiert wird, der sich bis in die TW-Gegenwart erstreckt. Dies wird bspw. an der Verwendung des ADJAs zunehmend in den Textsegmenten (70)–(72) deutlich sowie an der Verwendung der Verlaufsform wird/werden mit komparierten Adjektiven. Stets folgt dabei auf eine Konzeptualisierung der Progression eine Darstellung der resultierenden Konsequenzen, die somit auch in textlicher Hinsicht unmittelbar mit der Dynamik der Intensivierung verbunden sind. (70) Die zunehmende Intensivierung der Landwirtschaft übt jedoch durch die damit zusammenhängende Zerstörung von Lebensräumen und den Rückgang der Habitatvielfalt zusätzlichen Druck auf Wildbestäuber aus [...]. (Greenpeace 2013b) (71) Eine zunehmend industrialisierte Intensivlandwirtschaft bringt immer mehr Monokulturen und den Rückgang von artenreichen Ackerrandstreifen und anderen Rückzugsgebieten für Wildpflanzen und Tiere mit sich. (BUND 2016[2010]) (72) Mit zunehmender Intensivierung der Landwirtschaft werden die Monokulturflächen größer; die Vielfalt der Wildpflanzen auf den Feldern und in ihrer Umgebung nimmt ab, und Pestizide, die für Bienen und andere wild lebende Tiere giftig sind, werden auf Nutzpflanzen und Agrarböden aufgebracht. (Greenpeace 2013b) (73) Die Flächenkonkurrenz wird stärker, die Landwirtschaft wird intensiver und exportorientierter. Das führt zur Umwandlung von Brachflächen und Grünland in Ackerland, oft mit Monokulturen, die den Bienen keine Tracht mehr bieten. Wiesen werden eher und häufiger gemäht, so dass die Pflanzen nicht mehr zur Blüte kommen. Das entzieht den Bienen die Nahrung. (BUND 2017)
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(74) Je intensiver die Landwirtschaft wird, desto mehr müssen die Bienen hungern (Tirado et al. 2013). (Greenpeace 2014b)
Auch in den Textsegmenten (70)–(74) resultieren aus der zeitlichen Progression des LANDWIRTSCHAFTS-Typs negative Konsequenzen für die Umwelt (bringt ... mit sich, führt zu, je ... desto). Besonders betroffen davon sind Lebewesen, die meist explizit der Sphäre der NATUR zugeordnet werden (Wildbestäuber, Wildpflanzen und Tiere, Bienen und andere wild lebende Tiere). Auch hier zeigt sich also erneut die Opposition von progressiv-ökonomischer Tätigkeit und biologischer Unversehrtheit. Die Dynamik der Intensivierung als anhaltender Prozess mit negativen Konsequenzen für die natürliche Biosphäre stellt eine Form der emotiven Perspektivierung dar und ist ein Hinweis auf die Rolle der LANDWIRTSCHAFTS-Konzeptualisierung für das emotive Potential der ÖKO-TRS. Besonders deutlich wird dies in (74), wo die negativen Konsequenzen aus Sicht der Bienen und deren körperlichem Empfinden perspektiviert werden (müssen hungern). Die durch die Konstruktion je X desto Y syntaktisch implizierte logische Folgebeziehung stärkt dabei den Verursachungszusammenhang von Intensivierung und negativen Konsequenzen. Auch in (70) verweist die NP Zerstörung von Lebensräumen auf ein gesteigertes emotives Potential im Zusammenhang mit dieser Progression. Bereits in den oberen Beispielen tritt neben der zeitlichen Dynamik auch immer wieder eine damit einhergehende räumliche Dimension hervor: Die Veränderung in der Zeit korreliert mit einer Veränderung von Flächen. Dabei werden durch die flächenmäßige Ausdehnung der industriellen Landwirtschaft Naturräume, insbesondere die natürlichen Lebensräume, zerstört: (75) Weder Honigbienen noch Wildbestäuber bleiben von den vielfältigen und extremen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft verschont: Sie leiden nicht nur aufgrund der Zerstörung natürlicher Lebensräume, sondern auch unter den schädlichen Folgen intensiver landwirtschaftlicher Praktiken, da sich ihre natürliche Ausbreitung unweigerlich mit industriellen Agrarlandschaften überschneidet. Dabei spielen sowohl die Zerschneidung natürlicher und naturnaher Lebensräume als auch die Ausbreitung von Monokulturen und die fehlende Vielfalt eine Rolle. Aufgrund destruktiver Praktiken, die Nistmöglichkeiten für Bienen einschränken, und des Spritzens von Herbiziden und Pestiziden stellt die industrielle Landwirtschaft weltweit eine der größten Bedrohungen für Bestäubergemeinschaften dar. (Greenpeace 2013b)
In (75) tritt die räumliche Dimension der dynamisch-progressiven Konzeptualisierung deutlich hervor: Das als natürliche Ausbreitung bezeichnete Vorkommen von Bestäubern in der TW wird in eine flächenbezogene Relation zu industriellen Landwirtschaftspraktiken gebracht (überschneidet). Diese räumliche Überschneidung führt erneut zu stark negativ evaluierten und emotiv perspektivierten Konse-
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quenzen (schädliche Folgen), bei denen individuelle Lebewesen als Erlebnisträger konzeptualisiert werden (leiden). Im zweiten Absatz wird die räumliche Progression der industriellen Landwirtschaft weiter hervorgehoben (Zerschneidung natürlicher und naturnaher Lebensräume, Ausbreitung von Monokulturen). Interessant erscheint mir, dass in (75) zwei unterschiedliche Bedeutungen des Lexems Ausbreitung evoziert werden: Die statische natürliche Ausbreitung von Bienen und Bestäubern und die progressiv-dynamische Ausbreitung von Monokulturen. In letzterem Sinne verweist es auf eine Expansions-Metapher, die das Verhältnis von INDUSTRIELLER LANDWIRTSCHAFT und NATUR bei ÖKO kennzeichnet. Die räumliche und zeitliche Intensivierungsdynamik mündet in (75) auch bezogen auf den linearen Textverlauf in einem durch die Betonung des Ausmaßes (weltweit eine der größten Bedrohungen) nochmals intensivierten emotiven Potential. Als Gegenentwurf wird dieser emotiv-perspektivierten Expansionsbewegung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT die statische Kleinflächigkeit der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT entgegengehalten: (76) Kleinere Flächen können ungemäht bleiben und von den Bienen als Rückzugsgebiet genutzt werden. Eine Landwirtschaft, bei der die Felder eher klein gehalten werden und von verschiedenartigen naturnahen Lebensräumen durchsetzt sind, ist der Schlüssel zur Bereitstellung bienenfreundlicher Landschaften. (Greenpeace 2014b)
Auch lässt sich die oben bereits angesprochene Perspektivierung des Systemkonflikts als ‚Kampf von David gegen Goliath‘ erkennen.
9.2.4 Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit Bereits in den oben diskutierten Beispielen hat sich deutlich gezeigt, dass die beiden opponierenden LANDWIRTSCHAFTS-Typen innerhalb der ÖKO-TRS unterschiedlich auf die temporale Struktur der TW projiziert werden. In einer ersten Annäherung lässt sich dabei die zeitliche Struktur der TW in drei Zeitstufen oder -zonen einteilen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im vorliegenden Fall entspricht dabei die Gegenwart derjenigen Zeitspanne, die im Hinblick auf die zeitlichen Parameter am ehesten mit der ÄW übereinstimmt97. Es fällt auf, dass im Rahmen der ÖKO-TRS die Konzeptualisierung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT in die Zeitstufen Vergangen-
Zu beachten ist allerdings, dass es auch bspw. fiktive TWs gibt, bei denen dies nicht der Fall ist, sondern die Gegenwart der TW zeitlich stark von der ÄW abweicht. Auch ist eine reine Bindung dieser Zeitlichkeit an das morphologische Tempus überaus problematisch. So kann bspw. in narrativen Texten die temporale Perspektivierung der TW in Gegenwart und Vergangenheit in beiden Fällen an ein Vergangenheitstempus gekoppelt sein. Eine Arbeitshypothese wäre dem-
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heit und Gegenwart fällt, während die Konzeptualisierung der ökologischen Landwirtschaft vor allem auch die Strukturierung des zukünftigen TW-Bereiches betrifft. Die oben bereits beschriebene Intensivierungsdynamik und Expansionsbewegung der industriellen Landwirtschaft beschreibt einen Prozess, der von der Vergangenheit bis hin in die Gegenwart reicht, wie Textsegment (77) deutlich macht: (77) Die Intensivierung landwirtschaftlicher Verfahren treibt den Verlust wertvoller natürlicher und naturnaher Lebensräume in landwirtschaftlichen Betrieben immer weiter voran. Diese ursprünglich nicht bewirtschafteten Lebensräume wurden zugunsten einer größeren Zahl landwirtschaftlicher Nutzflächen und größerer Felder zerstört. Dies führte zu einem Verlust von Hecken, Strauchflächen, alten Feldern, natürlichen Wiesen und Weiden, Ackerrandstreifen und Waldbeständen. (Greenpeace 2014b)
Zwar verweist die VP treibt immer weiter voran auf einen durchaus in die (nahe) Zukunft weisenden Prozesscharakter. Allerdings bezieht sich die VP dabei in der Hauptsache auf einen gegenwärtigen Status Quo, der seine Ursachen in der Vergangenheit hat. Die Schilderung der betreffenden Prozesse erfolgt in (77) folglich im Präteritum, die Dynamik besteht bereits seit der Vergangenheit und auch die KONSEQUENZEN der industriellen Landwirtschaft sind bereits in der TW-Vergangenheit geschehen. Die INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT wird darüber hinaus vorwiegend als ‚Ding der Gegenwart‘ konzeptualisiert – also innerhalb der TW v. a. der Zeitstufe Gegenwart zugeordnet. Ein deutlicher Hinweis darauf ist die Verwendung des Adverbs/Adjektivs derzeit bzw. derzeitige in den Segmenten (78)–(80). Daneben wird der Gegenwartsbezug in diesen Beispielen – bei aller Vorsicht – durch die Verwendung des Präsens indiziert. (78) Unter dem derzeit vorherrschenden landwirtschaftlichen System verstärken sich die Probleme, die durch die Bekämpfung von Schädlingen mit giftigen Chemikalien entstehen, bis zu einem gewissen Grad von selbst. Der Anbau einer relativ geringen Anzahl von Arten und Sorten, vornehmlich in Monokulturen, erhöht deren Anfälligkeit für Pilzerkrankungen sowie Insekten- und Unkrautbefall. Eine geringe Vielfalt bei Arten, Sorten und Fruchtfolge fördert die Entwicklung und Ausbreitung von Schädlingen, Unkräutern und Krankheiten; diese werden derzeit großflächig mit Pestiziden bekämpft. (Greenpeace 2015) (79) Honigbienen und Wildbestäuber spielen für die Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion eine entscheidende Rolle. Beide Wirtschaftsbereiche sind durch das derzeitige industrielle, chemieintensive Landwirtschaftsmodell bedroht. Dadurch ist auch die Nahrungsmittelversorgung in Europa gefährdet. (Greenpeace 2013b)
entsprechend, dass die tatsächliche zeitliche Strukturierung und Perspektivierung der TW stark von ihrem Verhältnis sowohl zur ÄW als auch zu einer Bezugswelt abhängt.
9.2 Der Kampf der Systeme
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(80) Milliarden an Steuergeldern fließen derzeit in ein gescheitertes System, das weiterhin schwerwiegende ökologische und wirtschaftliche Schäden verursacht. (Greenpeace 2015).
Gerade Beispiel (80) zeigt durch die Verwendung des Adjektivs gescheitert die zeitliche Perspektivierung, die ÖKO bei der Konzeptualisierung der Systeme vornimmt: Die INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT kann bereits heute als gescheitert betrachtet werden. Sie ist somit ein ‚Ding der Gegenwart‘ (mit Vergangenheit), das zwar negativ in die nahe Zukunft weiterwirkt keinesfalls jedoch ein Ding der Zukunft ist. In einer weiterreichenden Zukunft kann sie nicht mehr als TW-Struktur existieren, wie Segment (81) klar macht. Durch diese Zukunftsperspektive, noch fest verankert in der Gegenwart, wird aber doch die bislang auch schon stark normativ-ideologische Perspektive unterstützt. (81) Das Sterben der Bienen macht dies offensichtlich und offenbart ein Dilemma: Die industrielle Landwirtschaft gräbt sich mit der Vernichtung der Bestäuber das eigene Grab. (Greenpeace 2013a)
Ganz gegenteilig jedoch verhält es sich mit der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT. Diese wird innerhalb der temporalen TW-Struktur vorrangig der Zeitstufe der Zukunft zugeordnet. So zeigt etwa die Verwendung des Präsens in (82) durch die beigefügte Temporaladverbiale heute und in der Zukunft eine Ausdehnung auf die TW-Zeitstufe ‚Zukunft‘. (82) Durch den Schutz der Böden, des Wassers und des Klimas stellt die ökologische Landwirtschaft heute und in der Zukunft eine gesunde Ernährung sicher. (Greenpeace 2014b) (83) Die Zukunft der Landwirtschaft liegt in naturnahen Methoden wie Mischkulturen, Fruchtfolgen und der Schaffung von Lebensräumen für Nützlinge. (BUND 2015b) (84) Unsere zukünftige Landwirtschaft soll im Einklang mit der Natur und nicht gegen sie arbeiten. (BUND 2018)
Diese Projektion der Landwirtschaftssysteme auf die Zeitstufen der TW hat – natürlich – etwas mit der Bewertung der Systeme zu tun, die sich auf die Möglichkeit auswirkt, die LANDWIRTSCHAFTS-Typen in volitive und deontische FWs zu integrieren. In (84) zeigt sich hier erneut eine enge Bindung des Zukunfts-Gedanken an den ‚Attraktor‘ Natur (siehe Abschnitt 9.2.2). Die Konzeptualisierung bei ÖKO verdeutlicht, dass aus ÖKO-Sicht nur die ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT zukunftsfähig ist bzw. dass es überhaupt nur dann eine Zukunft ‚gibt‘. Erst durch die Verankerung der ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT in der TW wird die Zukunft (auch morphosyntaktisch) als TW-Zeitstufe erschlossen:
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
(85) Nur wenn Pestizide nicht mehr die Landwirtschaft bestimmen und Anbausysteme ökologisch ausgerichtet sind, wird es möglich, bestehende wirtschaftliche und ökologische Probleme in der Landwirtschaft zu überwinden. (Greenpeace 2015)
Ein Aufschließen der TW-Zukunft ist in der ÖKO-TRS also an die ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT gekoppelt. Das zeigt sich auch an der Konstruktion von FWs in deontischer Welt-Welt-Relation: (86) Eine zukunftsfähige Landwirtschaft muss den Schutz von Bestäubungsinsekten zwingend beinhalten. Natürliche und naturnahe Lebensräume in der Agrarlandschaft müssen gefördert werden. Die Biodiversität sollte über Fruchtfolgen und ökologische Vorrangflächen erhöht und verstärkt finanzielle Mittel für die Entwicklung, Erforschung und Förderung ökologischer Praktiken zur Verfügung gestellt werden. (Greenpeace 2013a) (87) Zur Lösung der Probleme, die durch die Pestizidabhängigkeit entstanden sind, ist ein radikaler Paradigmenwechsel der Landwirtschaft erforderlich: hin zu nachhaltigen und chemiefreien ökologischen landwirtschaftlichen Praktiken. (Greenpeace 2015)
Gerade (87) zeigt nochmals die zeitliche Zuordnung der Systeme zu den Zeitstufen: Die von Vergangenheit bis Gegenwart bestehende industrielle Landwirtschaftspraxis (metonymisch durch Pestizidabhängigkeit indiziert) führt in der TWGegenwart zu bestehenden Problemen (die durch die Pestizidabhängigkeit entstanden sind). Als Notwendigkeit wird in einer deontischen FW der Wechsel zur ÖKOLOGISCHEN LANDWIRTSCHAFT (ist ein radikaler Paradigmenwechsel der Landwirtschaft erforderlich) konzeptualisiert (siehe Abbildung 9.17).
Abbildung 9.17: Rekonstruierte TW und FW in (87).
Die gestrichelten Linien, die die TW in Abbildung 9.17 vertikal gliedern, repräsentieren die drei Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der Pfeil in der TW das im Relativsatz indizierte Verursachungsverhältnis. Die in die Zukunft fortgesetzte zeitliche Gliederung der Weltenarchitektur beruht dabei auf zwei Ursachen: Zum einen auf dem logischen Verhältnis von faktischer TW und der FW in deontischer Welt-Welt-Relation in FORDERUNGS-Sprachhandlungen, die sich auf zukünftige Handlungen und Maßnahmen beziehen. Zum anderen darauf, dass in-
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nerhalb der FW die konzeptuelle Metapher ENTWICKLUNG IST EINE BEWEGUNG IM RAUM anhand einer Lokaladverbiale mit entsprechenden Konnektoren (hin zu ...) realisiert wird, die kohärent ist mit der basalen konzeptuellen Metapher ZEIT IST STRECKE. Das räumliche Ziel der Paradigmenwechsel-Bewegung entspricht somit einem Ort, der als Zukunft auf die TW-Strukturen übertragen werden kann. Aus diesem Grund besitzt die FW in Abbildung 9.17 ihren Ankerpunkt in der zukünftigen Zeitstufe der TW. Die Zukunftsorientierung zeigt sich auch an der Koppelung der Agrarwende an das vermutlich dominierende Zukunftsthema der Gegenwart, nämlich den Klimawandel: (88) Die ökologische Landwirtschaft ist sowohl eine Klimaschutzstrategie als auch eine Strategie der Anpassung an den Klimawandel. (Greenpeace 2014b)
Gerade in dieser Zuordnung von Vergangenheit und Zukunft in der Forderung nach einem Systemwechsel zeigt die ÖKO-TRS, dass es hier um das Große und Ganze geht, nämlich um die Möglichkeit einer existierenden Zukunft der TW. Argumentativ wird damit auch ein Gegengewicht zu den technischen Lösungen bei AGRAR gesetzt.
9.2.5 Fazit: Emotives und argumentatives Potential Die Dissoziation verschiedener LANDWIRTSCHAFTS-Typen, die in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen, erfüllt innerhalb der ÖKO-TRS wichtige argumentative Funktionen, auf die ich abschließend nochmals näher eingehen möchte. Dabei stechen zwei argumentative Funktionen hervor, von denen eine ein gesteigertes emotives Potential aufweist, während die andere etwas stärker ‚rational‘ verfährt. Die erste und mit einem besonders hohen emotiven Potential verbundene Funktion lässt sich als Argument nach dem Teil-Ganzes-Schema bzw. -Topos bezeichnen (vgl. Kienpointer 1992: 247). Ein zentraler Standpunkt im konstruierten Argument von ÖKO ist die Proposition ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘. Dieser Standpunkt (SP) wird an mehreren Stellen im Rückgriff auf den Teil-Ganzes-Topos dadurch gestützt, dass die INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT als wichtige URSACHE des Bienensterbens dargestellt wird. Abbildung 9.18 verdeutlicht diesen argumentativen Zusammenhang in der klassischen Darstellungsweise. Um diesen argumentativen Zusammenhang zu festigen, wird der VERURSACHUNGS-Zusammenhang von INDUSTRIELLER LANDWIRTSCHAFT und Bienensterben im Rahmen der Konzeptualisierung durch ein damit einhergehendes starkes emoti-
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SP: Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens. SR: Was für das Ganze gilt, gilt auch für einen Teil des Ganzen. Die industrielle Landwirtschaft ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens. Abbildung 9.18: Klassische schematische Darstellung des argumentativen Zusammenhangs der Propositionen ‚Die industrielle Landwirtschaft ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ und ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘.
ves Potential der epistemischen Strukturen des konstruierten CG unterstützt, wie Textsegment (89) anschaulich illustriert: (89) Der Rückgang der Bestäuber ist ein Symptom unseres gescheiterten industriellen Agrarsystems. Eine Fülle wissenschaftlicher Daten weist darauf hin, dass die industrielle Landwirtschaft durch den fortschreitenden Biodiversitätsverlust, die Zerstörung von Nahrungshabitaten und den Einsatz giftiger Chemikalien zur Unkraut- und Schädlingsbekämpfung die Zukunft der bestäubenden Insekten, auf die sie dringend angewiesen ist, bedroht. (Greenpeace 2017)
Die Konzeptualisierung der industriellen Landwirtschaft in (89) weist die oben geschilderten Charakteristika wie Progression (fortschreitend) und Zuordnung zu TW-Zeitstufen (gescheitert) auf. Das in dieser Konzeptualisierung enthaltene emotive Potential geht dabei über die bloße Thematisierung von KONSEQUENZEN hinaus. Nicht nur zeigt sich auf der lexikalischen Ebene der Gebrauch von sehr deutlich negativ wertenden Lexemen (gescheitert, *verlust, Zerstörung, giftig, bedroht) – im letzten Satz findet sich zudem eine Personalisierung der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT, die als Subjekt realisiert ist und somit AGENTIVITÄT repräsentiert, wodurch das durch das Verb bedroht ausgedrückte negative Emotionspotential noch gesteigert wird. Durch das Modaladverbial dringend wird ergänzend der Aspekt der INTENSITÄT realisiert. Ebenfalls intensivierend wirkt die Mengenangabe eine Fülle. Durch das Adjektiv fortschreitend ist zudem der Aspekt der DAUER Teil der komplexen Konzeptualisierung, der durch den Verweis auf die Zukunft der bestäubenden Insekten fortgesetzt wird. Schließlich verweist die Konstruktion ist ein Symptom + Genitiv erneut auf das unter 9.2.2 bereits angesprochene Konzept KRANKHEIT. Die Konstituierung der Proposition ‚Die industrielle Landwirtschaft ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ in (89) weist demnach angesichts der darin enthaltenen Negativität, Agentivität, Intensität, Dringlichkeit und Metaphorik ein sehr hohes emotives Potential auf. Um das Musterhafte dieser stark emotiven Konzeptualisierung herauszustellen, sei hier noch ein weiteres illustratives Beispiel angegeben, bei dem auch stilistische Merkmale zur emotiven Perspektivierung beitragen:
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(90) Industrielle Landwirtschaft: weniger Nahrung, mehr Gift Die moderne Landwirtschaft ist auf die Leistung von Bestäubungsinsekten dringend angewiesen. Dennoch steht außer Frage: Sie hat maßgeblichen Anteil am Rückgang und Sterben ihrer unverzichtbaren Helfer. Honigbienen und Wildbestäuber sind auf verschiedene Weise von der Landwirtschaft beeinträchtigt. Die Intensivierung der Agrarproduktion hat natürliche und naturnahe Lebensräume zerstört. Insekten finden immer weniger Nahrung und Nistgelegenheiten. In besonderem Maße gilt das auch für unsere Äcker und ihre Umgebung: Großflächige Monokulturen haben die Pflanzenvielfalt stark reduziert. Der Einsatz von Unkrautvernichtungsmitteln macht aus Äckern ökologische Wüsten. Beikräuter und Wildpflanzen werden immer mehr zurückgedrängt, Insekten geht eine bedeutende Nahrungsquelle verloren. Für eine Biene sind moderne Getreidefelder oder die in Deutschland auf dem Vormarsch befindlichen Maismonokulturen weitgehend uninteressant. (Greenpeace 2013a)
Bereits die Überschrift von (90) offenbart ein gesteigertes Emotionspotential. In ihr wird die INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT als Thema des Textsegments eingeführt und in elliptischer Form attribuiert. Dabei wird eine Antithese genutzt, die ein positiv (Nahrung) und ein stark negativ evaluiertes Substantiv (Gift) kontrastiv gegenüberstellt. Erneut finden sich im Segment die bereits beschriebenen Parameter des Emotionspotentials, bspw. negativ emotive Bewertung durch lexikalische Ausdrücke (Rückgang, beeinträchtigt, zerstört, geht ... verloren). Die Perspektivierung durch die PATIENS-Rolle der Insekten wird im letzten Satz durch Fokus-Platzierung der Konstruktion für eine Biene im Vorfeld des Satzes noch verstärkt, wobei die Konzeptualisierung eines Individuums im Singular eine zusätzliche Identifikationsmöglichkeit für Empathie bietet. Erneut wird INTENSITÄT (maßgeblichen, dringend, unverzichtbar, in besonderem Maße, stark, bedeutende) und DAUER (immer weniger und immer mehr, wobei sich hier stilistisch auch eine textuell gedehnte Antithese zeigt) konzeptualisiert. Die Konstruktionen zurückgedrängt und auf dem Vormarsch stützten zudem die unter 9.2.2 schon nachgewiesene konzeptuelle ExpansionsMetaphorik. Hinzu kommt in (90) der Aspekt der NÄHE, der durch den Possessivartikel unsere (Äcker) indiziert wird, sowie den Ausdruck ökologische Wüsten. Die Intensität und Spannung werden zudem verstärkt, indem im zweiten Satz eine durch den adversativen Konnektor jedoch noch betonte epistemische Positionierung vorgenommen wird. Sowohl in (89) als auch in (90) geht die Konzeptualisierung der Proposition ‚Die industrielle Landwirtschaft ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ mit einem hohen emotiven Potential einher. Gerade in der Perspektivierung anhand des Konzepts VERURSACHEN stellt sich die industrielle Landwirtschaft in der ÖKO-TRS also grundsätzlich als lebensfeindlich und zerstörerisch dar. Der argumentative Effekt, der sich somit einstellt, ist mehrteilig: Zum einen wird auf der Ebene des Arguments der Standpunkt, dass der Pestizideinsatz schädliche Auswirkungen auf Bienen hat
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und eine wichtige Ursache des Bienensterbens ist, durch den Teil-Ganzes-Topos plausibilisiert. Dabei verliert die Frage nach den Details dieser VERURSACHUNGSZusammenhänge scheinbar an Relevanz, da der größere Zusammenhang (die Zugehörigkeit zur INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT) die Proposition ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ bereits ohne den Blick aufs Detail rechtfertigt. Das gesteigerte emotive Potential dieser Konzeptualisierung verleiht diesem Aspekt zusätzliche Präsenz innerhalb der ÖKO-TRS und damit argumentatives Gewicht. Wie unter 9.3.4 näher zu zeigen sein wird, resultiert hier aus zudem eine Art emotive Kohärenz zwischen Propositionen, die deren argumentativen Zusammenhang möglicherweise unabhängig von formalen Schlussregeln oder als Aussagen rekonstruierbarer Topoi stützt. Zum anderen wird auf der normativen Ebene des Arguments die Perspektive geweitet. Die Debatte um ein Verbot um bestimmte Pestizide ist eingebettet in eine Debatte um das grundsätzliche Wesen der Landwirtschaft. Die Forderung nach einem Neonicotinoid-Verbot wird damit zur Mindestforderung in einem langen Forderungskatalog. Der Kampf der Agrarsysteme bei ÖKO stellt zudem gewissermaßen einen Gegenentwurf zum ‚versteckten‘ Argumentbau bei AGRAR dar (siehe Kapitel 8.2). AGRAR führt dort den Balance-Topos ein, um ein Gleichgewicht von Umweltschutz und Ertragssicherheit/Pflanzenschutz zu etablieren, wodurch Pflanzenschutzmittel aber zwangsläufig alternativlos werden und das Technische-Lösungen-Argument (Kapitel 8.3) befördert wird. Dem steht klar die Dissoziation der LANDWIRTSCHAFTS-Typen bei ÖKO gegenüber: Die Alternativlosigkeit der Pestizideinsatzes und die Gültigkeit des Balance-Topos in dieser Form mag auf das INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT-Paradigma zutreffen. Für die ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT gilt dies jedoch nicht: Die ÖKOLOGISCHE LANDWIRTSCHAFT fördert laut ÖKO sowohl den Umweltschutz als auch den natürlichen Pflanzenschutz. Die Notwendigkeit des Balance-Topos wird auch dadurch entkräftet, dass eine Landwirtschaft ohne Pestizide laut ÖKO nicht zu geringeren Erträgen führt. Dementsprechend kann ÖKO den in (91) explizierten Standpunkt vertreten. (91) Der biologische Landbau beweist: Eine Landwirtschaft ohne Agrochemie ist möglich. (Greenpeace 2013a)
Das bedeutet, dass ein Pestizidverbot aus Sicht von ÖKO nicht zu den von AGRAR behaupteten negativen Konsequenzen für die Ertragssicherheit führt. Technologische Lösungen zum Pflanzenschutz sind darüber hinaus nicht notwendig.
9.3 Gift! Den vermutlich zentralen Gegenstand der Debatte stellen Pestizide, insbesondere Neonicotinoide dar. Dementsprechend spielt deren Konzeptualisierung für die
9.3 Gift!
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ÖKO-TRS eine zentrale Rolle, welche ich im Folgenden näher beleuchten möchte. Zuvor jedoch möchte ich eine wichtige Anmerkung vorausschicken: ÖKO spricht an vielen Stellen der TRS allgemein von Pestiziden. Nur in einem Teil der Texte geht es dezidiert um Neonicotinoide, bspw. in PAN 2013 und Greenpeace 2017. Neonicotinoide werden in den Texten, die keine thematische Fokussierung auf Neonicotinoide aufweisen, als Exempel für das grundsätzliche Problem des Pestizideinsatzes behandelt, so etwa in Greenpeace 2014b oder Greenpeace 2015. Und auch in Texten, in denen dieser thematische Fokus zu erkennen ist, lässt sich die Tendenz zur Verallgemeinerung bzw. die Stellvertreterfunktion von Neonicotinoiden für Pestizide im Allgemeinen erkennen. Die ÖKO-TRS innerhalb der Neonicotinoid-Debatte ist somit erkennbar immer Teil des größeren diskursiven Zusammenhanges ‚PestizidDiskurs‘ und ÖKO hebt diesen auch immer wieder hervor. Wie im vorigen Abschnitt 9.2 schon im Hinblick auf das Agrarsystem festgestellt wurde, geht es ÖKO um etwas Größeres. Ich werde in diesem Kapitel dementsprechend davon sprechen, dass ÖKO in seiner TRS eine Konzeptualisierung des Frames PESTIZIDE vornimmt, und dabei die Aspekte Andersartigkeit/Ausschluss, Agentivität, Allgegenwart und Assoziation hervorhebt.
9.3.1 Andersartigkeit und Ausschluss Ein grundlegender Aspekt der Konzeptualisierung von PESTIZIDEN innerhalb der ÖKO-TRS ist deren Andersartigkeit. Gemeint ist damit deren ‚Künstlichkeit‘, die ihre Bedeutung allerdings erst durch die Opposition zur ‚Natürlichkeit‘ der Umwelt erhält. Die Relevanz dieser Andersartigkeit bei ÖKO legt die Verteilung der Lexeme chemisch, synthetisch und Chemikalie sowie damit gebildeter Komposita im Korpus nahe. Hier zeigt sich ein klarer Distributionsunterschied zwischen den beiden TRS: Während die entsprechenden Lexeme bei AGRAR 19-mal in 5 Texten vorkommen, finden sich bei ÖKO insgesamt 193 Verwendungen in 12 Texten. Dieser deutliche Unterschied spricht für die Relevanz dieser Lexeme für die ÖKO-TRS. Die ADJAS chemisch und synthetisch kommen vor allem als Bestandteile von NPs vor, die PESTIZIDE bezeichnen, sowie seltener als Charakterisierungen der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT (siehe Tabelle 9.2 in Abschnitt 9.2.1). Ebenfalls zur Bezeichnung von Pestiziden findet sich das Nomen Chemikalie (60-mal in 8 Texten) sowie verwandte Komposita wie bspw. Agrochemikalien (16-mal in 6 Texten). Gerade die häufig vorfindbare Synonymisierungs-Leistung von Chemikalien als Stellvertreter für Pestizide legt nahe, dass der Aspekt des Chemischen, Menschengemachten für ÖKO ein sprachlich fokussiertes Kernelement des Wissens um das Konzept PESTIZIDE darstellt. Der Frame PESTIZIDE wird (quasi metonymisch) über das FE ENTSTE-
360
9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
HUNG/HERSTELLUNG
perspektiviert. Kennzeichnend für Pestizide ist demnach, dass sie im Hinblick auf ihre Entstehung nicht natürlich sind98. Im Gegensatz dazu werden PESTIZIDE bei AGRAR häufig über das FE FUNKTION indiziert, bspw. durch das Lexem Pflanzenschutzmittel. Wie die Textsegmente (92)–(95) belegen, wird das Vorkommen chemischsynthetischer Pestizide in bestimmten TW-Bereichen als Verschmutzung bzw. Kontamination bezeichnet. Diese TW-Bereiche lassen sich zumeist dem Bereich der Biosphäre bzw. der NATUR zuordnen (Blüten, Nistplätze, Umgebung von Bienen, Bienenstock, Unkräuter, Pflanzen, Blühstreifen außerhalb des Feldes). (92) Häufig sind viele Blüten, Nistplätze sowie die allgemeine Umgebung von Bienen – und auch der während landwirtschaftlicher Tätigkeiten aufgewirbelte Staub – mit Chemikalien, hauptsächlich Pestiziden, kontaminiert. (Greenpeace 2013b) (93) Die Daten liefern zusammen mit vielen der Studien, die in der englischen Langfassung „The Bees’ Burden“ zitiert werden, weitere Beweise dafür, dass die Bienen bei der Nahrungssuche einem breiten Spektrum an Pestiziden ausgesetzt werden und diese als Kontamination zurück in den Bienenstock transportieren. (Greenpeace 2014a) (94) Krautige einjährige Unkräuter können ebenso mit Neonicotinoiden kontaminiert werden wie mehrjährige holzige Pflanzen. (Greenpeace 2017) (95) Und nicht nur die behandelten Kulturpflanzen werden zur Gefahr für Bienen. Auch Blühstreifen außerhalb des Feldes können mit Neonikotinoiden kontaminiert sein. (BUND 2018)
Die Unerwünschtheit der Pestizide bzw. die Bezeichnung ihres Vorkommens als Kontamination ist auch darauf zurückzuführen, dass die Perspektivierung neben deren ENTSTEHUNG auch deren EFFEKTE auf Lebewesen fokussiert: Etwas weniger häufig als die Bezeichnung Chemikalie findet sich bei ÖKO die Bezeichnung Gift (29-mal in 8 Texten) und die entsprechenden Komposita Nervengift (11-mal in 5 texten), Insektengift (5-mal in 3 Texten), Agrargift (3-mal in 1 Text) und Giftstoff (2-mal in 2 Texten). PESTIZIDE werden dabei sowohl im Hinblick auf ihre Unerwünschtheit innerhalb eines Organismus oder Systems als auch auf ihre (möglichen) Auswirkungen perspektiviert. Im Rahmen der ÖKO-TRS sind Pestizide als WBEs also bestimmten – v. a. dem Naturraum oder der Biosphäre angehörigen – TW-Bereichen nicht zugehörig und somit unerwünscht. So finden sich etwa Textsegmente, in denen sich ÖKO klar gegen das Vorkommen von Pestiziden in bestimmten TW-Bereichen positioniert:
Vgl. dazu die Wörterbucheinträge im DWDS: https://www.dwds.de/wb/synthetisch, https://www. dwds.de/wb/Chemikalie.
9.3 Gift!
361
(96) Pestizide haben auf ÖVF [ökologischen Vorrangflächen, NS] nichts zu suchen. (BUND 2017) (97) Greenpeace fordert Politik und Anbieter zum Handeln auf: Für Bienen gefährliche Gifte haben in Kleingärten nichts zu suchen. (Greenpeace 2013a) (98) Gefährliche Pestizide haben in unserer Umwelt nichts zu suchen. (BUND 2015b)
Die Konstruktion haben in/auf X nichts zu suchen in (96)–(98) verdeutlicht erneut, dass es bei ÖKO ein ‚Vorkommen-Problem‘ mit Pestiziden gibt (siehe dazu auch 9.3.3). Abbildung 9.19 stellt dieses ‚Vorkommen-Problem‘ als TWT-Rekonstruktion der im Zuge von (96)–(98) lokal konstruierten Fokuswelten dar: Die Textsegmente konstruieren, hier betrachtet im jeweiligen Gesamtkontext, Fokuswelten in volitiver Welt-Welt-Relation, die einen erwünschten Weltenzustand repräsentieren. Diese FWs sind wiederum – indiziert durch die Negation nichts – dadurch gekennzeichnet, dass die lokale Konstruktion einer FW in negierender Welt-WeltRelation das Vorkommen bestimmter TW-Entitäten (in der Darstellung repräsentiert durch den gefüllten Kreis) innerhalb eines TW-Bereichs (in der Darstellung repräsentiert durch das gestrichelte Kästchen) blockiert bzw. ausschließt. ‚volitive‘ Fokuswelt TW-Bereich: ökologische Vorrangflächen/Kleingärten/Umwelt
‚negierende‘ Fokuswelt TW-Bereich: ökologische Vorrangflächen/Kleingärten/Umwelt
Abbildung 9.19: Das ‚Vorkommen-Problem‘ in (96)–(98) als schematische TWT-Rekonstruktion.
Die TW-Bereiche, in denen das Vorkommen unerwünscht ist, variieren in den Beispielen von spezifisch ausgewiesenen Schutzflächen, privaten Räumen sowie dem TW-Bereich Umwelt – in (98) durch den Possessivartikel unserer in eine Nähe zur Leserin gerückt und zudem zu einer Art kollektiven Besitzes erklärt. An dieser Stelle sind zwei Dinge interessant: Zum einen spielt hier die – unter 9.3.3 ausführlicher behandelte – räumliche Verteilung der Pestizide innerhalb der TW eine Rolle. Zum anderen erscheint es fraglich, ob es innerhalb der TW überhaupt Räume für Pestizide gibt, da ihr Vorkommen auch in TW-Bereichen, die durch den Frame LANDWIRTSCHAFT strukturiert sind und somit das gewissermaßen übliche ‚konzeptuelle Habitat‘ für Pestizide darstellen, unerwünscht ist:
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
(99) „Bei uns kommen keinerlei Pestizide zum Einsatz. Mein innerstes Gefühl sagt mir, dass in der Landwirtschaft eigentlich kein Platz für Pestizide ist. Meiner Ansicht nach schaden sie mehr, als dass sie nützen.“ (Greenpeace 2014b)
Im Unterschied zu (96)–(98) bezieht sich die lokale Konstruktion in X ist kein Platz für Y nicht auf unmittelbar ‚räumlich‘ aufzufassende TW-Bereiche. Vielmehr scheint die Unerwünschtheit hier anhand einer konzeptuellen Metaphorik (etwa: EIN FRAME IST EIN RAUM) auf ein semantisches System, also einen HintergrundFrame der TW, bezogen – nämlich auf den Frame LANDWIRTSCHAFT. Diese konzeptuelle Un-Zugehörigkeit bzw. Unerwünschtheit zeigt eine weitere Form des Ausschlusses von Pestiziden aus einer erwünschten Text- bzw. Fokuswelt. Innerhalb der TW gibt es also keinen erwünschten oder auch nur geduldeten Platz für Pestizide – gleichzeitig befinden sie sich, wie Abschnitt 9.3.3 zeigen wird, de facto überall. Es entsteht somit eine Spannung zwischen einer volitiven Welt ohne Pestizide und einer existierenden TW, innerhalb derer Pestizide omnipräsent sind. In dieser Hinsicht ist der Titel von Greenpeace 2014b Leben ohne Pestizide durchaus umfassend zu verstehen. Es kann somit als grundsätzliches Charakteristikum der PESTIZID-Konzeptualisierung bei ÖKO angesehen werden, dass sie in erster Linie im Hinblick auf ihre ENTSTEHUNG/HERSTELLUNG ‚andersartig‘ sind, als dies von ÖKO erwünscht ist, sowie im Hinblick auf ihre EFFEKTE schädlich, und dass ihr Vorkommen in einer erwünschten Welt räumlich wie konzeptuell ausgeschlossen ist. Die Problematik des Vorkommens der Pestizide in einem TW-Ausschnitt, in dem sie nicht sein dürfen, zeigt sich auch bei der Bezeichnung des geforderten Verbotes als Verbannung: (100) Schrittweise Verbannung aller chemischen Pestizide (Herbizide, Insektizide und Fungizide) in ganz Europa durch die flächendeckende Einführung der ökologischen Landwirtschaft. (Greenpeace 2014b) (101) Chemisch-synthetische Pestizide müssen aus der EU verbannt werden, wobei Chemikalien mit besonders gefährlichen Eigenschaften sofort aus dem Verkehr zu ziehen sind. (Greenpeace 2015)
9.3.2 Agentivität Ein weiterer zentraler Aspekt der Konzeptualisierung von PESTIZIDEN – insbesondere von Neonicotinoiden – in der ÖKO-TRS stellt ihre Agentivität dar. Pestizide werden nicht vorrangig als passive Objekte und Instrumente menschlichen Handelns dargestellt, sondern selbst als gewissermaßen handlungsfähig konzeptualisiert. Einen Hinweis darauf liefern die thematischen Rollen, die von Pestiziden besetzt werden. Dies betrifft insbesondere die Konzeptualisierung von Pestiziden
9.3 Gift!
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als VERURSACHER sowie die Konzeptualisierung der Fähigkeit zur selbstständigen Fortbewegung, also zur Lokomotion. Agentivität: Pestizide als VERURSACHER Eine Konzeptualisierung von Agentivität lässt sich bspw. dann erkennen, wenn Pestizide als Subjekte von VPs realisiert werden, die eine Form der VERURSACHUNG bezeichnen. Wie Lakoff (1987: 54–55) bemerkt, lässt sich das prototypische Konzept der VERURSACHUNG als direkte Manipulation begreifen, bei dem ein – prototypischerweise menschliches – Agens willentlich und verantwortlich eine Veränderung bei einem Patiens herbeiführt. Je unmittelbarer sich diese Beziehung darstellt, umso höher sei laut Lakoff (ebd.) zudem die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verb, das eine Form der Verursachung bezeichnet, ein simples Stammmorphem aufweist. Tatsächlich finden sich innerhalb der ÖKO-TRS immer wieder Textsegmente, bei denen Pestizide die für das Agens vorgesehene Subjektposition in VPs einnimmt, welche Formen der VERURSACHUNG konzeptualisieren. Eine annotationsbasierte Analyse der Korpustexte ergibt, dass sich bei ÖKO 52 solcher Segmente zeigen, bei AGRAR hingegen nur 13, von denen wiederum 5 Verweise auf Debatten-Aussagen darstellen, also Zitate oder Negationen repräsentieren (vgl. hierzu das in 8.1 beschriebene AUFKLÄREN-Muster). Tabelle 9.3: Verursachungsverben in VPs mit Pestiziden als VERURSACHER bei ÖKO. Verb schädigen/schaden beeinträchtigen/beeinflussen zu X führen (als X) wirken schwächen stören töten reduzieren sich auswirken auf X X bewirken Wirkungen hervorrufen/zeigen anfällig machen blockieren erhöhen X machen verringern zerstören
Anzahl
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Tabelle 9.3 zeigt eine Übersicht über Verben, die bei ÖKO in VERURSACHUNGS-VPs vorkommen und bei denen Pestizide, sowohl in Aktiv- wie auch Passiv-Formen, die VERURSACHER-Position besetzen. Ein Blick auf die Tabelle zeigt das Vorkommen von mehreren Verben, bei denen die semantische Information des VERURSACHENS an die Indizierung durch ein Stammmorphem gebunden ist, wie töten, schädigen, schwächen, stören. Lakoff (1987: 55) folgend, wird in diesen Fällen das Konzept VERURSACHEN nahe am prototypischen Fall konzeptualisiert, d. h., dass das Subjekt solcher VPs weitestgehend prototypische agentivische Eigenschaften aufweist. Interessant ist außerdem, dass in fast allen entsprechenden Fällen Bienen als Patiens der jeweiligen VPs realisiert sind. Diese Form der Konzeptualisierung von Pestiziden als unmittelbare und agentivische VERURSACHER spielt eine wichtige Rolle bei der Konzeptualisierung des Wirkungszusammenhangs von Pestiziden auf Bienen und stellt ein zentrales Element der emotiven Perspektivierung bei ÖKO dar. Pestizide werden in sprachlicher (!) Hinsicht also als handelnde unmittelbare Verursacher von negativen Wirkungen auf Bienen dargestellt. Diese Konsequenzen werden gerade im Falle von Verursachungsverben emotiv perspektiviert, wie das folgende Beispiel (102) zeigt: (102) Eine besondere Rolle beim Bienensterben spielen die Neonikotinoide. Das sind hochwirksame Nervengifte, die in der Landwirtschaft gegen Schädlinge z. B. im Raps und Obstbau sowie im Hobbygarten für Zierpflanzen eingesetzt werden. Die Gifte schädigen und töten aber auch Bienen, andere Insekten und sogar Vögel und Säugetiere. Wissenschaftler fanden heraus, dass Bienen, die Neonikotinoide aufgenommen haben, nicht mehr zum Bienenstock zurückfanden. Die Gifte stören ihr Orientierungsvermögen und die Gedächtnisleistung und schwächen das Immunsystem. Pestizide machen Bienenvölker anfälliger für die Varroamilbe, einem gefährlichen Parasiten für Honigbienen. (BUND 2015b)
Segment (102) illustriert, wie einige der bereits besprochenen Aspekte der PESTIZIDKonzeptualisierung in der ÖKO-TRS ineinandergreifen, und zeigt zudem weitere wichtige Gesichtspunkte auf. Bspw. legt die Tatsache, dass im letzten Satz von (102) Pestizide ohne bestimmten Artikel verwendet wird, nahe, dass Neonicotinoide hier Stellvertreter für die übergeordnete Kategorie der PESTIZIDE darstellen99. Ich werde das Textsegment deshalb an dieser Stelle etwas ausführlicher aus Sicht der TWT interpretieren. Abbildung 9.20 stellt eine TWT-Rekonstruktion einiger wesentlicher Aspekte der durch (102) aufgebauten Weltenarchitektur dar. Die vertikale Ausrichtung der FAP-Ebene soll dabei die Linearität bzw. Prozessualität des Weltenaufbaus repräsentieren. Die Darstellung der Frame-Strukturen soll die jeweiligen Bezüge hervorheben.
Gleiches legt auch der Titel des Flyers nahe, in dem allgemein von Pestiziden die Rede ist, während sich der Fließtext zunächst klar auf Neonicotinoide fokussiert.
9.3 Gift!
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Im Vortext von (102) ist das Bienensterben als TW-Ereignis bereits konzeptualisiert. Diese TW-Struktur wird im ersten Satz von (102) aufgenommen und durch die Nominalisierung Bienensterben als faktisch gesetzt. Innerhalb der propositionalen (Frame-)Struktur wird nun dem bislang nicht eingeführten WBE ‚Neonicotinoide‘ eine zunächst unspezifizierte besondere Rolle zugewiesen, die sich – wie sich zeigen wird – als Besetzung des FE URSACHE interpretieren lässt. Im zweiten Satz findet durch die Prädikation das sind eine Art ‚Hintergrundarbeit‘ in der TW statt, d. h., auf der Hintergrundebene der TW wird das Frame-Wissen um das WBE NEONICOTINOIDE (gestrichelter Kasten innerhalb der TW) durch das FrameWissen um GIFT (gestrichelter Kasten außerhalb der TW) perspektiviert, wobei die Frame-Elemente FUNKTION, PATIENS und EFFEKT fokussiert werden. Der anschließende Text des Segments dient nun dazu, diese im Hintergrund der TW bereits als faktisch verankerte propositionale Struktur weiter anzufüllen, sie somit argumentativ auszudifferenzieren und emotiv zu perspektivieren.
Abbildung 9.20: Partielle TWT-Rekonstruktion von (102).
Der in (102) konzeptualisierte VERURSACHUNGS-Zusammenhang wird durch die Verwendung der Verben töten und schädigen im dritten Satz als unmittelbar dargestellt, wobei die Neonicotinoide stark agentivisch konzeptualisiert werden. Unklar ist an dieser Stelle, ob die Gifte hier metonymisch für den zuvor angesprochenen Neonicotinoid-Einsatz stehen oder auf die Stoffe als TW-Entitäten verweisen. Als af-
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fizierte Patientes sind Lebewesen, v. a. Bienen, konzeptualisiert, bei denen stark negativ bewertete Effekte auftreten. Diese negative Bewertung von Effekten auf Lebewesen, denen gegenüber eine Rezipientin empathiefähig ist und vermutlich auch Sympathien trägt, weist ein hohes emotives Potential auf. Die Effekte werden in der zweiten Hälfte des Textsegmentes genauer dargestellt. Hier fällt vor allem der vierte Satz von (102) auf: Der Tempuswechsel ins Präteritum (zurückfanden) indiziert den Aufbau eines Forschungsraums (FR)100 – die dort verortete Proposition dient, typisch für ÖKO, als Beleg für die Gültigkeit der zuvor in den CG eingeführten TW-Proposition, die durch die VPs töten und schädigen indiziert wurde. Dabei wird sowohl syntaktisch (durch Subjektstellung) wie konzeptuell deutlich die Perspektive von konkreten bzw. individuellen Bienen fokussiert, die als Experiencer die EFFEKTE der von den Pestiziden beigeführten VERURSACHUNG erleben. Diese Art der Konzeptualisierung von betroffenen Einzelindividuen erhöht – möglicherweise – das emotive ‚Mitleids‘-Potential von (102). Im fünften Satz von (102) wird die innerhalb des FRs verankerte Proposition durch die Verben stören und schwächen erneut unter agentivischer Beteiligung der Neonicotinoide als allgemeingültige Aussage in die TW re-integriert – der unmittelbare VERURSACHUNGS-Zusammenhang wird also weiter gefestigt. Zuletzt wird eine stärker mittelbare Beeinflussung auf Bienenvölker (machen anfälliger) hinzugefügt. Zwar werden innerhalb von (102) keine argumentativen Bezüge der unterschiedlichen VERURSACHUNGS-Propositionen zueinander expliziert, die stark agentivische Konzeptualisierung bestärkt jedoch die Inszenierung von Neonicotinoiden als verantwortlichen VERURSACHERN. Dies wiederum fördert die Möglichkeit oder gar Präferenz einer Rezipientin, Neonicotinoiden den URSACHEN-Slot in der propositionalen Struktur des Bienensterbens zuzuweisen, wobei das emotive Potential der Konzeptualisierung diesen Effekt unterstützt und möglicherweise sogar bekräftigt. Textsegment (102) illustriert somit in verdichteter Form die argumentative und emotive Funktion der agentivischen Konzeptualisierung von PESTIZIDEN in der ÖKO-TRS (vgl. hierzu auch 9.2.3 und 9.3.4). Dasselbe agentivische Schema findet sich tatsächlich immer wieder dann in den ÖKO-Texten, wenn über die Wirkungen von Neonicotinoiden gesprochen wird, wie etwa in den Segmenten (103) und (104): (103) Die Gefährlichkeit von Neonikotinoiden (eine Gruppe von Insektiziden) für Bienen ist vielfach wissenschaftlich belegt. So schwächen Neonikotinoide zum Beispiel das Immunsystem von Honigbienen, was die Bienen anfälliger für Krankheiten und Parasiten wie die Varroa-Milbe macht. (BUND 2017)
Siehe hierzu Kapitel 7.4.1.
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(104) Die Neonicotinoide töten nicht nur Bienen, sondern auch andere (Nutz-)Insekten und verringern damit die Artenvielfalt. Vögel und andere Tiere, die von Insekten leben, leiden dann unter Nahrungsmangel. (BUND 2016[2010])
Gerade das Verb töten in (104) verdeutlicht den unmittelbaren und agentivischen Verursachungszusammenhang von Pestiziden und Effekten, deren Konzeptualisierung ein erhöhtes emotives Potential aufweist. Tatsächlich wird die emotionale Perspektivierung in (104) noch durch weitere Phänomene verstärkt: Die Konstruktion nicht nur ... sondern auch beinhaltet eine Steigerung des Ausdrucks und hebt den durch die VP ausgedrückten Sachverhalt nochmals intensivierend hervor. Im nächsten Satz werden dann weitere Lebewesen im Satzvorfeld fokussiert eingeführt (eine Position, die auch die Konjunktion dann hätte besetzen können), die als Experiencer der VP leiden realisiert sind. Einen deutlichen Ausdruck findet die emotive Funktionalität der agentivischen Konzeptualisierung in der Form von Personalisierungen wie den folgenden: (105) Pestizide unterscheiden nicht zwischen Freund und Feind. (Greenpeace 2015)
Ironischerweise wird Pestiziden in (105) gerade dadurch, dass ihnen Unterscheidungsfähigkeit abgesprochen wird, die prinzipielle Möglichkeit einer gewissen Handlungsfreiheit implizit eingeräumt. Die Personalisierung wird durch die Nomen Freund und Feind verstärkt, die soziale Beziehungen von Lebewesen zueinander bezeichnen. Obwohl (105) weder explizit aussagt, dass Pestizide unterscheiden und autonom handeln könnten, noch dass sie soziale Beziehungen eingehen, werden durch die Negation dennoch die entsprechenden Wissenselemente zur Konzeptualisierung der PESTIZIDE genutzt, wodurch ein deutlicher Effekt der Personalisierung eintritt. Der perspektivierende Konzeptualisierungsaspekt kann auch bei Nominalisierungen der entsprechenden Verursachungsverben hervortreten, wie die folgenden Beispiele (106) und (107) zeigen: (106) Doch Fakt ist, dass knapp die Hälfte der Proben Rückstände aus der Gruppe der umstrittenen Neonicotinoide – drei davon auch bekannt als Bienenkiller – enthalten [...]. (Greenpeace 2013a) (107) Nervengift mit fataler Wirkung: Bienenkiller Neonikotinoide (BUND 2018)
Durch die Bezeichnung Bienenkiller wird der unmittelbar-agentivische VERURSAauf den Debattengegenstand NEONICOTINOIDE in den TWHintergrund übertragen und durch die morphologische Realisierung als Kompositum quasi fossiliert bzw. fixiert. Zudem wird genau dieser Aspekt des Wissensrahmens dadurch im Wortsinne ‚bezeichnend‘ für Neonicotinoide. Gerade in (107) – der Überschrift von BUND 2018 – kann dies als deutliches Indiz für ein hohes
CHUNGS-Zusammenhang
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emotives Potential der Konzeptualisierung von Neonicotinoiden bzw. Pestiziden angesehen werden. Die Verbindung der Konzeptualisierung als agentivisch-personalisierter VERURSACHER mit der Perspektivierung der Pestizide im Hinblick auf ihre EFFEKTE auf Lebewesen, wie sie sich auch in der wiederkehrenden Bezeichnung Gift deutlich zeigt, weist ein hohes emotives Potential auf. Damit einhergehend wird das Wissen um den Verursachungszusammenhang zwischen Pestiziden und Lebewesen verstärkt, was sich auch auf der multimodalen Ebene zeigt:
Abbildung 9.21: Ganzseitige Abbildung aus Greenpeace 2014b.
Im in Abbildung 9.21 wiedergegebenen multimodalen Text-Bild-Zusammenhang wird der VERURSACHUNGS-Zusammenhang von Pestizideinsatz und Bienentod nicht weiter expliziert. Durch den Hinweis auf die Verbannung bienengefährlicher Pestizide aus der Landwirtschaft wird zunächst nur die scheinbare Ko-Präsenz von tote[r] Biene und Pestizid nahegelegt. Tatsächlich legt gerade die Nicht-Explizierung bzw. die Nicht-Notwendigkeit der Explizierung hier nahe, dass der VERURSACHUNGSZusammenhang im geteilten Wissen umso stärker präsupponiert wird. Erschließt eine Rezipientin sich diesen Zusammenhang, kann sie Kohärenz und Sinn herstel-
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len. Die ganzseitige Abbildung verleiht zudem einem toten Individuum Präsenz. Die Perspektivierung der Konsequenzen des Pestizideinsatzes erfolgt erneut ‚aus Sicht‘ eines Bienenindividuums – das damit einhergehende emotive Potential der Abbildung ist zweifellos hoch. Lokomotion Ein weiterer Aspekt der agentivischen Konzeptualisierung von PESTIZIDEN betrifft ihre Fähigkeit zur selbstständigen Fortbewegung, d. h. zur Lokomotion. Auch hier werden Pestizide nicht passiv als Instrumente menschlichen Handelns dargestellt, sondern gewissermaßen als selbstständig verfahrende TW-Entitäten konzeptualisiert. Wie bereits unter 9.3.1 erwähnt, existiert innerhalb der ÖKO-TRS ein ‚Vorkommen-Problem‘ mit Pestiziden, dass unter dem in 9.3.3 diskutierten Aspekt der Allgegenwärtigkeit argumentativ funktional wird. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass Pestizide keine räumlich-stationären TW-Entitäten sind, sondern sich innerhalb der TW bewegen. Wie die Textsegmente (108) und (109) verdeutlichen, erfolgt die Darstellung dieser Bewegung durch Bewegungsverben, bei denen Pestizide als Subjekte realisiert sind. Interessant ist vor allem Segment (109): Zwar werden Pestizide durch das reflexiv gebrauchte Verb sich verteilen und die Passivform transportiert werden auch als von außen bzw. durch Fremdeinwirkung bewegte Entitäten dargestellt, gleichzeitig verweisen die beiden unterstrichenen VPs (und insbesondere das Modalverb können) aber auf eine deutliche Konzeptualisierung als eigenständige, sich aus eigenem Antrieb heraus bewegende Entitäten. (108) Pestizide oder ihre Metaboliten hatten bei 60 Prozent der 2280 untersuchten Probenahmestellen das Grundwasser erreicht.7 (Greenpeace 2015) (109) Pestizide sind in der Umwelt allgegenwärtig und verteilen sich großräumig. Sie können ihren ursprünglichen Ausbringungsort verlassen und über die Atmosphäre oder das Wasser über weite Strecken transportiert werden. Auch vor dem Gewebe lebender Organismen machen sie keinen Halt. (Greenpeace 2015)
Besonders deutlich jedoch zeigt sich die Konzeptualisierung der LokomotionsFähigkeit bei ÖKO durch eine Gegenüberstellung mit vergleichbaren Textpassagen bei AGRAR. Ein gutes Vergleichsobjekt bieten hier Beschreibungen der Verteilung von Neonicotinoiden in Pflanzen in explikativen Textpassagen, die über die Wirkweise systemischer Pestizide informieren, wie den folgenden Textsegmenten (110) und (111) von AGRAR: (110) Eine wichtige Eigenschaft der Neonikotinoide ist ihre Systemizität. Die Aufnahme in die Pflanze bietet vor allem in den frühen Wachstumsstadien Schutz gegen Schädlinge. Nachdem eine Pflanze die Substanzen über die Wurzeln aufgenommen hat, werden sie über das Xylem von unten nach oben in der Pflanze verteilt [...] Eine horizontale Verteilung
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in der Pflanze, für die ein Weitertransport im Phloem erforderlich wäre, ist, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Maße möglich. Aus diesem Grund ist auch die Translokation von Neonikotinoiden in den Pflanzen nach einer Blattbehandlung sehr limitiert. (Bayer 2016) (111) Denn gerade insektizide Beizmittel wie die Neonikotinoide bilden einen effizienten Schutzschild für besonders für Schädlinge anfällige junge Keimpflanzen: Als Beizmittel legen sie sich wie eine hauchdünne Hülle um das Saatgut. Die sich entwickelnden Wurzeln des Keimlings nehmen den Wirkstoff auf – und bewahren so Raps, Mais und Co. in der empfindlichen Auflaufphase vor Insektenfraß. (Bayer 2015b)
In (110) und (111) werden Neonicotinoide als passive Entitäten dargestellt. Die Konzeptualisierung von Bewegung erfolgt durch Nomen, die Neonicotinoide als Thema bzw. Patiens – also als passiv bewegtes Objekt – darstellen (Aufnahme, horizontale Verteilung, Translokation) sowie durch VPs, in denen die Pflanze als agentivisches Subjekt konzeptualisiert ist (aufgenommen hat, nehmen auf), oder aber durch Passivkonstruktionen (werden verteilt). Einzig das reflexive legen sich um in (111) kann als schwächerer Hinweis auf agentivische Konzeptualisierungsaspekte gedeutet werden. Ganz anders stellt sich die Konzeptualisierung dieser Bewegung in einigen ÖKO-Segmenten dar: (112) Insektengifte wirken häufig „systemisch“, das heißt sie gelangen in die ganze Pflanze [...] Wie andere systemische Insektizide werden auch Neonicotinoide gerne zur sogenannten „Beizung“ von Saatgut eingesetzt. Saatgut wird dabei mit den Giften ummantelt, die Wirkstoffe verteilen sich beim Wachstum in Keimling und Pflanze. (Greenpeace 2013a) (113) Einige Insektizide, darunter die als Neonicotinoide bekannte Gruppe, wirken systemisch, das heißt, sie bleiben nicht an der Oberfläche einer Pflanze, sondern dringen in ihr Gefäßsystem ein und gelangen so überallhin. Einige Neonicotinoid-Insektizide werden zur Umhüllung von Samen eingesetzt, damit diese bei der Aussaat geschützt sind (Beizung). Wenn der gebeizte Samen zu keimen und zu wachsen beginnt, verteilen sich die Neonicotinoide in den Stängeln und Blättern der Pflanze und können so schließlich ins Guttationswasser (wässrige Absonderung des Sämlings an der Spitze der jungen Blätter) und später auf Pollen und Nektar gelangen. (Greenpeace 2013b)
Im Gegensatz zu den AGRAR-Segmenten nehmen die Neonicotinoide in (112) und (113) jeweils die Subjektposition von Bewegungsverben ein. Am eindrücklichsten ist dabei vermutlich die Formulierung dringen in ihr Gefäßsystem ein in (113). Die Bewegung der Neonicotinoide wird hier als eine Art Eigenleistung der Stoffe konzeptualisiert und nicht als Resultat einer ‚externen‘ Bewegung von außen. Derselbe Prozess wird von ÖKO in (112) und (113) also ganz anders perspektiviert als von AGRAR in (110) und (111), wobei die Konzeptualisierung der Neonicotinoide bei ÖKO ein deutlich höheres Maß an Agentivität aufweist. An den beiden Stellen wird ersichtlich, dass diese Bewegung und die daraus resultierende Anwesenheit der Neonicotinoide in der Pflanze als nicht wünschenswert erachtet werden.
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Typisch für die Darstellung der autonomen Bewegung der Neonicotinoide bei ÖKO im Gegensatz zu AGRAR ist also ihre Satzposition als Subjekt in Aktivsätzen, teilweise sogar als semantisches Agens. Häufig verwendet wird dabei auch das Verb gelangen. Diese Darstellungsform bestimmt die perspektivische Konzeptualisierung der Neonicotinoide bei ÖKO, wie auch im folgenden Textsegment (114) deutlich wird, bei dem die Beschreibung der Bewegung um die agentivische Konzeptualisierung der VERURSACHUNG (blockieren) erweitert wird: (114) In der Pflanze gelangen die Neonikotinoiden Wirkstoffe aufgrund ihrer systemischen Eigenschaft mit den Pflanzensäften in alle Pflanzenteile und Neuzuwächse. [...] Einmal in der Biene angekommen, wirken Neonikotinoide als Nervengifte. Sie blockieren im Insekt wichtige Rezeptoren im Hirn. Bei höheren Konzentrationen kann dies akut zum Tod der Insekten führen, bei geringeren Dosierungen werden überlebenswichtige Funktionen gestört, wie die Fähigkeit zu riechen oder sich zu orientieren. (PAN 2013)
In (114) wird eine Art ‚Tätigkeitsprofil‘ der Neonicotinoide geschildert. Dieses besteht zunächst aus der Bewegung, auf die als unmittelbares und intendiertes Resultat (einmal in der Biene angekommen) die Wirkung auf die Bienen folgt. Die mittelbaren Folgen werden dann deagentiviert dargestellt (werden gestört). Interessant ist an (114) allerdings auch, dass hier die Erklärung der Wirkweise zunächst in Bezug auf ein einzelnes konkretes Individuum vorgenommen wird (in der Biene, im Insekt), bevor eine Verallgemeinerung (der Insekten) erfolgt. Diese wird allerdings auch mit einem bestimmten Artikel konstruiert. Dadurch entsteht hier weniger der Eindruck, als würde über eine abstrakte Entität (z. B. eine Art) gesprochen, als über konkrete Lebewesen. Es zeigt sich also erneut der wichtige Punkt der ‚Betroffenenperspektive‘, der auf das emotive Potential der erfolgenden Perspektivierung verweist. Argumentative und emotive Funktionen der Agentivität Die Inszenierung der Handlungsfähigkeit der Neonicotinoide verstärkt die Konzeptualisierung als VERURSACHER, wodurch argumentative Bezüge zwischen Propositionen, die EFFEKTE von Pestiziden repräsentieren, und Propositionen, die Pestizide als mögliche URSACHEN von Ereignissen wie dem Bienensterben benennen, plausibilisiert werden. Dies wird auch bei dem unter 9.3.4 beschriebenen Aspekt der Assoziation eine Rolle spielen. Agentivität und Lokomotion können als Kerneigenschaften lebendiger Organismen angesehen werden, weshalb hier auf der konzeptuellen Ebene auch von einer Art Personalisierung von PESTIZIDEN gesprochen werden kann, was ebenfalls für ein gesteigertes emotives Potential der Konzeptualisierung spricht. Als Verantwortliche von negativen Konsequenzen für wertvolle Lebewesen wie Bienen, erhöht sich zudem das negative emotive Potential ihrer Konzeptualisierung, wodurch die Einstellung einer Rezipientin gegenüber Pesti-
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ziden deutlich negativ beeinflusst werden kann. Dies wird durch die Verbindung der agentivischen Konzeptualisierung mit der Einnahme der Betroffenenperspektive, wie mehrfach aufgezeigt, weiter unterstützt. Die Selbstständigkeit der Pestizide als Entitäten, gerade in Bezug auf die Lokomotion, steht zudem in einem starken Widerspruch zu der von AGRAR in deemotionalisierender Funktion behaupteten Kontrollierbarkeit des Pestizideinsatzes (siehe Kapitel 8.3.3), wie auch das folgende Textsegment (115) zeigt: (115) Pestizide wirken auch am Ziel vorbei (Greenpeace 2015)
Die Selbstständigkeit von Pestiziden führt aber auch dazu, dass diese – anders als reine Instrumente oder Werkzeuge – selbst Verantwortung für die durch sie hervorgerufenen Konsequenzen tragen: (116) Pestizide sind für Biodiversitätsverluste verantwortlich. (Greenpeace 2015)
Durch die Fokussierung auf die agentivisch konzeptualisierten PESTIZIDE als Stoffe anstelle einer stärkeren Konzeptualisierung des EINSATZES von Pestiziden in der landwirtschaftlichen Praxis, werden innerhalb der ÖKO-TRS dann, wenn es um Verursachung und Konsequenzen geht, Landwirte weitgehend aus der Verantwortung genommen. Hierzu passt die unter 9.2.2 besprochene passive Rolle, die Landwirte der INDUSTRIELLEN LANDWIRTSCHAFT einnehmen. Offenbar versucht ÖKO es hier zu vermeiden, eine Akteursgruppe in der Debatte gegen sich aufzubringen, und fokussiert stattdessen die Industrie als eigentliche Verantwortliche. Hierzu passt auch der oben bereits angesprochene Befund, dass die Bezeichnung als Chemikalien Pestizide im Hinblick auf HERSTELLUNG UND ENTSTEHUNG und weniger im Hinblick auf ihren landwirtschaftlichen Einsatz und ihren Nutzen für Landwirte perspektivieren.
9.3.3 Allgegenwart Auf das grundsätzliche ‚Vorkommen-Problem‘ von ÖKO mit Pestiziden habe ich bereits unter 9.3.1 hingewiesen. In der innerhalb der TRS konstruierten Textwelt existiert darüber hinaus ein tatsächliches Problem mit dem Vorkommen: Pestizide sind in der im Rahmen der ÖKO-TRS konstruierten TW bereits omnipräsent. (117) Neonikotinoide sind bereits in unserer Umwelt und Nahrung angekommen. Man findet sie im Honig und Obst, in Flüssen, Seen, Pfützen und im Boden. (BUND 2015b) (118) Aktuelle Daten zeigen zudem, dass Neonicotinoide in unserer Umwelt allgegenwärtig geworden sind und die Wasserressourcen, die Böden sowie die natürliche Vegetation kontaminieren. (Greenpeace 2017)
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Auf multimodaler Ebene stellt Abbildung 9.22 ein Beispiel für die Konzeptualisierung der Allgegenwärtigkeit von Pestiziden in der TW dar. Zudem zeigt sich in der Abbildung nicht nur, dass Pestizide überall in der Welt sind – die Darstellung in Pfeilform zeigt gleichzeitig auch, dass sie sich innerhalb der TW bewegen (siehe dazu auch den Aspekt der Lokomotion unter 9.3.1). Liest man die Infografik von links nach rechts und verbindet die Leserichtung mit der Konzeptualisierung eines zeitlichen Prozesses, dann beginnt die Ausbreitung mit dem durch den Traktor dargestellten landwirtschaftlichen Einsatz. Die Farbgebung in Abbildung 9.22 könnte zudem als weiterer Hinweis auf die Un-Natürlichkeit der Pestizide interpretiert werden.
Abbildung 9.22: Infografik aus Greenpeace 2015.
Als Ursache für die Allgegenwart der Pestizide in der TW wird von ÖKO das Ausmaß des Pestizideinsatzes angegeben. Hierbei spielt, wie Segment (119) zeigt, die Konzeptualisierung von räumlichen (weltweit), zeitlichen (seit gut einem halben Jahrhundert) und mengenbezogenen (massenhaft, hunderte, eine Vielzahl von) Ausmaßen und Quantitäten eine wichtige Rolle. Es resultiert hieraus das Bild einer vollumfänglich ‚mengenbelasteten‘ TW. Diese Erwähnung von Quantitäten kann als ein typisches Element der Konzeptualisierung des Pestizideinsatzes in der ÖKO-TRS betrachtet werden.
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(119) Seit gut einem halben Jahrhundert setzt das weltweite Landwirtschaftssystem auf die massenhafte Nutzung chemisch-synthetischer Pestizide. Um Ernteverluste zu verringern, landen hunderte verschiedene Pestizide in Größenordnungen von Millionen Tonnen auf den Feldern. Die meisten landwirtschaftlichen Betriebe setzen heutzutage eine Vielzahl von Pestiziden nicht nur im seltenen Fall eines starken Schädlingsbefalls ein, sondern wenden diese routinemäßig in ihren Kulturen an. So werden Kulturpflanzen innerhalb einer Anbauperiode mehrfach mit Chemikalien behandelt. Die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Pestiziden hat in Kombination mit deren hoher Persistenz und Allgegenwart dazu geführt, dass diese schädlichen chemischen Verbindungen mittlerweile fast jedes Ökosystem auf unserer Erde belasten. (Greenpeace 2015)
Die Quantität und das Ausmaß des Pestizideinsatzes führen dazu, dass Pestizide in einem TW-Ausschnitt, in dem auch Bienen verortbar sind, stets sehr präsent sind: (120) Der umfangreiche Einsatz von Pestiziden ist in den derzeit vorherrschenden chemieintensiven Agrarsystemen gang und gäbe. Häufig sind viele Blüten, Nistplätze sowie die allgemeine Umgebung von Bienen – und auch der durch landwirtschaftliche Tätigkeiten aufgewirbelte Staub – mit Chemikalien, insbesondere Pestiziden, belastet. Diese Insektizide, Herbizide und Fungizide werden auf landwirtschaftlichen Flächen ausgebracht und über den Pollen und Nektar sowie über die Luft, das Wasser und den Boden an die Bienen abgegeben. (Greenpeace 2014b)
Hier zeigt sich der Aspekt der Ausbreitung von Pestiziden, bei dem der in 9.3.2 beschriebene Aspekt der Lokomotion eine wichtige Rolle spielt. Neben der eigenen Bewegungsfähigkeit der Pestizide könnten dafür aber auch Eigenschaften der TW selbst ursächlich sein. So zeigt die Abbildung 9.22 oben, dass natürliche planetare Prozesse wie Verdunstung und Niederschlag zur Verbreitung der Pestizide in der TW führen, worin eine Konzeptualisierung der TW als vernetztes Ökosystem erkennbar wird. Als Resultat der Allgegenwart der Pestizide in der TW ergibt sich somit die Unvermeidbarkeit des Kontaktes. Dieser Punkt erfüllt eine wichtige argumentative Funktion innerhalb ÖKO-TRS. Beispiel (121) macht dies klar und verdeutlicht gleichsam das emotive Potential, das mit diesem Kontakt einhergeht. (121) Pestizide in der Umwelt: Es gibt kein Entkommen (Greenpeace 2015).
Der Kontakt von Natürlichem und Chemischem scheint hier – quasi automatisch – für das Natürliche eine Bedrohung darzustellen, die vermieden werden müsste. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen und sagen, dass (121) impliziert, dass die natürlichen Entitäten um diese Bedrohung wissen und den Kontakt deshalb selbstständig vermeiden wollen (Entkommen). Selbst wenn diese Interpretation gewagt sein könnte, scheint es unstrittig, dass (121) den Kontakt aus Sicht der natürlichen Entitäten perspektiviert und negativ evaluiert. Eine sehr ähnliche Perspektivierung zeigt sich auch in (122):
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(122) Der Gifteinsatz gegen Schadinsekten ist in der modernen Landwirtschaft heutzutage allgegenwärtig. Eine Vielzahl von Wirkstoffen wird verwendet und betrifft somit nicht nur Schädlinge, sondern alles Leben in der Kulturlandschaft. Auch Bienen können sich ihnen nicht entziehen. Sie werden direkt getroffen oder kommen über ihre Sammeltätigkeit mit den Giften in Kontakt. (Greenpeace 2013a)
Dabei ergibt sich in den Texten eine Art sequentielle kausale Logik: Die Menge des Einsatzes führt zu einer Omnipräsenz, diese führt zu einem Kontakt und dieser hat wiederum negative Konsequenzen für natürliche Lebewesen wie bspw. Bienen. Wie (123) zeigt, scheinen die genauen Kausalzusammenhänge innerhalb dieser Sequenz weitestgehend irrelevant: (123) Neben Herbiziden gegen Unkräuter kommen auch Insektizide gegen Schadinsekten sowie Fungizide gegen Pilzbefall als ackerbauliche Standardinstrumente zum Einsatz. Insekten und andere Tiere sind so permanent einer Vielzahl von Chemikalien ausgesetzt. Ihre genauen Wirkungen sind großteils unverstanden – an ihrer grundsätzlichen Schädlichkeit bestehen aber keine Zweifel. (Greenpeace 2013a)
Für diese Kontakt-Logik spricht, dass einzelne Aspekte dieser Sequenz auch unexpliziert bleiben können, wie bspw. in (124) der Kontakt. Der großflächige und allgegenwärtige Einsatz der Pestizide scheint bereits den unvermeidlichen Kontakt mit ihnen zu implizieren. In (125) wird die aus dem Kontakt resultierende negative Verursachung nur angedeutet (Das hat Folgen ... ). Dennoch scheinen beide Textsegmente den gleichen argumentativen Zusammenhang zwischen dem Umfang des Pestizideinsatzes, der Allgegenwart der Pestizide in der Umwelt, der Unvermeidbarkeit des Kontaktes und den daraus folgenden negativen Konsequenzen zu etablieren. (124) Der großflächige und allgegenwärtige Einsatz von Pestiziden, der in den derzeitigen chemieintensiven Agrarsystemen allgemein üblich ist, kann zu einer erhöhten Sterblichkeit und/oder einer veränderten Sammelfähigkeit bei Wild und Honigbienen führen [...] (Greenpeace 2013b) (125) Von anorganischen Düngemitteln bis hin zu giftigen Pestiziden – die moderne Landwirtschaft setzt auf verschiedene chemisch-synthetische Stoffe, um insekten- und Pilzschädlinge in Schach zu halten und Unkraut zu bekämpfen. eine Studie aus England hat den Einsatz von Agrochemikalien innerhalb einer einzigen Vegetationsperiode beeindruckend zusammengetragen (Goulson1): Angefangen bei gebeiztem Saatgut, das mit Insektiziden und Fungiziden behandelt wurde, bis hin zur Behandlung mit Pestiziden und synthetischen Düngemitteln im Laufe der Vegetation – so wurde der Winterraps in einer Saison 20 Mal behandelt, der Winterweizen immerhin 18 Mal. Das hat Folgen für wichtige Bestäuber wie die Biene. Einige dieser Pestizide mögen zwar zu Zeiten ausgebracht worden sein, als die Biene nicht geflogen ist. Andere wiederum können gebündelt in einem ganzen Cocktail an Pestiziden die Biene direkt kontaminiert haben. (Greenpeace 2014a)
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Ebenfalls argumentativ-funktional ist die Allgegenwart der Pestizide, weil sie – durch die damit eingenommene breitere TW-Perspektive – den Blick nicht nur auf isolierte Phänomene, Prozesse und einzelne Pestizide lenkt, sondern daneben auch bspw. synergistische Effekte miteinbezieht.
9.3.4 Assoziation Blickt man auf die propositionale Einbettung der Konzeptualisierung von PESTIZIDEN innerhalb der ÖKO-TRS, zeigt sich eine Verbindung zu einer Form des Argument-Baus, die ich als Assoziation bezeichnen möchte. Mit Assoziation ist das Gegenteil von dem unter Kapitel 8.2.3 beschriebenen dissoziativen Verfahren gemeint: Ein konzeptueller Bereich wird hier nicht aufgespalten, sondern so erweitert, dass er mehrere – eigentlich unterscheidbare – (Teil-)Konzepte miteinschließt. Assoziation betrifft – bezogen auf das von ÖKO entwickelte Argument – vor allem Gründe bzw. Belege für die Proposition bzw. den Standpunkt ‚Der Pestizideinsatz hat negative Konsequenzen für Bienen‘ sowie damit zusammenhängend die Beziehung zwischen dieser Proposition und der Proposition bzw. dem Standpunkt ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘.
PESTIZIDE
URSACHE
Pestizide
PATIENS
BIENEN (INDIVIDUEN)
PATIENS
BIENEN (ART)
VERURSACHEN
PESTIZIDEINSATZ
URSACHE
Bienen
Abbildung 9.23: Assoziatives Verhältnis zwischen den Propositionen ‚Pestizide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen (Individuen)‘ und ‚Der Pestizideinsatz verursacht negative Konsequenzen bei Bienenvölkern‘.
Abbildung 9.23 verdeutlicht das an manchen Stellen der ÖKO-TRS konzeptualisierte assoziative Verhältnis zwischen den Propositionen ‚Pestizide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen (Individuen)‘ und ‚Der Pestizideinsatz verursacht negative Konsequenzen bei Bienenvölkern‘. Die miteinander assoziierten Konzepte bzw. Konzeptbereiche sind dabei jeweils in gestrichelten Kästchen angegeben. Wie die kursiv geschriebenen Wörter verdeutlichen, beruht die assoziative Kraft bspw. auf der Verwendung von Lexemen, die entweder durch Metonymie, wie im Fall von Pestizide, oder durch Polysemie, wie bei Bienen, auf beide Konzepte gleichsam verweisen können.
9.3 Gift!
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Ein Beispiel für ein solch assoziatives Verhältnis zeigt sich bspw. in BUND 2017. Hier wird im Rahmen des dort vorgebrachten Forderungskatalogs zunächst auf die Menge des Pestizideinsatzes verwiesen und dann die Proposition ‚Der Pestizideinsatz verursacht negative Konsequenzen für Bienen‘ eingeführt: (126) Eine besondere Gefahr für bestäubende Insekten geht vom hohen Pestizideinsatz aus. 35.000 Tonnen reiner Pestizidwirkstoff wurden im Jahr 2015 in Deutschland in der Landwirtschaft, auf kommunalen Flächen und in Hobbygärten ausgebracht. (BUND 2017)
Darauffolgend wird als Maßnahme ein Neonicotinoid-Verbot gefordert. Zur Begründung wird Textsegment (127) angeführt: (127) Die Gefährlichkeit von Neonikotinoiden (eine Gruppe von Insektiziden) für Bienen ist vielfach wissenschaftlich belegt. So schwächen Neonikotinoide zum Beispiel das Immunsystem von Honigbienen, was die Bienen anfälliger für Krankheiten und Parasiten wie die Varroa-Milbe macht. (BUND 2017)
Die in (127) eingeführte Proposition lässt sich zunächst als ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ rekonstruieren, wobei weder zwischen den Stoffen vs. dem Stoffeinsatz noch zwischen Bienen als Individuen vs. als Art differenziert wird. Der zweite Satz in (127) bezieht sich bei genauerer Betrachtung sogar deutlich auf Neonicotinoide als Stoffe und Bienen als Individuen. Dennoch wird der (kausale) Zusammenhang zwischen den in (126) und (127) eingeführten Propositionen im Kotext nicht expliziert. Die argumentative Funktionalität ergibt sich vielmehr aus der Assoziation der Konzeptbereiche gemäß des in Abbildung 9.24 dargestellten Schemas.
STERBEN THEMA
URSACHE
BIENEN
PESTIZIDEINSATZ VERURSACHEN URSACHE
PATIENS
EFFEKT
PESTIZIDE
BIENEN
‚NEGATIVE KONSEQUENZEN‘
Abbildung 9.24: Assoziatives Verhältnis zwischen den Propositionen ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ und ‚Pestizide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen‘.
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9 Die transtextuelle rhetorische Strategie (TRS) von ÖKO
Ein weiteres wichtiges assoziatives Verhältnis betrifft den Zusammenhang zwischen den beiden oben genannten Propositionen und der Proposition ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘. Ich werde dies im Folgenden an einem etwas längeren Ausschnitt aus Greenpeace 2013a illustrieren. (128) Insektengifte: Gefahr über tödliche Wirkungen hinaus Die Wirkung von Insektiziden kann als akut bzw. tödlich (letal) bezeichnet werden, wenn sie schnell eintritt und zum Tod führt. Zahlreiche Substanzen wirken jedoch auf subtilerer Ebene, ihre Effekte werden daher als „sub-letal“ bezeichnet. Hierzu zählen Auswirkungen auf die Entwicklung, Orientierung oder das Lernverhalten. Sub-letale Wirkungen sind deutlich schwieriger zu analysieren als letale. Es häufen sich aber Hinweise, dass sie einen entscheidenden Anteil am Bienensterben haben. Diskutiert werden beispielsweise: [...] (Greenpeace 2013a)
In (128) wird zunächst die Proposition ‚Pestizide verursachen negative Konsequenzen bei Bienen‘ eingeführt und elaboriert, indem zwei unterschiedliche Arten von negativen Konsequenzen (letale und subletale) differenziert werden. Anschließend wird diese Proposition als mögliche Ursache des Bienensterbens dargestellt. An dieser Stelle herrscht – auf den ersten Blick – noch kein assoziatives Verhältnis. (Zumindest, wenn eine Rezipientin den anaphorischen Verweis sie im vorletzten Satz auf Sub-letale Wirkungen bezieht und nicht etwa auf Pestizide.) Aus Sicht einer klassischen Argumentationsanalyse stellt sich jedoch das Problem, dass der Zusammenhang der drei relevanten Propositionen, die – nach meiner Meinung – in (128) miteinander in ein Verhältnis gesetzt werden, nicht ohne weiteres durch Schlussregeln rekonstruiert werden kann: SP: Pestizideinsatz ist wichtige Ursache des Bienensterbens.
? Subletale Effekte von Pestiziden sind wichtige Ursache für Bienensterben.
? Pestizide haben negative subletale Effekte für Bienen. Abbildung 9.25: ‚Klassisches‘ Schema der argumentativ in (128) miteinander verbundenen Propositionen.
Der Zusammenhang der beiden in Abbildung 9.25 dargestellten Propositionen beruht auf dem bereits angesprochenen metonymisch-assoziativen Zusammenhang von PESTIZIDEN und PESTIZIDEINSATZ. Der stützende Zusammenhang der beiden un-
9.3 Gift!
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teren Proposition gestaltet sich hingegen komplizierter. Aufschlussreich ist hier der weitere Textzusammenhang. So folgt auf (128) direkt die mit (129) startende Auflistung von sub-letalen Effekten: (129) 1. Physiologische Effekte Pestizide wurden wiederholt für Entwicklungsstörungen bei Bestäubungsinsekten verantwortlich gemacht. Im Laborversuch waren zum Beispiel Gehirn- und Zellfunktionen, Wärmeregulation oder Atemmuster beeinträchtigt. In Bienenstöcken wurden Missbildungen und verzögerte Entwicklungen beobachtet. An Hummeln konnte die schädliche Wirkung des Neonicotinoids Imidacloprid demonstriert werden: Das Gift bewirkte schon in sehr geringen Konzentrationen eine Verschlechterung der Entwicklung von Hummelvölkern und reduzierte die Anzahl von Königinnen. (Greenpeace 2013a)
In (129) wird die Proposition ‚Pestizide verursachen negative sub-letale Konsequenzen bei Bienen‘ durch experimentelle Nachweise gestützt. Auch hier bleibt die Beziehung von Pestiziden und Pestizideinsatz assoziativ. Darüber hinaus wird auch in (129) keine unmittelbar als Schlussregel rekonstruierbare Beziehung zwischen ‚Pestizide verursachen negative sub-letale Konsequenzen bei Bienen‘ und ‚Sub-letale Effekte von Pestiziden sind wichtige Ursache für das Bienensterben‘ etabliert. Als rekonstruierbare Interpretationen bieten sich hier etwa an ‚Gestörte Funktionen und Missbildungen von Einzelbienen sind wichtige Ursachen des Bienensterbens‘ oder ‚Verschlechterte Entwicklung von Hummelvölkern und reduzierte Anzahl von Königinnen sind wichtige Ursachen des Bienensterbens‘. Der genaue Zusammenhang bleibt hier allerdings vage und muss von einer Rezipientin selbst erschlossen werden. Für plausibler halte ich die Interpretation, dass hier eine assoziative Verbindung der durch VERURSACHEN strukturierten Propositionen in (129) mit der propositionalen Struktur von ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ angenommen werden kann, die darauf beruht, dass die Struktur der einen Proposition aufgrund quasi identischer bzw. assoziierbarer Konstituenten (bzw. Slot-Filler) auf die andere übertragen bzw. gemappt werden kann. In beiden Fällen treten ‚Pestizide‘ als URSACHEN von NEGATIVEN KONSEQUENZEN für ‚Bienen‘ in Erscheinung. Es geht also weniger darum, den mehrschrittigen und mittelbaren Verursachungszusammenhang zwischen den explizierten Propositionen enthymematisch zu konzeptualisieren, als darum eine Ähnlichkeitsverbindung von zwei Propositionen sichtbar zu machen. (130) 2. Störung von Mobilität, Navigation und Orientierung Bienen vollbringen bemerkenswerte Leistungen beim Sammeln von Nektar und Pollen. Auf ihren ausgedehnten Flügen ist eine funktionierende Orientierung unerlässlich. Pestizide schädigen die Bienen hier entscheidend. Sie verringern im Experiment die Aktivität und be-
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hindern vor allem die Navigation der Insekten. Erst im Jahr 2012 konnte gezeigt werden, dass Arbeiterinnen, die das Neonicotinoid Thiamethoxam in niedrigen Dosen aus Pollen oder Nektar aufnahmen, vermehrt den Weg in ihren Stock nicht mehr fanden. Das Volk wird so entscheidend geschwächt, das Risiko seines Kollapses erhöht sich. In der Imkerpraxis sind Effekte wie dieser schwer wahrnehmbar, da die betroffenen Bienen außerhalb des Stockes sterben. 3. Sammel- und Lernverhalten Pestizide können eine abstoßende Wirkung auf Bienen haben. Sie reduzieren die Fähigkeiten zum Auf- und Wiederfinden von Futterquellen. Außerdem kann das hochentwickelte Lernen und das Gedächtnis von Honigbienen durch Agrargifte empfindlich geschädigt werden. Dies betrifft beispielsweise das sogenannte olfaktorische Gedächtnis für Gerüche. Die Schädigung des olfaktorischen Lernens greift massiv in die Ernährung von ganzen Bienenvölkern ein, weil das Sammeln des überlebenswichtigen Futters weniger effizient abläuft. (Greenpeace 2013a)
Die für (129) angestellten Überlegen lassen sich auch auf den nachfolgenden Textabschnitt (130) übertragen. Der argumentative Zusammenhang zwischen den von ‚Pestiziden‘ verursachten sub-letalen Effekten auf Bienen und Bienenvölker wird nicht weiter mit dem Verursachen des Bienensterbens in Beziehung gesetzt. Tatsächlich zeigt sich hier eine Art argumentative Lücke, die durchaus als Wissenslücke interpretiert werden kann, wie der im Folgesegment (131) platzierte Verweis auf Nichtwissen (sind bei weitem nicht verstanden) nahelegt. (131) Die Auswirkungen sub-letaler Effekte von Pestiziden auf Bienen sind bei weitem nicht verstanden. Nahezu unmöglich ist es, die Wirkung von Giftmischungen zu beurteilen. In der Umwelt sind Bienen aber in der Regel einem regelrechten Giftcocktail ausgesetzt. Schädliche Effekte können sich dabei addieren oder auch gegenseitig verstärken. Entsprechend dem Vorsorgeprinzip muss daher der Einsatz aller Ackergifte minimiert werden. (Greenpeace 2013a)
Gemäß der hier von mir vertretenen Interpretation wird diese Wissenslücke im geteilten Wissen weitestgehend durch assoziative Verhältnisse von Propositionen (hier unterstützt durch gezielt negativ emotives Vokabular: Giftmischungen, Giftcocktail, Ackergifte) argumentativ überbrückt. Wie (131) zeigt, spielt hier zudem die konzeptualisierte Allgegenwärtigkeit von Pestiziden eine Rolle. Der letzte Satz von (131), der die normative Forderung nach einem Verbot des Pestizid-Einsatzes realisiert, bestätigt dabei die Hypothese, dass hier ‚Pestizide‘ und ‚Pestizideinsatz‘ assoziiert werden. Unzweifelhaft ist zudem, dass das Lexem Pestizide in seinem Bedeutungsumfang zudem viele der in den experimentellen Nachweisen eigentlich differenzierten Pestizide wie bspw. einzelner Neonicotinoide vereint, was wiederum als weitere Form der Assoziation bzw. als Verallgemeinerung bezeichnet werden kann. Noch deutlicher zeigt sich das oben skizzierte assoziative Verhältnis im bereits angesprochenen Text BUND 2017. Hier verläuft die Assoziation über eine
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Perspektivierung beider Propositionen durch den hoch-emotiven Frame GEFAHR bzw. GEFÄHRDEN. Dabei wird die Konzeptualisierung des Bienensterbens in der Text-Einleitung durch den folgenden Satz als Überschrift eingeleitet: (132) Die Bienen sind in Gefahr (BUND 2017)
Wie die Segmente (126) und (127) zeigen, wird auch die Proposition ‚Der Pestizideinsatz/Pestizide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ durch den Frame GEFAHR perspektiviert. Der einzige argumentative Zusammenhang zwischen den assoziierten Propositionen und der hier – wie ich meine plausiblerweise – implizierten Proposition ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘, der sich im Text findet, stellt eine Form des pars-pro-toto-Arguments dar, das die INDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT als Ganze als Ursache des Bienensterbens anführt und den Pestizideinsatz als deren Teil darstellt (vgl. dazu 9.2.3): (133) Die Gründe für das Sterben von Wildbienen und Bienenvölkern liegen hauptsächlich in der industriellen Landwirtschaft. Diese ist von Überdüngung, dem Einsatz chemischsynthetischer Pestizide sowie dem Verlust von vielfältigen Strukturen wie Hecken, Feldrainen und Blühflächen gekennzeichnet. (BUND 2017)
Insgesamt wird hier jedoch der argumentative Zusammenhang der Propositionen durch eine Assoziation gestärkt, in der die Perspektivierung durch den Frame GEFAHR als eine Art Brücke fungiert. Es erscheint mir plausibel, dass auch hier das damit einhergehende emotive Potential der Konzeptualisierung die Assoziation der beiden Propositionen weiter verstärkt. Selbiges lässt sich bspw. auch in BUND 2016[2010] feststellen: (134) Neonicotinoide werden in der Landwirtschaft und im Gartenbau weiterhin eingesetzt. Das von vielen Imkern beobachtete anhaltende und massive Bienensterben ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch diese Nervengifte mitverursacht. In den vergangenen Jahren sterben Bienen weltweit in nicht gekanntem Ausmaß. In Deutschland gingen im letzten Halbjahr etwa ein Viertel bis ein Drittel der Bienenvölker verloren. Zeitgleich verschwinden in den betroffenen Regionen Wildbienen, Schmetterlinge und sonstige Nutzinsekten. Das Bienenvolksterben und das Nutzinsektensterben korreliere mit dem zunehmenden Einsatz von Neonicotinoiden in der Landwirtschaft. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Neonicotinoide, wie das Clothianidin dramatischere Auswirkungen haben, als bisher angenommen: [...] (BUND 2016[2010])
Wie Textsegment (134) zeigt, wird die Proposition ‚Neonicotinoide sind eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ hier zunächst ebenso mit einer Abschwächung der epistemischen Qualität (mit hoher Wahrscheinlichkeit) eingeführt wie der stützende Grund einer Korrelation von Einsatz und Bienensterben. Der zweite Absatz in (134), auf den eine hier nicht wiedergegebene Stichpunktliste mit Neonicotinoid-Wirkungen bzw. Verursachungen folgt, lässt sich der Vertextungs-Logik
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folgend als fortgesetzter Argument-Bau zur Stützung bzw. Plausibilisierung dieser Proposition interpretieren. Erneut lassen sich die angesprochenen Formen der Assoziation von Pestizid und Pestizideinsatz feststellen, so wie eine Assoziation der propositionalen Frame-Strukturen der Propositionen ‚Der Pestizideinsatz ist eine wichtige Ursache des Bienensterbens‘ und ‚Pestizide haben negative Konsequenzen für Bienen‘. Auch hier lässt sich beobachten, dass die Assoziation der beiden Propositionen durch deren analoge emotive Perspektivierung gestützt wird. So wird die Assoziation der Propositionen durch die Verwendung von Nervengifte im zweiten Satz von (134) bereits unmittelbar angedeutet. Der in den obigen Textbeispielen aufgezeigte assoziative Zusammenhang argumentativ relevanter Propositionen kann auch in komprimierter Form realisiert werden, wie etwa in der bereits besprochenen Bezeichnung Bienenkiller oder aber in den insgesamt 26-mal in 10 ÖKO-Texten vorfindbaren NPs mit dem ADJA (hoch-)bienengefährlich. Auch bei Letzteren wird ein negativer VERURSACHUNGSZusammenhang mit Bienen als affizierte Patientes perspektiviert, der sich auf mehrere argumentativ relevante Propositionen gleichermaßen beziehen kann. Anders ausgedrückt: Mit der Bezeichnung bienengefährliche Pestizide können gleichermaßen die Propositionen ‚Pestizide haben negative Effekte auf Bienen‘, ‚Der Pestizideinsatz hat negative Konsequenzen für Bienen‘ als auch ‚Der Pestizideinsatz ist eine Ursache des Bienensterbens‘ als Verstehensleistung einer Rezipientin indiziert werden. Welche propositionalen Strukturen in solchen Fällen tatsächlich von einer Rezipientin in die TW und damit in den CG integriert werden, hängt im Einzelfall auch vom Vorwissen der Rezipientin sowie insbesondere von der im Kotext erfolgten Weltenkonstruktion ab. Die von mir oben angeführten ausführlichen Beispiele legen nahe, dass in den meisten Fällen mindestens zwei relevante Propositionen in die TW integriert und dort im hier geschilderten Sinne assoziativ miteinander zu einer Argumentstruktur verbunden werden. Ebenfalls legen die Beispiele nahe, dass die Assoziation hier vor allem in Verbindung mit emotiver Perspektivierung stattfindet und möglicherweise durch die agentivische Konzeptualisierung von Pestiziden als VERURSACHER noch unterstützt wird. (135) Anhaltendes Bienensterben durch Pestizide (BUND 2016[2010])
Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass die Argumentation in der ÖKO-TRS grundsätzlich falsch oder fehlerhaft wäre, da an vielen Stellen genau diese Zusammenhänge auch differenziert und expliziert werden. Durch die Platzierung assoziativer Textsegmente an prominenten Stellen, wie etwa der in (135) wiedergegebenen Überschrift von BUND 2016[2010], wird allerdings ein umfassenderes Bedeutungspotential evoziert, dass für ein Verständnis des ÖKO-Arguments durchaus prägend erscheint. Die Funktionalität assoziativer Textsegmente legt zudem nahe, dass eine differenzierte Argumentation im Rahmen der ÖKO-TRS aufgrund der emotiv-perspektivierten Kon-
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zeptualisierung von INDUSTRIELLER LANDWIRTSCHAFT und PESTIZIDEN in vielen Fällen nicht unbedingt notwendig zu sein scheint, da die entsprechenden Zusammenhänge von einer Rezipientin anscheinend selbstverständlich erschlossen werden können und/oder als nicht strittig betrachtet werden.
9.3.5 Fazit: Gifte Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Konzeptualisierung von PESTIZIDEN bzw. PESTIZIDEINSATZ in der ÖKO-TRS stellt Pestizide als Entitäten dar, deren Vorkommen innerhalb der TW aufgrund ihrer unnatürlichen Entstehungsweise und den daraus – fast automatisch – resultierenden negativen Konsequenzen für die Natur unerwünscht ist. Die Konzeptualisierung fokussiert dabei deutlich die Pestizide selbst und demgegenüber etwas weniger deren landwirtschaftlichen Einsatz. Dieser ist zunächst ‚nur‘ verantwortlich für die Allgegenwart der Pestizide, die zudem durch deren Bewegungsfähigkeit noch verkompliziert wird. An der Schädlichkeit der Pestizide besteht innerhalb der AGRAR-TRS von vornherein kein Zweifel, wie entsprechende Benennungen wie Gifte deutlich machen. Aufbauend auf dieser grundsätzlichen Schändlichkeit innerhalb der Konzeptualisierung bieten sich auch argumentative Möglichkeiten, bei denen argumentative Bezüge zwischen Propositionen durch semantisch-konzeptuelle Assoziationsprozesse hergestellt werden können, statt durch die differenzierte Explizierung von Schlussregeln. Das gesteigerte emotive Potential der Pestizide und insbesondere ihrer Positionierung in VERURSACHUNGS-Zusammenhängen ist kohärent mit den in Kapitel 9.2 beschriebenen Konzeptualisierungen der industriellen Landwirtschaft.
10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde – Wissenskonstitution, Weltenarchitekturen und Plausibilitätsstrukturen 10.1 Das Wichtigste in Kürze – Zusammenfassung der Befunde Die in den Kapiteln 7–9 ausführlich dargelegten Befunde zeichnen ein umfangreiches Bild wichtiger Aspekte der beiden transtextuellen rhetorischen Strategien (TRS) der zentralen Akteure ÖKO (Umweltschutz-NGOs) und AGRAR (Agrar- und Pflanzenschutzindustrie), so wie sie aus den Analysen der Korpustexte hervorgehen. In diesem Kapitel möchte ich einen kompakten Überblick über die beiden TRS geben, der diese – soweit dies möglich ist – in ihrer Gesamtheit als komplexe und in sich verschränkte Strategiekonzepte erkennen lässt. Dazu fasse ich die wichtigsten Befunde nochmals zusammen.
Abbildung 10.1: Textwelt-Integration und Handlungscharakter der TRS.
Aus der von mir in dieser Arbeit vertretenen Perspektive lassen sich TRS vor allem im Hinblick auf die Art und Weise der damit verbundenen Wissenskonstitution (bzw. Weltenkonstruktion) beschreiben. Denn die im lokal konstituierten geteilten Wissen angelegten Plausibilitätsstrukturen legen den Grundstein für die rhetorische Wirkung (siehe Kapitel 4.1.5). Abbildung 10.1 stellt eine schematische Annährung an die Wissenskonstitution in den beiden TRS dar, die die zentralen Bestandteile ‚Textwelt-Integration‘ und ‚Handlungscharakter‘ in Form eines TWT–Diagramms darhttps://doi.org/10.1515/9783111077369-010
10.1 Das Wichtigste in Kürze – Zusammenfassung der Befunde
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stellt101. Aus meiner Sicht kann Abbildung 10.1 als Kernbefund der von mir durchgeführten Analyse betrachtet werden. Ich werde die beiden TRS im Nachfolgenden ausgehend von dem in Abbildung 10.1 dargestellten Schema skizzieren und dabei an den entsprechenden Stellen auf die jeweiligen Ausführungen in den Kapitel 7–9 rückverweisen.
10.1.1 ÖKO: ‚Wir sehen jetzt, was wir bereits wussten – also tun wir etwas!‘ Die Wissenskonstitution im Rahmen der ÖKO-TRS hat einen stark agitatorischen Charakter, der sich im dominanten Handlungsmuster FORDERUNGEN ABLEITEN zeigt. Wissenschaftliches Wissen bzw. wissenschaftliche Erkenntnisse werden hierbei angeführt, um daraus Forderungen für umfassendes, v. a. politisches Handeln abzuleiten (siehe Kapitel 9.1.1). Diese Forderungen zielen in den meisten Fällen nicht allein auf die gesetzliche Regulierung der Produktion und Nutzung von Neonicotinoiden, sondern beinhalten vielmehr das generelle Verbot von Pestiziden sowie einen Paradigmenwechsel im europäischen Landwirtschaftssystem. Es geht ÖKO somit gewissermaßen um das große Ganze. Vor allem gegen Ende der meisten ÖKO-Texte zeichnet sich die Weltenarchitektur dabei durch eine gesteigerte ‚Enge‘ aus (Kapitel 9.1.2): Die Welt der in der Äußerungswelt (ÄW) repräsentierten Interaktionssituation von Orator und Leserin ist identisch mit der in der Textwelt (TW) beschriebenen Situation, die sich – ausgehend von Notlagen, Missständen und Erkenntnissen – durch die Notwendigkeit zum Handeln auszeichnet. Die geforderten Änderungen der Welt – in TWT-Begriffen: die in ‚deontischen‘ Fokuswelten (FWs) ausgelagerten Propositionen – sind ebenfalls zeit- und räumlich gesehen nahe an der globalen Situation von ÄW und TW – sie sind dringend. Passend zu dieser grundsätzlichen Enge und Unmittelbarkeit der Weltenarchitektur werden zentrale Behauptungen und Wissensannahmen (also Propositionen) innerhalb der ÖKO-TRS fest im geteilten Wissen verankert und somit dort als ‚faktisch‘ gesetzt. Dies geschieht, indem zentrale epistemische Propositionen v. a. unmittelbar in die TW integriert und/oder explizit aus Fokusdomänen re-integriert werden (Kapitel 7.2–7.4 sowie Kapitel 7.6). Die Konzeptualisierung des HintergrundFrames WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS im Rahmen eines weitestgehend politischhandlungsbezogenen Framings begünstigt dabei die enge Verbindung von wissenschaftlichem Wissen und den geforderten politischen Maßnahmen (Kapitel 9.1.3).
Abbildung 10.1 ist somit eine Erweiterung von Abbildung 7.17 in Anbetracht der Ergebnisse aus den Kapiteln 8 und 9.
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10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde
Hinzu kommt, dass die solchermaßen fest im lokalen geteilten Wissen etablierten Propositionen selbst ein gesteigertes emotives Potential besitzen (Kapitel 9.2.3 & 9.3.). In Verbindung mit der Engführung der Weltenarchitektur ergibt sich daraus ein starkes emotives Potential des gesamten in der Weltenarchitektur repräsentierten Wissens – sowohl im Hinblick auf die Interaktionssituation (ÄWEbene) als auch die beschriebenen bzw. dargestellten Sachverhalte (TW-Ebene) sowie die enge Verbindung der beiden Ebenen zueinander. Diese emotive Perspektivierung der gesamten Weltenarchitektur stützt insgesamt das agitatorische Potential der Wissenskonstitution. Eine wichtige Quelle dieses emotiven Potentials liegt in der Darstellung von INDUSTRIELLER LANDWIRTSCHAFT und PESTIZIDEINSATZ (Kapitel 9.2 & 9.3). Beide werden – etwas vereinfacht gesagt – als große zerstörerische Kräfte dargestellt, die sich negativ auf Bienen und die gesamte Umwelt auswirken. Es zeigt sich dabei auch ein grundsätzliches Kontakt-Problem von Menschengemacht-Künstlichem und der Sphäre der (unberührten) Natur (Kapitel 9.2.2 & 9.3.1). Auch kapitalismuskritische Momente scheinen dabei gewissermaßen durchzuschimmern. In dieser Hinsicht zeigen sich an einigen Stellen recht deutliche ideologische Momente in der Perspektivierung der Sachverhalte durch ÖKO. Auffällig ist, dass die Struktur des geteilten Wissens immer wieder auf Vorannahmen beruht, die im Zuge der Wissenskonstitution gewissermaßen als gegeben betrachtet werden. Neben der grundsätzlichen Schädlichkeit agrarindustrieller Praktiken betrifft dies v. a. auch wichtige argumentative Standpunkte, wie die Existenz des Bienensterbens oder die negativen Wirkungen des Pestizideinsatzes auf Bienen. Solche Annahmen können im CG bei ÖKO weitestgehend als von Beginn an gesetzt betrachtet werden (Kapitel 7.2.2 sowie Kapitel 9.3.5). Wissenschaftliches Wissen wird dementsprechend hauptsächlich in den CG eingeführt, um diese – eigentlich bereits gewussten – Annahmen um Sachverhalte zu stützen, bspw. in Form des Lokutoren-backings (Kapitel 9.1.4) oder beim Aufbau von Forschungsräumen (Kapitel 7.4.1). Wohl begünstigt durch die emotive Perspektivierung zentraler Sachverhalte und Standpunkte, kann es hier immer wieder zu Assoziationen kommen, die als argumentative Schwächen aufgefasst werden können (Kapitel 9.3.4) – wenngleich sich solche Schwächen lediglich als lokale und keineswegs als globale Phänomene feststellen lassen. An einer Stelle der TRS liegt jedoch ein Zirkelschluss vor, der in dieser Hinsicht als aufschlussreich angesehen werden kann. (01) Im Zulassungsverfahren für Pestizide werden auch die möglichen Auswirkungen auf Bienen untersucht. Nach Aussagen des BVL konnten bei Tests zur Wirkung der Saatgutbehandlung durch das Mittel Poncho (Wirkstoff: Clothianidin) keine negativen Auswirkungen „auf Mortalität, Volksentwicklung, Brutenwicklung, Flugintensität, Verhalten und das Orientierungsvermögen festgestellt werden. Rückstände von Clothianidin in Materialien, die für
10.1 Das Wichtigste in Kürze – Zusammenfassung der Befunde
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Bienen relevant sind, lagen deutlich unter den für Bienen kritischen Konzentrationen.“ Das andauernde Bienensterben belegt, dass die durchgeführten Tests nicht ausreichend waren. (BUND 2016[2010])
In (01) wird die fortdauernde Existenz des Bienensterbens als Beweis für die Ungenügsamkeit der Risikotests angeführt. Dabei wird die Faktizität der Propositionen ‚Neonicotinoide verursachen negative Konsequenzen für Bienen‘ und ‚Der Neonicotinoid-Einsatz ist eine Ursache des Bienensterbens‘ – also derjenigen Hypothesen, die die entsprechenden Tests überhaupt erst überprüfen sollen – bereits vorausgesetzt. Die sich hier deutlich zeigende Voreingenommenheit wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen ÖKO bereit bzw. in der Lage wäre, eingenommene Standpunkte überhaupt wieder aufzugeben. Bei ÖKO entsteht letztlich für eine Rezipientin kaum der Eindruck, dass die Wissensbasis, auf der in der Debatte über politische Entscheidungen diskutiert wird, strittig sei. Umso deutlicher tritt so der Appell zum Handeln hervor, dem die Leserin sich als politische Bürgerin anschließen soll. Wissenschaftliches Wissen und Erkenntnis rechtfertigen diesen Appell, indem sie seine – durch Vorannahmen bereits gefestigte – faktische Basis gewissermaßen zertifizieren, wobei ihnen in erster Linie nicht ‚erkennende‘, sondern ‚bestätigende‘ Funktion zukommt: Wissenschaftliche Erkenntnisse führen die Notwendigkeit zum Handeln vor Augen, die Orator und Leserin in gewissem Maße ohnehin bereits bewusst war.
10.1.2 AGRAR – AUFKLÄREN im Stimmengewirr – oder: Hin zum Wissen, weg vom Handeln Die Wissenskonstitution in der AGRAR-TRS zeichnet sich demgegenüber durch einen fast schon anti-agitatorischen bzw. reaktionären Charakter aus. Die zentrale Rolle nimmt dabei das dominierende Handlungsmuster des AUFKLÄRENs ein (Kapitel 8.1.1). Dabei wird die Debatte selbst als dargestellter Gegenstand (auf der TWEbene) objektiviert, worin bereits ein erster Schritt der Distanzierung gesehen werden kann (Kapitel 8.1.2). Zentrale Wissensstrukturen (bzw. Propositionen) werden als strittige Aussagen und Positionen innerhalb dieser Debatte von AGRAR problematisiert, wobei anfänglich immer wieder die ‚faktische‘ Re-Integrierbarkeit dieses Wissens in den vom Text vorgeschlagenen Wirklichkeitsentwurf der TW in Frage gestellt wird. Mit dem Vokabular der Textwelttheorie gesprochen: Zentrale epistemische Propositionen werden in Fokuswelten (FWs) und Fokusräume (FRs) ausgelagert (Kapitel 7.3 & 7.4). AGRAR vollzieht dabei auch immer wieder Sprachkritik, die sich vor allem gegen die Emotionalisierung der Debatte richtet. Das AUFKLÄREN von AGRAR kann
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als inszeniertes rationales Gegengewicht dazu betrachtet werden – und wird an bestimmten Stellen auch entsprechend bezeichnet (Kapitel 8.1.2). Dass es sich hierbei durchaus um eine bewusst forcierte Strategie zur Selbstdarstellung bzw. zur Beziehungsgestaltung handelt, legt das folgende Segment (02) nahe: (02) Aus diesem Grunde ist zu unterstellen, dass auch die oft zu hörende Einordnung als „Nervengift“ in der Absicht geschieht, die Diskussion mit einem weiteren abschreckenden Begriff anzureichern. Die meisten Insektizide wirken entlang der Reizleitung, die Neonikotinoide jedoch nur auf spezifische Rezeptoren bei Insekten. Die Ableitung des Begriffes „Nervengift“ in Bezug auf Menschen und Wirbeltiere ist deshalb irreführend. (IVA 2016)
In (02) wird die Verwendung des Lexems Nervengift, das tatsächlich in der ÖKOTRS auftaucht, als ungerechtfertigte Emotionalisierung kritisiert, der durch die vorgebliche Vermittlung der ‚eigentlichen‘ Wissenshintergründe begegnet wird. Allerdings bezieht sich die Bezeichnung bei ÖKO in den meisten Fällen auf die Wirkung auf Insekten, während eine Ableitung [...] auf Menschen und Wirbeltiere so nur an einer Stelle (in BUND 2016[2010]) im Korpus festgestellt werden kann. In Bezug auf Insekten allerdings wird auch aus (02) nicht ersichtlich, weshalb der Begriff Nervengift irreführend sein sollte. Die von AGRAR hier unterstellte Falschbehauptung kann somit weitestgehend selbst als Falschbehauptung zum Zwecke der Eigeninszenierung angesehen werden. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die von AGRAR behauptete und in der TW dargestellte hoch-emotionale Studienschlacht (IVA 2016) ein diskursives Konstrukt ist, für das AGRAR selbst – sowohl in der sprachlichen Repräsentation als auch in der tatsächlichen Beteiligung – eine nicht zu vernachlässigende Verantwortung trägt. Beim AUFKLÄREN zeigen sich Formen des engagements (Hyland 2005, siehe Kapitel 4.3.3) etwa in Form von Fragen, die Leserin wird somit vom Orator gewissermaßen in den Aufbau der Wissensstrukturen involviert. Gleichzeitig nutzt AGRAR die Gelegenheit dazu, sich als Orator deutlich als wohlwollend, engagiert und kundig zu inszenieren (Kapitel 8.1.3). Eine weitere Möglichkeit zur Selbstinszenierung bietet sich AGRAR bspw. durch das Anführen technischer Lösungen (Kapitel 8.3.5). So vollzieht AGRAR zentrale Ethos-Leistungen, bspw. die Selbstinszenierung als wohlwollender Aufklärer (gegenüber der Leserin) und engagierter Debattenakteur (gegenüber der gesamten Öffentlichkeit/Gesellschaft). Hierbei spielt auch die grafische und bildliche Gestaltung der Texte eine Rolle (Kapitel 8.1.5). Die Wissenskonstitution im Rahmen der AGRAR-TRS dient vorgeblich dazu, die problematisierte epistemische Qualität bzw. Gültigkeit von in der Debatte relevanten Aussagen bzw. Propositionen für die Leserin zu klären. Dazu führt AGRAR die Leserin sozusagen hin zum Wissen und zur Wissenschaft. Deutlich wird dies durch den Aufbau und die Ausgestaltung von Forschungsräumen, also den Aufbau von TWBereichen, in denen wissenschaftliche Praktiken dargestellt werden (Kapitel 7.4.1).
10.1 Das Wichtigste in Kürze – Zusammenfassung der Befunde
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Hier spielen auch zahlreiche bildliche Abbildungen eine Rolle. Die Forschungsräume dienen zum einen dazu, die Gültigkeit von Aussagen klar auf bestimmte Bereiche der TW zu begrenzen und die Übertragbarkeit von Propositionen aus Studien in die ‚Wirklichkeit der TW‘ in Frage zu stellen. Eine Schlüsselrolle kommt hier etwa dem Adjektiv realistisch zu (Kapitel 8.1.4). Die politisch-normative Tragweite der Debatte wird demgegenüber von AGRAR in den Hintergrund gestellt. Ein durchaus ‚verstehbares‘ normatives Argument wird hintergründig entwickelt und nur an seltenen Stellen expliziert (Kapitel 8.2). Wichtig für die argumentative Funktionalität der AGRAR-TRS sind insbesondere der Topos der zu wahrenden Balance, der auf Bienenschutz und Ertragssicherheit angewandt wird (Kapitel 8.2.1), der Topos der fundierten Entscheidung (Kapitel 8.2.2) sowie der Topos des genauen Hinsehens (Kapitel 8.2.3). Im Lichte dieser argumentativen Kette erscheint die Präsenz wissenschaftlicher Forschung und die Hinführung zur Forschung durch das AUFKLÄREN-Muster als gezieltes Wegführen der Leserin vom Normativen hin zum Epistemischen, das mit genauem Blick – und somit einer geforderten hohen Kompetenz – erschlossen werden muss. In Übereinstimmung damit wird die Rezipientin von AGRAR zu einem hohen Maß an kognitiver Eigenleistung beim Aufbau der Weltenarchitektur und der ReIntegration von zentralen epistemischen Propositionen aus Fokusdomänen (FWs und FRs) ‚verpflichtet‘ – diese Re-Integration bleibt bei AGRAR meist unexpliziert (Kapitel 7.6.). Die Rezipientin wird somit von AGRAR wesentlich selbst am Aufbau des Arguments beteiligt und dabei quasi herausgefordert, die Faktizität von in der Debatte relevanten Wissensbehauptungen im Zuge des Aufgeklärtwerdens selbst einzuschätzen (bzw. ggf. in Frage zu stellen). Diese Eigenleistung der TW-Integration spielt mit der grundsätzlichen Involvierung der Leserin in die Konstruktionsprozesse der TW im Rahmen des AUFKLÄREN–Musters zusammen. Ein zentraler Aspekt betrifft dabei die Konzeptualisierung der Leserin: Als interessierte Laiin möchte sie sich aufgrund der angestrebten Teilhabe an der Debatte über die dort strittigen Sachverhalte informieren. Die Präsenz wissenschaftlicher Forschungspraktiken sowie die immer wieder vorfindbare Verwendung wissenschaftstypischer Textprozeduren v. a. konzessiver Art legen zudem nahe, dass der adressierten Leserin ein gewisses ‚wissenschaftliches Vorwissen‘ zugeschrieben wird. Im Zuge des AUFKLÄRENS wird diese Leserin vom Orator aus der öffentlichen Debatte heraus hin zum wissenschaftlichen Diskurs geführt, wo sie sich ‚ihr eigenes Bild‘ anhand der geschilderten Sachlage machen kann.
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10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde
10.1.3 Gegenüberstellung der jeweiligen Wissenskonstitution in den beiden TRS Die unterschiedliche Art der Weltenarchitektur in den beiden TRS von AGRAR und ÖKO ist in Abbildung 10.1 oben zusammenfassend dargestellt. Anhand der nun ausgeführten Beschreibungen lassen sich die folgenden Unterschiede in der Gegenüberstellung der beiden TRS hervorheben. Die Gegenüberstellung in Tabelle 10.1 verdeutlicht nochmals die wesentlichen Unterschiede der beiden TRS. Sie führt vor Augen, dass die von ÖKO und AGRAR im geteilten Wissen konstruierten Weltenarchitekturen und deren konzeptuelle Strukturen in wesentlichen Punkten deutlich voneinander abweichen. Neben strategischen Unterschieden kommen hier auch inhaltliche Unvereinbarkeiten zum Vorschein: So ist etwa zu bezweifeln, dass sich der bei AGRAR durch technische Lösungen repräsentierte Fortschrittsgedanke widerspruchsfrei mit einem auf Natürlichkeit bzw. Naturnähe bezogenen Weltbild bei ÖKO in Einklang bringen lässt (siehe Kapitel 8.3.2 & 9.2.3). Tabelle 10.1: Gegenüberstellung zentraler Unterscheide der beiden TRS von ÖKO und AGRAR. ÖKO
AGRAR
Handlungscharakter
FORDERUNG ABLEITEN als dominierender Handlungscharakter
AUFKLÄREN als dominierender Handlungscharakter
argumentativer Fokus
Fokus auf umfassende Handlungszusammenhänge
Fokus auf detaillierte Wissensbereiche
normatives Argument
normatives Argument deutlich sichtbar
normatives Argument weitestgehend hintergründig
TW-Integration beim Bau des epistemischen Arguments
unmittelbare TW-Integration und teilweise sehr komplexe TWexplizite Re-Integration von zentralen Integration und kaum explizite Reepistemischen Propositionen Integration
Weltenarchitektur
spatio-temporale und faktische ‚Enge‘ Distanzierungen und der gesamten Weltenarchitektur Objektivierungen (TW von AGRAR ist ÄW von ÖKO)
emotives Potential
hohes emotives Potential insbesondere durch emotive Perspektivierung von INDUSTRIELLER LANDWIRTSCHAFT und PESTIZIDEINSATZ
geringes emotives Potential, DeEmotionalisierungen etwa durch die Betonung von Kontrolle, Sprachkritik an Emotionalisierung innerhalb der Debatte
10.2 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS
391
Tabelle 10.1 (fortgesetzt) ÖKO geforderte Maßnahmen Paradigmenwechsel innerhalb eines differenzierten und teils dichotomischen Landwirtschaftsverständnisses
AGRAR technische Lösungen innerhalb ‚einer‘ Landwirtschaft (an denen man selbst bereits arbeitet)
ERKENNTNIS
stark handlungsbezogenes Framing mit Fokussierung auf Resultate/ Erkenntnisse
stärker diskursives und technisches Framing mit Fokussierung auf wissenschaftliche Praktiken
Selbstinszenierung
weniger starke Selbstinszenierung
hoher Aufwand an Selbstinszenierung
Beziehung der ÄWAkteure
bestehende Allianz von Orator, Leserin und Wissenschaft
geforderte Kooperation teils opponierender Debattenakteure
Framing WISSENSCHAFTLICHER
10.2 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS: Akzeptanz, Übertragbarkeit, rhetorische Wirkung Ausgehend von den hier beschriebenen Charakteristika der Wissenskonstitution möchte ich im folgenden letzten Teil der Analyse einige Überlegungen zur rhetorischen Wirkung der Wissenskonstitution im Rahmen der beiden TRS in der Neonicotinoid-Debatte anstellen: Was bedeutet es, dass sich in der lokalen Weltenarchitektur die Plausibilitätsstruktur des geteilten Wissens zeigt? Können anhand der Befunde Hypothesen über die rhetorische Wirkung getroffen werden? Ein grundlegender Gedanke, der die Zusammenführung der einzelnen Befunde leitet, ist die in Kapitel 4.1 bereits eingeführte Idee von den Plausibilitätsstrukturen des geilten Wissens: Ich gehe davon aus, dass eine TRS, um eine persuasiv-rhetorische Wirkung zu entfalten, im geteilten Wissen epistemische Strukturen etablieren wird, die dazu führen sollen, dass perlokutionäre Effekte eintreten können. Aus meiner Sicht bedeutet dies, dass durch die TRS ein Verhältnis zwischen dem vom Orator vermittelten Weltenentwurf im lokal konstituierten geteilten Wissen (der Weltenarchitektur) und dem individuellen Wirklichkeitsentwurf einer Rezipientin hergestellt werden muss. Abbildung 10.2 stellt das Verhältnis der Weltenarchitektur im lokalen geteilten Wissen und dem Wirklichkeitsentwurf einer Rezipientin in deren verstehensrelevantem Wissen dar. Wie in Kapitel 3.2.5 angesprochen, unterscheiden sich lokal kon-
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10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde
Bezugswelt Individueller Wirklichkeitsentwurf einer Rezipientin Im Verstehensprozess lokal aufgebaute epistemische Strukturen in Form einer Weltenarchitektur (CG)
ÄW Leserin, Orator ________
TW ___________ P1
FW _________ P2
Abbildung 10.2: Weltenarchitektur und Wirklichkeitsentwurf.
struierte Welten wie ÄW und TW auch im Hinblick auf ihre jeweilige Bezugswelt: Eine nicht-fiktive TW bspw. ist eine Welt, deren Bezugswelt dem Wirklichkeitsentwurf einer Rezipientin entspricht. In solchen Fällen beanspruchen die epistemischen Strukturen der TW (v. a. Propositionen) Faktizität – also eine faktische Übereinstimmung mit dem Wirklichkeitsentwurf der Rezipientin. An dieser Stelle setzt eine Hypothese an, die die nachfolgende Diskussion und Interpretation der Befunde leiten wird: Je eher eine Rezipientin das Verhältnis von lokal konstituierter Welt und Bezugswelt akzeptiert, desto eher können epistemische Strukturen wie v. a. Propositionen aus der lokalen Welt (bzw. dem lokalen geteilten Wissen) in die Bezugswelt übertragen werden.
Ich möchte diese Übertragbarkeitshypothese am Beispiel von TW und ÄW im vorliegenden Fall nochmal verdeutlichen: – Textwelt: Akzeptiert eine Rezipientin den im Verstehensprozess text-driven konstruierten Weltentwurf der TW, können bspw. Propositionen aus der lokalen Weltenarchitektur in den permanenten Wirklichkeitsentwurf der Rezipientin übernommen werden (geschwungener Pfeil in Abbildung 10.2).102 Lehnt eine Rezipientin die textuell-rhetorisch ausgestaltete Struktur der TW jedoch ab, kann dies zu erheblichen Problemen bei der Übernahme einzelner Propositionen führen. – Äußerungswelt: Akzeptiert eine Rezipientin den im Verstehensprozess konstruierten Weltentwurf der ÄW, können epistemische Strukturen aus der ÄW
Dieser Prozess kann als eine Art des Lernens beschrieben werden, indem das Frame-Wissen einer Rezipientin im Langzeitgedächtnis modifiziert wird. Werth (1999: 112) geht sogar so weit, einen Frame als „distillation from a pattern of text worlds“ zu bezeichnen.
10.2 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS
393
in den Wirklichkeitsentwurf der Rezipientin übertragen werden. Hier spielt bspw. eine Rolle, inwieweit sich die Rezipientin mit der in der ÄW konstruierten Leserin identifiziert und die dort etablierte Beziehung zum Orator akzeptiert. Die in die Bezugswirklichkeit übertragenen epistemischen Strukturen können bspw. das dort konstruierte Selbstbild des Orators betreffen oder aber (bzw. v. a. auch) die Handlungsstruktur der ÄW und die damit verbundenen eigenen Anschlusshandlungen. Ich gehe dabei davon aus, dass die Akzeptanz von ÄW und TW sich gegenseitig bedingen und wechselseitig aufeinander wirken können. Schätzt eine Rezipientin etwa den textuell konstruierten Entwurf einer TW als sehr plausibel ein, kann dies u. U. auf die wahrgenommene Glaubwürdigkeit des Orators zurückwirken. Es handelt sich hierbei, wie ich nochmals deutlich hervorheben möchte, allerdings um eine Hypothese, die empirisch so (bislang) nicht überprüft ist. Unter Rückgriff auf diese Übertragbarkeitshypothese möchte ich abschließend einige Überlegungen zur rhetorischen Wirkung der beiden TRS in der Neonicotinoid-Debatte im Lichte der von mir gemachten Beobachtungen anstellen. Die diskutierten Hypothesen drehen sich um die Fragen, unter welchen Bedingungen das lokal konstituierte Wissen von einer Rezipientin akzeptiert werden kann und welche Aussagen sich daraus über die möglichen strategischen Ziele der beiden TRS ableiten lassen.
10.2.1 Beziehungsarbeit Die Befunde zeigen, dass wissenschaftliches Wissen (bzw. entsprechende Propositionen) innerhalb der Strukturen der Weltenarchitektur eng mit normativen Standpunkten und Positionen verflochten ist. Dies bedeutet, dass nicht nur die Akzeptanz der epistemischen Standpunkte die Akzeptanz der normativen Standpunkte beeinflusst, sondern auch umgekehrt eine bestimmte vorgängige normative Positionierung einer Rezipientin zu einer stärkeren Akzeptanz oder Ablehnung epistemischer Standpunkte führen könnte. Diese Annahme lässt sich mit den aus der Psychologie bekannten Effekten confirmation bias und partisan bias in Beziehung setzen (vgl. Könneker 2020: 34). Bei einem Vergleich der beiden TRS fällt auf, dass das normative Argument bei ÖKO deutlich stärker hervortritt, als dies bei AGRAR der Fall ist. Dies legt die Vermutung nahe, dass AGRAR die Synergie-Effekte von normativen und epistemischen Standpunkten möglicherweise reduzieren möchte, während ÖKO sich diese im Gegenteil zunutze zu machen versucht. Anders ausgedrückt: AGRAR möchte offensichtlich vermeiden, dass mögliche vorgefestigte Meinungen zur Legitimität regulati-
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10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde
ver Interventionen die Geltung epistemischer Standpunkte übermäßig beeinflussen. Währenddessen kann ÖKO womöglich darauf setzen, dass eine Rezipientin aufgrund der Sympathien für ein Pestizidverbot auch die spezifischen Aussagen zu Schädlichkeit und Risiko von vornherein eher akzeptieren wird. Für letzteres spricht auch der Befund, dass die Konzeptualisierung zentraler Gegenstände und Sachverhalte bei ÖKO recht deutlich ideologische Tendenzen aufweist. Dies betrifft insbesondere PESTIZIDEINSATZ und LANDWIRTSCHAFT. Die starke Präsenz und emotive Perspektivierung dieser Konzepte bei ÖKO spricht vermutlich nicht nur mögliche Sympathisantinnen des Umweltschutzes als Rezipientinnen besonders an, sondern lenkt den Fokus recht deutlich auf normative Positionierungen von Orator und Leserin. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Die Annahme einer grundsätzlichen Schlechtigkeit agrarindustrieller Praktiken, die Darstellung einer Notlage und die damit einhergehenden Handlungsnotwendigkeiten bei ÖKO unterstützen die Wahrheitsgeltungsansprüche von spezifischeren Behauptungen über das Risiko des Pestizideinsatzes. Entsprechend zeigen sich genau an diesen Stellen des Arguments immer wieder assoziative Bezüge von Propositionen (Kapitel 9.3.4). Es bildet sich bei ÖKO in der lokalen ÄW eine Art übergreifende Allianz von Leserin, Orator und quasi ‚verbündeten‘ Wissenschaftlerinnen, während opponierende Debattenakteure und deren Ansichten nur vereinzelt sichtbar werden. In diesem Lichte ist auch die handlungsorientierte Konzeptualisierung WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS bei ÖKO zu sehen. Die Akzeptanz der Wissenskonstitution bei ÖKO scheint somit letztlich vor allem auf Rezipientinnen abzuzielen, die zentrale normative Einstellungen ohnehin bereits teilen. Gleichzeitig wird eher wenig getan, um auch opponierende Debattenpositionen ‚einzufangen‘ – lediglich die Argumentation mit dem ökonomischen Wert der Bestäubung und der Verzicht auf explizite Schuldzuweisungen gegenüber Landwirten sind hier zu nennen. Das Ziel der ÖKO-TRS scheint demnach weniger darin zu bestehen, einen Opponenten in der Debatte von den eigenen epistemischen und normativen Standpunkten zu überzeugen, als vielmehr Sympathisantinnen und Alliierte in der Rechtmäßigkeit ihrer gemeinsamen normativen Standpunkte zu bestätigen und somit dem Handlungsdruck in der Gestaltungsöffentlichkeit Nachdruck zu verleihen. Mit dem AUFKLÄREN-Muster adressiert AGRAR demgegenüber offenbar eine rational-kritische Leserin, die sich ihre Meinung erst im Zuge der Textkommunikation bildet. Die Identifikation einer Rezipientin mit dieser Leserin kann sich möglicherweise verstärkend auf die Akzeptanz der Weltenarchitektur auswirken. Eine Rezipientin, die sich anhand der AGRAR-Broschüren über die Neonicotinoid-Debatte informiert und somit gewissermaßen an dieser teilnimmt, verfolgt bei Identifikation mit der konzeptualisierten Leserin gemeinsam mit dem Orator eine Partizipation an
10.2 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS
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der Neonicotinoid-Debatte, die sich durch eine Reihe von vornehmlich rationalen – vielleicht sogar wissenschaftlichen – Verfahren auszeichnet: – das Objektivieren des (angeblich zu emotionalen) Geschehens – das geringe Maß an emotiver Perspektivierung – den Anspruch fundierter Entscheidungen – die Einführung und Ausgestaltung von Forschungsräumen und die Betonung von Forschungsmethoden – das Nennen wissenschaftlicher Grundsätze – das konzessiv-adversative Gegenüberstellen und Abwägen von verschiedenen Standpunkten – das explizite Dissoziieren von zentralen Begriffen (bzw. Konzepten) wie z. B. BIENENSTERBEN Diese Aspekte repräsentieren, wie ich meine, die Haltung einer möglichen Rezipientin, die sich von der AGRAR-TRS wohl besonders angesprochen fühlen soll. Insbesondere scheinen hier akademisch vorgebildete bzw. sozialisierte Menschen adressiert zu werden. Als Orator fungiert AGRAR hierbei nicht vorrangig als derjenige, der der Leserin seine Position näherbringen oder gar aufzwingen will – vielmehr scheint AGRAR vorgeblich daran interessiert, die Leserin bei der Entwicklung ihres eigenen Standpunktes zu unterstützen. Diese Annahme passt zu dem hohen Maß an Eigenleistung, die die Rezipientin im Hinblick auf die TW-(Re-)Integration zentraler epistemischer Propositionen leisten muss (Kapitel 7.6). AGRAR scheint im Rahmen seiner TRS also einen stärkeren Fokus auf die Selbstinszenierung und zugleich auf die Beziehungsarbeit zur Leserin zu setzen, als dies bei ÖKO beobachtbar ist. Dies kann auch damit zu tun haben, dass ÖKO als Gruppe von NGOs während des Untersuchungszeitraumes einen vermutlich höheren Vertrauensvorschuss genießt als die Konzerne hinter AGRAR, wie etwa Ergebnisse des Edelman Trust Barometers (2014) nahelegen. Im hier angewandten Modell würde dies bedeuten, dass eine Rezipientin als Teil ihres Wirklichkeitsentwurfes möglicherweise Vorstellungen von AGRAR und/oder ÖKO hat, die auch deren jeweilige Glaubwürdigkeit als Orator mitbedingen103. AGRAR muss demnach ggf. mehr Aufwand betreiben, um in der ÄW als glaubwürdiger Orator zu erscheinen (weil er möglicherweise gegen Vorurteile einer Rezipientin anzukämpfen hat). Eine Hypothese, die sich aus diesen Überlegungen ableiten ließe, ist, dass AGRAR in seiner TRS stärker als ÖKO auch Rezipientinnen adressiert, die abweichende Positionen präferieren und/oder opponierende Debattenakteure aus glaubwürdiger ein-
An dieser Stelle setzt die in Kapitel 4.3.1 bereits besprochene Diskussion um das rhetorische Ethos an.
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10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde
schätzen. Statt ‚inhaltlich‘ (auf der TW-Ebene) stärker ideologische Standpunkte und Positionen zu propagieren, scheint der rhetorische Fokus v. a. auf der Gestaltung der Beziehung von Orator und Leserin in der ÄW zu liegen. Durch die Konzeptualisierung einer kritischen Leserin und eine Inszenierung des AUFKLÄRENs bietet AGRAR somit auch Rezipientinnen eine Identifikationsmöglichkeit, die ein rational-kritisches Selbstbild (Ethos) mit akademischem ‚Anstrich‘ vertreten. Diese Rezipientinnen können dabei wohl durchaus auch Sympathien mit dem Umweltschutz bzw. Skepsis gegenüber der Agrarindustrie aufweisen. Es erscheint fraglich, ob die AGRAR-TRS darauf abzielt, dass letztgenannte Rezipientinnen durch die vom Orator angeleiteten Praktiken des Hinterfragens und des Ziehens eigener Schlussfolgerungen wirklich den Standpunkt von AGRAR übernehmen werden. Vielmehr könnte das Ziel von AGRAR in erster Linie im Aufbrechen bereits gefestigter Überzeugungen im Debattenraum liegen.
10.2.2 Das wissenschaftliche Wissen in der Neonicotinoid-Debatte Tatsächlich stützen die von mir herausgearbeiteten Befunde die Annahme, dass die Wissenskonstitution in der ÖKO-TRS darauf abzielt, bestehende Überzeugungen und deren epistemische Qualität zu festigen, während die AGRAR-TRS stattdessen tendenziell eher auf eine Reduzierung der epistemischen Qualität des geteilten Wissens innerhalb der Neonicotinoid-Debatte abzielt. Für diese Hypothese sprechen möglicherweise auch Beobachtungen zum Umgang mit Nichtwissen innerhalb der beiden TRS. Die behauptete Faktizität von bestimmten Aussagen bei AGRAR erscheint durch ihre Kontrastierung mit widersprechenden Aussagen, die konstante Auslagerung in Fokuswelten und das Beschwören der Skepsis der Rezipientin letztlich eher als Ungewissheit. Dafür spricht, dass die wenigen Stellen, an denen Nichtwissen und Ungewissheit in den Texten erkennbar impliziert werden, vor allem die diskursive Umstrittenheit von Annahmen und die Komplexität der diskutierten Fragestellungen hervorheben, wie die Segmente (03) und (04) zeigen: (03) Schon diese einfachen Überlegungen zeigen das komplexe Zusammenspiel von potenziellen Variablen, die die Gesundheit und das Wohlbefinden von Bestäuberpopulationen beeinflussen. Studien zur Gesundheit von Bestäuberspezies verdeutlichen, dass weder ein allgemeiner Konsens darüber besteht, ob es eine Bestäuberkrise gibt, noch darüber, in welchem Maße eine ganze Reihe potenzieller Faktoren die Gesundheit von Bestäubern beeinflusst. (IVA 2014a) (04) In den letzten Jahren ist die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zu den potenziellen Auswirkungen von Neonicotinoiden auf Bienen deutlich gestiegen. In wissenschaftlichen Kreisen wird vor allem über die Gründe für das massive Bienensterben, die Auswirkungen
10.2 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS
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der Staubfreisetzung bei der Aussaat behandelten Saatguts und die Rückstände neonicotinoidhaltiger Beizmittel sowie über subletale und akut-letale Effekte diskutiert. (Bayer 2015a)
Obwohl der Leserin im Rahmen des AUFKLÄRENS vorgeblich Klarheit verschafft werden soll, wird über weite Strecken zumindest hinsichtlich der zentralen epistemischen Propositionen je nach Vorwissen und Kompetenzen einer Rezipientin eher Ungewissheit erzeugt. Wissenschaftliche Erkenntnis dient vor allem dem Problematisieren. Bei ÖKO hingegen werden an mehreren Stellen Wissenslücken expliziert – diese erweisen sich für die Geltung epistemischer Standpunkte jedoch weitestgehend als irrelevant, wie die folgenden Segmente (05)-(08) nahelegen: (05) Obwohl bisher nur wenige Daten darüber vorliegen, in welchem Umfang Insektizide zum weltweiten Bestäuberrückgang beitragen, zeigt sich inzwischen immer häufiger, dass sich einige Insektizide in den Konzentrationen, in denen sie im derzeitigen chemieintensiven Agrarsystem regelmäßig zum Einsatz kommen, deutlich negativ auf die Gesundheit des einzelnen Bestäubers sowie ganzer Bestäubervölker auswirken. (Greenpeace 2013b) (06) Neben Herbiziden gegen Unkräuter kommen auch Insektizide gegen Schadinsekten sowie Fungizide gegen Pilzbefall als ackerbauliche Standardinstrumente zum Einsatz. Insekten und andere Tiere sind so permanent einer Vielzahl von Chemikalien ausgesetzt. Ihre genauen Wirkungen sind großteils unverstanden – an ihrer grundsätzlichen Schädlichkeit bestehen aber keine Zweifel. (Greenpeace 2013a) (07) Sub-letale Wirkungen sind deutlich schwieriger zu analysieren als letale. Es häufen sich aber Hinweise, dass sie einen entscheidenden Anteil am Bienensterben haben. (Greenpeace 2013a) (08) Eine besondere Gefahr für bestäubende Insekten geht vom hohen Pestizideinsatz aus. 35.000 Tonnen reiner Pestizidwirkstoff wurden im Jahr 2015 in Deutschland in der Landwirtschaft, auf kommunalen Flächen und in Hobbygärten ausgebracht. In der Tendenz nehmen sowohl die Menge der Pestizide als auch die Wirkintensität der einzelnen Stoffe zu. Fast alle Kulturen werden mehrmals im Jahr mit Pestiziden behandelt. Die Folgen dieser Spritzreihen sowie die Kombinationseffekte der Einzelwirkstoffe sind weitgehend unbekannt. (BUND 2017)
Nichtwissenskonstruktionen finden sich bei ÖKO also bspw. im Rahmen von adversativ-konzessiven Konstruktionen (05)-(07) integriert – den Gegenpart zu diesem Nichtwissen stellen dabei eine linear-progressive wissenschaftliche Erkenntnis (zeigt sich immer häufiger, es häufen sich die Hinweise) sowie grundsätzliche Überzeugungen (06) dar. Auch hier zeigt sich Wissenschaft vor allem in ihrer Rolle als Bestätigungsinstanz bereits bestehender Annahmen. Dies legt auch Segment (08) nahe, in dem genau genommen kein wirklicher Grund für die initiale Behauptung, der Pestizideinsatz sei eine besondere Gefahr für Insekten, gegeben wird. Stattdessen wird auch hier offenbar bereits davon ausgegangen, dass der beschriebene um-
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10 Zusammenfassender Überblick über die Befunde
fangreiche Pestizideinsatz negative bzw. gefährliche Folgen nach sich zieht. Die finale Aussage, die Folgen dieser Spritzreihen und die Kombinationseffekte seien weitgehend unbekannt, bedeutet also vielmehr, dass sie noch nicht als wissenschaftliche Aussagen formuliert werden können – dass sie allerdings eine besondere Gefahr sind, scheint für ÖKO aber gewiss zu sein. Zwar argumentiert ÖKO durchaus an einigen Stellen mit dem Vorsorgeprinzip, das politische Handlungen als Konsequenz aus bestehenden Ungewissheiten begründet. Die Analyse der Korpustexte legt aber nicht nahe, dass hier wirklich von einer Funktionalisierung von Nichtwissen gesprochen werden kann. Stattdessen erweist sich ein solches wissenschaftliches Nichtwissen für ÖKO im Wesentlichen als irrelevant, da es nicht zu einer tatsächlichen Ungewissheit relevanter Propositionen führt. Diese Irrelevanz wissenschaftlicher Wissenslücken und Ungewissheiten liegt auch daran, dass die Grundannahmen, auf die sich diese richten, im Rahmen des ÖKO-Weltentwurfs von Orator und Leserin von vornherein faktisch akzeptiert werden. Wissenschaftliche Erkenntnis fördert, so gesehen, in ihrer linearen Progression letztlich nur ans Licht, was bereits gewusst wird (bzw. tatsächlich Grundbestandteil geteilter Überzeugungen ist). Die Art der Wissenskonstitution und Weltenkonstruktion in den beiden TRS wirkt sich auch auf die Konzeptualisierung der gesamten Neonicotinoid-Debatte aus. Die diskursive Struktur und die geringere epistemische Qualität des wissenschaftlichen Wissens bei AGRAR zielen gerade in der Kombination mit Betonung von balancierten und fundierten Entscheidungen möglicherweise darauf ab, die Debatte der Gestaltungsöffentlichkeit länger an epistemische Fragen und Argumentationen zu binden und den in der bei AGRAR etablierten Logik – erst daran anschließenden Schritt der normativen Diskussion hinauszuzögern. Bei ÖKO hingegen scheint kaum eine Notwendigkeit zu bestehen, erst die Faktenlage zu klären und dann über politische Maßnahmen nachzudenken. Stattdessen geht beides scheinbar Hand in Hand, wenn nicht gar das politisch-normative vor der Klärung epistemischer Fragen zu stehen scheint. Zusammenfassend lassen sich die Wissenskonstituierung und rhetorische Wirkung in den beiden TRS in etwa wie folgt auf den Punkt bringen: AGRAR führt eine kritische Leserin weg vom politischen Handeln und hin zu Fragen nach der Faktizität und Gültigkeit von Wissenszusammenhängen. Die Debatte erscheint als heiß umkämpftes Feld sich widersprechender Aussagen, das deshalb nun (endlich) einen aufgeklärten Blick erfordert. Dabei können vor allem bestehende Überzeugungen aufgebrochen werden, was im Endeffekt wohl auch zu einer Reduzierung der epistemischen Qualität in der Debatte führt. Die Befunde legen die Annahme nahe, dass dieses Aufbrechen von bestehenden Überzeugungen zum Ziel hat, die Debatte länger an die Aushandlung von Wahrheitsgeltungsansprüchen zu binden und politische Entscheidungen hintenanzustellen. In einem krassen Kontrast dazu
10.2 Die Konstitution wissenschaftlichen Wissens im Lichte der TRS
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lässt ÖKO keine Zweifel daran aufkommen, dass seine Forderungen von der Wissenschaft gedeckt (bzw. sogar geteilt) werden und somit legitim sind. Die Debatte scheint vor allem aus einer dementsprechenden Mehrheitsposition zu bestehen, der sich die Leserin weitestgehend anschließt. Selbst wenn durchaus in Teilen noch Ungewissheiten bestehen mögen, ist aus Sicht von ÖKO doch ganz offensichtlich und unzweifelhaft die Zeit zum Handeln gekommen. Die Befunde zeigen somit die heterogene und widersprüchliche Struktur des in der Gestaltungsöffentlichkeit konstituierten Wissens. Sie verdeutlichen die kommunikativen Herausforderungen, die sich beteiligten Akteuren bei der Aufgabe stellen, im Überschneidungsbereich von Wissenschaft und Politik in integrer Weise ein gesellschaftliches Gestaltungswissen auszuhandeln. Insbesondere führen sie vor Augen, dass sich interessierte Laiinnen, die an der Gestaltungsöffentlichkeit teilhaben wollen, in eine rhetorisch stark umkämpfte Arena begeben, die von ihnen umfangreiche kommunikative Kompetenzen erfordert, auf die ich im abschließenden Kapitel der vorliegenden Arbeit nochmal zurückkommen werde.
11 Schlussfolgerungen und Ausblick 11.1 Evaluation des entwickelten TWT-Modells In der vorliegenden Arbeit habe ich gezeigt, dass die in der deutschsprachigen Linguistik bislang weitestgehend unbeachtete Textwelttheorie (TWT) von Paul Werth sich in der von mir hier vorgeschlagenen Modifizierung als produktives Modell zur Beschreibung der lokalen Wissenskonstitution in der Textkommunikation erweisen kann. Hervorzuheben ist hier insbesondere die Anschlussfähigkeit an etablierte Ansätze der Kognitiven Semantik wie bspw. frame-semantische Modelle, die auch vielfach Analysen aus den ‚angewandten‘ Forschungsbereichen Diskurslinguistik (z. B. Ziem 2008), Politolinguistik (z. B. Klein 2018), Wissenskommunikation (z. B. Engberg 2020) und Multimodalitätsforschung (z. B. Fraas & Meier 2013) zugrunde gelegt werden. Ein Vorteil des Modells liegt somit in seiner grundsätzlichen Anwendbarkeit für Forschungsarbeiten der Angewandten Linguistik. Ich habe in dieser Arbeit gezeigt, dass das TWT-Modell produktiv für eine Beschreibung der Plausibilitätsquellen Ethos, Logos und Pathos aus der klassischen Rhetorik und deren direkte Operationalisierung für die Textanalyse angewandt werden kann. Weitere Anwendungsfelder sind denkbar, bspw. durch stärkere Fokussierung auf Aspekte wie Positionierung oder Identitätskonstruktion. Um sich empirisch beweisen zu können, müsste die TWT jedoch in ihren Anwendungsbereichen grundsätzlich erweitert werden – insbesondere die Anwendung auf gesprochene Sprache ist hier als Desiderat zu nennen. Auch eine Operationalisierung im Rahmen stärker quantitativ-korpuslinguistischer Verfahren ist auf der Grundlage qualitativ-hermeneutischer Arbeiten wie der vorliegenden zu überdenken, wenngleich in solchen Fällen vermutlich stärker auf einzelne Aspekte der Weltenarchitektur fokussierte Fragestellungen zu bearbeiten wären. Dann könnte sich die annotationsbasierte Analyse, die in dieser Arbeit in gewissem Maße bereits angewandt wurde, in noch stärkerem Maße als hilfreich erweisen, als dies hier der Fall war. Vielversprechend erscheint mir überdies eine stärkere Integration der TWT in etablierte textlinguistische Grundkonzepte wie bspw. die thematische Entfaltung. Bei aller positiv hervorzuhebenden Produktivität müsste die TWT allerdings auch theoretisch besser abgesichert werden, etwa durch stärkere Anbindung an die verwandten Theorie der Mentalen Räume und differenziertere frame-semantische und konstruktionsgrammatische Bezüge. Letzteres betrifft vor allem die Funktion bestimmter Konstruktionen (bspw. epistemischer Verb-Konstruktionen) für den Aufbau von Weltenarchitekturen und den Zusammenhang von Konstruktionswissen/Konstruktikon und mentalen Modellen (bzw. Welten).
https://doi.org/10.1515/9783111077369-011
11.2 Die beschriebenen TRS im Kontext der Biodiversitäts- und Agrardiskurse
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Aufschlussreich könnte auch eine empirische Überprüfung anhand von Rezeptionsstudien sein. Im Hinblick auf die rhetorische Erweiterung der TWT legen die Befunde und meine Vorgehensweise bspw. nahe, sie mit experimentellen Befunden aus der Psychologie interdisziplinär zu verknüpfen. Eine mögliche Hypothese, die sich hierbei ergeben und die so überprüft werden könnte, wäre etwa, dass der Effekt des partisan bias nicht nur von der wahrgenommenen Allianz von Rezipientin und Orator abhängt, sondern auch von der textuell etablierten Beziehung von Orator und Leserin: Wird textuell etwa eine Allianz zwischen Orator und Leserin konstruiert, sollte sich dies erwartungsgemäß negativ auf die Akzeptanz einer opponierenden Rezipientin auswirken. Wie aber stellt sich dieser Effekt bspw. dar, wenn textuell keine solche Allianz konstruiert wird oder aber sogar explizit bestritten wird? Eine rhetorische TWT-Perspektive, wie die von mir entwickelte, könnte sich bei der textlinguistisch fundierten Überprüfung solcher Hypothesen auch explorativ als hilfreich erweisen.
11.2 Die beschriebenen TRS im Kontext der Biodiversitätsund Agrardiskurse Für eine Beurteilung der Aussagekraft der Befunde sind diese in einen Zusammenhang mit größeren Diskurskontexten einzuordnen. So legen etwa weitere Analysen im Projektkontext nahe, dass sich zentrale strategische Aspekte der Wissenskonstitution der beiden hier untersuchten Oratoren auch in der Glyphosatdebatte zeigen: Bspw. ist der Modus der Affirmation bei ÖKO und des Aufklärens bei AGRAR auch bei der Wissenskonstitution durch Frage-Antwort-Texte in der Glyphosat-Debatte zu beobachten (vgl. Simon & Janich 2021: bes. 47–48). Diese dominanten Handlungsmuster scheinen zumindest das kommunikative Feld des Pestizid-Diskurses in Deutschland wesentlich zu strukturieren. Eine Analyse umfassender funktionaler Aspekte dieser Handlungsmuster für die Wissenskonstitution in weitreichenden diskursiven Kontexten erscheint vor diesem Hintergrund für eine Angewandte Linguistik erstrebenswert. Auch in thematischer Hinsicht zeigen sich in den TRS der Neonicotinoid-Debatte Aspekte, die im größeren diskursiven Zusammenhang der Agrar- und Biodiversitätsdiskurse von großer Relevanz zu sein scheinen. So ist beispielsweise bekannt, dass sich im Spannungsfeld von Umweltschutz und Landwirtschaft immer wieder Vorbehalte gegenüber ökonomischen Abwägungen und technologischen Interventionen zeigen (vgl. Haber 2014: 220). Die textuellen Konzeptualisierungen menschlichen Handelns im Hinblick auf die Bezugsysteme Natur/Umwelt und Ökonomie/Wirtschaft könnten dementsprechend diskurslinguistisch genauer in den Blick genommen werden. Dies trifft auch auf die ebenfalls in der Neonicotinoid-Debatte als
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11 Schlussfolgerungen und Ausblick
funktional feststellbare Opposition des Ideals technischen Fortschritts gegenüber dem Ideal der unberührten Natürlichkeit zu. Gerade im Bereich des Pflanzenschutzes setzt sich dieses Dilemma bei der Frage nach ökologischen Alternativen zu synthetischen Pestiziden fort, wie die Debatte um grüne Gentechnik klar vor Augen führt. So sehen etwa die Wissenschaftsakademien Leopoldina, acatech und die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in einer 2015 veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme in grüner Gentechnik die Chance auf eine „gezielte Ausrichtung der Pflanzenzüchtung auch auf die ökologisch-orientierte, nachhaltige Landwirtschaft, den Umweltschutz und die Erhaltung der Artenvielfalt“ (Leopoldina 2015: 4). Greenpeace hingegen bezeichnet grüne Gentechnik auf einer Themen-Seite der Homepage als „Riskante Manipulation der Natur“104. Erneut zeigen sich hier die in der vorliegenden Arbeit festgestellten Aspekte einer emotiven Perspektivierung durch KONTROLLE vs. GEFAHR in Bezug auf den Konflikt von technologischem Fortschritt und Natürlichkeit. Die diskursive Spannung von Natur/Natürlichkeit und Technik/Fortschritt aufzulösen, stellt eine enorme Herausforderung für eine ökologisch-nachhaltige gesellschaftliche Transformation dar (vgl. Albrecht 2021: 306). Sie greift zudem fundamental in die westliche episteme ein, bedenkt man, dass die ontologische Differenzierung von Natur und Technik tief in der westlichen Geistesgeschichte verhaftet ist und u. a. auf eine einflussreiche Bestimmung Aristoteles‘ zurückgeht (vgl. Heichele 2020: 53–54; Grunwald 2021: 20). Auch die Relevanz der von mir in der vorliegenden Arbeit identifizierten argumentativen Topoi reicht über die Neonicotinoid-Debatte hinaus und findet sich immer wieder in Debatten um die Zukunft der Landwirtschaft. So zeigt sich etwa die Bedeutsamkeit des Balance-Topos auch für fachliche Publikationen im folgenden Zitat aus Kellermann105 (2020): Die Herausforderungen einer nachhaltigen Landwirtschaft sind vielfältig und komplex. Die Handlungen der Landwirte haben weitgreifende Auswirkungen auf die Umwelt im Sinne von Biodiversität, Boden, Klima und vieles weitere. Gleichzeitig müssen Ernteerträge gesichert werden, um ausreichend Nahrungsmittel für unsere Weltbevölkerung bereitzustellen. Ein Gleichgewicht zwischen all diesen Anforderungen zu finden ist, wie in dieser Arbeit ausführlich dargestellt wurde, sehr schwer. (Kellermann 2020: 71)
Die den genannten Themen und Topoi entsprechenden kollektiven Wissensbereiche können diskurslinguistisch als „durch grundlegende und umstrittene Konzepte“ modellierbare „agonale Zentren“ begriffen werden (Felder 2013: 21). Sie stellen in vielen Fällen die epistemische Basis dar, auf der die rhetorischen Strate-
https://www.greenpeace.de/biodiversitaet/landwirtschaft/anbau/gentechnik. Bei dem Text handelt es sich um eine im Springerverlag in der Reihe BestMasters veröffentlichte Masterarbeit aus dem Bereich der Ökologie.
11.3 Rhetorisch-hermeneutische Textkompetenz – eine Skizze
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gien der Debattenakteure operieren. Für ein umfassenderes Verständnis der rhetorischen Wissenskonstitution müssten sie als solche stärker in den Fokus der Linguistik genommen werden. Es bleibt abschließend festzustellen, dass Agrar- und Biodiversitätsdiskurse und -debatten als wichtiges zukünftiges Anwendungsfeld von der Angewandten Linguistik künftig noch stärker in den Blick zu nehmen sind, da sie zentrale planetare Herausforderungen betreffen, zu deren Lösung ein reflektierter Sprachgebrauch und eine produktive Kommunikationsweise nicht unwesentlich beitragen dürften.
11.3 Rhetorisch-hermeneutische Textkompetenz – eine Skizze Die Analyse und Interpretation der Befunde in der vorliegenden Arbeit hat gezeigt, wie komplex sich die lokale Wissenskonstitution im Rahmen rhetorischer Strategien darstellt. Daraus ergeben sich Herausforderungen für die kommunikative Teilhabe interessierter Bürgerinnen an solchen Debatten, in denen (Teil-)Öffentlichkeiten durch das Aushandeln von Wissensbeständen die Handlungsoptionen für gesellschaftliche Transformationen ausloten. Eine partizipative Auffassung von gestaltungsöffentlichen Debatten entspricht dem auf EU-Ebene als fördernswert begriffenen Programm des citizen engagement with science and policy (Figueiredo Nascimento et al. 2016). Weingart et al. (2021: 2) kritisieren zwar durchaus zu Recht an der Popularität des engagement-Begriffes, dass er die Spannung von demokratischer Legitimation und Expertise in den Hintergrund rücke und zudem die fundamentalen Unterschiede der arbeitsteilig ausdifferenzierten Teilnahmebedingungen an politischen und wissenschaftlichen Debatten unterschlage. Gerade im Hinblick auf diese Kritik erscheint mir die Debatte der Gestaltungsöffentlichkeit als ‚ Schnittstelle‘ der Domänen Politik und Wissenschaft jedoch umso mehr als relevanter Beteiligungsraum interessierter Laien. Für die politische Entscheidungsfindung und zukünftige Gestaltung im Kontext einer ökologischnachhaltigen Landwirtschaft wird etwa der Aspekt der diskursiven Partizipation positiv hervorgehoben (vgl. Feindt et al. 2019: 98–101). Hierbei wird gefordert, dass „die Sprache der Experten in die Sprache der lokalen Öffentlichkeit und der lokalen Entscheidungsträger zu ‚übersetzen‘“ sei (ebd.: 99). Auch wenn einer solchen – dem Transfer- und Verständlichkeitsparadigma verhafteten – Forderung durchaus beizustimmen ist, meine ich, dass die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit darauf hinweisen, dass zudem kommunikative Kompetenzen vonnöten sind, die sich auf das Erkennen rhetorischer Plausibilitätsstrukturen ausrichten. Die von mir durchgeführte Analyse legt nahe, dass in kontroversen Debatten der Gestaltungsöffentlichkeit mit äußerst engagierten Schlüsselakteuren wie der
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11 Schlussfolgerungen und Ausblick
Neonicotinoid-Debatte eine hohe Kompetenz im Umgang mit Texten vonnöten ist, um Plausibilitätsstrukturen nachzuvollziehen und somit selbstbestimmt am Prozess der Wissenskonstitution und der darauf aufbauenden Entscheidungsfindung teilhaben zu können. Ich möchte diese Fähigkeit als rhetorisch-hermeneutische Textkompetenz bezeichnen und skizziere im Folgenden einen Vorschlag zu ihrer Beschreibung. Der Begriff Textkompetenz ist insbesondere in sprachdidaktischer Hinsicht diskutiert worden und wird in vielen Fällen vor allem auf die Textproduktion als komplexe Tätigkeit bezogen (vgl. Adamzik & Buchser-Heer 2009). PortmannTselikas (2005) definiert Textkompetenz wie folgt: Textkompetenz ermöglicht es, Texte selbständig zu lesen, das Gelesene mit den eigenen Kenntnissen in Beziehung zu setzen und die dabei gewonnenen Informationen und Erkenntnisse für das weitere Denken, Sprechen und Handeln zu nutzen. Textkompetenz schließt die Fähigkeit ein, Texte für andere herzustellen und damit Gedanken, Wertungen und Absichten verständlich und adäquat mitzuteilen. (Portmann-Tselikas 2005: 1–2)
Laut Weidacher (2007: 43–44), der an Portmann-Tselikas anschließt, besteht eine Textkompetenz im engeren Sinne – etwas vereinfacht ausgedrückt – in der Fähigkeit, „kohärente Sinngebilde“ in Form mentaler Modelle als strukturierte Wissenskomplexe in Verbindung zu einer sprachlichen Form – von ihm Textur genannt – zu setzen. Er untergliedert diese wiederum in (multimodale) Kohärenzkompetenz, Kontextualisierungskompetenz und Stabilisierungs-/Formulierungskompetenz. In rezeptiver Hinsicht müsse man außerdem auch „die Intention hinter der Textproduktion“ erkennen können (Weidacher 2007: 44). Textkompetenz baue dabei auf spezifischen Medien-, Sprach- und Sachkompetenzen auf. In einem weiten Sinne enthielte Textkompetenz auch diese Grundkompetenzen sowie außerdem eine Kommunikations- wie eine metatextuelle Kompetenz (Weidacher 2007: 49). Die Auffassung von Weidacher (2007) scheint mir besonders anschlussfähig für das Grundverständnis und das Interesse der vorliegenden Arbeit. Ich werde sie deshalb als Ausgangspunkt nehmen, um im Folgenden einige Komponenten bzw. TeilKompetenzen einer rhetorischen Textkompetenz vorzuschlagen, die einer Rezipientin den Umgang mit rhetorischen Strategien erleichtern und einen Einblick in die Plausibilitätsstrukturen des geteilten Wissens ermöglichen können. Da ich in dieser Arbeit in erster Linie den Blick einer verstehensorientierten Linguistik eingenommen habe, werde ich diese rhetorische Textkompetenz als eine hermeneutische Kompetenz beschreiben, also eine Befähigung zum reflektierten Verstehen von Texten. Sie kann als Teil einer Interpretationskompetenz betrachtet werden. Für eine solche fordert Scherner (2007: 65) eine Reflexion der Prozesse des Textverstehens, wobei er sich explizit auf kognitionspsychologische und psycholinguistische Modelle zur Konstruktion mentaler Repräsentationen im Textverstehen bezieht (siehe dazu Kapi-
11.4 Von Textkompetenz zur Sprachkultur
405
tel 3.2.3). Eine rhetorisch-hermeneutische Textkompetenz basiert auf der Sprachreflexionsfähigkeiten einer Rezipientin und einer damit einhergehenden Sprachbewusstheit (vgl. Janich 2004: 152). Sie bezeichnet somit eine höhere sprachreflexive Teilkomponente einer übergreifenden Textkompetenz, die auf den grundsätzlichen Kompetenzen des Textverstehens aufbaut. Die in Tabelle 11.1 dargestellten Aspekte sind Vorschläge für Bestandteile einer hermeneutisch-rhetorischen Textkompetenz, die sich aus den Befunden der vorliegenden Arbeit ergeben. Neben einer Beschreibung der jeweiligen Kompetenz sind immer auch konkrete Frageformulierungen angegebenen, die als Vorschläge für textdidaktische Leseanweisungen einer hermeneutischen Lektüre zu verstehen sind. Die Formulierung der Fragen verzichtet dabei aus Gründen der allgemeinen Verständlichkeit weitestgehend auf die von mir in der vorliegenden Arbeit umfassend gebrauchte TWT-Terminologie (auf die sie aber unmittelbar und unproblematisch beziehbar bleibt). Eine Rezipientin, die über diese Art der rhetorisch-hermeneutischen Textkompetenz verfügt, kann zu einem kritischreflektierten Umgang mit Texten gelangen und so bewusst reflektieren, inwiefern sie die textuell konstruierten Wissensstrukturen akzeptiert oder zurückweist und welche handlungsbezogenen Konsequenzen sich daraus für sie ergeben. Sie trägt somit zu einer reflektierten Meinungsbildung bei und befähigt zu einer selbstbestimmten Teilhabe an Debatten im Kontext gesellschaftlicher Entscheidungsfindung. Aus der Beschreibung der Teilkompetenzen wird deutlich, dass sie in je unterschiedlichem Maße einiges an linguistisch-textbezogener Bildung erfordern. Das von mir entwickelte TWT-Modell stellt einen linguistisch fundierten Zugang zu solchen rhetorisch-hermeneutischen Kompetenzen dar106. Ob es allerdings für eine laienorientierte Vermittlung linguistischer Textkompetenzen operationalisierbar ist, wäre erst zu erproben. Die vorgeschlagenen Kompetenzen wurden zudem empirisch anhand eines eingeschränkten Datenmaterials entwickelt. Sie sind also anhand weiter Daten (insbesondere anderer Textsorten) zu erweitern und ggfs. zu spezifizieren.
11.4 Von der rhetorisch-hermeneutischen Textkompetenz zur Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit Eine rhetorisch-hermeneutische Kompetenz ermöglicht es einer Rezipientin zwar, sich bei der Lektüre eines Texts bewusst mit der Plausibilitätsstruktur des geteilten Wissens auseinanderzusetzen. Jedoch leitet sie nicht zu einer Bewertung derselbi-
Siehe hierzu die methodischen Anleitungen des Basic-Schemas der rhetorischen TWTAnalyse in Kapitel 6.3.
406
11 Schlussfolgerungen und Ausblick
Tabelle 11.1: Aspekte der rhetorisch-hermeneutischen Textkompetenz. Bezeichnung
Beschreibung
Lektürefragen
Hintergrund-FrameKompetenz
Fähigkeit, relevante HintergrundFrames im Text zu identifizieren, eigenes Wissen zu reflektieren, beides miteinander in ein Verhältnis zu setzen und kritisch (und offen) zu reflektieren. Sie beinhaltet zudem die Fähigkeit komplexe Frame-Strukturen textdriven aufzubauen und ggfs. in das Weltwissen zu übernehmen.
Welche Konzepte/Themen spielen beim Verstehen des Texts eine wichtige Rolle? Unterscheidet sich mein bisheriges Wissen und Verständnis von Thema/Konzept X von dem im Text aufgebauten? Warum? Kann ich durch den Text etwas über Thema/Konzept X lernen?
Perspektivierungskompetenz Fähigkeit, aus der propositionalen Struktur der TW die dadurch geleistete Perspektivierung abzuleiten.
Aus welcher Perspektive stellt der Text die Gegenstände und Sachverhalte dar? Woran liegt das? Teile ich diese Perspektive?
Handlungskompetenz
Fähigkeit, sich sprachliche Handlungsschemata bewusst zu machen. Hierfür muss ggfs. auch die Domäne erkannt werden. Erfordert ein hohes Maß an linguistischer Kompetenz.
Was ‚tut‘ der Orator durch den Text mit der Leserin? Welches Handlungsschema lässt sich hier zugrunde legen? Welche Textfunktion oder thematische Entfaltung wird bspw. realisiert?
Beziehungskompetenz
Fähigkeit, die Konzeptualisierung von Orator, Leserin und ggfs. anderen Akteuren zu erkennen, indem bspw. Rollenverhalten, Adressierungsformen und Selbst-/ Fremdattribuierungen interpretiert werden.
Wer ist die adressierte Leserin des Texts? Wie stellt sich der Orator selbst dar? Welche Beziehung zwischen den beiden wird durch den Text aufgebaut?
Emotive Kompetenz
Fähigkeit zum Erkennen relevanter emotiver Mittel und zur Reflektion emotiver Aspekte der globalen Bedeutungskonstitution.
Welche Gefühle drückt der Text aus/ werden im Text mit dem Thema/ Konzept X verbunden/ruft der Text bei mir hervor? Worauf kann ich das zurückführen? Wie wirken sich diese Gefühle auf mein Verständnis des Texts aus?
11.4 Von Textkompetenz zur Sprachkultur
407
Tabelle 11.1 (fortgesetzt) Bezeichnung
Beschreibung
Lektürefragen
Argumentbau-Kompetenz
Fähigkeit, aus dem Wortlaut des Texts ein Argument zu rekonstruieren. Es handelt sich zweifelsohne um eine umfangreiche Kompetenz die bspw. die „Kompetenzen literalen Argumentierens“ bei Feilke (a: –) umfasst. Im Sinne des hier vertretenen TWTModells gehört dazu auch die Fähigkeit, bis zu einem gewissen Maße die Integration des Arguments in die Weltenarchitektur nachzuvollziehen.
Zu welcher/-n strittigen Frage/-n positioniert sich der Orator durch den Text? Welche Standpunkte werden vertreten und durch welche Gründe werden diese Standpunkte gestützt? Auf welche Weise werden Standpunkte und Gründe im Text eingeführt?
DiskursivePositionierungskompetenz
Fähigkeit, die angestellten Beobachtungen etwa zu Perspektivierungen oder Handlungen in einem diskursiven Handlungszusammenhang zu verorten. Diese Fähigkeit verlangt auch intertextuelle Kompetenzen und Kenntnisse.
Wie passen bspw. die Darstellung bestimmter Themen und die Perspektivierung der Sachverhalte zu bestimmten Positionen innerhalb einer Debatte?
gen an. Allerdings kann sie aus meiner Sicht neben anderen Kompetenzen als Teil einer Sprachkultiviertheit im Sinne von Janich (2004: 92) aufgefasst werden, d. h. einem zur Selbstreflexion fähigen Sprachhandlungsvermögen in Verbindung mit dem moralischen Willen zur Kooperation in der Sprachgemeinschaft. Die von mir vorgeschlagenen Aspekte einer rhetorisch-hermeneutischen Textkompetenz legen damit auch den Grundstein für eine reflektierte Diskussion über die normativen Axiome einer Sprachkultur107 von Debatten der Gestaltungsöffentlichkeit. Ich möchte diese Annahmen über den Nutzen der rhetorischen Textkompetenz anhand zweier Beispiele aus der Neonicotinoid-Debatte verdeutlichen:
Der Begriff der Sprachkultur steht bei Janich (2004) in einem komplementären Verhältnis zur Sprachkultiviertheit. Die Sprachkultur ist dabei sowohl die Basis als auch die Folge der Sprachkultiviertheit und beinhaltet in Verbindung mit dem normativen Charakter der Sprachkultiviertheit selbst einen normativen Anspruch.
408
11 Schlussfolgerungen und Ausblick
Tabelle 11.2: Exemplarische Beobachtungen und mögliche Implikationen einzelner rhetorischhermeneutischer Teilkompetenzen für eine Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit. Kompetenz
Mögliche Erkenntnis in der Neonicotinoid-Debatte
Mögliche Implikation für eine Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit
HintergrundFrameKompetenz
Eine Rezipientin, die erkennt, dass das Konzept WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS ein besonders relevantes Thema in den Debattentexten darstellt, kann reflektieren, inwieweit sich die Konzeptualisierung im Text mit ihrem eigenen Wissen deckt und inwiefern dies Einfluss auf ihre Ablehnung/ Akzeptanz der lokal konstruierten TW und darin integrierter Wissensbehauptungen nimmt. Aus der psychologischen Forschung ist bekannt, dass der Umgang mit und die Akzeptanz von wissenschaftlicher Informationen in der Wissenschaftskommunikation mit der sogenannten Laientheorie zusammenhängen, die eine Rezipientin von Forschung besitzt (vgl. Bromme & Kienhues : ).
Dies wiederum bietet Anlass zu einer Diskussion darüber, welche normativen Vorstellungen von Wissenschaft innerhalb einer Gestaltungsöffentlichkeit gelten sollen. So lassen sich etwa die beiden Konzeptualisierungsweisen WISSENSCHAFTLICHER ERKENNTNIS in der Neonicotinoid-Debatte mit zwei unterschiedlichen Wissenschafts-Ethoi in Verbindung setzen, die NidaRümelin () identifiziert: einem Kern-Ethos wissenschaftlicher Rationalität auf der einen und einem ‚neueren‘ Ethos wissenschaftlicher Verantwortung auf der anderen Seite (vgl. Nida-Rümelin : –; vgl. auch Schrögel & Humm : ).
Emotive Kompetenz
Eine bewusste Auseinandersetzung mit den beiden TRS kann eine Rezipientin zu der Beobachtung führen, dass ÖKO einige TWBereiche (bzw. Gegenstände und Sachverhalte) wie bspw. den Pestizideinsatz stark negativ emotiv perspektiviert, was durchaus Auswirkungen auf die argumentativen Bezüge mancher Aussagen zueinander hat (siehe Kapitel ..). Eine Rezipientin, die diesen Zusammenhang hergestellt hat, kann beispielsweise reflektieren, inwiefern sie die Geltung solcher argumentativer Bezüge unabhängig des emotiven Potentials beurteilen kann (oder ob sie weitere Informationen für ein eigenes Urteil benötigt).
Darüberhinausgehend bietet diese Reflexion möglicherweise Anlass zur Diskussion darüber, inwiefern ein hohes emotives Potential in einer solchen Debatte der Gestaltungsöffentlichkeit angemessen ist, oder dies – wie von AGRAR behauptet – Oratoren/Akteuren zum Vorwurf gemacht werden kann.
11.4 Von Textkompetenz zur Sprachkultur
409
Die Diskussion der Beispiele in Tabelle 11.2 macht klar, dass eine auf solchen Kompetenzen erfolgte Bewertung zudem von einigen Grundsätzen geleitet werden. Ein möglicher Grundsatz etwa besteht in den für die rhetorische Ethik festgestellten Prinzipien struktureller Dialogizität und rhetorischer Rationalität (vgl. Roth 2004: 108; 122–124): Ein Text wird aus dieser Grundauffassung heraus stets als ein Bestandteil in einer Konstellation von Rede und Gegenrede begriffen. Ein vorgebrachter Standpunkt kann in dieser Konstellation entlang der Wirkdimensionen Ethos, Logos und Pathos be- und entkräftigt werden. Laut Klein (2014a: 207) kann die Realisierung struktureller Dialogizität als Kriterium eines „rhetorisch guten Beitrag[s]“ zu einer Debatte begriffen werden. Einen weiteren möglichen Wertungsgrundsatz stellt das Prinzip der Perspektivenpluralität dar: Felder (2013: 16) hebt hervor, dass viele Perspektiven „auf den vermeintlich gleichen Sachverhalt [...] das Maximale an Neutralität in unserem anthropologischen und nicht realisierbaren Streben nach Wahrheit“ seien. Die Grundannahme, dass die in einem Text entwickelte Perspektive auf die Wirklichkeit nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, sollte dementsprechend der Beurteilung der textuell konstruierten Weltenarchitektur zugrunde liegen. Sie eröffnet zudem die Einsicht, dass die textuell konstruierte Perspektivierung der Wirklichkeit in einem engen Zusammenhang mit der diskursiven Positionierung liegt. Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass jede eingenommene Perspektive ‚sehenswert‘ ist und dem Verständnis eines Sachverhaltes etwas hinzuzufügen vermag. Eine Diskussion um eine Sprachkultur von Gestaltungsöffentlichkeiten halte ich angesichts von deren wohl noch stärker zunehmender Relevanz für wünschenswert. Aus den hier vorgeschlagenen Überlegungen geht hervor, dass eine rhetorisch-hermeneutische Textkompetenz einer solchen Diskussion förderlich sein kann. Für eine entsprechende Sprachkultur allerdings sind auch weitere sprach- und kommunikationsbezogene Kompetenzen zu berücksichtigen wie eine metasprachliche Kompetenz sowie transsubjektive Kompetenzen wie bspw. Empathie, die für eine Verständigung unabdinglich sind (vgl. Janich 2004: 97–99; Janich & Bender 2020; Hermanns 2007). Die durch rhetorisch-hermeneutische Textkompetenzen ermöglichte individuelle Urteilsbildung muss ergänzt werden durch Möglichkeiten der aktiven Sprachteilhabe einerseits sowie insbesondere kollektive Normen des sprachlichen Umgangs zum Ziel der gegenseitigen Verständnissicherung. Dies kann etwa durch empathischen Perspektivenwechsel geleistet werden sowie in metadiskursiven Verfahren des Sprechens über das Sprechen, zur Bewältigung kommunikativer Konflikte. Darüber hinaus existieren bereits konkrete normative Konzeptionen sprachlichen Handelns, die in die Konzeption einer Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit integriert werden können. Dies betrifft insbesondere den Bereich des Argumentaufbaus bzw. der Argumentation. Hier liegen etwa mit den Modellen der
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11 Schlussfolgerungen und Ausblick
Argumentationsintegrität (Groeben et al. 1993) und der Pragmadialektik (van Eemeren 2019) konkrete Vorschläge für kultiviertes Argumentieren vor, die sich am Ideal des kritischen Rationalismus nach Karl Popper orientieren (vgl. van Eemeren 2019: 29). Zu beachten bleibt, dass in jedem Fall die individuelle Kultiviertheit als Grundvoraussetzung eines kollektiven kultivierten Sprachgebrauchs zu begreifen ist: Es ist oft behauptet worden, daß Diskussionen nur zwischen Leuten möglich sind, die gemeinsamen Grundanschauungen huldigen. Ich halte das für falsch. Nur eins ist nötig: die Bereitwilligkeit von seinem Partner zu lernen, die den aufrichtigen Wunsch einschließt, zu verstehen, was er sagen will. (Popper 1995: 173)
Als eine besondere Herausforderung für die Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit können die möglichen Funktionalisierungen wissenschaftlichem Wissen angesehen werden, deren Relevanz sich vor dem Hintergrund der Beschreibungen der beiden rhetorischen Strategien und AGRAR und ÖKO abzeichnet. Hier stehen sich zwei textuelle und argumentative ‚Wege‘ gegenüber, die den Umgang mit wissenschaftlichem (Nicht-)Wissen im Angesicht politischen Handelns prägen: der von ÖKO realisierte direkte Weg vom Wissen zum Handeln, bei dem politischer Handlungsdruck – folgerichtig – unmittelbar aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen resultiert, und der Weg von der politisch-normativen Debatte hin zur wissenschaftlichen Forschung und Diskussion, den AGRAR mit dem AUFKLÄREN-Muster beschreitet, um im Zuge dessen ein verstecktes Argument zu entwickeln, das politisches Handeln behindert. In beiden Fällen sind Wissen und Handeln und damit epistemische und normative Geltungsansprüche untrennbar aneinandergekoppelt. Laut Bogner (2021: 17) ist es demokratietheoretisch höchst bedenklich, dass in unserer Zeit die Einstellung vorzuherrschen scheint, politische Probleme seien „erst dann richtig formuliert und lösbar [...], wenn wir sie als Wissensprobleme verstehen.“ Die unerschütterliche Konzentration auf das Wissen rückt aus dem Blick, was politische Probleme eigentlich ausmacht und gesellschaftliche Probleme anheizt: divergierende Werte, Interessen und Weltbilder. (Bogner 2021: 17)
Die von mir durchgeführte Analyse hat gezeigt, dass die beiden rhetorischen Strategien durchaus solche Werte-, Weltbilder- und Interessenkonflikte erkennen lassen. Jedoch treten sie innerhalb der beiden Strategien deutlich weniger als Streitthema hervor als die epistemische Qualität des Wissens und ihre Identifizierung setzt teilweise ein hohes Maß an rhetorisch-hermeneutischer Textkompetenz voraus. Für eine Sprachkultur der Gestaltungsöffentlichkeit stellt sich der textuell-rhetorische Umgang mit normativen und epistemischen Argumenten, insbesondere mit deren Verknüpfungen aber auch deren Trennungen als zentrales Thema dar.
11.5 Schlussbemerkung
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11.5 Schlussbemerkung In ihrer Gesamtheit führen die Befunde und ihre Interpretation vor Augen, wie komplex sich die Konstitution eines brauchbaren Wissens (siehe Kapitel 1) in der Gestaltungsöffentlichkeit bereits bei der Betrachtung ausgewählter Texte zweier Akteure darstellt. Sie verdeutlichen die Notwendigkeit umfassender kommunikativer Kompetenzen einer Rezipientin, die in einer solchen Debatte partizipieren möchte. Solche Kompetenzen könnten sich in Zukunft als wichtige Bausteine im Fundament bürgerlich-demokratischer Gesellschaften erweisen. Analysen der Angewandten Linguistik, wie die von mir hier durchgeführte, könnten und sollten dazu beitragen, durch eine Förderung der Reflexionskraft die Textkompetenz von Bürgerinnen zu steigern und somit die Partizipation an wichtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu erleichtern. Eine Förderung der Sprachkultiviert kann zudem mit einem wachsenden Bewusstsein für Sprachkultur einhergehen und sich positiv auf die transparente Konsens- und Dissens-Findung in gesellschaftlichen Diskussionen auswirken. Hierzu jedoch müssten die entsprechenden linguistischen Erkenntnisse und auch Modelle verstärkt, vor allem jedoch auch verständlich und zugänglich, an die Öffentlichkeit vermittelt werden. Eine Doktorarbeit, die zum Zweck der wissenschaftlichen Qualifikation an die akademische Diskursgemeinschaft adressiert ist, ist hierfür der falsche Rahmen. Sie könnte aber ein weiterer Anlass und ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg hin zu einer solchen noch stärker zu leistenden Aufklärungsarbeit von Linguistinnen sein.
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Register acitivity type 22, 32, 63 Agentivität 177, 356, 359, 362f., 371 Agonalität 81, 84, 94, 107, 136, 402 Annotation 143, 181f., 184–186, 193, 198, 229, 235, 319, 363, 400 Argumentation 6, 11, 38, 87–100, 122, 170, 175, 184–188, 243, 254f., 261, 265, 267, 272, 277, 284, 306, 326, 337, 348, 378, 382, 394, 398, 409f. Argumentationsintegrität 410 Assoziation 199, 280, 359, 571, 376, 383, 386 Äußerungswelt (ÄW) 37f., 42, 47f., 55, 59–67, 73–75, 77–79, 96–106, 109, 112f., 121–123, 140, 155, 157f., 166–177, 225, 236, 238–242, 246–248, 258, 274, 309, 313–318, 328, 351f., 385, 390, 392–396 Bezugswelt 49, 50, 86, 169, 391, 392 Biodiversität 3, 5, 286, 346, 347, 401–403 blending 28, 65, 77 Common Ground 9, 12, 17, 24f., 31, 32, 35, 39, 40, 44, 48, 45, 49f., 59, 66, 74, 85f., 97, 104, 111, 118, 121–123, 141, 187, 225, 251, 257, 262, 268, 306, 309, 368, 380, 384–386, 390–392, 396, 404, 405 confirmation bias 393 Deixis 51f., 66–68, 76f. Dialogizität 81, 85, 94, 97, 409 Diskurs 10–12, 18, 107, 137, 142, 144, 154 Diskursivität 81, 136 Diskurslinguistik 10–12, 14, 95, 137, 144, 400 Diskurspragmatik 11 Dissoziation 91, 196, 262, 274–277, 279–283, 289, 297, 304, 338, 340, 348, 355, 358 Domäne 18, 47, 62, 80, 81 104, 106, 109, 117, 157, 161, 162, 183–185, 258, 317, 318, 334, 335, 403, 406
Empathie 101, 121, 240, 242f., 357, 366, 409 Emotion 115, 113, 121, 240, 242, 243, 357, 366, 409 Emotionalisierung 86, 118–120, 122, 177, 236, 281, 282, 387, 388, 390 Emotionsausdruck 118–120, 177, 304 Emotionsdarstellung 119f. emotives Potential 119–121, 177, 248, 306, 317, 323, 325, 350, 355, 357, 366–368, 371, 386, 390, 408 emotive Perspektivierung 120–122, 177, 313, 325, 382, 386, 390, 394 engagement 105, 111, 240 Enthymem 88f., 379 epistemic distance 67, 70, 77 Ethos 2, 4, 83–87, 100–107, 109, 111–113, 122f., 134, 139, 154, 158, 175–178, 180, 182, 270, 304, 388, 395f., 400, 408f. Exposition 126, 130, 229, 251–253, 281f. Fokusdomäne 66, 79, 187, 188, 194, 224, 260, 385, 389 Fokusraum 69, 155, 167, 188, 192, 211f., 216, 221, 224f., 250f., 253–255, 340, 387 Fokuswelt 65, 68, 70–74, 79, 97–99, 104, 111, 155, 168, 187, 191, 202f., 224, 228, 266f., 272, 301, 309, 361f., 385, 387, 396 Forschungsraum 192, 211–219, 236, 251, 256, 284, 366, 386, 388, 395 Frame 2, 12f., 17, 20–27, 32, 40f., 46, 50, 55–57, 64, 71f., 76, 78, 95, 99, 104, 107, 144, 163–165, 168, 173f., 184f., 189, 212, 217, 219, 245, 261, 276f., 280f., 294, 299, 301, 304, 310, 313–319, 322, 325, 328, 340, 347, 359–362, 381, 392 Frame-Semantik 9, 17, 20f., 46, 95 Framing 20, 46, 200, 319f., 326, 334–337 function-advancing propositions (FAPs) 38, 40–42, 52, 56–59, 62–65, 69–75, 79, 98f., 111, 122, 160–170, 187–212, 224, 228, 231, 239f., 251, 309, 315, 322, 325, 339f., 364
Note: Die zentralen Begriffe Textwelt und Textwelttheorie bzw. vor allem die Abkürzungen TW und TWT kommen in der Arbeit so häufig vor, dass auf eine Aufnahme in den Index verzichtet wurde. https://doi.org/10.1515/9783111077369-013
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Register
Gefühl 82f., 91, 113, 116f., 119f., 406 Geltungsanspruch 11, 94f., 188, 218, 394, 398, 410 Gestaltungsöffentlichkeit 4f., 129–131, 134, 145–147, 149, 317, 394, 398f., 403, 405, 407–411 geteiltes Wissen siehe Common Ground Glaubwürdigkeit 83, 101, 188, 191, 225, 393, 395 Handlungsfeld siehe Domäne Hermeneutik 136–138, 142, 155 Identifikation 110, 112f., 242, 306, 357, 394, 396 Image 101 Inkrementation 39–41, 45, 47f. Interaktionale Soziolinguistik 17, 23, 25, 63 Interaktionsrolle 60–62, 79, 106f., 112, 242, 413 Involvierung 48, 240, 243, 247, 294, 313, 318, 389 Kognitive Semantik 6, 9f., 12, 22, 27, 29, 35, 41, 400 Kontextmodell 30–32, 60–63, 86, 105f., 121, 184 Kontextualisierung 16–18, 20, 22, 24–26, 32, 48, 105, 135, 161f., 344, 404 Layout 45, 47f., 50, 235, 245f., 315 Logos 2, 6, 83–87, 89, 91, 93, 95, 97, 99, 122f., 134, 139, 154, 170, 177f. 180, 182, 400, 409 Lokutor 102–104, 188, 202f., 217, 223, 241f., 245, 247, 325–331, 333, 386 Matrixwelt 65f., 68–79, 97f., 155, 163, 215, 288 Mentaler Raum 27f., 32, 42, 76 Mentales Modell 29–32, 43, 85, 86, 135 Modalität 74f., 79, 111 – epistemische Modalität 70, 72 – deontische Modalität 71 – volitive Modalität 71f. Multimodalität 38, 44f., 400 Nähe/Distanz 70, 77, 121f., 169, 177, 225, 315f., 361 partisan bias 393 Pathos 2, 6, 83–87, 113–115, 119, 122f., 134, 139, 154, 177f., 180, 182, 400, 409
Perlokution 15, 82, 84 Perspektivierung 47, 76, 189, 314, 325, 340–343 Persuasion 81–83, 85f. Plausibilität 85, 86, 178, 391 Polyphonie 102–104 Positionierung 48, 72–74, 99, 105, 107–113, 129, 161, 163, 170f., 174–176, 195, 228, 248, 261, 265–267, 270–272, 287, 310f., 314f., 347f., 357, 383, 393f., 400, 407, 409 Pragmadialektik 93, 410 Präsenz 19, 90, 98, 218f., 276, 284, 307, 313, 358, 369, 389, 394 Proposition 15, 39–41, 57f., 67, 70–73, 76–78, 96, 100, 144f., 149f., 160, 166f., 170–174, 186–193, 198–211, 214–224, 227–233, 243f., 250–253, 272, 325, 328f., 340, 355–358, 366–382 Quaestio 88f., 92–98, 100, 122, 127, 170–172, 188f., 195f., 257, 261, 264–267, 270f., 282–284 Quantifizierung 179–181, 197, 267 rhetorische Ethik 85, 409 rhetorische Situation 81 rhetorische Textstrategie 85, 122f., 138f. rhetorische Wirkung 83, 85, 123, 135, 391, 398 Schlussregel 88f., 95f., 99, 172–173, 251–253, 258, 261, 264, 271, 287, 304, 310, 358, 378f., 383 Selbstdarstellung 6, 70, 86f., 100–102, 105, 183, 388 Sprachhandlung 11, 48, 60, 62–64, 66, 82, 84f., 92, 94, 96f., 106, 108f., 119, 135, 157–159, 165, 169, 175f., 183f., 228, 238, 239–243, 247, 263, 277, 308f., 311, 328, 330, 334, 337, 354, 407 Sprachkultiviertheit 407 Sprachkultur 405, 407–411 Sprechakttheorie 15f., 82, 93, 158, 168 stance 110 – epistemic stance 204, 206f. Standpunkt 95f., 100, 171–174, 253, 355, 357f., 376, 396 sub-world 66f.
Register
Textfunktion 47f., 56, 63, 149, 159–161, 229, 326, 406 Textkommunikation 2, 9f., 25, 30, 33, 38f., 44–46, 48, 55, 59, 61–63, 78, 80, 85, 96f., 100–106, 109, 111f., 120, 122, 134, 138, 154f., 158, 176, 179, 394, 400 Textkompetenz 7, 403–407, 409–411 Textwelttheorie-Diagramm (TWT-Diagramm) 141, 155, 163–165, 182, 186f., 215, 224, 240, 309 Textweltmodell 29f., 32, 37, 43, 86, 143, 164, 168, 174f. text-driven(-ness) 35, 40, 48, 53, 63, 65, 97f., 109, 156, 201, 267, 392, 406 Topos 88f., 91, 95f., 99, 172, 184, 261–274, 280, 282f., 292, 304, 355, 358, 389, 402 Toulmin-Schema 89, 93, 95, 100, 172–175 Transtextualität 136 Textwelt-Integration (TW-Intergation) 185, 187–189, 191–199, 201f., 204–206, 210f., 216f., 222–225, 229, 232, 237, 257, 389f. Typografie 44f., 47f., 50, 258, 334 verstehensrelevantes Wissen 18–21, 24f., 30, 32, 40, 46, 49f., 79, 89, 95–99, 118, 156, 164, 173, 184, 391 Vertrauenswürdigkeit 101 Vordergrund-Hintergrund-Struktur 52, 98 warrant siehe Schlussregel Weltenarchitektur 37, 40, 42, 44, 46, 48, 50f., 55, 62, 65–71, 74–79, 97f., 104, 121–123, 134, 140, 154–156, 167–169, 173f., 177f., 187f., 193, 200, 212f., 222–231, 240, 245, 250f.,
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254f., 258, 262, 265, 267, 308, 313, 315–318, 328, 333, 354, 364, 384–386, 389–394, 400, 407, 409 Welt-Welt-Relation 68f., 72, 74–76, 79, 111, 155, 163, 168f., 202 – deontische 70f., 97, 163, 170, 174, 199, 272, 301, 309f., 316, 321, 354 – epistemische 70f., 76, 97, 173, 206–208, 215, 228, 232, 287, 309, 314 – kognitive 72f., 169, 204, 228, 239 – negierende 74f., 104, 210, 222, 383 – redeinduzerte 65, 73–75, 103, 169, 188, 191, 202–205, 217, 223, 233, 238, 240f., 243, 246, 325, 333 – volitive 71–73, 201, 238, 321, 361 Wirkdimensionen 83–87, 112f., 122f., 154, 156, 178, 180, 409 Wissenschaftliches Wissen 120, 149, 153, 183, 197, 211, 244, 257, 272, 281, 189, 310, 314, 232, 334, 337, 385–387, 391, 398, 415 Wissenskonstitution 2–4, 6, 8–18, 20, 22, 24–26, 28–30, 32, 34f., 39, 41, 43, 45, 47–51, 78, 80, 133–135, 140, 142, 146–148, 155, 171, 176, 182f., 187–189, 291, 293, 197, 234, 265, 384–391, 394, 396, 398, 400–404 world-builder 53–56, 58, 65, 67, 77, 162, 199, 232, 235, 239, 245 world building element (WBE) 48, 52–58, 61–63, 65, 79, 99, 122, 155, 162–164, 169, 171, 177, 188, 199–201, 208, 210, 235, 250, 309, 360, 365 world-switch 67f. Zweck-Mittel-Rationalität 81, 84