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German Pages 351 [387] Year 2021
KANT-FORSCHUNGEN
SILVAN IMHOF JÖRG NOLLER (HG.)
Kants Freiheitsbegriff
(1786–1800)
Dokumentation einer Debatte
Kant-Forschungen
KANT-FORSCHUNGEN Begründet von Reinhard Brandt und Werner Stark
Band 26
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
SILVAN IMHOF, JÖRG NOLLER (HG.)
Kants Freiheitsbegriff (1786 –1800) Dokumentation einer Debatte
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-4058-3 ISBN eBook 978-3-7873-4059-0
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Die Drucklegung wurde darüber hinaus ermöglicht durch ein von der Deut‐ schen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes wissenschaftliches Netzwerk zum Thema »Praktische Philosophie nach Kant (1785–1800)« (411370158).
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INHALT
EINLEITUNG
1. 2.
Gegenstand und Ziel der Edition . . . . . Der historisch-systematische Kontext der 2.1 Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Crusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Kant’sche Kontext . . . . . . . . . . . . . 3.1 Transzendentale Freiheit . . . . . . . . 3.2 Freiheit als Autonomie . . . . . . . . . 3.3 Freiheit als Willkür . . . . . . . . . . . . 4. Die nachkantische Debatte . . . . . . . . . 4.1 Freiheit und Determinismus . . . . . . 4.2 Freiheit und Selbstbewusstsein . . . 4.3 Freiheit und Zurechenbarkeit . . . . . 4.4 Freiheit und Willkür . . . . . . . . . . . 4.5 Freiheit und Skeptizismus . . . . . . . 5. Die Aktualität der Freiheitsdebatte . . . . Editorische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . .
...... Debatte ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ...... ......
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. IX . XII . XIII . XVI . XVII . XVIII . XX . XX . XXI . XXIII . XXIV . XXV . XXV . XXVI . XXVI . XXVII . XXVII . XXXIII
TEXTE I. FREIHEIT UND DETERMINISMUS
1
2
3
Hermann Andreas Pistorius (1786) Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft von Joh. Schultze. [Rezension, Auszug] . . . . . . . . . . . . . .
3
Johann August Heinrich Ulrich (1788) Eleutheriologie, oder über Freyheit und Nothwendigkeit. [Auszug] .
9
Christian Jakob Kraus (1788) Eleutheriologie oder über Freyheit und Nothwendigkeit, von Johann August Heinrich Ulrich. [Rezension] . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
VI
4
5
Inhalt
Christian Wilhelm Snell (1789) Ueber Determinismus und moralische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Friedrich Schiller (1793) Ueber Anmuth und Würde. [Auszug] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
II. FREIHEIT UND SELBSTBEWUSSTSEIN
6
Ludwig Heinrich Jakob (1788) Ueber die Freiheit. [gekürzter Text] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Johann Heinrich Abicht (1789) Ueber die Freyheit des Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Friedrich Heinrich Jacobi (1789) Ueber die Freyheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
Friedrich Wilhelm Daniel Snell (1789) Die Lehre von der Moralischen Freiheit nach Kantischen Principien. [Auszug] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
10 Karl Heinrich Heydenreich (1791) Ueber die moralische Freyheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
11 Johann Christoph Schwab (1794) Wie beweiset die kritische Philosophie, daß wir uns als absolutfrey denken müssen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
7
8
9
III. FREIHEIT UND ZURECHENBARKEIT
12 Carl Christian Erhard Schmid (1790) Versuch einer Moralphilosophie. [Auszug] . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
13 Johann Christoph Schwab (1792) Ueber die zweyerley Ich, und den Begriff der Freyheit in der Kantischen Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
14 Karl Leonhard Reinhold (1792) Erörterung des Begriffes von der Freyheit des Willens . . . . . . . . . . .
159
Inhalt
15 Johann Christoph Schwab (1794) Ueber den intelligibeln Fatalismus in der kritischen Philosophie . . .
VII
185
IV. FREIHEIT UND WILLKÜR
16 Karl Leonhard Reinhold (1793) Ueber den Unterschied zwischen dem unwillkührlichen aber durch Denkkraft modificirten Begehren und dem eigentlichen Wollen; oder zwischen dem sogenannten nicht sittlichen und dem Sittlichen Wollen. An Herrn Professor C. C. E. Schmid. . . . . . .
193
17 Immanuel Kant (1797) Einleitung in die Metaphysik der Sitten.[Auszüge] . . . . . . . . . . . . .
209
18 Karl Leonhard Reinhold (1797) Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freyheit des Willens . . . . . . . . . . . . .
223
19 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1797) Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur.[Auszug] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
V. FREIHEIT UND SKEPTIZISMUS
20 Leonhard Creuzer (1793) Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe. [Auszüge] . . . . .
255
21 Johann Gottlieb Fichte (1793) Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neusten Theorien über dieselbe von Leonhard Creuzer. [Rezension] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
22 Friedrich Carl Forberg (1795) Ueber die Gründe und Gesetze freyer Handlungen . . . . . . . . . . . . .
285
23 Salomon Maimon (1800) Der moralische Skeptiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
Inhalt
VIII
Bibliographie . . . . . . Werkausgaben . . Originaltexte . . . Zitierte Literatur . Sekundärliteratur
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343 347
Einleitung
1. Gegenstand und Ziel der Edition
Die Freiheitsdebatte im unmittelbaren Ausgang von Kant stand bislang im Schat‐ ten anderer Themen. 1 Dies ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil der Frei‐ heitsbegriff, nicht nur bei Kant, der ihn als »Schlussstein« 2 seines Systems ansieht und der praktischen Vernunft den Primat vor der theoretischen gibt, sondern auch für die gesamte klassische deutsche Philosophie als Fundamentalbegriff gelten darf. 3 Dass in Bezug auf die Freiheitsthematik in der nachkantischen Philosophie Forschungsbedarf besteht, ist nicht unbeachtet geblieben. Dieter Henrich stellt fest, dass zu der Willensfreiheitsdebatte im Ausgang von Kant »noch immer eine umfassende Untersuchung fehlt«, 4 und auch Klaus Düsing bemerkt, dass »[d]iese Freiheitsdebatte im Spannungsraum zwischen Kants Lehre und frühidealistischen Theorien [. . . ] noch erhellt werden [kann]«. 5 Ebenso schreibt Paul Guyer, dass es noch »genügend Raum für weitere Forschung im Zusammenhang von Ursprung und Rezeption Kantischer Philosophie, insbesondere seiner Moral[philosophie]«, 6 gibt, und Jochen Bojanowski konstatiert: »Es mangelt an Arbeiten, die den Ein‐ fluß der kleineren und in Vergessenheit geratenen Schriften von Kants philosophi‐ schen Zeitgenossen auf seine Schriften untersuchen. Auch Kants kritische Aus‐ einandersetzung mit seinen Rezensenten wird zu wenig berücksichtigt. Oft aber
1
Henrich 2004, 20, hat darauf hingewiesen, dass »[e]ines der Defizite« der gegenwär‐ tigen philosophischen Forschung »in der ungenügenden Erschließung von Kants Freiheits‐ lehre« liegt. Vgl. im Folgenden: Noller 22016, 33 ff. 2 Kant, KpV, AA V, 3. 3 Zur historisch-systematischen Bedeutung von Kants Freiheitsbegriff, insbesondere in seiner Kritik der praktischen Vernunft, vgl. Noller 2016. 4 Henrich 2007, 369. 5 Düsing 2006, 117. Vgl. auch Düsing 2002, 225: »Die Freiheitsdiskussion in der Ent‐ wicklung von Kant zu Fichte und zu Schiller als Grundlage frühidealistischer Freiheitstheo‐ rien ist noch nicht genügend aufgeklärt.« Vgl. aber schon Henrich 1975, 97: »Kants wenig differenzierte Begriffe vom Willen sind seinen Schülern schon früh als unzureichend für die überzeugende Darstellung der kritischen Moralphilosophie erschienen. Ihre Bemühun‐ gen, eine vollständige Theorie des Willens auszuarbeiten, waren auch für die frühen Sta‐ dien der Entwicklung des spekulativen Idealismus von einiger Bedeutung. Noch hat nie‐ mand die wichtige Aufgabe in Angriff genommen, diese Arbeiten [. . . ] zu analysieren und ins Verhältnis zu setzen zu Kants weiterentwickelten Definitionen in der ›Metaphysik der Sitten‹«. 6 Guyer 2004, 21.
Einleitung
X
wird die Stoßrichtung von Kants Argumentation nur vor dem Hintergrund dieser Subtexte verständlich.« 7 Ein Grund für diese Vernachlässigung der nach- und mitkantischen Freiheits‐ debatte innerhalb der Forschung darf in ihrer ›Randständigkeit‹ erblickt werden: Sie ist aufs Engste mit der Moralitätsdebatte verwoben, so dass sie sich nur mit einiger Mühe isolieren und eigens thematisieren lässt. Auch steht sie, indem sie Kants wirkmächtigen Autonomiebegriff problematisiert und mit alternativen Ent‐ würfen kontrastiert, in vielerlei Hinsicht quer zur verbreiteten Auffassung der nachkantischen Freiheitsdebatte als einer überwiegend affirmativen Übernahme und Weiterentwicklung der kantischen Theorie autonomer Vernunft. Eine aus‐ führliche Studie, welche die nachkantische Freiheitsdebatte als einen systemati‐ schen Diskussionszusammenhang um die Probleme der Autonomie und der Zu‐ rechenbarkeit begreift, dabei Kants eigene systematische Beiträge als Reaktion mit einbezieht und systematische Bezüge zur aktuellen Freiheitsdebatte herstellt, darf trotz einiger in der Zwischenzeit erschienenen Studien immer noch als ein Desiderat gelten. 8 Paul Guyer hat in diesem Zusammenhang bemerkt: »[E]rst seit kurzem erkennen die Forscher, dass Kants Schriften in den 1790ern als eigene Periode angesehen werden sollten, in der er die konkreten Auswirkungen der ab‐ strakten Prinzipien kritischer Philosophie zu zeigen versuchte, die er von 1781– 1790 entwickelt hatte; hier ist noch viel Arbeit zu tun. Ganz allgemein gespro‐ chen muss eigentlich die Geschichte von Kants Wirkung auf die gesamte Folgezeit der Philosophie noch geschrieben werden«. 9 Diesem Desiderat entsprechend ist es das Ziel des vorliegenden Bandes, die wichtigsten Quellentexte für den Bereich der nachkantischen Freiheitsdebatte neu zu edieren, sie in ihren historischen und systematischen Zusammenhängen zu erschließen und damit eine Basis für das Studium wie auch für weitergehende Forschungen zu schaffen. Vorarbeiten und Grundlagen zur systematischen Erschließung dieser Freiheits‐ debatte hat der 1975 von Rüdiger Bittner und Konrad Cramer herausgegebene Suhrkamp-Band Materialien zu Kants Kritik der praktischen Vernunft geleistet. Das Verdienst dieser sehr umfangreichen Anthologie – sie umfasst beinahe 500 Seiten – besteht darin, bis dahin nur schwer zugängliche Texte zur Freiheitstheo‐ rie im Ausgang von Kant in zentralen Auszügen zugänglich gemacht zu haben. Allerdings liegen die Nachteile einer solchen losen Zusammenstellung auf der Hand: Sie bedarf, um philosophischen Ertrag abzuwerfen, einer umfassenden hi‐ 7
Bojanowski 2006, 233. Zentrale Ansätze dazu finden sich in Noller 22016. Diese Studie kann als eine Art Kommentar der vorliegenden Edition dienen. An verschiedenen Stellen in der folgenden historisch-systematischen Situierung der nachkantischen Freiheitsdebatte wird deswegen darauf zurückgegriffen, da sie sich in ihrer Anlage komplementär zu der vorliegenden Edi‐ tion verhält. 9 Vgl. dazu Guyer 2004, 21. 8
Gegenstand und Ziel der Edition
XI
storisch-systematischen Einordnung der jeweiligen Texte, was im engen Rahmen der einleitenden Bemerkungen, die sich auf ein knapp 20-seitiges »Vorwort« be‐ schränken, seinerzeit nicht geleistet werden konnte, so dass aufgrund der Hetero‐ genität der versammelten Entwürfe ein roter Faden in der nachkantischen Debat‐ te nicht sichtbar wurde. Obwohl mittlerweile einige der darin enthaltenen Quel‐ lentexte kritisch ediert vorliegen, 10 erweist sich der Materialienband immer noch als eine, ja die primäre Bezugsquelle für das Studium und die Untersuchung der Freiheitsdebatte bei und im Ausgang von Kant. Während der Materialienband von Bittner und Cramer eine Fülle an unver‐ bundenen und nur wenig systematisch zusammenhängenden Dokumenten bot (und somit in erster Linie eine lose Materialiensammlung war), legt die vorlie‐ gende Edition einerseits mehr Gewicht auf eine historisch-systematische Kontex‐ tualisierung der einzelnen Beiträge zur nachkantischen Freiheitsdebatte, indem sie die einzelnen Texte mit Einleitungen und Kommentaren versieht; andererseits hebt sie die systematische Einheit der Texte hervor, sofern sich diese als problem‐ orientierte Beiträge und Dokumente zu der von Kant initiierten und klar umris‐ senen Freiheitsdebatte verstehen lassen. Darüber hinaus versteht sich der Band von Bittner und Cramer als Sammlung von Materialien zur Kritik der praktischen Vernunft, wobei die Freiheitsthematik nur einen – acht Texte umfassenden – Teil darstellt. Demgegenüber beschränkt sich der vorliegende Band ausschließlich auf Beiträge zur Freiheitsdiskussion und deckt dieses Thema mit einer Auswahl von dreiundzwanzig Aufsätzen, Rezensionen und Auszügen ab. Damit wird selbst‐ verständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben: Die Stellungnahmen zur kantischen Freiheitslehre im Zeitraum von 1786 bis 1800 sind dermaßen zahl‐ reich, dass ihr vollständiger Abdruck im Rahmen eines Materialienbandes weder sinnvoll noch machbar wäre. Unsere Auswahl soll aber in dreierlei Hinsicht reprä‐ sentativ sein für die von Kant ausgehende Debatte um die Freiheit: Erstens soll die Diskussion historisch nachverfolgt werden, indem die in ihrem Verlauf sich ver‐ ändernden Schwerpunktsetzungen abgebildet werden; zweitens sollen die wich‐ tigsten systematischen Positionen vertreten sein – von den Anhängern des Leib‐ niz-Wolff’schen Rationalismus über die Verteidiger des Kantianismus und die Sy‐ stem- und Grundsatzphilosophen bis zu den Skeptikern; und drittens sollen jene Denker zu Wort kommen, deren Beiträge den Verlauf der Debatte entscheidend ge‐ prägt haben und auf deren Stellungnahmen man sich immer wieder bezieht, sei‐ en dies nun Schwergewichte wie Fichte und Schelling oder philosophiegeschicht‐ liche Nebenfiguren wie Friedrich Wilhelm Snell und Christian Jakob Kraus. 11 Dieser sowohl historischen wie auch systematischen Ausrichtung der Edition 10
Zu nennen sind vor allem die Editionen der Texte von Reinhold und Fichte in den jeweiligen Gesamtausgaben (RGS bzw. GA). 11 Eine englischsprachige Edition mit zentralen Texten dieser Debatte erscheint 2021 bei Cambridge University Press unter dem Titel Kant’s Early Critics on Freedom of the Will,
XII
Einleitung
folgt auch unsere Einleitung: Zunächst wird der philosophische Hintergrund von Kants Freiheitstheorie entwickelt, indem die Freiheitstheorien von Leibniz, Wolff, Baumgarten und Crusius in ihren Grundzügen dargestellt werden. Diese Theorien sind deswegen von zentraler Bedeutung, weil Kant und viele seiner frühen Kri‐ tiker von der vorkantischen Tradition des deutschen Rationalismus stark geprägt waren. Dann werden Kants wichtigste Argumente bezüglich der Freiheit des Wil‐ lens dargestellt, wobei wir uns auf seine Kritik der reinen Vernunft (1781/87), seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), seine Kritik der praktischen Vernunft (1788), seine Religionsschrift (1793) und seine späte Metaphysik der Sit‐ ten (1797) beziehen. Vor diesem Hintergrund wird die nachkantische Freiheits‐ debatte von 1786–1800 anhand der zentralen systematischen Leitfragen darge‐ stellt, nach denen wir die ausgewählten Texte gruppiert haben. Schließlich wird die systematische Relevanz der nachkantischen Freiheitsdebatte dargelegt, indem wir auf zahlreiche Berührungspunkte mit der gegenwärtigen analytischen Philo‐ sophie verweisen. 12
2. Der historisch-systematische Kontext der Debatte
Kants Freiheitslehre ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie formierte sich in der Auseinandersetzung mit den Auffassungen früherer und zeitgenössischer Denker. Wichtigster Bezugspunkt war dabei die deutsche Philosophie des 18. Jahrhun‐ derts, die stark rationalistisch ausgerichtet war. Diese Philosophie war nicht nur der Hintergrund, von dem sich Kants Freiheitskonzeption absetzte, sondern auch der Bezugspunkt der Kritiker Kants vor allem in der ersten Rezeptionsphase der kritischen Philosophie: Es waren Vertreter eben jener rationalistischen Philoso‐ phie, gegen die sich Kants kritische Philosophie, auch mit ihrer Freiheitskonzep‐ tion, richtete. Die Freiheitsauffassung in der deutschen Philosophie des 18. Jahr‐ hunderts wurde zentral von vier Philosophen geprägt: Gottfried Wilhelm Leib‐ niz (1646–1716), Christian Wolff (1679–1754), Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) und Christian August Crusius (1715–1775). Viele der Autoren der nachkantischen Freiheitsdebatte beziehen sich wie Kant selbst implizit oder ex‐ plizit auf diese Denker, die zentrale Begriffe des Freiheitsdiskurses prägten und, wie etwa Wolff und Baumgarten, lateinische Ausdrücke der philosophischen Tra‐ dition – wie etwa »Willkür« für lat. arbitrium – ins Deutsche übersetzten.
herausgegeben und übersetzt von Jörg Noller und John Walsh. Sie ist im Gegensatz zur vorliegenden Edition stärker auf die angelsächsische Forschungssituation zugeschnitten. 12 Vgl. dazu ausführlich Noller 22016, 344–358.
Der historisch-systematische Kontext der Debatte
XIII
2.1 Leibniz
Ihr spezifisches Profil erhält die Leibniz’sche Freiheitslehre in Abgrenzung eines Begriffs von Handlungsfreiheit, wie ihn John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding 13 unmittelbar zuvor vertreten hatte. 14 Anders als Locke geht es Leibniz darum, den Begriff des freien Willens zu verteidigen und weiter zu begründen – es interessiert ihn dabei nicht so sehr die Frage, ob man tun kann, was man will, sondern die Struktur des freien Willens rückt selbst in den Vordergrund. 15 Die Freiheit des Wollens (la liberté de la volonté) unterscheidet Leibniz in seinen Nouveaux Essais in zwei Formen: 16 Zunächst in die Freiheit, die »eigentlich unseren Verstand (entendement)« betrifft. Frei kann demnach nie‐ mand genannt werden, der »von einer großen Leidenschaft in Anspruch genom‐ men ist«, da hier »der Geist unter einem Zwange und einer Hemmung [. . . ] han‐ delt«. Gemäß einem solchen Freiheitsbegriff ist nur ein Weiser frei und Gott voll‐ kommen frei zu nennen. Endliche Geister »sind es nur in dem Maße, als sie über die Leidenschaften erhaben sind«. Von dieser Freiheit, die »eigentlich unseren Verstand« betrifft und nach der nur verstandesgemäße Entscheidungen frei genannt werden können – man könnte sie auch als Form eines ›Vernunftdeterminismus‹ bezeichnen –, kann jedoch noch ei‐ ne andere Form von Freiheit unterschieden werden, die Leibniz die »Freiheit des Geistes« (liberté de l’esprit) nennt. Diese betrifft »bloß den Willen« – »sofern er sich vom Verstand unterscheidet«, und kann demnach »freie Willkür« 17 (francarbitre) genannt werden. Leibniz grenzt diese Willkürfreiheit – im Sinne des libe‐ rum arbitrium voluntatis – von der Notwendigkeit der Verstandesfreiheit ab, da für jene gilt, »daß der Willensakt trotz den stärksten Gründen oder Motiven, die der Verstand dem Willen vorhält« – also der Spezifikation des Willens – »nichts‐ destoweniger immer zufällig bleibt und keine absolute und sozusagen metaphy‐ sische Notwendigkeit besitzt«. 18 Der Verstand kann die Willkür »zwar auf sichere 13
Für eine ausführliche Darstellung des Leibniz’schen Freiheitsbegriffs mit Blick auf Kant vgl. Noller 22016, 81–88. 14 Vgl. Locke 1975, 244: »[A]s far as this Power reaches, of acting, or not acting, by the determination of his own Thought preferring either, so far is a Man free.« 15 »Quand on raisonne sur la liberté de la volonté ou sur le Franc arbitre, on ne de‐ mande pas, si l’homme peut faire ce qu’il veut, mais s’il y a assés d’independance dans sa Volonté même. On ne demande pas, s’il a les jambes libres, ou les coudées franches, mais s’il a l’esprit libre, et en quoy cela consiste.« Leibniz 1990, 181 (Hervorhebungen der Hg.) – »Wenn man über die Freiheit des Willens oder über die freie Willkür spricht, so fragt man nicht, ob der Mensch tun kann, was er will, sondern ob er in seinem Willen selbst Unab‐ hängigkeit besitzt. Man fragt nicht, ob er freie Füße und Hände hat, sondern ob sein Geist frei ist, und was dies bedeutet.« (Leibniz 1996b. Bd. 3, 158) 16 Diese Unterscheidung findet sich in Leibniz 1996b. Bd. 3, 150. 17 Leibniz 1996b. Bd. 3, 150 f. 18 Leibniz 1996b. Bd. 3, 151.
XIV
Einleitung
und unfehlbare Art bestimmen« 19, was jedoch nicht bedeutet, dass er ihn dabei nötigt. Wie ist diese Freiheit der Willkür näher zu verstehen? In Paragraph 288 sei‐ ner Theodizee gibt Leibniz die »Bedingungen« 20 (conditions) dafür an. Zentral ist zunächst sein differenzierter Begriff der Kontingenz der Freiheitsentscheidung, die er als qualitative Auszeichnung des Existierenden begreift. 21 Eine Handlung ist nach Leibniz dann kontingent, wenn es »keinen Zwang für diesen oder jenen Entschluß« gibt, sie also quasi-indifferent geschieht – »wofern man unter Indif‐ ferenz versteht, es gebe keinen Zwang für diesen oder jenen Entschluß«. 22 Aller‐ dings darf dieser Zustand nicht als ein »indifferentes Gleichgewicht« (indifference d’equilibre), verstanden werden, »wo die Bedingungen auf beiden Seiten voll‐ ständig gleich sind, und wo keine stärkere Neigung für die eine Seite vorhanden ist« 23. Eine absolute Indifferenz der Willkür würde gerade keine Freiheit bedeu‐ ten, sondern, neben einer ausbleibenden Freiheitsentscheidung, die Grundstruk‐ tur der Wirklichkeit selbst in Frage stellen: Sie würde, wie Leibniz feststellt, »das große Prinzip des bestimmenden Grundes vernichten« 24. Deshalb darf der Wille nicht verstanden werden als »irgendein unerhörtes und sinnloses Vermögen (in‐ auditam absurdamque potentiam agendi), ohne Grund (sine ratione) zu handeln oder nicht zu handeln« 25. Eine solche Freiheit basierte auf einem »widernatürli‐ chen Vermögen einer gewissermaßen vernünftigen Unvernunft« (monstrosam po‐ tentiam rationalis cuiusdam irrationalitatis) 26. Leibniz’ Unterscheidung zwischen Determination und Notwendigkeit soll al‐ so ermöglichen, eine Entscheidung der freien Willkür (franc-arbitre) als ein Er‐ eignis zu begreifen, das kontingenterweise und doch durch Bestimmung hervor‐ gebracht wurde. Wie kann aber dieser freiheitsermöglichende Begriff der Kon‐ tingenz von Entscheidungen aus reiner Laune heraus (par caprice) 27 unterschie‐ den werden? Der Schlüssel zur Lösung dieses Indifferenz-Problems liegt in Leib‐
19
Leibniz 1996b. Bd. 3, 150. Leibniz 1968, 320. Eine detaillierte Explikation dieser Freiheitsbedingungen findet sich bei Hermanni 2002, 69–72 sowie bei Buchheim 2009, 237–243. 21 Vgl. zur das Existierende auszeichnenden Funktion der Kontingenz ausführlich Buch‐ heim 1996. 22 Leibniz 1968, 126. 23 Ebd. 24 Leibniz 1968, 236. Vgl. auch Leibniz 1996b. Bd. 3, 155, wonach die Annahme, »daß die freien Wesen auf eine unbestimmte Art und Weise wirken«, als ein Irrtum gelten muss, »der viele Geister gefangen genommen hat und die wichtigsten Wahrheiten, ja sogar jenen fundamentalen Satz zerstört hat, daß nichts ohne Ursache geschieht«. 25 Leibniz 1967, 83. 26 Ebd. 27 Ebd. 20
Der historisch-systematische Kontext der Debatte
XV
niz’ Unterscheidung von Bestimmtheit (détermination) und Notwendigkeit (ne‐ cessité). Man muss nach Leibniz das Notwendige vom Zufälligen, auch wenn dieses bestimmt ist, unterscheiden. Denn nicht nur sind die zufälligen Wahrheiten selbst nicht notwendig, sondern auch ihre Verknüpfungen haben nicht immer eine absolute Notwendigkeit; denn ohne Zweifel besteht ein Unterschied in der Bestimmung der Konsequenzen im Bereich des Notwendigen und im Bereich des Zufälligen. Die geometrischen und metaphysischen Konsequenzen enthalten eine Nötigung (necessitent), die physi‐ schen und moralischen aber machen nur geneigt, ohne zu nötigen (inclinent sans necessiter). 28
Ein zweites elementares Moment des Leibniz’schen Freiheitsbegriffs – »gewis‐ sermaßen die Seele der Freiheit« – bildet die »Intelligenz« (intelligence/délibera‐ tion), »die eine deutliche Erkenntnis des zu beschließenden Gegenstandes in sich faßt«. 29 Wie bereits Thomas von Aquin, so kennt auch Leibniz den Begriff des Vernunftgebrauchs 30 (usus rationis), den er als die »wahre[] Wurzel der Freiheit« (vera radix rationis) 31 ansieht. Der Wille ist demnach nicht notwendigerweise an das Gute und allgemein Vernünftige gebunden, sondern kann sich dazu mittels der individuellen Vernunft frei verhalten und dieses verschiedentlich perspekti‐ vieren. 32 Auch im Bösen findet ein Vernunftgebrauch statt, auch wenn dieser pri‐ vativ begriffen wird 33: »[D]ie Toren, die Irrenden, die Schurken [machen] durch‐ aus Gebrauch von ihrem Verstand, jedoch nicht im Hinblick auf die Hauptsa‐ che«. 34 In der Zuwendung zum Bösen »verdreht (pervertit) ein anderer Verstand den Verstand, ein geringerer den höheren, ein bestimmter, der durch Veranla‐ gung, Erziehung und Gewohnheit geprägt ist, den umfassenden« 35. Das dritte von Leibniz angeführte Moment der Willensfreiheit bildet die Spon‐ taneität (spontaneité). Der Mensch ist »umso mehr spontan, je mehr seine Hand‐ lungen aus seiner Natur (natura) fließen und je weniger sie von außen verän‐ 28
Leibniz 1996b. Bd. 3, 155. Leibniz 1968, 320. 30 Leibniz 1967, 87 ff.: »Die Freiheit hängt also vom Gebrauch der Vernunft ab, je nach‐ dem diese rein oder getrübt ist; entweder schreiten wir aufrecht auf dem herrscherlichen Pfad der Pflichten oder wir taumeln im Unwegsamen.« 31 Leibniz 1967, 87. 32 Vgl. Leibniz 1968, 124: »[W]eil die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten stattfin‐ det und der Wille nur durch die vorherrschende Güte des Gegenstandes bestimmt wird, ist die Wahl frei und von der Notwendigkeit unabhängig.« Vgl. zum Begriff subjektiver Ver‐ nunft bei Leibniz und ihrem systematischen Potenzial für einen ›qualitativen‹ Freiheitsbe‐ griff jenseits von Determinismus und Indeterminismus Buchheim 2001, 340. 33 Vgl. Leibniz 1967, 89, wonach »jede Sünde aus dem Irrtum« erfolgt (peccatum omne ab errore); vgl. auch Leibniz 1968, 214: »Das Übel stammt allein aus Privation«. 34 Leibniz 1967, 91. 35 Ebd. 29
Einleitung
XVI
dert werden« 36. Willensfreiheit ist also nach Leibniz graduierbar und keine Sa‐ che von Alles oder Nichts, da positive Freiheit einen mehr oder weniger authen‐ tischen Ausdruck der individuellen Person darstellt. Worin besteht aber der Be‐ stimmungsgrund des Willens? Leibniz fasst die Willensbestimmung als ein ho‐ listisches Zusammenspiel aller an dem Zustandekommen der Handlung beteilig‐ ten Instanzen auf: »[W]ir wollen [. . . ] nur das, was harmonisch (harmonicum) er‐ scheint. Was aber harmonisch erscheinen kann, hängt von der Beschaffenheit des Empfindenden, des Objekts (objecti) und des Mittels (medii) ab.« 37 Dieses Her‐ stellen einer harmonischen Willensordnung begreift Leibniz als deliberativen Pro‐ zess. Willensfreiheit besteht demnach im Herstellen einer persönlichen Harmonie von Gründen, die der eigenen Wesensnatur entsprechen und dieser schließlich in der Handlung Ausdruck verleihen. Mit Blick auf die nachkantische Debatte kann man festhalten, dass Leibniz’ Frei‐ heitslehre in der Regel als deterministisch interpretiert wird, unabhängig davon, wie dies dann bewertet wird: Zwar ist die Willensbestimmung nicht notwendig, sondern zufällig, aber auch die zufällige – d. h. nach Leibniz: freie – Willensbestim‐ mung erfolgt durch zureichende Gründe. Es wird also an der durchgängigen Geltung des metaphysischen Prinzips des zureichenden Grundes festgehalten. Mit explizi‐ tem oder implizitem Bezug auf Leibniz und seine Nachfolger wird denn auch Kant immer wieder die Frage gestellt, ob seine Auffassung von Freiheit als Spontaneität nicht gegen den Satz des zureichenden Grundes verstoße. Wenn sie dies tut, muss sie als indifferentistisch oder äquilibristisch eingestuft werden; wenn nicht, fällt sie mit der Leibniz’schen Konzeption zusammen. Dagegen müssen sich die Anhänger der Letzteren die Frage gefallen lassen, ob man überhaupt sinnvoll von Freiheit sprechen kann, wenn der Wille in jedem Fall durch zureichende Gründe bestimmt wird. Mit der Annahme der durchgängigen Geltung des Satzes des zureichenden Grundes scheint nur ein Determinismus verträglich zu sein, der Freiheit sowohl im metaphysischen wie auch im moralischen Sinn ausschließt.
2.2 Wolff
In seiner sogenannten Deutschen Metaphysik (Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt), die 1720 in der ersten Auflage erschien, erörtert Wolff das Problem menschlicher Freiheit im Kontext der rationalen Psychologie. Wolff vergleicht darin den menschlichen Willen mit einer Waage und die Gewichte mit den Beweggründen des Willens (§ 509, Wolff 1720, 275). Wolff argumentiert im Anschluss an Leibniz dafür, dass 36 37
Leibniz 1967, 83. Leibniz 1967, 79.
Der historisch-systematische Kontext der Debatte
XVII
Willensfreiheit eines zureichenden Grundes bedarf und mit einem indifferenten Gleichgewicht der Motive unvereinbar ist. 38 Wie für Leibniz sind auch für Wolff freie Handlungen unvereinbar mit Notwendigkeit 39 aber dennoch bestimmt. Wir verfügen als freie Subjekte über alternative Möglichkeiten der Entscheidung 40, da wir unsere Entscheidungen reflektieren können. Die menschliche Seele verfügt über das Vermögen der Willkür, da sie den Grund ihrer Handlungen in sich hat. 41 Wolff bestimmt insofern Willensfreiheit als Kraft der Seele, zwischen gleicher‐ maßen möglichen Objekten durch Willkür jene zu wählen, die am meisten ge‐ fallen. 42 Wie Leibniz versteht auch Wolff Vernunft als bestimmenden Grund der Freiheit. 43 Mit dieser in den entscheidenden Punkten mit der Leibniz’schen über‐ einstimmenden Freiheitskonzeption wird Wolff in gleicher Weise wie Leibniz zur Referenz in der Diskussion um den kantischen Freiheitsbegriff – und zwar sowohl für deren Gegner wie für deren Anhänger.
2.3 Baumgarten
In der vierten Auflage seiner Metaphysica (1757; 11743) hat Baumgarten wichtige lateinische freiheitstheoretische Begriffe übersetzt, die für Kant in der Folge von zentraler Bedeutung werden sollten. 44 Baumgarten unterscheidet zwischen einem höheren und einem niederen Begehrungsvermögen. 45 Beide Vermögen können in Konflikt zu- oder in Harmonie miteinander stehen. 46 Baumgarten bezeichnet das vernünftige Begehren als »Wollen«. Wir sind frei zu wählen, was wir wollen, und dies verdanken wir dem Vermögen der Willkür (arbitrium) 47. Baumgarten unter‐ scheidet zwischen einer »sinnlichen Willkür«, die das empirische Begehren be‐ trifft, und »reiner Freiheit«, die nicht mit empirischem Begehren vermischt ist. Nach Baumgarten kann Freiheit in Graden vorkommen, die sich nach ihrer Re‐ flektiertheit richten: »Nach je deutlicherem Belieben ich also etwas will oder nicht will, desto freier will ich es oder will ich es nicht. Je mehr ich mir also meiner Be‐ weggründe bewußt bin, desto freier will ich«. 48 Baumgarten versteht Willensfrei‐ 38
Vgl. Wolff 1720, 277 (§ 511). Vgl. Wolff 1720, 278 f. (§ 515). 40 Vgl. Wolff 1720, 279 (§ 516). 41 Vgl. Wolff 1720, 280 (§ 518). 42 Vgl. Wolff 1720, 281 (§ 519). 43 Vgl. Leibniz 1968, 320 (§ 288). 44 Diese Auflage wurde auch in Kants Akademie-Ausgabe aufgenommen (AA XV; AA XVII), da sich dazu zahlreiche Annotationen bei Kant finden. 45 Baumgarten 1757, 263 f. (§ 689). 46 Baumgarten 1757, 265 f. (§ 693). 47 Baumgarten 1757, 277 f. (§ 712). 48 Baumgarten 1757, 285 (§ 725). 39
XVIII
Einleitung
heit als eine Form von Autokratie: »Folglich ist die Herrschaft DER SEELE ÜBER SICH SELBST das Vermögen, nach deutlichem Belieben Handlungen bald dieses, bald jenes Vermögens, bald deren Gegenteil hervorzubringen«. 49
2.4 Crusius
Crusius war der bedeutendste und theoretisch versierteste Gegner des Wolff’schen Rationalismus. Dies drückt sich grundsätzlich darin aus, dass er gegen eine ein‐ seitige Vorrangstellung des Vermögens der Vernunft die Bedeutung des Willens betont: Während die Vernunft zwar die nötigen Einsichten liefert, um das Han‐ deln zweckmäßig auszurichten, kann nur der Wille das Handeln kausal in Gang setzen. 50 Das bedeutet nicht zuletzt auch, dass Willensfreiheit nicht auf Prozesse der rationalen Deliberation reduziert werden darf – wie Leibniz und Wolff mei‐ nen. Es braucht immer eine zusätzliche Instanz, die dafür sorgen kann, dass der deliberative Prozess in reales Handeln mündet. Diese Instanz ist für Crusius der freie Wille. In dieser Funktion steht der Wille außerhalb des Bereichs der theoretischen Rationalität und wird als genuin praktisches Vermögen verstanden. Mit dieser Ausgliederung des freien Willens aus dem Bereich theoretischer Rationalität revi‐ diert Crusius auch den Geltungsbereich des Satzes des zureichenden Grundes. 51 Crusius schränkt dessen Gültigkeit als metaphysisches und epistemisches Prinzip erheblich ein, indem er zwischen bestimmenden und zureichenden Gründen un‐ terscheidet. Unter bestimmenden Gründen versteht er solche, die einem bestimm‐ ten Ereignis vorangehen und festlegen, dass genau dieses Ereignis und kein an‐ deres eintritt. Bestimmende Gründe lassen also keine Alternativen zu und sind dementsprechend strikt determinierende Gründe. Dies ist nicht der Fall bei bloß zureichenden Gründen im Sinne von Crusius. Bei diesen handelt es sich um sol‐ che Gründe, die zwar kausal dafür verantwortlich sind, dass ein Ereignis eintritt, durch die aber nicht festgelegt ist, dass gerade dieses Ereignis und kein anderes eintreten muss. Mit anderen Worten: Diese Gründe sind nicht determinierend, sie lassen die Möglichkeit offen, dass alternative Ereignisse eintreten bzw. hätten eintreten können. Der Wille ist für Crusius nun genau ein Vermögen, das als zwar zureichender, aber nicht bestimmender Grund wirkt. Das bedeutet auf der einen Seite, dass die aus einer Willensentscheidung resultierende Handlung metaphysisch unterdeter‐ miniert ist, sodass es immer Handlungsalternativen gibt und eine Person in den‐ 49
Baumgarten 1757, 287 f. (§ 730). »Ich verstehe unter dem Willen die Kraft eines Geistes nach seinen Vorstellungen zu handeln.« (Crusius 1767, 4 (§ 2)) 51 Vgl. dazu Crusius 1767, 62–64 (§ 47). 50
Der historisch-systematische Kontext der Debatte
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selben Umständen immer auch anders hätte handeln können, als sie tatsächlich gehandelt hat. 52 Auf der anderen Seite führt diese Auffassung zur epistemologi‐ schen Konsequenz, dass Handlungen nie restlos rational erklärbar sind. Der Be‐ reich des Handelns und Entscheidens, des Willens und der Freiheit ist nicht auf theoretische Rationalität reduzierbar. Dem allem entsprechend ist Freiheit für Crusius das Vermögen des Willens, ei‐ ne Handlung unmittelbar zu initiieren. 53 Dieses Vermögen wird als Selbstbestim‐ mung verstanden, die unmittelbar dem Willen als Grundkraft entspringt 54 und die deshalb von der Spontaneität oder geistigen Selbsttätigkeit des Verstandes zu unterscheiden ist. 55 Damit kann der Wille einerseits als frei betrachtet werden, weil er unabhängig ist von bestimmenden Gründen, die ihn auf notwendige Wei‐ se festlegen bzw. vorherbestimmen. Ein Determinismus oder Fatalismus wie bei Leibniz kann so vermieden werden. Andererseits widerspricht ein solches Ver‐ ständnis von Freiheit Crusius zufolge nicht dem – richtig verstandenen – Satz des zureichenden Grundes, da die Tätigkeit der Willenskraft selbst der zureichen‐ de Grund des Handelns ist. Damit kann auch der Vorwurf der Zufälligkeit oder Grundlosigkeit der Willensäußerungen abgewiesen werden. 56 Für Crusius liegt vollkommene Freiheit dann vor, wenn die Handlungsalter‐ nativen »nach unserer Einsicht gleichgültig sind«. In diesem Fall – der allerdings nicht immer vorliegt – kann die Freiheit »auch libertas indifferentiae oder aequili‐ brii« genannt werden. 57 Diese Festlegung führt dazu, dass Crusius in der Folge als Vertreter einer indifferentistischen oder äquilibristischen Freiheitsauffassung dar‐ gestellt wird. Wenn er in der kantischen und nachkantischen Freiheitsdiskussion auch selten explizit genannt wird, ist er doch der Hauptreferenzpunkt, wenn es um Indifferentismus und zufällige oder grundlose Willensbestimmung geht. Da‐ bei sind sich Gegner wie Anhänger Kants fast ausnahmslos darüber einig, dass der Indeterminismus unhaltbar ist. Es ist also als Vorwurf gemeint, wenn die Kri‐ 52
»Wenn man diese vorausgesetzte Eigenschaften zusammen nimmt, so kann ein freyes Wesen nichts anders seyn als ein solches, welches zu einerley Zeit und bey einerley Umstän‐ den etwas thun oder lassen, oder an dessen statt etwas anders thun kann, und die Kraft, vermöge welcher es darzu fähig ist, muß die Freyheit heissen.« (Crusius 1767, 48 (§ 38)) 53 »Und von dieser Art muß die Freyheit des menschlichen Willens seyn, daher man den Begriff derselben noch ferner also bestimmen kan, die Freyheit sey der höchste Grad der Thätigkeit in einem Willen, vermöge welcher er seine Wircksamkeit selbst anfangen, richten und wiederum abbrechen kan, ungeachtet dieselbe durch alle dabey erforderliche Bedingungen nicht mehr als möglich gemacht worden.« (Crusius 1767, 53 (§ 41)) 54 »Man kann derowegen das Wesen der Freyheit auch durch diesen Begriff ausdrücken, daß sie eine Kraft sey, sich zu einer Handlung selbst zu determiniren, ohne daß man durch irgend etwas anders, es sey in uns oder ausser uns, darzu determiniret werde.« (Crusius 1767, 48 (§ 39)) 55 Vgl. Crusius 1767, 49 (§ 40). 56 Vgl. Crusius 1767, 64 f. (§ 48). 57 Vgl. Crusius 1767, 68 (§ 50).
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tiker der kantischen Freiheitslehre diese als indeterministisch bezeichnen, und ihre Verteidiger müssen sich darum bemühen, diese Lesart zurückzuweisen. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass Crusius’ Konzeption von Wille und Freiheit einen beträchtlichen Einfluss auf die Ausarbeitung von Kants kritischer Freiheitslehre hatte, von der man etwas verkürzt sagen kann, dass sie im Span‐ nungsfeld des Leibniz-Wolff’schen Determinismus und des Indifferentismus von Crusius entstanden ist. 58 Darüber hinaus hat Crusius gegen Leibniz den Einwand erhoben, dass er mit der uneingeschränkten Geltung des Prinzips des zureichen‐ den Grundes ein Fatum einführe (»Fatum introducit«) und dadurch die Moral auf‐ hebe (»Moralitatem tollit«). 59 Dieser Einwand wird von den Kantianern und nicht zuletzt von Kant selbst immer wieder als entscheidendes Argument gegen deter‐ ministische Gegner vorgebracht.
3. Der Kant’sche Kontext
Kants Freiheitsbegriff kann weiter differenziert werden in (i) transzendentale Freiheit bzw. Kausalität aus Freiheit; (ii) Freiheit als Autonomie und (iii) Freiheit der Willkür. Während Kant transzendentale Freiheit in seiner Kritik der reinen Vernunft behandelt, steht Freiheit als Autonomie in der Grundlegung zur Meta‐ physik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft im Zentrum. Freiheit als Willkür wird besonders in Kants Religionsschrift und seiner späten Metaphysik der Sitten thematisch.
3.1 Transzendentale Freiheit
Die transzendentale Idee der Freiheit im Sinne einer »absolute[n] Spontaneität der Handlungen«, die »den eigentlichen Grund der Imputabilität« des Menschen aus‐ macht, ist, wie Kant betont, »der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philoso‐ phie«. 60 Ihre Anstößigkeit lässt sich als eine Antinomie zwischen zwei grundsätz‐ lichen Auffassungen bezüglich der kausalen Verfasstheit der Welt verstehen, die nach Kant auf Basis eines transzendentalen Realismus gleichermaßen bewiesen werden können und daher notwendig zu einer Kritik der jeweiligen ontologischen Verpflichtungen führen müssen. 61 Kant bemerkt, bereits auf die Kritik der prak‐ 58
Vgl. dazu Finster 1982 und Klemme / Kuehn 2016, 149–154. Vgl. Crusius 1743, 8–10 (§ VII f.). 60 Kant, KrV, B 476. Zu Kants Begriff transzendentaler Freiheit vgl. ausführlich: Noller 22016, 105–134. 61 Vgl. Kants pädagogische Absicht in den Prolegomena: »Wenn der Leser nun durch diese seltsame Erscheinung [der Antinomie; die Herausgeber] dahin gebracht wird, zu der 59
Der Kant’sche Kontext
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tischen Vernunft vorgreifend, dass es »überaus merkwürdig« sei, »daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe«. 62 Diesemnach muß eine Causalität angenommen werden, durch welche etwas ge‐ schieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehen‐ de Ursache nach nothwendigen Gesetzen bestimmt sei, d. i. eine absolute Sponta‐ neität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transscendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen nie‐ mals vollständig ist. 63
Eine solche absolute Spontaneität, die eine Kausalität aus Freiheit ist, ist nur denkbar, wenn sie als außerhalb der Zeitlichkeit und somit außerhalb der Erschei‐ nungswelt gedacht wird. Es muss sich um eine intelligible Freiheit handeln, über die der Mensch nur insofern verfügt, als er als Vernunftwesen an der intelligiblen Welt teilhat. Dies hat zwei Konsequenzen: 64 Erstens ist die intelligible Freiheit als solche nicht erfahrbar. Vom Standpunkt der theoretischen Vernunft kann daher nur gesagt werden, dass transzendentale Freiheit zwar als möglich gedacht, aber nicht als wirklich erkannt werden kann. Ihre Realität muss mit anderen Mitteln als denen der theoretischen Vernunft erwiesen werden. Erst in den praktischen Teilen von Kants Vernunftkritik wird klar, dass die Wirklichkeit der transzenden‐ talen Freiheit durch praktische Vernunftgründe erweisbar ist. Zweitens erlaubt der Umstand, dass transzendentale Freiheit als intelligible Freiheit gedacht wer‐ den muss, die Auflösung der Antinomie von naturgesetzlicher Notwendigkeit und Freiheit: Mit der Idee der transzendentalen Freiheit kann eine Art von Kausalität angenommen werden, die im eigengesetzlichen Bereich des Intelligiblen angesie‐ delt und daher unabhängig vom Bereich des Empirisch-Naturgesetzlichen ist und mit diesem nicht in Konflikt gerät. Naturgesetzliche Notwendigkeit und transzen‐ dentale Freiheit können ohne Widerspruch zusammen bestehen.
3.2 Freiheit als Autonomie
Zentral für Kants Begriff einer Autonomie der Vernunft ist jedoch vor allem sein Begriff positiver Freiheit, einer Freiheit zu etwas. 65 Die negative Freiheit als Unab‐ Prüfung der dabei zum Grunde liegenden Voraussetzung zurückzugehen, so wird er sich gezwungen fühlen, die erste Grundlage aller Erkenntniß der reinen Vernunft mit mir tiefer zu untersuchen.« (Kant, Prolegomena, AA IV, 341 Fn.) 62 Kant, KrV, B 561. 63 Kant, KrV, B 474. Kants Formulierung erinnert an Crusius, vgl. Anm. 52. 64 Vgl. dazu KrV, A 532/B 560–A 558/B 586. 65 Vgl. dazu die Unterscheidung von Isaiah Berlin 1969 als »not freedom from, but free‐ dom to« (131). Zu Kants Begriff einer Autonomie vgl. ausführlich: Noller 22016, 15–23.
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Einleitung
hängigkeit vom Naturgesetz genügt für sich genommen noch nicht für eine voll‐ ständige Autonomie des Willens: »Die angeführte Erklärung der Freiheit ist nega‐ tiv und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist.« 66 Ein ganz und gar gesetzloser Wille wäre zwar unabhängig vom Naturgesetz, doch enthielte so die Freiheitsentscheidung keine Bestimmtheit und wäre im schlechten Sinne des Wortes ›willkürlich‹ zu nennen: »[S]o ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding.« 67 Kant ver‐ tritt also die Ansicht, dass positive Freiheit selbst gesetzmäßig verfasst sein muss, jedoch von gänzlich anderer Art als Naturgesetzlichkeit. Der Bestimmungsgrund des freien Willens kann nicht in der Heteronomie materialer und insofern bloß subjektiver und individueller Zwecke bestehen, sondern nur in der Objektivität, Universalität und Formalität des Vernunftgesetzes selbst. Das Vernunftgesetz er‐ hebt den menschlichen Willen aus dem Bereich der Naturgesetzlichkeit und ihrer Kausalität, wie Kant sagt, »in eine ganz andere Sphäre als die empirische, und die Notwendigkeit, die es ausdrückt, da sie keine Naturnotwendigkeit sein soll, kann also bloß in formalen Bedingungen der Möglichkeit eines Gesetzes überhaupt be‐ stehen«. 68 Durch die Bestimmung des Willens durch reine Vernunft wird dieser zu einer, wie Kant es nennt, »Kausalität aus Freiheit«, die sich in der Welt konkret als Handlung verwirklicht: »Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kau‐ salität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann«. 69 Worin genau besteht diese Formalität der Vernunftgesetzlichkeit, die den posi‐ tiven Begriff von Freiheit des Willens bestimmen soll? Kant hat seine metaphysi‐ sche Theorie des autonomen Willens als Freiheitskausalität aufs Engste mit sei‐ ner normativen Theorie menschlicher Moralität verknüpft, so dass man mit Blick auf Kants absoluten Freiheitsbegriff von einer »Ethik der Autonomie« 70 sprechen kann: Absolute Willensfreiheit ist für Kant Freiheit angesichts der Normativität der Moralität. Die spezifische Gesetzlichkeit, unter der erst der Wille autonom ge‐ nannt werden kann, ist das Sittengesetz als absoluter Maßstab und Kriterium für Moralität. Dabei eignet dem Willen eine spezifische Reflexivität: Der Wille gibt 66
Kant, GMS, AA IV, 446. Ebd. 68 Kant, KpV, AA V, 34. 69 Kant, GMS, AA IV, 446. 70 So der Titel von Dieter Henrichs 1982 erschienenem Aufsatz, der bereits 1963 im We‐ sentlichen inhaltsgleich unter dem Titel »Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus« erschienen war. 67
Der Kant’sche Kontext
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sich selbst ein Gesetz, jedoch nicht irgendeines, welches ihm als ein Fremdes im‐ mer noch entgegenstände, sondern dieses Sittengesetz ist wesentlich sein eigenes Gesetz: »Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen an‐ gesehen werden muß.« 71 Freiheit im Sinne von Autonomie bedeutet demnach die »Unabhängigkeit des Willens von jedem anderen, außer allein dem moralischen Gesetze«. 72 »Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch all‐ gemeinen Gesetzgebung unterworfen sei« 73, so Kant.
3.3 Freiheit als Willkür
In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant verschiedene Formen der Willkür unterschieden: »Eine Willkür nämlich ist bloß thierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d. i. pathologisch, bestimmt werden kann. Diejenige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmt wer‐ den kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird praktisch genannt.« 74 In seiner Religionsschrift bestimmt Kant die individuelle Freiheit des Menschen angesichts des Bösen in Anknüpfung an seinen Begriff transzendentaler Freiheit ganz allge‐ mein als »absolute Spontaneität der Willkür« 75. Worin besteht die positive Frei‐ heit der Willkür? Da der Grund des Bösen nicht in der Materie – weder derjenigen der Neigungen noch der moralischen Triebfeder der reinen praktischen Vernunft selbst – liegen kann, bleibt nur die Möglichkeit, dass der Grund der bösen Frei‐ heitsentscheidung in einem rein formalen Verhältnis zu den der menschlichen Freiheit zur Entscheidung gegebenen Bestimmungsgründen des Willens besteht, als »der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat« 76. Die »Freiheit der Willkür«, so Kant, ist »von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie
71 72 73 74 75 76
Kant, Kant, Kant, Kant, Kant, Kant,
GMS, AA IV, 431. KpV, AA V, 94. GMS, AA IV, 432. KrV, B 830. RGV, AA VI, 24. RGV, AA VI, 31.
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auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen« 77. In seiner späten Metaphysik der Sitten bestimmt Kant die menschliche Willkür als »Begehrungsvermögen nach Begriffen«, also als oberes Begehrungsvermögen, »sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird« 78. Der Wille besitzt nunmehr nur noch legislative Funktion – er stellt das Sittengesetz auf –, und das exekutive Moment bzw. die Spontaneität wird ganz dem Vermögen der Willkür übertragen, indem sie das Ge‐ setz ausführt: »Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maxi‐ men.« 79 Dies wiederum hat Konsequenzen für den freiheitstheoretischen Status beider Vermögen: Da der Wille damit »auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann [er] weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Hand‐ lungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlun‐ gen (also die praktische Vernunft selbst) geht«. Damit steht fest: »Nur die Willkür [. . . ] kann frei genannt werden.« 80
4. Die nachkantische Debatte
Kants Lösungsansatz für das Freiheitsproblem innerhalb seiner kritischen Philo‐ sophie war völlig neuartig und ließ sich dementsprechend nicht ohne Weiteres unter die gängigen Positionen zu diesem Thema einordnen. Es erstaunt deshalb nicht, dass eine intensive Debatte um Kants Freiheitskonzeption entstand, bei der es sowohl darum ging, wie der kritische Vorschlag angemessen verstanden werden kann, als auch darum, diesen Vorschlag zu kritisieren bzw. gegen Kritik zu verteidigen. Die Debatte brachte eine große Zahl an Beiträgen hervor, die sich ebenso direkt auf Kant wie auf andere Beiträge bezogen, sodass die Diskussi‐ on in ihrem ganzen Umfang und der Vielfalt ihrer Bezüge kaum zu überblicken ist. Denker aus allen möglichen philosophischen Lagern meldeten sich zu Wort und selbst innerhalb der einzelnen Lager – nicht zuletzt auch in dem der Kantia‐ ner – wurde keine einheitliche Position vertreten. Trotz der individuellen Vielfalt der Diskussionsbeiträge ist es möglich, die ausgewählten Texte in unserer Editi‐ on nach fünf systematischen Schwerpunkten zu gruppieren. Diese Schwerpunkte stellen wir im Folgenden im Überblick dar, um im Anschluss daran die Relevanz der Debatte für die gegenwärtige Philosophie aufzuzeigen.
77 78 79 80
Kant, Kant, Kant, Kant,
RGV, AA VI, 23. MS, AA VI, 213. MS, AA VI, 226. MS, AA VI, 226.
Die nachkantische Debatte
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4.1 Freiheit und Determinismus
Das Problem von Determinismus und Freiheit und ihrer Vereinbarkeit behandelt Kant in seiner Auflösung der Dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft (B 560–565). Kant löst diese Antinomie, indem er zwischen Dingen an sich und Erscheinungen, zwischen dem Bereich des Intelligiblen und des Sensiblen bzw. Empirischen unterscheidet. Dadurch kann Freiheit der intelligiblen Welt zugeord‐ net werden und ohne Widerspruch zur kausal determinierten empirischen Welt der Erscheinungen bestehen. In der darauffolgenden Debatte stehen folgende Fra‐ gen im Zentrum: Wie kann transzendentale Freiheit als absolute Spontaneität ent‐ stehen, wenn sie nicht zeitlich verstanden werden kann (Hermann Andreas Pi‐ storius, Christian Jakob Kraus)? Inwiefern existiert ein Mittelweg zwischen De‐ terminismus und Indeterminismus bezüglich menschlicher Handlungen (Johann August Heinrich Ulrich)? Wie muss unser Wille bestimmt sein, um frei genannt werden zu können, wenn wir die Gültigkeit des Prinzips des zureichenden Grun‐ des voraussetzen (Christian Wilhelm Snell)? Wie können wir Sinnlichkeit und Vernunft, Neigung und Pflicht vermitteln (Friedrich Schiller)?
4.2 Freiheit und Selbstbewusstsein
In der Kritik der praktischen Vernunft verbindet Kant unser Bewusstsein des Sit‐ tengesetzes aufs Engste mit unserer Freiheit des Willens. Freiheit ist der Seins‐ grund, Sittlichkeit der Erkenntnisgrund der Freiheit. 81 Wie aber können wir ge‐ nau dieses Verhältnis von Freiheit und moralischem Bewusstsein denken, und wie können wir unsere Freiheit erkennen? Philosophen wie Ludwig Heinrich Ja‐ kob vertraten die Auffassung, dass die Möglichkeit der Freiheit jenseits unserer Erkenntnismöglichkeiten liegt. Johann Heinrich Abicht analysiert das Phänomen des Wollens weiter, indem er es auf substanzielle bzw. transzendentale Gründe des Ichs bezieht. Friedrich Heinrich Jacobi argumentiert, dass die Möglichkeit der Freiheit nicht erkennbar ist, dass ihre Wirklichkeit sich jedoch im Gefühl der Ehre und im Gewissen zeigt. Friedrich Wilhelm Daniel Snell knüpft an Kants Auflösung der dritten Antinomie an und argumentiert dafür, dass die Wirklich‐ keit praktischer Freiheit sich in der Erfahrung zeigt. Karl Heinrich Heydenreich nimmt Kants Lehre vom Faktum der Vernunft auf und vertritt die These, dass es ein unmittelbares Bewusstsein unserer Freiheit gibt. Johann Christoph Schwab kritisiert Kants Theorie des Verhältnisses von Moralität und Freiheit. Er argumen‐ tiert dafür, dass weder das Sittengesetz aus der absoluten Freiheit noch absolute
81
KpV, AA V, 4 Fn.
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Freiheit aus der Geltung des Sittengesetzes hergeleitet werden kann, da die Un‐ terscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen problematisch ist.
4.3 Freiheit und Zurechenbarkeit
In der Kritik der reinen Vernunft bezeichnet Kant transzendentale Freiheit im Sin‐ ne von absoluter Spontaneität als »eigentlichen Grund der Imputabilität« mensch‐ licher Handlungen. 82 Außerdem hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dafür argumentiert, dass »ein freier Wille und ein Wille unter sittli‐ chen Gesetzen einerlei« 83 seien. Wie aber können wir annehmen, dass wir frei sind und dass uns auch böse Handlungen zugerechnet werden können, wenn Freiheit in der moralischen Willensbestimmung zu bestehen scheint? Carl Chri‐ stian Erhard Schmid vertrat im Anschluss an Kant die provokative These, dass nur solche Handlungen frei und zurechenbar sind, die durch die Selbsttätigkeit der Vernunft bestimmt sind. Unmoralische Handlungen resultieren demnach aus der Einschränkung der Vernunft durch die Sinnlichkeit. Schmid bezeichnet die‐ se Auffassung als intelligiblen Fatalismus. Johann Christoph Schwab kritisierte Kants Freiheitslehre vor dem Hintergrund der Leibniz-Wolff’schen Aufklärungs‐ philosophie. Er argumentiert, dass Kant Sinnlichkeit und Vernunft zu strikt von‐ einander getrennt habe, und kritisiert in diesem Zusammenhang auch Schmids intelligiblen Fatalismus. Gegen Kants Autonomielehre und den intelligiblen Fata‐ lismus Schmids argumentiert Karl Leonhard Reinhold dafür, den Willen von der reinen praktischen Vernunft streng zu unterscheiden und als Grundvermögen zu verstehen, sich für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden.
4.4 Freiheit und Willkür
Kants Philosophie hatte die Frage offengelassen, wie wir uns die freie individu‐ elle Entscheidung der Person, insbesondere angesichts des Bösen, denken kön‐ nen. Denker wie Carl Christian Erhard Schmid hatten solche Stellen im kanti‐ schen Werk besonders betont, die eine Identität zwischen Freiheit und Sittlich‐ keit bzw. freiem Willen und praktischer Vernunft nahelegen. Karl Leonhard Rein‐ hold betont hingegen die Unabhängigkeit des Willens als individueller Entschei‐ dungsinstanz bzw. Willkür von der gesetzgebenden praktischen Vernunft. In sei‐ ner Einleitung zur Metaphysik der Sitten aus dem Jahr 1797 unterscheidet Kant vor dem Hintergrund der Debatte zwischen Reinhold und Schmid zwischen Wille 82 83
Kant, KrV, B 476. Kant, GMS, AA IV, 447.
Die Aktualität der Freiheitsdebatte
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und Willkür und spricht nur letzterer Freiheit zu. Er verwahrt sich jedoch da‐ gegen, Willkür im Sinne eines Vermögens der Wahl zwischen guten und bösen Maximen zu verstehen. Diese begriffliche Unentschiedenheit sollte Reinhold dar‐ auf zum Ausgangspunkt einer weiteren, nun auch gegen Kant selbst gerichteten Stellungnahme machen. Wenn die Willkür nicht als Vermögen, zwischen morali‐ schen und unmoralischen Maximen zu wählen, gedacht werden kann, dann folgt daraus in letzter Konsequenz die Problematik des Schmid’schen intelligiblen Fa‐ talismus. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling greift noch im gleichen Jahr in den Disput zwischen Kant und Reinhold ein. Er versucht, zwischen den beiden Posi‐ tionen zu vermitteln, indem er die Willkür als Erscheinung des absoluten Willens bzw. des Sittengesetzes versteht.
4.5 Freiheit und Skeptizismus
Angesichts der dilemmatischen Situation zwischen Schmids intelligiblem Fatalis‐ mus und Reinholds Willkür-Konzeption menschlicher Freiheit hat Leonhard Creu‐ zer einen skeptischen Weg eingeschlagen. Theoretische und praktische Vernunft lassen sich in Bezug auf den unterschiedlichen Status, den sie der Freiheit ein‐ räumen, nicht miteinander vereinbaren. Provoziert von Creuzer hat Fichte dafür argumentiert, zwischen der bestimmenden Selbsttätigkeit und dem bestimmten Willen zu unterscheiden. Während der bestimmte Wille in der Erscheinung dem Satz des zureichenden Grundes unterliegt, gilt dies für die bestimmende Selbst‐ tätigkeit nicht, womit Fichte Creuzers Skeptizismus zu entgehen sucht. Friedrich Carl Forberg antwortet ebenfalls auf Creuzers skeptische Haltung, indem er zwi‐ schen der Position des Indifferentismus und des intelligiblen Fatalismus zu ver‐ mitteln versucht. Dabei legt er ein besonderes Augenmerk auf die Rolle von Maxi‐ men, die er als Gründe des freien Handelns versteht. Salomon Maimon kritisiert Kants Lehre vom Faktum der Vernunft als Erkenntnisgrund der Freiheit. Der kate‐ gorische Imperativ ist ihm zufolge nicht normativ zu denken, sondern in letzter Hinsicht bloß deskriptiv.
5. Die Aktualität der Freiheitsdebatte
Angesichts der verschiedenen Strategien, Willensfreiheit zu bestimmen, ist die nachkantische Freiheitsdebatte nicht nur von historischem Interesse. Ihr diffe‐ renziertes Problem- und Theorieprofil erlaubt es vielmehr, sie auch auf die ge‐ genwärtige Freiheitsdebatte analytischer Prägung zu beziehen. 84 Ein solcher Be‐ 84
Vgl. dazu ausführlich: Noller 22016, 344–358.
XXVIII
Einleitung
zug kann dazu dienen, den Blick auf die Spielarten der gegenwärtigen Debatte zu schärfen, da in der nachkantischen Diskussion bereits idealtypische Richtungen und Tendenzen auf der Landkarte des Freiheitsproblems vorgeprägt wurden. Die historische Debatte lässt sich insofern als eine Art Ariadnefaden verwenden, der im »labyrinth of free will« 85 der gegenwärtigen Debatte Koordinaten der Orientie‐ rung beisteuern kann. Umgekehrt kann die gegenwärtige Debatte dazu dienen, die nachkantische Diskussion – losgelöst von ihren historischen Eigenheiten und Eigenarten – zu erhellen und in ihrer Systematik besser zu verstehen. Wo genau bestehen die systematischen Bezugspunkte der nachkantischen und der gegenwärtigen Debatte? Wie die historische Debatte im Ausgang von Kants Begriff transzendentaler Freiheit, so kreist auch die gegenwärtige Debatte um das Verständnis von Autonomie und die Forderung nach absoluter Spontaneität der Freiheitsentscheidung (»strong conception of free will« 86). 87 Mit dieser For‐ derung einher gehen verschiedene Detailprobleme, die strukturell zahlreiche Ent‐ sprechungen in der historischen Debatte aufweisen: Durch verschiedene Trans‐ formationen am Begriff absoluter Spontaneität der Ursachen soll eine Theorie von personaler Freiheit entwickelt werden, die die individuelle Operation einer Bestimmung des Willens weiter verständlich macht und dabei besonders das Mo‐ ment der Wahl und der alternativen Möglichkeiten in den Blick nimmt. In der neueren Freiheitsdebatte hat Roderick Chisholm die ontologische An‐ forderung von Willensfreiheit besonders betont und dafür – in systematischer Nähe zu Kants Begriff einer transzendentalen Freiheit – den Begriff der Akteurs‐ kausalität (agent causation) geprägt. 88 Chisholm rekurriert in diesem Kontext auf den Begriff einer absoluten Ursache, eine, wie er sie nennt, »instance of imma‐ nent causation« 89. Eine solche immanent causation entspricht systematisch dem in Kants Kritik der reinen Vernunft entwickelten Begriff einer »absolute[n] Spon‐ taneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen« 90. Eine absolute Freiheitsentscheidung kann des‐ halb nicht auf Basis von Willenstendenzen erster Ordnung erfolgen, da durch sie 85
Kane 2002, 406. Vgl. zu dieser Begriffsprägung Strawson 1989, 9 sowie Pauen 2001b, 27. 87 Vgl. zu dieser Debatte Pauen 2001b. Pauen bestimmt eine solche Auffassung von Au‐ tonomie folgendermaßen: »Die Handlung muß sämtlichen Umständen gegenüber autonom sein; sie muß also unter identischen Bedingungen auch anders ausfallen können. Insofern wäre eine Abhängigkeit von vergangenen freien Entscheidungen des Urhebers unzulässig.« (28) 88 Chisholm 1982; 11964. 89 Chisholm 1982, 28. 90 Kant, KrV, B 474. Vgl. analog Chisholm 1982, 32: »If we are responsible, and if what I have been trying to say is true, then we have a prerogative which some would attribute only to God: each of us, when we act, is a prime mover unmoved. In doing what we do, we cause certain events to happen, and nothing – or no one – causes us to cause those events to happen.« Chisholm spricht ausdrücklich davon, »that this [the Kantian approach to the 86
Die Aktualität der Freiheitsdebatte
XXIX
ein Moment der heteronomen, externen Bestimmung Einzug in die Freiheitsent‐ scheidung hält, dessen Bestimmtheit mit dem ›reinen‹, von jeglicher Kontingenz abstrahierten, immanenten ›Kern‹ des Akteurs inkompatibel ist: »If we are [. . . ] prime movers unmoved and if our actions, or those for which we are responsible, are not causally determined, then they are not causally determined by our desi‐ res.« 91 An diesem Punkt einer Freiheit als absoluter Ursächlichkeit ergibt sich bei Chisholm wie zuvor bei Kant ein Problem, das aus seinen ursprünglichen An‐ nahmen zur Sicherung individueller Zurechenbarkeit folgt. Demnach muss der freie Wille des Menschen, soll er absolut frei sein, aus völliger Unbestimmtheit zur Entscheidung kommen. 92 Die eigentlich handelnde Instanz, der reine ›We‐ senskern‹ des Akteurs, wird so aber zu einem nicht mehr greifbaren, transzen‐ dentalen Punkt, der sich, wie allgemein auch die Freiheitsentscheidung selbst, jeglicher Verständlichkeit entzieht: »No set of statements about a man’s desires, beliefs, and stimulus situation at any time implies any statement telling us what the man will try, set out, or undertake to do at that time [. . . ] This means that, in one very strict sense of the terms, there can be no science of man.« 93 Wie bei Kant, so entsteht auch bei Chisholm das Problem, dass die individuelle Person durch die Forderung nach absoluter Unbedingtheit der Freiheitsentscheidung in ihrer individuellen und bestimmten Existenz bedroht ist. Robert Kane hat auf dieses Autonomie-Problem mit einer elaborierten Version von Akteurskausalität reagiert. Zwei freiheitstheoretische Anforderungen bilden für Kane die Ausgangsbasis: Zum einen – und darin folgt er ausdrücklich Chis‐ holms Indeterminismus – darf eine freie Handlung nur auf den handelnden Ak‐ teur zurückführbar sein, sodass dieser die absolute Ursache der Handlung dar‐ stellt. Kane bezeichnet diese Anforderung als Ultimacy Condition 94. Zum ande‐ ren muss eine freie Handlung jedoch auch verständlich sein, d. h. sie muss durch Gründe erklärbar und damit auf eine bestimmte Weise determiniert sein. Kane bezeichnet diese Anforderung als Explanation Condition 95. Beide Bedingungen stehen in Chisholms Begriff von Akteurskausalität in einem Konflikt. Wenn näm‐ lich freie Handlungen unbedingt sein sollen, also unmittelbar einem Indifferenz‐ zustand entspringen, dann, so Kanes Diagnose, sind diese grundsätzlich unver‐ problem of human freedom] is the one that I would take« (33). Freilich ist bei Kant die‐ se Spontaneität weiter normativ differenzierbar, nämlich im Sinne von praktischer Freiheit bzw. vernunftgesetzlicher Willensbestimmung. 91 Chisholm 1982, 32. Vgl. zur Heteronomie der Neigungen nach Chisholm: Pauen 2001a, 284. 92 Vgl. zu dieser Neuauflage des Autonomieproblems in analytischem Gewand allge‐ mein Pauen 2001b, Pauen 2005, 37–58 sowie speziell mit Blick auf Chisholm: Kane 1989. 93 Chisholm 1982, 33. 94 Vgl. Kane 1989, 226. 95 Vgl. Kane 1989, 225 f.
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Einleitung
ständlich, was die Explanation Condition verletzt. 96 Eine Theorie von Akteurs‐ kausalität, wie sie von Kant und Chisholm vertreten wurde, muss auf ontologisch problematische »extra (or special) factors« wie etwa »noumenal selves« rekurrie‐ ren, die epistemisch nur schwer zugänglich sind. 97 Angesichts dieses Problems stellt sich die Frage, wie ein Freiheitsbegriff entwickelt werden kann, der beiden Anforderungen gleichermaßen Genüge tut. 98 Kane bezeichnet Chisholms Position, die beide Bedingungen erfüllen soll, als »kausalen Indeterminismus« (causal indeterminism), 99 der sich als eine Form re‐ flektierter Akteurskausalität verstehen lässt. 100 Im Zuge seiner Transformation des Begriffs absoluter Spontaneität setzt Kane an einer veränderten Bewertung primärer Willenstendenzen an. Kane hat einen Willen vor Augen, der durch zwei gleichstarke Motive gespalten ist. 101 Anders als bei Chisholm stellen diese kon‐ fligierenden, kontingenten Motive bzw. Willenstendenzen erster Stufe nun keine heteronomen Bestimmungsgründe mehr dar, die prinzipiell für die Freiheitsent‐ scheidung vernachlässigbar wären. Vielmehr versucht Kane durch ihre Einbezie‐ hung in den Freiheitsakt der Ultimacy Condition Genüge zu tun: Wie auch immer die Entscheidung angesichts der vollständigen Alternative beider Bestimmungs‐ gründe ausfällt, sie geht auf den – wenn auch durch unterschiedliche Motive ge‐ spaltenen – eigenen Willen der Person zurück. Beide Triebfedern inklinieren den Willen nur, nezessitieren ihn aber nicht, wodurch Kane einen differenzierten Be‐ griff von negativer Freiheit entwickeln kann. 102 Zu zeigen ist nun allerdings, wie genau die Willensentscheidung im Sinne po‐ sitiver Freiheit gedacht werden kann. Der gespannte Zustand des Indeterminis‐ mus erscheint nach Kane aufgrund des fehlenden Übergewichts zur einen oder anderen Seite und dem sich daraus ergebenden Äquilibrismus zunächst als ei‐ ne Art Hindernis (obstacle) der unmittelbaren Entscheidung, das jedoch kein äu‐ ßeres, sondern ein inneres im Sinne einer willentlichen Selbsthemmung ist. 103 Ein solcher in sich differenzierter Gleichgewichtszustand stellt sich nach Kane je‐ doch gerade als Ermöglichungsgrund positiver Freiheit heraus, insofern er durch die negative Freiheit des Gleichgewichts inklinierender Willenstendenzen erster Stufe die Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe ermöglicht, die sich reflexiv 96
Vgl. Kane 1989, 227. Kane 2002, 415. 98 Eine ähnliche Frage hat in der historischen Debatte Leonhard Creuzer 1793, 131, formuliert: »Ist [. . . ] eine Freyheit vernünftig denkbar, die ein und dasselbe Wesen gleich‐ vermögend macht für kontradiktorisch entgegengesetzte Handlungen?« (Hervorhebung der Hg.) 99 Kane 2003, 239. 100 Vgl. Pauen 2005, 52. 101 Vgl. Kane 2003, 229 f. u. 230. 102 Vgl. Kane 2003, 222. 103 Kane 2003, 235. 97
Die Aktualität der Freiheitsdebatte
XXXI
auf diese beziehen: »[B]y being a hindrance to the realization of some of our pur‐ poses, indeterminism paradoxically opens up the genuine possibility of pursuing other purposes – of choosing or doing otherwise in accordance with, rather than against, our wills (voluntarily) and reasons (rationally).« 104 Diese Komplexität des durch konfligierende Wünsche in einen äquilibristischen Zustand versetzten Willens ist nach Kane geradezu notwendig für die Eröffnung alternativer Mög‐ lichkeiten und die Selbstformierung der Persönlichkeit durch »self-forming acti‐ ons« 105. Eine Auflösung des Gleichgewichts von Volitionen erster Stufe kann nur durch einen willentlichen Überwindungsaufwand dieses Hindernisses erfolgen, der sich der Ausbildung von Volitionen zweiter Stufe verdankt. Egal für welchen möglichen Bestimmungsgrund sich die Person schließlich durch den subjektiven Aufwand (effort) ihrer Kräfte auf Basis von Volitionen zweiter Stufe aus Indifferenz heraus entscheidet – die Entscheidung wird, so Ka‐ nes Argumentation, nicht völlig grundlos ausfallen, da immer einer der beiden primären und bekannten Willenstendenzen nachgegeben wird, mit denen sich die Person zuvor – wenn auch nur partiell – identifiziert hatte. Der Entschei‐ dungsaufwand kann damit als zugleich determiniert und indeterminiert angese‐ hen werden: Aus der Perspektive von Willenstendenzen erster Stufe erscheint die Freiheitsentscheidung als determiniert, während aus der Perspektive von Volitio‐ nen zweiter Stufe der Willensakt unbestimmt erfolgt. 106 Auf Basis von Willen‐ stendenzen erster Stufe ist damit die Explanation Condition erfüllt: Die Hand‐ lung erfolgt anlässlich bzw. auf Basis von bestimmten inklinierenden Motiven und Einstellungen einer bestimmten Person, die sich auf der Ebene von Willen‐ stendenzen erster Stufe psychologisch oder physikalisch beschreiben lassen. 107 Auf Basis von Volitionen zweiter Stufe ist hingegen die Ultimacy Condition er‐ füllt: Die Entscheidung erfolgt aus absoluter Spontaneität. Der personale Wille ist zwar gespalten, doch handelt es sich immer noch um ein und dieselbe Person, die sich gleichermaßen mit beiden Wünschen identifiziert. 108 Kane versteht seinen Begriff eines reflektierten Indeterminismus als kompa‐ tibel mit einer Form von »nondeterministic or probabilistic causation«, wie et‐ wa Quantenzustände im menschlichen Gehirn, 109 die nur eine Form von »de‐ terministic causation« ausschließen, jedoch nicht jegliche kausale Verursachung schlechthin. 110 Wie lässt sich eine solche »nondeterministic or probabilistic cau‐ 104
Kane 2003, 235 f. Kane 2003, 225. 106 Vgl. Kane 2003, 232. 107 Kane 2003, 237, zählt zu solchen Willensanstrengungen u. a. »deliberations, beliefs, desires, intentions«. 108 Vgl. Kane 2003, 225. 109 Kane 2003, 238. 110 Kane 2003, 232. 105
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Einleitung
sation« aber gemäß der Explanation Condition verstehen? Kane begreift eine der‐ artige Entscheidung in Form einer »nondeterministic or probabilistic causation« als Initiierung einer besonderen Art von offenem willentlichem Experiment (va‐ lue experiment) 111. Ein solches Experiment gehorcht der Logik einer »probabili‐ stic causation«, was bedeutet, dass eine Freiheitsentscheidung nicht durch die Vergangenheit eindeutig festgelegt sein muss, sondern sich nur an diese, im Sin‐ ne einer wahrscheinlichen Verzweigung, auf konsistente und kohärente Weise an‐ knüpfen lässt. 112 Diese Anknüpfung ist nicht als eindeutige Verursachungsrelati‐ on zu verstehen, sondern als eine Art von narrativer Kontinuität oder voluntati‐ vem ›Fortspinnen‹, derart, dass eine solche Anknüpfung angesichts der vergan‐ genen Zustände im Urteil des Akteurs als sinnvoll, verständlich und zweckmäßig erscheint. 113 Bezieht man Kanes Theorie auf die historische Freiheitsdebatte, so finden sich zahlreiche Übereinstimmungen mit Reinholds Lösungsvorschlag. Denn auch Reinholds Absicht bestand darin, eine reflektierte Version eines Indifferentismus zu entwerfen, der auf Basis von zwei konfligierenden Willenstendenzen erster Ordnung – dem eigennützigen und dem uneigennützigen Trieb – gedacht wird, die im Sinne einer negativen Freiheit den menschlichen Willen zwar zu gleichen Teilen inklinieren, aber nicht nezessitieren. Nach Reinhold besteht der indiffe‐ rentistische Kern der Freiheitsentscheidung im Sinne positiver Freiheit in einem nicht weiter rational erklärbaren »Grundvermögen« der Person. Beide Male wird der Zustand der Determination des Willens mit seiner Nezessitierung identifi‐ ziert, so dass sich eine Vereinbarkeit beider Freiheitsanforderungen nur dadurch ergibt, dass der Determinismus zum Probabilismus herabgestuft wird. Während Reinhold beiden Freiheitsanforderungen durch die Unterscheidung von subjek‐ tiven und objektiven Gründen zu entgehen versucht, entspricht dieser Strategie Kanes Unterscheidung von probabilistic bzw. indeterministic causation auf der einen und deterministic causation auf der anderen Seite. Einen anderen Weg zur Beantwortung der Frage, wie Willensfreiheit zu denken sei, hat in der neueren Freiheitsdebatte Harry Frankfurt eingeschlagen. Frankfurts Lösungsvorschlag entspricht insofern demjenigen im Ausgang von Kant, als er den Fokus auf die innere Struktur des individuellen Willens legt: »[T]he essence of being a person lies not in reason but in will«. 114 Frankfurt richtet sich also gegen eine Identifizierung der Person mit einem noumenalen Selbst: 111
Kane 1998, 145. Als Beispiel führt Kane die narrative Kontinuität einer noch nicht gänzlich etablier‐ ten Romanfigur an, über deren Zukunft der Autor auf Basis ihrer bisherigen (unvollständi‐ gen) Geschichte entscheiden muss. Vgl. Kane 2003, 236. 113 Kane 1998, 146, gebraucht dafür die Kategorie einer »teleological or narrative intel‐ ligibility«. 114 Frankfurt 1971, 11. 112
Editorische Bemerkungen
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Kant argues that someone whose conduct is motivated merely by his own perso‐ nal interests is inevitably heteronomous. What interests a person is a contingent matter, of course, which is determined by circumstances that are outside his con‐ trol. Kant understands this to entail that personal interests are not integral to the essential nature of a person’s will. In his view, they are volitionally adventitious: they do not depend wholly upon the person’s inherent volitional character, but at least partly upon causes that are logically external to it. 115
Im Gegensatz zu Kant und Chisholm, die das Problem der inneren Externalität dadurch zu lösen versuchen, dass sie ein rein intelligibles von einem bloß empi‐ rischen, heteronom bestimmten Selbst unterscheiden, besteht nach Frankfurt der entscheidende Punkt darin, Freiheit nicht als Abspaltung, sondern als Identifika‐ tions- und Aneignungsprozess zu fassen. Durch die Anerkennung dieser internen Externalität ist es möglich, individuelle Freiheit als individuellen Reflexions- und Aneignungsprozess einer naturalen Basis zu verstehen. Gegenüber Kants Kon‐ zeption eines »reinen Selbst« hebt Frankfurt die Individualität des Willens her‐ vor: »The pure will has no individuality whatsoever. It is identical in everyone, and its volitions are everywhere exactly the same. In other words, the pure will is thoroughly impersonal. The commands that it issues are issued by no one in par‐ ticular.« 116 Die fehlende ›Bindung‹ eines solchen kontingenten und individuellen Willens jenseits allgemeiner praktischer Vernunft denkt Frankfurt durch seinen Begriff der willentlichen Identifikation und »voluntativen Notwendigkeit« (voli‐ tional necessity) 117. *** Editorische Bemerkungen
Den in dieser Edition abgedruckten 23 Beiträgen zur Debatte um die kantische Freiheitskonzeption wurden die Fassungen der jeweiligen Erstpublikationen zu‐ grunde gelegt (zu den Textnachweisen vgl. Bibliographie: Originaltexte). Die Tex‐ te werden unverändert in der Schreibweise der Originalfassungen wiedergegeben, d. h. wir verzichten sowohl auf eine Modernisierung der damaligen Schreibung (»Freyheit«, »Nothwendigkeit«) wie auch auf eine Vereinheitlichung der damals kaum reglementierten und bei den einzelnen Autoren unterschiedlich gehandhab‐ ten Rechtschreibung (»Begriff« / »Begrif«, »Ueberzeugung« / »Uiberzeugung«). In den Text eingegriffen haben wir bei offensichtlichen Versehen und Druckfehlern, diese wurden stillschweigend korrigiert. In einigen Zweifelsfällen weisen wir auf 115 116 117
Frankfurt 1994, 436. Vgl. ebd. Frankfurt 1982, 264.
XXXIV
Einleitung
eine Korrektur in den Anmerkungen hin. Der besseren Lesbarkeit halber wurden gelegentlich störende Kommas stillschweigend entfernt, bei Einschüben, vollstän‐ digen Nebensätzen und Aufzählungen wurden ebenfalls stillschweigend Kommas eingefügt. Fehlende Satzzeichen wie Anführungs- und Schlusszeichen oder Klam‐ mern wurden ergänzt. Die Seitenumbrüche der Originaldrucke sind im Text durch senkrechte Trenn‐ striche ( ) markiert, die Originalseitenzählung wird als Marginalie mitgeführt. Auslassungen von Textpassagen der Originale sind durch »[. . . ]« gekennzeichnet. Heute nicht mehr gebräuchliche Abkürzungen werden in eckigen Klammern aus‐ geschrieben (»Rec[ensent].«). Die in den verschiedenen Texten verwendeten Ty‐ pen der Hervorhebung werden einheitlich durch Kursivierung für einfache Her‐ vorhebung und Kursivierung mit Fettdruck für starke Hervorhebung wiederge‐ geben. Ebenfalls wird fremdsprachiger Text, der in den Originalen in der Regel durch serifenlose Schrift markiert wird, kursiv gesetzt. Beim Kommentar haben wir uns auf den Nachweis von Zitaten, expliziten und impliziten Bezügen zu anderen Texten und Autoren, Angaben zu erwähnten Wer‐ ken und Personen, gelegentlichen Wort- und Sacherklärungen sowie Übersetzun‐ gen fremdsprachlicher Ausdrücke und Zitate beschränkt. Bei Bezügen zu Texten, die sich auch in unserer Edition finden, wird jeweils die Nummer des entspre‐ chenden Textes mit den Seitenangaben des Originals genannt. Weiterführende Li‐ teraturangaben zu den einzelnen Autoren und Texten stehen jeweils am Ende der Einleitungen zu den Texten.
Danksagung
Diese Edition hat von vielen Seiten profitiert. Wir möchten uns bei Karl Ame‐ riks, Martin Bondeli, Thomas Buchheim und Günter Zöller ganz herzlich für ihre Anregungen und Vorschläge bedanken. Ebenso bedanken möchten wir uns bei Jakob Grüner, Tabatha Portejoie und Philip Zogelmann für ihre technische Un‐ terstützung bei der Transkription von Frakturschriften der nach- und mitkanti‐ schen Freiheitsdebatte, die hier in zentralen Dokumenten vorgelegt wird. Schließ‐ lich möchten wir uns bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige Förderung des wissenschaftlichen Netzwerks »Freiheit – Moral – Po‐ litik: Praktische Philosophie im Ausgang von Kant (1785–1800)« bedanken (NO 1240/6-1).
TEXTE ♦ I. FREIHEIT UND DETERMINISMUS
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HERMANN ANDREAS PISTORIUS
(1786)
Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft von Joh. Schultze [Rezension, Auszug]
Hermann Andreas Pistorius (1730–1798) war nach dem Studium in Göttingen und Greifswald Pastor in Schaprode auf Rügen. Man kann ihn kaum einer bestimmten philosophischen Richtung zurechnen, im Allgemeinen tendierte er zu einer skeptischen Grundhaltung – nicht zuletzt in Bezug auf die kantische Philosophie – und sprach sich gelegentlich für Leibniz’sche Konzeptionen aus. Größere systematische Werke hat Pistorius nicht verfasst, jedoch sticht er heraus als Rezensent für Friedrich Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek, für die er über tausend Rezensionen verfasste, auch zu vielen Werken Kants. Pistorius kommt das Verdienst zu, als einer der Ersten die Bedeutung von Kants Philosophie erkannt zu haben – die Kritik der Vernunft gilt ihm als das wichtigste Werk zur Metaphysik seit Aristoteles’ Zeiten – sowie Einwände gegen dieselbe formuliert zu haben, die bis heute in der Diskussion um die kantische Philosophie relevant sind. Der folgende Text ist ein Auszug aus Pistorius’ Rezension von Johann Schulzes Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft (1784), die 1786 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erschien. Schulzes Kommentar selbst wird von Pistorius nicht näher besprochen, er nimmt vielmehr die Gelegenheit wahr, direkt Bedenken gegen die Theorie Kants vorzubringen. Ins Zentrum stellt er die Unterscheidung von »Schein und Wahrheit«, d. h. die kritische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, Sinnenwelt und intelligibler Welt. Dabei hebt Pistorius besonders hervor, dass alle vermeintliche empirische Erkenntnis nur Schein oder Täuschung sein kann, wenn man wie Kant annimmt, dass Raum und Zeit bloß subjektive Formen der Anschauung ohne objektiven Grund in den Dingen an sich sind. Unter diesen Voraussetzungen wird für Pistorius auch Kants Freiheitskonzeption fragwürdig, da die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich der kantischen Auflösung der dritten Antinomie zugrunde liegt (vgl. KrV A 532–558/B 560–586): Als empirische Subjekte sind wir Erscheinungen in der Zeit und unterliegen der kausalen Naturnotwendigkeit; als Dinge an sich sind wir unabhängig von zeitlichen Bestimmungen und daher im transzendentalen Sinn frei. Pistorius’ Kritik richtet sich erstens gegen den kantischen Begriff von Freiheit: Einerseits kann Freiheit, da sie dem Bereich des Intelligiblen angehört, nach kantischen Voraussetzungen nicht erkannt werden, folglich hat auch der Begriff der Freiheit keine objektive Gültigkeit. Andererseits ist der Begriff inkonsistent, da er eine zeitliche Bestimmung enthält. Zweitens weist Pistorius auf die Schwierigkeit hin, die aus der Anwendung der
4
Teil I · Freiheit und Determinismus
Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich auf das Subjekt entsteht: Wenn das empirische, erscheinende Subjekt der Naturnotwendigkeit untersteht und insofern nicht frei sein kann, dann muss Freiheit dem Subjekt als intelligiblem Ding an sich zugeschrieben werden. Das Subjekt als Ding an sich kann jedoch Kants Theorie zufolge nicht erkannt werden. Wie können wir uns unter dieser Voraussetzung überhaupt als freie Wesen erkennen und uns Freiheit zuschreiben, oder, wie Pistorius sagt, geht dann nicht unser Selbst verloren? Weiterführende Literatur: Einleitung in Sassen 2000, Einleitung in Gesang 2007, Klemme / Kuehn 2016, 588–591, Ludwig 2010, Basaglia 2014. Die Rezension von Pistorius ist vollständig abgedruckt in Landau 1991, 326–352, und Gesang 2007, 3–25.
♦ 108
[. . . ] Auch scheint, nach dieser Theorie, des Verfassers bekannte Vorliebe zu den moralischen Ideen, der Vorzug der Zuverlässigkeit und Wahrheit, den er diesen vor allen speculativen, und blos auf Erkenntniß abzielenden Aeußerungen der Denk‐ kraft einräumt, partheyisch und ungegründet zu seyn. Das größere und wichtige‐ re Interesse, das diese moralischen Ideen vielleicht haben (wiewohl, woran kann uns mehr gelegen seyn, als an der Ueberzeugung von unserm wirklichen indivi‐ duellen Daseyn, oder unserer Substanzialität, und was haben wir noch zu ver‐ lieren, wenn wir unser Ich verloren haben, und unser Selbst als einen im Ocean versunkenen und verschlungenen Tropfen betrachten müssen? 1), kann ihnen die‐ sen Vorzug nicht verschaffen. Sie sind demungeachtet nichts als Wirkungen oder Modificationen der Denkkraft, und wenn die speculativen Wirkungen insgesammt von den sinnlichen Anschauungen an bis zu den Vernunftideen scheinbar und täu‐ schend sind, und nur den logischen Nutzen haben, unsern Vorstellungen Ordnung und Zusammenhang zu geben, was haben denn die moralischen Begriffe zum vor‐ aus? Wenn Vorstellungen überhaupt täuschend und Schein seyn können, wo ist dann das sichere Merkmal, woran wir erkennen können, daß einige derselben es nicht sind, und nicht seyn können? – Noch einmal, das größere Interesse kann dies Merkmal nicht seyn, denn, wenn wir einmal zugestehen, daß wir Verstandesbe‐ griffe und Vernunftideen, so leer von allem Inhalt, so täuschend sie auch immer seyn mögen, doch haben mußten, damit wir ordentlich und systematisch denken konnten, und daß sie also blos um eines logischen Behufs willen nothwendig wa‐ ren, was hinderts, anzunehmen, daß wir auch die moralischen Begriffe bey aller ihrer Scheinbarkeit und Leere dennoch haben mußten, damit wir ordentlich und systematisch, oder sittlich handeln konnten, und daß sie um eines praktischen Be‐ 1
Vgl. Leibniz: Theodizee. Vorwort (Leibniz 1996a. Bd. 2.1, 8 f.) und »Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft«, § 61 (ebd. 160 ff.).
Hermann Andreas Pistorius (1786)
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hufs willen nothwendig waren? – Doch nichts scheint mir in des Verfassers Theo‐ rie von Schein und Wahrem mehr Verwirrung und Inconsequenz zu bringen, als seine ganz darauf gebauete Auflösung der sogenannten dritten Antinomie, 2 oder die Hebung des Widerspruchs unter den beyden Sätzen: Der Mensch ist in seinen Handlungen an Naturnothwendigkeit gebunden, und: der Mensch handelt mit Frey‐ heit, die, wie der Verfasser behauptet, beyde gleich erweislich seyn sollen. 3 Der Verfasser sucht zu zeigen, daß beyde Sätze in verschiedener Rücksicht zugleich wahr sind, oder wenigstens wahr seyn können. Diese verschiedenen Rücksichten sind von einer Seite der Mensch, als Phänomen mit seinen Handlungen, als Er‐ scheinungen, und von der andern Seite ebenderselbe Mensch als Glied der intel‐ ligibeln Welt, und eben diese seine Handlungen als Dinge an sich selbst betrach‐ tet. In der ersten Rücksicht sind seine Handlungen (dem Schein nach) der Natur‐ nothwendigkeit unterworfen, und geschehen, wie alle andere Erfahrungswirkun‐ gen, nach dem Satz des zureichenden Grundes; hingegen in der zweyten Rücksicht sind sie als Dinge an sich selbst, frey, d. i. sie setzen keine andere Handlungen als nothwendige Bedingungen voraus, auf welche sie nach einem Gesetze folgen müs‐ sen. * Schon in der Anzeige der Prolegomenen 4 gestand ich mein Unvermögen, hier dem Verfasser zu folgen, und noch itzt, ob ich gleich einsehe, daß das eben gesag‐ te wohl seine Meynung ausdrücke, ist mir diese Auflösung beynahe das Dunkelste in seinem ganzen Systeme. Was mir also darin so inconsequent und widersinnig scheint, mag immer noch auf einigem Mißverstand beruhen, aber ich wünschte doch immer, daß mir diese Dunkelheit aufgehellt, und die anscheinenden Wider‐ sprüche wegerklärt werden möchten. Zuvörderst betreffen meine Zweifel den Be‐ griff von der Freyheit selbst, dessen Ursprung, Inhalt und objective Gültigkeit. Die Freyheit soll das Vermögen eines Wesens seyn, einen Zustand anzufangen, so, daß seine Handlung nicht nach dem Naturgesetze wieder unter einer andern Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmete. 5 Ich frage: woher haben wir diesen Begriff? Aus der Erfahrung, dieser einzigen Quelle, aus der nichtleere Begriffe flie‐ *
Es ist sonderbar, daß andere Philosophen gerade das Gegentheil behaupten, näm‐ lich, daß der Glaube an Naturnothwendigkeit sich nicht sowohl auf das Gefühl, als auf das Raisonnement gründe, hingegen die Meynung, daß wir Freyheit besitzen, mehr ein wenig aufgeklärtes Gefühl, das sie nicht ganz leugnen können, für sich habe; und sie bemühen sich daher, den Ursprung desselben und die Ursache, warum es uns täuschet, zu entdecken. 2
Vgl. »Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Welt‐ begebenheiten aus ihren Ursachen«, KrV A 532–558/B 560–586. 3 Vgl. besonders KrV A 536 f./B 564 f. 4 Vgl. »[Rezension:] Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen‐ schaft wird auftreten können. Von Immanuel Kant. Riga bey Hartknoch. 1783. 8. 222 Sei‐ ten.« In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Des neun und funfzigsten Bandes zweytes Stück. 1784, 322–356, hier 346 f. 5 Vgl. KrV A 533/B 561.
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Teil I · Freiheit und Determinismus
ßen sollen, haben wir ihn nicht geschöpft, er ist also ein reiner Vernunftbegriff, oder der Vernunft wesentlich und gleichsam angeboren; aber darin hat er vor den sogenannten Ideen der reinen Vernunft, der psychologischen, cosmologischen und theologischen, nichts voraus; wodurch erlangt er also den Vorzug, nicht blos sub‐ jectiv und täuschend zu seyn, wie diese es sind? woher erhält er allein diese ob‐ jective Gültigkeit, daß er sich auf die Verstandeswelt anwenden, daß das, was er bezeichnet, nämlich die transcendente Freyheit, sich als eine Eigenschaft der Din‐ ge an sich selbst, oder der Glieder dieser uns ganz unbekannten Welt prädiciren läßt? Kann es mit einander bestehen, eines Theils zu behaupten, daß wir schlech‐ terdings von dieser Verstandeswelt (die für uns = x ist) nichts erkennen können, und andern Theils nicht nur anzunehmen, daß sie aus Theilen und Gliedern be‐ stehe, und die Vernunft als ein solches Glied derselben anzugeben, sondern die‐ ser Vernunft auch eine Eigenschaft nach einem Begriff, der vielleicht ein blosses Hirngespinnst, vielleicht eine in der Sinnenwelt und zum Behuf derselben nöthige Täuschung ist, beyzulegen? Gesetzt, man thut dies auch nur hypothetisch, so ist auch dies schon Uebertretung der ersten critischen Regel, nicht über das Feld der Erfahrung im Gebrauch des Verstandes und der Vernunft auszuschweifen, zumal, da wider diese Regel auch darin verstossen wird, daß man gleichfalls einen Ver‐ standesbegriff, nämlich den von Ursache und Wirkung in die intelligible Welt über‐ tragen, und auf Dinge an sich selbst anwenden muß, wenn man vorgiebt, daß die Vernunft, ein Ding an sich selbst, die in sich freyen, aber scheinbar nothwendigen Handlungen verursache und bestimme. Aber der Inhalt dieses Begriffes, stimmt er mit sich selbst überein? Er soll als in die Verstandeswelt gehörig alle Zeit und Zeit‐ bestimmungen ausschließen, und doch soll die Freyheit ein Vermögen seyn, einen Zustand anzufangen. Wie läßt sich ohne Einmischung des Begriffes der Zeit ein Anfang, und also auch das dem Anfange entgegenstehende Ende, wie entstehen, oder aufhören und vergehen gedenken? Einen Zustand anfangen, setzt voraus, daß dieser Zustand noch nicht war, folglich eine Zeit, wo er noch blos möglich war, und eine andere Zeit, wo er wirklich wird. Folglich scheint dieser Begriff zugleich Zeitbestimmungen vorauszusetzen, die er doch ausschließen sollte. Wie läßt sich dies vereinigen? *6 Ich frage weiter, wenn das ganze Seelenwesen des Menschen, *
Mit eben dem Raisonnement, womit der Verfasser bey der ersten Antinomie den Satz darthun will, daß die Welt keinen Anfang in der Zeit haben könne, läßt sich auch darthun, daß überall kein Zustand anders, als in der Zeit anfangen könne, weil nämlich ein Anfang immer den Zeitbegriff voraussetzt. H[er|r. K[ant]. schließt so: »Man setze, die Welt habe einen Anfang, so muß eine Zeit vorhergegangen seyn, darin sie nicht war, nämlich eine leere Zeit. Nun aber ist in der leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges« (folglich auch nicht eines Zustandes) »möglich, weil kein Theil einer leeren Zeit vor einem andern irgend eine Bedingung des Daseyns vor der des Nichtdaseyns an sich hat, man mag annehmen, daß es von sich selbst oder durch eine andere Ursache entstehe, also kann die Welt keinen 6
Zur Fußnote vgl. KrV A 427/B 455.
Hermann Andreas Pistorius (1786)
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seine ganze Vorstellungskraft mit allen ihren Wirkungen für Erscheinung muß ge‐ halten werden (wie nach meiner Voraussetzung zufolge der Grundsätze des Ver‐ fassers und seines Begriffes von Raum und Zeit geschehen muß), wie man alsdann einen Theil dieses Seelenwesens – und etwas anders ist doch die Vernunft nicht – für ein Noumenon, oder für ein Ding an sich selbst erklären könne! Woher wir bey der vorausgesetzten völligen Unbekanntschaft mit der intelligibeln Welt und den Dingen an sich selbst es wissen können, daß etwas zu des Menschen subjectiven und scheinbaren Denkkraft gehöriges, nämlich seine Vernunft, und folglich auch Er selbst, insofern er mit Vernunft versehen ist, ein Theil der Verstandeswelt, ein Ding an sich selbst sey? Um dies nur vorauszusetzen, müßten wir ja diese Welt schon insofern kennen, daß wir wüßten, sie enthalte mannichfaltige Dinge oder wirkliche Theile, und woher wollen wir dies bey der undurchdringlichen Kluft, die der Verfasser zwischen beyden Welten setzt, hier in der Sinnenwelt erfahren? Aber gesetzt, wir wüßten es, daß der Mensch, insofern er Vernunft besitzt, ein Ding an sich selbst sey, so wüßten wir ja auch zugleich mit ebenderselben Gewiß‐ heit, daß das vernünftige Wesen nicht blos dem Scheine nach, sondern wirklich in sich ein denkendes für sich bestehendes Subject, oder eine denkende Substanz sey, denkend, weil Vernunft schlechterdings das Denken in sich schließt, und sich eine undenkende Vernunft nicht denken läßt – eine Substanz, weil dieses Ding an sich selbst unmöglich anders, als unter der Voraussetzung, daß es ein für sich bestehen‐ des Subject sey, als eine wahre Ursache von wahren Wirkungen oder Dingen an sich selbst (den freyen Handlungen) kann gedacht werden. Und so kämen wir dann ganz unvermerkt auf die gewöhnlichen Begriffe nicht nur von Ursache und Wir‐ kung, sondern auch von Substanz und Accidenz wieder zurück, die der Verfasser als blos logisch, und nur auf Erscheinungen anwendbar, durchgehends, insonder‐ heit in seinem Paralogismus der Vernunft vorzustellen sucht, 7 hier aber, wie es mir scheint, als objectiv, oder für die Verstandeswelt gültig annehmen muß. – Wenn die Handlungen des Menschen in sich frey sind, und nur nothwendig scheinen, so frage ich, wem erscheint der Mensch und seine Handlungen als blosses Phäno‐ men und Erscheinungen? Unstreitig muß irgend ein Subject zu diesem Behuf ange‐ nommen werden, denn es würde äußerst widersinnig seyn, von Erscheinungen als Dingen zu reden, die gewissermassen für sich selbst und ohne Beziehung auf ein vorstellendes Subject bestehen, und anderswo als in einer Vorstellung, und zwar Anfang haben,« nämlich anders, als in der Zeit, und weil sie ihn in der Zeit nicht haben kann, so kann sie folglich gar keinen Anfang haben. Mit eben dem Rechte kann man nun auch schließen, soll ein Zustand einen Anfang haben, so muß er ihn in der Zeit haben, und soll er ihn in der Zeit nicht haben, so kann er gar keinen Anfang haben. Folglich hebt sich nach dieser Schlußart der Begriff der Freyheit, insofern er den Zeitbegriff ausschliessen soll, von selbst auf. 7
Vgl. KrV A 348–351.
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Teil I · Freiheit und Determinismus
einer irrenden, eingeschränkten, und unrichtig wahrnehmenden Vorstellung exi‐ stiren könnten – Also der Mensch mit seinen Handlungen ist dem Menschen selbst eine Erscheinung. – Ich frage weiter: dem Menschen insofern er Erscheinung, oder insofern er ein Ding an sich selbst ist? Das erstere anzunehmen oder zu sagen, Eine Erscheinung erscheint der andern Erscheinung, dies dünkt mich wieder so äußerst widersinnig, daß man wohl das letztere, und also als eine Folge davon auch dies annehmen muß: daß dem Menschen, als einem Dinge an sich selbst, seine wirk‐ lich freyen Handlungen (die gleichfalls Dinge an sich selbst sind) als nothwendig erscheinen, d. i. anders vorkommen, als sie an sich selbst sind. Folglich sind es Dinge an sich selbst, Dinge zur objectiven Verstandeswelt gehörig, die er schauet, aber freylich durch den Nebel der Sinnlichkeit verdunkelt, und verstellt. Und so kämen wir dann im Grunde auf den Leibnitzischen Idealismus, den der Verfasser so sehr verwirft, zurück, und der einzige Unterschied zwischen diesem und des Verfassers critischen Idealismus würde nur noch darin bestehen, daß Leibnitz den seinigen blos auf die Objecte des äußern Sinnes im Raum ziehet, der Verfasser den critischen aber auch auf die Objecte des innern Sinnes in der Zeit ausdehnet, darin aber müßten nach dieser Voraussetzung beyde Weltweisen übereinstimmen, daß aller Schein und alle Täuschung nur von den Sinnen, oder von dem eingeschränk‐ ten Vorstellungsvermögen herrühret, insonderheit insofern es sich als Sinnlichkeit äußert. Auch darin würde sich nach dieser Auflösung der Verfasser von seinem eigenen System entfernen, und sich dem Leibnitzischen nähern, daß beyde sonst so gänzlich getrennte Welten in so genaue Verbindung gesetzt würden, daß die Verstandeswelt nicht nur das eigentliche Object, und das Materiale der Sinnenwelt ausmacht, sondern daß die eine in die andere eingreift und wirkt; denn die Ver‐ nunft, ein Ding an sich selbst, ein Theil der objectiven Verstandeswelt, verursachet und bestimmt scheinbare Handlungen in der Sinnenwelt, zwar freylich zunächst nur freye Handlungen in der Verstandeswelt, aber diese werden wieder scheinbar, und Theile der Sinnenwelt, insofern sie von den Menschen nicht für das, was sie in sich sind, nämlich für frey, sondern für nothwendig gehalten werden. Es mag mit diesen Zweifeln und Schwierigkeiten gegen des Verfassers Theorie von Schein und die Anwendung derselben auf seinen Freyheitsbegriff genug seyn. Ich wiederhole es noch einmal, daß sie entweder ganz, oder zum Theile aus Mißverstande her‐ rühren mögen; indessen wäre es doch, da sie auch andern Untersuchern des Kan‐ tischen Systems vorkommen können, wohl nöthig, daß sie weggeschafft würden, wenn dies System als lichtvoll und mit sich selbst bestehend anerkannt werden soll.
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JOHANN AUGUST HEINRICH ULRICH
(1788)
Eleutheriologie, oder über Freyheit und Nothwendigkeit [Auszug]
Johann August Heinrich Ulrich (1746–1813) war seit 1769 Professor für Philosophie, ab 1783 für Moralphilosophie und Politik an der Universität Jena. Er vertrat dort den Leibniz-Wolffischen Rationalismus und zählt – aus kantischer Sicht – zu den dogmatischen Metaphysikern alter Schule. Als einer der ersten nahm er Kants kritische Werke mit Interesse auf und ließ sich darauf in seinem 1785 erschienenen Lehrbuch Institutiones logicae et metaphysicae mit der Absicht ein, zwischen der Leibniz’schen und der Kant’schen Lehre zu vermitteln. In der Folge wurde er jedoch zum erbitterten Kant-Gegner, wohl auch motiviert durch die Konkurrenz von Karl Leonhard Reinhold, der in Jena zur gleichen Zeit mit großem Erfolg das kantische Projekt stark machte. Ulrichs 1787 erschienene (auf 1788 vordatierte) Eleutheriologie, oder über Freyheit und Nothwendigkeit, aus der der hier abgedruckte Textauszug stammt, wurde denn auch zu einer Abrechnung mit der kantischen Freiheitslehre aus der Perspektive eines rationalistischen, sich an Leibniz orientierenden konsequenten Determinismus. In der Eleutheriologie (Lehre von der Willensfreiheit, von gr. eleutheria: Freiheit) verteidigt Ulrich zentral die These, dass kein »Mittelweg« zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Determinismus und Indeterminismus möglich sei. Damit bestreitet er unmittelbar Kants Argumentation, mit der dieser in der Kritik der reinen Vernunft die dritte Antinomie dahingehend auflöst, dass ein durchgängiger kausaler Determinismus in der empirischen Welt mit der Möglichkeit intelligibler Kausalität durch Freiheit vereinbart werden kann. Für Ulrich besteht nur die Alternative zwischen einem konsequenten Determinismus, dem zufolge alle empirischen wie auch alle moralischen Phänomene durch hinreichende Gründe determiniert sind, und einem Indeterminismus, dem zufolge diese Phänomene grundlos und zufällig sind. Die Entscheidung fällt dann klar zugunsten des Determinismus aus (vgl. Ulrich 1788, 102–106). Reaktionen auf Ulrichs Angriff bleiben nicht aus: Von Kant selbst existieren Notizen, die vermutlich Vorarbeiten zu einer geplanten Rezension sind. In diesen bezeichnet er – offenbar nicht ohne Ironie – Ulrichs Eleutheriologie als durchaus »nützlich«, jedoch in erster Linie deshalb, weil sie exemplarisch das Scheitern des dogmatisch-deterministischen Ansatzes demonstriert (vgl. AA XXIII, 79–81). Die besagte Rezension der Eleutheriologie verfasste dann aber nicht Kant selbst, sondern sein Schüler Christian Jakob Kraus. Dieser verteidigte in seiner Besprechung (Text 3) die kritizistische Freiheitsleh-
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Teil I · Freiheit und Determinismus
re gegen Ulrich und erhob gegen dessen Determinismus den Vorwurf, dass ihm zufolge Moral unmöglich wäre. Weiterführende Literatur: Beiser 1987, 203–210, Cafagna 2018, Klemme / Kuehn 2016, 805 f. und Falduto 2018.
♦ I. Es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall, zwischen Determinismus und Indeterminismus
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§. 5. Nothwendigkeit.
Von allen dem, was anderweits über diesen Begriff in der Logik, Metaphysik und Moral weitläuftiger gesagt wird, hat man sich hier nur an folgendes zu erinnern. Die Nothwendigkeit ist entweder physische (Natur-Nothwendigkeit) oder sittli‐ che. Durch jenen Ausdruck wollen wir den Gedanken andeuten, daß, bey Sezung gewisser Umstände, etwas anders unausbleiblich gesezt wird, und das Gegentheil unter vollkommen denselben Umständen nicht möglich ist; wobey man noch die äusere, und innere mit ihren Gattungen, der sehenden und blinden, oder bruti‐ schen Nothwendigkeit zu unterscheiden hat. Der Gedanke von sittlicher Nothwendigkeit, ist der Gedanke, oder die Erkennt‐ niß unserer Vernunft, daß etwas geschehen solle, *8 ob es gleich deswegen noch 17
*
Der Begriff des Sollens ist einer der schwersten in der ganzen Moral. Nicht der des hy‐ pothetischen Sollens, sondern des absoluten, oder des sogenanten kategorischen Imperativs. Die Sache erfordert eine genauere und ausführlichere Untersuchung, (die ich mir auf eine andere Zeit vorbehalte, so wie meine Zuhörer die Grundlinien meiner Gedanken darüber jederzeit in den moralischen Vorlesungen erhalten) 1) ob es denn wirklich ein absolutes Sollen, einen kategorischen Imperativ geben müsse, oder, ob, wie einige glauben, und wie auch die meisten Erklärungen von Pflicht, Verbindlichkeit, dahin ausgehen, das Sollen alle‐ mal etwas hypothetisches sey? 2) Ob wir durch ganz reine Vernunft, gänzlich a priori, den kategorischen Imperativ erkennen können? 3) Ob die Allgemeingültigkeit für jede Vernunft, für jedes vernünftige Wesen, den Charakter desselben ausmache, und wie diese Allgemein‐ gültigkeit a priori festzustellen oder zu erkennen sey? 4) Ob die Erkenntnis des kategori‐ schen Imperativs vielleicht, wie die meisten wollen, weiter nichts sey, als die empirische 8
Bei den von Ulrich in der Anmerkung erwähnten Werken handelt es sich um: Im‐ manuel Kant: Critik der reinen Vernunft. Riga 1781 (erste Auflage A) bzw. 1787 (zweite Auflage B); ders.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785; Jacob Friedrich Abel: Plan einer systematischen Metaphysik. Stuttgart 1787; August Wilhelm Rehberg: Ueber das Verhältniß der Metaphysik zu der Religion. Berlin 1787.
Johann August Heinrich Ulrich (1788)
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nicht allemal würklich, sondern vielmehr das Gegentheil davon geschieht, d. i. obgleich nach der Erfahrung dieser Gedanke von Sollen noch nicht allemal, wenn es nun zur würklichen Ausübung kömmt, die nöthige Würksamkeit hat das fe‐ ste Wollen hervorzubringen, nicht allemal hinlängliche Causalität äusert. Wird aber die Vorstellung der sittlichen Notwendigkeit, oder des Sollens, so würksam, daß sie das feste Wollen selbst hervorbringt, und die entgegengesezten Reitze nichts vermögen, so ist das Entstehen eines solchen Entschlusses bey Sezung je‐ ner (nach und nach erlangten) Würksamkeit des Gedankens: Ich soll, auch wahre Naturnothwendigkeit. Und eben so, wenn die Erfahrung lehrt, daß der Gedanke von Sollen bey einem bestimmten Subjekt in einem bestimmten Fall nicht die nö‐ thige Würksamkeit äusert, wenn es von Ihm hies: Video meliora proboque, dete‐ riora sequor, 9 so hat auch dieses seine entscheidenden Gründe, warum es jezt so und nicht anders geht. Es ist auch hier Naturnothwendigkeit. *
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Erkenntnis, daß gewisse Ideen, die mir meine Vernunft vorhält, es sey nun dies die Idee meines eigenen wahren Besten, oder der allgemeinen Glückseligkeit, oder einer Denkungs‐ art, die nichts stärker begehrt, als das allgemeine Beste, oder der Schicklichkeit, der Wahr‐ 18 heit, der Tauglichkeit einer Maxime, nach der ich handele, in eine allgemeine Gesetzgebung, und diese Idee einer allgemeinen Gesetzgebung selbst, daß, sage ich, gewisse solche Ideen mich schlechterdings interessiren, daß sie mir unmittelbare Achtung abnöthigen, daß ich so etwas schlechterdings billigen, mit höchsten Wohlgefallen in den Stunden der Gemüthsru‐ he betrachten, und, wenn jezt alle andere Triebe in mir schweigen, so etwas nothwendig wollen muß? ob also 5) der Begriff aller sittlichen Nochwendigkeit, und zwar des absoluten Sollens sich nicht bey uns zuletzt in die Anerkenntnis einer unmittelbar in unserer Natur lie‐ genden physischen Nothwendigkeit auflöse, obgleich diese an sich nothwendige Billigung, nach Verschiedenheit der Umstände, bald mehr, bald weniger Kraft und Würksamkeit bey unsern würklichen Entschließungen äusert? und ob wir 6) vielleicht nur analogisch von dieser Einrichtung unsers Geistes auf andere Geister schließen? oder ob es a priori aus dem Begriff eines vernünftigen Wesens von selbst folge? Man lese unterdessen über diesen so schweren Punkt: Kants Kritik der reinen Vernunft, und Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Abels Plan der Metaphysik. Rehberg über das Verhältniß der Metaphysik zur Religion. Berlin. 1787. 8. Jezt kömmt es noch nicht auf diese Fragen, sondern nur darauf an: Da die Erfahrung un‐ läugbar lehrt, daß der Gedanke der sittlichen Nothwendigkeit bey einigen eher, bey andern später sich entwickelt, zuweilen uns gegenwärtig ist, und beyfällt, zuweilen unterdrückt ist, zuweilen Würksamkeit genug hat, einen Entschluß selbst wieder andere Antriebe und Neigungen hervorzubringen, zuweilen diese Würksamkeit nicht äusert, ob auch dieser je‐ desmalige Zustand, diese mangelhaftere oder vollkommenere Beschaffenheit ihre entschei‐ denden Gründe habe, oder nicht, ob auch hierinnen Naturnothwendigkeit, nach dem obigen Begriff, statt finde, oder nicht? * Soll ich mich über meinen weiter unten auszuführenden Hauptgedanken kurz erklä‐ 19 ren, so muß ich sagen: Unser jedesmaliger würklicher Entschluß ist das Resultat, also ent‐ weder Summe, oder Differenz, oder auch Diagonale von dem jedesmaligen Zustand unserer 9
»Ich sehe das Bessere und heiße es gut; dem Schlechteren folge ich.« (Ovid: Meta‐ morphosen VII, 20 f.; übers. von Michael von Albrecht)
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Teil I · Freiheit und Determinismus
§. 6. Zufall.
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Ohne mich jezt auf die Zweydeutigkeiten des Ausdrucks einzulassen, verstehe ich hier unter Zufall ein Entstehen, ein Werden, welches keine entscheidenden Grün‐ de hat, sondern, wo unter vollkommen denselben Umständen, da etwas geschah, eben so gut das Gegentheil geschehen konnte. Ich denke, daß dieser Begriff dem allgemeinsten Redegebrauch gemäs sey. So gesteht z. B. Premontval ohne Zurückhaltung zu: Jedes Wollen, jeder Vorsaz und Entschliesung sey ein bloser Zufall (un pure hazard). 10 Wenn wir unter gewissen genau bestimmten Umständen, etwas gewollt haben, so hätten wir unter vollkom‐ men denselben innern und äusern Umständen auch nicht wollen, oder das Gegent‐ heil wollen können. Wenn wir daher von Gott mehrmalen unter vollkommen die‐ selben Umstände gesezt würden, so würden wir ein andermal gerade das Gegent‐ heil nicht nur wollen können, sondern auch vielleicht würklich wollen. Ob durch die Kantische Erklärung der transcendentalen Freiheit oder absoluten Spontaneität, und durch den freilich künstlich genug eingeleiteten Versuch, Frei‐ heit und Natur-Nothwendigkeit mit einander zu vereinigen, 11 der Zufall vermie‐ den, oder überhaupt ein Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall gefunden werden könne, wird sich hernach ausweisen.
§. 7. Zufällig.
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Zufälligkeit soll andeuten entweder dieses, daß bey einem gewissen Subjekt, an sich betrachtet, ohne noch auf seine gesammten Umstände zu sehen, und, wenn es unter andern Umstanden wäre, etwas anders seyn könnte; oder, daß es bey Veränderung der Umstände anders werden kann, oder endlich, daß unter voll‐ kommen denselben bleibenden Umständen, wo Etwas so ist, es auch anders hät‐ te seyn können (die sogenannte formelle Zufälligkeit). In der dritten Bedeutung Vernunft (subjektiv genommen, wo es allerdings ein Entstehen, ein Werden giebt. Denn die Vernunft objektiv ist freilich unveränderlich, da entsteht nichts, und hört nichts auf) und Sinnlichkeit. 10
André-Pierre Le Guay de Prémontval (1716–1764), französischer Mathematiker und Philosoph. Vgl. ders.: Pensées sur la liberté. Berlin et Potsdam 1754, 106, 109 ff. 11 Kant definiert »Freiheit im kosmologischen Verstande« als »das Vermögen, einen Zu‐ stand von selbst anzufangen« (KrV A 533/B 561). Freiheit in diesem Sinne wird gleichge‐ setzt mit einer »Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe« (ebd.). Kants Versuch der Vereinigung von Freiheit und Naturnotwendigkeit findet sich im Abschnitt »Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbegebenheiten aus ihren Ursachen«, KrV A 532–558/B 560–586.
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sezt Zufälligkeit einen Zufall. So lange die Realität dieses Begrifs der formellen Zufälligkeit weder aus der Erfahrung, noch a priori gerechtfertiget ist, würde es der seichteste Einwurf gegen Determinismus seyn, daß ja durch denselben alle formelle Zufälligkeit wegfalle. §. 8. Determinist und Indeterminist.
Determinist ist derjenige, welcher lehrt, daß alles, was geschieht, seine entschei‐ denden Gründe * habe; folglich, daß es zu der Zeit, und unter den gesammten Umständen, da es geschieht, nicht ausbleiben, oder schon jezt anders seyn konn‐ te. Er lehrt folglich eine wahre allgemeine bedingte Nothwendigkeit, auch in Anse‐ hung unsers jedesmaligen Wollens, oder unserer Vorsätze und Entschliesungen. Sie mögen so regelmäsig und gut, oder noch so unvollkommen und mangelhaft seyn, als sie wollen, so konnten sie wenigstens jezt nach allen innern und äusern Umständen noch nicht anders seyn. Der Indeterminist hingegen bildet sich ein, daß der menschliche Geist, oder auch ein jedes vernünftiges Wesen, das Vermögen besitze, unter vollkommen den‐ selben innern und äusern Umständen, in vollkommen demselben ganz unverän‐ dert gedachten gesammten Zustande, wollen und nicht wollen, oder auch das Gegentheil von dem, was er nun würklich beschliest, wollen zu können. Das je‐ desmalige endliche Wollen hat demnach keine entscheidenden Gründe, und ist in dem Verstande ein wahrer Zufall.
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§. 9. Es giebt schlechterdings keinen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall.
Wenn ein vernünftiges Wesen in einem jezigen ganz genau bestimmten Zustand etwas will, sich zu etwas entschliest, so hat es entweder unter vollkommen den‐ selben innern und äusern Umständen auch die Entschliesung unterlassen, und sich anders entschliesen können, oder nicht. Ist es im ersten Fall nicht ein wahrer Zufall, daß die Entschliesung gerade so ausfällt, da sie doch bey völlig ungeän‐ derten Zustande des Subjekts auch anders hätte ausfallen können? Und haben wir nicht im zweiten Fall wahre Nothwendigkeit? So wenig demnach zwischen zwey kontradiktorisch entgegengesezten Gliedern ein drittes geben kan, eben so wenig ist in den Vorstellungsarten über die sogenannten freyen Vorsäze und Ent‐ schliesungen ein Mittelweg möglich zwischen Determinismus und Indeterminis‐ mus, zwischen Nothwendigkeit und Zufall. *
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Entscheidende Gründe nenne ich solche, auf welche, wenn sie sich mehrmals voll‐ 21 kommen so einstellten, auch immer ohne Ausnahme, dasselbe erfolgen würde. Entscheiden‐ de Gründe setzen daher Einförmigkeit, Gesezmäsigkeit, Regelmäsigkeit, Ordnung, Nothwen‐ digkeit.
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Teil I · Freiheit und Determinismus
§. 10. Kants Versuch die Freyheit der Handlungen mit ihrer durchgängigen Nothwendigkeit zu vereinigen.
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Nimmermehr ist mir Spinoza so schwer zu verstehen geworden, als es mir von jeher die Stellen in der Kritik der reinen Vernunft waren, welche die Freyheit be‐ treffen. Oft, warum sollte ich heucheln, glaubte ich mich würklich, in eine Neu‐ platonische Schule versezt, unaussprechliche Worte und Sachen zu hören – In‐ telligibler und empirischer Charakter eines Subjekts, eine Ursache, deren Cau‐ salität nicht anhebt, obgleich ihre unmittelbare Würkung anhebt. Die Vernunft, als ein intelligibles Vermögen, und nach ihren empirischen Charakter etc. Kant ist, von einer Seite betrachtet, ein so strenger Determinist in Ansehung unserer Entschliesungen und Handlungen, er behauptet in Ansehung derselben eine so durchgängige entschiedene Naturnothwendigkeit, als nur irgend einer. Auf der andern Seite aber ist er ein solches sonderbares Neutrum, daß ein ande‐ rer Linnäus, 12 bey einer versuchten Klaßifikation der Philosophen, selbst in Ver‐ legenheit gerathen würde, ob er nicht daraus eine neue Species machen solle. Wer ihn richtig beurtheilen will, muß unter andern auch dasjenige beständig vor Augen haben, was Er in der Methodenlehre 13 über die Zuläßigkeit transcen‐ denter Hypothesen in polemischen Gebrauch sagt, und welche Freiheiten er in dieser Rücksicht verstattet. Ich werde mich bemühen zuförderst seine Gedanken, so wie ich sie gefaßt zu haben glaube, manchmal mit seinen eigenen Worten, gewissenhaft vorzulegen, und dann solche mit einigen Erinnerungen und Zweifeln begleiten. Die Hauptstellen sind, in der Kritik der reinen Vernunft, die dritte Antinomie, 14 und dann die Auflösung: S. 532–558 der alten Ausgabe, oder nach der neuen 560– 586. 15 vergl. mit dem, was in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hin und wieder darüber vorkömmt. Transcendente Freiheit, absolute Spontaneität ist ein Vermögen eine Reihe von succeßiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen, – das Vermögen ei‐ ner Causalität, durch welche Etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach nothwendigen Gesetzen be‐ stimmt sey – eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erschei‐ nungen, die nach Naturgesetzen fortläuft, von selbst anzufangen – das Vermögen 12
Carl von Linné (1707–1778), schwedischer Naturforscher, führte eine systematische Nomenklatur zur Klassifikation der Pflanzen ein. 13 »Transzendentale Methodenlehre«, KrV A 705–856/B 733–884. 14 Vgl. KrV A 444–451/B 472–479. 15 »Auflösung der kosmologischen Ideen von der Totalität der Ableitung der Weltbege‐ benheiten aus ihren Ursachen«, KrV A 532–558/B 560–586. Die von Ulrich im Folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf KrV A.
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einen Zustand von selbst anzufangen, so daß die Causalität nicht nach dem Na‐ turgesetz wieder unter einer andern Ursache steht, welche sie der Zeit nach be‐ stimmte – eine Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wieder nach den Gesezen der Causalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen. (S. 533.) und noch bestimm‐ ter in Absicht auf die mensch liche Freiheit – ein Vermögen, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen. (S. 534.)
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Ich wünschte, daß H[er]r. Kant hier gleich ausdrücklich und gerade heraus gesagt hätte, ob dies Vermögen auch unabhängig von allen andern Gründen, die nicht sinnliche Antriebe, nicht blos Erscheinungen sind, nicht der Zeit nach vorhergehen, angewendet werde oder nicht? Auf den ersten Gedanken scheint der Ausdruck: von selbst, ingleichen absolute Spontaneität, zu führen. Den anderen könnten manche andere Stellen sowohl in der Crititk, als in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten veranlassen.
Jenes Vermögen nun findet nicht in dem handelnden Subjekt, als Erscheinung betrachtet, statt, sondern, als Noumenon, als einem Dinge, an sich betrachtet. Das handelnde Subjekt nämlich, und sein Vermögen zu handeln, kan betrach‐ tet werden 1) als Erscheinung, und nach seinem empirischen Charakter. Da stehen sei‐ ne Handlungen, als Erscheinungen, nach beständigen Naturgesetzen, im Zusam‐ menhang, und können von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden, ma‐ chen also mit diesen in Verbindung Glieder einer einzigen Reihe der Naturord‐ nung aus. 2) Da aber bey allen Erscheinungen Etwas zum Grunde liegen muß, was nicht Erscheinung ist, so würde man diesem Subjekt noch einen blos intelligiblen Cha‐ rakter einräumen müssen, dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen, als Er‐ scheinungen, ist, die aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Erscheinung ist. Man könnte auch den ersten den Charakter ei‐ nes Dinges in der Erscheinung, den andern den Charakter eines Dinges an sich selbst nennen. Das handelnde Subjekt nun und sein Vermögen zu handeln, nach seinem intel‐ ligibeln Charakter, steht unter keiner Zeitbestimmung, und Zeitbedingung. Denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst. In ihm würde keine Handlung entstehen, oder vergehen. Es würde also auch nicht dem Gesetze aller Zeitbestimmung, alles Veränderlichen, unterworfen seyn, daß alles, was geschieht, in den Erscheinungen (des vorigen Zustandes) sei‐ ne Ursache antreffe. Dieser intelligible Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt wer‐ den, weil wir nichts wahrnehmen können, als so fern es erscheint; aber er wür‐ de doch dem empirischen Charakter gemäs gedacht werden müssen, so wie wir
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überhaupt einen transcendentalen Gegenstand den Erscheinungen in Gedanken zum Grunde legen müssen, ob wir zwar von ihm, was er an sich selbst sey, nichts wissen. Nach seinem empirischen Charakter würde also das Subjekt, als Erscheinung, allen Gesetzen der Bestimmung nach Causalverbindung unterworfen seyn, es wä‐ re in so fern nichts, als ein Theil der Sinnenwelt, dessen Würkungen, so wie jede andere Erscheinung, aus der Natur unausbleiblich abflössen. Alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung sind aus seinem empirischen Charakter und den mitwürkenden andern Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkühr bis auf den Grund erforschen könn‐ ten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewisheit vorhersagen, und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als nothwen‐ dig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters giebt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrach‐ ten, wenn wir lediglich beobachten, und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen, ihn darnach behandeln, lenken, bessern wollen. Nach seinem intelligibeln Charakter (ob wir wohl davon nichts, als den allge‐ meinen Begriff haben können) würde dasselbe Subjekt dennoch von allem Ein‐ flusse der Sinnlichkeit, und Bestimmung durch Erscheinungen frey gesprochen werden müssen, und da in Ihm, so fern es Noumenon ist, nichts geschieht, keine Veränderung, welche dynamische Zeitbestimmung erheischt *, mithin keine Ver‐ knüpfung mit Erscheinungen, als Ursachen angetroffen wird, so würde dieses thätige Wesen in so fern in seinen Handlungen von aller Naturnothwendigkeit, als die lediglich in der Sinnenwelt angetroffen wird, unabhängig und frey seyn. Man würde von Ihm ganz richtig sagen: Es fängt seine Würkungen in der Sin‐ nenwelt von selbst an, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfange; und dieses würde gültig seyn, ohne daß die Würkungen in der Sinnenwelt darum von selbst anfangen dürften, weil sie in derselben jederzeit durch empirische Bedingungen in der vorigen Zeit, aber doch nur vermittelst des empirischen Charakters, (der blos die Erscheinung des intelligibeln ist) vorherbestimmt sind, und nur als eine Fortsezung der Reihe der Naturursachen möglich sind. Man darf sich also die Causalität des intelligiblen Charakters nicht als eine gänzli‐ che Unterbrechung des Zusammenhangs der Erscheinungen im empirischen Cha‐ rakter unter einander denken, sondern da bleiben sie in einer unzertrennten Cau‐ salverbindung. Inzwischen ist doch jede Handlung, unangesehen des Zeitverhält‐ nisses, darinnen sie mit andern Erscheinungen steht, die unmittelbare Würkung des *
Keine andern Veränderungen, als solche, giebt es doch wohl für H[er]rn. Kant nicht? Oder sollen wir uns etwa auch intelligible Verändrungen denken, die nicht der Bedingung der Zeit unterworfen sind?
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intelligibeln Charakters, in welchen aber kein vor und nach ist, keine Veränderung vorgehet, nichts anhebt, oder aufhört; da hingegen in den Würkungen, als Erschei‐ nungen, in dem empirischen Charakter, Veränderung und Folge, Zeitverhältnis, also auch Causalverhältnis, statt findet.
So, glaubt Kant, würde Freyheit und Natur, jedes in seiner vollständigen Bedeu‐ tung, bey eben denselbigen Handlungen, je nachdem man sie mit ihrer intelli‐ gibeln oder sensibeln Ursache vergleicht, zugleich und ohne Widerspruch ange‐ troffen werden. §. 11. Fortsetzung.
Ich muß meine Leser um Gedult bitten, wenn ich sie noch eine Zeitlang in diesem Tone mit dem unterhalten muß, was Kant über die Vernunft, über ihre Causalität in Ansehung der Handlungen, sagt. Daß die Vernunft Causalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, sey aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das Sollen drücke eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkomme – dieses Sollen drücke eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloser Begriff sey, da hingegen von einer blosen Na‐ turhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung seyn müsse. – Es mögten noch so viele Naturgründe seyn, die mich zum Wollen antrieben, noch so viele sinnli‐ che Anreitze, so könnten sie nicht das Sollen hervorbringen. – Die Vernunft gebe nicht dem Grunde, der empirisch gegeben ist, nach, und folge nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern mache sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpaße, und nach denen sie sogar Handlungen vor nothwen‐ dig (nehmlich sittlich nothwendig) erkläre, die doch nicht geschehen sind, und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl vorausseze, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Causalität haben könne. Denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen, Würkungen in der Erfahrung erwarten. Habe nun die Vernunft Causalität in Ansehung der Erscheinungen, so müsse sie, so sehr sie auch Vernunft sey, dennoch einen empirischen Charakter von sich zeigen, welcher beständig ist, indessen die Würkungen, nach Verschiedenheit der begleitenden und zum Theil einschränkenden Bedingungen, in veränderlichen Gestalten erscheinen. Kan nun, fragt Kant, die Handlung der Vernunft frey heisen, da sie im empiri‐ schen Charakter derselben, (der Sinnesart) ganz genau bestimmt und nothwen‐ dig ist. Dieser ist wiederum im intelligibeln Charakter, (der Denkungsart) be‐ stimmt. Diesen leztern aber kennen wir nicht, sondern bezeichnen ihn nur durch
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Erscheinungen, welche eigentlich nur die Sinnesart, oder den empirischen Cha‐ rakter zu erkennen geben? Antwort: die Handlung, so ferne sie der Denkungsart, als ihrer Ursache bey‐ zumessen ist, erfolgt dennoch daraus gar nicht nach empirischen Gesetzen, d. i. nicht so, daß die Bedingung der reinen Vernunft, sondern nur so, daß deren Wür‐ kungen in der Erscheinung des innern Sinnes vorhergehen. Die reine Vernunft, als ein blos intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen. Die Causalität der Ver‐ nunft, im intelligibeln Charakter, entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Würkung hervorzubringen. Denn sonst wäre ihre Cau‐ salität Natur und nicht Freyheit. – Von der Vernunft kan man nicht sagen, daß vor dem Zustand, in dem sie die Willkühr bestimmt, ein anderer vorhergehe, darin‐ nen dieser Zustand selbst bestimmt wird. Denn da Vernunft selbst keine Erschei‐ nung, und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist, so findet in ihr, selbst in Betreff ihrer Causalität, keine Zeitfolge statt, und auf sie kan also das dynamische Gesetz der Natur, das die Zeitfolge nach Regeln bestimmt, nicht angewendet werden. Die Vernunft ist die beharrliche Bedingung aller willkührlichen Handlungen, unter welchen der Mensch erscheint. Jede derselben ist im empirischen Charak‐ ter des Menschen vorher bestimmt, ehr noch, als sie geschieht. In Ansehung des intelligiblen Charakters, wovon jener nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher, oder Nachher, und jede Handlung, unangesehen des Zeitverhältnisses, darinnen sie mit andern Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Würkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft, welche also frey handelt, ohne in der Kette der Naturursachen, 16 durch äusere oder innere, aber der Zeit nach vor‐ hergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu seyn. Und diese ihre Freyheit kann man nicht allein negativ als blose Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen, denn dadurch würde die Vernunft aufhören eine Ursache der Erschei‐ nungen zu seyn; sondern positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so doch, daß in ihr selbst nichts anfängt, sondern sie, als unbedingte Bedingung jeder willkührlichen Handlung, über sich keine der Zeit nach vorhergehende Bedingungen verstattet; 17 indessen daß doch ihre Würkung in der Reihe der Erscheinungen anfängt, aber darinnen niemals einen schlechthin ersten Anfang ausmachen kan. Der moralische Tadel einer willkürlichen Handlung gründet sich, nach Kant, auf ein Gesez der Vernunft, wobey man diese als eine Ursache ansieht, welche das 16
Korrigiert aus: »Natursachen,« Zur Unterscheidung von Freiheit im negativen und positiven Sinn vgl. GMS. AA IV, 445–447. 17
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Verhalten des Menschen, ohngeachtet aller bestimmenden empirischen Bedingun‐ gen anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar sieht man die Cau‐ salität seiner Vernunft nicht etwa blos, wie Concurenz, sondern an sich selbst als vollständig an – die tadelhafte Handlung wird seinem intelligibeln Charakter beygemessen, er hat jezt, in dem Augenblicke, da er sie begeht, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, ungeachtet aller empirischen Be dingungen der That, völlig frey, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beyzumessen. Bey diesem zurechnenden Urtheil, glaubt Kant, habe man in Gedanken, die Vernunft werde durch alle jene Sinnlichkeit nicht afficirt, sie verändere sich nicht, (wenn gleich ihre Erscheinungen, nemlich die Art, wie sie sich in ihren Würkun‐ gen zeigt, sich verändern,) in ihr gehe kein Zustand vorher, der den folgenden bestimmet. Sie, die Vernunft, sey allen Handlungen des Menschen in allen Zeit‐ umständen gegenwärtig und einerley, selbst aber sey sie nicht in der Zeit und gerathe etwa in einen neuen Zustand, darinnen sie vorher nicht war, sie sey be‐ stimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben. Man könne daher nicht fragen: Warum hat sich die Vernunft nicht anders be‐ stimmt, sondern nur: warum hat sie die Erscheinungen durch ihre Causalität nicht anders bestimmt? Darauf aber sey gar keine Antwort möglich. Denn: Ein ande‐ rer intelligibler Charakter würde einen andern empirischen Charakter gegeben haben. Warum der intelligible Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter unter vorliegenden Umständen gebe, das überschreite so sehr alles Vermögen unserer Vernunft es zu beantworten, ja alle Befugnis dersel‐ ben nur zu fragen, als ob man früge: woher der transcendentale Gegenstand un‐ serer äuserlichen sinnlichen Anschauungen gerade nur Anschauung im Raume, und nicht eine andere gebe.
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§. 12. Beurtheilung.
Ich habe diese Gedanken, denen man den Charakter eines seine einmal ergrif‐ fenen Ideen unverrückt festhalten den und verfolgenden Scharfblicks, und einer sich von allen Seiten wohl zu verschanzen wissenden Subtilität, gewis nicht ab‐ sprechen kan, etwas weitläuftiger ausgezogen, um in der Beurtheilung mich un‐ mittelbar darauf beziehen, und desto kürzer seyn zu können. Erstlich ist also klar, daß Kants Lehre auf keine Weise mit Indeterminismus ver‐ wechselt werden darf. Denn in Ansehung der Erscheinungen, und der Handlun‐ gen in Beziehung auf den empirischen Charakter des Menschen, als von welcher Seite der Indeterminist ihn doch allein zu betrachten pflegt, lehrt er die entschie‐ denste Nothwendigkeit, und läugnet alle Freiheit. 18 In Ansehung des intelligibeln Charakters aber hat er sich auf eine so künstliche Weise zu erklären gewußt, daß 18
Vgl. KrV A 550 f./B 577 f.
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er von einer Seite eben sowohl der Naturnothwendigkeit, (nach seinem genau festzuhaltenden Begriff) als von der andern dem Zufall, d. i. einem Entstehen ohne entscheidende Gründe, ausweicht. Da aber Läugnung der Naturnothwendigkeit im Kantischen Sinn nur die Be‐ stimmung durch Erscheinungen, oder durch solche Bedingungen, welche der Zeit nach vorhergehen, ausschliest, so bleibt immer die Frage übrig, ob nicht im in‐ telligibeln Charakter selbst Gründe der Bestimmung des intelligibeln Vermögens sich finden, welche zwar der Zeit nach nicht vorhergiengen, aber doch Gründe wären, auf welchen Fall alsdann Naturnothwendigkeit in anderm Verstande (§. 5.) statt finden würde. Zweitens. Der Hauptpunct ist freilich die transcendente Idee der Möglichkeit einer Ursache, deren unmittelbare Würkung in der Zeit anhebt, deren Causa‐ lität selbst aber nicht anhebt, folglich auch nicht dem Gesetz der Bestimmung durch andere vorhergehende Gründe unterworfen ist. 19 Und hier würde Kant unwiderleglich seyn, wenn man Ihm einmal den Saz als ausgemacht zugestünde, welcher das πρῶτον ψεῦδος 20 so vieler andern Behaup‐ tungen ist: Die Zeit sey eine blos subjektive Form der Erscheinungen. 21 Es gebe keine wahre Folge in den Dingen an sich, folglich auch keine wahre Veränderung, kein Anheben und Aufhören eines Zustandes eines Dinges an sich. Denn dann läuft an diesem Ringe befestigt die Kette der Gedanken bündig fort: Bey allem, was Erscheinung ist, liegt etwas zum Grunde, was Grund der Erscheinungen, selbst aber nicht Erscheinung, folglich auch nicht der Bedingung und Form der Zeit unterworfen ist. Die Erscheinungen heben alsdenn an, aber Causalität des‐ sen, was die Ursache der Erscheinung ist, kan nicht anheben, ist folglich auch nicht dem Gesez der Bestimmung durch eine andere vorhergehende Ursache un‐ terworfen. In dem intelligibeln Charakter des Menschen, welcher nicht Erschei‐ nung ist, kan nichts entstehen und aufhören, ändert sich nichts. In der Vernunft, als einem intelligibeln Vermögen, hebt nichts an und hört nichts auf etc. Aber eben jener Saz ist, man sage, was man wolle, durch alles, was Kant, und andere darüber gesagt, noch nicht erwiesen, und dasjenige, was darüber so oft, auch von mir gesagt worden, noch nicht beantwortet. 22 19
Vgl. KrV A 551/B 579. proton pseudos, gr.: »erstes Falsches«, »Grundirrtum«. In der Logik wird damit seit Aristoteles (vgl. Erste Analytik (Organon III) 2. Buch, 18. Kap., 66a) ein Fehler in den Prä‐ missen eines Syllogismus bezeichnet, der zu einer falschen Konklusion führt. 21 Vgl. KrV A 35/B 51. 22 Ulrich stimmt in seinen Institutiones logicae et metaphysicae (Jena 1785) zwar mit Kant darin überein, dass die Zeit eine subjektive Form der Anschauung ist (ebd. 6 f. (§ 6)). Da Ulrich aber glaubt, nachweisen zu können, dass die Kategorien, insbesondere die der Kausalität, auch auf Dinge an sich anwendbar sind, kann die Zeit nicht bloß subjektive Form der Anschauung, sondern muss auch objektive Eigenschaft der Dinge an sich sein (ebd. 235–240 (§ 236–239)). Vgl. zu dieser Stelle Kraus 1788, 183 (Text 3). 20
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Drittens: In dem blos intelligibeln Charakter soll ein auch blos intelligibles Ver‐ mögen seyn einen Zustand von selbst anzufangen. – Vermögen – Ein anders ist doch das Vermögen, ein anders die Anwendung dieses Vermögens, oder die Un‐ terlassung der Anwendung; von welcher letzten Kant selbst redet. S. 555. »Die ta delnswürdige Handlung sey der Unterlassung der Vernunft gänzlich beyzumes‐ sen. Man sehe die Vernunft als eine Ursache an, welche das Verhalten des Men‐ schen, ungeachtet aller empirischen bestimmenden Bedingungen auch anders ha‐ be bestimmen können, und sollen.« 23 Die Anwendung des Vermögens, dessen An‐ wendung unterlassen werden kann, und die Unterlassung der Anwendung, wel‐ che doch zuweilen statt findet, läßt sich ohne Zeitbestimmung, ohne ein Entste‐ hen und Anheben, unmöglich denken. Ueberhaupt sehe ich gar nicht, wie man der Frage ausweichen will: Warum wird dieses Vermögen bey gewissen Hand‐ lungen angewendet, bey andern nicht? Entweder ist etwas vorhanden, welches einmal der Grund der Anwendung, ein andermal den Grund der Unterlassung enthält, oder nicht. Im ersten Fall Nothwendigkeit, im andern Fall Zufall. 24 Oder: Ist vielleicht Unterlassung der Vernunft ein ursprünglicher und unveränder‐ licher Mangel der Thätigkeit der Vernunft, eine Schwäche im intelligibeln Cha‐ rakter, und Anwendung der Vernunft ein ursprünglicher und N[ota]B[ene]. un‐ veränderlicher Zustand einer höhern Thätigkeit und Würksamkeit? So haben wir ja mit der Unveränderlichkeit des intelligibeln Charakters Nothwendigkeit (ob‐ gleich nicht Naturnothwendigkeit im Kantischen Sinn). Der empirische aber ist nothwendig im intelligibeln gegründet – also auch hier Nothwendigkeit; also – überall Nothwendigkeit. Viertens: Die Vernunft hat Causalität in Ansehung unserer Handlungen. 25 Was heist hier Vernunft? Man redet von einer objektiven Vernunft. Diese ist freilich unveränderlich, so wie die Wahrheit unveränderlich ist. Da entsteht nichts, und geht nichts unter. Sie bleibt von Ewigkeit zu Ewigkeit dieselbe. Offenbar aber ist hier nicht von diesem abstracto, von diesem Ideal, das seinen kongruirenden Gegenstand nur in Gott finden würde, die Rede, sondern von der subjektiven Vernunft. Diese subjektive Vernunft, kan gedacht werden einmal als ein intelligibles Ver‐ mögen, * zweitens nach ihrem empirischen Charakter. Zu diesen lezten müßen al‐ le würkliche Vorstellungen der Vernunft, das Bewußtseyn ihrer Forderungen, der *
Ich weis gar wohl, daß objektiv manchmal alles das an einem Subjekt heist, was nicht Erscheinung ist, allein diese Zweydeutigkeit kan hier kein Misverständniß verursachen. 23
Ulrich zitiert frei KrV A 555/B 583. Vgl. Kraus 1788, 183 f. (Text 3). 25 »Daß diese Vernunft nun Causalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben.« (KrV A 547/B 575) 24
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Gedanke des Sollens, von Kant offenbar gerechnet werden. Denn da hier ein Ent‐ stehen und Verschwinden, und so vielerley Modificationen statt finden, so kön‐ nen sie nicht zum intelligibeln Charakter der Vernunft gehören, sondern nur er‐ scheinende Würkungen des intelligibeln, nicht erscheinenden, nicht erkennbaren Vernunftvermögens seyn. Soll nun diese Vernunft, als ein blos intelligibles Ver‐ mögen, nur Vernunftanlage, oder sollen es dunkele und unentwickelte Vorstel‐ lungen, oder soll es eine gewisse Thätigkeit, oder keins von diesen allen, sondern durch nichts, als nur durch seine Würkungen erklärbar seyn? Die unveränderte intelligible Vernunft nun, die allen Handlungen des Men‐ schen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerley, von welcher jede würk‐ liche Handlung die unmittelbare Würkung, welche selbst nicht in der Zeit seyn, nicht in einen neuen Zustand gerathen soll, darinnen sie vorher nicht war, wie kan sie gleichwohl so ganz verschiedene Würkungen zu verschiedenen Zeiten in der Erscheinung hervorbringen? Dieselbige Kraft der Sonnenstralen härtet den Koth, und schmelzet das Wachs – aber hier ist eine besondere verschiedene Receptivität der Objekte, auf welche gewürkt wird. Das findet ja aber in Ansehung der Vernunft nicht statt. »Was thut das alles,« wird Kant erwiedern, »mag es doch immerhin, wie es ist, schlechterdings unbegreiflich seyn, daraus folgt noch nicht Unmöglichkeit. Es soll nur eine transcendente Hypothese im polemischen Gebrauch seyn. Genug es sind Gründe vorhanden, die uns nöthigen, ein solches blos intelligibles Vermö‐ gen, dessen Würkungen zwar anfangen, dessen Causalität selbst aber nicht an‐ fängt, und in welchem keine Veränderungen vorgehen, anzunehmen.« 26 In dem Gedanken, daß die Zeit nur die Form der Erscheinungen sey, findet diese Idee, wie wir gesehen haben, keine Schuzwehr. Laßt uns sehen, was für Gründe sonst dafür aufgestellt werden mögen. §. 13. Fortsezung.
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Den ersten Grund der Nothwendigkeit eine solche absolute Spontaneität anzu‐ nehmen sucht Kant (Siehe den Beweis des ersten Satzes der dritten Antinomie der reinen Vernunft) 27 darinnen, weil ohne solche selbst im Lauf der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig sey. Ich antworte: die transcendente und absolute, von aller Bestimmung durch Gründe, die der Zeit nach vorhergehen, unabhängige, zu diesem Bedürfnis hin-
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Es handelt sich hier nicht um ein Originalzitat, vgl. aber »Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs«, KrV A769–782/B797–810, besonders A 776/B 804. 27 Vgl. KrV A 444–446/B 472–474.
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längliche Spontaneität findet sich in der würklichen ewigen unveränderlichen Thä‐ tigkeit der obersten Weltursache, deren unmittelbare Würkungen aber auch nicht angefangen haben, sondern so ewig sind, als die göttliche Thätigkeit selbst. Alles andere sind nur mittelbare Folgen daraus. Siehe meine initia philosophiae de Deo. Cap. IV. Sect. I. §. 90. 28
Den zweiten Grund scheint Kant darinne zu setzen, daß, ohne jenes Vermögen beym Menschen anzunehmen, das Sollen, oder der Imperativ, den seine Vernunft ausspricht, und dessen Autorität sie anerkennt, oder eine sittliche, von der phy‐ sischen unterschiedene, Nothwendigkeit nicht zu begreifen sey – daß ohne jenes Vermögen moralischer Tadel, – überhaupt Imputation nicht statt finden würde. Es kömmt alles auf den ersten Punct an. Dann giebt sich das übrige von selbst, wie wir zu seiner Zeit sehen werden. Und nun: Jede Forderung der Vernunft, das Sollen, das sie ausspricht, jeder ihrer Impe‐ rativen bleibt gerecht, wenn Wir auch jezt nicht gleich, nach allen innern und äusern, ursprünglichen und hinzutretenden Bestimmungen, so seyn können, wie wir sollen. Sollen, wenn es ein vernünftiger Gedanke bleiben soll, sezt nur wenig‐ stens die Möglichkeit voraus, durch Uebung und Anstrengung mit der Zeit dem Gedanken des Sollens durch die in der Moral anzugebenden Mittel endlich das seelige Uebergewicht über die Sinnlichkeit (im gewöhnlichen Sinn des Worts) zu verschaffen, und den Einflus, die Hindernisse der Sinnlichkeit, zu schwächen. Dann ist das Sollen ein Ziel, eine Idee, die uns die Vernunft vorhält, ob wir gleich nicht so gerade zu und unmittelbar dieses Ziel ergreifen, oder ungestört festhal‐ ten können, sondern uns ein längerer und mühsamerer Weg erst dahin führt. Es ist mir wie aus der Seele geschrieben, was der würdige Mann selbst schreibt: (S. 102. f. der Grundlegung zur Met. der Sitten.) 29 »Das Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Ver‐ nunft bey Ihm ohne Hindernisse praktisch wäre« etc. (also giebt doch Kant selbst zu, daß die Vernunft in ihrer Würksamkeit gehindert und eingeschränkt werden könne, daß sie unter dem Einfluß gewisser Hindernisse stehe) »Für Wesen, die, wie wir, noch durch Sinnlichkeit, als Triebfedern anderer Art, afficirt werden, bey denen es nicht immer geschieht, was die Vernunft für sich allein thun würde, heist jene Nothwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjektive Nothwendig‐ keit wird von der objektiven unterschieden.« Man verbinde damit die Stelle: Seite 113. 30 »Das moralische Sollen ist mein eigenes nothwendiges Wollen, als Gliedes einer intelligibeln Welt, und wird nur 28
Die »Initia philosophiae de natura divina sive theologiae rationalis« oder »Philoso‐ phia de deo« sind als Teil mit selbstständiger Seitenzählung in Ulrichs Institutiones logicae et metaphysicae (Jena 1785) erschienen. Zu § 90 vgl. ebd. 116–119. 29 Vgl. GMS. AA IV, 449. 30 Vgl. GMS. AA IV, 455.
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so fern von mir als Sollen gedacht, als ich mich zugleich, wie ein Glied der Sin‐ nenwelt betrachte.« Ich bitte meine werthesten Zuhörer, so sehr ich kan, sich an dasjenige zu erinnern, was sie in den moralischen Vorlesungen bey der mühsamen Entwikelung der Ideen von Verbindlichkeit und Pflicht über das Sollen, besonders das absolute Sollen, oder den kategorischen Imperativ gehört haben.
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Wo liegt also noch die Differenz zwischen Kant und dir? Zuförderst darinnen, daß Kant ein Vermögen im intelligibeln Charakter des Menschen behauptet, oder doch zu behaupten scheint, kraft dessen er bey voll‐ kommen demselben unverändertem Zustande der Vernunft und Sinnlichkeit, in welchem er unrichtig gehandelt, oder sich entschlossen hat, schon jezt anders und besser haben handeln können; welches ich hingegen läugne. Doch vielleicht sind unsere Geister auch in diesem Stücke in der Dunkelheit einander näher, als es scheint. Darinnen sind wir beide einig, worüber St. Paul klagt: Wollen habe ich wohl, aber es fehlt mir oft das Vollbringen. Ich habe Lust am Gesez nach den inwendigen Menschen: Ich sehe ein Gesez in meinen Gliedern, das da wiederstreitet dem Gesez des Geistes. 31 Aber daß ich in dem Augenblicke, wo ich nicht dem Gesez des Gei‐ stes folge, bey vollkommen unveränderten innern und äusern Umständen, auch bey völlig unveränderten individuellen intelligibeln Charakter schon jezt anders habe handeln können, dies läugne ich. Die zweite Differenz ist subtiler. Sollen ist für mich weiter nichts, als mein eige‐ nes nothwendiges Wollen, Wohlgefallen, Billigung, Interesse, das ich an gewissen Ideen, die mir die Vernunft vorhält, finden muß, wenn ich jezt in den glücklichen Stunden der Gemüthsstille gleichsam eine Stufe höher trete, als ich würklich ste‐ he, wenn ich mich als bloses Glied einer intelligibeln Welt denke, welches unter keinen Einfluß entgegenstrebender sinnlicher Triebe steht. Da habe ich nothwen‐ dig Lust am Gesez nach dem inwendigen Menschen. Die Idee, die mir gefällt, ist kein einzelner sinnlicher angenehmer Eindruck, sondern eine Vernunftidee. Z. E. die Idee des allgemeinen Besten ist eine wahre Vernunftidee, ein Begriff, der alle mögliche Erfahrungen übersteigt, der mich jedoch nothwendig interessirt. Nun läugne ich aber, daß dieses nothwendige Interesse N[ota]B[ene]. bey uns Menschen auf keine Weise von gewissen bekannten, in unserer Natur liegenden Gründen des Wohlgefälligen abhängig, und daraus begreiflich sey. Selbst von der Idee einer allgemeinen Gesezgebung, und Tauglichkeit der Maxime, nach der ich handle, in eine allgemeine Gesezgebung, getraue ich mir dieses zu beweisen. Doch davon ein andermal!
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Paulus’ Brief an die Römer 7,18–23.
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CHRISTIAN JAKOB KRAUS
(1788)
Eleutheriologie oder über Freyheit und Nothwendigkeit, von Johann August Heinrich Ulrich [Rezension]
Christian Jacob Kraus (1753–1807) studierte ab 1771 an der Universität in Königsberg. Dabei besuchte er auch die Vorlesungen Kants, der Kraus’ Talent erkannte und ihn förderte. 1781 trat Kraus eine Professur für Moralphilosophie und Kameralwissenschaften in Königsberg an. Während er als Philosoph kaum mehr in Erscheinung trat, kommt ihm einige Bedeutung bei der Einführung der Gedanken von Adam Smith im deutschen Raum zu. Bis Ende der 1780er-Jahre gehörte Kraus zum engsten Freundeskreis Kants, bevor es zwischen den beiden zu Unstimmigkeiten und zur anhaltenden Distanzierung kam. 1787 war Johann August Heinrich Ulrichs Eleutheriologie, oder über Freyheit und Nothwendigkeit (vordatiert auf 1788; vgl. Text 2) erschienen, in der ihr Verfasser die kantische Freiheitslehre kritisiert und dagegen einen konsequenten Determinismus starkgemacht hatte. Christian Gottfried Schütz, der Herausgeber der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung, bat darauf Kant um eine Rezension des Werks. Dieser delegierte die Aufgabe jedoch an seinen ehemaligen Schüler Kraus. Wie Kraus später sagte, erhielt er von Kant einen »kleinen Aufsatz über diese Schrift«, aus der er »eine Recension machen« musste (Vaihinger 1880, 193). Tatsächlich befinden sich in Kants Nachlass Notizen zu Ulrichs Eleutheriologie auf zwei losen Blättern (vgl. AA XXIII, 79–81), wobei es sich aber kaum um den besagten »kleinen Aufsatz«, sondern eher um eine Vorarbeit handeln dürfte. Deutlich zu erkennen ist jedoch, dass Kraus in seiner Rezension mit sachlichen Vorgaben in Kants Notizen übereinstimmt. Die Rezension hat das Ziel, einerseits die Schwächen der deterministischen Position aufzuzeigen, andererseits den kantischen Standpunkt zu verteidigen. Die Hauptschwäche des Determinismus besteht Kraus zufolge darin, dass er alles Moralische als empirisch-psychologisches Phänomen betrachtet und es somit auf jenen Bereich reduziert, in dem Naturnotwendigkeit herrscht. Mit dieser reduktionistischen Erklärungsweise wird, so Kraus in Übereinstimmung mit Kant, Zurechnung, Verpflichtung und Moralität unerklärbar. Insbesondere ist es mit Ulrichs Determinismus unmöglich, den Begriff des Sollens, der moralischen Verbindlichkeit, adäquat zu erfassen. Damit scheitert Ulrichs Versuch, Moralität und Freiheit mit einem strengen Determinismus in Einklang zu bringen. Ulrichs Kritik an der kantischen Freiheitslehre wird als letztlich gegenstandslos abgetan, da sie im Wesentlichen darauf beruhe, dass Ulrich die zentrale These der Vernunft-
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Teil I · Freiheit und Determinismus
kritik, »daß die Zeit eine bloß subjective Form der Erscheinungen sey«, ablehne, ohne sie mit Argumenten zu widerlegen. Solange der Satz aber nicht widerlegt werde, bleibe die Auflösung der dritten Antinomie (vgl. KrV A 532–558/B 560–586) ebenso gültig wie die Begründung der Doppelnatur des Menschen als sowohl sinnliches wie auch intelligibles Wesen, auf der die Möglichkeit des Postulats einer transzendentalen, nicht-empirischen Kausalität durch Freiheit beruht. Der Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem Moralischen, dem Sinnlichen und dem Intelligiblen müsse zwar, wie Kraus wiederholt betont, ein Geheimnis bleiben, der strikte Unterschied zwischen beiden Sphären sei aber notwendig und irreduzibel, wenn Moralität und Freiheit möglich sein sollen. Weiterführende Literatur: Vaihinger 1880, Beiser 1987, 208–210, Klemme / Kuehn 2016, 438– 440 und Cafagna 2010. Die Rezension ist ebenfalls abgedruckt in AA VIII, 451–460.
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Der Unterschied des Physischen und des Moralischen am Menschen, in so fern er einerseits, als Unterthan der Natur, den unabänderlichen Einfluß ihrer Ursa‐ chen fühlt, und, nach ihren bestimmten Gesetzen alle Handlungen vorher zu berechnen und hinterher zu erklären, durch seinen Verstand selbst angewiesen ist, und andererseits, als Gebieter über die Natur, sich eine von ihr unabhängi‐ ge Selbstthätigkeit zutrauet, und sich eigene Gesetze giebt, nach welchen, trotz allem fremden Einflusse, die künftigen Handlungen einzurichten, er für ein un‐ erlaßliches Gebot erkennt, und die vergangenen, laut Aussprüchen eines Rich‐ ters in seinem Inneren, unerbittlich billigt oder verdammt: dieser Unterschied ist der gemeinsten Vernunft geläufig; und freylich sie müßte – welches sie weder kann noch darf – sie müßte aufhören, das, was ist und geschiehet, von dem, was seyn und geschehen soll, zu unterscheiden, wenn sie denselben verkennen, oder bezweifeln wollte. Hingegen der Zusammenhang dieses Physischen und Morali‐ schen im Menschen, in so fern er eben dieselben Handlungen, nicht nur nach Verhältnissen der bestimmten Naturnothwendigkeit, sondern auch in Beziehung auf eine unbedingte Selbstthätigkeit, und zwar beides zusammen, gedenken soll, überschreitet alle Fassung seines Geistes, der, je nachdem er es versucht, diese Handlungen, entweder gemäß dem Bedürfnisse des Verstandes, als durch Natur bestimmt, oder, gemäß dem Erfordernisse der Moralität, als durch Freyheit her‐ vorgebracht, anzunehmen, bald einsiehet, daß er im ersteren Fall das Wesen der Sittlichkeit, und im andern den Gebrauch des Verstandes aufgeben müsse, und sonach, da keines von beiden sich aufgeben läßt, gewahr wird, daß hier ein Ge‐ heimniß vor ihm liege. Was bleibt nun in Absicht dieses Geheimnisses für das Nach denken übrig? Nichts, als zuerst den wesentlichen Unterschied des Natürli‐ chen und Sittlichen in das helleste Licht, und gegen alle Zweifel und Einsprüche des sich dawider sträubenden Vorwitzes in völlige Gewißheit und Sicherheit zu
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setzen, und alsdann durch kritische Erforschung unsers gesammten Erkenntniß‐ vermögens befriedigenden Aufschluß darüber zu suchen, warum der Zusammen‐ hang jener beiden Verknüpfungen unbegreiflich sey, und (obschon sich nicht er‐ gründen läßt, auf welche Weise Natur und Freyheit im Menschen zusammenhän‐ gen,) in wiefern dennoch sich ohne Widerspruch gedenken lasse, daß beide wirk‐ lich in ihm vereinigt Statt haben. Das scheint allerdings sehr wenig zu seyn, und ist freylich auch weniger, als lüsterne Wißbegierde verlangt, ob zwar wohl so viel, als die Zwecke des Lebens nur immer erfodern mögen. Wenn nun aber vollends bey den Untersuchungen, die uns jenen Aufschluß gewährten, es sich offenbarte und auswiese, daß, eben durch die Begränzung ihres Wissens, die Vernunft, die sonst in ihren Speculationen über das Theoretische und Praktische mit sich selbst zerfällt, in Absicht auf beides zur vollkommensten Harmonie gelangte, und, eben durch die Erörterung seines Unvermögens, Natur und Sittlichkeit mit einander zu paaren, unser Geist die erfreulichsten Blicke in eine von der Sinnenwelt un‐ terschiedene Verstandeswelt, und die erwünschtesten Aussichten über seine Be‐ stimmung und Würde gewönne; so wäre es in der That Kurzsichtigkeit, wenn man über die Begränzung unsers Wissens und über das Unvermögen unsers Gei‐ stes Klage erheben, und Unverstand, wenn man sich weigern wollte, zu gestehen, was gleichwohl unleugbar ist, daß nemlich das wichtigste und anziehendste aller Probleme der Vernunft für uns hienieden unauflöslich sey. Indessen mag man dieß alles noch so klar zeigen, so wird man darum nicht weniger von Zeit zu Zeit noch immer Versuche, das Problem zu lösen, zum Vorschein kommen sehn; denn so ist es nun einmal mit dem Menschen bewandt, daß er in Sachen des Nachden‐ kens vornemlich über dunkele, und eben darum reizende Gegenstände, zu allem eher, als zur Erkenntniß seiner Unwissenheit gelangt, und zu allem leichter, als zum Geständnisse seiner Unfähigkeit sich überwindet; und so muß es wohl seyn, da dergleichen Versuche nicht etwa, wie ähnliche, welche überschwängliche Er‐ findungen in der Mathematik betreffen, von Anfängern und Stümpern in der Wis‐ senschaft, sondern oftmals von Männern herrühren, deren Einsichten und Kennt‐ nisse kaum argwöhnen lassen, daß sie, welches gleichwohl immer der Fall ist, den eigentlichen Fragepunkt der Aufgabe mißverstehen, oder eine Bemäntelung der Schwierigkeiten für eine wirkliche Auflösung derselben verkennen würden; wovon auf alle Weise die gegenwärtige Schrift einen Beleg abgiebt. Der eben so scharfsinnige als gelehrte Verfasser derselben bemühet sich darin das System der durchgängigen Naturnothwendigkeit aller menschlichen Kraftäußerungen, unter dem Namen des Determinismus, als das einzig richtige darzustellen, und in Ab‐ sicht der Sittlichkeit nicht nur als mit ihr verträglich zu erklären, sondern auch als ihr förderlich anzupreisen. Neue, auch nur Wendungen und Methoden, ge‐ schweige Gründe und Beweise, hierüber verlangen, hieße den Gegenstand der Bearbeitung, an welchem seit Jahrtausenden der menschliche Geist sich versucht und erschöpft hat, mißkennen. So wie daher einerseits, was die Richtigkeit die‐
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ser Lehre selbst betrifft, alles wie gewöhnlich darauf hinausläuft, daß, was nur irgend durch den äußern oder innern Sinn sich wahrnehmen läßt, in so fern es durch den Verstand begriffen werden soll, auch dem Erfordernisse des Verstan‐ des gemäß, mit Ausschließung des Ohngefährs nothwendige Bestimmung haben, und sonach der Mensch, als Naturwesen, auch unter Naturgesetzen stehen müs‐ se (ein Satz, der allerdings unwiderleglich ist, aber nur noch immer den Frage‐ punkt zurückläßt, ob denn der Mensch durchaus nur als Naturwesen anzusehen sey?); so läuft andererseits, über das Verhältniß der physischen Nothwendigkeit zu der Moralität, alles wiederum, und, gewisse logische Förmlichkeiten abge‐ rechnet, namentlich fast ganz so, wie in dem bekannten Versuche einer Sitten‐ lehre für alle Menschen, 32 auf einen Fatalismus hinaus, der den ächten Begriffen von Verpflichtung und Zurechnung weiter keinen Bestand läßt. Das wird keinen Sachkundigen befremden; aber was uns denn doch befremdet hat, ist theils die Insinuation des V[er]f[assers]. S. 8 33 »sich keine Zurückhaltung und absichtlich klügelnde Zweydeutigkeit oder Unbestimmtheit erlaubt zu haben«; theils die Zu‐ versicht, womit er in der an die Lieblinge seiner Seele, das heißt, seine werthe‐ sten Zuhörer, gerichteten Dedication »nichts mehr wünscht, als daß sie in dieser seiner Lehre alle die Beruhigung und Zufriedenheit finden möchten, die er selbst davon erfahren habe, und sie auffodert, durch ihr Beyspiel zu zeigen, daß richtig (zu verstehen, so wie er hier dargestellt ist,) gefaßter Determinismus die Sittlich‐ keit nicht aufhebe, sondern stütze.« In der That macht beides, verglichen mit dem Vortrage und Inhalt der Schrift, mit einander zum Theil einen wunderlichen Con‐ trast, und es wird gewiß wohlgethan seyn, diesen durch folgende Beleuchtung des Hauptgedankens für den Leser in näheren Augenschein zu setzen. Da näm‐ lich das Sollen ein Können, mithin das von allem, was wirklich geschieht, unab‐ hängige Sollen, ein ebenmäßig von allem, was wirklich geschieht, unabhängiges Können, oder sittliche Verbindlichkeit ursprüngliche Selbstthätigkeit voraussetzt, die nun eigentlich dasjenige ist, was man unter Freyheit zu denken hat, und doch nicht zu begreifen weiß: so sucht der V[er]f[asser]., um dieser Unbegreiflichkeit auszuweichen, umgekehrt einen Uebergang von dem Können zu dem Sollen zu finden. Nun giebt es allerdings ein Können, das auch wohl Freyheit heißt und doch ganz verständlich ist; so fern nemlich der Mensch, nicht wie die Maschine,
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Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Re‐ ligionen, nebst einem Anhange zu den Todesstrafen. Berlin 1783–1790 (vier Teile). Die an‐ onym erschienene Schrift stammt von Johann Heinrich Schulz (1739–1823), der ähnlich wie Ulrich eine deterministische Position vertrat. Kant hat den ersten Teil dieses Werks 1783 rezensiert (in: Raisonnirendes Verzeichniß neuer Bücher, No. VII, April 1783, 93–104; vgl. AA VIII, 9–14) und dabei auf vergleichbare Weise gegen den Determinismus von Schulz argumentiert wie Kraus in seiner Rezension gegen jenen von Ulrich. 33 Die Seitenzahlen in Kraus’ Text beziehen sich auf Ulrich 1788; die Seiten 16–40 dar‐ aus sind hier abgedruckt als Text 2.
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durch Stoß, oder, wie das Thier, durch Gefühl, sondern durch Gedanken wirk‐ sam ist; und so fern alle Gedanken, die dem Menschen vermittelst des inneren Sinnes, nur irgend gegenwärtig werden und zur Wahrnehmung sich anbieten mö‐ gen, in Rücksicht ihres Entstehens, Ausbleibens, Wiederkommens, der Zunahme u. Abnahme ihrer Klarheit, Lebhaftigkeit und Wirksamkeit, kurz in Rücksicht ih‐ rer Erscheinung und Abwechselung eben sowohl wie alle andere Phänomene der Sinnenwelt, sich müssen begreifen und erklären lassen. Und das ist es auch, wo‐ von der V[er]f[asser]. ausgeht, wenn er die Freyheit unter andern (S. 59.) durch die Verbesserlichkeit unserer praktischen Erkenntniß erklärt, und, bey dem Auf‐ zählen der Ursachen, wovon die Erwerbung und Entwickelung der praktischen Erkenntniß abhange, z[um]. E[xempel]. theils der Gelegenheit, des Unterrichts, der Erfahrung, theils des vorsätzlichen Nachdenkens, der vorsätzlichen Aufmerk‐ samkeit, Uebung u. s. w., in Absicht des letzteren freymüthig überall, besonders S. 62, hinzufügt: »daß alles dieß Vorsätzliche selbst wieder von tausenderley Um‐ ständen abhange, die in der gesammten Verknüpfung (der physischen Ursachen) liegen.« Dieß Geständniß erheischt freylich sein System durchaus, indem alles Psychologische, in Absicht der Erklärbarkeit, als Gegenstand der Wahrnehmung, sich an die Reihe des Mechanischen, Chemischen, Organischen anschließt, u. da‐ mit als eben so viel besondere Nebenarten, die Hauptgattung des Physischen bil‐ det. Aber nun der Uebergang von dieser Namenfreyheit, die nichts als Naturno‐ thwendigkeit ist, zu der davon ganz abgeschnittenen Moralität, oder von diesem abhängigen Können zu dem absoluten Sollen? – Der Uebergang? Ja statt den zu zeigen, worauf doch eben alles ankam, klagt der V[erfasser]. S. 17., »der Begriff des absoluten Sollens (der freylich der eigentliche Plagegeist für den empirischen Moralisten ist,) sey einer der schweresten in der ganzen Moral, dessen Untersu‐ chung er sich auf eine andere Zeit vorbehalte;« bittet S. 38. seine Zuhörer, »sich an dasjenige zu erinnern, was sie in den moralischen Vorlesungen bey der müh‐ samen Entwickelung der Idee von Pflicht über das absolute Sollen gehört haben« und wovon leider der Leser nichts weiß; feilscht und dingt die Richtigkeit seiner Lehre wenigstens auf Halbscheid, in Absicht des Zukünftigen, wenn gleich nicht in Absicht des Vergangenen, zu retten; bis am Ende die Wahrheitsliebe ihm noch, unter den Verbesserungen und Zusätzen auf der vorletzten Seite, die naive Frage ablockt: »was wäre es denn nun, wenn alles Sittliche sich zuletzt auf etwas Phy‐ sisches zurückbringen ließe?« 34 – Was es denn wäre? – Nun wohl weiter nichts, als daß es denn zuletzt gar nichts Sittliches gäbe, und mit dem Unterschiede des Physischen und Moralischen zugleich der Unterschied dessen, was ist oder ge‐ schieht, und dessen, was seyn oder geschehen soll, verschwände. Das ist ja aber 34
Es handelt sich um einen Zusatz zu Seite 67, Zeile 16 f. von Ulrich 1788, der am Ende des Buches unter der Rubrik »Druckfehler, Erläuterungen und Zusätze« (ohne Paginierung) angefügt ist.
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eben die Theorie, in Rücksicht welcher der V[erfasser]. die Lieblinge seiner See‐ le aufgefodert hat, sie durch ihren Wandel zu widerlegen. Doch wie gesagt, der V[erfasser]. thut unter andern auch Anträge auf Halbscheid. »Der Mensch soll (heißt es S. 63. 82. etc.) anders oder besser werden; auch kann er es werden; nur kein Mensch kann schon jetzt anders oder besser seyn, als er ist.« Also nur schon jetzt und bis jetzt nicht. Wie aber wenn aus dem fortfließenden Jetzt das Immer entstände, wie aus dem fortfließenden Punkt die Linie entsteht, und von jeder Stelle der zukünftigen und vergangenen Zeit das Jetzt eben so gälte, wie von je‐ der Stelle der Linie, hinauf und hinab betrachtet, der Punkt gilt? In der That wenn alles Künftige so gut dereinst gegenwärtig seyn wird, als alles Vergangene bereits gegenwärtig gewesen ist; so muß das menschliche Thun und Lassen, wenn es allemal bis Jetzt durch Nothwendigkeit bestimmt ist, auf gleiche Weise auch für alle Folgezeiten ins Unendliche hin bestimmt seyn; als welche Folgezeiten das zur Grenze der Nothwendigkeit angenommene Jetzt der Reihe nach ins Unendli‐ che hin durchwandern muß: oder wenn der V[er]f[asser]. das läugnen wollte, so müßte er behaupten, daß z. B. das Thun und Lassen der Jenenser im verfloßenen Jahr, jetzt nach dem Ende des Jahres durchaus nothwendig so, wie es war, vor dem Anfange desselben aber nicht nothwendig so, wie es war; und auf gleiche Weise alle Handlungen aller Menschen in aller Zeitfolge zwar zurück, von B nach A gesehen, unmöglich anders, aber vorwärts, von A nach B gesehen, ganz an‐ ders möglich gewesen seyn: welchem nach einerley Urtheil über einerley Sache, objectiv genommen, zugleich wahr und falsch wäre: eine Unbegreiflichkeit, die größer ist, als diejenige, welche durch Umgehung der sittlichen Freyheit vermie‐ den werden sollte, und in die nicht etwa nur der V[er]f[asser]. aus Versehen ge‐ rathen ist, sondern auf demselben Wege, trotz aller Vorsicht, jedermann unabän‐ derlicher Weise am Ende sich verwickeln muß. Und so zeigt es sich denn nach aufgehobenem Blendwerke, welches mit dem Jetzt und Schon und Einst gespielt wird, augenscheinlich, daß der Hauptgedanke des V[er]f[assers]. schlechterdings unhaltbar, und seine Schrift, trotz der Zuversicht, die er darauf gesetzt hat, nichts als ein überflüßiger Beytrag zu dem Beweise des an sich klaren Satzes ist: daß Freyheit, so wie sie der Sittlichkeit zum Grunde liegt, sich nicht begreifen lasse, und so wie sie sich begreifen läßt, nicht der Sittlichkeit zur Grundlage dienen könne; sondern vielmehr dahin abzwecke, die ganze moralische Verstandeswelt, die auf persönlicher Selbstmacht beruhet, in eine physische Sinnenwelt zu ver‐ wandeln, wo alles nach einer anderswoher bestimmten und unabänderlichen Na‐ turnothwendigkeit fortgehet, und wo (so fern (S. 90.) niemand zu dem jedesma‐ ligen Zustande seines sittlichen Werths oder Unwerths, durch seine vorsätzliche Bemühungen eigentlich etwas beygetragen hat, oder hat beytragen können,) we‐ der ein Mensch, als welcher nur Ursache, nicht Urheber ist, an seinem oder ande‐ rer Thun und Lassen, noch sogar die Gottheit, als welche in allem ihr Werk, und nur sich selbst handeln siehet, an uns insgesamt das mindeste zu tadeln finden
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kann, und wo nicht mehr von Pflichten und Verbindlichkeiten, sondern nur von Thaten und Begebenheiten, nicht mehr von Verdienst und Schuld, von Tugend und Laster, sondern nur von Glück und Unglück, Vergnügen und Leiden die Rede seyn darf: in eine Welt, in Absicht welcher nichts übrig bleibt als die schwindeln‐ de Vernunft durch die Phantasie, diese leidige Trösterin, in den wilden Traum von einer Vorsehung einwiegen zu lassen, welche an der Naturkette der nothwendi‐ gen Ursachen, unter deren Erfolgen manche kraft eines wohlthätigen Wahnes uns freye Handlungen zu seyn scheinen, alle Menschen und alle vernünftige Wesen oder Personen als lauter wirkliche Automate, die einen später, auf dem Umwe‐ ge so genannter Laster, die andern früher, auf dem Richtwege vermeyntlicher Tugend, zu einem gemeinsamen äußersten Ziele der Glückseligkeit mechanisch hinbewegt. Wie ein System dieser Art (obwohl nicht leicht ein Mann von Nach‐ denken seyn mag, dem es nicht irgend einmal durch den Kopf gegangen,) völlige Zufriedenheit gewähren könne, ist an sich sonderbar; vollends aber auf Seiten des V[er]f[assers]. befremdlich, weil er selbst eine erhebliche Bedenklichkeit da‐ gegen geäußert hat. In dem polemischen Theile nemlich seiner Schrift, der wider die Kantische Theorie der Freyheit gerichtet ist (eine Theorie, würdig eines äch‐ ten Weltweisen, der auf wissenschaftliche Gewißheit dringt, wo sie nur irgend zu haben ist, aber auch Unwissenheit redlich anerkennt, wo ihr gar nicht abgeholfen werden kann, und von welcher die ersten Grundzüge zum Eingange dieser Recen‐ sion dargelegt sind,) gesteht H[er]r. U[lrich]. gerade zu (S. 33.), daß diese Theorie unwiderleglich seyn würde, wenn man den Satz als ausgemacht zugestünde, daß die Zeit eine bloß subjective Form der Erscheinungen sey; woraus ganz klar das Bedenken hervorgeht, daß, wenn man weder diesen Satz selbst umstoßen, noch den Beweis, worauf derselbe ruhet, entkräften könnte, diese Theorie ihre Richtig‐ keit haben u. sonach die Zufriedenheit, welche das derselben entgegengesetzte System dem H[err]. U[lrich]. abgewonnen, bloße Täuschung gewesen seyn müs‐ se. Gegen diese Besorgniß kann er sich nur dadurch sichern, daß er die völlige Unstatthaftigkeit jenes Satzes oder eigentlich des dadurch ausgedrückten Gedan‐ kens einleuchtend darthue; für welches Unternehmen, wenn es ihm gelingt, ihm die Gegner sowohl als die Kenner der Kantischen Philosophie und der Urheber selbst danken würden; jene, weil sie eben dadurch ein Mittel bekämen, sich über die, wie es bisher schien, nur mittelst jenes Satzes auflöslichen Antinomien der Vernunft hinwegzusetzen, und sich mit Hofnung eines vollkommenen Sieges zu schmeicheln; diese, weil sie davon unerwartete Aufschlüsse über die menschli‐ che Erkenntniß gewönnen, dergleichen ihnen willkommener sind denn Systeme, als welche sie nur lieben, so fern ihnen dadurch unentbehrliche und erwünschte Aufschlüsse gewährt werden. Allein wider jenen Satz ist es nicht mit bloßen Ge‐ generklärungen (wie hier S. 33. »Derselbe sey, man sage was man wolle, durch alles noch nicht erwiesen, und dasjenige, was darüber so oft auch von ihm gesagt worden, noch nicht beantwortet,«) oder mit bloßen Einwendungen ausgerichtet,
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zumal, wenn letztere entweder auf eiteln Mißverstand hinauslaufen, oder nur die Erläuterung des Satzes und nicht den Satz selber treffen: von welchen beiden Arten von Einwürfen hier mehrere vorgebracht sind. So heißt es unter andern (S. 34.): »Wie will man bey Behauptung einer ursprünglichen Selbstthätigkeit des reinen Vernunftvermögens der Frage ausweichen, warum dies Vermögen bey gewissen Handlungen angewandt werde, bey andern nicht, da doch entweder ein Grund einmal der Anwendung, das andere mal der Unterlassung vorhanden seyn müsse oder nicht, und mithin im ersten Fall Nothwendigkeit, im andern Zufall, eintrete:« Denn dieser und allen ähnlichen Fragen, welche voraussetzen, man sol‐ le von der Freyheit, nicht nur daß sie wirklich, sondern auch wie sie beschaffen sey, wissen, wird ganz getreulich durch das Geständniß ausgewichen, daß man in Absicht des letztern nichts wissen könne, weil Freyheit sich nicht durch sinnliche Wahrnehmung offenbart, obgleich man von ihren Erfolgen, in so fern diese sich unserer Wahrnehmung anbieten, wie von allen andern Phänomenen, die in der Zeit erfolgen, bestimmende Gründe angeben kann, und in diesem Betracht also jener Frage nicht auszuweichen braucht. Eben so ist es mit dem andern Einwurf (S. 38.) bewandt, wo es heißt: daß von Kant selbst zugestanden werde, unsere Vernunft sey nicht ohne Hindernisse praktisch, und mithin unsere Selbstthätig‐ keit nicht ohne Hemmungen wirksam: denn diese Hemmungen und Hindernisse, welche uns durch sinnliche Wahrnehmung gegenwärtig werden, gelten wieder nur von dem, was sich überhaupt an uns sinnlich wahrnehmen, nicht aber von dem, was, einer solchen Wahrnehmung entnommen, sich bloß gedenken läßt. Und auf gleiche Weise verhält es sich mit mehreren Einwürfen, welche Erläute‐ rungen eines Begriffs verlangen, von dem im gesammten Gebiete der Erfahrung nichts ähnliches anzutreffen seyn kann, und von dessen Gegenstand, der Frey‐ heit, die speculative Philosophie (mit Verzicht auf Einsichten in die Beschaffen‐ heit desselben,) sich begnügen muß, erkennen zu können, daß derselbe weder an sich selbst noch in Verbindung mit der Naturnothwendigkeit seiner Phänomene, d. i. unserer Handlungen, widersprechend, sondern als zusammenbestehend im Menschen, nach der zwiefachen Weise seines Daseyns in der Zeitfolge und außer aller Zeitbestimmung, gedenkbar sey.
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Ueber Determinismus und moralische Freiheit Christian Wilhelm Snell (1755–1834), der Bruder von F. W. D. Snell (vgl. Text 9), studierte Theologie und Philosophie an der Universität Gießen. Ab 1784 wirkte er als Lehrer, Prorektor und Rektor am Gymnasium Idstein, ab 1817 als Direktor des Landesgymnasiums Weilburg. Snell vertrat einen entschiedenen Kantianismus, für dessen Verbreitung und besseres Verständnis er sich als Lehrer und Verfasser von Lehrbüchern zu den philosophischen Schuldisziplinen einsetzte. Daneben publizierte er seit den späten 1780er-Jahren zahlreiche Aufsätze, vor allem zu moral- und religionsphilosophischen Fragen. In der kleinen Schrift Ueber Determinismus und moralische Freiheit (1789) geht Snell von der kantischen These der Kompatibilität von hypothetischer (Natur-)Notwendigkeit und sittlicher Freiheit aus und unternimmt den Versuch zu zeigen, dass trotz der hypothetischen Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen Moralität und Zurechnung möglich sind. Zu diesem Zweck macht Snell zunächst auf den Unterschied zwischen metaphysischer und moralischer Freiheit aufmerksam. Bei der ersten handelt es sich um ein Vermögen, das ohne Notwendigkeit, d. h. zufällig und ohne zureichenden Grund, wirkt. Um diese metaphysische Freiheit drehe sich der Streit zwischen Indeterministen, die ein solches Vermögen annehmen, weil andernfalls Moralität und Zurechnung unmöglich wären, und Deterministen, die es ablehnen, auch wenn damit Moralität und Zurechnung unmöglich werden. Dagegen rückt Snell einen Begriff von Freiheit ins Zentrum, die in der Abwesenheit von äußerem Zwang bzw. in der nicht von außen eingeschränkten, willkürlichen Realisierung des inneren Strebens besteht. Diese willkürliche Ausübung der inneren Kräfte, Triebe und Neigungen ist zwar hypothetisch notwendig, sofern sie aber nur inneren Gesetzmäßigkeiten untersteht und nicht von außen eingeschränkt wird, kann sie als moralische Freiheit bezeichnet werden. Der moralischen Freiheit sind wir uns durch ein »inneres Selbstgefühl« bewusst. Dieses innere Gefühl der willkürlichen Selbsttätigkeit ist nicht nur empirischer Beleg für die Realität der moralischen Freiheit, es ist zugleich die Grundlage für die Zurechnung von Handlungen. Somit ist Moralität und Zurechnung möglich, auch wenn alle Handlungen einen zureichenden Grund haben und notwendig sind – wie die Deterministen verlangen – und obwohl metaphysische Freiheit – wie sie die Indeterministen fordern – nicht erweisbar ist. Snell, der zu Beginn vorbehaltlos den kantischen Resultaten der Kritik der reinen Vernunft zustimmt und die von ihm vorgebrachten Thesen für mit Kants Lehre vereinbar hält,
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vertritt de facto eine empiristische Konzeption von Freiheit, die in der Kombination von innerer gesetzmäßiger Notwendigkeit mit der Abwesenheit von äußerem Zwang besteht. Diese ergänzt er durch eine tugendethische Auffassung des moralisch Guten. Auf eine bloß spekulative transzendentale Freiheit glaubt er im Hinblick auf die Rechtfertigung von Moralität und moralischer Zurechnung ebenso verzichten zu können wie auf metaphysische Freiheit. Weiterführende Literatur: Sauer 1892. Siehe ebenfalls den Anhang »Ueber die Freiheit« in C. W. Snell 1790, 475–510. ♦ 3
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Die Behauptung der sogenannten Deterministen, »daß alle menschliche Entschlie‐ ßungen und Handlungen, unter den jedesmaligen Umständen und Voraussetzun‐ gen, eben so wohl, als die sinnlichen Veränderungen der Körperwelt, hypothe‐ tisch nothwendig seyen,« 35 hat, so sehr sie sich auch auf die ersten Grundgeset‐ ze unsers Verstandes stützet, von jeher viele Gegner und heftigen Widerspruch gefunden. Die Hauptursache dieses Widerspruchs war die Furcht vor gewissen, der Sittlichkeit nachtheiligen Folgen, welche aus jenem Grundsatz des Determi‐ nismus herzufließen schei nen. Was Moralität und Zurechnung des menschlichen Thuns und Lassens aufhebt, worauf wir doch durch unser inneres Gefühl so un‐ widerstehlich hingewiesen werden, das, schloß man, kann unmöglich wahr seyn. Dem tiefforschenden Kant ist es gelungen, die Möglichkeit zu zeigen, daß Nothwendigkeit und Sittlichkeit unsrer Handlungen zusammen bestehen kön‐ nen. 36 Dieser große Philosoph siehet die durch alle Weltveränderungen herr‐ schende Caussalverbindung mit Recht für Erscheinung an, welche blos in der un‐ serm Verstande eigenthümlichen Form gegründet ist, keineswegs aber den Dingen an sich selbst zukommt. Insofern nun die Veränderungen und Wirkungen unsrer eigenen Seele ebenfalls in das Feld der Phänomenenwelt gehören, insofern ste‐ hen wir auch in Ansehung aller unserer Entschließungen und Handlungen unter dem Gesetze der Caussalität, mithin sind alle unsre innere und äussere Verän‐ derungen hypothetisch nothwendig. Auf diese Naturnothwendigkeit gründet sich der sogenannte empirische Charakter des Menschen. Betrachten wir aber die Seele nach ihrem intelligiblen Charakter, 37 d. i. denken wir sie als ein Ding an sich, das nicht mehr Erscheinung, sondern von der Form der Zeit und von allen Weltveränderungen unabhängig ist; so hindert uns nichts, ihr eine über allen Ein‐ fluß der Naturveränderungen erhabene Selbstthätigkeit, oder das Vermögen ganz
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Vgl. Leibniz: Theodizee. Erster Teil, § 37 (Leibniz 1996a. Bd. 2.1, 262–265). Snell bezieht sich in diesem Absatz auf Kants Auflösung der dritten Antinomie. Vgl. besonders KrV A 538–558/B 566–586, GMS. AA IV, 455–457, KpV. AA V, 94–98. 37 Zum empirischen und intelligiblen Charakter des Subjekts vgl. KrV A 540 f./B568 f. 36
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von selbst Reihen von Veränderungen anzufangen, d. i. Freiheit in dem vollkom‐ mensten Verstande, zuzuschreiben. 38 Dem zufolge kann eine und eben dieselbe Handlung in der ersten Rücksicht völlig bestimmt und nothwendig, in der andern aber frei und moralisch genennt werden. Als ein Theil der Phänomenenwelt, und als ein Unterthan der Natur, muß ich mir es auch gefallen lassen, mich ihren Ge‐ setzen zu unterwerfen, und eingestehen, daß alle Veränderungen, die ich sowohl durch äussern Einfluß leide, als auch selbst bewirke, nicht anders erfolgen kön‐ nen, als sie wirklich geschehen. Betrachte ich mich aber als ein Wesen, welches nicht zu der Natur gehöret, und eine von ihr ganz unabhängige Selbstthätigkeit besitzt, als Gebieter über mich selbst und über die Natur; so muß ich auch mein eigenes Verhalten, nach den von mir selbst vorgeschriebenen Gesetzen, ohne alle Rücksicht auf den Einfluß natürlicher Ursachen, entweder billigen oder verdam‐ men. Dieses scheinen mir die Grundzüge der ausserordentlichen scharfsinnigen Kantischen Theorie über die Freiheit zu seyn; und mir wenigstens kommt es vor, daß kein Denker, der sie nur erst richtig verstehen gelernet hat, ihr seinen Beifall versagen wird. Indessen will ich in dem gegenwärtigen Aufsatze, ohne weitere Rücksicht auf das Kantische System, einen Versuch wagen, zu erweisen, daß aus der bedingten Nothwendigkeit unsrer Handlungen gar nichts, wodurch die Sittlichkeit derselben aufgehoben wird, folget; daß vielmehr diese nebst allem, was damit zusammen hängt, Zurechnung, Belohnung, Bestrafung u. s. f., wenn nur erst deutliche und bestimmte Be griffe zum Grunde geleget werden, mit der Naturnothwendigkeit gar wohl bestehen könne; daß also weder der Determinist durch das, was ihn sein Nachdenken über die menschliche Natur lehret, berechtiget sey, dem zu wider‐ sprechen, was das Gefühl sagt, noch auch der Gegner Befugnis habe, aus demje‐ nigen, was die Empfindung von dem moralischen Unterschiede der menschlichen Handlungen lehret, zu schließen, daß die Würkungen unsrer Seele, von dem all‐ gemeinen durch die ganze Natur gültigen Gesetze der aus der Caussalverbin‐ dung fließenden bedingten Nothwendigkeit auszunehmen seyen. – Kenner wer‐ den bald einsehen, daß ich eigentlich für solche Leser schreibe, welche sich nicht zu Kants Ideen bekennet haben; daß aber dem ungeachtet meine Gedanken der Theorie dieses großen Weltweisen so wenig zuwider sind, daß sie vielmehr gar wohl neben derselben bestehen, vielleicht wohl gar zu einiger Erläuterung der‐ selben nicht ganz unbrauchbar seyn dürften. Der Ausdruck Freiheit der menschlichen Seele scheinet mir zur Bezeichnung desjenigen, worüber die Deterministen und die Indeterministen streiten, nicht recht schicklich zu seyn, und manche Verwirrung und manche Wortgezänke ver‐ anlaßt zu haben. Ich will meine Gründe vorlegen. 38
Vgl. KrV A 532–537/B 560–565.
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Frei ist, was nicht durch fremde Einwürkung in der ihm eigenen Thätigkeit oder wenigstens in der Möglichkeit, nach eigenen Kräften und Trieben zu würken, ge‐ stöhret wird. So bin ich frei, wenn ich mein Verhalten nach eigenem Gutbefinden einrichten kann, ohne darin von jemanden abhängig zu seyn, oder ihm davon Rechenschaft geben zu dürfen; mein Arm wirkt frei, wenn ihn nichts hindert, sich nach den ihm eigenen Kräften zu bewegen; der Flügel eines Vogels ist frei, wenn seine Schwingungen durch keine Banden erschweret oder unmöglich ge‐ macht werden; die freie Luft heißt diejenige Luft, deren Würkungen auf andere Körper, durch nichts im Wege ste hendes, gestöret werden; der Baum wächst frei, wenn er in Ausbreitung seiner Aeste keinen äusserlichen Widerstand findet. – Also auch leblosen Dingen schreibt der Sprachgebrauch zuweilen Freiheit zu. Der Freiheit ist der Zwang entgegen gesetzt, welchen man in bloße Einschrän‐ kung und in den eigentlichen Zwang eintheilen kann. Die Einschränkung ist etwas blos negatives, wie, wenn z. B. der Baum in seinem freien Wachsthume durch das Beschneiden seiner Aeste, oder wenn die Luft in ihrem freien Wehen, durch Wän‐ de, Mauren und Fenster gehindert, und ihr der Eingang verwehret wird; wenn die Flügel des Vogels festgebunden, und ihm hierdurch das Fliegen erschweret, oder gar unmöglich gemacht wird; wenn, der Arm eines Menschen von einem Stärkern gehalten wird, oder auch, wenn jemand aus Achtung, aus Furcht oder sonst aus einem ähnlichen Grunde, nicht alles thun darf oder thun kann, wozu er sonst sowohl Kräfte als auch Neigung hätte. – Noch weiter geht der eigent‐ liche Zwang, welcher nicht mehr etwas blos negatives ist, sich nicht begnüget, der freien Thätigkeit eines Wesens Gränzen zu setzen, sondern dasselbe auf eine positive Art gegen seine Neigung, gegen sein Streben, nöthiget, seine Kräfte auf diese und keine andre Weise zu äussern. Der Gefangene ist durch seine Fesseln blos eingeschränkt; aber der Galee‐ rensklave, den Schläge und Mishandlungen antreiben, seine Kräfte unter den här‐ testen Arbeiten zu erschöpfen, leidet Zwang. 39 Ein Kind, so lange es die Ausbrü‐ che des Muthwillens aus Furcht vor dem Unwillen seiner Eltern oder vor der ge‐ droheten Bestrafung, zurückhält, ist blos eingeschränkt; aber so bald es aus den genannten Bewegungsgründen Handlungen verrichtet, die ihm zuwider sind, so erdultet es Zwang. – Dieser eigentliche Zwang findet nach einem etwas unei‐ gentlichen Sprachgebrauche, auch sogar bei leblosen Dingen statt. So wird der Baum durch das Abschneiden seiner obersten Aeste, gegen seine sonstige Ten‐ denz, genö thiget, d. i. gezwungen, sich desto mehr auszubreiten. Aus allen diesen Beispielen erhellet 1.) daß Einschränkung und Zwang nur da statt findet, wo Kraft und Bestreben ist, anders zu wirken. Daß z. B. der Stein in der Mauer liegen bleibt, so lange 39
Vgl. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Buch II, Kap. XXI, §8 (Leibniz 1996a. Bd. 1.1, 254 f.).
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er nicht mit Gewalt heraus gerissen wird, ist zwar nothwendig, aber weder Einschränkung noch Zwang, weil der Stein weder Kraft noch Tendenz hat, seinen Ort zu verändern, und weil es ihm so zu sagen gleichgültig ist, an welchem Orte auf der Oberfläche der Erde er sich befindet. Aber wenn die Erde in ihrem Lauf aufgehalten würde, so litte sie Einschränkung: und wür‐ de sie gar durch eine äussere Ursache z. B. durch den Stoß eines Kometen genöthiget, sich ganz aus ihrer Bahn zu bewegen, oder zurück zu gehen; so wäre das Zwang. Es folget aus dem obigen 2.) Daß Zwang und Einschränkung immer nur von äusserlichen Ursachen her‐ kommen, oder, daß kein Ding anders, als von einem Wesen ausser ihm ein‐ geschränkt und gezwungen werden könne. Alles, was aus innern, in einem Dinge selbst liegenden Ursachen kommt, kann zwar hypothetisch nothwen‐ dig, aber nicht erzwungen genennt werden. 40 Wer wird die mechanischen Lebensbewegungen, als den Umlauf des Blutes, die Verdauung des Magens u. d. gl. erzwungen nennen, da der Grund davon in der thierischen Maschine selbst zu suchen ist? – Man wende nicht ein, daß man doch von einer Be‐ zwingung der Neigungen und Leidenschaften durch die Vernunft rede, mit‐ hin, diesem Sprachgebrauche zufolge, die menschliche Seele sich zu gewis‐ sen Entschließungen und Handlungen selbst zwinge: denn in dergleichen tropischen Redensarten werden Vernunft und Leidenschaft als zwei ganz verschiedene ausser einander befindliche Wesen betrachtet; weswegen der Sprachgebrauch auch selbst den Leidenschaften ein freies Würken beileget, ver möge dessen sie die Vernunft in ihrer Thätigkeit einschränken oder wohl gar bezwingen. Aus allen diesen Betrachtungen über das Wesen der Freiheit folget: daß man der Analogie und dem Sprachgebrauch zufolge, unter Freiheit der menschlichen Seele nichts anders verstehen sollte, als diejenige Selbstherrschaft, welche sie, vermö‐ ge ihres innern Gefühles, in ihren Entschließungen und Handlungen zeiget, oder mit andern Worten: die in ihren Ueberlegungen, Entschließungen und Handlun‐ gen selbstthätige, von äusserlichen Hindernissen uneingeschränkte Kraft, wel‐ cher sich jede menschliche Seele durch ihr inneres Selbstgefühl bewußt ist. Und dieses ist es denn auch, was man gewöhnlich die moralische Freiheit * nen net, *
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Der hier angegebene Sinn des Ausdrucks moralische Freiheit ist der weitläuftigere. Im engern bedeutet er auch, im Gegensatze mit der blos sinnlichen oder thierischen Sponta‐ neität, das Vermögen, sich gegen die Antriebe der Sinnlichkeit nach Motiven der Vernunft 14 zu entschließen. 40
Vgl. Leibniz: Theodizee. Erster Teil, § 37 (Leibniz 1996a. Bd. 2.1, 262–265).
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welche, wie sich in der Folge noch deutlicher zeigen wird, von aller Spekulation ganz unabhängig ist, und sich blos auf die Empfindung gründet. Aber hiermit sind die Gegner des Determinismus noch lange nicht zufrieden. Diese verstehen unter Freiheit eine solche Unabhängigkeit der menschlichen See‐ le von allen äussern und innern Antrieben, von der Welt ausser ihr und – von sich selbst, vermöge welcher ihre Entschließungen, ungeachtet aller noch so suf‐ ficienten Ursachen und Bewegungsgründe, doch nicht nothwendig erfolgen, doch noch zufällig bleiben sollen. – Wenn man dieses Freiheit nennen will; so ist es freilich richtig, daß, insofern der Determinismus angenommen wird, Freiheit kei‐ neswegs zu retten sey. Denn eine solche Freiheit, welche, zum Unterschiede von der moralischen, die methaphysische genennt wird, und Determinismus, d. i. Anwendung des Prinzips vom zureichenden Grunde und der hieraus folgenden hypothetischen Nothwendigkeit aller Weltveränderungen, auf unsere Seelenwür‐ kungen, sind einander schnurstraks entgegen. »Also sind die menschlichen Handlungen erzwungen;« schließt der Indetermi‐ nist, wenn man ihm seine sogenannte Freiheit ableugnet, »folglich keiner Mora‐ lität und keiner Zurechnung fähig u. s. f.« Erzwungen? Aber doch nur methaphysisch erzwungen (denn das Gegentheil von methaphysischer Freiheit, wovon doch hier ganz allein die Rede ist, kann blos methaphysischer, keineswegs aber moralischer Zwang seyn). Was ist aber dieser sogenannte methaphysische Zwang anders, als hypothetische Nothwendigkeit? – also ein leeres Wortspiel! – Daß aber durch Leugnung jener indeterministischen oder metaphysischen Freiheit, Sittlichkeit und Zurechnung aufgehoben werden, ist ein mächtiger Fehlschluß, worin dasje nige als ausgemacht vorausgesetzt wird, was doch erst bewiesen werden sollte; wie aus dem folgenden deutlich erhellen wird. Wir dürfen nur den oben festgesetzten Begriff von Freiheit und Zwang vor Au‐ gen haben, um überzeugt zu werden, daß die Naturnothwendigkeit, welcher un‐ sere Seele, wie alle Dinge, die zur Welt gehören, unterworfen ist, uns keineswegs hindern könne, uns der Freiheit zu rühmen. Wenn nehmlich der Zwang, wie er‐ wiesen worden, äusserliche Hindernisse und Gegenwürkungen voraussetzet, wo‐ durch die Kraft und Tendenz eines Dinges eingeschränket oder anders gerichtet wird, mithin die Freiheit in der Entfernung solcher Gegenwürkungen, oder in der von äusserlichen Hindernissen unabhängigen Aeusserung eigener Kraft bestehet, – und wenn wir nun ferner, vermöge unsers Selbstgefühles, uns bewußt sind, daß wir den jedesmahligen Antrieben und Motiven zufolge, unsere Entschließungen selbstthätig, d. i. durch den von äußerlichen Ursachen nicht eingeschränkten Ge‐ brauch unserer Kräf te fassen; so sind wir trotz dem Gesetze der Naturnothwen‐ digkeit, dem wir, in Ansehung unserer Seelenveränderungen, eben sowohl, als in Rücksicht unserer körperlichen Zustände unterworfen sind, dennoch frei, und zwar moralisch frei. – Wer nun hiermit noch nicht genug hat, sondern zu der
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Freiheit auch noch eine von allen Gründen und Bestimmungen, die zu einer Ent‐ schließung nur immerhin verlanget werden können, unabhängige Selbstgewalt fordert – oder vielmehr, wer diese auch sogar von dem Prinzip des zureichenden Grundes unabhängige Selbstgewalt, die er sich selbst ausgedacht hat, ohne dazu berechtigt oder genöthigt zu seyn, ganz gegen den Sprachgebrauch, Freiheit, und den Mangel derselben Zwang nennet, der hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn man ihm diese Freiheit nicht zugestehen kann, ist selbst Schuld daran, wenn aus dieser Bestreitung manche der Sittlichkeit nachtheilige Folgen zu fließen schei‐ nen, – aber zum Glücke auch nur so scheinen. Wenn ein Baum, ohne äusserliche Hindernisse, gerade in die Höhe, oder wo‐ hin sonst die Natur seine Aeste treibet, wächset; so macht es zwar seine gan‐ ze Beschaffenheit und Lage nothwendig, daß er also und nicht anders wächst, aber wer wird sagen: er sey dazu gezwungen, da dasjenige fehlet, was bei jedem Zwange wesentlich ist, nehmlich ein durch äusserliche Gegenwürkungen besieg‐ ter innere Trieb! Und wenn nun meine Seele, vermöge ihrer sowohl natürlichen Anlagen als auch erworbenen Fertigkeiten, ihrer vorhergegangenen und gegen‐ wärtigen Vorstellungen und Empfindungen, kurz, vermöge ihres ganzen indivi‐ duellen Zustandes, diesen und keinen andern Entschluß fasset; so mag dieses unter den gegenwärtigen Umständen so unausbleiblich, so nothwendig seyn, als es will, Zwang ist es doch nicht. Ich handle frei, indem ich, vermittelst des un‐ gestörten Gebrauches meiner Kräfte, meinen willkührlich gefaßten Entschließun‐ gen, meinen Trieben und Neigungen gemäs, nothwendig also und nicht anders handle. Freilich hängt die menschliche Seele, in Ansehung ihrer Vorstellungen, Emp‐ findungen und Neigungen, als der Gründe ihrer Entschließungen und Handlun‐ gen, von ihren äusseren Umständen ab. Das ist ihre Bestimmung in dieser Welt, daß sie, durch Empfindungen und Wahrnehmungen von aussen, ihre Kräfte zu üben und zu entwickeln veranlaßt und durch Erfahrung immer mehr ausgebil‐ det werde. Das Vermögen zu Vorstellungen und Gedanken liegt zwar in ihr, aber nicht der Stoff dazu: diesen muß sie ausser sich suchen. Allerdings hängt es al‐ so zwar von Erziehung, Unterricht und der ganzen vorhergegangenen und ge‐ genwärtigen Lage des Menschen ab, welche Ideen, Empfindungen und Triebe bei ihm die herrschenden sind, und seinen Entschluß in den meisten Fällen bestim‐ men: aber Zwang ist dieses nimmermehr. Der Baum (ich komme immer wieder auf mein Gleichniß zurück), welcher von der ersten Entwickelung seines Keimes an, des Einflußes der Säfte, die er aus der Erde erhält, der Luft, der Witterung, Wärme u. s. w. zu seinem Wachsthume nöthig hat, und dadurch in Ansehung sei‐ ner Größe, Stärke, Fruchtbarkeit u. d. gl. bestimmet wird, würde nur dann ge‐ zwungen seyn, also und nicht anders zu wachsen, wann in ihm eine von allen diesen äusserlichen Einflüssen unabhängige strebende Kraft läge, sich selbst und allein, ohne alle Mitwürkung jener äusserlichen Einflüsse, zu entwickeln, eine
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Tendenz, welche aber nun durch die Beschaffenheit des Bodens, der Witterung u. d. gl. überwältigt und ganz anders gerichtet wurde. Da es nun aber hieran feh‐ let; so fehlet es auch an dem, was bei dem Begriffe des Zwanges das Wesentliche ist. Also könnte auch nur in dem Falle, wenn die menschliche Seele ein Streben und eine Kraft hätte, sich ganz von selbst ohne äussere Eindrücke zu entwickeln, oder durch Entschließungen und Handlungen sich thätig zu beweisen, welche aber nun durch die äusseren Umstände eine ganz andre Richtung erhielte – nur in diesem Falle und unter dieser Bedingung könnte gesagt werden, daß die Seele durch Erziehung und äussere Lage Zwang leide. Nur dann, wenn wir uns durch Furcht, durch Drohungen u. d. gl. gegen unsere Neigung zu Handlungen getrie‐ ben fühlen, können wir uns über Zwang beklagen: denn hier findet sich ja al‐ les, was zu dem Zwange als wesentlich erfordert wird, nehmlich inneres Streben, welches durch äussere Gegenwürkungen unterdrückt und anders gerichtet wird. Wenn wir, bei der gegenwärtigen Einrichtung unsrer Natur und bei unsrer jetzi‐ gen Lage in der Welt, deswegen Ursache hätten, uns über Zwang zu beschwe‐ ren, weil die in uns liegenden Kräfte näherer oder entfernterer äusserer Antriebe genöthiget 41 sind, durch welche sie bestimmet werden, sich also und nicht an‐ ders durch Handlungen zu äussern; würden wir denn wohl zufrieden seyn, wenn der Schöpfer ursprünglich solche Kräfte und Triebfedern in unsere Seele geleget hätte, daß sie sich selbst ohne alle Beihülfe äusserer Eindrücke, Empfindungen und Erfahrungen entwickelte, und thätig bewiese? »Warum hat mich Gott ge‐ rade so geschaffen,« würde es alsdann doch wieder heißen, – »warum meiner Seele diese Triebe, diese Kräfte und dieses Verhältniß derselben, kurz, diese gan‐ ze innere Einrichtung gegeben, vermöge welcher gerade diese Entschließungen und Handlungen nothwendig, folglich erzwungen werden?« – Also doch wieder Zwang, nach der einmal unrichtig gefaßten Bedeutung dieses Wortes, vermöge welcher man innere Nothwendigkeit und Zwang für einerlei hält; – und mithin auch hier keine Moralität und Zurechnung! – Ich glaube durch diese Betrachtungen erwiesen zu haben, daß in der Streitig‐ keit der Deterministen und Indeterministen dasjenige, worüber eigentlich gestrit‐ ten wird, nehmlich eine durch alle vorhandene, sowohl innerliche als äusserliche Antriebe und Bewegungsgründe doch nicht nothwendig bestimmte Würksamkeit der Seele, nicht recht schicklich methaphysische Freiheit genennet wird. Denn wenn man dem Indeterministen diese willkührlich und dem Sprach gebrauch zum Trotz so benannte Freiheit nicht zugestehen will; so schließt er ganz natür‐ lich: also ist alles, was wir wollen und thun, bloßer Zwang! Ein verhaßter Aus‐ druck, der zwar im Grunde nichts mehr und nichts weniger sagt, als, alle unsre Handlungen erfolgen hypothetisch nothwendig: aber wäre es nicht besser, wenn man dieser Zweideutigkeit dadurch auszuweichen suchte, daß man den Namen 41
Korrigiert aus: »benöthiget«.
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der Freiheit blos in dem moralischen, nicht aber in dem metaphysischen Sinne gebraucht? – Unsere Handlungen sind zwar hypothetisch nothwendig, aber nicht erzwungen. »Wie können aber die menschlichen Handlungen moralisch, wie der Zu‐ rechnung fähig seyn, wenn sie nothwendig also erfolgen müssen? Heben nicht Nothwendigkeit und Moralität einander auf? Was moralisch seyn soll, muß zufäl‐ lig, muß frei seyn.« Durch diese und ähnliche Einwürfe glauben die Indeterministen die Sache kurz und gut abzuthun, und ihre Gegner zu nöthigen, ihnen entweder ihre absolute Zufälligkeit der menschlichen Handlungen zuzugeben, oder auf alle Moralität Verzicht zu thun: aber vor allen Dingen genau zu bestimmen, worinn denn das innere Wesen der Moralität bestehe, daran wird nicht immer gedacht. Es ist über‐ haupt nichts gewöhnlicher, als völlig unbestimmtes und schwankendes Räson‐ nement über Moralität, moralische Gesinnungen und Handlungen u. d. gl., wo‐ durch man am Ende beweisen kann, was man nur immer will. – So bald man diese Begriffe sorgfältig entwickelt; so entdeckt es sich, daß es ein Irrthum sey, wenn man glaubet, die Moralität setze jene sogenannte metaphysische Freiheit voraus, und daß dasjenige, was uns unser nachdenkender Verstand über die be‐ dingte Nothwendigkeit des menschlichen Thuns und Lassens lehret, die Sittlich‐ keit keinesweges aufhebe. Dies ist es, was ich nun zu erweisen habe. Moralisch im weitläuftigsten Verstande ist alles, was mit Willkühr verrichtet wird: was hingegen ohne Willkühr, entweder ohne alles klare Bewustseyn, oder gar wi der Willen und gezwungen geschiehet, ist keiner Moralität fähig. Daß aber und wann wir willkührlich handeln, lehret uns das innere Gefühl: und was ist dieses Gefühl der Willkühr anders, als Gefühl der wählenden Selbstthätigkeit, bei mehrern entgegengesetzten Antrieben? * – Hierdurch ist nun freilich das innere Wesen dieses Gefühles noch nicht erkläret: aber wer ist im Stande von einem einzigen Gefühle mit Worten eine völlig deutliche Erklärung zu geben? Uns ist *
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Es ist gar nicht zu loben, daß manche philosophische Schriftsteller mit dem Aus‐ drucke des Willkürlichen blos das Gegentheil des Nothwendigen, oder das Zufällige be‐ zeichnen. Nothwendig ist, dessen Nichtseyn widersprechend, unmöglich ist; zufällig, was auch anders seyn könnte, (aber alles nur in Rücksicht auf Vorstellungsart und Begriffe un‐ sers Verstandes) daß der volle Mond rund ist, ist etwas nothwendiges, weil es ein logischer Widerspruch seyn würde, den vollen Mond gehörnt zu denken. Daß er aber von einem Hofe umgeben sey, ist zufällig, weil der volle Mond bleibt, was er ist, er mag einen Hof haben oder nicht. Daß die Würkung erfolge so bald die Ursache gesetzt ist (z. B. daß der Boden naß werde, wenn es regnet) ist noth wendig: ohne die Ursache aber (den Regen) ist die 26 Würkung (die Nässe) etwas zufälliges, d. i. ich kann mir den Erdboden trocken oder naß denken, wie ich will. Und weil es also von eigener Willkühr abhänget, das Zufällige in Gedanken zu setzen, oder nicht zu setzen; so wird sehr uneigentlich das Zufällige selbst, als etwas objektives, willkührlich genennt. Eigentlich aber beruhet Willkühr, als etwas sub‐ jecktives, blos auf dem Selbstgefühle, mithin sollte man nur Zustand und Handlungen der Menschen, nicht äussere Dinge, willkührlich nennen.
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es genug zu wissen, daß Willkühr und Selbstthätigkeit nebst der darauf beru‐ henden Moralität blos Sache der Empfindung, und keinesweges Sache der Spe‐ kulation sind. Ist aber dieses; so kann Willkühr und Moralität durch Gründe des Verstandes eben so wenig wegdemonstrirt, als die bedingte Nothwendigkeit aller menschlichen Handlungen durch jenes Gefühl von Selbstthätigkeit aufgehoben werden. Es ist doch schlechterdings nicht zu erweisen, daß dieses so tief in der menschlichen Natur liegende Gefühl der Willkühr jene absolute durch alle mög‐ liche Gründe nicht bestimmte Zufälligkeit unserer Handlungen, welche den Na‐ men der metaphysischen Freiheit führet, voraussetze, oder, daß die hypothetische Nothwendigkeit, vermöge welcher alle unsre Entschliessungen und Handlungen, nach unsrer jedesmaligen ganzen äusserlichen und innern Lage, gar nicht an‐ ders erfolgen können, als sie würklich erfolgen, von dem Gefühle der wählenden Selbstthätigkeit nicht begleitet werden können. »Auf diese Art täuschet diese Empfindung?« Nein! Empfindung, als Empfindung, täuschet niemals. Ich sage: als Empfin‐ dung: denn so oft wir empfinden, ist nichts gewisser, als daß wir uns unsers Zu‐ standes auf die Art, wie wir empfinden, würklich be wußt sind. So bald aber der Verstand schließet, daß bei der Empfindung (diesem Subjektiven in uns) dieses oder jenes Objekt ausser uns zum Grunde liege; so sind wir der Täuschung aus‐ gesetzt: es ist aber in diesem Falle nicht mehr die Empfindung, welche täuschet, sondern der Verstand, welcher aus der Empfindung Schlüsse und Folgerungen zie‐ het. Wenn eine schnell im Kreise herumbewegte glühende Kohle für mein Gesicht ein glühender Ring ist; so ist das ganz und gar keine Täuschung, sondern Wahr‐ heit, aber nur Wahrheit für mein Gesicht. Wenn ich nun aber hieraus schließe, daß er für den Sinn des Gefühles eben das seyn müsse, nehmlich ein dichter feuriger Ring; so irre ich. Was ist es aber, was mich hier betriegt? Gewiß nicht die Gesichts‐ empfindung, sondern ein übereilt schliessender Verstand. Der Kranke, dem alle Speisen bitter schmecken, wird nicht durch seinen Geschmack betrogen, (denn die Speisen sind für ihn würklich bitter) sondern er betriegt sich selbst, wenn er glaubet, der Gesunde werde bei dem Genuße derselben den Mund eben so wie er verziehen. Selbst der Schwärmer, der sich rühmet, daß er Erscheinungen sehe und Entzückungen fühle, hat vollkommen Recht, so lange er blos beschreibet, was er empfindet: aber wenn er sich nun überredet, daß seine Erscheinungen etwas objektives zum Grunde haben, und daß seine Entzückungen von höhern Geistern, oder gar von der Gottheit gewürkt werden, so irrt er. Dieses ist gar nichts neues, wenigstens in Ansehung der äussern Sinne: denn daß nicht diese, oder die ver‐ mittelst dieser erhaltenen Empfindungen, sondern der aus denselben allzurasch schliessende Verstand zum öftern triege, ist ein längst bekannter Grundsatz. Und was hindert uns, ihn auch auf die innere Empfindung, auf das Selbstgefühl an‐ zuwenden? Es folgt daraus ganz unwidersprechlich, daß, wenn wir uns willkühr‐ lich, selbstwählend fühlen, oder, welches eben dasselbe ist, wenn wir uns, ver‐
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möge des innern Sinnes, bei entgegen gesetzten Antrieben, einer Selbstherr schaft über uns und unsre Entschließungen bewußt sind, wir auch diese Willkühr, diese Selbstherrschaft würklich besitzen. Nur hüte man sich, hieraus zu schließen, daß nun auch unsre willkührlichen Entschließungen und Handlungen nicht unter dem Gesetze der Naturnothwendigkeit stehen, oder daß sie methaphysisch frei sind. Dieser Schluß ist und bleibt so lange unphilosophisch, als man nicht erwiesen hat (und wann wird man dieses zu erweisen im Stande seyn?) daß die Seele nicht zu einer und eben derselben Zeit unter dem Gesetze der Naturnothwendigkeit stehen, und sich vermittelst des innern Gefühles doch auch einer willkührlichen Selbstthätigkeit bewußt seyn könne. »Aber fühlen wir denn nicht, daß unsre willkührlichen Handlungen nicht un‐ ter dem Gesetze der Naturnothwendigkeit stehen?« Nein! das ist nicht möglich. Wie könnet ihr fühlen, daß nur Entschließun‐ gen und Handlungen, ihr möget euch dabei so selbstthätig fühlen, als ihr wollet, nicht durch theils in euch selbst, theils ausser euch liegende Ursachen, deren ihr euch aber vielleicht ganz und gar nicht bewußt seyd, nothwendig gemacht werden? Was ihr fühlet und irrig für Empfindung eurer metaphysischen Freiheit haltet, ist nichts anders, und kann nichts anders seyn, als eben die willkührliche Selbstherrschaft, welche aber, wie gesagt, die Nothwendigkeit gar nicht aufhebt, sondern neben derselben recht wohl bestehen kann. – Es ist also, wie ich oben behauptet habe, die moralische Freiheit, oder die willkührliche Selbstherrschaft, deren wir uns bei unsern Entschließungen bewußt sind, von der sogenannten metaphysischen Freiheit und von aller Spekulation ganz unabhängig. Gleich wie der allgemeine sinnliche Schein, d. i. Ideen und Urtheile der Sinne, worin Regel und Einheit ist, und welche bei allen Menschen im natürlichen und gewöhnli‐ chen Zustande eben dieselben sind, das wahre, für uns Menschen wahre Seyn der sinnlichen Gegenstände ausmacht; *42 so enthält auch dieses in allen Men‐ schen liegende Gefühl von willkührlicher Selbstthätigkeit für uns unwidersprech‐ liche Wahrheit, und ist der einzige und sicherste Masstaab unsrer moralischen Natur. Wir besitzen Willkühr, Selbstherrschaft (mithin auch moralische Freiheit, wovon die Sittlichkeit unsrer Handlungen abhängt) weil wir uns alle willkührlich und selbstherrschend fühlen. Gleichwie aber die feinste und kühnste Spekula‐ tion dieses Gefühl von Willkühr, und die darauf beruhende moralische Freiheit *
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S. Platners philos. Aphor. I. Th. §. 787. neue Ausgabe.
Vermutlich meint Snell § 798: »Demnach ist für den Menschen der allgemeine sinnli‐ che Schein, welcher verbunden ist mit der natürlichsten Stellung der Gegenstände, und mit der natürlichsten Beschaffenheit der Sinnen, der wahre Maaßstab des sinnlichen Erkenntis‐ ses, und das wahre Seyn der Dinge selbst.« (Ernst Platner: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte. Erster Theil. Neue durchaus umgear‐ beitete Ausgabe. Leipzig, im Schwickertschen Verlage, 1784, 251 f.)
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und Sittlichkeit der Handlungen nie wegräsonniren wird, also folget auch aus diesem Gefühle gar nichts, das uns nöthigen oder nur berechtigen sollte, von je‐ nem durch die ganze Welt gültigen Gesetze, daß jede Würkung eine hinreichende Ursache voraussetze, und sobald diese vorhanden ist, jene ganz unausbleiblich und nothwendig erfolgen müsse, bei unsern willkührlichen Seelenveränderungen eine Ausnahme zu machen. Daß also mit dem von dem Verstande auch in Ansehung aller unsrer Seelen‐ würkun gen als gültig anerkannten Gesetze der Nothwendigkeit, Willkühr und Moralität bestehen könne und würklich bestehe, lehret die Erfahrung: wie aber Willkühr und Nothwendigkeit vereiniget sey, ist für die Spekulation freilich ein Geheimniß, und wird es auch bleiben, bis einmal das innere Wesen aller unsrer Empfindungen, und nahmentlich unseres innern Selbstgefühles kein Geheimniß mehr für uns seyn wird. – Willkühr und Moralität findet sich in desto größerem Maaße, je mehr Theil an unsern Entschließungen die obere Kraft der Seele, die Vernunft, hat, je deutlicher wir uns die Gründe für und wider denken, je reiflicher wir überlegen, was je‐ desmal das Beste, was Pflicht sey: weswegen denn auch dasjenige, was wir, ver‐ möge des in unserer Vernunft liegenden ewigen Tugendgesetzes, aus Pflicht thun oder unterlassen, moralisch in der engern Bedeutung genennet wird; denn in der That finden wir vermittelst unsers eignen Selbstgefühles, daß der höchste Grad der willkührli chen Selbstherrschaft mit der Ausübung unsrer Pflichten verbun‐ den sey. – Je weniger wir aber mit Ueberlegung und vernünftigem Nachdenken handeln, je mehr wir durch sinnliche Antriebe, durch Gefühle, Begierden, Lei‐ denschaften, Gewohnheiten und Beispiele u. d. gl. m. uns bestimmen lassen, de‐ stoweniger finden wir uns willkührlich, und desto weniger Moralität haben mit‐ hin auch unsere Handlungen. – Ueberhaupt findet sich unter den menschlichen Handlungen, nach Masgabe des in Ansehung seiner Stärke so sehr verschiedenen Willkührgefühles, auch in Rücksicht auf die Moralität ein unaussprechlich großer Unterschied in unzähligen Abstufungen. Es findet sogar bei äusserlichem physi‐ schen Zwange (wo dieser nehmlich nur nicht unmittelbar körperliche Ueberwäl‐ tigung ist) oft noch einige Moralität statt. Die Arbeit des Sklaven wird durch die Furcht vor Schlägen und ähnlichen Gewaltthätigkeiten freilich erzwungen: aber indem er die Mühseligkeiten der härtesten Arbeiten übernimmt, um den noch unerträg lichern Mishandlungen zu entgehen, handelt er da nicht willkührlich? Ist er nicht immer noch ein besserer Mensch, als der thierisch Träge, der sich aus Dummheit und Unempfindlichkeit zum Krüppel oder gar zu Tode prügeln lässet? Und was ist nun moralisch gut und moralisch böse? Das Erstere bestehet, wie sich aus dem bisher gesagten leicht einsehen lässet, in dem willkührlichen Wäh‐ len dessen, was würklich gut, was Pflicht ist. Es ist etwas desto besser (an und für sich, physisch betrachtet) je mehr es zu meiner wahren (nicht blos äusserli‐ chen oder sinnlichen) Glückseligkeit, mithin auch zu der mit der meinigen unzer‐
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trennlich verknüpften Glückseligkeit und Vollkommenheit anderer beiträgt: de‐ sto moralisch besser aber, je willkührlicher, mit je größerer Selbstherrschaft ich es verrichte. – Man unterscheide also an moralischen Gegenständen eine drei‐ fache Gattung des Guten. Die erste wird bestimmt durch das Maas, in welchem eine Entschlie ßung oder Handlung zu meiner wahren Glückseligkeit und Voll‐ kommenheit beiträgt. Dieses ist mehr physische Güte. Die zweite wird bestimmt durch den Grad der Willkühr und Selbstthätigkeit, wovon sie begleitet wird: und hierin bestehet das Wesen der Moralität. Es kann eine Handlung in Ansehung ihrer physisch guten Folgen und Würkungen einen großen, in Ansehung ihrer moralischen Güte einen desto geringern Werth haben. Ein Fürst, welcher nicht gewohnt ist, etwas abzuschlagen, um was er persönlich gebeten wird, macht ei‐ ner nothleidenden Familie ein so ansehnliches Geschenk, daß sie sich dadurch auf immer gerettet siehet. Die Folge ist vortreflich; aber der Geber dachte nicht daran, hatte nicht dieses physische Gute, noch vielweniger die Vollbringung sei‐ ner Pflicht zur Vollbringung seiner Absicht: er gab blos aus Gewohnheit, aus na‐ türlicher Weichherzigkeit, mithin war das, was er etwa zur Absicht hatte, nicht das Bewußtseyn, einer dürftigen Familie aufgeholfen zu haben, sondern sich von dem Anblicke des flehenden Elendes zu befreien. Von diesen beiden Gattungen des Guten ist noch zu unterscheiden die Güte des ganzen sittlichen Charakters, die in der herrschenden Neigung zu guten Handlungen, und überhaupt in demje‐ nigen Verhältniß unserer Seelenkräfte bestehet, welches uns geschickt und ge‐ neigt macht, gut zu handeln. Und in sofern eine Handlung von dieser Güte des Charakters ein Beweis ist, kommt ihr die dritte Gattung der moralischen Güte zu. Du bezeugest, auf Verlangen deiner Vorgesetzten, vor Gericht die Wahrheit zu deinem eigenen großen Nachtheil, weil du dir es zum Gesetze gemacht hast, der Redlichkeit und Wahrhaftigkeit alles aufzuopfern: du thust es ohne sonderliche Selbstbesiegung, ohne dich erst noch zu besinnen, ob du es thun sollst, auf ei‐ ne beinah mechanische Art. Ich thue im gleichen Falle eben dasselbe, aber erst nach langem Ueberlegen, nach einem harten Kampfe gegen mich selbst, folglich mit dem vollen Gefühle meiner willkührlichen Selbstherrschaft mitten unter entgegengesetzten Antrieben. Ich handle also würklich selbstthätiger, folglich eigent‐ lich moralisch besser: du aber bist ein weit besserer Mensch, und zwar eben des‐ wegen, weil du so etwas mit solcher Leichtigkeit thun konntest, welche beweiset, daß die Antriebe zu allem dem, was du für deine Pflicht erkennest, die Antriebe zum Gegentheile in so seltenem Grade überwiegen. Was moralisch böse sey, ergiebt sich nun von selbst. Es bestehet nehmlich solches in dem willkührlichen Wählen des geringern Gutes anstatt des größern, oder in willkührlicher Übertretung einer Pflicht; denn in jedem Falle das größere und allgemeinere Gut dem geringern und eingeschränktern Gute vorzuziehen, ist ja Pflicht. Daß willkührliches Wählen des geringern Gutes Kenntniß des größern und der Motive zu demselben voraussetze, darf kaum erinnert werden: denn, wie
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läßt sich Willkühr ohne das Gefühl der Antriebe für und wider denken? Uebrigens kann alles, was von den verschiedenen Gattungen des Guten gesagt worden, oh‐ ne Mühe auch auf das moralisch böse angewendet werden. Nicht blos einzelne Entschließungen und Handlungen, sondern auch Zustän‐ de, Fertigkeiten, Gewohnheiten (in sofern man sich willkührlich in dieselben ver‐ setzet hat, oder willkührlich darin beharret) sind dieser Moralität fähig. Einzelne Handlungen, welche dann aus einem solchen Zustande erfolgen, sind oft im ge‐ ringern Grade moralisch, aber jener, als die Quelle, kann es in desto größerem Maaße seyn. Ein in der Trunkenheit verübtes Verbrechen ist zwar an sich um so viel weniger sittlich, als die Trunkenheit das Geschäft einer vernünftigen Wahl stöhret und erschweret: allein die Sittlichkeit der Trunkenheit selbst, wenn ich mich mit gutem Vorbedachte, mit dem Bewußtseyn der Motive zum Gegentheile, also willkührlich in dieselbe versetzet habe, theilet den einzelnen Handlungen, wovon sie die Quelle ist, gleichsam so viel Moralität mit, als diesen an und für sich daran abgehet. Wenn ich eine schädliche und unrechtmäßige Handlung ver‐ richte, indem ich die Bewegungsgründe, welche mich davon würden zurückge‐ halten haben, nicht weiß; so hat freilich bei dieser Handlung, selbst in sofern, kein Gefühl der innern willkührlichen Selbstthätigkeit, folglich keine innere Mo‐ ralität statt. Wenn ich aber willkührlich in dieser schädlichen Unwissenheit be‐ harrte, d. i. mit Wissen und Willen dasjenige that und mich derjenigen Unterlas‐ sungen schuldig machte, welche Ursachen dieser Unwissenheit oder der Fortdau‐ er derselben waren, und zwar so, daß ich die traurigen Folgen davon voraussah, ohne mich dadurch bewegen zu lassen, mich besser zu unterrichten; so erhält hierdurch alles, was in dieser sogenannten überwindlichen Unwissenheit verübet worden, Sittlichkeit. Eben dieses gilt von Fertigkeiten, herrschenden Neigungen u. s. f. Wem die Tugend zur andern Natur, zur Gewohnheit geworden ist, bei dem werden, wie schon erinnert worden, die einzelnen Ausübungen der Pflichten we‐ niger mit dem Gefühle der durch lange Uebung des Guten geschwächten Antriebe zum Gegentheile verbunden, weniger von willkührlicher Thätigkeit der Vernunft begleitet, also auch weniger moralisch seyn, als bei dem Anfänger im Guten, dem jede einzelne Ausübung der Tugend einen fühlbaren innern Kampf kostet. Aber jene glückliche Fertigkeit selbst, – welche oft wiederholte willkührliche Uebung und Anstrengung der Vernunft, welche durch die härtesten Selbstverleugnungen nach und nach erlangte Herrschaft über die Antriebe der Sinnlichkeit setzt sie voraus! Und dieses ist es, was ihren eignen sittlichen Werth ausmacht, und auch allen aus derselben fließenden edlen und guten Handlungen, hohen sittlichen Werth ertheilet. Ob nun die Zurechnung mit der Nothwendigkeit der menschlichen Handlun‐ gen bestehen könne oder nicht, wird sich nunmehr leicht ausmachen lassen. Ich rechne mir selbst eine verrichtete Handlung zu, wenn ich sie für mein Eigenthum erkenne, d. i. wenn ich mir bewußt bin, daß ich mich bei derselben willkührlich,
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moralisch frei füh lete. Was physisch erzwungen worden, wo ich also den An‐ trieben zum Gegentheile nicht folgen konnte, desgleichen solche Handlungen, bei deren Verrichtung ich mir keiner Motive zur Unterlaßung oder zum Gegentheile bewußt war, sind keiner Imputation fähig. »Also gehören sie mir auch nicht zu?« Nein! nicht meinem Selbst, meinem vernünftigen Ich. Wie viel Antheil dieses an einer Entschließung oder Handlung habe, wodurch soll dieses anders bestimmt werden, als durch das Maaß des Gefühles von selbstthätiger Willkühr, womit jene gefaßt und diese verrichtet worden ist? Wenn ich ganz ohne Vorsatz und Wissen meinem Freunde das Leben raube; so bin Ich es nicht eigentlich, der ihn entleibet: denn dadurch, daß etwas durch die Glieder meines Körpers bewürket wird, ohne daß meine Vernunft und mein Wille daran Theil hat, wird es noch lange nicht ei‐ ne mir zugehörige Handlung. So auch, wenn eine wohlschmeckende, aber giftige Frucht mich zum Genusse einladet, und ich folge meiner sinnlichen Begierde, oh‐ ne die schäd lichen Würkungen der Frucht zu kennen; so werden mich dieselben zwar allerdings treffen, werden mir vielleicht gar das Leben rauben, aber ich darf sie mir nicht zurechnen. Hätte ich sie gewußt, als Bewegungsgründe, diese Spei‐ se zu fliehen, gekannt, und diese doch genossen, mithin die schädlichen Folgen davon willkührlich genehmiget; so hätte ich mir sie allerdings zuzueignen, zu im‐ putiren: oder hätte ich sie wissen können und wissen sollen; so habe ich mir sie wenigstens in dem Maaße zuzuschreiben, in welchem ich willkührlich und mit Geringschätzung der Motive, die mich dazu hätten antreiben sollen, versäumte, mich bei Zeiten besser zu unterrichten. Und so kann ich mir die guten oder bö‐ sen Würkungen und Folgen meiner Entschließungen und Handlungen, nur in dem Grade imputiren, in welchem ich mir dieser Folgen unter den Gründen für oder wider bewußt war, oder doch hätte bewußt seyn sollen; wobei denn freilich man‐ cher Irrthum mit unterlaufen muß, indem theils Eigenliebe, theils allzuängstliche Gewissenhaf tigkeit den eine Entschließung oder Handlung begleitenden Grad die‐ ses Bewußtseyns der Motive und der Willkühr oft gar unrichtig bestimmen. Was ist nun die göttliche Zurechnung? Gewiß nichts anders, als Gottes Urtheil, daß der Mensch etwas mit Kenntniß und Abwägung der Bewegungsgründe, mit moralischer Freiheit gethan, daß er sich der Folgen davon bewußt gewesen, und sie entweder zur Absicht gehabt, oder wenigstens genehmiget und gebilliget ha‐ be u. s. f., wovon aber alles Empfindungsartige, z. B. menschliche Zuneigung oder Verabscheuung, welche bei Sterblichen mit der Zurechnung gewöhnlich verbun‐ den ist, muß abgesondert werden. Da der Allwissende den Gemüthszustand eines jeden Sterblichen in jedem Augenblicke auf das allervollkommenste kennet und am besten weiß, mit welchem Maaße der selbstthätigen Willkühr er entweder einzelne Handlungen verrichtet, oder Gemüthslagen, herrschende Neigungen u. d. gl. veranlasset, seine Unwissenheit verschuldet habe u. s. f.; so erhellet, daß Gott in dieser Zurechnung nicht dem geringsten Irrthum ausgesetzt sey. Desto leichter aber können Menschen irren, wenn sie andern ihre Handlungen oder Un‐
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terlassungen zurechnen. Denn da wir nie zuverläßig bestimmen können, oft nur aus unserer eigenen Empfindung und Gemüthslage muthmaßen müssen, mit wel‐ chen Kenntnissen unsere Nebenmenschen versehen gewesen, in welchem Seelen‐ zustande sie sich befunden, als sie sich entschlossen und handelten u. s. w.; so läßt sich leicht begreifen, wie unzuverläßig und irrig in den meisten Fällen unsere Urtheile über das Maaß der willkührlichen Wahl, welche die Handlungen anderer begleitet haben, oder über die Sittlichkeit dieser ihrer Handlungen, nothwendig ausfallen müssen. Wenn nun die Zurechnung einer Handlung nichts anders ist, als das Urtheil über das Maaß der Willkühr oder moralischen Freiheit, womit sie verrichtet wor‐ den, und wodurch sie eigentlich unser Eigenthum wird; so ist klar, daß, da diese, nehmlich Willkühr und Freiheit, wie hinlänglich erwiesen worden, auch durch die bestimmteste Nothwendigkeit des menschlichen Thuns und Lassens nicht im geringsten aufgehoben wird, indem sie sich blos auf unser inneres Selbstgefühl gründet, auch bei der Imputation die metaphysische Freiheit eben so wenig in Be‐ trachtung kommen könne. Was wir willkührlich thaten ist unser Eigenthum, und muß uns zugeschrieben werden, eben darum, weil wir es willkührlich thaten; es mag solches nach den Umständen nothwendig, oder bei allen noch so hinläng‐ lichen Ursachen doch noch zufällig gewesen seyn: hierauf kommt ganz und gar nichts an. Und daß aus dem so tief in unsere Seele gepflanzten sittlichen Gefühle, oder aus der uns so natürlichen Achtung und Liebe gegen den Tugendhaften und Verabscheuung des Lasterhaften, eben so wenig gegen die Naturnothwendigkeit unsrer willkührlichen Handlungen folge, als aus der Zurechnung, wird nun ohne weitere Erklärung von selbst einleuchten. »Aber wie kann ich Reue über mein Verhalten empfinden, wenn jede meiner Handlungen unter Voraussetzung aller sie begleitenden Umstände, so erfolgen mußte, wie sie erfolgte?« Laßt uns auch diesen Einwurf, welcher allerdings etwas scheinbares hat, so genau als möglich beleuchten. – Die Reue ist die schmerzhafte Empfindung, wel‐ che aus dem Urtheile, daß ich das Böse statt des Guten gewählet habe, entste‐ het. Wenn wir dieselbe in die einzelnen Gefühle zergliedern, woraus sie zusam‐ men gesetzet ist; so finden wir 1.) das unangenehme Gefühl der aus der bö‐ sen Handlung fliessenden bösen und schädlichen Folgen, oder wenigstens die Furcht vor denselben; ein Gefühl, welches sich aber auch dann einstellet, wenn ich mich nicht als moralischen Urheber dieser mich treffenden schädlichen Fol‐ gen betrachten darf, z. B. wo ich aus unvermeidlicher Unwissenheit gehandelt habe. Hierzu kommt bei der Reue 2.) ein gewisses niederschlagendes Gefühl aus der Vorstellung der Schwäche und Unvollkommenheit meiner Vernunft, welche in Abwägung der Gründe für und wider die Handlung sich eines solchen Ver‐ sehens schuldig machen konnte, und auch noch in Zukunft ähnliche Fehler be‐ gehen wird; ungefähr so, wie man sich über die Fehler betrübet, die man aus
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Gedächtnißschwäche, oder wegen eines schwachen Gesichtes u. d. gl. begangen hat, und auch noch ins künftige zu begehen fürchten muß. Allein dasjenige, was eigentlich die Reue charakterisiret, ist ein gewisser Unwill über mich selbst, als den moralischen Urheber einer bösen und schädlichen Handlung, eine Anklage meiner selbst, weil ich sie willkührlich verrichten, so übel wählen konnte, ver‐ bunden mit dem Wunsche, daß ich doch anders möchte gehandelt haben. »Und wie, spricht der Gegner, wie könntest du dir dieses wünschen, wenn du dir bewußt wärest, daß du hypothetisch genöthiget gewesen, also zu handeln? Wer wünschet etwas unmögliches?« Bewußt sind wir uns dieser Nothwendigkeit ganz und gar nicht, insofern wir urtheilen, daß wir willkührlich gehandelt haben und uns als moralischen Ur‐ hebern, unsere Handlungen zuschreiben. Erst alsdann, wann wir über den Zu‐ sammenhang unseres Thuns und Lassens mit dem Verstande nachdenken, wer‐ den wir gewahr, daß selbst unsere willkührlichsten Entschließungen eben so nothwendig und unausbleiblich als die Veränderungen der Körperwelt aus ih‐ ren einmal gesetzten Ursachen erfolgen müssen. Und gesetzt, ich wäre mir die‐ ser Nothwendigkeit, indem ich mir mein Verhalten zurechne, würklich bewußt; könnte ich nicht dem ungeachtet doch wünschen, daß die Umstände, unter wel‐ chen mein Thun so nothwendig war, hätten anders beschaffen seyn mögen; daß Gewohnheit, Beispiel u. d. gl. über mich weniger Gewalt, daß die Motive zum Gegentheile bei mir mehr Lebhaftigkeit gehabt hätten? gerade so, wie ich wün‐ schen kann, daß die Kräfte und Triebfedern meiner körperlichen Maschine in ei‐ nem andern Verhältniße un ter einander stehen möchten, damit ich gewisser un‐ angenehmen physischen Veränderungen überhoben seyn könnte. »Aber wie darf ich mich anklagen, auf mich selbst zürnen, mich verabscheuen, wenn ich nach allen Umständen nicht anders handeln konnte? Ich bin mir doch bewußt, daß ich hätte anders handeln sollen; und Sollen setzt allemal können voraus.« 43 Dies ist ohne Zweifel der Haupteinwurf in seiner ganzen Stärke: laßt uns se‐ hen, ob er so fürchterlich ist, als er scheinet. Was heißt Sollen? Das Sollen drückt eine Regel aus, welche entweder 1.) 2.) 3.) 4.)
von dem, was gewöhnlich geschiehet, abgezogen; oder durch einen vorgesetzten Endzweck bestimmet ist; oder durch positive Bekanntmachung festgesetzet worden; oder endlich a priori eingesehen wird. – In den beiden ersten Fällen wird die Regel durch Abstracktion erkannt; in den beiden letztern aber nicht. Doch liegt bei je‐ dem Sollen die Idee eines vorgesetzten Zweckes zum Grunde, die dasselbe zu einer bedingten Regel macht, wie unten noch deutlicher erhellen wird. 43
Vgl. KpV. AA V, 30, 159, sowie KrV A 807/B 835.
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Unter die erste Klasse gehören unter andern vorzüglich die Fälle, wo sogar leb‐ losen Dingen das Sollen als Prädikat beigeleget wird; z. B. die Obstbäume soll‐ ten zu Anfang des Maimonats blühen (nach dem gewöhnlichen Gange der Natur, und wenn es ein fruchtbar Obstjahr geben soll); der Puls sollte in einer Minute so oder so viel Schläge thun (nach der gewöhnlichen Erfahrung und unter der Bedingung eines gesunden Zustandes des Körpers). – So soll auch ein zum Ge‐ brauch im Kriege abgerichtetes Pferd durch das Krachen der Kanonen sich nicht aus seiner Fassung bringen lassen. Zu der zweiten Klasse sind diejenigen Fälle zu zählen, wo durch Nachdenken die Regel gefunden wird, die das Verhalten eines vernünftigen Wesens bestimmt: z. B. du sollst dir die drohende Gefahr zu entfernen suchen, so bald sie dir be‐ kannt wird (wenn du deine Erhaltung wünschest). Du sollst dich der Mäßigkeit im Essen und Trinken befleißigen, (wenn du gesund bleiben willst). Unter die dritte Klasse gehören die Vorschriften, welche durch den Willen eines Obern, oder auch wohl eines Gleichen bestimmt werden; z. B. Ich soll meinem Feinde vergeben (weil es Gott befohlen hat, wo die Absicht oder der Wunsch, mich den Geboten Gottes gehorsam zu beweisen, selbst als Bedingung vorausge‐ setzt wird); ich soll meinem Freunde seiner Bitte zufolge diese Gefälligkeit erzei‐ gen (wenn ich mich als seinen Freund beweisen will). Endlich viertens liegen in der menschlichen Seele eigentlich sittliche Gesetze a priori; z. B. ich soll mein Glück nicht auf das zerstörte Glück meiner Neben‐ menschen bauen; ich soll meine Sinnlichkeit durch Vernunft beherrschen (Aber auch dieses Sollen ist bedingt, so allgemein es auch ist, d. i. so gewiß es al‐ le Menschen verbindet. Ich soll dergleichen ewigen unveränderlichen Sittengesetzen Folge leisten, wenn ich mir das Selbstbewußtseyn der Tugend, und in die‐ sem den Genuß der reinsten moralischen Glückseligkeit der Selbstzufriedenheit wünsche). Sollen drückt demnach immer eine bedingte Regel aus, und bei vernünftigen Wesen ist der vorgesetzte Zweck die Bedingung. Sobald dieser aufgegeben wird; so hat das Sollen ein Ende. Nur insofern es unmöglich, wenigstens höchst un‐ natürlich ist, daß wir gewisse Zwecke aufgeben, kann den durch dieselben be‐ stimmten Regeln absolute Allgemeinheit beigelegt werden. Wer glaubt berechtigt zu seyn aufzuhören, seine Selbsterhaltung zu wünschen, der wird auch gewißlich nicht glauben, daß er alles unterlassen solle, was seiner Gesundheit und seinem Leben gefährlich werden kann. Und wenn es meiner Vernunft möglich wäre, dem Laster vor der Tugend den Vorzug zu geben, und zu urtheilen, daß jenes nicht nur an sich besser, sondern auch zu meiner wahren Glückseligkeit ein taugliche‐ res Mittel sey, als diese; so würde es sogar mit den so heili gen, rein sittlichen Gesetzen ein Ende haben, und die Maximen der ausschweifenden Sinnlichkeit, der Ungerechtigkeit u. s. f. würden meine Moral ausmachen. Kein vernünftiges Wesen setzet das Bedingte ohne die Bedingung, will den
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Zweck ohne die Mittel: Auf dieses Prinzip gründet sich alles Sollen. So bald ich nun einsehe, daß ich mit Wahl und Willkühr diesem Grundsatze zuwider gehan‐ delt habe, d. i. daß ich, ohne zuvor den Endzweck aufgegeben zu haben, mich durch irgend einen diesem entgegengesetzten Bewegungsgrund bestimmen ließ, den Gebrauch der Mittel zu versäumen (ob mein Verhalten metaphysisch frei und zufällig, oder nothwendig gewesen, ändert gar nichts an der Sache; genug, daß es moralisch frei war); was ist natürlicher, als daß ich mich, als den Urheber dieser unglücklichen Wahl (und für diesen erklärt mich, trotz aller Spekulation, mein inneres Selbstgefühl), und der bösen Folgen derselben, anklage, verdamme und verabscheue? »Aber Sollen setzt doch können voraus.« 44 Richtig! indem ich urtheile, daß ich (willkührlich, moralisch frei) anders ge‐ handelt habe, als ich gesollt; so gebe ich auch zu, daß ich auch anders hätte handeln können. Aber was für ein Können ist dieses? Doch gewiß kein absolutes, metaphysisches, sondern – nur ein moralisches, da seine Realität, sein Daseyn blos aus der moralischen Freiheit (die nirgends anders, als auf dem Selbstgefühle beruhet) erkannt wird. Mit andern Worten: Insofern ich mir bewußt bin, daß ich hätte anders handeln sollen, insofern bin ich mir auch bewußt, daß ich anders hätte handeln können: nun aber gründet sich das Bewußtseyn des Sollens blos auf moralische, (nicht auf metaphysische) Freiheit; folglich auf das Bewußtseyn des Könnens. Ich kann (moralisch) anders handeln, als ich würklich handele, heißt so viel: Ich bin mir vor und bei dem Handeln so wenig eines Zwanges und einer gewaltsamen Einschränkung meiner Selbstthätigkeit in Ueberlegung und Prüfung der Gründe und Gegengründe und in der durch dieselben zu bestimmen‐ den Wahl, bewußt, daß ich die Ursache, warum ich zuletzt so und nicht anders wähle, nicht ausser mir, sondern in mir, d. i. in meinem innerlichen willkühr‐ lichen Selbstwürken, zu finden berechtigt bin. Worauf gründet sich nun dieses moralische Können anders, als auf das Gefühl der Willkühr? Wie wenig aber die‐ ses die Nothwendigkeit unsers Thuns und Lassens aufhebe, ist oben hinlänglich gezeigt worden. »Also ist Freiheit, Zurechnung, Reue u. s. f. doch nur blos subjektives Gefühl, ohne objektive Würklichkeit?« Ohne objektive Würklichkeit? – Was allen Menschen, ja (so viel wir einse‐ hen können) allen vernünftigen Wesen, so gemein, so wesentlich ist, als das Be‐ wußtseyn der willkührlichen Selbstthätigkeit, nebst allem, was sich darauf grün‐ det, das sollte keine objektive Realität für uns haben? Und das blos deswegen, weil der nachdenkende Verstand die menschlichen Handlungen für nothwendige Würkungen des Naturmecha nismus erkennen muß, wovon unser inneres Gefühl nichts weiß. Könnte ich denn nicht mit gleichem Rechte sagen, daß auch Raum 44
Siehe Anm. 43.
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Teil I · Freiheit und Determinismus
und Zeit (diese der menschlichen Seele so unentbehrlichen, so wesentlichen rei‐ nen Anschauungen, oder Formen aller ihrer Anschauungen) keine Objektivität für uns haben, weil der nachdenkende Verstand in ihnen nicht eben das siehet, wofür sie unsre Sinnlichkeit hält. *45 Oder wollten wir, daß moralische Freiheit für die ganze Menschenwelt et‐ was wahres, etwas objektives sey, aus dem Grunde leugnen, weil der speku‐ lirende Verstand in den menschlichen Handlungen nichts weiter, als nothwen‐ dige Würkungen von Naturursachen siehet; was könnten wir antworten, wenn sich jemand einfallen ließe, die menschlichen Sinne, welche den Wein wohl‐ schmeckend, die Rose wohlriechend, die eingeathmete Luft elastisch finden, Lü‐ gen zu strafen, oder dem Wohlgeschmacke, dem Wohlgeruche, der Elasticität ob‐ jektive Würklichkeit abzusprechen, weil die Spekulation lehret, daß dem Weine, der Rose, der Luft und allen Körpern, etwas zum Grunde liege (man mag sich nun unter diesem Etwas mit Leibniz Monaden oder mit Kant bloße Noumena denken) 46 was weder wohlschmeckend, noch wohlriechend noch elastisch ist?
*
Unrichtig nennet also der große Kant eine moralische Freiheit, wie ich sie hier er‐ kläret habe, die Freiheit eines Bratenwenders. Denn der Bratenwender hat, so viel wir seine Natur kennen, kein Gefühl der willkührlichen Selbstthätigkeit. Hätte er dieses, (in welchem Falle er sich auch nicht bewußt wäre, daß er von menschlichen Händen aufgezogen wird); so würde er sich es mit allem Rechte zurechnen, und Selbstzufriedenheit empfinden, wenn er der Tafel des Herrn einen wohlschmeckenden Braten lieferte, so wie er es im Gegentheile zu bereuen Ursache hätte, wenn er etwa den Braten verbrennen, oder wohl gar in die Asche fallen liesse. 45
»Hier wird nur auf die Nothwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen, man mag nun das Subject, in welchem dieser Ablauf geschieht, Automaton materiale, da das Maschinenwe‐ sen durch Materie, oder mit Leibnizen spirituale, da es durch Vorstellungen betrieben wird, nennen, und wenn die Freiheit des Willens keine andere als die letztere (etwa die psycho‐ logische und comparative, nicht transscendentale, d. i. absolute, zugleich) wäre, so würde sie im Grunde nichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.« (KpV. AA V, 97) 46 Für Leibniz sind die materiellen Körper bloße Phänomene, da sie Aggregate von Sub‐ stanzen sind, denen zuletzt Monaden zugrunde liegen. Für Kant sind materielle Körper Erscheinungen, denen als Korrelate Dinge an sich zugrunde liegen; sofern diese Korrelate zwar gedacht, aber grundsätzlich nicht erkannt werden können, handelt es sich um Ver‐ standeswesen oder Noumena.
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FRIEDRICH SCHILLER
(1793)
Ueber Anmuth und Würde [Auszug]
Friedrich Johann Christoph Schiller (1759–1805) studierte Rechtswissenschaft und Medizin an der Militärakademie in Gerlingen und Stuttgart, wo er durch Jakob Friedrich Abel auch mit der neueren Philosophie bekannt wurde. Schiller diente darauf als Regimentsarzt. Differenzen mit dem Landesherrn Herzog Carl Eugen veranlassten ihn 1782 zur Flucht nach Mannheim, wo er sich als Dramatiker betätigte. 1789 erhielt er eine außerordentliche Professur für Philosophie in Jena, lehrte jedoch Geschichte, bis er 1793 die Lehrtätigkeit krankheitsbedingt aufgeben musste. Daneben war er als Schriftsteller, Publizist und Herausgeber von Zeitschriften (Thalia, Die Horen, Musen-Almanach) aktiv. Die finanzielle Unterstützung von adligen Mäzenen machte es ihm möglich, sich ab 1791 intensiver ästhetischen und philosophischen Studien zu widmen. 1799 zog er nach Weimar, um sich fortan wieder ganz der literarischen Produktion zuzuwenden. Nachdem er bereits in Stuttgart breite Kenntnisse der unterschiedlichen Strömungen der neueren Philosophie erlangt hatte, war es die Bekanntschaft mit der kantischen Lehre, insbesondere mit der 1791 erschienenen Kritik der Urteilskraft, die Schiller zu eigenem philosophischen Schaffen anregte. Ohne Kantianer im engeren Sinn zu sein, machte er sich kantisches Gedankengut zu eigen und erarbeitete auf dessen Grundlage eine eigenständige Position. Im Zentrum stand für Schiller die Forderung, den Menschen als Ganzes zu verstehen. In diesem Sinn betonte er, dass die Natur des Menschen weder ausschließlich in seinem sinnlich-empirischen Charakter noch ausschließlich in seinem geistig-intelligiblen Wesen bestehe, sondern dass nur die Einheit und das Zusammenspiel beider Aspekte den Menschen ausmache. Das bedeutete auch, dass die strikten kantischen Dichotomien zwischen Sinnlichkeit und Verstand bzw. Vernunft, Empirischem und Intelligiblem, Theoretischem und Praktischem, Natur und Geist überwunden werden mussten. Kant selbst war es, der Schiller mit seiner dritten Kritik den Weg zur Lösung dieses Problems wies. Ein erster Ansatz zu einer ästhetischen Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Geist findet sich in den sogenannten »Kallias-Briefen« (Briefe an Körner 21. 12. 1792 bis 28. 2. 1793. NA 26, 170–172, 174–183, 190–217, 219–229), dieser wird dann in der Abhandlung »Ueber Anmuth und Würde«, erschienen 1793 im zweiten Stück des dritten Teils der von Schiller herausgegebenen Neuen Thalia (Schiller 1793) und gleichzeitig als Separatdruck, weiterentwickelt. Darin werden Anmut und Würde als sinnliche Ausdrücke der sittlichen Qualität der Person verstanden, als Erscheinungen also,
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Teil I · Freiheit und Determinismus
in denen sich die moralische Freiheit der Person manifestiert. Die Anmut, die im ersten Teil behandelt wird, besteht in einer gewissermaßen ›natürlichen‹, ungezwungenen Harmonie von sittlichem Charakter und erscheinendem Betragen der Person. Der zweite Teil, der hier zum größten Teil wiedergegeben wird, widmet sich dann der Würde. Diese steht in einem Zusammenhang mit dem Fall, dass sinnliche Neigung und sittliche Pflicht sich gegenseitig widersprechen. Die Würde besteht darin, dass der menschliche Wille dem moralischen Gesetz der Vernunft die Herrschaft über die sinnlichen Neigungen und Affekte zu verschaffen mag und sich der vernünftige Geist als über die sinnliche Natur erhaben erweist. Was Schillers Auffassung des Willens betrifft, so lehnt er sich explizit an die Konzeption seines damaligen Jenaer Kollegen K. L. Reinhold an (vgl. Reinhold 1792; Text 14), der zufolge der Wille das Vermögen der Person ist, sich frei zwischen der Forderung des sinnlichen Begehrungsvermögens und der Forderung des Sittengesetzes zu entscheiden. Es ist leicht zu sehen, dass das Reinhold’sche Verständnis des Willens als eigenständiger Instanz, die zwischen dem eigennützigen sinnlichen Trieb und dem uneigennützigen moralischen Trieb steht, aus Schillers systematischer Perspektive dazu geeignet war, die angestrebte Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Neigung und Pflicht, Natur und Geist zu erreichen: Es ist eine Leistung der selbstbestimmten Person, der sittlichen Forderung der Vernunft eine Erscheinung in der Sinnenwelt zu verleihen, eine Erscheinung, die als sinnliche Manifestation menschlicher Freiheit verstanden werden und zugleich unter den ästhetischen Kategorien von Schönheit, Anmut und Würde begriffen werden kann. Eine weitere Ausarbeitung erfährt Schillers Theorie, in der Freiheit, Sittlichkeit und Ästhetik aufs Engste aufeinander bezogen sind, 1795 in »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« (NA 20, 309–412), wo zwar grundsätzlich an der Reinhold’schen Willenskonzeption festgehalten wird, in denen aber auch der neue Einfluss von Reinholds Nachfolger in Jena, J. G. Fichte, erkennbar ist (vgl. besonders den Anfang des 4. Briefs sowie die Briefe 17–23). Weiterführende Literatur: Roehr 2003a und 2003b, Beiser 2005, 213–237, Feger 2005, Noller 22016, 236–260, Klemme / Kuehn 2016, 661–665, Noller 2018a, Noller 2019a, Bondeli 2020, Noller 2020a, Noller 2020b. Die vollständige Abhandlung ist abgedruckt in NA 20, 251–308.
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Friedrich Schiller (1793)
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Würde.
So wie die Anmuth der Ausdruck einer schönen Seele ist, 47 so ist Würde der Aus‐ druck einer erhabenen Gesinnung. Es ist dem Menschen zwar aufgegeben, eine innige Uebereinstimmung zwi‐ schen seinen beyden Naturen 48 zu stiften, immer ein harmonirendes Ganze zu seyn, und mit seiner vollstimmigen ganzen Menschheit zu handeln. Aber diese Charakterschönheit, die reifste Frucht seiner Humanität, ist bloß eine Idee, wel‐ cher gemäß zu werden er mit anhaltender Wachsamkeit streben, aber die er bey aller Anstrengung nie ganz erreichen kann. Der Grund, warum er es nicht kann, ist die unveränderliche Einrichtung seiner Natur; es sind die physischen Bedingungen seines Daseyns selbst, die ihn daran verhindern. Um nehmlich seine Existenz in der Sinnenwelt, die von Naturbedingungen ab‐ hängt, sicher zu stellen, mußte der Mensch, da er, als ein Wesen, das sich nach Willkühr verändern kann, für seine Erhaltung selbst zu sorgen hat, zu Hand‐ lungen vermocht werden, wodurch jene physischen Bedingungen seines Daseyns erfüllt, und wenn sie aufgehoben sind, wieder hergestellt werden können. Ob‐ gleich aber die Natur diese Sorge, die sie in ihren vegetabilischen Erzeugungen ganz allein über sich nimmt, ihm selbst übergeben mußte, so durfte doch die Be‐ friedigung eines so dringenden Bedürfnisses, wo es sein und seines Geschlechts ganzes Daseyn gilt, seiner ungewissen Einsicht nicht anvertraut werden. Sie zog also diese Angelegenheit, die dem Innhalte nach in ihr Gebiet gehört, auch der Form nach in dasselbe, indem sie in die Bestimmungen der Willkühr Nothwen‐ digkeit legte. So entstand der Naturtrieb, der nichts anders ist, als eine Natur‐ nothwendigkeit durch das Medium der Empfindung. Der Naturtrieb bestürmt das Empfindungsvermögen durch die gedoppelte Macht von Schmerz und Vergnügen; durch Schmerz, wo er Befriedigung fodert, durch Vergnügen, wo er sie findet. Da einer Naturnothwendigkeit nichts abzudingen ist, so muß auch der 47
Die Anmut wird von Schiller im ersten Teil der Abhandlung (Schiller 1793, 115–190; NA 20, 251–289) untersucht. Anmut kommt jenen »[w]illkührlichen Bewegungen« zu, die »ein Ausdruck moralischer Empfindungen sind« (121 f.; NA 20, 254); sie ist »eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird« (123; NA 20, 255). Ideal verwirklicht ist die Anmut durch die schöne Seele: »Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen end‐ lich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen.« (186; NA 20, 287) 48 Gemeint sind die sinnlich-empirischen und die geistig-rationalen Wesensanteile des Menschen, denen Empfindung und Erkenntnis, Neigung bzw. Affekt und Sittlichkeit korre‐ spondieren.
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Mensch, seiner Freyheit ungeachtet, empfinden, was die Natur ihn empfinden lassen will, und je nachdem die Empfindung Schmerz oder Lust ist, so muß bey ihm eben so unabänderlich Verabscheuung oder Begierde erfolgen. In diesem Punkte steht er dem Thiere vollkommen gleich, und der starkmüthigste Stoiker fühlt den Hunger eben so empfindlich und verabscheut ihn eben so lebhaft, als der Wurm zu seinen Füßen. Jetzt aber fängt der große Unterschied an. Auf die Begierde und Verabscheuung erfolgt bey dem Thiere eben so nothwendig Handlung, als Begierde auf Empfin‐ dung, und Empfindung auf den äussern Eindruck erfolgte. Es ist hier eine stetig fortlaufende Kette, wo jeder Ring nothwendig in den andern greift. Bey dem Men‐ schen ist noch eine Instanz mehr, nehmlich der Wille, der als ein übersinnliches Vermögen weder dem Gesetz der Natur, noch dem der Vernunft, so unterworfen ist, daß ihm nicht vollkommen freye Wahl bliebe, sich entweder nach diesem oder nach jenem zu richten. 49 Das Thier muß streben den Schmerz loß zu seyn, der Mensch kann sich entschließen, ihn zu behalten. Der Wille des Menschen ist ein erhabener Begriff, auch dann, wenn man auf seinen moralischen Gebrauch nicht achtet. Schon der bloße Wille erhebt den Menschen über die Thierheit; der moralische erhebt ihn zur Gottheit. Er muß aber jene zuvor verlassen haben, eh’ er sich dieser nähern kann; daher ist es kein geringer Schritt zur moralischen Freyheit des Willens, durch Brechung der Naturnothwendigkeit in sich, auch in gleichgültigen Dingen, den bloßen Willen zu üben. Die Gesetzgebung der Natur hat Bestand bis zum Willen, wo sie sich endigt, und die vernünftige anfängt. Der Wille steht hier zwischen beyden Gerichtsbar‐ keiten, und es kommt ganz auf ihn selbst an, von welcher er das Gesetz empfan‐ gen will; aber er steht nicht in gleichem Verhältniß gegen beyde. Als Naturkraft ist er gegen die eine, wie gegen die andere, frey; das heißt, er muß sich weder zu dieser noch zu jener schlagen. Er ist aber nicht frey, als moralische Kraft, das heißt, er soll sich zu der vernünftigen schlagen. Gebunden ist er an keine, aber verbunden ist er dem Gesetz der Vernunft. Er gebraucht also seine Freyheit wirk‐ lich, wenn er gleich der Vernunft widersprechend handelt, aber er gebraucht sie unwürdig, weil er ungeachtet seiner Freyheit doch nur innerhalb der Natur ste‐ hen bleibt, und zu der Operation des bloßen Triebs gar keine Realität hinzu thut; denn aus Begierde wollen heißt nur umständlicher begehren *50. *
Man lese über diese Materie die aller Aufmerksamkeit würdige Theorie des Willens im zweyten Theil der Reinholdischen Briefe. 49
Vgl. dazu Reinholds Definition des Willens im zweiten Band der Briefe über die Kan‐ tische Philosophie, besonders Reinhold 1792, 266 f., 271 f. (Text 14). 50 Gemeint ist der zweite Band von K. L. Reinholds Briefen über die Kantische Philoso‐ phie (Reinhold 1792), besonders 174–308 (sechster bis achter Brief).
Friedrich Schiller (1793)
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Die Gesetzgebung der Natur durch den Trieb kann mit der Gesetzgebung der Vernunft aus Prinzipien in Streit gerathen, wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fodert, die dem moralischen Grundsatz zuwider läuft. In diesem Fall ist es unwandelbare Pflicht für den Willen, die Foderung der Natur dem Aus‐ spruch der Vernunft nachzusetzen, da Naturgesetze nur bedingungsweise, Ver‐ nunftgesetze aber schlechterdings und unbedingt verbinden. Aber die Natur behauptet mit Nachdruck ihre Rechte, und da sie niemals will‐ kührlich fodert, so nimmt sie, unbefriedigt, auch keine Foderung zurück. Weil von der ersten Ursache an, wodurch sie in Bewegung gebracht wird, bis zu dem Willen, wo ihre Gesetzgebung aufhört, alles in ihr streng nothwendig ist, so kann sie rückwärts nicht nachgeben, sondern muß vorwärts gegen den Willen drängen, bey dem die Befriedigung ihres Bedürfnisses steht. Zuweilen scheint es zwar, als ob sie sich ihren Weg verkürzte, und, ohne zuvor ihr Gesuch vor den Willen zu bringen, unmittelbare Kausalität für die Handlung hätte, durch die ihrem Bedürf‐ niße abgeholfen wird. In einem solchen Falle, wo der Mensch dem Triebe nicht bloß freyen Lauf ließe, sondern wo der Trieb diesen Lauf selbst nähme, würde der Mensch auch nur Thier seyn; aber es ist sehr zu zweifeln, ob dieses jemals sein Fall seyn kann, und wenn er es wirklich wäre, ob diese blinde Macht seines Triebes nicht ein Verbrechen seines Willens ist. Das Begehrungsvermögen dringt also auf Befriedigung, und der Wille wird auf‐ gefodert, ihm diese zu verschaffen. Aber der Wille soll seine Bestimmungsgründe von der Vernunft empfangen, und nur nach demjenigen, was diese erlaubt oder vorschreibt, seine Entschließung fassen. Wendet sich nun der Wille wirklich an die Vernunft, ehe er das Verlangen des Triebes genehmigt, so handelt er sittlich; entscheidet er aber unmittelbar, so handelt er sinnlich *. So oft also die Natur eine Foderung macht, und den Willen durch die blinde Gewalt des Affekts überraschen will, kommt es diesem zu, ihr so lange Stillstand zu gebieten, bis die Vernunft gesprochen hat. Ob der Ausspruch der Vernunft für oder gegen das Interesse der Sinnlichkeit ausfallen werde, das ist, was er jetzt noch nicht wissen kann; eben deswegen aber muß er dieses Verfahren in jedem Affekt ohne Unterschied beobachten, und der Natur, in jedem Falle, wo sie der anfangende Theil ist, die unmittelbare Kausalität versagen. Dadurch allein, daß er die Gewalt der Begierde bricht, die mit Vorschnelligkeit ihrer Befriedigung zueilt, und die Instanz des Willens lieber ganz vorbey gehen möchte, zeigt der Mensch seine Selbstständigkeit, und beweißt sich als ein moralisches Wesen, welches nie bloß begehren oder bloß verabscheuen, sondern seine Verabscheuung und Be‐ gierde jederzeit wollen muß. *
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Man darf aber diese Anfrage des Willens bey der Vernunft nicht mit derjenigen ver‐ wechseln, wo sie über die Mittel zu Befriedigung einer Begierde erkennen soll. Hier ist 197 nicht davon die Rede, wie die Befriedigung zu erlangen, sondern ob sie zu gestatten ist. Nur das letzte gehört ins Gebiet der Moralität; das erste gehört zur Klugheit.
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Aber schon die bloße Anfrage bey der Vernunft ist eine Beeinträchtigung der Natur, die in ihrer eigenen Sache kompetente Richterinn ist, und ihre Aussprüche keiner neuen und auswärtigen Instanz unterworfen sehen will. Jener Willensakt, der die Angelegenheit des Begehrungsvermögens vor das sittliche Forum bringt, ist also im eigentlichen Sinn naturwidrig, weil er das Nothwendige wieder zufäl‐ lig macht, und Gesetzen der Vernunft die Entscheidung in einer Sache anheim stellt, wo nur Gesetze der Natur sprechen können und auch wirklich gesprochen haben. Denn so wenig die reine Vernunft in ihrer moralischen Gesetzgebung dar‐ auf Rücksicht nimmt, wie der Sinn wohl ihre Entscheidungen aufnehmen möch‐ te, eben so wenig richtet sich die Natur in ihrer Gesetzgebung darnach, wie sie es einer reinen Vernunft recht machen möchte. In jeder von beyden gilt eine andre Nothwendigkeit, die aber keine seyn würde, wenn es der einen erlaubt wäre, willkührliche Veränderungen in der andern zu treffen. Daher kann auch der tapferste Geist bey allem Widerstande, den er gegen die Sinnlichkeit ausübt, nicht die Empfindung selbst, nicht die Begierde selbst unterdrücken, sondern ihr bloß den Einfluß auf seine Willensbestimmungen verweigern; entwaffnen kann er den Trieb durch moralische Mittel, aber nur durch natürliche ihn besänftigen. Er kann durch seine selbstständige Kraft zwar verhindern, daß Naturgesetze für seinen Willen nicht zwingend werden, aber an diesen Gesetzen selbst kann er schlechterdings nichts verändern. In Affekten also »wo die Natur (der Trieb) zuerst handelt und den Willen ent‐ weder ganz zu umgehen oder ihn gewaltsam auf ihre Seite zu ziehen strebt, kann sich die Sittlichkeit des Karakters nicht anders, als durch Widerstand offenba‐ ren, und daß der Trieb die Freyheit des Willens nicht einschränke, nur durch Einschränkung des Triebes verhindern.« 51 Uebereinstimmung mit dem Vernunft‐ gesetz ist also im Affekte nicht anders möglich, als durch einen Widerspruch mit den Foderungen der Natur. Und da die Natur ihre Foderungen, aus sittli‐ chen Gründen, nie zurücknimmt, folglich auf ihrer Seite alles sich gleich bleibt, wie auch der Wille sich in Ansehung ihrer verhalten mag, so ist hier keine Zu‐ sammenstimmung zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Vernunft und Sinn‐ lichkeit möglich, so kann der Mensch hier nicht mit seiner ganzen harmoniren‐ den Natur, sondern ausschließungsweise nur mit seiner vernünftigen handeln. Er handelt also in diesen Fällen auch nicht moralisch schön, weil an der Schönheit der Handlung auch die Neigung nothwendig Theil nehmen muß, die hier viel‐ mehr widerstreitet. Er handelt aber moralisch groß, weil alles das, und das allein groß ist, was von einer Ueberlegenheit des höhern Vermögens über das sinnliche Zeugniß gibt. 51
Vermutlich handelt es sich hier nicht um ein Zitat, sondern um eine Verwendung der Anführungs- und Schlusszeichen zur Hervorhebung einer These. Diese erinnert an Schillers Ausführungen zum Pathetischerhabenen im Aufsatz »Vom Erhabenen« (vgl. Anm. 52).
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Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln, und das ist der untrügliche Probierstein, wodurch man sie von dem guten Herzen oder der Temperamentstugend unterscheiden kann. Ist bey einem Menschen die Nei‐ gung nur darum auf Seiten der Gerechtigkeit, weil die Gerechtigkeit sich glückli‐ cherweise auf Seiten der Neigung befindet, so wird der Naturtrieb im Affekt eine vollkommene Zwangsgewalt über den Willen ausüben, und, wo ein Opfer nöthig ist, so wird es die Sittlichkeit und nicht die Sinnlichkeit treffen. War es hingegen die Vernunft selbst, die, wie bey einem schönen Karakter der Fall ist, die Neigun‐ gen in Pflicht nahm, und der Sinnlichkeit das Steuer nur anvertraute, so wird sie es in demselben Moment zurücknehmen, als der Trieb seine Vollmacht misbrau‐ chen will. Die Temperamentstugend sinkt also im Affekt zum bloßen Naturpro‐ dukt her ab; die schöne Seele geht ins heroische über, und erhebt sich zur reinen Intelligenz. Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreyheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung. Streng genommen ist die moralische Kraft im Menschen keiner Darstellung fä‐ hig, da das Uebersinnliche nie versinnlicht werden kann. Aber mittelbar kann sie durch sinnliche Zeichen dem Verstande vorgestellt werden, wie bey der Würde der menschlichen Bildung wirklich der Fall ist. Der aufgeregte Naturtrieb wird eben so, wie das Herz in seinen moralischen Rührungen, von Bewegungen im Körper begleitet, die theils dem Willen zuvorei‐ len, theils, als bloß sympathetische, seiner Herrschaft gar nicht unterworfen sind. Denn da weder Empfindung, noch Begierde und Verabscheuung, in der Willkühr des Menschen liegen, so kann er denjenigen Bewegungen, welche damit unmittel‐ bar zusammenhängen, nicht zu gebieten haben. Aber der Trieb bleibt nicht bey der bloßen Begierde stehen; vorschnell und dringend strebt er sein Objekt zu verwirklichen, und wird, wenn ihm von dem selbstständigen Geiste nicht nach‐ drücklich widerstanden wird, selbst solche Handlungen anticipiren, worüber der Wille allein zu sagen haben soll. Denn der Erhaltungstrieb ringt ohne Unterlaß nach der gesetzgebenden Gewalt im Gebiete des Willens, und sein Bestreben ist, eben so ungebunden über den Menschen, wie über das Thier, zu schalten. Man findet also Bewegungen von zweyerley Art und Ursprung in jedem Affek‐ te, den der Erhaltungstrieb in dem Menschen entzündet; erstlich solche, welche unmittelbar von der Empfindung ausgehen, und daher ganz unwillkührlich sind; zweytens solche, welche der Art nach willkührlich seyn sollten und könnten, die aber der blinde Naturtrieb der Freyheit abgewinnt. Die ersten beziehen sich auf den Affekt selbst, und sind daher nothwendig mit demselben verbunden; die zweyten entsprechen mehr der Ursache und dem Gegenstande des Affekts, da‐ her sie auch zufällig und veränderlich sind, und nicht für untrügliche Zeichen desselben gelten können. Weil aber beide, sobald das Objekt bestimmt ist, dem Naturtriebe gleich nothwendig sind, so gehören auch beyde dazu, um den Aus‐
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druck des Affekts zu einem vollständigen und übereinstimmenden Ganzen zu machen. * Wenn nun der Wille Selbstständigkeit genug besitzt, dem vorgreifenden Na‐ turtriebe Schranken zu setzen, und gegen die ungestüme Macht desselben seine Gerechtsame zu behaupten, so bleiben zwar alle jene Erscheinungen in Kraft, die der aufgeregte Naturtrieb in seinem eigenen Gebiet bewirkte, aber alle diejenigen werden fehlen, die er in einer fremden Gerichtsbarkeit eigenmächtig hatte an sich reissen wollen. Die Erscheinungen stimmen also nicht mehr überein, aber eben in ihrem Widerspruch liegt der Ausdruck der moralischen Kraft. Gesetzt, wir erblicken an einem Menschen Zeichen des quaalvollesten Affekts aus der Klasse jener ersten ganz unwillkührlichen Bewegungen. Aber indem sei‐ ne Adern auflaufen, seine Muskel krampfhaft angespannt werden, seine Stimme erstikt, seine Brust emporgetrieben, sein Unterleib einwärts gepreßt ist, sind sei‐ ne willkührlichen Bewegungen sanft, seine Gesichtszüge frey, und es ist heiter um Aug und Stirne. Wäre der Mensch bloß ein Sinnenwesen, so würden alle sei‐ ne Züge, da sie dieselbe gemeinschaftliche Quelle hätten, mit einander überein‐ stimmend seyn, und also in dem gegenwärtigen Fall alle ohne Unterschied Lei‐ den ausdrücken müssen. Da aber Züge der Ruhe unter die Züge des Schmerzens gemischt sind, einerley Ursache aber nicht entgegengesetzte Wirkungen haben kann, so beweißt dieser Widerspruch der Züge das Daseyn und den Einfluß einer Kraft, die von dem Leiden unabhängig, und den Eindrücken überlegen ist, unter denen wir das Sinnliche erliegen sehen. Und auf diese Art nun wird die Ruhe im Leiden, als worinn die Würde eigentlich besteht, obgleich nur mittelbar durch einen Vernunftschluß, Darstellung der Intelligenz im Menschen und Ausdruck seiner moralischen Freyheit. **52 Aber nicht bloß beim Leiden im engern Sinn, wo dieses Wort nur schmerzhafte Rührungen bedeutet, sondern überhaupt bey jedem starken Interesse des Begeh‐ rungsvermögens, muß der Geist seine Freyheit beweisen, also Würde der Aus‐ *
Findet man nur die Bewegungen der zweyten Art, ohne die der erstern, so zeigt die‐ ses an, daß die Person den Affekt will, und die Natur ihn verweigert. Findet man die Bewe‐ gungen der erstern Art ohne die der zweyten, so beweißt dieß, daß die Natur in den Affekt wirklich versetzt ist, aber die Person ihn verbietet. Den ersten Fall sieht man alle Tage bey affektirten Personen und schlechten Komödianten; den zweyten Fall desto seltener und nur bey starken Gemüthern. ** In einer Untersuchung über Pathetische Darstellungen wird im 3ten Stück der Thalia umständlicher davon gehandelt werden. 52
Die Ausführungen zur pathetischen Darstellung sind enthalten in Schillers Aufsatz »Vom Erhabenen. (Zur weiteren Ausführung einiger Kantischen Ideen.)« in Neue Thalia. Dritter Band. Drittes Stück (1793), 320–394 (NA 20, 171–195) und dessen Fortsetzung »Fort‐ gesetzte Entwicklung des Erhabenen.« in Neue Thalia. Vierter Band. Viertes Stück (1793), 52–73 (NA 20, 210–221).
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druck seyn. Der angenehme Affekt erfodert sie nicht weniger als der peinliche, weil die Natur in beiden Fällen gern den Meister spielen möchte, und von dem Willen gezügelt werden soll. Die Würde bezieht sich auf die Form und nicht auf den Inhalt des Affekts, daher es geschehen kann, daß oft, dem Inhalt nach, lo‐ benswürdige Affekte, wenn der Mensch sich ihnen blindlings überläßt, aus Man‐ gel der Würde, ins Gemeine und Niedrige fallen; daß hingegen nicht selten ver‐ werfliche Affekte sich sogar dem erhabenen nähern, sobald sie nur in ihrer Form Herrschaft des Geistes über seine Empfindungen zeigen. Bey der Würde also führt sich der Geist in dem Körper als Herrscher auf, denn hier hat er seine Selbstständigkeit gegen den gebieterischen Trieb zu behaup‐ ten, der ohne ihn zu Handlungen schreitet, und sich seinem Joch gern entziehen möchte. Bey der Anmuth hingegen regiert er mit Liberalität, weil er es hier ist, der die Natur in Handlung setzt, und keinen Wider stand zu besiegen findet. Nach‐ sicht verdient aber nur der Gehorsam, und Strenge kann nur die Widersetzung rechtfertigen. Anmuth liegt also in der Freyheit der willkührlichen Bewegungen; Würde in der Beherrschung der unwillkührlichen. Die Anmuth läßt der Natur da, wo sie die Be‐ fehle des Geistes ausrichtet, einen Schein von Freywilligkeit; die Würde hingegen unterwirft sie da, wo sie herrschen will, dem Geist. Ueberall, wo der Trieb an‐ fängt zu handeln, und sich herausnimmt, in das Amt des Willens zu greifen, da darf der Wille keine Indulgenz, sondern muß durch den nachdrücklichsten Wi‐ derstand seine Selbstständigkeit (Autonomie) beweisen. Wo hingegen der Wille anfängt, und die Sinnlichkeit ihm folgt, da darf er keine Strenge, sondern muß Indulgenz beweisen. Dieß ist mit wenigen Worten das Gesetz für das Verhältniß beyder Naturen im Menschen, so wie es in der Erscheinung sich darstellet. Würde wird daher mehr im Leiden (παθος) 53; Anmuth mehr im Betragen (ηθος) 54 gefodert und gezeigt; denn nur im Leiden kann sich die Freyheit des Gemüths, und nur im Handeln die Freyheit des Körpers offenbaren. Da die Würde ein Ausdruck des Widerstandes ist, den der selbstständige Geist dem Naturtriebe leistet, dieser also als eine Gewalt muß angesehen werden, wel‐ che Widerstand nöthig macht, so ist sie da, wo keine solche Gewalt zu bekämp‐ fen ist, lächerlich, und wo keine mehr zu bekämpfen seyn sollte, verächtlich. Man lacht über den Komödianten, (weß Standes und Würden er auch sey,) der auch bey gleichgültigen Verrichtungen eine gewisse Dignität affektiert. Man verachtet die kleine Seele, die sich für die Ausübung einer gemeinen Pflicht, die oft nur Unterlassung einer Niederträchtigkeit ist, mit Würde bezahlt macht. Ueberhaupt ist es nicht eigentlich Würde, sondern Anmuth, was man von der Tugend fodert. Die Würde giebt sich bey der Tugend von selbst, die schon ihrem 53 54
pathos, gr.: »Leiden«, »Leidenschaft«. ethos, gr.: »Sitte«, »Gebrauch«; »sittlicher Charakter«, »sittliche Gesinnung«.
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Innhalt nach Herrschaft des Menschen über seine Triebe voraussetzt. Weit eher wird sich bey Ausübung sittlicher Pflichten die Sinnlichkeit in einem Zustand des Zwangs und der Unterdrückung befinden, da besonders, wo sie ein schmerzhaf‐ tes Opfer bringt. Da aber das Ideal vollkommener Menschheit keinen Widerstreit, sondern Zusammenstimmung zwischen dem Sittlichen und Sinnlichen fodert, so verträgt es sich nicht wohl mit der Würde, die, als ein Ausdruck jenes Wider‐ streits zwischen beyden, entweder die besondern Schranken des Subjekts oder die allgemeinen der Menschheit sichtbar macht. Ist das erste, und liegt es bloß an dem Unvermögen des Subjekts, daß bey ei‐ ner Handlung Neigung und Pflicht nicht zusammenstimmen, so wird diese Hand‐ lung jederzeit soviel an sittlicher Schätzung verlieren, als sich Kampf in ihre Aus‐ übung, also Würde in ihren Vortrag mischt. Denn unser moralisches Urtheil bringt jedes Individuum unter den Maaßstab der Gattung, und dem Menschen werden keine andre als die Schranken der Menschheit vergeben. Ist aber das zweyte, und kann eine Handlung der Pflicht mit den Foderungen der Natur nicht in Harmonie gebracht werden, ohne den Begriff der menschli‐ chen Natur aufzuheben, so ist der Widerstand der Neigung nothwendig, und es ist bloß der Anblick des Kampfes, der uns von der Möglichkeit des Siegs überfüh‐ ren kann. Wir erwarten hier also einen Ausdruck des Widerstreits in der Erschei‐ nung, und werden uns nie überreden lassen, da an eine Tugend zu glauben, wo wir nicht einmal Menschheit sehen. Wo also die sittliche Pflicht eine Handlung gebietet, die das Sinnliche nothwendig leiden macht, da ist Ernst und kein Spiel, da würde uns die Leichtigkeit in der Ausübung vielmehr empören als befriedigen; da kann also nicht Anmuth, sondern Würde der Ausdruck seyn. Ueberhaupt gilt hier das Gesetz, daß der Mensch alles mit Anmuth thun müsse, was er innerhalb seiner Menschheit verrichten kann, und alles mit Würde, welches zu verrichten er über seine Menschheit hinaus gehen muß. So wie wir Anmuth von der Tugend fodern, so fodern wir Würde von der Nei‐ gung. Der Neigung ist die Anmuth so natürlich, als der Tugend die Würde, da sie schon ihrem Innhalt nach sinnlich, der Naturfreyheit günstig, und aller An‐ spannung feind ist. Auch dem rohen Menschen fehlt es nicht an einem gewissen Grade von Anmuth, wenn ihn die Liebe oder ein ähnlicher Affekt beseelt, und wo findet man mehr Anmuth als bey Kindern, die doch ganz unter sinnlicher Lei‐ tung stehen? Weit mehr Gefahr ist da, daß die Neigung den Zustand des Leidens endlich zum herrschenden mache, die Selbstthätigkeit des Geistes ersticke, und eine allgemeine Erschlaffung herbeyführe. Um sich also bey einem edeln Gefühl in Achtung zu setzen, die ihr nur allein ein sittlicher Ursprung verschaffen kann, muß die Neigung sich jederzeit mit Würde verbinden. Daher fodert der Liebende Würde von dem Gegenstand seiner Leidenschaft. Würde allein ist ihm Bürge, daß nicht das Bedürfniß zu ihm nöthigte, sondern daß die Freyheit ihn wählte – daß man ihn nicht als Sache begehrt, sondern als Person hochschätzt.
Friedrich Schiller (1793)
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Man fodert Anmuth von dem, der verpflichtet, und Würde von dem, der ver‐ pflichtet wird. Der erste soll, um sich eines kränkenden Vortheils über den andern zu begeben, die Handlung seines uninteressirten Entschlusses durch den Antheil, den er die Neigung daran nehmen läßt, zu einer affektionirten Handlung herunter setzen, und sich dadurch den Schein des gewinnenden Theiles geben. Der andre soll, um durch die Abhängigkeit, in die er tritt, die Menschheit (deren heiliges Palladium Freyheit ist) nicht in seiner Person zu entehren, das bloße Zufahren des Triebs zu einer Handlung seines Willens erheben, und auf diese Art, indem er eine Gunst empfängt, eine erzeigen. Man muß einen Fehler mit Anmuth rügen, und mit Würde bekennen. Kehrt man es um, so wird es das Ansehen haben, als ob der eine Theil seinen Vortheil zu sehr, der andre seinen Nachtheil zu wenig empfände. Will der Starke geliebt seyn, so mag er seine Ueberlegenheit durch Grazie mil‐ dern. Will der Schwache geachtet seyn, so mag er seiner Ohnmacht durch Würde aufhelfen. Man ist sonst der Meynung, daß auf den Thron Würde gehöre, und bekanntlich lieben die, welche darauf sitzen, in ihren Räthen, Beichtvätern und Parlamenten – die Anmuth. Aber was in einem politischen Reiche gut und löblich seyn mag, ist es nicht immer in einem Reiche des Geschmacks. In dieses Reich tritt auch der König – sobald er von seinem Throne herabsteigt, (denn Throne ha‐ ben ihre Privilegien,) und auch der kriechende Höfling begiebt sich unter seine heilige Freyheit, sobald er sich zum Menschen aufrichtet. Alsdann aber möchte Ersterm zu rathen seyn, mit dem Ueberfluß des Andern seinen Mangel zu erset‐ zen, und ihm soviel an Würde abzugeben, als er selbst an Grazie nöthig hat. Da Würde und Anmuth ihre verschiedenen Gebiete haben, worinn sie sich äussern, so schließen sie einander in derselben Person, ja in demselben Zustand einer Person nicht aus; vielmehr ist es nur die Anmuth, von der die Würde ihre Beglaubigung, und nur die Würde, von der die Anmuth ihren Werth empfängt. Würde allein beweißt zwar überall, wo wir sie antreffen, eine gewisse Ein‐ schränkung der Begierden und Neigungen. Ob es aber nicht vielmehr Stumpfheit des Empfindungsvermögens (Härte) sey, was wir für Beherrschung halten, und ob es wirklich moralische Selbstthätigkeit und nicht vielmehr Uebergewicht ei‐ nes andern Affektes, also absichtliche Anspannung sey, was den Ausbruch des gegenwärtigen im Zaume hält, das kann nur die damit verbundene Anmuth aus‐ ser Zweifel setzen. Die Anmuth nehmlich zeugt von einem ruhigen, in sich har‐ monischen Gemüth, und von einem empfindenden Herzen. Eben so beweißt auch die Anmuth schon für sich allein eine Empfänglichkeit des Gefühlvermögens, und eine Uebereinstimmung der Empfindungen. Daß es aber nicht Schlaffheit des Geistes sey, was dem Sinn so viel Freyheit läßt, und das Herz jedem Eindruck öffnet, und daß es das Sittliche sey, was die Empfindungen in diese Uebereinstimmung brachte, das kann uns wiederum nur die damit ver‐ bundne Würde verbürgen. In der Würde nehmlich legitimirt sich das Subjekt als
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eine selbstständige Kraft; und indem der Wille die Licenz der unwillkührlichen Bewegungen bändigt, giebt er zu erkennen, daß er die Freyheit der willkührlichen bloß zuläßt. Sind Anmuth und Würde, jene noch durch architektonische Schönheit 55, diese durch Kraft unterstützt, in derselben Person vereinigt, so ist der Ausdruck der Menschheit in ihr vollendet, und sie steht da, gerechtfertigt in der Geisterwelt, und freygesprochen in der Erscheinung. Beyde Gesetzgebungen berühren einan‐ der hier so nahe, daß ihre Grenzen zusammen fließen. Mit gemildertem Glanze steigt in dem Lächeln des Mundes, in dem sanftbelebten Blick, in der heitern Stir‐ ne die Vernunftfreyheit auf, und mit erhabenem Abschied geht die Naturnothwen‐ digkeit in der edeln Majestät des Angesichts unter. Nach diesem Ideal menschli‐ cher Schönheit sind die Antiken gebildet, und man erkennt es in der göttlichen Gestalt einer Niobe, im belvederischen Apoll, in dem borghesischen geflügelten Genius, und in der Muse des Barberinischen Pallastes. 56 [. . . ]
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»Es sey mir erlaubt diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendig‐ keit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freyheitsbedingun‐ gen richtet, die Schönheit des Baues (architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Nahmen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt) sondern der auch nur allein durch Naturkräfte bestimmt ist.« (Schiller 1793 124 f.; NA 20, 255 f.) 56 Die im Originaltext an dieser Stelle stehende längere Fußnote, in der Johann Joachim Winckelmanns und Henry Homes Auffassungen zu Schönheit, Anmut und Würde kritisiert werden, wird hier weggelassen.
II. FREIHEIT UND SELBSTBEWUSSTSEIN
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LUDWIG HEINRICH JAKOB
(1788)
Ueber die Freiheit [gekürzter Text]
Ludwig Heinrich Jakob (1759–1827) war seit 1787 Professor für Philosophie an der Universität in Halle. Er wurde im Lauf der 1780er-Jahre zu einem der ersten Anhänger Kants und ist zu den Kantianern im engeren Sinn zu zählen. Sein erstes Hauptwerk, der Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe zu einer allgemeinen Metaphysik (Halle 1788, weitere revidierte Auflagen 1791, 1794, 1800) ist als umfassende Darstellung der gesamten philosophischen Lehre Kants zu verstehen. In den 1790er-Jahren verfasste Jakob Werke zur empirischen Psychologie, zur Sitten-, Rechts- und Naturrechtslehre und vertrat mit seinem Journal Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes den ›orthodoxen‹ Kantianismus gegen die von Fichte und Schelling forcierten idealistischen Tendenzen. Ab 1800 wandte er sich vermehrt Themen der Staatswissenschaft und Staatsökonomie zu. Der hier abgedruckte Text erschien als Vorwort zu Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetters – eines Schülers von Jakob und später von Kant – Ueber den ersten Grundsatz der Moralphilosophie. Nebst einer Abhandlung über die Freiheit von dem Herrn Professor Jakob (Leipzig, Eisleben und Halle 1788) ohne Überschrift und in der zweiten Auflage desselben Werks von 1790 unter der Überschrift »Ueber die Freiheit vom Herrn Prof. Jakob« (die zwei größeren Änderungen im Text der zweiten Auflage sind im Kommentar verzeichnet). In seiner Vorrede konzentriert sich Jakob darauf, das im gemeinen Verstand vorliegende Bewusstsein der Freiheit gegen die philosophische Spekulation in Schutz zu nehmen. Dieses Bewusstsein sei ein Faktum, das aber keine Erscheinung sei und also nicht der Sinnenwelt angehöre, sondern einen intelligiblen Grund habe. Deshalb könne durch die spekulierende Vernunft weder seine Möglichkeit erklärt noch seine Unmöglichkeit bewiesen werden. Allen spekulativen Erklärungs- und Widerlegungsversuchen liege somit ein gemeinsamer Fehler zugrunde: Es werden die Grenzen vernünftigen Erklärens missachtet, mit anderen Worten, es werden die durch die Kritik der Vernunft gesteckten Grenzen der Erkenntnis überschritten. Als Folge werde die Idee der Freiheit als Täuschung deklariert, da ein intelligibler Grund für das Faktum des Freiheitsbewusstseins nicht gefunden werden kann. Im Gegenzug werde versucht, das Freiheitsbewusstsein im Rahmen einer allgemeinen Naturgesetzlichkeit zu erklären, wobei die Idee einer intelligiblen Kausalität durch Freiheit zwangsläufig dem Determinismus zum Opfer fällt. Schutz vor derartigen spekulativen Fehlleistungen bietet Jakob zufolge die Kritik der Vernunft, die uns berech-
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Teil II · Freiheit und Selbstbewusstsein
tigt, das Freiheitsbewusstsein des gemeinen Verstandes als unumstößliches Faktum und als weder hinterfragbaren noch weiter erklärbaren Beleg für die Wirklichkeit der Freiheit anzuerkennen. Weiterführende Literatur: Klemme / Kuehn 2016, 389–391. Jakob stellt die kantische Freiheitslehre ebenfalls in seiner Philosophischen Sittenlehre (Halle 1794, 1. Teil, 1. Abschnitt, 20–49 und 3. Teil, 1. Hauptstück, 173–220) dar.
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Wenn es je dem gemeinen Verstande verstattet werden muß, den Schulwitz zu verachten und seinem eignen Urtheile zu folgen, so ist dieses in den moralischen Handlungen des Menschen. Der weise Urheber der menschlichen Natur hat eine so angelegentliche Sache als die Tugend ist, nicht den späten, trockenen, und so vielen Irrthümern unterworfenen Speculationen der Schulweisen überlas sen, sondern jedem, und auch dem gemeinsten Menschen Kraft und Einsicht genug verliehen, für seine Würde und für sein Wohl zu sorgen. Die luftigen Regionen der Speculation sind von den ebenen und festen Gängen der gemeinen Erfahrung auch nirgends so sichtbar getrennt, als hier, wo die Erreichung des Zieles keinen Aufschub leidet. Ob sich die Erde um die Sonne, oder die Sonne um die Erde drehe, ist eine Frage, deren Beantwortung sich sehr gut aufschieben läßt; ob es aber Pflicht sey, meinen Vortheil einer Foderung der Dankbarkeit aufzuopfern, soll auf der Stelle ausgemacht werden. Daher entscheidet jenen Fall die Specula‐ tion allein; an diesem hat sie nur einen sehr geringen Antheil und die Stimme des gemeinen Verstandes gilt hier weit mehr. Es scheint daher kein geringer Beweis für die Realität der menschlichen Frei‐ heit zu seyn, daß ohnerachtet der heftigsten Anfälle des ausstudiertesten Schul‐ witzes, der gemeine Verstand doch niemals dadurch irre gemacht worden ist, daß er nie durch Sophistereien verführt, einen Augenblick daran gezweifelt, was Tugend und Laster sey, wo er frei und gezwungen handle. Das Raisonnement der Schule hat gewiß nirgends weniger schädlichen Einfluß gehabt als hier, denn selbst der, welcher in der Speculation alle Freiheit und allen Unterschied zwi‐ schen Tugend und Laster leugnet, handelt doch selbst so, als ob Freiheit und ein wirklicher Unterschied zwischen Tugend und Laster wäre, und beurtheilt selbst andre Menschen nach dieser Voraussetzung. Welches ist also die Ursache dieses so höchst sonderbaren Phänomens? Warum greift die Speculation die Freiheit unaufhörlich an, und warum richtet sie doch niemals etwas aus? Ich glaube diese Fragen durch folgende Punkte beantworten zu können: 1) Ueber welche Dinge die Speculation überall keine Stimme hat, darüber kann sie auch nichts entscheiden. Nun behaupte ich, daß die Speculation bei der Frei‐ heit schlechterdings keine Stimme habe, und ihre Entscheidung muß also allemal
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nothwendig ein unnützes Schulgeschwätz seyn. Der Beweis meiner Behauptung beruht auf folgenden Gründen: Die Speculation kann niemals Fakta wegvernünf‐ teln, sondern es sind hier nur zwei mögliche Fälle: Entweder sie muss das Faktum erklären d. h. die Gründe desselben angeben, oder sie muß zeigen, daß es gar kein Faktum sey, sondern durch einen Erschleichungsfehler dafür gehalten werde. Die Speculation kann hier weder das eine noch das andre, und in solchen Fällen bleibt der Philosophie nur noch ein einziger Ausweg übrig, auf welchem sie sich mit Ehren retten kann. Dieses ist nemlich der, daß sie die Gründe angiebt, warum jede Erklärung unmöglich sey, und warum also jeder Versuch nothwendig vergeb‐ lich ablaufen müsse. Denn auf diese Art behauptet der Philosoph auf der einen Seite seine Würde, die jederzeit Gründe erfordert; und auf der andern vermeidet er den Vorwurf des Schulwitzes, der eher allen die Vernunft abspricht, eher alle Fakta, wenn sie ihn selbst auch noch so sehr zwingen, ableugnet, als daß er die Richtigkeit seines pa piernen Thrones eingestehen sollte. Die Philosophie kann die Freiheit nicht erklären, denn die Möglichkeit der Freiheit kann eben so we‐ nig dargethan werden, als die Möglichkeit der Naturnothwendigkeit. Es ist gleich absurd erklären zu wollen, wie es möglich sey, daß ich einen Willen habe, und daß ich durch denselben meine Zunge in Bewegung setzen kann, als es absurd ist erklären zu wollen, wie es möglich sey, daß sich etwas beweget, und daß die Bewegung einer Kugel der andern durch den Stoß mitgetheilet werde. Denn bei‐ des ist in den Dingen an sich gegründet, die keine möglichen Erklärungsgründe für Menschen sind, wie in der Metaphysik ausführlich ist gezeigt worden. 1 Das Faktum aber, daß wir ein Bewußtsein von Selbstthätigkeit und Freiheit haben, kann die Speculation ebenfalls nicht antasten. Denn sie hat kein andres Mittel, als sie muß zeigen, daß das angegebene Faktum unmöglich sey. Die Speculation kann aber die Unmöglichkeit der Idee der Freiheit gar nicht darthun. *2 Sie kann auch nicht das Gegentheil durch Vorzeigung einer Thatsache beweisen, und es ist daher geradezu unmöglich, das Bewußtsein der Freiheit durch Speculation wan‐ kend zu machen, denn sie hat gar keine Stimme, weder für noch gegen die Frei‐ heit, sondern es kommt hier alles auf das Faktum an, welches die Freiheit darlegt und hinlänglich beweiset. 3 Daß ein Körper ein von mir verschiedenes Ding sey, weiß ich blos daher, weil ich mir bewußt bin, daß der Körper gar nicht zu mei‐
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Man sehe meine Metaphysik. §. 325.
Vgl. Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe zu einer allgemei‐ nen Metaphysik. Halle 1788, 282–294 (§ 325), besonders 289 f. 2 Vgl. Grundriß der allgemeinen Logik und kritische Anfangsgründe zu einer allgemei‐ nen Metaphysik. Halle 1788, 282–294, besonders 287–290 und 292–294. Vgl. auch KrV A 444/B 472. 3 Vgl. KpV. AA V, 6, 43.
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nem Selbst gehört, sondern als von diesem ganz ver schieden durch den äussern Sinn gegeben, gedacht wird *4, und daß ich frei bin, weiß ich ebenfalls ganz allein durch mein Selbstbewußtsein, das nur gege ben, nie erklärt werden kann (potest *
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Ein Recensent meines Briefes an den H[er]rn. Prof. Cäsar, über den Unterschied des transscendentalen und empirischen Idealismus, will nach den dort so deutlich gegebenen Erörterungen, den Unterschied doch nicht fassen, und zieht mit allzugroßer Selbstzufrie‐ denheit seiner eingebildeten Einsicht, die wunderlichsten Folgen aus Kants Sätzen und den meinigen. Er bürdet (Allg. d. Bibl. 82 B. 1 St. S. 137.) Kanten die absurde Meinung auf, »daß er die Aussenwelt ganz von unserer Erkenntniß abschneide, daß sie auch eben so gut nicht da seyn könnte, und alle Operationen des menschlichen Geistes eben so ungehindert vor sich gehn würden, es möchten wirkliche äussere Objekte da seyn oder nicht.« Rec[ensent]. hätte bedenken sollen, daß es in dem Begriffe eines äus sern Sinnes schon liegt, daß die Ge‐ genstände, welche ihn afficiren von dem Subjecte, das afficirt wird, verschieden sind und daß derjenige, der die Realität eines äussern Sinnes zu giebt, auch eben dadurch einräumt, daß es eine Aussenwelt gebe, und der äussere Sinn ohne dieselbe gar nichts erkennen kön‐ ne. Wenn aber die Erkenntniß dieser Aussenwelt an die Bedingung des äussern Sinnes ge‐ bunden ist, so kann sie freilich nicht anders erkannt werden, als so wie sie den äussern Sinn afficiren kann, d. h. den Gesetzen dieses Sinnes gemäß. Daß also ein äusserer Sinn ohne Objecte nichts erkennen könne, wird als völlig unbezweifelt vorausgesetzt. Der empirische Idealismus behauptet, der äussere Sinn sey blos eingebildet; der kritische aber behauptet die Realität desselben, und hieraus fließt ganz unvermeidlich die Realität der Sinnenwelt; letzterer erklärt nur das für eingebildet, was die Philosophen von Dingen wissen wollen, ohne daß ihnen ihre Sinne Belehrung hierüber geben können. Diesemnach ist der kritische Idealist ganz gewiß, daß die Rose in seinem Garten blühe, daß sie ihm Wohlgerüche zufüh‐ re; Blätter, Farbe an derselben, alles was er von ihr empfindet, bis zu den kleinsten Theil‐ chen zu welchen Chymie je gelangen kann, ist für ihn etwas wirkliches; wenn ihm aber je‐ mand sagt: diese Rose ist das nicht, wofür du sie hältst, die Ausdehnung ist blosser Schein, ihre Farbe, ihr Geruch ist nichts als eine blosse Verwirrung, woran die Eingeschränktheit deiner Kräfte schuld ist, und wenn er gar noch weiter geht, und sagt: Sie ist nichts als eine Idee in der Gottheit, sie ist ein Klumpen Monaden, die weder roth noch weiß, weder eckigt noch rund sind etc. so hält er dieses für Träumerei; der empirische Idealist hält aber jenes für Träumerei und dieses für Realität; er behauptet die Nichtigkeit der Farbe, der Figur, der Bewegung und aller Eigenschaften überhaupt, so wie er solche durch seine Sinnen kennen lernt und setzt seine wirkliche Welt aus lauter Ideen zusammen. Welcher Unterschied kann aber größer seyn, als ein solcher, wo sich die Behauptungen gerade zu entgegen stehen? Kant sagt: Gold ist und bleibt Gold, und du kannst am Golde nie etwas Reales auffinden, als die Bestandtheile des Goldes, und wenn du glaubst, am Golde noch etwas Reales auf‐ gefunden zu haben, das gar nichts Körperliches ist, so bildest du dir dieses ein. Berkley sagt: Gold ist kein Gold, sondern es scheint nur Gold, es ist nichts als eine Idee, also etwas ganz unkörperliches. Das Unkörperliche ist also das Reale und Wirkliche, das Körperliche ist der Schein. Wenn es dem Recensenten um die Sache und nicht um persönliche Anzüg‐ lichkeiten zu thun ist, so nimmt er vielleicht seine dort flüchtig hingeworfenen Gedanken zurück, wenn er es der Mühe werth achtet, die weltläuftigen Erörterungen über diese Sache in meiner Metaphysik ernstlich durchzudenken. 4
Bei dem rezensierten Aufsatz von Jakob handelt es sich um: »Ein Brief des Hrn. Prof. Jakob in Halle an den Herausgeber, des Hrn. Jacobi Idealismus und Realismus betreffend«, in: Denkwürdigkeiten aus der philosophischen Welt. Herausgegeben von Karl Adolph Cäsar. Fünfter Band, 1787, 226–243. Die mit »Rk« signierte Rezension findet sich in Allgemeine
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dari non intelligi 5). Das Daseyn der Materie muß mir so zweifelhaft werden, als die Realität der Freiheit, wenn ich Beleh rung von einer Erkenntnißkraft (der spe‐ culativen Vernunft) hierüber verlange, die mir solche schlechterdings gar nicht geben kann, weil ich diese von dem unmittelbaren Selbstbewußtsein durch den innern Sinn und jene von dem Eindrucke durch den äussern Sinn erwarte. 2) Aber woher kömmt doch die empörende Stimme der speculativen Ver nunft gegen die Freiheit? Ich antworte: aus ihrer Bemühung sie zu erklären. Wenn ihr die Augen verleugnet und mit den Ohren sehen wollt, so werden euch die Oh‐ ren das Gesicht wegräsonniren, und wenn ihr die Augen gebrauchen wollt, um durch sie das Gehör zu beweisen, so seyd ihr nicht sicher das Gehör auch dahin geben zu müssen. Wenn ihr durch Speculation beweisen wollt, was ihr von der Erfahrung erwarten müßt, und das erfahren wollt, worüber ihr speculiren müßt, so gerathet ihr in die gräßlichste Verwirrung. In der That ist dieses der Fall bei der Lehre von der Freiheit, so wie bei allen epinösen 6 Aufgaben der Metaphysik gewesen. Die Freiheit ist ein Faktum (so wie das Bewußsein, die Einbildungs‐ kraft, das Gedächtniß etc.) aber ein Faktum, das sich nicht erklären läßt – weil es keine Erscheinung ist. Die speculative Vernunft kennt nur Gesetze, nach denen Erscheinungen wirklich werden, a priori; alles was nicht ein Gegenstand in der Sinnenwelt ist, bleibt für sie, so lange sie an die Bedingung der Sinne gebunden ist, ein undurchdringliches Geheimniß, der Mensch soll seine Kräfte nutzen, aber nicht über ihre Möglichkeit grübeln. 3) Woher kommt es nun aber, daß die Vernunft so gar gern dergleichen Grü‐ beleien nachgeht? Die Antwort ist leicht. Weil sie ihre eignen Kräfte noch nicht erforscht hat. Also aus Mangel der Kritik ihrer selbst. Die Vernunft ist uns zum Erklären gegeben. So lange sie nun nicht weis, was sie erklären kann, ist ihr jedes Objekt willkommen, und sie ist mit sich selbst zufrieden, wenn sie nur Gründe aufgefunden hat. Vor der Kritik ihrer selbst behandelt sie alle Objekte nach einer‐ lei Schlage d. h. sie zwingt sie unter das Gesetz der Ursachen und Wirkungen, denn an diesem Gesetze hängt ihre ganze Kunst. Sie weiß vor der Kritik ihrer selbst nicht, daß sie für dieses ihr Gesetz nur allein eine Bedeutung in der Sin‐ nenwelt ausfindig machen kann, und daß es allen Sinn verliert, wenn sie sich aus derselben hinaus wagt. 7 Wenn sie nun die Bedeutung desselben auch aus‐ ser die Sinnenwelt mit hinüber in die Verstandeswelt schleppt, so wähnt sie, voll falschen Dünkels noch immer erklären zu können, da sie doch gar nichts erklärt, sondern vielmehr durch ihr unbefugtes Herumpfuschen alles verwirrt. So ist es mit der Erklärung der Freiheit gegangen. Man war nicht damit zufrieden, einige deutsche Bibliothek. 82. Band, 1. Stück, 1788, 118–138. Es werden der vierte und fünfte Band der Denkwürdigkeiten besprochen, Jakobs Aufsatz ebd. 135–138. 5 Lat.: »Es kann gegeben, nicht verstanden werden.« 6 Von frz. épineux(-se): »dornig«. 7 Vgl. KrV A 444/B 472.
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Ursachen unsrer Handlungen in der Sinnenwelt aufgesucht zu haben, man wollte sie in derselben vollständig auffinden, weil man sich einbildete, sie müsse den hinreichenden Grund aller Erscheinungen enthalten, welches auch ganz richtig seyn würde, wenn wir sie als Ding an sich erkenneten. Nun kann freilich eine Idee in der Sinnenwelt nie einen Erklärungsgrund abgeben und man verfuhr demnach sehr consequent, wenn man die Idee der Freiheit für Täuschung erklärte, und sie gänzlich verwarf. Denn wenn es blos eine Sinnenwelt giebt, so ist Freiheit ein Un‐ ding. Aber da diese Voraussetzung gänzlich falsch und unerweislich ist, so bleibt für die Freiheit in demjenigen Theile unserer Natur, der gar kein Objekt der Sin‐ nenwelt ist, noch Platz genug und da es unmöglich ist, diesen intelligiblen Theil zu erklären, so ist es auch unmöglich die Freiheit zu erklären und jeder Versuch ihren Grund anzugeben, muß auf eine Absurdität führen. Durch diese Ueberzeu‐ gung allein kann man die Verirrungen der menschlichen Vernunft verhüten, und ihren Hang zwar nicht wegschaffen, aber doch einschränken. 8 Ein sehr vereh‐ rungswerther Recensent, der, wenn ich nicht sehr irre, auch schon sonst als ein sehr geübter Denker bekannt ist, hat doch diesen Irrthum nicht gänzlich vermei‐ den können. Er meint *9, man müsse zwar zugestehen, daß Moralität Unabhän‐ gichkeit von Naturgesetzen voraus setze, aber es müsse doch zugegeben wer‐ den, daß im Intelligiblen wieder ein solcher Zusammenhang sey, daß sich alles wie Grund und Folge verhalte, und mithin doch eine intelligible Nothwendigkeit statt finden müsse. 10 Hier verirrt sich nun offenbar der speculative Mann. Denn nachdem er selbst zugestanden hat, daß Freiheit Unabhängigkeit von den Na‐ turgesetzen voraus setze, so erdichtet er doch (denn wissen kann er hier nichts) nach dem Naturgesetze wieder eine neue sinnliche Ordnung in dem Reiche der Freiheit, und baut also eben dasselbe mit der einen Hand wieder auf, was er mit der andern eingerissen hat. 11 Denn wollte er so subtil seyn, und die Zeitbedin‐ *
S. die Recension über die Critik der praktischen Vernunft, in der Allg. Lit. Zeit. N. 188. a. b. 1788. 8
Vgl. KrV A 533 ff./B561 ff. Allgemeine Literatur-Zeitung. 3. Band, Nr. 188a und 188b, 6. August 1788, 345–352 und 353–360, besonders 349 f., 357. Der Rezensent ist August Wilhelm Rehberg. 10 In diesem Sinn warf Ulrich Kant vor, dass auch bei einer intelligiblen Kausalität nicht von Freiheit, sondern von Notwendigkeit gesprochen werden müsse (vgl. besonders Ulrich 1788, 32 f. (§ 12); Text 2). Diese intelligible Notwendigkeit integrierte C. C. E. Schmid dann in seine Lehre des intelligiblen Fatalismus (vgl. Schmid 1790, 211 (§ 257); Text 12). 11 In der zweiten Ausgabe von 1790, 14 f., steht anstelle von »eingerissen hat. Denn [. . . ] nichts wüßten.«: »niedergerissen hat. Denn wollte er so subtil seyn, und die Zeitbedin‐ gung von dem Gesetz der Kaussalität trennen, so verliehrt der Begrif der Ursache das reale Merkmal, wodurch allein eine Ursache als Ding a priori erkannt werden kann. Den Begrif der Ursache kann ich von dem Begriffe der Wirkung durch die Nominalerklärung [korri‐ giert aus: »Nomicalerklärung« – Hg.], daß jene der Grund des Daseyns der letztern sey, hinlänglich unterscheiden. Aber welches nun unter den Dingen den Grund der Wirklichkeit 9
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gung von dem Gesetz der Kaussalität trennen, so hat es keinen Sinn mehr, und er würde sich genöthigt sehen, mit uns zusammen zu stimmen, und zugestehen, daß wir von der intelligibeln Kaussalität durch Freiheit (ob sie Nothwendigkeit oder etwas anders sey) überall nichts wüßten. Es ist aber allen scharfsinnigen Köpfen vor ihm so gegangen, welche es versuchten, die Freiheit zu erklären. Die Deterministen suchen sich vor dem gemeinen Verstande mit einer Distinktion zu rechtfertigen, indem sie physische und moralische Nothwendigkeit unterschei‐ den. 12 Aber so gegründet übrigens dieser Unterschied ist, so ist es doch in Ab‐ sicht auf meinen Werth gänzlich gleichgültig, ob ich durch die Vorstellung eines moralischen Gesetzes, oder durch eine starke Faust gezwungen werde. Wenn das moralische Gesetz erst durch einen andern in mir gewirkt werden muß, und die‐ ses nach einer Regel mich zum Entschlusse zwingt, so bin ich nicht frei. Der De terminist unterwirft (freylich ohne Beweis) alles den Naturgesetzen, und kann schlechterdings keine Freiheit zu lassen; seine Freiheit ist ein leeres Wort, mit dem er sich und andre blos täuscht und nur ein milderer Name für die eiserne Nothwendigkeit. Sie muß ihn, weil er doch seine Meynung gern mit der gemei‐ nern Erfahrung reimen will, in tausenderlei Inkonsequenzen verwirren; die Kon‐ sequenz führt ihn, wie auch schon längst bemerkt worden, ganz unvermeidlich zum Spinozismus, denn dieser, ob er gleich dem gemeinen Verstande unaufhör‐ lich widerspricht, und dadurch seine verborgene Falschheit verräth, hat doch un‐ streitig das Verdienst der Konsequenz und giebt eher die absurdesten Folgerungen zu, als daß er seinen einmal angefangenen Gang verlassen sollte. Alle Sy steme aber, welche die Freiheit oder die Unabhängigkeit von allen in der Sinnenwelt bestimmenden Ursachen leugnen, haben keinen andern Grund, als den, daß sie vorgeben, eine absolute Selbstthätigkeit sei unmöglich, und hierbei gebrauchen sie ihr πρωτον ψευδος zum Grunde, denn sie behaupten, daß alles dem Gesetze der Kaussalität unterworfen sey. Das Unstatthafte dieser Behauptung, und ihre gänzliche Beweislosigkeit liegt aber am Tage. Denn nicht zu gedenken, daß sie genöthigt sind, selbst in der Gottheit eine absolute Selbstthätigkeit einzuräumen, und dadurch die Möglichkeit derselben zu zugestehen, so liegen die Dinge, deren
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enthalte, dazu bedarf ich ein Kriterium, das nicht aus meinem bloßen Begrif, sondern aus 15 den Sachen selbst genommen, wie Z[um]. E[xempel]. in Ansehung der Phänomene das‐ jenige Merkmal ist, das diejenige Erscheinung die Ursache der andern sei, welche vor ihr allemal vorhergeht. Da ich nun keinen Begrif auf Gegenstände beziehen kann, wenn mir nicht wenigstens ein reales Merkmal von demselben gegeben ist, so weiß ich gar nicht ob mein Begrif auf übersinnliche Gegenstände anwendbar sey oder nicht und er verliehrt also angewandt auf nichtsinnliche Gegenstände alle reale und objective Bedeutung. Es ist also schlechterdings unmöglich zu bestimmen, wie intelligible Causalität durch Freiheit möglich sei.« 12 Vgl. Ulrich 1788, 16 (§ 5); Text 2. Ulrich geht aber auch davon aus, dass Kant selbst zwischen physischer und moralischer Notwendigkeit unterscheidet (ebd. 37 (§ 13)).
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Kaussalität uns gänzlich entzogen ist, viel zu tief, als daß wir bestimmen könn‐ ten, was und wie etwas möglich sey. Wir halten uns also an das Faktum, das unser Selbstbewustseyn in jeder Minu‐ te wiederholt und bieten hiermit den metaphysischen Grillen, deren Nichtigkeit die Kritik uns überdem deutlich offenbaret, Trotz. Wir sind frei, wir geben uns unsre Gesetze selbst, allein durch die Vernunft, und in der Kraft, welche wir zur Beobachtung derselben und zur Ueberwindung der Hindernisse anwenden, die uns die Sinnlichkeit entgegen stellt, besteht unser Verdienst und unsre Würde. Die Unabhängigkeit von aller fremden Gesetzgebung ist zur Begründung unsrer Sittenlehre nothwendig, wenn sie nicht blos Vorschriften enthalten soll, wodurch eine höhere Macht uns wie Maschinen regiert. Lasset uns also muthig die Behauptung des gesunden Menschenverstandes gegen die Anfälle der Schule 13 in Schutz nehmen. Denn wir kennen ihre ganze Rüstkammer, und wissen, daß sie nur bleierne Schwerdter im Hinterhalte hat, die wir mit unserm festen Harnisch, den die Kritik uns anlegt, verlachen können. Lasset uns treulich gestehen, die Freiheit sey ein Faktum, dessen Möglichkeit für uns unauflöslich ist, weil ihr Grund in einer Sphäre liegt, wohin unser Erkennt‐ nisvermögen nicht zu dringen vermag. Diese Gränze stecken wir uns nicht aus Verzweiflung, nicht aus Ueberdruß über die langen vergeblichen Versuche die Li‐ nie übersteigen zu wollen, sondern aus wahrer deutlicher Einsicht in die Natur unsers Erkenntnisvermögens, welche uns die Kritik verschaft hat. Wir wissen al‐ so ganz gewiß, daß weder ein Leibnitz noch ein Locke noch irgend ein künftiger Mensch, er ha be selbst noch größere Talente und weit umfassendere Kenntnis‐ se, als alle, die je gelebt, und nach ihm leben werden, diese Kluft je übersteigen wird. Denn es ist die Natur selbst, die das unveränderliche non plus ultra 14 hier bevestiget hat. [. . . ]
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In der zweiten Ausgabe von 1790, 18 f., steht statt »der Schule«: »unserer eigenen speculativen Vernunft*«. Dazu steht in der Fußnote: »* In der vorigen Ausgabe stand: die Anfälle der Schule in Schutz zu nehmen. Für diesen Ausdruck habe ich unschuldig bü‐ ßen müssen, indem die Stelle so ausgelegt wurde, als wollte ich mich dadurch über eine ehrwürdige Klasse von Schriftstellern erheben und ihnen gleichsam Hohn bieten. Allein so konnte ich es nicht meinen. Jene Schule ist nichts als die spekulative Vernunft selbst, und es konnten daher nicht einzelne Personen, welche sich ihrer Rechte mit vorzüglicher Wär‐ me annahmen und darüber die Ansprüche der praktischen zu vergessen scheinen, gemeint seyn, sondern blos die Gründe, welche in jeder spekulativen Vernunft anzutreffen sind. Es ist hier also blos von einem Streite spekulativer und praktischer Gründe die Rede, wobei die Critik den Ausspruch thut, daß die letzteren, welche mehr mit den gemeinen Begriffen übereinstimmen, die Macht der erstern nicht zu fürchten haben.« 14 Lat.: »nicht mehr weiter«, »nicht darüber hinaus«.
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JOHANN HEINRICH ABICHT
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Ueber die Freyheit des Willens Johann Heinrich Abicht (1762–1816) studierte Theologie an der Universität Erlangen, wo er sich, angeregt durch die Lektüre von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der kantischen Philosophie zuwandte. 1790 wurde er Adjunkt bzw. außerordentlicher Professor, 1799 ordentlicher Professor an der philosophischen Fakultät in Erlangen, 1804 wechselte er an die Universität in Vilnius. Abicht widmete sich zunächst dem genaueren Verständnis von Kants Lehre und deren Ausdehnung auf weitere Anwendungsgebiete. Inspiriert von K. L. Reinholds Elementarphilosophie ging er in den 1790er-Jahren zum eigenständigen Versuch über, die kantische Philosophie in ein System zu bringen und sie durch ein erstes Prinzip – das Prinzip der »Beseelung« – zu fundieren. Neben seinen Bemühungen um eine Rehabilitierung der Metaphysik gegenüber der Kritik widmete er sich vor allem Fragen der praktischen Philosophie (Tugendlehre, Naturrecht) und trat für eine Aufwertung der Rolle des Gefühls gegenüber der Erkenntnis ein. Der Theorie des Willens und der Freiheitslehre wandte sich Abicht in seiner ersten Schaffensphase zu (vgl. Abicht 1788, besonders 218–241). Der hier abgedruckte Text erschien 1789 im von Abicht zusammen mit F. G. Born herausgegebenen Neuen philosophischen Magazin, 1. Band, 1. Stück, 64–85. Nach eigener Aussage ist es Abichts Absicht, die kantische Freiheitslehre auf eine alternative Weise darzustellen. Dieser Darstellung legt er eine Definition von Freiheit zugrunde, der zufolge diese in dem Vermögen besteht, »der alleinige Selbstgrund seines Wollens zu seyn« (67). Um nun den Nachweis zu erbringen, dass der Wille frei ist, versucht Abicht zu zeigen, dass die transzendentalen Bestimmungsgründe der Willenserscheinungen ausschließlich im Selbst oder Ich liegen. Der Wille, als empirische Erscheinung im inneren Sinn, ist einerseits bestimmt durch Vorstellungen, andererseits durch Gefühle. Von diesen empirischen Gründen der Willensbestimmung – Vorstellung und Gefühl – kann gezeigt werden, dass ihnen »innere substanzielle« oder »transcendentale« Gründe zugrunde liegen müssen: Vorstellungen werden durch die Urbegriffe des Verstandes (Kategorien) bestimmt und Gefühle (Interesse, Vergnügen), da sie nichts anderes als die Selbstanschauung des Ich sind, durch eben diese Charakteristika des Verstandes. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass das Ich die einheitliche Quelle der transzendentalen Bestimmungsgründe der Willenserscheinungen und somit der Definition entsprechend deren alleiniger Selbstgrund ist. Folglich ist der Wille frei. Neben der – durchaus als Korrektur Kants zu verstehenden – Aufwertung des Gefühls, das auf die gleiche Stufe wie die Vorstellung gestellt wird und mit dieser komplementär
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Teil II · Freiheit und Selbstbewusstsein
zusammenhängt, ist Abichts Rede vom Ich als »Selbstgrund« und von der »Anschauung des Selbst« oder des »Ich« bemerkenswert, die auf entsprechende Theoreme Fichtes und Schellings vorausweist. Weiterführende Literatur: Fabbianelli 2012, 291–299 und Klemme / Kuehn 2016, 4–6. Zu Abichts Freiheitskonzeption vgl. auch Abicht 1788, 218–241, den 4. Brief in Abicht 1793, 59– 104 sowie die Vorrede, ebd. V-XVI, in der Reinholds Theorie des Willens kritisiert wird.
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Die vielen Erklärungsversuche und Streitigkeiten, welche die Lehre von der menschlichen Freyheit, besonders in unsern Tagen, veranlaßt hat, geben zu er‐ kennen, wie sehr man von der Wichtigkeit des Gegenstandes überzeugt ist. Zwar erscheint er den verschiedenen Parteyen nicht von einerley Seite wichtig. Die De‐ terministen, welche den Streit und die Mißhelligkeiten erregt haben, sehen den Glauben an Freyheit für eine Zauberbinde an, mit der sich der menschliche Ver‐ stand die Augen selbst verbinde, um sich mit dem süßen Wahne zu letzen, daß er, gleich einem jungen Gotte, sich selbst und den Lauf des Schicksals regieren könne. Einen solchen Verstand mit der Zauberbinde bemitleiden nun die Seher; das Glück, helle Augen zu haben, geht ihnen über alles; und es ist lauter Men‐ schenfreundlichkeit, welche sie bewegt, das mühsame Geschäfte eines Verstan‐ desoculisten über sich zu nehmen. Die Freyheitsverfechter hingegen haben einen ganz andern Gesichtspunct, aus dem ihnen die ser Gegenstand wichtig erscheint. Ihnen ist der Glaube an Freyheit ehrwürdig wegen seinem Einfluß auf die Sittlichkeit. »Für den Menschen gilt kein Gesetz mehr,« sagen sie, »so bald es erwiesen ist, daß es nicht von ihm abhängt, sich zu entschließen, nach dem Gesetze zu handeln; so bald es nicht in seiner Kraft liegt, trotz allen Hindernissen, sich selbst und seinen Entschlüssen zu fol‐ gen. – Es wäre lächerlich und vergebens, zu dem Gefangnen zu sagen: wandle auf Blumenwegen! – Unsre moralischen Gesetze müßten wir allenfalls in leidige Trostsprüche verwandeln; – und unser stolzer Muth, der seine ganze Energie von dem Glauben an Freyheit entlehnt, der stolze Muth, ohne den kein Emporstre‐ ben, keine Tugend, folglich auch keine Seligkeit derselben möglich ist, würde zu einer allgemeinen Kraftlosigkeit herabschwinden, die nur zuweilen, wie bey dem Thiere, durch die Bedürfnisse der Sinnlichkeit eine periodische Spannung erhal‐ ten möchte.« Kurz, diese andre Partey stellt uns ein Gemälde von Folgen auf, vor dem wir zurückschauern müssen; und nach einigem Besinnen bleibt uns nichts anders übrig, als ihre Partey zu ergreifen, und uns mit ihnen zum Streite zu rü‐ sten. Ich gestehe es, das Gemälde hat, je länger ich es betrachte, Wahrheit für mich; ich stelle an mir selbst eine Probe an, indem ich die Ueberzeugung in mir leb‐
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haft erhalte, daß ich durch mich selbst nichts, gar nichts vermag; ich fühle die Pein, schon zittert das Knie, aller Muth sinkt, alle meine Hoffnungen schwinden, denn ich sehe – die Geschichte des Lebens und des menschlichen Herzens vor mir aufgeschlagen, – tausend Zufälle auf mich einstürmen, und wie weiß ich, zu was sie mich ziehen werden? ich selbst kann sie nicht lenken, ich bin nicht Herr über mich, nicht über sie und ihren Einfluß, ich muß ihnen still halten. – Verzeiht mir die unwillkührliche – Schwäche vielleicht, ihr glücklichen Seher! in die ich bey eurem Rathe verfalle; – ich will meinen Glauben an Freyheit beybehalten, den mich meine Mutter Natur gelehrt hat; vielleicht hat die Treue mich Wahrheit gelehrt; läßt sie uns darum fragen, und unsern Glauben in Ueberzeugung zu ver‐ wandeln suchen. * Vor allen Dingen müssen wir uns zu dem Ende über den Begriff der Freyheit vereinigen. Nach dem gemeinen Sinne setzt man sie in ein gewisses Vermögen der Wahl, die man, selbst unter gleichinteressanten Sachen, welche das Zünglein der Willenswage senkrecht erhalten, anstellen könne. Es ist leicht einzusehen, daß der so genannte gemeine Menschenverstand, der hier philosophirt, mit dem schwachraisonnirenden Verstande einerley ist. Denn nach dieser Angabe wäre Freyheit ein Vermögen, das heißt, ein Grund der Grundlosigkeit, nämlich der Wahl ohne Grund, oder welches nun einerley ist: Nichts. Wir müssen also wol einen bessern Sinn des Worts aufsuchen. – Mehr kann nun aber ein Gott nicht verlangen, als wenn wir ihm das Vermögen geben, der alleinige Selbstgrund seines Wollens zu seyn. »Also doch Grund, welcher nöthigt? Die Freyheit soll moralische oder innre Nothwendigkeit, innrer Zwang seyn? Wenn sie das ist, so ist es gleichviel, ob man innre oder äußre Nothwendigkeit annimmt, denn in beiden Fällen geht der Begriff der Freyheit verlohren.« Mit nichten! es liegt nur ein Mißverstand darunter. Du denkst dir, Freund! bey innrer, moralischer Nothwendigkeit ein Leiden, wie bey der äußern Nothwen‐ digkeit, und das solltest du nicht; du trennest insgeheim das Princip der Thätig‐ keit und des Wollens von dem Princip, welches nöthigt, und das ist wieder nicht wohlgethan; denn alsdann findest du allerdings ein thätiges und ein leidendes Etwas; das leidende ist in deinem Gedanken der Wille, und dieser das eigentliche Ich, das nöthigende hat keine bestimmte Stelle der Subsistenz, – und nun fällt auch freylich zugleich aller Unterschied zwischen äußrer und innrer Nothwen‐ digkeit über den Haufen, denn nach deiner Vorstellung ist das nöthigende Princip im Gegensatz des Wollenden in der That etwas äußeres. – Der oben bestimmte Begriff der Freyheit will, daß wir uns die Sache ohngefähr so vorstellen: Das Ich *
Man wird am Schlusse leicht wahrnehmen, daß diese Darstellung der Lehre von der Freyheit nichts anders ist, als eine etwas veränderte Erörterung der Kantischen Lehre über eben diesen Gegenstand; die transcendentale Causalität bleibt die nemliche, nur der Weg, der auf ihr sichres Daseyn führt, soll, wo möglich, kenntlicher vorgezeichnet werden.
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will nothwendig, weil es Selbst will; es verhält sich also nicht leidend bey dieser Selbstnöthigung, oder besser Selbstbestimmung; denn die innre Nothwendigkeit heißt: das bestimmte Wesen des Dinges, seine an sich bestimmte Thätigkeit selbst; in so fern wir uns aber, den Zuschauern, das selbstthätige Ding vorstellen, und uns den Grund seines Handelns angeben wollen, so bleiben wir bey dem Dinge, als Grunde stehen, und denken es einmal als Grund, ein andermal, und zwar sogleich darauf, als das durch den Grund genöthigte; und jetzt wird es leidend in der zweyten Vorstellung; es ist also blos täuschende Vorstellung, wenn wir an ein Leiden bey der innern Nothwendigkeit denken; vielleicht täuscht das Wort: selbstständige Thätigkeit des Dinges, am wenigsten. Wenn nun aber auch die Seele der alleinige Selbstgrund ihres Wollens wirklich seyn sollte, so wissen wir doch schon so viel, daß sich dieser Grund in keinem besondern Gefühle, in keiner eignen ins Bewußtseyn abgeschickten Vorstellung, welche beide ihn selbst kennbar machen könnten, zu erkennen giebt; er ist tran‐ scendental, oder dem nach seinen Kennzeichen forschenden Verstande unerreich‐ bar und verborgen. 15 Wollen wir uns von dem Daseyn dieses Selbstgrundes über‐ zeugen, so müssen wir ohngefähr so zu Werke gehn, wie wenn wir das Daseyn der Substanzen im Raum, und ihr Verhältniß zu einander als Wechselgründe zu erweisen suchen. In diesem Falle nämlich lassen wir uns Erscheinungen geben, welchen wir nothwendige Gründe, nämlich Substanzen, unterlegen; wir lassen uns einen Wechsel der Erscheinungen geben, welchen wir alsdenn nothwendige Wechselgründe, nämlich wechselseitig in einander wirkende Substanzen unterle‐ gen. Auf gleiche Weise müssen wir uns auch im Innern Erscheinungen ins Bewußt‐ seyn geben lassen, denen wir substantielle Gründe unterlegen können. Dabey müssen wir aber genau nachsehen, ob diese gegebene Erscheinungen des Wol‐ lens so geartet und beschaffen sind, daß wir ihnen auch äußere substantielle Gründe, die von dem Princip des Ichs, und von den substantiellen Gründen, die es in sich schließt, z. B. von dem substantiellen Grunde der Verstandeserschei‐ nungen u. a. verschieden sind, drunter zu setzen genöthiget werden? Auf diesem Wege wollen wir in gegenwärtiger Abhandlung fortgehen. Die Erscheinungen des Wollens, die uns gegeben werden, sind innre Empfin‐ dungen mannigfaltiger Thätigkeiten, die wir bald Beyfall, bald Entschließung, bald Neigung, Begierde, Affect, Tugendbestreben u. s. w. nennen. Wir legen ih‐ nen allen einen Grund der Thätigkeit, Willenskraft, Thätigkeitskraft genannt, un‐ ter, den wir in actuelle Aeußerungen nothwendig versetzt annehmen müssen, 15
Im Gegensatz zu Abicht behauptet C. W. Snell, dass wir uns der Freiheit vermittelst eines »inneren Selbstgefühls« bewusst sind (vgl. Snell 1789; Text 4). Anderen Autoren wie L. H. Jakob (Jakob 1788; Text 6), K. H. Heydenreich (Heydenreich 1791a; Text 10) oder K. L. Reinhold (Reinhold 1792; Text 14) zufolge äußert sich das Vermögen der Freiheit im Selbstbewusstsein oder Gewissen.
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wenn nach gewissen Gesetzen andre Gründe als wirklich anzunehmen sind. Die‐ se andre in den Gesetzen allgemein vorgestellte Gründe müssen nothwendig auch wieder Erscheinungen seyn, sie müssen dem innern Sinne gegeben, und dem Be‐ wußtseyn mitgetheilt werden, sonst könnten wir sie nicht in Gesetzen vorstellen, welche nur ihr allgemeines, gemeinschaftlich eigenthümliches ausdrücken. Es entstehen also nun die Fragen: 1. welches sind diese vorauszusetzenden Gründe, auf welche, wenn sie da sind, die Willenskraft ihre Erscheinungen des Wollens gibt? 2. und da diese Gründe wieder Erscheinungen sind, was für sub‐ stantielle, transcendentale, letzte Gründe werden wir ihnen nun unterlegen müs‐ sen? innre, blos dem Ich zugehörige? oder äußre? Müssen wir auf innre antragen, so ist das Ich, als der Inbegriff aller innern substantiellen Gründe, der alleinige Selbstgrund des Wollens, der Wille ist frey, im transcendenten Sinne; im entge‐ gengesetzten Falle aber nicht.
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I. Die Grundgesetze der Willenskraft.
An einem jeden Thätigkeitsgrunde, bey jeder Kraft sind nur zwey Hauptmomen‐ te zu betrachten möglich, einmal: die Wirklichkeit ihrer Aeußerungen, und dann zweytens: die bestimmte Richtung derselben. Beide erfordern also auch wiederum zwey vorauszusetzende Gründe, aus de nen diese Bestimmungen der Kraft mög‐ lich und gedenkbar sind, einen Richtungsgrund, und einen Treib-, Beweg- oder Nöthigungsgrund. Ohne uns bey einer weitläufigen Anwendung auf die Kräfte der Körperwelt aufzuhalten, wollen wir sogleich zu der uns hier eigentlich inter‐ essirenden Frage übergehen: welches sind diese zwey namhaften Allgemeingrün‐ de für die Willenskraft? Es ist schon angemerkt worden, daß sie empirisch seyn müssen, daß sie also müssen erfahren werden können, und zwar, weil sie bey jeder merklichen Aeu‐ ßerung der Willenskraft auch dem Bewußtseyn merkbar werden, müssen sie in den mehrsten Willenserscheinungen vorkommen.
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Erfahrungen.
Es sind eben so allgemeine Bemerkungen, wie die der Schwere der Körper, 1. daß die Willenskraft durch Vorstellungen gerichtet und gelenkt werde, 2. und daß man sie nach dieser Richtung hin wirklich bewege, treibe und nöthige, wenn man ein Gefühl, ein Interesse oder Vergnügen mit den richtenden Vorstellungen ver‐ bindet. Zuvor noch angemerkt, daß allgemeine Vorstellungen Maximen, Geset‐ ze genannt werden; so folgern wir aus diesen Bemerkungen zwey Grundgesetze der Erfahrung für die Willenskraft, in wel chen die vorangehenden Gründe ihrer Erscheinungen des Wollens allgemein und vollständig vorgestellt werden, näm‐ lich
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Erstes Grundgesetz:
Alle Erscheinungen des Wollens stehen unter empirischen Vorstellungen, als un‐ ter bestimmenden Gründen der Arten derselben; Zweytes Grundgesetz:
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Alle Erscheinungen des Wollens stehen unter empirischen Gefühlen, als unter be‐ stimmenden Gründen des Seyns und der Wirklichkeit unsrer Willenserscheinun‐ gen. Daß mit diesen zwey Gesetzen die empirischen Gründe aller Aeußerungen der Willenskraft, also vollständig sind aufgezählt worden, erhellt außer aus dem 16 oben angezogenen auch noch aus folgender Betrachtung: In unserm Bewußtseyn kommen nur zwey Haupterscheinungen vor, erstlich: Vorstellungen, als Merk‐ male der Gegenstände; zweytens: Gefühle, als eine eigne und besondre Gattung der Modificationen des Bewußtseyns. *17 Aber nur dasjenige, was im Bewußt‐ seyn vorkommt, kann erfahren werden; wenn wir also, nach unserm Vorsatz, die empirischen Gründe der Willenserscheinungen namhaft machen wollen, so kön‐ nen wir, der vorgelegten Betrachtung zu Folge, nicht mehr als die angegebenen zwey Hauptgattungen der empirischen Gründe erwarten; alles Suchen nach an‐ dern würde vergebens seyn. II. Die substanziellen Gründe von den zwey angeführten empirischen sind innere.
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Um zu unserm Erweise des angenommenen Freyheitbegriffs einen nähern Schritt zu thun, müssen wir den Beweis versuchen: daß diesen empirischen Gründen der Willenserscheinungen keine andre, als innre substantielle Gründe unterlie‐ gen können. Ist uns dieser Versuch gelungen, so bleibt uns nichts mehr übrig, als noch darzuthun, daß diese substantiellen Gründe in einem einzigen Princip vereinigt werden müssen, vielleicht weil jene empirischen auch zusammenfallen.
*
Vergl. Metaphysik des Vergnügens §. 10, S. 30. und die transcendentale Aesthetik des Gefühls, besonders §. 13. 14. 15. Wie man, wenn nur Vorstellungen sollen angenommen, 74 und der Beweis der Freyheit auf diese soll gebaut werden, mit dem andern allgemein be‐ kannten Willensgesetze zu rechte komme? ist schwer einzusehen; – war diese Schwierigkeit bisher nicht der Grund des Widerspruchs, dem das System ausgesetzt war? 16
Korrigiert aus: »außer dem«. Vgl. Abicht 1789b, 30. Die »Transcendentale Aesthetik des Gefühls« ist der erste Ab‐ schnitt der »Metaphysik des Vergnügens« (ebd. 33–90). Zu den Paragraphen 13, 14 und 15 vgl. ebd. 39–51. 17
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Alsdann soll uns kein Zweifel mehr im Wege stehen, die erwünschte Freyheit als unser wirkliches Eigenthum anzusehen. 1. Alle Vorstellungen, sie mögen Namen haben, wie sie wollen, sind ein leeres, todtes Etwas, welches im Bewußtseyn schwebt und schwimmt, bevor sie durch den Verstand nach seiner Manier sind geformt und gebildet worden. Diese Bil‐ dung, die ganz sein eignes Werk ist, macht die Vorstellungen erst zu dem, was sie sind, nämlich zu bestimmten Vorstellungen, welche erkenntlich sind, mit de‐ nen jetzt die Seele etwas gewisses und bestimmtes vor sich hat. Man wird mir nun leicht zugeben, daß eine bestimmte Richtung der Willens‐ kraft auch nur durch bestimmte Vorstellungen geschehen könne. Wenn dies gel‐ ten muß, so ist das Spiel von dieser Seite schon gewonnen. Denn nunmehr darf nur erwiesen werden: daß alle Bestimmungen der Vorstellungen, alle ihre Bildun‐ gen, durch die auf sie angewandte, und mit den vorhin noch leeren Vorstellun‐ gen verknüpfte Urbegriffe des Verstandes geschehen, daß diese die characteristi‐ schen Bestimmungen an ihnen ausmachen, daß folglich nur diese Urbegriffe die bestimmten Richtungen der Willenskraft möglich machen. Für diesen Beweis las‐ se ich die Kantische Deduction dieser Begriffe, 18 und dessen Critik des Erkennt‐ nißvermögens sorgen, welche beide fest stehen. Aber eben diese Deduction will nichts anders erzielen, als zu beweisen, daß diesen bestimmenden Begriffen kei‐ ne äußre, sondern nothwendig innre substantielle Gründe, welche in dem einzi‐ gen substantiellen Grunde Ich zusammenlaufen, darunter liege; sie sollen blos etwas innres ins Bewußtseyn gegebenes, mit nichten aber von äußern, dem Ich fremden, Ursachen bewirkt seyn. Einen Weg haben wir demnach glücklich zurückgelegt; er führt uns geradezu auf einen dem Selbst, dem Ich angehörigen substantiellen Grund, der die empiri‐ schen Richtungsgründe der Willenskraft möglich macht. Von Seiten der Richtun‐ gen ist also der Wille frey, und zwar kommt ihm eine transcendentale Freyheit zu, denn der letzte Richtungsgrund ist ein substantieller innrer Grund. 2. Auf gleiche Weise müssen wir nun einen zweyten Beweis versuchen; es ist nämlich noch übrig zu erweisen: daß dem zweyten empirischen Grunde der Wil‐ lenserscheinungen, dem bestimmenden Grunde ihrer Wirklichkeit, ich meyne, den Gefühlen als Beweggründen, nicht minder ein innrer substantieller Grund darunter liege, und daß auch sie auf einen transcendentalen Selbstgrund führen. Es ist unleugbar, daß die Gefühle noch weniger, als die bestimmenden Urbe‐ griffe des Verstandes, ihren Ursprung von äußern Gründen ableiten; sie würden sonst zum wenigsten als Merkmale der äußern Gegenstände so wie die Urbegriffe zu gebrauchen seyn. Aber nicht einmal von dieser Seite, woran wir hauptsächlich die äußern Gründe von den innern unterscheiden, kommen sie mit den bestim‐ 18
Gemeint ist der Abschnitt »Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«, KrV A 95–130/B 116–169.
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menden Urbegriffen überein; sie geben also nicht einmal, so wie diese, eine so täuschende Veranlassung, äußere Dinge als hinreichende Gründe ihrer Möglich‐ keit zu vermuthen und aufzusuchen; ob sie es gleich an Täuschung nicht ganz fehlen lassen. – Sie sind bloße innre Erscheinungen, die also auch nur allein inn‐ re substantielle Gründe voraussetzen, und höchstens, besonders im Anfange des Lebens, äußere Dinge nur abwarten, daß sie veranlassende, Gelegenheitsgründe, aber auf keine Weise bestimmende und zureichende Gründe von ihnen werden. *19 Führen uns also auch diese empirischen Gründe auf einen innern substantiel‐ len Grund, deuten auch sie geradehin auf einen transcendentalen Selbstgrund der Willenserscheinungen, so sind wir auch von Seiten der Beweggründe frey und un‐ gebunden von äußern Nöthigungen; so kann kein äußres Ding unsern Willen nö‐ thigen und bestimmen, wenn der innre Selbstgrund aller Triebfedern nicht dabey ist, wenn er nicht will. Auch von dieser Seite kommt uns also die transcendentale Freyheit zu, weil der substantielle Grund aller empirischen Nöthigungsgründe ein innrer, transcendentaler, unserm erkennenden Verstande übrigens unerreichbarer und unerforschlicher Grund ist. III. Diese Richtungs- und Nöthigungsgründe fallen zusammen.
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Der geführte Erweis für die Freyheit des Willens würde noch sehr mangelhaft seyn, wenn nicht auch zuletzt könnte dargethan werden: daß die angeführten Gründe, um die Willenserscheinungen hervorzubringen, gemeinschaftlich wirken, daß der ächte innre Richtungsgrund auch nothwendig mit einem Nöthigungs‐ grunde verbunden sey. Denn angenommen, daß jeder für sich und von dem an‐ dern getrennt wirke, so würde keiner allein, auch nur Eine Willenserscheinung erzielen; und wo sie dies nicht vermöchten, so wären sie augenscheinlich in der That keine Gründe. Wir müssen also wol noch einen dritten Versuch machen, um auch dieser Foderung an den vollständigen Erweis der Willensfreyheit Gnüge zu thun. Wollten wir auch nur die Erfahrung unsre Lehrerin seyn lassen, so würde schon sie uns glaubend machen können, daß mit dem Bewußtseyn der Selbstrea‐ lität, welches am öftersten durch die körperlich thierischen Empfindungen ver‐ *
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Eine genauere Auseinandersetzung dieses Beweises enthält die Metaphysik des Ver‐ gnügens, worauf sich, der Kürze wegen, wodurch ich den der Ueberzeugung vortheilhaften Ueberblick der Abhandlung zu erlangen hoffe, der gütige Leser verweisen lassen wird. Auch am Schlusse der Abhandlung soll noch eine kleine Erörterung, die hieher gezogen werden kann, gegeben werden. 19
Diesen Beweis findet man im Kapitel »Analytik der pathischen Urbegriffe« in Abicht 1789b, 97–114.
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anlaßt wird; ferner, mit den Vorstellungen des Großen und Erhabenen, des Star‐ ken und Mächtigen, des Besonnenen, Verständigen und Wahren, des Tiefsinni‐ gen, Witzigen, und Harmonischen jederzeit ein Grad des angenehmen Gefühls, des Interessanten und Vergnüglichen verbunden sey; und schon dies kann uns auf die Gedanken bringen, daß wol die bestimmenden Vorstellungen als Richtungsgründe des Willens, und die Gefühle als die Nöthigungsgründe desselben, aus einerley Quelle entspringen, daß sie folglich jederzeit gemeinschaftlich und unzertrennlich wirken möchten. Allein, wie es immer die Erfahrung zu halten pflegt, sie läßt es bey solchen Sachen blos bey dem Oberflächlichen, bey bloßen Vermuthungen bewenden; sie reizt nur an zu tieferer Untersuchung, und tritt, wenn sie dieses ihr eignes Ge‐ schäffte und Amt erfüllt hat, so lange hinter die Critik zurück, bis sie diese wie‐ der zur Bestätigung und Anwendung ihrer esoterischen Arbeit herbeyruft. Wir werden uns diesen Tausch der Lehrerinnen auch in dieser Angelegenheit, die wir zu behandeln haben, gefallen lassen müssen, und nun, da uns die Erfahrung so weit geführt hat, uns zur Critik wenden und diese befragen. Die Critik, die Erforscherin des Denk- und Gefühlvermögens, belehrt uns nun mit den triftigsten Gründen: daß alles Gefühl, alles was man unter Interesse und Vergnügen zusammenfaßt, aus dem Bewußtseyn, oder Anschauen des Selbst, des Ichs, und seiner ursprünglichen Eigenheiten entspringen; daß aber diese Eigenhei‐ ten keine andern sind, als die, welche der Verstand mit den Urbegriffen sich selbst vorstellig macht, und auch nur machen kann; mit welchen Urbegriffen er aber auch alle übrigen Vorstellungen von Dingen, diese mögen übrigens Namen haben wie sie wollen, zu bestimmten Vorstellungen bildet, zu Vorstellungen, die durch diese von dem Verstande erlangte Bestimmtheit nur allein fähig sind, Richtungs‐ gründe des Willens zu seyn. Nach dieser Critik *20 ist also das verständige Ich der einzige Grund aller Vor‐ stellungen, sowohl der Vorstellungen, mit denen das Ich sich selbst und seine Eigenheiten sich vorstellig macht, als der bestimmten Begriffe von allen übrigen Dingen und Gegenständen. Sind aber diese die Selbsteigenheiten bestimmende Vorstellungen die einzige Quelle von allem Interesse, und folglich auch von al‐ len Nöthigungsgründen; so ist es erwiesen, daß die Richtungs- und Nöthigungs‐ gründe überall zusammen wirken; ferner, daß die vorhergetrennten innern sub‐ stantiellen Gründe des empirischen Richtungs- und Nöthigungsgrundes nur ein einziger innrer substantieller Selbstgrund sind, welcher die Quelle aller einzeln vorgestellten Richtungsgründe und Triebfedern, und sonach auch die Quelle aller Willenserscheinungen ist. *
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S. die angeführte Schrift. Vgl. Abicht 1789b, 97–114.
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Zum Behufe der bessern Einsicht dieser Critik und ihrer Folgerungen wird es wohlgethan seyn, wenn wir noch zum Schlusse untersuchen: wie der Schein ent‐ stehen könne, daß äußere Gegenstände, durch ihre mitgetheilten Empfindungen und ihren Antheil an den Vorstellungen, Gründe der treibenden Gefühle seyn? Es ist vorhin angeführt worden, daß der Verstand durch seine Urbegriffe al‐ len Vorstellungen der Dinge die Bestimmungen gebe, ohne welche die Vorstel‐ lungen nur ein unbedeutendes, empfundenes Etwas in unserm Bewußtseyn seyn würden. Aber eben diese Bestimmungen drücken auch die Eigenthümlichkeiten unsers Ichs aus, und machen sie vorstellig. Es muß deswegen mit und in einer jeden bewußten Vorstellung von einem Außendinge auch zugleich das Ich sich einer oder mehrerer seiner Eigenheiten in einem gewissen Grade der Hellung be‐ wußt werden, oder sie anschauen. Da nun aber das Anschaun dieser Eigenheiten die Quelle der Gefühle ist, so ist es einleuchtend, wie mit dem Bewußtseyn der bestimmten Vorstellungen von Außendingen jederzeit auch ein Grad von Gefühl und Interesse vergesellschaftet seyn müsse. Der Schein, als wenn die Außendinge, mit ihren mitgetheilten Vorstellungen, der Grund des Vergnügens oder des Mißbehagens seyen, entsteht also eben da‐ her, wo jener Schein in den Erkenntnissen seinen Ursprung hat, welchen Kant aufdeckte; 21 nämlich: wir legen die Bestimmungen an unsern Vorstellungen den Außendingen selbst bey, so lange wir nicht den Ursprung dieser Bestimmungen durch die Critik, in dem Princip des Verstandes erforscht haben. Aber eben des‐ wegen sehen wir auch die Außendinge als die Ursachen unsrer angenehmen und widrigen Gefühle an. Denn weil die Bestimmungen, die der Verstand mit seinen Urbegriffen zu den Vorstellungen der Außendinge thut, zugleich auch die Eigen‐ heiten des Ichs ausdrücken und anschauen lassen, und weil in der Anschauung derselben der Grund aller Gefühle ist; so müssen nothwendig auch die in den Bestimmungen vorgestellten Eigenheiten des Ichs blos als Bestimmungen der Au‐ ßendinge, nicht aber als angeschaute Eigenthümlichkeiten des Ichs der Grund der Gefühle zu seyn scheinen, obgleich diese Außendinge nur dadurch scheinbare Gründe der Gefühle werden können, daß sie in ihren Bestimmungen dem Ich sei‐ ne Eigenheiten zum Anschauen vorhalten. So ist es also erwiesen, daß in uns, in dem substantiellen Grunde, welchen wir dem Ich, und seinem Inbegriffe von Vermögenheiten, unterlegen, auch der tran‐ scendentale Grund der Willenserscheinungen liege, den wir Freyheit des Willens nennen. Wir kennen aber weiter nichts von ihm, als die Erscheinungen, nämlich die Vorstellungen und Gefühle, als empirische Gründe aller Willenserscheinun‐ gen, von welchen zusammengenommen der transcendentale, oder substantielle innre Grund, Ich, der letzte und zureichende ist. 21
Vgl. »Vom transzendentalen Schein«, KrV A 293–298/B 349–355, sowie B 69–71.
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Kennen wir diesen transcendentalen Selbstgrund aber nicht im mindesten; kennen wir seine Art der Wirksamkeit in keinem Falle, so können wir auch auf keine rechtmäßige Weise bestimmen wollen, was für Antheil die äußern Dinge durch gegebene Gelegenheiten, und was der Selbstgrund blos für sich allein zu den Erscheinungen des Wollens beytragen mögen, oder mit andern Worten, wir können das moralische Verdienst niemals mit Gewißheit bestimmen. Allein demohngeachtet müssen alle sittlichen Gesetze für einen solchen Willen gelten, weil alle Handlungen, alles Bestreben von den empirischen Gründen der Willenserscheinungen, und diese von dem Selbstgrunde abhängen, nicht aber von den äußern Dingen. Noch glücklichere Aussichten sollen sich nach meiner Hoffnung aus dieser Er‐ örterung für die Disciplin der Moral eröffnen; wovon an einem andern Orte ge‐ nauer und vollständiger, als es hier im Hintergrunde in der Form aphoristischer Resultate geschehen könnte, soll gehandelt werden. Abicht.
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FRIEDRICH HEINRICH JACOBI
(1789)
Ueber die Freyheit des Menschen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) führte ein Düsseldorfer Handelshaus und bekleidete verschiedene Ämter. Mit Philosophie, Politik und Religion beschäftigte er sich als Privatmann, der zahlreiche persönliche Beziehungen zu Gelehrten und Literaten pflegte. Immer wieder schaltete er sich in philosophische Debatten ein oder initiierte solche. Dazu zählen der Pantheismusstreit mit Mendelssohn, die Kritik des kantischen transzendentalen Idealismus sowie die Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling. Dabei übte er weniger durch systematische Beiträge als durch pointierte Kritik und Polemik einen beträchtlichen Einfluss aus. Vor dem Hintergrund der Philosophie Spinozas und Leibniz’, Kants und Humes, aber auch der schottischen Philosophie des Common Sense warnte er vor einer Überschätzung der Vernunft, leerer Spekulation und dem Sich-Verlieren in Abstraktionen ohne Inhalt. Dagegen hob er die Notwendigkeit des Bezugs der Philosophie auf das konkrete Dasein hervor sowie den Vorrang des Glaubens, der der Spekulation erst einen Gehalt zu verschaffen und ihren Realitätsbezug zu sichern vermag. Jacobis hier abgedruckte Aphorismen über die menschliche Freiheit erschienen erstmals 1789 als Zusatz in der Vorrede zur zweiten Auflage von Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. 1799 publizierte Jacobi den Text erneut als Anhang zu Jacobi an Fichte (siehe JW 2.1, 243–252). Dort machte Jacobi auch klar, dass er sich in den Aphorismen mit der kantischen Freiheitslehre auseinandersetzen und insbesondere eine einfachere Deduktion des Moralprinzips (kategorischer Imperativ) vorlegen wollte (vgl. ebd. 214). Tatsächlich teilt Jacobi einige Grundannahmen Kants. In Bezug auf die Konzeptionen von Freiheit, Wille, Moral und Sittengesetz kommt er aber zu Resultaten, die nicht mit der kantischen Lehre zu vereinbaren sind, zumal sie auf eine stoizistische Tugendethik hinauslaufen. Mit Kant nimmt Jacobi an, dass der Mensch sowohl ein sinnliches wie auch ein geistiges Wesen ist. Diese Doppelnatur führt er auf die metaphysische Tatsache zurück, dass der Mensch zwar in einer wesentlichen Abhängigkeit von anderen Dingen gedacht werden muss, aber nicht als schlechthin abhängiges Wesen. In der ersten Perspektive der Abhängigkeit von den natürlichen Dingen, die Jacobi im ersten Teil seiner Abhandlung darstellt, wird der Mensch durchgängig durch das mechanische Spiel der Kräfte – zu denen auch die inneren Triebe und Begierden zählen – bestimmt. Freiheit ist hier nicht möglich. Der Wille wird verstanden als Trieb des vernünftigen Wesens, in Übereinstimmung mit der Gesetzmäßigkeit seiner vernünftigen Natur zu handeln. Daraus leitet Jacobi auch das Moralprinzip ab (§ XXII): Es ist das apriorische Prinzip der praktischen Grundsätze, die darauf zielen, das individuelle Dasein oder die Persönlichkeit zu
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erhalten. Mit diesem Prinzip schließt sich Jacobi offensichtlich der stoischen Lehre von der Oikeiosis, der Lehre von der »Zueignung«, dem natürlichen Trieb zur Selbsterhaltung an. So betrachtet steht weder der Wille noch die Moralität in einem Zusammenhang mit der Freiheit. Diese kommt erst ins Spiel, wenn der Mensch als unabhängiges Wesen betrachtet wird, was im zweiten Teil der Abhandlung geschieht. In dieser Betrachtungsweise muss dem Menschen eine reine Selbsttätigkeit zugeschrieben werden, das Vermögen, das mechanische Spiel von Trieben und Begierden seinem geistigen Wesen unterzuordnen. Dieses Vermögen kann auch als Wille bezeichnet werden. In Anlehnung an die Stoa besteht die Freiheit für Jacobi also darin, durch Beherrschung der Sinnlichkeit Übereinstimmung mit der vernünftigen, geistigen Natur zu erzielen. Wie für Kant ist für Jacobi die so verstandene Freiheit oder Selbsttätigkeit ihrer Möglichkeit nach nicht begreifbar, ihre Wirklichkeit wird jedoch durch das Gefühl der Ehre oder das Gewissen bezeugt, das den Menschen ebenfalls zum Glauben an Gott führt. Weiterführende Literatur: Homann 1973, 135–160, Stolzenberg 2004a, di Giovanni 2005, 137– 150, Klemme / Kuehn 2016, 384–389, Sandkaulen 2019. Jacobis Text findet sich kritisch ediert und kommentiert in JW 1.1, 151–169 (Text), JW 1.2, 482 f. (Kommentar).
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Erste Abtheilung. Der Mensch hat keine Freyheit.
I. Die Möglichkeit des Daseyns aller uns bekannten einzelnen Dinge, stützt und bezieht sich auf das Mitdaseyn anderer einzelner Dinge, und wir sind nicht im Stande, uns von einem für sich allein bestehenden endlichen Wesen eine Vorstel‐ lung zu machen. II. Die Resultate der mannichfaltigen Beziehungen der Existenz auf Coexistenz drücken sich in lebendigen Naturen durch Empfindungen aus. III. Das innere mechanische Verhalten einer lebendigen Natur nach Maaßgabe ihrer Empfindungen heißen wir Begierde und Abscheu; – oder: das empfundene Verhältniß der innerlichen Bedingungen des Daseyns und Bestehens einer leben‐ digen Natur zu den äusserlichen Bedingungen eben dieses Daseyns, oder auch nur das empfundene Verhältniß der innerlichen Bedingungen untereinander ist mechanisch verknüpft mit einer Bewegung, die wir Begierde oder Abscheu nen‐ nen. IV. Was allen verschiedenen Begierden einer lebendigen Natur zum Grunde liegt, nennen wir ihren ursprünglichen natürlichen Trieb, und er macht das We‐ sen selbst dieses Dinges aus. Sein Geschäfte ist, das Vermögen da zu seyn der besondern Natur, deren Trieb er ist, zu erhalten und zu vergrößern.
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V. Diesen ursprünglichen natürlichen Trieb könnte man die Begierde a priori nennen. Die Menge der einzelnen Begierden sind von dieser unveränderlichen allgemeinen nur so viele gelegentliche Anwendungen und Modificationen. Vl. Schlechterdings a priori könnte man eine Begierde nennen, welche jedem einzelnen Wesen ohne Unterschied der Gattung, der Art und des Geschlechts zu‐ geschrieben würde, in so fern alle auf gleiche Weise bemüht sind, sich überhaupt im Daseyn zu erhalten. VII. Ein Vermögen, welches durchaus unbestimmt wäre, ist ein Unding. Jede Bestimmung aber setzt etwas schon bestimmtes zum voraus, und ist die Folge und Erfüllung eines Gesetzes. Die Begierde a priori, sowohl der ersten als der zweyten Gattung, setzt also auch Gesetze a priori zum voraus. VIII. Der ursprüngliche Trieb des vernünftigen Wesens besteht, wie der Trieb eines jeden andern Wesens in dem unaufhörlichen Bestreben, das Vermögen da zu seyn der besonderen Natur, wovon er der Trieb ist, zu erhalten und zu vergrö‐ ßern. IX. Das Daseyn vernünftiger Naturen wird, zum Unterschiede von allen an‐ dern Naturen, ein persönliches Daseyn genannt. Dieses besteht in dem Bewußt‐ seyn, welches das besondere Wesen von seiner Identität hat, und ist die Folge eines höheren Grades des Bewußtseyns überhaupt. X. Der natürliche Trieb des vernünftigen Wesens, oder die vernünftige Begier‐ de, geht also nothwendig auf die Erhöhung des Grades der Personalität; das ist, des lebendigen Daseyns selbst. XI. Die vernünftige Begierde überhaupt, oder den Trieb des vernünftigen We‐ sens, als eines solchen, nennen wir den Willen. XII. Das Daseyn eines jeden endlichen Wesens ist ein succeßives Daseyn; sei‐ ne Personalität beruht auf Gedächtniß und Reflexion; seine eingeschränkte aber deutliche Erkenntniß auf Begriffen, folglich auf Abstraction, und Wort-, Schriftoder andern Zeichen. XIII. Das Gesetz des Willens ist, nach Begriffen der Uebereinstimmung und des Zusammenhanges, das ist nach Grundsätzen, zu handeln: er ist das Vermö‐ gen practischer Prinzipien. XIV. So oft das vernünftige Wesen nicht in Uebereinstimmung mit seinen Grundsätzen handelt, so handelt es nicht nach seinem Willen, nicht gemäß einer vernünftigen, sondern einer unvernünftigen Begierde. XV. Durch die Befriedigung einer jeden unvernünftigen Begierde, wird die Identität des vernünftigen Daseyns unterbrochen; folglich die Personalität, wel‐ che allein im vernünftigen Daseyn gegründet ist, verletzt: mithin die Quantität des lebendigen Daseyns um so viel vermindert. XVI. Derjenige Grad des lebendigen Daseyns, welcher die Person hervorbringt, ist nur eine Art und Weise des lebendigen Daseyns überhaupt, und nicht ein ei‐ genes besonderes Daseyn oder Wesen. Deswegen rechnet sich die Person nicht
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allein diejenigen Handlungen, welche nach Grundsätzen in ihr erfolgen, sondern auch diejenigen zu, welche die Wirkungen unvernünftiger Begierden und blinder Neigungen sind. XVII. Wenn der Mensch, durch eine unvernünftige Begierde verblendet, seine Grund sätze übertreten hat, so pflegt er nachher, wenn er die übeln Folgen seiner Handlung empfindet, zu sagen: Mir geschieht recht. Da er sich der Identität seines Wesens bewußt ist, so muß er sich selbst als den Urheber des unangenehmen Zu‐ standes anschauen, in dem er sich befindet, und in seinem Innern die peinlichste Zwietracht erfahren. XVIII. Auf diese Erfahrung gründet sich das ganze System der practischen Ver‐ nunft, in so fern es nur über Einem Grundtriebe erbaut ist. XIX. Hätte der Mensch nur Eine Begierde, so würde er gar keinen Begriff von Recht und Unrecht haben. Er hat aber mehrere Begierden, die er nicht alle in gleichem Maaße befriedigen kann; sondern die Möglichkeit der Befriedigung der Einen, hebt die Möglichkeit der Befriedigung der Andern in tausend Fällen auf. Sind nun alle diese verschiedenen Begierden nur Modificationen einer einzigen ursprünglichen Begierde, so giebt diese das Prinzip an die Hand, nach welchem die verschiede nen Begierden sich gegen einander abwiegen lassen, und wodurch das Verhältniß bestimmbar wird, nach welchem sie, ohne daß die Person mit sich selbst in Widerspruch und Feindschaft gerathe, befriedigt werden können. XX. Ein solches innerliches Recht bildet sich unvollkommen in jedem Men‐ schen auf eine mechanische Weise, vermöge der Identität seines Bewußtseyns. Das äusserliche Recht, welches Menschen, wenn sie in eine bürgerliche Vereini‐ gung treten, untereinander frey verabreden, und ungezwungen festsetzen, ist im‐ mer nur die Abbildung des unter den einzelnen Gliedern zu Stande gekommenen innerlichen Rechts. Ich verweise auf die Geschichte aller Völker, von welchen wir etwas ausführliche Nachrichten haben. XXI. Die größere Vollkommenheit, zu welcher, nach Umständen, das innerli‐ che Recht gelangt, erfolgt nur als eine Fortsetzung und Ausarbeitung eben des Mechanismus, welcher das minder vollkommene hervorbrachte. Alle Grundsätze ruhen auf Begierde und Erfahrung, und setzen, in so fern sie wirklich befolgt werden, eine anderswoher schon bestimmte Thätigkeit zum voraus; sie können nie der Anfang oder die erste Ursache einer Handlung seyn. Die Fähigkeit und Fertigkeit wirksame Grundsätze auszubilden oder practisch anzunehmen, ist wie die Fähigkeit Vorstellungen zu empfangen; wie das Vermögen diese Vorstellungen in Begriffe zu verwandeln; wie die Lebhaftigkeit und Energie des Gedankens; wie der Grad des vernünftigen Daseyns. XXII. Das Prinzip (oder das a priori) der Grundsätze überhaupt, ist die ur‐ sprüngliche Begierde des vernünftigen Wesens, sein eigenes besonderes Daseyn, das ist, seine Person zu erhalten, und was ihre Identität verletzen will, sich zu unterwerfen.
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XXIII. Aus eben diesem Triebe fließt eine natürliche Liebe und Verbindlichkeit zur Gerechtigkeit gegen andre. Das vernünftige Wesen kann sich als vernünftiges Wesen (in der Abstraction) von einem andern vernünftigen Wesen nicht unter‐ scheiden. Ich und Mensch ist Eins; Er und Mensch ist Eins: also sind er und ich Eins. Die Liebe der Person schränkt also die Liebe des Individui ein, und nöthigt seiner nicht zu achten. Damit aber letzteres in der Theorie nicht bis zur möglichen Vertilgung des Individui ausgedehnt, und ein bloßes Nichts in Person übrig gelas‐ sen werde, sind genauere Bestimmungen erforderlich, welche im vorhergegange‐ nen schon angedeutet sind, und deren weitere Erörterung hier zu unserem Zwecke nicht gehört. Uns genügt auf diesem Wege zur deutlichen Einsicht gelangt zu seyn, wie jene moralischen Gesetze, welche apodictische Gesetze der practischen Ver‐ nunft genannt werden, zu Stande kommen, und nun entscheiden zu können, daß der einfache, mit Vernunft verknüpfte Grundtrieb, bis zu seiner höchsten Entwicke‐ lung hinauf, lauter Mechanismus und keine Freyheit zeige, obgleich ein Schein von Freyheit durch das oft entgegengesetzte Interesse des Individui und der Person, und das abwechselnde Glück einer Herrschaft, worauf die Person allein mit deutlichem Bewußtseyn verknüpfte Ansprüche hat, zuwege gebracht wird. Zweyte Abtheilung. Der Mensch hat Freyheit.
XXIV. Daß sich das Daseyn aller endlichen Dinge auf Mitdaseyn stütze, und wir nicht im Stande sind, uns von einem schlechterdings für sich bestehenden We‐ sen eine Vorstellung zu machen, ist unläugbar; aber eben so unläugbar, daß wir noch weniger im Stande sind, uns eine Vorstellung von einem schlechterdings abhängigen Wesen zu machen. Ein solches Wesen müßte ganz paßiv seyn, und könnte doch nicht paßiv seyn; denn was nicht schon etwas ist, kann nicht zu etwas blos bestimmt werden; was an sich keine Eigenschaft hat, in dem können durch Verhältnisse keine erzeugt werden, ja es ist nicht einmal ein Verhältniß in Absicht seiner möglich. XXV. Wenn nun ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen nicht gedenk‐ bar, sondern ein Unding ist, so muß eine blos vermittelte, das ist ganz mechani‐ sche Handlung ebenfalls ein Unding seyn: folglich ist Mechanismus an sich nur etwas zufälliges, und es muß eine reine Selbstthätigkeit ihm nothwendig überall zum Grunde liegen. XXVI. Indem wir erkennen, daß jedes endliche Ding sich in seinem Daseyn, folglich auch in seinem Thun und Leiden auf andre endliche Dinge nothwendig stützt und bezieht, erkennen wir zugleich die Unterwerfung aller und jeder ein‐ zelner Wesen unter mechanische Gesetze: denn in so fern ihr Seyn und Wirken vermittelt ist, in so fern muß es schlechterdings auf Gesetzen des Mechanismus beruhen.
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XXVII. Die Erkenntniß dessen, was das Daseyn der Dinge vermittelt, heißt ei‐ ne deutliche Erkenntniß; und was keine Vermittelung zuläßt, kann von uns nicht deutlich erkannt werden. XXVIII. Absolute Selbstthätigkeit läßt keine Vermittelung zu, und es ist un‐ möglich, daß wir das Innere derselben auf irgend eine Art deutlich erkennen. XXIX. Es kann also die Möglichkeit absoluter Selbstthätigkeit nicht erkannt werden; wohl aber ihre Wirklichkeit, welche sich unmittelbar im Bewußtseyn darstellt, und durch die That beweist. 22 XXX. Sie wird Freyheit genannt, in so fern sie sich dem Mechanismus, welcher das sinnliche Daseyn des einzelnen Wesens ausmacht, entgegen setzen und ihn überwiegen kann. XXXI. Wir kennen unter den lebendigen Wesen nur den Menschen, der mit demjenigen Grade des Bewußtseyns seiner Selbstthätigkeit begabt wäre, welcher den Beruf und Antrieb zu freyen Handlungen mit sich führt. XXXII. Es bestehet also die Freyheit nicht in einem ungereimten Vermögen, sich ohne Gründe zu entscheiden; eben so wenig in der Wahl des Bessern unter dem Nützlichen, oder der vernünftigen Begierde: denn eine solche Wahl, wenn sie auch nach den abgezogensten Begriffen geschieht, erfolgt doch immer nur mechanisch; – sondern es besteht diese Freyheit, dem Wesen nach, in der Unab‐ hängigkeit des Willens von der Begierde. XXXIII. Wille ist reine Selbstthätigkeit, erhoben zu dem Grade des Bewußt‐ seyns, welchen wir Vernunft nennen. XXXIV. Die Unabhängigkeit und innerliche Allmacht des Willens, oder die mögliche Herrschaft des intellectuellen Wesens über das sinnliche Wesen wird de facto von allen Menschen zugegeben. XXXV. Von den Weisen des Alterthums, am mehrsten von den Stoikern ist es bekannt, daß sie zwischen Dingen der Begierde, und Dingen der Ehre keine Ver‐ gleichung zuliessen. 23 Die Gegenstände der Begierde, sagten sie, könnten nach der Empfindung des Angenehmen, und den Begriffen des Zuträglichen unterein‐ ander verglichen, und eine Begierde der andern aufgeopfert werden; das Prin‐ zip der Begierde aber liege ausser allem Verhältnisse mit dem Prinzip der Ehre, welches nur Einen Gegenstand habe: die Vollkommenheit der menschlichen Na‐ tur an sich, Selbstthätigkeit, Freyheit. Daher waren alle Vergehungen bey ihnen gleich, und immer nur die Frage, aus welchem von den beyden unvergleichba‐ ren Prinzipien, die unmöglich je miteinander in eine wirkliche Collision kommen konnten, die Handlung geschehen war. Denjenigen wollten sie mit Recht allein
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Vgl. KpV. AA V, 4, 47. »Dinge der Begierde« betrafen in der stoischen Lehre den Pathos oder Affekt, den es durch Vernunft zu beherrschen galt; »Dinge der Ehre« betrafen das sittlich Gute oder Schöne (kalòn, honestas), das in der Übereinstimmung mit der Vernunft bestand. 23
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einen freyen Mann genannt wissen, der nur das Leben seiner Seele lebte, sich nach den Gesetzen seiner eigenen Natur bestimmte, also nur sich gehorchte und immer selbst handelte: lauter Knechte sahen sie im Gegentheil in denen, welche, durch Dinge der Begierde bestimmt, den Gesetzen dieser Dinge nachlebten, und sich ihnen unterwarfen, damit sie von denselben auf eine ihren Begierden gemä‐ ße Weise unaufhörlich verändert und in Handlung gesetzt werden möchten. XXXVI. Wie weit nun auch unser aufgeklärtes Zeitalter über – die Schwärme‐ reyen – oder den Mysticismus eines Epictets und Antonins 24 erhaben seyn mag, so sind wir doch in der Deutlichkeit und Gründlichkeit noch nicht so weit gekom‐ men, daß wir von allem Gefühl der Ehre los wären. So lange aber noch ein Funken dieses Gefühls im Menschen wohnt, so lange ist ein unwidersprechliches Zeugniß der Freyheit, ein unbezwinglicher Glaube an die innerliche Allmacht des Willens in ihm. Mit dem Munde kann er diesen Glauben verläugnen, aber er bleibt im Gewissen, und bricht einmal unversehens hervor, wie im Mahomet des Dichters, da er in sich gekehrt und betroffen die schauderhaften Worten ausspricht: Il est donc des remords! 25 XXXVII. Allein nicht einmal mit dem Munde kann er ganz verläugnet werden, dieser Glaube. Denn wer will den Namen haben, daß er nicht allen Versuchungen zu einer schändlichen Handlung jederzeit wiederstehen könne; wer nur, daß er hier zu überlegen, Vortheile oder Nachtheile in Betrachtung zu ziehen, an Grad oder Größe zu denken nöthig habe? – Und auf dieselbige Weise urtheilen wir auch in Absicht anderer Menschen. Sehen wir jemand das Angenehme dem Nützlichen vorziehen; zu seinen Zwecken verkehrte Mittel wählen; sich selbst in seinen Wünschen und Bestrebungen widersprechen: wir finden nur, daß er unvernünf‐ tig, thöricht handelt. Ist er nachläßig in der Erfüllung seiner Pflichten, befleckt er sich sogar mit Lastern; ist er ungerecht und übt Gewaltthätigkeiten aus: wir können ihn hassen, verabscheuen; – aber ihn ganz wegwerfen können wir noch nicht. Verläugnet er aber auf irgend eine entschiedene Weise das Gefühl der Ehre; zeigt er, daß er innere Schande tragen, oder Selbstverachtung nicht mehr fühlen kann; dann werfen wir ihn ohne Gnade weg, er ist Koth unter unseren Füßen. XXXVIII. Woher diese unbedingten Urtheile; woher solche ungemessene An‐ maßungen und Forderungen, die sich nicht einmal blos auf Handlungen ein‐ schränken, sondern das Gefühl in Anspruch nehmen, und sein Daseyn apodik‐ tisch fordern? XXXIX. Sollte sich das Recht dieser Anmaßungen und Forderungen wohl auf eine For mel, etwa auf die Einsicht in die richtige Verknüpfung, auf die gewisse
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Epiktet (ca. 55–138) und der römische Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (Marc Au‐ rel; 121–180) waren Vertreter der späten Stoa. 25 Frz.: »Das sind also Gewissensbisse!« Ausspruch des Mahomet in seiner Schlussrede aus Voltaires Le fanatisme, ou Mahomet le prophèt, 5. Akt, 4. Szene, uraufgeführt 1741.
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Wahrheit des Resultats folgender Sätze gründen: Wenn A ist wie B, und C ist wie A, so ist B wie C? – Spinoza erwies auf diese Art, der Mensch, in so fern er ein vernünftiges Wesen sey, opfre eher sein Leben auf, wenn er auch keine Unsterb‐ lichkeit der Seele glaube, als daß er durch eine Lüge sich vom Tode rettete *26; und in abstracto hat Spinoza recht. Es ist eben so unmöglich, daß der Mensch der reinen Vernunft lüge oder betrüge, als daß die drey Winkel eines Dreyecks nicht zwey rechten gleich seyn. Aber wird das wirkliche mit Vernunft begabte Wesen sich von dem abstracto seiner Vernunft wohl so in die Enge treiben, von einem Gedankendinge durch ein Wortspiel so ganz sich gefangen nehmen las‐ sen? – Nimmermehr! – Wenn auf Ehre Verlaß ist, und der Mensch Wort halten kann, so muß noch ein andrer Geist, als der bloße Geist des Syllogismus in ihm wohnen **27. XL. Ich halte diesen andern Geist für den Othem Gottes in dem Gebilde von Erde. XLI. Es beweist dieser Geist zuerst sein Daseyn im Verstande, der wirklich oh‐ ne ihn jener wunderbare Mechanismus seyn würde, welcher nicht allein die Lei‐ tung eines Sehenden durch einen Blinden möglich, sondern auch die Nothwen‐ digkeit einer solchen Einrichtung durch Vernunftschlüsse erweislich machte. Wer bändigt hier den Syllogismus, indem er seine Vordersätze schlägt? Allein dieser Geist, durch seine Gegenwart in Thaten der Freyheit, und einem unvertilgbaren Bewußtseyn ***28. XLII. Wie dieses Bewußtseyn die Ueberzeugung selbst ist: Intelligenz für sich allein sey wirksam; sey die höchste, ja die einzige uns wahrhaft bekannte Kraft: so lehrt es auch unmittel bar den Glauben an eine Erste allerhöchste Intelligenz; an einen verständigen Urheber und Gesetzgeber der Natur, an einen Gott, der ein Geist ist. XLIII. Aber dieser Glaube erhält erst seine volle Kraft und wird Religion, wenn im Herzen des Menschen das Vermögen reiner Liebe sich entwickelt. XLIV. Reine Liebe? – Giebt es eine solche? – – Wie beweist sie sich, und wo findet man ihren Gegenstand? *
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Eth. P. IV. Pr. LXXII. Die Vernunft des Menschen, vom Menschen selbst und von allem Triebe abgeson‐ dert, ist ein bloßes Gedankending, das weder agieren noch reagieren, weder denken noch handeln kann. S. S. 423. dieser Schrift. *** S. S. 28 u. 29 dieser Schrift. **
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Spinoza: Ethica. Pars IV, Propositio LXXII: »Homo liber nunquam dolo malo, sed semper cum fide agit«. (»Der freie Mensch erträgt nie das Schlechte, sondern handelt stets gewissenhaft.«) Der von Jacobi erwähnte Beweis findet sich in der Demonstratio und dem Scholium, die auf Propositio LXXII unmittelbar folgen. 27 Vgl. Jacobi: JW 1.1, 259 f. 28 Vgl. Jacobi: JW 1.1, 20 f.
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XLV. Wenn ich antworte, das Prinzip der Liebe sey dasselbige, von dessen Da‐ seyn als Prinzip der Ehre wir uns schon versicherten: so wird man nur ein größe‐ res Recht zu haben glauben, in Absicht des Gegenstandes, den ich darstellen soll, dringend zu werden. XLVI. Ich antworte also: der Gegenstand der reinen Liebe ist derjenige, den ein Sokrates vor Augen hatte. Er ist das Θειον im Menschen; 29 und die Ehrfurcht vor die sem Göttlichen, ist was aller Tugend, allem Ehrgefühl zum Grunde liegt. XLVII. Construiren kann ich weder diesen Trieb noch seinen Gegenstand. Ich müßte, um es zu können, wissen, wie Substanzen erschaffen werden, und ein nothwendiges Wesen möglich ist. Aber meine Ueberzeugung von ihrem Daseyn wird folgendes vielleicht noch etwas mehr erläutern. XLVIII. Wenn das Weltall kein Gott, sondern eine Schöpfung; wenn es die Wir‐ kung einer freyen Intelligenz ist: so muß die ursprüngliche Richtung eines jeden Wesens, Ausdruck eines Göttlichen Willens seyn. Dieser Ausdruck in der Creatur ist ihr ursprüngliches Gesetz, in welchem die Kraft es zu erfüllen nothwendig mit gegeben seyn muß. Dieses Gesetz, welches die Bedingung des Daseyns des Wesens selbst, sein ursprünglicher Trieb, sein eigener Wille ist, kann mit den Naturgeset‐ zen, welche nur Resultate von Verhältnissen sind, und durchaus auf Vermittelung beruhen, nicht verglichen werden. Nun gehört aber jedes einzelne Wesen zur Na‐ tur; ist also auch den Naturgesetzen unterworfen, und hat eine doppelte Richtung. XLIX. Die Richtung auf das Endliche ist der sinnliche Trieb oder das Prinzip der Begierde; die Richtung auf das Ewige ist der intellectuelle Trieb, das Prinzip reiner Liebe. L. Wollte man mich über diese doppelte Richtung selbst zur Rede stellen; nach der Möglichkeit eines solchen Verhältnisses und der Theorie seiner Einrichtung fragen: so würde ich mit Recht eine solche Frage abweisen, weil sie die Mög‐ lichkeit und Theorie der Schöpfung, Bedingungen des Unbedingten zum Gegen‐ stande hat. Es ist genug, wenn das Daseyn dieser doppelten Richtung und ihr Verhältniß durch die That bewiesen und von der Vernunft erkannt ist. Wie sich alle Menschen Freyheit zuschreiben, und allein in den Besitz derselben ihre Ehre setzen; so schreiben sich auch alle ein Vermögen reiner Liebe, und ein Ge fühl der überwiegenden Energie desselben zu, worauf die Möglichkeit der Freyheit beruht. Alle wollen Liebhaber der Tugend selbst, nicht der mit ihr verknüpften Vortheile seyn; alle wollen von einem Schönen wissen, welches nicht blos das Angenehme; von einer Freude, die nicht bloßer Kitzel sey. LI. Handlungen, welche aus diesem Vermögen wirklich hervorgehen, nennen wir göttliche Handlungen; und ihre Quelle, die Gesinnungen selbst, göttliche Ge‐ 29
Theion, gr.: »das Göttliche«. Der Ausdruck bezeichnet bei Platon das Göttliche selbst, aber auch das Gottähnliche im Menschen, durch das er am Göttlichen teilhat (vgl. Phaidros 246d–e, Symposion 180b, Menon 99c–d).
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sinnungen. Auch begleitet sie eine Freude, die mit keiner andern Freude vergli‐ chen werden kann: es ist die Freude, die Gott selbst an seinem Daseyn hat. LII. Freude ist jeder Genuß des Daseyns; so wie alles, was das Daseyn anficht, Schmerz und Traurigkeit zuwege bringt. Ihre Quelle ist die Quelle des Lebens und aller Thätigkeit. Bezieht aber ihr Affect sich nur auf ein vergängliches Daseyn, so ist er selbst vergänglich: Seele des Thiers. Ist sein Gegenstand das Unvergängliche und Ewige; so ist er die Kraft der Gottheit selbst, und seine Beute Unsterblichkeit.
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FRIEDRICH WILHELM DANIEL SNELL
(1789)
Die Lehre von der Moralischen Freiheit nach Kantischen Principien [Auszug]
Friedrich Wilhelm Daniel Snell (1761–1827) studierte Theologie und wirkte als Lehrer am Gymnasium Gießen. 1789 wurde er daneben außerordentlicher Professor an der Universität Gießen, 1805 ordentlicher Professor für Geschichte. Während er als systematischer Philosoph kaum in Erscheinung trat, hatte er einigen Einfluss als Verfasser von Lehrbüchern zur Mathematik und Philosophie, letztere auch gemeinsam mit seinem Bruder Christian Wilhelm (siehe Text 4). Mit C. C. E. Schmid gab er 1793–1794 das Philosophische Journal für Moralität, Religion und Menschenwohl heraus. Snell gehörte zu jenen Philosophen, die sich früh dem Kantianismus anschlossen, diesen jedoch mit Gedankengut und Lehrstücken aus dem Leibniz-Wolff’schen Rationalismus in Übereinstimmung zu bringen versuchten. Kants bedeutendste Leistungen lagen für Snell in der Moraltheorie und Ästhetik, denen er auch Kommentare widmete. Der Aufsatz »Die Lehre von der Moralischen Freiheit nach Kantischen Principien«, aus dem wir hier einen Auszug wiedergeben, erschien 1789 im Band Vermischte Aufsäzze. Giesen bey Johann Christian Krieger dem jüngern (F. W. D. Snell 1789, 125–190), ergänzt durch einen rezensionsartigen Anhang zu Ulrichs Eleutheriologie (ebd. 190–198; vgl. Text 2). Wie der Aufsatztitel verrät, vertritt Snell klar die kantische Position. Für ihn ist die zentrale Streitfrage – ob es einen freien Willen gebe oder ob eine durchgängige Naturnotwendigkeit herrsche – ein Problem, das sich nur für die philosophische Spekulation ergibt. Für den gemeinen Verstand, in der Alltagspraxis, ist es dagegen unbestritten, dass es einen freien Willen gibt – schließlich wird dessen Realität in der Erfahrung der moralischen Praxis unbestreitbar belegt. Kants Leistung liegt denn für Snell auch darin, gezeigt zu haben, dass die sich widersprechenden spekulativen Positionen zur Frage der Freiheit aus unvermeidlichen Fehlschlüssen der theoretischen Vernunft entstehen und dass das Problem sich durch die kritische Untersuchung beseitigen lässt. Dementsprechend präsentiert Snell im ersten Abschnitt seines Aufsatzes den spekulativen Widerstreit in Form der dritten Antinomie aus der Kritik der reinen Vernunft (vgl. KrV A 444– 451/B 472–479), im zweiten Abschnitt dessen Auflösung auf der Grundlage der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich (vgl. KrV A 532–558/B 560–586) und im dritten den transzendentalen Begriff der Freiheit im Sinne der theoretischen Möglichkeit, den Anfang einer Kausalreihe zu machen, ohne dass diesem eine weitere Ursache zeitlich vorangeht.
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Aufgrund der Doppelnatur aller Gegenstände, die einerseits als Erscheinungen betrachtet in den Bereich des Sinnlich-Empirischen gehören, andererseits als Dinge an sich betrachtet intelligibel sind, kann Snell zufolge gezeigt werden, dass Kausalität durch Freiheit bzw. eine intelligible Ursache mit einer durchgängigen Naturnotwendigkeit im Bereich der Empirie vereinbar ist. Auf ebendieser Grundlage kann nun auch – in den Schlusspassagen des dritten Abschnitts und im vierten Abschnitt, die hier abgedruckt sind – der Begriff der praktischen oder moralischen Freiheit des Menschen bestimmt werden. Denn der Mensch bzw. die menschliche Seele hat wie alle Gegenstände einerseits den Charakter der Erscheinung, andererseits den Charakter des Dinges an sich. Unter dem letzteren Aspekt ist demzufolge auch die Möglichkeit gegeben, dass die menschliche Seele als intelligible Ursache wirkt, sodass die Handlungen des Menschen, wiewohl sie als notwendig bestimmt erscheinen, als an sich frei angesehen werden können. Praktische Freiheit besteht für Snell demzufolge in der »Unabhängigkeit der Willkühr von der Nöthigung der Antriebe der Sinnlichkeit« (ebd. 176). Belegt wird die Realität der praktischen Freiheit schließlich durch die Erfahrung, d. h. durch das Vorliegen der moralischen Gesetze der Vernunft, die praktische Freiheit notwendig voraussetzen. Die Entscheidung zwischen der Annahme der moralischen Freiheit und einem durchgängigen Naturdeterminismus, die die theoretische Spekulation nicht zu fällen vermochte, ist also durch das praktische Interesse an der Geltung der moralischen Gesetze doch noch möglich. Weiterführende Literatur: Klemme / Kuehn 2016, 724 f.
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III. Möglichkeit der Causalität durch Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesez der Naturnothwendigkeit.
Dasienige an einem Gegenstande der Sinne, was nicht selbst Erscheinung ist, kann intelligi bel heissen. Wenn demnach dasienige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muß, an sich selbst auch ein Vermögen hat, wel‐ ches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen seyn kann: so kann man die Causalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den Wirkungen derselben, als eine Erschei‐ nung in der Sinnenwelt. Eine solche doppelte Seite, das Vermögen eines Gegenstandes der Sinne sich zu denken, widerspricht keinem von den Begriffen, die wir uns von Erscheinun‐ gen, und einer möglichen Erfahrung zu machen haben. Denn da diesen, weil sie
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an sich keine Dinge sind, ein transscendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als blose sinnliche Vorstellungen bestimmt; so hindert uns nichts, daß wir diesem transscendentalen Gegenstande, ausser der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Causalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird. Es muß aber eine iede wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Ge‐ sez ihrer Cau salität, ohne welches sie gar nicht Ursache seyn würde. Und da würden wir an einem Objekte der Sinnenwelt 1) einen empirischen Charakter ha‐ ben, wodurch seine Handlungen als Erscheinungen durch und durch mit andern Erscheinungen nach beständigen Naturgesezzen im Zusammenhange stünden; 2) würde man ihm noch einen intelligibelen Charakter einräumen müssen, dadurch es zwar die Ursache iener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst un‐ ter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit stehet, und selbst nicht Erscheinung ist. Dieses handelnde Subiekt würde nun nach seinem intelligibelen Charakter un‐ ter keinen Zeitbedingungen stehen. (Denn die Zeit ist nur die Bedingung der Er‐ scheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst.) In ihm würde keine Handlung entstehen oder vergehen. Dieser intelligibele Charakter könnte zwar niemals un‐ mittelbar erkannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als insofern es erscheint: aber er würde doch dem empirischen Charakter gemäs gedacht werden müssen. Nach seinem empirischen Charakter würde also dieses Subjekt als Erschei‐ nung allen Gesezzen der Causalverbindung unterworfen seyn; (hier hätte das Gesez, daß alles, was geschieht, in der Erscheinung seine Ursache haben muß, seine volle Gültigkeit.) Es wäre in so fern nichts anders als ein Theil der Sinnen‐ welt, dessen Wirkungen, so wie iede andere Erscheinung, aus der Natur unaus‐ bleiblich abflössen. – Nach dem intelligibilen Charakter würde dasselbe Subiekt dennoch von allem Einfluß der Sinnlichkeit und Bestimmung durch Erscheinun‐ gen freygesprochen werden müssen. Man würde von ihm mit Recht sagen, daß es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt. Um das Gesagte noch mehr zu entwikkeln, wollen wir unsere Betrachtung noch weiter fortsezzen. Das Gesez, daß alles, was geschieht, seine Ursache habe, ist in der Erfahrung allgemein gültig. Es hat uns oben dahin geführt, daß wir in der re‐ gressiven Reihe der Ursachen niemals stehen bleiben dürfen, um iene für die erste anzunehmen, weil die Ursache der Ursache immer wieder in der Zeit entstanden ist. Wir schlossen daraus, daß diese Reihe nicht endlich, aber auch nicht unend‐ lich seyn könnte, sondern so lang als wir zurükgehen wollen, weil wir nur mit Ursachen in der Sinnenwelt, die kein Ding an sich selbst ist, zu thun hatten. Ist es denn aber auch nothwendig, daß, wenn die Wirkungen blose Erschei‐ nungen sind, die Causalität ihrer Ursache lediglich empirisch seyn müsse? Kann diese Ursache nicht auf zwei Seiten betrachtet werden, so daß zu einer Wirkung
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eine Verknüpfung mit ihrer Ursache, nach Gesezzen der empirischen Causalität, allerdings erfordert wird, aber doch diese empirische Causalität selbst, (ohne ih‐ ren Zusammenhang mit den Naturursachen im mindesten zu unterbrechen) eine Wirkung einer nichtempirischen (intelligibelen) Causalität seyn könne? Der Ver‐ stand kann auf diese Art in dem Reiche der Natur zu ieder Wirkung eine Ursache in der Erscheinung finden, und die physischen Erklärungen gehen ihren Gang ungehindert fort. Nun thut ihm das nicht den mindesten Abbruch, gesezt, daß es auch blos erdichtet seyn sollte, wenn man annimmt, daß es unter den Naturur‐ sachen auch welche gebe, die ein intelligibeles Vermögen haben. Denn auf die‐ se Art würde das handelnde Subiekt, als causa phaenomenon, mit der Natur in unzertrennter Abhängigkeit aller ihrer Handlungen verkettet seyn, und nur das phaenomenon dieses Subiekts würde auch gewisse Bedingungen enthalten, die, wenn man von dem empirischen Gegenstande zu dem transscendentalen (nicht‐ sinnlichen) aufsteigen will, als blos intelligibel müsten angesehen werden. 30 Anwendung auf die Handlungen des Menschen.
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Der Mensch ist eine von den Erscheinungen in der Sinnenwelt, und daher ste‐ hen auch seine Handlungen unter empirischen Gesezzen, oder er hat einen em‐ pirischen Charakter. Dieser ist nichts anders, als eine gewisse Causalität seiner Vernunft, die unter der Regel der Natur stehet. Alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung sind aus seinem empirischen Charakter nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkühr bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewisheit vorhersagen, und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als nothwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters giebt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch blose Apperception und zwar in Handlungen und innern Bestimmungen, die man gar nicht zum Eindrukke der Sinne zählen kann. Er ist 30
»Denn auf diese Art würde das handelnde Subject als causa phaenomenon mit der Natur in unzertrennter Abhängigkeit aller ihrer Handlungen verkettet sein, und nur das phaenomenon dieses Subjects (mit aller Causalität desselben in der Erscheinung) würde gewisse Bedingungen enthalten, die, wenn man von dem empirischen Gegenstande zu dem transscendentalen aufsteigen will, als bloß intelligibel müßten angesehen werden.« (KrV A 545/B 573) Die causa phaenomenon versteht Kant als erscheinende Ursache, d. h. als Ursa‐ che, die mittels der Kategorie von Ursache und Wirkung empirisch erkannt werden kann. Davon zu unterscheiden ist die causa noumenon, bei der es sich um ein reines Verstan‐ deswesen bzw. einen intelligiblen Gegenstand handelt, der ursächlich wirkt. Eine solche noumenale Ursache kann zwar als möglich gedacht, aber nicht als wirklich erkannt werden (vgl. KpV. AA V, 55 f.).
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sich selbst freilich eines Theils Phänomen, andern Theils aber, nemlich in An‐ sehung gewisser Vermögen, ein blos intelligibeler Gegenstand. Wir nennen die‐ se Vermögen Verstand und Vernunft. Dieser Vernunft können wir nun Causalität durch Freiheit beilegen, ohne daß dadurch die Reihe der empirischen Ursachen unterbrochen wird. Die Vernunft ist alsdann die beharrliche Bedingung aller willkührlichen Hand‐ lungen. Jede derselben ist im empirischen Charakter des Menschen vorher be‐ stimmt, ehe noch als sie geschieht. In Ansehung des intelligibelen Charakters, wovon iene nur das sinnliche Schema ist, gilt kein Vorher oder Nachher. Er hat das Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, und mithin völlig frei zu handeln. Dieß ist die Idee, welche sich spekulative Vernunft von Freiheit schafft. Bis hie‐ her haben wir gesehen, daß auf dem Weg der Spekulation nichts Gewisses über diese Materie aus gemacht werden kann. Die ganze Idee von Freiheit, wie wir sie vorgetragen haben, ist transscendental, und wird nicht in der Erfahrung an‐ getroffen. Deswegen konnten wir über diese Idee auch nichts weiter sagen, als daß sie wenigstens dem Gesez der Naturnothwendigkeit nicht widerstreitet. Die Wirklichkeit der Freiheit als eines Vermögens, welches von selbst die Ursache von Erscheinungen der Sinnenwelt ist, haben wir dadurch gar nicht bewiesen: denn die transscendentale Idee von Freiheit wird in keiner Erfahrung gegeben, und kann gar nicht nach Erfahrungsgesezzen gedacht werden. Wir wollten hier nur zeigen, wie schon gesagt worden, daß Causalität der Natur und der Freiheit sich nicht widersprechen, sondern daß der Widerstreit der spekulativen Vernunft (Siehe den ersten Abschnitt n. 1.) 31 nur auf einem blosen Schein beruhe. Indessen ist unsere Kenntniß hiedurch im Geringsten nicht über den eigentli‐ chen Gegenstand unserer itzigen Untersuchung bereichert. Wir müssen endlich alle spekulativen Untersuchungen über Freiheit, als eine Sache, die nicht für uns und unsern Zustand gehört, bei Seite sezzen und uns nach einem andern Wege umsehen, auf dem wir mehrere und gewissere Kenntniß davon erlangen können. Vierter Abschnitt.
Ausser dem spekulativen Wege bleibt uns keiner als der praktische übrig, und da wird sich sogleich zeigen, daß praktische Freiheit ganz unabhängig von allem, was Spekulation darüber sagen mag, bestehet, und daß die Wirklichkeit dersel‐ ben durch nichts ungewiß gemacht werden kann. Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungs‐ gebrauch hinaus zu gehen und sich vermittelst bloser Ideen zu den äussersten 31
Siehe F. W. D. Snell 1789, 140–151.
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Grenzen aller Kenntniß hinaus zu wagen. Ist dieses Bestreben blos auf ihr speku‐ latives, oder vielmehr einzig und allein auf ihr praktisches Interesse gerichtet? Das blose spekulative Interesse bei der Frage von der Freiheit des Willens ist nur sehr gering, und man würde in Absicht desselben wohl schwerlich eine so ermüdende und mit unaufhörlichen Hindernissen ringende Arbeit transscenden‐ taler Nachforschung übernehmen. – Wenn wir blos dieses spekulative Interesse vor Augen haben, so mag der Wille auch frei seyn; dieses kann alsdann doch nur die intelligibele Ursache unsers Willens angehen. Denn was die Phänomene der Aeusserungen des Willens, die Hand lungen betrift, so müssen wir sie doch immer als Erscheinungen nach Naturgesezzen erklären. (Dieses ist oben gezeigt worden.) 32 Wenn demnach der Grundsaz von der Freiheit des Willens uns zum blossen Wissen gar nicht nöthig ist, und uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen wird; so wird seine Wichtigkeit eigentlich nur das Praktische angehen. Praktischer Begrif der Freiheit.
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Die Freiheit in praktischer Rüksicht ist die Unabhängigkeit der Willkühr von der Nöthigung der Antriebe der Sinnlichkeit. Eine Willkühr nemlich ist blos thierisch, (arbitrium brutum) die nicht anders als durch sinnliche Antriebe bestimmt wer‐ den kann. Dieienige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen der Vernunft bestimmt werden kann, heist die freie Will‐ kühr (arbitrium liberum) und alles, was mit dieser als Grund oder als Folge zu‐ sammenhängt, wird praktisch genennet. 33 Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn nicht blos, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar afficirt, be stimmt die menschliche Willkühr; sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art schädlich oder nüzlich ist, die Eindrükke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden. Diese Ueberlegungen aber, was in Ansehung unsers ganzen Zustandes begehrungswerth, das ist, gut oder nüzlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese giebt daher auch Gesezze, welche Imperati‐ ven heisen können, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht
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Siehe 172. »Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung druch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pa‐ thologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) afficirt ist; sie heißt thierisch (arbitri‐ um brutum), wenn sie pathologisch necessitirt werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.« (KrV A 533/B 561 f.) 33
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nie geschieht, und sich dadurch von Naturgesezzen unterscheiden, die nur von dem handeln, was geschieht; weshalb sie auch praktische Gesezze heisen. Nicht nur die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auch das sitt‐ liche Urtheil iedes Menschen, sezzen fest, daß es wirklich reine moralische Ge‐ sezze gebe, welche völlig a priori (ohne Rüksicht auf Glükseligkeit zu nehmen) das Thun und Lassen des Menschen, oder den Gebrauch seiner Freiheit bestim‐ men, und daß diese Gesezze schlechterdings gebieten, und also in aller Absicht nothwendig sind. Diese reinen moralischen Gesezze, die in der menschlichen Ver‐ nunft ohne Rüksicht auf empirische Bedingungen wirksam sind, sagen uns, was wir thun sollen. In der ganzen Natur sehen wir nur, was geschieht, was gewe‐ sen ist, und was seyn wird. Es ist unmöglich, daß darinn Etwas anders seyn soll, als es wirklich ist. Wir können gar nicht sagen, was ein Cirkel für Eigenschaften haben soll, sondern was er für Eigenschaften wirklich hat. Dieses Sollen drükt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund ein bloser Begrif ist; hingegen Naturveränderungen haben Erscheinungen zu Gründen. Un‐ sere Handlungen stehen zwar eines Theils immer unter Naturbedingungen: aber diese Naturbedingungen betreffen nicht die Bestimmung der Willkühr selbst, son‐ dern nur die Wirkungen und den Erfolg in der Erscheinung. Es mögen noch so viele Naturgründe da seyn, noch so viel sinnliche Reize, die uns zum Wollen antreiben, so können sie doch nicht das Sollen hervorbringen, sondern nur ein noch lange nicht nothwendiges, sondern iederzeit bedingtes Wollen. Dieses Ge‐ fühl von unsrer Willkühr, wodurch wir Handlungen nach Vernunftgründen (d. i. moralischen Gesezzen, die a priori in unserer Natur liegen) hervorbringen, ohne daß wir von den Reizen der Sinnlichkeit necessitirt würden, ist es, was wir Frei‐ heit im praktischen Verstande nennen. Wir beurtheilen unsere eigene und frem‐ de Handlun gen in dieser Rücksicht immer, ob sie den moralischen Gesezzen der Vernunft gemäs sind. Ein Beispiel soll dieses noch deutlicher machen. Wenn wir sehen, daß Jemand durch eine boßhafte Lüge Verwirrung in die menschliche Gesellschaft gebracht hat, so werden wir sie erstlich nach ihren Bewegursachen, woraus sie entstanden, untersuchen. Wir gehen seinen empi‐ rischen Charakter, bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlech‐ ten Erziehung, üblen Gesellschaft, zum Theil in der Bösartigkeit des Naturells aufsucht, zum Theil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt, wobei man auch die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht aus der Acht läst. In allem diesem verfährt man wie bei der Untersuchung ieder Reihe von Ursachen in der Natur. Ob man gleich die Handlung nun durch diese Ursachen bestimmt zu ha‐ ben glaubt: so tadelt man nichts destoweniger den Thäter, und zwar nicht we‐ gen seines unglüklichen Naturells, und anderer genannter Umstände, sogar auch nicht wegen seines vorher geführten Lebenswandels. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesez der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansiehet, welche das Verhalten des Menschen unangesehen aller genannten empirischen Bedin‐
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gungen, anders habe bestimmen können, und sollen. Man siehet die Causalität der Vernunft als vollständig an; der Lügner hat in dem Augenblikke, da er lügt, gänzlich Schuld, und wir halten die Vernunft für ein von empirischen Bedingun‐ gen völlig freies Vermögen, das im Stand ist, sich willkührlich nach dem, was uns als moralisches Gesez aufgegeben ist, zu bestimmen. So sehen wir also, daß der Begrif von freier Willkühr, welchen wir annehmen müssen, weil wir Gesezze der Vernunft, reine Imperativen, in uns finden, dasie‐ nige ist, worauf wir endlich nach der ganzen Untersuchung über die menschliche Freiheit geführt werden. Gesezze der Sittlichkeit liegen einmal in unserer Seele, sie würden aber ganz unnüz und unkräftig seyn, wenn wir uns nicht nach ihnen bestimmen könnten. Dieses ist der praktische Weg, der uns eine befriedigende Auflösung unserer Aufgabe verschafft, da wir auf dem spekulativen nichts aus‐ richten konnten. In der That war auch nie, sobald es aufs Handeln ankam, der geringste Streit über die Wirklichkeit dieser praktischen Freiheit. Jeder noch so eifrige Fatalist handelte und beurtheilte Handlungen Anderer eben so wie andre Leute. Nur wenn man sich in transscendentale Unter suchungen einlies, und aus blosen Ver‐ nunftideen über einen Gegenstand zu disputiren anfing, welcher doch ausser dem Kreise unserer Erfahrung liegt, und wovon wir unmöglich etwas wissen können: nur dann gerieth man in einen Widerstreit. An demselben war immer die Voraus‐ sezzung Schuld, daß die Welt ein Ding an sich selbst sey, und nicht blose Erschei‐ nung. Wäre dieses wirklich, so sähe man freilich nicht, wie es möglich wäre, sich aus diesem Labyrinthe von Beweißen und Gegenbeweißen, die beide gleich stark sind, heraus zu helfen. Man würde denn endlich gar nicht wissen, auf welche Seite man sich schlagen sollte, weil die Vertheidiger dieser beiden Meinungen sich wechselsweise so schön widerlegen können. (S. I. Abschn.) 34 Aber diese Voraussezzung: daß die Welt etwas für sich bestehendes sey, wel‐ che noch viele andere Verwirrungen in die Philosophie gebracht hat, ist, wie wir im II. Abschn. 35 gesehen haben, ungegründet. Alles, was wir empfinden, ist blo‐ se Erscheinung im Raum und in der Zeit. Es liegen zwar diesen Erscheinungen Obiekte zum Grunde, wir wissen aber gar nicht, was sie sind. Der ganze Wider‐ streit liese sich also auch leicht heben. Wir sahen nemlich, daß die Reihe der Ursachen in der Sinnenwelt nicht von uns rükwärts we der ins unendliche ver‐ längert, noch durch ein bestimmtes erstes Ziel begrenzt werden dürfe, daß also die empirische Reihe im Regressus von uns so weit fortgesezt werden kann, als wir wollen. Weiter aber fanden wir im III. Abschnitt, 36 daß, weil die Erscheinun‐ gen doch nicht das Einzige seyn können, weil Dinge da seyn müssen, welche 34 35 36
Siehe F. W. D. Snell 1789, 140–151. Siehe F. W. D. Snell 1789, 151–162. Siehe F. W. D. Snell 1789, 162–174.
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erscheinen, daß wir auch nicht sinnliche Ursachen annehmen können, die eine Reihe von Erscheinungen bestimmen, ohne in die Reihe selbst zu gehören, d. i. den empirischen Zeitbedingungen unterworfen zu seyn. Wir machten uns also eine transscendentale Idee von Freiheit, und bemerkten, anstatt daß vorher beide Behauptungen wegfielen, daß nun beide in verschiedner Rüksicht zusammen be‐ stehen konnten; nemlich Naturursachen in der Erscheinung, und Causalität der Freiheit in nicht sinnlichen (intelligibelen) Dingen, die die Erscheinungen aller‐ erst bestimmen. Der Widerstreit war nun freilich gehoben, aber ohne daß wir darum sagen konnten, daß diese transscendentale Idee etwas Wirkliches sey. Wir konnten nur so viel behaupten, daß doch Niemand die Unmöglichkeit einer sol‐ chen Freiheit darthun könne; und dieses war uns auch genug. Blos um das Wissen kann es uns also hier gar nicht zu thun seyn. Dieß ist überhaupt nur auf einen engen Kreis bei uns Menschen eingeschränkt, den Kreis der Erfahrung. Der lezte Endzwek aller unserer Vernunft ist doch immer auf das Praktische gerichtet. Dieß ist die eigentliche Quelle, woraus unsere ganze Kennt‐ niß in Ansehung nichtsinnlicher Gegenstände fliest. Gesezze der reinen Moral liegen in unserer Seele und werden von iedem Menschen, der nur ein wenig über Sittlichkeit nachdenken will, anerkannt. An der Entwikkelung derselben hängt unser ganzer Glaube an die wichtigsten Wahrheiten. Kein menschliches Gemüth ist frei von allem Interesse bei den Fragen über künftiges Leben, moralische Will‐ kühr, u. s. w. Möchten wir nur immer vorerst dieses Interesse recht bevestigen, und vergrössern, möchten wir nur erst versuchen, wenigstens auf dem halben Wege gute Menschen zu machen, so würden wir sie hernach leicht zu dem Glau‐ ben an diese wichtige Wahrheiten bringen! In der That ist es zu bewundern, warum man nicht stets diesen natürlichen Weg gegangen ist. Sobald die Gesezze der Sittlichkeit einmal recht erkannt und angenommen werden, so ist die nothwendige und von unserem Gefühl völlig be‐ stärkte Voraussezzung der praktischen Freiheit oder Willkühr ganz unzertrenn‐ lich damit verbunden, keine Gegengründe, die aus der durchgängig zusammen‐ hängenden Reihe von Ursachen und Wirkungen in der Erfahrung hergenommen sind, können uns diese Gewisheit mehr rauben. Denn die critische Untersuchung über unser Erkenntnisvermögen hat uns gelehrt, daß wir nicht bei blossen Er‐ scheinungen stehen bleiben müssen, wenn von Sittlichkeit die Rede ist, sondern uns noch eine Verstandeswelt denken können, in welcher keine Zeitbedingungen, und kein Mechanismus von Ursachen und Wirkungen Statt findet. Beschluß.
Zum Beschluß wollen wir noch bemerken, welche Verdienste eine kritische Un‐ tersuchung über unsere Vernunft hat. Der Nuzzen derselben ist nicht nur negativ, daß wir uns nemlich mit spekulativer Vernunft nie über die Grenzen der Erfah‐
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rung hinaus wagen sollen: sondern auch positiv; denn wir machen uns dadurch mehr Platz zum praktischen Vernunftgebrauch. 37 Man pflegte gar oft bei der Erweiterung der spekulativen Vernunft über die Grenzen der Sinnlichkeit gar nicht viel auf den praktischen Gebrauch der Ver‐ nunft zur Bestärkung der Hauptwahrheiten zu achten. Man verfehlte den rechten Gesichtspunkt, woraus wir alles menschliche Wissen und Glauben ansehen müs‐ sen, und wollte da völlig erkennen, wo wir nur durch praktische Gründe geleitet zu einem festen Glauben gelangen können. Die Kritik der Vernunft schränkt das Wissen ein, indem sie die Grenzen desselben aufsucht, zugleich aber erweitert sie auch den praktischen Vernunftgebrauch. Durch das erstere bringt sie nur einen negativen, aber durch das andere gewiß einen positiven Nuzen: denn nun ist kei‐ ne über die Erfahrungsgrenze fliegende Spekulation mehr im Stande, Widersprü‐ che gegen Wahrheiten zu erheben, die noch über das durch die praktische Ver‐ nunft volle Bestättigung erhalten. – Die Policey, welche den Gewaltthätigkeiten böser Bürger einen Riegel vorschiebt, daß sie andere in ihren Angelegenheiten nicht hindern, hat gewiß einen positiven Nuzzen: eben so die Kritik, welche den Anmasungen der Vernunft ein Ende machet, wodurch die heiligsten Wahrheiten nur mit einer Menge Scheinwidersprüche bekämpft wurden. Nun wird der prak‐ tische Vernunftgebrauch, ganz ungestört von solchen nichtigen Spekulationen, desto sicherer und gewisser das vorgestekte Ziel erreichen. Die Kritik der Vernunft beweist, daß Raum und Zeit Formen der Anschauung sind, daß wir keinen Gegenstand anders als als Obiekt der sinnlichen Anschau‐ ung erkennen, und daher unsere Erkenntniß blos in sinnlicher Erfahrung Erwei‐ terung hoffen darf. Ob wir nun gleich die Dinge an sich selbst nicht erkennen, so können wir sie doch wenigstens denken. Denn es muß doch ausser der Er‐ scheinung auch ein an sich existirendes Subiekt da seyn, wie schon mehrmals erinnert worden. Dieses unbekannte Obiekt können wir freilich nicht erkennen, weil es nicht zu unsern sinnlichen Anschauungen gehört, aber wir können es
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»Eben diese Erörterung des positiven Nutzens kritischer Grundsätze der reinen Ver‐ nunft läßt sich in Ansehung des Begriffs von Gott und der einfachen Natur unserer See‐ le zeigen, die ich aber der Kürze halber vorbeigehe. Ich kann also Gott, Freiheit und Un‐ sterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung über‐ schwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grund‐ sätze bedienen muß, die, indem sie in der That bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln und so alle prak‐ tische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quel‐ le alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.« (KrV B XXIX f.)
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uns doch denken. – Nun wollen wir annehmen, diese kritische Unterscheidung zwischen Dingen an sich selbst und Erscheinungen wäre gar nicht gemacht; so wüsten wir nicht, was wir von dem Widerspruche denken sollten, daß man die Freiheit und die durchgängige Naturnothwendigkeit gleich gut beweisen kann. Die Ursache an der Verwirrung liegt aber darinn, daß wir die Wirkungen der See‐ le in der Erscheinung für Dinge an sich selbst nehmen, welches sie aber nicht sind. Die Kritik gebietet nun, die Seele in zweierlei Rüksicht anzusehen, einmal als Ding an sich selbst, das andremal als etwas, dessen Wirkungen in der Zeit als Erscheinungen wahrgenommen werden. In der ersten Rüksicht nennen wir das nichtsinnliche (intelligibele) der Seele, die Vernunft; in der andern sehen wir al‐ les, was wir durch den sogenannten innern Sinn von der Seele wahrnehmen, als den Zeitbedingungen unterworfen, mithin als Erscheinung an. Die Seele ist aber als ein erscheinendes Wesen eben so dem Grund saz der Naturnothwendigkeit unterworfen, wie die ganze übrige Sinnenwelt, und hat in so fern keine Freiheit, sondern alles geschieht in ihr nach nothwendigen Gesezzen. Dieß ist alles aber nur Erscheinung. Als ein Ding an sich selbst ist sie diesen successiven Bedin‐ gungen der Naturnothwendigkeit gar nicht unterworfen, und kann ohne Wider‐ spruch mit dem vorigen als frei gedacht werden. Ob ich nun gleich meine Seele von der lezten Seite betrachtet, durch keine spekulative Vernunft, (noch weniger durch empirische Beobachtung) mithin auch nicht die Freiheit als Eigenschaft ei‐ nes Wesens, dem ich Wirkungen in der Sinnenwelt zuschreibe, erkennen kann, darum, weil ich ein solches seiner Existenz nach, und doch nicht in der Zeit, be‐ stimmt erkennen müste, welches für uns in diesem izzigen sinnlichen Zustande nicht möglich ist: so kann ich mir doch die Freiheit in dieser transscendentalen Bedeutung denken, d. i. die Vorstellung davon enthält wenigstens keinen Wider‐ spruch in sich. Da nun die Moral nothwendig Freiheit (arbitrium liberum) als Eigenschaft un‐ sers Willens voraussezt, weil sie praktische Grundsätze a priori (Imperativen) anführt, die ohne Voraussezzung der Freiheit schlechterdings unmöglich wären: da ferner aus der vorhergehenden Unterscheidung klar ist, daß sich Freiheit nicht mehr selbst widerspricht, so behauptet nun die Lehre der Sittlichkeit ihren Plaz, und die Naturlehre auch den ihrigen. Und dieses ist eben der positive Nuzzen der Kritik, von welchem wir oben redeten. Wir gewinnen dadurch soviel, daß die moralische Voraussezzung der Freiheit nun keinen Widerspruch mehr von der spekulativen Vernunft zu befürchten hat, und ihren Weg ungehindert gehet. Wie ganz anders sähe es aber um die Moralität aus, wenn die spekulative Ver‐ nunft beweisen könnte, daß sich Natur und Freiheit nicht ohne Widerspruch den‐ ken liesen! Da müste Freiheit und mit ihr Sittlichkeit dem Naturmechanismus den Plaz einräumen. Dieses geschähe unbezweifelt, wenn wir die Sinnenwelt als ein Ding an sich selbst ansehen müsten, und nicht wüsten, daß alles blos Erschei‐ nungen betrift. Ich kann also die Freiheit zum Behuf des praktischen Gebrauchs
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nicht einmal annehmen, wenn ich nicht vorher der spekulativen Vernunft ihre Anmasungen überschwenglicher Einsichten benehme. Wir müssen also das Wis‐ sen einschränken, um zum Glauben Plaz zu bekommen. 38 Diese kritische Untersuchungen über die Vernunft gewähren uns also nun einen sichern Gang einer Wissenschaft, und machen dem grundlosen Tappen und leichtsinnigen 39 Herumstreifen der Vernunft ohne Kritik ein Ende. Sie führen uns bald an, unsere Zeit besser anzuwenden, als beim gewöhnlichen Dogmatis‐ mus geschiehet, über Dinge, davon wir nichts verstehen, und darinn Niemand in der Welt ie etwas einsehen wird, bequem zu vernünfteln, oder gar auf Erfindung neuer Gedanken und Meinungen auszugehen, und so die Erlernung gründlicher Wissenschaften zu verabsäumen. Endlich nuzzen sie am meisten dadurch, daß wir nun den unschäzbaren Vortheil erhalten, allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion auf sokratische Art, nemlich durch den klärsten Beweiß der Unwis‐ senheit der Gegner, auf alle künftige Zeiten ein Ende zu machen. Bei dieser wichtigen Veränderung im Felde der Wissenschaften, und dem Ver‐ luste, den spekulative Vernunft an ihrem bisher eingebildeten Besizze erleiden muß, bleibt dennoch alles mit der allgemeinen menschlichen Angelegenheit in demselben vortheilhaften Zustande, als es iemalen war, und der Verlust trift nur das Monopol der Schulen, keinesweges aber das Interesse der Menschheit. Ist wohl iemals der Beweiß von der Freiheit des Willens durch die subtilen Unter‐ scheidungen von subiektiver und obiektiver praktischer Nothwendigkeit von den Schulen ausgegangen und hat unter dem Publikum die mindeste Ueberzeugung bewirkt? Gewis zu solchen subtilen Spekulationen ist der Menschenverstand meistens untauglich. Im Gegentheil hat die blose klare Darstellung der Pflichten im Gegensazze aller Ansprüche der Neigungen das Bewustseyn der Freiheit unter dem Publikum immer völlig überzeugend bewirkt. Dieser Besiz bleibt nicht nur ganz ungestört, sondern er gewinnt vielmehr dadurch noch Ansehen, daß sich nun Niemand höhere und ausgebreitetere Einsichten in einem Punkte anmasen darf, als dieienige sind, zu denen die große Menge auch eben so leicht gelangen kann.
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Vgl. Anm. 37. Korrigiert aus: »leitsinnigen«.
10 KARL HEINRICH HEYDENREICH
(1791)
Ueber die moralische Freyheit Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801) studierte an der Universität Leipzig und wurde dort 1789 Professor für Philosophie. Sein unsteter Lebenswandel und finanzielle Schwierigkeiten – die auch einen Gefängnisaufenthalt zur Folge hatten – führten dazu, dass er seine Lehrtätigkeit 1798 aufgeben musste und früh verstarb. Als philosophischer Schriftsteller erhielt er einige Beachtung, daneben betätigte er sich ebenfalls im dichterischen Fach. Heydenreich schloss sich bereits um 1785 dem Kantianismus an, wobei er sich hauptsächlich mit der praktischen und angewandten Philosophie beschäftigte und unter anderem Systeme der Ästhetik und des Naturrechts, Abhandlungen über Religions- und Sittenlehre sowie Schriften zur Philosophie des Lebens verfasste. Bei dem hier wiedergegebenen Text handelt es sich um die »Dreyzehnte Betrachtung« aus dem zweiten Band von Heydenreichs religionsphilosophischen Betrachtungen über die Philosophie der natürlichen Religion, der 1791 erschien. Bei der Behandlung der Freiheitslehre geht es ihm, wie er in der Vorrede schreibt, weniger darum, »die so tiefliegenden Beweisgründe für ihre Wahrheit ausführlich« darzulegen, als darum, »einleuchtend zu machen, wie wichtig die theoretische Entscheidung für oder wider die Freyheit, wenn auch gerade nicht für die praktische Religion, doch wenigstens für die Consequenz einer theoretischen natürlichen Theologie ist« (Heydenreich 1791a, 11). Heydenreich geht aus von einem unmittelbaren Bewusstsein der Freiheit, mit dem der Mensch von Natur aus begabt ist. Während dieses angeborene Freiheitsbewusstsein oder -gefühl für die moralische Praxis hinreichend ist, muss aus Sicht der philosophischen Spekulation die Realität der Freiheit erst bewiesen werden. Dabei unterscheidet Heydenreich die »Freyheit überhaupt« von der »moralischen Freyheit«. Erstere muss zwar notwendig in Form einer Idee der Vernunft gedacht, kann aber nicht in der Anschauung gegeben werden, d. h. sie ist als möglich denkbar, aber nicht als wirklich erkennbar. Etwas anders sieht es bei der moralischen Freiheit aus, denn für deren Realität können zwei Gründe angeführt werden: Zum einen hat der Mensch »von seiner moralischen Freyheit ursprüngliche und unmittelbare Gewißheit durch sein Bewußtseyn« (64). Zum andern gibt es eine mittelbare Gewissheit der moralischen Freiheit, sofern diese als notwendige Voraussetzung des Sittengesetzes angenommen werden muss. Obwohl die moralische Freiheit, so wie die Freiheit überhaupt, ihrer Wirklichkeit nach nicht erkannt werden kann, ist der Glaube an ihre Realität sowohl durch die Natur – das Faktum des ursprünglichen, unmittelbaren Freiheitsbewusstseins – wie auch durch die Vernunft – als notwendige Voraussetzung der Möglichkeit des Sittengesetzes – hinreichend gerechtfertigt.
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Im Zentrum von Heydenreichs Freiheitskonzeption steht somit die von Kant abweichende Annahme eines unmittelbaren Freiheitsbewusstseins, die zum eigentlichen Angelpunkt der Begründung der Realität der moralischen Freiheit wird. In seinem Status als natürliches Faktum trägt das Bewusstsein oder Gefühl der Freiheit den größeren Teil der Beweislast. Weiterführende Literatur: Klemme / Kuehn 2016, 333 f., Fabbianelli 2019, 161. Vgl. auch die wahrscheinlich von Heydenreich stammende Rezension von Schmids Versuch einer Moralphilosophie, [Heydenreich] 1791b, wo er sich auch auf den intelligiblen Fatalismus einlässt.
♦ Dreyzehnte Betrachtung.
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Ueber die moralische Freyheit, – Begriff der Freyheit überhaupt, Grund und Gene‐ sis desselben; Unerkennbarkeit und Unbegreiflichkeit seines Gegenstandes; Unan‐ wendbarkeit in der physischen Natur. – Begriff der moralischen Freyheit; Grund und Genesis desselben; Unerkennbarkeit und Unbegreiflichkeit seines Gegenstan‐ des, deßhalb nicht zu bezweifelnde Gewißheit seiner Wirklichkeit; Wegräumung aller entgegenstehenden Gründe.
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Der Mensch ist ursprünglich mit einem Bewußtseyn der Freyheit begabt, welches ihm mit so unwandelbarer Festigkeit beywohnt, daß selbst die stärksten Angrif‐ fe der Speculation es weder zu vertilgen, noch zu schwächen vermögen. Dieses Bewußtseyn ist in der That eine Mitgabe der Natur, zu deren Bildung und Ent‐ wickelung es keines Mitwirkens des Menschen bedarf. Es gründet sich keineswe‐ ges auf Beobachtung und Erkenntniß seines Wesens; denn sein Gegenstand ist unanschaubar, und liegt außer der Sphäre der Beobachtung. Es ist eben so wenig Folge vom Bewußtseyn des moralischen Gesetzes; denn es ist bereits vor der Ent‐ wickelung von diesem wirksam: eben so wenig Resultat von Einsicht der Unmög‐ lichkeit nothwendig bestimmender Ursachen für den Menschen; denn wenn eine solche Einsicht Statt finden kann, so geht jenes dieser bey weitem vorher. 40 Ue‐ berhaupt wird es nicht durch die reine Vernunft-Idee des Unbedingten möglich; denn gesetzt auch man nähme an, daß diese sich so frühzeitig entwickeln könne, als jenes Bewußtseyn schon im Menschen mit völliger Stärke wirkt: so wäre doch nicht einzusehn, wie die Uebertragung dieser Idee auf das menschliche Begeh‐ 40
Heydenreich geht anders als Kant offenbar davon aus, dass ein unmittelbares Be‐ wusstsein nicht nur der negativen, sondern der positiven Freiheit existiert, dass die Wirk‐ lichkeit dieser Freiheit also nicht erst aus dem Bewusstsein des Sittengesetzes erschlossen werden muss. Vgl. GMS. AA IV, 446, 458 und im Abschnitt »Von den Triebfedern der reinen Vernunft«. KpV. AA V, 72–79.
Karl Heinrich Heydenreich (1791)
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rungsvermögen eine so einfache und zuversichtliche Gewißheit bewirken könne. Bewußtseyn der Freyheit ist also dem Menschen eben so unmittelbar eigen und angebohren, als das Bewußtseyn eines Willens. Dies Bewußtseyn reicht allerdings zur Ausübung der Tugend hin. Allein wenn es darauf ankommt, über die Wirklichkeit der Moralität und die wahre Schät‐ zung der freyen Handlungen zu philosophiren, so darf man sich nicht an der Berufung auf dasselbe begnügen. Denn es ist immer gedenkbar, daß es uns uner‐ achtet seiner Angebohrenheit und Unvertilgbarkeit dennoch immer fort täusche; etwa so wie wir Zeitlebens dem Wahne unterworfen sind, als hätten wir es, statt mit unsern Vorstellungen, unmittelbar mit äußern Gegenständen zu thun. Die Philosophie hat also die Obliegenheit, über die Realität des Freyheitsgefühles zu entscheiden, und entweder das Daseyn und die Möglichkeit der Freyheit wirklich zu demonstriren, oder, wenn dieses unmöglich, zu zeigen, daß unerachtet der Unerweislichkeit und Unbegreiflichkeit derselben, die Annahme ihres Daseyns 1) keinen Widerspruch enthalte, 2) für die menschliche Vernunft nothwendig sey. Diese Entscheidung ist um so nöthiger, da die speculative Vernunft, wenn sie die Allgemeinheit und Nothwendigkeit des Naturmechanismus betrachtet, sehr na‐ türlich zu dem Gedanken verleitet wird, als könne neben jenem die Freyheit in einem Weltsysteme nicht bestehen. Die Philosophie muß erst von Freyheit überhaupt handeln, ehe sie zur Be‐ trachtung der moralischen Freyheit übergehen kann.
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§. 1.
Freyheit ist das Vermögen, den vollständigen Grund der Wirklichkeit neuer Zu‐ stände zu enthalten und wirksam zu machen, ohne weder von äußern Kräften, noch von sei nen eignen Zuständen nothwendig bestimmt werden zu können. Kant definirt Freyheit im kosmologischen Verstande das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen. 41 Ich bin nicht ohne Grund von dieser Erklärung abgewi‐ chen. Die Vorstellung des Anfangens widerspricht dem Begriffe der Freyheit zu offenbar. Aller Anfang setzt Zeit voraus, und ist nur unter der Zeitbedingung vor‐ stellbar. Ein absolut erster Anfang hebt sich selbst auf, denn er ist, als Anfang, doch durch die Zeit bedingt. Sobald ich nun dem Vermögen: Freyheit, ein solches Zeitprädicat beylege, so unterwerfe ich dadurch seine Wirksamkeit der mechani‐ schen Caussalität und Nothwendigkeit, zerstöhre also den Begriff, den ich bestim‐ men will, selbst. 42 41
»Dagegen verstehe ich unter Freiheit im kosmologischen Verstande das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte.« (KrV A 533/B 561) 42 Diesen Vorwurf gegen Kant findet man in Pistorius 1796 (Text 1).
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Teil II · Freiheit und Selbstbewusstsein
§. 2.
Freyheit in diesem Sinne ist eine nothwendige Idee, welche die Vernunft a priori bildet, um die bedingten Glieder-Reyhen der Caussal-Verknüpfung des Verstandes auf die Einheit des Unbedingten zurückzuführen. 43 Die Vernunft übernimmt also diese Idee nicht etwa von dem ursprünglichen Be‐ wußtseyn der Freyheit, sondern sie bildet sie selbst durch gesetzmäßige, conse‐ quente Wirksamkeit ihres Vermögens, wie jede andre Idee des Unbedingten. 44
§. 3.
60
Wiewohl wir Freyheit denken können, und denken müssen, so vermögen wir sie doch nie zu erkennen noch zu begreifen.
61
Ein Erkenntniß der Freyheit erforderte erstlich eine gegebene Anschauung, dann ein Denken dieser Anschauung im Zusammenhange mit dem ganzen Contexte der Erfahrung durch Verstandes-Begriffe. Allein 1) ist eine Anschauung der Freyheit nicht möglich. Sobald Freyheit angeschaut würde, träte sie in die Gränzen, unter die Bedingung und Regeln der Zeit, würde also wenigstens als Freyheit nicht vor‐ gestellt. Unser ursprüngliches Bewußtseyn der Freyheit gründet sich keinesweges auf Gewahrnehmung eines solchen Vermögens, wie wir am gewissesten einsehen, wenn wir Rechenschaft davon geben sollen. 2) Im Zusammenhange mit der gan‐ zen Erfahrung könnten wir die Freyheits-Anschauung nur nach versinnlichten Ver‐ standes-Begriffen denken. Sie würde aber dadurch unausbleiblich in Mechanismus verwandelt. Freyheit ist also unerkennbar. Man begreift etwas, sobald man die Ursachen davon wirklich erkennt, wiefern sie nur jenes Etwas, und nichts anders, hervorbringen konnten. Auf diese Weise kön‐ nen wir weder in Beziehung auf Freyheit noch in Beziehung auf freye Handlungen eine solche Einsicht erlangen. Die Genesis des Vermögens der Freyheit liegt ganz außer den Gränzen der Erkennbarkeit, und die Wirkungen der Freyheit sind so beschaffen, daß sie zu begreifen nach unsrer Art des Begreifens unmöglich ist. Wir begreifen nur, was wir in mechanischer Caussal-Verknüpfung erkennen.
§. 4.
Freyheit und freye Handlungen können als solche im Contexte der Erfahrung nicht erkannt werden. Es giebt also in der erkennbaren Natur nur mechanische Verknüpfung der Zustände, nur Nothwendigkeit des Geschehens, nur bestimmten Erfolg einer Wirkung aus einer Ursache. 43 44
Vgl. KrV A 333/B 390, A 444/B 472. Vgl. KrV A 322 ff./B 379 ff., A 333/B 390.
Karl Heinrich Heydenreich (1791)
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§. 5.
Die ursachliche Verknüpfung, unter welcher der menschliche Verstand sich die Gegenstände der Gewahrnehmung denken muß, wenn sie Glieder seines Erkennt‐ niß-Systemes seyn sollen, ist keine Form der Dinge an sich, sondern gehört dem Verstande zu. 45 Durch Anerkennung derselben lernt man also nicht die absolute Natur der Dinge, sondern ein Verhältniß des Verstandes zu den Erscheinungen in der Zeit kennen. 46 §. 6.
So wie der Verstand alles Erkennbare nach dem Caussalgesetze denken muß, so darf er keinesweges irgend etwas, was nicht erkennbar ist, demselben unterord‐ nen. Da nun also die Dinge an sich überhaupt nicht erkannt wer den können, so darf der Verstand seine Caussal-Verknüpfung nicht auf sie übertragen. Und wenn es der Fall seyn sollte, daß der Mensch von gewissen Dingen, ohne daß er sie erkenne und begreife, ursprünglich und unmittelbar Gewißheit hätte: so wären auch diese von jener Erkenntniß-Form ausgenommen. §. 7.
Der Verstand kann also nicht anders, denn für möglich halten, daß Dingen an sich ein Vermögen der Freyheit zukomme. Ja er kann es sogar nicht für unmöglich halten, daß ein Ding, zwar an sich freye Wirkungen hervorbringe, aber inwiefern es wirkend erscheint, in allen seinen erkennbaren Handlungen als nothwendig bestimmt angesehen werden müsse. 47 §. 8.
Es können also allerdings in einem Welt-Systeme Caussalität durch Freyheit und Natur-Nothwendigkeit bestehen. Ja es kann eines und dasselbe Wesen an sich frey seyn, und in der Erscheinung seiner Wirkungen dem Mechanismus unter‐ worfen seyn. 48
45 46 47 48
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
z. B. KrV B XXVII, B 148, A 287/B 343. KrV A 190/B 235. KrV A 536 f./B 564 f. KrV A 536 ff./B 564 ff., A 548/B 576.
62
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§. 9.
63
Die Vernunft kann allem bisher gesagten zu Folge von ihrer Idee der Freyheit nur folgendermaaßen Gebrauch machen: 1) sie denkt Freyheit als Urgrund aller me‐ chanischen Caus salität, und eignet sie demnach dem nothwendigen Wesen zu, als die einzige mit seinem Begriffe vereinbare Caussalität. 49 2) Wenn sie etwas als wirklich erkennen sollte, wovon sie begreift, daß es nur unter Voraussetzung von Freyheit möglich ist, so muß sie Freyheit als daseyend voraussetzen, wie‐ wohl sie dieselbe in der erscheinenden Welt nicht gewahr nehmen kann. 50 3) Wenn der Mensch von seiner Freyheit, ohne sie und ihre Möglichkeit zu erken‐ nen, ursprüngliche und unmittelbare Gewißheit besitzen, wenn Freyheit ein Ge‐ genstand seines Naturglaubens seyn sollte (1. Th. VI. Betr.) 51: so muß sie die Ver‐ nunft durch Darthuung ihrer Gedenkbarkeit und Vereinbarkeit mit dem Gesetze des Natur-Mechanismus, vor dem Einwurfe der Unmöglichkeit schützen. 52 Ich gehe nun zur Betrachtung der moralischen Freyheit über.
§. 1.
Moralische Freyheit ist das Vermögen, den vollständigen Grund von Handlungen zu enthalten und wirksam zu machen, welche dem Sittengesetz der Vernunft an‐ gemessen oder zuwider sind, ohne zu einem von beyden weder durch Einflüs‐ se fremder Kräfte, noch durch seine eignen Vorstellungen nothwendig bestimmt werden zu können. 64
Dies ist der strenge, und, wie ich glaube, allein wahre Begriff der moralischen Frey‐ heit. Das moralisch freye Wesen ist ihm zu Folge durch sich selbst, und ohne alle Be‐ dingung, gleich vermögend für contradictorisch entgegengesetzte Handlungen, kann entweder sittlich gut, oder sittlich böse handeln, ohne eines von beyden müssen zu können.
49
Kants dritte Antinomie betrifft zunächst die Frage, ob Kausalität durch Freiheit ge‐ nerell möglich ist (vgl. KrV A 444 f./B 472 f., A 532–537/B 560–565). Bei der Auflösung schränkt sich Kant dann auf die Möglichkeit von Freiheit für den Menschen mit seiner sinnlich-intelligiblen Doppelnatur ein (vgl. KrV A 538–541/B 566–569). In Bezug auf das schlechthin notwendige Wesen, dessen Existenz in der vierten Antinomie zur Debatte steht (vgl. KrV A 452 f./B 480 f.) kann insofern von Freiheit die Rede sein, als darunter eine intelli‐ ble erste Ursache verstanden wird, die nicht zur empirischen Welt gehört (vgl. KrV A 560 f. / B 588 f.). 50 Vgl. KrV A 533/B 561, GMS. AA IV, 455. 51 Vgl. K. H. Heydenreich: Betrachtungen über die Philosophie der natürlichen Religion. Erster Band. Leipzig 1790, 110–131 (»Sechste Betrachtung. Vom Fürwahrhalten, und beson‐ ders vom Glauben.«). 52 Vgl. KrV A 558/B 586.
Karl Heinrich Heydenreich (1791)
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§. 2.
Der Mensch hat von seiner moralischen Freyheit ursprüngliche und unmittelbare Gewißheit durch sein Bewußtseyn. Diese Gewißheit gründet sich nicht auf Ge‐ wahrnehmung der Freyheit, nicht schlußweise auf das Bewußtseyn der Pflicht, überhaupt auf nichts Erkennbares und Begreifliches. Sie ist Naturgabe, und ihrer Möglichkeit nach auch Naturgeheimniß. Das ursprüngliche Bewußtseyn der Freyheit, von welchem ich hier rede, ist frey‐ lich unbegreiflich. Wir sehen nimmermehr ein, wie wir auf diese Weise eines Ge‐ genstandes gewiß werden können, welchen wir durch Anschauung und Gewahr‐ nehmung zu erkennen unvermögend sind. Allein ist es nicht derselbe Fall mit dem ganzen Bewußtseyn unsrer selbst, unsers Daseyns, unsrer Individualität, und uns‐ rer Vermögen? Gründet sich nicht die gesammte Kenntniß unsrer geistigen Natur am Ende auf Facta im Bewußtseyn, die wir nicht weiter zu erklären vermögen, ja 65 deren Möglichkeit wir nicht einmahl einsehn? Gewiß wird jeder, welcher sich durch die ewigen Zirkel der Schulweisheit nicht täuschen läßt, mit Ja antworten.
§. 3.
Der Mensch gelangt aber auch mittelbar zur Ueberzeugung von seiner morali‐ schen Freyheit, indem das in seiner Vernunft enthaltene, und also von ihm wirk‐ lich erkannte Sittengesetz nur durch jenes Vermögen als möglich gedacht wer‐ den kann. Wiefern die also entstehende Ueberzeugung sich nicht auf Einsicht und Erkenntniß der Natur des Gegenstandes gründet, sondern auf das Bedürfniß, für das daseyende Sittengesetz einen Grund seiner Möglichkeit in der Idee eines übersinnlichen unerkennbaren und unbegreiflichen Gegenstandes anzunehmen, so darf man sie mit Recht einen Vernunftglauben nennen. 53 §. 4.
Der Mensch besitzt also Naturglauben und Vernunftglauben an moralische Frey‐ heit, und es giebt keine andere Art, derselben gewiß zu werden. §. 5.
So lange der Mensch sein Erkenntniß-Vermögen nicht kritisch erforscht hat, um das eigenthümliche Feld der Anwendung für die ihm eigenen Grundsätze und Re‐ geln genau zu ermessen, so wird er beym speculativen Nachdenken in seinem Glauben an Freyheit durch den Grundsatz der ursachlichen Verknüpfung aller 53
Vgl. KrV A 829/B 857, KpV. AA V, 126, 144.
66
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Veränderungen der Welt irr gemacht, und in einen Widerstreit entgegengesetzter Behauptungen verwickelt. Man lese über diesen Gegenstand Kant in der Kritik der reinen Vernunft, im Ab‐ schnitte von der Antinomie der reinen Vernunft, und Jakob über die Freyheit, vor Kiesewetters B. über den ersten Grundsatz der Moral-Philosophie. 54
§. 6.
Sobald er aber durch kritische Erforschung seines Erkenntniß-Vermögens ein‐ sieht, daß der Grundsatz der ursachlichen Verknüpfung nur innerhalb der Grän‐ zen der Sinnenwelt Bedeutung und Anwendung hat, die Dinge an sich aber nicht angeht; so sieht er ein, daß moralische Freyheit, freylich in der Sinnenwelt, als Glied derselben nicht angeschaut und erkannt werden, aber doch dessen unge‐ achtet in der übersinnlichen Welt Statt finden, und also dem Menschen, wiefern er ein Glied derselben ist, zukommen kann.
67
Indem gewisse Weltweise diese Vorstellungs-Art der Möglichkeit moralischer Frey‐ heit, wenn auch nicht mit ausdrücklichen Worten, dennoch verständlich genug, für widersinnig erklären, und es für empörend halten, daß der Mensch an sich ein Vermögen besitze, dessen Wirkungen, so bald man sie nach der Form und Regel der Erscheinungen denken will, gerade als das Entgegengesetzte, als dasjenige er‐ scheinen, was sie nicht sind; mögen sie zwar ziemlich fest auf dieses oder jenes metaphysische System fußen, aber unstreitig sich von ihrem eigenen menschlichen Bewußtseyn entfernen. 55 Hielten sie sich bloß an dieses, so würden sie ja mit größ‐ ter Evidenz einsehen, daß der Mensch in allen seinen Vermögen, in seiner ganzen Natur und Daseyn, sich selbst ein Räthsel ist, daß er die Hauptmerkmale seiner Menschheit nur in unmittelbarem Bewußtseyn fassen kann, und kein Denker noch den Commentar zu den ursprünglichen Datis des Bewußtseyns geliefert hat. Der moralische Mensch ist im unmittelbaren Bewußtseyn sich selbst vollkommen evi‐ dent; sobald er seine Natur durch Schlüsse der theoretischen Vernunft begreifen will, verirrt er sich, und wird, kein Wunder, mit sich selbst über sich selbst uneins.
§. 7.
Der Mensch wird in dieser Einsicht (§. 6.) befestigt, wenn er bedenkt, daß der Wille und alles Wollen sich nie als Erscheinung darstellt, sondern, auf eine un‐ begreifliche Weise unmittelbar zu unserm Bewußtseyn gelangt, daß wir also un‐ 54
Vgl. »Dritter Widerstreit der transscendentalen Ideen.« (KrV A 444–451/B 472–479, A 535/B 563) und L. H. Jakobs Vorwort zu J. G. C. Kiesewetters Ueber den ersten Grundsatz der Moralphilosophie (Jakob 1788, 16 f. (Text 6)). 55 Vgl. dazu Pistorius 1786, 109 f. (Text 1).
Karl Heinrich Heydenreich (1791)
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sers Willens und jedes einzelnen Wollens gewiß werden, ohne weder den Willen, noch irgend ein einzelnes Wollen zu erkennen und zu begreiffen. §. 8.
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Er fährt demnach fort, Freyheit als die Bedingung der Möglichkeit des Sittengeset‐ zes in der Vernunft für wahr zu halten und sich auf sein ursprüngliches Bewußt‐ seyn der moralischen Freyheit ohne Mißtrauen und Befürchtung einer Täuschung zu verlassen. So viel über die Freyheit, und besonders die moralische. Man kann die Betrachtung dieses Gegenstandes nicht verlassen, ohne die Weisheit zu bewundern, mit welcher für unsre Ueberzeugung von dem Besitze derselben gesorgt ist. Freyheit mußte dem Menschen gegeben werden, wenn er Mensch seyn sollte; er mußte, um als Mensch handeln und Handlung beurtheilen zu können, seiner Freyheit gewiß seyn. Allein er mußte auch, um Mensch seyn zu können, gerade dieses Erkenntniß-Vermögen besitzen, welches wir in ihm finden; ein Erkenntniß-Vermögen, bey welchem er seine eigene Freyheit nicht erkennen kann. Kann man sich wohl eine feinere Weise denken, dem Menschen eine sichere Ueberzeugung von seiner Freyheit zu geben, als die, welche der Urheber desselben befolgt hat? Ohne vermögend zu seyn, seine Freyheit gewahr zu nehmen und zu erkennen, wird der Mensch ihrer ursprünglich durch ein jenseits aller Erfahrung gegründetes Bewußtseyn gewiß, und mit einer Innigkeit gewiß, welcher sich nichts gleichen läßt. Als vernünftiges Wesen muß er über dieses Bewußtseyn der Freyheit philosophiren. Er kennen und begreifen kann 69 er die Freyheit und sein Bewußtseyn derselben auf keinen Fall. Weislich ist dem‐ nach seine Vernunft so eingerichtet, daß sie völlig begreifft, warum es unmöglich ist, die reelle Möglichkeit der Freyheit, und den Grund des Bewußtseyns derselben einzusehn, und darthun kann, daß man nach der logischen Möglichkeit Wesen an sich allerdings ein Vermögen der Freyheit zuschreiben darf, wenn es auch gleich unmöglich ist, daß es als Glied der Sinnenwelt erscheine, wahrgenommen und er‐ kannt werde, und daß man nahmentlich dem Menschen ein Vermögen der morali‐ schen Freyheit zuschreiben muß, weil außerdem das Sittengesetz seiner Vernunft sich selbst aufhübe, daß also das ursprüngliche Bewußtseyn keine Täuschung ver‐ ursache, sondern dem Menschen auf wundervolle Weise seine übersinnliche für Tugend bestimmte Natur eröffne. – Diese Einrichtung in der menschlichen Natur ist gewiß die erstaunenswürdigste Auflösung eines der schwersten Probleme der Schöpfung.
11 JOHANN CHRISTOPH SCHWAB
(1794)
Wie beweiset die kritische Philosophie, daß wir uns als absolut-frey denken müssen?
Johann Christoph Schwab (1743–1821) studierte Philosophie und Theologie in Tübingen und war danach Hoflehrer in der Nähe von Genf. 1778 wurde er Professor für Logik und Metaphysik an der Karlsschule in Stuttgart, wo er sich früh als vehementer KantGegner profilierte. Ab 1793 legte er die Lehrtätigkeit nieder und belegte verschiedene einflussreiche Staatsämter, was ihn jedoch nicht daran hinderte, seine Polemik gegen Kant und die neueren Strömungen in der Philosophie bis über die Jahrhundertwende hinaus fortzuführen. In der Auseinandersetzung mit Kant und seinen Anhängern entwickelte sich Schwab zum hartnäckigen Verteidiger des Leibniz-Wolff’schen Rationalismus. In zahlreichen Schriften bestritt er die epochemachende Bedeutung der kantischen Lehre, versuchte ihre inneren Widersprüche und Fehler aufzudecken und warf ihr vor, in den Punkten, in denen sie richtig lag, bloß den Leibniz’schen Standpunkt zu reproduzieren. Mit politisierendem Unterton kritisierte er sie zudem wegen ihrer destruktiven und revolutionären Tendenz, die eine geradezu anarchische Abfolge konkurrierender Systeme ausgelöst habe. Nachdem Schwab in J. A. Eberhards Philosophischem Magazin und Philosophischem Archiv zuvor schon mit verschiedenen Rezensionen und Artikeln sowohl Kant selbst als auch die erste Riege der Kantianer – C. G. Schütz, C. C. E. Schmid und K. L. Reinhold – angegriffen hatte, wandte er sich im vorliegenden Aufsatz, der 1794 im 2. Stück des 2. Bandes des Philosophischen Archivs erschien, noch einmal direkt gegen Kant, und zwar gezielt gegen dessen Argumente dafür, dass wir uns als absolut frei denken müssen. Schwab ist es aufgefallen, dass Kant das Begründungsverhältnis zwischen transzendentaler Freiheit und Sittengesetz in der 1788 erschienenen Kritik der praktischen Vernunft gegenüber der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 gerade umgekehrt hat (vgl. dazu Ludwig 2010): Während Kant dort noch aus der Möglichkeit transzendentaler Freiheit, die er bereits in der Kritik der reinen Vernunft etabliert hatte, auf die Autonomie der praktischen Vernunft und damit auf die Geltung des moralischen Prinzips schloss, geht er in der zweiten Kritik dazu über, aus dem Bewusstsein des Sittengesetzes auf die Realität der transzendentalen Freiheit zu schließen. Für Schwab stellt diese Veränderung nicht eine Weiterentwicklung oder Selbstkorrektur der Begründungsstrategie im Werk Kants dar, sondern eine offenbare Inkonsistenz: Es erscheint ihm widersprüchlich und willkürlich, wenn Kant einmal aus der theoretisch begründeten Idee der Freiheit die Geltung des Sittengesetzes ableitet, das andere Mal die Notwendigkeit, uns als absolut
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frei zu denken, aus der Geltung des Sittengesetzes, also aus praktischen Gründen, erweisen will und die Möglichkeit einer theoretischen Begründung ausdrücklich bestreitet. Dabei bleibt Schwab aber nicht stehen, denn er glaubt auch noch nachweisen zu können, dass weder die eine noch die andere Begründungsweise haltbar ist: Die Ableitung des Sittengesetzes aus der Idee der absoluten Freiheit einerseits beruht auf der Schwab zufolge erschlichenen Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Noumena. Aus der Geltung des Sittengesetzes andererseits darf nicht auf die Wirklichkeit einer absoluten Freiheit des moralischen Wesens geschlossen werden, sondern bestenfalls auf das Gebot, sich der absoluten Freiheit als einem Ideal immer mehr anzunähern. Weiterführende Literatur: Klemme / Kuehn 2016, 713 f. und Schröpfer 2003, 396–426 zu Schwabs späterer Sicht auf die Diskussion um die kantische Philosophie. Siehe ebenfalls Schwab 1792 (Text 13) und Schwab 1794b (Text 15).
♦ 1
2
Nach der kritischen Philosophie müssen wir uns eine absolute Freyheit beylegen, ob wir wohl in Ansehung der objectiven Wirklichkeit und Möglichkeit derselben schlechterdings nichts entscheiden können. Oder mit andern Worten: wir müssen uns als absolut-frey denken; ob wir es aber wirklich sind, oder seyn können, das ist uns unmöglich zu ergründen. Was nun unsre gänzliche Unwissenheit in Ansehung der objectiven Realität unsrer Freyheit betrifft; so sind die Gründe, worauf H[er]r. Kant diese seine Be‐ hauptung stützt, in dem philosophischen Magazine und Archive bereits hinläng‐ lich geprüft, 56 und unsre Leser in den Stand gesetzt worden, von ihrem Werthe und Unwerthe zu urtheilen. Ich frage also jetzo bloß: wie beweiset H[er]r. Kant, daß wir uns als absolut-frey denken müssen? denn auch von der Nothwendigkeit dieses Denkens müssen Gründe angegeben werden. Das geschieht nun in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (S. 105 ff.,) auf folgende Art: »Wir kennen die Gegenstände bloß nach der Art, wie sie uns afficiren, d. i.: als Erscheinungen, wissen aber nicht, was sie an sich sind: gleichwohl müssen wir hinter den Erscheinungen Dinge an sich annehmen. Uns selbst kennen wir bloß
56
Die Zeitschriften Philosophisches Magazin (Halle 1788–1792) und Philosophisches Ar‐ chiv (Berlin 1792–1795) wurden von Johann August Eberhard (1739–1809) herausgegeben und waren vor allem der Kritik der kantischen Philosophie und der Verteidigung der Leib‐ niz-Wolff’schen Lehre gewidmet. Schwab veröffentlichte in beiden Zeitschriften Aufsätze und Rezensionen. Als Beiträge zu der von Schwab erwähnten Frage kommen J. G. E. Maaß’ »Ueber die Antinomie der reinen Vernunft« (Philosophisches Magazin. 1. Bd. 4. Stück. 1789, 469–495, besonders 487–491) sowie Schwabs »Ueber die zweyerley Ich, und den Begriff der Freyheit in der Kantischen Moral« (Text 13) aus dem Philosophischen Archiv in Frage.
Johann Christoph Schwab (1794)
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als Phänomene: gleichwohl müssen wir unserm empirischen Ich ein intelligibles Ich zum Grunde legen. Dies giebt eine Unterscheidung zwischen der Sinnen- und Verstandeswelt an die Hand. In jene müssen wir uns als sinnliche, in diese als vernünftige Wesen setzen«. 57 »Indem wir uns nun als vernünftige Wesen in die intelligible Welt setzen, den‐ ken wir uns als unabhängig von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt«. 58 »Nun ist Freyheit nichts anderes als Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt, (S. 109;) folglich müssen wir uns als absolut-freye We‐ sen denken«. 59 »Mit der Idee der Freyheit aber,« (setzt H[err]. Kant hinzu,) »ist der Begriff der Autonomie des Willens, und mit diesem das allgemeine Princip der Sittlichkeit unzertrennlich verbunden«. 60 Dies ist der Ideen-Gang des H[er]rn. Kant in seiner Metaphysik der Sitten; wor‐ aus erhellet, daß er, um die Nothwendigkeit der Idee der Freyheit zu beweisen, von theoretischen Gründen ausgeht, (denn der Satz, daß wir den Erscheinungen Dinge an sich zum Grunde legen müssen, ist offenbar theoretisch;) und dann, von Begriff zu Begriff, auf die Autonomie des Willens und das Princip der Sitt‐ lichkeit kommt. Ich will jetzo die Richtigkeit der angeführten Sätze und Begriffe nicht prü‐ fen: dieses ist bereits in dieser Zeitschrift geschehen, und besonders ist gezeigt worden, daß H[er]r. Kant dadurch, daß er gewisse Vorstellungen Erscheinungen nennt, das Denken der Noumena erschleicht. 61 Ich untersuche bloß, ob H[er]r. Kant dieser Ideen-Ordnung überall getreu bleibt. – Wie wenig nun H[er]r. Kant sich an diese Ordnung bindet, wird aus folgenden Stellen seiner Metaphysik der Sitten erhellen. Nach S. 111 »macht mich die Idee der Freyheit zu einem Gliede der intelligi‐ beln Welt«, 62 und nach S. 113 »wird der Mensch durch die Idee der Freyheit genö‐ thiget, sich in den Standpunct eines Gliedes der Verstandeswelt zu versetzen«. 63 Hier wird der Begriff der intelligibeln Welt aus der Idee der Freyheit hergeleitet: vorher ist die Idee der Freyheit aus dem Begriff der intelligibeln Welt hergeleitet worden. 57
Schwab paraphrasiert und komprimiert hier verschiedene Aussagen aus dem Ab‐ schnitt »Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt«, GMS. AA IV, 451, wobei er den Wortlaut zum Teil stark verändert. 58 Schwab gibt sehr frei GMS. AA IV, 452, wieder. 59 Vgl. GMS. AA IV, 452; »folglich müssen [. . . ] denken« ist von Schwab hinzugefügt. 60 Vgl. GMS. AA IV, 452. 61 Vgl. Schwabs »Bemerkungen über die Reinholdischen Beyträge zur Berichtigung bis‐ heriger Misverständnisse der Philosophie. 1ter Band, das Fundament der Elementarphiloso‐ phie betreffend. Jena 1790«. In: Philosophisches Magazin. 4. Bd. 3. Stück. 1791, 344 f. 62 Vgl. GMS. AA IV, 454. 63 Vgl. GMS. AA IV, 454 f.
3
122 4
5
6
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Eben so »denkt sich nach S. 118 die practische Vernunft in eine Verstandeswelt hinein«; 64 da doch, nach der obigen Stelle, die theoretische Vernunft sich vorher in eine Verstandeswelt hinein denken muß, um sich als frey und practisch zu denken. Am meisten contrastiren mit der aus der Metaphysik der Sitten angeführten Ideen-Folge einige Stellen in der Kritik der practischen Vernunft. »Man kann, heißt es daselbst S. 56, das sittliche Grundgesetz nicht aus vorher gehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtseyn der Freyheit, heraus vernünf‐ teln«. 65 Nun ist aber offenbar, in der oben angeführten Stelle, das Sittengesetz aus der Autonomie des Willens, d. i.: dem Begriffe der Freyheit, hergeleitet worden; welches also, nach H[er]rn. Kants eigenem Ausspruche, nicht als ein Heraus-Ver‐ nünfteln war. Eben daselbst heißt es, daß »das Sittengesetz analytisch seyn wür‐ de, wenn man die Freyheit des Willens voraus setzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine uns nicht gegebene intellectuelle Anschauung erfordert würde«. 66 Nun aber hat der Mangel einer intellectuellen Anschauung H[er]rn. Kant in seiner Metaphysik der Sitten nicht gehindert, die Freyheit des Willens dem Sittengesetze zum Grunde zu legen, und dieses aus jener herzuleiten. Nach S. 54 »würde man nie zu dem Wagstücke gekommen seyn, Freyheit in die Wissenschaften einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz, und mit ihm prac‐ tische Vernunft dazu gekommen, und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrun‐ gen«. 67 Das Wagstück, von dem hier die Rede ist, hat H[er]r. Kant, wie wir gese‐ hen haben, in seiner Metaphysik der Sitten unternommen, denn er hat daselbst die Freyheit aus theoretischen Principien, ohne Voraussetzung des Sittengesetzes, deducirt. Eben so wird uns nach S. 168 »die intelligible Welt durch das moralische Ge‐ setz eröffnet«; 68 und oben haben wir vorher die intelligible Welt entdecken müs‐ sen, um zu dem moralischen Gesetze zu gelangen. H[er]r. Kant muß bey nochmahliger Durchlesung seiner Schriften bemerkt ha‐ ben, wie willkührlich er die Begriffe von intelligibler Welt, von Freyheit, und vom Sittengesetze einander subordinirt; ich hätte beynahe gesagt, unter einander wirft: denn in der Vorrede zu seiner Kritik der practischen Vernunft, (S. 5,) sagt er, daß »die Freyheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das morali‐ sche Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freyheit sey«. 69 Dadurch scheint die Inconsequenz gehoben zu seyn. Allein es scheint nur: denn was kann die ratio essendi in der Kantischen Moral-Philosophie, wo alles aufs Denken hinaus läuft, 64 65 66 67 68 69
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
GMS. AA IV, 458. KpV. AA V, 31. KpV. AA V, 31. KpV. AA V, 30. KpV. AA V, 94. KpV. AA V, 4 Anm.
Johann Christoph Schwab (1794)
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anders seyn, als die ratio cognoscendi? Die Freyheit ist ja, nach H[er]rn. Kant, eine bloße Idee; mithin kann der Satz: »die Freyheit ist die ratio essendi von dem Sittengesetze«, nichts anderes heißen, als: aus der Idee der Freyheit läßt sich das Sittengesetz heraus denken, gerade wie anderswo die Freyheit aus dem Sittenge‐ setze heraus gedacht wird. Ich sehe also nicht, wie H[er]r. Kant durch diese Di‐ stinction, die sonst ihren guten Grund hat, dem Vorwurfe entgehen kann, daß er die wesentlichen Begriffe seiner practischen Philosophie auf eine ganz willkührli‐ che Art, bald so, bald anders, einander subordinirt hat. Eine solche willkührliche und schwankende Subordinirung von Begriffe ist wenigstens kein Beweis von Fe‐ stigkeit des Systems. Da übrigens die gewöhnliche Behauptung des H[er]rn. Kant und seiner An‐ hänger ist, daß wir uns, unter der Voraussetzung des Sittengesetzes, als frey, und zwar als absolut-frey denken müssen; so wollen wir noch die Richtigkeit dieser Folgerung prüfen. »Nicht Erfahrung,« sagt H[err]. Schmid in seiner Moral-Philosophie S. 202, »sondern das eben so nothwendige als unbegreifliche Bewußtseyn von dem Mo‐ ral Gesetze nöthiget uns, eine absolute Freyheit anzunehmen. Denn da dieses Gesetz Handlungen schlechthin gebietet, mithin als allge mein und nothwendig vorstellt, ohne Einschränkung durch Umstände der Zeit und des Orts; so ist die Befolgung desselben nur dann möglich, wenn ich unter der Idee von absoluter Freyheit handle, oder wenn ich mich und das vernünftige Wesen überhaupt in seinen Handlungen als« (gewisser Maßen,) »unabhängig von der Bestimmung durch Zeitumstände mir vorstelle«. 70 Hierüber bemerke ich: 1. Daß, wenn das Sittengesetz mir gebietet, ich soll unabhängig von allen äu‐ ßerlichen, (und innerlichen,) mittelbaren und unmittelbaren, nahen und entfern‐ ten Bestimmungen handeln, es etwas unmögliches, mithin unvernünftiges gebie‐ tet: denn es ist eben so viel als geböte es mir, ich soll kein endliches, abhängiges, sondern ein unendliches, unabhängiges Wesen seyn. In diesem Sinne ist aller‐ dings, wie H[er]r. Schmid sagt, das Sittengesetz unbegreiflich, weil es unbegreiflich ist, wie ein vernünftiger Gesetzgeber etwas unmögliches gebieten kann. Er scheint es auch gefühlt zu haben, wie unvernünftig diese Forderung des Sitten‐ gesetzes ist, indem er hernach sagt, daß wir uns als gewisser Maßen unabhängig von den Zeitumständen denken müssen. 2. Wenn wir nun diesen unvernünftigen Sinn dem Sittengesetze nicht geben wollen; so kann es nicht anders gebieten, als daß ich mich aus allen Kräften bestreben soll, mich von den äußerlichen Umständen und der Herrschaft der Nei‐ gungen immer unabhängiger zu machen. Dies läßt sich wohl denken: denn mei‐ ne eingeschränkte Selbstthätigkeit ist eine veränderliche Größe, die unaufhörlich 70
Vgl. C. C. E. Schmid 1790, 202 (§ 243) (Text 12).
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wachsen kann; und dieses Wachsen hängt zum Theile von meiner Anstrengung ab. – Wenn also der Stifter unserer Religion die Gottheit sagen läßt: »ihr sollt heilig seyn, denn ich bin heilig«; 71 so kann der Sinn dieses Gebots nicht seyn: ihr sollt die Heiligkeit haben, die ich habe: denn das hieße so viel als: ihr sollt Gott seyn. Sondern der Sinn davon ist: ihr sollt alle eure Kräfte anstrengen, um euch der Heiligkeit Gottes immer mehr zu nähern. Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Gebote: du sollst Gott seyn, und dem: du sollst dich bestreben, Gott immer ähnlicher zu werden. 3. Was folgt nun aus dem Sittengesetze, wenn es so verstanden und ausge‐ druckt wird? Offenbar nicht, daß wir uns eine absolute Freyheit beylegen sollen: denn das hieße sich etwas beylegen, das man nicht hat und nicht haben kann, mithin sich selbst täuschen. Sondern nur so viel folgt daraus, daß wir uns bestre‐ ben sollen, dem Ideale der absoluten Freyheit immer näher zu kommen. Wenn der Schmidische Ausdruck: unter der Idee der absoluten Freyheit handeln, kei‐ nen andern Sinn hätte; so wäre nichts dagegen einzuwenden. Aber so würde die kritische Philosophie nichts neues sagen, denn sie sagte im Grunde weiter nichts als: wir sollen uns bestreben, immer vollkommener zu werden. So etwas altes hat sie ohne Zweifel nicht sagen wollen: ihre Meinung ist vielmehr, wir sollen uns als absolut-frey, als unabhängig von allen äußerlichen und innerlichen Bestim‐ mungen denken. Dies heißt aber etwas falsches denken: und durch dergleichen unrichtige, mit einer gewissen Dialectik vorgetragene Gedanken kann man zwar eine Revolution in der Philosophie, aber keine Verbesserung derselben bewirken. Schwab.
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3. Mose 11,45 und 19,2, Petrus 1,16.
III. FREIHEIT UND ZURECHENBARKEIT
12 CARL CHRISTIAN ERHARD SCHMID
(1790)
Versuch einer Moralphilosophie [Auszug]
Carl Christian Erhard Schmid (1761–1812) studierte Theologie in Jena und arbeitete dann als Hauslehrer und Pastor. Beeinflusst wurde er zunächst durch J. A. H. Ulrich (siehe Text 2), der in Jena Moralphilosophie lehrte, seit 1782 dann durch Kants kritische Philosophie. Ab 1785 lehrte Schmid an der Universität Jena, wo er nach einem Zwischenspiel in Gießen 1793 ordentlicher Professor wurde. Bekanntheit und Einfluss erlangte er als Interpret, Kommentator und Verbreiter der kantischen Philosophie. Von Beginn seiner Lehrtätigkeit an hielt er Vorlesungen über die Kritik der reinen Vernunft und 1786 erschien als einer der ersten Kommentare dazu sein Lehrbuch Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuche zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften, das er in mehreren Auflagen sukzessive erweiterte. Zu Beginn der 1790er-Jahre ging Schmid dazu über, ausgehend von den kantischen Grundlagen eine eigene Position zu entwickeln, die sich dadurch auszeichnete, dass der kritische Apriorismus durch empirische Untersuchungen vor allem im psychologischen und anthropologischen Bereich erweitert und abgestützt wurde. Der erste Schritt in diese Richtung war die Empirische Psychologie von 1791. Schmids Betonung der Empirie führte dann auch zu einer Auseinandersetzung mit Fichte. Daneben verfasste Schmid verschiedene Lehrbücher. Eine verhältnismäßig eigenständige Position entwickelte Schmid bereits im Lehrbuch Versuch einer Moralphilosophie, das 1790 erstmals und dann 1792, 1795 und 1802 in teils stark überarbeiteten Neuauflagen erschien. Die Behandlung der Freiheitsfrage schließt den ersten Teil des Versuchs, die »Critik der praktischen Vernunft«, ab. In dieser »Critik« verfolgt Schmid das Ziel, allgemeingültige Prinzipien der Sittlichkeit aufzustellen. Nachdem dies erfolgt ist, bleibt – in dem hier abgedruckten Auszug – die Frage zu klären, ob es ein »absolutes Vermögen zu handeln (Freyheit)« (183) gibt, denn die Prinzipien der Sittlichkeit setzen allesamt ein solches voraus. Dabei geht es primär um die Auflösung des Widerspruchs zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (entsprechend der Auflösung der dritten Antinomie aus der Kritik der reinen Vernunft): Während die theoretische Vernunft einen durchgängigen Naturmechanismus behaupten muss, fordert die praktische die Möglichkeit freier Handlungen als Voraussetzung der Moralität. Auflösen lässt sich dieser Widerspruch durch die Unterscheidung des moralischen Subjekts oder Ichs als Erfahrungsgegenstand einerseits, als Ding an sich oder intelligibles Ich andererseits sowie durch die Unterscheidung der sinnlichen Materie von Handlungen und ihrer apriorischen Form. Letztere muss durch die Vernunft beigesteuert und daher dem ver-
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nünftigen, intelligiblen Ich zugeschrieben werden. Damit steht für Schmid die Möglichkeit freier, moralischer Handlungen fest: Sofern Handlungen nämlich durch die Vernunft der Form nach bestimmt werden können, gibt es ein Vermögen der Bestimmung von Handlungen, das außerhalb der Naturnotwendigkeit steht und insofern frei ist, im Sinn eines absoluten Vermögens zu handeln. In diesem Sinn ist also der Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft auflösbar. Entscheidend für Schmids Auffassung ist nun aber, dass die durch das absolute Handlungsvermögen der Vernunft gegebene Freiheit nichts anderes ist als die Bestimmung von Handlungen durch das Gesetz der Vernunft. Dementsprechend ist eine Handlung genau dann moralisch, wenn sie durch das Vernunftgesetz bestimmt wird, unmoralisch, wenn die Vernunft durch äußere Einflüsse an ihrer Wirkung gehindert wird. Dabei kann sie, als intelligibles Vermögen, nicht durch sinnlich-empirische Einflüsse eingeschränkt werden, sondern nur durch den Einfluss intelligibler Dinge. Somit haben wir es mit einem »intelligible[n] Naturfatalismus« (211) zu tun, dem zufolge im intelligiblen Bereich ebenso wie im empirischen »überall Nothwendigkeit« (208) herrscht, so dass es, ungeachtet der Freiheit der Vernunft, in keinem Fall in der Gewalt des handelnden Subjekts steht, ob seine Handlungen moralisch sind oder nicht. Es waren vor allem dieser intelligible Fatalismus und seine Konsequenzen, die rege diskutiert wurden (vgl. vor allem die Texte 13 und 15 von Schwab, 21 von Fichte, 14 und 16 von Reinhold), und zwar sowohl als Deutung der kantischen Freiheitslehre wie auch als neuartige systematische Option in der Debatte um Freiheit und Determinismus. Kritisiert wurde an Schmids Freiheitskonzeption vor allem, dass sie die Möglichkeit moralischer Entscheidungen durch das Subjekt ebenso ausschloss wie dessen Möglichkeit, unmoralische Handlungen zu vollziehen. Beide Konsequenzen machten Sinn und Möglichkeit der moralischen Zurechnung von Handlungen zumindest sehr fragwürdig. Weiterführende Literatur: Schröpfer 1995, Wallwitz 1998, 47–54, Lazzari 2003 und 2004, 198– 206, Noller 22016, 183–188, Klemme / Kuehn 2016, 685–687. Zur weiteren Behandlung der Freiheitsthematik bei Schmid vgl. seine Vorrede zu Creuzer 1793, V-XVI, Schmid 1792, 302– 407 und Schmid 1793, 152–170. ♦
§. 220. Freyheit.
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Die vier praktischen Absoluta (§. 20), 1 welche aller Moral zum Grund liegen, sind durch die bisherigen Untersuchungen gefunden worden. Hiermit ist zwar für in‐ nere Festigkeit der Sittenlehre hinlänglich gesorgt; al lein sie scheinet wiederum 1
Vgl. Schmid 1790, 17 f. (§ 20). Die vier praktischen Absoluta werden auch im hier folgenden § 221 aufgeführt.
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dadurch schwankend zu werden, daß die speculative Vernunft keinen als real er‐ wiesenen Begriff von einem absoluten Vermögen zu handlen (Freyheit) enthält, worauf der Moralist bauen könnte. Vielmehr enthält sie gewisse Principien, die geradezu auf das Nichtseyn eines solchen Vermögens zu führen und hiemit dem ganzen Gebäude der Sittlichkeit den Umsturz anzudrohen scheinen. §. 221 Zusammenhang der vier praktischen Absoluten mit Einem speculativen
Sollen wir ein absolutes Gesetz befolgen: so darf uns nichts von aussen zwingen oder nöthigen können, anders zu handeln; wir dürfen keinem fremden, bedingt nothwendigen Gesetze der Natur schlechthin unterworfen seyn. Soll ein reines, durch bloße Vernunft bestimmtes Gut unser Ziel seyn, so darf uns nichts nöthigen können, ein andres Ziel uns vorzustecken. Soll ein moralisches Gefühl Triebfeder unserer Handlungen seyn, so darf die Vernunft nicht von Antrieben der Sinnlich‐ keit bestimmt werden, sondern die Vernunft muß vielmehr die Sinnlichkeit nach ihren Principien modificiren können. Soll endlich eine moralische Welt existiren, worinn das Wohlseyn nach Würdigkeit vertheilt ist, so muß das vernünftige We‐ sen durch seine Art zu handlen eine innere, persönliche Würde behaupten kön‐ nen, welches ebenfalls ohne Freyheit unmöglich wä re, weil sodann diese Art zu handlen nicht das freye Eigenthum des Wesens, sondern nur ein glücklicher Er‐ folg von dem Einfluße der Naturgesetze wäre, denen man bloß äussern Werth der Brauchbarkeit, aber keine innere Vorzüglichkeit beylegen dürfte. Alle vier praktische Absoluta weisen also auf ein theoretisches Absolutum, nehmlich auf ein absolutes Vermögen zu handlen, ein Vermögen unbedingter Selbstthätigkeit oder Freyheit zurück. §. 222.
So die Philosophie, welche von praktischen Grundsätzen aus und zu theoreti‐ schen Voraussetzungen übergeht. Die Spekulation hingegen führet, wenn sie von ihren eignen Grundsätzen ausgeht und für sich selbst das Räsonnement fortsetzt, zuletzt auf solche Behauptungen, welche alle moralische Gesetze, allen Unter‐ schied zwischen sittlichen und natürlichen Gesetzen und allen innern sittlichen Werth zu vernichten scheinen. Dieß macht noch eine kritische Untersuchung ih‐ res Innhalts, der Gründe und der Gränzen ihrer Gültigkeit in praktischer Absicht, und eine Auseinandersetzung der Art und Weise nothwendig, wie die Principien der Vernunft in ihrer gedoppelten Anwendung, der theoretischen und der prakti‐ schen, zusammenstimmen.
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§. 223. System und Folgen des Determinismus.
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Alle Handlungen meines Willens sind nichts anders, als Begebenheiten in der Na‐ tur, und also den Natur gesetzen unterworfen, wornach iede Begebenheit in einer bestimmten Zeitreihe ihren gesammten Zeitverhältnißen gemäß nothwendig und unausbleiblich erfolgt. Es ist also schlechterdings unmöglich, daß ich etwas an‐ deres wolle, oder thue, als dasienige, was der Innbegriff aller Zeitumstände mit sich bringt. Um diesem Grundsatze in seiner ganzen Allgemeinheit treu zu bleiben, darf der consequente Determinist die sogleich anzugebenden Folgerungen aus seinem Systeme nicht abläugnen. * »Wenn es ein moralisches Gesetz giebt, so kann es nichts anderes seyn, als Eines von den Naturgesetzen, wornach alle Erfolge in der Welt bestimmt werden. Da deren mehrere sind, so kann dieses Eine nur einige Erfolge bestimmen. Die Gültigkeit eines Naturgesetzes ist auf die Fälle seiner Wirksamkeit eingeschränkt. Mithin ist auch das sogenannte Sittengesetz nur so weit gültig, als es befolgt wird, als es mit keinem andern physischen (psychologischen) Gesetze des Begehrungs‐ vermögens in Collision kommt. Verbindlichkeit (das Sollen) ist eine Art physi‐ scher Nothwendigkeit der Würkung gewisser Naturkräfte, die durch den Einfluß anderer Naturkräfte unter gewissen Zeitumständen aufgehoben wird, also nur da und zu der Zeit vorhanden ist, wo und wenn die Würkung zu Stande kommt. Pflicht ist die Nothwendigkeit, gewisse Naturgesetze des Begehrungsvermögens zu befolgen. Verletzung der Pflicht ist nur eine Befolgung anderer, eben so gül‐ tiger Naturgesetze, die aber nicht moralisch genannt werden, welche die Befol‐ gung der moralischen unmöglich machte. Das Pflichtmässige und das Pflichtwid‐ rige ist eine gleich nothwendige und unhintertreibliche Folge aus dem Verhält‐ niße, worinne unter den gesetzten Umständen alle Naturkräfte zu der meinigen standen. Die Vernunft kann die Uebertretung eines moralischen Gesetzes nicht tadeln, ohne partheiisch ein gleichartiges Gesetz dem andern, welches an sei‐ ner Stelle befolgt worden, vorzuziehen; ihre Beobachtung nicht loben, ohne Ein Gesetz Einem andern von gleicher Nothwendigkeit vorzuziehen. Alle moralische Begriffe und Sätze sind physisch zu verstehn, oder chimärisch; alle Ausdrücke in der Sprache, die sie bezeichnen (als Sollen, hätte sollen, es war Pflicht u. d. gl.), *
Da kein mir bekannter Determinist diese Folgerungen in sein System ausdrücklich und vollständig aufgenommen, und da vielmehr ein ieder es versucht hat, seine Grundsätze mit der Moralität so gut wie immer möglich zu vereinigen: so wird mich niemand in Ver‐ dacht haben, als wollte ich hier mit irgend einem Deterministen streiten, und wohl gar seine Moralität angreifen. Ich erkläre und bestreite den Determinismus, ein System von Behaup‐ tungen und Folgerungen, wie ich mir dieselben als zusammen gehörig denke, und bin von aller persönlichen Beziehung gänzlich entfernt.
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verlieren ihre eigentliche Bedeutung, in welcher sie von dem Physischen gänzlich unterschieden werden.« §. 224. Determinismus, Indeterminismus.
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Wird die Frage über Freyheit und Nothwendigkeit des Willens also bestimmt: Giebt es Gesetze, wornach die Handlungen des Willens iedesmal auf bestimmte Weise erfolgen, oder giebt es keine? so entscheidet die Vernunft, ihrer Natur gemäß, allgemein für Gesetze und ver‐ wirft alle Gesetzlosigkeit. Determinismus, wenn man darunter eine Philosophie versteht, die ieden Zufall in der Natur läugnet, und iede Erklärung einer Bege‐ benheit aus dem Zufall schlechthin verwirft, ist die einzige wahre und vernünfti‐ ge Philosophie, da im Gegentheil der Indeterminismus oder die Behauptung von gesetzlosen Erfolgen in der Natur allen theoretischen und praktischen Vernunft‐ gebrauch gänzlich aufhebt und unmöglich macht. §. 225. Willkühr, materieller Mechanismus.
Betrift die Frage nicht das Daseyn (die Form), sondern nur die Materie des Geset‐ zes, wornach die Handlungen des Willens erfolgen, in so fern: ob die nächsten Gründe unserer Handlungen Vorstellungen oder nur körperli‐ che Bewegungen sind? so entscheidet das unmittelbare psychologische Bewußt seyn für die Gründe in dem Subiekte, und gegen dieienigen, welche ausser demselben liegen, in Anse‐ hung aller der Handlungen, die wir dem Willen zuschreiben. Wir besitzen Will‐ kühr (arbitrium) oder comparative Freyheit von dem zwingenden Einfluße mate‐ rieller Dinge, im Gegensatz des materiellen Mechanismus. Die Willkühr hat Grade, wie das Leben überhaupt. Ie mehr etwas als bloße Materie würkt, ie weniger Willkühr kömmt ihm zu. §. 226. Thierische, freye sinnliche Willkühr, oder praktische Freyheit.
Bestimmt man iene Frage näher in Absicht auf die Beschaffenheit der innern Gründe (§. 225.), wovon die Handlungen abhängen; ob lediglich die unmittelbaren Eindrücke der Vorstellung eines Objekts auf das sinnliche Begehrungsvermögen (Instinkt), oder ob auch vernünftige Ueberle‐ gungen und Bewegursachen Einfluß auf die menschlichen Handlungen haben?
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so entscheidet innere Erfahrung für das letztere. Wir besitzen keine blos thierische Willkühr (arbitrium brutum), sondern freye, sinnliche Willkühr (arbitrium sensi‐ tivum liberum), praktische Freyheit, Unabhängigkeit von dem allgemeinzwingen‐ den Einfluße thierischer Gefühle. 2 Die freye Willkühr hat, der Erfahrung gemäß, ihre Stufen. Der Einfluß der Ver‐ nunft auf unsere Entschlüße und Handlungen kann zunehmen, die Abhängigkeit von dem unmittelbar thierischen Antriebe abnehmen, und das sinnlich vernünf‐ tige Wesen (der Mensch) kann geschickter und klüger d. h. praktisch vernünftiger werden. §. 227. Moralische Freyheit.
Schränkt man die Frage noch genauer ein auf eine gewisse Beschaffenheit der Vernunftgründe, welche den Willen bestimmen: ob nehmlich lediglich und allein Gründe der empirischen Vernunft d. i. der Vernunft, sofern sie von sinnlichen Erfahrungen im Schließen ausgeht, und zu sinnlich bestimmten Zwecken Mittel und Entwürfe hergiebt, unsern Willen bestimmen, oder ob auch reine Vernunftideen ein Wollen hervorbringen, oder doch dasselbe modificiren können?
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so lehrt zwar 1) unser empirisches Bewußtseyn, daß wir größtentheils nur einen empirischen Einfluß der Vernunft auf die Wahl der Mittel erfahren, die uns zu Erreichung unsrer sinnlich erzeugten Absichten dienlich scheinen. Wir finden 2), daß zu ieder Handlung unsers Willens uns ein gewisser Stoff zur Behandlung durch die Sinnlichkeit gegeben werden und wir dadurch erst zur Thä tigkeit über‐ haupt angereizt werden müssen. Aber 3) das Bewußtseyn des moralischen Geset‐ zes, als einer Triebfeder unsers Willens, überzeugt uns dennoch, daß die Vernunft für sich selbst auch fähig sey, nach ihren eigenen reinen, nicht sinnlichen Ideen den Willen zu bestimmen, daß der Zweck einer vernünftigen Handlungsweise nur für sich selbst, ohne weitere Absicht auf sinnliche Vortheile, uns interessi‐ re, und das eigentliche Wollen, seiner Form (Wesen) nach durch etwas bestimmt werde, was von allem sinnlichen Eindrucke und Obiekte verschieden ist. Wir haben also nicht nur überhaupt praktische (§. 226.), sondern auch inson‐ derheit moralische Freyheit d. i. Bestimmbarkeit des Begehrens durch die reine 2
»Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung druch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pa‐ thologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) afficirt ist; sie heißt thierisch (arbitri‐ um brutum), wenn sie pathologisch necessitirt werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.« (KrV A 533/B 561 f.)
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Vernunft, und eine gewisse Unabhängigkeit des Wollens selbst von dem Zwecke empirischer Vernunftgründe. 3 Auch diese moralische Freyheit hat ihre Grade; wir können weiser und sittlich besser d. h. freyer werden. §. 228. Ueberall Nothwendigkeit. 4
Wir mögen aus Antrieben des sinnlichen Begehrungsvermögens (§. 225. willkühr‐ lich) oder aus Beweggründen der sinnlich angewandten Vernunft (praktischfrey, aus vernünftig gedachten und verbundenen sinnlichen Antrieben §. 226.), oder endlich aus reinen Vernunftideen (moralischfrey §. 227.) handlen, so geht doch in allen diesen Fällen iedesmahl vor dem Zu stande der Handlung, die wir wahrneh‐ men, ein anderer Zustand unsres Gemüthes und der veranlassenden Aussendinge, wozu es in Verhältnißen steht, der Zeit nach voraus, auf welchen iener regelmäs‐ sig und gleichförmig erfolgt, so daß unter vollkommen denselben innern und äus‐ sern Umständen das Nichthandlen sowohl, als iede andere von derienigen, welche geschieht, verschiedene Handlung, für bedingt unmöglich erkannt wird.
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§. 229.
Diese Behauptung einer allgemeinen Naturnothwendigkeit einer ieden Handlung zu ieder bestimmten Zeit nach den unwandelbaren Naturgesetzen, kann zwar 1) 2) 3)
4)
nicht durch Erfahrung erwiesen werden; weil diese uns überhaupt nichts oh‐ ne Ausnahme allgemeines und nothwendiges lehren kann. Aber sie hat auch nicht blos die allgemeine Analogie der Erfahrung für sich, wie einige Deterministen ihren Gegnern allzu willfährig einräumen. Sondern sie stützt sich auf ein nothwendiges Verstandesgesetz (der Caussa‐ lität), welches selbst aller Erfahrung als Bedingung ihrer Möglichkeit zum Grunde liegt. Sie begünstigt das Interesse der Naturforschenden Vernunft. Ohne Voraus‐ setzung eines solchen gesetzmässigen Zusammenhangs aller Zustände und Handlungen des Gemüthes könnten wir den (psychologischen) Gesetzen nicht einmahl nachspüren.
3
Vgl. KpV. AA V, 117. »Der empirische [Charakter – Hg.] aber ist nothwendig im intelligibeln gegründet – also auch hier Nothwendigkeit; also – überall Nothwendigkeit.« (Ulrich 1788, 34 (§ 12) (Text 2)) 4
192
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§. 230. Folgerung.
Aus dieser Vorstellungsart fließt unwidersprechlich die Folge, daß die wahrnehm‐ baren Gründe ieder Handlung eines sinnlich vernünftigen Wesens (des Men‐ schen) zu der Zeit, da es handelt, gänzlich ausser seiner Gewalt stehen; daß folg‐ lich alle seine Handlungen ietzt und immerdar nach einer unhintertreiblichen Nothwendigkeit aus der Conkurrenz der Weltkräfte erfolgen, wo sich der Beytrag seiner eigenen Kraft wie das Unendlichkleine zu dem Unendlichgroßen der Sum‐ me aller übrigen würkenden Kräffte verhalte. [. . . ] §. 232.
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Die Folgen des Determinismus sind dieselben, wie bey dem Fatalismus. Diese beyden Systeme sind im Wesentlichen nicht unterschieden. Sie haben den Haupt‐ gedanken unter sich gemein, daß die nöthigenden und bestimmenden Gründe der Handlungen gänzlich ausser der Gewalt des Handelnden stehen. §. 233. Absolute Freyheit.
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Die Frage: hat ein vernünftiges Wesen, hat der Mensch, absolute Freyheit d. i. ein Vermögen aus reiner Selbstbestimmung (also ohne be stimmt zu werden) zu handeln; ein Vermögen, eine Handlung anzufangen? läßt sich nach den bisherigen Betrachtungen nicht anders, als verneinen. Es ist keine Handlung, die in der Zeit geschieht, möglich, welche absolut anfienge, und dem handelnden Wesen an sich selbst, unabhängig von andern Dingen und von seinen eigenen vorhergehenden Zuständen zugehörte. Eine solche Handlung wür‐ de sich in dieser Eigenschaft weder wahrnehmen, noch mit dem Verstande erken‐ nen laßen. Von absoluter Freyheit an sich selbst laßen sich, eben weil sie absolut ist, kei‐ ne Grade gedenken, ob sie gleich (wie unten gezeigt wird) 5 Erscheinungen her‐ vorbringt, worinn sich Gradunterschiede denken und wahrnehmen lassen. §. 234.
Unter dem Einfluße der Zeitumstände kann das vernünftige sinnliche Wesen nicht zu ieder Zeit das (unbedingte) moralische Gesetz befolgen. Die Nothwendigkeit seiner Befolgung könnte demnach nur auf dieienigen Fälle gehen, wo es ge‐ 5
Siehe unten § 245 f.
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schieht. Es wäre Unsinn, sie auf dieienigen Fälle und Zeiten auszudehnen, wo das Gegentheil nothwendig ist. Der Zwang der Sinnlichkeit wechselt nach Zeit‐ umständen mit dem Zwange der Vernunft ab. §. 235.
196
Ist nun dieß die einzige Art, sich die Caussalität der Handlungen vorzustellen: so folgt, daß der Begriff von einem unbedingten Sollen (moralischer Nothwendigkeit) ein ungültiger, durchaus unanwendbarer Begriff, und alle Urtheile, die sich darauf beziehen, (z. B. des Selbsttadels über das Geschehene) leer und chimärisch, die ei‐ gentlich sittlichen Gefühle aber (z. B. der Schaam vor mir selbst, der Reue) schwär‐ merisch und phantastisch sind. §. 236.
Gleichwohl sind diese Begriffe und Urtheile für sich selbst beständig und evi‐ dent, keine zufälligen Erzeugniße der Erziehung oder Gewöhnung und wie das moralische Gesetz selbst, unmittelbar in unserm Bewußtseyn von der Vernunft, als nothwendige Thatsache gegeben, so daß wir gänzlich unvermögend sind, sie irgend einer Spekulation aufzuopfern oder um ihretwillen abzuändern. §. 237.
Der offenbare Widerstreit, worein hier die spekulative Vernunft mit der praktischen geräth, fordert zu Versuchen einer möglichen Vereinigung auf, die sich nur von ei‐ ner genauen Bestimmung und Einschränkung des Innhalts und der Gültigkeit von den Grundsätzen der Vernunft in ihrem gedoppelten Gebrauche erwarten läßt. §. 238. Mögliche Vereinigung.
Wenn nach dem Naturgesetze eine Handlung nothwendig und durch Zeitum‐ stände auf gewisse Weise bestimmt ist – nach Aussage der spekulativen Ver‐ nunft; wenn gleichwohl auch das Gegentheil von eben dieser Handlung mo‐ ralisch nothwendig und folglich auch möglich aller Zeitverhältnisse ungeachtet seyn soll – nach Aussage der praktischen Vernunft: so kann dieser scheinbare Wi‐ derspruch nur dann gehoben werden, wenn sich zeigen läßt: 1)
das Prädikat der Unabhängigkeit von Zeitumständen habe ein anderes logi‐ sches Subiekt, als das Prädikat der nothwendigen Abhängigkeit der Hand‐ lung von denselben. Nun beziehe ich aber in beyden Urtheilen das Prädikat auf mich selbst, als auf das Subiekt. Es müßte also dieses Ich (oder meine
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2)
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Handlung) eine andere Bedeutung haben, wenn ich seine Handlungen in der Zeit einer nothwendigen Bestimmung durch Zeitumstände unterwerfe, als es hat, wenn ich mir diese als davon unabhängig vorstelle. man könne in ieder Handlung etwas unterscheiden, das von Zeitverhältni‐ ßen, und etwas anderes, welches nicht davon abhängt.
§. 239. Erste Unterscheidung. Ich, als Gegenstand der Erfahrung.
198
Wenn ich meine Handlungen als Würkungen in der Zeit durch Ursachen in der Zeit bestimmt mir vorstelle, so betrachte ich mich so, wie ich mich 6 selbst in mei‐ nem innern Sinne vorstelle, wo alle einzelne Erscheinungen von mir in Zeitver‐ hältnissen regelmäßig auf einander folgen. Das Subiekt in dem Urtheile, welches meine Handlungen von Zeitverhältnißen abhängig erklärt, bin Ich als ein Gegen‐ stand der innern Erfahrung. Auf dieses sinnliche Subiekt muß das Verstandesge‐ setz der nothwendigen Zeitfolge bezogen werden. Die Handlung dieses Ich erfolgt daher iedesmahl dem bekannten wahrnehmbaren (empirischen) Charakter (der Gemüths- und Sinnesart) desselben und den äusseren Umständen gemäs. §. 240. Ich, als Ding an sich.
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Ich bin berechtiget, und sogar genöthiget, die Erscheinung (sinnliche Vorstel‐ lung) von mir selbst auf ein unbekanntes Ich zu beziehen, das ihr (der Totaler‐ scheinung von mir) und allen ihren Theilerscheinungen (einzelne Handlungen und Zustände), ia selbst der Zeit und dem Raume, worinn ich mir alles Sinnliche vorstelle, zum Grunde liegt, wovon ich aber nur ein anschauungsloses, allgemei‐ nes Bewußtseyn habe. Beziehe ich meine wahrgenommenen oder wahrnehmba‐ ren Handlungen, als Prädikate, auf dieses Ich, als ihr Subiekt, so sind und blei‐ ben sie zwar Würkungen in der Zeit, aber der Grund davon liegt doch nicht in der, der Zeit nach vorhergehenden, Erscheinung, sondern in Etwas, worinn kein Zeitunterschied mehr statt findet. Denn das Seyn in einer gewissen Zeit ist ein Prädikat, das zwar allen Erscheinungen (sinnlich vorstellbaren und vorgestellten Dingen), nicht aber allen denkbaren Dingen überhaupt und an sich selbst, ohne
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Korrigiert aus: »mir«.
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auf sinnliche Vorstellungsart Rücksicht zu nehmen, zukommt *7. Eine Handlung dieses Ich an sich selbst fängt also nicht an; sie bezieht sich aber gleichwohl auf eine erscheinende Wirkung, welche anfängt d. i. zu einer gewissen Zeit, nach bestimmten vorausgehenden Umständen wahrgenommen wird. Die ganze Reihe dieser erscheindenden Handlungen hängt zwar unter sich als (sinnlich erkennba‐ re) Ursache und Würkung zusammen. Allein auf ienes Ich bezogen, ist dieses der Bestimmungsgrund der ganzen Reihe und dadurch auch iedes einzelnen Gliedes in derselben. Ich bestimmte alles – bin der Grund der ganzen Reihe unter sich selbst nothwendig in der Zeit verbundener erscheinender Handlungen; ich selbst aber werde nicht zu Hervorbringung des Einen Gliedes dieser Reihe (die ich im Ganzen begründe) durch ein vorhergehendes Glied bestimmt, welches ebenfalls in die durch mich bestimmte Reihe gehört. Das Subiekt eines Urtheils, welches meine Handlungen von dem Einfluße der vorhergehenden Zeitumstände unabhängig erklärt, kann nur Ich seyn, als das denkbare, übersinnliche Substrat meines sinnlich wahrnehmbaren Charakters, und der diesem letzten gemäs an einander gereiheten Handlungen. 8 §. 241.
Aus dieser nothwendigen Unterscheidung ergiebt sich 1)
daß es überhaupt nicht widersprechend ist, sich ein Vermögen der Würksam‐ keit zu denken, dessen Effekt anfängt, ohne daß seine Würksamkeit (Caussa‐ lität) anfange; dessen Effekt in eine bestimmte Zeitreihe fällt, ohne daß das Bestimmende darinn liege – sich eine Handlung zu denken, die von dem Na‐ turgesetze (der Bestimmung durch dasienige, was der Zeit nach vorhergeht) unabhängig ist, obgleich ihre erscheinende Würkung nach diesem Gesetze erfolgt.
Ich darf nur das Subiekt dieser Handlung (das handelnde Ich) mir alsdann nicht als Erscheinung gedenken. 2)
daß ich meinem oder irgend einem Willen, ein solches Vermögen ohne Wi‐ derspruch beylegen könne, sofern ich ihn (diesen Willen) als Prädikat eines *
Bewiesen wird diese Behauptung in der Critik der reinen Vernunft; hier wird sie nur angewandt. 7
Dieser Beweis wird im Wesentlichen im Abschnitt »Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV B 116–169) ge‐ führt. Er besteht im Nachweis, dass Gegenstände nur durch die Anwendung der Kategorien erkannt werden können, dass die Kategorien aber ausschließlich auf Gegenstände möglicher Erfahrung, somit auf Gegenstände, die unter Zeitbedingungen stehen (Erscheinungen), an‐ wendbar sind (vgl. Kants Fazit KrV B 165 f.). 8 Vgl. KpV. AA V, 99, KU. AA V, 196, 343 f.
200
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Dings an sich in Beziehung auf seinen Effekt in der Erscheinung mir vor‐ stelle.
§. 242.
201
Absolute Freyheit (§. 233.) ist also nicht widersprechend, und kann sogar etwas Würkliches seyn, wenn man sie als ein metaphysisches (nicht unmittelbar in der Erfahrung gegebenes) und transscendentales (durch die Beziehung dessen, was nicht Erscheinung ist, auf die Erscheinung denkbares) Vermögen vorstellt. §. 243.
Diesen blos problematischen, d. h. nicht unmöglichen Gedanken (§. 242.) asser‐ torisch zu denken, oder welches einerley ist, Freyheit nicht blos als ein nicht un‐ mögliches, sondern auch als ein würkliches Vermögen meines Willens und des Willens aller moralischen Wesen anzunehmen, findet sich 1) a)
b)
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2)
zwar kein Grund in der Erfahrung; denn bey mir selbst, als Erscheinung betrachtet, und meinen Handlungen, eben‐ falls als Erscheinungen angesehen, fängt iede Würkung und iede Würksam‐ keit einer Ursache an, und es hängt alles nach dem nothwendigen Naturge‐ setze an einander. §. 228. 229. von Dingen an sich selbst und ihrer Würkungsart haben wir keine anschau‐ ende Vorstellung, mithin auch keine Erfahrung. Wir können ihnen die Caus‐ salverbindung nach ähnlichen Gesetzen, wie wir in der Sinnenwelt allgemein beobachtet finden, weder zuschreiben noch absprechen. Aber das eben so nothwendige, als unbegreifliche Bewußtseyn von dem mo‐ ralischen Gesetze nöthiget uns dazu. Denn da dieses Gesetz Handlungen (ei‐ ne gewisse Art, Form zu handlen) schlechthin gebietet, mithin als allgemein und nothwendig vorstellt, ohne Einschränkung durch Umstände der Zeit und des Ortes (ie nachdem diese uns zur Moralität oder zum Gegentheil deter‐ minirten, moralisch oder unmoralisch zu handlen): so ist die Befolgung des‐ selben nur dann möglich, wenn ich unter der Idee von absoluter Freyheit (§. 242.) handle, oder wenn ich mich und das vernünftige Wesen überhaupt in seinen Handlungen als (gewissermaaßen) unabhängig von der Bestim‐ mung durch Zeitumstände mir vorstelle. Es ist also zwar eine dem Innhalte nach theoretische, aber dem Erkenntnißgrunde nach praktisch nothwendige Voraussetzung, daß ich ein freyes Willensvermögen besitze. 9
9
Vgl. KpV. Vorrede. AA V, 4 Anm.
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§. 244.
Es ist mir also moralischnothwendig d. i. nothwendig, weil ich das moralische Gesetz als ein Gesetz meines Willens ansehe, mich als ein absolut freyes Wesen vorzustellen; da die Sache blos theoretisch angesehen, zwar nicht unmöglich, aber doch auf keine Art erweislich ist. §. 245.
203
Das moralische Gesetz betrachte ich nun als ein wesentliches Gesetz meines über‐ sinnlichen Ich (§. 240.) oder meines Geistes, so wie eines ieden vernünftigen We‐ sens. Dem Subiekte dieses Gesetzes kommt absolute Freyheit zu, sofern es durch diesen übersinnlichen Charakter, der von nichts in der Zeit befindlichen abhängt, die sinnlich wahrnehmbaren Gesinnungen und Handlungen in der Zeit bestimmt, oder sich selbst, als Erscheinung betrachtet, Naturgesetze vorschreibt, wornach die wahrnehmbaren Handlungen in der Zeit erfolgen. §. 246.
Höhere Grade der moralischen Freyheit (§. 227.) sind grössere Erscheinungen der absoluten Freyheit, die an sich keine Grade hat; weil die Vorstellung eines Grad‐ unterschiedes nur unter der Bedingung der Zeit möglich ist, die auf Dinge an sich nicht darf übergetragen werden. §. 247. Zweyte Unterscheidung. Materie und Form der Handlungen.
In den wahrnehmbaren Handlungen des Ich, welches erscheint, kann ich (§. 238. Num. 2) unterscheiden 1)
2)
die Materie, welche behandelt wird, wohin theils die Gegenstände des äus‐ sern Sinnes, theils auch die des innern Sinnes, oder meine Vorstellungen und die davon abhängenden sinnlichen Gefühle und Begierden gehören; al‐ les dasienige, was wir (gern oder ungern) haben. die Form, oder die Art und Weise, wie ich diesen innern und äussern Stoff behandle; was in der Handlung zu meinem Seyn gehört.
Der äussere Stoff der Handlung gehört nur in so fern zu meinem wahrnehmbaren Ich (der Erscheinung), als er mir innern Stoff giebt. Der innre Stoff gehört zu mir, als Erscheinung, und richtet sich nach (psycholo‐
204
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gischen) Naturgesetzen des wahrnehmbaren Ich, welches beydes in sich begreift, was ich bin und was ich habe. Nur die Form kann mir selbst, als einem intelligiblen Wesen angehören. §. 248.
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In Ermanglung aller Anschauung übersinnlicher Gegenstände kann die erste Ma‐ terie meiner Handlungen * nur etwas Sinnliches seyn, welches nur nach Gesetzen der sinnlichen Natur, also in bestimmten Zeitverhältnissen gegeben wird. Dieß ist also unabhängig von meiner Selbstthätigkeit vorhanden. Aller innere Stoff ist aus dem äussern entwickelt, und bezieht sich auf denselben. Welchen Stoff über‐ haupt also meine Handlungen haben, auf was für Gegenstände, Vor stellungen, Gefühle, Begierden sie sich beziehen, das hängt nicht von mir, sondern von den Zeitumständen ab. §. 249.
Die Gegenstände, meine Vorstellungen, Gefühle und Neigungen geben mir nur etwas zu behandlen, sie bestimmen die Sphäre, worinn ich moralisch handlen kann. Die Form aber, oder die Art und Weise, oder die Regel, wornach ich diesen Stoff behandle, wird mir nicht durch die Gegenstände gegeben und vorgeschrie‐ ben, sondern von mir selbst bestimmt. Diese Handlungsweise ist das eigentlich Moralische der Handlung, was mir selbst zugehört und nicht von Zeitumständen als ihre Würkung abhängt, welche weiter nichts bestimmen können, als die Ma‐ terie, welche sittlich behandelt wird oder nicht. §. 250.
Die Form der moralischen Handlungen ist demnach ein Werk der selbstthätigen und von Sinnlichkeit unabhängigen Vernunft. Der erste Stoff liegt ausser uns. Doch wenn die Vernunft moralische Gefühle erzeugt, bringt sie selbst einen Stoff der Handlungen hervor, der ihr nicht anderswoher durch Zeitumstände gegeben, sondern die sinnliche Erscheinung ihrer eignen Form oder Handlungsweise, und derselben gemäs ist. §. 251. Moralische, Unmoralische Handlungen.
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Wenn und sofern Handlungen das Gepräge der vernünftigen Selbstthätigkeit an sich tragen, oder sofern ein gegebener Stoff der Vernunftform gemäß bestimmt und behandelt worden: in sofern sind sie moralische Handlungen; unmoralisch *
Eben so der Handlungen eines ieden endlichen vernünftigen Wesens.
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hingegen, in so fern keine Spur von einer Würkung der selbstthätigen Vernunft darinn erscheinet. Beyde Arten von Handlungen können wir keinem Zwange der Zeitumstände zuschreiben, von welchem die Vernunft in keinem Falle abhängt, sondern einer Aeusserung oder unterlassenen Aeusserung des selbstthätigen Ver‐ mögens der Vernunft. §. 252. Zurechnung.
Die Vernunft ist das Gesetzgebende Vermögen des Menschen und eines ieden vernünftigen Wesens. Daher bestimmt sie auch das Urtheil über die Handlun‐ gen diesem Gesetze gemäs. Daß sie die Handlungen des Menschen (des sinnlich afficirten Wesens überhaupt) sich zurechnet, ihrer Thätigkeit oder Unthätigkeit, obgleich die unmoralischen nicht von ihrer Würksamkeit, sondern von der Thä‐ tigkeit anderer (nicht vernünftigen) Kräffte herrühren, kommt daher, weil 1)
2)
das Bewußtseyn der Persönlichkeit von der Vernunft abhängt, und in dieß Bewußtseyn nach einem unbegreiflichen Naturgesetz alles aufgenommen wird, was die Person that, wenn es auch nicht durch Vernunft, sondern durch andere Kräffte und nach andern Gesetzen geschahe. weil die Vernunft sich des Vermögens bewußt war, anstatt der erzwunge‐ nen Thätigkeit iener niedern, sinnlichen Kräffte, sich selbstthätig zu äussern. Sie rechnet sich also nicht zu dasienige, was durch andere nichtvernünftige Kräffte gewürckt worden ist; denn dieß ist für ihre eigne Würksamkeit nur Stoff; sondern nur die unterlassene oder angewandte Selbstthätigkeit, ienen Stoff zu behandlen, die höhern oder geringern Grade ihrer eigenen Vollkom‐ menheit. Die Hindernisse dieser Selbstthätigkeit, um derentwillen sie schwä‐ cher war, kennt sie nicht, kann sie also auch nicht in Anschlag bringen. 10
Hierauf gründen sich die Begriffe von Zurechnung, von Verdienst und Schuld. §. 253.
Bey diesen Begriffen und bey den zurechnenden Urtheilen setzen wir voraus, daß aller Zeitumstände ungeachtet, dem vernünftigen Wesen, welches fehlte, möglich war ein höherer Grad selbstthätiger Würksamkeit der Vernunft. Denn das, was die Würksamkeit der Vernunft einschränkte, konnte Nichts in der Zeit Befindli‐ ches, nichts Erkennbares seyn.
10
Vgl. KpV. AA V, 79.
207
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§. 254. Unbegreiflichkeiten.
208
Die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes für alle Handlungen vernünftiger We‐ sen zu ieder Zeit ist ihrer Möglichkeit nach dadurch gerettet, daß wir die Vernunft als ein von allen Erscheinungen in der Zeit unabhängiges Vermögen zu handeln haben kennen lernen. Dieß reicht in praktischer Absicht 11 hin, wenn gleich zwey andere Fragen sich uns hier aufdringen, für die es in unserm Erkenntnißvermö‐ gen keine entscheidenden Antworten giebt. Nehmlich 1) 2)
wie ist Vernunft und ihre Selbstthätigkeit möglich? wie bringt sie Erscheinun‐ gen und Naturgesetze derselben hervor? Warum offenbart sich nicht in allen wahrnehmbaren Handlungen gleiche Vernunftthätigkeit, gleiche Moralität? warum äussert sich bald mehr das be‐ stimmende, bald mehr das bestimmbare Vermögen des Willens?
Vernunft, ihren Einfluß auf sinnliche Erscheinungen und die verschiedenen Gra‐ de derselben kennen wir als Fakta; die Gründe der Möglichkeit davon liegen in dem blos Denkbaren und in seinem Verhältnisse zum Erkennbaren. §. 255. Dennoch überall Nothwendigkeit.
209
Wenn wir keinen (vernunftlosen) Zufall einräumen wollen, so bleibt nichts übrig als Nothwendigkeit; denn es giebt schlechterdings keinen Mittelweg *12 zwischen beyden. Es muß demnach etwas als vorhanden gedacht werden, was zugleich mit dem Da‐ seyn der Vernunft ihre Würksamkeit auf Erscheinungen, und den bestimmten iedes‐ mahligen Grad derselben bestimmt. Dieß ist freylich keine Erscheinung, denn eine Erscheinung kann kein Ding an sich selbst bestimmen. Wenn aber gleich die Sinn‐ lichkeit, so wie sie selbst sinnlich vorgestellt und erkannt wird, die Vernunft an sich nicht bestimmen und einschränken kann: so folgt daraus keinesweges, daß dasie‐ nige, was der Sinnlichkeit und allen ihren Erscheinungen an sich zum Grunde liegt, unvermögend sey, die Würkungen der Vernunft in der Erscheinung einzuschränken. Und, wenn wir der Grundlosigkeit d. i. der theoretischen Vernunftlosigkeit bey Er‐ klärung der Immoralität entgehen wollen, so müssen wir diesen problematischen *
Diese Behauptung der Deterministen, z. B. des H[err]n. Hofr[at]. Ulrich in Dess[elben]. Eleutheriologie (Jena 1788.) §. 9 ff. ist noch von keinem Vernünftigen ange‐ griffen oder bezweifelt, geschweige denn widerlegt worden. 11
Korrigiert aus: »Allsicht«. Dass es keinen Mittelweg zwischen Determinismus und Indeterminismus gebe, ist die gegen Kant gerichtete Hauptthese des ersten Abschnitts von J. A. H. Ulrichs Eleutherio‐ logie. Vgl. Ulrich 1788, 16–40 (Text 2), besonders 21 f. (§ 9). 12
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Gedanken assertorisch denken. Die Vernunft ist also frey in Absicht auf alles, was in der Zeit geschieht; aber eingeschränkt durch dasienige, was die Begebenheiten in der Zeit bestimmt. Sie ist frey, und hat keinen Einfluß empfangen in Absicht auf alles, was sie würklich thut, so wie auf alle ihre Urtheile, der Form nach; aber abhängig und eingeschränkt in Absicht auf das, was sie nicht thut. Sie konnte, für diesen Fall nicht würken. Sie ist frey d. i. selbstthätig in Ansehung der vernünftigen Form ihrer Handlungen; gebunden an den Stoff, der ihr gegeben, an die Sphäre, die ihr angewiesen ist.
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§. 256. Transscendente Freyheit.
Es ist also nicht nur kein vernünftiger Grund vorhanden, sondern es läuft so‐ gar wider alle Gesetze unsers vernünftigen Denkens transscendente Freyheit d. i. Unabhängigkeit des intelligiblen Würkens von intelligiblen Gründen, ein unein‐ geschränktes Vermögen der Vernunft, auf alle wahrnehmbare Handlungen eines endlichen vernünftigen Wesens einen bestimmenden Einfluß zu haben und sie dadurch moralisch zu machen – anzunehmen. Ohne diese Gründe zu kennen, oder den Grad ihrer Würkung und die Größe der die Vernunft einschränkenden Bedingungen bestimmen zu können, müßen wir doch, um dem Zufall auszuwei‐ chen, das Vorhandenseyn von dergleichen Gründen wegen der Beschaffenheit der entsprechenden Erscheinungen voraussetzen. Nur das unendliche, allgewaltige Wesen, die Gottheit ist in aller Rücksicht schlechterdings frey und unabhängig. §. 257. Intelligibler Fatalismus.
Der intelligible Naturfatalismus d. i. Behauptung der Naturnothwendigkeit aller Handlungen eines vernünftigen Wesens nach Gesetzen der Caussalität der Dinge an sich selbst, kann keinen Bestimmungsgrund dieser Handlungen oder ein Prin‐ cip der Unthätigkeit abgeben, weil nur dasienige auf unsre Handlungen bestim‐ menden Einfluß haben kann, was wir kennen, die Gränzen aber, welche die ver‐ nünftige Würksamkeit einschränken, für uns schlechterdings unbestimmbar sind. Zur Moralität ists genug zu wissen, oder zu glauben, daß alles, was wir kennen, daß alle Zeitumstände uns nicht zwingen können, unvernünftig zu handlen, mit‐ hin auch nicht von der Verbindlichkeit lossagen, das moralische Gesetz überall zur Regel und Richtschnur unsrer Handlungen zu machen, ob es gleich, theore‐ tisch betrachtet, nicht überall die würklich bestimmende Regel für die Handlun‐ gen seyn kann. Die Ausnahmen hängen nicht von unserm Willen ab, weil sie in etwas gegründet sind, was über die Gränzen unsrer möglichen Erkenntniß hin‐ ausliegt.
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Teil III · Freiheit und Zurechenbarkeit
§. 258. Resultate über absolute Freyheit.
Nach den bisherigen Untersuchungen und den Erörterungen der reinen Vernunft‐ critik ist der Begriff von absoluter Freyheit (§. 229.) 212
1)
2)
3)
4) 5)
213
6)
7)
8) 9)
vernünftig denkbar. Man verbindet nur die Begriffe von Caussalität und vom Unbedingten als Merkmahle Eines Begriffes von unbedingter Caussalität. Diese Vereinigung enthält nichts Innerlich Unmögliches, Widersprechendes. §. 241. Unanwendbar auf Erfahrungsgegenstände, sie dadurch zu erkennen. Man kann weder ein wahrnehmbares Wesen noch eine sinnlich erkennbare Hand‐ lung in conkreto angeben, worauf dieser Begriff paßte. §. 239. Aber anwendbar auf blos denkbare Gegenstände. Denn man kann bey Gegen‐ ständen des Denkens von den Bedingungen abstrahiren, die zur Erkenntniß oder Erfahrung von denselben gehören, und sie bleiben dennoch Gegenstände. Was sich nicht (sinnlich anschauen und den Verstandesbegriffen gemäß ver‐ binden d. heißt) erkennen läßt, kann dennoch an sich existiren. Es kann freye Wesen geben, wenn auch ihre Freyheit sich nicht in der Erfahrung zeigt. §. 242. Was als frey gedacht wird, ist in so fern übersinnlich. Dieses Uebersinnliche kann aber durch diesen Begriff nicht theoretisch er‐ kannt d. h. es kann für den Begriff der Freyheit keine entsprechende An‐ schauung gefunden werden; denn unsre Anschauung ist nur sinnlich. 13 Noch weniger läßt sich Freyheit erklären oder eine freye Handlung, als solche, begreifen. Wir erklären und begreifen eine geschehene Handlung durch die Bedingung, wovon sie abhängt. Was keine Bedingung hat, das Unbedingte, ist daher unerklärbar und unbegreiflich. Man kann und darf keine gegebene, in der Erfahrung vorkommende Hand‐ lung daraus erklären. Denn bey Erklärung sinnlich wahrnehmbarer Begeben‐ heiten muß man zu andern zurückgehn, die ebenfalls in die sinnliche Wahr‐ nehmung fallen; die Freyheit ist aber übersinnlich. Die Erklärung wäre aus‐ serdem theils willkührlich; denn warum sollte man die sinnlich vorausge‐ henden Ursachen übergehen? theils dem Zweck der Naturforschung nacht‐ heilig, denn man überhübe sich dadurch nur der Mühe, den Ursachen in der Erfahrung nachzuforschen, und nähme geradezu aus Bequemlichkeit etwas an, wobey keine weitere Untersuchung möglich ist. Auf mögliche Handlungen darf man den Begriff beziehen; weil er selbst mög‐ lich ist. Auf moralische Handlungen (die wir uns aber immer nur als möglich, nie‐ mahls geradezu als würklich vorstellen dürfen) muß man diesen Begriff be‐ 13
Vgl. KpV. AA V, 65, 89, 103, MS. AA VI, 226.
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10)
11)
12) a)
b)
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16)
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ziehen; denn die unbedingte und allgemeine Nothwendigkeit seiner Befol‐ gung ist nur durch ein unbedingtes Ver mögen zu wollen denkbar. Ohne Frey‐ heit vorauszusetzen, verlöhre dieses Gesetz seine Gültigkeit. §. 243. 244. Auf moralische Handlungen, sofern sie moralisch sind, also nur ihrer ver‐ nünftigen Form nach. Denn die Gegenstände der freyen, moralischen Be‐ handlung werden uns nach sinnlichen nothwendigen Naturgesetzen gege‐ ben. §. 246. Die Nothwendigkeit sie praktisch anzunehmen d. h. unter der Idee von Frey‐ heit zu handlen, ist unmittelbar enthalten in dem Bewußtseyn der Nothwen‐ digkeit (Verbindlichkeit), das moralische Gesetz allgemein und unter allen Zeitumständen zu befolgen. §. 240. Das Subiekt dieser Freyheit ist nur das vernünftige Wesen, und der Mensch nur, in sofern er vernünftig ist. Ein rein vernünftiges unendliches Wesen – die Gottheit – ist in aller Rück‐ sicht unabhängig, nicht blos in Ansehung dessen, was es thut, sondern auch in Absicht auf das, was es nicht thut. Es unterläßt nichts deshalb, weil es an dem Wollen oder Vollbringen äusserlich gehindert würde. Ein sinnlich vernünftiges, endliches Wesen (wie der Mensch) handelt nicht blos aus vernünftigen Gründen, die von Zeitumständen nicht abhängen, sondern auch aus andern Antrieben, die davon abhängig sind. Es muß also möglich seyn, daß es durch fremde Gesetze bestimmt werde, und wenn es nicht vernünftig handelt, so muß etwas da gewesen seyn, was die Vernunft hinderte, etwas, das der Sinnlichkeit und ihren Erscheinungen in der Zeit zum Grunde liegt. Die Gottheit besitzt transscendente Freyheit; sie ist allbestimmend und abso‐ lut unbestimmbar. Die eingeschränkte Vernunft, die Menschheit, ist bestimmend und bestimm‐ bar. Die Handlungen des Unendlichen, so wie der endlichen Wesen sind nothwendig und gesetzmässig bestimmt; iene lediglich durch ihr eignes; die‐ se zum Theil auch durch fremde Gesetze. Es giebt keinen Zufall. Die psychologische Naturforschung wird durch Annahme der Freyheit nicht gehindert; denn sie besteht mit der Nothwendigkeit; das reine Gesetz äussert sich in Erscheinungen, die nach einer sinnlichen Naturordnung gesetzmäs‐ sig verbunden sind, welche Ordnung man durch Nachforschungen entdeken kann.
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§. 259. Resultate über den Determinismus.
Versteht man unter Determinismus 1. 216
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4.
1) 2) 3)
Blinden Fatalismus d. i. eine Nothwendigkeit aller Begebenheiten ohne alle vollständig be stimmende Gründe in und ausserhalb der Naturkräfte – so ist dieser Gedanke widersprechend und er hebt allen theoretischen sowohl, als praktischen Vernunftgebrauch auf. Mystischen Fatalismus: Nothwendigkeit aller oder einiger Begebenheiten in der Welt, die nicht durch vollständig bestimmende in der Welt befindliche Gründe, sondern durch ein von der Welt verschiedenes Wesen und seinen Einfluß hervorgebracht wird 14 – so ist diese Behauptung, man mag dabey in der Gottheit Willkühr oder Zwecke, und die letztern als innere oder äussere Zwecke als Bestimmungsgründe ihres übernatürlichen Einflusses annehmen, ebenfalls allem Vernunftgebrauche schädlich, und für die Reinheit der Sitten verderblich. Versteht man darunter die allgemeine Gesetzmässigkeit und Nothwendigkeit der Würkungsart der Gottheit sowohl als der endlichen Naturkräfte, der kör‐ perlichen wie der geistigen, iedoch ohne Abhängigkeit dieser Gesetze von Vernunft und ohne nothwendige Uebereinstimmung mit derselben – Atheis‐ tischen Fatalismus – so läßt dieser zwar Vernunftgebrauch übrig, schränkt ihn aber doch blos auf die Erkenntniß ein, und hebt die Moralität auf. Der Gedanke von einer Gesetzmässigkeit, ohne gesetzgebendes Vermögen (Ver‐ nunft), von Gesetzen, die die Vernunft erkennen und doch mit sich selbst nicht übereinstimmend finden soll, ist aber auch schon an sich selbst wider‐ sprechend. Eine allgemeine Bestimmbarkeit und Abhängigkeit aller mit einem Willen begabten Wesen – des Unendlichen und der Endlichen – und würklich emp‐ fangene Bestimmungen, als die einzigen und entscheidenden Gründe aller Volitionen, Entschlüsse und Handlungen, ist unerweislich; weil Selbstbestimmung wenigstens problematisch möglich ist. in Ansehung der Gottheit – widersprechend, Sie muß wenigstens absolut selbstthätig und frey seyn. in Ansehung der endlichen Wesen; hebt sie alle Selbstthätigkeit, mithin auch die Möglichkeit auf, daß ein endliches Wesen das andere (aktiv) für sich selbst bestimmen könne, und man müßte also alles würkliche Bestimmtwer‐ 14
Schmid bezieht sich hier vermutlich auf den Occasionalismus, dessen Hauptvertre‐ ter Nicolas Malebranche (1638–1715) war. Dieser Auffassung zufolge wird der kausale Zu‐ sammenhang zwischen Dingen oder Ereignissen, insbesondere zwischen Geist und Körper, durch jedesmalige Eingriffe Gottes hergestellt.
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5.
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den, mithin alle Handlungen zuletzt von einem übernatürlichen Einfluß der Gottheit ableiten, welches auf die vernunftwidrige Vorstellungsart (Num. 2) zurückführen würde. Sie hebt ferner alle Moralität auf, weil diese auf Selbstt‐ hätigkeit der Vernunft beruht. Nothwendigkeit aller menschlichen Handlung zufolge der Bewegungsgesetze der Materie (materieller Fatalismus), oder zufolge des thierischen Instinkts (thierischer Fatalismus) sind eben so Erfahrungswidrig, als sie den Sitten Nachtheil bringen. Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit aller freyen Handlungen in der Zeit – eine Vorstellung, von welcher alle psychologische Nachforschung ihrer Mög‐ lichkeit nach abhängt, und die in der angewandten Moral von den wohlthä‐ tigsten praktischen Folgen ist. Sie schließt nicht nothwendig in sich den Ge‐ danken, daß die letzten bestimmenden Gründe selbst Erscheinungen in der Zeit wären, von denen es entscheidend abhienge, ob wir sittlich oder unsitt‐ lich handelten. Eine allgemeine Nothwendigkeit nach Vernunftgesetzen, allgemeine Gesetz‐ mässigkeit überhaupt – ist ein nothwendiger Gedanke der Vernunft, mit dem alles Interesse und alle Möglichkeit des Vernunftgebrauchs steht und fällt. Nothwendigkeit aller – sittlichen oder unsittlichen – Handlungen, zu fol‐ ge irgend welcher denkbarer, wenn gleich nicht immer erkennbarer, in oder ausserhalb der Sinnenwelt, in oder ausser den sinnlich vernünftigen Wesen liegender Gründe, mithin auch die unausweichliche Nothwendigkeit zuwei‐ len unsittlich zu handlen – – wenn es unsittliche Handlungen giebt, wenn die Vernunft keinen Zufall duldet: so kann kein vernünftiges Wesen diese Nothwendigkeit geradezu verwerfen oder auch nur vernünftig bezweiflen. Wenn Sittlichkeit mit diesem Gedanken nicht so, wie oben (§. 254 ff.) gezeigt worden, verträglich wäre: so müßte das vernünftige Wesen entweder Sitt‐ lichkeit für Chimäre erklären, oder um der Sittlichkeit willen, also aus Ver‐ nunftgründen (denn sittlich sollen wir durch Vernunft seyn – ) der Vernunft, ihren Grundsätzen und ihrem Gebrauche gänzlich entsagen. Eine unvernünf‐ tige Vernunft! **
Wollte man einwenden, »dem Vernunftgesetze der Nothwendigkeit könne man keine Gültigkeit in Absicht auf blos denkbare Dinge einräumen; diese könnten darnach nicht beurtheilt werden, hier könne auch Zufall statt finden«, so ist kei‐ ne Frage natürlicher und rechtmässiger, als die nach dem Grunde, weswegen wir bey dem vernünftigen Wesen an sich eine Ausnahme von seinem eigenen, nicht von der Sinnlichkeit empfangnen Gesetze machen sollen? um der Sittlichkeit wil‐ len? also um ihres Gesetzes willen sollen wir Nothwendigkeit d. i. Gesetzmässig‐ keit ihrer eigenen Caussalität läugnen? Wäre dies consequent? Und was wäre nun
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endlich durch diese Entfernung der Vernunft von sich selbst für die praktische Vernunft gewonnen? §. 260. Fortsetzung.
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Ein Determinismus endlich, welcher das Ich (das endliche vernünftige Wesen, den Menschen) in iedem Betrachte, also nicht blos als Erscheinung, sondern auch als Ding an sich selbst (welches er gewöhnlich nicht unterscheidet) in Ansehung aller seiner Handlungen, der vernünftigen und der thierischen, und in Ansehung alles dessen, was eine Handlung ausmacht, sowohl der Form (Handlungsweise) als der Materie oder den behandelten innern und äussern Obiekten nach, ohne alle Enschränkung dem nothwendigen Einfluße der Erscheinungen in der Zeit un‐ terwirft, und sie ausschließend daraus ableitet, ist 1) a) b)
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c)
d)
e)
unerweislich, und folgt nach einer richtigen Schlußart weder aus der Erfahrung; welche überall keine Nothwendigkeit lehrt und von Dingen an sich nichts offenbaret. Noch aus der Analogie der Erfahrung; weil die Analogie der Erfahrung nur so weit reicht und nicht weiter ausgedehnt werden darf, als die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt reicht. Von dem Sinnlichen, was ein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, gilt kein auch nur wahrscheinlicher Schluß auf das Uebersinnliche, wovon keine Erfahrungserkenntniß entstehen kann. Noch aus dem logischen Satze des Grundes; denn Freyheit, das Vermögen der von Zeitumständen unabhängigen Selbstthätigkeit ist selbst ein Grund; Frey‐ heit ist keine Grundlosigkeit. * Noch aus dem sinnlich verständigen Gesetz der Caussalität; »alles was ge‐ schieht, hat seine Ursache, die in der vorhergehenden Zeit liegt«. Denn das Gesetz hat nur Sinn in Beziehung auf Gegenstände in der Zeit, unter sich, auf sinnliche Erscheinungen im Verhältnisse zu einander. Diese Regel bleibt. Aber die denkbaren Handlungen des Dinges an sich in Bezug auf die wahr‐ nehmbaren Handlungen des Phänomenon, ihre Erscheinungen, hängen nicht wie Vor und Nach durch Zeitverhältnisse zusammen. Es ist das Verhältniß von etwas, das nicht in der Zeit ist, zu demienigen, was in einer Zeitordnung angeschaut wird. Noch aus dem spekulativen Vernunftinteresse. Dieses kann, bey Behauptung der Freyheit, in Aufsuchung der sinnlichen Ursachen, des zeitmässigen Zu‐ sammenhangs der verschiedenen Handlungen und Zustände des Gemüthes hinlänglich, ausserhalb der Sinnenwelt aber kann es, in Ermangelung alles zu verbindenden Stoffes, auch nach einem entgegengesetzten System auf kei‐ ne Weise befriedigt werden. *
Wiewohl unergründlich; ein unerreichbarer, unbegreiflicher Grund.
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Eine solche sinnlich deterministische Behauptung ist auch widersinnig. Sie stellt die Dinge an sich als abhängig von den Gesetzen der Erscheinungen, den Grund abhängig von seinem Gegründeten vor. Inkonsequent. Wenn ein solcher Determinist (wie gewöhnlich) sich auf die Voraussetzung der Unmöglichkeit stützt, daß einem unveränderlichen Din‐ ge an sich eine Reihe von Veränderungen in der Erscheinung entspreche; daß dasienige, was für sich selbst nicht in der Zeit existirt, eine Folge von Erscheinungen in der Zeit begründe, und demohngeachtet (wofern er nicht Atheist oder Pantheist seyn will) das Verhältniß Gottes, als des Unveränder‐ lichen und Zeitlosen, zu der Welt des 15 Veränderlichen in Zeitverhältnissen gestellten sich auf ebendieselbe Weise vorstellt: so erklärt er in dem Einen Falle für würklich, was er in dem Andern für widersprechend ausgiebt. Sie thut dem spekulativen Vernunftinteresse Abbruch. Indem man die Reihe von Würkungen und Ursachen rückwärts aus dem Sinnlichen in das Ueber‐ sinnliche hinführt, und ienes immer unmittelbar aus diesen, dieses aber wie‐ derum aus ienen erklärt, wird die ganze Naturforschung verwirrt. Hingegen bey dem System der Freyheit geht dieselbe ordentlich und regelmäsig fort. Ursachen und Würkungen in der Zeit hängen nach ihrem Gesetze zusam‐ men. Die entsprechenden Gründe in der blos denkbaren Welt werden in die‐ ser Reihe nicht mit eingeschaltet, sondern sie werden für sich gedacht, so wie diese erkannt werden. Die wechselseitigen Erklärungen des Intelligiblen aus dem Sinnlichen und des letzten wiederum aus dem Denkbaren führen uns auf lauter qualitates occultas 16 – die eigentlichen Antipoden ächter Physik. Sie ist praktisch schädlich, nehmlich obiektiv betrachtet, wenn diese Vorstel‐ lungsart im Gemüthe herrschend wird, und auf die Gesinnungen einwürkt *. Die Vernunft wird hier gänzlich der sinnlichen Natur untergeordnet, oder wenigstens beygeordnet. So wie ich mir dies innig und mit Ueberzeugung vorstelle, muß die moralische Freyheit (§. 227.) in meinem Bewußtseyn ab‐ nehmen, und das tugendhafte Bestreben ermatten. »Ich kann besser werden«; dieser Gedanke bleibt aber nur problematisch. Ich kann es, wenn ich muß. Ich will und muß es wohl abwarten, bis die Zeitumstände es begünstigen, daß ich besser werde. Wenn die Vernunft nicht selbstthätig würken kann: so ist sinnliches Wohl das einzige mögliche Ziel meines Bestrebens. Inne‐ *
Zu gutem Glück handlen wenige Menschen ihrem System consequent, und am we‐ nigsten vermag ein System, das in sich selbst nicht übereinstimmt, solche Begriffe, Gefühle und Maximen gänzlich zu vernichten oder sie kraftlos zu machen, die in dem Innersten der Natur selbst tief gegründet, und in die Sitten, Gewohnheiten, ia sogar in die gemeine Lebenssprache genau und unzertrennlich verwebt sind. 15 16
Korrigiert aus: »den«. Lat.: »dunkle Eigenschaften«.
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re Würde oder Unwür digkeit habe ich nicht; denn was ich bin und werde, bin und werd’ ich durch Umstände, durch die Zeit. Verbinde ich damit den empirischen Optimismus (§. 195.) 17: so muß ich hoffen, daß die Gottheit die Thorheiten, die ich mit meinem unmittelbaren Verlust an Glückseligkeit, aber zum Besten des Ganzen, als ein Opfer, das sie dem Universum bringt, begehe, mir vergüten, mich dafür belohnen, und zu desto grösern Fortschrit‐ ten auf dem Wege zu meiner persönlichen Wohlfahrt leiten werde. Sittliche Indifferenz. §. 261. Verhältniß der metaphysischen zur moralischen Freyheit.
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Moralische Freyheit (§. 227.) ist die Erscheinung der metaphysischen (§. 242. 246.). Das transscendentale Ich, die Vernunft an sich selbst, kann nicht besser werden durch Mittel, die in der Zeit würken; aber die Erscheinung desselben kann reiner, ungemischter werden von dem Einfluße anderer sinnlicher Kräfte. Die me‐ taphysischen Bedingungen von der Thätigkeit oder Unthätigkeit der Vernunft an sich selbst lassen sich von uns nicht bestimmen. Die theoretischen Regeln der empirischen Psychologie, welche das Begehrungsvermögen betreffen, bezeich‐ nen die Zeitumstände, als Temperament, Erziehung, Schicksale u. d. gl. unter welchen die Würksamkeit der Vernunft und ihre Einschränkungen erkannt wer den; aber nicht ihre eigentlichen realen Bestimmungsgründe. Auf diese gründen sich ferner gewisse praktische Regeln, welche lehren, wie wir die moralische Frey‐ heit bey uns und andern erhöhen können d. h. wie wir das empirische Ich unsrer Idee von dem übersinnlichen, reinvernünftigen Ich gemäß machen, wie wir die Gesetze und Aeusserungen des sinnlichen Begehrungsvermögens den Gesetzen des vernünftigen Willens zweckmässig anpassen können. Dieses Ich selbst, oder sein Gesetz ist ewig, unveränderlich und zu keiner Verbesserung fähig.
17
Vgl. Schmid 1790, 162–164.
(1792)
13 JOHANN CHRISTOPH SCHWAB
Ueber die zweyerley Ich, und den Begriff der Freyheit in der Kantischen Moral Johann Christoph Schwab (Angaben zu seiner Person und weiterführender Literatur finden sich in der Einleitung zu Text 11) gehörte zu den engagiertesten Kritikern der kantischen Philosophie. Seine Argumentationsstrategie bestand im Wesentlichen darin, Inkonsistenzen in der kantischen Lehre aufzuzeigen und darauf hinzuweisen, dass die aufgedeckten Fehler vermieden werden könnten, wenn man sich an die Leibniz-Wolff’sche Philosophie hielt. Ganz auf dieser Linie argumentiert Schwab auch im vorliegenden Text, der 1792 im 1. Stück des 1. Bandes des Philosophischen Archivs, einem von Johann August Eberhard herausgegebenen Organ der Kant-Gegner, erschien. Der Aufsatz ist direkt gegen C. C. E. Schmid (vgl. Text 12) gerichtet, indirekt wird aber Kants eigene Freiheitskonzeption kritisiert: Zum Ersten bemüht sich Schwab um den Nachweis innerer Widersprüche der kritischen Freiheitslehre, die aus dem Versuch entstehen, die Antinomie von Notwendigkeit und Freiheit durch den Rekurs auf die strikte Unterscheidung zwischen sinnlichem (empirischem) Ich und übersinnlichem (intelligiblem) Ich aufzulösen, wie es Schmid in seinem Versuch einer Moralphilosophie unternimmt (vgl. Schmid 1790, § 239–246, Text 12). Die »gänzliche Isolirung des Uebersinnlichen von dem Sinnlichen« (76) – durch die fundamentale Unterscheidung von Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand, sensibler und intelligibler Welt – sei sogar der Grundfehler des kantischen Systems überhaupt und die Wurzel seiner internen Widersprüchlichkeit. Ebendiese Fehler können aber, so Schwab zum Zweiten, durch die Freiheitslehre der Leibniz-Wolff’schen Philosophie vermieden werden, die nicht von einer qualitativen, sondern einer bloß graduellen Differenz des Sinnlichen und Übersinnlichen ausgeht. Damit bestehe kein grundsätzliches Problem mehr, die Wechselwirkung zwischen den inneren Kräften des Subjekts, die dessen Spontaneität ausmachen, und den äußeren Naturkräften zu erklären. Letztlich stehe man, wenn man nur die Fehler der kritischen Philosophie vermeidet, auf dem Leibniz-Wolff’schen Standpunkt. Mit anderen Worten: Das kantische System ist kein anderes als das Leibniz’sche, verunstaltet durch die Mängel der kritischen Philosophie. Es zeigt sich übrigens bereits in diesem Text, dass Schwab offenbar Schmid für den maßgeblichen Advokaten der kantischen Freiheitslehre hält. Das hat mitunter zur Folge, dass Schwab die kritische Philosophie insgesamt auf den von Schmid ins Spiel gebrachten intelligiblen Fatalismus (vgl. Schmid 1790, 211 (§ 257), Text 12) festlegt, den er dann in einem weiteren Aufsatz (Text 15) auch noch besonders kritisiert. ♦
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Nach der Kritischen Philosophie sind die Aussagen der speculativen und practi‐ schen Vernunft, was die Bestimmung unserer moralischen Handlungen betrifft, ganz verschieden, ja sogar einander entgegengesetzt. »Die speculative Vernunft unterwirft unsere Handlungen dem Naturgesetz, und erklärt sie für abhängig von den Zeitverhältnissen, mithin für nothwendig. Die practische hingegen will, daß das Gegentheil davon gleichmöglich, und sie daher von allen Zeit-Verhältnissen unabhängig seyn sollen.« 18 Um nun diesen scheinbaren Widerspruch zu heben, weiß die kritische Philo‐ sophie keinen anderen Rath, als zweyerley Ich, ein sinnliches und ein übersinn‐ liches, anzunehmen. Das sinnliche (empirische) Ich ist das Subject, worauf wir eine moralische Handlung beziehen müssen, in so ferne sie der nothwendigen Zeitfolge unterworfen ist: das übersinnliche (rein-Vernünftige) Ich als Ding an sich, ist das Subject, worauf eben diese Handlung muß bezogen werden, in so fern sie von allen Zeitverhältnissen und Naturgesetzen unabhängig ist. 19 Um diese zweyerley Ich, und besonders das übersinnliche, noch besser ken‐ nen zu lernen, führe ich aus H[errn]. Schmids Versuch einer Moral-Philosophie (§. 240.) folgendes an: »Ich bin berechtiget, und so gar genöthiget, die Erscheinung (sinnliche Vorstel‐ lung) von mir selbst auf ein unbekanntes Ich zu beziehen, das ihr (der Total-Er‐ scheinung von mir) und allen ihren Theil-Erscheinungen (einzelnen Handlungen und Zuständen), ja selbst der Zeit und dem Raum, worin ich mir alles Sinnliche vorstelle, zum Grunde liegt, wovon ich aber nur ein anschauungsloses, allgemei‐ nes Bewußtseyn habe. Beziehe ich meine wahrgenommenen oder wahrnehmba‐ ren Handlungen, als Prädicate, auf dieses Ich, als ihr Subject; so sind und bleiben sie zwar Wirkungen in der Zeit, aber der Grund davon liegt doch nicht in der – der Zeit nach vorhergehenden Erscheinung, sondern in Etwas, worin kein ZeitUn terschied mehr Statt findet. – Eine Handlung dieses Ich an sich selbst fängt also nicht an; sie bezieht sich aber gleichwohl auf eine erscheinende Wirkung, welche anfängt, d. i. zu einer gewissen Zeit, nach bestimmten vorausgehenden Umständen wahrgenommen wird. Die ganze Reihe dieser erscheinenden Hand‐ lungen hängt zwar unter sich als (sinnlich-erkennbare) Ursache und Wirkung zu‐ sammen. Allein auf jenes Ich bezogen, ist dieses der Bestimmungsgrund der gan‐ zen Reihe, und dadurch auch jedes einzelnen Gliedes derselben. Ich bestimme alles; bin der Grund der ganzen Reihe unter sich selbst nothwendig in der Zeit verbundner, erscheinender Handlungen; ich selbst aber werde nicht zur Hervor‐ bringung des Einen Gliedes dieser Reihe (die ich im Ganzen begründe) durch ein 18
Schwab gibt hier sinngemäß den ersten Absatz von § 238 aus C. C. E. Schmids Ver‐ such einer Moralphilosophie (1790) wieder (vgl. Text 12). Vgl. auch GMS. AA IV, 457. – Schwabs Paragraphenangaben beziehen sich alle auf Schmid 1790, §§ 220–261 daraus sind in Text 12 abgedruckt. 19 Vgl. KrV A 546/B 574.
Johann Christoph Schwab (1792)
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vorhergehendes Glied bestimmt, welches ebenfalls in die durch mich bestimmte Reihe gehört.« 20 Die erste Frage hiebey ist ohne Zweifel diese: was berechtiget und nöthiget den kritischen Philosophen, außer dem empirischen Ich ein übersinnliches anzuneh‐ men? Die Kritik der r. V. verbietet ihm ja ausdrücklich (S. 345. n[eue]. A[usgabe].) »sich ein neues Feld von Gegenständen außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können, zu schaffen, und in intelligible Wel ten, sogar nicht einmal in ihrem Begriff, auszuschweifen.« 21 »Sie spricht (S. 298.) allen unsern Begrif‐ fen und Grundsätzen, so sehr sie auch a priori möglich seyn mögen, wenn sie sich nicht auf empirische Anschauungen beziehen, alle objective Gültigkeit ab, und erklärt sie für ein bloßes Spiel, es sey der Einbildungskraft oder des Verstan‐ des.« 22 – Hier ist eine Inconsequenz in der kritischen Philosophie, die allein hin‐ länglich wäre, ihr diesen Nahmen, wodurch sie sich zur Richterin anderer philo‐ sophischen Systeme und selbst der Vernunft aufgeworfen hat, streitig zu machen. Wenn man aber auch einräumte, daß dieses übersinnliche Ich etwas sey, so frägt sich ferner, ob die kritische Philosophie noch das mindeste von diesem Et‐ was prädiciren könne. Offenbar kann sie es nach ihren Grundsätzen nicht. H[er]r. Schmid nennt auch in der angeführten Stelle dieses Ich ausdrücklich ein unbe‐ kanntes Ich: und in seinem Grundriß der Vernunftkritik sagt er (§. 94.) »Wir kön‐ nen den transscendentalen Gegenstand eben so wenig als Größe, Realität, Ursa‐ che u. s. w. denken, als überhaupt bestimmen, ob er in oder außer uns sey.« 23 Nun aber denkt sich H[er]r. Schmid in seiner practischen Philosophie das tran‐ scendentale Ich als etwas reelles, und zwar als etwas, das der Grund der erschei‐ nenden moralischen Handlungen ist: er ist also mit sich selbst in einem offenba‐ ren Widerspruch. In der That, wie viel weiß H[er]r. Schmid in der angeführten Stelle von dem übersinnlichen transscendentalen Ich, 24 von dem sich doch nichts sagen läßt, zu sagen. »Es liegt allen unsern einzelnen Handlungen und Zuständen zum Grun‐ de«. »Es liegt der Zeit und dem Raume zum Grunde«. »Es bestimmt alles, und wird durch nichts bestimmt«. »Eine Handlung dieses Ichs fängt nicht an, sie be‐
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Schmid 1790, 198–200 (Text 12). KrV A 289/B 345. 22 »Also beziehen sich alle Begriffe und mit ihnen alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d. i. auf data zur möglichen Erfahrung. Ohne dieses haben sie gar keine objective Gültigkeit, sondern sind ein bloßes Spiel, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes, respective mit ihren Vor‐ stellungen.« (KrV A239/B 298) 23 C. C. E. Schmid: Critik der reinen Vernunft im Grundrisse. Zweyte verbesserte Auflage. Jena 1788, 46. Vgl. auch KrV A 288/B 344. 24 Gemeint ist der im vierten Absatz angeführte § 240 aus Schmid 1790, 198–200 (Text 12), aus dem Schwab hier sinngemäß zitiert. 21
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zieht sich aber gleichwohl auf eine Erscheinung, die anfängt«. »Endlich ist dieses übersinnliche Ich nach §. 261. keiner Veränderung noch Verbesserung fähig«. 25 Doch die willkührlichste und grundloseste Behauptung ist, daß das übersinn‐ liche Substrat des empirischen Ichs ein Ich sey. Warum denn gerade ein Ich? Kann nicht das übersinnliche Substrat meines erscheinenden Ichs die Materie, die Gottheit, oder sonst was seyn, wovon ich nicht die mindeste Vorstellung ha‐ be? Der nächste Gedanke ist, die Gottheit für dieses übersinnliche und allgemei‐ ne Substrat aller unserer empirischen Modificationen zu halten. Damit stimmten dann die diesem übersinnlichen Ich beygelegten Prädicate, seine absolute Frei‐ heit (§. 233.), seine Erhabenheit über alle Naturgesetze, seine Unveränderlich‐ keit und Unverbesserlichkeit (§. 261.) sehr gut überein. Wenn einmal das Sinnliche, von dem Uebersinnlichen so sehr getrennt ist, wie in der kritischen Philosophie; so kann man mit Grunde behaupten, daß das Sub‐ strat von dem empirischen Ich keine Ichheit, sondern etwas von dem Ich ganz verschiedenes seyn. 26 So müßten wir, um nach der kritischen Philosophie wahr‐ haftig frey zu seyn, unsere Ichheit ablegen. Wir müßten nicht nur aus der syste‐ matischen Verbindung der Dinge, sondern aus uns selbst herausgehen, und pro‐ blematische Wesen werden. Zu solchen problematischen Wesen hat uns auch die kritische Philosophie wirklich gemacht. 27 Dieß sind aber noch nicht alle Schwierigkeiten, die sich bey diesen zweyerley Ichheiten finden. – Das Ich, als Ding an sich, bestimmt nach §. 240. die ganze sinnlich-wahrnehmbare Reihe unserer Handlungen, und ist über die Naturgeset‐ ze erhaben. Gleichwohl ist es (nach §. 258. nr. 12. b.) möglich, daß ein sinnlichvernünftiges Wesen »durch fremde Gesetze bestimmt werde; und wenn es nicht vernünftig handelt; so muß etwas da gewesen seyn, was die Vernunft hinderte, etwas, das der Sinnlichkeit und ihren Erscheinungen in der Zeit zum Grunde liegt«. 28 Demnach kann die reine Vernunft, oder das übersinnliche Ich, das doch über die Naturgesetze erhaben seyn soll, in seinen Handlungen gehindert, und zwar durch etwas, das der Sinnlichkeit zum Grunde liegt, mithin durch sich selbst gehindert werden. Warum soll das übersinnliche Ich, das von der ganzen Natur unabhängig ist, sich selbst einschränken? Oder ist vielleicht das Etwas, das der Sinnlichkeit und ihren Erscheinungen in der Zeit zum Grunde liegt, etwas anders, als das übersinnliche, rein-vernünftige Ich? Ist es etwas anders, so wünschte ich es von H[errn]. Schmid zu erfahren. Ueberhaupt ist nach allem, was H[err]. Schmid sagt, das gegenseitige Verhält‐ niß dieser zwey Ichheiten schwer zu begreiffen. Das übersinnliche Ich ist der
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Schwab paraphrasiert Schmid 1790, 225 (Text 12). Vgl. KrV B 67–69, B 152–159. Einen ähnlichen Vorwurf findet man in Pistorius 1786 (Text 1). Schmid 1790, 214 f. (Text 12).
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Grund der ganzen Reihe meiner erscheinenden Handlungen, und jedes Gliedes derselben (§. 240.): und doch hängen die Glieder dieser Reihe nach den nothwen‐ digen Naturgesetzen zusammen; sie sind empirisch in einander gegründet. Das übersinnliche Ich bestimmt also diese Reihe mit allen ihren Gliedern, die doch nach physischen Gesetzen durch einander bestimmt sind: d. i. es bestimmt sie, und bestimmt sie nicht. Dieser Widerspruch wird noch auffallender, wenn man §. 245. lieset, daß das übersinnliche Ich sich selbst, als Erscheinung betrachtet, Naturgesetze vorschreibt, wornach die wahrnehmbaren Handlungen erfolgen. Die Naturgesetze selbst hängen also von dem Uebersinnlichen Ich ab. Wie kann man da noch sagen, daß das sinnlich-vernünftige Wesen (der Mensch) durch fremde Gesetze bestimmt werde; wie §. 258. nr. 12. b. gesagt wird? – Eben so wenig läßt sich begreiffen, wie das übersinnliche Ich kraft der absoluten Freyheit, die ihm §. 242. zugeschrieben wird, ein Vermögen haben soll, eine Handlung anzufan‐ gen, da doch nach §. 240. eine Handlung dieses Ichs nicht anfängt. – Muß es einer Theorie, wo dergleichen Widersprüche vorkommen, nicht an der Grundan‐ lage fehlen? Diese fehlerhafte Grundanlage ist die gänzliche Isolirung des Uebersinnlichen von dem Sinnlichen durch die gewaltsamste Abstraction, die je ein Philosoph ge‐ macht hat. Daß die Sinnlichkeit etwas anders ist, als die Vernunft, das hat man längst gewußt, und Leibnitz hat den Unterschied dieser doppelten Seite des Men‐ schen genauer bestimmt, als vor ihm geschehen war. 29 Aber das ist noch nie‐ manden eingefallen, das vernünftige Ich ganz von dem empirischen Ich und der Sinnenwelt zu trennen, und demselben Prädicate beyzulegen, wodurch es in den Rang der Gottheit erhoben wird. Wie ungleich zusammenhängender und mit den Begriffen des gemeinen Men‐ schenverstandes übereinstimmender ist die Leibnitzische Lehre von der Freyheit, oder der Leibnitzisch-Wolffische Determinismus, 30 der aber freilich von dem De‐ 29
Für Leibniz – und ebenso für Wolff und Baumgarten – sind das sinnliche und das intellektuelle Vermögen (Vernunft) das niedere und das höhere Vorstellungsvermögen. Bei‐ de unterscheiden sich zwar der Klarheit und Deutlichkeit ihrer Vorstellungen nach vonein‐ ander, aber nur graduell, und beide sind – als Teile oder Stufen ein und desselben Vorstel‐ lungsvermögens – nicht voneinander isoliert. 30 Die Leibniz’sche Freiheitslehre (vgl. auch Einleitung 2.1) bzw. der LeibnizWolff’sche Determinismus sind geprägt durch den Satz des zureichenden Grundes, der als Fundamentalprinzip verstanden wird. Diesem Satz zufolge hat jedes Ereignis einen zurei‐ chenden Grund, was die Annahme einer indeterministischen oder indifferentistischen Will‐ kür- oder Wahlfreiheit ausschließt. Ein Sinn von Freiheit wird jedoch aufrechterhalten, ei‐ nerseits durch die These, dass alle tatsächlichen Ereignisse zwar durch zureichende Gründe bestimmt, aber doch kontingent sind. Andererseits wird dem Geist ein Vermögen der Spon‐ taneität oder Selbsttätigkeit zugeschrieben. Das bedeutet, dass die Kräfte des Geistes – ins‐ besondere das vernünftige Vorstellen oder Denken – einer inneren Eigengesetzlichkeit un‐ terstehen, sodass zwar alle seine Handlungen einen zureichenden Grund haben, der Geist zugleich jedoch eine Unabhängigkeit von der Bestimmung durch äußere Gründe oder Ur‐
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terminismus, den H[err]. Schmid widerlegt, sehr verschieden ist. Hierüber muß ich noch ein Paar Worte sagen. H[err]. Schmid sagt §. 232., daß die Folgen des Determinismus eben dieselben seyen, wie bey dem Fatalismus, und daß diese zwey Systeme den Hauptgedan‐ ken unter sich gemein haben, daß die nöthigenden und bestimmenden Gründe der Handlungen gänzlich außer der Gewalt des Handelnden stehen. Wenn H[err]. Schmid hier die Leibnitzisch-Wolffische Philosophie meynt, so irrt er sich sehr. Nach dieser Philosophie hat die menschliche Seele Spontaneität oder Selbstthä‐ tigkeit; und diese Selbstthätigkeit äußert sie besonders in dem Zustande der deut‐ lichen Vorstellungen und des Denkens. 31 Freylich ist diese Spontaneität nicht ab‐ solut, weil die menschliche Seele ihrem Wesen nach eingeschränkt ist, und in ei‐ nem System existirt, wo die Substanzen sich einander wechselsweise einschrän‐ ken. Wenn man aber um dieser durchgängigen Bestimmung willen, der endlichen Substanz alle Selbstthätigkeit abspricht, und um diese zu retten, für nöthig hält, sie aus dem System herauszureißen; so ist es eben so viel als behauptete man, daß der Fisch in dem Ocean, weil er von einer so ungeheuern Wasser-Masse um‐ geben sey, sich nicht regen könne, und daß man, um ihm eine freye Bewegung zu verschaffen, ihn aus seinem Element herausnehmen und aufs Trockene legen müsse. – Hieraus beurtheile man nun den Schmidischen Einwurf gegen den De‐ terminismus §. 230., wo es heißt: »nach diesem System erfolgen alle Handlungen eines sinnlich-vernünftigen Wesens nach einer unhintertreiblichen Nothwendig‐ keit aus der Concurrenz der Weltkräfte, wo sich der Beytrag seiner eigenen Kraft, wie das Unendlich-kleine zu dem Unendlich-großen, der Summe aller übrigen wirkenden Kräfte verhält.« So calculirt H[err]. Schmid, und einen solchen Calcul hat man längst dem Leibnitzisch-Wolffischen Determinismus vorgeworfen, aber auch längst beantwortet. Ploucquet, einer unserer ehemaligen größten Metaphy‐ siker, (ob er wohl jetzo von der Menge vergessen zu seyn scheint;) giebt folgende kurze, aber entscheidende Antwort darauf: »Spiritus a nexu rerum infinite mul‐ ta pati, omnino est concedendum. Sed determinationes hae non obstant libertati, quia haec facultas non nisi in statu idearum distinctarum exercetur, quo statu spiritus demon strat suam activitatem, et influit in nexum rerum pro ratione po‐ testatis suae.« (S. Ploucq. Elem. philos. contempl. Edit. 1778. p. 399.). 32 Hievon sachen behält. Vgl. zum letzten Punkt besonders § 14–16 von Leibniz’ Système nouveau de la nature (Leibniz 1996a. Bd. 1, 218–223) und »Über die Möglichkeit und die Freiheit«. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Buch II, Kapitel XXI (Leibniz 1996a. Bd. 3.1, 240–351). 31 Vgl. Anm. 30 und § 14–15 von Leibniz’ Système nouveau de la nature. Leibniz 1996a. Bd. 1, 218–223. 32 Gottfried Ploucquet (1716–1790) war ein deutscher Philosoph und Logiker, der an der Universität Tübingen lehrte. Das Zitat stammt aus: Elementa philosophiae contemplati‐ vae sive de scientia ratiocinandi, notionibus disciplinarum fundamentalibus deo, vniverso et speciatim de homine. Stuttgart 1778, 399 (§ 362); Übersetzung der Hg.: »Dass der Geist
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wird das, was H[err]. Schmid von dem empirischen und übersinnlichen Ich sagt, nicht so verschieden seyn; nur daß es verständlicher ist. – Es kommt hier alles auf die Entscheidung der Frage an: »Hört eine Kraft deswegen auf, eine Kraft zu seyn, weil sie in einem System mit anderen Kräften existirt, die wechselsweise auf einander wirken?« Hoffentlich wird kein Philosoph es wagen, diese Frage a priori zu bejahen: ei‐ ne solche Behauptung würde um so grundloser seyn, da mehrere Kräfte durch die systematische Verbindung mit einer gewissen Kraft, die Thätigkeit der letz‐ tern begünstigen und befördern können; wie solches der Fall bey den Geistern ist, die einander ihre Einsichten mittheilen. Davon nicht einmal zu reden, daß bey diesem Einwurf auf die Heterogeneität der Kräfte gar nicht Rücksicht genommen wird. – Wenn man nun vollends die besondere Leibnitzische Hypothese dazu nimmt, nach welcher die Seele alle ihre Vorstellungen und Volitionen, aus sich selbst, durch ihre eigenthümliche Kraft hervorbringt, so ist es in der That unbe‐ greiflich, wie man der Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie einen Determinis‐ mus Schuld geben kann, wobey die Gründe der Handlungen des menschlichen Geistes gänzlich außer seiner Macht liegen, und nach blos physischen Naturge‐ setzen erfolgen. – Daß nicht alle Gründe unserer Handlungen in unserer Gewalt sind, das giebt allerdings die Leibnitzisch-Wolffische Philosophie zu, und welche Philosophie muß das nicht zugeben, wenn sie dem Menschen nicht eine absolute Freyheit, d. i. eine Freiheit, die er nicht hat, und nicht haben kann, einräumen will? Aber das behauptet jene Philosophie, daß der Mensch als ein Geist, das Princip der Thätigkeit in sich selbst hat, und daß er durch die Ausbildung und den Gebrauch seiner Vernunft, sich von dem Einfluß der äußern Dinge und der Herrschaft der Sinnlichkeit immer unabhängiger, mithin immer freyer machen, und sich dadurch dem Urbild der höchsten Vernunft und der absoluten Freyheit immer mehr nähern könne. – Auf dieses Resultat kommt denn endlich auch H[err]. Schmid, wenn er §. 261. sagt, daß die moralische Freyheit bey uns und andern erhöht, d. i. das empirische Ich unserer Idee von dem übersinnlichen rein-vernünftigen Ich gemäß gemacht werden könne. – Und so hätten wir auch hier, nach vielen Umwegen, am Ende weiter nichts als eine neue Terminologie gewonnen.
durch den Zusammenhang der Dinge unendlich vieles erleidet, wird von allen zugegeben. Aber diese Bestimmungen stehen der Freiheit nicht entgegen, weil sich dieses Vermögen nur auf der Stufe distinkter Ideen betätigt, auf welcher Stufe der Geist seine Tätigkeit bezeigt und im Verhältnis zu seiner Kraft den Zusammenhang der Dinge beeinflusst.«
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Erörterung des Begriffes von der Freyheit des Willens Karl Leonhard Reinhold (1757–1823) wurde in Wien zunächst bei den Jesuiten, dann bei den Barnabiten zum Priester ausgebildet und war als Philosophielehrer tätig. 1783 musste er Wien unter ungeklärten Umständen verlassen, machte in Leipzig Bekanntschaft mit Ernst Platner und kam 1784 nach Weimar. Dort wurde er Mitarbeiter an Wielands Der Teutsche Merkur, wo er ab 1786 auch seine Briefe über die Kantische Philosophie veröffentlichte. Diese etablierten ihn als Kantianer und brachten ihm 1787 in Jena die erste Professur für kantische Philosophie ein. 1794 folgte er einem Ruf an die Universität in Kiel, an der er bis zu seinem Tod wirkte. Mit seinen Briefen über die Kantische Philosophie hob Reinhold zunächst die aufklärerischen und reformatorischen Leistungen des Kritizismus in den praktischen Bereichen der Philosophie hervor. Mit dem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (Jena 1789) und einer Reihe weiterer Aufsätze und Bücher ging er dazu über, die kantische Lehre in ein einheitliches, umfassendes System – die Elementarphilosophie – zu integrieren, das auf einem ersten Grundsatz – dem Satz des Bewusstseins – basierte. Reinhold gab damit wesentliche Impulse für die zahlreichen Systementwürfe (Fichte, Schelling usw.) der nachkantischen Ära. 1797 gab Reinhold seine Elementarphilosophie jedoch auf, um sich Fichtes Wissenschaftslehre anzuschließen. Um 1800 wandte er sich dann endgültig von der Transzendentalphilosophie ab und entwickelte in den folgenden Jahren ein philosophisches System auf der Basis von Christoph Gottlieb Bardilis Rationalem Realismus. Wie bereits erwähnt, erwarb sich Reinhold seinen Ruf als Kantianer durch die Serie von Briefen, die ab 1786 im Teutschen Merkur erschienen und 1790 im ersten Band der Briefe über die Kantische Philosophie zusammengefasst wurden. 1792 folgte ein zweiter Band, der nun aber hauptsächlich Aufsätze aus den Jahren 1791/92 enthielt (Reinhold 1792). Diese gehörten bereits dem elementarphilosophischen Projekt an und stellten Reinholds ersten Versuch dar, die Fundamente und Grundsätze der praktischen Philosophie – primär der Moral und des Naturrechts – aufzustellen. Neben bereits zuvor publizierten Aufsätzen präsentierte Reinhold in den neu verfassten Briefen 7–8 nun auch seine eigene Willens- und Freiheitslehre. Im hier abgedruckten 8. Brief (Reinhold 1792, 262–308) geht es ihm zentral darum, die neue, im vorangehenden 7. Brief eingeführte Definition der Willensfreiheit genauer zu explizieren. Dieser Definition zufolge ist der freie Wille das Vermögen der Person, sich für oder gegen die Forderung des Sittengesetzes, bzw. für oder gegen die Forderung des sinnlich-empirischen Begehrungsvermögens, bzw. sich entweder für die Forderung des Sittengesetzes oder
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für diejenige des Begehrungsvermögens zu entscheiden. Neu ist daran, dass Reinhold anders als andere Kantianer nicht bloß die Autonomie der praktischen Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit, die Unabhängigkeit des Sittengesetzes von der Naturgesetzlichkeit einfordert, sondern ebenso eine Unabhängigkeit des freien Willens von den Forderungen des Sittengesetzes und somit von der praktischen Vernunft. Dies hält er deshalb für notwendig, weil nur auf diese Weise nicht nur sittliche, sondern auch unsittliche Handlungen als frei und zurechenbar angesehen werden können: Das moralische Subjekt muss sich durch einen Akt des freien Willens auch gegen die Forderungen des Sittengesetzes entscheiden können. Der freie Wille ist somit ein Grundvermögen, das zwischen sinnlichem Begehrungsvermögen und praktischer Vernunft steht und sich frei entschließen kann, die Gesetzlichkeit des einen oder der anderen wirksam werden zu lassen. Das Vermögen des freien Entschlusses für oder gegen das Sittengesetz äußert sich Reinhold zufolge als Tatsache des Bewusstseins, die Realität der Freiheit wird also unmittelbar durch das Selbstbewusstsein der sich frei entschließenden Person belegt. Zur Erläuterung dieser Willenskonzeption gehört es auch, dass Reinhold sie gegen deterministische und andere kantianische Theorien – unter anderen die von C. C. E. Schmid – rechtfertigt und sich dagegen verwahrt, dass sie als indifferentistisch oder äquilibristisch verstanden wird. Zudem ist Reinhold auf den Nachweis bedacht, dass seine Auffassung eine Erörterung des von Kant selbst eingeführten, aber ohne Erläuterung gebliebenen Begriffs der Freiheit darstellt. Damit wird deutlich, dass es nicht nur um eine systematische Positionierung geht, sondern auch um die Frage einer richtigen und angemessenen Auslegung der kantischen Vorgaben zur Frage der Freiheit. Beide Aspekte, der systematische wie der exegetische, werden in der Folge Gegenstand einer der zentralen Debatten der Periode, die sich zu einem Richtungsstreit innerhalb des Kantianismus zwischen Schmids intelligiblem Fatalismus (Text 12) und Reinholds Willenskonzeption (siehe Texte 16) entwickelt. Kant selbst wird durch eine Stellungnahme eingreifen (Text 17), die Reinhold veranlasst, sich von dessen ursprünglicher Lehre zu distanzieren (Text 18). Als Schlusspunkt der Auseinandersetzung kann Schellings Vermittlungsversuch angesehen werden (Text 19). Weiterführende Literatur: Fabbianelli 2000, Lazzari 2004, 271–317, Bondelis Einleitung zu RGS 2/2, LXIX–LXXVII, die verschiedenen Beiträge in Stolz / Heinz / Bondeli 2012, Noller 22016, 206–235, Klemme / Kuehn 2016, 621–625, Noller 2019b. Der 8. Brief ist im Originalzusammenhang des zweiten Bandes der Briefe über die Kantische Philosophie und ausführlich kommentiert abgedruckt in RGS 2/2, 183–206. ♦ 262
Freylich, l[ieber]. Fr[eund]., ist die Freyheit in demjenigen Begriffe vom Willen, über den Sie mit mir einig geworden sind, 33 so nothwendig und so ausdrücklich enthalten, daß sich derselbe ohne dieses Merkmal schlechterdings nicht denken 33
Vgl. den 7. Brief in Reinhold 1792, 244–261, besonders 246, 250 f., 259.
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läßt; und nicht mit Unrecht behaupten Sie, es müsse in den Augen des gesunden Verstandes zu keiner geringen Empfehlung dieses Begriffes gereichen, daß es sich schon aus ihm allein ergebe, nicht nur daß, sondern auch in wie ferne der Wil‐ le frey ist. Gleichwohl halte ich mich weder durch diesen Umstand, noch auch durch alles, was ich in meinem letzten Briefe in einer andern Rücksicht von dem Charakter des Willens gesagt habe, 34 des Versprechens entlediget, über den Be‐ griff der Freyheit, dessen durchgängige Bestimmtheit in den Prämissen der Moral und des Naturrechts eine der ersten Bedingungen ist, eine besondere und aus‐ führliche Erörterung aufzustellen. Die Aufgabe, die ich mir dadurch vorlege, ist diejenige, die sich unter allen, womit sich die philosophierende Vernunft bisher beschäftigt hat, in dem leidigsten Zustande befindet. Sie ist durch jede versuchte Auflösung nur noch mehr verwickelt, und ihre Data sind mit jedem Fortschritte der Metaphysik mehr verkannt und verunstaltet worden. Alle bisherigen philoso‐ phischen Systeme, und alle metaphysischen Begriffe ohne Ausnahme stehen mit dem richtigen Begriffe von der Freyheit im geraden Widerspruche. Auch die Kritik der reinen und der praktischen Vernunft hat diesen Begriff nur angedeutet, kei‐ neswegs aber mit denjenigen Merkmalen aufgestellt, die seinen Gegenstand von allen anderen unterscheiden. Sie hat noch keine Erklärung davon geben können, weil sie dieselbe nur erst möglich machen konnte und mußte; und der Ueber‐ gang von dieser nun vorhandenen Möglichkeit zur Wirklichkeit ist durch die mei‐ sten hieher gehörigen Schriften der Freunde der kritischen Philosophie vielmehr erschwert als erleichtert worden. Die dem Bewußtseyn so nahe, aber vielleicht eben darum der Spekulation bis jetzt so fern gelegene Unterscheidung zwischen der unwillkührlichen Forderung und der willkührlichen Befriedigung die beym Wollen Statt findet, öffnet den Weg zu diesem Uebergange, den ich bereits zu‐ rückgelegt zu haben glaube, wenn ich mir den Willen als das Vermögen der Per‐ son denke, sich selbst zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des Begehrens zu bestimmen. So einfach und einleuchtend aber auch das Merkmal der Freyheit vor dem Blicke meines Geistes schwebt, wenn ich das‐ selbe mit diesem Begriffe vom Willen und den Thatsachen des sittlichen Bewußt‐ seyns vergleiche, so sehr verwickelt und verdunkelt sich dasselbe, indem ich es in seine einzelnen Bestandtheile auflöse, und diese im Zusammenhange mit ge‐ wissen noch ungeläuterten, aber gleichwohl sie betreffenden Ueberzeugungen zu denken suche. Ein finsterer Nebel, der sich aus der Unbestimmtheit verwandter und angränzender Begriffe über meinen Begriff von der Freyheit zusammen zog, sollte zerstreut werden. Hier ist das Resultat meines Versuches. Ist Erstens der Wille überhaupt: »das Vermögen der Person sich selbst zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützi‐ gen Triebes zu bestimmen;« so läßt er sich nicht ohne diejenige Freyheit denken, 34
Vgl. Reinhold 1792, 246.
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die in der Unabhängigkeit der Person von der Nöthigung durch jene Forderung be‐ steht. Dieses einzelne Merkmal der Freyheit kömmt im Systeme der Deterministen 35 vor, welche die ganze Freyheit in demselben bestehen ließen. Sie nannten den Willen das vernünftige Begehren, und gestanden ihm, als dem Vermögen durch Vernunft determinirt zu werden, die Freyheit vom Zwange des Instinktes zu. Allein, da sie unter der Handlung des Willens nichts weiter als die Aeußerung des durch Denkkraft geleiteten Triebes nach Vergnügen gedacht wissen wollten, und da sie folglich den wesentlichen Unterschied zwischen dem Willen und dem unwillkührlichen durch Vernunft modificierten Begehrungsvermögen ver‐ kannten: so war die von ihnen behauptete Freyheit nichts weiter als die aus der Denkkraft unvermeidlich erfolgende Beschränkung des Instinktes, in der eben so wenig als im unbeschränkten Instinkte sich eine Willkühr denken läßt. Sie war die Unabhängigkeit des unwillkührlichen Triebes nach Vergnügen vom Zwang des gegenwärtigen Eindruckes, die bloße Folge der Abhängigkeit desselben von der Denkkraft, nicht Freyheit des Willens. Außerdem wurde von den Deterministen vorausgesetzt, daß bey dem durch Vernunft geleiteten Begehren das Vergnügen den Grund enthielte, durch den die Person bestimmt würde der Leitung der Vernunft zu folgen. Die von ihnen be‐ hauptete Abhängigkeit des Willens von der Vernunft war also nichts weniger als Unabhängigkeit vom Triebe nach Vergnügen, und der ganze Unterschied zwi‐ schen einer instinktartigen und einer freyen Handlung bestand ihrem Systeme zufolge darin, daß die Person bey der letztern mittelbar, nehmlich vermittelst der Denkkraft, bey der erstern aber unmittelbar von der Nöthigung durch Lust und Unlust abhienge. Endlich, da im Systeme der Deterministen die Vorstellungen der Sinnlichkeit von denen der Vernunft nur dadurch verschieden sind, daß durch diese die Dinge wie sie an sich selbst sind, durch jene aber der bloße Schein derselben vorgestellt würde; und da ferner das vernünftige Erkenntnißvermögen in dem Vermögen be‐ stehen soll, sich des Zusammenhangs der Dinge an sich bewußt zu werden: so kann in diesem Systeme durch Vernunft bestimmt werden nichts anders heißen, als durch den von der Person ganz unabhängigen Zusammenhang der Dinge an sich bestimmt werden; folglich – durch Vernunft von der unvermeidlichen Natur‐ nothwendigkeit abhängen. Die Wirkung des Begehrungsvermögens, die unmittel‐ bar von einem sinnlichen Eindruck, und von der Beschaffenheit der Organisation abhängt, heißt in diesem Systeme eine unvermeidlich nothwendige Handlung des Instinkts; diejenige hingegen, die von dem unveränderlichen Zusammenhange der Dinge an sich, vermittelst des Vermögens sich desselben bewußt zu werden, 35
Gemeint ist der Determinismus der Leibniz-Wolff’schen Richtung, wie er vor allem auch von J. A. H. Ulrich vertreten wurde (vgl. Text 2).
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abhängt, soll die freye Handlung des Willens seyn!! Noch nie dürfte wohl ein Re‐ sultat der philosophierenden Vernunft in einem härteren Widerspruche mit den Ueberzeugungen des gesunden Menschenverstandes gestanden haben. Ist Zweytens der sittliche oder reine Wille: »das Vermögen der Person, sich selbst zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des ei‐ gennützigen Triebes der Forderung des Uneigennützigen (oder dem praktischen Gesetze) gemäß zu bestimmen;« so läßt sich die Freyheit des Willens nicht oh‐ ne die absolute Unabhängigkeit der Vernunft in ihrem praktischen Gesetze von Lust und Unlust, und folglich nur dadurch denken, daß das praktische Gesetz eine Vorschrift ist, die ihre gesetzliche Sanktion durch bloße Vernunft, und kei‐ neswegs durch den Trieb nach Vergnügen erhält. Ueber diese Freyheit, die nichts als die Unabhängigkeit der praktischen Ver‐ nunft von allen Bestimmungsgründen durch Lust und Unlust ist, und welche zwar zur Freyheit des Willens gehört, aber keineswegs dieselbe allein ausmacht, habe ich in den meisten hieher gehörigen Schriften der Freunde der Kantischen Philosophie 36 Aeußerungen angetroffen, die mich nichts anderes vermuthen las‐ sen, als daß dieses einzelne Merkmal der Freyheit von diesen Schriftstellern für die ganze Freyheit gehalten wird. Aus der Verwechslung der zwar selbstthätigen, aber nichts weniger als freyen Handlung der praktischen Vernunft, – die nichts als das Gesetz giebt, – mit der Handlung des Willens, – der nur dadurch als der Reine handelt, daß er dieses Gesetz frey ergreift – muß nichts geringeres als die Unmöglichkeit der Freyheit für alle unsittlichen Handlungen erfolgen. Sobald einmal angenommen ist, daß die Freyheit des reinen Wollens lediglich in der Selbstthätigkeit der prak tischen Vernunft besteht, so muß man auch zugeben, daß das unreine Wollen, welches nicht durch praktische Vernunft bewirkt wird, keineswegs frey sey. Wirklich hat einer der vorzüglichsten Schriftsteller aus der Kantischen Schule gegen Kant zu beweisen gesucht, daß bey den unsittlichen Handlungen nicht etwa bloß der ver‐ anlassende, sondern auch der bestimmende Grund des Wollens außer der Person aufzusuchen, und der Wille nur in den sittlichen Handlungen allein frey sey. 37 36
Zu diesen Freunden der kantischen Philosophie können außer C. C. E. Schmid (Text 12) auch C. J. Kraus (Text 3), L. H. Jakob (Text 6), J. H. Abicht (Text 7), C. W. Snell (Text 4) und K. H. Heydenreich (Text 10) gezählt werden. 37 Vgl. C. C. E. Schmid 1792, 335 (§ 249): »Einige rechnen zu der moralischen Freyheit auch das Vermögen unsittlich zu handlen. Dieß widerspricht aber dem Begriffe von einem sittlichen Vermögen, und eine solche Freyheit wäre ein Vermögen zu contradiktorisch entge‐ gengesetzten Handlungen, welches auf einen Widerspruch hinausläuft. Ein solches, in Ab‐ sicht auf das, was es vermag, ganz und gar indifferentes Vermögen, dünkt micht, ein non‐ sensikalisches Vermögen zu seyn. Wir haben neben der moralischen Freyheit, d. h. neben dem Vermögen, sittlich zu handlen, auch ein anderes, aber sehr verschiedenes Vermögen, solche Handlungen auszuüben, und solche Gesinnungen zu hegen, die dem Sittengesetze der Vernunft zuwider sind. Dieß ist eine Folge der Einschränkung unsrer Freyheit, also in
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Die Kantischen Schriften haben den bestimmten Begriff, der das logische We‐ sen des Willens enthält, nur erst vorbereitet, keineswegs schon geliefert. Sie be‐ schreiben den Willen bald durch dieses bald durch jenes Merkmal, das zwar den‐ selben jedesmal nach der Rücksicht, in der von ihm die Rede ist, bestimmt genug bezeichnet, aber welches, in andern Rücksichten gebraucht, ihn mit andern Din‐ gen vermengen würde. Kants Aeußerungen von dem Willen sollten, seiner eige‐ nen Absicht nach, immer nur eine gewisse Bestimmung des Willens, die mit an‐ dern zum Wesen desselben gehört, nie aber das Wesen selbst ausdrücken. Wenn er daher den Willen bald »Causalität der Vernunft,« 38 bald »ein Vermögen nach Principien, oder nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln,« 39 bald »ein Ver‐ mögen, etwas gemäß einer Idee hervorzubringen« 40 nennt: so ist es seine Schuld nicht, wenn diese Redensarten, die, als bloße Ex positionen von ihm gebraucht, völlig wahr sind, von seinen Schülern zu Definitionen erhoben, 41 und eben da‐ durch schlechterdings unwahr werden. Alle die angeführten Aeußerungen über den Willen werden in demselben Au‐ genblicke unrichtig, als man sie für logische Erklärungen annimmt. Denn keine läßt sich mit dem Erklärten umkehren. Auch bey dem vernünftigen Denken, nicht beym Wollen allein, handelt die Person durch Vernunft (wenn man nicht etwa unter Handeln schon das Wollen allein versteht); und selbst beym Wollen kom‐ men dreyerley Vorschriften der Vernunft: die Maxime, das praktische Gesetz, und das Naturgesetz des Begehrens, vor, bey deren jeder die Vernunft auf eine andere Weise Causalität hat. Die mit der produktiven Einbildungskraft gepaarte Vernunft handelt beym Studium der Mathematik nach Principien, und die Einbildungskraft bringt geometrische Figuren, gemäß einer Idee hervor, ohne daß dabey der Wille geschäftig wäre. In der Kritik der praktischen Vernunft ist von dem empirischen Willen als dem sinnlich-pathologisch-afficierten die Rede. 42 Wenn die Expositionen über diesen Willen, die in dem Schmidschen Wörterbuche (nach der zweyten Ausgabe) aufge‐ stellt sind, als logische Erklärungen gelten sollen, so werden sie sämmtlich un‐ richtig. »Empirischer Wille ist das Vermögen, nach empirischen, von der prakti‐ schen Sinnlichkeit abhängigen, Vernunftgrundsätzen zu handeln.« 43 Das Vermö‐
Beziehung auf die Vernunft, ihres Unvermögens, in Beziehung auf die übrigen Kräfte der menschlichen (überhaupt, der eingeschränkten vernünftigen) Natur, eine Folge von dem Verhältniß des bestimmbaren Vermögens, der Sinnlichkeit, zu andern Bestimmungen, die nicht von dem reinen Vernunftwillen hervorgebracht werden.« 38 Vgl. z. B. KrV A 803/B 831, GMS. AA IV, 448, 461, KpV. AA V, 15, 80, 89. 39 GMS. AA IV, 421. 40 ÜGTP. AA VIII, 181. 41 Zum Unterschied zwischen Definition und Exposition vgl. KrV A 729 ff./B 757 ff. 42 Vgl. KpV. AA V, 19, 25, 32. 43 Schmid 1788, 356.
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gen, nach Vorschriften der Vernunft zu handeln, welche durch Lust und Unlust ihre Sanktion erhalten, das Vermögen, durch die bloße Forderung des eigennützi‐ gen Triebes bestimmt zu handeln, gehört zum Willen, aber ist nichts weniger als ein Wille selbst. Ferner heißt der empirische Wille daselbst: »Ein Wille, welcher der sinnlichen Natur unterworfen ist, wo die ihn bestimmenden Vorstellungen durch sinnliche Gegenstände hervorgebracht werden.« 44 Sinnliche Vorstellungen können durch sich selbst nur ein unwillkührliches Begehren, kein Wollen bestim‐ men. Der unsittliche Wille bestimmt sich selbst durch die dem Gesetze widerspre‐ chenden Forderungen der Sinnlichkeit. Endlich wird der empirische Wille derje‐ nige genannt: »der auf das relativ gute, auf Glückseligkeit und was damit ver‐ bunden ist, geht.« 45 Soll das Gehen hier eben so viel heißen, als durch seine Na‐ tur auf die besagten Gegenstände eingeschränkt seyn: so kann dieses keineswegs vom Willen, sondern lediglich von dem durch Vernunft modificierten unwillkühr‐ lichen Begehren gelten, das kein Wollen, ein empirisches so wenig als ein reines, heißen kann. Nach allen diesen Angaben würde der empirische Wille nicht frey seyn, würde die Freyheit bloß auf den Reinen eingeschränkt werden müssen. In demselben Wörterbuche heißt es von der praktischen Freyheit, und also doch wohl von der Freyheit des Willens: »Sie sey in positiver Bedeutung Abhängigkeit des Willens von der ihn unmittelbar bestimmenden Vernunft, von dem reinen Sittengesetze, die Autonomie des Willens;« wobey S. 59 und 238 der Kritik der praktischen Vernunft angeführt werden. 46 Hier wird also die Freyheit nur dem reinen Willen zugestanden, und folglich dem unreinen abgesprochen. Allein die Abhängigkeit des Willens von der praktischen Vernunft ist so wenig Freyheit von was immer für einem Willen, daß sie vielmehr Einschränkung derselben ist; aber freylich eine Einschränkung, durch welche die Freyheit darum nicht aufgehoben wird, weil sie nur durch die Freyheit, die das Gesetz der praktischen Vernunft befolgen oder übertreten kann, sich selbst gesetzt wird. Der praktischen Vernunft kömmt nichts als die Aufstellung des Gesetzes, der Freyheit aber die Ausführung desselben zu. Nur diese, nicht jene, handelt sittlich; und die Autonomie des Wil‐ lens besteht nicht bloß in der Gesetzgebung durch Vernunft, wobey die Person zwar selbstthätig aber unwillkührlich zu Werke geht, sondern in der Selbstbe‐ stimmung des Willens für dieses Gesetz, an welches er sich selbst bindet. Ist Drittens die Freyheit des Willens: »das Vermögen der Person sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens entweder nach dem prakti‐ schen Gesetze oder gegen dasselbe zu bestimmen;« so besteht sie weder in der bloßen Unabhängigkeit des Willens vom Zwange durch den Instinkt, und von der Nöthigung durch unwillkührliches von der Vernunft modificiertes Begehren, 44 45 46
Schmid 1788, 356. Schmid 1788, 356. Schmid 1788, 179; vgl. KpV. AA V, 33, 132.
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noch auch in der bloßen Unabhängigkeit der praktischen Vernunft, von allem was sie nicht selbst ist, noch auch in diesen beyden Arten von Unabhängigkeit zusam‐ men genommen allein, sondern auch in der Unabhängigkeit der Person von der Nöthigung durch die praktische Vernunft selbst. Im negativen Sinne begreift sie diese drey Arten der Unabhängigkeit, und im positiven Sinne ist sie das Vermö‐ gen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz. Der reine Wille sowohl als der unreine sind daher nichts andres als die beyden gleich möglichen Handlungsweisen des freyen Willens; beyde zusammen genom‐ men gehören zur Natur der Freyheit, die ohne die Eine von beyden denkbar zu seyn aufhört. Das reine Wollen ist nur darum frey, weil es Aeußerung desjeni‐ gen Vermögens ist, von dem es abhängt auch unrein zu wollen. Der schon reine Wille ist freylich an die durchs Gesetz bestimmte, und der schon unreine an die durch Lust und Unlust gegen das Gesetz bestimmte Handlungsweise gebunden; aber sowohl bey dem einen als dem andern bindet die Person sich selbst an eine dieser Handlungsweisen, die ihr beyde gleich möglich sind. Absolute Freyheit kömmt also dem Willen weder allein, in wie ferne er als rei‐ ner, noch in wie ferne er als unreiner Wille handelt, zu; sondern in wie ferne er in beyden Eigenschaften handeln kann. Reiner Wille kann daher keine besondere Art, sondern nur eine der beyden möglichen besondern Aeußerungen des freyen Willens bedeuten, diejenige näm‐ lich, die dem praktischen Gesetze gemäß ist, das sittliche Wollen. Dem reinen Willen steht daher auch nur der unreine, d. h. der unsittliche Wille entgegen, und wenn man unter empirischem Willen nicht bloß den unsittlichen verstehen will, so kann man denselben keineswegs dem reinen entgegensetzen. Empirischer Wille kann nicht die besondere Art eines von der Erfahrung ab‐ hängigen Willens, verglichen mit einem andern lediglich a priori bestimmbaren bedeuten. Denn da der Wille überhaupt das Vermögen ist, sich selbst zur Befrie‐ digung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen Triebes zu be‐ stimmen; diese Forderungen aber mittelbar oder unmittelbar von der Erfahrung abhängen: so ist alles Wollen in dieser Rücksicht empirisch. Zum Behuf der Wissenschaft der Moral müssen freylich die reinen Gesetze des Willens von den empirischen, die Forderungen des uneigennützigen Triebes, in wie ferne sie lediglich a priori durch praktische Vernunft bestimmt sind, von ih‐ ren Anwendungen auf die nur a posteriori bestimmbaren Forderungen des eigen‐ nützigen Triebes unterschieden und abgesondert werden, wo dann der Wille in Rücksicht auf die Einen der reine, in Rücksicht auf die anderen der empirische heißen kann. Allein in diesem Verstande ist dann der reine und empirische Wille ein und eben derselbe Wille nur aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, in seinem künstlich isolirten Verhältnisse zur bloßen praktischen Vernunft, und dann durch die Gesetze derselben zu den bloßen Forderungen des eigennützigen Triebes.
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Da die Lust – oder Unlust – durch welche sich der Wille zur unsittlichen Handlung selbst bestimmt, immer von der Erfahrung, das praktische Gesetz aber, durch welches er sich zur sittlichen bestimmt, durchaus nicht von der Erfahrung abhängt; so ist nichts leichter als den unsittlichen Willen mit dem empirischen, und den sittlichen mit dem reinen, in wie ferne er dem empirischen entgegen steht, zu verwechseln. Es wäre daher zu wünschen, daß man entweder den Aus‐ druck reiner Wille nur für den sittlichen, oder nur für den a priori bestimmbaren gebrauchte, um die Sprachverwirrung in einer so wichtigen Angelegenheit zu vermeiden. Da der sittliche Wille nur in wie ferne er mit dem reinen praktischen Gesetze im Verhältnisse steht, a priori, in Rücksicht auf die Anwendung dieses Gesetzes aber in jedem gegebenen Falle, oder in Rücksicht auf die Materie des Ge‐ setzes, die immer vom eigennützigen Triebe herbeygeschaft werden muß, a pos‐ teriori bestimmbar ist; da jedes wirkliche Wollen eine Befriedigung oder Nicht‐ befriedigung dieses Triebes betrifft, so werde ich unter dem reinen Willen immer nur den sittlichen verstehen, und unter dem unreinen nicht den empirischen, son‐ dern den unsittlichen, der, in wie ferne er Handlung gegen das praktische Gesetz ist, keineswegs von der bloßen Erfahrung abhängt. Der Wille hört auf frey zu seyn, wenn man denselben einseitig betrachtet, und seine Natur entweder allein in seinem Verhältnisse zum uneigennützigen, oder al‐ lein zum eigennützigen Triebe bestehen läßt, wenn man sich denselben entweder dem praktischen Gesetze oder dem Naturgesetze des Begehrens unterworfen denkt. Durch jedes von diesen beyden Gesetzen wird er von dem andern unabhängig, durch das Vermögen der Selbstbestimmung aber ist er von sich allein abhängig. Ohne das praktische Gesetz würde er von dem bloßen Naturgesetze des Begehrens abhängen, und nicht nur nicht frey, sondern nicht einmal ein Wille, sondern ein unwillkührliches Begehren seyn, und ohne die Naturgesetze des Begehrens würde er von dem bloßen praktischen Gesetze abhängen, die bloße praktische Vernunft selbst, und folglich zwar selbstthätig, aber nicht frey und kein Wille, kein Vermö‐ gen sich zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens zu bestimmen seyn. In dieser Rücksicht ist die Behauptung der Kritik der praktischen Vernunft: »daß der Begriff der Freyheit seine Realität erst durch das Bewußtseyn des Sittenge‐ setzes erhalte,« 47 unstreitig wahr. Die Person kann sich des Vermögens sich selbst zu bestimmen nur in so ferne bewußt werden, als sie sich des Vermögens sich nach zwey verschiedenen Gesetzen zu bestimmen, und folglich als sie sich dieser verschiedenen Gesetze selbst bewußt ist. Aber eben darum kann auch die Freyheit keineswegs in dem Vermögen nur Eines von beyden Gesetzen zu befolgen beste‐ hen, und jene Kantische Behauptung kann keineswegs den Sinn haben: »daß die Realität der Freyheit von dem Bewußtseyn des Sittengesetzes allein abhänge.« 47
Es handelt sich hier nicht um ein wörtliches Zitat, vgl. aber KpV. AA V, 3 f., 29 f., 42, 46, 48, 133.
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Die Realität der Freyheit hängt vom Bewußtseyn der Forderung sowohl des eigennützigen als des uneigennützigen Triebes, aber auch noch überdieses von dem Bewußtseyn des Vermögens ab, die Befriedigungen und Nichtbefriedigungen des Eigennützigen entweder durch oder gegen die Forderung des uneigennützi‐ gen selbst zu bestimmen. Das eine ist das Bewußtseyn der veranlassenden Grün‐ de, das andere das Bewußtseyn des durch sich selbst bestimmenden Grundes, der die veranlassenden zu bestimmenden erhebt; das eigentliche Bewußtseyn seines bloßen Selbstes, als handelnden Wesens. Das klare, aber keineswegs durch deutliche Begriffe unterstützte Bewußtseyn dieses durch sich selbst bestimmenden Vermögens hat im Systeme der Aequili‐ bristen 48 diejenige Spur des richtigen Begriffes von der Freyheit angegeben, die, aus Mangel an bestimmten Begriffen von den übrigen Vermögen des Gemüthes, weder von ihnen selbst gehörig benutzt, noch von ihren Gegnern verstanden wur‐ de. Offenbar wollten sie durch die von ihnen behauptete Gleichgültigkeit des Wil‐ lens gegen alle Beweggründe, und durch das sogenannte Gleichgewicht, in wel‐ chem sich der Wille in Rücksicht auf die Forderungen sowohl der Vernunft als der Sinnlichkeit befände, nichts als die Unabhängigkeit der Selbstbestimmung von allen objektiven Gründen, die Willkührlichkeit des Vernunftgebrauchs bey den Maximen andeuten. Allein, da sie in ihrem unbestimmten Begriffe vom Willen keineswegs den Sinn anzugeben vermochten, in welchem die Selbstbestimmung beym Wollen von der Sinnlichkeit und der Vernunft unabhängig sind: so mußten sie eine solche Unabhängigkeit des Willens theils wirklich behaupten, theils zu behaupten scheinen, die wirklich nicht Statt findet, die anderen Thatsachen des Bewußtseyns widerspricht, ja die sogar den Begriff des Willens selbst aufhebt. Erstens war in ihrem Begriffe das Verhältniß des Willens zu den beyden Trie‐ ben der menschlichen Natur, das Verhältniß der sich selbst bestimmenden Hand‐ lungsweise zu den beyden als bestimmtgegebenen, das Verhältniß der willkührli‐ chen Vorschrift zu den unwillkührlichen Forderungen des eigennützigen und des uneigennützigen Triebes keineswegs sichtbar. Sie verkannten daher die Unent‐ behrlichkeit beyder Triebe, ihrer gegebenen Handlungsweisen, und ihrer Forde‐ rungen bey jedem Wollen, und die Abhängigkeit des Willens von denselben, um überhaupt sich äußern zu können. Sie ließen daher auch:
48
Der Äquilibrist oder Indifferentist vertritt die Position, dass die Gründe, die für eine Handlung, und jene, die gegen sie sprechen, sich in einem Gleichgewicht befinden. Aus dem Mangel an entscheidenden Gründen folgt ein Zustand der Indifferenz (Unentschieden‐ heit) in Bezug auf die Handlungsgründe. Freiheit besteht gerade darin, den Ausschlag für oder gegen eine Handlungsmöglichkeit geben zu können, ohne dazu von irgendwelchen Gründen bestimmt zu werden. Als Äquilibrist oder Indifferentist galt besonders Christian August Crusius (1715–1775; vgl. dazu Einleitung 2.4), ein Gegner der Leibniz-Wolff’schen Philosophie, und auch K. H. Heydenreich (siehe Text 10) tendiert in diese Richtung.
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Zweytens, die Freyheit keineswegs in dem Vermögen sittlich oder unsittlich zu handeln bestehen. Dadurch wurde ihr Begriff vom Willen bald zu eng bald zu weit. Zu weit, wenn sie dem Willen auch andere Objekte zuerkannten, als die entweder gesetzmäßige oder gesetzwidrige Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes – zu enge, wenn sie denselben mit dem bloßen Begeh‐ ren verwechselten, wohin sie gewöhnlich gerathen mußten, wenn sie ihn von der Denkkraft unterscheiden wollten. Wirklich hat mancher Aequilibrist, um sich die von allen objektiven Bestimmungsgründen unabhängige Handlung des Willens begreiflich zu machen, das Vergnügen, das aus der bloßen Willkührlichkeit der Handlung geschöpft würde, ausdrücklich als den subjektiven Bestimmungsgrund des Wol lens angegeben, und auf diese Weise die behauptete Freyheit durch die Erklärung derselben wieder aufgehoben. Drittens, wenn auch der Aequilibrist die Abhängigkeit des Willens von den veranlassenden objektiven Gründen nicht verkannt hätte: so würde er die Un‐ entbehrlichkeit der Vernunft zum Akt der Selbstbestimmung, der in der Maxime (oder in der willkührlich gegebenen Vorschrift zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung entweder nach dem praktischen Gesetze oder gegen dasselbe) besteht, verkannt haben. In Rücksicht auf die Maximen hängt der Wille von dem Vermögen der Person, Vorschriften zu geben, oder von der Vernunft, nicht weni‐ ger als von der Willkühr ab, die der Grund zu diesen Vorschriften bey den Maxi‐ men ist, die aber ohne den Gebrauch, den sie dabey von der Vernunft macht, sich nicht als Bestimmungsgrund der Willenshandlung, nicht als das durch den Ent‐ schluß wirkende denken ließe. Die Maxime ist ein Resultat der Willkühr und der Vernunft, eine Vorschrift unter der Sanktion der Willkühr, durch die entweder das praktische Gesetz, oder die demselben entgegen gesetzten Reitze der Lust oder Unlust in den Willen aufgenommen, und aus bloß veranlassenden zu bestimmen‐ den Gründen der Handlung gemacht werden. Dieser letztere Umstand ist die eigentliche Thatsache der Freyheit, und das Wahre, welches den Aequilibristen undeutlich vor dem Blicke des Geistes schweb‐ te, den ihre Gegner mehr auf die übrigen Thatsachen des Bewußtseyns beym Wol‐ len gerichtet hatten. Das Lächerliche, das der Determinist auf den Aequilibristen durch das Gleich‐ niß von Buridans Esel zu bringen suchte, der zwischen zwey Bündeln Heu, die ihn entweder gar nicht oder gleich stark afficierten, verhungern müßte, 49 fällt auf den Determinismus selbst zurück. Es ist freylich unläugbar, daß aus dem ein‐ mal angenommenen Gleichgewichte zwischen zwey entgegengesetzten objekti‐ 49
Das Gleichnis von Buridans Esel, der sich nicht zwischen zwei Heubündeln entschei‐ den kann und schließlich verhungert, soll die zentrale Problematik einer indifferentistischen oder äquilibristischen Position verdeutlichen (vgl. Anm. 48). Die Herkunft des Gleichnisses ist unklar, bei dem Scholastiker Johannes (Jean) Buridan (ca. 1301–1359) finden sich zwar ähnliche Beispiele, aber nicht jenes mit dem Esel.
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ven Gründen des Wollens, und aus der Gleichgültigkeit des Willens gegen bey‐ de keine Handlung erfolgen könne. Allein beym Willen ist außer der Unabhän‐ gigkeit von dem Bestimmtwerden durch die objektiven Gründe, worin bloß das Negative der Freyheit besteht, auch noch das Vermögen der Selbstbestimmung, das Vermögen, einen von den veranlassenden Gründen zum bestimmenden zu erheben, das Positive der Freyheit vorhanden, wodurch dieselbe zur Freyheit des Willens wird, und wodurch sich die Persönlichkeit, der unterscheidende Charak‐ ter des menschlichen Willens von dem bloß thierischen Begehren, ankündiget. Dieser Charakter wird von den Deterministen dem Menschen in so ferne abge‐ sprochen, in wie ferne sie den bestimmenden Grund von allen seinen Handlun‐ gen außer ihm (von den sogenannten Willenshandlungen in der durch die Dinge an sich be stimmten Vernunft) aufsuchen, und den Menschen mit Buridans Esel dadurch wirklich in Eine Klasse setzen, daß sie beyden nur in so ferne ein Ver‐ mögen zu handeln einräumen, als sie beyde durch ein Uebergewicht äußerer, von ihnen selbst ganz unabhängiger Gründe zum Handeln genöthiget werden lassen, nur mit dem Unterschiede, daß der Mensch mit, der Esel ohne Bewußtseyn jener Gründe genöthigt wirkt. Das Positive bey der Freyheit besteht in der Selbstthätigkeit der Person beym Wollen, einer ganz besondern Selbstthätigkeit, die von der Selbstthätigkeit der Vernunft, oder durch Vernunft genau unterschieden werden muß, die von man‐ chen Freunden der Kantischen Philosophie aber mit der Selbstthätigkeit der prak‐ tischen Vernunft, in der sie das Positive des freyen Willens aufsuchten, verwech‐ selt wurde. 50 Ohne die Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, die das Ge‐ setz, aber auch nur das Gesetz, dem Willen giebt, ließe sich keine Ausübung der Selbstthätigkeit des Willens denken, aber diese wird keineswegs durch jene gedacht. Durch die praktische Vernunft bestimmt die Person selbst, aber unwill‐ kührlich, dem Willen sein Gesetz; durch die Selbstthätigkeit der Willkühr hinge‐ gen handelt sie diesem Gesetze gemäß oder zuwider. Diese ist der einzige sub‐ jektive, und durch sich selbst bestimmende Grund – jene gehört zugleich mit den Forderungen des Triebes nach Vergnügen zu den objektiven und an sich selbst bloß veranlassenden Gründen des Wollens. Es kann daher nicht ohne Ungereimtheit nach dem objektiven, außer der Frey‐ heit des Subjektes gelegenen Grunde der freyen und eigenthümlichen Handlung des Willens gefragt werden. Diese Frage würde eben so viel heißen, als: »Worin liegt der objektive Grund, durch welchen das Vermögen von objektiven Gründen unabhängig zu handeln bestimmt wird?« Es läßt sich kein objektiver Grund des Wollens denken, der nicht diesen Rang der Freyheit zu danken hätte. Die freye Handlung ist darum nichts weniger als grundlos. Ihr Grund ist die Freyheit selbst. Aber diese ist auch der letzte denkbare Grund jener Handlung. Sie ist die absolu‐ 50
Vgl. Anm. 36.
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te, die erste Ursache ihrer Handlung, über welche sich nicht weiter hinausgehen läßt, weil sie wirklich von keiner andern abhängt. Fragen: Warum der freye Wil‐ le sich auf diese oder jene Art bestimmt habe, heißt fragen: Warum er frey ist? Voraussetzen, er bedürfe eines von ihm selbst verschiedenen Grundes, heißt ihm seine Freyheit absprechen. Man hat gegen diesen Begriff der Freyheit das logische Gesetz des zureichen‐ den Grundes aufgerufen, dem derselbe geradezu widersprechen sollte. 51 Allein der Begriff der Freyheit widerspricht diesem Gesetze nicht mehr und nicht weni‐ ger, als demselben der Begriff einer absoluten und ersten Ursache, welche sich jene Gegner der Freyheit bey andern Gelegenheiten gar wohl denken können, widerspricht. Das logische Gesetz fordert keineswegs für alles, was da ist, ei‐ ne von diesem Daseyn verschiedene Ursache, sonst würde das Daseyn Gottes, ja selbst jedes Daseyn von Ewigkeit durch jenes Gesetz unmöglich seyn, sondern es fordert, daß nichts ohne Grund gedacht werde. Die Vernunft hat aber einen sehr reellen Grund, die Freyheit als eine absolute Ursache zu denken; nämlich das Selbstbewußtseyn, durch welches sich die Handlung dieses Vermögens als ei‐ ne Thatsache ankündiget, und den gemeinen und gesunden Verstand berechtiget, von ihrer Wirklichkeit auf ihre Möglichkeit zu schließen. Dabey muß es auch die philosophierende Vernunft bewenden lassen, die durch genaue Entwicklung der verschiedenen beym Wollen beschäftigten Vermögen des Gemüthes zwar völlig begreift, daß der Wille frey ist, aber nicht wie diese Freyheit möglich ist. Sie begreift aber auch selbst durch diese Entwicklung, warum sich dieses Wie? nicht begreifen läßt. Es ergiebt sich nämlich aus derselben, daß das Vermögen der Maximen, oder der willkührlichen Vorschriften ein von der prak‐ tischen Vernunft sowohl als von dem sinnlichen und durch theoretische Vernunft modificierten unwillkührlichen Begehrungsvermögen ganz verschiedenes, mit bey‐ den zwar im Zusammenhang sich äußerndes, aber in Rücksicht auf seine eigen‐ thümliche Form von beyden unabhängiges Vermögen des Gemüthes, ein Grundver‐ mögen sey, das sich als ein solches von keinem Andern ableiten, und daher auch aus keinem Andern begreifen und erklären läßt. Die Freyheit des Willens ist daher um nichts unbegreiflicher als jedes andere Grundvermögen des Gemüthes, als die Sinnlichkeit, der Verstand und die Vernunft, die sich dem Bewußtseyn nur durch ihre Wirkungen offenbaren, in ihren Gründen aber in so ferne unbegreiflich sind, als sie selbst den letzten angeblichen Grund ihrer Wirkungsarten in sich enthalten. 51
Gemeint sind Deterministen wie C. C. E. Schmid (vgl. Schmid 1790, 221 (§ 261) (Text 12)) und J. A. H. Ulrich (vgl. Ulrich 1788, 19 (§ 6), 20 f. (§ 8) (Text 2)). Diese leh‐ nen ein indeterministisches oder gar indifferentistisches Verständnis von Freiheit ab, weil dabei eine zufällige Bestimmung von Handlungen angenommen wird, bei der zureichende oder »entscheidende« Gründe fehlen. Dies widerspricht dem Satz des zureichenden Grun‐ des, dessen Allgemeingültigkeit in der Leibniz-Wolff’schen Linie als logisches oder meta‐ physisches Prinzip angenommen wurde.
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Aus ihren Wirkungen, durch welche sie unter den Thatsachen des Bewußt‐ seyns vorkömmt, ist mir die Freyheit völlig begreiflich; und in so ferne kein Ge‐ genstand des Glaubens, sondern des eigentlichen Wissens für mich. Ich weiß so gut, daß ich einen Willen habe, und daß derselbe frey ist, als daß ich Sinnlich‐ keit, Verstand und Vernunft habe. Ich weiß auch aus den Wirkungen aller dieser Vermögen, worin sie bestehen. Aber ich weiß von keinem woher und wodurch sie entstehen, weil sie Grundvermögen sind, von denen sich zuletzt nichts weiter wissen läßt, als daß ihre Wirkungsarten in der ursprünglichen Einrichtung des menschlichen Geistes gegeben sind. Es würde dieser Erörterung ein wesentlicher Bestandtheil fehlen, wenn ich in derselben das Ver hältniß des von mir aufgestellten Begriffes von dem freyen Wil‐ len zu den Resultaten der Kantischen Philosophie mit Stillschweigen übergienge. Jener Begriff ist durch diese Philosophie vorbereitet worden, und ist dem Geiste derselben so vollkommen angemessen, als er den Buchstaben einiger Aeußerun‐ gen der Kritik der praktischen Vernunft nur dann widerspricht, wenn man die‐ selben für das, was sie nach der Absicht des Verfassers keineswegs seyn sollen, für logische Erklärungen des freyen Willens annimmt. Kant hat zu oft und zu ausdrücklich behauptet, daß er auch die unsittlichen Handlungen für freywillig anerkenne, 52 als daß man dafür halten könnte, er habe die Freyheit bloß auf den reinen Willen eingeschränkt, das Positive derselben in der praktischen Vernunft aufgesucht, und den Willen für nichts als die Causalität der Vernunft beym Be‐ gehren angesehen wissen wollen. Gleichwohl konnte und mußte Er behaupten, daß sich die Freyheit des Willens (des unsittlichen wie des sittlichen) nicht nur nicht ohne das Bewußtseyn des Sittengesetzes, sondern auch nur unter der Voraussetzung denken lasse, daß die Vernunft bey der sittlichen Gesetzgebung praktisch sey. 53 Diese Behauptung wird unrichtig und hebt alle Freyheit auf, wenn man ihr den Sinn unterlegt, daß die sittliche Handlung bloße Wirkung der praktischen Vernunft sey, daß die Freyheit des sitt lichen Willens lediglich in der Selbstthätigkeit dieser Vernunft bestehe, und daß die praktische Vernunft nicht bloß das Gesetz gebe, sondern auch die demselben gemäße Handlung durch sich selbst hervorbringe. Sie wird hingegen völlig wahr, und enthält für die Lehre von der Freyheit des Willens die wichtig‐ sten und wohlthätigsten Aufschlüsse, wenn man sich bey derselben, nach dem Sinne ihres Urhebers, nichts anders denkt, als: daß der Wille nicht ohne das Prak‐ tische der Vernunft (keineswegs aber lediglich durch dieselbe) frey seyn könne; daß die Selbstthätigkeit der Vernunft, ihre Unabhängigkeit von Lust und Unlust,
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Vgl. KpV. AA V, 60. Etwas deutlicher in diese Richtung geht Kant in dem 1792 unter dem Titel Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur vorabgedruckten ersten Stück seiner Religionsschrift, vgl. RGV. AA VI, 21, 35, 44. 53 Vgl. KpV. AA V, 24 f., 31, 42, 67 f., 121.
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bey der sittlichen Gesetzgebung eine der wesentlichen Bedingungen dieser Frey‐ heit sey, und daß der Wille keineswegs das Vermögen haben würde, das Sitten‐ gesetz in seine Maxime aufzunehmen oder aus derselben auszuschließen, wenn ihm dieses Gesetz nicht lediglich durch reine Vernunft gegeben wäre. Die nähe‐ re Beleuchtung dieses Sinnes dürfte sowohl über die hieher gehörigen Resultate der Kantischen Philosophie als über meinen Begriff von der Freyheit, ein beyden nicht ganz entbehrliches Licht verbreiten. Die Kritik der praktischen Vernunft hat den Charakter, der das Sittengesetz von allen andern Gesetzen unterscheidet, zuerst dadurch bestimmt angegeben, daß dasselbe die einzige Vorschrift sey, die unter den übrigen, die beym Wollen vor‐ kommen, durch bloße Vernunft als Gesetz aufgestellt werde, 54 während alle an‐ dern die bestimmte Nothwendigkeit und Allgemeinheit, durch die sie zu Gesetzen würden, einem von der Vernunft selbst verschiedenen Grunde zu danken hätten. Kant hat in diesem Werke mit einer bewundernswürdigen Genauigkeit das Gesetz der Sittlichkeit, als das Gesetz des Willens, von dem Gesetze der Glückseligkeit, als dem Gesetze des durch theoretische Vernunft modificierten und ganz unwill‐ kührlichen Begehrens, unterschieden. 55 Diese beyden Gesetze sind Vorschriften der Vernunft, zwischen welchen aber der wesentliche, bis auf Kant nie bestimmt genug bemerkte Unterschied Statt findet, daß die Vorschrift, durch welche die Vernunft in der Idee der Glückseligkeit dem Begehrungsvermögen seine Richtung nach der größten Menge, dem höchsten Grade und der längsten Dauer der Genüs‐ se giebt, nur durch den Trieb nach Vergnügen die Sanktion eines Gesetzes erhal‐ te, während die Vorschrift, durch welche die Vernunft in der Idee der Sittlichkeit dem Willen nur nach solchen Maximen zu handeln gebiethet, die sich als allge‐ meine Gesetze des Willens denken lassen, ihre gesetzliche Sanktion keineswegs aus dem Triebe nach Vergnügen, sondern lediglich aus der reinen Vernunft selbst schöpfen könne und müsse. Das Gesetz der Sittlichkeit wird daher die autono‐ mische, das Gesetz der Glückseligkeit die heteronomische Vorschrift der Vernunft genannt; 56 die Eine betrifft unmittelbar das willkührliche Begehren, den Willen, und ist das eigenthümliche Gesetz desselben; die Andere betrift unmittelbar das unwillkührliche Begehren, in wie ferne es durch theoretische Vernunft modificiert wird, den Willen aber nur mittelbar, in wie ferne nämlich beym Wollen auch ein unwillkührliches Begehren, als einer der veranlassenden Gründe desselben Statt findet. Sie ist dem eigenthümlichen Gesetze des Willens, dem Sittengesetze, als dem andern der veranlassenden Gründe der Handlung des Willens durch dieses Gesetz untergeordnet. 54
Vgl. KpV. AA V, 41. Die Unterscheidung des Prinzips der Glückseligkeit vom Prinzip der Sittlichkeit ist Kant zufolge Hauptaufgabe des ersten Buchs der KpV, der »Analytik der reinen praktischen Vernunft« (vgl. KpV. AA V, 92 f.). 56 Vgl. GMS. AA IV, 453, KpV. AA V, 33, 43 (zur Autonomie), 64 f. (zur Heteronomie). 55
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Kant nennt die Vernunft praktisch, nicht in wie ferne sie selbst als Willen han‐ delt, oder was immer für eine ihrer Vorschriften beym Wollen ausführt, sondern weil und in wie ferne sie dem Willen eine Vorschrift lediglich durch sich selbst, nur um der bloßen Vorschrift willen, giebt. 57 Und in der That, wenn die Vernunft nichts anders ist, als das Vermögen Vorschriften zu geben, so kann eine Wirkung, die lediglich durch Vernunft, und ohne allen fremden Einfluß, ohne Mitwirkung irgend eines andern von ihr selbst verschiedenen Grundes geschieht, nichts an‐ ders, als die bloß um ihrer selbst willen aufgestellte Vorschrift seyn. So wie auf der andern Seite durch das Bewußtseyn einer Vorschrift, die durch sich selbst Gesetz ist, und die keinen andern Zweck hat, als die Vorschrift selbst, die ei‐ gentliche praktische Natur der Charakter der reinen Selbstthätigkeit der Person durch bloße Vernunft angekündiget wird. Hieraus läßt sich nun die Handlungs‐ weise bestimmen, an welche die praktische Vernunft gebunden ist, und welche das Naturgesetz der Selbstthätigkeit der Person durch bloße Vernunft ausmacht. Sie besteht lediglich darin: daß sich die Person durch dieses Vermögen keine an‐ dere Vorschrift geben kann, als um der Vorschrift selbst willen, und daß sie sich diese Vorschrift unwillkührlich giebt. Nur eine solche Vorschrift der Vernunft kann absolute, das heißt, von jeder andern Bedingung unabhängige, Nothwendigkeit und Allgemeinheit für die Vernunft haben. Folglich vorausgesetzt, daß das Sit‐ tengesetz eine solche Nothwendigkeit und Allgemeinheit fordere, so kann dem‐ selben keine andere als eben diese Vorschrift zum Grunde liegen. Nur eine solche Vorschrift allein kann das Objekt des uneigennützigen Vergnügens, des Wohlge‐ fallens an der Gesetzmäßigkeit um ihrer selbst willen seyn; weil nur eine solche Vorschrift um ihrer selbst, und nicht um des Vergnügens willen, da ist. Folglich vorausgesetzt, daß das sittliche Vergnügen uneigennützig sey, so kann dem Sitten‐ gesetze nur diese Vorschrift zum Grunde liegen. Aber auch nur mit einer solchen Vorschrift, als dem einzigen eigenthümlichen Gesetze des Willens, läßt sich die Freyheit des Willens überhaupt, und des sittlichen sowohl als des unsittlichen, verei nigen. Folglich vorausgesetzt, daß der Wille frey ist, so kann nur diese Vor‐ schrift sein eigenthümliches Gesetz seyn. Ich habe also hier noch zu zeigen, daß sich die Eintracht der moralischen Nothwendigkeit mit der Thatsache der natürli‐ chen Freyheit nur in so ferne denken lasse, oder daß das Sittengesetz der Freyheit nur in so ferne nicht widerspreche, als die Vernunft in dem von Kant zuerst fest‐ gesetzten Sinne bey der sittlichen Gesetzgebung (aber nicht bey der Ausführung des Gesetzes, die nicht der Vernunft, sondern dem Willen zukömmt) praktisch ist. Die Person hat nur in so ferne freyen Willen, als sie sich zur wirklichen Befrie‐ digung oder Nichtbefriedigung einer Forderung des eigennützigen Triebes durch sich selbst zu bestimmen vermag. Gäbe es nun für diese Befriedigung oder Nicht‐ 57
Vgl. Anm. 53.
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befriedigung keine andere Vorschrift außer derjenigen, die für die Person durch die Sanktion von Lust und Unlust zum Gesetz wird: so wäre die Person an die blo‐ ße jedesmalige Forderung des eigennützigen Triebes gebunden, die als Naturge‐ setz des Begehrens, als die einzig mögliche Vorschrift, und unvermeidlich von ihr erfüllt werden müßte. Sie würde durch theoretische Vernunft, durch die gedach‐ ten Objekte des Genusses, vermittelst des Triebes nach Vergnügen bestimmt, oh‐ ne sich selbst bestimmen zu können; sie würde nur unwillkührlich begehren, nie wollen können. Die Befriedigung und Nichtbefriedigung würde nur einem einzi‐ gen Triebe, nämlich dem eigennützigen, untergeordnet werden können; folglich nur um ihrer selbst willen möglich seyn. Die kleinere Lust würde unwillkührlich durch die größere, und die größere Unlust durch die kleinere verdrängt werden; es würde der Person nichts als Befriedigung des Triebes nach Vergnügen, nichts als abgenöthigte Wirkung nach einer und ebenderselben einzig möglichen Hand‐ lungsweise möglich seyn. Es würde nur eine die Person bestimmende Triebfeder, nicht Selbstbestimmung der Person, die unter zwey gegebenen Triebfedern die eine derselben in Thätigkeit, die andere außer Thätigkeit setzt, möglich seyn. Sobald aber, außer der Vorschrift, die ihre Sanktion durch Lust und Unlust allein erhält, auch noch eine andere vorhanden ist, die unabhängig von dieser Sanktion lediglich durch sich selbst Gesetz ist: so ist die Person nicht mehr dem einseitigen Antriebe des Vergnügens unterworfen; so sind in ihr zwey verschie‐ dene Antriebe, zwey gleich unwillkührliche, aber einander entgegengesetzte For‐ derungen vorhanden, die nur durch sie selbst, nur durch ihre Freyheit, und nur dadurch vereinigt werden können, daß durch die Person die eine der andern, oder die andere der einen untergeordnet, die Forderung des Eigennützigen auf Unkosten des Uneigennützigen, oder diese auf Unkosten von jener erfüllt wird. Die Wirklichkeit der Befriedigung des eigennützigen Triebes hängt nicht mehr von diesem Triebe allein ab; es ist nun auch in gewissen Fällen Nichtbefriedi‐ gung desselben im strengsten Sinne möglich, und es kömmt auf die Person selbst an, welche von den beyden entgegengesetzten Forderungen die Triebfeder ihrer Handlung seyn wird. Durch das Naturgesetz des Begehrens wird der Person an‐ gekündiget, was sie thun muß, vorausgesetzt, daß sie zur bloßen Befriedigung der Forderung des Begehrens bey unfreywilligen Handlungen bestimmt werde, oder aber bey den freywilligen sich selbst bestimme. Durch das praktische Gesetz des Willens wird ihr angekündiget, was sie thun soll, aber nur unter der Vor‐ aussetzung wirklich thun wird, daß sie sich zur Erfüllung der Forderung, wel‐ che sie unwillkührlich und durch bloße Vernunft an sich selbst thut, und welche sie eben darum nicht durch Vernunft abweisen kann – durch ihre Freyheit selbst bestimme. Bey dem Bewußtseyn dieses Sollens, das sie klar von allem Müssen unterscheidet, ist sie sich bewußt, daß sie den Forderungen des unwillkührlichen Gelüstens alle die Befriedigungen versagen könne, die dem Sollen widersprechen, und daß sie daher den verschiedenen Aeußerungen des unwillkührlichen Begeh‐
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rens z. B. dem unwillkührlichen Streben nach Wollust, Ehre, Reichthum u. s. w. bey ihren Willenshandlungen nur in so ferne unterworfen sey, als sie sich den‐ selben selbst unterwerfen wolle. Daß diese moralische Unabhängigkeit der Per‐ son von den Neigungen und Leidenschaften, die sich durchs sitt liche Gefühl von jeher angekündiget hat, worüber der gesunde Menschenverstand von jeher mit sich selbst einig war, und welche nur durch die Unbestimmtheit der dieselbe be‐ treffenden Begriffe unter den Philosophen streitig werden konnte, für keine bloße Täuschung angesehen werden könne, und daß die Philosophie, wenn sie sich an‐ ders durch Inkonsequenz nicht selbst widersprechen soll, nicht, wie bis jetzt der Fall war, die Freyheit des Willens für etwas Widersprechendes erklären müsse, dieß hat die Menschheit dem großen Entdecker des Unterschiedes zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft zu verdanken. Allein, und dieses kann den Freunden der Kantischen Philosophie nicht oft genug wiederholt werden, die praktische Vernunft ist kein Wille, ob sie gleich wesentlich zum Willen gehört, und sich bey jedem eigentlichen Wollen äußert. Die Handlung der praktischen Vernunft ist bloß unwillkührlich. Die Handlung des Willens, sie mag der praktischen Vernunft gemäß oder zuwider seyn, ist will‐ kührlich. Beym sittlichen Wollen wirkt die praktische Vernunft an und für sich nicht mehr und nicht weniger als beym unsittlichen; sie stellt in beyden Fällen das Gesetz auf. Weder dieses Gesetz, noch sie selbst durchs Gesetz, bestimmt beym Wollen die Befriedigung oder Nichtbefriedigung des Begehrens, sondern die Freiheit durch oder wider das Gesetz. Die Person ist sich bewußt, daß es nicht auf sie ankomme zu Sollen oder Nicht zu sollen, wohl aber das, was sie Soll oder Nicht soll, zu wollen oder nicht zu wollen, daß sie nicht im Sollen und Nichtsollen, aber im Wollen und Nichtwollen frey ist, nicht in dem, was der unei‐ gennützige oder der eigennützige Trieb von ihr fordert, sondern in dem, was sie dem einen gewährt und dem andern versagt. Es ist zwar dieselbe Person, welche das Sittengesetz sich selbst giebt und befolgt, aber nicht dasselbe Vermögen in der Person. Das Gesetz giebt sie sich durch bloße Vernunft, und dieses ist daher unwillkührlich und unvermeidlich, und immer eben dasselbe. Die durchs Gesetz vorgeschriebene Handlung aber bringt sie durch Willkühr hervor; folglich nicht unvermeidlich, und immer so, daß sie auch das Gegentheil davon hervorbringen kann, und oft wirklich hervorbringt. Diejenigen, welche bisher die Nothwendigkeit der sittlichen Handlung des Wil‐ lens mit der Freyheit derselben zu vereinigen suchten, haben zu diesem Be‐ huf kein anderes Mittel gefunden, als diese Freyheit in der besondern Art von Nothwendigkeit, die dem Sittengesetz eigen ist, in der moralischen Nothwendig‐ keit selbst bestehen zu lassen. 58 Sie wußten den Willen nicht anders von der Skla‐ 58
C. C. E. Schmid versteht unter »moralischer Nothwendigkeit« das durch das morali‐ sche Gesetz geforderte unbedingte Sollen (vgl. Schmid 1790, 196 (§ 235) (Text 12)). Auch
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verey des Instinktes zu retten, als dadurch, daß sie ihn zum Sklaven der Denk‐ kraft machten. Sie dachten sich die Nöthigung desselben durch die Sinnlichkeit nur dadurch vermeidlich, daß er durch Vernunft unvermeidlich genöthiget wür‐ de. Wie sie dieses Vermögen der Person, durch Vernunft unvermeidlich genöthi‐ get zu werden, Freyheit nennen konnten, begreift sich nur daraus, daß sie unter diesem Namen nichts als die Unabhängigkeit dieses Vermögens vom Zwange des Instinktes verstanden wissen wollten. Sie konnten sich daher die Person bey der sittlichen Handlung nur in so ferne frey denken, als dieselbe durch ihre Vernunft und nicht durch Sinnlichkeit genöthiget würde. Allein die unsittliche Handlung konnte nicht einmal in diesem Sinne frey heißen. Man konnte sich dieselbe nur als diejenige denken, bey welcher die Person nur durch den Instinkt, nicht durch Vernunft genöthiget würde. Es ist nur durch die ungeheure Inkonsequenz, die bey der ungeheuren Unbestimmtheit aller hieher gehörigen Begriffe, auch in den vor‐ züglichsten Selbstdenkern Statt finden konnte, begreiflich, wie irgend ein Deter‐ minist den Namen der Freyheit auch nur in irgend einem noch so eingeschränk‐ ten Sinne der unsittlichen Handlung beylegen konnte. Das Mittel, wodurch einige Freunde der kritischen Philosophie sich die Ein‐ tracht der absoluten Nothwendigkeit und der Freyheit bey den sittlichen Hand‐ lungen zu denken versucht haben, ist um nichts besser. 59 Um den Willen von der Sklaverey des Instinktes und der theoretischen Vernunft zu retten, machen sie ihn zum Sklaven der praktischen, oder vielmehr sie vernichten denselben ganz, um an seiner Stelle bey dem sogenannten reinen Wollen lediglich die praktische Vernunft handeln zu lassen. Sie finden in dieser Vernunft die Nothwendigkeit mit der Freyheit vereiniget; – die Nothwendigkeit in dem Gesetze, und die Freyheit in der Selbstthätigkeit der Vernunft. Die sittliche Handlung ist ihnen nur als blo‐ ße Wirkung dieser Vernunft zugleich nothwendig und frey. Aber nur Einer unter ihnen ist konsequent genug gewesen, um die aus diesen Prämissen unvermeidli‐ che Folge einzugestehen und aufzustellen: daß der Wille nur in Rücksicht auf die sittlichen Handlungen frey, und der Grund der unsittlichen außer dem Willen in äußern Hindernissen und Schranken der Freyheit aufzusuchen sey. 60 Allein die‐ ses letztere vorausgesetzt, so würde auch der Grund der sittlichen Handlung kei‐ neswegs in der bloßen Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, sondern auch in der von dieser Vernunft ganz unabhängigen Abwesenheit jener Hindernisse auf‐ gesucht werden müssen. Die ganze Freyheit dieser Vernunft, und durch dieselbe der Person, bestünde also lediglich in einer zufälligen, auf gewisse Fälle einge‐ schränkten Unabhängigkeit von äußerm Zwang, die keineswegs in der Gewalt der
bei J. A. H. Ulrich ist von einer mit dem Gedanken des Sollens verbundenen sittlichen Not‐ wendigkeit die Rede (vgl. Ulrich 1788, 16 (§ 5) (Text 2)). 59 Vgl. Anm. 36. 60 Vgl. Anm. 37.
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Person läge. Die sittliche Handlung erfolgte unvermeidlich durch eine ganz un‐ willkührliche Wirkung der praktischen Vernunft, sobald kein Hinderniß da wäre; und allein der Anwesenheit oder Abwesenheit des letztern müßte also sowohl die sittliche als die unsittliche Handlung zugerechnet werden. Die Freyheit der unsittlichen Handlung wird nur dadurch widersprechend, daß man sich die Freyheit der sittlichen durch unrichtige Begriffe denkt. Die dem praktischen Gesetze widersprechende Handlung muß jederzeit der Naturnoth‐ wendigkeit unterworfen werden, sobald man die dem Gesetze gemäße Handlung eben derselben Selbstthätigkeit zuschreibt, in der das Gesetz gegründet ist. Wenn man die sittliche Handlung nur in so ferne frey nennt, als sie nicht unsittlich ist, so kann man die unsittliche freylich nicht frey nennen, und wenn die Freyheit der einen ein leerer Name ist, so hat das ausdrückliche Geständniß der unvermeidli‐ chen Nothwendigkeit der andern nichts mehr, was den gesunden Menschenver‐ stand empören könnte. Allein die Freyheit der sittlichen Handlung ist kein leerer Name, sie ist mehr als die unwillkührliche Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, durch welche nichts als das bloße Gesetz gegeben wird, und keineswegs die Handlung, die demselben gemäß ist, zur Wirklichkeit kömmt; sie ist die willkührliche von der praktischen Vernunft wesentlich verschiedene Selbstthätigkeit der Person, durch welche das Gesetz entweder ausgeführt oder übertreten wird. In der sittlichen Handlung ist absolute praktische Nothwendigkeit und Freyheit in so ferne vereinigt, als das ab‐ solut nothwendige Gesetz, die Wirkung der praktischen Vernunft, durch Willkühr in einem gegebenen Falle ausgeführt, und in so ferne zur Wirkung der Freyheit gemacht ist. In der unsittlichen Handlung ist die Naturnothwendigkeit und die Freyheit in so ferne vereinigt, als die bloß dem Naturgesetze des Begehrens ge‐ mäße, aber dem praktischen Gesetze widersprechende Forderung des eigennützi‐ gen Triebes durch Willkühr ausgeführt, und in so ferne zur Wirkung der Freyheit erhoben ist. Der Wille unterwirft sich daher entweder der moralischen oder der Naturnothwendigkeit durch sich selbst; oder vielmehr er unterwirft sich eine von beyden, und vereitelt dadurch den Erfolg der andern in Rücksicht auf die will‐ kührliche Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes. Nur der Mangel eines bestimmten Begriffes vom Willen macht es begreiflich, wie man das durch Denkkraft modificierte unwillkührliche Begehren, welches nicht weniger als das bloß instinktartige unter dem unvermeidlichen Gesetze der Naturnothwendigkeit steht, ein Wollen nennen konnte. Aber die Verwechselung des eigentlichen Gesetzes des Willens mit dem Naturgesetze des unwillkührli‐ chen vernünftigen Begehrens, des Sittengesetzes mit dem Gesetz der Glückselig‐ keit, war unter jener Voraussetzung unvermeidlich. Sobald der Wille nichts als ein unwillkührliches Begehren ist, so hat er auch kein anderes Gesetz als das Gesetz die ses Begehrens, durch welches nur die Forderungen, die nicht von der
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Person abhängen, keineswegs aber die Befriedigungen, die der Willkühr der Per‐ son unterworfen wären, bestimmt werden. Die Macht des willkührlichen Begehrens, des bloßen Willens, erstreckt sich immer nur auf Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen des eigennützigen Trie‐ bes, nie auf diese Forderungen selbst, außer in wie ferne dieselben vorhergese‐ hene Folgen der willkührlichen Befriedigungen sind. Auch kömmt es keineswegs auf meinen Willen an, ob ich nach Glückseligkeit, oder nach dem, was ich mir richtig oder unrichtig als Mittel zu derselben denke, streben soll oder nicht. Die Forderung des unwillkührlichen Begehrens, die beym Wollen als veranlassender Grund vorhanden seyn muß, wird bey demselben vorausgesetzt, und hängt daher von dem Wollen so wenig ab, als sie selbst ein Wollen ist. Es wäre daher ganz unbegreiflich, wie man je die willkührliche Befriedigung mit der unwillkührli‐ chen Forderung, das Wollen mit dem durch Vernunft modificierten Begehren, die Selbstbestimmung mit dem Bestimmtwerden durch Denkkraft und Lust und Un‐ lust verwechseln konnte, wenn nicht das Wollen und das unwillkührliche durch Vernunft modificierte Begehren ein und ebendasselbe Objekt hätten, nämlich die Befriedigung oder Nichtbefriedigung des eigennützigen Triebes. Der Wille ist das Vermögen der Person, sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung einer Forderung dieses Triebes zu bestimmen; und das unwillkührliche durch Vernunft modificierte Begehren, als Triebfeder einer wirklichen Handlung betrachtet, ist das Vermögen der Person, durch eine Forderung des eigennützigen Triebes entwe‐ der zur Befriedigung, oder, wenn jene Forderung mit einer andern gegenwärtigen aber schwächeren in Kollision ist, zur Nichtbefriedigung der letztern bestimmt zu werden. Wollen und unwillkührliches vernünftiges Begehren haben daher in so ferne einen und eben denselben Erfolg, und man verwechselte den Erfolg des Willens, der von der Selbstbestimmung durch Willkühr – mit dem Erfolg des Be‐ gehrens, der vom Bestimmtwerden durch Lust und Unlust abhängt. Der Determinismus der öfter erwähnten Freunde der Kantischen Philosophie unterscheidet zwar die moralische Nothwendigkeit von der physischen mit grö‐ ßerer Bestimmtheit, indem er die eine in der Selbstthätigkeit der von Eindrücken und Vergnügen unabhängigen Vernunft, die andere aber in der Abhängigkeit des Instinktes von beyden aufsucht. Allein er zerstört diesen wesentlichen Unter‐ schied durch die Erklärung wieder, die er von demselben in Rücksicht auf die sitt‐ lichen Handlungen giebt. Indem er die Ursache dieser Handlungen in der prak‐ tischen Vernunft allein aufsucht, so sind dieselben nicht weniger unvermeidlich noth wendig als die Handlungen des Instinktes; und indem er den Grund, warum die praktische Vernunft nicht immer den Willen bestimmt, die Ursache der unsitt‐ lichen Handlungen außer der Willkühr der Person in unvermeidlichen Hindernis‐ sen bestehen lassen muß, so hängt die ungehinderte Handlung der praktischen Vernunft von der Abwesenheit dieser Hindernisse, und in so ferne das sittliche
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sowohl als das unsittliche Wollen zuletzt von einer und eben derselben Natur‐ nothwendigkeit ab. Nur der Mangel eines bestimmten Begriffes vom Willen macht es begreiflich, wie man die Handlung der praktischen Vernunft ein Wollen nennen konnte. Aber so wie man sich unter dem sittlichen Willen nichts als Handlung der praktischen Vernunft denkt, so ist die Verwechselung der Handlung, die das Gesetz giebt, mit jener, die dasselbe ausführt, der Forderung des uneigennützigen Triebes mit der Erfüllung derselben, desjenigen, was bey der sittlichen Handlung nothwendig, mit dem, was bey derselben frey ist, unvermeidlich. Die Macht des willkürlichen Begehrens, des eigentlichen Wollens, erstreckt sich über die Forderungen des uneigennützigen Triebes so wenig als über die Forderungen des eigennützigen. Sie kann das Gesetz der praktischen Vernunft weder geben noch aufheben; aber die Erfüllung oder Nichterfüllung dieses Ge‐ setzes hängt von der Willkühr ab, und ist nur durch Freyheit möglich, indem ein Gesetz, das nicht die Forderungen, sondern nur die Befriedigungen des ei‐ gennützigen Triebes, und nur diejenigen betrifft, die von der Willkühr abhän‐ gen, nur durch Willkühr befolgt, und eben darum auch durch Willkühr über‐ treten werden kann. Ein Gesetz, das auf die bloße Selbstbestimmung sich ein‐ schränkt, kann auch nur durch Selbstbestimmung angewendet, und dem Objekte derselben zum Grunde gelegt werden. Die Forderung der praktischen Vernunft, die beym sittlichen Wollen als veranlassender Grund vorhanden seyn muß, wird bey demselben vorausgesetzt, und hängt daher in so ferne von diesem Wollen so wenig ab, als sie dasselbe selbst seyn kann. Als bestimmender Grund desselben hängt sie von dem durch sich selbst bestimmenden Grunde alles Wollens, der Freyheit (nicht der praktischen Vernunft, sondern) der Person ab, durch welche sie zum Charakter des bestimmenden erhoben wird. Es würde daher ganz unbe‐ greiflich seyn, wie man die unwillkührliche Forderung der praktischen Vernunft mit der willkührlichen Befriedigung derselben, das Bestimmtwerden durch das Gesetz, mit der Selbstbestimmung nach demselben, die Forderung an den Willen mit der Handlung des Willens verwechseln konnte, wenn nicht das praktische Gesetz und der Wille, der sich nach demselben bestimmt, ein und eben dasselbe Objekt hätten, nämlich die Gesetzmäßigkeit der Befriedigung oder Nichtbefriedi‐ gung des eigennützigen Triebes. Allein dieser Er folg ist, in wie ferne er von der bloßen praktischen Vernunft abhängt, bloß der Vorgeschriebene, keineswegs der Wirkliche, wozu er nicht durch Vernunft, sondern nur durch Willkühr erhoben werden kann. In der einen Rücksicht ist er absolut nothwendig, in der andern frey, und nur hypothetisch, das heißt, nur unter der Voraussetzung nothwendig, daß sich die Willkühr dieser Nothwendigkeit, die nur für die Vernunft absolut ist, unterwirft. Der Determinismus, sowohl der ältere der Leibnitzianer, als der neuere der Kan‐ tianer, hat die Freyheit, in wie ferne sie ein besonderes Grundvermögen der Person
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ist, verkannt, und die Funktion derselben auf die Vernunft übergetragen; der Eine auf die theoretische, der Andere auf die praktische; der Eine auf die das unwill‐ kührliche Begehren modificierende Denkkraft, der Andere auf die unwillkührliche Handlung der selbstthätigen Vernunft, durch welche dieselbe für die willkührlichen Befriedigungen des Begehrens Gesetze aufstellt. Beyde haben den willkührlichen Vernunftgebrauch mit dem unwillkührlichen, die freye Vorschrift beym Wollen mit einer nothwendigen, die Maxime mit einem Gesetze verwechselt; der Eine mit der theoretischen Vorschrift, die durch den eigennützigen, der Andere mit der prakti‐ schen, die durch den uneigennützigen Trieb ihre Sanktion erhält; der Eine mit der hypothetisch, durch Lust und Unlust – der Andere mit der absolut, durch sich selbst, nothwendigen Aeußerung der Vernunft; der Eine mit dem Naturgesetze des Begehrens, der Andere mit dem Vernunftgesetze des Wollens. Beyde dachten sich, durch Thatsachen des Bewußtseyns genöthiget, die Frey‐ heit beym Wollen als Aeußerung der Selbstthätigkeit der Person. Kant hat der erste gezeigt, daß bey der sittlichen Gesetzgebung die reine Vernunft selbstthä‐ tig, und daß das durch sie allein aufgestellte Gesetz, der objektive Bestimmungs‐ grund der sittlichen Handlung sey. Dieses war die Veranlassung für einige Freun‐ de seiner Philosophie, die Selbstthätigkeit der reinen Vernunft für die Freyheit des sittlichen Willens selbst zu halten, und eben darum dem unsittlichen theils stillschweigend, theils ausdrücklich die Freyheit abzusprechen. Bey den Aeußerungen des lediglich instinktartigen grobsinnlichen Begehrens ist sich die Person ihrer selbst mehr leidend als thätig, bey den Aeußerungen des unwillkührlichen, aber durch Vernunft modificierten, Begehrens, die beym Wollen als veranlassende Gründe vorkommen, ist sich die Person ihres Denkens, und folglich auch der bey allem Denken wesentlichen Thätigkeit bewußt. Dieses war eine von den Veranlassungen für die Leibnitzischen Deterministen, die das unwillkührliche Begehren modificierende Aeußerung der Denk kraft mit der dem Willen eigenthümlichen Selbstbestimmung zu verwechseln, und sie für die ein‐ zige Art von Selbstthätigkeit der Person zu halten, die beym Wollen Statt findet. Beyde deterministischen Vorstellungsarten sehen den sittlichen Willen für einen bloßen Trieb, und zwar für einen der beyden Triebe an, die wesentlich zum Willen gehören, aber denselben weder einzeln noch zusammen genommen ganz ausmachen; die Einen für den rein vernünftigen und uneigennützigen, die An‐ dern für den vernünftig sinnlichen und eigennützigen. Die Einen sehen die bloße Forderung der praktischen Vernunft, die Andern die durch theoretische Vernunft geregelte Forderung des Triebes nach Vergnügen für die Handlung des Willens an, welche doch nur diese Forderungen voraussetzt, und lediglich in der Selbst‐ bestimmung zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung derselben besteht. Die unfreywilligen Aeußerungen der Denkkraft, zu denen die Person durch Lust und Unlust bestimmt wird, die Ueberlegungen, durch welche sie über die Forderungen des eigennützigen Triebes nachdenkt, sind weder ein Wollen selbst,
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noch machen sie mit jenen Forderungen zusammen genommen ein Wollen aus. Aber sie gehören zum Wollen, gehen der Handlung des Willens vorher, und ge‐ ben den Mittelzustand zwischen dem instinktartigen Begehren und dem Akt der Willkühr ab, den Ueber gang von dem Zustande, in welchem sich die Person bloß leidend verhält, zu dem Zustande, wobey sie sich selbst bestimmt. Während die‐ ses Mittelzustandes erwacht sie zu derjenigen Besonnenheit, mit welcher sich das Bewußtseyn des praktischen Gesetzes, die Aeußerung des sittlichen Gefühls einfindet. Aeußere Umstände, welche die Ueberlegungen der Person unterbrechen, und das Erwachen zur Besonnenheit verhindern, werden wohl öfters die Veranlas‐ sung, daß ein unwillkührliches, durch Denkkraft modificiertes Begehren, in ei‐ ne äußere Handlung übergeht, bevor und ohne daß sich die praktische Vernunft durch die Ankündigung ihres Gesetzes für den gegebenen Fall geäußert, und folg‐ lich ohne daß die Person über die Sittlichkeit der Befriedigung ihres unfreywilli‐ gen Begehrens reflektiert hat. Allein in allen diesen Fällen hat auch kein Wille, hat nicht die Person als Person gehandelt. Bey jeder Selbstbestimmung der Person zur wirklichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens, (wofür ich den Namen Wollen ausschließend in Anspruch nehme) muß sich nicht nur die theoretische, sondern auch die praktische Vernunft geäußert haben, weil ohne Bewußtseyn des Gesetzes, das durch sie dem Naturgesetz entgegengestellt wird, ohne Bewußtseyn der zwey einander entgegengesetzten veranlassenden Gründe, als der zwey möglichen Handlungsweisen der Person, keine Selbstbestimmung nach einer derselben denkbar ist. Jede Willenshandlung ist daher auch sittlich oder unsittlich, und keine läßt sich in dem Sinne gleichgültig denken, als ob sie weder das Eine noch das Andere wäre. Freyheit des Willens, Willkühr und Moralität sind von einander unzertrenn‐ lich. Die Person kann sich nur in so ferne zur wirklichen Befriedigung oder Nicht‐ befriedigung der Forderung des eigennützigen Triebes durch sich selbst bestim‐ men, sie hat nur in so ferne Willen, als sie durch den uneigennützigen Trieb von den Forderungen des eigennützigen, und durch Willkühr von den Forderungen beyder unabhängig ist. In dieser zweyfachen Unabhängigkeit besteht die negati‐ ve, und in der Willkühr, oder dem Vermögen sich für eine der beyden Forderun‐ gen selbst zu bestimmen, die positive Freyheit des Willens, die sich eben darum nie ohne die Ankündigung beyder Forderungen im Bewußtseyn, und folglich nie ohne Selbstbestimmung für oder gegen das praktische Gesetz, oder ohne Morali‐ tät denken läßt. Eigentliche Willkühr, Willkühr im strengsten Sinne, findet, wie schon der Name andeutet, nie außer der Willenshandlung, die sich ihre Hand‐ lungsweise selbst wählt (erkührt), Statt, und dieses Wort kann von der anima‐ lischen Spontaneität (arbitrium brutum), 61 und von den Handlungen, die durch 61
Vgl. KrV A 534/B 562, A 802/B 830.
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unwillkührliches, aber durch Denken modificiertes Begehren ohne eigentlichen Willen geschehen, und den unbesonnenen Handlungen der Leidenschaften, die nicht etwa vorausgesehene Folgen eigentlicher Willenshandlungen sind, nur in einer uneigentlichen weitern Bedeutung gelten, in wie ferne diese mit den Hand‐ lungen der eigentlichen Selbstbestimmung eine äußere Aehnlichkeit haben.
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Ueber den intelligibeln Fatalismus in der kritischen Philosophie Johann Christoph Schwab (Angaben zu Schwab und weiterführende Literatur finden sich in der Einleitung zu Text 11) hatte sich in Johann August Eberhards Kant-kritischen Journalen Philosophisches Magazin und Philosophisches Archiv bereits mehrfach gegen Kant und Vertreter der kritischen Philosophie geäußert und sich dabei als teils scharfsinniger, teils spitzfindiger Kritiker präsentiert. Auch C. C. E. Schmid und dessen Versuch einer Moralphilosophie von 1790 hatte er bereits zum Ziel seiner Kritik gemacht (vgl. Text 13). Im vorliegenden Aufsatz, der 1794 im 2. Stück des zweiten Bandes des Philosophischen Archivs erschien, nahm er sich noch einmal gezielt Schmids Freiheitskonzeption vor, die dieser im Versuch einer Moralphilosophie unter dem Namen »intelligibler Fatalismus« erstmals vorgestellt hatte (vgl. Schmid 1790, § 257, Text 12 und unsere Einleitung dazu). Schwab folgt auch hier seinem gewohnten Argumentationsmuster: Er verweist einerseits auf interne Mängel und Inkonsistenzen von Schmids Konzeption, stellt sie andererseits der deterministischen Auffassung der rationalistischen Richtung gegenüber. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Schmids Position, soweit sie vertretbar ist, mit der Leibniz-Wolff’schen übereinstimmt, jedoch Defizite aufweist, die man in der letzteren nicht findet. Konkret bemüht sich Schwab zu zeigen, dass sich Schmids intelligibler Fatalismus letztlich nur unwesentlich vom Leibniz-Wolff’schen Determinismus, den Schmid ablehnt, unterscheidet. Denn obwohl der intelligible Fatalismus annimmt, dass die Selbsttätigkeit des Willens durch intelligible Ursachen eingeschränkt werde, der Leibniz-Wolff’sche Determinismus dagegen, dass dies durch die empirischen Kräfte in der Welt geschieht, kommen beide doch zum selben Ergebnis, dass nämlich die Selbsttätigkeit der Vernunft notwendig bestimmt ist. Wenn dies im Fall des Leibniz-Wolff’schen Determinismus bedeutet, dass es keine Freiheit gibt, muss das auch im Fall des intelligiblen Fatalismus gelten. Weil nun aber die Annahme von intelligiblen Gründen, die die Selbsttätigkeit beschränken, eigene Probleme mit sich führt, die nicht auftreten, wenn man einen Determinismus vertritt, der sich auf die Wirkungen der empirischen Weltkräfte beruft, schneidet letzterer insgesamt besser ab. Dazu kommt noch, dass Schmid – wie Schwab meint – die Möglichkeit von Schuld und Zurechnung ausdrücklich abstreitet, während dies im Leibniz-Wolff’schen Determinismus nicht der Fall ist. Somit kommt Schwab zu dem Resultat, dass Schmids intelligibler Fatalismus mit dem Leibniz-Wolff’schen Determinismus im wesentlichen Punkt übereinstimmt, dass die
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Selbsttätigkeit der Vernunft notwendig bestimmt sei, dass der intelligible Fatalismus dem zur Debatte stehenden Determinismus jedoch wegen seiner internen Defizite unterlegen ist. ♦ 26
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Herr Prof. Schmid verwirft in seiner Moral-Philosophie den Leibnitzisch-Wolfi‐ schen Determinismus, als eine Lehre, mit der die Freyheit nicht bestehen kön‐ ne. 62 Wie ungegründet seine Einwürfe sind, ist bereits in diesem Archive gezeigt worden. 63 Gegenwärtig wollen wir nun den von ihm so genannten intelligibeln Fatalismus untersuchen, den er an die Stelle des Determinismus setzen will. H[er]r. Schmid sagt nämlich in dem angeführten Werke, (S. 209, 211:) 64 daß, »wenn wir keinen vernunftlosen Zufall annehmen wollen, wir alle Handlungen eines vernünftigen Wesens als nothwendig denken, und den Causalitäts-Gesetzen der Dinge an sich unterwerfen müssen«: »daß ohne Voraussetzung eines gewissen Etwas, das der Sinnlichkeit zum Grunde liege, die Grade der Moralität schlechter‐ dings unbegreiflich seyen«; und »daß daher, um dem Zufalle auszuweichen, bey allen unsern Handlungen ein intelligibler Fatalismus müsse angenommen wer‐ den«. Ich will hier nicht den der kritischen Philosophie schon so oft gemachten Vor‐ wurf wiederhohlen, daß sie den Satz des Grundes, den sie sonst einzig und allein auf das Feld der Erfahrung eingeschränkt wissen will, hier abermahls außer dem Gebiete derselben anwendet, indem sie den Dingen an sich Causalität beylegt: 65 wiewohl man zu einer solchen Wiederhohlung dadurch hinlänglich berechtiget 62
Zu Schmids Darstellung und Beurteilung des Determinismus – der nicht ausdrücklich als Leibniz-Wolff’scher Determinismus deklariert wird – vgl. Schmid 1790, 184–194 (§ 223– 237) und 215–224 (§ 259 f.) (Text 12). 63 Außer in »Ueber die zweyerley Ich, und den Begriff der Freyheit in der Kantischen Moral« (Schwab 1792, Text 13) hat Schwab den Leibniz-Wolff’schen Determinismus gegen Schmid verteidigt in »Ueber eine ungerechte Beschuldigung der Leibnitzischen Lehre von der besten Welt, in Hrn. Prof. Schmidts Moral-Philosophie«, in: Philosophisches Archiv. 1. Bandes 3. Stück. 1792, 48–62. 64 Die hier und im Folgenden von Schwab – teilweise sehr ungenau – wiedergegebenen Stellen aus Schmid 1790 werden nur einzeln nachgewiesen, wenn sie nicht in Text 12 abge‐ druckt sind. 65 Der Einwand besagt: Die Behauptung, das Ding an sich affiziere die Sinnlichkeit, impliziert eine kausale Einwirkung des Dinges an sich auf das rezeptive Vermögen (Sinn‐ lichkeit) und widerspricht somit der kantischen These, die Kategorie der Kausalität könne nur auf sinnliche Gegenstände (Erscheinungen) angewandt werden. Der Einwand wurde zuerst von Pistorius in verschiedenen Rezensionen erhoben (vgl. dazu Gesang 2007, XIII– XXII) und taucht ebenfalls prominent in F. H. Jacobis »Ueber den Transscendentalen Idea‐ lismus« aus David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus (1787) auf (vgl. Jacobi: JW 2.1, 108–112). Er wurde ebenfalls von Gottlob Ernst Schulze aufgenommen (Ae‐ nesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Vertheidigung des Skepticismus gegen die Anmaaßungen
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wäre, daß die kritischen Philosophen auf diesen Einwurf, aller an sie geschehe‐ nen Aufforderungen ungeachtet, bisher noch nicht geantwortet haben. Indessen müssen wir doch unsre Leser von Zeit zu Zeit auf dasjenige aufmerksam machen, was von den kritischen Philosophen noch zu leisten ist. Gegenwärtig untersuchen wir bloß, was durch den intelligibeln Fatalismus ge‐ wonnen werde, und ob die Schwierigkeiten dabey nicht eben so groß, ja noch größer seyen, als bey dem Leibnitzisch-Wolfischen Determinismus. H[er]r. Schmid wirft dem letztern hauptsächlich vor, daß vermöge desselben alle unsre Handlungen nach einer unhintertreiblichen Nothwendigkeit erfol‐ gen. 66 Nun sind aber bey dem intelligibeln Fatalismus alle unsre Handlungen gleichfalls nothwendig; und das Gegentheil davon als möglich annehmen, hieße einen vernunftlosen Zufall annehmen, (S. 209.). Folglich kommt der intelligible Fatalismus, in Ansehung der Nothwendigkeit unsrer Handlungen, mit dem Deter‐ minismus vollkommen überein. Nun nimmt zwar H[er]r. Schmid bey seinem Fatalismus intelligible Gründe an, wodurch die Vernunft in ihrer Wirksamkeit gehindert und eingeschränkt werde: da hingegen bei dem Determinismus, (wenigstens so wie ihn H[er]r. Schmid vor‐ stellt,) die Nothwendigkeit der Handlungen von der Concurrenz der Weltkräfte herrührt, (S. 192.). Allein das läuft auf Eins hinaus: denn ob meine Handlungen durch meine Lage in der Welt, und die Zeitumstände, in denen ich mich befinde, oder ob sie durch so genannte intelligible Gründe, durch eine meiner Sinnlichkeit zum Grunde liegende Causalität, nothwendig bestimmt werden, das ist einerley; meine Selbstthätigkeit wird in beiden Fällen beschränkt, und zwar durch etwas beschränkt, das nicht in meiner Gewalt ist; denn die intelligibeln Gründe meiner Sinnlichkeit sind nicht in meiner Gewalt. Wenn also die Freyheit mit dem Leib‐ nitzisch-Wolfischen Determinismus un vereinbar ist; so ist sie es auch mit dem intelligbeln Fatalismus des H[er]rn. Schmid. Noch mehr. Wenn wir diesen Fatalismus genauer betrachten, so zeigen sich dabey noch größere Schwierigkeiten als bey dem Determinismus. Denn 1. müssen die intelligibeln Gründe, die die Selbstthätigkeit meiner Vernunft einschränken, als etwas Beständiges und Unveränderliches gedacht werden; da hingegen der Einfluß der Naturkräfte, unter dem ich stehe, sich ändern und ver‐ mindern kann. Der Determinist hat also Hoffnung, die seiner Freyheit entgegen strebenden Kräfte zu überwinden; der Fatalist kann diese Hoffnung nicht haben: seine Vernunft ist mit Kräften im Streite, die ihrem Wesen nach unveränderlich sind.
der Vernunftkritik. Ohne Ort 1792, 298 f.) und in verschiedenen Beiträgen in Johann August Eberhards Philosophischem Magazin diskutiert. 66 Vgl. Schmid 1790, 192 (§ 230), 209 (§ 255) (Text 12). Schwab hatte sich bereits in Schwab 1792, 78 (Text 13) kritisch zu § 230 geäußert.
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2. H[er]r. Schmid nimmt einen Stoff an, der der Vernunft zur Behandlung gege‐ ben, und wodurch diese in ihrer Thätigkeit eingeschränkt wird. (S. 189.) Ist nun dieser Stoff von den intelligibeln Gründen unterschieden, (wie denn Herr Schmid nirgends sagt, daß er mit ihnen einerley sey;) so hätten wir bey dem intelligibeln Fatalismus ein doppeltes Hinderniß der Selbstthätigkeit der Vernunft; da hingegen bey dem Determinismus die Vernunft bloß durch die Sinnlichkeit eingeschränkt wird. Die Schwierigkeiten, die aus dem intelligbeln Fatalismus gegen die Freyheit entstehen, sind zu auffallend, als daß sie der Aufmerksamkeit des H[er]rn. Schmid hätten entgehen sollen: er sucht sie S. 211 zu heben. »Der intelligible Fata‐ lismus,« sagt er daselbst, »kann keinen Bestimmungsgrund meiner Handlungen, oder ein Princip der Unthätigkeit abgeben, weil nur dasjenige auf unsre Hand‐ lungen bestimmenden Einfluß haben kann, was wir kennen, die Gränzen aber, welche die vernünftige Wirksamkeit einschränken, für uns schlechterdings un‐ bestimmbar sind.« 67 Ich will bey dieser Stelle den unrichtigen, wenigstens ganz willkührlichen Satz nicht rügen, daß »eine Kraft, deren Grad wir nicht kennen, von der wir aber gleichwohl wissen, daß sie auf uns wirkt, auf unsre Handlungen keinen Einfluß haben könne«;
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ich bemerke bloß, daß H[er]r. Schmid, bei Niederschreibung dieser Stelle, nicht daran gedacht hat, daß man auf eben dieselbe Art, wie er seinen intelligibeln Fata‐ lismus zu retten sucht, auch den Leibnitzisch-Wolfischen Determinismus, (wenn es nöthig wäre;) retten, und gegen seine Einwürfe vertheidigen könnte. Denn, könnte man sagen, da nur dasjenige auf unsre Handlungen bestimmenden Ein‐ fluß hat, was wir kennen, die Weltkräfte aber, die bey jeder Handlung auf uns wir ken, für uns schlechterdings unbestimmbar sind; so können sie niemahls als ein Bestimmungsgrund dieser Handlungen angesehen werden. Wollte H[er]r. Schmid sagen, daß wir die Raum- und Zeitumstände, unter denen wir handeln, erkennen, da hingegen die intelligibeln Gründe, die unsre Selbstthätigkeit einschränken, uns unerkennbar seyen: so antworte ich, daß der Unterschied zwischen denken und erkennen, (auf welchen die kritische Philosophie eine so große Wichtigkeit setzt, und der für sie eine Art von Talisman gegen so viele Einwürfe ist,) hier lediglich nichts entscheidet. 68 Denn hoffentlich wird kein kritischer Philosoph behaupten, daß er den Beytrag der Weltkräfte zu seinen Handlungen anschauen könne: und dann ist es ja genug, von den intelligibeln Gründen zu denken und zu wissen, daß sie die Selbstthätigkeit unsrer Vernunft einschränken; ich habe nicht nöthig, sie sinnlich anzuschauen, um mich zu überzeugen, daß ich dadurch aufhöre, ei‐ ne absolute Freyheit zu haben. Am wirklichen Handeln wird mich freylich ein 67 68
Schmid 1790, 211 (§ 257) (Text 12). Vgl. KrV B 166 Anm., A 348/B 406.
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solcher Gedanke nicht hindern: aber eben so wenig, und noch weniger, wird sich der Determinist durch sein System im Handeln hindern oder irre machen lassen. Endlich könnte man noch fragen, ob der intelligible Fatalismus des H[er]rn. Schmid, im Grunde, und die Terminologie abgerechnet, mit dem LeibnitzischWolfischen Determinismus nicht einerley sey. Der Stoff, der nach S. 189 der Ver‐ nunft zur Behandlung gegeben, und wodurch ihre Thätigkeit gereitzt wird, kann wohl nichts anderes seyn, als die Empfindungen, mit welchen, auch nach der Leibnitzischen Philosophie, alle Thätigkeit unsers Geistes anfängt, und aus de‐ nen unsre Vorstellungen und Ideen gebildet werden. An diese Empfindungen ist unsre Vernunft, auch nach dem Determinismus, mittelbar oder unmittelbar, in ei‐ ner nahen oder entfernten Beziehung gebunden; die Sinnlichkeit ist es, wodurch unsre Selbstthätigkeit, mithin auch unsre Freyheit eingeschränkt, aber gleichwohl nicht aufgehoben wird. Wenn H[er]r. Schmid S. 210 sagt, daß unsre Vernunft an die ihr angewiesene Sphäre gebunden sey: was sagt der Leibnitzisch-Wolfische Determinismus anders? – Aber es ist dieses nicht der einzige Fall, wo H[er]r. Schmid, nachdem er sich von der Leibnitzisch-Wolfischen Philosophie entfernen zu müssen geglaubt hat, in der Folge zu derselben wieder zurück kommt. Daß übrigens die Folgen des intelligibeln Fatalismus ungleich bedenklicher sind, als die des Determinismus, erhellet daraus, daß es nach dem erstern keine eigentliche Schuld und Zurechnung, und keine eigentliche Strafe giebt. Diese Fol‐ gerung mache ich nicht, sondern Herr Schmid selbst, der S. 296 sagt: »in dem Urtheile des Unendlichen, (der die intelligibeln, außer der Gewalt des endlichen Wesens liegenden Hindernisse seiner Selbstthätigkeit kennt,) giebt es überall kei‐ ne Schuld, sondern nur höheres und niederes Verdienst.« 69 Und S. 306: »Strafe kann nach dem reinen Begriffe nichts als eine eingeschränkte Belohnung seyn.« 70 Diesemnach darf dem größten Bösewichte auf das göttliche Gericht nicht bange seyn: er hat nichts zu fürchten, sondern nur eine mindere Belohnung zu hoffen, als der Tugendhafte. Damit wird er sich nun wohl begnügen. Freylich stehe ich ihm nicht dafür, daß er nicht, bloß als Ding an sich belohnt, und als Phänomen bestraft werde: wobey sein empirisches Ich schwerlich seine Rechnung finden dürfte.
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Schmid 1790, 296 (§ 375. 1. g). Schmid 1790, 306 (§ 389).
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IV. FREIHEIT UND WILLKÜR
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(1793)
Ueber den Unterschied zwischen dem unwillkührlichen aber durch Denkkraft modificirten Begehren und dem eigentlichen Wollen; oder zwischen dem sogenannten nicht sittlichen und dem Sittlichen Wollen An Herrn Professor C. C. E. Schmid.
Carl Christian Erhard Schmid und Karl Leonhard Reinhold, beide in Jena tätig, hatten als führende Proponenten der kritischen Philosophie ihre Konzeptionen des Willens und der Freiheit vorgelegt (vgl. Text 12 und 14; zu den Autoren die Einleitungen zu diesen Texten). Beide hatten den Anspruch, sich damit auf der Linie Kants zu befinden, jedoch waren die beiden Theorien nicht miteinander zu vereinbaren: Für Schmid lag die Freiheit ausschließlich in der Autonomie der praktischen Vernunft, d. h. in der Unabhängigkeit des Sittengesetzes vom empirischen Naturgesetz. Für Reinhold dagegen bestand Freiheit im Vermögen der Person, sich zwischen der Forderung des sinnlich-empirischen Begehrungsvermögens und der sittlichen Forderung der praktischen Vernunft zu entscheiden. Reinhold hatte seine Freiheitskonzeption zuvor nicht nur gegen Deterministen LeibnizWolff’scher Provenienz, sondern auch gegen gewisse Kantianer abgegrenzt, unter denen sich C. C. E. Schmid befand (vgl. Text 14). Das dürfte der Anlass für Schmid gewesen sein, sich in einem privaten Brief an Reinhold zu dessen Kritik zu äußern. Der Brief ist im Original nicht überliefert, wird aber ausführlich zitiert in Reinholds öffentlicher Antwort, die 1793 im dritten Heft des ersten Bandes des Philosophischen Journals für Moralität, Religion und Menschenwohl (herausgegeben von F. W. D. Snell und C. C. E. Schmid) erschien. Dieser hier abgedruckte Text stellt somit eine direkte Gegenüberstellung der Reinhold’schen mit der Schmid’schen Position dar. Wie Reinhold gleich zu Beginn klarmacht, muss entweder Schmid oder er selbst die kantische Position grundsätzlich missverstanden haben. Dies manifestiert sich im unterschiedlichen Verständnis der Grundbegriffe. Es gilt also, die terminologischen und definitorischen Abweichungen zu klären, aus denen auch die entscheidenden systematischen Differenzen resultieren. Zentral geht es darum zu klären, ob der Wille ein eigenständiges Vermögen der Person ist (Reinhold) oder ob er mit der praktischen Vernunft zusammenfällt (Schmid); ob die Ausführung des Sittengesetzes durch die praktische Vernunft determiniert ist (Schmid) oder ob sie durch einen willentlichen Entschluss der Person herbeigeführt werden muss (Reinhold); ob Handlungen, die dem Sittengesetz widersprechen,
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Teil IV · Freiheit und Willkür
aus der freien Wahl des handelnden Subjekts erfolgen (Reinhold) oder ob sie eine bloße Einschränkung der Freiheit der Vernunft durch äußere determinierende Gründe darstellen und also nicht frei gewählt sein können (Schmid); ob das von Reinhold angenommene Vermögen der freien Entscheidung für oder gegen das Sittengesetz als absolute Ursache im Sinne Kants angesehen werden kann (Reinhold) oder nicht vielmehr ein grund- und gesetzloses Vermögen darstellt, das zur Zufälligkeit des moralischen Handelns und zum Indifferentismus führt (Schmid). Aus Reinholds direkter Gegenüberstellung von Thesen und Gegenthesen, Einwänden und Repliken geht deutlich hervor, dass hier zwei Freiheitskonzeptionen vorliegen, die beide den Anspruch erheben, dem kantischen Geist zu entsprechen, jedoch von nicht zu vereinbarenden Prämissen sowie einem inkompatiblen Verständnis zentraler Begriffe ausgehen. Dementsprechend gelangen beide zu unterschiedlichen Resultaten – ohne dass auf der einen oder anderen Seite entscheidende Argumente erkennbar sind. Was die Übereinstimmung mit der kritischen Lehre betrifft, wäre offensichtlich eine klärende Stellungnahme Kants hilfreich gewesen. 1797 erschienen dann auch einige Bemerkungen in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten (Text 17), die in diese Richtung gehen. In Reinholds Augen fielen sie eindeutig zu Schmids Gunsten und gegen ihn selbst aus, worauf er noch einmal vehement seine Position verteidigte (Text 18) – dieses Mal direkt gegen Kant. Als Versuch einer Aussöhnung des Schmid’schen bzw. Kant’schen mit dem Reinhold’schen Standpunkt kann schließlich Schellings Beitrag von 1797 (Text 19) angesehen werden. Weiterführende Literatur: Wallwitz 1998, 57–65, di Giovanni 2001, Fabbianellis Einleitung in Reinhold 2004, L-LXIX, Goubet 2004 (siehe auch die Literaturangaben zu den Texten 12 und 14). Den hier abgedruckten Artikel hat Reinhold mit wenigen Änderungen in die IV. Abhandlung des zweiten Bandes seiner Beyträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen integriert (Reinhold 1794, 230–264; ediert und kommentiert in Reinhold 2004, 145–164). ♦ 352
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Theurester Freund! Ihre Einwendungen gegen meine Theorie von der Freyheit 1 lassen mir kaum einen Zweifel übrig, nicht nur, daß wir beyde über den Willen und dessen eigen‐ thümliches Gesetz wesentlich verschieden denken, sondern auch daß Ihr Grund‐ begrif von der Moralität gänzlich von demienigen abweiche, den die Critik der prakti schen Vernunft aufstellt, 2 und den Sie doch wenigstens seinen wesentli‐ chen Bestimmungen nach angenommen zu haben glauben und bekennen. Einer von uns beyden muß diesen Grundbegrif misverstanden haben; entweder ich, 1
Gemeint sind die Einwände aus dem Brief Schmids an Reinhold, aus dem Reinhold im Folgenden zitiert. Der Originaltext des Briefes ist nicht überliefert. 2 Vgl. besonders KpV. AA V, 19–33, 93–106.
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der ich denselben nur in so fern gefaßt zu haben glaube, als ich unter der morali‐ schen Handlung überhaupt (der sittlichen und unsittlichen) die Handlung der ab‐ soluten, von aller Selbstthätigkeit der blosen Vernunft wesentlich verschiedenen, Freyheit denke, die das praktische (durch Selbstthätigkeit der Vernunft für iene Freyheit aufgestellte) Gesetz entweder befolgt oder übertritt – oder Sie, der Sie sich von demselben Grundbegrif keineswegs wesentlich zu entfernen meynen, indem Sie die moralische Handlung lediglich der praktischen Vernunft zuschrei‐ ben, die zu derselben erforderliche Freyheit auf die Selbstthätigkeit dieser Ver‐ nunft einschränken, den unsittlichen Handlungen die Freyheit absprechen und dadurch den wesentlichen Unterschied zwischen denselben und den blos Nicht‐ sittlichen aufheben. Ich halte es für Pflicht Ihre scharfsinnigen Einwürfe umständlich zu beantwor‐ ten, und den gegenwärtigen Brief wenigstens um iener Einwürfe willen dem phi‐ losophischen Publikum mitzutheilen. Iemehr es das Ansehen hat, daß uns unsre Verhandlungen in unsern Ueberzeugungen weit eher von einander entfernen, als gegen einander näher bringen dürften: desto geschikter scheinen sie mir über die noch immer streitigen Prinzipien der wichtigsten aller Wissenschaften neues Licht zu verbreiten. Wir sind selbst über die Thatsache des Bewußtseyns, welche Sie mir zuzuge‐ ben scheinen, und die in der Unterscheidung zwischen der Forderung des Gewis‐ sens von der Forderung des Gelüstens, und beyder von dem Entschlusse, besteht, nichts weniger als einverstanden. 3 Sie finden diese Thatsache nur bey den sittlich guten Handlungen. Ich finde sie auch bey denienigen, die ich unsittlich nenne und von den blos Nichtsittlichen eben dadurch unterscheide, daß die erwähnte That‐ sache bey den letztern nicht vorkomt. Sie ist das Faktum, aus welchem ich den Begriff von der Handlung des Willens überhaupt, des unsittlichen sowohl als des sittlichen, schöpfe. Ich weiß, daß man auch blos nicht sittliche, unwillkührliche, durch ein Begehren, bey dem die bloße theoretische Vernunft geschäftig ist, her‐ vorgebrachte Handlungen dem Willen zu schreibt; aber ich weiß auch, daß schon der Streit der Philosophen über Willen und Freyheit Beweises genug ist, daß es der Philosophie an einem genugsam bestimten Begrif, der den philosophischen Sprachgebrauch festsetzen und den gemeinen dadurch verbessern muß, gefehlt habe. Ich kan mir keine eigentliche Handlung des Willens denken, bey der nicht 1) eine Forderung des durch Lust und Unlust bestimten Triebes, d. h. ein Begehren, 2) die Forderung der praktischen Vernunft, die Stimme des Gewissens, laut wür‐ den, und 3) ein von diesen beyden Forderungen verschiedener Entschluß vor‐ käme. Wo auch nur Eine von diesen drey Bedingungen fehlt, findet kein eigentli‐ ches Wollen statt. Die Forderung des Begehrens ist bey der Willenshandlung an 3
Vgl. Schmid 1790, 196 (§ 236) (Text 12) und Reinhold 1792, 280 f., 283 (Text 14).
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die Person gerichtet, und ihr Objekt ist die Befriedigung des Triebes nach Vergnü‐ gen, so weit sie durch den Entschluß möglich ist, aber ohne Rücksicht auf das praktische Gesetz. Die Forderung der praktischen Vernunft ist ebenfalls nur an die Person gerichtet und ihr Obiekt ist entweder Befriedigung oder Nichtbefriedi‐ gung des Triebes nach Vergnügen, so weit dieselbe durch Entschluß möglich ist und zwar aus blosser Rücksicht auf die Gesetzmäßigkeit des Entschlusses. Der Entschluß ist die Handlung der Person selbst, und sein Obiekt ist entweder blosse Befriedigung des Gelüstens ohne Rücksicht auf das im Bewußtseyn vorhandene Gesetz, oder Befriedigung oder Nichtbefriedigung aus Rücksicht aufs Gesetz. 4 Das Gesetz des Gewissens hat die Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens nur insoferne zum Objekt als beyde in unsrer Gewalt sind, als wir uns zu beyden Selbst zu bestimmen vermögen. Sein nächstes und unmittelbares Obiekt ist also der Entschluß, der aber dieses Obiekt nur in so ferne seyn kann, als er frey, d. h. von dem Gesetze unabhängig ist, und das Vermögen voraussetzt, dasselbe entweder zu befolgen oder zu übertreten. In beyden Fällen muß dieses Vermögen von der Vernunft wesentlich verschieden seyn; in dem Einen, weil es sonst das Gesetz der Vernunft nicht von sich stossen, in dem andern, weil es sonst dieses Gesetz nicht frey ergreifen könnte. Hierüber bin ich Ihnen freylich genauere Rechenschaft schuldig, die ich in der‐ selben Ordnung abzulegen im Begriffe bin, in welcher mich die Bemerkungen, die den Inhalt Ihres Briefes ausmachen, dazu auffordern. »Zuförderst« schreiben Sie »räume ich ohne Widerrede ein, daß ich mich einer Sprachverwirrung schuldig finde, indem ich den Akt des Gesetzgebens von dem Akt des Handelns nach dem Gesetz und um des Gesetzes willen nicht sorgfältig genug unterschieden habe, die doch im Bewußtseyn sich deutlich genug unter‐ scheiden lassen. Allein auf der andern Seite scheinen Sie diese zwey Akte, die ich nicht unterschieden habe, zusehr von einander zu trennen, sie unabhängig von einander vorzustellen, da wie mich dünkt, ihr Unterschied eben so klar, aber nicht klärer als ihr realer Zusammenhang im Bewußtseyn sich offenbart.« In die‐ ser ersten Bemerkung Ihres Briefes finde ich schon unsren eigentlichen Streit‐ punkt verrückt, und auf die sittlichguten Handlungen eingeschränkt, da er doch eigentlich die moralische Handlung überhaupt (die Gattung, zu der sich die gu‐ ten und bösen wie Arten verhalten) betrift. Diese Handlung nun kann ich mir nicht ohne drey wesentlich verschiedene Akte denken, die wesentlich, aber nur in so ferne zusammenhängen, als ohne sie die Willenshandlung und ihre Mora‐ li tät überhaupt unmöglich wäre; den Akt des unwillkührlichen Begehrens, den Akt der in der Aufstellung und Ankündigung ihres Gesetzes beschäftigten prakti‐ schen Vernunft, und den Akt der Freyheit, die durch den Entschluß handelt. Der Akt der Freyheit steht freylich mit dem Akt des Gesetzgebens bey ieder morali‐ 4
Vgl. z. B. Reinhold 1790, 263 f., 290–292, 299 f. (Text 14).
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schen Handlung im Zusammenhang; weil das Gesetz nur die Freyheit betrift, nur für dieselbe gegeben ist, nur durch Freyheit befolgt und nur durch sie übertreten werden kann, und sich folglich die gute und böse Handlung des Willens eben so wenig ohne den Akt des Gesetzgebens als ohne den von demselben wesent‐ lich verschiedenen Akt der Freyheit denken läßt. Der Akt der Freyheit ist in der Handlung nach dem Gesetz und in der gegen das Gesetz, als Akt der Freyheit, (generisch) ebenderselbe; so wie der Akt des Gesetzgebens. Nur dadurch hat die sittlich böse mit der sittlich guten Handlung ein gemeinschaftliches, die unmora‐ lische von der Illegalen und die moralisch gute von der legalen Handlung unter‐ scheidendes Wesen, welches darin besteht, daß die Person durch Freyheit, nicht durch Vernunft, Urheberinn ihrer vernunftmässigen oder vernunftwidrigen Hand‐ lung ist; worunter die leztere nur darum nicht blos unklug son dern böße heißt, weil sie nicht aus Ermanglung der Vernunftwirkung, sondern bey aller Vernunft‐ wirkung durch Freyheit – die andre darum nicht blos klug, sondern gut heißt, weil sie nicht durch bloße Vernunftwirkung, sondern durch Freyheit, und zwar so geschieht, daß durch eben dieselbe Freyheit bey derselben Vernunftwirkung das Gegentheil hätte geschehen können. Von diesem Umstand hängt das Verdienst, der Werth, das Wesen der sittlich guten Handlung meiner Ueberzeugung nach so gänzlich ab, daß ich mir eine solche Handlung durchaus nicht denken kann, oh‐ ne nicht in derselben den Akt des Handelns nach dem Gesetze einem von der Vernunft ganz verschiedenen Vermögen einzuräumen. »Ie kräftiger und lauter, ie fester und sicherer, ie klärer und unzweydeutiger die praktische Vernunft im Bewußtseyn spricht, desto sicherer folgt der Wille. Ich wähle zwischen Recht und Nutzen; aber ich folge der mächtigsten Stimme, und wenn mir das Gesetz vor Augen schwebt als mein Gesetz, und wenn ich seine Anwendung auf den vorliegenden Fall klar vor Augen sehe, bestimt und unzwey‐ deutig: so handle ich immer wie das Gesetz fordert.« – Freund! die praktische Vernunft kennt keine Grade. Ihre Stimme sagt immer eben dasselbe und auf die‐ selbe Art. Sie wird freylich nur im Zustande der Besonnenheit vernommen, aber sie spricht auch nur bey diesem Zustand und für denselben. Bey den blossen Wirkungen des unwillkührlichen, es sey nun vernünftigen oder unvernünftigen Begehrens hat sie gar keine Stimme. Sie kann daher durch keine stärkere Stim‐ me des blossen Gelüstens übertäubt werden. Sie spricht nur bey dem Zustand der willkührlichen Befriedigung oder Nichtbefriedigung des Begehrens, für welche sie allein ihr Gesetz aufstellt. Bey diesem Zustande des eigentlichen Wollens erhält die Forderung des Gelüstens nur in so ferne das Uebergewicht über die Forde‐ rung des Gewissens, als ihr dasselbe durch Freyheit eingeräumt wird. Bey einem in der Tugend befestigten Charakter wird freylich die Stimme der Vernunft lauter, kräftiger u. s. w. vernommen. Aber wenn hier nicht etwa von der sogenannten Temperamentstugend die Rede seyn soll: so ist ienes bessere Vernommenwerden eine Folge der Freyheit, welche sich diesen Charakter errungen hat. Der Böse‐
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wicht (nicht der Unglückliche, der nur ein bösartiges Temperament hat) kann es wohl dahin brin gen, daß er die Stimme des Gewissens zu vernehmen aufhört, weil er durch oft wiederholtes freywilliges Nachgeben sich nach und nach um die Besonnenheit gebracht hat, die eine wesentliche Bedingung ieder Handlung des Willens ist. Der Tugendhafte hingegen hat sich durch freywilliges Unterordnen der Befriedigung seines Gelüstens unter sein Gewissen nach und nach eine Ge‐ schmeidigkeit des Gelüstens selbst, und eine Fertigkeit im Zustande der Beson‐ nenheit zu beharren, überhaupt eine Verbesserung seines Temperaments selbst errungen, durch welche ihm die Sittlichkeit ohne Abbruch ihrer Verdienstlichkeit erleichtert wird, weil diese grössere Leichtigkeit eine Folge seiner Freyheit ist. »Ich bin mir bewußt, daß ich nie geradezu wider mein Gewissen handle, nie der Forderung der praktischen Vernunft wissentlich widerspreche, daß ich nur im Fall der Unwissenheit, der Dunkelheit meiner Vorstellungen, des Zweifelns, was recht und gut sey, oder wenn das Gesetz meinem Bewußtseyn entrückt war, pflichtwidrig handle (?). Und das scheint mir so wenig etwas besonderes oder Erworbenes zu seyn, daß ich vielmehr mir selbst ein so armer Sünder und noch ärmer erscheine, denn meine Brüder und Schwestern neben mir nimmermehr sind.« Dieß kann ich leider von meinem Gewissen nicht nachsagen. Ich bin mir nur bewußt, daß ich weit öfter nicht sittlich und ohne eigentliches Wollen, als sittlich und unsittlich und durch eigentliches Wollen handle. Wenn das Gesetz meinem Bewußtseyn entrückt war, und ich dagegen handelte, bin ich mir nur einer Illegalen, keineswegs einer pflichtwidrigen Handlung bewußt. Endlich bin ich mir nur bewußt, daß ich nicht darum eine gesetzwidrige Handlung beschlos‐ sen habe, weil sie gesetzwidrig ist, aber ich fürchte, Handlungen beschlossen zu haben, welche gesetzwidrig sind, und beym Bewußtseyn, daß sie es sind. Nur in so ferne kann ich mich einen Sünder nennen. »Ich will heißt mir: ich entschliesse mich mit Wahl. So weit bin ich mit Ih‐ nen einverstanden, und ich bedaure, daß ich das nicht deutlich und ausdrücklich gesagt habe. Ich begehre heißt mir: ich bestrebe mich meine Kräfte auf gewisse Weise zu gebrauchen ohne Wahl.« Mir hingegen heißt: ich will, nicht: ich ent‐ schliesse mich mit Wahl; theils weil ich mir keinen eigentlichen Entschluß ohne Wahl denken kann; theils weil der Ent schluß, in wiefern er den Akt des Wollens bedeuten soll, keineswegs nur was immer für eine Wahl, durch was immer für ein Wählendes, sondern eine besondere Art von Wahl voraussetzt. Ich will, heißt mir: Ich bestimme mich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Be‐ gehrens. Ich begehre, heißt mir keineswegs wie Ihnen: Ich bestrebe mich meine Kräfte auf eine gewisse Art zu gebrauchen, ohne Wahl. Denn ich kann mir ein Be‐ gehren ohne eigentliches Bestreben meine Kräfte zu gebrauchen denken, und ein Bestreben meine Kräfte zu gebrauchen, das kein blosses Begehren ist. Begehren ist mir ein Streben nach Lust und durch Lust; und ich unterscheide den Akt des Begehrens eben so sehr von der That, die eine Folge eines blossen Begehrens,
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als den Akt des Wollens von der That, die die beabsichtigte unmittelbare Folge ienes Akts ist, und nur als solche mit ienem zusammen genommen Handlung der Person im engsten Sinne heißt. Wollen und wählen ist mir nicht Einerley, ob ich gleich dafür halte, daß Wahl im strengsten Sinne des Wortes nur beym Wollen statt findet. Wenn ein gegen‐ wärtiger, aber kleinerer Genuß mit einem zukünftigen, aber grösseren in Collisi‐ on kömmt, und Einer dem andern vorgezogen wird: so nennet man dieses wohl auch überhaupt ein Wählen. Allein so lange dasselbe nur durch das blosse un‐ willkührliche, sey es auch, raisonnirte, Begehren geschieht, und der Grund des Vorzuges blos in dem unwillkührlichen Uebergewichte der Einen Lust über die Andere gelegen ist; so lange die Wahl nicht durch den Willen, durch einen Akt der Selbstbestimmung zu Einem 5 von zwey gleichmöglichen geschehen ist: so lange kann ich sie nicht im strengsten Sinne für meine Wahl erkennen. Nicht ich, sondern Lust oder Unlust, durch Denkkraft geleitet, hat für mich gewählt. »Ich möchte sagen: Es giebt ein sinnliches und ein vernünftiges Begehren. Wenn meine Sinnlichkeit mit der Vernunft nicht kollidirt, so handle ich nur aus vernünftigen Begehren; denn es giebt alsdann keine Wahl für mich.« – Bey ie‐ dem blos instinktartigen Begehren findet keine solche Kollision statt. Denn wo die Vernunft gar nicht wirksam ist, da kann ihr auch die Sinnlichkeit nicht wi‐ dersprechen. Und doch werden Sie das blos instinktartige Begehren darum kein Vernünftiges nennen. Das Vernünftige, durch Denkkraft modifi cierte Begehren, das durch Raisonnements geweckte und geleitete Gelüsten kann aber sehr oft mit der Forderung der praktischen Vernunft in Collision kommen: und ist iederzeit in einer solchen Collision, in wie fern iedes Begehren auf Befriedigung um der Lust willen dringt, das Gegentheil von der Forderung der praktischen Vernunft. »Wollen, d. h. wählen, kann ich freylich das, was nicht gut ist; aber nicht das, was böse ist; weil ich nur wollen kann, was ich begehre. Ich begehre aber überall nichts böses.« – Dieß folgt freylich aus Ihren Begriffen vom wollen und Begehren. Nach den Meinigen hingegen kann ich das Gegentheil von dem wollen, was ich be‐ gehre. Denn Wollen ist mir: mich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung meines Begehrens bestimmen. In wiefern ich will, begehre ich durchaus nicht; und in wieferne ich begehre, will ich nicht. Was ich begehre, ist (im moralischen Sinne) weder gut noch böse. Aber was ich will, ist, und zwar, durch mein Wollen selbst, entweder gut, oder böse. Selbst das praktische Gesetz ist nur als Gesetz des Willens gut, in wiefern es ein Gesetz für die von der Vernunft verschiedene Freyheit der Person ist, bey al ler seiner Nothwendigkeit diese Freyheit nicht nur nicht aufhebt, sondern nur für Sie da ist, und nur durch sie erfüllt werden kann. Diese Freyheit ist nicht die Selbstthätigkeit der praktischen Vernunft, die nur in der Unabhängigkeit der Handlung der Vernunft vom Trieb nach Vergnügen beym 5
»zu Einem« ergänzt gemäß Reinhold 1794, 241.
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Aufstellen des Gesetzes, und in der von der Sanktion durch Lust und Unlust un‐ abhängigen Verbindlichkeit besteht, und die ganz unwillkührlich ist. »Ich begehre überall nichts böses« sagen Sie. Das geb’ ich gerne zu; weil das Böse (in sittlicher Bedeutung), das heißt dieienige Befriedigung des Gelüstens, die dem Gesetz der Freyheit widerspricht, kein Obiekt eines Begehrens, sondern schlechterdings nur des Wollens seyn kann. »Meine Handlungen sind also nicht frey, obgleich mein Wille durch etwas freyes, durch die praktische Vernunft bestimmt wird.« Hier denken Sie nicht nur unter Willen, sondern auch unter der praktischen Vernunft ganz etwas anders als ich. Sich selbst bestimmen und durch nichts bestimmt werden können, ist mir der wesentliche Charakter der Person, in wiefern sie Willen hat. Auch kann ich eine gesetzmäßige Handlung nur in so ferne für sittlich erkennen, als ich dabey nicht durch meine unwillkührlich wirksame Vernunft bestimt worden bin: sondern als ich mich selbst nach der Forderung des unwillkührlich aufgestellten Gesetzes be‐ stimt habe. Das Praktische der Vernunft besteht theils darin, daß sie das Gesetz selbstthätig aufstellt, theils darin, daß das Gesetz blos für die von ihr selbst ver‐ schiedene Freyheit gegeben ist. Praktisch in dem Sinne, daß die Befriedigung oder nicht Befriedigung des Begehrens durch sie wirklich, und nicht blos in der Idee bestimt wird, kann sie durch die von ihr verschiedene Freyheit werden, der sie das Gesetz giebt, das nur dadurch von den Gesetzen des Begehrens, (psycholo‐ gischen Naturgesetzen, z. B. dem des Strebens nach Glückseligkeit) wesentlich verschieden ist, daß das Begehren, kein Wollen; daß ienes unwillkührlich, und dieses frey ist; das Gesetz des Einen unvermeidlich, das andere aber nur frey be‐ folgt wird; und eben darum auch nicht befolgt werden kann. »Wenn ich mir einen Grund der Handlungen denke: so denke ich etwas, womit, wenn es gesetzt wird, etwas anders gesetzt wird (das, wenn der Grund mit der Folge sinnlich gedacht wird, Ursache, die Folge Wirkung heißt). Das, was nichts anders regelmäßig, also nothwendig, setzt, ist kein Grund. Ihre Freyheit kann ich daher keinen Grund nennen, weil, wenn ich sie setze, nichts anderes bestimtes und Regelmäßiges gesetzt wird. Hier bin ich wieder an der Klippe des Ungefährs unter dem Namen eines Grundes, denn gerade die wesentliche Eigenschaft eines Grundes, nämlich Bestimtheit einer einzig möglichen Folge, fehlt.« – Hier glaube ich mich endlich an der eigentlichen Quelle aller Ihrer Einwendungen gegen die absolute Freyheit des Willens zu befinden – die in Ihrem bisherigen Begriffe von dem Grunde überhaupt liegt, in welchen Sie ein Merkmal aufgenommen haben, das ich in dem Meinigen weder finden, noch unterbringen kann. Wenn der Grund überhaupt, nicht etwa eine besondere Art des Grundes, gedacht werden soll, so darf ich in den Begrif desselben nichts von der Art und Weise aufnehmen, wie der Grund zum Grund wird, ob durch sich selbst oder durch etwas Anderes 6, ob 6
»Anderes« ergänzt gemäß Reinhold 1794, 246.
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nothwendig oder zufällig? Grund ist mir überhaupt dasienige, was sich zu einem von ihm verschiedenen wie der Vordersatz eines hypothetischen Urtheils zum Nachsatze verhält. Grund ist also nicht dasienige, womit, sondern wodurch ein anderes gesetzt wird. Nur der Nachsatz ist im hypothetischen Urtheile dasieni‐ ge, dem das Merkmal des bestimt gesetzten, des gesetzmäßigen, des einzig mög‐ lichen zukömt; nicht der Vordersatz, für den es anderswoher ausgemacht werden muß, in dessen Begriffe es unbestimt bleiben muß: ob ihm Nothwendigkeit oder Zufälligkeit zukomme. Die Bestimtheit der Folge hängt zwar mit dem Grunde überhaupt zusammen, darf aber auf den Grund überhaupt, in wiefern er von der Folge verschieden ist, nicht übertragen werden. Die Folge wird durch den Grund gesetzt, nicht der Grund durch die Folge. Die Folge hat daher immer Nothwendig‐ keit, aber darum keineswegs der Grund; und die Nothwendigkeit der Folge ist ent‐ weder hypothetisch oder absolut, ie nachdem der Grund zufällig oder nothwendig wirkt. Sie nennen daher mit Unrecht die Bestimtheit der Folge eine wesentliche Eigenschaft des Grundes. Dieselbe ist in dem Begriffe des Grundes überhaupt nur eine wesentliche Eigenschaft der Folge; sie wird nur durch den Grund gesetzt, und kann durch ihn zufällig oder nothwendig gesetzt seyn. Aufs wenigste liegt ein Doppelsinn darin; wenn Sie l[ieber]. Fr[eund]. die Bestimtheit der Folge eine Eigenschaft des Grundes nennen. Wollen Sie damit nichts weiter sagen als: Kein Grund läßt sich ohne eine durch ihn bestimmte Folge denken, so haben Sie recht. Soll es aber so viel heissen als: kein Grund läßt sich ohne eine in ihm selbst be‐ stimte Folge denken, so kann ich Ihnen nicht beystimmen. Die Folge kann nur dann, und in so ferne im Grunde selbst bestimt gedacht werden, wenn der Grund durch etwas anders zum Grunde wird, wo also die Fol‐ ge durch ihn nur in so ferne gesetzt wird, als er selbst durch einen andern Grund gesetzt ist. So ist, um mich eines nahen Beyspiels zu bedienen, die Forderung der praktischen Vernunft an die Person nicht eine blos durch, sondern auch in dieser Vernunft bestimte Folge, und daher ist diese Forderung eine schlechthin nothwendige Folge der praktischen Vernunft. Ich sagte, diese Forderung ist in der Vernunft bestimmt – nämlich in ihrer Form, welche die Vernunft sich nicht selbst bestimmen, nicht selbst geben konnte, sondern die in ihr und mit ihr gegeben ist. So ist hingegen die Erfüllung dieser Forderung keine blos durch die praktische Vernunft, und durchaus nicht eine in derselben, sondern eine durch den Willen, vermittelst der praktischen Vernunft, und durchaus nicht in dem Willen bestimte Folge: weil durch den Willen keineswegs nur Eine von zwey entgegengesetzten Handlungsweisen, sondern beyde mit dem Vermögen gegeben sind: zu Einer der‐ selben sich selbst zu bestimmen oder welches eben so viel heißt: das Vermögen durch sich selbst Grund seiner Handlung – absolute Ursache – zu seyn. Ich kann allerdings meine Freyheit einen Grund nennen; weil, wenn ich diesel‐ be setze, durch sie dasienige, was sowohl im Begrif eines Grundes überhaupt, als insbesondere eines absoluten Grundes, als gesetzt gedacht werden muß, wirklich
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gesetzt wird. Das bestimte und regelmäßige, das durch die Freyheit, dem Vermö‐ gen als Grund in der Person gesetzt wird, ist die Freyheit der wirklichen Willens‐ handlung, der Zusammenhang der Handlung als Folge, mit dem Vermögen der Selbstbestimmung als Grund in der Person. (Durch die praktische Vernunft ist der Person eine einzig mögliche bestimte Handlungsweise gegeben, durch sie ist also die Person nicht Selbstbestimmend.) »Was das heißt,« veranlassende Gründe zu bestimmenden erheben 7 »verstehe ich nicht, und das kann ich auch nicht nachmachen. Und mir wird doch nicht etwa gar ein Vermögen fehlen, das zu einer moralischen Ursache nothwendig ge‐ hört, und das alle meine Brüder und Schwestern haben sollen, das Vermögen: Veranlassende Ursachen zu bestimmenden zu erheben, was vielleicht eigentlich metaphysische Freyheit seyn müßte, die zur moralischen wird, 8 so bald man sich die Veranlassungen als einen eigennützigen und uneigennützigen Trieb denkt. La‐ chen Sie nicht über meine Einfalt! Wenn ich Sie mit solcher Entschiedenheit des Selbstbewußtseyns von diesem Vermögen schreiben las; so wurde mir manchmal so zu Muth, als wäre ich kein solcher Mensch, oder als könnte ich mir dessen nicht bewußt werden. Ich fand Beruhigung darin, daß ich doch einem Menschen ähnlich sehe, und wie die Thiere ein Analogum rationis, 9 so ich ein analogum libertatis 10 habe, das in der letzten Wirkung der Sache gleich kömt, und was da macht, daß ich unter solchen eigentlichen Menschen gelitten werde, und mein Thun und Wesen treiben kann. Es ist ein wahres Glück für mich, daß ich mir von diesem mir etwa mangelnden Vermögen keinen rechten Begrif machen, noch seine Vortreflichkeit mir vorstellen und bezeichnen kann. So kann ich doch über meine Krüppelnatur nicht trauern, und freue mich vielmehr, daß ich so ziemlich gut dabey zurecht komme.« – In der Philosophie (oder als Philosoph), wo alles auf Begriffe und die Beschaffenheit derselben ankommt, besitzt man freylich nur das wirklich, wovon man sich den rechten Begriff macht. Einem von uns bey‐ den mangelt es an dem rechten Begriffe von der in uns beyden als moralischen Wesen gleich wirklich vorhandenen Freyheit; und daher glaubt ieder als Philo‐ soph an dieser Freyheit etwas anders zu besitzen. Wenn es Ihnen nicht dadurch, daß Sie Ihren Begrif mit so viel Scharfsinn, Fleiß und Geschicklichkeit mit dem ganzen Systeme Ihrer theoretischen und praktischen Philosophie nach und nach verwebt haben, so schwer würde den Meinigen zu verstehen, oder vielmehr ihn zu dem Ihrigen zu machen; so würden Sie sich mit demselben sogleich in dem Besitze desienigen Vermögens finden, über dessen Mangel Sie sich so gutmüthig oder schalkhaft? zu trösten wissen. Zu einer Erörterung des Ausdruckes: Veran‐
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Vgl. Reinhold 1792, 276 f., 279 f. (Text 14). Vgl. Schmid 1790, 201 (§ 242), 224 f. (§ 261) (Text 12). Lat.: »Gegenstück zur Vernunft«. Lat.: »Gegenstück zur Freiheit«.
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lassende Ursachen zu bestimmenden erheben geben Sie mir im folgenden eine sehr willkommene Veranlassung. »Ich wünschte wohl, daß Sie sich über den Begriff von einem Grunde, von einem veranlassenden, von einem bestimmenden, und über die Erhebung des Einen zum andern näher erklärten; 11 und auch darüber: ob diese Erhebung an eine bestimmte Regel gebunden ist oder nicht. Veranlassung für materiale Bedin‐ gung, conditio sine qua non, 12 einer Handlung angenommen, kann ich mir mit einer Disjunktion der Handlung denken. Aber Grund seyn mit einem entweder und oder des Begründeten will mir nicht zu Kopfe.« – Veranlassung, Bedingung, conditio sine qua non können doch wohl unter der gemeinschaftlichen Benen‐ nung eines Grundes überhaupt zusammengenommen werden, in wiefern sie alle etwas bedeuten, wodurch ein anderes bestimmt gesetzt wird; das durch die bey‐ den veranlassenden Gründe, oder wenn Ihnen diese Benennung misfällt, condi‐ tiones sine quibus non des Wollens begründete ist nichts anders als die objektive Möglichkeit der Selbstbestimmung beym Wollen, die davon abhängt, daß mehr als Ein Objekt vorhanden ist. Der Grund der subjektiven Möglichkeit der Selbst‐ bestimmung ist die Freyheit selbst, als Vermögen der Person, welche sich nur mit einem entweder, oder des durch sie begründeten, d. i. nur mit der Möglich‐ keit, aus zwey entgegengesetzten Eines zu wählen, denken läßt. »Empirischen und reinen Willen möchte ich so unterscheiden: Wille ist das Vermögen zu wäh‐ len, entweder zwischen Angenehmen und minder Angenehmen und Nützlichen – Empirischer; oder zwischen dem Nützlichen, Angenehmen und Guten – (mora‐ lisch) reiner Wille.« – Ich gestehe, daß ich von dieser Eintheilung nichts verstehe. Sie sprechen doch nicht von der, sehr uneigentlich sogenannten, Wahl, die beym blossen unwillkührlichen Begehren statt findet, wo entweder die stärkere Lust eine schwächere in mir überwiegt, oder der durch Denkkraft geleitete Trieb nach Vergnügen über einen blossen Sinnenreiz obsiegt, und in beyden Fällen nur et‐ was in der Person gewirkt wird, die dabey keineswegs durch ihren Willen wirkt. Ist von der eigentlichen Wahl, die beym Zustande des Wollens statt findet, die Rede: so behaupte ich, daß alsdann die Wahl nie zwischen dem blos Angeneh‐ men und blos Nützlichen, und nie zwischen dem blos Nützlichen und dem Guten vorgehen kann, und daß also dasjenige, was Sie empirisches und reines Wollen nennen, etwas mir gar nicht Denkbares sey. Denn sobald derjenige Zustand der Besonnenheit vorhanden ist, in welchem die That nicht eine blosse Folge eines unwillkührlichen Begehrens ist, sondern durch den Willen beschlossen wird: so tritt auch der Fall ein, wo das Gesetz des Willens durch die Praktische Vernunft promulgiret wird – denn so wenig die Praktische Vernunft ohne Willen, so wenig ist der Wille ohne Praktische Vernunft geschäftig – und die Person hat dann keine 11 12
Vgl. Anm. 7. Lat.: »Bedingung, ohne die nicht«, notwendige Bedingung.
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andere Wahl mehr, als sich entweder durch das Gesetz oder durch Lust und Un‐ lust zu bestimmen. Das Angenehme und Nützliche ist dann jederzeit, je nachdem es dem Gesetz gemäß oder zuwider ist, Gut oder Böse. Das blos Nützliche wird böse, so bald es dem Sittlichguten gegenüber steht, und zwar lediglich dadurch, daß es durch den Willen dem Gesetzmäßigen vorgezogen wird. Allein dieses ge‐ schieht Ihrer Meynung zufolge niemals, denn: »Soferne es wirklich zur Wahl kommt: so verfehle ich nicht im ersten Falle das Nützlichere, im zweyten das Gute zu wählen.« – Dies heißt in meiner Sprache und nach meinen Begriffen: Im Zustande des unwillkührlichen, aber durch theo‐ retische Vernunft modificirten Begehrens kann ich durch nichts anders als durch das Nützlichere bestimmt werden; im Zustande des Wollens aber, vorausgesetzt, daß ich durch Freyheit das Gesetz des Willens ergreife, kann ich nur das Gute (oder eigentlicher: nur gut) wollen. Aber für mich giebt es auch einen Zustand des Wollens, in welchem ich das sich ankündigende Gesetz des Willens nicht er‐ greife, sondern mich durch Lust gegen das Gesetz selbst bestimme, dann verfehle ich das Gute zu wählen, und wähle das Böse. »Allein es kommt nicht immer zur Wahl; oder die Wahl wird auch wohl ver‐ wirrt, übereilt, oder das Resultat – ehe es zum Handeln kömmt – vergessen ohne meine Schuld, und nun ist die thörichte oder Nichtsittliche Handlung fertig. Ich beklage mich über das Geschick, das mich am bessern verhindert hat, und freue mich Hülfsquellen und Mittel zu finden, wodurch ich des Vortreflicheren nach und nach theilhaftig zu werden hoffe.« – Ia wohl giebt es auch blos Nichtsittliche Handlungen, die blos darum nicht unsittlich, thöricht, nicht böse heissen: weil sie nicht durch Freyheit hervorgebracht sind. Sie selbst, lieber Freund, unterscheiden ja diese Handlungen von den Unsittlichen, durch den Namen der Nichtsittlichen, den Sie denselben beylegen. Aber diese stehen ja nicht den sittlich guten – son‐ dern den Sittlichen überhaupt gegen über. 13 Wie kommen Sie hier auf diese zu sprechen? – »Einen absolutersten Grund räume ich ein, und finde ihn bey den sittlichgu‐ ten Handlungen in der Vernunft, die nicht nur ein Gesetz giebt; sondern auch auf dessen Erfüllung dringt. Das letzte nur nicht immer mit gleichem Nachdruck. Es ist hier legislatorische und exekutive Gewalt in Einem verbunden.« – Warum sprechen Sie hier wieder nur von der sittlichguten, und nicht von der Handlung des Willens überhaupt? Der Grund der Vernunfthandlung ist die Vernunft, und der Willenshandlung der Willen, der nach meinem Begriffe von demselben das Eigenthümliche hat, daß er unter allen unsern Vermögen allein gänzlich frey ist. Die guten und die bösen Handlungen haben als Handlungen des Willens, als Handlungen Eines und desselben Vermögens ihren gemeinschaftlichen Grund in 13
Zur Frage unsittlicher bzw. unmoralischer Handlungen vgl. Schmid 1790, 206 (§ 251 f.) (Text 12) und Reinhold 1792, 285, 295–297 (Text 14).
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der Freyheit. Sie l[ieber]. Fr[eund]. finden den letzten Grund der sittlichguten Handlung in der Vernunft – Sie schlechterdings – ich aber nur in so ferne, als sie gut (nicht als sie eine Handlung des Willens) ist; als sie von der sittlichbö‐ sen dadurch verschieden ist, daß die Freyheit bey dieser durch Lust, bey jener durch praktische Vernunft werkthätig ist. Aber auch Vernunft wirkt in beyden Fällen, indem sie ihr Gesetz aufstellt. Ohne diese Wirkung ist die Sittlichböse so wenig als die Sittlichgute Handlung denkbar. Aber nur bey der Sittlichguten wird aus dieser Wirkung der Grund der Handlung, und wird es nur durch Freyheit. Die Vernunft kann in keinem Falle eigentlich Handeln. Handlung ist die Wirkung von der blossen Persönlichkeit, nicht von etwas in der Person, sondern von der Person selbst, die nur durch Freyheit handeln kann. »Die Vernunft,« sagen Sie, »giebt nicht nur ein Gesetz, sondern dringt auch auf Erfüllung desselben; aber nicht immer mit gleichem Nachdrucke.« – Die Vernunft kann nur in soferne auf die Erfüllung Ihres Gesetzes dringen, als sie dasselbe als schlechthin nothwendig, als absolutes Gesetz, aufstellt. Sie kann sich durchaus keines andern Bewegungs‐ grundes zur Erfüllung desselben bedienen; weil es nur um seiner selbst willen erfüllt werden kann. Bey den Gesetzen des Begehrens stellt die Vernunft nur eine Regel auf, auf deren Erfüllung der Trieb nach Vergnügen dringt. Aber die Regel, die sie dem Wollen giebt, ist nur dadurch Gesetz, daß lediglich die Vernunft allein auf die Erfüllung derselben dringt, und zwar dadurch dringt, daß sie dieselbe als schlechthin nothwendig ankündigt. Eben darum setzt dieses Gesetz ein von dem unwillkührlichen Begehren und von der Vernunft gleich wesentlich verschiedenes Vermögen zu seiner Erfüllung voraus. Setzen Sie an die Stelle dieses Vermögens wiederum die blosse Vernunft, so schreibt die Vernunft der Vernunft ein Gesetz vor, das die Vernunft nicht immer ausführt; giebt sich selber, was sie schon hat, ohne daß sie es gleichwohl immer empfienge, bindet sich selbst an die einzige Handlungsweise, an die sie schon gebunden ist; aber gleichwohl nicht immer ge‐ bunden werden kann!! Endlich ist auf die Erfüllung des Gesetzes dringen, und dasselbe wirklich erfüllen Eines? und was ist denn dasjenige in der Person, an welches wegen der Erfüllung gedrungen wird? das, was das Gesetz wirklich er‐ füllt, und auch nicht erfüllen kann; weil an dasselbe gedrungen werden muß? »Es ist hier,« sagen Sie, »legislatorische und exekutive Gewalt in Einem verbunden.« Ia wohl in Einem Subjekte, aber wahrlich nicht in Einem Vermögen! Nicht die Vernunft übt das Gesetz aus, das sie aufstellt, sondern die Person (durch Frey‐ heit); die Person, die als sittlich Handelnd (gut und böse) keineswegs die Rolle der blossen Zuschauerinn bey den Wirkungen der Vernunft und der Sinnlichkeit in Ihr abgiebt. »Es kommt doch viel auf die Promulgation des Gesetzes an, ob es vernommen und respektiret wird, und auch dies ist Sache der Vernunft. Sie kann überschrie‐ en werden, und ich weiß nicht, was das eigentlich ist. Aber es ist Etwas, was ich nicht gemacht habe, und auch nicht billige, sobald ich mich wieder besinnen
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kann.« – Was geht uns hier der Zustand an, in welchem das praktische Gesetz nicht vernommen wird? Wir sprechen von dem Zustande der eigentlichen Wil‐ lenshandlung, bey welchem ich mir unter der Promulgation des praktischen Ge‐ setzes nichts als das Bewußtseyn desselben als eines solchen denken kann. Das Respektiren dieses Gesetzes, wenn darunter nicht etwa ein unwillkührliches und unwirksames Gefühl, das selbst die Übertrettung des Gesetzes (in den Warnungen des Gewissens) begleitet; sondern die praktische Achtung, die Unterwerfung un‐ ter dasselbe, verstanden wird, ist Sache der Person, nicht in wie ferne Sie durch Vernunft, sondern in wiefern sie durch Freyheit wirkt. Die praktische Vernunft wird nie überschrieen – denn Sie spricht nur im Zustande der Besonnenheit, nicht zu der durch ein unwillkühr liches Begehren hingerissenen, sondern zu der wol‐ lenden Person. Wenn ich nach einer Nichtsittlichen Handlung zur Besonnenheit komme, so weiß ich freylich, daß etwas durch mich geschehen ist, was ich nicht gemacht habe; aber ich bin mir dabey meiner Schuldlosigkeit bewußt, bewußt, daß ich vielleicht thöricht, aber nicht böse war. Bey der unsittlichen Handlung aber, bey der die Stimme der praktischen Vernunft nur in so ferne überschrien wird, als ich freywillig mehr auf die Stimme der Neigung aufmerke, ungeachtet die Stimme der Vernunft völlig vernehmlich in mir ertönt, weiß ich, was das ei‐ gentlich ist. Es ist etwas, das ich wirklich gemacht habe, und nur darum misbilli‐ ge, weil und in wieferne Ich es gemacht habe. »Nehmen wir Ihre gesetzlose Freyheit (denn ihre Verbindung mit zwey gesetz‐ mäßigen Trieben, gegen welche sie sich gleichgültig verhält, führt auf Gesetzlo‐ sigkeit) 14 in die Psychologie auf: so ist die Natur aufgehoben. Und nehmen wir sie nicht auf, da sie doch im Selbstbewußtseyn liegen soll: so ist sie mangelhaft und steht mit der Moral in geradem Widerspruche. Was soll man nun thun?« – 1tens. Unter Gesetz des Willens und der Freyheit kann ich mir nur zweyerley denken. Erstens das Sittengesetz, das für mich durchaus keinen Sinn hat, ausser in wiefern es durch die bloße Vernunft für die blosse Freyheit des Willens – für die Selbstbestimmung zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens gegeben ist. Dieses Gesetz zeichnet sich nur dadurch von dem Naturgesetz aus, daß es nur durch Freyheit erfüllt, eben darum auch übertretten werden kann. In diesem Sinne ist die Freyheit keineswegs gesetzlos; sie handelt entweder ge‐ setzmäßig oder gesetzwidrig; das Eine ist so wenig als das andere ohne Gesetz denkbar. Gesetz der Freyheit kann zweytens heißen die im Gemüthe bestimmte Möglichkeit frey zu handeln, oder die der Freyheit eigenthümliche Handlungswei‐ se. Dieses Gesetz besteht eben in der Möglichkeit sich selbst, und zwar entweder durchs Gesetz, oder durchs Gelüsten zu bestimmen. Mit diesen beyden Gesetzen 14
Für Schmid fällt der Gegensatz von Determinismus und Indeterminismus mit der An‐ nahme einer gesetzmäßigen bzw. gesetzlosen Freiheit zusammen (vgl. Schmid 1790, 187 (§ 224) (Text 12)).
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allein kann ich mir die Freyheit des Willens denken. Iedes andere hebt sie in mei‐ nem Begriffe auf, den ich so wenig als den Begriff der Gesetzmäßigkeit aufheben lassen kann, wenn ich mir Moralität denken soll. 2tens Verstehe ich nicht, was Sie unter dem gleichgültigen Verhalten meiner Freyheit zu den zwey Trieben wohl meynen mögen. Ich kann meinen Begrif von Freyheit nicht von meinem Begriffe vom Willen trennen, und den Willen vermag ich eben so wenig ohne die praktische Vernunft, die ihm sein Gesetz giebt, als oh‐ ne das Begehren, das ihm die Materie der Anwendung ienes Gesetzes vorhält, zu denken. In wiefern also die obiective Möglichkeit des Wollens, folglich auch des freyen Handelns eben so sehr von dem praktischen Gesetze als von der Forderung des Begehrens abhängt, in wiefern Gesetz und Gelüsten gleich viel zur Möglich‐ keit des Wollens beytragen: in so fern gelten freylich beyde für die Freyheit gleich viel; und diese verhält sich als blosses Vermögen gegen beyde (nicht gleichgiltig) aber auf gleiche Weise – d. h. es ist ihr gleich möglich das Eine wie das Andere zu ergreifen. Bey der wirklichen Handlung aber hebt die Person durch positive Selbstbestimmung die Eine dieser beyden Möglichkeiten in so ferne auf, als sie die andere zur Wirklichkeit erhebt. Wie dieses zugehe? läßt sich so wenig fragen als wie Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft zu ihren Wirkungsgesetzen wirklich gelangen, und nach denselben sich äussern können. 3tens. Was wollen Sie in der Psychologie unter Natur verstanden haben. Das was in der Kritik der r[einen]. V[ernunft]. Inbegrif der Erscheinung, das 15 Feld der Erfahrung heißt, und worin die kantischen Grundsätze des reinen Verstandes als Naturgesetze gelten, worunter weder eine Erste noch eine freye Ursache zu finden ist? 16 Ich will mich hier nicht auf dasienige berufen, was Kant zur Auflösung der sich hierbey ergebenden Schwierigkeiten geleistet hat. 17 Aber ich will und muß Sie daran erinnern, daß Ihr Einwurf auf Sie selbst zurückfällt. Denn wel‐ chen Platz können Sie Ihrer, alles in allen bey der Sittlichkeit wirkenden, prak‐ tischen Vernunft in der empirischen Psychologie anweisen? 18 Meine Freyheit be‐ darf keines andern Platzes, als desienigen, den Ihre praktische Vernunft einnimt. Das Gesetz der praktischen Vernunft ist über dieses Absolut nothwendig, das be‐ haupten Sie selbst. Gleichwohl wird es nicht immer erfüllt. Das gestehen Sie. Sie sagen, daran sind die Dinge ausser uns schuld, welche die Wirksamkeit der Ver‐ nunft hindern. Diese Wirksamkeit ist also nicht absolut – ist nur hypothetisch, 15 16 17
Gemäß Reinhold 1794, 262 korrigiert aus: »Erscheinung. Das«. Vgl. z. B. KrV B 163, A 230/B 282 f., A 418 f./B 446 f., A 533/B 561, A 762/B 790. Vgl. Kants Auflösung der dritten kosmologischen Antinomie, KrV A 532–558/B 560–
586. 18
In Schmids Empirischer Psychologie (Jena 1791) spielt die praktische Vernunft tat‐ sächlich keine Rolle. Reinhold hat dieses Werk rezensiert und dabei auch seine Vorschlä‐ ge zur Bestimmung des Verhältnisses von Begehrungsvermögen, praktischer Vernunft und Wille vorgelegt (vgl. Reinhold 1792b, 11–13).
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nur so lange nothwendig, als kein Hinderniß da ist. Nach meinem Begriffe bleibt die absolute Nothwendigkeit auch bey der Nichtbefolgung eines Gesetzes, das nur der Freyheit gegeben ist, durch das also der Mensch bey seinen Handlungen in so ferne wirklich gebunden ist, als er sich durch dasselbe selbst bindet. Endlich müssen Sie dem Worte Natur, so bald von menschlicher Natur die Rede ist, eine Bedeutung geben, die von der blos physischen Natur verschieden ist, und der als‐ dann meine Freyheit wohl nicht mehr als Ihre exekutive Vernunft widersprechen wird. Der Begrif der inneren Erfahrung und mit ihr der Begrif der Psychologie ist bis izt noch so äusserst unbestimt, daß man wohl noch nicht zuversichtlich genug angeben kann, was in den Umfang von beyden gehören mag oder nicht. Sollten nicht alle Fakta des Bewußtseyns als solche zur inneren Erfahrung gehören, z. B. das Bewußtseyn des Sollens, Dürfens, und so nach auch das des Wollens, das die drey oben angeführten Thatsachen begreift: Gewissen, Gelüsten und Entschluß? Man wird freylich meinen Begrif von Willen noch eine Zeitlang zu enge fin‐ den; und das ist er auch, wenn man das Wort in der Bedeutung nimt, in der es oft in – und besonders – ausser der Moral gebraucht wird. Aber auf dieselbe Weise werden die Bedeutungen vieler Worte enger werden müssen: wenn erst unsre Begriffe bestimter geworden sind. Ein auffallendes Beyspiel haben Sie in Ihrem eigenen Begriffe von Sittlichkeit, der den Glückseligkeitslehrern noch immer zu enge däucht. Jena den 20. April 1793. Reinhold.
17 IMMANUEL KANT
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Einleitung in die Metaphysik der Sitten [Auszüge]
Der Begriff der Freiheit im Werk Immanuel Kants (1754–1804) ist vielschichtig (vgl. Einleitung 3). Nicht nur treten in verschiedenen Kontexten und Sachzusammenhängen unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund, das Verständnis von Freiheit wird seit der Kritik der reinen Vernunft (1781) auch ständig weiterentwickelt und weiter entfaltet. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, wenn Kantianer, die sich alle auf der Linie Kants und in Übereinstimmung mit seinem Wort glauben, für ganz unterschiedliche »kantische« Freiheitskonzeptionen eintreten – wie eine Reihe von Texten in diesem Band dokumentieren. Geradezu unvereinbar sind die Auffassungen zweier führender Kantianer, C. C. E. Schmids und K. L. Reinholds. Während Schmid die Freiheit ausschließlich in der Autonomie der praktischen Vernunft, in der Eigenständigkeit des Sittengesetzes gegenüber dem Naturgesetz, verortet (vgl. Text 12), liegt die Freiheit für Reinhold im Vermögen der Person, sich zwischen den Forderungen des Begehrungsvermögen und jenen des Sittengesetzes entscheiden zu können (vgl. Texte 14 und 16). 1797, in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« (MS. AA VI, 211–228), finden sich nun endlich Äußerungen Kants, die als Stellungnahme zum Disput zwischen Schmid und Reinhold angesehen werden können. Unter den präliminarischen Begriffserklärungen der Einleitung sind die Begriffe der Willkür und der Freiheit zentral, da der »Act der freien Willkür« der »oberste eingetheilte Begriff zu der Eintheilung Recht oder Unrecht« ist (ebd. 218 Anm.). In der zentralen Passage, die hier abgedruckt ist, bemüht sich Kant um eine Klärung der Begriffe der Freiheit, des Willens und der Willkür. Entscheidend ist eine hier erstmals vorgenommene Differenzierung zwischen Wille und Willkür: Die Willkür wird als Vermögen der Wahl von Maximen (subjektiven Handlungsregeln) verstanden, der Wille dagegen mit den Äußerungen der praktischen Vernunft, dem Sittengesetz, gleichgesetzt. Freiheit kann dabei nur der Willkür zukommen, nicht aber dem Willen, der ja nichts anderes ist als die gesetzmäßige Forderung der praktischen Vernunft. In Bezug auf die Schmid-Reinhold-Debatte ist nun besonders pikant, dass Kant eigens festhält, dass die Willkür nicht als »Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln« (XXVII; AA VI, 226) verstanden werden dürfe. Eines solchen Vermögens der Willkür seien wir uns zwar als Phänomen bewusst. Dass die Willkür uns so erscheine, berechtige uns aber nicht dazu, die Willkür als Noumenon ebenfalls als Vermögen, sich für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, zu verstehen. Mit anderen Worten: Wir machen zwar die Erfahrung, dass wir ein Vermögen haben, uns für oder gegen das
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Sittengesetz entscheiden zu können, sind dadurch aber in keiner Weise berechtigt, ein solches Vermögen als definierendes Merkmal auf das intelligible Freiheitsvermögen zu übertragen. Kant nennt in dieser Passage zwar keine Namen, es geht daraus aber klar hervor, dass er eine Reinhold’sche Freiheitskonzeption für nicht vertretbar hält. Schmid kann sich dagegen in gewissen Punkten bestätigt sehen, auch wenn sich Kant nicht direkt für den intelligiblen Fatalismus ausspricht. Reinhold wird noch im selben Jahr zu Kants Äußerungen Stellung nehmen, dabei nicht etwa seine nun als unkantisch anzusehende Position aufgeben, sondern sich vielmehr von Kant distanzieren (Text 18). Einen Vermittlungsversuch unternimmt dann ebenfalls noch 1797 Schelling (Text 19). Den Abschnitten I und IV aus der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« (MS. AA VI, 211–214, 221–228) stellen wir eine Vorarbeit aus Kants Nachlass zu ebendieser Stelle voran. Der Text folgt der Akademie-Ausgabe (L Bl. E 36 R II 139–141. AA XXIII, 248 f.), der leichteren Lesbarkeit halber haben wir jedoch die im Original fast vollständig fehlende Interpunktion dem heutigen Gebrauch entsprechend ergänzt. Auf die Übersetzung der zahlreichen von Kant in Klammern eingefügten lateinischen Ausdrücke in beiden Texten wird verzichtet, da sie in der Regel unmittelbar bei ihrem deutschen Pendant stehen. Im Auszug aus der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« sind sowohl die Seitenzahlen des Originals (römisch) wie auch jene der Akademie-Ausgabe (arabisch) am Rand angegeben. Weiterführende Literatur: Stolzenberg 2004b, Zöller 2006, Bojanowski 2006, 229–245, Baum 2012, Klemme 2013 und Noller 22016, 272–291, Klemme / Kuehn 2016, 402–406.
♦ Aus den Vorarbeiten zur Vorrede und Einleitung in die Metaphysik der Sitten 248 Erste Seite
Der Wille des Menschen muß von der Willkühr unterschieden werden. Nur die letztere kann frey genannt werden und geht blos auf Erscheinungen d. i. auf ac‐ tus, die in der Sinnenwelt bestimmt sind. – Denn der Wille ist nicht unter dem Gesetz, sondern er ist selbst der Gesetzgeber für die Willkühr und ist absolute praktische Spontaneität in Bestimmung der Willkühr. Eben darum ist er auch in allen Menschen gut und es giebt kein gesetzwiedriges Wollen. Die Maximen der Willkühr aber, weil sie auf Handlungen als Erscheinungen in der Sinnenwelt gehen, können böse seyn und die Willkühr als Naturvermögen ist in Ansehung jener Gesetze (des Pflichtsbegriffes) frey, durch die sie eigentlich nicht unmittelbar bestimmbar ist, sondern nur vermittelst der Maximen sie jenem gemäs oder zuwieder zu nehmen. Diese Freyheit aber kann nicht so erklärt wer‐ den, daß es die subjective Möglichkeit sey, dem Gesetze gemäs oder zuwieder,
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d. i. die Gesetzwiedrigkeit der Handlungen überhaupt zu beschließen, 19 denn das wäre so viel als ein böser Wille 20 – Das wäre ein Herüberziehen der Sinnlichkeit in das Feld des reinen Vernunftvermögens. Willkühr ist das Vermögen unter ge‐ gebenen Gegenständen zu wählen. Ihre Entgegensetzung muß also ein Verhältnis nach Gesetzen der Sinnlichkeit betreffen. Dieses ist also selbst schon eine böse Wilkühr. Der Grund der Möglichkeit einer Willkühr überhaupt in dem Begrif des Menschen als noumenon ist nur der der Freyheit (unabhängigkeit von Bestimmun‐ gen durch Sinnlichkeit mithin blos negativ), als Vermögen können wir diese ihre Beschaffenheit nicht erkennen außer nach dem Gesetz, welches sie der Sinnlich‐ keit vorschreibt, und nicht nach einem Gesetz der Natur, von jenem abweichen zu können, denn das Abweichen vom Gesetz ist kein übersinnliches Vermögen. Die Freyheit der Willkühr in Ansehung der Handlungen des Menschen als Phä‐ nomenon besteht allerdings in dem Vermögen unter zwey entgegengesetzten (der gesetzmäßigen und gesetzwiedrigen) zu wählen, und nach dieser betrachtet sich der Mensch selbst als Phänomen. – Der Mensch als Noumen ist sich selbst so wohl theoretisch als praktisch gesetzgebend für die Objecte der Willkühr und so fern frey, aber ohne Wahl. Man muß die Willkühr von dem Willen unterscheiden; das erstere practische Vermögen bezieht sich auf Gegenstände, die gegeben werden können, mithin Ge‐ genstände der Sinnlichkeit sind; der Mensch betrachtet sich seiner Willkühr nach selbst als Phänomen und steht so fern unter Gesetzen, die Form d. i. die Maximen seiner Handlungen betreffend, worinn er die Wahl hat. Diese Freyheit bedeutet nichts mehr als Spontaneität. Die Willkühr ist also frey zu thun oder zu lassen, was das Gesetz befiehlt. Aber der Wille ist auf eine andere Art frey, weil er ge‐ setzgebend, nicht gehorchend ist, weder dem Naturgesetz noch einem andern u. so fern ist die Freyheit ein positives Vermögen nicht etwa zu wählen, denn hier ist keine Wahl, sondern das Subject in Ansehung des sinnlichen der Handlung zu bestimmen. – Worauf es nun beruhe, daß dieses Vermögen nicht immer die Be‐ stimmung der Willkühr zum Guten zur Folge hat, sondern des guten Willens un‐ geachtet des bösen Handlungen und Maximen entspringen, kan als phaenomen nicht aus dem intelligibelen Substrat des freyen Willens erklärt werden. Sowie warum wir, was außer uns ist, im Raum u., was in uns ist, in der Zeit vorstellen und nicht vielmehr umgekehrt, kein Grund angegeben werden kann, denn das betrifft die sinnliche Form der Gegenstände, so ist es hier mit der der Handlun‐ gen, die wir, wenn sie böse sind, nur mechanisch, nie aber warum ein solcher 19
Reinhold zufolge ist die Freiheit des Willens »das Vermögen der Person sich selbst zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens entweder nach dem praktischen Gesetze oder gegen dasselbe zu bestimmen« oder »das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkühr für oder gegen das praktische Gesetz« (Reinhold 1792, 271 f. (Text 14); vgl. auch Reinhold 1793, 356 (Text 16)). 20 Vgl. RGV. AA VI, 32–39, besonders 35.
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Mechanism in uns angetroffen wird, uns erklären können. – Die Willkühr und de‐ ren subjectives Gesetz muß nicht ins übersinnliche gezogen werden. Es kommt alles auf [Text bricht ab] ♦ Einleitung in die Metaphysik der Sitten
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I. Von dem Verhältniß der Vermögen des menschlichen Gemüths zu den Sittengesetzen.
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Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu seyn. 21 Das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben. Mit dem Begehren oder Verabscheuen ist erstlich jederzeit Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit man Gefühl nennt, verbunden, aber nicht immer umge‐ kehrt. Denn es kann eine Lust geben, welche mit gar keinem Begehren des Ge‐ genstandes, sondern mit der bloßen Vorstellung, die man sich von einem Gegen‐ stande macht (gleichgültig, ob das Object derselben existire oder nicht), schon verknüpft ist. Auch geht zweytens nicht immer die Lust oder Unlust an dem Ge‐ genstande des Begehrens vor dem Begehren vorher und darf nicht allemahl als Ursache, sondern kann auch als Wirkung desselben angesehen werden. Man nennt aber die Fähigkeit, Lust oder Unlust bey einer Vorstellung zu ha‐ ben, darum Gefühl, weil beydes das blos Subjective im Verhältnisse unserer Vor‐ stellung, und gar keine Beziehung auf ein Object zum möglichen Erkenntnisse desselben * (nicht einmal dem Erkenntnisse unseres Zustandes) enthält; da sonst selbst Empfindungen, außer der Qualität, die ihnen der Beschaffenheit des Sub‐ jects wegen anhängt (z. B. des Rothen, des Süßen u. s. w.) doch auch als Erkennt‐ *
Man kann Sinnlichkeit durch das Subjective unserer Vorstellungen überhaupt erklä‐ ren; denn der Verstand bezieht allererst die Vorstellungen auf ein Object, d. i. er allein denkt sich etwas vermittelst derselben. Nun kann das Subjective unserer Vorstellung entweder von der Art seyn, daß es auch auf ein Object zum Erkenntniß desselben (der Form oder Materie nach, da es im ersteren Falle reine Anschauung, im zweyten Empfindung heißt) be‐ zogen werden kann. In diesem Fall ist die Sinnlichkeit, als Empfänglichkeit der gedachten 212 Vorstellung, der Sinn: aber das Subjective der Vorstellung kann gar kein Erkenntnißstück werden; weil es blos die Beziehung derselben aufs Subject und nichts zur Erkenntniß des Objects Brauchbares enthält, und alsdann heißt diese Empfänglichkeit der Vorstellung Ge‐ fühl; welches die Wirkung der Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellectuell seyn) aufs Subject enthält und zur Sinnlichkeit gehört, obgleich die Vorstellung selbst zum Verstande oder der Vernunft gehören mag. 21
Vgl. Baumgarten 1757, 263 f. (§ 689).
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nißstücke auf ein Object bezogen werden, die Lust oder Unlust aber (am Rothen und Süßen) schlechter dings nichts am Objecte, sondern lediglich Beziehung aufs Subject ausdrückt. Näher können Lust und Unlust für sich, und zwar eben um des angeführten Grundes willen, nicht erklärt werden, sondern man kann allen‐ falls nur, was sie in gewissen Verhältnissen für Folgen haben, anführen, um sie im Gebrauch kennbar zu machen. Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vor‐ stellung das Gefühl so afficirt) nothwendig verbunden ist, practische Lust nennen: sie mag nun Ursache oder Wirkung vom Begehren seyn. Dagegen würde man die Lust, die mit dem Begehren des Gegenstandes nicht nothwendig verbunden ist, die also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des Objects der Vorstellung ist, sondern blos an der Vorstellung allein haftet, blos contemplative Lust oder unt‐ hätiges Wohlgefallen nennen können. Das Gefühl der letztern Art von Lust nen‐ nen wir Geschmack. Von diesem wird also in einer practischen Philosophie, nicht als von einem einheimischen Begriffe, sondern allenfalls nur episodisch die Rede seyn. Was aber die practische Lust betrift, so wird die Bestimmung des Begeh‐ rungsvermögens, vor welcher diese Lust, als Ursache, nothwendig vorhergehen muß, im engen Verstande Begierde, die habituelle Begierde aber Neigung heißen, und, weil die Verbindung der Lust mit dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject) gültig zu seyn geurtheilt wird, Interesse heißt, so wird die practische Lust in diesem Falle ein Interesse der Neigung, dagegen wenn die Lust nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann, so wird sie eine intellectuelle Lust und das Interesse an dem Gegenstande ein Vernunftinteresse 22 genannt werden müssen; denn wäre das Interesse sinnlich und nicht blos auf reine Vernunftprincipien gegründet, so müßte Empfindung mit Lust verbunden seyn und so das Begehrungsvermögen bestimmen können. Obgleich, wo ein blos reines Vernunftinteresse angenommen werden muß, ihm kein Interesse der Neigung untergeschoben werden kann, so können wir doch, um dem Sprachgebrauche gefällig zu seyn, einer Neigung, selbst zu dem, was nur Object einer intellectuellen Lust seyn kann, ein habituelles Begehren aus rei‐ nem Vernunftinteresse einräumen, welche alsdenn aber nicht die Ursache, son‐ dern die Wirkung des letztern Interesse seyn würde, und die wir die sinnenfreye Neigung (propensio intellectualis) nennen könnten. Noch ist die Concupiscenz (das Gelüsten) von dem Begehren selbst, als Anreitz zur Bestimmung desselben, zu unterscheiden. Sie ist jederzeit eine sinnliche, aber noch zu keinem Act des Begehrungsvermögens gediehene Gemüthsbestimmung. Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund des‐ selben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, heißt 22
Vgl. GMS. AA IV, 448–453, KpV. AA V, 119–121.
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ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen. 23 Sofern es mit dem Bewußt‐ seyn des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt es Willkühr; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus des‐ selben 24 ein Wunsch. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungs‐ grund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille. 25 Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkühr) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungs‐ grund der Willkühr zur Handlung, betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkühr bestimmen kann, die practische Vernunft selbst. 26 Unter dem Willen kann die Willkühr, aber auch der bloße Wunsch enthal‐ ten seyn, sofern die Vernunft das Begehrungsvermögen überhaupt bestimmen kann; die Willkühr, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt die freye Willkühr. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) be‐ stimmbar ist, würde thierische Willkühr (arbitrium brutum) 27 seyn. Die mensch‐ liche Willkühr ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Ver‐ nunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden. 28 Die Freyheit der Willkühr ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinn liche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. 29 Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst practisch zu seyn. 30 Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer je‐ den Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze. 31 Denn, als reine Vernunft, auf die Willkühr, unangesehen dieser ihres Objects, angewandt, kann sie als Vermögen der Principien (und hier practischer Principien, mithin als gesetzgebendes Vermögen), 32 da ihr die Materie des Geset‐ zes abgeht, nichts mehr als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkühr zum allgemeinen Gesetze selbst, zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde
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Vgl. Baumgarten 1757, 277 f. (§ 712), 280 f. (§ 718). Korrigiert aus: »derselben«. 25 Vgl. Baumgarten 1757, 264 (§ 690). 26 Zu Kants Bestimmung des Willens als praktische Vernunft vgl. GMS. AA IV, 412. 27 Vgl. KrV A 534/B 562, A 802 f./B 830 f. 28 Vgl. KrV A 534/B 562, A 802/B 830. 29 Vgl. KrV A 534/B 562, GMS. AA IV, 446, KpV. AA V, 33. 30 Vgl. GMS. AA IV, 446, KpV. AA V, 33. 31 Dies ist sinngemäß eine Formulierung des kategorischen Imperativs. Dieser wird un‐ ten 225 und 226 explizit in dieser Formulierung angeführt. Vgl. GMS. AA IV, 421, 432, 447, KpV. AA V, 30 f. 32 Zu Kants Bestimmung der Vernunft als gesetzgebendes Vermögen oder Vermögen der Gesetze vgl. KrV A 405, A 299/B 356, KpV. AA V, 119, KU. AA V, 401. 24
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der Willkühr machen, 33 und, da die Maximen des Menschen aus subjectiven Ur‐ sachen mit jenen objectiven nicht von selbst übereinstimmen, dieses Gesetz nur schlechthin als Imperativ des Verbots oder Gebots vorschreiben. Diese Gesetze der Freyheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen, mo‐ ralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen seyn sollen, so sind sie ethisch, und als‐ dann sagt man: die Uebereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit den zweyten die Moralität der Handlung. 34 Die Freyheit, auf die sich die erstern Gesetze beziehen, kann nur die Freyheit im äuße ren Gebrauche, diejenige aber, auf die sich die letztere beziehen, die Freyheit sowohl im äußern als innern Ge‐ brauche der Willkühr seyn, sofern sie durch Vernunftgesetze bestimmt wird. So sagt man in der theoretischen Philosophie: im Raume sind nur die Gegenstände äußerer Sinne, in der Zeit aber alle, sowohl die Gegenstände äußerer, als des in‐ neren Sinnes; weil die Vorstellungen beyder doch Vorstellungen sind, und sofern insgesammt zum inneren Sinne gehören. 35 Eben so, mag die Freyheit im äußeren oder inneren Gebrauche der Willkühr betrachtet werden, so müssen doch ihre Gesetze, als reine practische Vernunftgesetze für die freye Willkühr überhaupt, zugleich innere Bestimmungsgründe derselben seyn: obgleich sie nicht immer in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen. [. . . ] IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten. (Philosophia practica universalis.)
Der Begriff der Freyheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transcendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemesse‐ nes Beyspiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, 36 wel‐ cher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntniß aus‐ macht, und schlechterdings nicht für ein constitutives, sondern lediglich als re‐ gulatives und zwar nur bloß negatives Princip der speculativen Vernunft gelten kann, 37 im practischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch practische Grundsätze beweiset, 38 die, als Gesetze, eine Caussalität der reinen Vernunft, un‐ abhängig von allen empirischen Bedingungen, (dem Sinnlichen überhaupt) die
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Vgl. GMS. AA IV, 441, 444, KpV. AA V, 74. Zur Unterscheidung von Legalität und Moralität vgl. KpV. AA V, 71, 151. Vgl. KrV A 34/B 50. Vgl. KrV A 798 f./B 826 f. Vgl. KrV A 642–668/B 670–696, A 674/B 702. KpV. AA V, 48, KU. AA V, 468.
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Willkühr zu bestimmen und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben. 39 Auf diesem (in practischer Rücksicht) positiven Begriffe der Freyheit gründen sich unbedingte practische Gesetze, welche moralisch heißen, die in Ansehung Unser, deren Willkühr sinnlich afficirt und so dem reinen Willen nicht von selbst angemessen, sondern oft widerstrebend ist, Imperativen (Gebote oder Verbote) und zwar categorische (unbedingte) Imperativen sind, wodurch sie sich von den technischen (den Kunst-Vorschriften), als die jederzeit nur bedingt gebieten, un‐ terscheiden, nach denen gewisse Handlungen erlaubt oder unerlaubt, d. i. mora‐ lisch möglich oder unmöglich, einige derselben aber, oder ihr Gegentheil mora‐ lisch nothwendig, d. i. verbindlich sind, woraus dann für jene der Begriff einer Pflicht entspringt, deren Befolgung oder Uebertretung zwar auch mit einer Lust oder Unlust von besonderer Art (der eines moralischen Gefühls) verbunden ist, auf welche wir aber [weil sie nicht den Grund der practischen Gesetze, sondern nur die subjective Wirkung im Gemüth bey der Bestimmung unserer Willkühr durch jene betreffen und (ohne jener ihrer Gültigkeit oder Einflusse objectiv, d. i. im Urtheil der Vernunft, etwas hinzuzuthun oder zu benehmen) nach Verschie‐ denheit der Subjecte verschieden seyn kann], in practischen Gesetzen der Ver‐ nunft gar nicht Rücksicht nehmen. Folgende Begriffe sind der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Theilen ge‐ mein. 40 Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freyen Handlung unter einem ca‐ tegorischen Imperativ der Vernunft. Der Imperativ ist eine practische Regel, wodurch die an sich zufällige Hand‐ lung nothwendig gemacht wird. 41 Er unterscheidet sich darin von einem prac‐ tischen Gesetze, daß dieses zwar die Nothwendigkeit einer Handlung vorstel‐ lig macht, aber ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob diese an sich schon dem handelnden Subjecte (etwa einem heiligen Wesen) innerlich nothwendig bey‐ wohne, oder (wie dem Menschen) zufällig sey; denn, wo das erstere ist, da findet kein Imperativ statt. Also ist der Imperativ eine Regel, deren Vorstel‐ lung die subjectiv-zufällige Handlung nothwendig macht, mithin das Subject, als ein solches, was zur Uebereinstimmung mit dieser Regel genöthigt (neces‐ sitirt) werden muß, vorstellt. – Der categorische (unbedingte) Imperativ 42 ist derjenige, welcher nicht etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines Zwecks, der durch die Handlung erreicht werden könne, sondern der sie durch die blo‐ 39
Vgl. KpV. AA V, 55–57. Die Metaphysik der Sitten wird unterteilt in die Rechtslehre und die Tugendlehre (vgl. MS. AA VI, 205, 218–221). 41 Vgl. GMS. AA IV, 412 f., 440, 444, KpV. AA V, 20, 41. 42 Vgl. GMS. AA IV, 414–416, KpV. AA V, 20. 40
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ße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form), also unmittelbar als ob‐ jectiv-nothwendig denkt und nothwendig macht; dergleichen Imperativen kei‐ ne andere practische Lehre, als allein die, welche Verbindlichkeit vorschreibt (die der Sitten), zum Beyspiele aufstellen kann. Alle andere Imperativen sind technisch und insgesammt bedingt. 43 Der Grund der Möglichkeit categorischer Imperativen liegt aber darin: daß sie sich auf keine andere Bestimmung der Willkühr (wodurch ihr eine Absicht untergelegt werden kann), als lediglich auf die Freyheit derselben beziehen. 44
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Erlaubt ist eine Handlung (licitum), die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist; und diese Freyheit, die durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird, heißt die Befugniß (facultas moralis). Hieraus versteht sich von selbst, was unerlaubt (illicitum) sey. Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerley Pflicht (der Handlung nach) seyn, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können. Der categorische Imperativ, indem er eine Verbindlichkeit in Ansehung gewis‐ ser Handlungen aussagt, ist ein moralisch-practisches Gesetz. Weil aber Ver‐ bindlichkeit nicht bloß practische Nothwendigkeit 45 (dergleichen ein Gesetz überhaupt aussagt), sondern auch Nöthigung enthält, so ist der gedachte Im‐ perativ entweder ein Gebot- oder Verbot-gesetz, nachdem die Begehung oder Unterlassung als Pflicht vorgestellt wird. Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Frey‐ heit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht giebt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis). Man kann fragen: ob es dergleichen gebe, und, wenn es solche giebt, ob dazu, daß es jemanden freystehe, etwas nach seinem Belieben zu thun oder zu lassen, außer dem Gebotgesetze (lex praeceptiva, lex mandati) und dem Verbotgesetze (lex prohibitiva, lex vetiti), noch ein Erlaubnißgesetz (lex permissiva) erforderlich sey. Wenn dieses ist, so würde die Befugniß nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen; denn zu einer sol‐ chen, wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, würde kein besonde‐ res Gesetz erfordert werden. That heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subject in derselben nach der Freyheit seiner Willkühr betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Act als Urheber der 43
Die hier »technisch« (bedingt) genannten Imperative bezeichnet Kant sonst als »hy‐ pothetisch« (vgl. GMS. AA IV, 414–416, KpV. AA V, 20). 44 Vgl. KrV A 802/B 830, GMS. AA IV, 453 f. 45 Vgl. GMS. AA IV, 414, 434.
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Wirkung betrachtet, und diese, zusammt der Handlung selbst, können ihm zu‐ gerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, Kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruhet. Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. 46 Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freyheit ei‐ nes vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen 47 (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseyns bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit ande‐ ren) sich selbst giebt, unterworfen ist. Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein jedes Object der freyen Willkühr, welches selbst der Freyheit ermangelt, heißt daher Sache (res corporalis). Recht oder Unrecht (rectum aut minus rectum) überhaupt ist eine That, sofern sie pflichtmäßig oder pflichtwidrig (factum licitum aut illi|citum) ist; die Pflicht selbst mag, ihrem Inhalte oder ihrem Ursprunge nach, seyn, von welcher Art sie wolle. Eine pflichtwidrige That heißt Uebertretung (reatus). Eine unvorsetzliche Uebertretung, die gleichwohl zugerechnet werden kann, heißt bloße Verschuldung (culpa). Eine vorsetzliche (d. i. diejenige, welche mit dem Bewußtseyn, daß sie Uebertretung sey, verbunden ist) heißt Verbrechen (do‐ lus). Was nach äußeren Gesetzen recht ist, heißt gerecht (iustum), was es nicht ist, ungerecht (iniustum). Ein Widerstreit der Pflichten (collisio officiorum, s[ive]. obligationum) würde das Verhältniß derselben seyn, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Theil) aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Be‐ griffe sind, welche die objective practische Nothwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und zwey einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich nothwen‐ dig seyn können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, son‐ dern sogar pflichtwidrig: so ist eine Collision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur). Es können aber gar wohl zwei Gründe der Verbindlichkeit (rationes obligandi), deren einer aber, oder der ande‐ re, zur Verpflichtung nicht zureichend ist (rationes obligandi non obligantes), in einem Subject und der Regel, die es sich vorschreibt, verbunden seyn, da dann der eine nicht Pflicht ist. – Wenn zwey solcher Gründe einander widerstreiten, so sagt die practische Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit die Ober‐ hand behalte (fortior obligatio vincit), sondern der stärkere Verpflichtungsgrund behält den Platz (fortior obligandi ratio vincit). 46 47
Vgl. RGV. AA VI, 26. Vgl. RGV. AA VI, 27.
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Ueberhaupt heißen die verbindenden Gesetze, für die eine äußere Gesetzge‐ bung möglich ist, äußere Gesetze (leges externae). Unter diesen sind diejenigen, zu denen die Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zwar äußere, aber natürliche Gesetze; diejenigen dagegen, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung gar nicht verbinden (also oh‐ ne die letztere nicht Gesetze seyn würden), heißen positive Gesetze. Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche 48 Gesetze ent‐ hielte; alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugniß, durch seine bloße Willkühr andere zu verbinden) begründete. Der Grundsatz, welcher gewisse Handlungen zur Pflicht macht, ist ein practi‐ sches Gesetz. Die Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjectiven Grün‐ den zum Princip macht, heißt seine Maxime; daher bey einerley Gesetzen doch die Maximen der Handelnden sehr verschieden seyn können. Der categorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sey, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann. – Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjectiven Grundsatze betrachten: ob aber dieser Grundsatz auch objectiv gültig sey, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualificire. Die Einfachheit dieses Gesetzes in Vergleichung mit den großen und mannig‐ faltigen Folgerungen, die daraus gezogen werden können, imgleichen das gebie‐ tende Ansehen, ohne daß es doch sichtbar eine Triebfeder bey sich führt, muß freylich anfänglich befremden. Wenn man aber, in dieser Verwunderung über ein Vermögen unserer Vernunft, durch die bloße Idee der Qualification einer Maxi‐ me zur Allgemeinheit eines practischen Gesetzes die Willkühr zu bestimmen, belehrt wird: daß eben diese practischen Gesetze (die moralischen) eine Eigen‐ schaft der Willkühr zuerst kund machen, auf die keine speculative Vernunft we‐ der aus Gründen a priori, noch durch irgend eine Erfahrung, gerathen hätte, und, wenn sie darauf gerieth, ihre Möglichkeit theoretisch durch nichts darthun könn‐ te, gleichwohl aber jene practischen Gesetze diese Eigenschaft, nämlich die Frey‐ heit, unwidersprechlich darthun; so wird es weniger befremden, diese Gesetze, gleich mathematischen Postulaten, unerweislich und doch apodictisch zu finden, zugleich aber ein ganzes Feld von practischen Erkenntnissen vor sich eröffnet zu sehen, wo die Vernunft mit derselben Idee der Freyheit, ja jeder anderen ihrer Ideen des Uebersinnlichen im Theoretischen alles schlechterdings vor ihr ver‐ schlossen finden muß. Die Uebereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtge‐ setze ist die Gesetzmäßigkeit (legalitas) – die der Maxime der Handlung mit dem 48
Wohl fälschlich für: »positive«.
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Gesetze die Sittlichkeit (moralitas) derselben. 49 Maxime aber ist das subjective Princip zu handeln, was sich das Subject selbst zur Regel macht, (wie es nämlich handeln will). 50 Dagegen ist der Grundsatz der Pflicht das, was ihm die Vernunft schlechthin, mithin objectiv gebietet (wie es handeln soll). 51 Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also: handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualificirt, ist der Moral zuwider. Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkühr die Maximen. Die letztere ist im Men schen eine freye Willkühr; der Wille, der auf nichts Ande‐ res, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frey noch unfrey genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die practische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig ist. Nur die Willkühr also kann frey genannt werden. Die Freyheit der Willkühr aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae), definirt werden; – wie es wohl einige versucht haben, 52 – obzwar die Willkühr als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beyspiele giebt. Denn die Freyheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als ne‐ gative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum handeln genöthigt zu werden. Als Noumen aber, d. i. nach dem Vermögen des Menschen bloß als Intelligenz betrachtet, wie sie in Ansehung der sinnli‐ chen Willkühr nöthigend ist, mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, kön‐ nen wir sie theoretisch gar nicht darstellen. 53 Nur das können wir wohl einse‐ hen: daß, obgleich der Mensch, als Sinnenwesen, der Erfahrung nach ein Ver‐ mögen zeigt dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwider zu wäh‐ len, dadurch doch nicht seine Freyheit als intelligiblen Wesens definirt werden könne; 54 weil Erscheinungen kein übersinnliches Object (dergleichen doch die freye Willkühr ist) verständlich machen können, und daß die Freyheit nim‐ 49
Siehe Anm. 34. Vgl. GMS. AA IV, 400 Anm., KpV. AA V, 19. 51 Vgl. KpV. AA V, 19 f. 52 Als Vertreter einer Freiheit der Indifferenz (libertas indifferentiae) galt besonders Christian August Crusius (1715–1775; vgl. Einleitung 2.4). In der nachkantischen Zeit ten‐ dierte vor allem K. H. Heydenreich (siehe Text 10) in diese Richtung. C. C. E. Schmid hatte aber auch Reinhold verdächtigt, eine indifferentistische Position zu vertreten (vgl. Schmid 1792, 335 (§ 249)), sodass dieser Kants Äußerung an dieser Stelle auf sich beziehen konnte (vgl. Reinhold 1791, 383; Text 18). 53 Zur Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit vgl. GMS. AA IV, 446 f., KpV. AA V, 33, 47 f. 54 Vgl. KrV A 546/B 574, GMS. AA IV, 456–458, KpV. AA V, 100 f. Kants Unterscheidung von sinnlichem und intelligiblem Ich hatte vor allem J. C. Schwab (1794b; Text 15) kritisiert. 50
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mermehr darin gesetzt werden kann, daß das ver nünftige Subject auch ei‐ ne wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann; wenn gleich die Erfahrung oft genug beweist, daß es geschieht; (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können). – Denn ein Anderes ist, einen Satz (der Erfahrung) einräumen, ein Anderes ihn zum Erklärungsprincip (des Begriffs der freyen Willkühr) und allgemeinen Unterscheidungsmerkmal (vom arbitrio bruto s[ive]. servo 55) machen; weil das Erstere nicht behauptet, daß das Merk‐ mal nothwendig zum Begriff gehöre, welches doch zum Zweyten erforderlich ist. – Die Freyheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen. Wie kann nun jenes aus diesem erklärt werden? Es ist eine De‐ finition, die über den practischen Begriff noch die Ausübung desselben, wie sie die Erfahrung lehrt, hinzuthut, eine Bastarderklärung (definitio hybrida), welche den Begriff im falschen Lichte darstellt. Gesetz (ein moralisch practisches) ist ein Satz, der einen categorischen Impera‐ tiv (Gebot) enthält. Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz ist der Gesetz‐ geber (legislator). Er ist Urheber (autor) der Verbindlichkeit nach dem Gesetze, aber nicht immer Urheber des Gesetzes. Im letzteren Fall würde das Gesetz posi‐ tiv (zufällig) und willkührlich seyn. Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft verbindet, kann auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten hat, (mithin dem göttlichen Willen) hervorgehend ausgedrückt werden, welches aber nur die Idee von einem moralischen Wesen bedeutet, dessen Wille für alle Gesetz ist, ohne ihn doch als Urheber desselben zu denken. Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch je‐ mand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird; welches, wenn es zugleich die recht‐ lichen Folgen aus dieser That bey sich führt, eine rechtskräftige (imputatio iudi‐ ciaria, s[ive]. valida), sonst aber nur eine beurtheilende Zurechnung (imputatio diiudicatoria) seyn würde. – Diejenige (physische oder moralische) Person, wel‐ che rechtskräftig zuzurechnen die Befugniß hat, heißt der Richter oder auch der Gerichtshof (iudex s[ive]. forum). Was jemand pflichtmäßig mehr thut, als wozu er nach dem Gesetze gezwun‐ gen werden kann, ist verdienstlich (meritum): was er nur gerade dem letzteren angemessen thut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger thut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum). Der rechtliche Effect einer Verschuldung ist die Strafe (poena): der einer verdienstlichen That Beloh‐ nung (praemium) (vorausgesetzt daß sie, im Gesetz verheißen, die Bewegursa‐ 55
Lat.: »Tierische oder dienende Willkür«, vgl. oben 213 und Anm. 27.
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che war); die Angemessenheit des Verfahrens zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effect. – Die gütige Vergeltung (remuneratio s[ive]. repensio benefica) steht zur That in gar keinem Rechtsverhältniß. Die guten oder schlimmen Folgen einer schuldigen Handlung, – imgleichen die Folgen der Unterlassung einer verdienstlichen, können dem Subject nicht zugerechnet werden (modus imputationis tollens). Die guten Folgen einer verdienstlichen – imgleichen die schlimmen Folgen ei‐ ner unrechtmäßigen Handlung können dem Subject zugerechnet werden (mo‐ dus imputationis ponens). Subjectiv ist der Grad der Zurechnungsfähigkeit (imputabilitas) der Handlun‐ gen nach der Größe der Hindernisse zu schätzen, die dabey haben überwun‐ den werden müssen. – Je größer die Naturhindernisse (der Sinnlichkeit), je kleiner das moralische Hinderniß (der Pflicht), desto mehr wird die gute That zum Verdienst angerechnet. Z. B. wenn ich einen mir ganz fremden Menschen mit meiner beträchtlichen Aufopferung aus großer Noth rette. Dagegen: je kleiner das Naturhinderniß, je größer das Hinderniß aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Uebertretung (als Verschuldung) zugerech‐ net. – Daher der Gemüthszustand, ob das Subject die That im Affect, oder mit ruhiger Ueberlegung verübt habe, in der Zurechnung einen Unterschied macht, der Folgen hat.
18 KARL LEONHARD REINHOLD
(1797)
Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freyheit des Willens 1797 erschien der zweite Teil von Karl Leonhard Reinholds (zu Reinhold vgl. die Einleitung zu Text 14) Auswahl vermischter Schriften. Bemerkenswert daran war vor allem, dass Reinhold darin bekanntgab, er gebe sein System der Elementarphilosophie auf und schließe sich Fichtes Wissenschaftslehre an. Dieser einschneidende Systemwechsel hinderte Reinhold jedoch nicht daran, im selben Band noch einmal für jene Freiheits- und Willenskonzeption einzutreten, die er seit 1792 vertreten und verteidigt hatte (vgl. Texte 14 und 16), in erster Linie gegen C. C. E. Schmid und dessen intelligiblen Fatalismus (vgl. Text 12). Obwohl sowohl Reinhold wie auch Schmid sich mit der kantischen Lehre in Einklang zu befinden glaubten, bestanden schwerwiegende Differenzen in der Frage der Freiheit. Nun waren in Kants »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« von 1797 einige Bemerkungen zu finden, die als Entscheidung in der Debatte zwischen Schmid und Reinhold verstanden werden konnten (vgl. Text 17). Obwohl Kant sich nicht explizit auf Reinhold bezog, war der Sache nach doch klar, dass er sich gegen dessen Position aussprach, denn Kant hielt ausdrücklich fest, dass die freie Willkür nicht als »Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln« (MS. AA VI, 226; Text 17) verstanden werden dürfe. Dies war aber Reinholds Position und daher galt es für ihn nun, in dem hier abgedruckten Text aus dem zweiten Band der Auswahl vermischter Schriften (364–400) seine Freiheitslehre gegen Kant selbst zu verteidigen. Reinhold gibt zunächst seinem Unverständnis für die von Kant vorgeschlagenen Erklärungen zu den zentralen Begriffen – Begehren, Wille, Willkür, praktische Vernunft – Ausdruck, zumal diese von früheren Erklärungen, vor allem in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, abwichen. Dabei handelt es sich nicht um einen rein terminologischen Punkt, hängt doch vom Verständnis dieser Begriffe die Einteilung und das gegenseitige Verhältnis der involvierten Vermögen sowie die Verortung der Freiheit ab. Wenn Kant nun eine Unterscheidung zwischen Willkür und Wille macht und nur die Erstere als frei betrachtet und den Letzteren mit der praktischen Vernunft identifiziert, muss er damit, wie Reinhold nahelegt, konsequenterweise einen intelligiblen Fatalismus vertreten. Daher überrascht es nicht, dass Reinhold gegen Kant nun ähnliche Vorbehalte anbringt, wie er sie zuvor schon gegen Schmid gerichtet hatte: Wenn der Wille in nichts weiter als dem praktischen Vernunftgesetz besteht, ist nicht nachvollziehbar, dass unter dem moralischen Sollen etwas anderes als ein gesetzmäßiges Müssen zu verstehen
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Teil IV · Freiheit und Willkür
ist. Außerdem habe die Kant-Schmid’sche Position die unerwünschte Konsequenz, dass durch den Willen nur moralisch gute (dem Sittengesetz entsprechende), nicht jedoch moralisch schlechte (dem Sittengesetz zuwiderlaufende) Handlungen möglich sind. Dadurch würde letztlich den Begriffen der moralischen Zurechnung, der Schuld, des Verdienstes und der Moralität überhaupt die Grundlage entzogen. Reinhold stellt weiter die Frage, was denn unter dem moralischen Subjekt zu verstehen sei: die Person, die über Begehren, praktische Vernunft und freien Willen verfügt, oder das intelligible Ich, d. h. die praktische Vernunft. Darüber hinaus verwahrt sich Reinhold gegen Kants Vorwurf, er würde mit dem Vermögen, sich frei für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden, einen empirischen, phänomenalen Sachverhalt in Anspruch nehmen und auf dessen Grundlage die absolute, transzendentale Freiheit erklären wollen. Mit Kants Äußerungen in der Metaphysik der Sitten und Reinholds Replik in der Auswahl vermischter Schriften liegt der Bruch zwischen beiden in der Frage der Freiheit offen zutage und es stehen sich zwei anscheinend unvereinbare Konzeptionen gegenüber, die beide auf dem Boden der kritischen Philosophie zu gründen beanspruchen. Schelling wird noch im selben Jahr den Versuch unternehmen, beide Positionen in Einklang zu bringen, indem er sie dahingehend interpretiert, dass sie je einen relevanten Aspekt der Freiheitsfrage einseitig in den Vordergrund stellen (vgl. Text 19). Weiterführende Literatur: Stolzenberg 2004b, Zöller 2006, Noller 22016, 272–291, Noller 2018b und die Einleitung zu RGS 5/2, LXIV–LXX. Der hier abgedruckte Text ist mit ausführlichem Kommentar in RGS 5/2 enthalten. ♦ 364
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Wer durch die Reflexion über das moralische Selbstbewußtseyn (das Gewissen) sich überzeugt hält, daß die Moralität und die Zurechnungsfähigkeit der Hand‐ lungen zur Schuld und zum Verdienst nur Eines und Ebendasselbe sind; und daß sich diese Zurechnungsfähigkeit nur unter der Voraussetzung einer sowohl von der Selbstthätigkeit der Vernunft als von dem Streben der Begierde verschiede‐ nen Freyheit des Willens denken lasse; 56 – Wer sich durch die Begriffe von Dürfen und Sollen im Gegensatz mit Können und Müssen, von Recht und Unrecht im Ge‐ gensatz mit Glück und Unglück, von Moralität (dem Sittlichguten) und Immora‐ lität (dem Sittlichbösen) im Gegensatz mit Nichtmoralität (dem Nichtsittlichen) eine solche Freyheit anzunehmen genöthiget glaubt; – Wer endlich diese und kei‐ ne andere Freyheit durch die Lehren: daß der Grund des Moralischbösen »nicht in die Sinnlichkeit des Menschen und in die daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden könne, weil diese uns nicht zu Urhebern haben« 57 – 56 57
Vgl. Reinhold 1792, 281 (Text 14), Reinhold 1793, 352 (Text 16). Vgl. RGV. AA VI, 34 f.
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»daß der Hang zu jenem Bösen als uns durch uns selbst zugezogen und als selbst‐ verschuldet zugerechnet werden müsse« 58 – »daß die Beschaffenheit des Mora‐ lischbösen in einem wirklichen Widerstreit der freyen Willkühr, deren Begriff nicht empirisch ist, gegen das moralische Gesetz bestehe, und aus dem Begriffe des Bösen a priori, soferne es nach Gesetzen der Freyheit und der Zurechnungsfä‐ higkeit möglich ist, abzuleiten sey,« 59 (S. die Religion innerhalb der Gränzen der bloßen Vernunft aufgestellt von I. Kant) wirklich behauptet fand, – der dürfte sich wohl mit mir in demselben Falle befinden, die in der Einleitung zu den soeben er‐ schienenen Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre vorkommenden Er‐ örterungen über Begehrungsvermögen, Willen, Willkühr und Freyheit 60 entweder unverständlich, oder unhaltbar zu finden. Es ist sehr möglich, daß der Grund, warum ich einen mir sonst sehr verständlichen Lehrer diesesmal nicht verstehe – wenn ich ihn nicht verstehe – in mir selbst liegt. Allein es ist nicht weniger mög‐ lich, daß dieses bey vielen seiner und meiner Leser statt finde. Die gegenwärtige Bekanntmachung unsrer Verlegenheit dürfte die jenigen, die Ihn besser verstan‐ den haben, veranlassen, uns eines Besseren zu belehren. So viel ist gewiß, daß das Wort Wille für mich eine völlig andere Bedeutung hat, als welche demselben in der erwähnten Einleitung beygelegt wird. 61 In so‐ ferne kann zwischen uns nur der Sprachgebrauch entscheiden, und zwar eben so wenig der partikuläre irgend einer philosophischen Sekte, als der vulgäre, son‐ dern der gemeine, der über die Gedankenlosigkeit des Pöbels, und die Streitigkei‐ ten der Philosophen erhaben ist, und dem sich der Philosoph fügen muß, wenn er verständlich seyn will. S. XXVI der Einleitung heißt es: »Von dem Willen gehen die Gesetze aus, von der Willkühr die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freye Willkühr; der Wille, der auf nichts anderes als bloß auf Gesetz geht, kann weder frey noch unfrey genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (als die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig, und selbst keiner Nöthi‐ gung fähig ist. Nur die Willkühr kann also frey genannt werden.« 62 Nach meinen Begriffen von Vernunft und Willen gehen die Gesetze überhaupt nur von der Ver‐ nunft, und geht das moralische Gesetz von der Vernunft in ihrem Verhältnisse zum Willen, der nicht Vernunft ist, die Maximen aber von dem Willen in seinem Ver‐ hältnisse zur Vernunft aus. Jenes Gesetz ist die Forderung der bloßen Vernunft an 58
Vgl. RGV. AA VI, 29 und 32. Vgl. RGV. AA VI, 35. 60 Vgl. MS. AA VI, 211–228 (Text 17). 61 Vgl. MS. AA VI, 213 (V) (Text 17): »Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Be‐ stimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille.« 62 Vgl. MS. AA VI, 226 (XXVI) (Text 17). 59
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den Willen; die Maximen sind durch den Willen angenommene Maaßregeln, die entweder mit der Forderung der Vernunft übereinstimmen oder derselben wider‐ sprechen. Sowohl das Gesetz als die Maximen setzen im Willen selbst Willkühr voraus. Eigentliche Willkühr ist, wie schon ihr Name andeutet, nur in einem Wil‐ len denkbar. Das Arbitrium brutum 63 ist uneigentliche, tropisch sogenannte, Will‐ kühr, die den in Vorstellungen gegründeten Handlungen der Thiere nur in soferne beygelegt wird, als sich dabey ein Analogon des Willens äussert. Die menschliche Willkühr ist das dem Willen eigenthümliche Vermögen zu wählen (zu kühren), 64 welches sowohl von dem Vermögen zu wählen überhaupt, als insbesondere von dem der Vernunft eigenthümlichen Vermögen zu wählen, unterschieden werden muß. So wie keine Willkühr ohne Willen, so ist kein menschlicher Wille ohne Willkühr denkbar. Ohne sie würde sich im Menschen nur ein zwar durch Rai‐ sonnement (theoretische Vernunft) modificirtes, aber doch nur bloßes Begehren, kein Wollen, keine freye Selbstbestimmung in Rücksicht auf ein Begehren denken lassen. Sie findet im göttlichen Willen nur darum nicht statt, weil sich derselbe als kein Selbstbestimmen in Rücksicht auf ein Begehren, sondern nur als absolute Selbstthätigkeit und also nur als ein Analogon der menschlichen Freyheit denken läßt. Ich kann mir daher bey einem Willen, von dem das Gesetz ausgeht, und der auf nichts als aufs Gesetz geht, nichts als eine metaphorische Bezeichnung der reinen Vernunft als der Quelle der Gesetze denken. Der eigentliche Wille, der menschliche, geht nur dann und nur in soferne auf das Gesetz, wenn und in wie‐ ferne er (um mit Kant zu sprechen) dasselbe in seine Maxime aufnimmt. 65 Dieses kann er aber nur in soferne, in wieferne das Gesetz keineswegs an und für sich seine Maxime ist, folglich in wieferne es nicht von ihm ausgeht; 66 er selbst eben sowohl darauf gehen als auch nicht darauf gehen kann; in wieferne er Willkühr hat, und in derselben und durch dieselbe frey ist. Er hört nicht auf Wille zu seyn, wenn er nicht aufs Gesetz geht; sondern beweiset sich eben auch dadurch als Wille. Was wäre denn also die eigentliche Bedeutung des Wortes: Wille? (S. V. heißt es:) »Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjektes angetroffen wird, heißt der Wil‐ le. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl, wie die Willkühr, in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Will‐ kühr zur Handlung, betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestim‐ mungsgrund, sondern ist, soferne er die Willkühr bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.« 67 – Ich gestehe, daß ich den Willen weder für ein Begehrungs‐ 63 64 65 66 67
Lat.: »Tierische Willkür«; vgl. MS. AA VI, 213 (V) (Text 17). Vgl. KrV A 802/B 830, GMS. AA IV, 412. Vgl. RGV. AA VI, 23 f. Vgl. MS. AA VI, 226 (XXVI f.) (Text 17). Vgl. MS. AA VI, 213 (V) (Text 17).
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vermögen, noch auch für praktische Vernunft gelten lassen kann. Nicht für ein Begehrungsvermögen: denn sowohl durch den bestimmten Sprachgebrauch als durch Reflexion über das Selbstbewußtseyn wird das eigentliche Wollen, als das sich entschließen, von dem bloßen Begehren, das mit oder ohne Entschluß statt findet, unterschieden. Begehren ist ein durch Lust und Unlust (von was immer für einer Art) begründetes Streben – welches nothwendig im Subjekte wirkt – Wol‐ len ist Selbstbestimmung durch Freyheit, wobey das Subjekt selbst wirkt. Aber freylich ist kein Wollen ohne Begehren möglich – denn Wollen ist Selbstbestim‐ mung der Person zur Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines Begehrens, 68 und der Wille kann nichts beschließen, wenn nicht durch das Begehrungsvermögen Veranlassung und Stoff dazu gegeben ist. In der einmal beliebten Eintheilung der Vermögen des Gemüthes wird der Wille zum Begehrungsvermögen, wie die Denk‐ kraft zum Erkenntnißvermögen gezählt; und das mögen sie auch, vorausgesetzt: daß man den wesentlichen Unterschied zwischen Wollen und Begehren, – Denken und Erkennen, ohne welchen man auch ihren Zusammenhang nimmermehr zu kennen vermag, nicht aus dem Auge verliere. Wenn der gemeine Sprachgebrauch nicht nur neugebornen Kindern, Wahnsinnigen, Betrunkenen, nicht nur den ihre Begierden äussernden Thieren, sondern auch leblosen Din gen, durch die etwas zu geschehen im Begriffe ist, ein Wollen beylegt; so thut er dieses nur in einem tropischen, metaphorischen Sinne, den nur der vulgäre Sprachgebrauch nicht von dem eigentlichen zu unterscheiden vermag. Der philosophische Sprachgebrauch, wenn er nicht in einen Partikulären ausarten will, muß sich freylich an den gemei‐ nen anschließen; aber er wählt immer die eigentliche und zwar die engste Bedeu‐ tung, die auch seinen genauer bestimmten Begriffen allein entsprechen kann. – Fast noch mehr scheint sich Sprachgebrauch und Selbstbewußtseyn dagegen zu erklären, daß der Wille in irgend einem Sinne praktische Vernunft seyn könne. Er ist kein Wille, wenn er nicht guter und nicht böser Wille seyn kann. Die Prakti‐ sche Vernunft kann keines von beyden seyn. Es ist eine und dieselbe Vernunft, die in ihrem Verhältnisse zum Erkennen und durch dasselbe auch zum bloßen Begeh‐ ren die theoretische, in ihrem Ver hältnisse zum Wollen aber die praktische heißt. Die Angemessenheit des Wollens (durch die bloße Freyheit desselben) zur prak‐ tischen Vernunft ist das gute Wollen – so wie die Angemessenheit des Begehrens zur theoretischen Vernunft das vernünftige Begehren ist. Die Praktische Vernunft als praktisch beym Wollen – d. h. als Gesetzgebend für die Freyheit des Willens – wird vom guten und vom bösen Willen gemeinschaftlich vorausgesetzt, und kann daher kein Wille selbst seyn. Wäre die praktische Vernunft der Wille, 69 so müßte entweder der sittlichböse Mensch gar keinen Willen haben, oder seine Praktische Vernunft das Böse thun, und der Sittlichgute könnte nichts wollen als das Gesetz. 68 69
Vgl. Reinhold 1792, 283, 271 f., 293, 306 (Text 14), Reinhold 1793, 393 (Text 16). Vgl. GMS. AA IV, 412 und Reinhold 1792, 70, 293 (Text 14).
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Der Wille, als Praktische Vernunft, kann nichts als das Gesetz und zwar kann er 70 es nur in der Eigenschaft eines bloßen Gesetzgebers beschließen. – Er kann es nicht befolgen, nicht in der Anwendung geltend machen. »Dafür,« wird man sagen, »wäre die Willkühr da, die Kant von dem Willen unter scheidet, und als frey erkennt.« 71 Wir wollen sehen, was diese Willkühr kann oder nicht kann. Seite V. und VI. heißt es von derselben: »Die Freyheit der Willkühr ist die Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dieß ist der negati‐ ve Begriff derselben. Der Positive ist das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu seyn.« 72 Also auch die Willkühr, die keineswegs das Gesetz giebt, sondern dasselbe befolgen soll, und nur in wieferne sie frey ist befolgen kann, wäre nur in soferne frey, als sie nicht Willkühr, sondern auch wieder – wie der Wille – die Praktische Vernunft selbst wäre! Die reine Vernunft gäbe das Gesetz, und hieße Wille; sie gäbe es aber nur sich selbst und befolgte es auch nur selbst, und hieße freye Willkühr! Beydes wäre Ein und derselbe Akt der bloßen Vernunft, 73 der nicht einmal in der bloßen Reflexion durch irgend ein denkbares Merkmal, sondern durch bloße Worte unterschieden wäre! Die Willkühr würde durch das, was sie frey machen soll, schlechterdings aufgehoben. Sie wäre nur negativ frey, in wieferne sie durch sinnlichen Antrieb nicht bestimmt würde, und sie würde erst dadurch positiv frey, daß es ihr schlechterdings unmöglich wäre sich durch sinnlichen Antrieb bestimmen zu lassen, daß ihr das, was sie thut, oder vielmehr, was die Vernunft an ihrer Stelle thut, zum einzigmöglichen wür‐ de, daß sie nicht lassen könnte, was sie thut, daß sie aufhörte Willkühr zu seyn. Und doch soll die Willkühr etwas vom Willen Verschiedenes seyn, weil von ihr die Maximen, von ihm die Gesetze ausgehen? Allein wenn die Willkühr keine andere Selbstthätigkeit hat, als die der Praktischen Vernunft, so sind ja die Ma‐ ximen, die von ihr ausgehen, nichts als Gesetze? Sie kann das Gesetz weder in ihre Maxime aufnehmen noch dasselbe davon ausschließen: denn sie hat keine Maxime, die nicht das Gesetz selbst wäre. Daher ist auch der sogenannte catego‐ rische Imperativ (das Sollen) schlechterdings unmöglich, der sich nur unter der Voraussetzung denken läßt, daß die Maximen des Willens nicht nothwendig mit dem Gesetze übereinstimmen. Ist diese Uebereinstimmung nur dadurch möglich, daß die durch sich selbst praktische Vernunft sowohl das Gesetz als die Maxime aufstellt: so ist dieselbe, wo sie statt findet, schlechthin nothwendig, und wo sie nicht statt findet, unmöglich. Das Gesetz, das durch Vernunft gegeben und befolgt wird, ist ein bloßes Naturgesetz und durchaus nicht das Moralische. Es ist nur ge‐ geben, wenn es befolgt wird; wird dadurch befolgt, daß es gegeben ist, und wenn
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Korrigiert aus: »er kann«. Zu dieser Unterscheidung vgl. MS. AA VI, 213 (V), 226 (XXVI f.) (Text 17). Vgl. MS. AA VI, 213 f. (V f.) (Text 17). Vgl. GMS. AA IV, 432, KpV. AA V, 75.
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und in wieferne es gegeben ist, wird es unvermeidlich befolgt. Es gilt nur für die Fälle, bey welchen es befolgt wird, und kann daher nie übertreten werden. Seine Nichtbefolgung kann keine Uebertretung seyn. Aber sie ist eine nothwendige Folge des Umstandes, daß die menschliche Willkühr in gewissen Fällen keine negative Freyheit, keine Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben hat – keine menschliche Willkühr ist, und daß die positive Frey heit in diesen Fällen nicht wirksam, die praktische Vernunft nicht praktisch ist. »Die Willkühr,« heißt es S. V. »welche durch Neigung (sinnlichen Antrieb, sti‐ mulus) bestimmbar ist, würde die thierische Willkühr (arbitrium brutum) seyn. Die menschliche Willkühr ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar afficirt, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich ohne erworbene Fertig‐ keit der Vernunft nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Wil‐ len bestimmt werden.« 74 Die Handlung, bey welcher die menschliche Willkühr zwar durch Antriebe afficirt, aber nur durch praktische Vernunft bestimmt wird, wäre sonach die Moralischgute; diejenige hingegen bey welcher die menschliche Willkühr durch Antriebe nicht nur afficirt, sondern auch bestimmt würde, wä‐ re die Moralischböse? Nein! denn die Willkühr, welche durch sinnlichen Antrieb bestimmbar ist, ist die thierische; die menschliche wird dadurch nur 75 afficirt, nicht bestimmt. Der menschlichen Willkühr als solcher sind nur moralischgu‐ te, keine moralischbösen Handlungen möglich; und da die thierische Willkühr nur nichtmoralische Handlungen zuläßt: so sind die Moralischbösen überhaupt unmöglich! Nichts destoweniger wird behauptet, daß die menschliche Willkühr an und für sich und ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft nicht rein seye. Was heißt hier nicht rein? oder vielmehr: was heißt hier rein seyn? nichts empirisches enthalten, nicht afficirt seyn? muß sie in diesem Sinne als menschliche Willkühr nicht immer nichtrein bleiben? und warum sollte sie es auch nicht, wenn sie nur nicht durch sinnliche Antriebe bestimmt wird? und dagegen wäre ja! durch die das Gesetz gebende und ausführende Vernunft gesorgt! Und wie soll sie durch erworbene Fertigkeit der Vernunft rein werden? Kann es die Vernunft dahin brin‐ gen, daß die menschliche Willkühr das Afficirtwerden entbehren könne? Wird die Willkühr nur dann erst durch Ver nunft bestimmt, wenn sie nicht mehr durch sinnliche Antriebe afficirt wird? Was sind das für Handlungen, welche die Will‐ kühr in der Zwischenzeit ihrer Unreinheit und bis zur erworbenen Fertigkeit der Vernunft vornimmt? sind diese Handlungen durch Antriebe bestimmt, so gehören sie nicht der menschlichen Willkühr an – sind sie durch praktische Vernunft be‐ stimmt, so gehören sie dem reinen Willen und der reinen Willkühr an? Kann die praktische Vernunft eine Fertigkeit erwerben? Ist sie nicht absolutes Vermögen? Kann eine Fertigkeit, welche moralisch (Tugend) seyn soll, durch eine Uebung, 74 75
Vgl. MS. AA VI, 213 (V) (Text 17). Korrigiert aus: »nur dadurch«.
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die nicht schon moralisch ist, angenommen werden? – Ich gestehe, daß ich al‐ le diese Fragen durch die kantischen Begriffe von Willen und Willkühr eben so wenig abzuweisen als zu beantworten vermag. Aber freylich kann ich mir auch keine eigentliche Willkühr denken, die durch etwas anderes als durch ihre eigene Freyheit bestimmt – keine, die afficirt werden könnte. Das Sub jekt der Willkühr muß afficirt werden können und sogar wirklich afficirt seyn – aber es muß auf das Subjekt ankommen: ob es sich durch das Afficirtseyn, oder durch die prak‐ tische Vernunft bestimmen lasse, oder eigentlicher, selbst bestimme; und nur in soferne hat es Willkühr, und kann durch dieselbe das Gesetz beobachten und übertreten. Nicht die durch sinnlichen Antrieb überhaupt – sondern die lediglich durch sinnlichen Antrieb bestimmbare, und eben dadurch auf ein Einzigmögli‐ ches beschränkte, eben darum nur uneigentliche, nur tropisch, sogenannte Will‐ kühr – die vernunftlose, ist die thierische. Die menschliche ist zwar durch sinnli‐ chen Antrieb, aber nicht einzig dadurch; sie ist auch durch praktische Vernunft bestimmbar; sie ist nie vernunftlos, und kann nie vernunftlos, aber sie kann ver‐ nunftmäßig und vernunftwidrig handeln, weil sie sich sowohl durch Antrieb als durch Vernunft bestimmen kann. Sie kann beydes; weil sie Eines von bey den nur durch sich selbst kann. Das moralischgut Handelnde in ihr ist nicht die Ver‐ nunft, sondern sie selbst durch Vernunft – das moralischböse Handelnde in ihr ist nicht der sinnliche Antrieb, sondern sie selbst durch denselben. Die Vernunft ist durch sich selbst praktisch, in wieferne sie unabhängig vom sinnlichen Antrieb ein Gesetz vorschreibt, das nur durch die von ihr und vom sinnlichen Antrieb unabhängige Willkühr befolgt werden kann; sie ist praktisch, nicht in wieferne sie selbst thut, was sie gebietet, sondern in wieferne ihr Gebot der einzige Grund des Thuns und Lassens der Freyheit seyn soll; sie ist praktisch in wieferne sie le‐ diglich durch sich selbst dem Willen vorschreibt die Vernünftigkeit zum Bestim‐ mungsgrund anzunehmen. Dieses ist ihre ganze Praxis – welche sie auch bey der moralischbösen Handlung ausübt, die ohne jene Praxis nur eine nichtmoralische Handlung wäre. Die Vorschriften der Vernunft gelten auch für das bloße Begehren (es giebt durch Vernunft modificirte Begierden), aber sie sind fürs Begehren nur dadurch Gesetze, daß Lust und Unlust auf die Seite der Vorschriften tritt, und ihnen die Sanktion der Gesetze giebt. Daher sind jene Vorschriften an sich bloß theoretisch. Ist die Willkühr nichts als Begierde und das ist sie, wenn sie nicht unabhängig von der Vernunft frey ist, so giebt es auch keine praktische Vernunft beym Wollen. »Die Freyheit der Willkühr,« heißt es S. XVII. »kann nicht durch das Vermögen der Wahl für oder wider das Gesetz zu handeln (Libertas indifferentiae) definirt werden, wie es wohl Einige versucht haben; ob zwar die Willkühr als Phäno‐ men davon in der Erfahrung häufige Beyspiele giebt.« 76 Ob dadurch, daß ich die 76
Vgl. MS. AA VI, 226 (XVII) (Text 17).
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Freyheit, die zu den moralischguten und moralischbösen Handlungen vorausge‐ setzt wird, von der praktischen Vernunft sowohl als vom Begehren unterscheide, und sie daher das Vermögen des Willens seinem Gesetze gemäß und zuwider zu handeln, das Vermögen entweder Lust und Unlust oder das Gesetz zum Be‐ stimmungsgrund des Entschlusses zu wählen, nenne, die Freyheit definirt, oder nur exponirt, oder explicirt sey oder nicht? ob sich die Freyheit des Willens de‐ finiren lasse, oder wie sie zu definiren sey, und ob die Phänomene oder nur das Selbstbewußtseyn eine solche Freyheit bezeugen können, mag immer bey dieser Untersuchung dahin gestellt bleiben. Die Frage ist: Ob uns durch das moralische Gesetz, so wie wir dasselbe durch ein unmittelbares Bewußtseyn, als Faktum des Gewissens, 77 kennen, die Freyheit als ein bloßes Vermögen der Vernunft angekün‐ diget werde oder nicht? Ob durch das moralische Gesetz lediglich demselben an‐ gemessene Moralischgute oder auch demselben widersprechende, Moralischböse Handlungen denkbar sind, und denkbar seyn müssen oder nicht? Ob eine bloße Funktion der Vernunft eine moralischgute Handlung seyn, und der lediglich durch sich selbst Praktischen Vernunft etwas zum Verdienst zugerechnet werden könne? Ob die Begierde, welche das Gesetz nie befolgen kann, dasselbe übertreten? Ob dieselbe moralischböse handeln; ob ihr irgend etwas zur Schuld zugerechnet wer‐ den könne? Ob die Freyheit, welche das Wesen unsrer Persönlichkeit ausmacht, nichts weiter als eine bloße Elasticität des Ichs sey, durch welche bey gewis‐ sen (den sogenannten moralischguten) Handlungen das Nichtich zurückgedrängt wird, wenn und in wieferne dasselbe nicht stark genug ist, den Gegendruck des Ichs niederzuhalten; die aber bey den nichtmoralischen Handlungen (die mit den sogenannten moralischbösen völlig einerley wären) nicht ausschnellen kann, weil die Fertigkeit dazu nicht erworben ist, oder vielmehr, weil der Eindruck des Nicht‐ ichs überwältigend ist? – Ob uns das Gewissen täusche, indem es den Werth und den Unwerth unsrer Willenshandlungen nicht in der Vernunft, sondern in dem Gebrauch und dem Mißbrauch aufsucht, den nicht die Vernunft für sich und von sich, sondern wir Selbst von der Vernunft machen? Ob uns das Gewissen entwe‐ der in dem Bewußtseyn der absoluten Nothwendigkeit des moralischen Gesetzes, oder in dem Bewußtseyn der Möglichkeit dasselbe zu übertreten, täusche? Ob jene Nothwendigkeit, und die ihr entgegengesetzte Möglichkeit sich nicht gerade wi‐ dersprechen, wenn nicht nur das Gesetz an sich selbst durch Vernunft nothwen‐ dig, sondern auch die Befolgung desselben durch Vernunft einzig möglich ist? Ob uns das Gewissen durch das Bewußtseyn täusche, daß wir weder Vernunft, noch Sinnlichkeit, noch eine Zusammensetzung dieser (ohne Dazwischenkunft eines
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Das Faktum des Gewissens bzw. des Bewusstseins des freien Willens rangiert bei Reinhold unter den »Tatsachen des Bewusstseins«, vgl. Reinhold 1792, 279 f., 283 f. (Text 14), Reinhold 1793, 354 (Text 16). Damit knüpft er an Kants These vom Bewusstsein des Sittengesetzes als »Faktum der Vernunft« an (vgl. KpV. AA V, 31, 42, 47, 55).
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Dritten unverträglicher) Vermögen sind, sondern daß wir Vernunft und Sinnlich‐ keit haben, negativ frey sind in wieferne diese beyden Elemente unter sich selbst im ewigen Widerstreit sind, – positiv frey in wieferne wir bey diesem Widerstreit den Ausschlag geben können? Ob uns das Gewissen täusche, da es uns durch das moralische Gesetz nichts anderes ankündigt, als daß wir diesen Ausschlag lediglich zum Vortheil der bloßen Vernunft geben sollen, und daß wir denselben daher sowohl zum Vortheil als zum Nachtheil der Vernunft geben können? Diese Fragen kann ich mir aus der kantischen Theorie der Freyheit entweder gar nicht, oder nur nach den Principien des intelligiblen Fatalismus beantworten. 78 »Die Freyheit, so wie sie uns durch das moralische Gesetz allererst kundbar wird, kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnli‐ chen Bestimmungsgründe zum Handeln genöthiget zu werden. Als Noumen aber, d. i. nach dem Vermögen des Menschen bloß als Intelligenz betrachtet, wie sie in Ansehung der sinnlichen Willkühr nöthigend ist, können wir sie theoretisch gar nicht darstellen.« 79 Das hier als negative Eigenschaft behauptete Vermögen durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe genöthiget zu werden, könnte wohl an sich einen doppelten Sinn zulassen. Es könnte dadurch Erstens das von der Vernunft verschiedene Vermögen des Entschlusses weder durch Sinnlichkeit noch auch durch Vernunft genöthigt zu werden – Zweytens das Vermögen der Vernunft selbst in seiner Unabhängigkeit von der Sinnlichkeit angedeutet seyn. Daß hier nur die Zweyte Bedeutung gebraucht werde, ist aus der schon angeführten Be‐ hauptung klar: »Die Freyheit der Willkühr ist die Unabhängigkeit ihrer Bestim‐ mung durch sinnliche Antriebe, dieß ist der negative Begriff derselben; der Posi‐ tive ist das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu seyn.« 80 Daß hier nicht von der bloßen Gesetzgebung (bey welcher freylich die Vernunft vom sinnlichen Antrieb unabhängig und für sich selbst praktisch ist) sondern von dem Befolgen des Gesetzes die Rede sey, ist dadurch einleuchtend, daß die Gesetzge‐ bung der Vernunft nur als dem Willen von dem das Gesetz ausgeht, und der auf nichts als aufs Gesetz geht, zugeschrieben ist, der weder frey noch unfrey seyn soll; daß nur der Willkühr Freyheit eingeräumt, diese Freyheit aber selbst wieder nach dem positiven Begriffe nur als das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu seyn, gedacht wird. Es wäre also in der That nur eine Funkti‐ on der reinen Vernunft, die den Akt der freyen Willkühr ausmachte; die Willkühr wäre nur frey in wieferne sie vom sinnlichen Antrieb unabhängig ist, und sie wä‐ re nur in soferne von diesem Antrieb unabhängig als sie Akt der bloßen Vernunft ist. – Die durch Vernunft bestimmte Nothwendigkeit hieße das Gesetz, die durch 78
Der intelligible Fatalismus wurde von C. C. E. Schmid vertreten (vgl. Schmid 1790, 211 (§ 257) (Text 12)) und von Reinhold (vgl. Reinhold 1793 (Text 16)) wie auch von J. C. Schwab (vgl. Schwab 1794b (Text 15)) angegriffen. 79 Vgl. MS. AA VI, 226 (XXVII) (Text 17). 80 Vgl. MS. AA VI, 213 f. (VI f.) (Text 17).
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Vernunft bestimmte Nöthigung der sogenannten sinnlichen Willkühr die (freye) Erfüllung des Gesetzes; das Eine nichts als Vernunft, die da Willen, das Andere nichts als Vernunft, die da Willkühr genannt wird – dieselbe Vernunft, die thut, was sie nicht lassen kann, aber eben darum auch lassen muß, was sie nicht thun kann, und doch absolutes Vermögen ist! Und was wäre diese Theorie anderes als eine theoretische Darstellung der bloßen Selbstthätigkeit der bloßen Vernunft? was an der sogenannten Freyheit unbegreifliches. Die unbegreifliche Freyheit ist nicht diejenige Selbstthätigkeit, die im Begriffe des praktischen Gesetzes als blo‐ ßen Gesetzes, wobey vom Willen abstrahirt wird, enthalten ist und durch Zer‐ gliederung desselben herausgebracht wird – sondern diejenige, die uns durch das Gesetz angekündigt und die durch den Begriff des Gesetzes als des Moralischen vorausgesetzt wird, die sich nur zum Behuf des Gesetzes annehmen, sich aus dem Gesetz nicht begreifen läßt, aber gedacht werden muß, weil sonst das durch sich selbst nothwendige Gesetz als Moralisches nicht denkbar wäre. – Sie ist die Frey‐ heit, die durch das Gesetz postulirt wird, die man nur dem Gesetze glauben kann. Daß die Selbstthätige Vernunft nicht durch sinnliche Antriebe genöthiget wirke, und daß wenn sie den Entschluß bestimmt, derselbe nicht durch jene Antriebe bestimmt wer de – ist sehr begreiflich, und wenn freyseyn nichts anders als dieses heißt, so ist nichts begreiflicheres und nichts so sehr theoretisch darstellbar als die Freyheit. Die theoretisch unerklärbare, aber in praktischer Rücksicht nothwen‐ dig denkbare Freyheit wird uns im Sollen durch ein Müssen, das kein Müssen, im Dürfen durch ein bloßes Können, das kein bloßes Können ist, im Nichtdür‐ fen durch ein Nichtkönnen, das ein Können ist, angekündiget, welches entweder nicht statt finden, oder die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch setzen würde, wenn die Nothwendigkeit und die Freyheit, die hier zugleich unterschieden und vereinigt werden müssen, nicht in zwey verschiedene Vermögen Eines und dessel‐ ben Subjektes gesetzt würden. »Nur das können wir einsehen, daß obgleich der Mensch als Sinnenwesen der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht allein gemäß, sondern auch zuwi der zu wählen, dadurch doch nicht seine Freyheit als intelligiblen We‐ sens definirt werden könne, weil Erscheinungen kein übersinnliches Objekt, der‐ gleichen doch die Freyheit der Willkühr ist, verständlich machen können, und daß die Freyheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine gesetzgebende Vernunft streitende Wahl treffen kann; obgleich die Erfahrung oft genug beweiset, daß es geschieht, wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können.« 81 Mein Begriff von der Freyheit als einem Vermögen, nicht was immer für einem Gesetze der Vernunft sondern dem Moralischen – gemäß und zuwider, folglich nicht Legal und Illegal, sondern Moralischgut und Moralischböse zu handeln, ist durchaus nicht aus der Erfah‐ 81
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rung geschöpft, von Erscheinungen hergeleitet, aus den Illegalen Handlungen ge‐ zogen. Er ist wie der Begriff von der moralischbösen Handlung, den die Religion innerhalb der Gränzen der bloßen Ver nunft, (wie sie sich ausdrückt) nach dem bloßen Gesetze der Freyheit aufstellt, 82 lediglich aus dem Bewußtseyn des Mora‐ lischen Gesetzes selbst, aus dem kategorischen Imperativ allein geschöpft. Auch fällt mirs nicht ein die Freyheit des Menschen als intelligiblen Wesens definiren zu wollen. 83 Ich habe es nur mit der Freyheit des menschlichen Willens zu thun; der Mensch ist mir weder intelligibles Wesen noch Sinnenwesen, sondern beydes zugleich; und ich halte ihn auch nur für frey, weil und in wieferne er beydes zu‐ gleich ist, während Kant ihn nur in wieferne er intelligibles Wesen ist, für frey zu halten scheint. Das Subjekt der transcendentalen Vermögen ist zugleich das Sub‐ jekt der Empirischen; wenn jene Vermögen nicht transcendent, sondern transcen‐ dental – d. h. sich aufs Empirische a priori beziehend seyn sollen. Daher kann unter jenem Subjekte keineswegs die bloße reine Vernunft verstanden werden, die als solche freylich weder Freyheit des Willens hat noch praktische Vernunft ist. 84 Die reine Vernunft liegt der theoretischen und praktischen Vernunft gemein‐ schaftlich zum Grunde, aber sie ist an sich weder das Eine noch das Andere. Sie ist beydes nur in verschiedener Beziehung auf etwas das nicht Vernunft ist. Die Vernunft ist im moralischen Gesetze Praktisch, in wieferne sie von dem Subjekte, das sich durch Lust und Unlust bestimmen kann, fordert, sich selbst in wieferne es nicht Vernunft ist, lediglich durch Vernünftigkeit zu bestimmen. Die praktische Vernunft erhält in soferne nur vermittelst der von ihr verschiedenen Freyheit des Subjektes ihre Anwendbarkeit auf das Wollen, ihren Karakter als moralisch ge‐ setzgebend, und das, was Kant ihren Constitutiven Gebrauch nennt. 85 Freylich kann die Freyheit nicht darin gesetzt werden, daß das vernünftige Subjekt wider die Vernunft handeln könne? Aber ist denn jenes Subjekt nichts als vernünftig? Oder vielmehr kann es auch nur Vernunft ha ben, ohne nicht eben darum noch andere Vermögen zu haben, ohne welche sich die Vernunft nicht denken läßt. Endlich, was soll hier das Geständniß: »die Erfahrung beweise oft genug, daß das vernünftige Subjekt eine wider seine gesetzgebende Vernunft streitende Wahl treffe, wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen könnten« 86? Die Erfahrung bewiese das? Erscheinungen könnten also ein übersinnliches Objekt, dergleichen doch die Wahl des vernünftigen Subjektes ist, verständlich machen? Oder sollen 82
Vgl. RGV. AA VI, 20 f., 32, 35, 39 f. Vgl. KrV A 546/B 574, GMS. AA IV, 456–458, KpV. AA V, 100 f. 84 Vgl. GMS. AA IV, 412. 85 Im Gegensatz zum bloß regulativen generiert der konstitutive Vernunftgebrauch ob‐ jektive Erkenntnis. Während die Vernunftideen für den theoretischen Vernunftgebrauch nur eine regulative Funktion haben, räumt Kant ein, dass sie im praktischen Gebrauch »imma‐ nent und constitutiv« werden (KpV. AA V, 135). 86 Vgl. MS. AA VI, 226 (XXVIII) (Text 17). 83
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lediglich die illegalen Handlungen, welche auch allein durch bloße Erfahrung be‐ zeugt werden können, eingestanden seyn? Was soll denn aber an einer bloß il‐ legalen Handlung unbegreifliches seyn? Die Möglichkeit einer illegalen Handlung in wieferne sie keine Moralität hat, keiner Zurechnung fähig, mit einem Worte: nicht frey ist, springt in die Augen. Wird also von der Erfahrung, die uns über die Moralität der illegalen Handlung nichts sagen kann, weggesehen; und hält man sich an das intelligible Wesen und an diejenige Freyheit in welcher Kant allein die Moralität aufgesucht wissen will, an das Vermögen der reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu seyn, so begreifen wir nicht etwa nur nicht wie das Subjekt unmoralisch handeln könne: sondern wir begreifen wirklich, daß es nicht un‐ moralisch handeln könne; die moralischböse Handlung wird nicht unbegreiflich, sondern schlechterdings unmöglich. »Ein Anderes ist einen Satz der Erfahrung einräumen, ein Anderes ihn zum Er‐ klärungsprincip (des Begriffs der freyen Willkühr) und allgemeinen Unterschei‐ dungsmerkmal (vom arbitrio bruto s[ive]. servo) machen, weil das Erste nicht behauptet, daß das Merkmal nothwendig zum Begriff gehört, welches doch zum Zweyten erforderlich ist.« 87 Es braucht hier nicht mehr wiederholt zu werden, daß mein Begriff von der Freyheit jenen Erfahrungssatz ganz auf sich selbst be‐ ruhen läßt, und von demselben schlechterdings keinen Gebrauch macht. Mein Erklärungsprincip der Freyheit ist das moralische Gesetz, dessen bestimmter Be‐ griff eine von der praktischen Vernunft verschiedene Freyheit postulirt. Aber soll‐ te der Begriff, den die Kritik der praktischen Vernunft, den Kant überhaupt vom moralischen Gesetze aufstellt, schon bestimmt genug seyn? Er hat unübertreflich gezeigt, daß das moralische Gesetz in der unabhängig von sinnlichen Antrieben, und durch sich selbst gesetzgebenden Vernunft gegründet sey. 88 Aber sollte die Vernunft nur im moralischen Gesetze praktisch seyn und heissen können? Sollte Sie nicht in Rücksicht auf alle diejenigen Funktionen praktisch seyn, in welchen das, was nicht Vernunft ist, von Ihr abhängt? wie sie in Rücksicht auf diejenigen Funktionen theoretisch ist, in welchen sie selbst von etwas, das nicht Vernunft ist, abhängt? Sollte es keine praktischen Gesetze geben, die nicht das moralische sind? Ist die praktische Vernunft nur beym Wollen thätig? oder ist nicht viel‐ mehr ihre Thätigkeit beym Wollen nur die einleuchtendste, und diejenige, an wel‐ cher dieser Charakter der Vernunft zuerst entdeckt wurde? Sollte Kant, dem diese große Entdeckung aufbehalten war, nicht den Begriff des moralischen Gesetzes zu weit gefaßt haben, da er demselben mit dem Gesetze der praktischen Vernunft einerley Umfang gab? Sollte er nicht dadurch genöthiget gewesen seyn, den Wil‐ len für die praktische Vernunft selbst zu erklären, und das Wollen auf die Thä‐ tigkeit durch praktische Vernunft zugleich einzuschränken und auszudehnen? Ist 87 88
Vgl. MS. AA VI, 226 f. (XXVIII) (Text 17). Vgl. GMS. AA IV, 445, 452, KpV. AA V, 87.
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das moralische Gesetz nur das praktische Gesetz für den Willen, so läßt sich sein unterscheidender Charakter, ohne daß es dadurch den höheren eines praktischen, und in soferne von bloßer Vernunft abhängigen Gesetzes einbüßte, nur aus dem Begriffe des Willens ableiten. Es ist dann dasselbe die bestimmte Forderung der praktischen Vernunft an den Willen: nicht Lust und Unlust, sondern reine Ver‐ nünftigkeit zum Bestimmungsgrund seines Entschlusses zu machen. Diese For‐ derung setzt schlechterdings voraus, daß das Subjekt beym Wollen sich sowohl durch Vernünftigkeit als durch Lust und Unlust selbst bestimmen könne – wäre dem Subjekte nicht beydes gleich möglich; könnte es nicht sich freywillig durch das Gesetz beherrschen, und freywillig der Begierde dienen – so würde das Ge‐ setz, das jenes gebietet und dieses verbietet, ganz überflüssig, ja sogar unmöglich seyn. Wir dienten der Lust und Unlust, oder der Vernunft; wenn und weil wir müßten – ohne daß ein Nichtdürfen oder ein Sollen statt fände – wenn anders unter dieser Voraussetzung von einem Wir und Ich die Rede seyn könnte. Kündi‐ get das moralische Gesetz keine andere Freyheit an als die in der Selbstthätigkeit der Vernunft besteht: so ist freylich das Vermögen unmoralisch zu handeln, nicht nur ein Unvermögen 89 sondern – unmöglich. Ist aber jene Freyheit das Vermögen der Person sich ihre Handlungsweise beym Wol len, durch Wahl, zu bestimmen, so ist das Vermögen unmoralisch zu handeln kein Unvermögen, sondern dasselbe Vermögen, ohne welches sich auch kein moralischhandeln denken läßt.
89
Vgl. MS. AA VI, 227 (XXVIII) (Text 17).
19 FRIEDRICH WILHELM JOSEPH SCHELLING
(1797)
Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur [Auszug]
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) studierte Theologie am Tübinger Stift, wo Hegel und Hölderlin seine Kommilitonen waren. Er studierte dann Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin an der Universität Leipzig, bevor er von 1798 bis 1803 als außerordentlicher Professor in Jena wirkte. Seine lange akademische Karriere führte ihn dann über Würzburg und München nach Erlangen und, nach einer Rückkehr nach München, nach Berlin. Mit ersten philosophischen Schriften zu einem System der Philosophie trat er seit 1794 in Erscheinung, in der Jenaer Zeit rückte dann die Naturphilosophie in den Vordergrund. Später wandte er sich einer Identitätsphilosophie zu, es folgten in verschiedenen Phasen die Philosophie der Freiheit (zentral in Ueber das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809), der Weltalter, der Mythologie und der Offenbarung. 1796 übernahm Schelling in dem von F. I. Niethammer und J. G. Fichte herausgegebenen Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten die Rubrik »Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Litteratur«, unter der in erster Linie aktuelle Publikationen besprochen werden sollten. Tatsächlich entwickelte Schelling in den verschiedenen Beiträgen der Reihe aber seine eigene philosophische Position (dementsprechend publizierte er die Artikel im ersten Band seiner Philosophischen Schriften von 1809 unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre). Im Artikel, der 1797 im zweiten Heft des siebten Bandes des Philosophischen Journals (105–186) erschien, nahm Schelling die Differenzen zwischen Kant und Reinhold in Bezug auf die Freiheitsfrage (vgl. Texte 17 und 18) zum Anlass, seine eigene Auffassung dazu auszuführen. Diese hatte er bereits 1795 in Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (vgl. HKA I / 2, 163–171) präsentiert. Wie schon in der Schrift Vom Ich steht im hier abgedruckten Auszug aus dem JournalAufsatz (Schelling 1797, 146–172) die Freiheitsfrage im Zusammenhang mit der Aufstellung eines obersten Prinzips der ganzen, d. h. sowohl der theoretischen wie auch der praktischen Philosophie. Das oberste Prinzip sei – wie Fichte als Erster erkannt habe – die Autonomie des Willens (vgl. HKA I / 4, 135 f.). Diese absolute Freiheit des Willens besteht darin, dass das absolute Ich keiner anderen Beschränkung fähig ist als der Beschränkung durch sich selbst, mit anderen Worten: Es gibt sich selbst sein eigenes Gesetz. Die menschliche Freiheit, von der in der praktischen Philosophie die Rede ist, ist jedoch nicht die des absoluten, sondern die des empirischen Ich. Dieses Ich ist, anders
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als das absolute, endlich, es wird nicht nur durch sich selbst, sondern auch durch die ihm entgegengesetzten Objekte beschränkt. Seine Freiheit entspringt daraus, dass ihm durch das Medium der praktischen Vernunft das Gesetz des absoluten Ich vermittelt wird. Dieses Gesetz ist dem empirischen Ich bewusst als moralisches Gesetz, als Forderung, die Beschränkung durch die Objekte aufzuheben. Anders als für das absolute Ich besteht damit für das empirische die Möglichkeit, dass es entweder durch die empirischen Objekte oder durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Diese Möglichkeit wird im empirischen Bewusstsein als Möglichkeit der Wahl oder Willkür erfahren. Die Willkür ist demnach für Schelling nichts anderes als die Erscheinung des absoluten Willens, und sie kann aus diesem, als dem ersten Prinzip der gesamten Philosophie, hergeleitet und erklärt werden. Was nun die Differenzen zwischen Kant und Reinhold betrifft, liegt es vor diesem Hintergrund nahe, dass Schelling beiden Recht gibt, jedoch darauf hinweist, dass beide sich einseitig auf nur einen Aspekt des Problems konzentriert haben. Wenn Kant den Willen mit dem Gesetz der praktischen Vernunft identifiziert und dem Willen die Freiheit abspricht (vgl. MS. AA VI, 226 (XXVI f.) (Text 17)), so bezieht er sich auf die Autonomie des Willens des absoluten Ich. Wenn Reinhold dagegen den Willen als das Vermögen der Person, sich zwischen den Forderungen des Begehrungsvermögens und jenen des Sittengesetzes zu entscheiden, definiert (vgl. Reinhold 1792, 271 f. (Text 14), Reinhold 1797, 371 f. (Text 18)), den Willen also als frei ansieht, bezieht er sich auf das Freiheitsbewusstsein des empirischen Ich. Dagegen kann Schelling vorbringen, dass zwar beide Aspekte zum Verständnis des Freiheitsproblems relevant sind, dass es aber in Hinblick auf dessen Lösung zusätzlich darauf ankommt, das Verhältnis zwischen menschlicher und absoluter Freiheit, empirischem und absolutem Ich zu klären. In diesem Sinn stellt Schellings Gegenvorschlag eine Position dar, die die scheinbar nicht zu vereinbarenden Standpunkte Kants und Reinholds vereint, indem sie in ihr richtiges systematisches Abhängigkeitsverhältnis gestellt werden. In eine ähnliche Richtung ging zuvor Fichtes Versuch, in seiner Rezension von Creuzers Skeptischen Betrachtungen die Debatte zwischen C. C. E. Schmid und K. L. Reinhold über die Frage der Willensfreiheit zu klären (siehe Fichte 1793 (Text 21)). Weiterführende Literatur: Stolzenberg 2004b, Schmidt 2012, Noller 22016, 300–309, Klemme / Kuehn 2016, 656–658, Noller 2018b, Noller 2020c. Den vollständigen, kritisch edierten und kommentierten Text findet man in HKA I / 4, 130–178.
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Ja, daß dieser Geist 90 seiner Vorstellungen, seines Beschränkt seyns durch diesel‐ be, bewusst werde, daß er diese Vorstellungen selbst wieder zu seinem Object 90
Gemeint ist der menschliche Geist.
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mache, wie er in der Philosophie thut, ist gar nicht begreiflich, ohne vorauszu‐ setzen, daß der Geist nie aufhöre, sein eignes Object zu seyn, d. h. daß er in’s unendliche fort absolut-frei sey, * und aus dem Zustand des Vorstellens in den Zu‐ stand des freien Handelns übergehen könne. Der Geist aber kann den Zustand des Vorstellens nicht selbstthätig verlassen, ohne durch diese Handlung zugleich alle Materie des Vorstellens für sich aufzu‐ heben. Weil es aber unmöglich ist, daß der Geist handle, ohne Materie des Han‐ delns, so wird jene Handlung von selbst zum Wollen, d. h. zum selbstthätigen Bestimmen der Materie seines Handelns. Nun ist aber der Charakter der geistigen Natur eben dieser, daß durch ihr rei‐ nes und freies Handeln zugleich die Materie ihres Handelns bestimmt sey, oder, daß das Reine in ihr unmittelbar das Empirische bestimme. – Daß im theoreti‐ schen Handeln des Geistes (im Vorstellen) ihm durch das Handeln zugleich die Materie des Handelns, das Object entsteht, daß sonach das Empirische in ihm durch das Transscendentale bestimmt ist, haben wir so eben erwiesen. Nun soll der Geist im Wollen, seiner selbst, d. h. seiner absoluten Thätigkeit, unmittelbar bewusst werden. – Aber er kann seiner absoluten Thätigkeit nicht bewusst werden, ohne daß sie ihm zum Object wird. Also soll das Object sei‐ nes Wollens Er selbst in seiner reinen Thätigkeit seyn, er soll sich selbst wollen; Er selbst aber ist nur, inwiefern das Reine in ihm empirisch wird. Also soll die Materie seines Wollens unmittelbar durch die Form bestimmt seyn; mit andern Worten, die Form seines Wollens soll zur Materie seines Handelns werden, das Empirische in ihm soll durch das Reine bestimmt, es soll insofern keine (morali‐ sche) Duplicität in ihm statt finden. Dies ist der wahre und eigentliche Sinn des kategorischen Imperativs, oder des MoralGesetzes. Die Materie des MoralGesetzes aber ist, wie wir eben gezeigt haben, das Reine in uns. Seines reinen Thuns aber wird der Geist nicht bewusst, als durch das Wol‐ len, (in dem er alle Materie des Handelns, insofern sie ihm gegeben ist, aufhebt, um sie selbstthätig zu bestimmen). Also wird er auch der Materie des MoralGe‐ setzes, oder dessen, was durch das MoralGesetz gefodert wird, nicht anders inne, als durch das Wollen, und insofern ist die Quelle des MoralGesetzes der Wille. Die Form alles Wollens besteht darinn, daß die Materie des Willens durch ab‐ solutes Handeln bestimmt sey, d. h. daß das Wollen ins unendliche fort nur durch das Wollen, und aus dem Wollen erklärbar sey. Das Wollen der bloßen Form nach betrachtet heißt das reine Wollen. Das Empirische aber soll durch das Reine be‐ stimmt seyn. Also fodert das MoralGesetz als Object des Wollens den reinen Wil‐ len selbst. *
Wenn wir aus der ursprünglichen Synthesis nicht heraustreten können, so kennen wir die Erfahrung überall nur als Product, von der Erfahrung als Actus dürfen wir gar nicht reden, kurz, die Philosophie hat vor dem gemeinen Bewusstseyn nichts voraus.
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Das Object des Wollens aber soll immer nur aus dem Wollen erklärbar seyn. Wenn ich also nichts will, als das absolut Gute, d. h. den reinen Willen selbst, so soll dieser als Materie meines Willens immer nur erklärbar seyn aus einem Wollen, d. h. aus einer positiven Handlung, wodurch er zum Object des Willens geworden ist. Dieser positiven Handlung aber soll ich bewusst werden, denn das SelbstBe‐ wusstseyn ist, was wir suchen. Eines Positiven aber werden wir uns nie anders bewusst, als durch ein Entgegengesetztes Positives, (das insofern das Negative des erstern ist). Dieser Satz wird aus der theoretischen Philosophie als erwiesen vorausgesetzt. *91 Also können wir uns auch einer Handlung, in welcher die Materie des Wol‐ lens durch den reinen Willen bestimmt ist, nicht bewusst werden, ohne daß die entgegengesetzte Handlung, in welcher, umgekehrt, der Wille durch die Materie bestimmt (der reine Wille also gänzlich aufgehoben) ist, positiv und real entge‐ gengesetzt sey, d. h. wir können uns keine positiv moralische Handlung denken, ohne ihr eine positiv unmoralische entgegenzusetzen. Diese Entgegensetzung muß real seyn, d. h. beide Handlungen müssen im Be‐ wusstseyn als gleich möglich vorkommen. Daß die Eine oder die Andre ausge‐ schlossen wird, muß aus einer positiven Handlung des Willens erklärt werden. Jenes Bewusstseyn real entgegengesetzter d. h. gleichmöglicher Handlungen nun ist es, was den Willen zur Willkür macht, ** und so sehen wir uns durch unsre Philosophie in den Stand gesetzt, den Widerstreit auszugleichen, der in den Behauptungen zweier berühmten Philosophen über diesen Gegenstand statt zu finden scheint. 1) Kant behauptet in der Kritik der praktischen Vernunft, der Wille und die praktische d. h. gesetzgebende Vernunft seyen Eins und dasselbe. 92 Diese Be‐ hauptung wiederholt er aufs neue in der philosophischen RechtsLehre. 93 Reinhold behauptet, »Moralität und Zurechnungsfähigkeit der Handlungen lassen sich nur
*
Vortreffliche und aus der Tiefe der menschlichen Natur geschöpfte Anmerkungen über diesen Satz enthält Kants Abh[andlung]. Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. ** Die Willkür ist zur Möglichkeit des Vorstellens unsers freien Handelns nothwendig, gehört also insofern nur zur Erscheinung des Willens, nicht zum Willen selbst. 91
Vgl. v. a. im Ersten Abschnitt von Kants Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763), AA II, 175–178 und besonders 182. 92 Obwohl Kant in der Kritik der praktischen Vernunft tendenziell von der Bestimmung des Willens durch die Vernunft spricht und damit eine Differenz von praktischer Vernunft und Willen impliziert, setzt er auch gelegentlich praktische Vernunft und (reinen) Willen gleich (vgl. KpV. AA V, 29, 33, 39, 55, 65, 109). 93 Vgl. MS. AA VI, 213 (V), 226 (XXVI f.) (Text 17).
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unter der Voraussetzung einer sowohl von der Selbstthätigkeit der Vernunft als von dem Streben der Begierde verschiedenen Freiheit des Willens denken.« 94 Die Sache ist diese: Vernunft zeigt ursprünglich bloß das Vermögen der Ideen an, und hat insofern lediglich theoretische Bedeutung. Praktische Vernunft wäre sonach etwas unmittelbar sich selbst widersprechendes. – Es wäre aber in uns kein Vermögen der Ideen, ohne Freiheit; wir könnten auch mit unsern Gedanken nicht über das Wirkliche hin ausstreben, ohne ursprünglich frei zu seyn. Umge‐ kehrt wir könnten uns der Freiheit, und unsers Hinausstrebens über die Wirklich‐ keit nicht bewusst werden, wären wir nicht im Stande, da, wo wir keine Objec‐ te mehr finden, selbst uns Objecte zu schaffen. Das Object der Freiheit aber ist unendlich. Dieses Object ist nur in einem unendlichen Fortschritt d. h. empirisch zu realisiren, und soll also allerdings empirisch, d. h. in der Erfahrung, realisirt werden. Weil nun hier der Begriff des Objects dem Object selbst vorangeht (anstatt daß im theoretischen Erkenntniß der Begriff erst mit dem Object entsteht;) weil ferner alles, worauf wir als Object (gleichviel des Erkennens oder Realisirens) reflectiren, endlich seyn muß, so kommt hier die Einbildungskraft der Freiheit zu Hülfe, und schafft Ideen dessen, was die Freiheit realisiren soll, so doch, daß diese Ideen einer unendlichen Erweiterung fähig seyen, weil, sobald das Object derselben in irgend einem ZeitPunkt erreicht wäre, wir aufhören müssten, absolut thätig zu seyn. Die Einbildungskraft also im Dienste der praktischen Vernunft ist das Vermögen der Ideen, oder das, was wir theoretische Vernunft nennen. (Dadurch unterschei‐ det sich die Schwärmerei von der Vernunft, daß jene zügellose Phantasie, diese Einbildungskraft in den Schranken der moralischen Postulate ist, jene Chimären, diese Ideen erzeugt.) So wenig als die theoretische Vernunft Ideen erzeugen könn‐ te, wäre ihr nicht durch die Freiheit in uns eine Unendlichkeit aufgethan, eben so wenig könnte diese Unendlichkeit Object für die Freiheit werden, würde sie ihr nicht durch Ideen, d. h. durch Vernunft, ins Unendliche fort begränzt. Also setzt die Freiheit in uns die Vernunft (als ein Vermögen der Ideen), und umgekehrt die Vernunft in uns die Freiheit voraus. Weil demnach Freiheit ohne Vernunft eben so wenig als Vernunft ohne Freiheit gedacht werden kann, so kann die letztere (die Freiheit) auch praktische Vernunft heißen: Vernunft, weil ihr unmittelbares Object Ideen sind; praktische Vernunft, weil diese Ideen nicht Gegenstände des Erkennens, sondern Gegenstände des Handelns sind. Eben so kann umgekehrt die Vernunft, als Vermögen der Ideen, obgleich ihre Function dabei lediglich theoretisch ist, dennoch, insofern ihre Ide‐ en Objecte des Realisirens durch Freiheit sind, praktische Vernunft heißen: Ver‐ nunft, weil ihre Function in Erzeugung der Ideen lediglich theoretisch; praktische 94
Vgl. Reinhold 1797, 364–366 (Text 18).
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Vernunft, weil diese (nicht Chimären oder eitle Speculationen, sondern) Objecte eines nothwendigen Handelns sind. So ist also praktische Vernunft Eins und dasselbe mit der Freiheit, d. h. dem Willen (nach Kant); 95 von der praktischen Vernunft in diesem Sinne gehen alle Gesetze aus, 96 und die ursprüngliche Autonomie des Willens ist im MoralGesetze ausgedrückt. Das MoralGesetz aber ist keineswegs ein todter Satz, der a priori in uns ruht, noch ein Satz, der theoretisch entstehen kann; es ist in uns da, nur in sofern es der Wille in uns (empirisch) ausdrückt. Es wird offenbar durch That und Handlung; und nur insofern wissen wir von ihm; ohne das ruht es in Eurem Gedächtniß oder steht schwarz auf weiß in Euren Papieren. Seine Quelle aber ist der Wille. Denn es hält uns einen Zustand vor, dessen wir uns gar nicht anders, als im Act des Wollens selbst, bewusst werden können. Insofern nun aber die theoretische Vernunft jenes Gesetz, das aus dem Willen entspringt, und ursprünglich nur in That und Handlung offenbar wird, auffassen, und in Worten aussprechen kann, ist zwar ihre Function eine lediglich theoreti‐ sche und analog der Function des Verstandes, wenn er die ursprüngliche Hand‐ lungsWeise des Geistes in der Anschauung abstrahirt, und in Begriffen vorstellt. So wie wir das ursprüngliche Vorstellen in Begriffen darlegen, ohne desshalb die‐ se Begriffe für das ursprüngliche Vorstellen selbst zu halten, eben so können wir das ursprüngliche Sollen (dessen Grund im Willen selbst liegen muß), in Begrif‐ fen auffassen, ohne daß wir desshalb dieses abgeleitete Sollen mit dem ursprüng‐ lichen, oder das bloße Organ, wodurch das Gesetz zu uns spricht, mit der Quelle des Gesetzes selbst verwechseln. Beide also (Kant und Reinhold) haben recht; der Wille giebt Gesetze (nach Kant), welche die Vernunft ausspricht (nach Reinhold). 97 Wenn aber der Erstere sagt: der Wille ist nichts anders, als die praktische Vernunft selbst, so ist es natür‐ licher, umgekehrt zu sagen: die praktische Vernunft, (das Gesetzgebende in uns) ist der Wille selbst, denn einer praktischen Vernunft, die uns durch das Gesetz gebietet, ist sich jeder unmittelbar bewusst, nicht so aber des ursprünglichen Wil‐ lens, dessen Stimme nur durch das Medium der Vernunft zu uns gelangt. – Wenn umgekehrt Reinhold sagt: die Gesetze überhaupt gehen nur von der Vernunft aus, das MoralGesetz sey die Foderung der bloßen Vernunft an den Willen, 98 so ist dies grundfalsch, und eine Behauptung, die alle Autonomie des Willens auf‐ hebt. Denn die Vernunft (ursprünglich ein bloß theoretisches Vermögen) wird zur praktischen Vernunft, nur dadurch, daß sie die Materie eines höhern Willens aus‐ spricht. Sie selbst hat in sich keine Auctorität, und keine moralische Gewalt über
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Anm. 92 und 93. MS. AA VI, 226 (XXVI f.) (Text 17). MS. AA VI, 226 (XXVI f.) (Text 17) und Reinhold 1797, 368 (Text 18). Reinhold 1797, 368 (Text 18).
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uns; was sie als Gesetz ausspricht, gilt nur, insofern es durch den absoluten Wil‐ len sanctionirt ist. Wenn es demnach (nach Reinhold) keinen absoluten Willen giebt, in des sen Namen die Vernunft zu uns spricht, und von dem eigentlich alle Gesetze ausgehen, 99 so ist die Vernunft, indem sie uns Gesetze giebt, ein lediglich theoretisches Vermögen [was er auch zuzugeben scheint, wenn er S. 383 sagt: die Vorschriften (der Vernunft) seyen an sich bloß theoretisch 100]; denn praktisch ist sie nicht durch sich selbst, sondern nur durch eine höhere Auctorität, in deren Namen sie spricht. Also ist es ein theoretisches Vermögen, das anstatt durch den Willen bestimmt zu seyn, selbst den Willen bestimmt, und soweit alle Autonomie in uns nur dem Schein und dem Worte nach übrig lässt. Dies will aber Reinhold nicht. Wie er dessen ungeachtet zu der Behauptung (alle Gesetze gehen von der Vernunft aus) veranlasst werden konnte, wird aus folgendem klar werden. 2) Kant behauptet: »Von dem Willen gehen die Gesetze aus, von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anders, als bloß aufs Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig ist. Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl für oder wider das Gesetz definirt werden, wie es wohl einige versucht haben; ob zwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele giebt. – Soviel können wir einsehen, daß obgleich der Mensch als SinnenWesen der Erfahrung nach ein Vermögen zeigt, dem Gesetze nicht al‐ lein gemäß, sondern auch zuwider zu wählen, dadurch doch nicht seine Freiheit als intelligibeln Wesens definirt werden könne, weil Erscheinungen kein übersinn‐ liches Object, dergleichen doch die Freiheit der Willkür ist, verständlich machen können, und die Freiheit nimmermehr darein gesetzt werden kann, daß das ver‐ nünftige Subject auch eine wider seine gesetzgebende Vernunft streitende Wahl treffen kann, obgleich die Erfahrung oft genug beweiset, daß es geschieht, wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können.« 101 Dagegen behauptet Reinhold: »Die menschliche Willkür sey ein dem Willen ei‐ genthümliches Vermögen, und der Wille, anstatt daß das Gesetz von ihm ausgehe, gehe umgekehrt auf das Gesetz, aber nur dann und nur insofern, inwieferne er (mit Kant zu sprechen) dasselbe in seine Maxime aufnehme. Dieses könne er nur insoferne, inwieferne das Gesetz keineswegs an und für sich seine Maxime sey, folglich inwieferne es nicht von ihm ausgehe. Der Wille höre nicht auf Wille zu seyn, wenn er nicht aufs Gesetz gehe, sondern beweise sich eben auch dadurch
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Vgl. Reinhold 1797, 373 f. (Text 18). Vgl. Reinhold 1797, 383 (Text 18). Vgl. MS. AA VI, 226 (XXVI–XXVIII) (Text 17).
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als Wille. 102 Es ist kein Wille, wenn er nicht frei, d. h. wenn er nicht eben so gut böse als gut seyn kann. 103« Hier ist nun ein solcher Widerspruch der Behauptungen, dergleichen man in solchen Dingen kaum für möglich halten sollte. Der Grund dieses Widerspruchs wird also wohl im Object selbst liegen. Wenn Kant behauptet: Der Wille an sich ist weder frei noch unfrei, also auch weder gut noch böse; Reinhold dagegen sagt, der Wille, als solcher, könne nicht anders, als frei seyn, und er sey nur insofern Wille, als er böse oder gut seyn könne: so ist doch hier offenbar von zwei ganz verschiednen Willen die Rede. Es fragt sich, ob nicht das Object (der Wille) selbst eine solche doppelte Ansicht möglich macht. Wenn A sagt: Der Wille als solcher ist weder frei noch unfrei, und B dagegen sich auf das gemeine Bewusstseyn beruft, in welchem Willkür (d. h. Freiheit zu wählen) als ein dem Willen eigenthümliches Vermögen vorkommt, so redet je‐ ner offenbar vom Willen, insofern er gar nicht Object des Bewusstseyns ist, dieser vom Willen, in sofern er im Bewusstseyn vorkommt. Jener erhebt sich über den StandPunkt des gemeinen Bewusstseyns, dieser bleibt darauf stehen. Jener hat den Vortheil voraus, daß er diesem selbst aus Principien beweisen kann, der Wil‐ le, insofern er erscheint, d. h. vom StandPunkt des Bewusstseyns aus angesehen, müsse als freie Willkür erscheinen, obgleich dieses Vermögen im absoluten Wil‐ len (der allein gesetzgebend ist) gar nicht gedenkbar sey; diesem bleibt nichts übrig als sich auf das Urtheil des gemeinen praktischen Verstandes zu berufen, das er selbst nicht weiter erklären kann; wie es aber zugehe, daß jener (ein so großer Philosoph) etwas behaupte, das dem gemeinen Bewusstseyn zu wider‐ sprechen scheint, weiß er nicht begreiflich zu machen, und kann sich desshalb bei seiner eignen Widerlegung jener ihm so widersinnischen Behauptungen nicht beruhigen. 104 Das Beispiel ist merkwürdig, weil es zeigt, wie schwer es ist, selbst in Fragen, die das allgemeinste Interesse, das der Moralität, betreffen, übereinstimmend zu urtheilen, woferne man nicht über einen gemeinschaftlichen StandPunkt einig ist. Dieser aber kann nicht ein untergeordneter, sondern muß nothwendig der höchste seyn. Der Wille also, wenn er erscheint, muß nothwendig als Willkür erscheinen. Dies und nicht mehr kann B beweisen, und gerade ebendies behauptet auch A. Nun ist es aber der Charakter des endlichen Geistes, daß er in’s unendliche fort sich selbst erscheine, sein eignes Object sey, für sich selbst empirisch werde. Diese Nothwendigkeit (sein eignes Object zu werden) ist das Einzige, was gleichsam zwischen uns und die Unendlichkeit tritt. Was also jenseits dieser Nothwendig‐ 102 103 104
Vgl. Reinhold 1797, 369 (Text 18). Vgl. Reinhold 1797, 373 (Text 18). Vgl. Reinhold 1797, 364–367 (Text 18).
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keit liegt, das haben wir mit dem Unendlichen selbst gemein, das liegt für uns, insofern wir empirisch sind, in der Unendlichkeit. Nun ist aber unser Wille eine That, die an sich selbst gar nicht empirisch ist. Dies behaupten beide, A und B. Also liegt unser Wille für uns in der Unendlichkeit, er entflieht jeder empirischen Erklärung; das Wollen kann ins unendliche fort nur aus dem Wollen erklärt wer‐ den. Nun soll aber der Wille doch Erscheinung werden, denn die Aufgabe des mo‐ ralischen Gesetzes ist, daß das Ich in der AußenWelt in’s unendliche fort sich darstelle; diese Aufgabe aber ist nicht zu erfüllen, ohne daß das Ich seiner selbst, und zwar im Wollen, bewusst sey. Das Ich aber soll sich seines Wollens als eines absoluten bewusst werden. Dies ist nicht möglich, als negativ, d. h. es soll sich bewusst seyn, daß es durch sinn‐ liche Antriebe nicht bestimmt ist. Dies ist, wie oben erwiesen worden, 105 nicht möglich, ohne positiven Gegensatz zwischen den sinnlichen Antrieben und dem, was der Wille, als reiner Wille, gebietet. Ebendesswegen, weil, und nur inso‐ fern, als dieser positive Gegensatz statt findet, ist es möglich, durch das Bewusst‐ seyn selbst auf einen absoluten Willen getrieben zu werden. Da jener Gegensatz positiv ist, so müssten sich beide Entgegengesetzte aufheben, das Re sultat al‐ so = 0 seyn. Da nun doch eine Handlung erfolgt, der wir uns bewusst sind, der Grund davon aber weder im moralischen Gesetz, insofern es im Bewusstseyn vor‐ kommt, noch in den sinnlichen Antrieben gesucht werden kann, weil Beide ein‐ ander gleich gesetzt worden sind, so können wir uns das Entstehen einer Hand‐ lung vom StandPunkt des Bewusstseyns aus nicht weiter erklären, als aus einer freien Wahl, der wir den Namen Willkür geben. Eben dies aber sollte erreicht werden; das Problem war, das Bewusstseyn der Freiheit begreiflich zu machen (gleichsam zu construiren). Dies thun wir durch den Begriff der Willkür, welche daher mit vollem Recht als das Phänomen des Willens erklärt werden kann. Weil nun aber der Wille als Willkür bloße Erscheinung ist, so kann Willkür dem Willen, insofern er nicht erscheint, gar nicht beigelegt, oder gar als ein ei‐ genthümliches Vermögen desselben, wie B thut, vorgestellt werden, und A hat ganz recht, wenn er behauptet, der Wille als solcher sey weder frei noch unfrei, weil er lediglich auf das Gesetz gehe, schlechterdings nothwendig und selbst kei‐ ner Nöthigung fähig sey. Der Verfasser dieser Uebersicht hat dieselbe Behauptung längst aus Principien abgeleitet, zu denen sich neuerdings H[er]r. R[einhold]. selbst bekennt, 106 und 105
Vgl. oben 149 f. Die These, dass die Willkür die Erscheinung des (absoluten) Willens sei, hat Schel‐ ling 1795 in Vom Ich als Princip der Philosophie präsentiert (vgl. HKA I / 2, 163–171), und zwar auf der Basis der Prinzipien von Fichtes Wissenschaftslehre. Reinhold teilt diese Prin‐ zipien insofern, als er sich Anfang 1797 nach außen hin der Wissenschaftslehre angeschlos‐ sen hatte (vgl. den »Vorbericht« in Reinhold 1797). 106
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er hofft daher, hier um so eher seine ehmalige Erklärung über diesen Gegenstand mit der Kantischen vergleichen zu dürfen, da sein Vortrag dadurch ohne Zweifel an Deutlichkeit gewinnen wird. »Das Problem der transscendentalen Freiheit,« so erklärte er sich damals, »hat von jeher das traurige Loos gehabt, immer mis‐ verstanden, und immer wieder aufgeworfen zu werden. Ja, selbst nachdem die Kritik der Vernunft so großes Licht darüber verbreitet hat, scheint doch bis jetzt der eigentliche StreitPunkt nicht scharf genug bestimmt zu seyn. Der eigentli‐ che Streit betraf niemals die Möglichkeit absoluter Freiheit, denn ein Absolutes schließt schon durch seinen Begriff jede Bestimmung durch fremde Causalität aus; die absolute Freiheit ist nichts anders, als die absolute Bestimmung des Un‐ bedingten durch die bloßen (Natur) Gesetze seines Seyns;« 107 – [Dies ist gerade dasselbe, was Kant sagt, der Wille, insofern er nicht Erscheinung; d. h. insofern er nicht transscendental, sondern absolut frei ist, geht auf nichts anders, als auf’s Gesetz, und kann insofern weder frei noch unfrei genannt werden, 108 d. h. das Gesetz, das von ihm ausgeht, ist für den absoluten Willen ein bloßes NaturGe‐ setz, wodurch er gar nichts ausdrückt, als sich selbst. Nur hat Kant vergessen zu bemerken, daß insofern auch das Gesetz des absoluten Willens nicht MoralGesetz ist. Reinhold fragt: Sollte Kant nicht den Begriff des moralischen Gesetzes zu weit gefasst haben, da er demselben mit dem Gesetze der praktischen Vernunft – (in unsrer Sprache: dem Gesetze des absoluten Willens) – einerlei Umfang gab? 109 Ich antworte: Allerdings, denn was R[einhold]. Gesetz der praktischen Vernunft nennt, wir Gesetz des absoluten Willens nennen, wird zum MoralGesetz erst im Bewusstseyn, im positiven Gegensatz gegen sinnliche Antriebe, als Object der frei‐ en Wahl der Willkür, d. h. des Willens in der Erscheinung. * Die absolute Freiheit des Willens kann daher charakterisirt werden, als] – »Unabhängigkeit von allen nicht durch sein Wesen selbst bestimmten (bereits gegebnen) Gesetzen, von allen Gesetzen, die etwas in ihm setzen würden, was nicht schon durch sein bloßes Seyn, durch sein Gesetztseyn überhaupt, gesetzt wäre.« 110 – Dergleichen Gesetze sind MoralGesetze. Denn diese ergehen an einen Willen, von dem es nicht zum voraus schon ausgemacht ist, daß er diesen Gesetzen gehorche. Dagegen jenes ursprüngliche Gesetz (das erst im Bewusst seyn zum MoralGesetz wird) nicht an einen Willen ergeht, sondern von einem Willen ausgeht, der sich selbst Gesetz ist, *
Insofern ist es alsdann auch wahr, daß das Gesetz (als MoralGesetz) von der Ver‐ nunft herkommt; denn zum Bewusstseyn gelangt es allerdings nur durch das Medium der Vernunft, und jenseits des Bewusstseyns ist es nicht MoralGesetz, sondern NaturGesetz des Willens. 107 108 109 110
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Vom Ich als Princip der Philosophie. HKA I / 2, 167. MS. AA VI, 226 (XXVII) (Text 17). Reinhold 1797, 398 (Text 17). Vom Ich als Princip der Philosophie. HKA I / 2, 167.
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und der insofern weder frei noch unfrei (im moralischen Sinn), sondern absolut frei ist. Hieraus folgt nun unmittelbar, was auch damals behauptet wurde, daß das Absolute in uns allein die transscendentale Freiheit nicht erklärt. »Das unbegreifliche ist nicht, wie ein absolutes, sondern wie ein empirisches Ich Freiheit haben solle, nicht wie ein intellectuales Ich intellectual, d. h. absolut frei seyn könne, sondern wie es möglich sey, daß ein empirisches Ich zugleich intellectual sey, d. h. Causalität durch Freiheit habe.« 111 Denn, setzen wir etwa, daß das Empirische in uns völlig bestimmt sey durch das Intellectuale, so begreifen wir nicht, wie noch eine Willkür in uns möglich ist. Dies räumt auch Kant ein, wenn er sagt, die Frei‐ heit könne nimmermehr darein gesetzt werden, daß das vernünftige Subject auch eine wider seine gesetzgebende Vernunft streitende Wahl treffen könne, obgleich die Erfahrung oft genug beweise, daß es geschehe, wovon wir doch die Möglich‐ keit nicht begreifen können. 112 – Oder setzen wir umgekehrt, daß das Empirische in uns durch das Intellectuale gar nicht bestimmt sey, so begreifen wir nicht, wie die Freiheit der Willkür in uns möglich ist. Wir bedürfen also zur Erklärung der freien Willkür, (als einer Thatsache des gemeinen Bewusstseyns,) der Idee von absoluter Freiheit; ohne diese begreifen wir keine Freiheit der Wahl; mit ihr allein begreifen wir nicht, wie noch eine Wahl überhaupt in uns möglich, und warum das ursprüngliche Gesetz in uns nicht zur Nothwendigkeit geworden ist. Hier müssen wir nun uns selbst erinnern, daß die Willkür, oder die Freiheit, uns für oder wider das Gesetz zu bestimmen, einzig und allein zur Erscheinung gehört, und daß wir daher den Begriff derselben gar nicht brauchen dürfen, um damit das übersinnliche in uns zu bestimmen, oder zu definiren. Es muß erwie‐ sen werden, daß wir uns des übersinnlichen in uns, d. h. der Freiheit, gar nicht bewusst werden können, als durch Willkür, welche sonach, obgleich nicht zum Uebersinnlichen in uns, doch nothwendig zu unsrer Endlichkeit d. h. zum Be‐ wusstseyn des übersinnlichen gehört. So nothwendig, als es ist, daß wir für uns selbst endlich werden, so nothwen‐ dig ist es auch, daß die absolute Freiheit in uns zur Willkür werde. Diese wird dadurch, daß sie bloß zu unsrer Endlichkeit gehört, und insofern Erscheinung ist, nicht sofort zu einem bloßen Schein *; denn sie gehört zu den nothwendigen Schranken unsrer Natur, über die wir in’s unendliche fort hinaus streben, ohne sie doch je völlig aufheben zu können; und so fällt von diesem sonst so dunkeln *
So wenig, als die ganze Geschichte unsers Geschlechts, die auch nur zur Endlichkeit gehört. – Sie beginnt mit dem SündenFall, d. h. mit der ersten willkürlichen That, und endet mit dem VernunftReich, d. h. wenn alle Willkür von der Erde verschwindet. 111 112
Vgl. Vom Ich als Princip der Philosophie. HKA I / 2, 167 f. Vgl. MS. AA VI, 226 (XXVI f.) (Text 17).
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Punkt der praktischen Philosophie ein neuer LichtStrahl auf unsern theoretischen Idealismus zurück, dessen Bedeutung jetzt erst ganz klar wird. Wir können jetzt gleichsam den transscendentalen Ort bestimmen, von wo aus das Intellectuale in uns in’s Empirische übergeht. Mit der Einen Handlung, durch welche das Absolu‐ te in uns sich selbst zum Object (die Freiheit zur Willkür) wird, entfaltet sich auch ein ganzes System endlicher Vorstellungen, und zugleich das so tief in uns liegen‐ de Gefühl unsrer moralischen Endlichkeit, wodurch wir erst in der AußenWelt, als der Sphäre unsrer Endlichkeit, einheimisch werden. Wir verstehen die Ten‐ denz nach dem Unendlichen, die unsern Geist in steter Unruhe erhält, denn die Endlichkeit ist nicht unser ursprünglicher Zustand, und diese gantze Endlichkeit ist nichts, was durch sich selbst bestünde. Wir sind endlich geworden, und wie könnten wir hoffen, diese Endlichkeit moralisch zu überwinden, wäre sie nicht moralisch entstanden? Es ist unsre eigene Endlichkeit, die uns die Welt endlich macht; aber schon jetzt ahnen wir, daß sie uns durch uns selbst unendlich wird, daß dem erweiterten Organ auch eine erweiterte Welt sich aufschließen, und im‐ mer neue Gestirne uns den Weg zur Unendlichkeit bezeichnen werden. ***
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Fassen wir jetzt alles zusammen, worüber wir einig geworden sind, so sind es folgende Sätze: 1. Vom absoluten Wollen geht das Gesetz aus. Der Wille, insofern er gesetz‐ gebend, d. h. absolut ist, kann weder frei noch unfrei heißen, denn er drückt im Gesetze nur sich selbst aus. 2. Ohne absoluten, gesetzgebenden Willen wäre Freiheit eine Chimäre. Der Freiheit aber werden wir uns nicht bewusst, als durch Willkür, d. h. durch die freie Wahl zwischen entgegengesetzten Maximen, die sich wechselseitig aus‐ schließen und in Einem und demselben Wollen zusammen nicht bestehen kön‐ nen. 3. Das Gesetz des absoluten Willens, insofern es zur Maxime werden soll, gelangt durch die Vernunft zur Willkür. Die Vernunft ist nicht selbst das übersinnliche in uns, wohl aber, was das übersinnliche in uns ausspricht. 4. Die Willkür, als die Erscheinung des absoluten Willens, ist von diesem nicht dem Princip, sondern nur ihren Schranken nach verschieden, dadurch, daß ein positiv entgegengesetzter Wille ihr widerstrebt. Die Willkür also kann erklärt wer‐ den, als der absolute Wille, unter den Schranken der Endlichkeit. 5. Würde der absolute (reine) Wille nicht durch einen entgegengesetzten be‐ schränkt, so könnte er seiner selbst d. h. seiner Freiheit nicht bewusst werden; und umgekehrt: wäre der empirische Wille, (dessen wir uns bewusst werden,) vom ab‐ soluten nicht bloß seinen Schranken, sondern dem Princip nach verschieden, so gäbe es abermals kein Bewusstseyn der Freiheit in unserm empirischen Wollen.
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6. Vom StandPunkt des Bewusstseyns angesehen, besteht die Freiheit des Wil‐ lens in der Willkür, womit wir jetzt das Gesetz, jetzt das entgegengesetzte Princip in unsre Maxime aufnehmen, und eben diese Unmöglichkeit, uns den absoluten Willen anders vorzustellen, ist der Grund aller Endlichkeit. 7. Durch diesen Begriff der Willkür aber, als welcher bloß zu der Art und Wei‐ se gehört, wie wir uns selbst vorstellen, kann das übersinnliche in uns nicht definirt werden. *** Den Satz 1 läugnet Reinhold, weil er auf dem StandPunkt des Bewusstseyns stehen bleibt, und sich nicht zum absoluten Willen erhebt. Den Satz 2 behaup‐ tet Reinhold und Kant lange vor ihm. In der Philos. ReligionsLehre S. 10 erklärt er ausdrücklich, das moralische Gesetz sey eine Triebfeder der Willkür, also ein Positives = a, mithin könne der Mangel der Uebereinstimmung der Willkür mit dem Gesetze (= 0) nur als Folge von einer reell-entgegengesetzten Bestimmung der Willkür, = – a, d. h. durch eine böse Willkür erklärt werden. 113 Ueber den Satz 3 sind beide uneinig, weil sie mit dem Worte Vernunft verschiedne Begriffe verbinden. Den Satz 4 habe ich sonst so ausgedrückt: »daß die Causalität des empirischen Ich Causalität durch Freiheit ist, verdankt sie ihrer Identität mit der absoluten, daß sie transscendentale Freiheit ist, nur ihrer Endlichkeit (besser: das Transscendentale ist das, was das Empirische in uns mit dem Absoluten, das Sinnliche mit dem Uebersinnlichen vermittelt); sie ist also im Princip, von dem sie ausgeht, absolute Freiheit, und wird nur erst, indem sie auf ihre Schran ken stößt, transscendental, d. i. Freiheit eines empirischen Ichs.« 114 – Kant lässt sich auf diese Vermittlung des Sinnlichen und Uebersinnlichen durch das Transscen‐ dentale des Wollens nirgends ein, Reinhold behauptet ausdrücklich dasselbe: »es fällt mir nicht ein,« sagt er, »die Freiheit des Menschen als intelligibeln Wesens (durch die Willkür?) definiren zu wollen. Ich habe es bloß mit der Freiheit des menschlichen Willens zu thun; der Mensch ist mir weder intelligibles Wesen, noch SinnenWesen, sondern beides zugleich, und ich halte ihn auch nur für frei, weil und inwieferne er beides zugleich ist, während Kant ihn nur inwieferne er intelli‐ gibles Wesen ist, für frei zu halten scheint;« 115 – (nicht nur scheint, sondern wirk‐ lich hält, und zwar von seinem GesichtsPunkt aus mit Recht). Der Wille ist nur frei, insofern der Mensch intellectuell ist, aber diese Freiheit wird transscendental (und eine höhere scheint Reinhold nicht zu kennen), nur inwiefern er zugleich sinnlich ist. – »Das Subject der transscendentalen Vermögen ist zugleich das Sub‐ ject der empirischen, wenn jenes Vermögen nicht transscendent, sondern trans‐ 113 114 115
Vgl. RGV. AA VI, 22 f. Anm. Vgl. Vom Ich als Princip der Philosophie. HKA I / 2, 169. Vgl. Reinhold 1797, 393 (Text 18).
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scendental, d. h. auf’s Empirische sich a priori beziehend, seyn solle.« 116 – Diese Erklärung sagt gerade das, was oben der Satz 5 behauptet. – Ueber die beiden folgenden Sätze sind dem bisherigen zufolge beide Philosophen einverstanden. *** 171
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Ich schweige von allen den Folgerungen, die sich aus der Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs in Dingen, die die Menschheit am nächsten angehen, für die Nothwendigkeit eines philosophischen Princips machen lassen, das jen‐ seits des Bewusstseyns liegt. Diese Folgerungen dringen sich jedem von selbst auf. Ich füge nur soviel hinzu: Eine Philosophie, deren erstes Princip das Geistige im Menschen, d. h. dasjenige was jenseits des Bewusstseyns liegt, zum Bewusstseyn hervorrufen will, muß nothwendig eine große Unverständlichkeit haben für dieje‐ nigen, welche dieses geistige Bewusstseyn nicht geübt und gestärkt haben, oder denen auch das Herrlichste, was sie in sich tragen, nur durch todte, anschau‐ ungslose Begriffe zu erscheinen pflegt. Das Unmittelbare, das in jedem ist, und an dessen ursprünglichem Anschauen, (das gleichfalls in jedem ist, aber nicht in jedem zum Bewusstseyn kommt), alle Gewissheit unsrer Erkenntniß hängt, wird keinem durch Worte, die von außen in ihn dringen, verständlich. Das Me‐ dium, wodurch Geister sich verstehen, ist nicht die umgebende Luft, sondern: die gemeinschaftliche Freiheit, deren Erschütterungen bis ins Innerste der Seele sich fortpflanzen. Wo der Geist eines Menschen nicht vom Bewusstseyn der Frei‐ heit erfüllt ist, ist alle geistige Verbindung unterbrochen, nicht nur mit Andern, sondern sogar mit ihm selbst; kein Wunder, daß er sich selbst eben so gut als Andern unverständlich bleibt, und in seiner fürchterlichen Einöde nur mit eiteln Worten sich ermüdet, denen kein freundlicher Wiederhall (aus eigner oder frem‐ der Brust) antwortet. Einem solchen unverständlich zu bleiben ist Ruhm und Ehre vor Gott und Menschen, [Barbarus huic ego sim, nec tali intelligar ulli,] 117 Wunsch und Gebet, dessen man sich nicht erwehren kann. – Die Geschichte der Philosophie enthält Beispiele von Systemen, die mehrere Zeitalter hindurch räthselhaft geblieben sind. Ein Philosoph, dessen Principien alle diese Räthsel auflösen werden, urtheilt noch neuerdings von Leibnitz, er sey
116
Vgl. Reinhold 1797, 393 (Text 18). Ovid: Tristia V, 10,37: »Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.« – »Ein Barbar bin ich hier, weil ich von niemandem verstanden werde.« In Schellings Fassung heißt der Spruch: »Ein Barbar wäre ich diesem und würde von einem solchen nicht verstanden wer‐ den.« 117
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wahrscheinlich der einzige Ueberzeugte in der Geschichte der Philosophie, 118 der Einzige also, der im Grunde recht hatte. Diese Aeußerung ist merkwürdig, weil sie verräth, daß die Zeit, Leibnitzen zu verstehen, gekommen ist. Denn, so wie er bisher verstanden ist, kann er nicht verstanden werden, wenn er im Grunde recht haben soll. Diese Sache verdient eine vorläufige Untersuchung.
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265.
Vgl. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. GA I / 4, 263–
V. FREIHEIT UND SKEPTIZISMUS
20 LEONHARD CREUZER
(1793)
Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe [Auszüge]
Christoph Andreas Leonhard Creuzer (1768–1844) studierte Theologie und Philosophie in Marburg, wo er mit der Philosophie Kants bekannt wurde, obwohl diese damals in Hessen nicht gelehrt werden durfte. 1791–1792 studierte Creuzer in Jena bei den führenden Vertretern der kritischen Philosophie: C. G. Schütz, K. L. Reinhold, C. C. E. Schmid und F. Schiller. Besonders stark war der Einfluss Schmids, der auch die Vorrede zu Creuzers erstem philosophischen Werk, Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe (Gießen 1792), verfasste. In der Schrift Leibnitii doctrina de mundo optimo sub examen revocatur denuo (Leipzig 1795) verteidigte Creuzer Schmids und Kants Theorie des höchsten Gutes gegen J. C. Schwab. Creuzer wirkte als lutherischer Prediger und lehrte an der Universität Marburg, weil er aber Kantianer war, erhielt er dort erst 1803 eine Professur für praktische Philosophie. Als Autor trat Creuzer kaum mehr in Erscheinung, er widmete sich der Lehre und setzte sich im Amt eines Konsistorialrats für die Verbesserung des Schulunterrichts und der Einrichtungen für Arme ein. Creuzers Skeptische Betrachtungen verstehen sich zunächst als systematische Prüfung der möglichen Positionen zur Freiheitsfrage, im Zentrum steht dann aber eine Untersuchung der möglichen Antworten auf die Frage innerhalb der kritischen Philosophie. Diese Ausgangslage ergibt sich daraus, dass für Creuzer der traditionelle Streit zwischen den von ihm sogenannten sinnlichen oder empirischen Indifferentisten und sinnlichen oder empirischen Fatalisten durch Kants Analyse und Auflösung der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft definitiv aufgelöst worden ist: Mit dem Nachweis, dass neben der empirischen Kausalität auch eine intelligible Verursachung und damit auch Kausalität durch Freiheit möglich ist, hat Kant gezeigt, dass der empirische Determinismus moralische Freiheit nicht ausschließt (vgl. Creuzer 1793, 42–82). Offen bleibt damit aber die eigentliche Hauptfrage, ob es eine derartige intelligible oder metaphysische Freiheit überhaupt gibt und wie sie verstanden werden kann (vgl. ebd. 76). Diese Frage wird im Abschnitt über den »Realgrund der metaphysischen Freyheit« (ebd. 119–203) geklärt. Es stehen sich dabei im Wesentlichen zwei Standpunkte gegenüber: auf der einen Seite die transzendentalen oder intelligiblen Indifferentisten, zu denen Creuzer K. L. Reinhold (siehe Texte 14 und 16), K. H. Heydenreich (Text 10) und Kant selbst zählt, auf der anderen Seite C. C. E. Schmids intelligibler Fatalismus (Text 12). Mit
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Teil V · Freiheit und Skeptizismus
dieser Opposition tritt die ursprüngliche Antinomie zwischen Indifferentismus und Fatalismus in analoger Weise auf der transzendentalen Ebene wieder auf, wobei es Creuzer zufolge zentral um die Vereinbarkeit der Anforderungen der theoretischen Vernunft mit jenen der praktischen geht (vgl. Creuzer 1793, 160, 202). In seiner Kritik des Indifferentismus (vgl. ebd. 124–142) folgt Creuzer im Wesentlichen Schmid, der das von Reinhold und Heydenreich behauptete Vermögen, sich frei für oder gegen das Sittengesetz entscheiden zu können, als »nonsensikalisches Vermögen« (Schmid 1792, 335 (§ 249); zitiert in Creuzer 1793, 144 f. Anm.) bezeichnet hatte: Die Indifferentisten erfüllen zwar die Forderung der praktischen Vernunft nach einer metaphysischen Freiheit, jedoch ist die so verstandene Freiheit aus Sicht der theoretischen Vernunft überhaupt nicht denkbar. Zum einen müsste es sich dabei um eine Form der Kausalität handeln, die keiner Gesetzmäßigkeit unterliegt, was aber dem Begriff der Kausalität widerspricht; zum andern wird der Satz des zureichenden Grundes außer Kraft gesetzt, den Creuzer – ebenso wie J. A. Ulrich, C. C. E. Schmid und die Leibniz-Wolff’sche Richtung – als unhintergehbares Gesetz des Denkens ansieht. Die indifferentistisch verstandene Freiheit ist somit ein widersprüchliches, undenkbares, weil grund- und gesetzloses Vermögen. In der hier abgedruckten Passage aus den Skeptischen Betrachtungen (Creuzer 1793, 142–170) richtet Creuzer nun dieselben Argumente auch gegen Kant selbst. Es mag überraschen, dass er Kant zu den transzendentalen Indifferentisten zählt. Er kommt zu dieser Einstufung aufgrund der 1792 erschienenen Schrift »Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur« (Berlinische Monatsschrift. 19. Bd. April 1792, 323–385; 1793 als erstes Stück in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. AA VI, 17– 53), in der Kant – anders als in früheren Schriften – klar in diese Richtung tendiert. Dies versucht Creuzer ausführlich nachzuweisen, indem er zeigt, dass Kant beim Versuch, der Forderung der praktischen Vernunft nach einer metaphysischen Freiheit gerecht zu werden, ein Vermögen annimmt, willkürlich zwischen kontradiktorisch entgegengesetzten Handlungsweisen oder Maximen wählen zu können. Dabei muss Kant – wie Reinhold und Heydenreich – ein Vermögen einer Wahl ohne Grund und ohne Gesetz annehmen, ein indifferentistisches Vermögen also, das Creuzer zufolge gar nicht konsistent denkbar ist. Für Creuzer bleibt als einzige Alternative zum transzendentalen Indifferentismus der intelligible Fatalismus Schmids. Dieser ist zwar die aus Sicht der theoretischen Vernunft einzige befriedigende Theorie (vgl. Creuzer 1793, 183), ist aber nicht mit der Forderung der praktischen Vernunft zu vereinbaren (vgl. ebd. 185): Der intelligible Fatalismus hebt die Möglichkeit unsittlicher Handlungen auf und muss zentrale moralische Begriffe wie Schuld, Verdienst und Zurechenbarkeit – und somit letztlich Moralität überhaupt – als bloße Scheinbegriffe oder Täuschungen deklarieren (vgl. ebd. 197–199). Creuzer kommt deshalb (in der hier mitabgedruckten Passage 192–203) zu dem Schluss, dass die Antinomie zwischen transzendentalem Indifferentismus und intelligiblem Fatalismus nicht aufgelöst werden kann, dass also die Forderung der theoreti-
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schen Vernunft nach einer konsistenten Erklärung der intelligiblen Kausalität und die der praktischen Vernunft nach metaphysischer Freiheit nicht zu vereinbaren sind. Was bleibt, ist eine skeptische Haltung, die die Unmöglichkeit einer rationalen Erklärung der Kausalität durch Freiheit akzeptiert und die Forderung von Freiheit als Voraussetzung der Möglichkeit von Moral bestenfalls durch einen »moralische[n] Bedürfnißglauben« (vgl. ebd. 112) erfüllt sieht. Creuzers Resultate bleiben nicht unwidersprochen: Schmid wehrt sich gleich in seiner Vorrede zu den Skeptischen Betrachtungen gegen den Vorwurf, seine Theorie »zerstöre alle Moralität und stürze alle Moral über den Haufen« (vgl. ebd. IX), und noch 1793 publiziert Fichte eine kritische Rezension von Creuzers Werk (siehe Text 21). In Ueber die Gründe und Gesetze freyer Handlungen (1795; Text 22) verteidigt schließlich F. C. Forberg die kantische Freiheitslehre gegen Creuzer. Weiterführende Literatur: Wallwitz 1998, 57–71, Klemme / Kuehn 2016, 146, Martin 2018.
♦ »Der Wille,« sagt Kant, * »ist eine Art von Kausalität lebender Wesen so fern sie vernünftig sind, und Freyheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität seyn, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend seyn kann; so wie Naturnothwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimt zu werden.« 1 »Die angeführte Erklärung der Freyheit,« fährt er gleich darauf fort, »ist nega‐ tiv, und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist. Da der Be‐ griff einer Kausalität den von Gesetzen bey sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anders, nemlich die Folge gesetzt werden muß: so ist die Freyheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgeset‐ zen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art seyn; denn sonst wä‐ re ein freyer Wille ein Unding. Die Naturnothwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursachen; denn jede Wirkung war nur nach dem Gesetze mög‐ lich, daß etwas anders die wirkende Ursache zur Kausalität bestimmte; was kann denn wohl die Freyheit des Willens sonst seyn, als Autonomie, d. i. die Eigen‐ schaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu seyn? Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner andern Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz *
S. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Seite 97. u. 98.
1
Vgl. GMS. AA IV, 446.
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zum Gegenstand haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs, 2 und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freyer Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerley.« 3*4 In Ansehung der moralischen Freyheit wüßte ich nicht, was sich hiergegen einwenden ließe. Dann inwiefern wir uns unter moralischer Freyheit nichts ande‐ res als den Grund der realen Möglichkeit sittlicher Handlungen denken, so folgt daraus von selbst, daß alle Handlungen, die wir als Wirkungen dieser Freyheit betrachten, die Form der reinen praktischen Vernunft an sich tragen, und durch ihre Gesetze bestimmt seyn müssen. **5 *
Einen merkwürdigen Kommentar zu dieser Stelle liefert Spinoza: Tractatux politici C. II. §. VII. »Est namque libertas virtus seu perfectio; quidquid igitur hominem impotentiae 144 arguit, id ad ipsius liber tatem referri nequit. Quare homo minime potest dici liber, propterea quod potest non existere, vel quod potest non uti ratione, sed tantum, quatenus potestatem habet existendi et operandi secundum humanae naturae leges. Quo igitur hominem magis liberum esse consideramus eo minus dicere possumus quod possit ratione non uti et mala prae bonis eligere, et ideo Deus, qui absolute liber naturae necessitate existit, intelligit et operatur, necessario etiam nempe ex suae naturae necessitate existit intelligit et operatur nam non dubium est, quin Deus eadem qua existit libertate operetur: ut igitur ex ipsius na‐ turae necessitate existit, ex ipsius etiam naturae necessitate agit h. e. libere absolute agit.« ** »Einige rechnen zu der moralischen Freyheit auch das Vermögen unsittlich zu han‐ deln. Dies widerspricht aber dem Begriffe von einem sittlichen Vermögen, und eine solche Freyheit wäre ein Vermögen zu kontradiktorisch entgegengesetzten Handlungen, welches 145 auf einen Widerspruch hinausläuft. Ein sol ches in Absicht auf das, was es vermag, ganz und gar indifferentes Vermögen dünkt mich, ein nonsensikalisches Vermögen zu seyn. Wir haben neben der moralischen Freyheit, d. i. neben dem Vermögen sittlich zu handeln, auch 2
Diese Formel lautet: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wol‐ len kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«, oder: »handle so, als ob die Maxime dei‐ ner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (GMS. AA IV, 421). 3 GMS. AA IV, 446 f. 4 »Freiheit ist nämlich eine Tugend, d. h. eine Vollkommenheit; was also eine Ohn‐ macht des Menschen aufzeigt, kann nicht auf dessen Freiheit zurückgeführt werden. Des‐ halb kann der Mensch keineswegs frei genannt werden, weil er [auch] nicht existieren kann oder weil er seine Vernunft [auch] nicht gebrauchen kann, sondern allein insofern, als er die Gewalt hat, gemäß den Gesetzen der menschlichen Natur zu existieren und tätig zu sein. Je mehr wir deshalb einen Menschen als frei ansehen, um so weniger können wir sagen, daß er seine Vernunft [auch] nicht gebrauchen und dem Schlechten den Vorzug vor dem Guten geben könne. Gott, der uneingeschränkt frei existiert, begreift und tätig ist, existiert, begreift und betätigt sich ebendeshalb notwendigerweise, nämlich aus der Notwendigkeit seiner Na‐ tur heraus. Denn zweifellos ist Gott kraft derselben Freiheit tätig, kraft derer er existiert; wie er also aus der Notwendigkeit seiner ihm eigenen Natur heraus existiert, so handelt er auch aus ebendieser Notwendigkeit heraus; und das heißt, daß er uneingeschränkt frei handelt.« (Baruch de Spinoza: Politischer Traktat / Tractatus politicus. Neu übersetzt, herausgegeben, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Wolfgang Bartuschat. Sämtliche Werke 5.2. 2., verbesserte Auflage. Hamburg 2010, 21) 5 Vgl. Schmid 1792, 335 (§ 249 Anm. 2).
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Alle Handlungen also, können wir umgekehrt schließen, die diese Form nicht an sich tragen, kurz, alle nicht sittlichen und alle unsittlichen Handlungen des Menschen dürfen wir nicht als Wirkungen dieser Freyheit betrachten; sie müssen vielmehr in dem Mangel derselben gegründet seyn. Aber woher dieser Mangel? der Ver fasser war gerade in seiner Ausarbeitung bis an diese Frage gekommen, als ihm die Kantische Abhandlung: Ueber das radikale Böße in der menschlichen Natur im Aprilstück 1792. der Berlinischen Monatsschrift 6 in die Hände fiel. Da diese Abhandlung nun die Antwort auf jene wichtige und schwere Frage nicht nur weit vollständiger, sondern auch ganz anders entwickelt, als man es aus der eben angeführten Stelle, wie überhaupt aus den frühern Schriften des großen Mannes hätte erwarten sollen, so wird es wahrscheinlich meinen Lesern nicht unangenehm seyn, wenn ich das wesentlichste aus derselben hier anführe, und mit einigen Anmerkungen begleite. »Man nennt,« sagt Kant Seite 326., »einen Menschen böße, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böße (gesetzwidrig) sind, sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böße Maximen in ihm schließen lassen. Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken, auch (wenig‐ stens an sich selbst) daß sie mit Bewußtseyn gesetzwidrig sind; aber die Maxi‐ men kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urtheil, daß der Thäter ein bößer Mensch sey, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. Also müßte sich aus einigen, ja aus einer ein zigen mit Bewußtseyn bö‐ ßen Handlung a priori auf eine böße zum Grund liegende Maxime, und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch bößen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böße zu nennen. Dieser subjektive Grund« (zur Annehmung einer sol‐ chen Maxime) »muß aber immer wieder selbst ein Aktus der Freyheit seyn, (denn sonst könnte der Gebrauch oder Mißbrauch von der Willkühr des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden, und das Gute ein anderes, aber sehr verschiedenes Vermögen, solche Handlungen auszuüben und solche Gesinnungen zu hegen, die dem Sittengesetz der Vernunft zuwider sind. Dies ist eine Folge der Einschränkung unserer Freyheit, also in Beziehung auf die Vernunft ihres Unvermögens, in Beziehung auf die übrigen Kräfte der menschlichen (überhaupt der eingeschränkten ver‐ nünftigen) Natur eine Folge von dem Verhältniß des bestimmbaren Vermögens der Sinn‐ lichkeit zu andern Bestimmungen, die nicht von dem reinen Vernunftwillen hervorgebracht werden – Folge von dem Verhältniß der Bestimmung, welche das sinnliche Begehrungs‐ vermögen von eigenthümlich sinnlichen Gegenständen zu derjenigen Bestimmung, die es durch den reinen Willen erhält.« Schmids Moralphil. 2te Ausgabe §. 249. Anm. 2. 6
»Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur«. Berlinische Monatsschrift. 19. Bd. April 1792, 323–385; 1793 als erstes Stück in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft aufgenommen, vgl. AA VI, 17–53. Creuzers Seitenangaben im Text be‐ ziehen sich auf den Erstdruck in der Berlinischen Monatsschrift.
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und Böße in ihm nicht moralisch heißen). Mithin kann in keinem die Willkühr durch Neigungen bestimmenden Objekt, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkühr sich selbst für den Gebrauch ihrer Freyheit macht, d. i. in einer Maxime der Grund des Bößen liegen.« 7 Schon aus dieser einzigen Stelle erhellet deutlich, daß Kant am Ende ebenfalls wie Reinhold und Heydenreich 8 die Freyheit auf ein absolutes Vermögen zu kon‐ tradiktorisch entgegengesetzten *9 Handlungen zurückführt. Fragt man, wodurch Kant sich berechtigt glaubt, ein solches Vermögen anzunehmen, das er selbst (man s. Seite 117, 122 und 126.) 10 für widersprechend erklärt, so erhält man hier die gewiß sehr unbefriedigende Antwort: »Von dieser Maxime muß nun nicht weiter gefragt werden können, was der subjektive Grund ihrer Annehmung, und nicht vielmehr der entgegengesetzten Maxime im Menschen sey. Denn wenn dieser Grund zulezt selbst keine Maxime mehr, sondern ein bloßer Naturtrieb wäre, so würde der Gebrauch der Freyheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden können, wel‐ ches ihr aber widerspricht.« 11 Gegen dies apagogische Argument lassen sich, dünkt mich, mehrere sehr ge‐ gründete Erinnerungen machen: 1) Inwiefern man unter Naturursachen nichts anders als in der Zeit bestimmte Ursachen denkt, so können diese in keinem Fall *
Mein schon oben angeführter philosophischer Freund erklärte diesen Ausdruck für un‐ richtig. »Wäre die Vorschrift der Vernunft die einzige Regel, nach welcher der Wille sich be‐ 148 stimmen könnte, und ich legte ihm ein Vermögen bey, dieser Vorschrift sowohl zu folgen als nicht zu folgen, so wäre das kontradiktorisch, aber da die Forderung der Sinnlichkeit ebenfalls Regel ist, welcher der Wille folgen kann, obgleich nicht folgen soll, so liegt der Widerspruch nicht im Willen, sondern in den beyden entgegengesetzten Regeln.« Allein durch diese Di‐ stinktion ist, dünkt mich, im Grunde nichts gewonnen. Denn kann der Wille, ohne daß we‐ der die Vorschrift der Vernunft, noch die Forderung der Sinnlichkeit im mindesten auf seine Bestimmung einfließen, völlig willkührlich zwischen den beyden entgegengesetzten Regeln wählen, so ist und bleibt er ein absolutes Vermögen zu kontradiktorisch entgegengesetzten Handlungen, oder um mit Kant zu reden, zu kontradiktorisch entgegengesetzten Maximen, welcher Ausdruck den Widerspruch noch auffallender zu bezeichnen scheint. 7
Vgl. RGV. AA VI, 20 f. Siehe Creuzer 1793, 124–142, besonders 135–140, sowie Reinhold 1792, 185, 264 (Text 14) und Heydenreich 1791a, 63 f. (§ 1) (Text 10). 9 Der philosophische Freund wird in Creuzer 1793, 117 f. Anm. bereits erwähnt, aber auch dort nicht mit Namen genannt. Möglicherweise handelt es sich um Friedrich Carl For‐ berg, der zur gleichen Zeit wie Creuzer in Jena studierte. Aus dessen »Vorbericht« zu For‐ berg 1795, [3] (Text 22) geht hervor, dass ein freundschaftliches Verhältnis bestand und dass sich Creuzer mit ihm bereits privat über die Freiheitsthematik ausgetauscht hatte. Zudem verteidigt Forberg wie der Freund in Creuzers Fußnote die kantische Freiheitslehre. 10 Vgl. GMS. AA 457, 459 f. (Anm.) und 462, wo Kant zwar ein Vermögen zu kontra‐ diktorisch entgegengesetzten Handlungen oder Maximen nicht direkt für widersprüchlich erklärt, aber doch von Gründen oder Ursachen ausgeht, die den Willen bestimmen. 11 Vgl. RGV. AA VI, 21. 8
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auf die intelligiblen Gründe unserer Handlungen bestimmenden Einfluß haben. Mag also die Freyheit des Willens immerhin ein gesetzmäßiges Vermögen seyn, von eigentlichen Naturursachen bleibt sie demohngeachtet ganz unabhängig. 2) Kant sagt selbst in der vorhin angeführten Stelle: »Da der Begriff der Kau‐ salität den von Gesetzen bey sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ur‐ sache nennen, etwas anderes, nemlich die Folge gesetzt werden muß, so ist die Freyheit, ob sie gleich nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht ganz gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach un‐ wandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art seyn, denn sonst wäre ein freyer Wille ein Unding.« 12 Dies letztere ist es hauptsächlich, was gegen ein solches indifferentistisches Vermögen entschei det. Es ist also nicht blos die Unerforschlichkeit, sondern (man sehe auch oben) 13 ein wirklicher Widerspruch, was uns hierbey im Wege steht. Kant findet nur die erste. Er sagt nemlich in einer Anmerkung S. 328. »Daß der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen uner‐ forschlich sey, ist schon daraus vorläufig zu ersehen, daß, da diese Annehmung frey ist, der Grund derselben (warum ich z. B. eine böße, und nicht vielmehr eine gute Maxime angenommen habe,) in keiner Triebfeder der Natur, sondern immer wieder in einer Maxime gesucht werden muß; und da auch diese eben sowohl ihren Grund haben muß, ausser der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freyen Willkühr angeführt werden soll und kann, man in der Reihe der subjekti‐ ven Bestimmungsgründe ins Unendliche immer weiter zurückgewiesen wird, oh‐ ne auf den ersten Grund kommen zu können.« 14 Allein es scheint eben um deswillen, weil ein solcher Regressus, der ohne Zeit‐ begriffe gar nicht gedacht werden kann, im Intelligiblen nicht statt findet, nichts anders übrig zu seyn, als bey dem ersten intelligiblen Grunde unserer morali‐ schen Handlungen stehen zu bleiben, und sie da durch nach den reinen Gesetzen unseres Denkens zureichend und nothwendig begründet zu denken, in Ansehung der unmoralischen Handlungen aber anzunehmen, daß sie durch eine Einschrän‐ kung der Kraft jenes intelligiblen Grundes durch fremde Kräfte erzeugt worden sind. Ich kann nicht läugnen, daß dies Raisonnement auf einen intelligiblen Fa‐ talismus hinführe, aber eben so wenig wird man mir läugnen können, daß eine Freyheit, die den zureichenden Grund für die Annehmung kontradiktorisch ent‐ gegengesetzter Maximen in sich enthält, sowohl mit den Forderungen der prak‐ tischen, als mit den Gesetzen der spekulativen Vernunft, im Widerspruch stehe. Dies letztere schein Kant selbst in unserer, den Indifferentismus der Freyheit so sehr begünstigenden, Abhandlung einzuräumen: 12 13 14
Vgl. GMS. AA IV, 446. Vgl. Creuzer 1793, 131–136. Vgl. RGV. AA VI, 21 Anm.
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»Wenn wir sagen: der Mensch ist von Natur gut oder böße, so bedeutet dies nur so viel, als er enthält einen uns unerforschlichen ersten Grund der Anneh‐ mung guter, oder Annehmung bößer (gesetzwidriger) Maximen, und zwar allge‐ mein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt.« Seite 327. u. 328. 15 Also gäbe es doch einen Grund für die Annehmung einer moralischen Maxi‐ me, und der Mensch könnte nicht nach einer völlig indifferentistischen Willkühr eben so gut eine böße als eine gute Maxime wählen? Ist nemlich, wie sichs von selbst versteht, jener uns unerforschliche erste Grund zureichend, so bestimmt er seine Maxime nothwendig, ohne daß deswegen (ich berufe mich auf das, was ich schon oben in dieser Rücksicht gesagt habe,) 16 das Subjekt, dem diese Ma‐ xime angehört, der Naturnothwendigkeit unterworfen würde. Auch begreife ich nicht, wie sonst nach Kants Forderung ein allgemeiner Charakter der Menschheit gefunden werden könne. Besitzt jedes Individuum von Menschen seinem intelli‐ giblen Ich nach ein so ganz indifferentistisches Vermögen, zwischen 2 durchaus entgegengesetzten Charakteren zu wählen, wie kann man denn behaupten, daß nur einer derselben dem Menschen als Menschen zukomme? daß nur einer von beyden ihm angeboren, natürlich sey? Seite 328. u. 340. 17 Es wäre in der That ein erstaunenswürdiges Wunder, wenn unter den Millio‐ nen Menschen, die einst auf unserem Planeten lebten, unter den Millionen, die noch jetzt darauf leben, und die künftig darauf leben werden, bey einer so ganz uneingeschränkten Wahlfreyheit kein einziger sich fände, der eine andre Grund‐ maxime des Handelns sich gewählt hätte, als seine Brüder. Und doch müßte dies der Fall seyn, wenn ein allgemeiner Charakter der Menschheit im Kantischen Sin‐ ne statt finden sollte. Man mag mirs verzeihen, wenn ich hierbey an ein Wort des weisen Mendelssohns erinnere, das zwar etwas popularphilosophisch aus‐ sieht, aber doch hier nicht an einer unrechten Stelle zu stehen scheint. »Wenn der Weltweise,« sagt Mendelssohn in seinen Morgenstunden, »in seiner Spekula‐ tion auf eine ungeheure Behauptung stößt, so ist es hohe Zeit, daß er sich ori‐ entire, und nach dem schlichten Menschenverstand umsehe, von dem er zu weit abgekommen ist.« 18 Wenn Kant dies hier nicht that, so war es vielleicht gerade das Ausserordentliche der Hypothese, was ihn anreitzte, diese Idee noch wei‐ ter zu verfolgen. Wenigstens sehe ich nicht, daß die diesem großen Genius der Philosophie gebührende Achtung durch eine solche Behauptung verletzt wür‐ de. 15
Vgl. RGV. AA VI, 21. Vgl. Creuzer 1793, 137–141. 17 Vgl. RGV. AA VI, 21, 28 f. 18 »So oft mich meine Spekulation zu weit von der Heerstraße des Gemeinsinns ab‐ zuführen scheinet, so stehe ich still und suche mich zu orientiren.« (Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Erster Theil. Berlin 1785, 165 f.) 16
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In jedem Fall aber ist es höchst interessant, zu sehen, wie Kant sich aus dem Gewirre von Schwierigkeiten herauszuwinden sucht, die er durch seine Hypothe‐ se sich selbst erst geschaffen hatte. »Der Mensch,« sagt er Seite 347, »ist von Natur böße, heißt so viel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet, nicht, als ob solche Qualität aus ei‐ nem Gattungsbegriffe (dem eines Menschen überhaupt) könne gefolgert werden. Denn alsdann wäre sie nothwendig – sondern er kann nachdem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurtheilt werden, oder man kann es als subjectivnothwendig in jedem, auch den beßten Menschen, voraussetzen.« 19 Allein zugegeben, daß ein solcher Schluß durch Induktion hier gültig, zuge‐ geben, daß die Induktion selbst richtig sey, *20 immer bleibt doch noch die Fra‐ ge: Woher eine solche Uebereinstimmung, eine solche Allgemeinheit in der Erfah‐ rung? woher die wesentliche Gleichheit in dem erscheinenden Charakter der Men‐ schen, der doch wesentlich verschieden seyn könte, weil ex hypothesi der ihm zum Grund liegende intelligible Charakter wesentlich verschieden seyn kann? Wenigstens kann man das, was unmittelbar nach der angeführten Stelle folgt, nicht als Antwort auf diese Frage betrachten: »da dieser Hang,« fährt Kant hier fort, »selbst als moralisch böse, mithin nicht als Naturanlage, sondern als et‐ was, was dem Menschen zugerechnet werden kann, betrachtet werden, folglich in gesetzwidrigen Maximen der Willkühr bestehen muß; diese aber der Frey‐ heit wegen für sich als zufällig angesehen werden müssen, welches mit der Allgemeinheit dieses Bösen sich wiederum nicht zusammenräumen will, wenn nicht der subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst, es sey, wodurch es wolle, verwebt und darinn gleichsam gewurzelt ist, so werden wir diesen ei nen natürlichen Hang zum Bösen, und da er doch immer selbst verschuldet seyn muß, ihn selbst ein radikales angebornes (nichts destoweni‐
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Wogegen jedoch noch mancher protestiren dürfte. Wenigstens sagt Schmid gerade das Gegentheil. Nachdem er nemlich in der neuen Ausgabe seines Versuchs einer Moral‐ philosophie, die vornehmsten Thatsachen angegeben, die wir in unserem moralischen Be‐ wußtseyn entdecken, so sezt er gleich darauf in der Erklärung dessen, was diese Thatsa‐ chen nothwendig voraussetzen, wenn sie vernünftig gedacht werden sollen, im 252sten §phen hinzu: »Iene Fakta beweisen ferner, daß es in der menschlichen Natur weder einen bösen Willen, d. h. ein ursprüngliches Prinzip, das zu wollen, was mit dem Sittengesetze streitet, noch ein böses Begehrungsvermögen, d. h. eine der Sittlichkeit wesentlich eigene und dem Sittengesetz direkt widerstreitende Bestimmung zum Handlen gebe.« Und gleich darauf: »Das Böse als Böses können wir weder wollen noch begehren, sondern wir wollen nur das an sich Gute; wir begehren nur das sinnlich Ange nehme und Nützliche. Also haben 155 wir keine Freyheit, keinen ursprünglich innern Bestimmungsgrund, das Böse zu wollen. In dieser Rücksicht sind wir bloß abhängig.« Man vergl. auch §. 229. S. 315. 19 20
Vgl. RGV. AA VI, 32. Vgl. Schmid 1792, 341 (§ 252) und 315 (§ 229).
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ger aber von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.« 21 Ich begreife in der That nicht, wie Kant, der (man sehe Seite 330) der rigoristi‐ schen Denkungsart im Praktischen so sehr zugethan ist, 22 hier im Spekulativen so wenig Rigorist seyn könne. Der subjektive oberste Grund aller Maximen soll mit der Menschheit (nicht eines einzelnen Menschen, sondern der ganzen Gattung) verwebt, und gleichsam gewurzelt, und dennoch auch durch freye Willkühr von einem jeden einzelnen angenommen worden seyn, und zugerechnet werden kön‐ nen. Fast scheint es hieraus, als ob Kant noch gern einen Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall einschlagen möchte. Allein ein solcher Mittelweg ist, wie ich schon oben gezeigt habe, 23 mit den Gesetzen unsers Denkens durchaus unvereinbar. Wir haben also nur unter beyden zu wählen, aber auch diese Wahl ist aus dem Standpunkt der Spekulation bald entschieden. Denn die Begriffe von Grund und von Gesetz sind mit dem Begriff von Nothwendigkeit unzertrennlich verknüpft. Sie sind insgesamt reine Verstandesbegriffe, die zu allem denkbaren gehören, da wir im Gegentheil dem Begriff von Zufall als einer widersprechen‐ den vernunftlosen Vorstellung, nur negative Brauchbarkeit einräumen können. Sobald wir also die Dinge an sich oder vielmehr die Noumene denken wollen, müssen wir sie auch nothwendig diesen Gesetzen gemäß denken, oder – wir dür‐ fen sie gar nicht denken. Denn sie wider die Gesetze der reinen Vernunft denken zu wollen, wäre eine Misologie 24, die einen Philosophen entehren würde, und die auch gewiß dem großen Stifter der kritischen Philosophie nicht in den Sinn kam. Er sagt auch ausdrücklich Seite 351 der angeführten Abhandlung: »Sich als ein freyhandelndes Wesen, und doch von dem, einem solchen angemessenen Geset‐ ze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel, als eine ohne alle Geset‐ ze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen * – fällt der Freyheit halber weg): welches sich widerspricht,« 25 und in der Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft Seite LII et LIII in der Anmerkung: »Selbst die Kausalität der Freyheit (der reinen praktischen Vernunft) ist die Kausalität einer jener un‐ tergeordneten Naturursache (des Subjekts, als Mensch, folglich als Erscheinung betrachtet) von deren Bestimmung das Intelligible, welches unter der Freyheit ge‐ *
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Nemlich in der Zeit.
Vgl. RGV. AA VI, 32. Vgl. RGV. AA VI, 22. 23 Vgl. Creuzer 1793, 135 f. Dass es keinen »Mittelweg zwischen Nothwendigkeit und Zufall, zwischen Determinismus und Indeterminismus« gibt, ist die zentrale These von Ulrich (vgl. Ulrich 1788, 16 (Text 2)), der auch Schmid (vgl. Schmid 1790, 209 (§ 255) (Text 12)) zustimmt. 24 Unter Misologie versteht man die Ablehnung von Vernunft, rationaler Methode und Wissenschaftlichkeit. Vgl. KrV A 855/B 883. 25 Vgl. RGV. AA VI, 35. 22
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dacht wird, auf eine übrigens (eben so, wie eben dasselbe, was das übersinnliche Substrat der Natur ausmacht) unerklärliche Art, den Grund enthält.« 26 Man sieht also, Freyheit als absolutes Vermögen zu kontradiktorisch entgegen‐ gesetzten Handlungen, war bey Kant blos eine durch praktische Vernunft ihm abgedrungene Voraussetzung. Er vergaß über der Bemühung, die praktische Ver‐ nunft mit der spekulativen wieder auszusöhnen, die Gesetze der letztern, oder glaubte wenigstens, sich hier von ihnen los sagen zu müssen, um eine Freyheit zu gründen, bey der die Zurechnung ungefährdet bliebe. Daher auch in der an‐ geführten Abhandlung die spekulative Vernunft fast immer so wie Seite 327 mit den Worten zurückgewiesen wird: »Sonst könte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkühr des Menschen in An‐ sehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden«, 27 und Seite 333: »Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maxi‐ men, kann nur eine einzige seyn, und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freyheit, sie selbst aber muß auch durch freye Willkühr angenommen worden seyn, denn sonst könte sie nicht – zugerechnet werden,« 28 und noch stärker Seite 369 »Was der Mensch im moralischen Sinn ist oder werden soll, gut oder böße, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben. Beydes muß eine Wirkung seiner freyen Willkühr seyn, denn sonst könnte es ihm nicht – zugerechnet wer‐ den.« 29 Zurechnung wird also als ein Faktum, das gar keines Erweises bedarf, voraus‐ gesetzt, und man sieht, es ist Kant recht eigentlich darum zu thun, dem Men‐ schen alle Schuld aufzubürden. Die Behauptung, daß Schuld, und folglich auch Zurechnung seyn müsse, steht da allenthalben wie ein Cherub mit flammendem Schwerdt, um alles weitere Vorwärtsdringen unmöglich zu machen, und von al‐ ler fernern Untersuchung sogleich – zurückzuschrecken. Und dennoch kostete es Kant nicht wenig Mühe, seine Freiheitslehre durch diesen Cherub zu schüt‐ zen. Man sehe nur Seite 340, wo er seine freye Willkühr, bey der immer noch Zurechnung statt findet, mit dem allgemeinen Hange zum Bößen, den er in der menschlichen Natur gefunden zu haben glaubt, zu vereinigen sucht – »Unter einem Hange,« sagt er in dieser Stelle, »verstehe ich den subjektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist. Er unterscheidet sich darin von einer Anlage, daß er zwar angeboren seyn kann, aber doch nicht als ein solcher vorgestelt werden darf, son‐ dern auch wenn er gut ist, als erworben, oder wenn er böße ist, als von dem Menschen selbst sich zugezogen, gedacht werden kann.« 30 – 26 27 28 29 30
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
KU. AA V, 196 Anm. RGV. AA VI, 21. RGV. AA VI, 25. RGV. AA VI, 44. RGV. AA VI, 28 f.
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Es ist in der That merkwürdig, daß alle neuere Versuche, das große Räthsel der Willensfreyheit zu lösen, am Ende auf das Resultat hinführen, daß praktische und spekulative Vernunft in Absicht auf Freyheit durchaus unvereinbar scheinen. Die Antinomie die in dieser Rücksicht zwischen beyden statt findet, ist wenigstens in dieser Stelle sehr deutlich ausgedrückt, ob man gleich sieht, daß der Verf[asser]. sie nicht bloß ausdrücken, sondern auch lösen wollte. Dieß leztere ist aber eben so wenig in dieser, als in einer folgenden Stelle geschehen. »Es ist,« sagt Kant Sei‐ te 344 und 345, »nichts sittlich (d. i. zurechnungsfähig) böße, als was unsere eige‐ ne That ist. Unter dem Begriff eines Hanges aber versteht man einen subjektiven Bestimmungsgrund der Willkühr, der vor jeder That vorhergeht, mithin selbst noch nicht That ist; da denn im Begriffe eines bloßen Hanges zum Bößen ein Wi‐ derspruch seyn würde, wenn dieser Ausdruck nicht etwa in zweyerlei Bedeutung, die sich beyde jedoch mit dem Begrif der Freyheit vereinigen lassen, genommen werden könte. Es kann aber der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freyheit gelten, wodurch die oberste Maxime dem Ge‐ setz gemäß, oder zuwider« (auch hier wieder offenbar eine Freyheit zu kontra‐ diktorisch entgegengesetzten Handlungen!) »in die Willkühr aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst ihrer Materie nach die Objekte der Willkühr betreffend – jener Maxime gemäß, ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun That in der ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweyten Sinne genommen, wel‐ che der Materie nach demselben widerstreitet und Laster (peccatum derivativum) genannt wird; und die erste Verschuldung bleibt, wenn gleich die 2te (aus Trieb‐ federn, die nicht im Gesetz selber bestehen) vielfältig vermieden würde *31. Iene ist intelligible That bloß durch Vernunft, ohne alle Zeitbedingungen erkennbar, diese sensibel empirisch in der Zeit gegeben (Factum phaenomenon). Die erste heißt nun vornemlich in Vergleichung mit der 2ten, ein bloßer Hang, und ange‐ boren, weil er nicht ausgerottet werden kann, vornemlich aber, weil wir davon: warum in uns das Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses unsere eigene That ist, eben so wenig weiter eine Ursache angeben können, als von einer Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört.« 32 – Man könte fragen, worin besteht denn nun eigentlich die Freyheit, wenn jener Hang nicht ausge‐ rottet werden kann? denn nach solchen Prämissen wären alle unsre wirklichen *
Also sollte doch wohl Augustin Recht haben, wenn er die Tugenden der edelsten und beßten Menschen des Alterthums splendida vitia schalt? 31
Der Ausspruch »virtutes paganorum splendida vitia« – »die Tugenden der Heiden [sind nichts als] glänzende Laster« – wird seit Leibniz und Wolff Augustinus zugeschrieben, findet sich bei diesem allerdings nicht wörtlich, sinngemäß geht er zurück auf De Civitate Dei XIX, 25. 32 Vgl. RGV. AA VI, 31 f.
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Handlungen nur insofern frey, als sie als Folgen jener intelligiblen That betrachtet werden müssen, sie könten uns nur insofern zugerechnet werden, als sie durch jene That, wodurch eine gesetzwidrige Maxime zur obersten Maxime angenom‐ men wurde, begründet worden sind. Wir wären folglich jezt gar nicht mehr im Besitzstande der Freyheit, die wir seit jener unglücklichen That (wodurch die Triebfeder der Selbstliebe und ihrer Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes gemacht, und also die sittliche Ordnung der Triebfeder umgekehrt wurde) eingebüßt hätten. Ich begreife daher nicht, wie Kant Seite 362 sagen könne »Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stand der Unschuld in sie gerathen wäre.« 33 Der Mensch ist ja ex hypothesi seit * jener unglücklichen That, nicht mehr im Stande der Unschuld. Ein unvertilgbarer Hang zum Bösen beherrscht ihn. Iede böse Handlung ist Folge dieses Hanges, und jede gute nichts weiter, als legal. Denn die erste Verschuldung (peccatum origi‐ narium) bleibt, wenn gleich die zweyte (peccatum derivativum) aus Triebfedern, die nicht im Gesetz selber bestehen, vielfältig vermieden würde. Mag auch das intelligible Ich unabhängig von Zeitumständen seyn, es ist nicht frey, sondern mit unzerreisbaren Banden an das Böse gefesselt. – Wir sehen den Menschen als einen zweyten Prometheus **34 gefesselt an einen schrecklichen Felsen, und selbst der lindernde Trost, der jenen noch vor der Verzweiflung schützte, ver‐ mag ihn nicht zu schützen; denn er selbst hat sich in diese Fesseln geschmiedet. Unmöglich kann man eine solche Theorie für befriedigend erkennen, welche bey genauerer Untersuchung eben so empörend für die praktische Vernunft erscheint, als grundlos für die spekulative. Kant will zwar auch hier in spekulativer Rücksicht nur Unerforschlichkeit fin‐ den, aber der Widerspruch ist einleuchtend, sobald man, wie er selbst gethan hat, jenen Hang zum Bößen auf denjenigen Gebrauch der Freyheit zurückführt, wodurch eine oberste Maxime dem Gesetz gemäs oder zuwider in der Willkühr aufgenommen werden kann. Man wird in dieser Rücksicht auch folgende Stelle wenig befriedigend finden. »Der Vernunftursprung,« heißt es Seite 367, »dieser Verstimmung unserer Will‐ kühr, in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen *
Im intelligibelen fallen freylich alle Zeitbegriffe weg, allein dieses seit bezieht sich aufs Sensible – die ganze Reihe von erscheinenden Handlungen trägt einen antiparadiesi‐ schen Charakter, weil das intelligible Ich seiner hohen Würde ungeachtet, den Menschen nur zu moralischbösen Handlungen bestimmen kann. ** Nach Aeschylus Dichtung. 33
Vgl. RGV. AA VI, 41. In der dem griechischen Dichter Aischylos (525–456 v. Chr.) zugeschriebenen Tragö‐ die Der gefesselte Prometheus wird Prometheus zur Strafe dafür, dass er den Göttern das Feuer geraubt hat, mit Ketten an einen Felsen gefesselt. 34
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aufzunehmen, d. i. dieses Hanges zum Bößen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bößen Maxime erfordern würde,« (dieß würde allerdings den Forderungen der spekulativen Vernunft, weit gemäßer seyn als bey einem ganz grundlosen Vermögen stehen zu bleiben) »das Böße hat nur aus dem moralisch Bößen, nicht den bloßen Schranken unsrer Natur, entspringen können,« (eine Behauptung, die doch wohl noch eines stärkern Beweises bedurft hätte, als der gleich folgende ist) »und doch ist die ursprüngliche Anlage, die auch kein an‐ derer als der Mensch selbst verderben konte, wenn diese Korruption ihm soll zuge‐ rechnet werden, eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralisch Böse in uns zuerst gekommen seyn könne – «. 35 Nicht nur kein begreiflicher Grund, setze ich hinzu, sondern überhaupt kein Grund, in wiefern wir, um einen Regressus in infinitum zu vermeiden, ein grundloses Ver‐ mögen zur Annehmung kontradiktorisch entgegengesezter Maximen behaupten müßten, welches die spekulative Vernunft als widersprechend verwirft. Aber 2tens ist jener Hang auch durchaus unbefriedigend für die praktische Vernunft, weil er als radikal, d. i. unvertilgbar angenommen wird. Ist er, wie Kant Seite 305 ausdrücklich sagt, durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen, 36 so hat auch das moralische Gesetz, das unbedingte Sollen, für uns keine Kraft, keine Gültigkeit mehr. Wir können zwar legale, aber keine sittlichen Handlun‐ gen ausüben. Der empirische Charakter kan gut, aber der intelligible wird immer noch böße seyn. Daher sieht sich denn auch Kant, um nicht alle Wiederherstel‐ lung der ursprünglichen Anlage zum Guten für unmöglich zu erklären, genöthigt, nicht nur zu einem unbekanten Etwas in der menschlichen Natur, sondern auch sogar zu einem übernatürlichen Einfluß von aussen, seine Zuflucht zu nehmen. Man höre nur Seite 270: »wie es nun möglich sey, daß ein natürlicher weise bößer Mensch, sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsre Begrif‐ fe; denn wie kann ein bößer Baum gute Früchte bringen? da aber doch nach dem vorher abgelegten Geständniß ein ursprünglich (der Anlage nach) guter Baum, arge Früchte hervorgebracht hat, und der Verfall vom Guten ins Böße (wenn man wohl bedenkt, daß dieses aus Freyheit entspringt) nicht begreiflicher ist, als das Wiederaufstehen aus dem Bößen zum Guten, so kann die Möglichkeit des leztern nicht bestritten werden. * Denn ungeachtet jenes Abfalls, erschallt doch das Ge‐ bot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele, folglich (?) müssen wir es auch können, sollte auch das, was wir thun können, unzurei‐ chend seyn, und wir uns dadurch nur eines für uns unerforschlichen höhern Bey‐ *
Was doch aus einer einzigen Abweichung von den Gesetzen des Denkens nicht alles gefolgert werden kann! 35 36
Vgl. RGV. AA VI, 43. Vgl. RGV. AA VI, 37.
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standes empfänglich machen. Freylich muß hiebey vorausgesetzt werden, daß ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte.« 37 Aber worin soll dieser Keim des Guten bestehen? Etwa in dem Vermögen, den Hang zum Bößen nach und nach wieder zu überwiegen? Dies scheint Kants Mey‐ nung zu seyn, allein er sagt ja selbst Seite 375.: »Um nicht blos ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Cha‐ rakter zu werden, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Trieb‐ feder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revoluzion in der Ge sinnung im Menschen (einen Uebergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden, und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch einen neue Schöp‐ fung und Aenderung des Herzens werden. 38 Diese Wiedergeburt aber ist durch die natürlichen Kräfte eines Menschen, der im Grunde seiner Maximen verderbt ist, unmöglich, weil dazu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als Böße angenommen wird.« 39 Ich gestehe offenherzig, daß bey der ersten Lektüre dieser Stelle der Gedanke bey mir aufstieg: Sollte es auch wohl Kant mit dieser ganzen Abhandlung ein Ernst gewesen seyn? Aber die Wichtigkeit des Gegenstandes, der Ton der ganzen Untersuchung, und selbst die Gravitas – um mich eines lateinischen Ausdrucks zu bedienen – des über mein Lob erhabenen Verfassers, wiesen zürnend diesen Gedanken zurück. Allein ver‐ zeihlich scheint er mir noch immer. Denn spricht nicht Kant offenbar durch diese einzige Stelle seiner ganzen Theorie das Urtheil? Ich begreife wenigstens nicht, wie nach einer solchen Hypothese, (denn für mehr wird diese Theorie doch nicht gelten sollen – ) ohne Augustinische Gnadenwirkungen 40, dem sündigen Men‐ schengeschlecht geholfen werden könne. Kant sagt zwar Seite 370.: »Gesetzt, zum Gut oder Besser werden sey noch ei‐ ne übernatürliche Mitwirkung nöthig, so mag diese nur in der Verminderung der 37
Vgl. RGV. AA VI, 44 f. Vgl. RGV. AA VI, 47. 39 Zu diesem letzten Satz, der kein wörtliches Zitat ist, vgl. folgende Stellen: »Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eige‐ ne Kräfte diese Revolution zu Stande bringe und von selbst ein guter Mensch werde?« (RGV. AA VI, 47) – »Die erste heißt nun vornehmlich in Vergleichung mit der zweiten ein bloßer Hang und angeboren, weil er nicht ausgerottet werden kann (als wozu die oberste Maxime die des Guten sein müßte, welche aber in jenem Hange selbst als böse angenommen wird)« (ebd. 31 f.). 40 Für Augustinus (345–430) ist die ursprüngliche Freiheit des Willens durch die Erb‐ sünde beschränkt, sodass der Wille nicht durch den Menschen selbst, sondern nur mit Hilfe der Gnade Gottes zum Guten gelenkt werden kann (vgl. Enchiridion ad Laurentiom, seu de fide, spe et caritate, Kap. 28). 38
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Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beystand seyn; der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen, und diese Beyhülfe annehmen, (welches nichts Geringes ist,) d. i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxi‐ me aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet, und er für einen guten Menschen erkannt werde.« 41 Allein die Möglichkeit der Würdigkeit eines höhern Beystandes, und die Annehmung desselben, sind beyde gleich unbegreiflich in einem Wesen, das im Grunde seiner Maximen verderbt ist. Ueberhaupt aber glaube ich nun nach allem bisherigen sagen zu dürffen, daß wenigstens die Kantische Freyheitslehre nicht als eine erschöpfende, völlig befrie‐ digende, die praktische und spekulative Vernunft mit sich aussöhnende Theorie betrachtet werden könne. – Allein sollten sich nicht vielleicht auf einem andern Wege die meisten jener die Kantische Freyheitslehre drückenden Schwierigkei‐ ten vermeiden, und eine Theorie aufstellen lassen, in der nicht nur moralische Nothwendigkeit, sondern auch unmoralische Handlungen, wenigstens auf eine vernünftig denkbare Weise mit der Freyheit vereinbar erscheinen? [. . . ] 42 »Ueber Nothwendigkeit und Möglichkeit,« sagt der Verf[asser]. Seite 387., »ur‐ theilt und entscheidet jedesmal die Vernunft, aber anders die theoretische, anders die praktische, jede nach ihren eigenen Gesetzen. Nothwendig nach theoretischen Vernunftgesetzen ist dasjenige, was nach theoretischen Begriffen von – sinnlicher oder übersinnlicher – Natur nicht an‐ ders möglich ist. Nothwendig nach praktischen Gesetzen, ist, was nach Begriffen der prakti‐ schen Vernunft von absoluter Einheit und Vollkommenheit des Willens, d. h. von höchster Zweckmäßigkeit im Handeln nicht anders möglich ist. Die praktische oder moralische Nothwendigkeit bleibt und besteht für sich, und wird im Urtheil der praktischen Vernunft nicht aufgehoben, gesetzt auch, daß dasjenige, was moralischnothwendig, d. h. einzigmöglich ist, als theoretisch oder physisch unmöglich, nach Gesetzen einer sinnlichen oder intelligiblen Natur erkannt oder gedacht würde. Folglich wird eine Willensbestimmung und Hand‐ lung ohne Rücksicht auf theoretische Möglichkeit, Nothwendigkeit, oder Unmög‐ lichkeit befohlen oder untersagt, gebilligt oder gemißbilligt, für verdienstlich oder nichtverdienstlich (schuldig,) erklärt, und diese Urtheile durch keine theoretische Rücksicht abgeändert.« 43 So scheinbar wichtig auch diese Unterscheidung seyn mag, so bringt sie uns doch der wirklichen Vereinigung der spekulativen und praktischen Vernunft um keinen Schritt näher. Denn anstatt die Knoten zu lö‐ 41
Vgl. RGV. AA VI, 44. In der Passage 170–192, die wir hier auslassen, stellt Creuzer Schmids intelligiblen Fatalismus dar, der ersten Ausgabe von dessen Versuch einer Moralphilosophie (Schmid 1790; Text 12) folgend. 43 Vgl. Schmid 1792, 387 (§ 263). 42
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sen, schürzt sie dieselben noch fester, indem sie die Antinomie zwischen bey‐ den, in ein noch stärkeres Licht setzt. Eine und dieselbe Handlung soll moralisch nothwendig, und theoretisch, oder physisch unmöglich seyn. Wie kann unsere Vernunft bey einem solchen Widerspruch sich beruhigen? Sie muß nach einem höhern Grund sich umsehn, woher dieser Widerspruch fließt, und dieser höhere Grund kann kein anderer seyn, als der: daß in jedem solchen Falle eine Kollision zwischen 2 Naturgesetzen statt finde, wo die Wagschale zuletzt sich nothwen‐ dig auf die Seite des Stärkern neigt. Denn nach der Schmidischen Freyheitstheo‐ rie ist auch das moralische Gesetz nichts anders, als ein Naturgesetz, 44 das al‐ le unsere morali schen Handlungen nothwendig bestimt, wofern es nicht durch eine fremde stärkere Kraft an dieser Bestimmung gehindert wird. In diesem Fall fällt nothwendig die reale Möglichkeit einer moralischen Handlung weg. Ihre lo‐ gische Möglichkeit – die Nichtübereinstimmung derselben mit meinem Gesetz – das Urtheil der Verwerfung, sobald ich an dieses Gesetz denke, dies alles mag bleiben; die Handlung war physisch unmöglich, und ich kann mich wegen ihrer Unterlassung nicht tadeln. Die geschehene unsittliche Handlung kann ich miß‐ billigen, muß sie mißbilligen, sobald ich an das reine heilige Sittengesetz denke, aber mich selbst kann ich nicht tadeln. Kann also gleich der intelligible Naturfa‐ talismus (wie der Verf[asser]. Seite 388 sagt,) die praktische Allgemeinheit und Nothwendigkeit des sittlichen Gesetzes nicht aufheben, 45 so muß er doch wenig‐ stens die Vorstellung und Ueberzeugung davon unwürksam machen, denn nach der ganzen Theorie bin ich weder im Stande, die meiner praktischen Vernunft zum Grunde liegende Kraft zu erhöhen, noch auch die fremden intelligiblen Kräf‐ te zu schwächen, wodurch diese in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt wird. Mit‐ hin bleibt zwar die Vorstellung von der Möglichkeit, jede angege bene Grenze der sittlichen Freyheit, die noch nicht überstiegen worden, auch nicht werden konte, künftig zu übersteigen, aber es bleibt zugleich der Gedanke, daß unsere praktische Vernunft, diese Grenze nothwendig werde übersteigen müssen, wofern sie nicht durch fremde einschränkende Kräfte daran gehindert wird. Denn eine wissentliche Verletzung des Moralgesetzes in dem Sinne, wie sie §. 263. w. ge‐ nommen wird, ist nach der Theorie des Verf[assers]. völlig undenkbar, und es ist durchaus konsequent, wenn er hier sagt: »Kein vernünftiger Mensch kann daher, insoweit er vernünftig und seiner Vernunft sich bewußt ist, (und in andrer Rück‐ sicht wird er ohnehin nicht moralisch handeln; der Fatalismus zerstört ja aber keinesweges die Vernunft oder das Bewußtseyn derselben) durch den Gedanken, daß er wohl zuweilen mit unbezwinglichen Hindernissen des Erfolgs seiner mo‐ ralischen Kraft zu kämpfen habe, (weil er beschränkt ist) bewogen werden, sein 44
Vgl. die oben von Creuzer zitierte Stelle (Anm. 43) und Schmid 1790, 211 (§ 257) (Text 12). 45 Vgl. Schmid 1792, 388 (§ 263 v).
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unveränderliches heiliges Gesetz wissentlich zu verletzen, in welchem, freylich unmöglichen Falle, er wirkliche Schuld haben würde.« 46 Wenn der Verf[asser]. hierauf Seite 390 hinzusetzt: »Eben so wenig kann er darum muthlos in Erfüllung seiner Pflichten werden, weil er nicht jederzeit alles moralisch besiegen kann; denn der Wille selbst, nicht der Erfolg, entscheidet seinen Werth« 47: so scheint mir dieser letztere Grund mit der Theorie des Verf[assers]. unvereinbar zu seyn, denn das innige Bestreben, durch die Kraft des Vernunftgesetzes, alle übrigen Kräfte zu beherrschen, und sich dieses 48 unterzuordnen, oder mit einem Wort, die moralische Gesinnung muß, insofern sie der Vernunft als Erscheinung ange‐ hört, als nothwendige Folge der Vernunft, als Noumenon betrachtet werden. Da wir aber in der Vernunft als Noumenon, keine Grade der moralischen Gesinnung annehmen dürfen, im Gegentheil sie uns beständig, sich selbst gleich, und als für sich unwandelbar denken müssen, so kann der Grund, warum die moralische Gesinnung bey dem einen mehr, bey dem andern weniger erscheint, nur in den Hindernissen liegen, wodurch die Wirksamkeit der Vernunft als Noumenon, bey dem einen mehr, bey dem andern weniger, eingeschränkt wird. Allein eben in diesen Einschränkungen liegt auch der Grund, warum der Mensch, weil er nicht jederzeit alles moralisch besiegen kann, nicht muthlos in der Erfüllung seiner Pflichten werden darf; dann, muß er zu sich selbst sagen, ich konte nicht mehr thun: vielleicht werden die Hindernisse, die bisher mich einschränkten, künftig wegfallen. Geschieht dieß wirklich, und ist der Wille sich trotz dem beschränkten sichtbaren Erfolge, moralisch zu bearbeiten und zu bilden, nicht ganz erfolglos, oder mit andern Worten, werden die übrigen Erscheinungen durch die Erschei‐ nung der Vernufnt verdrängt, so kann sich zuletzt allerdings der Glaube, an ei‐ ne allbesiegende Kraft dieses Willens erzeugen; allein dieser Glaube ist alsdenn, so wie unsere ganze Moralität, ein nothwendiges Produkt unserer intelligiblen Vernunftkraft, die weniger bey uns, als bey andern, durch intelligible Hindernis‐ se eingeschränkt wurde. Verdienst und Schuld, Selbstbilligung und Selbsttadel, können also im Grunde nur durch eine Täuschung, für mehr als leere Begriffe und Urtheile angesehen werden. Aus welcher Quelle aber diese Täuschung ent‐ springt, hat der Verf[asser]. selbst Seite 385 angegeben. »Daß die Vernunft die Handlungen des Menschen (des sinnlich affizirten Wesens überhaupt) sich zu‐ rechnet, d. h. auf ihre Thätigkeit oder Unthätigkeit bezieht, obgleich die unmora‐ lischen nicht von ihrer Wirksamkeit, sondern von der Thätigkeit anderer (nicht vernünftiger) Kräfte, und von ihrer eigenen Unthätigkeit herrühren, komt daher weil 1) das Bewußtseyn der Persönlichkeit von der Vernunft abhängt, und in dies 46 47 48
Vgl. Schmid 1792, 389 (§ 263 w). Vgl. Schmid 1792, 390 (§ 263 w). Wohl fälschlich für: »diese«.
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Bewußtseyn (nach einem unbegreiflichen Naturgesetz) alles aufgenommen wird, was die Person that, wenn es auch nicht durch Vernunft, sondern durch andere mit ihr verbundene Kräfte und nach andern Gesetzen geschahe, *49 2) weil die Vernunft sich des Vermögens bewußt ist, anstatt der erzwunge‐ nen Thätigkeit, der niedern sinnlichen Kräfte, sich selbst thätig zu äusern.« 50 Das Bewußtseyn also, daß aller Zeitumstände ungeachtet, dem vernünftigen Wesen, welches fehlte, ein höherer Grad selbstthätiger Wirksamkeit der Vernunft möglich war, befördert hauptsächlich diese Täuschung. Frey von den Gesetzen der sinn‐ lichen Natur glauben wir, un abhängig von allen Gesetzen überhaupt zu seyn, ohne daran zu denken, daß die Zeitumstände, die uns manchmal einzuschrän‐ ken scheinen, auf etwas intelligibles hinweisen, das auser allen Zeitverhältnissen zu betrachten ist, und welches die Erscheinung der Sittlichkeit zu einer bestimten Zeit unmöglich macht. So gut nun auch durch dieses alles die Möglichkeit jener Täuschung erklärt seyn mag, so kann sich doch unsere praktische Vernunft mit einer Erklärung nicht beruhigen, wodurch im Grunde aller moralische Unterschied, zwischen sittlichen und unsittlichen Handlungen aufgehoben, und die Begriffe von Zurechnung, von Verdienst und Schuld, als völlig leere und unanwendbare Begriffe dargestellt wer‐ den. Unsere praktische Vernunft scheint daher nicht nur diese Erklärung, sondern auch die ganze bisher angeführte Theorie verwerfen zu müssen, die auf eine sol‐ che Erklärung und auf solche Resultate zuletzt nothwendig hinführt. Das einzige, was für dieselbe in praktischer Rücksicht noch angeführt werden kann, ist das, was der Verf[asser]. Seite 391 sagt: »Endlich wäre es« – ohne jene Theorie – »un‐ möglich, die unwandelbare Achtung für sich selbst und für jedes andre endliche Vernunftwesen, bey un sern vielen und mannichfaltigen Vergehungen zu erhal‐ ten, ohne welche keine Ausübung unserer Pflichten statt findet. Ungerechtigkeit in Beurtheilung und Behandlung unserer Selbst, unserer Mitmenschen, und des ganzen Reichs endlicher Geister, Leichtsinn und Verzweiflung – sind unvermeid‐ lich, wenn nicht mit dem Bewußtseyn unseres freyen Willens, das Bewußtseyn der unverschuldeten und unvermeidlichen Einschränkung unserer Kraft, und der unhintertreiblichen Nothwendigkeit alles geschehenen und alles dessen, was ge‐ schehen wird, unzertrennlich verbunden ist.« 51 *
»Derjenige Grad des lebendigen Daseyns, welcher die Person hervorbringt, ist nur eine Art und Weise des lebendigen Daseyns überhaupt, und nicht ein eigenes besonderes Daseyn oder Wesen. Deswegen rechnet sich die Person nicht allein diejenigen Handlungen, welche nach Grundsätzen in ihr erfolgen, sondern auch diejenigen zu, welche die Wirkun‐ gen unvernünftiger Begierden und blinder Neigungen sind.« Siehe Jacobi in der mehrmals angeführten Abhandlung über die Freyheit. Seite XXX. §. XVI. 49 50 51
Vgl. Jacobi 1789, XXX (§ XVI) (Text 8). Vgl. Schmid 1792, 385 (§ 263 t). Vgl. Schmid 1792, 391 (§ 263 x).
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Allein, welche Achtung bleibt mir für mich und jedes andre endliche Vernunft‐ wesen übrig, wenn meine Freyheit im Grunde nur Nothwendigkeit ist? ohne auf die Folgen zu sehen, die aus dem intelligiblen Fatalismus eben so gut, wie aus dem sinnlichen Determinismus, für positive Gesetzgebung etc. hergeleitet wer‐ den können. – Der Verf[asser]. scheint selbst das unbefriedigende in der Rechtfertigung sei‐ ner Theorie gefühlt zu haben, als er zum vorhergehenden die Anmerkung nieder‐ schrieb: »Will man diese Vereinigung der theoretischen und praktischen Vernunft nicht zureichend finden, will man durchaus auf der Be hauptung bestehen, daß zu dem absoluten praktischen Sollen auch ein absolutes theoretisches oder phy‐ sisches Können gehöre, und daß das letztere schon in dem erstern enthalten sey: so bleibt mir – wenn ich auf die vorhandene Immoralität Rücksicht nehme, keine andere Ausflucht übrig, als – entweder alle Immoralität in der Erscheinung für bloßen Schein zu erklären, oder alle praktische Nothwendigkeit, d. h. alle Mora‐ lität für ein Unding zu halten. Ienes verbietet mein Verstand, dieses mein Wille. Also – ein dritter Ausweg?« 52 Aber was soll dies für ein Ausweg seyn? Nach unserer ganzen bisherigen Un‐ tersuchung sind nur 2 Wege für uns offen, entweder Indifferentismus oder Fa‐ talismus. Der erste war eben so wenig mit den Gesetzen der theoretischen, als mit den Forderungen der praktischen Vernunft vereinbar – der letzte hingegen ist zwar den erstern völlig gemäß, scheint aber den letztern durchaus zu widerspre‐ chen. Hinc atque hinc densi fluctus geminique minantur Hinc atque hinc scopuli. 53
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Gerade an dieser gefährlichen Stelle scheinen die großen Männer des Iahrhun‐ derts den redli chen wahrheitsuchenden Forscher mitten auf dem weiten Ozeane menschlicher Meinungen sich selbst zu überlassen. Schon mancher nicht gerin‐ gen Gefahr durch Hülfe des besseren Kompasses und der neuen Charte entgan‐ gen, die er beyde dem unsterblichen Stifter der kritischen Philosophie verdankt, scheint ihm hier weder Charte noch Kompas zu helffen. Er mag steuern nach welcher Seite er will, nirgends erwartet ihn ein sicherer Hafen, und doch scheint auch das Stillestehen (die skeptische εποχη) 54 moralisch unmöglich. Eben so sehr verachtet er im Bewußtseyn seiner menschlichen Würde den Rath derjenigen, 52
Vgl. Schmid 1792, 391 (§ 263 x). »hinc atque hinc vastae rupes geminique minantur / in caelum scopuli« – »Links und rechts ragen drohend öde Felsen und eine zweifache Klippe in den Himmel« (Vergil: Aeneis 1,162 f.; Übers. E. und G. Binder). Creuzers Version lautet übersetzt: »Links und rechts hef‐ tige Fluten und links und rechts ragen zweifache Klippen«. 54 Mit gr. »epoché« wurde in der antiken Skepsis die Urteilsenthaltung in allen Fällen, in denen kein gesichertes Wissen oder definitives Urteil möglich ist, bezeichnet. 53
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die ihm von allen Seiten her zurufen, das Ruder niederzulegen, und sein Schiff‐ chen den Wellen und Winden zum Spiel zu überlassen. Noch immer wägt er die Gründe nach beyden Seiten sorgfältig ab, allein das Resultat bleibt dasselbe: die praktische Vernunft scheint mit der spekulativen durchaus unvereinbar zu seyn. Dennoch würde er vielleicht der ersten den Vorzug geben, aber auch ihre Aus‐ sprüche erschweren die Wahl; denn was scheint gefährlicher, was unbefriedigen‐ der für sie zu seyn, einem absoluten Zufall oder einer absoluten Nothwendigkeit die moralische Weltregierung in die Hände zu geben? – – Sollte hier nicht der seelenvolle Verfasser der Lebensläufe Recht ha ben, wenn er seinen durch Geist und Herz gleich edlen Pastor sagen läßt: »Wenn ich unter Irrthum wählen soll, will ich lieber eine gütige Nothwendigkeit als eine Freyheit, die das Beste ver‐ wirft?« 55*56 57
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»Ich begehre,« sagt Hommel S. 217. des mehrmals angeführten Buches, »im gering‐ sten nicht zu läugnen, daß ein Verhängniß zu glauben, manchen schwer eingehe, und dem ersten Ansehen nach mit Schwierigkeiten verknüpft sey, derentwegen ich solcher Lehre au‐ genblicklich entsagen wollte, wenn ich nur eine bessere Freystätte wüßte, und nicht auf der andern Seite der ohne allen Grund in dem Willen selbst entstandene Wille noch weit unauflöslicher, noch weit gefährlicher wäre. Ich sage es noch einmal, Gott behüte mich für dergleichen Freyheit, nach welcher auch der sittsamste Mensch ohne alle Ursache, ohne daß Schande und Strafe ihn abzuhalten vermögend wäre, den Einfall haben könnte, des Nach‐ bars Haus anzuzünden, oder ein Strasenräuber zu werden, und dieses ganz sans rime & sans raison. Eine solche Freyheit, etwas ohne Ursache zu wollen, ist ein weit schreckliche‐ rer Abgrund, als diejenige Tiefe, in welche man durch den Satz des zureichenden Grundes versenket wird. Mein Wille soll keinen Grund haben; es soll etwas von ohngefähr entstehen; mein Wille soll eigenmächtig, d. h. meine Seele soll Gott werden. Denn etwas aus Nichts machen, kann blos der Schöpfer.« – Man sieht, Hommel stritt nicht blos gegen den Inde‐ 204 terminismus seiner Zeit, sondern gegen Grundlosigkeit der Freyheit überhaupt. Wenigstens scheint mir das letztere für den transcendentalen Indifferentisten immer noch ein wichtiger Stein des Anstoßes zu seyn. – 55
Vgl. Theodor Gottlieb von Hippel: Lebensläufe nach Aufsteigender Linie nebst Beyla‐ gen A, B, C. Meines Lebenslaufs Erster Theil. Berlin 1778, 395. 56 [Anm. zu »sans rime & sans raison«] Frz.: »ohne ersichtlichen Grund«. 57 Vgl. Karl Ferdinand Hommel: Alexander von Joch über Belohnung und Strafe nach Türkischen Gesezen. Zweite Ausgabe. Bayreuth und Leipzig 1772, 217 f. (§ 188).
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Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neusten Theorien über dieselbe von Leonhard Creuzer [Rezension]
Der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) absolvierte das Gymnasium in Schulpforta und studierte Theologie in Jena, Leipzig und Wittenberg. Anschließend verdingte er sich als Hauslehrer und lernte dabei um 1790 die kantische Philosophie kennen. Dies veranlasste ihn zur Abfassung einer eigenen philosophischen Schrift, dem Versuch einer Kritik aller Offenbarung, die 1792 anonym erschien. Das Werk erregte als erster systematischer Versuch einer kantischen Religionsphilosophie einiges Aufsehen, und als bekannt wurde, dass Fichte der Verfasser war, rückte er mit einem Mal in die vorderste Reihe der Vertreter der kritischen Philosophie. Dies brachte ihm 1794 auch die Nachfolge von K. L. Reinhold an der Universität Jena ein, wo er gleich mit seinem eigenen System, der Wissenschaftslehre, auftreten konnte, das an Reinholds Programm einer auf ersten Grundsätzen beruhenden systematischen Philosophie anschloss. Die erste Fassung der Wissenschaftslehre erschien 1794/95 unter dem Titel Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre und in den folgenden Jahren wurde das System durch Schriften zum Naturrecht und zur Sittenlehre ergänzt. Daneben ließ er sich nicht nur immer wieder auf heftige philosophische Debatten ein, sondern erregte auch durch progressive Stellungnahmen zu politischen Themen Argwohn. Als Folge des sogenannten »Atheismusstreits« verlor Fichte 1799 seine Stelle in Jena und zog darauf nach Berlin, wo er 1811 erster Rektor der neu gegründeten Universität wurde. In seinen Vorlesungen präsentierte er ab 1801 seine Wissenschaftslehre in immer neuen Darstellungen, griff aber kaum mehr mit Publikationen in die philosophische Diskussion ein. In einem Briefentwurf von 1795 nennt Fichte seine Wissenschaftslehre »das erste System der Freiheit« (GA III / 2, 300) und mit dem Akt der absoluten Selbstsetzung des Ich als erstem Prinzip der Wissenschaftslehre ist die Freiheit tatsächlich Ausgangspunkt der Systementwicklung. Die Freiheitsthematik hat einen dementsprechend hohen Stellenwert für Fichte, und bereits in der 2. Auflage seiner ersten philosophischen Schrift Versuch einer Kritik aller Offenbarung wird im § 2 eine »Theorie des Willens« präsentiert, in der sich Fichte an Reinhold’schen Vorgaben orientiert (vgl. GA I / 1, 135–153). Es überrascht daher kaum, dass Fichte mit einer Rezension auf Leonhard Creuzers Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens von 1793 reagiert, die in der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Nr. 303. 30. Oktober 1793, 201–205 erscheint.
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In den Skeptischen Betrachtungen vertritt Creuzer zentral die These, dass es in der Frage der Freiheit nach Kant nur die Alternative zwischen transzendentalem oder intelligiblem Indifferentismus – Creuzer zufolge vertreten durch Reinhold, Heydenreich und Kant – und C. C. E. Schmids intelligiblem Fatalismus gebe (vgl. Text 20). Beide Möglichkeiten seien jedoch defizitär, weil sie entweder den Forderungen der theoretischen oder jenen der praktischen Vernunft nicht genügten. Was besonders den Indifferentismus betrifft, sei dieser aus Sicht der theoretischen Vernunft nicht befriedigend, da die Annahme eines Vermögens der freien Wahl oder Willkür dem Satz des zureichenden Grundes – für Creuzer ein Denkgesetz – widerstreitet und daher undenkbar sei. Diesem Urteil widerspricht nun Fichte in seiner Rezension, jedoch nicht ohne die von Creuzer als indifferentistisch bezeichnete Position – primär in der Version von Reinhold (vgl. Text 14) – zu korrigieren. Es sei unabdingbar, wie Reinhold zwischen einer absoluten Selbsttätigkeit, die als Bestimmendes fungiert, und dem Willen, der das durch die Selbsttätigkeit Bestimmte ist, zu unterscheiden. Damit würden aber nicht – wie bei Reinhold – zwei voneinander unabhängige Vermögen unterschieden, vielmehr müsse der bestimmte Wille als Erscheinung der bestimmenden Selbsttätigkeit verstanden werden, als empirische Manifestation eines intelligiblen Vermögens. Der Satz des zureichenden Grundes habe nun Gültigkeit in Bezug auf den bestimmten Willen, von dem wir als empirischem Faktum Kenntnis haben, nicht aber in Bezug auf die intelligible Selbsttätigkeit, die als solche unserer Erkenntnis entzogen ist. Auf welche Weise die Bestimmung des Willens durch die absolute Spontaneität erfolge, sei somit unbegreiflich. Creuzers Haupteinwand gegen Kants und Reinholds Freiheitsauffassung ist demzufolge gegenstandslos, sofern man diese Auffassung nur richtig versteht. Wenn Fichte in der Rezension davon spricht, dass bei der Bestimmung des Willens durch die absolute Selbsttätigkeit »das Bestimmende das Bestimmtwerdende« (203) sei, deutet dies bereits in die Richtung des ersten Prinzips der Wissenschaftslehre, dem Akt der Selbstsetzung des Ich, bei dem Setzendes und Gesetztes zusammenfallen, und noch in Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre von 1798 ist Fichtes frühere Freiheits- und Willenskonzeption zu erkennen (vgl. besonders § 10 und 14, GA I / 5, 126–135, 147–152). Erkennbar ist auch, dass Schelling bei seinem Eingriff in die Auseinandersetzung zwischen Kant und Reinhold 1797 (vgl. Text 19) eine ähnliche Lösung vorschlägt wie hier Fichte. Zuletzt ist zu bemerken, dass Fichte es in der Rezension nicht unterlässt, Creuzer (sowie auch Reinhold; vgl. Text 16) gegen Schmid darin Recht zu geben, dass der intelligible Fatalismus »alle Moralität völlig aufhebe« (204) – obwohl Schmid diesen Vorwurf schon in seiner Vorrede zu Creuzers Skeptischen Betrachtungen zurückgewiesen hatte (vgl. Creuzer 1793, VII–XIII). Dieser Angriff Fichtes ist der Auslöser einer längeren Debatte mit Schmid (vgl. das Vorwort der Herausgeber in GA I / 2, 3–5).
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Weiterführende Literatur: Wallwitz 1998, 57–71, Wallwitz 1999, Piché 2004, Klemme / Kuehn 2016, 211–216, Martin 2018, sowie das Vorwort der Herausgeber in GA I / 2, 3–5. Der Text steht kritisch ediert und kommentiert in GA I / 2, 7–14.
♦ Giessen, b. Heyer: Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hin‐ sicht auf die neusten Theorien über dieselbe von Leonhard Creuzer. 1793. XVI. Vorrede (von Hrn. Prof. Schmid) 252. 8. Wie es von jeher ergangen ist, ergeht es noch immer. Das dogmatische Ver‐ kennen der Grenzen der Vernunft erregte die Angriffe der Skeptiker auf dieses Vermögen selbst, und nöthigte dasselbe, sich einer Kritik zu unterwerfen. So wie diese Grenzen von neuem überschritten werden, regt sich von neuem der Wi‐ derspruch der Skeptiker, und nöthigt, – zum Glück nicht eine neue Kritik zu un‐ ternehmen, aber – an die Resultate der ehemahls unternommenen wieder zu er‐ innern. H[err]n. Creuzers freylich nur uneigentlich sogenannter Skepticismus – denn er nimmt mit der Kantischen Schule das Daseyn eines Sittengesetzes im Menschen als Thatsache des Bewustseyns an 58 – hat die Theorien über Freyheit zum Gegenstande; das Resultat seiner Untersuchungen ist, daß keine der bishe‐ rigen den Streit zwischen dem Interesse der praktischen Vernunft und dem der theoretischen befriedigend löse; 59 und ihr lobenswürdiger Zweck, zu Erfindung einer neuen und genugthuendern die Veranlassung zu geben. Ohne von der gan‐ zen Schrift, welche theils über einen unrichtigen Grundriß aufgeführt worden, (eine Behauptung, die sich nur durch Vorlegung des einzigen richtigen darthun ließe, welches die Grenzen einer Recension überschreitet) daher nicht mit der strengsten Ordnung geschrieben ist, jetzt sich wiederholt, jetzt Dinge in ihren Plan aufnimmt, die nicht hinein gehören, z. B. die Widerlegung des Spinozisti‐ schen Pantheismus, des Egoismus u. d. gl. m., 60 theils gegen die Vor-Kantischen Freyheitstheorien nichts sagt, was nicht schon ehemals gesagt worden; – ohne von ihr einen Auszug zu geben, möchte Rec. die Untersuchung nur auf denje‐ nigen Punkt lenken, der wenigstens für die Darstellung der Wissenschaft wah‐ ren Gewinn verspricht. – Es ist von mehrern Freunden der kritischen Philoso‐ phie erinnert, und von Reinhold einleuchtend gezeigt worden, daß man zwischen derjenigen Aeußerung der absoluten Selbstthätigkeit, durch welche die Vernunft praktisch ist, und sich selbst ein Gesetz giebt, und derjenigen, durch welche der Mensch sich (in dieser Function seinen Willen) bestimmt, diesem Gesetze zu ge‐
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Vgl. Creuzer 1793, 6 f. Vgl. Creuzer 1793, 64 f., 201 f. (Text 20). Vgl. Creuzer 1793, 82–90 (zu Spinoza), 95–101 (zum Egoismus).
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horchen, oder nicht, sorgfältig zu unterscheiden habe. 61 Daß H[er]r. C[reuzer]. diese Unterscheidung bald zu beobachten scheint, bald wieder vernachlässigt, und mithin in ihrer ganzen Bestimmtheit sie sicher nicht gedacht hat, wollen wir nicht rügen. Aber er nimmt die durch Reinhold, Heydenreich, und zuletzt durch Kant selbst gegebne, im Wesentlichen einstimmige Definition der Freyheit des Willens, daß dieselbe ein Vermögen sey, durch absolute Selbstthätigkeit sich zum Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Sittengesetz, mithin zu contradicto‐ risch entgegengesetzten Handlungen zu bestimmen, 62 als gegen das Gesetz des logischen Grundes streitend, in Anspruch. 63 Reinhold – (denn da es Rec[ensent]. weniger um die Bestimmung des Verdiensts des Schriftstellers, als um die Be‐ stimmung des bis jetzt fortdauernden Werths seiner Schrift zu thun ist; so trägt er kein Bedenken, sich auf ein Buch zu beziehen, von welchem ihm, da er den T[eutschen]. Merkur nicht bey der Hand hat, unbekannt ist, ob H[er]r. C[reuzer]. bey Abfassung des seinigen den Inhalt desselben habe benutzen können, oder nicht) – R[einhold]. also hat diesen möglichen Einwurf (S. 282. ff. 2. Band d[er]. Briefe über d[ie]. Kant[ische]. Phil[osophie].) zwar schon im Voraus gründlich wi‐ derlegt, 64 aber nach Rec[ensenten]. Ueberzeugung, die er mit voller Hochachtung gegen den großen Selbstdenker gesteht, den Grund des Misverständnisses weder gezeigt, noch gehoben. »Das logische Gesetz des zureichenden Grundes,« sagt R[einhold]., »fodert keinesweges für alles, was da ist, eine von diesem Daseyn verschiedne Ursache« – – »sondern nur, daß nichts ohne Grund gedacht werde. Die Vernunft hat aber einen sehr reellen Grund die Freyheit als eine absolute Ur‐ sache zu denken« 65 – und tiefer unten – »als ein Grundvermögen, das sich als ein solches von keinem Andern ableiten, und daher auch aus keinem Andern begreifen und erklären läßt.« 66 Rec[ensent]. ist mit dieser Erklärung vollkommen einverstanden; nur scheint ihm der Fehler darin zu liegen, daß man durch ander‐ weitige Merkmale verleitet wird, dieses Vermögen nicht als ein Grundvermögen zu denken. – Es ist nemlich zu unterscheiden zwischen dem Bestimmen, als frey‐ 61
Vgl. Reinhold 1792, 181–183 (Sechster Brief) und 266 f. (Achter Brief; Text 14). Diese Unterscheidung wird von Reinhold mehrfach wiederholt, Creuzer kannte sie nur aus dem Sechsten Brief, der im Juni 1792 im Neuen Teutschen Merkur (105–139) separat erschie‐ nen war (vgl. Creuzer 1793, 4. Seite der Einleitung (im Original ohne Paginierung) und 124 Anm.). 62 Vgl. Creuzer 1793, 147 f. (Text 20). Zu den entsprechenden Definitionen vgl. Heyden‐ reich 1791a, 63 f. (§ 1) (Text 10), Reinhold 1792, 185, 264 (Text 14), Reinhold 1793, 356, 370 f. (Text 16). Was Kant betrifft, führt Creuzer an der genannten Stelle RGV. AA VI, 20 f. an, vgl. auch ebd. 44. 63 Vgl. Creuzer 1793, 135–142. 64 Vgl. Reinhold 1792, 282–284 (Achter Brief; Text 14). Creuzer hat diesen zweiten Band von Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie und besonders den Achten Brief dar‐ aus, auf den sich Fichte bezieht, in seinem Buch nicht mehr rezipiert (siehe Anm. 61). 65 Vgl. Reinhold 1792, 283 (Text 14). 66 Vgl. Reinhold 1792, 283 (Text 14).
Johann Gottlieb Fichte (1793)
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er Handlung des intelligiblen Ich; und dem Bestimmtseyn, als erscheinendem Zu‐ stande des empirischen Ich. – Die oben zuerst genannte Aeußerung der absoluten Selbstthätigkeit des menschlichen Geistes erscheint in einer Thatsache: in dem Bestimmtseyn des obern Begehrungsvermögens, 67 welches freylich mit dem Wil‐ len nicht verwechselt, aber eben so wenig in einer Theorie desselben übergangen werden muß; die Selbstthätigkeit giebt diesem Vermögen seine bestimmte, nur auf Eine Art bestimmbare, Form, welche als Sittengesetz erscheint. Die von jener zu unterscheidende Aeußerung der absoluten Selbstthätigkeit im Bestimmen des Willens erscheint nicht, und kann nicht erscheinen, weil der Wille ursprünglich formlos ist; sie wird bloß als Postulat des durch jene Form des ursprünglichen Begehrungsvermögens dem Bewustseyn gegebnen Sittengesetzes angenom men, und ist demnach nicht Gegenstand des Wissens, sondern des Glaubens. Die Nei‐ gung (propensio überhaupt) als Bestimmtseyn des (obern oder niedern) Begeh‐ rungsvermögens erscheint; aber nicht das Erheben derselben zum wirklichen Wol‐ len. Der Wille in der Erscheinung ist nie bestimmend, sondern immer bestimmt, die Bestimmung ist schon geschehen; wäre sie nicht geschehen, so erschiene er nicht als Wille, sondern als Neigung. Die scheinbare Empfindung des Selbstbe‐ stimmens ist keine Empfindung, sondern eine unvermerkte Folgerung aus der Nicht-Empfindung der bestimmenden Kraft. In so fern der Wille, sich »selbst‐ bestimmend« ist, ist er gar kein Sinnen- sondern ein übersinnliches Vermögen. Aber das Bestimmtseyn des Willens erscheint, und nun entsteht die Frage: ist jenes für die Möglichkeit der Zurechnung als Vernunft-Postulat anzunehmendes Selbstbestimmen zu einer gewissen Befriedigung oder Nichtbefriedigung, Ursache der Erscheinung des Bestimmtseyns zu derselben Befriedigung oder Nichtbefrie‐ digung? Beantwortet man diese Frage mit Ja, wie sie Reinhold (S. 284. d[er]. an‐ gef[ührten]. Briefe) wirklich beantwortet: »Aus ihren Wirkungen, durch welche sie unter den Thatsachen des Bewustseyns vorkommt, ist mir die Freyheit (des Willens) völlig begreiflich, u. s. w.«; 68 so zieht man ein Intelligibles in die Reihe der Naturursachen herab; und verleitet dadurch, es auch in die Reihe der Na‐ turwirkungen zu versetzen; ein Intelligibles anzunehmen, das kein Intelligibles sey. Wenn man sagt: »Wer sich zur Frage berechtigt glaubt, aus welchem Grunde die Freyheit sich zu A und nicht vielmehr zu Nicht-A bestimmt habe, beweißt durch einen Zirkel die Nichtigkeit der Freyheit aus ihrer schon vorausgesetzten Nichtigkeit, und wenn er sich recht versteht, aus der Nichtigkeit eines Willens
67
»Dieses wunderbare Vermögen in uns nun nennt man das obere Begehrungsvermö‐ gen, und sein characteristischer Unterschied von dem niedern Begehrungsvermögen ist der, daß dem erstern kein Object gegeben wird, sondern daß es sich selbst eins giebt, dem letz‐ tern aber sein Object gegeben werden muß. Das erstere ist absolut selbstthätig, das letztere in vieler Rücksicht blos leidend.« (Versuch einer Kritik aller Offenbarung. GA I / 1, 141) 68 Vgl. Reinhold 1792, 284 (Text 14).
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überhaupt:« 69 – so ist dies freylich sehr wahr erinnert; aber durch die Annah‐ me, daß die Freyheit wenigstens Ursache in der Sinnenwelt seyn könne, hat man ihn unvermerkt in diesen Zirkel hineingezogen. Nur durch die Rückkehr zu dem, was Rec. der wahre Geist der kritischen Philosophie scheint, ist die Quelle die‐ ses Misverständnisses zu verstopfen. Nemlich – auf das Bestimmen der absoluten Selbstthätigkeit durch sich selbst (zum Wollen) kann der Satz des zureichenden Grundes gar nicht angewendet werden; denn das ist Eine, und eine Einfache, und eine völlig isolirte Handlung; das Bestimmen selbst ist zugleich das Bestimmt‐ werden, und das Bestimmende das Bestimmtwerdende. Für das Bestimmtseyn als Erscheinung, muß nach dem Gesetze der Natur-Causalität ein wirklicher RealGrund in einer vorhergegangenen Erscheinung angenommen werden. Daß aber das Bestimmtseyn durch die Causalität der Natur, und das Bestimmen durch Frey‐ heit übereinstimme, welches zum Behuf einer moralischen Weltordnung gleich‐ fals anzunehmen ist; davon läßt sich der Grund weder in der Natur, welche keine Causalität auf die Freyheit, noch in der Freyheit, welche keine Causalität in der Natur hat, sondern nur in einem höhern Gesetze, welches beide unter sich fasse und vereinige, annehmen: – gleichsam in einer vorherbestimmten Harmonie der Bestimmungen durch Freyheit mit denen durch’s Naturgesetz. (vergl. Kant Ueber eine neue Entdeckung, nach der alle neue Ktk. dr. r. Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. S. 122. ff.) 70 Nicht darinn, wie ein von dem Gesetze der Natur-Causalität unabhängiges »Ding an sich« sich selbst bestimmen könne, noch darinn, daß eine Erscheinung in der Sinnenwelt nothwendig ihren Grund in einer vorhergegangenen Erscheinung haben müsse, sondern darinn, wie beyde gegenseitig von einander völlig unabhängige Gegenstände zusammenstim‐ men können, liegt das Unbegreifliche: das aber läßt sich begreifen, warum wir’s nicht begreifen können, weil wir nemlich keine Einsicht in das Gesetz haben, das beydes verbindet. – Daß übrigens dies Kants wahre Meynung sey, und daß die in mehrern Stellen seiner Schriften vorkommende Aeußerung, daß die Freyheit eine Causalität in der Sinnenwelt haben müsse, 71 nur ein vorläufig, und bis zur nä‐ 69
Vgl. zu diesem offenbar fingierten Einwand Fichtes System der Sittenlehre. GA I / 5,
160 f. 70
Da es für Leibniz keine Wechselwirkung zwischen den Substanzen oder Monaden geben kann, erklärte er im Neuen System der Natur (1695) deren Übereinstimmung unter‐ einander, insbesondere auch jene zwischen Geist und Körper, durch die Hypothese einer prästabilierten Harmonie (Harmonie préétablie): Die Substanzen sind aufgrund ihrer inne‐ ren Gesetzmäßigkeit im Vorhinein so aufeinander abgestimmt, dass ihr Verhalten immer übereinstimmt, ohne dass ein realer Einfluss zwischen ihnen stattfindet, vergleichbar mit dem Gleichlauf von synchronisierten Uhren (vgl. Leibniz 1996a. Bd. 1, 218–224 (§ 14–17), 238 f.). Kant äußert sich dazu 1790 in Ueber eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (vgl. AA VIII, 249 f.). Fich‐ te lehnt die These im System der Sittenlehre. GA I / 5, 133 klar ab. 71 Vgl. z. B. KrV A 534/B 562, KpV. AA V, 42, 47 f., 104 f., 114 f., KU. AA V, 195.
Johann Gottlieb Fichte (1793)
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hern Bestimmung aufgestellter Satz sey, scheint Rec[ensenten]. daraus zu erhel‐ len, daß er zwischen einem empirischen, und einem intelligiblen Charakter des Menschen unterscheidet; 72 daß er behauptet, Niemand könne den wahren Grad seiner eignen Moralität (als welcher sich auf seinen unerkennbaren intelligiblen Charakter gründet) wissen; 73 daß er die Zweckmäßigkeit, als Princip der, bey‐ de Gesetzgebungen verknüpfenden, reflektirenden Urtheilskraft aufstellt; 74 (als welche Zweckmäßigkeit sich nur durch eine höhere dritte Gesetzgebung möglich denken läßt.) Vorzüglich aber scheint eben dieses in seiner Schrift vom radicalen Bösen (jetzt dem ersten Stücke der Religion innerhalb den Grenzen der bloßen Ver‐ nunft.) 75 aus seinem Beweise für die Annehmbarkeit eines absolut freyen Willens aus der Nothwendigkeit der Zurechnung, 76 und aus seiner Berufung auf einen un‐ erforschlichen höhern Beystand 77 (der nicht etwa unsern intelligiblen, bloß durch absolute Selbstthätigkeit zu bestimmenden Charakter statt unsrer bestimme, son‐ dern unsern erscheinenden empirischen mit jenem übereinstimmend mache, wel‐ ches nur kraft jener höhern Gesetzgebung geschehen kann) hervorzugehen. Je‐ ne Beweisart, und diese Berufung sind so innig mit dem Geiste der kritischen Philosophie verwebt, daß man wirklich sehr wenig mit ihm bekannt seyn muß, um in dieser Philosophie dieselben so abentheuerlich, so wider den gesunden Menschenverstand streitend, und so lächerlich zu finden, als H[er]r. C[reuzer]. sie findet. 78 Es würde ein leichtes seyn, ihm zu zeigen, daß er selbst, zur Fol‐ ge der Prämissen, die er mit der Kantischen Schule annimmt, auch diese Sätze nothwendig annehmen müsse. – Von Untersuchung dieser Theorie geht H[er]r. C[reuzer]. zur Prüfung des allen Lesern der A. L. Z. sattsam bekannten Schmidi‐ schen intelligiblen Fatalismus über. 79 So sehr diese Theorie, von der speculativen Seite angesehen, ihn befriediget; so klar und einleuchtend thut er dar, daß sie 72
Vgl. z. B. KrV A 539/B 567, KpV. AA V, 97 f. Vgl. RGV. AA VI, 51, 77. 74 Vgl. den IX. Abschnitt – »Von der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urtheilskraft« – der Einleitung zur KU. AA V, 195–198, beson‐ ders 196. 75 Die Abhandlung »Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur« (Berlinische Monatsschrift. 19. Bd. April 1792, 323–385) integrierte Kant 1793 als erstes Stück in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (vgl. AA VI, 17–53). 76 »Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich weder moralisch gut noch böse sein.« (RGV. AA VI, 44; vgl. auch ebd. 20 f., 25, 34 f., 43) 77 Vgl. RGV. AA VI, 44 f., 178, 192. 78 Vgl. Creuzer 1793, 159, 166 f. (Text 20). 79 Zu Schmids intelligiblem Fatalismus vgl. Schmid 1790, 211 (§ 257) (Text 12). Den Lesern der Allgemeinen Literatur-Zeitung konnte dieser aus der wahrscheinlich von K. H. Heydenreich verfassten Rezension von Schmids Versuch einer Moralphilosophie (1790) von 1791 bekannt sein (vgl. [Heydenreich] 1791b, 58–62). 73
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alle Moralität völlig aufhebe. 80 Rec[ensent]. ist über den zweyten Punkt völlig mit ihm einverstanden, und das, was H[er]r. Prof. Schmid selbst in der Vorrede zu diesem Buche zu seiner Vertheidigung hierüber sagt, 81 hat ihm wenigstens noch ärger als die Anklage geschienen. Zurechnung, Schuld, und Verdienst fällt bey dieser Theorie, nach H[er]r. S[chmid]. eignen Geständnisse weg; nun wäre es an ihm, zu zeigen, wie man sich dabey noch ein für jede Handlung, die nach dem Gesetze beurtheilt wird, gültiges Gesetz denken könne. Die Moralität, welche übrig bleiben soll, ist eben diejenige, welche in den ehmaligen Glückseligkeitsund Vollkommenheits-Theorien übrig blieb; gut seyn ist ein Glück, und böse seyn ein Unglück. Ueber den erstern Punkt hören wir H[err]n. S[chmid]. selbst. »Man kann den undenkbaren Gedanken, den Nicht-Gedanken (einer Nothwendigkeit, die nicht Nothwendigkeit ist, eines unbeschränkten Vermögens, das nicht alles vermag, eines Unvermögens das doch das völligste Vermögen ist, eines nothwen‐ digen Grundes, der nicht nothwendig begründet, eines Individual-Dinges, das sich wie ein abgezognes Allgemein-Ding verhält, also bestimmt, und auch unbe‐ stimmt ist, endlich einer Unabhängigkeit, die aus einer doppelten Abhängigkeit hervorgeht),« [paßt denn diese Charakteristik auch auf die Reinholdsche Definiti‐ on der Freyheit des Willens, oder etwa nur auf diejenige, welche praktische Ver‐ nunft und Willen verwechselt?] »der doch für einen Hauptgedanken gelten soll, von einer Stelle der Theorie an einen andern Platz hinbringen; man kann ihn aus der Sinnenwelt in die Welt der Noumenen verpflanzen; man kann gewissen an‐ stößigen und wegen ihrer Bestimmtheit ein wenig unbequemen Formeln aus dem Wege gehen, und bequemere (ich meyne lenksamere, unbestimmtere) dafür ge‐ brauchen; man kann endlich neue Vermögen der Willkühr erdichten, sie aus ih‐ rer Naturverbindung herausreißen, und so als isolirte Unbestimmtheiten aufstel‐ len:« [ganz eigentlich das, wenn man die Ausdrücke nicht ganz genau nimmt, hat Rec[ensent]. hier gethan, und fragt: ob man das Daseyn eines allgemeingültigen Sittengesetzes anerkennen, und consequent seyn, und dennoch das auch nicht thun könne?] – – »aber der Widerspruch selbst bleibt, was er war; der Verstand kann nicht denken wider die Gesetze der Möglichkeit alles Denkens.« 82 Und jetzt entscheide das Publikum, ob hier noch ein Widerspruch, oder ob bloße Unbe‐ greiflichkeit vorhanden sey. – Uebrigens glaubt Rec[ensent]., daß die Philosophie sich von H[err]n. C[reuzer]., so bald in seine ausgebreitete und mannigfaltige Belesenheit mehr Ordnung, und in seine Geistesthätigkeit mehr Reife gekommen seyn werde, viel Gutes zu versprechen habe.
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Vgl. Creuzer 1793, 170–201, besonders 199–201 (Text 20). Vgl. Creuzer 1793, VIII–XIV. 82 Fichte zieht hier Stellen aus Schmids Vorrede zu Creuzers Skeptischen Betrachtungen (vgl. Creuzer 1793, X-XI) zusammen. 81
22 FRIEDRICH CARL FORBERG
(1795)
Ueber die Gründe und Gesetze freyer Handlungen Friedrich Carl Forberg (1770–1848) studierte zuerst in Leipzig bei Ernst Platner, dann in Jena, wo ihn K. L. Reinhold auf den Weg der kritischen Philosophie lenkte. Nach seiner Dissertation 1792 wurde er Privatdozent und Adjunkt an der Universität Jena, 1797 Conrektor und Rektor am Lyceum in Saalfeld. Forberg publizierte in dieser Zeit eine Reihe sehr eigenständiger philosophischer Schriften, in denen er für die kantische Lehre eintrat, aber auch die Grundsatzphilosophie Reinholds und Fichtes kritisierte. 1798 erschien sein Aufsatz »Entwickelung des Begriffs der Religion« im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten (8. Bd., 1. Heft (1798), 21–46). Dieser gab den Anlass, dass er zusammen mit Fichte, dessen »Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung« in derselben Ausgabe (1–20) erschienen war, in den sogenannten »Atheismusstreit« verwickelt wurde. Forberg konnte sich zwar etwas erfolgreicher aus der Affäre ziehen als Fichte, seine akademische Laufbahn und philosophische Tätigkeit kamen danach dennoch zum Stillstand. Nach 1800 bekleidete er verschiedene Beamtenstellen. Forbergs Abhandlung Ueber die Gründe und Gesetze freyer Handlungen von 1795, die hier vollständig abgedruckt ist, ist eine direkte Antwort auf die Skeptischen Betrachtungen über die Freyheit des Willens (1793) seines Jenaer Studienkollegen Leonhard Creuzer. Dieser hatte die »transzendentalen Indifferentisten« kritisiert: Freiheit werde von diesen als ein gesetz- und grundloses Vermögen angesehen, das dem Satz des zureichenden Grundes widerspreche und deshalb etwas Undenkbares bzw. ein Unding sei. Diese inkonsistente Position muss Creuzer zufolge (vgl. Text 20) nicht nur Reinhold (vgl. Text 14) und Heydenreich (vgl. Text 10), sondern auch Kant selbst zugeschrieben werden, wie dessen Aufsatz »Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur« (1792; 1793 auch als erstes Stück von Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. AA VI, 17– 53) zeige. Forberg tritt nun als Verteidiger der kantischen Freiheitslehre auf, mit der das Problem der Freiheit vollständig gelöst sei, wenn man nur einige Punkte klarstelle. Dies gilt primär für die Begriffe des Grundes und des Gesetzes. Dabei kommt Forberg zu dem Schluss, dass die Äußerungen der Freiheit sowohl auf Gründen beruhen als auch einer Gesetzmäßigkeit folgen können, und zwar so, dass Freiheit weder als sich grundlos und zufällig äußerndes Vermögen wie im transzendentalen Indifferentismus noch als ein durch intelligible Ursachen determiniertes Vermögen wie im intelligiblen Fatalismus gedacht werden muss. Forberg beruft sich auf die grundlegende kantische These, dass alles Empirische in zeitlichen Verhältnissen steht, nicht aber das Intelligible. Das bedeutet, dass intelligi-
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ble Gründe ihren Folgen nicht zeitlich vorangehen müssen. Als die intelligiblen Gründe konkreter moralischer Entscheidungen können deshalb – in Anlehnung an Kants »Ueber das radikale Böse« – die Maximen in Frage kommen und als deren, wenn auch nicht letzter, so doch oberster Grund die moralische Gesinnung. Analoges gilt für die intelligible Gesetzmäßigkeit: Während bei empirischen Gesetzen (Naturgesetzen) eine Folge nur unter der Bedingung eintreten kann, dass ein Grund zeitlich vorausgeht, fällt diese Bedingung bei intelligiblen Gesetzen weg. Folglich ist eine unbedingte intelligible Gesetzmäßigkeit konsistent denkbar, die dem Vermögen der Freiheit zugrunde liegt. Insgesamt ist zu bemerken, dass sich Forberg bemüht, das Verständnis von intelligiblen Gründen und Gesetzen von der kausalen Begrifflichkeit von Ursache und Wirkung weg in die Nähe der logischen Begrifflichkeit von Grund und Folge zu rücken. Forberg ist sich darüber im Klaren, dass es sich bei seiner Erklärung der Freiheit um nicht mehr als um eine plausible, konsistent denkbare Hypothese handelt, da es ja, wie Kant gelehrt hat, im Bereich des Intelligiblen keine Erkenntnis geben kann. Die Forderung des moralischen Gesetzes, die für Forberg eine Tatsache des Bewusstseins ist, berechtigt aber dazu anzunehmen, dass Freiheit, die auf intelligiblen Gründen und Gesetzen beruht, nicht bloß denkbar, sondern auch wirklich ist. Insgesamt liefert Forberg eine bemerkenswert klare und stimmige Interpretation der kantischen Freiheitslehre, die sowohl dem Indifferentismus als auch dem Fatalismus zu entgehen verspricht, auch wenn sie nicht alle Fragen restlos zu klären vermag. Weiterführende Literatur: Wesselsky 1913, Klemme / Kuehn 2016, 233 f.
♦ Vorbericht.
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Gegenwärtige Abhandlung war ursprünglich aus einem Briefe entstanden, den der Verfasser an seinen Freund, Herrn Creutzer in Marburg geschrieben, unmit‐ telbar nachdem er dessen skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens gelesen hatte. 83 Dies geschah im Sommer 1793. Seit der Zeit sind in dem Gedan‐ kensystem des Verfassers mancherley Veränderungen vorgegangen, welche auch auf seine Meynungen über die Freyheit des Willens Einfluß gehabt haben dürf‐ ten. Er giebt seine Meynung für weiter nichts aus, als für eine Hypothese, welche Schwierigkeiten, die bisher immer ganz in der Nähe waren, wenigstens weiter hinausschiebt. Der Verfasser hatte seine Abhandlung fast ganz vergessen, als er
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Leonhard Creuzers Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hin‐ sicht auf die neusten Theorien über dieselbe waren 1793 erschienen (vgl. Text 20). Creuzer hatte zur selben Zeit wie Forberg in Jena studiert und lehrte seit 1793 an der Universität Marburg.
Friedrich Carl Forberg (1795)
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zufälligerweise wieder auf sie aufmerksam gemacht wurde. Er würde sie gänzlich in seinem Pulte haben ruhen lassen, wenn er es nicht für Pflicht gehalten hätte, jede neue Idee, und jeden Keim einer neuen Idee dem Publikum Preis zu geben, damit dasselbe daraus mache, was der Urheber selbst nicht daraus zu machen wußte. Jena, den 1. Okt. 1794. Ich habe, lieber Freund, Ihre skeptischen Betrachtungen über die Freyheit des Wil‐ lens vor einigen Tagen gelesen. Sie haben mir viel Vergnügen gewährt, und dies nicht blos deswegen, weil sie das erste Geistesprodukt eines schätzbaren Freun‐ des sind, sondern auch, und vornehmlich deswegen, weil ich den Muth, mit wel‐ chem Sie Ihre Ueberzeugungen den Aussprüchen berühmter Männer entgegen‐ zusetzen wagen, für ein fast untrügliches Kennzeichen eines selbstdenkenden Geistes zu halten gewohnt bin. Gleichwohl muß ich Ihnen gestehen, daß es den Gründen, womit Sie Ihre Ueberzeugungen unterstützt haben, nicht so ganz, und wenn ich es sagen soll, wie es ist, ganz und gar nicht gelungen ist, diejenigen, die bisher die meinigen aufrecht hielten, wankend zu machen. Ich darf voraussetzen, daß Sie dieses Geständniß nicht befremden werde. Denn wer skeptische Betrach‐ tungen schreibt, der muß sich gleich im Voraus auf das Schicksal gefaßt machen, wenig Eingang damit zu finden. Die meisten Menschen (und ich lege ganz offen‐ herzig in Ihrem Schooße das Bekenntniß nieder, daß auch ich mit zu diesen Mei‐ sten gehöre) – die meisten Menschen also sind nun einmahl – glücklicher, oder unglücklicher Weise? – von der Art, daß sie in Ermangelung des Wissens sich doch lieber mit dem Glauben, oder allenfalls mit dem Meynen behelfen wollen, als daß sie im vollen Ernste vermögend wären, länger als einige Augenblicke den Zustand einer vollkommenen Unentschiedenheit auszuhalten. Auch selbst mit Ih‐ rer Skepsis dürfte man es wohl nicht ganz im strengsten Sinne nehmen. Denn es ist ziemlich sichtbar, daß Sie ungleich mehr Lust haben, sich auf die Seite des Fatalismus, als auf die des Indifferentismus zu neigen, oder wie Sie es mit den Worten eines geistreichen Schriftstellers ausdrücken, daß Sie sich allenfalls lieber einer gütigen Nothwendigkeit, als einem blinden Zufalle, der uns selbst das Beste verwerfen läßt, auf Discretion überlassen wollen. 84 Um Sie aber nicht lange rathen zu lassen, was nun meine unmaaßgebliche Meynung über die ganze Sache seyn möge, will ich Ihnen lieber gerade heraus sagen, daß ich vor der Hand ein getreuer Anhänger der Kantischen Lehre bin, und daß es mir scheint, als ob durch dieselbe alle möglichen, und also auch wohl – mit Ihrer Erlaubniß – Ihre wirklichen Zweifel und Einwürfe schon im Vor‐ 84
Creuzer (vgl. Creuzer 1793, 201 f. (Text 20)) zitiert Theodor Gottlieb von Hippel: Le‐ bensläufe nach Aufsteigender Linie nebst Beylagen A, B, C. Meines Lebenslaufs Erster Theil. Berlin 1778, 395.
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aus seyen gehoben worden. Ich meines Orts lebe noch immer der festen Ueber‐ zeugung, daß sich die reine Kantische Freyheitslehre von den gefährlichen Klip‐ pen des Fatalismus und des Indifferentismus gleichweit entferne, und daß durch sie dasjenige Problem, welches allein schon im Stande wäre, die Nothwendigkeit philosophischer Spekulationen der menschlichen Vernunft nahe zu legen, nicht blos, wie Sie dafür halten, seiner Auflösung näher gebracht: sondern auch bereits vollständig und für immer befriedigend aufgelöset worden sey. Ich habe die‐ se Auflösung bisher immer für den herrlichsten Triumph der Critischen Philo‐ sophie gehalten, und ich bin sogar kühn genug, zu glauben, daß auch Sie die‐ ser Philosophie die Ehre jenes Triumphes nicht würden streitig gemacht haben, wenn Sie Sich hätten entschließen können, dem erhabenen Stifter dieser Philoso‐ phie ein Paar Ungereimtheiten, gegen welche Er überdies noch ausdrücklich pro‐ testiret, nicht eher zuzutraun, als bis Sie sich bewußt gewesen wären, deutlich einzusehen, daß schlechterdings kein anderer Weg übrig bliebe, Seine Aussprü‐ che mit sich selbst zu vereinigen, als die Annahme, daß sich ihr Urheber einen Widerspruch habe zu Schulden kommen lassen – eine Annahme, die Ihrer Be‐ scheidenheit unfehlbar viele Ueberwindung gekostet haben müßte. Die wichtigsten Vorwürfe nähmlich, die Sie der Kantischen Freyheitslehre in Ihren skeptischen Betrachtungen gemacht haben, laufen am Ende darauf hinaus, daß durch diese Lehre ein völlig grundloses und gesetzloses Vermögen zu handeln eingeführt werde. 85 Dagegen sträubt sich Ihre Vernunft, und sie sträubt sich mit Recht dagegen: aber die Vernunft des Königsbergischen Weltweisen sträubt sich nicht weniger dagegen, als die Ihrige. Sie bemerken selbst, daß Er in der Grund‐ legung zur Metaphysik der Sitten einen gesetzlosen freyen Willen ein Unding nen‐ ne, 86 und daß Er in der Abhandlung über das radikale Böse von Bestimmungs‐ gründen des freyen Willens rede. 87 Diese Stellen, welche der Gesetzlosigkeit und der Grundlosigkeit des freyen Willens offenbar widersprechen, sind wenigstens eben so deutlich, als diejenigen, welche ihnen das Wort zu reden scheinen, und es würde mir also auch unerklärbar seyn, warum Sie die Dunkelheit nur in den er‐ stern, und nicht eben so gut in den letztern gefunden haben, wenn mir nicht eine Bemerkung zu Hülfe käme, die mir die Entstehungsart eines großen Theiles Ihres
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Creuzer wirft zunächst Reinhold und Heydenreich vor, dass ihrem Verständnis des freien Willens zufolge dieser ein widersprüchliches, da an keine Gründe und Gesetze ge‐ bundenes Vermögen sei (vgl. Creuzer 1793, 135–140), und bezichtigt im Folgenden Kant, in der Schrift »Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur« denselben Fehler zu begehen (vgl. ebd. 147–150 (Text 20)). 86 Vgl. Creuzer 1793, 149 f. (Text 20) und GMS. AA IV, 446. 87 Vgl. Creuzer 1793, 150, 160 und RGV. AA VI, 21 Anm., 31. Kants »Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur« erschien zuerst separat in der Berlinischen Monatsschrift (19. Bd. April 1792, 323–385) und wurde dann 1793 als erstes Stück in Die Religion inner‐ halb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI, 17–53) aufgenommen.
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Buches begreiflich zu machen scheint. Die deutlichsten Stellen, worin Kant den Vorwurf der Grundlosigkeit von seiner Freyheitslehre entfernt, sind ohne Zweifel diejenigen, welche in der Abhand lung über das radikale Böse enthalten sind. 88 Vor dieser Abhandlung war jener Vorwurf allerdings verzeihlich. Ich wenigstens bekenne, daß mir vor dem Studium derselben die Gründe des intelligiblen Fata‐ lismus zwar keinesweges überzeugend, aber dann doch diejenigen, welche man ihm entgegensetzte noch viel weniger stringent geschienen haben. Der größte Theil Ihres Buches war aber, wie Sie selbst bekennen, bereits niedergeschrieben, bevor Sie jene Abhandlung erhielten, und wie Sie sie erhielten, waren Sie ver‐ muthlich durch die Menge neuer Aufschlüsse, die sich Ihrem Geiste auf eine so ganz unerwartete Weise darbot, viel zu sehr überrascht, als daß Sie sich hätten entschließen können, dasjenige in einer Art von Gemüthsbewegung auf einmal wieder aufzugeben, was Sie in einer langen Reihe ruhiger Stunden der Meditation so ganz einleuchtend gefunden hatten. Wenn es mir gelingen sollte, wie ich je‐ doch nicht hoffen kann, Sie zu überzeugen, daß der freye Wille, dessen Möglich‐ keit uns die Kantische Philosophie geoffenbart hat, nichts weniger, als ein grund‐ loses und gesetzloses Vermögen zu handeln sey; so wüßte ich, wenigstens nach dem Inhalte Ihres Buches zu urtheilen, nichts, was Sie ferner abhalten könnte, sich von der Denkbarkeit der Freyheit zu überzeugen, und den so beunruhigen‐ den Widerstreit der theoretischen und praktischen Vernunft über eine Lehre, die die erstere eben so wenig begreifen, als die letztere aufgeben kann, durch diejeni‐ ge Philosophie, deren gemeinschaftliche Verehrer wir sind, für gänzlich beygelegt zu halten. Der freye Wille wäre ein grundloses Vermögen, wenn er schlechterdings nicht nach Bestimmungsgründen handelte. Dies wäre dem Satze des zureichenden Grundes zuwider, der, als eine Regel des Denkens, nicht weniger als der Satz des Widerspruchs über das ganze Gebiet des Denkbaren seine Herrschaft aus‐ dehnt. Allein der freye Wille handelt allerdings nach Bestimmungsgründen! Dies hat Kant ausdrücklich gesagt: 89 und also ist wenigstens der Kantische freye Wille kein grundloses Vermögen. Wenn es aber auch Kant nicht gesagt hätte, so dünkt mich, müßten wir es gleichwohl behaupten, und der Grund, warum wir es be‐ haupten müßten, ist kein anderer, als der Satz des zureichenden Grundes selbst, welcher durchaus keine Ausnahme gestattet. Ihnen gegenüber hätte ich nun frey‐ lich nicht nöthig, diese Behauptung noch weitläuftiger zu erhärten: denn Sie sind, wie unzählige Stellen Ihres Buches beweisen, von ihrer Unumstößlichkeit eben so fest, als ich, überzeugt. 90 Weil es aber denn doch geschehen dürfte, daß man 88
Vgl. Anm. 86 und 87. Vgl. Anm. 86. 90 Von der Unumstößlichkeit des Satzes des zureichenden Grundes geht Creuzer aus, da er ihn – eher implizit – zu den Denkgesetzen rechnet (vgl. Creuzer 1793, 135 (und Anm.), 138 f.). 89
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Ihnen diese Unumstößlichkeit nicht so geradehin durchgehen ließe, so erlauben Sie mir, daß ich einige Augenblicke die Waffen für Sie in die Hand nehme. Wir können indessen Beyde ein wenig ausruhen, Sie, weil Sie mit Keinem, und ich, weil ich nur mit einem eingebildeten Gegner zu kämpfen habe. Ich bilde mir also ein, es wolle uns jemand die Wahrheit streitig machen, daß selbst der freye Wille nach Bestimmungsgründen handelt. Da wir diese Wahrheit einzig und allein auf die uneingeschränkte Autorität des Satzes vom zureichen‐ den Grunde bauen, die unumschränkte Autorität dieses Satzes aber von Nieman‐ dem im Ernste in Anspruch genommen werden kann, so bleiben unserm eingebil‐ deten Gegner nur zwey Wege offen, den Sieg über uns davon zu tragen. Entwe‐ der müßte er zeigen können, daß der Souveränität jenes Königlichen Satzes kein Eintrag geschähe, wenn man auch keine Bestimmungsgründe des freyen Willens annehmen wollte: oder er müßte darzuthun vermögen, daß die Annahme von Be‐ stimmungsgründen des freyen Willens eine sich selbst widersprechende Behaup‐ tung wäre. Im ersten Falle würde unsere Behauptung grundlos, im andern würde sie gar widersprechend seyn. Dort müßten wir auf ihre Wahrheit, hier sogar auch auf ihre Möglichkeit Verzicht thun: und wenn wir bey der Gelegenheit (welche noch überdies eine ganz sichere Gelegenheit wäre) unserer Wahrheitsliebe ein Compliment machen wollten, so könnten wir hinzusetzen, daß wir es in beyden Fällen auch gerne thun würden. Lassen Sie uns bey dem erstern Falle ein wenig stehen bleiben! Wenn es kei‐ ne Bestimmungsgründe des freyen Willens giebt, wo mögte dann wohl sonst der zureichende Grund zu suchen seyn, warum der freye Wille sich in diesem Au‐ genblicke so, und nicht vielmehr anders bestimmt? Ich sehe nicht, was man auf diese Frage antworten könnte, außer etwa dies: der freye Wille könnte auch wohl selbst der zureichende Grund seiner Selbstbestimmung seyn. 91 Allein mich dünkt, dann wäre er ein sehr unzureichender Grund. Ich wenigstens vermag mir keinen unzureichenderen Grund zu denken, als den, der das, was nicht gesetzt wird, völlig eben so gut begründet, als sein Gegentheil, was gesetzt wird. Wir dürfen unsern Gegner getrost auffordern, uns zu sagen, welcher Grund dann wirklich unzureichend sey, wenn dieser zureichend ist? und wir können uns einstweilen im Vertrauen versichern, daß er uns die Antwort schuldig bleiben wird. Lassen Sie uns sehen, ob unser erdichteter Gegner auf dem andern Wege glück‐ licher seyn werde, als auf dem erstern! Wäre er dies, so müßte er beweisen kön‐ nen, daß der Begriff eines Bestimmungsgrundes des freyen Willens sich selbst widerspreche. Und wie mögte wohl dieser Beweiß aussehn? Vielleicht so: Ein Be‐ stimmungsgrund des freyen Willens könnte denn doch am Ende nur als ein Etwas gedacht werden, wodurch der freye Wille zu seinen freyen Entschließungen be‐ 91
Vgl. dazu Heydenreich 1791a, 58 f. (Text 10), Reinhold 1792, 276 f., 281–283, 302 (Text 14) und Reinhold 1793, 371 (Text 16).
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stimmt wird. Ein Bestimmtwerden aber schließt alle Selbstbestimmung aus; und doch bestehet eben in dieser Selbstbestimmung die ganze Freyheit des Willens. Es ist also widersprechend, bey freyen Entschließungen noch nach Bestimmungs‐ gründen, das heißt nach Etwas zu fragen, was die Freyheit der Entschließungen selbst aufhebt. – In der That, lieber Freund, wenn sich kein besserer Beweiß fin‐ den läßt, als dieser ist (und mir wenigstens fällt vor der Hand kein besserer ein), so werden wir mit völliger Sicherheit an Bestimmungsgründe des freyen Willens glauben dürfen. Denn der eben angeführte Beweiß beruhet blos auf einem Mis‐ verstande. Er setzt voraus, daß die Freyheit der Entschließungen des Willens in ihrer Unabhängigkeit vom Bestimmtwerden durch zureichende Gründe bestehe, allein darinn bestehet Sie nicht. Sie bestehet vielmehr nur in der Unabhängigkeit vom Bestimmtwerden durch Naturursachen. Dies läßt sich leicht beweisen. Der Begrif der Freyheit ist ein Begrif, den wir weder zur Erklärung menschlicher Ent‐ schließungen, noch in Geschäften brauchen können. Sobald wir uns genöthiget sehen, bey einer mensch lichen Entschließung uns auf ihre Freyheit zu berufen, so legen wir eben dadurch das Bekenntniß ab, daß wir uns unvermögend fühlen, diese Entschließung noch weiter zu erklären. Daß wir aber auch in Geschäften je‐ derzeit voraussetzen müssen, daß zwischen den willkührlichen Handlungen der Menschen und ihren Bewegungsgründen eine eben so regelmäßige und gleich‐ förmige Verknüpfung Statt finde, als zwischen Wirkungen und Ursachen in der ganzen übrigen Natur, dies hat unter andern vornähmlich David Hume mit einer Evidenz gezeigt, gegen die wohl schwerlich im Ernste ein Zweifel erhoben wer‐ den dürfte. *92 Es ist also nur das Interesse der Sittlichkeit, was uns an den Begriff der Freyheit bindet; aber dieses Interesse nöthiget uns nicht, eine andere Freyheit anzunehmen, als eine solche, die uns von dem Zwange der Naturursachen erlö‐ set. Wir sollen in keinem Augenblicke unrecht handeln, und also müssen wir es in jedem Augenblicke völlig in unserer Gewalt haben, recht zu handeln: und dies haben wir in jedem Augenblicke in unserer Gewalt, sobald wir nicht genöthiget sind, unsere Willkühr durch Naturursachen, das heißt, durch Ursachen, die in der vergangenen Zeit enthalten sind, bestimmen zu lassen. Alle Schwierigkeiten, die die Philosophen von jeher in der Lehre von der Freyheit gefunden haben, beru‐ hen am Ende insgesammt auf der Voraussetzung, daß jederzeit solche Ursachen die Bestimmungsgründe unserer Handlungen sind, die sich immer in dem Augen‐ *
In seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 185–225. der neuesten Uebersetzung des Herrn M[agister]. Tennemann. 92
Vgl. David Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand neu übersetzt von M. W. G. Tennemann nebst einer Abhandlung über den philosophischen Skepticismus von Herrn Professor Reinhold in Jena. Jena 1793, 185–225. Es handelt sich um die Absätze 6– 31 aus dem Abschnitt »Of liberty and necessity« von David Humes An Enquiry concerning Human Understanding.
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blicke, da wir sie in unserer Gewalt haben sollten, in die Vergangenheit zurück‐ ziehen, wohin wir ihnen niemals folgen können, und nur die Unmöglichkeit, das geschehene ungeschehen zu machen, ist es, was der Freyheit entgegenstehet, und weiter nichts! Und was sollte ihr auch sonst entgegenstehen? Etwa die Nothwen‐ digkeit, mit welcher in dem Begriffe eines Bestimmungsgrundes das Daseyn des Begründeten gedacht wird? Allein diese Nothwendigkeit ist nur dem Begründeten unüberwindlich, aber das Subjekt kann sie an und für sich nicht hindern, den Grund des Begründeten in seiner Gewalt zu behalten. Nothwendigkeit und Na‐ turnothwendigkeit sind zwey wesent lich von einander unterschiedene Begriffe! Naturnothwendigkeit, die in dem Verhältnisse der Wirkung zu einer vorhergehen‐ den Ursache angetroffen wird, hebt die Freyheit auf, und sie hebt sie nur darum auf, weil man das Subjekt niemals über eine Handlung zur Rechenschaft ziehen kann, wenn es über die Ursache der Handlung, die in der vorhergehenden Zeit enthalten, und mit ihr verschwunden ist, keine Gewalt hat. Nothwendigkeit aber, wiefern sie in dem Verhältnisse des Grundes zu dem Begründeten überhaupt Statt findet, hebt die Freyheit nicht auf, und sie hebt sie darum nicht auf, weil sie das Subjekt nicht hindert, den Grund seiner Handlung, wiefern er in keiner, und also auch nicht in der vergangenen Zeit enthalten ist, völlig in seiner Gewalt zu behal‐ ten. Sie macht zwar das Daseyn der Handlung unter Voraussetzung ihres Grun‐ des unvermeidlich, aber den Grund zu vermeiden, läßt sie dem Subiecte vollkom‐ mene Freyheit. Würde freylich die Handlung mit ihrem Grunde in einer Zeitfol‐ ge gedacht, so würde die Unvermeidlichkeit der erstern unter Voraussetzung des letztern zugleich auch dem Subiecte keine Freyheit lassen, die Handlung durch Vermeidung ihres Grundes zu vermeiden; denn es ist unmöglich, einen Grund, nachdem er schon gewirkt hat, doch noch zu hindern, daß er nicht wirke. Ist aber zwischen der Handlung und ihrem Grunde keine Zeitfolge, so fällt mit die‐ ser Unmöglichkeit zugleich auch das einzige Hinderniß der Freyheit hinweg. Der Grund weicht nie in der Vergangenheit zurück, um sich der Gewalt des Subiects zu entziehen; es kann ihn folglich nach Belieben wirken, oder auch nicht wirken lassen, und Verdienst oder Schuld kommen dann in beyden Fällen lediglich auf seine Rechnung. Wenn ich mir nicht vorstellen müßte, daß ich mich einem so scharfsinnigen Kenner der Kantischen Philosophie, als der Verfasser der skeptischen Betrachtun‐ gen ist, gegenüber befände, so würde ich fürchten müssen, daß der Leser die bisher entwickelte Vorstellungsart noch ziemlich dunkel finden dürfte. Ich würde die Quelle dieser Dunkelheit freylich zunächst in der Schwierigkeit aufsuchen, eine Reihe bloßer Gedanken mit dem reinen Verstande zu durchlaufen, ohne sich durch die unvermeidliche Darzwischen kunft der sinnlichen Bilder, die die Ein‐ bildungskraft in unsere noch so übersinnlichen Ideenreihen unaufhörlich einzu‐ streuen beschäftiget ist, irre machen zu lassen. Indessen würde ich denn doch auch nicht umhin können, die Vermuthung zu hegen, daß sich in den Ideengang
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des Lesers ein geheimes Vorurtheil eingeschlichen haben mögte, welches ihm, obwohl unbewußt, den Gesichtspunkt verrückte, aus dem er die ganze Frage von der Möglichkeit der Freyheit anzusehen hatte. Sobald man nähmlich voraussetzt, ein freyes Wesen müsse ein solches seyn, welches die Macht besitzt, das sonst unauflösliche Band, wodurch Ursache und Wirkung zusammengehalten werden, in Rücksicht auf seine Handlungen aufzulösen, die Nothwendigkeit, mit welcher sonst der Erfolg an die Ursache gebunden ist, verschwinden zu lassen, und statt derselben eine solche Ungewißheit der Ursachen, eine solche Zufälligkeit der Wir‐ kungen einzuführen, welche macht, daß die Ursache ihre Wirkung dennoch vor‐ stellen kann, wenn gleich kein Hinderniß ihrer Wirksamkeit im Wege stehet: so bald man, sage ich, diesen Begrif von Freyheit voraussetzt, so scheint es, als ob die von uns behauptete Freyheit nicht vollständig genug sey, indem wir einem freyen Wesen die Macht absprechen, die Nothwendigkeit seiner Handlungen un‐ ter Voraussetzung ihres Bestimmungsgrundes aufzuheben, und ihm blos die Ge‐ walt vorbehielten, die Wirksamkeit des Bestimmungsgrundes seiner Handlungen (unmittelbar) zu hindern, und eben dadurch (mittelbar) der Nothwendigkeit der Handlungen selbst auszuweichen. Es ist wahr, eine Freyheit, die trotz des be‐ stimmenden Grundes ihrer Handlungen, diese Handlungen gleichwohl vermei‐ den kann, scheint dem ersten Anblicke nach eine größere Freyheit zu seyn, als diejenige ist, welche zwar den bestimmenden Grund ihrer Handlungen zu ver‐ meiden, aber unter Voraussetzung desselben die Unvermeidlichkeit der durch ihn bestimmten Handlungen nicht aufzuheben vermag. Allein zwey Bemerkun‐ gen dürften hinreichend seyn, diesen Schein für denjenigen, der andere blenden mögte, gänzlich zu zerstreuen! Erstlich ist es ein vollkommener Widerspruch, sich eine Ursache zu denken, mit welcher die Wirkung nicht nothwendig verknüpft, sondern nur zufälliger Weise verbunden ist; denn eben die Nothwendigkeit, mit welcher Etwas an Et‐ was anderes geknüpft ist, macht das Erstere zur Ursache des Letzteren. Wenn es aber auch kein Widerspruch wäre, so würde doch Zweytens die Annahme einer Freyheit, die selbst die Unvermeidlichkeit der Handlungen unter Voraussetzung ihres Bestimmungsgrundes aufzuheben ver‐ mögte, unsere moralischen Beurtheilungen gänzlich verwirren, und schon da‐ durch, wiefern nähmlich die Freyheit blos zum Behuf unserer moralischen Be‐ urtheilungen angenommen wurde, sich als eine grundlose Annahme ankündigen. Es ist z. B. eine Eigenthümlichkeit des moralischen Tadels, daß er nicht sowohl die gesetzwidrigen Handlungen trift, die vor unsern Augen vorübergehen, als vielmehr die Person selbst, deren böse Gesinnung wir als die bleibende Quelle jener gesetzwidrigen Handlungen ansehn. Ein Verbrechen verdient nur dadurch diesen Nahmen, daß es uns die verderbte Gesinnung, 93 die in dem Herzen des 93
Vgl. RGV. AA VI, 30.
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Verbrechers wohnt, offenbart. Die se verderbte Gesinnung kann es uns aber nur in sofern offenbaren, wiefern es aus derselben entspringt. Entspringt es nicht aus derselben, wird es vielmehr als nur zufällig mit ihr verbunden vorgestellt; so ist nichts mehr vorhanden, was uns auf böse Gesinnungen sicher schließen ließe, und folglich auch nichts, was wir moralisch tadeln dürften. Es ist Zeit, daß ich anfange, die Waffen gegen Sie zu ergreifen; sonst muß ich fürchten, über dem Vertheidigen das Widerlegen ganz zu vergessen! Doch erlau‐ ben Sie mir, vorher noch eine Bemerkung zu machen, die aber erst in der Folge ihre Aufklärung erwartet. Es ist, dünkt mich, einleuchtend, daß die Unvermeid‐ lichkeit einer Handlung unter Voraussetzung ihres Bestimmungsgrundes sich mit der Freyheit gar wohl vereinigen läßt, freylich aber nur dann, wenn Grund und Handlung nicht in einer Zeitfolge gedacht werden. Es wäre aber möglich, daß wir Ursachen fänden, uns nicht nur jede freye Handlung unter Voraussetzung ihres Grundes, sondern auch diesen Grund unter Voraussetzung eines höhern, und diesen abermahls unter Voraussetzung eines noch höhern, und so fort, als unver‐ meidlich zu denken: aber auch diese Annahme, die wir vor der Hand nur als pro‐ blematisch aufstellen, würde die Freyheit keinesweges aufheben, sobald nur dies einzige zugegeben würde, daß diese ganze, vielleicht unendliche Reihe von Grün‐ den und Folgen keine Zeitreihe ist. Denn ist sie dies nicht, so kann das Subiect die ganze Reihe völlig (obgleich unmittelbar) in seiner Gewalt haben, weil es den obersten Grund dieser Reihe, der aber vielleicht selbst ganz unergründlich seyn dürfte, völlig (und unmittelbar) in seiner Gewalt behält. Wir bleiben also dabey, daß es Bestimmungsgründe selbst des freyen Willens giebt! Denn alle die Einwürfe, die man etwa dagegen machen könnte, die aber auch meines Wissen nach niemand öffentlich dagegen gemacht hat, halten, wie Sie sehen, keine strenge Prüfung aus. Insoweit sind unsere Geister gute Freunde. Aber nun entsteht die Frage: was sollen wir uns von diesen Bestimmungsgründen eines freyen Willens für einen Begriff ma chen? und über die Antwort, die auf diese Frage gegeben werden soll, sind wir wenigstens bisher nicht einverstanden gewesen, ich hoffe aber, wir werden es in Zukunft seyn. Soviel werden Sie mir hoffentlich gleich im Voraus einräumen, daß diese Ant‐ wort unmöglich aus der Erfahrung geschöpft werden könne. Denn da alle Erfah‐ rung an die Form der Zeit gebunden ist, so können wir, so fruchtbar auch sonst ihr Gebiet seyn mag, gleichwohl nicht hoffen, in demselben auch nur die min‐ deste Spur von Bestimmungsgründen anzutreffen, deren wesentlichstes Merkmal darin bestehet, daß sie mit demjenigen, was durch sie bestimmt ist, durchaus in keiner Zeitfolge gedacht werden können. Wenn sich also über diese Bestim‐ mungsgründe überhaupt etwas Näheres finden läßt, so werden wir es nirgends, als im Gebiete bloßer Begriffe zu suchen haben. Ein Bestimmungsgrund des freyen Willens soll als ein Etwas gedacht werden, woraus es sich begreifen läßet, warum sich derselbe gerade auf diese, und nicht
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vielmehr auf eine andere Weise zur Thätigkeit bestimmt. Dieses Etwas dürfen wir nur in der intelligiblen Welt aufsuchen, das heißt in einer Welt, deren Gegen‐ stände weder den Sinnen, noch der Einbildungskraft, sondern nur dem reinen Verstande zugänglich sind, und die eben darum weder im Raume, noch in der Zeit vorgestellt werden können. Wollten wir den Bestimmungsgrund eines freyen Willens in der Sinnenwelt aufsuchen, so würden wir ihn in einer Welt aufsu‐ chen, wo die Bestimmungsgründe den Handlungen der Kräfte jederzeit vorherge‐ hen, und folglich die Kräfte selbst aller Macht berauben, über ihre Handlungen zu disponiren, indem dasjenige, was eigentlich über ihre Handlungen disponirt, immer in einer Sphäre liegt, wohin sich ihre Gewalt niemals erstreckt. Wir wür‐ den also Bestimmungsgründe eines freyen Willens suchen, aber Bestimmungs‐ gründe keines freyen Willens finden. Im Reiche des Denkbaren finden wir hinge‐ gen zweyerley, was wir uns als Bestimmungsgrund eines freyen Willens denken könnten. – Handlungen des freyen Willens selbst, und Handlungen solcher Kräf‐ te, die von ihm verschieden sind. Lassen Sie uns einen Augenblick das letztere annehmen, und sehen, was wir bey dieser Annahme gewinnen würden! Unmög‐ lich ist sie nicht, denn wir müssen wenigstens gestehen, daß wir ihre Unmöglich‐ keit nicht beweisen können. Die Handlungsweise einer Kraft, die wirklich han‐ delt, die aber demungeachtet nirgends handelt, 1) weil sie nicht im Raume, und niemals handelt, 2) weil sie nicht in der Zeit handeln kann (wie wir uns die freye Willenskraft denken müssen), ist uns ein viel zu unerklärliches Geheimniß, als daß wir es wagen dürften, es schlechthin für unmöglich zu erklären, daß eine sol‐ che Kraft, unbeschadet ihrer Freyheit, von fremden, ebenfalls intelligibeln Kräf‐ ten bestimmt werden könne. 94 Zwischen dem Begriffe der Freyheit, der nichts als Unabhängigkeit von Naturursachen fodert, und dem Begriffe des Bestimmt‐ werdens durch Kräfte, die keine Naturkräfte sind, findet wenigstens kein Wider‐ spruch Statt. Es könnte uns also zwar niemand verbieten, Einflüsse intelligibler Kräfte auf den freyen Willen anzunehmen, aber wir würden doch auch mit die‐ ser Annahme schlechterdings nichts gewinnen, und wieferne wir sie nur darum machen könnten, um et was mit ihr zu gewinnen, so würde sie insofern eine grundlose Annahme seyn. Das, was wir mit ihr gewinnen wollten, war, daß sie es uns begreiflich machen sollte, warum ein freyer Wille gerade diesen, und keinen andern Gebrauch von seiner Freyheit macht. Allein dies macht sie uns auf keine Weise begreiflich, denn wie der Einfluß einer fremden Kraft (etwa der Gottheit) den Grund enthalten könne, daß ein freyes Wesen diese, und keine andere freye Entschließung fasset, dies ist uns selbst vollkommen unbegreiflich. Es bleibt uns also wenigstens nichts Begreifliches übrig, was wir uns als Be‐ stimmungsgrund des freyen Willens denken könnten, als Handlungen des freyen Willens selbst. Lassen Sie uns einen Versuch machen, wie wir uns diejenige Hand‐ 94
Dies ist die Behauptung in Schmid 1790, 210 (§ 256) (Text 12).
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lung eines freyen Willens, die den Grund einer andern Thätigkeit eben desselben freyen Willens enthalten soll, auf eine bestimmtere Weise zu denken haben! Man kann sich von einer freyen Willenshandlung keinen andern Begriff machen, als daß sie eine Handlung sey, wo durch das Subiect sich selbst, zur Hervorbringung von Gegenständen bestimmt. Nun kann sich das Subiect entweder zur Hervor‐ bringung einzelner Gegenstände, oder zur Hervorbringung einer ganzen Gattung von Gegenständen bestimmen. Wiefern aber durch das Daseyn der Gattung zu‐ gleich auch das Daseyn des Einzelnen gesetzt wird, in so fern enthält die Selbst‐ bestimmung des Subiectes zur Hervorbringung der ganzen Gattung von Gegen‐ ständen zugleich auch den Grund, warum es sich zur Hervorbringung der ein‐ zelnen Gegenstände bestimmt, welche unter jener Gattung enthalten sind. Nun lassen Sie uns diejenige freye Willenshandlung, wodurch sich das Subiect zur Hervorbringung einzelner Gegenstände bestimmt, eine Entschließung; diejenige aber, durch welche es sich zur Hervorbringung einer ganzen Gattung von Ge‐ genständen bestimmt, eine Maxime nennen; und Sie werden mir zugeben müs‐ sen, daß wir in dem Begriffe einer Maxime den Begriff einer Willenshandlung ge‐ funden haben, welche ihrer Natur nach den Grund anderer Willenshandlungen, nähmlich der Entschließungen in sich fasset. Maximen werden also dasjenige seyn, was wir aufzusuchen haben, wenn wir nach den Gründen fragen, die die Thätigkeit eines freyen Willens bestimmen. Lassen Sie z. B. ein freyes Wesen die Entschließung fassen, eine einzelne Lüge zu sagen, um sich aus einer gewissen Verlegenheit zu retten, welche das Geständniß der Wahrheit unvermeidlich her‐ beyführen würde: 95 so können und müssen Sie dieser Entschließung die Maxime zum Grund legen, überhaupt und in allen denjenigen Fällen Lügen zu sagen, wo das Geständniß der Wahrheit Verdruß nach sich ziehen könnte. Auf diese Weise erscheint dem Auge Ihres Verstandes jene Entschließung bey aller ihrer Freyheit, denn doch nicht zufällig, indem Sie sich dieselbe als eine nothwendige Folge einer angenommenen Maxime vorstellen. Die Maxime überhaupt zu lügen, begründet jede einzelne Entschließung wirklich zu lügen mit eben der Nothwendigkeit, mit welcher unter Voraussetzung der Sterblichkeit des Menschen überhaupt die Sterb‐ lichkeit jedes einzelnen Menschen gesetzt wird. Die Vereinbarkeit der Freyheit je‐ der einzelnen Entschließung mit ihrem Gegründetseyn in einer allgemeinen Ma‐ xime beruhet aber nicht darauf, daß die Entschließung unter Voraussetzung der Maxime dennoch unvermeidlich bleibt, denn dies wäre ein Widerspruch; sondern sie beruht lediglich darauf, daß das Causalverhältniß der bestimmenden Maxime, und der durch sie bestimmbaren Entschließung kein Zeitverhältniß ist: darauf, daß die Maxime nicht vorhergehet, und die Entschließung nicht späterhin auf sie folgt. Könnten wir uns die bestimmende Maxime nur als etwas Früheres, und die durch sie bestimmbare Entschließung nur als etwas Späteres denken, so könnten 95
Vgl. zu diesem Beispiel GMS. AA IV, 402 f.
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wir das Subiect wegen der Entschließung durchaus nicht zur Rechenschaft ziehn, weil sie die unvermeidliche Folge der einmal angenommenen Maxime wäre, die, nachdem sie einmal angenommen ist, nun nicht mehr zurückgenommen werden kann. Ist es uns aber erlaubt – eine Erlaubniß, die uns durch die Kritik der Ver‐ nunft zugesichert worden – Maxime und Entschließung in keiner Zeitordnung zu denken, ungefähr so, wie wir uns Prämissen und Schlußfolge auch in keiner Zeitordnung, und dennoch 96 in einem Kausalverhältnisse vorstellen, so ist nichts mehr vorhan den, was uns hinderte, das Subiect wegen des Entschlusses zu ta‐ deln, indem wir nicht einsehen, was das Subiect abhalten könnte, die Maxime, die seinen Entschluß nothwendig begründet, nicht anzunehmen, und durch Ver‐ meidung der Maxime den Entschluß selbst zu vermeiden. Wenn es mir bis hieher gelungen ist, Ihnen meine Meynung verständlich zu machen, so hoffe ich, werden Sie keine Schwierigkeit mehr finden, die unbe‐ schränkteste Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde mit der Behaup‐ tung eines freyen Willens zu vereinigen. Maximen sind vollkommen zureichen‐ de Gründe freyer Entschließungen, denn sie erlauben uns nicht, unter ihrer Vor‐ aussetzung das Daseyn der Entschließungen, als zufällig, zu denken, und mehr als diese Erlaubniß braucht uns ein Grund nicht zu versagen, um den Nahmen eines zureichenden zu verdienen. Allein ein zureichender Grund seyn, und ein letzter Grund seyn – sind zwey ganz verschiedene Dinge. Ein Grund ist zurei‐ chend, wenn er die Zufälligkeit der Folge aufhebt, aber auf den Rang eines letz‐ ten oder höchsten Grundes kann er nur dann Anspruch machen, wenn seine eig‐ ne Zufälligkeit durch keinen höhern Grund aufgehoben zu werden bedarf, son‐ dern er selbst schlechthin nothwendig ist. Mit letzten Gründen hat der Satz des zureichenden Grundes nichts zu thun: er befiehlt uns nur zureichende Gründe zu suchen, aber er befiehlt uns nicht einmal diese, geschweige letzte Gründe zu finden. Wir könnten also wenigstens ohne Bedenken gestehen, daß wir unver‐ mögend wären, den letzten Grund freyer Entschließungen zu finden, 97 ohne da‐ durch dem Ansehen jenes Satzes im geringsten zu nahe zu treten; aber wir befin‐ den uns überdem auch wirklich in dem Falle, daß wir dieses Geständniß ablegen müssen. Die nächsten Gründe freyer Entschließungen finden wir freylich immer ohne sonderliche Schwierigkeit in Maximen; allein dabey können wir unmöglich stehen bleiben. Wir fühlen uns vielmehr bey jeder Maxime, die wir einer freyen Entschließung zum Grund legen, abermahls gedrungen zu fragen: warum wir ge‐ rade diese und nicht vielmehr eine andere Maxime in dem Subiect vorausgesetzt haben? Oder, welches eben so viel heißt, wa rum das Subiect sich zu Hervor‐ bringung dieser, und nicht vielmehr einer anderen Gattung von Gegenständen bestimme? Da wir den Grund davon niemals in dem Einflusse einer Naturursa‐ 96 97
Korrigiert aus: »dennoch obwohl«. Vgl. RGV. AA VI, 21 Anm.
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che aufsuchen dürfen, weil dies der Freyheit der Maxime widersprechen würde, und da wir ihn auch nicht in dem Einflusse einer fremden intelligibeln Ursache aufsuchen können, weil dieser Grund für uns ganz unbegreiflich seyn würde: so bleibt uns nichts übrig, als ihn immer wieder in einer andern freyen Handlung, oder in einer höhern Maxime des Subiects aufzusuchen. Jede Maxime muß da‐ her als die Folge einer höhern Maxime, und diese wiederum als die Folge einer noch höhern gedacht werden, und so findet sich nie ein Darum, welches nicht ein neues Warum? nöthig machte. Unter diesen Umständen bleibt uns nun zwar der letzte Grund freyer Entschließungen ewig unerforschlich, aber es wird doch dem Satze des zureichenden Grundes diejenige Huldigung nicht verweigert, die er mit Recht verlangt, und diese ist keine andere, als daß wir es für rechtmäßig erkennen sollen, bey jeder freyen Handlung nach zureichenden Gründen zu for‐ schen, gesetzt auch, (welches sonst auch oft genug der Fall ist), daß wir uns unvermögend fühlten, sie zu erforschen. Es ist im Voraus zu erwarten, daß die menschliche Vernunft, die sich immer sträubt, wenn sie Gränzen ihrer Einsicht anerkennen soll, auch hier nicht so ganz gelassen zusehen werden, daß man ihr alle Hoffnung abschneidet, jemals den letzten Grund freyer Handlungen zu erforschen. In einem Falle wie der gegenwär‐ tige, wo der eigentliche Zweifler in uns selbst vorhanden ist, da können wir uns immer auf die allerspitzfündigsten Einwürfe gefaßt machen. Aber diese Einwürfe mögen so spitzfündig seyn, als sie wollen, so werden sie doch sicherlich nie im Stande seyn, die Unergründlichkeit des letzten Grundes freyer Handlungen um‐ zustoßen! Ich bitte Sie, sagen Sie mir, ob wir wohl die allermindeste Hoffnung haben können, jemals einen Grund zu ergründen, von dem wir uns, (bey aller Unvermeidlichkeit darnach zu fragen, *) doch nicht einmal einen Begriff machen können, der uns nicht sofort in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelte? Woll‐ ten wir uns einen Begriff von ihm machen, so müßten wir ihn entweder als ei‐ ne ursprüngliche Handlung, oder als die ursprüngliche Kraft des freyen Wesens gedenken. Im erstern Falle wäre er eine Maxime, und zwar eine Maxime, die so schlechthin nothwendig wäre, daß bey ihr nach einem höhern Grund auch nicht einmal gefragt werden könnte. Allein von einer solchen Maxime, so wie von dem schlechthin – Nothwendigen überhaupt, haben wir durchaus keinen Begriff. Im andern Fall hätten wir von ihm vielleicht noch eher einen Begriff, aber nur dann, wenn das freye Wesen ein absolut selbstständiges, unabhängiges Wesen wäre. Muß aber das freye Wesen, wie bey Menschen wirklich der Fall ist, als ein ab‐ hängiges Wesen, als ein Geschöpf der Gottheit gedacht werden; so ist sei ne ur‐ sprüngliche Kraft Etwas, das keinesweges in seiner Gewalt stehet. – Es kann folg‐ *
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Diese Unvermeidlichkeit nach dem letzten Grund freyer Handlungen zu fragen, ver‐ bunden mit seiner Unbegreiflichkeit charakterisirt ihn als eine regulative Idee der Vernunft, die dem Verstande das Ziel vorhält, dem er sich bey seinem Forschen nach den Gründen freyer Handlungen zu nähern suchen soll, ohne es doch jemals wirklich zu erreichen.
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lich keine andern Handlungen hervorbringen, als wie sie ihm die Kraft, die es aus den Händen der Gottheit empfangen hat, hervorzubringen erlaubt. Ob dies mit der Freyheit zusammenbestehen könne? Dies können wir nun zwar nicht gerade‐ zu verneinen, weil wir von dem Verhältnisse des Schöpfers zu den Geschöpfen nichts verstehen; wir können es aber eben so wenig bejahen, mithin haben wir von der ganzen Sache keinen Begriff. Dem zufolge dürfte denn also wohl der letz‐ te Grund freyer Handlungen Etwas für uns so unerforschliches seyn, daß wenn es selbst der Gottheit gefiele, ihn uns zu offenbaren, wir doch allem Ansehn nach von dieser ganzen Offenbarung nichts verstehen würden. So groß aber auch unser Unvermögen seyn mag, einen letzten Grund freyer Entschließungen zu entdecken, oder auch nur denselben, wenn er uns entdeckt würde, zu fassen, so ist doch dieses Unvermögen keinesweges so groß, daß wir auch alle Hoffnung aufgeben müßten, einen ober sten Grund freyer Entschließun‐ gen ausfündig zu machen. Dies dünkt Ihnen paradox: aber die Paradoxie liegt nur im Ausdruck, nicht in den Begriffen, und ich würde auch wirklich einen weniger paradoxen Ausdruck für meinen Begriff gewählt haben, wenn ich nur einen sol‐ chen hätte finden können. Ich will unter einem obersten Grund freyer Handlun‐ gen nichts anders verstanden wissen, als einen solchen, der die Zufälligkeit aller freyen Entschließungen, die ein freyes Wesen fassen mag, aufhebt, wobey ich kei‐ nesweges in Abrede bin, daß dieser Grund selbst wieder zufällig seye, mithin die Nachfrage nach einem höhern noch immer nicht überflüßig mache. Lassen Sie uns diesen Begriff, der in der That nicht so räthselhaft ist, als er scheint, etwas genauer erörtern. Der oberste Grund freyer Entschließungen muß ohne Zweifel eine Maxime seyn, denn wir können uns durchaus keinen begreiflichen Grund freyer Handlungen gedenken, der nicht eine Maxime wäre. Er muß aber auch zu‐ gleich eine solche Maxime seyn, die alle einzelne Entschließungen, die ein freyes Wesen fassen mag, zu begründen fähig ist, mithin wird er als eine oberste Ma‐ xime 98 gedacht werden müssen. Die Fähigkeit einer solchen Maxime aber, freye Entschließungen zu begründen, beruhet lediglich darauf, daß sich das Subiect, indem es eine Maxime annimmt, eine ganze Gattung von Gegenständen wählt, die es hervorbringen will, und sich eben dadurch die Nothwendigkeit auflegt, die Hervorbringung aller der einzelnen Gegenstände zu beschließen, die unter jener Gattung enthalten sind. Je höher nun die Gattung von Gegenständen ist, die sich das freye Wesen zum Ziel seiner Thätigkeit macht, desto allgemeiner ist seine Ma‐ xime, und desto größer ist die Anzahl einzelner Entschließungen, die durch diese Maxime begründet sind. Soll also eine Maxime die allgemeinste oder die oberste seyn, soll sie alle einzelne Entschließungen, die ein freyes Wesen fassen mag, be‐ gründen, so muß sie eine solche seyn, durch welche sich das freye Wesen dieje‐ nige Gattung von Gegenständen zum Ziel seiner Thätigkeit macht, unter welche 98
Vgl. RGV. AA VI, 21, 31 f.
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alle einzelne Gegenstände seiner Entschließungen gebracht werden können. Ist es uns also daran gelegen, den obersten Grund aller freyen Entschließungen eines Menschen, oder wohl gar der ganzen Menschen gattung zu finden, so haben wir nichts weiter zu thun, als einen Versuch zu machen, ob sich nicht alles Einzelne, wozu sich die Menschen entschließen, auf etwas allgemeines zurückführen las‐ se? Gelingt dieser Versuch – und es ist nicht abzusehen, warum er nicht gelingen sollte, – so haben wir die allgemeinste Regel gefunden, die sich die Menschen für den Gebrauch ihrer Freyheit selbst vorgeschrieben haben: wir haben den ober‐ sten Grundsatz gefunden, von dessen Annahme alle einzelne freye Entschließun‐ gen der Menschen die nothwendigen Folgen sind: keine einzige menschliche Ent‐ schließung kann uns nunmehr vorkommen, die nicht, ungeachtet ihrer Freyheit, gleichwohl als eine unter Voraussetzung jener obersten Maxime – nicht zufällige, sondern – nothwendige Entschließung gedacht werden könnte. Es ist merkwürdig, dass der Begriff einer obersten Maxime, bei aller Dunkelheit, die ihn umgiebt, gleichwohl ein Begriff ist, von dem wir selbst bey unsern gemei‐ nen moralischen Beurtheilungen Gebrauch machen. Wenn wir z. B. gesetzwidrige Handlungen bemerken, welche unserer Meynung nach dem Thäter zugerechnet werden müssen, so klagen wir immer die böse Gesinnung an, die in dem Herzen dieses Menschen wohnt, und die wir als die bleibende Quelle jener tadelnswürdi‐ gen Handlungen betrachten. Indem wir dieses Urtheil fällen, ist es uns gar nicht darum zu thun, gesetzwidrige Handlungen aus jener bösen Gesinnung zu erklä‐ ren; vielmehr berufen wir uns lediglich deswegen auf dieselbe, um ein Darum zu haben, welches wir den Warums derjenigen entgegensetzen können, die alles Böse aus natürlichen Ursachen erklärt, mithin entschuldiget wissen wollen. Wir tadeln diese böse Gesinnung selbst, und betrachten sie folglich nicht als eine Ei‐ genschaft, die der Willkühr eines Menschen ohne sein Verschulden anklebt, son‐ dern vielmehr als ein freywillig angenommenes Prinzip böser Handlungen, wel‐ ches von Rechtswegen nicht hätte angenommen werden sollen. Hieraus ergiebt sich, daß das, was wir im gemeinen Sprachgebrauch Gesinnung, (Charakter, Den‐ kungsart) nennen, 99 völlig einerley sey mit dem, was wir im philosophischen die oberste Maxime genannt haben. Nach der Ursache der Gesinnung, so wie nach der Ursache der obersten Maxime eines Menschen kann man zwar fragen: aber der gemeine Verstand bescheidet sich im erstern, so wie der philosophierende im letztern Falle, daß die Frage gänzlich unbeantwortlich sey. Ich muß gestehen, daß die Speculation, mit der ich Sie bisher unterhalten – ich fürchte aber, fast ermüdet habe, von der spitzfündigsten Art sey. Gleichwohl schien sie mir nöthig zu seyn, um der spekulativen Vernunft das Recht zu sichern zu fragen, wo sie unvermeidlich fragen muß, gesetzt auch, welches hier wirklich der Fall ist, daß sie mehr fragt, als wir am Ende beantworten können. Dieses 99
Vgl. RGV. AA VI, 25, 47 f.
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Recht ist ihr schon dadurch vollkommen gesichert, daß wir uns die Freyheit nur als Unabhängigkeit von Naturursachen, nicht aber als Unabhängigkeit von intel‐ ligibeln Gründen vorstellen dürfen. Es hindert uns also nichts, die Gründe freyer Handlungen, wornach wir zu fragen niemals vermeiden können, im Gebiete des Intelligibeln, das heißt unter bloßen Begriffen aufzusuchen. Das Recht zu suchen schließt aber keinesweges die Nothwendigkeit zu finden in sich. Es ist also ein bloßes Glück, daß wir wirklich Begriffe finden, die wir uns als Gründe freyer Handlungen gedenken können. Wir nennen sie Maximen. Aber für den letzten Grund freyer Handlungen finden wir nirgends einen Begriff; mithin ist dies die Grenze der Spekulation, wo wir billig stehen bleiben. Der Einwurf, den Sie in Ihren skeptischen Betrachtungen gegen die bisher ent‐ wickelte Vorstellungsart machen, daß nähmlich ein unendlicher Regressus von Entschließungen zu Maximen, und von Maximen zu höhern Maximen, und von diesen zu noch höhern nicht anders, als in einer Zeitfolge gedacht werden kön‐ ne, und daß also die Zeitfolge, die vorher schon der Freyheit im Wege stand, sie auch hier wiederum vernichten müsse, 100 – dieser Einwurf scheint selbst in Ihren eignen Augen nicht eben sonderlich viel Gewicht zu haben. Es ist wahr, selbst wenn wir uns eine Reihe blos logischer Gründe und Folgen denken, können wir es unmöglich vermeiden, daß unsere Gedanken in einer Zeitordnung auf einan‐ der folgen. Aber auch nur unsere Gedanken fol gen in der Zeit auf einander, die logischen Gründe und Folgen aber, die wir denken, können wir uns unmöglich als Veränderungen, die in der Zeit entstehen, und vergehen, vorstellen. Nehmen Sie die erste beste Reihe mathematischer Axiome, Theoreme und Korollarien, und sagen Sie mir, ob die Glieder dieser Reihe eben so successiv aus einander ent‐ stehen, wie die Glieder einer Reihe Väter, Kinder und Enkel? Gewiß nicht! Und was nöthiget Sie also, eine Reihe von Regeln, und höhern Regeln, und noch hö‐ hern Regeln, die sich der freye Wille selbst vorschreibt, gerade in einer Zeitord‐ nung, und nicht vielmehr in einer blos logischen Ordnung sich vorzustellen? Es ist nicht zu leugnen, daß dies eine Uibung der Vernunft im Denken sey, die ihr durch die Phantasie nicht wenig erschwert wird. Allein dies ist ja die Vernunft von der Phantasie im Theoretischen so gut, als im Praktischen, längst gewohnt: warum sollte es ihr jetzt auf einmal ungewohnt vorkommen? genug, daß sich die Begriffe nicht widersprechen, und daß nur die Voraussetzung dieser Begriffe die Bedingung ist, unter welcher die Ansprüche der theoretischen Vernunft mit den Fo derungen der praktischen vereiniget werden können. Die theoretische Vernunft bestehet auf ihrem Rechte, überall, und also auch bey freyen Willenshandlungen nach zureichenden Gründen zu forschen. Wir erkennen dieses Recht, wie billig, an, wir zeichnen ihr den Weg vor, den sie bey ihrem Forschen zu nehmen habe, kündigen ihr aber gleich im Voraus an, daß sie einen Weg betrete, den es ihr un‐ 100
Vgl. Creuzer 1793, 150 (Text 20).
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möglich sey, jemals zu Ende zu bringen. Die praktische Vernunft fodert die Recht‐ fertigung ihrer zurechnenden Urtheile, die sie, allen Spekulationen zum Trotz, we‐ der gesonnen, noch vermögend ist aufzugeben. Wir unternehmen diese Recht‐ fertigung, indem wir einen solchen Begriff von Bestimmungsgründen des Willen aufstellen, der uns die vollkommenste Freyheit läßt, alle unsere Entschließungen, und die ganze unendliche Kette der Bestimmungsgründe dieser Entschließungen völlig in unserer Gewalt zu behalten. Indem wir nähmlich die Bestimmungsgrün‐ de freyer Willenshandlungen immer wieder in andern freyen Willenshandlungen aufsuchen, deren Kausalverhältniß wir jedoch schlechterdings als kein Zeitver‐ hältniß denken: so erscheint dem Auge unseres Verstandes das Ganze als eine absolute Einheit, welche das Subiect völlig in seiner Gewalt hat, und für deren Beschaffenheit es folglich allein verantwortlich bleibt. Außer dem Vorwurfe der Grundlosigkeit, den Sie dem freyen Willen der Kan‐ tischen Philosophie machen zu müssen glaubten, ist es aber auch noch ein an‐ derer, nicht weniger harter, den sich diese Philosophie, Ihrer Meynung nach, zu Schulden kommen lassen soll, und dieser ist, daß sie durch ihre Freyheit ein ge‐ setzloses Vermögen zu handeln einführe. Die Gründe, worauf Sie diese Beschul‐ digung stützen, mögen nun beschaffen seyn, wie Sie wollen, so werden Sie mir doch erlauben, daß ich gleich im Voraus etwas mistrauisch gegen Gründe seyn darf, die uns überreden sollen, daß Kant ein Unding, und zwar ein von ihm selbst anerkanntes Unding *101 – in seiner Philosophie habe dulden können! Ich habe die unermeßliche Uiberlegenheit des Kantischen Geistes über den meinigen viel zu oft, und viel zu lebendig empfunden, als daß ich es nur einen Augenblick für wahrscheinlich halten könnte, daß eine Ungereimtheit, die mir ins Auge springt, jenem Fürsten der Weltweisen verborgen geblieben wäre. Indessen soll mich denn doch diese Unwahrscheinlichkeit dessen, was Sie beweisen wollen, keinesweges abhalten, Ihren Beweisen selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen! Sie wollen beweisen, daß die Kantische Philosophie die Gesetzlosigkeit des freyen Willens, wo nicht mit ausdrücklichen Worten, doch in der Sache selbst be‐ haupte, und diesen Beweis glauben Sie dadurch führen zu können, daß Sie sich auf diejenigen Stellen der Kantischen Schriften berufen, in welchen nicht blos die sittlichen, sondern auch die unsittlichen Handlungen für wirkliche Aeußerungen der Freyheit erklärt werden. 102 Sie gestehen selbst, und zwar mit Einstimmung ei‐ nes berühmten Schriftstellers aus der Kantischen Schule, 103 daß Sie sich ein Ver‐ *
Vergl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 98. und Phil[osophische]. Rel[i‐ gions]. Lehre, 1. 28. 101 102 103
wird.
Vgl. GMS. AA IV, 446 und RGV. AA VI, 35. Vgl. Creuzer 1793, 147 f., 161 (Text 20), wo RGV. AA VI, 20 f. und 31 zitiert wird. Vgl. Creuzer 1793, 144 (Text 20), wo Schmid 1792, 335 (§ 249 Anmerkung 2) zitiert
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mögen eben so gut sittlich als unsittlich zu handeln, oder (welches Eins ist) ein Vermögen kontradiktorisch entgegengesetzte Wirkungen hervorzubringen, nicht ohne Widerspruch denken können, und daß Sie unvermögend seyen, in einer sol‐ chen Freyheit, die im Grunde nichts anders als der Zufall selbst ist, die allerge‐ ringste Gesetzmäßigkeit zu erkennen. Es ist Ihrem Scharfsinne nicht entgangen, daß die zurechnenden Urtheile, die von unserm moralischen Bewußtseyn un‐ zertrennlich sind, gleichwohl unter keiner andern Voraussetzung gerechtfertiget werden können, als unter der Voraussetzung einer Freyheit, die eben so gut sitt‐ lich als unsittlich zu handeln vermag. Allein eben dies ist Ihnen der vollgültigste Beweis, daß das große Problem der Freyheit auch selbst durch die Kantische Phi‐ losophie noch keinesweges aufgelöset, sondern höchstens etwa seiner Auflösung näher gebracht worden sey. Um Sie von dem Gegentheile zu überzeugen, bleibt mir, da die Gültigkeit der zurechnenden Urtheile so sehr über allen Zweifel erhaben ist, daß wenn einer daran zu zweifeln vorgiebt, er uns doch nicht einmal beweisen kann, daß es ihm Ernst damit sey, – nichts anderes übrig, als den Be weis zu führen, daß ein Ver‐ mögen, eben so gut sittlich als unsittlich zu handeln, allerdings ein gesetzmäßi‐ ges Vermögen, und folglich vom blossen Zufalle noch immer unterschieden seyn könne. Ich habe es lediglich Ihren Zweifeln zu danken, daß ich jetzt von dieser Wahrheit vollkommen überzeugt bin, und da mir also die Schwierigkeiten noch in ziemlich lebhaftem Andenken sind, die ich zu bekämpfen hatte, bevor ich zu dieser Uiberzeugung gelangte, so darf ich um so eher hoffen, daß der Beweis, den ich jetzt zu führen im Begriffe bin, auch Sie nicht ganz unbefriediget lassen werde. Wenn Sie sich den Zufall als ein Etwas denken wollen, so müssen Sie sich entschließen, eine Kraft zu denken, deren Handlungen in keiner Rücksicht als nothwendig gedacht werden können, eine Kraft, die schlechterdings an kein Ge‐ setz gebunden ist, welches ihre Handlungsweise auf eine unveränderliche und gleichförmige Art bestimmte. Es ist kein Zweifel, daß dieser Gedanke einen Widerspruch in sich schließt, indem eben die Gleichförmigkeit der Handlungswei‐ se das Einzige ist, was uns berechtiget von dem Begriffe einer Kraft Gebrauch zu machen. Zuverläßig würde niemand von einer ernährenden Kraft des Brodes sprechen, so lange er voraussetzte, das Brod könne eben so gut auch diejenigen Wirkungen auf den menschlichen Körper hervorbringen, die bisher nur das Gift auf denselben hervorzubringen pflegte. Unter dieser Voraussetzung wäre es nicht die Kraft des Brodes, sondern bloßer Zufall, daß wir bis jetzt durch den Genuß des Brodes immer nur ernährt, und nicht vielmehr getödtet worden wären. Ei‐ ne Kraft, die völlig ungleichförmige Wirkungen hervorzubringen vermögte, wie z. B. eine Zeugungskraft, mit deren Wirkungen wir in Gefahr wären, die Wirkun‐ gen der Denkkraft zu verwechseln – wäre doch wohl der vollkommenste Wider‐ spruch, der Ihnen je vor die Augen gekommen? Aber gerade dieser vollkommene
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Widerspruch wäre die eigenthümlichste Handlungsweise derjenigen Kraft, von der wir unter dem Nahmen des Zufalls den Versuch machten, ob sie sich über‐ haupt denken ließe, oder nicht? Wir fanden, daß sie sich nicht denken ließe, und wir ziehen hieraus den Schluß, daß der Zufall, wenn er überhaupt zugelassen werden soll, wenigstens nicht als eine Kraft, sondern etwa nur als eine Abwesen‐ heit aller Kraft – das heißt nicht als ein Etwas, sondern als ein Nichts – auftreten könne. Jetzt lassen Sie uns versuchen, wie wir uns den Begriff einer freyen Kraft den‐ ken müssen, oder vielmehr nicht denken müssen, wenn wir nicht in denselben Widerspruch, dem wir so eben entgangen sind, wiederum zurückfallen wollen! Ohne Zweifel müssen wir uns eine freye Kraft als ein Prinzip gleichförmiger Wir‐ kungen gedenken. Denn wollten wir in der Handlungsweise einer freyen Kraft schlechterdings keine Gleichförmigkeit erkennen, so würde nichts mehr vorhan‐ den seyn, was diese Kraft von dem bloßen Zufalle unterschiede, und folglich auch nichts, was uns berechtigen könnte, ihr den Nahmen einer Kraft noch fer‐ ner beyzulegen. Da sich keine Kraft ohne Gleichförmigkeit ihrer Handlungsweise denken läßt, so läßt sich ebendarum auch keine Kraft denken, die nicht an Geset‐ ze gebunden wäre. Denn unter Gesetzen verstehen wir niemals etwas anderes, als Sätze, die die gleichförmige Handlungsweise der Kräfte bestimmen. Eine Kraft von allen Gesetzen entbinden, heißt die Gleichförmigkeit ihrer Handlungsweise aufheben, und folglich sie selbst zerstören, und an ihre Stelle den Zufall setzen, dessen Handlungsweise freylich nur als eine ungleichförmige, gesetzlose Hand‐ lungsweise, aber eben darum auch nicht als die Handlungsweise einer Kraft ge‐ dacht werden kann. Freye Kräfte werden also bey aller ihrer Freyheit, gleichwohl an Gesetze gebunden seyn müssen, die ihre Handlungsweise auf eine gleichför‐ mige Art bestimmen. Denn unmöglich kann ihre Freyheit soweit gehen, daß sie selbst verlangen dürfen, anders, als nach den Gesetzen unsers Denkens gedacht zu werden. Was werden wir uns aber von den Gesetzen, denen selbst freye Kräfte unter‐ worfen seyn müssen, für einen Begriff zu machen haben? Ohne Zweifel einen solchen, der sich einestheils mit der Eigenthümlichkeit eines Gesetzes, und an‐ derntheils mit der Eigenthümlichkeit derjenigen Kräfte, denen das Gesetz vor‐ geschrieben wird, verträgt. Lassen Sie uns beyde Eigenthümlichkeiten einige Au‐ genblicke in Erwägung ziehen, und sodann das Resultat erwarten, welches aus dieser Erwägung hervorgehen wird! Sobald wir den Versuch machen, uns das Gesetz irgend einer Kraft zu denken, so fällt uns sogleich das Merkmal der Nothwendigkeit in die Augen, mit welcher das Gesetz der Kraft gebietet. Das Gesetz schreibt der Kraft die Gleichförmigkeit ihrer Handlungsweise, mithin dasjenige vor, ohne welches sie aufhören müßte, den Nahmen einer Kraft noch ferner zu verdienen. So unmöglich es also ist, daß eine Kraft darauf Verzicht thue, eine Kraft zu seyn, eben so unmöglich ist es auch,
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daß eine Kraft sich von dem Gesetze entbinde, welches ihr jene Gleichförmig‐ keit vorschreibt. Wenn es daher freye Kräfte giebt, so werden wir uns von den Gesetzen, welchen sie unerworfen sind, keinen andern Begriff machen dürfen, als einen solchen, worin die Nothwendigkeit, mit welcher sie den freyen Kräften Gleichförmigkeit ihrer Handlungsweise vorschreiben, ein wesentliches Merkmal ist. Ein nicht weniger wesentliches Merkmal aber derjenigen Gesetze, welche freyen Kräften zu gebieten fähig seyn sollen, muß dieses sey, daß sie durch die Nothwendigkeit, mit welcher sie die gleichförmige Handlungsweise jener Kräfte bestimmen, dennoch die Freyheit derselben nicht aufheben. Die Rechtmäßigkeit, den Gesetzen freyer Kräfte dieses Merkmal beyzulegen, leuchtet von selbst ein. Allein die Möglichkeit, es ihnen beyzulegen, scheint vielen Schwierigkeiten un‐ terworfen zu seyn. Wenigstens ist es nicht auf den ersten Anblick klar, wie sich die Nothwendigkeit der Foderung, die das Gesetz an die Kraft ergehen läßt, mit der Freyheit dieser Kraft vereinigen lasse, vermöge welcher sie sich eben so gut zu dieser Handlung, als zu ihrem Gegentheile, zum Thun eben so gut, als zum Lassen, bestimmen kann. Es scheint nicht weit von einem Widerspruche ent‐ fernt zu seyn, wenn man behauptet, es könne eine Kraft auf der einen Seite un‐ wandelbaren Gesetzen unterworfen seyn, durch welche ihre jedesmaligen Hand‐ lungen auf eine nothwendige und immer gleichförmige Weise bestimmt werden, und gleichwohl könne es eben dieselbe Kraft auf der andern Seite in ihrer Gewalt behalten, das, was ihr durch das Gesetz nothwendig gemacht wird, allen‐ falls auch zu unterlassen, und das, was ihr durch das Gesetz unmöglich gemacht wird, nach Gelegenheit auch wirklich hervorzubringen. Gleichwohl stehet und fällt mit der Vereinigung dieser widersprechend scheinenden Behauptungen die ganze Möglichkeit unsers freyen Willens. Denn sind diese Behauptungen in der That so unvereinbar, als sie scheinen, so ist ein freyer Wille nichts mehr, und nichts weniger, als ein realisirter Zufall, mithin – ein Unding! Es ist uns also darum zu thun, den Begriff eines Gesetzes zu finden, dessen Nothwendigkeit, mit der Freyheit der Kraft, welcher es gebietet, wenigsten in kei‐ nem erweislichen Widerspruche stehet. Um diesen, wie es scheint räthselhaften Begriff zu finden, erlauben Sie mir, den entgegengesetzten Begriff derjenigen Ge‐ setze, welche die Freyheit der ihnen unterworfenen Kräfte schlechterdings aufhe‐ ben, etwas näher zu beleuchten. Es ist dies der Begriff der Naturgesetze. Naturgesetze gebieten Naturkräften, aber sie gebieten ihnen nur unter der Be‐ dingung, daß eine Ursache vorhergegangen ist, die die Thätigkeit dieser Kräfte in Bewegung setzte, und dieser Umstand ist es allein, der es erweislich unmöglich macht, daß eine Kraft, wiefern sie unter Naturgesetzen stehet, zugleich auch eine freye Kraft seyn könne. Man darf nur den Begriff einer Naturkraft zergliedern, um sich zu überzeugen, daß sich keine Naturkraft denken lasse, die an andere Gesetze gebunden wäre,
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als an solche, die ihr unter der eben erwähnten Bedingung gebieten. Naturkräfte nennen wir diejenigen Kräfte, deren Daseyn und Beschaffenheit wir aus den Ver‐ änderungen erkennen, welche sich im Gebiete der Erfahrung ereignen. In diesen Veränderungen muß sich eine Gleichförmigkeit offenbaren, wenn wir berechtiget seyn sollen, sie für etwas mehr, als für ein Spiel des bloßen Zufalls auszugeben, und sie für Aeußerungen einer Kraft zu erklären. Jede Naturkraft ist daher an ein Gesetz gebunden, welches ihr die Gleichförmigkeit der Veränderungen, die sie durch ihre Thätigkeit hervorzubringen hat, vorschreibt. Da es aber jederzeit eine Veränderung, mithin etwas Entstandenes ist, was eine Natur kraft hervor‐ bringt, so kann die Kraft selbst unmöglich immer in Thätigkeit gewesen seyn, weil sonst ihre Wirkung auch immer hätte vorhanden seyn müssen, und folglich nicht erst irgendeinmal hätte entstehen können. Es läßt sich daher keine Naturkraft denken, deren Thätigkeit nicht selbst erst irgendeinmal hätte entstehen müssen, oder, welches eben so viel heißt, deren Thätigkeit nicht eben so wohl als ihre Wir‐ kung eine Veränderung wäre. Kann aber eine Naturkraft auf keine andere Weise thätig seyn, als so, daß ihre Thätigkeit immer erst irgendeinmal entstehet, so ist nichts gewisser, als daß sich keine Thätigkeit einer Naturkraft denken läßt, die nicht durch eine vorhergehende Ursache nothwendig bestimmt wäre. Denn wir sind unvermögend uns etwas Entstandenes zu denken, ohne vorauszusetzen, daß ihm sein Platz in der Zeit durch etwas Vorhergehendes auf eine nothwendige und unveränderliche Weise angewiesen wäre. Wenn nun aber ein Naturgesetz nichts anderes ist, als ein Satz, der die gleichförmige Handlungsweise einer Naturkraft ausdrückt, die Handlungs weise einer Naturkraft aber das Eigenthümliche an sich hat, daß sie immer auf eine vorhergehende Ursache zurückweiset, die die Thätig‐ keit der Kraft erst in Bewegung setzen muß; so ist es, dünkt mich, einleuchtend, daß Naturgesetze den Naturkräften niemals gewisse Handlungsweisen unbedingt gebieten können, sondern daß sie sich begnügen müssen, sie denselben nur un‐ ter der Bedingung vorzuschreiben, daß gewisse Ursachen vorhergegangen sind, die die Kräfte selbst erst zur Thätigkeit bestimmen mußten. Nehmen Sie z. B. die Erinnerungskraft des menschlichen Gemüths, die offenbar eine Naturkraft ist, in‐ dem wir ihr Daseyn lediglich aus denjenigen Veränderungen erkennen, welche unter dem Nahmen der Erinnerungen in dem Gebiete der inneren Erfahrung vor‐ kommen, – und betrachten Sie die Beschaffenheit des Naturgesetzes, welches die Handlungsweise dieser Kraft bestimmt. Es enthält Zweyerley. Fürs erste bestimmt es die Wirkungen, die die Erinnerungskraft immer auf eine gleichförmige Weise hervorzubringen hat, und diese sind: gehabte Vorstellungen, mit dem Bewußt‐ seyn, daß es gehabte sind. Fürs zweyte giebt es die Be dingungen an, welche je‐ derzeit vorhergehen müssen, wenn die Kraft in Thätigkeit gesetzt werden soll, und diese sind: solche Vorstellungen, die mit den gehabten im Verhältnisse der Assoziation stehen. – Freylich wissen wir nicht von allen Naturkräften die Bedin‐ gungen ihrer Wirksamkeit so bestimmt, als von der Erinnerungskraft anzugeben;
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allein so lange wir dies nicht wissen, so lange müssen wir uns auch bescheiden, daß wir nicht von allen Naturkräften die Naturgesetze kennen, und daß es noch manche Kräfte in der Natur giebt, die für uns qualitates occultae, 104 d. h. solche Kräfte sind, deren Wirkung zwar bekannt, deren Wirksamkeit aber – da sie nicht von ungefähr entstehen kann, und wir doch vor der Hand ihre Ursache nicht wis‐ sen – uns vollkommen unbegreiflich ist. Erlauben Sie mir hier eine Bemerkung einzuschalten, welche durch mehre‐ re Aeußerungen unserer Schriftsteller in mir veranlaßt worden ist, in denen ich den richtigen Begriff von dem, was eigentlich qualitas occulta ist, zu vermissen glaubte. Soll nähmlich dieser Begriff nicht gänzlich unbrauchbar seyn, so darf man darunter nicht solche Kräfte begreifen, von deren Daseyn wir die Ursache nicht wissen, denn dann mögte der Herr von Voltaire Recht haben, daß sich alle Kräfte in diesem Falle befänden, 105 sondern nur solche, von deren Wirksamkeit wir die Ursache nicht kennen. Wer z. B. ein Ahndungsvermögen in dem mensch‐ lichen Gemüthe annimmt, der nimmt eine qualitas occulta an, aber nicht des‐ wegen, weil er die Ursache seines Daseyns nicht kennt, sondern blos deswegen, weil er die Bedingungen durchaus nicht anzugeben weiß, unter denen die Ahn‐ dungen jederzeit wirklich erfolgen. Mit dergleichen Kräften ist uns aber weder in der Naturwissenschaft, noch im praktischen Leben das mindeste gedient. Denn dort helfen sie uns nichts zur Erklärung, weil sie die Zufälligkeit der Begebenhei‐ ten nicht aufheben, und hier können wir niemals auf sie rechnen, weil wir die uns unbekannten Ursachen ihrer Wirksamkeit weder zu fördern, noch zu hindern vermögen. Wenn es gewiß ist – wie es denn ungezweifelt gewiß ist, – daß keine Natur‐ kraft wirken kann, ohne durch eine vorhergehende Ursache zur Wirksamkeit be‐ stimmt zu seyn, so ist es eben so gewiß, daß die Wirksamkeit der Naturkräfte niemals frey ist. Sollte sie frey seyn, so müßten es diese Kräfte in ihrer Gewalt haben, ihre Wirksamkeit eben so gut zu äußern, als nicht zu äußern. Allein dies haben sie augenscheinlich nicht in ihrer Gewalt, da die bestimmenden Ursachen ihrer Wirksamkeit immer in dem Gebiete der Vergangenheit liegen, wohin sich 104
Lat.: »verborgene Eigenschaften«. Voltaire schreibt in den Dialogues d’Evhémère von 1777: »Tant pis; il fallait respecter les qualités occultes, car depuis le brin d’herbe que l’ambre attire, jusque’à la route que tant d’astres suivent dans l’espace; depuis la formation d’une mite dans un fromage jusqu’à la galaxie* (* La voie lactée.); soit que vous considériez une pierre qui tombe, soit que vous suiviez le cours d’une comète traversant les cieux, tout est qualité occulte.« (Œuvres com‐ plètes de Voltaire. Ed. par Louis Moland. Paris 1877–1885, Bd. 30, 487) – »Sei’s drum; man musste die verborgenen Eigenschaften achten, denn vom Grashalm, den das Bernsteingelb [der Sonne] anzieht, bis zur Bahn, der so viele Sterne im Weltraum folgen; von einer Motte in einem Käse bis zur Galaxie* (* Der Milchstraße.); ob Sie nun einen fallenden Stein be‐ trachteten oder ob Sie dem Lauf eines Kometen folgten, der die Himmel durchquert, alles ist verborgene Eigenschaft.« (Übersetzung der Hg.) 105
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ihre Macht niemals erstreckt. Denn sollte sich ihre Macht bis dahin erstrecken, so müßte es kein Widerspruch seyn, wie es doch unleugbar einer ist, das Geschehe‐ ne ungeschehen, oder das Nichtgeschehene geschehen zu machen. Naturkräfte mögen alo thätig oder unthätig seyn, so sind sie in beyden Fällen niemals frey. Man sollte auf den ersten Anblick denken, Naturkräfte müßten vielmehr eben darum frey seyn, weil sie keinen solchen Gesetzen unterworfen sind, die ihnen un‐ bedingt gebieten. Allein gerade die Bedingung, unter welcher ihnen die Naturge‐ setze gebieten, ist es, die sie aller Freyheit beraubt. Die Nothwendigkeit, mit wel‐ cher ihnen die Naturgesetze Gleichförmigkeit ihrer Handlungsweise vorschreiben, ist eben darum unvermeidlich, weil sie an eine Bedingung gebunden ist, deren Zwange nichts zu widerstehen vermag. Sie würde hingegen in dem Augenblicke als vermeidlich, und folglich mit der Freyheit vereinbar, gedacht werden können, in welchem sie aufhörte, an jene unwiderstehliche Bedingung gebunden zu seyn. Die Erinnerungskraft z. B. ist blos darum keine freye Kraft, weil sie, als bloße Na‐ turkraft, blos einem Naturgesetze, mithin einem Gesetze unterworfen ist, welches ihre jedesmalige Thätigkeit durch vorhergehende Ursachen, nähmlich durch vor‐ hergehende assoziirte Vorstellungen bestimmt werden läßt. Ist die assoziirte Vor‐ stellung einmal erwacht, so ist die Erinnerung unvermeidlich nothwendig; denn es ist zu spät, die Wirksamkeit einer Ursache zu hindern, nachdem sie schon ge‐ wirkt hat. Ist die assoziirte Vorstellung nicht erwacht, so ist die Nichterinnerung unvermeidlich nothwendig; denn die Akten der Vergangenheit sind ein für allemal geschlossen, und es ist unmöglich, noch etwas hineinzuschieben. Hätten wir im Gegentheil Grund, uns die Erinnerungskraft, als eine Kraft zu denken, die unter keinem Naturgesetze stünde, so wäre sie eben darum nicht mehr an die unwider‐ stehliche Bedingung gebunden, die bisher ihre Handlung einer unvermeidlichen Nothwendigkeit unterwarf. Sie müßte zwar allerdings noch unter einem Geset‐ ze stehn, weil sie ohne dies selbst den Nahmen einer Kraft überhaupt einbüßen würde, aber dieses Gesetz würde ihr ohne Rücksicht auf vorhergehende assozi‐ irte Vorstellungen, mithin unbedingt, gebieten. Die Nothwendigkeit, mit welcher in diesem Falle – ein Fall, von dem Sie mir weiter nichts zugeben sollen, als daß er keine absolute Unmöglichkeit in sich schließe – die Erinnerungen durch ein unbedingtes Gesetz bestimmt würden, müßte zwar immer noch Nothwendigkeit bleiben, weil sich kein Gesetz irgend einer Kraft ohne Nothwendigkeit gedenken läßt, aber sie würde keine unvermeidliche, sondern eine vermeidliche, mithin ei‐ ne solche Nothwendigkeit seyn, die die Erinnerungskraft, wenigstens so viel wir einsehen können, nicht hinderte, auf den Nahmen einer freyen Kraft Anspruch zu machen. Wir würden es dann völlig in unserer Gewalt haben, uns z. B. des Bucephalus zu erinnern, ohne zugleich an den Alexander zu denken. 106 Denn da die Erinnerungskraft, nach der Voraussetzung, nicht durch vorhergehende assozi‐ 106
Bucephalus bzw. Bukephalos ist das bekannte Streitross Alexanders des Großen.
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irte Vorstellungen zur Wirksamkeit gezwungen würde, so wäre nicht abzusehn, warum es ihr nicht völlig frey stehen sollte, sich zur Erinnerung oder Nichterin‐ nerung nach Gefallen selbst zu bestimmen. Wir wollen die Erinnerungskraft aus dem Spiele lassen, die als eine bloße Naturkraft niemals einem andern, als einem Naturgesetze, mithin auch keiner andern, als einer unvermeidlichen Nothwendigkeit unterworfen seyn kann. Wir wollen dafür eine Kraft setzen, die keine Naturkraft ist, deren Handlungen folg‐ lich nicht als Veränderungen, die in der Zeit entstehen, gedacht werden dürfen, eine Kraft, die wir im Gegensatze der Naturkräfte eine intelligible Kraft nennen wollen, – und mich dünkt, wir haben in dem Begriffe des Gesetzes, dem eine sol‐ che Kraft unterworfen seyn muß, den Begriff eines Gesetzes gefunden, dem eine freye Kraft unterworfen seyn kann! Es ist dies der Begriff eines unbedingten Ge‐ setzes, das heißt eines Gese tzes, welches zwar die Vorschrift einer gleichförmigen Handlungsweise enthält, welches aber dabey keine Rücksicht nimmt auf vorherge‐ gangene Ursachen, die die Thätigkeit der Kraft erst in Bewegung setzen müßten. In dem Begriffe eines solchen Gesetzes, welcher eigentlich nichts weiter, als das Gegentheil vom Naturgesetze ausdrückt, finden sich die beyden Merkmale ver‐ einiget, von denen wir schon im Voraus erkannten, daß sie sich in dem Begriffe eines Gesetzes freyer Kräfte vereiniget finden müßten. Es findet sich erstlich das Merkmal der Nothwendigkeit darin, ohne welches sich überhaupt kein Gesetz ir‐ gend einer Kraft denken läßt. Denn wir können uns gar nicht einmal einen Be‐ griff davon machen, wie es möglich wäre, daß sich intelligible Kräfte von jenem unbedingten Gesetze entbänden. Lassen Sie uns auf einen Augenblick anneh‐ men, sie entbänden sich davon – so blieben zwey Fälle übrig. Entweder müßten wir uns intelligible Kräfte an gar kein Gesetz, oder wir müßten sie uns an ein bedingtes Gesetz gebunden vorstellen. Beydes aber ist unmöglich: das erstere, weil es Kräfte, das letztere, weil es intelligible Kräfte sind. So streng aber auch die Nothwendigkeit ist, mit welcher intelligible Kräfte an ein unbedingtes Gesetz gebunden sind, so findet sich doch Zweytens, daß diese Nothwendigkeit mit der Freyheit wenigstens in keinem erweislichen Widerspruche stehet. Der Umstand, daß Naturgesetze nur unter Voraussetzung einer vorhergegangenen, mithin unwi‐ derstehlichen, Bedingung geboten, war es allein, der die Naturkräfte aller Frey‐ heit beraubte. Denken wir uns also ein Gesetz, welches nicht unter Vorausset‐ zung einer solchen unwiderstehlichen Bedingung gebietet, so denken wir uns ein Gesetz, welches den ihm unterworfenen Kräften – die freylich keine physische, sondern nur intelligible seyn können – zwar unbedingt, aber eben darum auch nicht unwiderstehlich gebietet, und welches ihnen folglich vollkommene Frey‐ heit läßt, auch das Gegentheil von dem zu thun, was es ihnen vorschreibt. Es enthält wenigstens nichts, was sie erweislich daran hindern könnte. Naturkräfte können freylich nicht das Gegentheil von dem thun, was ihnen das Naturgesetz gebietet. Aber sie können es nur darum nicht thun, weil sie der Bedingung nicht
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widerstehen können, unter welcher ihnen das Gesetz seine Foderung ankündiget. Ein Gesetz im Gegentheil, welches intelligibeln Kräften gebietet, und welches wir eben darum ein intelligibles Gesetz nennen können, kündiget diesen Kräften sei‐ ne Foderung unter keiner Bedingung, mithin auf eine Weise an, von der durchaus nicht abzusehen ist, warum sie ihr nicht sollten widerstehen können. Wenn Sie dieses Räsonnement eben so bündig finden, als es mir gegenwär‐ tig vorkommt, so werden Sie wenigstens so viel einräumen müssen, daß die Be‐ hauptung einer Kraft, die bey aller ihrer Freyheit kontradiktorisch entgegenge‐ setzte Handlung vorzunehmen, gleichwohl Gesetzen unterworfen ist, keinen er‐ weislichen Widerspruch in sich schließe, und Sie werden dann nicht umhin kön‐ nen einzugestehen, daß zwischen dem Zufall, der schlechterdings an kein Gesetz gebunden ist, und einer freyen Kraft, die zwar an kein bedingtes, aber doch an ein unbedingtes Gesetz gebunden seyn kann, doch noch ein sehr großer Unter‐ schied Statt finde. Sie können auch un möglich fürchten, daß wir uns durch diese Spekulation zu weit in das Reich des Intelligibeln gewagt haben. Denn wir haben aus diesem für unsere Erkenntniß unzugänglichen Lande durchaus keine neuen Einsichten, sondern blos die Ueberzeugung zurückgebracht, daß wir die Gren‐ zen unserer Einsicht bey weitem überschreiten würden, wenn wir uns anmaaßen wollten, die Unmöglichkeit freyer Kräfte darum zu behaupten, weil wir sie keinen Naturgesetzen unterworfen denken können: während uns nichts hindert, sie uns als intelligible Kräfte vorzustellen, und sie dann gleichfalls intelligibeln Gesetzen zu unterwerfen, von denen es sich wenigstens nicht erweisen läßt, daß sie mit der Freyheit schlechterdings unvereinbar sind. Da wir aber diese Ueberzeugung nicht auf unsere Bekanntschaft, sondern lediglich auf unsere Unbekanntschaft mit der Natur des Intelligibeln gründen, so müssen wir freylich gestehen, daß wir eben so wenig im Stande sind, die Möglichkeit, als die Unmöglichkeit freyer Kräfte zu behaupten. Es bleibt uns also eigentlich nichts übrig, als das Recht, alle diejenigen abzuweisen, die entweder jene Möglichkeit, oder diese Unmöglichkeit einzusehen vorgeben, – ein Recht, welches aber vollkommen hinreichend ist, die Ueberzeugung von der Freyheit unseres Willens gegen alle nur erdenkliche Ein‐ würfe in Sicherheit zu setzen. Sie werden mir verzeihen, daß ich mich dieses Rechts zunächst gegen Sie selbst bediene, und darauf bestehe, daß unser Wille vollkommene Freyheit, mit‐ hin vollkommene Macht besitzen könne, etwas zu thun, oder zu lassen, je nach‐ dem es ihm beliebt, ohne doch deswegen mit dem Zufall in Eine Klasse, in die Klasse der Undinge geworfen werden zu müssen. Ich setze dabey voraus, daß wir die Erlaubniß haben, unsern Willen als eine intelligible Kraft zu betrachten, eine Voraussetzung, über deren Gültigkeit unter uns als Freunden der Kantischen Phi‐ losophie keine Verschiedenheit der Meynungen Statt finden kann. Da wir diese Erlaubniß auf einen sehr allgemeinen Grund gründen, nähmlich auf die Nothwen‐ digkeit, alle Dinge aus deinem gedoppelten Gesichtspunkte anzusehen, aus dem
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Gesichtspunkte der Sinne, als Erscheinungen, und aus dem Gesichtspunkte der reinen Vernunft, als Dinge an sich selbst, – so ist klar, daß es kein besondrer Vorzug des Willens seyn soll, wenn wir von ihm behaupten, er könne als eine intelligible, mithin als eine freye Kraft betrachtet werden. Eine jede Kraft eines jeden andern Dinges kann als eine intelligible, und folglich auch als eine freye Kraft betrachtet werden, weil wir die ganz unbeschränkte Erlaubniß haben, jedes Ding aus einem intelligibeln Gesichtspunkte, als ein Ding an sich selbst, mithin auch seine Kraft als die Kraft eines Wesens zu betrachten, welches in gewisser Rücksicht kein Sinnenwesen, und also auch nicht den Gesetzen unterworfen ist, die die Sinnenwelt mit unvermeidlicher Nothwendigkeit beherrschen. Man kann daher mit einem Schein von Paradoxie behaupten, daß die Möglichkeit der Frey‐ heit unseres Willen mit der Möglichkeit der Freyheit einer Uhrfeder stehe und fal‐ le. Denn wenn sich wirklich ein Beweis führen ließe, daß die Kraft einer Uhrfeder in keiner Rücksicht frey seyn könnte, so wäre eben dadurch auch die Unmöglich‐ keit entschieden, derjenigen von unsern Kräften, die wir die Willkühr nennen, in einer Rücksicht Freyheit beyzulegen. Vielleicht mag es Ihnen bedenklich schei‐ nen, daß der Wille keinen Vorzug vor einer Uhrfeder haben soll: allein ich bitte Sie in diesem Falle zu erwägen, ob der Wille nicht mit dem Vorzuge zufrieden seyn könne, im wirklichen Besitze der Freyheit zu seyn, während die Uhrfeder sich blos damit begnügen muß, Ansprüche auf jenen Besitz machen zu dürfen? Wäre die Uhrfeder wirklich frey, so müßte sich ein Gesetz aufzeigen lassen, wel‐ ches ihr unbedingt geböte. Denn ließe sich kein anderes, als ein bedingtes Gesetz aufzeigen, welches die Handlungsweise der Uhrfeder bestimmte, so wäre kein Grund vorhanden, ihre Kraft für etwas mehr, als für eine Naturkraft zu halten, mithin auch nichts, was uns berechtigte, ihr einen Platz unter freyen Kräften an‐ zuweisen. Nun giebt es aber wirklich kein anderes Gesetz unter dem eine Uhrfe‐ der stünde, als ein solches, welches ihr unter Voraussetzung einer äußern bewe‐ genden Ursache gebietet, mithin bleibt ihre Kraft für uns nichts, als eine bloße Naturkraft, und ob wir gleich die Möglichkeit nicht in Zweifel ziehen wollen, daß sie, aus einem intelligiblen Gesichtspunkte betrachtet, eine freye Kraft seyn könn‐ te, so sehen wir doch auch nichts, was uns eben nöthigte, ihrentwegen diesen Gesichtspunkt zu fassen. Ganz anders ist es mit dem Willen. Freylich erscheint er uns zunächst nur als eine Naturkraft, wiefern wir sein Daseyn aus den Veränderungen erkennen, die unter dem Nahmen willkührlicher Handlungen im Gebiete der Erfahrung vorkom‐ men. In dieser Rücksicht ist er also auch einem bloßen Naturgesetze unterwor‐ fen, und dieses ist leicht zu finden, so bald wir nur auf die durchgängige Gleich‐ förmigkeit Acht geben, die sich in der Art und Weise offenbart, wie willkührliche Handlungen jederzeit erfolgen. Willkührlich nennen wir bekanntlich diejenigen Handlungen, durch welche wir eine Absicht zu erreichen suchen, so wie wir im Gegentheil solche Handlungen unwillkührlich nennen, bey denen wir uns keiner
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Absicht bewußt sind. Eine Absicht aber ist nichts anders, als der Begriff der Wir‐ kung, wiefern er uns zur Hervorbringung derselben bestimmt. Wir können aber niemals eine Absicht haben, deren Erreichung wir nicht gerne sähen. Alles aber, was wir gerne sehen, wird, wiefern es durch einen Begriff vorgestellt wird, als etwas Gutes vorgestellt; mithin kann das Naturgesetz, welches unserer Willkühr gebietet, ihr nur unter der Bedingung gebieten, daß Begriffe von dem, was gut ist, ihre Thätigkeit in Bewegung gesetzt haben. Gäbe es nun kein anderes Ge‐ setz, worunter unsere willkührlichen Handlungen stünden, als dieses bedingte Naturgesetz, so bliebe es zwar immer noch nicht unmöglich, daß wir in Rück‐ sicht unserer Willkühr frey wären, aber nur so, wie es auch bey einer Uhrfeder nicht unmöglich bleibt, und es wäre die grundloseste Anmaaßung von der Welt, uns darum wirklich freye Willkühr beyzulegen, weil sich doch die Unmöglichkeit davon nicht beweisen läßt. Allein es giebt in der That noch ein anderes Gesetz, welches dem Willen unbedingt gebietet, nähmlich das moralische, und dieses ist dann das Einzige, was uns berechtiget, den Willen für etwas mehr, als für eine bloße Naturkraft zu halten. Wäre uns der Begriff des moralischen Gesetzes nicht als Thatsache in unserm Bewußtseyn gegeben, so müßte der Begriff eines unbedingten Gesetzes, mithin auch der Begriff einer vermeidlichen Nothwendigkeit ewig problematisch für uns bleiben, und es stünde gar sehr zu befürchten, daß wir diese räthselhaften Begrif‐ fe nicht einmal im Reiche der Möglichkeit würden dulden wollen. Jetzt hingegen ist uns nichts klärer, als die Möglichkeit eines unbedingten Gesetzes, sobald wir uns erinnern, daß das moralische Gesetz wirklich unserm Willen unbedingt ge‐ bietet, indem es ihm eine gleichförmige Handlungsweise vorschreibt, die er trotz aller vorhergehenden Bewegungsgründe, die ihn zum Wollen, oder zum Nicht‐ wollen antreiben mögen, dennoch beobachten soll *107. Jetzt verstehen wir ohne Schwierigkeit, wie ein unbedingtes Gesetz Nothwendigkeit mit sich führen kön‐ ne, ohne doch dadurch die Freyheit der ihm unterworfenen Kräfte aufzuheben. Der Begriff des Sollens, der die Nothwendigkeit bezeichnet, mit welcher das mo‐ ralische Gesetz dem Willen gebietet, schließt uns auf einmal das ganze Geheim‐ nis auf! Auf der einen Seite ist uns die Nothwendigkeit sehr einleuchtend, mit welcher der Wille an das moralische Gesetz gebunden ist. Er soll nicht unrecht handeln, und nichts vermag ihn von der Verbindlichkeit loszusprechen, das zu *
Die Gleichförmigkeit, welche das moralische Gesetz dem Willen vorschreibt, ist kei‐ ne Gleichförmigkeit der Gegenstände, die der Wille hervorzubringen hat, sondern blos eine Gleichförmigkeit der Handlungsweise überhaupt, nach welcher der Wille gleichviel welche Gegenstände, hervorbringen soll. Dies ist es, was der Verfasser der Kritik der Vernunft im Sinne hat, wenn er das moralische Gesetz kein materiales, sondern ein formales Gesetz ge‐ nannt wissen will. 107
Vgl. GMS. AA IV, 427 f., KpV. AA V, 41, 109.
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thun, was er thun soll, und das nicht zu thun, was er nicht thun darf. Gleichwohl aber ist uns auch auf der andern Seite nichts augenscheinlicher, als daß diese Nothwendigkeit, mit welcher der Wille recht handeln soll, dennoch seine Frey‐ heit nicht im geringsten aufhebe, nach welcher er auch unrecht handeln kann. Denn die unzählichen Beyspiele unsittlicher Handlungen, die uns die Erfahrung vor Augen legt, überzeugen uns leider! nur allzusehr von der Macht des Willens, gerade das Gegentheil von dem zu thun, was ihm das Gesetz gebietet. Der Wille ist also bey aller seiner Freyheit so wenig ein gesetzloses Vermögen, daß ihm vielmehr nichts, als das Gebundenseyn an ein Gesetz seine Freyheit ver‐ bürgt, und der Vorwurf, daß ein freyer Wille im Grunde nichts mehr und nichts weniger, als ein realisierter Zufall wäre, kann folglich, wie mich dünkt, ohne Un‐ bescheidenheit abgelehnt werden. Aber freylich können die Gründe, durch wel‐ che wir diesen Vorwurf abgelehnt haben, nur für diejenigen vollkommen über‐ zeugend seyn, die mit uns darüber einverstanden sind, daß die Sinnenwelt kei‐ ne Welt von Dingen an sich selbst, sondern eine Welt von bloßen Erscheinun‐ gen sey. Indessen werden denn doch auch diejenigen, die hierüber nicht mit uns einverstanden sind, wenigstens so viel zugeben müssen, daß es eine mögliche Hypothese sey, die Dinge in der Sinnenwelt für bloße Erscheinungen, und nicht für Dinge an sich selbst gelten zu lassen. Nun tritt aber hier der merkwürdige Umstand ein, daß diese Hypothese die einzige ist, bey welcher die Möglichkeit der Freyheit gerettet werden kann, und der noch merkwürdigere, daß die Ueber‐ zeugung, die jeder von der Wirklichkeit seiner Freyheit vermittelst des morali‐ schen Gesetzes besitzt, so stark ist, daß die, die er sich vermittelst der Spekula‐ tion von der Nichtwirklichkeit seiner Freyheit verschaffen mögte, gegen die er‐ stern gar nicht in Anschlag kommt. Denn daß wir von unserer Freyheit überzeugt sind, dies können wir mit völliger Zuverläßigkeit daraus wissen, weil wir jeder‐ zeit nach dieser Ueberzeugung handeln. Daß wir aber von der Nichtwirklichkeit unserer Freyheit überzeugt sind, dies können wir niemals sicher wissen, weil wir nach dieser angeblichen Ueberzeugung niemals handeln, und also gar sehr zu befürchten stehet, daß es uns selbst nicht einmal völliger Ernst damit sey. Wenn daher diejenigen, die über die Prinzipien der kritischen Philosophie bisher nicht mit uns einverstanden waren, nicht in den schlimmen Fall kommen wollen, etwas behaupten, oder auch nur bezweifeln zu müssen, wovon sie den Vorwurf niemals ablehnen können, daß es ihnen weder mit ihrem Behaupten, noch mit ihrem Be‐ zweifeln völliger Ernst sey; so müssen sie sich, wie es scheint, entschließen, un‐ sere Hypothese von der Sinnenwelt, als einer Welt bloßer Erscheinungen, nicht nur für eine mögliche, sondern selbst für die einzig mögliche Hypothese gelten zu lassen, – und wir können also völlig sicher seyn, daß gegen die Prinzi pien, die wir bey unserer Untersuchung ohne Beweis vorausgesetzt haben, niemals ein erheblicher Einwurf gemacht werden könne; denn Einwürfe, von denen immer
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zu vermuthen stünde, daß sie nicht im Ernst gemacht würden, wären denn doch wohl unerheblich? So sehr auch alles das, was ich Ihnen bisher über die Gesetzmäßigkeit des freyen Willens geschrieben habe, der vollkommenste Abdruck meiner innigsten Ueberzeugung ist, so wenig kann ich denn doch meine Besorgnis unterdrücken, daß Ihnen das Resultat dieser Untersuchung, die freylich hin und wieder etwas schwerfällig ausgefallen seyn mag, noch immer etwas dunkel vorkommen wer‐ de. Vielleicht wird sich diese Dunkelheit am ersten dadurch verlieren, wenn wir noch zuletzt einen Versuch mit einander machen, die Frage zu beantworten: wie denn wohl der freye Wille beschaffen seyn müßte, wenn es wirklich wahr wä‐ re, daß zwischen ihm und dem Zufall kein Unterschied Statt fände? Sobald wir uns nur einmal zum Versuch den Fall denken, der Zufall habe eine gewisse Wir‐ kung hervorgebracht, so zeigt es sich sogleich, daß dann gar nicht mehr von Gesetzen die Rede seyn könne, nach welchen sich dieses Prinzip zu richten habe. Denn wir haben nur von zweyerley Gesetzen einen Begriff, von Naturgesetzen, nach welchen sich Naturkräfte richten müssen, und von moralischen Gesetzen, nach welchen sich vernünftige Wesen richten sollen. Wir mögen nun aber die einen oder die andern auf den Zufall anwenden, so entstehen in beyden Fällen vollkommene Widersprüche. Es ist offenbar widersprechend, zu sagen, der Zufall hat so handeln müssen, wie er gehandelt hat, denn eben das Eigenthümliche sei‐ ner Handlungsweise bestehet darin, daß er auch anders hätte handeln können. Es ist aber nicht weniger ungereimt, dem Zufall Pflichten aufzulegen, die er erfüllen solle, und ihn zu tadeln, weil er anders gehandelt, als seine Schuldigkeit gewesen wäre. Mithin ist kein Zweifel, daß das Reich des Zufalles nur da angehe, wo das Reich der Gesetze aufhört. Wären also Zufall und freyer Wille Eins, so müßten wir den letztern, wie den erstern, nicht blos von Naturgesetzen, sondern selbst von moralischen Gesetzen entbunden denken: es müßte eben so ungereimt seyn, von lasterhaften Entschließun gen, als von lasterhaften Zufällen zu reden. Nun ist dies aber augenscheinlich nicht der Fall. Es ist also eben so augenscheinlich, daß zwischen dem Zufall und dem freyen Willen kein geringerer Unterschied Statt finde, als derjenige ist, der zwischen zwey Kräften angetroffen wird, wovon die eine völlig gesetzlos, aber eben darum ein Unding, die andere aber wirklich Gesetzen unterworfen, und eben darum kein Unding ist. Zusatz.
Im Verlauf gegenwärtiger Untersuchung ist sehr oft vom Willen, mithin von einem Begriff die Rede gewesen, über welchen die kritischen Philosophen seit einiger Zeit ziemlich uneins geworden sind. Es verlohnt sich der Mühe, hier nur mit we‐ nig Worten anzuzeigen, wieviel man bey diesem, bis jetzt eben nicht sehr beleh‐ renden, Streite in jeder Rücksicht versehen hat. Man hat zweyerley dabey versehn:
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Erstlich dies, daß man das Merkmahl der Freyheit in den Begriff des Willens überhaupt mithinein nahm, wodurch man sich in die misliche Alternative setzte, entweder die Freyheit als empirische Eigenschaft des Willens in der Erfahrung aufsuchen, oder alle willkührlichen Handlungen aus dem Gebiete der Erfahrung verweisen zu müssen. Man hatte dabey vergessen, daß die Willkührlichkeit (d. i. die Bestimmbarkeit durch Maximen, im Gegensatze der Bestimmbarkeit durch Affektionen) eben so gewiß eine empirische, als die Freyheit eine transcendentale Eigenschaft menschlicher Handlungen sey – und daß das materiale Gesetz, wel‐ ches der Wille befolgen muß (immer nur das Beste zu wählen), mit dem formalen Gesetz, welches die Freyheit befolgen soll (Gleichförmigkeit bey ihrer Handlungs‐ weise zu beobachten) keinesweges verwechselt werden dürfe. Zweytens versah man es darin, daß man die Quelle des moralischen Gesetzes außer dem freyen Willen, in einer von ihm selbst verschiednen praktischen Ver‐ nunft aufsuchte, oder – welches eins ist – daß man das moralische Gesetz aus einem constitutiven in ein regulatives Princip der Freyheit verwandelte, wobey man sich abermahls in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelte. Denn fürs erste begieng man einen Widerspruch, indem man eine Willenskraft annahm, die an sich selbst völlig gesetzlos, mithin vom Zufall, das ist von einem Undinge in nichts unterschieden war. Fürs zweyte war man genöthigt, zwischen den theoretischen und praktischen Vernunftprinzipien nicht blos einen Unterschied im Ge brauch, wie man sollte, sondern auch einen Unterschied im Begriff, wie man nicht sollte, anzunehmen, und sodann die praktische Vernunft von der theoretischen durch einen Begriff zu unterscheiden, der, wie z. B. der Begriff der Unabhängigkeit von gegebenen Grün‐ den, durch seine Unstatthaftigkeit den gemachten Unterschied selbst wieder ver‐ nichtete. Man bestand darauf, daß der Wille nicht praktische Vernunft wäre; und man that wohl daran: denn es giebt überhaupt keine praktische Vernunft, sondern nur einen praktischen Vernunftgebrauch. Aber man verdarb es folglich wieder da‐ durch, daß man die praktische Vernunft als eine neben dem Willen vorhandne Kraft vorstellte, welche keine andere Function haben sollte, als dem Willen sein Gesetz zu geben 108 – ein Gedanke, der nicht weniger als drey offenbare Wider‐ sprüche in sich schließt. Der erste liegt in dem Begriffe eines Willens, der an sich selbst gesetzlos ist: der andere in dem Begriffe eines Gesetzes, welches einer Kraft durch eine fremde vorgeschrieben wird, wodurch die innere Nothwendigkeit, die in dem Begriffe eines jeden – selbst bürgerlichen – Gesetzes gedacht wird, gänz‐ lich verloren gehet: der dritte in dem Begriffe einer praktischen Vernunft, die
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Forberg dürfte hier auf Reinhold zielen, der sowohl auf der Unterscheidung von Wil‐ len und praktischer Vernunft insistiert wie auch die praktische Vernunft auf eine legislatori‐ sche Funktion beschränkt (vgl. Reinhold 1792, 271, 281, 293 (Text 14) und Reinhold 1793, 378–382 (Text 16)).
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weiter nichts als ein Gesetz aufstellen soll. Denn da ein Gesetz nirgends als in seinem Begriffe existirt, den die praktische Vernunft, als solche, nicht hervorzu‐ bringen vermag, so vermag sie überhaupt nichts hervorzubringen, wodurch die Thätigkeit, die in dem Begriffe einer Kraft gedacht wird, mithin die Kraft selbst, die gesetzt wurde, wieder aufgehoben wird. Fürs dritte konnte man nicht umhin, an die Stelle des moralischen Geset‐ zes, welches nur durch seine innere absolute Nothwendigkeit den freyen Wil‐ len verbinde, einen bloßen Befehl zu setzen, den die Vernunft – man weiß nicht, warum? – an den Willen ergehen läßt, und den dieser eben darum, weil er ihn an und für sich nichts angeht, weil er nur ein regulatives, und kein constitutives Prinzip ist, niemahls befolgen soll, sondern nach Belieben jederzeit auch abwei‐ sen darf – so wie der Bürger jedes Mandat des Regenten, das durch kein Gesetz sanctionirt ist, abzuweisen das Recht hat.
23 SALOMON MAIMON
(1800)
Der moralische Skeptiker Salomon Maimon (1753–1800) wurde als Schlomo ben Josua in Schukau Barok (damals Polen-Litauen, heute Weißrussland) geboren, wo er die Talmudschule besuchte. Später beschäftigte er sich mit Kabbala, Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie, besonders auch mit Moses Maimonides (Mosche ben Maimon, 1135–1138), von dem er dann den Namen entlehnte. Über Umwege, die ihn immer wieder in schwierige Lebenslagen brachten, gelangte er 1786 nach Berlin. Dort machte sich der philosophische Autodidakt mit seinem ersten Werk Versuch über die Transscendentalphilosophie (1790) einen Namen, und zwar gleichermaßen als Verteidiger wie als Kritiker von Kants theoretischer Philosophie. Maimon wurde Mitarbeiter an Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und publizierte in den 1790er-Jahren Bücher und Aufsätze zu den verschiedensten philosophischen Themen, in denen er sich durch scharfsinnige Polemik und argumentative Schärfe auszeichnete. 1795 zog er nach Nieder-Siegersdorf, wo er in Graf Heinrich Wilhelm Adolf von Kalckreuth einen Förderer fand. Seinen philosophischen Standpunkt bezeichnete Maimon selbst als »Koalitionssystem«. Dieses besteht in dem Versuch, Bestandteile der kritischen Philosophie Kants mit einem Hume’schen Skeptizismus und Elementen der rationalistischen Metaphysik Leibniz’ und Spinozas in systematischen Einklang zu bringen. Im hier wiedergegebenen Aufsatz, der 1800 im 2. Band des Berlinischen Archivs der Zeit und ihres Geschmacks (271–292) erschien, tritt Maimon primär in der Rolle des skeptischen Kritikers der kantischen Moral- und Freiheitskonzeption auf. Dabei bedient er sich eines Argumentationsmusters, das er zuvor auch schon gegen Kants Deduktion synthetischer Urteile a priori vorgebracht hatte, die Maimon zufolge auf dem vorausgesetzten, aber von skeptischer Seite angreifbaren Faktum der Erfahrung beruht. Ebenso liegt der kantischen Moraltheorie erklärtermaßen ein »Factum der Vernunft« (vgl. KpV. AA V, 31, 42, 47, GMS. AA VI, 252) zugrunde, und zwar das Faktum des Bewusstseins des moralischen Gesetzes. Dieses Faktum versteht Kant als Äußerung des kategorischen Imperativs und dies berechtigt ihn wiederum zum Postulat der Wirklichkeit der Freiheit des Willens. Maimon zweifelt nun nicht am moralischen Bewusstsein als einem Faktum, sondern an der kantischen Erklärung desselben als Äußerung des reinen Sittengesetzes oder kategorischen Imperativs. Denn nur wenn das Faktum auf diese Weise erklärt werden darf, ist der Schluss auf die Wirklichkeit moralischer Freiheit legitim. Genau dies stellt Maimon in Frage, indem er ausführlich darlegt, dass Imperative – sowohl hypothetische wie auch kategorische – nicht als präskriptive Sätze, in denen sich ein Sollen ausdrückt, interpretiert werden dürfen, sondern dass sie auf deskriptive Sätze, die ein Sein oder Werden
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ausdrücken, zurückgeführt werden können. Damit fällt der einzige Grund weg, der zum Postulat der Freiheit berechtigen würde. Maimon geht aber noch einen Schritt weiter, indem er zu zeigen versucht, dass es keinen Weg gibt, die Freiheit des Willens konsistent zu denken. Für den Skeptiker erweist sich Freiheit daher nicht nur als unbegreiflich wie für den kritischen Philosophen bzw. moralischen Dogmatiker, sondern schlicht als unmöglich. Wenn aber Freiheit unmöglich ist, kann das moralische Bewusstsein nicht als Äußerung des kategorischen Imperativs – der ja Freiheit voraussetzt – verstanden werden. Mit anderen Worten: Wenn Freiheit nicht verständlich gemacht werden kann, kann die kantische Erklärung des Faktums des moralischen Bewusstseins als Äußerung des kategorischen Imperativs nicht adäquat sein. Mit diesem Resultat sieht sich Maimon jedoch keineswegs gezwungen, die Idee der Moralität überhaupt zu verwerfen. Denn er glaubt, das Faktum des moralischen Bewusstseins auf andere Weise adäquat erklären zu können: Moralität ist eine Idee, die aus dem Begriff der Legalität entspringt. Gesellschaftliches Zusammenleben, innerhalb dessen ein Individuum seine Zwecke verfolgen kann, erfordert eine Regelung der individuellen Zwecke, d. h. Legalität der Handlungen. Moralität ist dann nichts anderes als die absolut gedachte Legalität, ein faktisch nicht erreichbares Ideal der Übereinstimmung von Handeln und Gesinnung, das eine regulative Funktion übernimmt. Damit verfügt der moralische Skeptiker über eine alternative, naturalistische Erklärung des Faktums des moralischen Bewusstseins, die, wie Maimon glaubt, einerseits die Moral in ihrem vollen Recht bestehen lässt, ohne andererseits auf die leeren Begriffe der Freiheit und eines kategorischen Imperativs zurückgreifen zu müssen. Weiterführende Literatur: Kuntze 1912, 408–454, besonders 413–427, und 490–497, Klemme / Kuehn 2016, 499–501, Kravitz 2019, Kravitz 2020. Weitere Ausführungen Maimons zur Moralphilosophie finden sich in den Aufsätzen Maimon 1794 und Maimon 1798. In den Streifereien im Gebiete der Philosophie argumentiert Maimon in ähnlicher Weise wie hier gegen Reinholds Moralkonzeption (vgl. Maimon 1793, 226–234, 238–244).
♦ Einleitung.
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Wenn ein materiales Prinzip (Glückseligkeit, Vollkommenheit u. d. gl.) 109 der Moral zum Grunde gelegt wird, so gibt es keinen moralischen Dogmatiker und moralischen Skeptiker, oder gar einen Leugner der Moral. Dieser leugnet nicht, was jener behauptet; beide sind in der Sache einig, und nur in der Art, sich dar‐
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»Alle materiale praktische Principien sind, als solche, insgesammt von einer und der‐ selben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückse‐ ligkeit.« (KpV. AA V, 22)
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über auszudrücken, unterscheiden sie sich von einander. Die Freiheit, die der ei‐ ne annimmt (Mangel an Bewußtseyn der die Handlung bestimmenden Motiven, oder die Vorstellung von der Möglichkeit anderer, den gegebenen entgegenge‐ setzten Motiven), ist nicht die Freiheit, die der andere leugnet (das Vermögen des Subjekts sich selbst, aller Motiven ungeachtet, zum Gegentheil zu bestimmen). Das Sollen, wovon der eine spricht, übersetzt der andere durch ein Werden. Du sollst nach Glückseligkeit, nach Vollkommenheit überhaupt streben, heißt nichts anders, als du wirst u. s. w. (weil du nach Naturgesetzen dazu bestimmt bist). Du sollst nicht nach deiner gegenwärtigen mangelhaften, sondern nach einer dir möglichen vollständigen Erkenntniß nach Glückseligkeit, Vollkommenheit u. s. w. streben, heißt nichts anders, als du wirst (nach erlangter vollständiger Erkennt‐ niß) darnach streben. Die Zurechnung (Vorstellung von etwas als Folge von der Freiheit des Subjekts), die der eine annimmt, ist nicht die Zurechnung, die der andere verwirft (weil jeder sich unter Freiheit selbst etwas anders denkt) u. s. w. Der moralische Dogmatiker und der moralische Skeptiker (wenn sie noch für gut befinden, sich bloß wegen Verschiedenheit des Ausdrucks in zwei Partheien zu theilen) sind sowol theoretisch als praktisch einander gleich, wie ein Ey dem an‐ dern! Ganz anders hingegen scheint es sich damit zu verhalten, wenn nach der kritischen Philosophie alle materiale Prinzipien als zur Begründung einer Moral untauglich erklärt werden; wenn der Begriff von Pflicht als unbezweifeltes Fak‐ tum der gemeinen Menschenvernunft zum Grunde gelegt, und sein Prinzip in der reinen, und durch dieses Faktum als praktisch erkennbaren Vernunft gefunden wird. 110 Nun erscheint der moralische Skeptiker als der wahre Antipode von dem moralischen Dogmatiker. Sie streiten nicht mehr über Worte, sondern über Sa‐ chen, und über Sachen von äußerster Wichtigkeit. Der Skeptiker bezweifelt das Faktum, das der Dogmatiker als unbezweifelt aufstellt. 111 Das Sollen, dessen sich dieser bedient, kann nicht von jenem durch ein Werden übersetzt werden, wenn es nicht seine wahre Bedeutung verlieren soll. Die Freiheit, die der eine postulirt, wird von dem andern für unmöglich erklärt, u. s. w. Sie scheinen also von einan‐ der so entfernt zu seyn (um mich D[oktor]. Slops Ausdrucks zu bedienen), wie Osten und Westen! 112 Aber der Skeptiker scheint hierin nicht nur dem Dogma‐ 110 111
Vgl. KpV. AA V, 31, 42, 47, MS. AA VI, 252. Vgl. dazu auch Maimon: Versuch über die Transscendentalphilosophie. Berlin 1790,
186 f. 112
Doktor Slop ist eine Figur aus Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767). Das Zitat steht in Buch II, Kapitel 17, wo es darum geht, ob der Apostel Paulus und sein protestantischer Ausleger derselben Meinung seien: »Sir, have patience, replied my father, for I think it will presently appear that St Paul and the Protestant divine are both of an opinion. – As nearly so, quoth Dr Slop, as east is to the west!« (»Geben Sie nur Geduld, Herr Doktor, erwiederte mein Vater, denn ich glaube, es wird sich bald zeigen, daß der Apostel und der protestantische Prediger beyde einerley Meynung
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tiker gerade entgegengesetzt zu seyn, sondern auch dieser scheint so sehr über jenen erhaben zu seyn, als der Engel des Lichts über den Engel der Finsterniß. Der Dogmatiker geht von der gemeinen Menschenvernunft aus, auf deren Stimme der Skeptiker muthwilligerweise nicht hören will; und da alle Philosophie zuletzt auf einer Thatsache beruhen muß, so beraubt sich dieser alles Rechts, zu philosophi‐ ren. Jener erhebt den Menschen über alle Naturwesen, giebt ihm Selbstständig‐ keit, macht ihn zu einer Person. Dieser erniedrigt denselben zu einem Automat, und gesteht ihm nichts mehr zu, als das fruchtlose und demüthigende Bewußt‐ seyn seines Unvermögens, sich den Gesetzen des unlenkbaren Fatalismus zu ent‐ ziehen; und was die Ausübung der Moralität betrifft, so muß der Skeptiker sein eigenes Verdammungsurtheil unterschreiben! – Er erklärt sich durch seinen Skeptizismus selbst nicht nur einer moralischen Gesinnung unfähig, sondern auch (nach dem bekannten Ausspruch: was man nicht wünscht, glaubt man nicht) als ein Feind der Moralität, der wegen seiner Sittenverderbniß nicht einmal den Gedanken davon ertragen kann. – Tournons la médaìlle! 113 Wie aber, wenn alles dieses nur so zu seyn scheint? wenn gezeigt werden kann, daß in der That der moralische Dogmatiker vor dem Skeptiker so wenig theoretisch, als praktisch betrachtet, den mindesten Vorzug hat? Daß dieser eben so wie jener zu allem Philosophiren überhaupt eine That‐ sache fordert, und selbst das von jenem, dem Philosophiren über die Moral zum Grund gelegte Faktum an sich annimmt, und nur den von jenem angedichteten Ursprung dieses Faktums (worauf es hier einzig und allein ankommt) aus Grün‐ den bezweifelt, und diesem zufolge das Sollen von jenem in ein Werden, und das Postulat in eine petitio principii 114 verwandelt, aufstellt; so bleiben sie frei‐ lich von einander entfernt, wie Osten und Westen: aber in einer ganz andern Bedeutung dieser Worte, als sich ein D[oktor]. Slop dabei denken mag. – Als‐ dann werden der vorgegebene Engel des Lichts, 115 so wie der Engel der Finster‐ niß als Gespenster verschwinden. Der Skeptiker entzieht nicht das Mindeste von der Würde des Menschen, von seiner Erhabenheit über alle Naturwesen, Selbst‐ ständigkeit und Persönlichkeit, die er in der bloßen Idee der Moralität (da sonst nichts aufzuweisen ist) setzt; und was das Urtheil über sich selbst betrifft, so hält er sich selbst nicht um ein Haarbreit schlechter, als der Dogmatiker, ohne Selbstgefälligkeit, Prahlerei und gehässige Seitenblicke auf die hierin anders Den‐ kenden. – Weit entfernt, ein Feind der Moralität zu seyn, d. h. ihren Besitz nicht sind. – Sie kommen einander so nahe, sagte Doktor Slop, als Ost und West.« Übers. Ham‐ burg 1774) 113 Frz.: »Wenden wir die Medaille!« 114 Lat.: »Inanspruchnahme des Grundes«; Argument, bei dem das zu Beweisende in den Prämissen des Beweises bereits vorausgesetzt wird. 115 »Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellt sich zum Engel des Lichts.« (2. Korinther 11,14)
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zu wünschen, findet er vielmehr nichts Erhabeneres und Wünschenswürdigeres, als eben diesen Besitz, und dieses ist eben der subjektive Grund, der ihn diesen Besitz zu bezweifeln verleitet. Die dieses anders auszulegen geneigt sind, sind so sehr schlechte Menschenkenner, als übelgesinnte Menschen selbst. Als man dem alten Jakob, der eine lange Zeit über seinen geliebten verlohrnen Sohn getrauert hatte, sagte: dein Sohn Joseph lebt u. s. w., heißt es: sein Herz blieb dabei kalt, denn er glaubte ihnen nicht. 116 Wahrhaftig gewiß nicht, weil er es nicht wünschte, daß es wahr wäre! Wenn der Kollekteur zu einem armen Schelm, der bei ihm in die Lotterie gesetzt hat, kommt und sagt: du hast das große Loos gewonnen, so glaubt es dieser nicht, und nimmt es jenem sogar übel, unter der Voraussetzung, daß er bloß mit ihm seinen Spaß treiben wollte; bis er ihn davon völlig überzeugt. Gewiß nicht, weil er es nicht wünscht! Ob es sich nun in Ansehung des moralischen Skeptizismus in der That so verhält oder nicht, soll in folgender Untersuchung erörtert werden. Wir wollen fürs erste von den Imperativen überhaupt, und dann von dem moralischen (soge‐ nannten kathegorischen) Imperativ sprechen, und zuletzt die Gründe, worauf er sich stützt, untersuchen. Ich gehe von folgenden ausgemachten Wahrheiten aus.
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Was ist ein Imperativus?
Die Frage ist, wie leicht einzusehen, nicht, was ist der grammatische Imperativ? Was dieser modus eines verbi in der Grammatik bedeutet, dieses weiß ja ein je‐ der Tertianer. Was gebietend, befehlend, ermahnend, rathend u. dergl. ausgesagt wird, ist ein Imperativ. Sondern die Frage ist: Was ist der moralische Impera‐ tiv? Ich nehme hier das Wort moralisch in seiner weitern Bedeutung, als dasje‐ nige, was sich auf einen Willen bezieht; denn so viel ist vorläufig ausgemacht, daß gebieten, befehlen u. s. w. nothwendig einen Willen zum Gegenstande hat. Schon aus dem gemeinschaftlichen Gebrauche des grammatischen Imperativs in allen diesen besondern Fällen (im Gebieten, Ermahnen, Rathen u. s. w.) läßt sich schließen, daß diese verschiedenen Arten eines und desselben Geschlechtsbegriffs sind. Die Frage ist also: Was ist dieser Geschlechtsbegriff? Diese Frage ist von weit größerer Wichtigkeit, als es anfangs scheinen möchte. Sie betrift nicht den Ge‐ brauch des Imperativs im gemeinen Leben. Der gemeine Menschenverstand weiß damit sehr gut fertig zu werden, ohne sich um diesen Geschlechtsbegriff und sei‐ ne verschiedene Arten zu bekümmern; sondern sie betrifft die Bedeutung des Imperativs an sich vor allem Gebrauch, wodurch die Gränzen dieses Gebrauchs nachher bestimmt, und dieser Gebrauch selbst berichtigt werden können. Wie mancher König hat nicht durch sein le roi le veut 117 Krone und Leben verloren, 116 117
1. Mose 45,26. Frz.: »der König will es«.
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aus Mangel eines richtigen Begriffs von dem Imperativ. O! ihr Imperatores, wenn Ihr auch sonst nichts lernt, lernt wenigstens den Gebrauch des Imperativs! Wir haben schon zur Genüge gezeigt, wie allen menschlichen Narrheiten, Affekten und Leidenschaften, die den Willen anderer zum Gegenstande haben, ein Mangel des richtigen Gebrauchs von diesem moralischen Imperativ zum Grunde liegt. – Zu dieser Untersuchung gibt mir Kant einen Leitfaden an die Hand. Die Impe‐ rativen werden nach ihm in kathegorische und hypothetische Imperativen einge‐ theilt. 118 Jene sind (wenigstens denkbar) absolut; dieser aber (durch den gegebe‐ nen Zweck des zu gebietenden oder zu rathenden) bedingt. Wir wollen fürs erste diese letztern in Betrachtung ziehen. Die hypothetischen Imperativen können wiederum, meiner Meinung nach, füg‐ lich in rathende und befehlende eingetheilt werden. 119 Jene werden durch den (einen gegebenen Zweck bestimmenden) Willen dessen, dem gerathen wird, und durch die Erkenntniß dessen, der den Rath ertheilt; diese aber durch die Erkennt‐ niß sowol als durch den Willen des Letztern bestimmt. A will einen gegebenen Zweck, weiß aber die Mittel nicht, durch welche er zu demselben gelangen kann. B weiß diese Mittel, ohne den dadurch zu erlangenden Zweck zu wollen (weil er nicht Zweck für ihn ist, oder ihm dazu noch andere Mittel, in deren Besitze A ist, fehlen). B theilt daher seine Erkenntniß dem A mit, d. h. er rathet ihm. Der den Zweck bestimmende Wille von A, und die die Mittel bestimmende Erkenntniß von B machen also den Inhalt des Rathes aus. Ein Herr befiehlt seinem Diener, etwas zu thun. Der Wille des Herrn bestimmt den Zweck, und seine Erkenntniß die befohlene Handlung des Dieners als Mittel dazu. Jener hat auch die Macht, diesen zu der Handlung zu zwingen. Der Diener hat zwar seinen Unterhalt, Lohn und Befreiung von Strafe zum Zweck, und will daher dem Herrn in allem gehor‐ chen; doch will er nicht diese besondere Handlung (weil sie ihm sonst nicht erst befohlen zu werden dürfte). Die Erkenntniß, der Wille und die Macht des Herrn sind also die nothwendigen Bestandtheile des Befehlens (die Macht des Dieners, diese Handlung zu verrichten, wird schon in der Erkenntniß des Herrn vorausge‐ setzt, und wenn jene nicht hinlänglich befunden wird, so liegt die Schuld davon in dieser). Diese beiden Arten des moralischen Imperativs werden zwar durch den gram‐ matischen Imperativ ausgedrückt, durch ein Sollen; aber dieses Sollen könnte füg‐ lich mit einem Werden vertauscht werden. Der Rathende könnte, statt zu sagen; du sollst dieses und jenes thun, sagen: du wirst, kraft meiner dir jetzt mitzuthei‐ 118
Kant zufolge haben hypothetische Imperative nur bedingte Geltung und enthalten »bloße Vorschriften der Geschicklichkeit«, während kategorische Imperative unbedingt gel‐ ten und »allein praktische Gesetze« sind (vgl. GMS. AA IV, 414, KpV. AA V, 20). 119 Diese Unterteilung der hypothetischen Imperative stammt von Maimon, möglicher‐ weise geht sie auf Kants Unterscheidung der hypothetischen Imperative in problematischund assertorisch-praktische Prinzipien zurück (vgl. GMS. AA IV, 414 f.).
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lenden Erkenntniß, dieses und jenes thun. Eben so könnte der Befehlende sagen: kraft meiner Erkenntniß und meiner Macht über dich, wirst du dieses thun. In der That denken auch Beide bei ihrem Sollen nichts anders. Aber um diese kleine Umschreibung zu vermeiden, hat die Sprache das Sollen zu diesem Gebrauche bestimmt. – Es ist merkwürdig, daß die ältesten Sprachen (wie die hebräische z. B.), die einen eigenen Imperativ haben, sich dennoch häufig an dessen Stel‐ le des Futurums bedienen, und sich, statt durchs Sollen, durchs Werden aus‐ drücken. – Der Gesetzgeber ist Rathgeber des Staates, als einer identischen Person. Der Staat aber, als identische Person, befiehlt einem jeden Mitgliede desselben, die Gesetze zu respektiren. Der Gesetzgeber kann ein Fremder seyn, der bloß da‐ zu berufen worden ist, dem Staate Gesetze zu geben. Er hat also keinen eige‐ nen Willen, zu dessen Behuf die Gesetze gegeben werden. Dahingegen hat der Staat, als identische Person, allerdings einen eigenen, von dem Willen eines jeden Mitgliedes isolirt betrachtet, verschiedenen Willen. Der Zweck des Staats ist die Wohlfahrt des Ganzen, d. h. aller seiner Mitglieder. Durch diesen Zweck wird sein durch die Gesetze ausgedrückter Wille bestimmt; dieser Zweck und dieser Wille ist zwar auch Zweck und Wille eines jeden Mitgliedes; aber bloß als Mitglied des Staats, und nicht isolirt betrachtet. Jener Wille ist vernünftig; das Wollen wird durch das Können beschränkt; dieser aber unvernünftig. Ein jedes Mitglied hat gleichsam diese beide Arten von Willen, wovon der vernünftige dem unvernünf‐ tigen befiehlt. Hier könnte ebenfalls das Sollen mit dem Werden vertauscht werden. Der Staat sagt zu einem jeden seiner Mitglieder: Kraft der Erkenntniß des Gesetzgebers (der die Gesetze als Mittel zur Erreichung meines Zweckes bestimmt, und mei‐ ner Macht, dich zu ihrer Befolgung zu zwingen), wirst du dieses und jenes thun. Alle diese Imperativen sind also in der That keine wahren, sondern bloß ScheinImperativen, indem sie (wenn man sich die Mühe einer kleinen Umschreibung nicht verdrüßen lassen wollte), ohne Aenderung des Inhalts, mit anderen Modis vertauscht werden können. Nun entsteht aber eine äußert wichtige Frage: Giebt es auch wahre Imperati‐ ven, ein Sollen, das nicht mit einem Werden vertauscht werden kann? Die Moralisten werden freilich mit der Beantwortung dieser Frage gleich bei der Hand seyn. Allerdings! werden sie sagen, giebt es einen solchen Imperati‐ vum, nämlich den moralisch-kathegorischen Imperativum, der ein Sollen aussagt, das sich, ohne Verlust seiner wahren Bedeutung, mit keinem Werden vertauschen läßt. Ich soll die Maxime des Willens durch das Vernunftgesetz bestimmen, ist ganz was anders, als: ich werde jene durch dieses bestimmen. Wir wollen die Sache näher betrachten. Ich soll u. s. w., bedeutet hier zweierlei. Erstlich sagt es eine schon wirkliche Bestimmung des Willens durch seine unabläßliche Forderung an die Willkühr aus.
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Der Wille ist bei jedem Menschen, er mag durch die Maxime der Willkühr, die er annimmt, gut oder böse seyn, auf gleiche Art dadurch wirklich bestimmt, daß er jene unabläßliche Forderung an die Willkühr thut. Zweitens bedeutet es die noch nicht wirkliche, aber durch jene unabläßliche Forderung wirklich seyn sollende Bestimmung der Maxime der Willkühr. Aber diese beiden Bedeutungen lassen sich recht gut durch ein Seyn oder Werden ausdrücken. Ich soll, in der ersten Bedeutung, heißt: mein Wille ist u. s. w. In der andern Bedeutung aber heißt es: wenn meine Willkühr, jener Forderung gemäß (aber nicht bloß durch diese For‐ derung, weil sonst die Willkühr schon bestimmt seyn, und keiner Forderung be‐ dürfen würde), wirklich bestimmt seyn wird, so wird die Maxime der Willkühr so und so seyn. Aber, sagt der Moralist, kein Wenn, sondern die Will kühr soll! Was gewinnt aber der Moralist damit, daß er jene Forderung, die ihm selbst der Böse zugesteht, auf eine unnütze Art wiederholt! Wir wollen nun die Sache genauer betrachten, und folgende unbezweifelte Wahrheiten vorausschicken. 1) Es ist aus der allgemeinen Logik bekannt, daß ein hypothetischer Satz: wenn A ist, so ist auch B, sich so allgemein umkehren läßt: wenn B nicht ist, so ist auch A nicht. 2) Ein bestimmtes Vermögen (nicht der Begriff von Vermögen überhaupt) kann nicht anders, als durch eine bestimmte Wirkungsart oder Gesetze als Vermögen, d. h. als Grund der Möglichkeit seiner Wirkung, gedacht werden. Ein Vermögen ohne Gesetze, durch welche seine Wirkung (in jedem gegebenen Falle) bestimmt wird, ist ein Ausdruck ohne Begriff. Wenn ich z. B. einem Körper überhaupt ein gleiches Vermögen zur Bewegung und Ruhe beilege, so lege ich ihm ein unbe‐ stimmtes Vermögen bei, das eben darum, weil es unbestimmt ist, so wenig Bewe‐ gung als Ruhe, d. h. gar keine Wirkung, hervorbringen kann. Attraktion hingegen ist ein durch Gesetze, nach welchen es seine Wirkung nothwendig hervorbringt, bestimmtes Vermögen. Das gleiche Vermögen eines Körpers, andere Körper anzu‐ ziehen, und auch, unter eben denselben Bedingungen, zurückzustoßen, ist ein Un‐ ding. Es ist hier gleichviel, ob das Subjekt als durch sich selbst, oder durch etwas außer ihm, zum Wirken bestimmbar gedacht wird; ohne Bestimmungsgrund ist kein wirkliches Bestimmen denkbar. Die Wirklichkeit setzt die Möglichkeit voraus. 3) Es ist wider alle wissenschaftliche Methode, zur Erklärung einer Erschei‐ nung ein eigenes Prinzip anzunehmen, wenn sich dieselbe aus schon bekannten, ihr mit andern Erscheinungen gemeinschaftlichen Prinzipien erklären läßt. 120
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Diese dritte Wahrheit erinnert an das wissenschaftsmethodische Prinzip der einfach‐ sten Erklärung bzw. das als »Ockhams Rasiermesser« bekannte Prinzip, das besagt, dass nicht mehr Entitäten (oder Prinzipien) angenommen werden dürfen, als für eine Erklärung unbedingt notwendig sind (»Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem.«).
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4) Was zu seiner Erkennbarkeit ein unendliches Erkenntnißvermögen voraus‐ setzt, ist für ein endliches Erkenntnißvermögen nicht erkennbar. So sind z. B. Wunderwerke, d. h. Erscheinungen in der Natur, deren Möglichkeit nicht nach Naturgesetzen erklärbar ist; zwar denkbar, aber für ein endliches Erkenntnißver‐ mögen nicht erkennbar, weil sie die Erkenntniß alles dessen, was nach Naturge‐ setzen möglich ist, voraussetzen. Aus 1.) folgt, daß, wenn der Satz wahr ist: wenn das Sittengesetz ein Faktum der praktischen Vernunft a priori ist, so ist auch Freiheit ein Postulat der prak‐ tischen Vernunft a priori, oder kurz: wenn es ein Sittengesetz giebt, so giebt es auch Freiheit, muß auch dieser Satz wahr seyn: wenn es keine Freiheit giebt, so giebt es auch kein Sittengesetz, und der Schein, als gebe es ein solches, auf eine Täuschung beruhen muß. Aus 2) folgt, daß Freiheit (ich folge hier der Kantischen Vorstellungsart, denn was sich wider diese sagen läßt, läßt sich mit mehrerem Rechte gegen die Rein‐ holdsche sagen), 121 als das Vermögen der Willkühr, durch keine sinnlichen Be‐ stimmungen zum Handeln (nach Naturgesetzen) genöthigt zu werden, und sich durch Vernunft bestimmen zu lassen, 122 ein Ausdruck ohne Begriff ist, weil dieses Vermögen durch keine Gesetze bestimmt gedacht wird, nach welchen in jedem gegebenen Falle eine bestimmte Wirkung (wirkliche Bestimmung der Willkühr durch Vernunft, oder durch Sinnlichkeit) folgen müsse. Nach welchen Gesetzen befolgt das Subjekt das eine Mal das Sittengesetz, das andere Mal aber nicht? da es doch ein gleiches Vermögen zu Beiden hat. Das Subjekt hat zwei gleich mög‐ liche, einander entgegengesetzte Bestimmungsgründe, aber keinen Bestimmungs‐ grund, nach welchem einer von beiden, mit Ausschließung des andern, dasselbe wirklich bestimmt. Naturgesetze können hier nichts bestimmen, weil dadurch die Freiheit gänzlich aufgehoben wird. Vernunft eben so wenig. Eine Mischung von beiden ist hier gar nicht denkbar. Die wirkliche Bestimmung der Willkühr müß‐ te also dem Zufall überlassen werden. 123 Aber Zufall, als Bestimmungsgrund im
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Eine direkte Kritik von Reinholds Moral- und Freiheitskonzeption findet sich in Mai‐ mons Streifereien im Gebiete der Philosophie (vgl. Maimon 1793, XIX f., 226–234, 238–244). Maimon bezieht sich dort auf Reinhold 1792 (vgl. Text 14) und wirft Reinhold vor, wie Kant seiner Theorie ein ungeklärtes Faktum zugrunde zu legen: »Sie sagen, Sie nehmen hier kei‐ ne Rücksicht auf die Gründe, auf die Entstehungsart dieses moralischen Gefühls, sondern bloß auf dasselbe, als Faktum an sich. Aber eben dieses Faktum an sich kann Ihnen mit Recht streitig gemacht werden.« (Maimon 1793, 227) 122 »Denn die Freiheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestim‐ mungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden.« (GMS. AA VI, 226 (Text 17); vgl. auch KrV A 534/B 562, A 802/B 830, GMS. AA IV, 441, KpV. AA V, 21, 33) 123 Auch hier argumentiert Maimon in gleicher Weise wie in den Streifereien im Gebiete der Philosophie gegen Reinhold (vgl. Maimon 1793, 233 f.).
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Praktischen, ist ein doppeltes non ens, 124 weil Zufall an sich nichts anders als den Mangel eines Bestimmungsgrundes bedeutet, und im Praktischen alle Zurechnung aufhebt, d. h. das Praktische, das durch ihn möglich seyn soll, unmöglich macht! Das Subjekt bestimmt sich selbst, höre ich manchen mir entgegenrufen; 125 aber hier ist die Frage nicht nach der Ursache, die die Bestimmung hervorbringt, son‐ dern nach dem Bestimmungsgrunde, wodurch die Bestimmung möglich ist, ohne welche Möglichkeit die Wirklichkeit nicht Statt finden kann! Ich gehe noch weiter, und behaupte sogar, daß selbst Willkühr ein Ausdruck ohne Begriff ist. Denn die menschliche Willkühr kann nicht ohne Freiheit gedacht werden, ja sie ist sogar mit derselben identisch. Die thierische Willkühr aber (arbi‐ trium brutum) 126 ist bloß in der Unwissenheit des Ausschlages gegründet. So we‐ nig ohne Bewußtseyn überhaupt, als mit einem vorhersehenden Bewußtseyn des Ausschlags (der stärker wirkenden äußeren Ursache) kann Willkühr Statt finden. Die Waagschale geräth durch äußere Ursachen ins Schwanken, sie wird so lange schwanken, als die Wirkung jener Ursachen dauert, und zuletzt die Schaale, die das größere Gewicht enthält, den Ausschlag geben wird. Legt der Waagschale Be‐ wußtseyn bei, so habt ihr hier das wahre Bild der thierischen Willkühr! Der moralische Dogmatiker stimmt mit dem moralischen Skeptiker hierin über‐ ein, daß Freiheit nicht empyrisch (indem dieser Begriff die Bedingungen einer möglichen Erfahrung aufhebt), und eben so wenig durch reine theoretische Ver‐ nunft (als bloße Idee), also an sich gar nicht darstellbar ist. Aber hierin unter‐ scheiden sie sich von einander: der Dogmatiker hält Freiheit zwar für unbegreiflich, aber nicht für unmöglich. Der Skeptiker aber erklärt Freiheit geradezu für unmöglich. Diese Verschiedenheit aber rührt von der Verschiedenheit her, wie sie ihre Untersuchung über die Moral anstellen. Der Dogmatiker legt, seiner beliebi‐ gen Methode gemäß, seiner Untersuchung ein Faktum der gemeinen Menschen‐ vernunft (das Sittengesetz, wodurch die Vernunft a priori sich praktisch zeigt) zum Grunde, ohne erst die Entstehungsart dieses Faktums (im Bewußtseyn) zu untersuchen. 127 Durch dieses Faktum nun wird Freiheit auf eine nothwendige Art a priori postulirt. Sie kann nicht unmöglich seyn. 124
Lat.: »nicht Seiendes«. Vgl. dazu z. B. Reinhold 1792, 260, 271 f., 280, 306 (Text 14), Reinhold 1793, 374 f. (Text 16). In seiner Antwort auf Maimons Kritik in den Streifereien im Gebiete der Philoso‐ phie (vgl. Anm. 121) sagt Reinhold: »Ich lasse den Willen von Zufall abhängen!! [. . . ] Ich lasse den Willen von sich selbst abhängen – Er ist kein Zufall, sondern eine erste Ursache, ei‐ ne absolute Ursache in Rücksicht auf seine Wirkung.« (Maimon 1793, 235) Ebenso versteht Fichte unter der Freiheit eine absolute Selbstbestimmung (vgl. Fichte 1793, 203 (Text 21)). Zum Problem eines ersten Grundes der Annahme moralischer Maximen vgl. auch Kant: RGV. AA VI, 21 Anm. 126 Vgl. KrV A 534/B 562, A 802/B 830, GMS. AA VI, 213 (Text 17). 127 Diese Kritik entspricht der von Maimon in den Streifereien im Gebiete der Philosophie gegen Reinhold formulierten (vgl. Anm. 121). Vgl. auch KpV. AA V, 31, 42. 125
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Der Skeptiker bleibt hierin gleichfalls seiner Methode getreu, ein Faktum nicht eher anzunehmen, bis er seine Entstehungsart (im Bewußtseyn) untersucht hat. Denn aus dieser Untersuchung kann es sich vielleicht ergeben, daß dieses Faktum gar nicht das ist, wofür es gehalten wird. So lange also dieses Faktum zweifelhaft ist, kann der Skeptiker dasselbe nicht seiner Untersuchung zum Grunde legen. Er fängt daher, umgekehrt, seine Untersuchung mit dem aller Moral zum Grun‐ de liegenden Begriffe der Freiheit an, erklärt diesen für unmöglich, d. h. durch theoretische Vernunft (denn von jeder andern weiß der Skeptiker bis jetzt nichts), ganz und gar undarstellbar. Dieses giebt ihm die gerechte Vermuthung (nach 1.), daß es mit dem vom Dogmatiker aufgestellten Faktum nicht richtig seyn müsse. Diese Vermuthung wird aus 3) auf folgende Art bestätigt. Ein ursprüngliches Faktum des Bewußtseyns a priori ist ein, von subjektiven Bedingungen und zufälligen Umständen unabhängiges allgemein-gültiges und all‐ gemein-geltendes Urtheil a priori, so daß das Objekt, worauf es sich bezieht, nicht anders als demselben gemäß denkbar oder erkennbar ist. Von dieser Art sind: der Satz des Widerspruchs, der des Grundes, die Axiomen der Mathematik u. dergl. Daß die moralische Beurtheilung der gemeinen Menschenvernunft kein solches ursprüngliches Faktum des Bewußtseyns ist, könnte bloß dadurch gezeigt wer‐ den, wenn man empyrisch (durch Erfahrung und Versuche) darthun könnte, daß diese Beurtheilungsart nur unter gewissen zufälligen Umständen des Menschen (im Zustande der Civilisirung), unter andern aber (im Zustande der Wildheit und Kindheit) nicht, anzutreffen sei. Da aber ein solches Expe riment schwer anzu‐ stellen seyn möchte, so begnügt sich der Skeptiker, bloß die Möglichkeit eines solchen Experiments und seines Erfolgs vorauszusetzen, und erklärt die Entste‐ hungsart der moralischen Beurtheilung unter den gegebenen Umständen, aus psy‐ chologischen Gründen, folgenderweise. Alle Menschen streben nach Glückseligkeit, als dem Inbegriff aller ihrer mög‐ lichen Zwecke. 128 Durch ihre theoretische Vernunft (die die Kausalverbindung der Dinge und ihre Verhältnisse zu einander als Mittel und Zwecke bestimmt) erken‐ nen sie ihre Verbindung mit einander zu einer Gesellschaft, als das einzige Mittel, jene Glückseligkeit so vollständig, als ihnen möglich ist, zu erreichen. Ein gesell‐ schaftlicher Zustand (wo durch Wechselwirkung der Mitglieder auf einander der gemeinschaftliche Zweck befördert werden soll) aber ist nur als ein rechtlicher Zu‐ stand möglich. Legalität der Handlungen wird also als Bedingung von der Mög‐ lichkeit einer gesellschaftlichen Verbindung erkannt. 129 Aber nicht bloß Legalität überhaupt, sondern auch eine vollständige und sichere (sich auf alle Handlungen 128
»Von der letztern Art ist die Glückseligkeit auf Erden, worunter der Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke desselben verstanden wird« (KU. AA V, 431). 129 Zu Kants Unterscheidung von Legalität (Pflichtmäßigkeit der Handlungen) und Mo‐ ralität (Sittlichkeit der Gesinnung) vgl. KpV. AA V, 71, 151, MS. AA VI, 214.
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erstreckende, und in allen vorkommenden Fällen unausbleibliche) Legalität, d. h. eine solche, die als eine nothwendige Folge von der Moralität der Gesinnungen ge‐ dacht werden kann. Also nicht Moralität, sondern eine derjenigen gleiche Legali‐ tät, die eine Folge der an sich zweifelhaften Moralität ist, wird gefordert. Morali‐ tät ist bloß eine zum regulativen Gebrauche (der Legalität) dienende Idee. – Die‐ ses ist das wahre (ursprüngliche) Faktum der gemeinen Menschenvernunft. Daß aber die Menschen im fortschreitenden Zustande der gesellschaftlichen Kultur ursprünglich Moralität zu fordern vermeinen, muß so wenig befremden, als daß alle, mehr oder weniger, Geld an sich lieben; welches sich nach den bekannten Gesetzen der Ideenassociation leicht erklären läßt. Aber gesetzt auch, der Skeptiker gäbe dem Dogmatiker alle seine Suppositio‐ nen zu (wozu er doch nicht den mindesten Grund hat), die Forderung des Sit‐ tengesetzes sei ein ursprüngliches Faktum, und Freiheit durch dasselbe postulirt; was wird dadurch in Ansehung der Ausübung der Moralität gewonnen? Eine For‐ derung, von welcher so wenig derjenige, der diese Forderung thut, als derjenige, an den sie gerichtet ist (die hier beide in eben derselben Person vereinigt sind), je wissen kann, ob sie erfüllt wird, oder nicht, bleibt immer eine vergebliche Forde‐ rung! 130 Jener sagt unaufhörlich: Du sollst, und dieses erwiedert unaufhörlich: Ich will, und damit hat der ganze Prozeß ein Ende! Durch die bloße Forderung wird die moralische Gesinnung nicht gegeben. Soll sie nicht nur denkbar, sondern, als wirklich gegeben, erkennbar seyn, so muß dieses durch gewisse Merkmale in der Anschauung geschehen. Aber eine moralische Gesinnung kann nicht unmittelbar angeschauet werden. 131 Es giebt also kein Mittel, sie als solche zu erkennen, als nach der Ausschließungsmethode; wenn nämlich alle mögliche Motiven des Sub‐ jekts in ihrem ganzen Umfange und Zusammenhange untersucht, und als un‐ tauglich zur Erklärung der vorgegebenen moralischen Handlung erkannt werden; woraus folgen würde, daß diese Handlung wirklich moralisch, d. h. aus morali‐ schen Gesinnungen entsprun gen seyn müßte. Dieses setzt aber ein unendliches Erkenntnißvermögen voraus. – Aber, wird man sagen, das Ich will ist nicht ein bloßer Wunsch, sondern bedeu‐ tet die Aufbietung aller Kräfte des Subjekts, wovon es sich doch innerlich bewußt seyn kann. Hier frage ich wiederum: Wodurch kann sich das Subjekt bewußt wer‐ den, daß es alle Kräfte zur Moralität aufbietet? Die Aufbietung der Kräfte, nicht aber der Grund dieser Aufbietung ist ein Gegenstand der inneren Anschauung. Es bleibt also immer beim leeren: Sic volo, sic jubeo! 132
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Vgl. GMS. AA IV, 407. Zur Unerforschlichkeit der Gesinnung vgl. RGV. AA VI, 21 Anm. und 51. 132 »Hoc volo, sic jubeo; sit pro ratione voluntas.« – »Dies will ich, so befehle ich; es stehe der Wille anstelle des Grundes.« (Juvenal: Satiren. Satire 6, 223) Maimon zitiert hier wohl nach Kant: KpV. AA V, 31. 131
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Aber dieses Skeptizismus unerachtet, ist der moralische Skeptiker (caeteris pa‐ ribus), 133 sowol theoretisch als praktisch, um nichts schlechter daran, als der mo‐ ralische Dogmatiker. Dieser legt der Moral ein Faktum der gemeinen Menschen‐ vernunft zum Grunde; jener ebenfalls; nur daß er die Entstehungsart dieses Fak‐ tums nach psychologischen Gründen erklärt. Er leugnet deswegen keinesweges, daß dieses Faktum ursprünglich seyn könne, sondern er hält sich bloß für nicht berechtigt, dasselbe als ein solches vorauszusetzen. Die Forderung der Moralität kann ihm zufolge ursprünglich bloß die Erkenntniß der Unentbehrlichkeit der Le‐ galität beabsichtigen (die durch Voraussetzung von Moralität zugesichert wird), und nach und nach kann diese Forderung, durch eine bekannte Art von Ideen‐ association und Gewohnheit, von der gegebenen Folge auf den vorausgesetzten Grund übertragen worden seyn. Sie kann aber auch ursprünglich als Forderung der Moralität an sich gegeben seyn; nur daß dieses nach einer wissenschaftlichen Methode nicht vorausgesetzt werden darf. Da er nun das der Moral zum Grunde gelegte Faktum bezweifelt, so kann er nicht (wie der Dogmatiker) von dem aus diesem Faktum entwickelten Grundsatze in seiner Untersuchung ausgehen, sondern aus dem Begriffe von Gut und vom höchsten Gut (wovon man immer in der Moral ausging). Gut ist bei ihm, so wie bei dem Dogmatiker, alles, was ein Gegenstand des positiven Willens (des Wol‐ lens) ist, und höchstes Gut das, was ein Gegenstand des absoluten, nicht durch gewisse Bestimmungen des Subjekts, oder durch einen andern empyrisch gege‐ benen Willen bedingten, Willens ist. Durch den der gemeinen Menschenvernunft gegebenen Begriff von Pflicht erhält der Begriff des höchsten Gutes bei ihm we‐ nigstens in sofern objektive Realität, daß er dadurch, wenn auch nicht (wie bei dem Dogmatiker) eine Konstruktion, dennoch eine bestimmte Bedeutung, wenn auch nicht eine genetische, dennoch eine reale enthält. Aus der Entwickelung dieses Begriffs ergiebt es sich bei ihm (wie bei dem kritischen Dogmatiker), daß alle materiale Prinzipien zur Begründung der Moral untauglich sind, und daß ein bloß formales Prinzip in der reinen Vernunft a priori (abgesehen von allen em‐ pyrisch gegebenen Gegenständen des Willens) zu diesem Behuf aufgesucht wer‐ den müsse. In Auffindung dieses Prinzips und Begründung der ganzen Moral als Wissenschaft darauf, verfährt übrigens der Skeptiker auf eben die Art, wie der Dogmatiker. Was aber die Ausübung der Moral anbetrifft, so findet hierin zwischen dem Dogmatiker und dem Skeptiker nicht der mindeste Unterschied statt. Beide stre‐ ben nach dem, ihrer gemeinschaftlichen Ueberzeugung nach, höchsten Gute, nach einem guten Willen an sich. Die reale (nicht bloß logische negative, in dem Mangel des Widerspruchs gegründete, sondern auch durch den Begriff von Pflicht positiv bestimmte) Möglichkeit der Moralität thut bei diesem eben dieselbe Wir‐ 133
Lat.: »sofern alles Übrige gleichbleibt«, »unter ansonsten gleichen Bedingungen«.
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kung, die die vorausgesetzte Wirklichkeit derselben bei jenem thut. Beide finden in der menschlichen Natur nichts Größeres, Erhabeneres, wodurch der Mensch als Person über alle andere Naturwesen, als Sachen, unendlich erhaben ist, als seine Empfänglichkeit für Moralität, die beide empyrisch auf die einzig mögliche Art durch absolute Legalität darzustellen streben. Als historisches, einer philo‐ sophischen Kultur vorhergehendes Faktum erklärt zwar der Skeptiker die Entste‐ hung von der Forderung der Moralität auf eben die Art, wie der Psycholog die Entstehung der Geld- und Ehrliebe zu erklären pflegt. Als philosophisches Fak‐ tum hingegen (wie es nach vorhergegangener philosophischen Kultur betrachtet werden muß) erkennt er diese Forderung für ursprünglich. Es geht damit eben so zu, wie mit den ästhetischen Forderungen. Die Regeln der Baukunst z. B. können immerhin anfangs, bei Mangel an ästhetischer Kultur, bloß als Mittel zu andern Zwecken (Bequemlichkeit u. dergl.), und nicht an sich gefordert werden, so wer‐ den sie dennoch, nach vorhergegangener Kultur, als Forderungen des guten Ge‐ schmacks an sich betrachtet. Ich gehe noch weiter, und behaupte sogar, daß die innere Ueberzeugung von der Würde der Moralität und die äußere Darstellung derselben durch eine absolu‐ te Legalität dem Skeptiker, nach der ihm eigenthümlichen Art die Sachen zu be‐ trachten, weit leichter fallen müsse, als dem Dogmatiker. Man denke sich einen Menschen, der über die Eitelkeit aller menschlichen Zwecke und Bestrebungen genugsam nachgedacht hat, so daß, was anfangs als Zweck an sich betrachtet war, nach genauer Erkenntniß bloß als Mittel zu einem andern Zweck, und die‐ ser wiederum zu einem andern, u. s. w. betrachtet wird, ohne eine sichere Re‐ gel in Ansehung der Unterordnung aller dieser Zwecke, und ohne einen letzten Endzweck! Der, vermöge der anerkannten Würde seiner Natur, als vernünftiges Wesen seine (theoretische) Vernunft durch Wissenschaften zu kultiviren sucht, und durch Vorspiegelung großer Progressen, die darin schon gemacht seyn sollen, verleitet, sich große Hoffnung macht, diesen ihm als vernünftigen Wesen eigen‐ thümlichen Trieb völlig befriedigen zu können. Aber wie findet er sich hierin be‐ trogen! Ueberall wird viel versprochen und wenig geleistet! Die mathematischen Wissenschaften sind bei all ihrer Gewißheit, höchster Evidenz und Brauchbarkeit im menschlichen Leben, in Ansehung der Erkenntniß der Objekte der Natur, sehr bornirt, indem sie nur dieselbe von Seiten ihrer Quantität betrachten, als wä‐ ren sie bloße Quanta ohne alle Qualität. Die philosophischen Wissenschaften be‐ schäftigen sich bloß mit der Form der Erkenntniß von Objekten überhaupt, oh‐ ne eine Erkenntniß bestimmter Objekte zu bewirken. Die Naturwissenschaft ist, wenn man das, was sie von der Philosophie und Mathematik, um ihre Blöße zu bedecken, entlehnt, davon trennt, nichts mehr als eine Sammlung von einzelnen einseitigen Beobachtungen und Erfahrungen, deren Zusammenhang man durch willkührliche, einander entgegengesetzte Hypothesen einzusehen, sich vergeb‐ lich bemüht!
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Die praktischen Wissenschaften (Medizin, Politik, Pädagogik u. dergl.), ach! wie traurig sieht es mit diesen aus! Sie beruhen nicht nur auf jene, in willkühr‐ lichen, einseitigen und fehlerhaften Hypothesen gegründete Theorien, sondern es fehlt ihnen noch dazu dasjenige, wodurch sie eben praktische Wissenschaf‐ ten seyn sollen. Der Mediziner z. B. ist ein Anatom, Physiolog, Patholog, Che‐ miker, Botaniker, Philosoph, Dichter, und Gott weiß was alles; nur kein – Medi‐ ziner! Sein eigenthümliches Fach ist keine auf feste Regeln gegründete Wissen‐ schaft, sondern etwas dem thierischen Instinkt ähnliches; der durch jene mannig‐ faltigen Kenntnisse und Wissenschaften desto eher geschwächt und irre geleitet wird. Und was soll man endlich von den sogenannten historischen Wissenschaf‐ ten sagen, woraus man nichts mehr erfährt, als daß eben dieselben menschlichen Schwächen, Thorheiten und Laster zu andern Zeiten und in andern Ländern un‐ ter Menschen statt gefunden haben, die wir noch jetzt an ihnen beobachten, und daß man damals eben dieselben Mittel dawider vergeblich gebraucht habe, die man noch jetzt in ähnlichen Fällen mit eben demselben Erfolg gebraucht? Um also wegen dieser Zweifel nicht in Verzweiflung zu gerathen, sucht der Skeptiker eine Bestimmung in der menschlichen Natur auf, die ihm als vernünf‐ tiges, von allen übrigen unterscheidendes Wesen eigenthümlich ist. Zu seinem größten Trost findet er diese Bestimmung in der Vernunft selbst, inwiefern sie praktisch, d. h. an sich, ohne Rücksicht auf irgend einen gegebenen Zweck, wil‐ lensbestimmend seyn kann. Die gemeine Menschenvernunft stellet ein Gesetz für den Willen auf, dessen Bestimmungsgrund die philosophische Vernunft in ihrer eigenen Form findet. Hier zeigt sich ihm eine höchst erfreuliche Aussicht. Die Vernunft, die in ihrem theoretischen Gebrauche von gegebenen Objekten bedingt und daher sehr beschränkt ist, ist ihm nun in ihrem praktischen Gebrauche, in Beziehung auf den Willen, absolut. Der Grundsatz, den 134 sie aufstellt, ist so‐ wohl an sich bestimmt, als in seiner Anwendung keiner Unrichtigkeit fähig. Die‐ se höchst erfreuliche Aussicht wird freilich bei dem Skeptiker, der jenes Gesetz, als ursprüngliches Faktum, bezweifelt, um Vieles herabgesetzt. Eine herzerheben‐ de und zugleich demüthigende Stimme ruft ihm zu: Du sollst das gelobte Land von ferne sehen, aber dahin nicht kommen! 135 Doch ist hier zum Glücke das Se‐ hen und Dahinkommen einerlei: denn die sich dahinzukommen rühmen, können doch nichts mehr, als das von ferne Sehen zu ihrer Legitimation aufweisen. – Der moralische Dogmatiker und Skeptiker sind also so wenig theoretisch als praktisch von einander unterschieden. Ihre Entzweiung betrifft nicht den esoteri‐ schen, sondern bloß den exoterischen Vortrag der Moral. S. Maimon. 134 135
Korrigiert aus: »der«. 5. Mose 32,52.
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Bibliographie
Werkausgaben
GA
Fichte, Johann Gottlieb (1962–2012): Gesamtausgabe der Bayeri‐ schen Akademie der Wissenschaften. Hg. von R. Lauth, H. Jacob u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt.
JW
Jacobi, Friedrich Heinrich (1998 ff.): Werke: Gesamtausgabe. Hg. von K. Hammacher und W. Jaeschke. Hamburg / Stuttgart-Bad Cannstatt.
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Kant, Immanuel (1902 ff.): Kants gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin.
KrV A/B
Kritik der reinen Vernunft. A: 1. Auflage 1781, AA IV; B: 2. Auflage 1787, AA III.
Prolegomena
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wis‐ senschaft wird auftreten können, AA IV.
GMS
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV.
ÜGTP
Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, AA VIII.
KpV
Kritik der praktischen Vernunft, AA V.
KU
Kritik der Urteilskraft, AA V.
RGV
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI.
MS
Die Metaphysik der Sitten, AA VI.
RGS
Reinhold, Karl Leonhard (2007 ff.): Gesammelte Schriften. Kom‐ mentierte Ausgabe. Hg. von M. Bondeli. Basel.
HKA
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1976 ff.): Historisch-kriti‐ sche Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayeri‐ schen Akademie der Wissenschaften, hg. von H. M. Baumgartner, W. G. Jacobs, H. Krings, H. Zeltner. Stuttgart-Bad Cannstatt.
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Schiller, Friedrich (1943 ff.): Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie hg. von J. Petersen und G. Fricke. Wei‐ mar.
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PERSONENREGISTER
Fett hervorgehobene Seitenzahlen beziehen sich auf die edierten Texte, normale auf die Paratexte. Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten. Abel, Jakob Friedrich 10, 11, 53 Abicht, Johann Heinrich XXV, 75 f., 78, 80, 82, 85 Aischylos 267 Aristoteles 3, 20 Augustinus 266, 269 Bardili, Christoph Gottfried 159 Baumgarten, Alexander Gottlieb XII, XVII f., 155, 212, 214 Berlin, Isaiah XXI Bittner, Rüdiger X f. Bojanowski, Jochen IX, X Born, Friedrich Gottlob 75 Buchheim, Thomas XIV f. Buridan, Johannes (Jean) 169 f. Cäsar, Karl Adolph 70 Chisholm, Roderick XXVIII–XXX, XXXIII Cramer, Konrad X f. Creuzer, Christoph Andreas Leonhard XXVII, XXX, 238, 255 –257, 260, 278, 279, 280, 285, 286–289 Crusius, Christian August XII, XVIII – XX, XXI, 168, 220
Finster, Reinhard XX Forberg, Friedrich Carl XXVII, 257, 260, 285 f., 286, 315 Frankfurt, Harry XXXII f. Gesang, Bernward 186 Guyer, Paul IX f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 237 Henrich, Dieter IX, XXII Hermanni, Friedrich XIV Heydenreich, Karl Heinrich XXV, 78, 109 f., 114, 163, 168, 220, 255 f., 260, 278, 280, 283, 285, 288, 290 Hippel, Theodor Gottlieb von 275, 287 Hölderlin, Friedrich 237 Home, Henry (Lord Kames) 64 Hommel, Carl Ferdinand (alias Alexander von Joch) 275 Hume, David 87, 291, 317 Jacobi, Friedrich Heinrich XXV, 70, 87 f., 94, 186, 273 Jakob, Ludwig Heinrich (von) 67 f., 70, 116, 163 Juvenal 328
Düsing, Klaus IX Eberhard, Johann August 119, 120, 151, 185, 187 Epiktet 93 Fichte, Johann Gottlieb IX, XI, XXVII, 54, 67, 76, 87, 127 f., 160, 223, 237 f., 245, 251, 257, 277 f., 280, 282, 284, 285, 326
Kane, Robert XXVIII, XXIX–XXXII Kant, Immanuel IX – XII, XVI f., XIX – XXX, XXXII f., 3 f., 9, 11, 12, 14 f., 16, 17 –24, 25, 28, 31 f., 33, 34 f., 52, 53, 56, 67, 70, 72 f., 75, 77, 81, 84, 87 f., 97, 100, 109 f., 111, 114, 116, 119 f., 120 –123, 127 f., 137, 142, 151, 159 f., 163 f., 167, 170, 172 –174, 176, 179, 181, 185, 186, 193 f., 207,
344
Personenregister
209 f., 214, 217, 220, 223 f., 225 f., 228, 230, 231, 232, 234 f., 237 f., 240, 242 –244, 246 f., 249, 255 –257, 257, 259 –270, 277 f., 279 f., 282 f., 285 f., 287 –289, 292, 302 f., 310, 317 f., 322, 325, 326 –328 Kiesewetter, Johann Gottfried Karl Christian 67, 116 Klemme, Heiner F. XX Kraus, Christian Jakob XI, XXV, 9, 20 f., 25 f., 28, 163 Kuehn, Manfred XX Leibniz, Gottfried Wilhelm XII – XX, XXVI, 3, 4, 8, 9, 34, 36 f., 52, 74, 87, 97, 119, 151, 155 –157, 155 f., 162, 168, 171, 180 f., 185, 186 –189, 193, 250 f., 256, 266, 282, 317 Linné, Carl von 14 Locke, John XIII, 74 Ludwig, Bernd 219 Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich 120 Maimon, Salomon XXVII, 317 f., 319, 322, 325 f., 328 Maimonides, Moses (Mosche ben Maimon) 317 Malebranche, Nicolas 146 Marc Aurel (Marcus Aurelius Antoninus) 93 Mendelssohn, Moses 87, 262 Moritz, Karl Philipp 317 Nicolai, Friedrich 3 Niethammer, Friedrich Immanuel 237 Noller, Jörg IX f., XII f., XX f., XXVII Ockham, Wilhelm von 324 Ovid 11, 250 Pauen, Michael XXVIII–XXX Pistorius, Hermann Andreas 3 f., 111, 116, 154, 186
Platner, Ernst 43, 159, 285 Platon 95 Ploucquet, Wilhelm Gottfried 156 Prémontval, André-Pierre Le Guay de 12 Rehberg, August Wilhelm 10, 11, 72 Reinhold, Karl Leonhard XI, XXVI f., XXXII, 9, 54, 56, 75 f., 78, 119, 121, 128, 159 f., 186, 193 f., 209 f., 211, 220, 223 f., 231 f., 237 f., 240, 242 –244, 245, 246, 249, 255 f., 260, 277 f., 279 –281, 284, 285, 288, 315, 318, 325 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph XI, XXVII, 67, 76, 87, 159 f., 194, 210, 224, 237 f., 250, 278 Schiller, Friedrich IX, XXV, 53 f., 55, 58, 60, 255 Schmid, Carl Christian Erhard XXVI f., 72, 97, 119, 123 f., 127 f., 146, 151, 152 –154, 156 f., 160, 163, 164, 171, 176, 185, 186 –189, 193 f., 206 f., 209 f., 220, 223 f., 232, 238, 255 –257, 259, 263, 264, 270, 271, 278, 279, 283 f., 295 Smith, Adam 25 Schütz, Christian Gottfried 25, 119, 255 Schulz, Johann Heinrich 28 Schulze, Gottlob Ernst 186 Schulze (Schultz), Johann 3 Schwab, Johann Christoph XXV f., 119 f., 120 f., 151, 152, 185, 186 f., 220, 232, 255 Snell, Christian Wilhelm XXV, 33 f., 34, 78 Snell, Friedrich Wilhelm Daniel XI, XXV, 97 f., 193 Spinoza, Baruch de 14, 87, 94, 258, 279, 317 Sterne, Laurence 319 Strawson, Galen XXVIII
Personenregister
345
Tennemann, Wilhelm Gottlieb 291 Thomas von Aquin XV
Voltaire (François-Marie Arouet) 93, 307
Ulrich, Johann August Heinrich XXV, 9 f., 20, 25, 28 f., 72 f., 97, 127, 133, 142, 162, 171, 177, 256, 264
Walsh, John XII Wieland, Christoph Martin 159 Winckelmann, Johann Joachim 64 Wolff, Christian XI f., XVI – XVII, XX, XXVI, 9, 97, 119, 120, 151, 155 –157, 162, 168, 171, 185, 186, 193, 256, 266
Vaihinger, Hans 25 Vergil 274
BEGRIFFSREGISTER
Fett hervorgehobene Seitenzahlen beziehen sich auf die edierten Texte, normale auf die Paratexte. Kursive Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten. Affekt 54, 55, 57–63, 78, 92, 96, 222, 315 Antinomie (dritte) XX f., XXV, 3, 5, 6, 9, 14, 22, 26, 31, 34, 97, 114, 116, 120, 127, 151, 207, 255, 256, 266, 271
Arbitrium XII, XVII, 131 – brutum XXIII, 102, 132, 182, 214, 226, 229 – liberum XIII, XXIII, 102, 107, 132 – sensitivum 102, 132 Autonomie X, XX–XXIII, XXVI, XXVIII f., 61, 119, 121 f., 160, 165, 173, 193, 209, 237 f., 242 f., 257
Äquilibrismus (s. indifferent / Indifferentismus) XVI, XIX, XXX f., 160, 168 f. Begehren / Begierde (s. Vermögen) XVII, 44, 47, 56–59, 63, 78, 87 f., 88–90, 92 f., 95, 132, 139 f., 161 f., 164 f., 167, 170, 173, 175 f., 178 –183, 195 –200, 203 –207, 211, 212 f., 223 f., 224, 226 f., 230 f., 236, 241, 263, 265, 273
Bewusstsein / Selbstbewusstsein XXV, 21, 41, 43, 45–47, 49, 70 f., 74, 78–84, 89–92, 94, 116, 141, 149, 152, 159, 161, 168 –176, 181 f., 195 –198, 202, 206, 208, 214, 227, 231, 239, 240, 244 –250, 259, 271 –274, 279, 306, 319 f., 326 f. – der Freiheit 67 f., 69, 108, 109 f., 110 –112, 115, 117, 122, 131 f., 136, 160 – der Moral / des Sittengesetzes 50 f., 119, 123, 134, 138, 145, 167, 224, 234, 238, 281, 286, 303, 312, 317 f.
böse / das Böse XV, XXIII, XXVI f., 44 f., 49, 51, 106, 114, 197, 199 f., 204–206, 210 f., 227, 244, 249, 256, 263 f., 266 –268, 269, 283, 284, 293 f., 300, 324
Determinismus XIII, XV, XVI, XIX f., XXV, XXIX–XXXII, 9 f., 10, 13, 25, 27 f., 33, 38, 67, 128, 130 f., 134, 142, 146, 148, 155 f., 162, 169, 179 f., 185 f., 186 –189, 206, 255, 264, 274
Entscheidung XIII f., XVII f., XXII–XXIV, XXVIII–XXXII, 55, 58, 68, 98, 119, 111, 128, 157, 194, 286
Faktum / Tatsache XXV, XXVII, 67 f., 69, 71, 74, 109 f., 115, 135, 161, 168 f., 171 f., 174, 181, 195, 208, 218, 221, 231, 247, 263, 265 f., 278, 279, 281, 312, 317 f., 319 f., 325–331
348
Begriffsregister
Fatalismus XIX, 28, 134, 146, 156, 286, 287 f., 320 – intelligibler XXVI f., 72, 110, 128, 143, 151, 160, 185 f., 186 –189, 223, 232, 255 f., 270, 271, 274, 278, 283, 285
Freiheit – Handlungsfreiheit XIII – komparative 52, 131 – praktische XXV, XXIX, 98, 101 f. – transzendentale XX f., XXIII, XXV f., XXVIII, 34, 81 f., 107, 116, 120, 224, 246 f., 249 – Willensfreiheit / des Willens IX, XIII, XV–XVIII, XXII, XXVII f., XXXII, 9, 52, 56, 58, 75, 82, 84, 102, 108, 122, 156, 159, 162 f., 165, 170 –172, 174, 176, 182, 200, 206 f., 211, 223, 224, 227, 231, 234, 237 f., 241, 246, 255, 257, 261, 269, 277, 279 f., 284, 286 f., 291, 317 f.
Gefühl XXV, 5, 29, 33, 34 f., 37, 38, 41–48, 51 f., 55, 62, 63, 75, 78–81, 83 f., 88, 93, 95, 105, 109 f., 111, 129, 132, 135, 139 f., 149, 176, 182, 206, 212 f., 216, 248, 325
Gesetz – der Glückseligkeit 173, 178 – der Kausalität 15, 20, 34, 72, 73, 91, 99, 113, 148, 257, 261, 304 – der Moral / Sittengesetz XXII –XXIX, 11, 24, 35, 50, 54, 73, 76, 85, 87, 89, 91, 98, 103–105, 110, 114 f., 117, 119 f., 122 –124, 129 f., 134 f., 138 f., 142 f., 145, 159 f., 163–167, 169, 172 –176, 178, 182, 193, 194, 196, 198 –200, 204 –208, 209 f., 210 –212, 214–221, 223 f., 225 –236, 237 f., 239, 242 f., 245 f., 256, 257 –259, 263, 265 –268, 271, 279–281, 284, 312, 314 f., 317, 322, 325 f., 328 – der Natur(-notwendigkeit) XXI f., 5, 14 –16, 18, 20, 26, 28, 35, 38, 43 f., 52, 56 –59, 64, 67, 71–73, 93 –95, 98 f., 102 f., 107, 111, 114, 129 f., 133, 135, 137, 139 –142, 145, 149, 152, 154 f., 160, 167, 174 f., 178, 181 f., 193 f., 200, 206 f., 209, 211, 215, 246, 249, 257 f., 261, 264, 271 –273, 282, 286, 305 –312, 314, 319, 325 – der Vernunft 18, 54, 56, 58, 64, 74, 87, 98, 103 f., 112, 114, 117, 128 f., 133, 141, 142, 147, 150, 163, 165 f., 170, 173, 176 f., 180 –182, 195 –197, 200, 205, 207, 215, 221, 223, 228, 240, 242 f., 247 f., 261, 264 f., 270, 272, 274, 279, 283, 286, 310, 323, 331 – gesetzlos / Gesetzlosigkeit (s. Indifferentismus) XXII, 131, 194, 206, 256, 257, 261, 288 f., 302–304, 313 –315, 324
gut / das Gute XV, XXVII, 11, 13, 34, 44–48, 59, 63, 92, 102, 114, 129, 165, 195–199, 203 –205, 210 f., 222, 224, 227, 229 –231, 233, 240, 244, 255, 258, 259, 261 f., 263, 265, 267–270, 283, 284, 312, 324, 329
Handlung XIV, XVI–XX, XXII–XXX, 5–8, 14–19, 21–23, 26, 30–32, 33, 34–38, 40–49, 52, 56–59, 61–63, 68, 72, 85, 90 –93, 95, 98 –100, 102, 103 f., 111 –114, 117, 123, 127 f., 129–148, 152 –157, 160, 162 –163, 166 –183, 186 –189, 193, 195 –208, 209, 210 f., 213–222, 224, 225 f., 229 –231, 234 –236, 237, 239 f., 242 f., 245, 248, 256 f., 257 –261, 265 –267, 270–273, 280 –284, 285, 286, 288 f., 291 –296, 298 –306, 308 –315, 318, 319, 322, 327 f.
Begriffsregister
349
heteronom / Heteronomie XXII, XXIV, XXX, XXXIII, 173, 257 Imperativ 17, 21, 321–323 – hypothetischer 216 f., 317, 322 – kategorischer / unbedingter XXVII, 10, 23 f., 87, 104, 107, 214, 215 –217, 228, 234, 239, 258, 317 f., 321–323
Imputation (s. Zurechnung) 23, 47, 222 Indeterminismus XV, XIX, XXV, XXIX–XXXI, 9, 10, 19, 131, 142, 206, 264 indifferent / Indifferentismus XIV, XVI f., XIX f., XXVII, XXXII, 92, 155, 160, 163, 168 f., 171, 194, 220, 230, 255 f., 258, 261 f., 274, 275, 278, 285 f., 287 f.
Kausalität 11, 20, 34, 99, 113, 133, 135, 137 f., 144, 148, 186, 246, 256, 257, 296 – Akteurskausalität XXVIII –XXX – der Freiheit / Vernunft XX–XXII, 14 –21, 26, 67, 72 f., 98, 100 f., 104 f., 112 –114, 143, 147, 164, 172, 186 f., 215, 247, 249, 255, 257, 261, 264, 282 – der Natur / empirische XXII, 16, 20, 34 f., 57, 100 f., 111 –114, 255, 264, 282 – transzendentale / unbedingte XX, 9, 20, 22, 77, 99, 144
Kompatibilismus / kompatibel 33 – Inkompatibilismus / inkompatibel XXIX
Kontingenz / kontingent (s. Zufall) XIV, XXIX f., XXXIII, 155 Neigung XIV, XXIII, XXV, XXIX, 11, 33, 36 f., 39 f., 45–47, 54, 55, 58 f., 62 f., 78, 90, 108, 140, 176, 206, 213 f., 224, 229, 260, 265, 267, 273, 281
Notwendigkeit XIII–XV, XVII, XXI–XXIII, 9, 10, 12, 17, 19, 21, 23, 25, 28, 34 f., 40–44, 46, 48 f., 51, 52, 58, 72, 73, 77 f., 111 f., 119, 121, 128, 130 f., 133 f., 142, 145 –148, 151, 156, 173, 187, 201, 208, 244 f., 247, 250, 258, 264, 270 –275, 284, 287, 292 f., 296, 304 f., 308 f., 311 f. – hypothetische 38, 33, 38, 42 – intelligible / vernünftige 72 f., 147, 174, 177, 180, 232 f. – metaphysische XIII – moralische / sittliche 10 f., 73, 77 f., 108, 135, 174, 176 –179, 216 –218, 231, 270, 274, 312 f., 315 f. – natürliche XXI f., 3 f., 5, 10 –12, 14, 16, 20 f., 25, 26 –28, 30, 32, 33, 34 f., 38, 43, 48, 55 f., 69, 97 f., 98, 101, 107, 111, 113, 128, 130, 133, 143, 178, 180, 257, 262, 292, 308 – voluntative / willentliche XXXIII
Pflicht / Verpflichtung XV, XXV, 10, 24, 25, 28 f., 31, 44–46, 54, 57–59, 61 f., 68, 93, 108, 115, 130, 210, 216 –222, 269, 272 f., 287, 314, 319, 329
Satz (Prinzip, Gesetz) des zureichenden Grundes XVI, XVIII–XX, XXV, XXVII, 5, 38 f., 155, 171, 256, 275, 278, 280, 282, 285, 289 f., 297 f.
350
Begriffsregister
Selbsttätigkeit / selbsttätig (s. Spontaneität) XIX, XXVI f., 26, 28, 32, 33, 34 f., 37 f., 41 –43, 45 –47, 51, 52, 62 f., 69, 73, 78, 88, 91 f., 123, 129, 140 –143, 146 –149, 155, 156, 163, 165, 167, 170, 172, 174, 177 –179, 181, 185 f., 187 –189, 195, 199 f., 224, 226, 228, 233, 236, 239, 241, 273, 278, 279 –283
Skeptizismus XXVII, 186, 279, 291, 317, 320 f., 329 Spontaneität (s. Selbsttätigkeit) XV f., XIX, XX f., XXIII–XXVI, XXVIII, XXIX, XXX f., 12, 14 f., 17, 22 f., 151, 156, 182, 210 f., 278
Tier / tierisch XXIII, 29, 37, 44, 56 f., 59, 76, 82, 96, 102, 131 f., 147 f., 170, 202, 214, 221, 226 f., 229 f., 326, 331
Trieb XXIII, 11, 15, 24, 33, 36–41, 43–47, 56–59, 61–63, 87–90, 92, 94, 95, 145, 181, 195, 206, 330 – eigennütziger XXXII, 54, 161, 163, 165 –169, 174 –176, 178 –182, 202 – Naturtrieb / sinnlicher 55, 59 f., 88, 95, 98, 102, 129, 132 f., 162 f., 170, 173, 175, 181, 196, 199, 203, 205, 214, 228 –233, 235, 245 f., 260 f. – uneigennütziger XXXII, 54, 163, 166, 168, 176, 180 –182, 202 – Triebfeder XXX, 23, 49, 82 f., 110, 129, 132, 175, 179, 219, 249, 266 f., 269 – vernünftiger 89, 91, 95
Vermögen XIV, XXVI, XXXII, 5 f., 12, 14 f., 18, 21, 23, 33, 34, 37, 75, 89 f., 94 f., 98, 101, 112, 115 f., 127 f., 137 f., 164, 168, 171 f., 176 f., 179, 197, 218, 232, 234, 249, 260–262, 268 f., 284, 285 f., 288 f., 307, 324 – Begehrungsvermögen XVII–XIX, XXIV, XXVII, XXX, 54, 56 –58, 60, 77 f., 88, 102, 104, 110–114, 117, 129 –134, 138, 142, 148, 150, 155, 157, 159 f., 161 –171, 173, 182, 193 f., 196, 201 –205, 207, 209 f., 210 –214, 220 f., 223 f., 225 –227, 230 –232, 236, 238, 243–245, 256, 258 f., 260, 263, 265, 278, 280 f., 302 f., 313, 319, 325 – Empfindungsvermögen / Gefühlsvermögen 55, 63, 83, 186 – Erkenntnisvermögen / Vernunftvermögen XVIII, 14, 18 –20, 22, 24, 27, 32, 74, 81, 83, 100 f., 105, 112, 115 –117, 141 –143, 146, 155, 162, 174, 211, 214, 219, 226 –229, 231 –233, 235, 241 –243, 273, 278, 279, 281, 325 – Grundvermögen XXVI, XXXII, 160, 171 f., 180, 280 – Vorstellungsvermögen 8, 39, 102, 155, 159 – Unvermögen 27, 62, 164, 221, 236, 259, 284, 299, 320
Vernunft XVII f., XXIII, XXV, 6 f., 10, 14, 17–24, 26 f., 31 f., 37, 44, 46–48, 50, 53 f., 56–59, 67, 69, 71 f., 74, 87, 91 f., 95, 100 –108, 109, 111 f., 114 f., 117, 122, 127 f., 129–133 f., 135, 140 –143, 145 –150, 153 f., 155, 157, 161 –165, 168 –175, 177, 179 –181, 185 f., 187–189, 193 f., 195 –201, 204 –208, 212, 214, 216, 219 –221, 224 –235, 240, 241–243, 246–249, 258, 259 f., 264, 266, 270 –273, 279 f., 288, 298, 301, 316, 319 f., 325–329, 331 – Faktum der XXV, XXVII, 231, 317, 325 f., 328 f. – praktische IX, XXIII f., XXVI f., XXXIII, 98, 119, 122, 127 f., 135, 152, 160, 163, 165–167, 170–173, 176 –182, 193, 195 –203, 206 f., 209, 214, 220, 223, 225 –231,
Begriffsregister
351
234–236, 238, 240–242, 246, 256 f., 258, 264 f., 267 f., 270 f., 273 –275, 278, 279, 284, 289, 302, 315 f., 325 – reine XXII, 6, 10, 18, 58, 94, 116, 129, 154, 163, 173 –176, 181, 195, 205 f., 214 f., 225 –228, 234–236, 242, 264, 311, 329 – spekulative 71, 74, 101, 105 –108, 111, 129, 152, 215, 261, 265 f., 268, 270, 300 – theoretische XXI, 97, 116, 122, 127 f., 171, 173, 175, 177, 195, 204, 226 f., 241 f., 256 f., 278, 301, 327 – Unvernunft / unvernünftig / irrational XIV, 89 f., 93, 123, 143, 147, 197, 273, 323
Wahl (s. Willkür) XV, XXVII f., 45 f., 48, 51, 56, 77, 92, 132, 155, 194, 198 f., 203 f., 209, 211, 220 f., 223, 230, 233 f., 236, 238, 243, 245 –248, 256, 262, 264, 275, 278
Wille – absoluter XXVII, 238, 243 –246, 248 f. – empirischer 164–166, 248 – freier XIII, XVIII f., XXII, XXVI, 97, 159 f., 166, 170, 172, 174, 211, 224, 231, 257 f., 261, 273, 283, 288–291, 294 –297, 301 f., 305, 313 –315 – reiner 163, 165–167, 172, 203, 214, 216, 229, 240, 245, 248, 259 – vernünftiger 150
Willkür / willkürlich (s. Wahl) XII–XIV, XVII, XX, XXII–XXIV, XXVI f., 16, 18, 33, 39–49, 51, 52, 55, 58–61, 64, 98, 100 –104, 119, 122 f., 131 –133, 144, 146, 154, 161 f., 166, 168–171, 173–176, 178 –183, 197, 199 f., 203 –206, 209, 210 –212, 214 –221, 225 f., 228–230, 232 f., 235, 238, 240, 243 –249, 256, 259 –267, 278, 283, 284, 291, 300, 311 f., 315, 323–326
Zufall / zufällig (s. Kontingenz / kontingent) XIII, XV f., XIX, 9, 10, 12 f., 20 f., 32, 33, 38, 41 f., 48, 51, 59, 91, 131, 142 f., 145, 147, 171, 177, 186 f., 194, 201, 216, 221, 263 –265, 275, 285, 287, 293 f., 296 f., 299 f., 303 –307, 310, 313 –315, 325 –327 Zurechnung / Zurechenbarkeit (s. Imputation) XXVI, XXIX, 19, 25, 28, 33 f., 34 f., 38, 40, 46 –49, 51, 52, 128, 141, 160, 185, 189, 218, 221 f., 224 f., 235, 240, 256, 265 f., 272 f., 281, 283 f., 302 f., 319, 326