Wirtschaftsförderung in der Krise: Konzepte zur Krisenbewältigung und Chancennutzung 3658413891, 9783658413897, 9783658413903

Der Sammelband behandelt zentrale Herausforderungen der Wirtschaftsförderung im Umgang mit Krisen und Katastrophen. Hier

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German Pages 309 Year 2023

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Table of contents :
Geleitwort von Thomas Hammann
Inhaltsverzeichnis
1: Einleitung
1.1 Krisen als neue Normalität
1.2 Zum Aufbau des Buches
Literatur
2: Wirtschaftsförderung in der Krise
2.1 Einleitung
2.2 Methodisches Design und Datenbasis
2.3 Ergebnisübersicht I: Erste Befragung
2.4 Ergebnisübersicht II: Aspekte des Krisenmanagements
2.5 Fazit
Literatur
3: Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland
3.1 Einleitung
3.2 Methodisches Design und Datenbasis
3.3 Ergebnisübersicht
3.4 Fazit
Literatur
4: Gastronomie zwischen Strukturwandel und COVID-19-Krise
4.1 Einleitung
4.2 Warum sollten sich Institutionen der Wirtschaftsförderung und des Stadtmarketings mit der Gastronomie beschäftigen?
4.3 Wie wandelte sich die Gastronomie bereits vor der Corona-Pandemie?
4.4 Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Gastronomie aus?
4.5 Was kann Wirtschaftsförderung dafür tun, die örtliche Gastronomie resilienter gegenüber Krisensituationen zu machen?
4.6 Fazit
Literatur
5: Klimarisiken in der Logistikbranche
5.1 Einleitung
5.2 Klimafolgen und Typisierung von Klimarisiken
5.3 Logistik – Bedeutungszuwachs und besondere Betroffenheit durch Klimarisiken
5.4 Methodik
5.5 Klimarisiken in der Logistik – Wahrnehmung latenter Bedrohungen
5.6 Sensibilisierung für Klimarisiken als Handlungsfeld der Wirtschaftsförderung
5.7 Fazit
Literatur
6: Demographischer Wandel und Wirtschaftsförderung – Herausforderungen der Bevölkerungsalterung für die regionale Wirtschaft
6.1 Einleitung
6.2 Aktuelle demographische Entwicklungen in der Europäischen Union, Deutschland und Österreich
6.3 Auswirkungen der demographischen Entwicklungen für die regionale Wirtschaft
6.3.1 Gesamtwirtschaftliche Folgen/Wirtschaftswachstum
6.3.2 Konsumstruktur/Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen
6.3.3 Rückgang des Erwerbspotenzials
6.3.4 Alterung der Erwerbsbevölkerung
6.3.5 Fiskalische Ungleichgewichte
6.3.6 Gefahr einer negativen Entwicklungsspirale
6.4 Folgen für die Wirtschaftsförderung
6.4.1 Erhöhung Erwerbsbeteiligung
6.4.2 Investition in Bildung
6.4.3 Investition in Forschung und Entwicklung
6.4.4 Zielgerichtete Qualifizierung von Arbeitskräften
6.4.5 Unterstützung von Unternehmen
6.4.6 Wachstums-/stabilitätsorientierte Standortpolitik
6.4.7 Überörtliche regionalpolitische Koordination
6.4.8 Auswege aus finanzieller Belastung
6.5 Fazit
Literatur
7: Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft/Strukturwandel
7.1 Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen und in der Metropole Ruhr
7.1.1 Phase 1 (1945–1968): Der Wiederaufbau: „Modernisierung alter Strukturen“
7.1.2 Phase 2 (1968–1975): Erste Ansätze einer „reaktiven“ Strukturpolitik
7.1.3 Phase 3 (1975–1986): Erste Bemühungen einer „aktiven“ integrierten Strukturpolitik
7.1.4 Phase 4 (1987–2004): Die regionalisierte Strukturpolitik
7.1.5 Phase 5 (seit 2004): Die Weiterentwicklung der regionalisierten Strukturpolitik – Der Ansatz der integrierten Arbeits- und Wirtschaftspolitik (Stärkung regionaler Kompetenzfelder)
7.1.6 Strukturwandel im Rheinischen Revier
7.1.7 Strukturwandel Steinkohleregionen
7.2 Dimensionen der Wissensgesellschaft
7.3 Bedeutungszunahme des Wissenskapitals
7.4 Welche Rolle nehmen im Zuge dieser Veränderungs-, Krisen- und Transformationsprozesse die Wirtschaftsförderungen ein?
7.5 Fazit
Literatur
8: Integration von Geflüchteten – Lehren aus der Krise und die Chancen einer diversitätssensiblen Wirtschaftsfördersicht auf die Potenziale migrantischen Unternehmertums
8.1 Einleitung
8.2 Integration durch ökonomische Teilhabe aus Wirtschaftsfördersicht
8.3 Lehren aus der Krise
8.3.1 Arbeitsmarktintegration braucht Zeit und Engagement
8.3.2 Selbstständigkeit als Weg zur ökonomischen Integration Geflüchteter
8.3.3 Gründung durch Geflüchtete als Teil des Spektrums migrantischen Unternehmertums
8.4 Zum Stand migrantischen Unternehmertums in Deutschland
8.4.1 Begrifflichkeiten
8.4.2 Hintergründe und Facetten der Gründungsdynamik
8.4.3 Besondere Unterstützungsbedarfe im Gründungsprozess
8.5 Herausforderungen und Chancen einer strategischen Öffnungsstrategie der Wirtschaftsförderung
8.5.1 Vorüberlegungen zur Rolle der Gründungsberatung
8.5.2 Befund I: Zielgruppenerreichung kann deutlich verbessert werden
8.5.3 Befund II: Es gibt vier wesentliche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Gründungsförderung durch Menschen mit Migrationshintergrund
8.5.4 Befund III: Location matters
8.5.5 Befund IV: Spezifische Stärken der migrantischen Ökonomie
8.6 Ungenutzte Gründungspotenziale heben, Gründungserfolge erhöhen: Strategische Ansätze einer interkulturellen Öffnung
8.6.1 Neue Kommunikationswege bei Information und Ansprache
8.6.2 Migrantische Rollenmodelle als Vorbild und Zugang nutzen
8.6.3 Zugang durch proaktive und dezentrale Ansprache
8.6.4 Zugang zur Zielgruppe über migrantische Communities
8.6.5 Die neuen Partnerschaften und Netzwerke bieten neben Zugang auch Vertrauen und außerökonomisches Systemwissen
8.6.6 Diversitätssensible Beratung anstreben – Unterstützung von Fachstellen nutzen
8.6.7 Diversität als Gegenstand der Weiterbildung für Beratende
8.7 Fazit
Literatur
9: Finanzcrash, Eurokrise und milliardenschwere Rettungsschirme
9.1 Einleitung
9.2 Die Gründe der Finanzkrise
9.3 Der Crash
9.4 Bailout und Bewertung
9.5 Euro- und Staatsschuldenkrise 2009 bis 2012
9.6 Whatever It Takes
9.7 Verpasste Chancen
9.8 Fazit
Literatur
10: Wirtschaftsförderung und E-Governance: Von der Resilienz zur Transformation?
10.1 Wann handelt Wirtschaftsförderung? Schlüsselbegriffe und -kontext
10.1.1 Wirtschaftsförderung als Innovationssystem-Ansatz
10.1.2 Wirtschaftsförderung als Organisationsvielfalt
10.1.3 Wirtschaftsförderung als Querschnittsfunktion
10.1.4 Wirtschaftsförderung als Mehrebenen-Ansatz
10.1.5 Wirtschaftsförderung als beihilferechtliche Herausforderung
10.1.6 Wirtschaftsförderung als Standortwettbewerb
10.2 Wie wirkt sich Digitalisierung auf Wirtschaftsförderung aus? Chancen und Risiken
10.2.1 Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Effizienzziel
10.2.2 Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Qualitätsziel
10.2.3 Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Partizipationsziel
10.3 Kann (sich) Wirtschaftsförderung transformieren? Anspruch und Wirklichkeit
10.3.1 Wirtschaftsförderung 5.0 und Nachhaltigkeitsorientierung
10.3.2 Wirtschaftsförderung 5.0 und Umgang mit multiplen Zukünften
10.4 Fazit
Literatur
11: Business Development als Treiber für nachhaltiges Wachstum in Unternehmen
11.1 Einleitung
11.2 Das Kundenproblem und das Customer-Profiling
11.3 Das Kundenproblem und die Vision, Mission und Unternehmensstrategie
11.4 Das Geschäftsmodell als Instrument zur Entwicklung von Lösungsansätzen für Kundenprobleme
11.5 Das Brandscript als Instrument zur Vermarktung der Lösung von Kundenproblemen
11.6 Künstliche Intelligenz als Chance und Risiko für das Business Development in Unternehmen
11.7 Implikationen für die Wirtschaftsförderung
11.8 Fazit
Literatur
12: Krisenkommunikation – Kommunikation in der Krise
12.1 Was ist das Besondere einer Krise?
12.1.1 Anforderungen an die Krisenkommunikation
12.1.2 Kommunikationsteam im Krisenstab
12.2 Krisenkommunikation
12.2.1 Fehler in der Krisenkommunikation
12.2.2 Erfolgreiche Krisenkommunikation
12.2.3 Krisenkommunikation in der akuten Krise
12.3 Fazit
Literatur
13: Unbürokratische staatliche Hilfe in Krisenzeiten – Juristische Prüfung und effiziente Bürokratie dürfen kein Widerspruch sein
13.1 Einleitung
13.2 Rechtliche Anmerkungen
13.3 Bürokratien nach Max Weber und in polit-ökonomischer Modellierung
13.3.1 Bürokratien nach Max Weber
13.3.2 Ineffizienz von Bürokratien – Das Bürokratiemodell von Niskanen und dessen Modifikation durch Migué und Bélanger
13.3.3 Lösungsvorschläge: Privatisierung oder Wettbewerb?
13.4 Fazit
Literatur
14: Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser ist auch regionale Wirtschaftsförderung: das Beispiel NRW
14.1 Einleitung
14.2 Regionalspezifische Krankenhausförderung NRW
14.2.1 Pauschalförderung
14.2.2 NRW-Investitionsprogramm Einzelförderung
14.2.3 Sonstige Regionalförderungen
14.3 Ergänzende regionalwirksame Krankenhausförderung des Bundes
14.3.1 Krankenhausstrukturfonds II
14.3.2 Krankenhauszukunftsfonds
14.3.3 Kommunalinvestitionsförderungsfonds
14.3.4 Sonstige Fördermittelprogramme
14.4 Corona-bedingte NRW-Sonderfördermittel mit investiver Wirkung
14.5 Investitionsfinanzierung und regionale Wirtschaftsentwicklung
14.6 Fazit
Literatur
15: Wirtschaftsförderung als Instrument politischer Steuerung in Krisenzeiten: Potenziale und Grenzen eines strategischen Machtmittels
15.1 Einleitung
15.2 Ein Handlungsfeld an der Schnittstelle von Politik und Wirtschaft
15.3 Merkantilismus: Ursprünge und Grundprobleme der Wirtschaftsförderung
15.4 Public Affairs als Scharnier und Brücke zwischen Politik und Wirtschaft in der Krise: eine realistische Bestandsaufnahme von Möglichkeiten und Grenzen
15.5 Fazit
Literatur
16: Krisenmanagement in Unternehmen
16.1 Einleitung
16.2 Krisenbegriff
16.3 Krisenursachen
16.4 Insolvenz als Krisenphänomen
16.4.1 Insolvenzverfahren
16.4.2 Empirisches Bild von Unternehmensinsolvenzen
16.5 Die besondere Situation des Mittelstands
16.5.1 Der Mittelstandsbegriff
16.5.2 Die Bedeutung des Mittelstands für die regionale Wirtschaft im Kontext von Unternehmenskrisen
16.6 Sanierung und Restrukturierung von Unternehmen
16.6.1 Leistungswirtschaftliche Sanierung
16.6.2 Finanzwirtschaftliche Sanierung
16.7 Krisenmanagement und Wirtschaftsförderung
16.8 Fazit
Literatur
17: Hochschulen: Ein regionaler Wirtschaftsfaktor in Krisenzeiten
17.1 Einleitung
17.2 Hochschulen und die regionale Wirtschaft
17.2.1 Hochschulen im Kontext der Regionalpolitik
17.2.2 Die regionalwirtschaftliche Bedeutung von Hochschulen
17.2.2.1 Nachfrageseitige Aktivitäten von Hochschulen
17.2.2.2 Angebotsseitige Aktivitäten von Hochschulen
17.3 Hochschulen in Deutschland und die COVID-19-Pandemie
17.3.1 Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Hochschulen und Studierende
17.3.2 Staatliche Förderungsmaßnahmen für Studierende
17.4 Nothilfen für Studierende aus föderalismustheoretischer Perspektive
17.5 Fazit
Literatur
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Wirtschaftsförderung in der Krise: Konzepte zur Krisenbewältigung und Chancennutzung
 3658413891, 9783658413897, 9783658413903

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Thorsten Korn Jakob Lempp Gregor van der Beek   Hrsg.

Wirtschaftsförderung in der Krise Konzepte zur Krisenbewältigung und Chancennutzung

Wirtschaftsförderung in der Krise

Thorsten Korn • Jakob Lempp Gregor van der Beek Hrsg.

Wirtschaftsförderung in der Krise Konzepte zur Krisenbewältigung und Chancennutzung Mit einem Geleitwort von Thomas Hammann

Hrsg. Thorsten Korn IHK-Akademie Koblenz Koblenz, Deutschland

Jakob Lempp Hochschule Rhein-Waal Kleve, Deutschland

Gregor van der Beek Hochschule Rhein-Waal Kleve, Deutschland

ISBN 978-3-658-41389-7    ISBN 978-3-658-41390-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Claudia Rosenbaum Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Geleitwort von Thomas Hammann

Mit großem Interesse habe ich von diesem neuen Wissensband für Wirtschaftsförderungen erfahren und spontan die Bereitschaft für dieses Vorwort erklärt. Als Vorsitzender des DVWE (Deutscher Verband der Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaften e.V.) freue ich mich über das Engagement der Autoren und bedanke mich stellvertretend für unsere Mitglieder und alle weiteren Wirtschaftsförderer, welche hiermit ein Spezialwerkzeug für passgenaue Anwendungen erhalten. Ein Buch, welches sich mit der Krisenfestigkeit, Bewältigungsstrategien, Krisenindikatoren und vielen wertvollen Hinweisen für die täglichen Herausforderungen unserer Arbeit beschäftigt, greift passgenau wie ein Zahnrad in die vielfältigen Bemühungen auch unseres Bundesverbandes ein. Dieser setzt sich seit Jahren ebenfalls mit dieser Thematik auseinander. Aus allen Foren und Arbeitskreisen erfolgt am Ende die positive Aufforderung, Krisen auch als Chancen zu sehen. Selbst in, durch die Corona-Krise bedingt, leider nur digital stattfindenden größeren Konferenzen mit über 250 Teilnehmenden konnten man am Ende übereinstimmend feststellen, dass damit u. a. auch ein Schub in Richtung Digitalisierung erreicht wurde. Dabei wurden aber plötzlich bzw. nebenher auch strukturelle und hoch politische Fragen aufgeworfen, die nun einer komplexen Antwort zustreben. Hier wäre als Beispiel etwa die zunehmende Globalisierung zu nennen, welche gerade für die kommunalen Wirtschaftsförderungen eine Herausforderung in der lokalen Umsetzung bedeutet: Beflügelt durch die Digitalisierung und die Internationalisierung spielen in der Bevölkerung und der Wirtschaft kommunale Grenzen immer weniger eine Rolle bzw. werden gar nicht mehr wahrgenommen. Gleichzeitig wird jedoch eine Zuordnungs- bzw. Zugehörigkeitsmöglichkeit eingefordert. Dies zeigt sich beispielsweise in Immobilienanzeigen, wo in einem sehr großen Umkreis die Zugehörigkeit zu bekannten Zentren dargestellt wird, um oberzentralen Wertefunktion zu dokumentieren. Sicherlich fallen Ihnen, sehr geehrter Leserinnen und Leser, sofort weitere Beispiele aus Ihrem täglichen Umfeld ein, wozu die hier folgenden Beiträge und Kapitel tiefere Erkenntnisse und Anleitungen geben.

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Geleitwort von Thomas Hammann

Ich danke den Autoren für Ihre Arbeit sowie das Engagement und wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Buch. Thomas Hammann (Deutscher Verband der Wirtschaftsförderungs- und Entwicklungsgesellschaften e. V.) März 2023

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 Thorsten Korn, Jakob Lempp und Gregor van der Beek 2 Wirtschaftsförderung  in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 Jakob Lempp, Thorsten Korn, Gregor van der Beek und Joshua Lehmann 3 Die  Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland. . . . . . . . . . . . .  25 Oliver Serfling und Jakob Lempp 4 Gastronomie  zwischen Strukturwandel und COVID-19-Krise. . . . . . . . . . . .  39 Martin Franz, Thomas Neise und Philip Verfürth 5 Klimarisiken  in der Logistikbranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59 Felix Bücken 6 D  emographischer Wandel und Wirtschaftsförderung – Herausforderungen der Bevölkerungsalterung für die regionale Wirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 Birgit Aigner-Walder 7 Von  der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft/Strukturwandel. . . . .  99 Jens Stuhldreier 8 Integration  von Geflüchteten – Lehren aus der Krise und die Chancen einer diversitätssensiblen Wirtschaftsfördersicht auf die Potenziale migrantischen Unternehmertums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Jörg Lahner 9 Finanzcrash,  Eurokrise und milliardenschwere Rettungsschirme . . . . . . . . . 147 Martin Kessler 10 Wirtschaftsförderung  und E-Governance: Von der Resilienz zur Transformation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Bettina Burger-Menzel

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Inhaltsverzeichnis

11 Business  Development als Treiber für nachhaltiges Wachstum in Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Jens Knese 12 Krisenkommunikation  – Kommunikation in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Tim Schönborn und Beatrix Sieben 13 Unbürokratische  staatliche Hilfe in Krisenzeiten – Juristische Prüfung und effiziente Bürokratie dürfen kein Widerspruch sein . . . . . . . . . 227 Gregor van der Beek, Jan Bienek, Florian Oppitz und Zunera Rana 14 Investitionsfinanzierung  der Krankenhäuser ist auch regionale Wirtschaftsförderung: das Beispiel NRW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Wilfried Boroch 15 Wirtschaftsförderung  als Instrument politischer Steuerung in Krisenzeiten: Potenziale und Grenzen eines strategischen Machtmittels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Christian Blum und Dominik Meier 16 K  risenmanagement in Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Holger Reinemann 17 Hochschulen:  Ein regionaler Wirtschaftsfaktor in Krisenzeiten. . . . . . . . . . . 291 Christoph Gwosć

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Einleitung Thorsten Korn, Jakob Lempp und Gregor van der Beek

Zusammenfassung

Krisen wie die Coronapandemie, der Klimawandel, die demografischen Veränderungen oder der Krieg in der Ukraine prägen unsere Zeit wie selten zuvor und machen deutlich, dass es auch für Wirtschaftsförderungen in Deutschland kein einfaches „Weiter so“ geben kann. Die dynamischen, ergebnisoffenen und im Vorhinein schwer abschätzbaren krisenhaften Veränderungen zwingen kommunale Wirtschaftsförderungen zu einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie in professioneller Weise auf Krisen reagiert werden kann. Das Einleitungskapitel des Bandes führt kurz in diese Thematik ein und präsentiert im Anschluss den Aufbau des Buches, welches in einem ersten Teil zwei empirische Übersichtsstudien zur Lage der Wirtschaftsförderung in Deutschland vorgestellt, in einem zweiten Teil wichtige Krisen der vergangenen Jahrzehnte auf ihre Wirkung auf Wirtschaftsförderung oder auf einzelne Wirtschaftssektoren hin abgeklopft und in einem dritten Teil die Frage stellt, welche konkreten Konzepte zur Krisenprävention

Für die technische Unterstützung bei der Redaktion des Bandes bedanken sich die Herausgeber bei Joshua Lehmann. T. Korn IHK-Akademie Koblenz, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Lempp (*) · G. van der Beek Hochschule Rhein-Waal, Kleve, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_1

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T. Korn et al.

und zum Krisenmanagement zum Einsatz kommen und in welcher Weise diese auch für die Tätigkeit von Wirtschaftsförderungen nutzbar gemacht werden können.

1.1 Krisen als neue Normalität Krisen und drohende Katastrophen prägen unsere Zeit wie selten zuvor und zwingen viele gesellschaftliche Akteure zu Reaktionen. So stellte die Coronapandemie die deutsche Wirtschaft vor gänzlich unbekannte Herausforderungen, der Klimawandel macht ein langfristiges Umdenken in fast allen Wirtschaftsbereichen notwendig, demografischer Wandel, Migration und Strukturwandel prägen das Wirtschaftsgeschehen zunehmend und der Krieg in der Ukraine sowie die dadurch ausgelösten Folgewirkungen machen deutlich, dass es auch für die Wirtschaftsförderung in Deutschland kein einfaches „Weiter so“ geben kann. Krisen sind Störungen des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems (Schubert & Klein, 2020). Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass Akteure unter Zeitdruck handeln müssen, selbst wenn nicht alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, die zu einer rationalen und gut durchdachten Entscheidung eigentlich notwendig wären. Gleichzeitig ist es in Krisenzeiten ebenfalls keine sinnvolle Option, nicht zu handeln. Wer in einer Krise nicht handelt, der droht schnell in gefährliches Fahrwasser zu geraten. Und so ist jeder Krise die Gefahr eigen, zu eskalieren und eine Katastrophe nach sich zu ziehen. Das Bundesministerium des Innern der Bundesrepublik Deutschland hat bereits 2014 einige Merkmale von Krisen identifiziert (BMI, 2014). Demnach sind Krisen außergewöhnliche Situationen mit folgenden Charakteristika: • • • • • • •

ungeplant, ungewollt und oft überraschend, sehr dynamisch und ohne festes Schema verlaufend, kaum zu steuern, offen im Ausgang, zeitlich begrenzt, in der Regel sehr komplex und in Ausmaß und Folgen kaum überschaubar.

Krisen stellen immer eine Bedrohung wichtiger Schutzgüter dar und sind allein deshalb relevant für alle betroffenen Akteure. Zudem werden Krisen in Presse und Öffentlichkeit normalerweise stark wahrgenommen und widergespiegelt. Dadurch besteht über die eigentliche Relevanz der Krise hinaus die Gefahr, dass bei schlechtem Krisenmanagement Popularitäts- und Ansehensverluste drohen. Ein guter und professioneller Umgang mit Krisen lohnt also immer auch aus Eigeninteresse heraus. In einer Zeit, in der – wie es der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach formuliert hat – „die Katastrophe die neue Normalität ist“ (Böldt, 2022), müssen sich auch kom-

1 Einleitung

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munale Wirtschaftsförderungen damit beschäftigen, wie mit Krisen umgegangen werden sollte und welche Schlüsse daraus für das eigene Handeln zu ziehen sind. Dabei ist der Umgang mit Krisen grundsätzlich schwierig, da diese aufgrund ihrer zeitlichen Dynamik in der Regel nicht vorausgesehen werden können. Der Rückgriff auf Strategien, die sich im Umgang mit sich langsam und stetig vollziehenden Veränderungen („slow burns“, vgl. hierzu Pendall et al., 2010) möglicherweise bewährt haben, kann im Umgang mit plötzlich und unerwartet auftretenden Krisen nur bedingt helfen. Daher gilt leider: „Katastrophen lassen sich nicht abschaffen“ (Welzer, 2021, S.  99). Die meisten großen Krisen sind schlicht nicht mit den eigenen Erfahrungen in Einklang zu bringen, weshalb diese typischerweise auch nicht frühzeitig identifiziert werden können. Krisenprävention ist daher zunächst einmal ein vorausschauendes Risikomanagement, der Aufbau von Kompetenzen und der Abbau von Kommunikationshemmnissen, um so in Krisensituationen schnell handlungsfähig zu sein. In der Wirtschaftswissenschaft sind die Diagnose und v. a. die Bewertung von Krisen nicht ganz so eindeutig, wie in dem bisher Gesagten. Hier finden sich einerseits eher optimistische und andererseits eher pessimistische Einschätzungen von Krisen: Folgt man den pessimistischen Stimmen in der Ökonomik, so ist insbesondere bei Krisen, welche sich in hoher Arbeitslosigkeit, geringem Wachstum oder relevanter Inflation äußern, ein Gegensteuern angezeigt. Hiernach ist der Staat beim Auftreten solcher Phänomene dazu aufgerufen, diese aktiv zu bekämpfen. Schon bei den Instrumenten, mit deren Hilfe dies erfolgen soll, besteht allerdings keine Einigkeit, wie am Beispiel hoher Arbeitslosigkeit illustriert sei. Angebotstheoretiker werden für geringere Löhne und eine Verstetigung der Wirtschaftspolitik plädieren, Nachfragetheoretiker eher für Ausgabenprogramme des Staates, um über eine höhere Nachfrage die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Die Argumente der optimistischen Stimmen setzen dagegen auf die innovative Kraft von Krisen. Krisen können hiernach als Chancen begriffen werden, als Möglichkeiten, einen einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad neu zu überdenken und gegebenenfalls zu verlassen. Insofern sind Krisensituationen immer auch „critical junctures“ und Optionen zur Zerschlagung von möglicherweise als unabänderlich wahrgenommenen Pfadabhängigkeiten. So werden Krisen, und speziell externe Schocks, bisweilen als entscheidender Motor gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung verstanden. Dies wird besonders in Schumpeters Metapher von der „schöpferischen Zerstörung“ greifbar: Wenn der institutionelle Rahmen nicht mehr angemessen ist, so wird ein krisenhafter Prozess in Gang kommen und es wird sich als „spontan effiziente Ordnung“ ein besserer Ordnungsrahmen einstellen. Das Themenfeld der Wirtschaftsförderung ist inzwischen ein in unterschiedlichen Fachdisziplinen untersuchter Forschungsgegenstand. So beschäftigen sich etwa die Wirtschaftsgeografie oder die Raumplanung, die Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, aber auch die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Verwaltungs- und die Rechtswissenschaft mit der (kommunalen) Wirtschaftsförderung. Einen einführenden Überblick in die ­Thematik geben etwa Lahner & Neubert (2016) oder das „Handbuch Innovative Wirtschaftsförderung“ von Stember et  al. (2021). Etwas älter sind die einführenden Texte von Zwicker-­Schwarm

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T. Korn et al.

(2013) oder das „Handbuch der Wirtschaftsförderung“ von Dallmann & Richter (2012).1 Weitere relevante Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis am Ende dieses Kapitels.

1.2 Zum Aufbau des Buches Der Sammelband behandelt zentrale Herausforderungen der Wirtschaftsförderung im Umgang mit Krisen und Katastrophen. Hierbei steht nicht nur das Krisenmanagement im Fokus, sondern es wird auch die Krisenprävention bzw. -rehabilitation betrachtet. Zunächst werden in einem ersten Abschnitt zwei empirische Übersichtsstudien zur Lage der Wirtschaftsförderung in Deutschland vorgestellt: Lempp, Korn, van der Beek & Lehmann gehen im Rahmen einer umfassenden Befragung der deutschen Wirtschaftsförderer in Fortführung zweier Vorgängerstudien aus den Jahren 2008 (Korn et al., 2010) und 2015 (Lempp et  al., 2015) der Frage nach, wie die kommunalen Wirtschaftsförderungen in Deutschland selbst ihre Tätigkeit vor dem Hintergrund verschiedener krisenhafter Entwicklungen wahrnehmen und bewerten und welche Möglichkeiten aus Sicht der Wirtschaftsförderungen bestehen, zukünftig besser auf Krisen reagieren zu können als bisher. Anschließend untersuchen Serfling & Lempp im Rahmen einer umfassenden repräsentativen Bevölkerungsumfrage die Einstellungen gegenüber Wirtschaftsförderungen in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Dem Blick auf die Binnenperspektive folgt also der Fokus auf die Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit von Wirtschaftsförderung von außen. In einem zweiten Teil werden wichtige Krisen der vergangenen Jahrzehnte auf ihre Wirkung auf Wirtschaftsförderung oder auf einzelne Wirtschaftssektoren hin abgeklopft, so die Corona-Pandemie am Beispiel der Gastronomie (Franz, Neise & Verfürth), der Klimawandel am Beispiel der Logistikbranche (Bücken), der demografische Wandel (Aigner-­ Walder), der Strukturwandel (Stuhldreier), die Integration von Geflüchteten (Lahner) und die Finanzkrise (Kessler). Jede dieser Krisen zeigt, dass hieraus Handlungsoptionen für die Wirtschaftsförderung auf regionaler Ebene entstehen, um diese außergewöhnlichen Situationen zu meistern. Ein ausführlicher dritter Abschnitt stellt dann die Frage, welche konkreten Konzepte zur Krisenprävention und zum Krisenmanagement zum Einsatz kommen und in welcher Weise diese auch für die Tätigkeit von Wirtschaftsförderungen nutzbar gemacht werden können. Burger-Menzel richtet den Blick auf die Chancen von E-Governance für eine zukünftig im Kontext einer digitalisierten Gesellschaft agierenden Wirtschaftsförderung, Knese untersucht das Business Development als Treiber für nachhaltiges Unternehmenswachstum und Schönborn & Sieben widmen sich dem breiten und wichtiger werdenden Themenfeld der Krisenkommunikation. Der Forderung nach unbürokratischer Hilfe und unbürokratischen Lösungen in Krisenzeiten aus ökonomischer und juristischer Sicht wenden sich van der Beek, Bienek, Oppitz & Rana zu, das Beispiel der Investitionsfinanzierung bei nordrhein-westfälischen Krankenhäusern als regionale Wirtschaftsförderung  Für einen umfangreicheren allgemeinen Literaturüberblick siehe auch Lempp et al. (2015, S. 2 ff.).

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1 Einleitung

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wird von Boroch in den Fokus gerückt. Blum & Meier analysieren die politische Steuerungsfähigkeiten von Wirtschaftsförderungen speziell in Krisenzeiten und Reinemann blickt auf Krisenmanagementmethoden in Unternehmen im Allgemeinen. Der Beitrag von Gwosć zu Hochschulen als Faktor regionaler Wirtschaftsförderung schließt den Band ab.

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Thorsten Korn  ist Bereichsleiter für die kaufmännischen Weiterbildung in der IHK-­Akademie Koblenz sowie Leiter des ManagementZentrums Mittelrhein. Seit seinem Studium der Geografie, Wirtschafts- und Politikwissenschaften beschäftigt er sich mit Wirtschaftspolitik und räumlicher Entwicklung insbesondere mit dem Fokus auf Humankapital und Bildung. Prof. Dr. Jakob Lempp  ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Rhein-­Waal in Kleve und stellvertretender Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Europäische Politik- und Sentimentanalyse in Frankfurt am Main. Er war zuvor als Consultant bei der Boston Consulting Group GmbH in München tätig. Er forscht zur Wirtschaftsförderung in Deutschland und zum Vergleich politischer Systeme. Prof. Dr. Gregor van der Beek  ist Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt öffentliche Finanzen an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve. Er war zuvor Hochschullehrer in Deutschland, Österreich und den USA. Gesundheitsökonomie, Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsförderung gehören zu seinen akademischen Interessen.

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Wirtschaftsförderung in der Krise Ergebnisse einer Befragung der Wirtschaftsförderer in Deutschland Jakob Lempp, Thorsten Korn, Gregor van der Beek und Joshua Lehmann

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag untersucht die Stimmungslage bei den Wirtschaftsförderungen in Deutschland während der Coronapandemie im März und im Oktober 2021. In zwei nacheinander geschalteten Befragungen wurden 129 Wirtschaftsförderungen bzw. 100 Wirtschaftsförderungen umfassend zu ihrer Einschätzung der Krisensituation und ihrem Umgang damit befragt. Ein zentrales Ergebnis ist die Erkenntnis, dass sich die Einschätzung der Wichtigkeit der Ziele und Instrumente der Wirtschaftsförderung im Zuge der Corona-Krise zwar in einigen Feldern deutlich verschoben haben, in sehr vielen Bereichen die Krisensituation die Ziele und Instrumente von Wirtschaftsförderungen aber nicht signifikant zu beeinflusst hat. Mit Blick auf die Organisationsstruktur und -entwicklung hat die Corona-Krise die Wirtschaftsförderungen in Deutschland nicht überfordert. Zudem zeigten sich Lerneffekte, die eine Weiterentwicklung der Krisenresistenz der Wirtschaftsförderungen befördert hat.

J. Lempp (*) Hochschule Rhein-Waal, Kleve, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Korn IHK-Akademie Koblenz, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] G. van der Beek · J. Lehmann Hochschule Rhein-Waal, Kleve, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_2

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2.1 Einleitung Die Wirtschaftsförderungen in den kommunalen Gebietskörperschaften sehen sich großen – und sich zudem stetig wandelnden – Herausforderungen gegenüber. Gerade in Zeiten sich überlagernder langfristiger Anpassungsanforderungen durch den Klimawandel und kurzfristiger Reaktionserfordernisse durch die Corona-Pandemie ist es für Wirtschaftsförderungen nicht einfach, ihre zentralen Aufgaben der Unterstützung der regionalen Wirtschaft, der Ansiedelung neuer Unternehmen vor Ort sowie der Begleitung von Neugründungen und Innovationen zu erfüllen. Hinzu kommen – je nach regionaler Situation in unterschiedlichem Maße ausgeprägte – Faktoren wie der demografische Wandel, der Fachkräftemangel, die Erneuerung von Infrastrukturen, ein intelligentes Flächenmanagement, das Standortmarketing oder die Digitalisierung. All diese Elemente prägen den Alltag von Wirtschaftsförderern. Dabei interessiert neben einer wissenschaftlichen Analyse von außen auch die Perspektive der Wirtschaftsförderer selbst. Wie nehmen sie selbst ihre Tätigkeit vor dem Hintergrund der genannten krisenhaften Entwicklungen insbesondere während der Coronapandemie und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise wahr? Im vorliegenden Kapitel werden die Ergebnisse von zwei umfassenden Befragungen der Wirtschaftsförderungen in Deutschland präsentiert. Kern des Analyseinteresses sind dabei die Fragen nach der Selbsteinschätzung von Wirtschaftsförderungen hinsichtlich ihres Aufgabenspektrums und ihrer Instrumente im Kontext von Krisen. Ziel ist es, Verbesserungspotenziale zu identifizieren und damit den Wirtschaftsförderungen Informationen zur Hand zu geben, wie perspektivisch noch besser auf Krisensituationen reagiert werden kann.

2.2 Methodisches Design und Datenbasis Insgesamt wurden 639 Wirtschaftsförderungen in einem kurzen Anschreiben per E-Mail kontaktiert und um die Teilnahme an einer zweistufig durchgeführten Befragung gebeten. Die entsprechende Kontaktliste basierte auf einer ursprünglich im Vorfeld einer Konferenz für Wirtschaftsförderer im Jahr 2009 in Koblenz erhobenen und im Nachgang mehrfach aktualisierten Datenbank.1 Für die hier durchgeführte Befragung wurde der Datenbestand erneut umfassend überarbeitet, mit dem Ziel, jede kommunale Wirtschaftsförderungsgesellschaft in Deutschland zu erfassen. Dabei basierte der Fragebogen teilweise auf Umfragen von ähnlich gelagerten Befragungen aus den Jahren 2008 und 2014, sodass die hier erhobenen Daten leicht mit den Daten aus den jeweiligen früheren Untersuchungen verglichen werden können. Der erste Teil des Online-Fragebogens wurde am 22. März 2021 für 54 Tage freigeschaltet, wobei 129 Wirtschaftsförderungen den Fragebogen vollständig 1  Vgl. hierzu Korn et al. (2010) sowie Lempp et al. (2015). Hier finden sich auch die Ergebnisse von ähnlich gelagerten Befragungen aus den Jahren 2008 und 2014.

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Abb. 2.1  Größe des Einzugsgebiets und Anzahl Mitarbeiter (Nur Einzugsgebiete unter 600.000 Einwohnern und Wirtschaftsförderungen mit bis zu 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern)

ausgefüllt haben (verwertete Rücklaufquote: 20,19  %).2 Der zweite Teil des Online-­ Fragebogens wurde am 5. Oktober 2021 für 57 Tage freigeschaltet und von 100 Wirtschaftsförderungen vollständig ausgefüllt (verwertete Rücklaufquote: 15,65 %). In beiden Befragungen kam die Online-Fragebogen-Software Unipark zum Einsatz. Bei den verwerteten Antworten lag der geografische Schwerpunkt auf Rückmeldungen aus Baden-­Württemberg (24,81  % der Antworten), gefolgt von Bayern (16,28  %), Rheinland-Pfalz (11,63 %), Nordrhein-Westfalen (9,3 %), Niedersachsen (9,3 %) und Hessen (8,53 %).3 Wie erwartet unterscheiden sich die befragten Wirtschaftsförderungen in organisatorischer Hinsicht, in ihrer Größe und in der Art und Größe ihres Einzugsgebietes (vgl. Abb. 2.1). Bezüglich der Organisationsform steht es den Gebietskörperschaften grundsätzlich frei, in welcher rechtlichen Struktur sie Wirtschaftsförderung betreiben.4 Nach  In der Vergleichserhebung aus dem Jahr 2008 waren es 188 vollständige Antworten, in der Vergleichserhebung aus dem Jahr 2014 waren es 139 vollständige Antworten. 3  Erfasste Daten aus der ersten Untersuchungswelle. Aus Sachsen-Anhalt und Bremen gingen keine Antworten ein. Ein ähnliches geografisches Verteilungsmuster hatte sich bereits bei den oben genannten Vorgängeruntersuchungen aus den Jahren 2008 und 2014 gezeigt. Eine mögliche Ursache könnte ein kleingliedriges Netz an Wirtschaftsförderungen insbesondere in Baden-Württemberg und Bayern sein. In der hier eingesetzten Datenbank stammen ebenfalls 23 % der Wirtschaftsförderungen aus Baden-Württemberg und 21 % aus Bayern. 4  Zu Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Organisationsformen von Wirtschaftsförderungen siehe auch Reschl und Rogg (2003, S. 23 ff.). Blanz (2020) sowie Kammradt (2016) widmen sich ebenfalls der „Organisation der Wirtschaftsförderung“. 2

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wie vor bleiben aber die meisten Wirtschaftsförderungen als Ämter organisiert (2021: 43 % bzw. 46 %5; 2014: 41 %; 2008: 58 %). 33 % bzw. 28 % der Wirtschaftsförderungen sind privatrechtlich organisiert und in beiden Umfragen waren 19 % der befragten Wirtschaftsförderungen Teil eines anderen Amtes (vgl. hierzu auch Wuppertal Institut, 2020, S. 114 f.).6 Ein Muster ist dabei, dass die Organisationsform teils auch von der Größe des Einzugsgebiets abhängt: Je mehr Einwohner im Einzugsgebiet einer Wirtschaftsförderung leben, umso eher wird die kommunale Wirtschaftsförderung aus der internen Verwaltung ausgegliedert und in eine privatrechtliche Organisationsform überführt. Durchschnittlich beschäftigen die befragten Wirtschaftsförderungen 8 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Typisch sind dabei Organisationsgrößen von bis zu fünf Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern (56 % bzw. 53 %). 16 % bzw. 19 % der befragten Wirtschaftsförderungen beschäftigen zwischen 6 und 10 Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, 27  % bzw. 24 % mehr als 10. Dabei ist es wenig überraschend, dass die Mitarbeiteranzahl stark mit der Einwohnerzahl des entsprechenden Einzugsgebietes korreliert (vgl. Abb.  2.1). Obwohl es durchaus große Unterschiede in der Größe der jeweiligen Wirtschaftsförderungen bei ähnlich einwohnerstarken Kommunen gibt, ist doch der generelle Trend klar: Je mehr Einwohner ein Einzugsgebiet hat, umso größer ist die Wirtschaftsförderungsgesellschaft. In der vorliegenden Untersuchung dominieren dabei Wirtschaftsförderungen mit eher kleinen oder mittleren Einzugsgebieten von unter 50.000 Einwohnern (32 %), von 50.000 bis 100.000 Einwohnern (20 %), von 100.000 bis 150.000 Einwohnern (16 %) oder von 150.000 bis 250.000 Einwohnern (15 %). 17 % der Antworten stammen von Wirtschaftsförderungen mit größeren Einzugsgebieten von über 250.000 Einwohnern.7 Ebenso wenig überrascht, dass die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch stark von der Anzahl der im Einzugsgebiet niedergelassenen Unternehmen abhängt. Durchschnittlich betreut eine Wirtschaftsförderungsgesellschaft nach eigenen Aussagen etwa 11.000 bzw. 10.800 Unternehmen (siehe auch Abb.  2.2). Die abweichenden Medianwerte von 5000 bzw. 4200 Unternehmen kommen durch einige starke Ausreißer zustande, bei welchen das Einzugsgebiet weitaus mehr Unternehmen vorweist als üblich. Wie schon in den Umfragen der Jahre 2008 und 2014 betreuen etwa ein Viertel (29 % bzw. 24 %) der Wirtschaftsförderungen potenziell mehr als 10.000 Unternehmen.

 Der zuerst genannte Wert steht hier und im Folgenden jeweils für die erste Umfrage 2021 (März bis Mai 2021), der zweite Wert für die zweite Umfrage von Oktober bis Dezember 2021. 6  Hinzu kommen 4  % bzw. 6  % teilprivatisierte Wirtschaftsförderungen und 0  % bzw. 1  % ohne Angabe. 7  Alle Daten aus der zweiten Befragungswelle. In der ersten Befragungswelle waren die Anteile der Rückmeldungen von Wirtschaftsförderungen mit Einzugsgebieten zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern sowie zwischen 250.000 und 500.000 Einwohnern etwas stärker vertreten; ansonsten zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. 5

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Abb. 2.2  Anzahl der Unternehmen im Einzugsgebiet der befragten Wirtschaftsförderungen

2.3 Ergebnisübersicht I: Erste Befragung Ein zentrales Ergebnis des ersten Teils der vorliegenden Untersuchung ist die Erkenntnis, dass sich die Einschätzung der Wichtigkeit bestimmter Ziele und Instrumente der Wirtschaftsförderung im Zuge der Corona-Krise zwar in einigen Feldern deutlich verschoben haben, in sehr vielen Bereichen scheint die Krisensituation die Ziele und Instrumente von Wirtschaftsförderungen aber nicht signifikant zu beeinflussen. Wenig überraschend ist, dass die Wirtschaftsförderer insbesondere das Ziel, die ansässigen Unternehmen krisenfester zu machen, während der Krise für deutlich wichtiger hielten (94 % der Befragten gaben an, dieses Ziel für eher wichtig oder sehr wichtig zu halten, zuvor taten dies lediglich 65 %). Einen Bedeutungszuwachs sehen die Befragten auch für die Ziele, die durch den Strukturwandel betroffenen Betriebe zu unterstützen und soziale Konflikte zu reduzieren. Unwichtiger dagegen scheint – allerdings immer noch auf hohem Niveau – die traditionelle Imagewerbung für den eigenen Wirtschaftsstandort zu werden (siehe Abb.  2.3 und  2.4). Viele Ziele der Wirtschaftsförderer bleiben allerdings von der Krise weitgehend unberührt. Die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die Entwicklung einer zukunftsträchtigen Wirtschaftsstruktur und die Schaffung eines wachstumsfreundlichen Klimas stehen nach wie vor weit oben in den Wichtigkeitsrankings. Dagegen werden die Erhöhung der Einwohnerzahl und die Verhinderung von Abwanderung, Umweltschutz, der Aufbau regionaler Cluster oder die Förderung von Mobilität unabhängig von der Krise nicht hoch priorisiert. Dieses grundsätzliche Wichtigkeitsranking scheint recht stabil zu sein, bereits in vorangegangenen Befragungen zeigt sich hier ein ähnliches Bild.8 8

 Vgl. Lempp und Korn (2015, S. 13).

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Abb. 2.3  Wichtigkeitseinschätzung von Zielen der Wirtschaftsförderung vor der Krise

Abb. 2.4  Wichtigkeitseinschätzung von Zielen der Wirtschaftsförderung während der Krise

Auch bei der Einschätzung der Wichtigkeit unterschiedlicher Instrumente der Wirtschaftsförderung zeigen sich deutliche Unterschiede (siehe Abb.  2.5 und  2.6).9 Einige ­Instrumente scheinen unabhängig von Krisensituationen dauerhaft als wichtig einge Vgl. zu Instrumenten von Wirtschaftsförderungen etwa Richter und Dallmann (2011), van der Beek und Korn (2008); zum Vergleich der vorliegenden Studie zu den Vorgängeruntersuchungen siehe Lempp und Korn (2015, S. 14).

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Abb. 2.5  Wichtigkeitseinschätzung von Instrumenten der Wirtschaftsförderung vor der Krise

Abb. 2.6  Wichtigkeitseinschätzung von Instrumenten der Wirtschaftsförderung während der Krise

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schätzt werden, insbesondere das Gewerbeflächenmanagement, das Angebot von Ausund Weiterbildungsmöglichkeiten, die Auftragsvergabe an regional ansässige Unternehmen, eine flexible Verwaltung und die Bereitstellung unternehmensspezifischer Infrastruktur. Über 70 % der Befragten schätzen diese Instrumente als „sehr wichtig“ oder „eher wichtig“ ein. All diese Instrumente wurden auch in den Vorgängeruntersuchungen als besonders wichtig eingeschätzt. Eher weniger wichtig scheinen Rechtsberatungsangebote und Ansiedlungsprämien zu sein. Besonders interessant sind allerdings jene Instrumente, die durch die Krise einen signifikanten Bedeutungszuwachs oder einen größeren Bedeutungsverlust zu verzeichnen haben. Einige Instrumente scheinen sich – aus Sicht der Wirtschaftsförderer – während der Krise eher zu bewähren als in nicht als krisenhaft erlebten Phasen. Dies trifft insbesondere auf die Unterstützung von Unternehmen durch reduzierte Beiträge und Gebühren zu (vor der Krise von 14 % als „eher wichtig“ oder „sehr wichtig“ eingeschätzt, während der Krise von 52 %. Aber auch beim Instrument der Gewährung von Darlehen und Bürgschaften stieg der entsprechende Wert von 17 % vor der Krise auf 38 % während der Krise oder beim Instrument der Förderung von gerade in der Krise stark betroffenen Kultureinrichtungen von 36  % auf 54  %). Weniger bedeutsam scheint während der Krise das Instrument des klassischen Standortmarketings zu sein (hier fielen die entsprechenden Werte von 76 % auf 46 %). Bei der Relevanzeinschätzung der eigenen Zuständigkeiten geht für die befragten Wirtschaftsförderer – wie auch schon in den Voruntersuchungen 2008 und 2014 – Bestandspflege vor Ansiedlung und Neugründung von Unternehmen, wobei der Fokus auf die bereits am Ort befindlichen Unternehmen durch die Krise noch einmal verstärkt wurde (siehe Abb. 2.7). Insbesondere die Ansiedelung neuer Unternehmen hatte während der Krise für eine Mehrheit der Wirtschaftsförderer keine Priorität. Dies wiederum wird in der nach wie vor sehr hohen Gebietstreue vieler Unternehmen gespiegelt. Aus Sicht der befragten Wirtschaftsförderer sind die Unternehmen vor Ort ihrer Region sehr treu – nur weniger als 1 % der Befragten stimmen dem nicht zu.10 Ein sehr deutlicher Kriseneffekt zeigt sich bei der Frage nach der Entwicklung des Wirtschaftsklimas in der entsprechenden Region im Vergleich zur ursprünglich erwarteten Entwicklung. Vor der Krise zeigt sich das auch aus früheren Untersuchungen bekannte Bild: Aus Sicht der Wirtschaftsförderungen entwickelte sich die regionale Wirtschaft in den drei Jahren vor der Befragung (also 2018–2020) besser als erwartet – 89 % der Befragten stimmten dem voll oder zumindest eher zu.11 Während der Krise zeigt sich dann ein völlig verändertes Gesamtbild: Nur noch 49  % sahen die regionale Wirtschaft nun besser aufgestellt als erwartet (siehe Abb. 2.8 und 2.9). Interessant ist dabei allerdings, dass auch während der Krise die Wirtschaftsförderer mehrheitlich davon ausgehen, dass  Ähnlich auch hier der Befund 2008 und 2014.  Laut der World Bank (2021) ist die jährliche BIP-Wachstumsrate in Deutschland in dem gefragten Zeitraum von 2,68  % (2017) über 1,09  % (2018) auf 1,06  % (2019) gesunken. Für das Pandemie-Jahr 2020 gibt die World Bank für Deutschland eine jährliche BIP-Wachstumsrate von − 4,57 % an.

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2  Wirtschaftsförderung in der Krise

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Abb. 2.7  Relevanz der Aufgaben für die Wirtschaftsförderung vor (oben) und während (unten) der Krise

Abb. 2.8 und 2.9  Zustimmung zu einer besseren Entwicklung der Region als umliegende Regionen (links) und Zustimmung zu einer besseren Entwicklung des Wirtschaftsklimas als erwartet (rechts)

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Abb. 2.10  Veränderungsbedarfe aus Sicht der Wirtschaftsförderungen

sich die Wirtschaft vor Ort in den letzten drei Jahren besser entwickelt hat als in den umliegenden Regionen. Zwar sank auch dieser Wert im Verlauf der Pandemie, er liegt mit 48 % aber immer noch deutlich höher als der Anteil jener Wirtschaftsförderer, der die eigene Region schlechter entwickelt sieht als die umliegenden Regionen (siehe Abb.  2.8 und 2.9). Einschränkend muss hier angefügt werden, dass damit nicht unbedingt eine tatsächliche überdurchschnittliche Entwicklung des Wirtschaftsklimas einhergeht, vielmehr zeugen die Daten hier von einem bei Wirtschaftsförderern offenbar grundsätzlich positiven Bild der eigenen Region auch im Vergleich zu Nachbarregionen. Klar ist: Es gibt trotz aller positiven Gesamteinschätzungen von Region und Wirtschaftsklima noch Optimierungspotenziale, um die Arbeit der Wirtschaftsförderungen noch effizienter auszugestalten. Wenig überraschend steht hier aus Sicht der Befragten an erster Stelle die Notwendigkeit einer besseren finanziellen Ausstattung (93  % Zustimmung) und einer verbesserten Zusammenarbeit mit der Kommunalverwaltung (90 % Zustimmung). Handlungsbedarf wird von der überwiegenden Mehrzahl der Befragten aber auch bei der personellen Ausstattung (89 % Zustimmung) und beim Stellenwert, den die Wirtschaftsförderung in der Verwaltung genießt, gesehen (siehe Abb. 2.10). Auch diese Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen aus den Befragungen von 2008 und 2014.

2.4 Ergebnisübersicht II: Aspekte des Krisenmanagements Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist jede Krise einzigartig. Dies liegt insbesondere an den Merkmalen und Folgen von Krisen, so treffen hier außergewöhnliche, komplexe Situationen mit dynamischen Verläufen auf eine „chaotische“ Anfangsphase des Krisenmanagements, wo Zuständigkeiten, Schadensausmaß sowie -folgen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen unklar sind. Da der konkrete Krisenfall unerwartet für Organisatio-

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nen auftritt, können Krisen massive Auswirkungen entfalten. Ein kompetenter Umgang mit solchen Situationen zählt daher zu den zentralen Anforderungen jeglicher Organisationen (Schreyögg und Ostermann, 2014). An dieser Erwartungshaltung durch die regionalen Unternehmen müssen sich auch die Wirtschaftsfördereinrichtungen messen lassen (vgl. Lahner, 2021). Das Vorgehen in einem Krisenfall sollte von drei Schwerpunkten kennzeichnet sein: • Kommunikation, • Analyse und • Handlung. Diese drei Aspekte finden sich in der Einschätzung der Wirtschaftsförderer wieder (siehe Abb. 2.11). In Bezug auf Kommunikation sehen 100 % der Befragten es für „sehr wichtig“ bzw. „eher wichtig“ an, schnell zu kommunizieren. Hierfür helfen eine ausgeprägte ­Kommunikations- und Medienkompetenz (89  % Zustimmung) sowie die Nutzung von festen Kommunikationswegen (83 %). Grundsätzliche Wesen einer Krisenkommunikation sollte Offenheit, Transparenz, Glaubwürdigkeit und Dialogorientierung sein, denn nur durch eine erfolgreiche Kommunikation können Krisen gemeistert werden. Daher sollte proaktiv und regelmäßig und nicht nur bei sich geänderten Umständen kommuniziert werden.

Abb. 2.11 Wichtigkeitseinschätzung von Aufgaben der Wirtschaftsförderung während einer Krisenzeit

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Abb. 2.12  Verbesserungsbedarf von Aufgaben der Wirtschaftsförderung während einer Krisenzeit

Beim Aspekt der Analyse gilt es – und so sehen es auch 98 % der Befragten – Prioritäten zu setzen. Nur so können die bereits erwähnten zur Verfügung stehenden Ressourcen effektiv und effizient eingesetzt werden. Weitere als wichtig eingeschätzte Aufgaben sind die Einbindung externer Fachexpertisen sowie die Aufbereitung von fehlenden Informationen (jeweils 80 %). So wird die Grundlage geschafften, um in übersichtlichen Situationen Prioritäten setzen zu können. Man sieht an den Ergebnissen, dass sich die befragten Wirtschaftsförderer durchaus darüber bewusst sind, dass sie auch in Krisenzeiten dem Aspekt des Analysierens eine hohe Bedeutung zukommen lassen müssen. Der dritte zentrale Aspekt ist das Handeln. Hier sehen es 92 % der Befragten als wichtig an, unbürokratische Lösungen anzubieten. Ebenso ist es für ein koordiniertes Vorgehen wichtig, die jeweiligen Zuständigkeiten festzulegen (82 %). Darüber hinaus ist der Aspekt des Handels aber auch jener Bereich, wo der größte Verbesserungsbedarf gesehen wird (siehe Abb. 2.12). Dies gilt nicht nur für die Möglichkeit, unbürokratisch helfen zu können. So wünschen sich auch über 20 % der Befragten, dass die eigene Organisation im Krisenfall sichtbarer wird und mehr Koordinationsaufgaben in der Verwaltung übernehmen sollte. In diesem Verbesserungsbedarf könnte sich die unterschiedliche ­organisatorische Eingliederung der Wirtschaftsförderung widerspiegeln. Einer eigenständigen Einrichtung fällt es leichter, eine eigene Sichtbarkeit darzustellen, als wenn die Wirtschaftsförderung ein Teil eines anderen Amtes ist. Dagegen fällt es privatrechtlich organisierten Wirtschaftsförderungen aufgrund ihrer rechtlichen Möglichkeiten schwerer, innerhalb einer öffentlichen Verwaltung eine zentrale Koordinationsaufgabe zu übernehmen. Neben den Aufgaben zählt auch die Organisationsstruktur im Falle eines Krisenmanagements zu den zentralen Punkten, die es zu betrachten gilt (siehe Abb. 2.13). Die vier

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Abb. 2.13  Relevanz der Organisationsstruktur während einer Krisenzeit

am häufigsten genannten Antworten waren eine effiziente und verlässliche interne Kommunikation, der Aufbau von verlässlichen Strukturen, die bereichsübergreifende Zusammenarbeit und Abstimmung sowie das Benennen eines Ansprechpartners für die externe Kommunikation (jeweils über 90  % der Befragten). Die Antworten auf die vorherigen Fragen lassen verstehen, dass der Bereich der Kommunikation nicht nur als Aufgabe eine besondere Wichtigkeit besitzt. Vielmehr muss dieser Bereich auch strukturell gut aufgestellt sein, um sowohl intern ohne allzu große Reibungsverluste zu funktionieren als auch extern nicht zu einer Stimmenvielfalt wird. Ein auf der Grundlage der vorhergehenden Befragungen unerwartetes Ergebnis zeigt die Einschätzung der Bedeutung des Aufbaus von verlässlichen Strukturen durch die Befragten. Betrachtet man die Ergebnisse zu dieser Frage weiter, sieht man, dass knapp 50 % der Befragten es eher als unwichtig bzw. nicht wichtig erachten, bestehende, formale Strukturen im Krisenfall zu nutzen. Dies lässt zumindest die unbestätigte Hypothese zu, dass ein Großteil der Befragten die aktuellen Organisationsformen als nicht krisenresistent bzw. krisentauglich erachten. Hier könnten sich die Wirtschaftsförderungen die Frage stellen, wie sie diese Strukturlücke schließen können. Richtet man den Blick auf die Zeiten vor bzw. nach einer Krise bekommen die Themen Prävention und Aufarbeitung eine zentrale Rolle. Hier zeigt sich, dass die Wirtschaftsförderungen in beiden Phasen noch Steigerungspotenzial hat (siehe Abb. 2.14). Bei einem Drittel der befragten Institutionen liegen weder allgemeine Krisenpläne vor, noch werden die gemachten Erfahrungen nach einer Krise richtig ausgewertet bzw. alle Entscheidungen und Maßnahmen entsprechend dokumentiert.

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Abb. 2.14  Einschätzung der eigenen Organisation bezüglich der Krisenprävention bzw. der Krisenaufarbeitung

Noch überraschender ist es, dass lediglich 23 % der Befragten sich mit Simulationen auf Krisensituationen vorbereiten, obwohl dieses Element einer der substanziellsten Aufgaben der Krisenprävention ist (vgl. Seidl & Regeling, 2020). Realitätsnahe Simulationen erleichtern den Umgang mit Krisen und zeigen zudem Schwachstellen in Strukturen und Abläufen. Sie erhöhen dadurch die Handlungssicherheit einer Organisation. Weiterhin können Simulationen auf nahezu alle Arten von Krisen angewendet werden, beispielsweise als Teil des Reputationsmanagement bei „Shitstorms“ in den Sozialen Medien bis hin zur Folgenabschätzung der Klimakatastrophe. In der letzten Fragestellung, der im Oktober 2021 stattgefundenen Befragung, wurde dann speziell auf das Handeln der befragten Organisationen während der vergangenen zwölf Monaten, also während der Corona-Krise abgestellt (siehe Abb. 2.15). Im Mittelpunkt standen hier nicht konkrete Maßnahmen, die umgesetzt wurden, sondern vielmehr die gemachten Erfahrungen im eigenen Wirkungsraum. Als theoretisches Grundmodell wurde bei der Entwicklung der Antwort-Möglichkeiten das Komfortzonenmodell z­ ugrunde gelegt, welches auch als 3-Zonen-Modell bezeichnet wird (vgl. Veit, 2018, S. 154 ff.). Es betrachtet die unterschiedlichen Empfindungsbereiche von Menschen in Veränderungssituationen. Im unternehmerischen Kontext wird das Komfortzonenmodell in der Personalentwicklung sowohl für einzelnen Mitarbeitenden als auch Teams genutzt. Hierbei werden drei unterschiedliche Zonen unterschieden: die Komfort-, die Lernund die Panikzone. In der Komfortzone fühlen sich Menschen sicher und geborgen (vgl. Michl, 2015, S. 40). Sie spiegelt das Bekannte und Vertraute wider und betrifft sowohl Aktivitäten als auch Denkmuster. Die angrenzenden Risikozone ist der Bereich, in dem man auf unplanbare und unerwartete Ereignisse trifft. Dieser Bereich wird auch Lernzone

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Abb. 2.15  Einschätzung des Handelns in den vergangenen 12 Monaten hinsichtlich der Bewältigung der Corona-Krise

genannt, da man hier vor Problemen steht, die gelöst werden müssen. Die menschlichen Abwehrmechanismen sind hier inaktiv. Anders sieht dies im dritten Bereich, der Panikzone, aus. Hier verfällt man in eine Art Starre oder Schockzustand. Es liegt eine Überforderung vor, auf die mit den menschlichen Modi Kampf oder Fluch reagiert wird. Befindet man sich in der Panikzone, dann kann man Krisensituationen im Sinne der Allgemeinheit nicht meistern und sicher persönlich auch nicht weiterentwickeln. Gerade Krisensituationen, in denen Veränderungen plötzlich auftreten, werden schnelle Verhaltensveränderungen benötigt. Der damit verbundene Stress kann dazu führen, das Mitarbeitende von Organisationen in die Panikzone geraten und so darin gehindert werden, am Krisenmanagement mitzuwirken. Ziel sollte es somit sein, dass das Krisenmanagement dafür sorgt, dass die Mitarbeitenden zwar die Komfortzone kontinuierlich verlassen, aber dennoch dabei nicht in Panik zu verfallen. Ordnet man die Antworten der befragten Wirtschaftsförderer in die drei Zonen ein, ergibt sich im Sinne des Krisenmanagements ein recht positives Bild. Die häufigsten Antworten mit hoher Zustimmung lassen sich fast abwechselnd der Komfort- und Lernzone zuordnen. Im Durchschnitt erhielten die Antwortoptionen der Kategorie „Komfortzone“ eine knapp 60 %ige Zustimmung (28,4 % zutreffend; 30,8 % eher zutreffend), bei der Kategorie „Lernzone lag der Wert bei knapp 65 % (33,1 % zutreffend; 31,5 % eher zutreffend). Antworten wie „Handeln war geprägt von Panik“ oder „Situation war teilweise beängstigend“, die man der Panikzone zuordnen würde, wurden eher als nicht zutreffend eingeschätzt. Dies zeigt sich auch im Durchschnittswert, der bei rund 22 % liegt (8,9 % zutreffend; 13,3 % eher zutreffend).

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J. Lempp et al.

Mit Blick auf die Organisationsstruktur und -entwicklung kann man aus diesen Antworten schließen, dass die Corona-Krise diese nicht überforderte. Im Gegenteil lässt sich die Hypothese äußern, dass diese Krisensituation für Lerneffekte gesorgt hat, die eine Weiterentwicklung der Krisenresistenz befördert hat. Endgültig belastbare Ergebnisse hierzu würden jedoch tiefer gehende Untersuchungen benötigen.

2.5 Fazit Es ist doch beachtlich, wie invariant die wichtigsten Aspekte in der Selbstwahrnehmung der Wirtschaftsförderer sind, decken sich doch die aktuellen Ergebnisse in der Corona Krise weitgehend mit den Ergebnissen aus den Befragungen von 2008 und 2014. Die selbsteingeschätzten Prioritäten scheinen im Großen und Ganzen konstant, dies gilt nicht nur sowohl bei der Einschätzung der Ziele und Instrumente, sondern auch beim Reformbedarf. Von dieser Konstanz gibt es nur wenige bedeutende Ausnahmen, so wird 1. die Notwendigkeit, Beiträge und Gebühren zu reduzieren, nun in der Krise als „sehr wichtig“ eingeschätzt, während dies zuvor nur mäßig wichtig war, 2. findet sich eine etwas geringeren Betonung von weichen Faktoren, wie Standortimage und 3. zeigt sich ein Kriseneffekt bei der Einschätzung der Entwicklung des Wirtschaftsklimas. Aber selbst bei Letzterem ist zu beachten, dass solche Einschätzungen grundsätzlich ein verzerrt positives Bild der eigenen Region zeichnen. Auch dies findet sich schon in den Ergebnissen aus den Befragungen von 2008 und 2014. Woher mag diese relative Invarianz rühren? Ist die Wirtschaftsförderung in der Tat so robust aufgestellt, dass sie – so wie sie ist – Krisen ohne signifikante Veränderungen von Zielen, Instrumenten und Reformbedarf meistert? Das wäre ja ein sehr positiver Befund. Oder sind hier eher Prozesse am Werk, die man besser auf dem Hintergrund des generellen Beharrungsvermögens bei öffentlichen Einrichtungen verorten mag? Die weniger optimistische zweite Interpretation wird dadurch nahegelegt, dass unter der Rubrik „Reform Bedarf“ auch jetzt wieder „an erster Stelle die Notwendigkeit einer besseren finanziellen und personellen Ausstattung“ genannt wird, sowie die Verbesserung „beim Stellenwert, den die Wirtschaftsförderung in der Verwaltung genießt“. Dies klingt doch stark nach „Business as Usual“. Bei der konkreten Betrachtung des Krisenmanagements zeigte sich jedoch, dass die Wichtigkeit der Schwerpunkte im Krisenfall von den Wirtschaftsförderern erkannt werden. Auch war das Kommunizieren, Analysieren und Handeln nicht von Panik begleitet, sondern könnte  – nach den Antworten der Befragten  – zu Lerneffekten geführt haben. Aber auch bei der Betrachtung des konkreten Krisenmanagements wird Reformbedarf in der Organisationsstruktur gesehen, da die aktuellen Strukturen nicht als resistent genug betrachtet werden. Ebenfalls als verbesserungswürdig lassen sich die Bereich Krisenprävention und -aufbereitung bezeichnen. Die Befragung zeigte, dass diese Felder bei der Arbeit keine Prioritäten aufweisen.

2  Wirtschaftsförderung in der Krise

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In den folgenden Kapiteln dieses Buches wird versucht, einer Antwort auf die Frage „Robust für Krisen aufgestellt“ oder doch nur „Business as Usual“ etwas näher zu kommen. Dort werden ganz unterschiedliche Einzelaspekte von Wirtschaftsförderung untersucht. Dabei wird sich zeigen, welche Aspekte – trotz der hier gezeigten relativen Invarianz – in besonderer Weise von der Krise betroffen sind.

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J. Lempp et al.

Prof. Dr. Jakob Lempp  ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Rhein-­Waal in Kleve und stellvertretender Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Europäische Politik- und Sentimentanalyse in Frankfurt am Main. Er war zuvor als Consultant bei der Boston Consulting Group GmbH in München tätig. Er forscht zur Wirtschaftsförderung in Deutschland und zum Vergleich politischer Systeme. Thorsten Korn  ist Bereichsleiter für die kaufmännischen Weiterbildung in der IHK-­Akademie Koblenz sowie Leiter des ManagementZentrums Mittelrhein. Seit seinem Studium der Geografie, Wirtschafts- und Politikwissenschaften beschäftigt er sich mit Wirtschaftspolitik und räumlicher Entwicklung insbesondere mit dem Fokus auf Humankapital und Bildung. Prof. Dr. Gregor van der Beek  ist Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt öffentliche Finanzen an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve. Er war zuvor Hochschullehrer in Deutschland, Österreich und den USA. Gesundheitsökonomie, Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsförderung gehören zu seinen akademischen Interessen. Joshua Lehmann  ist Student der Internationalen Beziehungen an der Hochschule Rhein-­Waal, wo er als Studentische Hilfskraft tätig ist. Neben seinem Studium hat er Berufserfahrung im Bundesministerium der Verteidigung und Auswärtigen Amt gesammelt. Derzeit arbeitet er für die Münchner Sicherheitskonferenz.

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Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland Ergebnisse einer bundesweiten Befragung zu den Aktionsfeldern und Handlungserfordernissen kommunaler Wirtschaftsförderung Oliver Serfling und Jakob Lempp

Zusammenfassung

Kommunale Wirtschaftsförderung ist in Krisenzeiten in besonderer Weise gefragt, um die Auswirkungen von Krisen für den jeweiligen Standort konkret abzumildern. Um aber einen effektiven Beitrag zu neuen Antworten auf die Frage, wie Wirtschaftsstandorte resilienter gegenüber den Auswirkungen von Krisen und Strukturwandel gemacht werden können, leisten zu können, müssen Wirtschaftsförderungen in die sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen gut integriert sein. Sie müssen mit wichtigen Akteuren des kommunalen Gesellschaftslebens vernetzt und auch von der Öffentlichkeit gekannt und anerkannt sein. Demokratische Wirtschaftspolitik sieht sich allerdings häufig mit der Herausforderung konfrontiert, dass ihre Auswirkungen zwar alle betreffen, sich aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung für Wirtschaftspolitik und die Arbeit von Wirtschaftsförderungen zu interessieren scheint. Die vorliegende Untersuchung hat insgesamt über 5000 Menschen in Deutschland zu ihrer Einschätzung der regionalen Wirtschaftslage und der Rolle der kommunalen Wirtschaftsförderung online befragt, um die gefühlte Betroffenheit der Menschen von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu messen und Implikationen für die kommunale Wirtschaftspolitik, heruntergebrochen nach Regionen, abzuleiten. Kurze Zusammenfassungen von Teil-Ergebnissen dieser Studie erschienen am 11.11.2021 unter dem Titel „Kommunale Wirtschaftsförderung leistet wichtigen Beitrag zur Erholung“ in der „Zeitung für kommunale Wirtschaft“ (vgl. Serfling und Lempp (2021b), sowie am 13.09.2021 unter dem Titel „Building back better – Wirtschaftsförderung nach der Krise“ im „Transfer“-Magazin des SteinbeisVerbunds (vgl. Serfling und Lempp (2021a). O. Serfling · J. Lempp (*) Hochschule Rhein-Waal, Kleve, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_3

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O. Serfling und J. Lempp

3.1 Einleitung Die Covid-19-Pandemie und die staatlichen Versuche, diese durch eine Reihe von Maßnahmen einzudämmen, haben in den Jahren 2020 und 2021 weltweit zu einem außergewöhnlichen wirtschaftlichen Einbruch geführt. In Deutschland sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal 2020 preisbereinigt um 9,7  % im Vergleich zum ersten Quartal. Für das Gesamtjahr 2020 lag das BIP der Bundesrepublik 4,9 % unter dem des Vorjahres, ein Rückgang in ähnlicher Größenordnung wie während der Finanzkrise 2008/2009. Allerdings hat sich die Krise in sehr unterschiedlicher Weise auf die verschiedenen Branchen und Regionen ausgewirkt. So waren zuvörderst die Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen betroffen, mit einem Umsatzrückgang in Höhe von 33,2  % und der Verkehrssektor mit einem Minus von 11,7 % im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr. Klare Gewinner der Krise waren der Internet- und Versandhandel mit einem Umsatzplus von 27,8 %, aber auch Nahrungsmittel und Getränke wurden stärker nachgefragt (6,3 %), da in Zeiten von Lockdown und Home-Office mehr zu Hause konsumiert wurde. Bei der Nachfrage nach Kraftfahrzeugen folgte einem Einbruch im ersten Halbjahr 2020 um 20 % eine Nachfragesteigerung von rund 10 % im zweiten Halbjahr (vgl. Statistisches Bundesamt, 2021). Diese Wellenbewegung dürfte weitestgehend auf die befristete Mehrwertsteuersenkung bis zum 31.12.2020 zurückgehen. Diese sektoralen wirtschaftlichen Effekte übersetzen sich auch in eine regional unterschiedliche Betroffenheit. So war der BIP-­ Rückgang in den industriell stärker geprägten südwestdeutschen Bundesländern Baden-­ Württemberg, Bayern, Hessen und Saarland aber auch in Hamburg mit mindestens 5,5 % stärker als im Bundesdurchschnitt. Neben unterschiedlichen Infektionszahlen und unterschiedlich strengen nicht klinischen Eindämmungsmaßnahmen in der Pandemie, dürfte dies vor allem über die stärkere internationale Verflechtung der Wirtschaft in diesen Ländern zu erklären sein (vgl. Döhrn, 2021). Die nordostdeutschen Bundesländer Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein konnten die negativen wirtschaftlichen Effekte über den stärker ausgeprägten Dienstleistungssektor und den Tourismus abfedern und hatten mit maximal 3,4 % einen milderen Wirtschaftseinbruch zu verkraften. Innerhalb der Bundesländer waren insbesondere die Städte in Bezug auf die Geschäftslage der Unternehmen, dem Ausmaß an Kurzarbeit und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit am stärksten betroffen. Eine Studie auf der Grundlage des Geschäftsklimaindex des ifo-Instituts zeigt, dass sich die Einschätzung der Geschäftslage der Unternehmen in den Städten über das Gesamtjahr 2020 schlechter entwickelt hat als im Rest der Republik. Dieses Ergebnis bleibt auch erhalten, wenn nur die von der Pandemie besonders betroffenen Sektoren betrachtet werden. Die Arbeitslosigkeit in den Städten stieg demnach um bis zu 0,75 % stärker an, als in dem, an zweiter Stelle der Betroffenheit stehenden, südwestdeutschen, nicht-städtischen Bereich, welcher auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit im August 2020 ebenfalls einen Anstieg von rund 0,75 % gegenüber dem Vormonat des Pandemiebeginns im Januar 2020 verzeichnen musste (vgl. Kloiber et al., 2021). Als mögliche Gründe für die besondere wirtschaftliche Betroffenheit von Städten werden der geringere Industrieanteil und ein größerer Anteil des stationären Handels an-

3  Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland

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geführt. Aber auch die aufgrund von Home-Office-Regelungen geringere Anzahl von Einpendlern dürfte ihren Beitrag zum Rückgang der Wirtschaftsaktivitäten in Städten haben. Zwar dürften mit dem Ende der Pandemie die wirtschaftlichen Erholungseffekte in den Städten ebenso stärker ausfallen, strukturell könnten die Städte mit fortschreitender Digitalisierung und dem Ausbau von Home-Office Regelungen dennoch die Verlierer bleiben. Kommunale Wirtschaftsförderungen als das wichtigste Instrument kommunaler Wirtschafts- und Strukturpolitik sehen sich daher nun vor der Aufgabe, die sich aus der Pandemie ergebenden mittelfristigen wirtschaftlichen Effekte für den jeweiligen Standorttyp sowie den konkreten jeweiligen Standort abzumildern und viel mehr noch den langfristigen, strukturellen Wandel durch ein geeignetes Instrumentarium aktivierend zu begleiten. Die zentrale Aufgabe von Wirtschaftsförderungsgesellschaften, der Belebung der Wirtschaft vor Ort durch regional und lokal angepasste materielle, finanzielle und organisatorische Unterstützungsleistungen, werden also nach einer Krisenphase in ganz besonderer Weise gefordert. Einerseits sind die kommunalen Wirtschaftsförderungen dafür gut vorbereitet, sind sie doch „mit ökonomischen und technologischen Veränderungen und den Herausforderungen einer Wirtschaft im Wandel […] seit Jahren vertraut“ (Deutsches Institut für Urbanistik, 2021). Und so können Wirtschaftsförderungen die „Schubkraft von Krisen nutzen“ und „als Impulsgeber und Gestalter“ wirken (Deutsches Institut für Urbanistik, 2021). Andererseits sind manche der ökonomischen Implikationen der Covid-19-­Pandemie auch von gänzlich neuer Art und insbesondere von gänzlich neuer Dynamik und verlangen auch nach neuen Antworten auf die Frage, wie Wirtschaftsstandorte resilienter gegenüber den Auswirkungen von Krisen und Strukturwandel gemacht werden können. Diese Aufgabe werden Wirtschaftsförderungen nur meistern können, wenn sie in die sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen gut integriert sind, wenn sie mit wichtigen Akteuren des kommunalen Gesellschaftslebens vernetzt sind und auch von der Öffentlichkeit gekannt und anerkannt werden. Demokratische Wirtschaftspolitik sieht sich häufig mit der Herausforderung konfrontiert, dass die wirtschaftlichen und strukturellen Effekte der Politik zwar alle betreffen, sich aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in der Lage sieht, sich eine Meinung über Wirtschaftspolitik zu erlauben. Umso wichtiger erscheint neben einem breit angelegten öffentlichen wirtschafts- und strukturpolitischen Diskurs der Einsatz häufiger und breit angelegter Meinungsumfragen zur Ermittlung der Wahrnehmung dieser Politik. Im folgenden Beitrag haben wir eine solche Umfrage in Zusammenarbeit mit dem Online-Meinungsforschungsinstitut Civey GmbH in Berlin durchgeführt, um die gefühlte Betroffenheit der Menschen von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu messen und Implikationen für die kommunale Wirtschaftspolitik, heruntergebrochen nach Regionen, abzuleiten.

3.2 Methodisches Design und Datenbasis In der öffentlichen Wahrnehmung spielte die Förderung der Wirtschaft bislang eine eher untergeordnete Rolle. Wie die interessierte Öffentlichkeit die Bedeutung kommunaler Wirtschaftsförderung im Kontext und im Nachgang der Krise wahrnimmt und wie sie

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O. Serfling und J. Lempp

deren Aufgabenbewältigung bewertet, ist bislang kaum untersucht worden. Die vorliegende Untersuchung hat insgesamt über 5000 Menschen in Deutschland zu ihrer Einschätzung der regionalen Wirtschaftslage und der Rolle der kommunalen Wirtschaftsförderung online befragt.1 Der Untersuchungszeitraum für die Online-Befragung begann am 9. April 2021 und endete am 19. April 2021. Die typischerweise im Zusammenhang mit internetbasierten Befragungen auftretenden Selektionsverzerrungen wurden durch komplexe Gewichtungs- und Quotierungsverfahren ausgeglichen (poststratifizierte Quotenstichprobe), sodass die Ergebnisse mit einem Stichprobenfehler von unter 3 % als repräsentativ für die Wahlbevölkerung in Deutschland angesehen werden können.2 Die Auswertung des erhaltenen Datensatzes nach Regionen erfolgt bis auf die Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte (NUTS3), wobei hier der Stichprobenfehler aufgrund kleiner Stichproben bis auf rund 30 % ansteigt. Wir verzichten daher auf die Interpretation der Ergebnisse von Landkreisen mit kleinen Fallzahlen und sehen die übrigen Ergebnisse als eher indikativ an. Mit Bezug auf die Uninformiertheit bzw. Meinungslosigkeit der Befragten bestätigt die Umfrage das aus anderen Umfragen bekannte Muster: Bei den Fragen nach der allgemeinen Wirtschaftslage votierten rund 10  % der Befragten mit der Antwortoption „weiß nicht“. Dieser Anteil steigt jedoch stark an, je spezifischer nach dem Thema „kommunale Wirtschaftsförderung“ gefragt wird. So erlauben sich rund 30 % keine Meinung dazu, in welchen Bereichen die kommunale Wirtschaftsförderung aktiver werden sollte, und bei der Wissensfrage danach, wo diese am aktivsten sei, steigt der Anteil der „weiß nicht/keine der genannten“ auf knapp zwei Drittel an. Diese Antworten finden bei der folgenden inhaltlichen Auswertung keine Berücksichtigung.

3.3 Ergebnisübersicht Zunächst wird sehr deutlich, dass auch aus der Perspektive der Befragten die Wirtschaft am jeweiligen eigenen Wohnort als sehr stark oder zumindest stark betroffen wahrgenommen wird. Gut die Hälfte der Befragten sieht dies so. Interessant ist allerdings, dass trotz der oben genannten makroökonomischen Gesamtlage immerhin noch über 46 % der Befragten der Meinung sind, die Wirtschaft vor Ort sei von der Corona-Pandemie nicht oder nur schwach betroffen (siehe Abb. 3.1). Ähnlich ausgeglichen zeigt sich auch das Bild, wenn nach einer Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen Lage am Wohnort insgesamt gefragt wird (siehe Abb. 3.2). Hier verteilt sich je ungefähr ein Drittel auf die Kategorien „stark“ oder „sehr stark“, „unentschieden“ und „schwach“ oder „sehr schwach“. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund des Befragungszeitraums im April 2021 erstaunlich – einer stark durch die Pande Die genaue Anzahl der Antworten wird jeweils bei den konkreten Fragen im Beschreibungstext angegeben. 2  Eine nähere Beschreibung der Befragungsmethode von Civey findet sich bei Richter et al. (2019); eine Anwendung findet sich etwa bei Serfling (2018). 1

Abb. 3.1  Einschätzung der Betroffenheit der lokalen Wirtschaft von der Pandemie

Abb. 3.2  Einschätzung der wirtschaftlichen Lage vor Ort

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O. Serfling und J. Lempp

Abb. 3.3  Einschätzung der wirtschaftlichen Pandemiefolgen auf Ebene der Landkreise

mie gekennzeichnete Phase. Mitte des Jahres 2021 glaubten 60 % der Deutschen, dass sich die deutsche Wirtschaft erst im Jahr 2023 oder später von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie erholen würde (Eurobarometer, 2021, S. 37). Allerdings wird bei näherer Betrachtung schnell deutlich, dass die oben genannte unterschiedliche regionale Betroffenheit der Wirtschaft durch die Corona-Pandemie auch zu entsprechenden unterschiedlichen Einschätzungen der Befragten führt (vgl. Abb.  3.3). ­Besonders stark wird die Betroffenheit der regionalen Wirtschaftslage durch die Pandemie dabei im südlichen und östlichen Sachsen, im Ruhrgebiet, in den ländlichen Küstenregionen an der Nordsee, aber auch in eher strukturschwachen Gebieten von Bayern und Rheinland-­Pfalz eingeschätzt. Dagegen sehen die Befragten im Umland Berlins und vielen Gebieten Schleswig-Holsteins die Wirtschaftslage vor Ort weniger durch die Pandemie beeinträchtigt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der im Eingangsteil dieses Beitrags vorgestellten tatsächlichen Auswirkungen auf die unterschiedlichen Regionen Deutschlands interessant, die gerade in den industriell geprägten Regionen Süd- und West-

3  Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland

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deutschlands größer war als etwa im Osten Deutschlands. Hier zeigt sich: Die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Pandemiefolgen und deren tatsächliches Eintreten weichen teils stark voneinander ab. Dabei unterscheiden die Befragten durchaus zwischen langfristigen, strukturellen Veränderungen und den kurzfristigen Folgen der Pandemie. Fragt man nämlich, wie sich die regionale Wirtschaft im Vergleich zu den umliegenden Regionen in den vergangenen drei Jahren entwickelt hat, stechen insbesondere das westliche Umland Berlins oder auch einige Gebiete in Bayern und Baden-Württemberg hervor, in welchem eine Mehrheit der Befragten den Eindruck hat, die Region habe sich wirtschaftlich vergleichsweise gut entwickelt. Schlechter als im Umland dagegen hat sich die Wirtschaft nach Einschätzung der Befragten insbesondere in Teilen des Ruhrgebiets, in den Ferienregionen im Norden Mecklenburg-Vorpommerns, im Pfälzer Wald und im südlichen Sachsen-Anhalt entwickelt (vgl. Abb. 3.4).

Abb. 3.4  Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung im Vergleich zum Umland nach Kreisen

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O. Serfling und J. Lempp

Abb. 3.5  Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung im Vergleich zum Umland

Insgesamt gaben 25 % der Befragten an, die Wirtschaft in ihrer Region habe sich im Vergleich zu den umliegenden Regionen in den letzten drei Jahren verbessert, 30 % sahen eine Verschlechterung und fast 45 % schätzten die Lage etwa gleich ein wie vor drei Jahren (vgl. Abb. 3.5).3 Ein Großteil der Befragten glaubt trotz oder gerade wegen der besonders schwierigen wirtschaftlichen Situation, dass die Wirtschaftsförderung einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der kommunalen Wirtschaft leistet. Über 44 % stimmen dieser Aussage zu, lediglich 22 % sehen dies nicht so (vgl. Abb. 3.6) und knapp 34 % antworten mit „teils/teils“. Regional fallen hier sehr große Unterschiede auf. Während in einigen Regionen ca. 60 % der Befragten eine wichtige Rolle der Wirtschaftsförderung bei der Unterstützung der kommunalen Wirtschaft sehen (solche Spitzenwerte werden etwa in den Kreisen Dithmarschen, Aurich, Wittmund, Friesland, Nordfriesland, Emden und Jena erreicht), liegt dieser Wert etwa in anderen Kreisen bei lediglich ca. 30 % (so etwa in Wolfsburg, Würzburg, Olpe, Trier-Saarburg, Pirmasens, Aschaffenburg (Stadt) oder im Main-­Taunus-­Kreis). Mit Hinblick auf die inhaltlichen Aufgabenschwerpunkte der Wirtschaftsförderungen in Deutschland ergibt sich ein recht klares Gesamtbild: Die Befragten halten die Förderung bestehender Unternehmen für die wichtigste Aufgabe. Eine deutlich kleinere Gruppe  Die fehlenden Prozent antworteten mit „weiß nicht“.

3

3  Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland

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Abb. 3.6  Beitrag der Wirtschaftsförderung zur Unterstützung der kommunalen Wirtschaft

sieht die Wirtschaftsförderungen eher beim Bemühen um die Ansiedelung neuer Unternehmen in der Pflicht (siehe Abb. 3.7). Bezogen auf die konkreten Instrumente der Wirtschaftsförderungen fällt eine weit verbreitete  – regional allerdings durchaus sehr unterschiedlich akzentuierte  – Unkenntnis weiter Teile der Bevölkerung auf. Eine große Mehrheit der Befragten verfügt nach eigener Aussage kaum über Wissen zu Aufgaben und konkreten Tätigkeiten der Wirtschaftsförderer. Knapp zwei Drittel der Befragten antworten auf die Frage: „In welchen Bereichen ist die Wirtschaftsförderung besonders aktiv?“ mit „weiß nicht“ – überraschend ist hier allenfalls die ebenfalls große Varianz zwischen den unterschiedlichen Landkreisen (zwischen unter 40 % und über 80 %). Gefragt wurde nun, in welchen von acht vorgegebenen Tätigkeitsbereichen die kommunale Wirtschaftsförderung als besonders aktiv eingeschätzt wird und wo am ehesten Verbesserungsbedarfe identifiziert werden. Dabei zeigte sich, dass die Wirtschaftsförderungen aus Sicht der Befragten in den Bereichen „Gewerbeflächenmanagement“, „Tourismusförderung“ und „Standortmarketing“ besonders gut abschnitten (siehe Abb. 3.8 linkes Panel).4 Etwas weniger aktiv sind die deutschen Wirtschaftsförderer aus Sicht der Befragten dagegen bei „Aus- und Weiterbildungsangeboten“, als

4

 Angaben ohne „weiß nicht“.

Abb. 3.7  Einschätzung der wichtigsten Aufgabenfelder der Wirtschaftsförderungen In welchem Bereich ist/sollte die kommunale Wirtschaftsförderung an Ihrem Wohnort... ... am aktivsten? ... am ehesten verbessert werden? 26.8 %

21 %

Ausbau von Versorgungsnetzen

17.9 %

Als Ansprechpartner für Verwaltungsleistungen

6.4 %

6%

Finanzielle Unterstützung von Unternehmen

5.7 %

9.1 %

Aus- und Weiterbildungsangebote

4.3 % 10 %

27.3 %

Förderung von Existenzgründung und Start-Ups

7.3 %

20 %

10.2 %

Standortmarketing

12.2 %

30 %

7.9 %

Tourismusförderung

16.3 %

40 %

9.6 %

Gewerbeflächenmanagement

0%

12 % 0%

10 %

20 %

30 %

Civey Umfrage Nr. 13791 und Nr. 13792, Befragungszeitraum: 9.4.-19.4.2021. Stichprobengröße Frage 13791: 8993 (davon weiß nicht: 5884), Stichprobengröße Frage 13792: 8993 (davon weiß nicht: 3012)

Abb. 3.8  Einschätzung zu den konkreten Aktivitäten der Wirtschaftsförderungen und den wahrgenommenen Potenzialen in diesen Aufgabenfeldern

3  Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland

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­„Ansprechpartner für Verwaltungsdienstleistungen“, bei der „Förderung von Existenzgründungen und Start-Ups“ und bei der „Finanziellen Unterstützung von Unternehmen“. Auch bei der Frage nach Verbesserungsmöglichkeiten für die kommunalen Wirtschaftsförderungen antwortet ein Großteil der Befragten mit „weiß nicht“ (31 %). Besonders viel Potenzial für eine verbesserte Wirtschaftsförderung sehen die Befragten insbesondere beim „Ausbau von Versorgungsnetzen“, bei der „Förderung von Existenzgründungen und Start-Ups“ und beim Angebot von „Aus- und Weiterbildungen“ (vgl. Abb.  3.8, rechtes Panel).5 Auch bei diesem Fragekomplex zeigen sich nach Landkreisen deutliche Diskrepanzen: Während zum Beispiel knapp 40  % der Befragten die Tourismusförderung der kommunalen Wirtschaftsförderung im Kreis Garmisch-Partenkirchen positiv bewerten, wird der Ausbau von Versorgungsnetzen etwa in Lüchow-Dannenberg als besonders verbesserungsfähig bewertet. Aus den Salden der beiden in Abb. 3.8 dargestellten Fragen lässt sich nun eine Priorisierung der Handlungserfordernisse ableiten. Diese sind der Ausbau von Versorgungsnetzen, die Förderung von Existenzgründungen und Start-Ups, sowie das Angebot von Aus- und Weiterbildungen. Wenig zusätzlicher Handlungsbedarf wird hingegen bei dem Gewerbeflächenmanagement und der Tourismusförderung gesehen – Themenfelder die zur klassischen Kommunalpolitik zählen. Interessant ist hierbei, dass die priorisierten Handlungserfordernisse in der Mehrzahl der 402 Landkreise und kreisfreien Städte gleich sind. Dennoch gibt es Landkreise in denen der Handlungsbedarf als besonders groß eingeschätzt wird. Tab. 3.1 Tab. 3.1  Abgeleitete Priorisierung der Handlungsfelder kommunaler Wirtschaftsförderung aus den Salden der Antworten zu den Fragen Nr. 13792 – 13791. Saldo in Prozentpunkten (%p.). (Anm.: Landkreise mit kleinen Fallzahlen und einem resultierenden Stichprobenfehler größer 10  % sind hierbei nicht berücksichtigt) Saldo Höchster Handlungsbedarf insgesamt in + 15 %p. Kulmbach, Stormarn, Kitzingen, Main-­Taunus-­ Kreis, Bad Dürkheim. + 11 %p. Frankfurt am Main, Förderung von Solingen, Chemnitz (Stadt), Existenzgründung und Starnberg, Meißen. Start-Ups Aus- und + 10 %p. Stuttgart (Stadt), Berlin, Weiterbildungsangebote Rhein-Kreis Neuss, München (Stadt), Münster (Stadt). Finanzielle + 2 %p. Potsdam-Mittelmark, Unterstützung von Höxter, Mülheim an der Unternehmen Ruhr, Konstanz, Rosenheim.

Themenfeld Ausbau von Versorgungsnetzen

Niedrigster Handlungsbedarf in Saale-Holzland-Kreis, Gotha, Sömmerda, Leer, Steinfurt. Berlin, Magdeburg, Bremen (Stadt), Region Hannover, Stuttgart (Stadt). Chemnitz (Stadt), Dachau, Vogelsbergkreis, SchwalmEder-Kreis, HersfeldRotenburg. Frankfurt am Main, Nürnberg, Hamburg, München (Stadt), Wuppertal. (Fortsetzung)

5

 Angaben ohne „weiß nicht“.

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O. Serfling und J. Lempp

Tab. 3.1  (Fortsetzung) Saldo Höchster Handlungsbedarf Themenfeld insgesamt in Chemnitz (Stadt), Als Ansprechpartner für − 1 %p. Havelland, Magdeburg, Verwaltungsleistungen Steinfurt, Wuppertal. Standortmarketing

− 5 %p.

Tourismusförderung

− 14 %p.

Gewerbeflächenmanagement

− 17 %p.

Niedrigster Handlungsbedarf in Dillingen a.d. Donau, Tübingen (Kreis), Ludwigsburg, Unstrut-­ Hainich-­Kreis, Ilm-Kreis. Unstrut-Hainich-Kreis, Märkischer Kreis, Mülheim Sömmerda, Leer, Neumarkt an der Ruhr, Siegeni.d. OPf., Schaumburg. Wittgenstein, Remscheid, Stuttgart (Stadt). Schmalkalden-­Meiningen, Erding, Starnberg, Euskirchen, Leipzig (Stadt), Birkenfeld, Zwickau, Schwalm-­Eder-­Kreis, Börde. Lichtenfels. Berlin, Eichstätt, München Main-Taunus-Kreis, (Stadt), Münster (Stadt), Steinburg, Börde, Unterallgäu. Heinsberg, Harburg.

weist für jedes Handlungsfeld jeweils die fünf Landkreise mit dem höchsten Saldo (hoher Handlungsbedarf) und dem niedrigsten Saldo (wenig Handlungsbedarf) aus.

3.4 Fazit Auch nach der Covid-19-Pandemie sind die kommunalen Wirtschaftsförderungen gefordert, einen wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung und zur nachhaltigen Stärkung der Resilienz und Krisenfestigkeit des regionalen Wirtschaftsstandortes zu leisten. Immerhin glauben knapp 80 % der Deutschen, dass die kommunalen Wirtschaftsförderungen einen Beitrag zur Unterstützung der örtlichen Wirtschaft leisten, knapp 45  % messen diesem Beitrag sogar eine gewisse Wichtigkeit bei. Insgesamt zeigte die vorliegende repräsentative Umfrage große Wissenslücken der Befragten zu den konkreten Tätigkeitsfeldern kommunaler Wirtschaftsförderungen auf. ­Dennoch können eine Reihe von Handlungsfeldern identifiziert werden, die für eine Wirtschaftsförderung nach der Pandemie von Relevanz sind: • Aus der Uninformiertheit der Bürger heraus ergibt sich – gerade vor dem Hintergrund des Leitbildes demokratischer Wirtschaftspolitik – die Herausforderung einer stärkeren und effektiveren Kommunikation der Arbeit der kommunalen Wirtschaftsförderungen vor Ort. Dies kann ggf. auch mittels neu zu erschließender Kommunikationskanäle (insbesondere Social Media) erreicht werden. • Bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Pandemiefolgen auf die kommunale Wirtschaftslage sowie bei der vergleichenden Beurteilung der Wirtschaftslage am Wohnort gegenüber dem Umland kommt es häufig zu Fehleinschätzungen bei den Befragten. Dies mag teils den eingangs geschilderten allgemeinen Kompetenzlücken bei wirt-

3  Die Wahrnehmung der Wirtschaftsförderung in Deutschland













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schaftlichen und wirtschaftspolitischen Themenfeldern geschuldet sein. Möglicherweise können hier aber auch kommunale Wirtschaftsförderungen als Kommunikatoren von Wirtschaftskompetenz vor Ort stärker aktiv werden. Generell stellen die Befragten den kommunalen Wirtschaftsförderungen in Deutschland ein gutes Zeugnis aus. Sie werden als wichtige Akteure im Kampf gegen die Pandemiefolgen wahrgenommen und ihnen wird zugetraut, auch einen Beitrag zur ­Stärkung der Krisenfestigkeit kommunaler Wirtschaftsstandorte zu leisten. Allerdings ist ein großer Teil der Befragten auch der Ansicht, dies gelinge nur teilweise gut. Bei den Befragten überwiegt der Anteil jener, die die Hauptaufgabe der Wirtschaftsförderung gerade in der Zeit nach der Covid-19-Pandemie eher in der Pflege und Unterstützung der bestehenden Unternehmen vor Ort sehen als im Bemühen um die Neuansiedelung von Unternehmen. Ob dies wirtschaftspolitisch eine sinnvolle Strategie ist, bleibt im konkreten Fall vor Ort zu entscheiden. Möglicherweise zeigt sich hier auch eine eher konservative Grundhaltung oder die in vielen Kommunen verbreitete Ablehnung der Erschließung neuer Gewerbegebiete. Klar zum Ausdruck kommt, dass kommunale Wirtschaftsförderungen in den Landkreisen sehr unterschiedlich bewertet werden – und zwar sowohl in Abhängigkeit von der Region als auch in Abhängigkeit davon, ob es sich um einen ländlichen Kreis, eine Großstadt oder das Umland einer Großstadt handelt. Empfehlungen für den Umgang mit Krisen lassen sich also kaum pauschal für alle Wirtschaftsförderungen formulieren und müssen unbedingt spezifisch auf die Situation vor Ort angepasst sein. Aus Sicht der Befragten sind die kommunalen Wirtschaftsförderungen in Deutschland vor allem im Bereich der klassischen Aufgaben, wie etwa Standortmarketing, Gewerbeflächenmanagement oder Tourismusförderung aktiv. Dies ist insofern problematisch, als – ebenfalls aus Sicht der Befragten – die größten Handlungsbedarfe eher in anderen Bereichen verortet werden. Besonderen Handlungsbedarf sehen die Befragten insbesondere beim Ausbau von Versorgungsnetzen, bei der Unterstützung von Existenzgründungen und bei der Bereitstellung von Aus- und Weiterbildungsangeboten  – Felder, die auch im Nachgang der Covid-­19-Krise an Relevanz gewonnen haben. Wenngleich die abgeleiteten Prioritäten der Handlungsfelder kommunaler Wirtschaftsförderung über die Mehrheit der Landkreise hinweg gleich sind, gibt es doch eine unterschiedliche Wahrnehmung ihrer Dringlichkeit. Dies könnte neben weiteren Erwägungen auch als Handlungsmaßstab für die kommunale Wirtschaftspolitik nach der Pandemie herangezogen werden.

Literatur Deutsches Institut für Urbanistik. (2021). Forum deutscher Wirtschaftsförderungen am 18.11.2021. https://difu.de/veranstaltungen/2021-­11-­18/forum-­deutscher-­wirtschaftsfoerderungen. Zugegriffen am 08.03.2022.

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O. Serfling und J. Lempp

Döhrn, R. (2021). Konjunktur der Bundesländer: große Unterschiede, aber wenig aussagefähige Daten. Wirtschaftsdienst, 101, 358–361. https://doi.org/10.1007/s10273-­021-­2920-­7 Eurobarometer. (2021). Standard-Eurobarometer 95, Frühjahr 2021. https://data.europa.eu/data/datasets/s2532_95_3_95_eng?locale=de. Zugegriffen am 08.03.2022. Kloiber, K., Menkhoff, M., Möhrle, S., & Peichl, A. (2021). Städte sind stärker von den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise betroffen. ifo Schnelldienst, 74(5), 53–58. Richter, G., Wolfram, T., & Weber, C. (2019). Die Statistische Methodik von Civey – Eine Einordnung im Kontext gegenwärtiger Debatten über das Für und Wider internetbasierter nicht-­ probabilistischer Stichprobenziehung. https://civey.com/whitepaper. Zugegriffen am 15.02.2022. Serfling, O. (2018). Was denken die Deutschen über die Abschaffung des Bargelds? In J. Lempp, T. Pitz, & J. Sickmann (Hrsg.), Die Zukunft des Bargelds (S. 1–33). Springer. Serfling, O., & Lempp, J. (2021a). Building back better: Wirtschaftsförderung nach der Krise. Transfer. Das Steinbeis-Magazin. Zeitschrift für den konkreten Wissens- und Technologietransfer, ISSN 2628-1945. https://transfermagazin.steinbeis.de/?p=10811. Zugegriffen am 05.04.2022. Serfling, O., & Lempp, J. (2021b). Kommunale Wirtschaftsförderung leistet „wichtigen Beitrag zur Erholung“. Zeitung für kommunale Wirtschaft. https://www.zfk.de/unternehmen/nachrichten/kommunale-wirtschaftsfoerderung-leistet-wichtigen-beitrag-zur-erholung. Zugegriffen am 05.04.2022. Statistisches Bundesamt. (2021, September 8). Preis-, kalender- und saisonbereinigt stieg der Umsatz im Kfz-Handel im Juni 2021 im Vergleich zum Mai 2021 um 1,3 %. DeStatis. https://data. europa.eu/data/datasets/s2532_95_3_95_eng?locale=de. Zugegriffen am 05.04.2022.

Prof. Dr. Oliver Serfling  ist Professor für Wirtschaftspolitik und Entwicklungsökonomik an der Hochschule Rhein-Waal. Dort leitet er einen Masterstudiengang zu Projektmanagement in der Entwicklungszusammenarbeit und forscht zu Themen wirtschaftlicher Entwicklung. Er ist Mitgründer des Markt- und Meinungsforschungsunternehmen Civey in Berlin und leitet das Steinbeis-­ Transferzentrum Europäische Politik- und Sentimentanalyse in Frankfurt am Main. Zuvor war er in der Politikberatung in Deutschland und dem internationalen Projektmanagement in Südostasien tätig. Prof. Dr. Jakob Lempp  ist Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve und stellvertretender Leiter des Steinbeis-Transferzentrums Europäische Politik- und Sentimentanalyse in Frankfurt am Main. Er war zuvor als Consultant bei der Boston Consulting Group GmbH in München tätig. Er forscht zur Wirtschaftsförderung in Deutschland und zum Vergleich politischer Systeme.

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Gastronomie zwischen Strukturwandel und COVID-19-Krise Handlungsmöglichkeiten für Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing Martin Franz, Thomas Neise und Philip Verfürth

Zusammenfassung

Während der Struktur- und Formatwandel im deutschen Einzelhandel in der Wissenschaft aber auch in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten große Aufmerksamkeit erfährt, wurden vergleichbare Entwicklungen in der Gastronomie bislang relativ wenig beachtet. Das gilt auch für Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing, die die Gastronomiebranche häufig nicht als Aufgabenfeld angesehen haben. Dies scheint sich in Folge der COVID-19-Pandemie verändert zu haben. Die massiven und kurzfristigen Auswirkungen auf die Gastronomie führten dazu, dass die Lokalpolitik vielerorts das Thema Gastronomie für sich entdeckte und Wirtschaftsförderungen sowie Stadtmarketing schnell Maßnahmen zur Förderung einer Branche im Krisenmodus entwickeln und umsetzen mussten. Basierend auf diesem Trend wird in diesem Beitrag diskutiert, warum sich Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing mit der Gastronomie beschäftigen sollten und welchen Beitrag die Wirtschaftsförderung leisten kann, um die lokale Gastronomie resilienter zu machen. Dabei wird das Konzept der organisationalen Resilienz der Analyse zugrunde gelegt. Die empirische Grundlage des Kapitels besteht aus einer quantitativen Befragung von 623 Gastronomiebetrieben und 46 qualitativen Interviews mit Geschäftsführer:innen und Inhaber:innen von Gastronomiebetrieben sowie verschiedenen Expert:innen.

M. Franz (*) · T. Neise · P. Verfürth Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_4

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M. Franz et al.

4.1 Einleitung „Gastronomie in Bielefeld vor dem Kollaps: Jetzt greift die Stadt ein“ (Uthmann, 2020) oder „Konzept in Kaarst: So will die Stadt die Gastronomie retten“ (Rheinische Post, 2020) – die COVID-19-Pandemie hat nicht nur starke Auswirkungen auf die Gastronomiebranche, in ihrer Folge hat die Gastronomie auch eine Aufmerksamkeit durch Medien und Politik erhalten, die ihr vielerorts vorher lange verwehrt wurde. Zwar haben schon vorher Prozesse des Struktur- und Formatwandels zur Schließung vieler Betriebe geführt (Franz, 2020a), aber erst der Schock durch die COVID-19-Pandemie führte dazu, dass die Bedeutung der Gastronomie für Attraktivität und lokale Ökonomie von Städten sowie der Handlungsbedarf zur Unterstützung der Branche gesehen wurden. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich dieser Beitrag mit vier Fragestellungen, die gleichzeitig den Aufbau des Artikels gliedern: 1. Warum sollten sich Institutionen der Wirtschaftsförderung und des Stadtmarketings mit der Gastronomie beschäftigen? 2. Wie wandelte sich die Gastronomie bereits vor der COVID-19-Pandemie? 3. Wie wirkt sich die COVID-19-Pandemie auf die Gastronomie aus? 4. Was können Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing dafür tun, um die örtliche Gas­ tronomie resilienter gegenüber Krisensituationen zu machen? Dem vorliegenden Beitrag liegt ein Verständnis von Resilienz zu Grunde, das sich an dem Ansatz der organisationalen Resilienz orientiert. Organisationale Resilienz ist die Fähigkeit eines Unternehmens, effektiv situationsspezifische Antworten auf Krisensituationen zu entwickeln und auf plötzliche disruptive Ereignisse, die das Unternehmen potenziell gefährden, so zu reagieren, dass es letzten Endes gestärkt daraus hervorgeht (Lengnick-­ Hall et al., 2011, S. 244). Dabei wird die Resilienz von Unternehmen in einer Krise als Ergebnis nicht nur aktueller Anpassungen, sondern auch kumulierter früherer Erfahrungen aus historischen Strukturveränderungen und Transformationen verstanden (Tsiapa & Batsiolas, 2018, S. 2). Wird der Frage nachgegangen, was Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing für die Förderung der Resilienz von Gastronomiebetrieben tun können, muss zunächst geklärt werden, welche Faktoren die Resilienz von Unternehmen beeinflussen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der kurzfristigen Fähigkeit zur Bewältigung von Krisen und der Fähigkeit, geeignete langfristige Anpassungsstrategien aus der Erfahrung mit Krisensituationen zu entwickeln. Während die Literatur über Krisen in der Gastronomie beschränkt ist, gibt es eine umfangreichere Literatur über die Erfolgsfaktoren oder Gründe für die Schließung von Restaurants und Bars (z. B. Schneider, 2008; Parsa et al., 2011; Le, 2015). Es gilt daher, diesen Literaturstrang mit der allgemeineren Literatur über die Krisenresilienz von Unternehmen in Beziehung zu setzen. Bewältigungsmaßnahmen sind reaktive und inkrementelle Maßnahmen, die darauf abzielen, die negativen Auswirkungen von Schocks zu minimieren (Neise & Revilla Diez, 2019). Tibay et al. (2018) fanden heraus, dass Gaststätten in Auckland zwar auf langsame

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Veränderungen reagieren, aber nur selten erprobte Bewältigungsmaßnahmen für den Fall größerer Schocks haben. Der Grund dafür ist, dass Naturkatastrophen oder andere Schocks nur selten auftreten. Daher ist es notwendig, die Umsetzung von Bewältigungsmaßnahmen zu betonen (Tibay et al., 2018), weil sie auch abseits von Schocks die Wettbewerbsfähigkeit von Betrieben stärken können. Bewältigungsmaßnahmen von Unternehmen sind vielfältig und reichen von Kostensenkungen und verbessertem Marketing bis hin zur (vorübergehenden) Schließung (Biggs et al., 2012). Die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Widerstandsfähigkeit der Unternehmen hängen stark vom Zeitpunkt der Beobachtung ab. Dies wird an den Beispielen von Personalentlassungen und der Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung in Krisensituationen deutlich. Während Entlassungen kurzfristig zum Überleben beitragen können, können sie langfristig die Widerstandsfähigkeit des Unternehmens beeinträchtigen (Gittell et al., 2006). Die Fähigkeit geeignete Anpassungsstrategien aus der Erfahrung mit Krisensituationen zu entwickeln, ist entscheidend für den langfristigen Erfolg von Unternehmen (Berman et  al., 2012). Im Gegensatz zur Bewältigung geht die Anpassung an Krisen häufig mit strukturellen Veränderungen einher, wie etwa der Neuausrichtung des Geschäftsmodells und der Diversifizierung des Produktangebots (Li et  al., 2021). Als Beispiel aus der COVID-­19-Krise ist hier die Einführung von Lieferdiensten durch viele Betriebe zu nennen. Betriebe mit Liefer- und Abholdiensten hatten eine geringeren Umsatzeinbruch zu verzeichnen als Betriebe, die diese Dienstleistungen nicht nutzten (Franz et  al., 2020). Studien verdeutlichen, dass besonders proaktive Anpassungsstrategien einen positiven Einfluss auf die Widerstandsfähigkeit von Unternehmen haben. So zeigen Alonso-­Almeida und Bremser (2013) am Beispiel von Restaurants in Madrid, dass Betriebe mit proaktiven Anpassungsstrategien, wie etwa der Erschließung neuer Marktsegmente und Investitionen in die IT-Infrastruktur, ein Jahr nach der globalen Finanzkrise 2008 wettbewerbsfähiger waren als Betriebe mit reaktiven Anpassungsstrategien. Die Forschung hebt vor allem individuelle und unternehmensbezogene Merkmale und Fähigkeiten hervor, die Einfluss auf die Resilienz von Organisationen haben. Diverse Studien belegen, dass die Ausbildung und die Berufserfahrung von Firmeninhaber:innen und Manager:innen sowie die Unternehmensgröße und das Unternehmensalter einen positiven Einfluss auf die organisationale Resilienz haben (Headd, 2003; Parsa et al., 2005; Kaniovski & Peneder, 2008; Khan & Sayem, 2013; Parsa et al., 2015; Neise et al., 2021). Zudem werden wichtige Merkmale und Fähigkeiten auf Unternehmensebene angeführt. Ein wichtiger Indikator dafür, ob Unternehmen einer Krise standhalten, ist ihre Rentabilität vor der Krise. Wenn Unternehmen diesbezüglich bereits Probleme hatten, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie einem Schock nicht standhalten können (Esteve-Pérez & Mañez-Castillejo, 2008). In der Gastronomie in Deutschland waren bereits vor der Pandemie viele Unternehmen in einer schwierigen Situation, da der Wandel auf der Nachfrageseite und Veränderungen der Rahmenbedingungen durch Regulation und Konkurrenz sie wirtschaftlich unter Druck gesetzt haben (Franz, 2020b; Neise et al., 2021). Für eine starke Widerstandsfähigkeit von Unternehmen ist es aber eine Voraussetzung, dass sie

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Ressourcen (z.  B. technologische, personelle und finanzielle) haben, um die Unternehmensleistung in einer Krise zu erhalten (Conz & Magnani, 2019). Parsa et al. (2015, S. 88) stellen fest, dass „[…] as restaurants get larger and more complex, more resources are likely to be used (financial and human), and there is a greater chance of survival. Relatively small and simple operations, requiring fewer resources and managerial expertise, appear to be more vulnerable to failure“ (Parsa et al., 2011, S. 374). Neben dem Finanzkapital ist auch der Besitz von Immobilien ein wichtiger Einflussfaktor – dies gilt insbesondere für das Gaststättengewerbe (Neise et al., 2021; Verfürth et al., 2022). Wenngleich in der Forschung individuelle und unternehmensbezogene Merkmale und Fähigkeiten hervorgehoben werden, betonen neuere Studien zunehmend die Bedeutung unternehmensexterner Einflussfaktoren für die Widerstandsfähigkeit in Krisensituationen. So untersuchen einige Studien den Einfluss von Standortfaktoren (Andres & Round, 2015; Scuderi et  al., 2020) sowie von regionalökonomischen Faktoren (Tsiapa & Batsiolas, 2018) auf die Resilienz von Unternehmen. Zudem wird der Zugang zu Ressourcen über formelle und informelle Beziehungen zu Akteur:innen außerhalb der Organisation als wichtig erachtet (Stevenson, 2014), denn Krisenbewältigung und strategische Anpassung erfordert vielfach die Koordination über die individuelle Organisation hinaus, etwa mit anderen Unternehmen, Branchenverbänden, der Zivilgesellschaft und politischen Institutionen (Linnenluecke & Griffiths, 2015; Neise et al., 2018). Neben materiellen Ressourcen ist es vor allem der Zugang zu immateriellen Ressourcen wie sozialem Kapital, Wissen und Informationen, der Unternehmen bei der Krisenbewältigung helfen kann, aber auch bei der Entwicklung von Anpassungsstrategien. So argumentieren Marcos & Macaulay (2008), dass externe Beziehungen von Unternehmen als Sensoren fungieren, indem sie Informationen über aufkommende relevante Veränderungen in der Umwelt bereitstellen. Diese Informationen können die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen positiv beeinflussen (Berkhout, 2012). Bisherige Studien lassen somit darauf schließen, dass Unterstützungsmaßnahmen von externen Akteur:innen und Institutionen, wie etwa der Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing, einen wichtigen Faktor dafür darstellen können, ob Unternehmen widerstandsfähig in Krisensituationen sind. Die empirische Grundlage des Kapitels besteht aus einer quantitativen Befragung von Gastronomiebetrieben und qualitativen Interviews. Es wurden 46 qualitative Interviews mit Geschäftsführer:innen und Inhaber:innen von Gastronomiebetrieben sowie verschiedenen Expert:innen, darunter Vertreter:innen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (DEHOGA). Von diesen Interviews wurden 33 vor der COVID-19-Pandemie in den Jahren 2018 bis 2020 geführt, während 13 Interviews während der Pandemie durchgeführt wurden. Die quantitative Befragung wurde in Form einer Online-Befragung durchgeführt. Der Fragebogen enthält Informationen über die Reaktionen auf die COVID-­19-­ Pandemie, die Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung, die Unternehmensleistung vor der Krise und allgemeine Unternehmensmerkmale. Die Umfrage wurde über Wirtschaftsverbände, wie z.  B. die regionalen Gliederungen der Industrie- und Handelskammern (IHK), den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) sowie lokale und ­regionale Wirtschaftsförderungsinstitutionen in Deutschland verteilt. Insgesamt haben

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zwischen dem 19. April und dem 10. Juni 2020 623 Gastronomiebetriebe teilgenommen. Von allen in der Stichprobe enthaltenen Unternehmen befinden sich 36,6 % in ländlichen Gebieten. Die Befragten waren hauptsächlich Eigentümer:innen (81,5 %) oder Geschäftsführer:innen (15,5 %). Von den Befragten in unserer Stichprobe waren 32,4 % weiblich und 67,2 % männlich. Die Befragten waren im Durchschnitt 50 Jahre alt.

4.2 Warum sollten sich Institutionen der Wirtschaftsförderung und des Stadtmarketings mit der Gastronomie beschäftigen? Jahrzehntelang wurde in Deutschland die Auseinandersetzung mit Gaststätten in Wirtschaftsförderung, Stadtmarketing und Stadtentwicklung weitgehend vernachlässigt. Veränderungen in der Gastronomiebranche wurden häufig nur als ein Symbol oder eine Folge von Entwicklungen in der Stadtentwicklung wahrgenommen, aber nicht als ein Arbeitsfeld, mit dem sich Planung, Politik und Wirtschaftsförderung aktiv auseinandersetzen sollten (Pohl, 2010; Pätzold, 2012, 2014). Dies zeigte sich auch in unseren Interviews. So sagte z. B. die Geschäftsführerin der Stadtmarketinginstitution einer norddeutschen Großstadt 2018 im Interview über die Förderung der Gastronomie: „Ich sehe da keine Notwendigkeit, das läuft von alleine.“ Ihr Fokus lag  – wie in vielen Stadtmarketingeinrichtungen  – auf Tourismus und Einzelhandel. In einer vor der COVID-19-Pandemie durchgeführten Online-Befragung von Vertreter:innen von Wirtschaftsförderungen, gaben 36 % der Befragten an, sich bereits mit den Themenfeldern der Nachtökonomie zu befassen, weitere 18 % planten dies in naher Zukunft zu tun. 39 % der Wirtschaftsförderer:innen gaben an, dass sie aktuell und zukünftig kein Engagement in der Nachtökonomie planen (siehe Abb. 4.1; Dorsten & Konermann, 2020, S. 10). Dabei ist zu bedenken, dass

Abb. 4.1  Engagieren Sie sich als Wirtschaftsförderung bereits im Bereich der Nachtökonomie? (n = 226). (Quelle: Dorsten & Konermann, 2020, S. 10)

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die Nachtökonomie nicht nur die Gastronomie, sondern auch z. B. Kulturangebote umfasst (zur Nachtökonomie siehe z. B. Krüger et al., 2015; Schmid, 2018). Das relativ geringe Interesse, das der Nachtökonomie und insbesondere der Gastronomie lange Zeit seitens der Wirtschaftsförderung und des Stadtmarketings entgegengebracht wurde, steht einer großen Bedeutung der Gastronomie für das Image und die Attraktivität von Städten gegenüber. Insbesondere in Zeiten, in denen der stationäre Einzelhandel an Bedeutung für die Entscheidung zum Besuch einer Stadt oder eines Quartiers an Bedeutung verliert, steigt die diesbezügliche relative Bedeutung der Gastronomie. Gaststätten und insbesondere Außengastronomie kann die – im Zusammenhang mit der Attraktivität von Innenstädten viel beschworene (z. B. Baier & Engelen, 2015; Stepper, 2015) – Aufenthaltsqualität steigern (Pätzold, 2014). Die Bücher von Richard Florida (z. B. 2005) zu Creative Cities und der sogenannten Kreativen Klasse haben in Wissenschaft und Praxis das Bewusstsein für die Bedeutung eines attraktiven Gastronomieangebotes als weiche Standortfaktoren für die Anwerbung von Fachkräften und Unternehmen gestärkt. Während dies in Großbritannien und Nordamerika zu einer entsprechenden Beachtung dieses Wirtschaftsbereiches geführt hat, war dies in Deutschland wesentlich weniger ausgeprägt. Aber auch in Deutschland gilt, dass die Entscheidung für einen Wohnort durchaus durch die vorhandenen Gaststätten beeinflusst wird (Lichtblau et al., 2017) und auch für Tourist:innen beeinflusst die Gastronomie die Anziehungskraft von Destinationen (Kivela & Crotts, 2006). „Der Bedeutung des lokalen Nachtlebens als Indikator für Urbanität wird zunehmend nicht mehr nur im Tourismusmarketing, sondern auch im Rahmen des Standortmarketings mit den Zielgruppen Unternehmen und Fachkräfte Rechnung getragen, um damit das Bild einer lebendigen und lebenswerten Metropole zu transportieren“ (Krüger et al., 2015, S. 10). Neben diesen eher weichen Faktoren hat die Gastronomie auch direkte wirtschaftliche Effekte. Gastronomiebetriebe schaffen Arbeitsplätze und stärken die kommunalen Steuer­ einnahmen. Aufgrund der mittelständischen Prägung dieser Branche (Lichtblau et  al., 2017) leben die Betreiber:innen meist im lokalen Umfeld des jeweiligen Betriebes und tragen so zur lokalen Ökonomie bei (Franz, 2020a). Gleichzeitig sind Gaststätten ein verhältnismäßig arbeitsintensiver Wirtschaftsbereich. 2019 waren 1,5 Mio. Menschen in der Gastronomie beschäftigt, 2020 waren es noch 1,3 Mio. Menschen, wobei Arbeitsplätze insbesondere in der getränkegeprägten Gastronomie verloren gingen. Es sind ein Drittel weniger Beschäftigte, die in Kneipen und Bars arbeiten (siehe Tab. 4.1). Durch den Einkauf von Waren und Dienstleistungen für die Gaststätten ergeben sich weitere wirtschaftliche Effekte. Auch durch Kopplungseffekte können Gaststätten Bedeutung für die StärTab. 4.1  Anzahl der Beschäftigen im Gaststättengewerbe in Deutschland. (Jeweils Stichtag 30.9., Quelle: DEHOGA, 2021a, S. 5) Speisegeprägte Gastronomie Getränkegeprägte Gastronomie Gaststättengewerbe insgesamt

Beschäftigte 2019 1.276.648     235.426 1.512.074

Beschäftigte 2020 1.165.433     148.714 1.314.147

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kung eines Standortes haben, da Personen, die eine Gaststätte aufsuchen, oft auch in der Umgebung einkaufen oder andere Dienstleistungen wahrnehmen (Franz, 2020a). Die Gastronomie hat also nicht nur eine direkte wirtschaftliche Bedeutung, sondern wirkt auch als Faktor für Image und Attraktivität von Stadtvierteln und ganzen Städten. Gerade vor dem Hintergrund der sinkenden Anziehungskraft des Einzelhandels und dem Fachkräftemangel sollten Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing dies nicht vernachlässigen und sich aktiv um die Entwicklung dieser Branche kümmern.

4.3 Wie wandelte sich die Gastronomie bereits vor der Corona-­Pandemie? Mit regional deutlich unterschiedlicher Intensität und zeitlichem Ablauf lässt sich in der Gastronomie in Deutschland teils schon seit den 1970er-Jahren ein ausgeprägter Wandel beobachten. Eine deutliche Abnahme der Gastronomiebetriebe geht mit einem Formatwandel einher: Es gibt immer weniger Restaurants und Schankwirtschaften, aber dafür mehr Imbissstuben und Cafés (siehe Abb. 4.2). Parallel dazu gibt es schon länger eine Konzen­ tration von Gastronomiebetrieben in zentralen Lagen, während in der Fläche Schließungen stattfinden. Zuletzt war zu beobachten, dass immer mehr Gastronomiebetriebe in die Innenstädte ziehen (Franz, 2020b). Insgesamt steigt der Anteil der S ­ ystemgastronomie, wobei

Abb. 4.2  Anzahl der Gastronomiebetriebe nach Typen 2010–2020. (Quelle: DEHOGA, 2012, S. 9, 2021a, S. 11)

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diese insbesondere in sehr zentralen Lagen mit hohen Mieten und als nicht-integrierte Freestander in Gewerbegebieten an Hauptstraßen an Bedeutung gewinnen (Schäfer, 2017). Für diesen Wandel lassen sich vielfältige Gründe identifizieren, die lokal unterschiedlich ausgeprägt sind. Zunächst ist hier die veränderte Nachfrage seitens der Konsumenten:innen zu nennen. Der generelle Wandel des Freizeit- und Kommunikationsverhaltens sowie der Arbeits- und Wohnverhältnisse wirkt sich auf die Art und Häufigkeit der nachgefragten gastronomischen Dienstleistungen aus. Die Ansprüche der Gäste an Angebotsbreite, -tiefe und -qualität sowie Platzangebot und Raumgestaltung sind gestiegen. Dies zeigt sich auch in diesem Zitat aus einem Interview mit einem Wirt im Jahr 2018: „Früher hat man einfach ein Bier getrunken oder ‘nen Longdrink, dazu Frikadelle oder Mettwurst, aber heutzutage […] muss man die gesamte Breite anbieten. Und dann sagt mir eine: ‚Früher ging dat aber schneller hier mit der Bedienung‘. Ich sag: ‚Ja, früher haste ja auch keinen Latte Macchiato ohne Koffein mit Karamell bestellt und du wolltest auch dazu nicht die Garnelenspieße‘.“ Zu diesen nachfrageseitigen Effekten kommt die gesunkene Verhandlungsmacht der Wirt:innen gegenüber Brauereien und Großhandelsunternehmen sowie die gewachsene Konkurrenz durch Vereinsheime und großflächige Systemgastronomie. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zunehmende Regulierung und Durchsetzung von Regeln und Gesetzen. Aber es gibt auch Faktoren, die in den Gastronomiebetrieben selbst begründet liegen: die mangelnde Innovationsfähigkeit mancher Betriebe, Personalmangel und die fehlende Betriebsnachfolge, ein Investitionsstau bei gleichzeitig geringer Kapitalausstattung und schwierigem Zugang zu Kapitalgebern sind hier zu nennen. Letzten Endes sind insgesamt die Anforderungen an Wirt:innen gestiegen und es wird immer schwieriger Gastronomiebetriebe als inhabergeführte Einzelbetriebe erfolgreich zu halten (Franz, 2020b). Viele Betriebe befanden sich also schon vor der Pandemie in einer schwierigen Situation. Dies unterstreicht auch das folgende Zitat aus einem Interview mit einem Gaststätteninhaber im Jahr 2020: „Viele in der Gastronomie, die krebsen nur so dahin, das ist ja ganz schlimm, die haben halt ihr Einkommen und fertig. Und wenn dann die Einkommen ausbleiben, dann brennt’s…“ Auf Grund dieser schwierigen Situation ist davon auszugehen, dass viele Betriebe vor der Pandemie über eine geringe Resilienz verfügten. Vor diesem Hintergrund kam es 2020 zu dem durch die COVID-19-Krise ausgelösten Einbruch in der Gastronomie.

4.4 Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Gastronomie aus? Ende Februar 2020 kam zu einem rasanten Anstieg der COVID-19-Ansteckungen in Deutschland. Am 13. März 2020 forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Bürger:innen auf, alle unnötigen Veranstaltungen abzusagen und auf soziale Kontakte zu verzichten. Gleichzeitig wurden in vielen Bundesländern Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen. Dazu gehörte ein Verbot von Großveranstaltungen, was zu Umsatzeinbußen in Bars und Restaurants führte. Am 16. März 2020 beschlossen die Bundesregierung und die Regierungschef:innen der Bundesländer, Bars, Clubs, Diskotheken,

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Kneipen und ähnliche Einrichtungen für die Öffentlichkeit zu schließen. Darüber hinaus wurden für Mensen, Restaurants, Gaststätten und Hotels Maßnahmen beschlossen, die das Risiko der Verbreitung des Coronavirus minimieren. Dazu gehörten eine Regelung der Tischabstände, die Anzahl der Gäste, eine Beschränkung der Öffnungszeiten, Hygienemaßnahmen und Anweisungen. Kurze Zeit später wurden die Auflagen weiter verschärft, nachdem das renommierte Robert-Koch-Institut am 17. März das Risiko für die öffentliche Gesundheit als hoch eingestuft hatte. Die einzelnen Bundesländer führten zwischen dem 17. März 2020 und dem 22. März 2020 weitere Einschränkungen ein. Alle Restaurants und Bars wurden für den Verzehr an Ort und Stelle geschlossen, Mitnahme- und Lieferdienste blieben jedoch erlaubt  – mit verschiedenen Hygieneanforderungen. Zwar wurde die Gastronomie im Mai 2020 nacheinander in den verschiedenen Bundesländern wieder geöffnet, es blieben aber diverse Einschränkungen bestehen, die für die Unternehmen zusätzliche Kosten und geringeren Umsatz bedeuteten. Außerdem reagierten die Konsument:innen auf die weiterhin bestehende COVID-19-Bedrohungslage mit einem zurückhaltenden Konsum in der Gastronomie. So gingen z. B. im Mai 2020 die Umsätze in der Gastronomie durchschnittlich um 53,6 % zur jeweiligen Vorjahresperiode zurück (Destatis, 2020). Ab dem 2. November kam es dann zu einer erneuten Schließung der Gastronomie, die erst im Mai 2021 schrittweise wieder aufgehoben wurde. Insgesamt ging der Umsatz in der Gastronomie in Deutschland 2020 gegenüber dem Vorjahr um rund 17 Mrd. € zurück, dies ist ein Minus von knapp 32 % (siehe Abb. 4.3), wobei die geträn-

Abb. 4.3  Umsatzentwicklung in der speise- und getränkegeprägten Gastronomie zwischen 2011 und 2020. (Quelle: DEHOGA, 2021b)

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kegeprägte Gastronomie mit einem Umsatzeinbruch von fast 50 % wesentlich schlimmer getroffen wurde (DEHOGA, 2021b, o.  S.). Den stärksten Umsatzrückgang erlitten die Schankwirtschaften, während Cateringbetriebe den geringsten Rückgang hatten. Auf derartige Einbrüche sind nur die wenigsten Unternehmen finanziell vorbereitet gewesen, wie sich in den durchgeführten Interviews zeigte: „Wir haben mit sowas überhaupt nicht gerechnet. Man rechnet immer, dass es irgendwelche Einbrüche gibt, wenn die Leute finanziell schlechter gestellt sind […] oder wenn eine Rezension kommt, […] aber so einen gravierenden Einschnitt, […] mit sowas hat man nicht gerecht“. (Interview mit Gastronom, 15.05.2020). Nahezu aller von uns befragten Betriebe haben durch die Coronakrise erhebliche Finanzierungsprobleme erlitten. Zur Linderung der finanziellen Pro­ bleme wurden verschiedene Fördermaßnahmen und Kredite, häufig in Kombination, umfangreich genutzt. Die Darlehen von der Bundesregierung und den Bundesländern („Corona-Hilfe“) wurde von 85 % der befragten Betriebe genutzt. Auch das Kurzarbeitergeld wurde von den Gastronom:innen sehr rege genutzt (77,9 %). Dreiviertel (75,4 %) der Betriebe griff auf Eigenkapital und Betriebsgewinne zurück, welche jedoch mit Andauern der Einnahmeverluste schnell aufgebraucht waren. Viele Gastronom:innen haben nur wenig bis gar keine Rücklagen, der massive Umsatzrückgang hat daher auch starke Auswirkungen auf den privaten Bereich gehabt. Unsere Umfrage zeigte, dass über die Hälfte der Betreiber:innen sich privat stark finanziell einschränken musste. Nur bei 11 % wirkte sich die Krise im privaten Bereich wenig oder gar nicht aus. Die befragten Unternehmen blickten meist pessimistisch in die Zukunft. Sie erwarteten auch langfristig einen geringeren Ertrag, erhöhte Hygienevorschriften, fehlendes Kapital für Investitionen und weniger Kund:innen. Fast 55 % der befragten Unternehmen sahen die Zukunft des Betriebes gefährdet. Bei Unternehmen, die vorher schon einen sinkenden Umsatz hatten, lag der Anteil bei 76 %. Inhabergeführte Unternehmen sind viel gefährdeter als nicht inhabergeführte Unternehmen. Aufgrund dieser Ergebnisse ist damit zu rechnen, dass der Struktur- und Formatwandel in der Gastronomie erheblich verstärkt wird. Die Erfahrungen aus dem Jahr 2020 haben gezeigt, dass die betroffenen Unternehmen vielfältige kurzfristige Bewältigungsmaßnahmen nutzen. Wie Biggs et al. (2012) bereits festgestellt haben, können solche Maßnahmen von Kostensenkungen über Marketingaktivitäten bis hin zu (vorübergehenden) Schließungen reichen. Manche der Maßnahmen, die kurzfristig hilfreich sind, können allerdings nicht intendierte Langfristfolgen für die Resilienz der Betriebe haben. Dies wird an den Beispielen von Personalentlassungen und der Inanspruchnahme staatlicher Kredite während der Krise deutlich. So führten die Entlassungen während der Gastronomieschließungen zu Personalmangel vieler Gastronomiebetriebe nach der erneuten Eröffnung und die Aufnahme von Krediten während der Krise ermöglichte zwar die Zahlungsfähigkeit, belastete aber anschließend dauerhaft die Finanzsituation der Betriebe. Unsere Befragung während der ersten COVID-19-Welle zeigte, dass 41 % der befragten Betriebe versuchten, die weggebrochenen Umsätze abzufedern, indem sie ihre Waren geliefert bzw. Abholung ermöglicht haben. Über 30  % haben dies aufgrund der COVID-­19-­ Pandemie neu eingeführt, wobei Abholangebote überwogen. Betriebe, welche Abhol- bzw.

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Abb. 4.4  Wirkung von Liefer- und Abholdienste auf Umsatzrückgang im April 2020. (Daten: eigene Erhebung)

Lieferdienste angeboten haben, erlitten einen geringeren Umsatzrückgang (82,6 %) als Betriebe ohne solche Angebote (95,4 %; vgl. Abb. 4.4), obgleich dies nicht heißt, dass das Angebot profitabel war. Im ländlichen Raum war der Anteil an Betrieben (36,8  %) mit Abhol- und Lieferdiensten erstaunlich ähnlich hoch wie in Städten (40,1 %). Zugleich gaben die Befragten aber auch an, dass sich insbesondere Lieferdienste auf dem Land kaum lohnen, da die Distanzen zu lang sind und die Nachfrage gering ist. Demzufolge wurde vornehmlich das Abholen am Wochenende oder an Feiertagen angeboten. Gleichzeitig hat die Mehrzahl der befragten Betriebe während der ersten COVID-19-Welle keine Abholoder Lieferdienste angeboten, da der Aufwand, das Angebot umzustellen, zu groß war: „Wenn du das professionell machst, brauchst du spezielles Geschirr, wo du dann versiegeln kannst, weil sie’s mitnehmen oder was. […] Deswegen hab’ ich mir gedacht, wenn wir nur vier Wochen zu haben, fang’ ich da nicht mit an. […] Weil dann mittendrin zu investieren, war mir auch nicht grad der Sinn danach“. (Interview mit Gastronomen, 20.05.2020).

Insbesondere für die getränkeorientierte Gastronomie waren Abhol- und Lieferdienste aufgrund ihrer Produkte schwer bis gar nicht umzusetzen. Dort, wo eine Einführung stattfand, konnte die kurzfristige Bewältigungsmaßnahme der Einführung von Lieferdienstund/oder Abholmöglichkeiten auch eine dauerhafte strategische Neuausrichtung von Betrieben darstellen.

4.5 Was kann Wirtschaftsförderung dafür tun, die örtliche Gastronomie resilienter gegenüber Krisensituationen zu machen? In der COVID-19-Pandemie haben zahlreiche Kommunen unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um kurzfristig die Bewältigungsfähigkeit ihrer Gastronomiebetriebe zu stärken. Dazu gehört, dass Kommunen öffentliche Gebühren, Abgaben und Steuern ausgesetzt

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oder erlassen haben, um den Betrieben zu helfen. Dies gilt insbesondere für die Sondernutzungsgebühren für die Außengastronomie – Beispiele sind hier Bremen, Dresden und Lübeck. Wirtschaftsförderungen haben auch Informationen für Betriebe bereitgestellt. Gerade lokale Gastronom:innen mit kleinen Betrieben sowie solche mit Migrationshintergrund sind oft nicht Mitglied in der DEHOGA, ihnen fehlen Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten. Hier kann die Wirtschaftsförderung durch die Bereitstellung von Informationen helfen. Eine weitere Fördermöglichkeit ist die Ausweitung der Außengas­ tronomie – z. B. durch die (temporäre) Umwidmung von Parkplätzen, um die Einkommensmöglichkeiten zu verbessern. Diese Möglichkeit wurde von vielen Kommunen in der Pandemie kurzfristig umgesetzt – beispielsweise in Mannheim, wo es diesbezüglich schon vor COVID-19 erfolgreiche Feldversuche gab. Auch Sperrzeitverkürzungen in der Außengastronomie könnten den Betrieben zusätzliche Umsätze ermöglichen. Da Letzteres häufig in Konflikt mit den Pandemiemaßnahmen gesehen wurde, ist es in der Pandemiezeit aber kaum zu Sperrzeitverkürzungen gekommen (im Gegenteil: zum Teil wurden Sperrzeiten ausgeweitet, um Kontakte einzudämmen). Neben solchen kurzfristigen Maßnahmen sollten Kommunen zunächst eine Gastronomiestrategie bzw. -konzept entwickeln, um die Resilienz des Gaststättensektors zu stärken (Jones et al., 2003). Während es für den Einzelhandel bereits in sehr vielen deutschen Kommunen Konzepte gibt, die meist sogar konkrete Vorgaben für Ansiedlungsmöglichkeiten machen, gibt es solche Konzepte in Bezug auf die Gastronomie bislang in Deutschland so umfänglich nicht. Allerdings haben einzelne Kommunen Strategien zur Förderung von Gastronomie und/oder Nachtleben entwickelt (z.  B.  Mannheim unter dem Slogan Ausgehstadt, siehe Schmid, 2018) oder entsprechende Aspekte in Konzepte zur Entwicklung ihrer Innenstädte oder bestimmter anderer Quartiere aufgenommen (z. B. das Innenstadtkonzept Hannover City 2020, siehe Krüger et  al., 2015). Im Ausland finden sich bereits weiterführende Beispiele für Gastronomie- bzw. Nachtökonomie-Konzepte und Strategien. So verabschiedete die Stadt Bern bereits 2013 das Konzept Nachtleben Bern und die Stadt Zürich erklärte das Nachtleben 2016 zum Strategie-Schwerpunkt (Schmid, 2018). Generell sollten Kommunen in ihren relevanten Abteilungen die Expertise über die Problemlagen und Erfordernisse der Gastronomie stärken und den Wissensaustausch fördern (Krüger et al., 2015). In der COVID-19-Pandemie hat sich gezeigt, dass in vielen Kommunen das notwendige Know-how fehlte, um die plötzlich geforderten Unterstützungsmaßnahmen für die Gastronomie zu entwickeln. Innerhalb der Verwaltung sollten klare Zuständigkeiten für die Gaststättenbranche benannt werden. Das gilt sowohl in ­Bezug auf die Klärung von Fragestellungen innerhalb der Verwaltung, auch um Zielkonflikte zu vermeiden (Krüger et al., 2015), als auch in Bezug auf das Vorhandensein von einheitlichen Ansprechpartner:innen für die Gastronomiebetriebe. Es ist durchaus problematisch, dass sich in den meisten Kommunen Gastronomieunternehmer:innen ständig wechselnden Ansprechpartner:innen und unterschiedlichsten Zuständigkeiten gegenüber sehen. Dies erschwert die Kommunikation und auch die Entwicklung des Gaststättensektors und birgt gerade in Krisensituationen die Nachteile der Kommunikationsverlangsa-

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mung und Erhöhung der Transaktionskosten für die Unternehmen. Um die Kommunikation mit den Branchen der Nachtökonomie und deren Repräsentanz in einer Kommune zu stärken, wird in immer mehr Kommunen das Amt der Nachtbürgermeisterin oder des Nachtbürgermeisters eingeführt. Mannheim war 2018 die erste Stadt in Deutschland, die eine solche Schnittstelle zwischen den Akteur:innen des Nachtlebens und der Stadtverwaltung eingerichtet hat. Problematisch ist dabei, dass es sich häufig um Personen aus dem Nachtleben handelt, denen die direkten Einblicke in die Verwaltung und ihre Abläufe fehlen. Um diesem Problem zu begegnen ist die Stadt Stuttgart 2021 einen besonderen Weg gegangen: Neben der Position des Nachtbürgermeisters (die dort Nachtmanager heißt) wurde die Position des Projektleiters in der Koordinierungsstelle Nachtleben eingerichtet. Mit dieser Tandemlösung soll sichergestellt werden, dass eine Schnittstelle zwischen privaten und öffentlichen Interessen gebildet wird, die Insiderwissen von beiden Seiten verbindet und gleichzeitig eine direkte Verbindung in die Verwaltung darstellt. Wie oben bereits argumentiert können formelle und informelle Beziehungen zu Akteur:innen außerhalb der Unternehmen einen wichtigen Zugang zu Ressourcen sicherstellen (Stevenson, 2014) und damit die Resilienz von Unternehmen stärken. Dabei ist neben materiellen Ressourcen der Zugang zu immateriellen Ressourcen wie sozialem Kapital, Wissen und Informationen wichtig, um den Betrieben sowohl bei der kurzfristigen Krisenbewältigung als auch bei Entwicklung von Anpassungsstrategien zu helfen. Gerade die Vernetzung ist bei inhabergeführten Gastronomiebetrieben oft gering. Sie sind z.  B. zu einem wesentlich geringeren Anteil in Werbe- oder Standortgemeinschaften organisiert, als dies bei Einzelhandelsunternehmen der Fall ist. Zwar sind sehr viele Gaststätteninhaber:innen Mitglied in der DEHOGA, diese tritt aber nur selten als Interessenvertretung auf lokaler Ebene auf und vor Ort wirkt sie nur selten vernetzend (Interviews mit Inhabern von Gaststätten und Vertreter:innen der DEHOGA). Um die Netzwerkbeziehungen und den Wissenstransfer von Gastronomieunternehmen zu stärken, sollten Kommunen bzw. ihre Einrichtungen für Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing regelmäßige Foren zum Austausch zwischen Betreiber:innen von Gaststätten schaffen. Mögliche Formate sind z. B. Gastronomie-Stammtische oder Vortragsveranstaltungen, in denen aktuelle Entwicklungen und Innovationen vorgestellt werden. Solche Formate können einerseits dazu dienen, den Wissenstransfer und die Kommunikation zwischen den Betrieben, andererseits aber auch die Kommunikation zwischen Wirtschaftsförderung/Stadtmarketing und Gastronom:innen zu steigern. So kann es auch zu einem Aufbau von Vertrauen und einem Abbau von Konflikten kommen. Wenn Gaststättenagglomerationen bestehen, sollte über die Etablierung von formalisierten Standortgemeinschaften nachgedacht werden. Einen möglichen Ansatz bietet das Konzept des Business Improvement Districts wie es zum Beispiel in Bochum für die Gaststättenagglomeration Bermudadreieck genutzt wird. Business Improvement Districts bieten die Möglichkeiten einer Finanzierung von Maßnahmen, des verbesserten Managements der Gaststättenagglomeration und der Stärkung der Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteur:innen (Franz, 2020a). Auch das Angebot von niedrigschwelligen Schulungen kann sinnvoll sein. Ein mögliches Thema ist die Digitalisierung. Der Umgang mit der COVID-19-Krise hat den Trend

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zur Digitalisierung in der Gastronomie verstärkt. In der Folge werden Anbieter:innen von digitalen Lösungen und Anbieter:innen von Lieferdienstleistungen zunehmend Umsätze abschöpfen, welches insbesondere Betriebe mit einer geringen Preismarge benachteiligen wird. Dies kann auch zu neuen Abhängigkeiten führen. Die Unternehmen sollten diesbezüglich mit Schulungen und der Organisation von Erfahrungsaustausch unterstützt werden. Die Durchführung von Veranstaltungen wie Festivals oder Stadt(teil)festen kann nicht nur dazu beitragen, das Image von den entsprechenden Standorten zu verändern und die Akzeptanz bei der ansässigen Wohnbevölkerung zu steigern (Krüger et al., 2015; für eine kritische Perspektive siehe Redepenning et al., 2016), sondern ist auch dazu geeignet, die Einkommensbasis von ortsansässigen Gaststätten zu stärken. Problematisch ist, dass dabei bislang oft hauptsächlich große Gastronomiebetriebe oder Getränkehändler:innen eingebunden werden. Im Sinne einer Förderung eines vielfältigen Angebots und einer Stärkung der Resilienz der lokalen Betriebe sollten möglichst unterschiedliche lokale Gastronomiebetriebe eingebunden werden. Zudem sollten Gaststätten bei der Organisation der Betriebsnachfolge unterstützt werden. In vielen Kommunen unterstützen die Wirtschaftsförderungsinstitutionen Unternehmern bei der Suche nach einer Betriebsnachfolge – entsprechende Angebote gelten bislang aber nicht immer für Gastronomiebetriebe. Sie sollten auf diese ausgeweitet werden (Franz, 2020a).

4.6 Fazit In diesem Beitrag konnte gezeigt werden, wie verheerend sich die COVID-19-Pandemie auf die Gastronomiebranche auswirkt. Zwar haben die betroffenen Unternehmen mit vielfältigen Bewältigungsmaßnahmen und Anpassungsstrategien auf die Krise reagiert, jedoch blicken die meisten Unternehmen pessimistisch in die Zukunft. Viele Unternehmen verfügten schon vor der Pandemie über eine geringe Resilienz, d.  h. über eine geringe Fähigkeit auf Krisensituationen zu reagieren und Anpassungsstrategien zu entwickeln. Die Gründe für die schon vor der Pandemie häufig schwierige Situation der Gastronomiebetriebe sind vielfältig. Zum einen sind Veränderungen auf der Nachfrageseite zu nennen: Der umfangreiche Wandel des Freizeit- und Kommunikationsverhaltens sowie der Arbeits- und Wohnverhältnisse hatte deutliche Auswirkungen auf die Art und Häufigkeit der nachgefragten gastronomischen Dienstleistungen. Gleichzeitig waren die Ansprüche der Gäste an Angebotsbreite, -tiefe und -qualität sowie Platzangebot und Raumgestaltung gestiegen. Neben diesen nachfrageseitigen Effekten wirkten Regulationseinflüsse sowie Branchen- und z. T. unternehmensinterne Faktoren. Bedeutend sind hier die gesunkene Verhandlungsmacht der Gastronomiebetriebe gegenüber Brauereien und Großhandelsunternehmen, die geringe Kapitalausstattung bei schwierigem Zugang zu Krediten, die gewachsene Konkurrenz, die zunehmende Regulierung und Durchsetzung von Regeln und Gesetzen, mangelnde Innovationsfähigkeit mancher Betriebe, Personalmangel und die fehlende Betriebsnachfolge. Vor diesem Hintergrund wirkte die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. Der Umsatz der Betriebe brach massiv ein und ohne staatliche Hilfen hätte wohl kaum ein Betrieb überlebt.

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Dass es in vielen Kommunen Handlungsbedarf gibt, um die Resilienz der Gastronomiebetriebe zu stärken, wurde häufig erst durch die verheerende Wirkung der COVID-­19-­ Pandemie deutlich, während zuvor der eher schleichende Struktur- und Formatwandel der Branche kaum wahrgenommen wurde. Neben den Hilfsmaßnahmen von Bund und Ländern wurden in der COVID-19-Pandemie vielerorts auch Maßnahmen von Kommunen ergriffen, um kurzfristig die Bewältigungsfähigkeit ihrer Gastronomiebetriebe zu stärken. Dies beinhaltete z. B. die Aussetzung von Gebühren und Abgaben, die Bereitstellung von Informationen und die Ermöglichung einer Ausweitung der Außengastronomie. Auch wenn die akute Bedrohung durch die Pandemie vorbei ist, sollten kommunale Wirtschaftsförderungs- und Stadtmarketinginstitutionen die Gastronomiebranche nicht wieder aus dem Fokus verlieren. Die Bedeutung der Gastronomie für die (wirtschaftliche) Entwicklung von Städten – die jahrzehntelang unterschätzt wurde – ergibt sich nicht nur aus den direkten wirtschaftlichen Effekten, sondern wirkt auch als Faktor für Image und Attraktivität von Stadtvierteln und ganzen Städten. Insbesondere vor dem Hintergrund der sinkenden Anziehungskraft des Einzelhandels für die Innenstädte und der zunehmenden Bedeutung der Attraktivität von Städten für die Anwerbung von ausreichend Fachkräften sollten Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing dies nicht länger vernachlässigen und dazu beitragen, die Gastronomiebranche resilienter gegenüber kommenden Krisen zu machen. Um die Resilienz von Unternehmen in der Gastronomiebranche zu stärken, sollte eine Gastronomiestrategie bzw. ein diesbezügliches -konzept erstellt werden, oder die Beachtung dieser Branche in Innenstadt- oder Einzelhandelskonzepten gewährleistet sein. Die Entwicklung geeigneter Standortbedingungen für die Gastronomiebranche kann dauerhaft zur Resilienz der Betriebe beitragen. Generell ist es notwendig die Gastronomie-Expertise in Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing zu stärken und klare Zuständigkeiten für die Gaststättenbranche zu benennen. Ein möglicher Ansatz ist die Ernennung einer Nachtbürgermeisterin oder eines Nachbürgermeisters, die/der aber die Gastronomie als Ganzes beachten sollte. Sinnvoll erscheint der Ansatz einer Doppelspitze aus Personen mit Gastronomie- und mit Verwaltungshintergrund. So können Kommunikationshemmnisse abgebaut und Kompetenzen aufgebaut werden, die in Krisensituationen schnellere und kompetentere Reaktionen erlauben und dauerhaft dazu beitragen, die Resilienz der Gastronomiebranche zu stärken. Zudem können formelle und informelle Beziehungen zu Akteur:innen außerhalb der Unternehmen einen wichtigen Zugang zu Ressourcen sicherstellen. Gerade bei inhabergeführten Gastronomiebetrieben ist die Vernetzung oft gering, was zu einem schlechteren Zugang zu Wissen und Ressourcen führt. Um die Netzwerkbeziehungen und den Wissenstransfer zwischen den Betrieben, andererseits aber auch die Kommunikation zwischen Wirtschaftsförderung/Stadtmarketing und Gastronom:innen zu steigern, sollten Kommunen Foren zum Austausch zwischen Betreiber:innen von Gaststätten schaffen. Ein guter Wissenstransfer kann die Anpassungsfähigkeit und Innovationsfähigkeit und damit letzten Endes die Rentabilität und Resilienz der Unternehmen stärken. Zudem sollten Gaststätten bei der Organisation der Betriebsnachfolge unterstützt werden, um zu verhindern, dass eigentlich rentable und resiliente Betriebe geschlossen werden und so das Gastronomieangebot in der jeweiligen Kommune unnötig geschwächt wird.

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Prof. Dr. Martin Franz  ist seit 2014 Professor für Humangeographie mit wirtschaftsgeographischem Schwerpunkt an der Universität Osnabrück. Zuvor war er an der Ruhr-Universität Bochum, der Philipps-Universität Marburg und der Universität Bayreuth tätig. Er beschäftigt sich unter anderem mit den Zusammenhängen aus Stadtentwicklung und dem Wandel in der Gastronomie. Wie Unternehmen aus verschiedenen Branchen strategisch mit Risiken umgehen, ist ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit.

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Dr. Thomas Neise  ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück, wo er an seinem Habilitationsprojekt zu Risiken in globalen Produktionsnetzwerken arbeitet. Von 2006 bis 2013 studierte er Humangeographie mit den Nebenfächern Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Potsdam und der Friedrich-­Schiller-­Universität in Jena. Von 2014 bis 2019 arbeitete er am Geographischen Institut der Universität zu Köln, wo er 2018 mit einer Arbeit zu Anpassungsstrategien von Unternehmen an Überschwemmungen und ihre möglichen Auswirkungen auf die regionale Wirtschaftsentwicklung in indonesischen Städten promovierte. Dr. Philip Verfürth  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Osnabrück. Im Jahr 2015 war er als Gastwissenschaftler am Institut für Geographie der Universität Ankara tätig. In seiner Promotion untersuchte Philip Verfürth die Rolle von hochqualifizierten (Re-) Migranten in multinationalen Unternehmen. Seit 2020 forscht er zur digitalen Transformation der Logistikbranche und zur Resilienz von Gastronomiebetrieben in deutschen Städten und Regionen.

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Klimarisiken in der Logistikbranche Felix Bücken

Zusammenfassung

Der Beitrag widmet sich den Folgen des Klimawandels unter besonderer Berücksichtigung der daraus resultierenden Risiken für die Logistikbranche. Obwohl sich der Klimawandel auch in Mitteleuropa zunehmend in Form von Extremwetterereignissen zeigt, handelt es sich für viele Unternehmen um etwas Abstraktes, dessen konkrete Folgen nicht eingeschätzt werden können. Insbesondere in der Logistik können sich Klimarisiken jedoch sehr schnell zu einem konkreten Problem für die Geschäftstätigkeit entwickeln – mit drastischen Folgen für gesamte Wirtschaftsstandorte. Eine strategische Herangehensweise, die diesem Umstand Rechnung trägt, lassen viele Unternehmen bislang jedoch vermissen. Aus einer standardisierten Befragung, mit der die relative Bewertung unterschiedlicher Klimarisiken ermittelt wurde, und dem Dialog mit Logistikunternehmen wird deutlich, dass die in der Forschung identifizierten Risikopotenziale und die wahrgenommene Betroffenheit der Betriebe stark voneinander abweichen. Aus dieser Diskrepanz ergibt sich für die Wirtschaftsförderung die Herausforderung, Unternehmen darin zu unterstützen, negative Konsequenzen, die sich aus einem Wandel in ihrem Umfeld ergeben, zu antizipieren und somit Krisen auf Ebene einzelner Betriebe, aber auch auf größerer Maßstabsebene, zu verhindern.

F. Bücken (*) Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_5

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F. Bücken

5.1 Einleitung Wirtschaftliches Handeln unterliegt zunehmenden Unsicherheiten und Risiken. Unternehmen werden immer häufiger mit Herausforderungen konfrontiert, deren Entstehung und Tragweite sich nicht durch strategische Entscheidungen des Managements beeinflussen lassen. Bedrohungen durch Terror oder der Zusammenbruch von Finanzmärkten oder ganzen Wirtschaftszweigen können nicht durch betriebliche Maßnahmen verhindert werden. Die Folgen stellen Unternehmen jedoch vor teils unlösbare Probleme. Die Form, die eine Störung vertrauter Prozesse und eingespielter Routinen annimmt, kann dabei durchaus unterschiedlich sein. Während punktuelle Ereignisse, wie Umweltkatastrophen oder Börsencrashs, ein unmittelbares Handeln erfordern, stellen langsam voranschreitende, graduelle Entwicklungen – sogenannte Slow Burns – Unternehmen vor anders gelagerte Herausforderungen (Pendall et al., 2010). Beim globalen Klimawandel handelt es sich um eine derartige Entwicklung. Obwohl sich der Klimawandel auch in Mitteleuropa zunehmend in Form von Extremwetterereignissen zeigt, handelt es sich für viele Unternehmen um etwas Abstraktes, dessen konkrete Folgen nicht eingeschätzt werden können (Günther, 2009). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit Risiken, die durch die Folgen des Klimawandels hervorgerufen werden, ist kaum auf Grundlage statischer Prozesse realisierbar. Für physische Schäden an gebauter Umwelt, mit denen Klimarisiken vor allem assoziiert werden, mag das in Teilen noch möglich sein. Nicht möglich ist es jedoch für die Risiken, die sich durch Veränderungen rechtlicher Rahmenbedingungen im Sinne des Klimaschutzes und der Klimaanpassung ergeben. Auch der Zugang zu Märkten oder die Reputation eines Unternehmens kann durch Klimarisiken beeinflusst werden. Der bei diesen Risiken vorherrschende hohe Grad an Interdependenzen führt schließlich dazu, dass Organisationen mit Risiken konfrontiert sind, deren Quelle und Wirkung sie nicht mehr ohne weiteres überblicken können (Starr et al., 2003). Vor diesem Hintergrund thematisiert der vorliegende Beitrag die Folgen des Klimawandels unter besonderer Berücksichtigung der daraus resultierenden Risiken für Unternehmen. In Abhängigkeit der strukturellen Eigenschaften der Unternehmen, ihrer Geschäftsprozesse und ihrer zentralen Geschäftsmodelle können sich Klimarisiken zu einem konkreten Problem für die Geschäftstätigkeit entwickeln. Eine strategische Herangehensweise, die diesem Umstand Rechnung trägt, lassen viele Unternehmen bislang jedoch vermissen. Organisationen, die eine Unterstützung kommunaler oder regionaler Wirtschaftsräume zum Ziel haben, können in diesem Zusammenhang wichtige Impulse setzen, die Unternehmen dazu anregen, die eigene Betroffenheit durch den Klimawandel stärker zu analysieren und z. B. Klimafolgen in das strategische Risikomanagement zu integrieren. Als Akteure, die über umfassendes Wissen sowohl über spezifische Standortbedingungen als auch über globale Trends und sich verändernde ökonomische Rahmenbedingungen verfügen, können Wirtschaftsförderungen dazu beitragen, mehr Transparenz hinsichtlich konkreter Schadenpotenziale herzustellen und Hilfestellungen bei der betrieblichen Risikoidentifikation zu leisten. Durch die Förderung der Risikobetrachtung der Unternehmen tragen sie so zur zukunftsrobusten Ausrichtung ihres Wirtschaftsstandortes bei (Fink & Jürgensmeier, 2020).

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Aufgrund ihrer besonderen Betroffenheit durch Klimafolgen wird die Logistikbranche als Fallbeispiel herangezogen. Aus einer branchenorientierten Herangehensweise ergibt sich ein Mindestmaß an Homogenität betrieblicher Prozesse und organisationaler Strukturen. Allgemeine Aussagen zur Betroffenheit eines Wirtschaftszweiges werden dadurch möglich. Die Betrachtung der Logistik ist zudem aus zwei Gründen relevant: Zum einen sind Beeinträchtigungen des Transportsektors bisher nur in wenigen Fällen Gegenstand empirischer Studien (Koetse & Rietveld, 2009, 2012). Zum anderen hat die F ­ unktionsfähigkeit der Logistik, aufgrund ihrer für andere Branchen unterstützenden Rolle, eine besondere Bedeutung. Werden Logistikunternehmen in ihren Prozessen gestört, so hat das unmittelbare Konsequenzen für weite Teile der Industrie (McKinnon et al., 2017). Dieser Beitrag verfolgt daher das Ziel, die Wahrnehmung von Klimarisiken seitens der Logistikbranche genauer zu charakterisieren. Darauf aufbauend werden Defizite in der Risikobetrachtung aufgezeigt und Unterstützungsbedarfe auf Seiten der Wirtschaft abgeleitet. Nachdem im nachfolgenden Abschn. 5.2 dieses Beitrags der Einflussfaktor Klima erörtert und eine Typisierung von Klimarisiken vorgestellt wird, erfolgt anschließend eine genauere Betrachtung der Logistik. Dabei wird auf Möglichkeiten zur Abgrenzung des Wirtschaftszweigs, den Bedeutungszuwachs der Branche und ihre besondere Vulnerabilität gegenüber dem Klimawandel eingegangen. Abschn. 5.4 erläutert die der Untersuchung zugrunde liegende Methodik. Im anschließenden Abschn. 5.5 werden die Ergebnisse des vorgenommenen Risikoassessments und der Betroffenheitsanalyse dargelegt. Daran anknüpfend konkretisiert Abschn. 5.6, welche Rolle der Wirtschaftsförderung in Anbetracht der Ergebnisse zukommen kann. Der Beitrag schließt mit einem Fazit.

5.2 Klimafolgen und Typisierung von Klimarisiken Die durch das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) veröffentlichten Daten zeigen sehr deutlich, dass die Folgen des Klimawandels (kurz: Klimafolgen) rund um den Globus bereits heute messbar sind (Linnenluecke & Griffiths, 2015). Bezug nehmend auf die Arbeit der Munich Re weist Hoeppe (2016) auf die Trendkurve der globalen Katastrophen zwischen 1980 und 2014 hin. Hier wird ein Anstieg an Schadenereignissen um das Dreifache ausgewiesen, der vor allem auf extreme Wetterereignisse zurückzuführen ist. Diese Entwicklung zeigt sich auch in Deutschland. Der GDV (2019) erklärt starke Überschwemmungen sowie lang anhaltende Hitzeperioden und schwere Stürme für charakteristische Ausprägungen des Klimawandels in Deutschland. Die Ereignisse im Ahrtal im Sommer 2021 unterstreichen diesen Trend auf tragische Art und Weise. Die bisherige Auseinandersetzung mit dem Klimawandel – sowohl im wissenschaftlichen, wie auch im öffentlichen Diskurs – ist sehr stark geprägt von der Zielsetzung, diesen Wandel aufzuhalten, sprich: Klimaschutz zu betreiben. Im Mittelpunkt steht dabei die Vermeidung von CO2-Emissionen. Hierbei handelt es sich zweifellos um eine Zielsetzung von allerhöchster globaler Relevanz. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits heute, auch im Falle einer radikalen Reduktion von CO2-Emissionen, weitrechende Klimafolgen auftreten werden: „Most aspects of climate change will persist for many

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centuries even if emissions of CO2 are stopped“ (IPCC, 2013, S. 2). In der Konsequenz erzeugen Klimafolgen bereits zum jetzigen Zeitpunkt Risiken für alle Teile der Gesellschaft. Während für private Haushalte die körperliche Unversehrtheit und das eigene Hab und Gut ganz unmittelbar betroffen sind (Mahammadzadeh et al., 2013), führen Klimafolgen für Unternehmen zu Geschäftsrisiken (Neise et al., 2021). So verändern sich Kostenund Marktstrukturen in Abhängigkeit von Klimarisiken auf sehr dynamische Art und Weise. Auch Risiken, die aus staatlichen Regulierungen im Sinne des Klimaschutzes erwachsen, wirken sich schon heute auf betriebliche Realitäten aus (Onischka, 2009). Aufgrund der sehr unterschiedlichen Eigenschaften verschiedener klimabezogener Risikotypen, hat sich eine Reihe von Ansätzen zur Strukturierung und Kategorisierung etabliert. Onischka (2009) präsentiert dahingehend eine Einteilung, die über eine hohe Kompatibilität zum betrieblichen Risikomanagement verfügt, und entsprechend in die Praxis der Unternehmensberatung Einzug gefunden hat. Demgemäß sind Unternehmen mit fünf Typen von Klimarisiken konfrontiert: Physische Risiken umfassen unmittelbare Schäden an Sachwerten, also z. B. Schäden an Produktionsanlagen oder Gebäuden. Regulative Risiken entstehen hingegen aufgrund einer sich verändernden Gesetzgebung. Hier spielen vor allem Regulierungen, die auf eine Verbesserung des Klimaschutzes abzielen eine wichtige Rolle. Naheliegendes Beispiel für den Transportsektor sind Mobilitätseinschränkungen für Nutzfahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Die dritte Kategorie umfasst Wettbewerbsrisiken. Hiermit sind Risiken gemeint, die durch die Veränderung von Marktsituationen entstehen. Beispielsweise besteht das Risiko, dass ein Unternehmen Kund*innenbeziehungen einbüßt, wenn es nicht in der Lage ist, bestimmte Zertifikate vorzuweisen, die konkrete Klimaschutz- oder Klimaanpassungsmaßnahmen belegen. Das Unternehmen erleidet durch die plötzlich aufkommenden Anforderungen von Auftraggeber*innen oder Partner*innen einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Unternehmen, die in diesem Feld bereits aktiv sind. Hier schließen Reputationsrisiken an. Offenbart ein Unternehmen klimaschädliches Verhalten oder agiert mit wenig nachhaltigen Produkten oder Strategien am Markt, so besteht das Risiko, an Reputation einzubüßen. Negative Konsequenzen für die Marktposition sind die Folge. Letztlich bestehen in Folge des Klimawandels Klagerisiken. Hiermit sind Risiken gemeint, die durch etwaige Kosten entstehen, wenn Unternehmen aufgrund umweltschädlichen Verhaltens auf Schadenersatz verklagt werden (Onischka, 2009). Neben dieser verhältnismäßig detaillierten Kategorisierung hat sich eine Einteilung in nur zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen von Klimarisiken etabliert: Physische Risiken und Transitionsrisiken. Wie gehabt gehen Physische Risiken unmittelbar auf extreme Wetterereignisse zurück. Weiter unterschieden werden sie in direkte Risiken (Sachschäden oder Produktivitätsverluste) und indirekte Risiken (z. B. Störungen betrieblicher Prozesse durch Unterbrechungen von Lieferketten). Unter Transitionsrisiken fallen viele der zuvor benannten Risiken nicht-physischer Art. Sie entstehen infolge des gesellschaftlichen Wandels hin zu einer emissionsärmeren und nachhaltigeren Wirtschaft. Die Beispiele für potenzielle Beeinträchtigungen bestehender Strukturen und Prozesse in Unternehmen sind hierbei vielfältig, lassen sich aber grob in drei Bereiche untergliedern: Politikbezo-

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gene Risiken entstehen durch veränderte Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln. Für die Anpassung an neue Regeln sind Ressourcen aufzuwenden, die ggf. nicht in ausreichendem Umfang vorhanden sind. Technologiebezogene Risiken kommen zum Tragen, wenn die Leistungserstellung eines Unternehmens auf Verfahren oder Techniken beruht, die nicht mit Klimazielen vereinbar sind. Marktbezogene Risiken adressieren schließlich die von einem Unternehmen angebotenen Güter und Dienstleistungen. Gehen diese mit einem nicht zu tolerierenden Ausmaß an Emissionen einher, oder verbrauchen unverhältnismäßig viel Ressourcen, besteht das Risiko, die Marktposition zu verlieren. Hierbei ist sowohl die Wahrnehmung der Angebotsqualitäten seitens der Nachfrager*innen als auch die konkrete Gesetzgebung für das Entstehen der Risiken verantwortlich (Europäische Zentralbank, 2020; Umweltbundesamt, 2020a). Ergänzend zu dieser Präzisierung lassen sich finanzwirtschaftliche Risiken anführen, unter denen vor allem das Versicherungsrisiko drastisch an Relevanz gewinnt (Co2ncept Plus, 2020). So ist es möglich, dass aufgrund der zunehmenden Wahrscheinlichkeit und Tragweite von physischen Schäden, bestimmte Sachwerte nur noch zu deutlich höheren Kosten von Versicherungen abgedeckt werden oder gar nicht mehr versicherungsfähig sind (Onischka, 2009). Hinsichtlich der Relevanz der unterschiedlichen Risikotypen ist zu beachten, dass Klimarisiken über eine räumliche und eine branchenbezogene Dimension verfügen. Die Wahrscheinlichkeit, von physischen Risiken betroffen zu sein, ist abhängig von der Vulnerabilität des Unternehmensstandortes. Z. B. ist Gewerbe in Nachbarschaft zu Fließgewässern oder in Senken überproportional gefährdet durch Hochwasser (Co2ncept Plus, 2020). Aber auch Transitionsrisiken können räumlich unterschiedlich ausgeprägt sein. Da sich Gesetze innerhalb unterschiedlicher administrativer Grenzen unterscheiden, variiert auch die Verteilung von Regulierungen, die Unternehmen mit Kosten konfrontieren und/oder Veränderungen von Betriebsabläufen notwendig machen. Können z.  B.  Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor nur noch in bestimmten Regionen verkehren, so ergibt sich daraus ein konkretes Marktrisiko. Da innerhalb bestimmter Wirtschaftszweige vergleichbare Prozesse abgewickelt werden, ist die Bedeutung von Klimarisiken mitunter branchenabhängig. Für das Beispiel der Logistik kann angenommen werden, dass Schäden an Infrastrukturen, die den Transport von Gütern erschweren, ein wesentlich höheres Geschäftsrisiko sind, als z. B. für den Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen. Das Beispiel der Logistik wird nachfolgend näher in den Blick genommen.

5.3 Logistik – Bedeutungszuwachs und besondere Betroffenheit durch Klimarisiken Weisen Unternehmen ähnliche Aktivitäten auf und bieten vergleichbare Waren oder Dienstleistungen an, die sich an eine vergleichbare Nachfrage (Unternehmen oder private Akteure) richten und auf ähnlichen Kompetenzen und Wissen beruhen, so sind diese Unternehmen einem gemeinsamen Wirtschaftszweig zugehörig (Coenen & Díaz López, 2010). Die Unternehmen einer Branche stehen entsprechend im Wettbewerb zu anderen Unter-

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nehmen ihrer Branche, da sie teils substituierbare Produkte oder Dienstleistungen anbieten. Für die Logistikbranche ist diese grundsätzlich austauschbare Leistung „das Transportieren, Lagern und Umschlagen von Waren und Gütern und die dazugehörenden Aufgaben zur Optimierung von Material- und Informationsflüssen entlang von Wertschöpfungsketten“ (Zanker, 2018, S. 15). Unternehmen, die sich auf die Erbringung einer oder mehrerer ­Arten von Logistikdienstleistungen spezialisiert haben, lassen sich als Logistikdienstleister bezeichnen (Aoyama & Ratick, 2007). Jene auf den ersten Blick simpel erscheinenden Dienstleistungen sind in den vergangenen Jahren zunehmend komplexer geworden. So umfasst Logistik heute vielmehr auch das Management und die Planung von Lieferketten und die Optimierung von Prozessen im Sinne der Auftraggeber*innen. In der Folge sind Logistikunternehmen in zunehmendem Umfang in die Produktions- und Vertriebsprozesse der Industrie integriert (Coe, 2014). Auch wenn hierdurch vermehrt analytische Kompetenzen gefragt sind, ist Logistik dennoch im Kern eine Low-Tech-Industrie (Hirsch-­Kreinsen, 2008). Zielgerichtete Aktivitäten im Bereich Forschung und Entwicklung finden in der Logistik kaum statt. Vielmehr besteht ein ausgeprägter Fokus auf der Optimierung bestehender Prozesse und in der Adaption von Technologien, die diese Optimierung ermöglichen oder erleichtern (vgl. Abschn. 5.5). Die tatsächliche Bedeutung der Logistikbranche anhand statistischer Kennzahlen zu bemessen, ist nicht einfach. Da sich Logistik über die Klassifikation der Wirtschaftszweige nicht direkt fassen lässt, ist es erforderlich, Unternehmen, die die oben genannten Dienste anbieten, zu einem Querschnittssektor zusammenzufassen (Noppe & Plehwe, 2007; Schwemmer, 2018). Diesem kann ein bundesweiter Umsatz im Jahr 2018 von 268 Mrd. €, der von über drei Millionen Beschäftigten erwirtschaftet wurde, zugeschrieben werden (BMVI, 2019, S. 3). Hinter der Automobilproduktion und dem Handel rangiert die Logistik somit an Rang drei der größten Wirtschaftszweige Deutschlands (Schwemmer, 2018). Das Wachstum der Logistikwirtschaft steht in enger Verbindung zu einem grundlegenden Wandel von Wirtschafts- und Konsumformen. Wichtigste Treiber des Bedeutungszuwachses der Logistik sind der Trend zum Outsourcing von Logistikfunktionen und die räumliche Dispersion der Wertschöpfung im Kontext der Globalisierung. Die Ausgliederung von Prozessschritten in der Wertschöpfung resultiert in zweierlei Hinsicht in einer Zunahme der Nachfrage nach Logistikdienstleistungen, denn sie umfasst nicht nur das Herauslösen von Transport- und Lagerungsaufgaben aus dem Betrieb, sondern auch die vertikale Desintegration von Fertigungsschritten (Aoyama et al., 2006). Weiterhin befeuert das Aufkommen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien die Ausprägung komplexer Netzwerke aus Lieferant*innen, Auftragnehmer*innen und zwischengeschalteten Dienstleister*innen (Hesse & Rodrigue, 2004; Hesse, 2020). Letztere sind zunehmend auch für die Koordinierung von Wertschöpfungsprozessen verantwortlich (Garbe & Hempel, 2015). Auch die Diversifizierung von Produkten führt zu einer gesteigerten Bedeutung der Logistik. Die Lieferentfernungen werden kürzer, die Produktvielfalt nimmt zu, und mehr Produkte werden in kleineren Mengen verkauft (Gružauskas & Vilkas, 2017). So führt der Trend zur „konsumentenorientierten Produktindividualisierung […] zu einer Atomisierung von Lieferungen“ (Neiberger, 2015, S. 78), die sich nicht zu-

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letzt in der Zunahme des E-Commerce widerspiegelt. Der Wandel im Logistiksektor drückt sich aber auch in Form baulicher Strukturen aus. Entwicklung und Ausbau von Umschlagterminals an See- und Binnenhäfen und die Entstehung großer Logistikparks in strategisch günstigen Lagen, unterstreichen die Nachfrage nach logistischen Dienstleistungen (Coe, 2020; McKinnon et al., 2017) und machen den Zuwachs an Logistik für eine breite Öffentlichkeit sichtbar. Eine im Landschaftsbild präsente Logistik wird jedoch selten positiv aufgenommen, wird sie doch vor allem mit Emissionen, geringer Flächenproduktivität und einem ausgeprägten Niedriglohnsektor in Verbindung gebracht (Voß, 2015; Garbe & Hempel, 2015). Diese Faktoren bewirken eine überaus kritische Haltung politischer Entscheidungsträger*innen, Behörden und auch Wirtschaftsförderungseinrichtungen zur Ansiedlung von Logistikunternehmen oder zur Erweiterung von Bestandsunternehmen. Ungeachtet der oftmals nachvollziehbaren Kritikpunkte ist jedoch anzuerkennen, dass eine funktionierende Logistik ein zentraler Erfolgsfaktor für andere Wirtschaftszweige ist: „In addition to being an important sector in its own right, logistics strongly influences the economic performance of other industries and the countries in which they are located“ (McKinnon et al., 2017, S. 1). Es drängt sich die Frage auf, wie es angesichts zunehmender Klimarisiken um die Leistungsfähigkeit der Logistikbranche bestellt ist. Eine Studie der World Bank (2020) betont, dass die Fähigkeit von Logistiksystemen, auch unter Beeinflussung durch drohende Umwelteinwirkungen ein Mindestmaß an Kontinuität bereitzustellen, von enormer Wichtigkeit für die Stabilität ganzer Volkswirtschaften ist. Daher lohnt ein Blick auf die besondere Betroffenheit der Logistik gegenüber Klimarisiken. Unternehmen der Logistikbranche sind aufgrund verschiedener struktureller und funktionaler Eigenschaften besonders betroffen von den Folgen des Klimawandels. Gilt für Industrie und Gewerbe allgemein, dass Störungen von Lieferketten, extremwetterbedingte Flutschäden an Gebäuden und gesundheitliche Folgen von Hitzestress am Arbeitsplatz negative Auswirkungen für Unternehmen erzeugen (HLNUG, 2021), fallen diese Konsequenzen im Logistiksektor tendenziell drastischer aus. Mahammadzadeh et al. (2013) folgern sogar, dass die Logistikbranche die am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffene Branche ist – sofern neben direkten Klimarisiken auch indirekte Risiken in die Bewertung einbezogen werden. Einer dieser Faktoren ist in der Abhängigkeit der Logistik von funktionsfähigen Infrastrukturen begründet. Auch wenn der Wandel in der Logistik mitsamt der zunehmenden Digitalisierung von Prozessen dazu beiträgt, dass die Branche heute nicht mehr auf das Transportieren von Waren reduziert werden kann, ist es doch in der Praxis der meisten Unternehmen das Zentrum ihrer Dienstleistung (Zanker, 2018). Störungen an Infrastrukturen, die durch veränderte oder verschobene Muster von Extremwetterereignissen hervorgerufen werden, treffen die Logistik daher ganz unmittelbar (Koetse & Rietveld, 2009). Zwar kann ein Rückgang bestimmter Wetterlagen durchaus auch zu einer Erleichterung von Verkehren beitragen (z. B. Rückgang von Einschränkungen durch Schnee und Eis), in den meisten Fällen ist aber mit einer Zunahme an temporären Störungen und somit einer Reduktion der Leistungsfähigkeit zu rechnen (Umweltbundesamt, 2020a). Für die Logis-

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tik ergibt sich dadurch die Herausforderung, vorhandene Redundanzen in der Infrastruktur zu identifizieren und in die Geschäftsprozesse zu integrieren (Kirshen et al., 2019). Konkret äußert sich das im steigenden Aufwand für die Planung von Routen. Der überwiegende Teil der im Logistiksektor tätigen Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere Betriebe, greifen für ihre Geschäftstätigkeit vor allem auf den Verkehrsträger Straße zurück (Pütz, 2014). Zugleich kommt dem wassergebundenen Transport steigende Aufmerksamkeit zuteil. Während die Entwicklung der Seeschifffahrt vor allem im Kontext globalisierter Wertschöpfung zu sehen ist, rückt die Binnenschifffahrt meist dann in den Fokus, wenn es um Ansätze zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen und zur Vermeidung von Transporten auf der Straße geht (Neiberger, 2015). Maritime Infrastrukturen, sowohl auf dem Meer in Form von Wasserstraßen als auch landgebunden, in Form von Häfen, sind drastischer und häufiger beeinträchtigt durch Sturmfluten. Zudem tragen die an Kraft gewinnenden Gezeitenströmungen zu verstärkter Sedimentation bei. Infolgedessen steigt der Aufwand für Ausbaggerungen und Verkehre auf dem Wasser werden erschwert (Umweltbundesamt, 2021). Störungen, des vor allem im Hinblick auf den Transport von Schüttgütern relevanten Binnenschiffverkehrs, ergeben sich hingegen vor allem durch langanhaltende Trockenheitsperioden und daraus resultierende Niedrigwasser. Da Phasen niedrigen Pegels oft länger anhalten, sind sie aus wirtschaftlicher Sicht meist wesentlich relevanter als Hochwasserereignisse (Koetse & Rietveld, 2009). Das Umweltbundesamt (2021) prognostiziert hierzu eine Zunahme an jährlichen Niedrigwassertagen pro Jahr, auf den für die Logistik besonders wichtigen Wasserstraßen Rhein und Donau, von bis zu 100 % bis zum Jahr 2050 – sofern keine weitreichenden Maßnahmen zur Klimaanpassung unternommen werden. Die Verdopplung der Wahrscheinlichkeit eines Komplett­ ausfalls eines Verkehrsträgers, für den praktische keine Redundanzen vorhanden sind, sorgt zwangsläufig dafür, dass ein Umstieg von Straße auf Binnenschiff nur unter besonderen räumlichen Voraussetzungen und im Falle besonderer Geschäftsmodelle realistisch ist. Die zunehmend kleinteiligere, auf Just-In-Time Prozesse ausgelegte Logistik, bedingt somit eine Bevorzugung des Verkehrsmittels Lkw und die Nutzung öffentlicher Straßeninfrastruktur (Neiberger, 2015). Liegt die Verantwortung für die Vorbeugung und Beseitigung von Störungen von Straßen bei öffentlichen Akteure (Koetse & Rietveld, 2012), so fallen Finanzierung und Unterhalt des Transportmittels Lkw in die Zuständigkeit der Unternehmen. Die Fahrzeuge sind – wie die von der Versicherungswirtschaft herausgegebenen Zahlen zeigen – immer häufiger in Folge von Extremwetterereignissen von Schäden betroffen. So haben sich die Versicherungsleistungen nach Überschwemmungen sowie Sturm, Hagel- und Blitzschlag von 2018 auf 2019 beinahe verdoppelt (GDV, 2019; Umweltbundesamt, 2020b). Auch wenn der finanzielle Schaden für Unternehmen zunächst durch die Versicherung abgefedert wird, ergibt sich doch eine signifikante Störung des Tagesgeschäfts und zusätzlicher administrativer Aufwand in der Abwicklung der Fälle mit Versicherungen oder Leasinggebern. Neben direkten Schäden, die durch die Einwirkung von Extremwettern auf Fahrzeuge entstehen, spielt auch die steigende Wahrscheinlichkeit für Unfälle eine relevante Rolle. Zum einen steigern Starkregenereignisse die Gefahr für Aquaplaning und zum anderen beeinflusst zunehmende Hitze das Unfallgeschehen, wenn

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Schäden an Fahrbahnoberflächen auftreten und Kraftfahrer*innen erhöhtem Hitzestress ausgesetzt sind (Stern & Zehavi, 1990). Ein anderer Aspekt der besonderen Betroffenheit der Logistik geht auf die räumlichen Strukturen zurück, die konventionelle Logistiknutzungen erzeugen. Weisen Industrie- und Gewerbeflächen ohnehin einen verhältnismäßig hohen Anteil versiegelter Flächen auf, ist er bei Logistikstandorten besonders hoch: Die Grundstücke und die darauf befindlichen Gebäude sind überdurchschnittlich groß und auch die zusätzlich vorhandenen Verkehrsflächen nehmen viel Fläche ein (Garbe & Hempel, 2015). Diese Merkmale tragen zur Ausprägung von Hitzeinseln bei (Riechel, 2021). In der Folge entstehen Schäden an Gebäuden und es kommt zu einem erhöhten Aufwand für die Klimatisierung von Büros und die Isolierung und Kühlung von Lägern (HLNUG, 2021). Im Detail ist hierbei mit zunehmenden hitzebedingten Schäden an Dächern und Fassaden sowie sogenannten Blow-Ups, also aufbrechenden Asphaltoberflächen, zu rechnen. Die umfassende Versiegelung, die zurückhaltende Begrünung und die für den Schwerlastverkehr konzipierten Außenanlagen von Logistikstandorten machen sie zudem empfindlich gegenüber Wasser (Gregori & Wimmer, 2011). In Folge von Starkregenereignissen kann Oberflächenwasser nicht versickern, dringt in die Hallen ein und beschädigt mitunter nicht nur die Immobilien, sondern auch die Lagergüter der Kund*innen. Da Lagerrisiken nur selten beim produzierenden Unternehmen liegen, sind Logistikdienstleister somit auch mit dem Risiko des Verlustes von Aufträgen oder Kund*innenbeziehungen konfrontiert (Rollinger & Salzmann, 2015). Darüber hinaus besteht insbesondere in Nachbarschaft zu landwirtschaftlich genutzten Flächen die Gefahr, dass es zu weitreichenden Verschmutzungen der Betriebsflächen durch Bodenabtrag kommt (Weller et al., 2016). Des Weiteren gehen die in einem konventionellen Gewerbegebiet vorherrschenden mikroklimatischen Bedingungen mit erhöhter gesundheitlicher Belastung einher. Das Gewerbe-­Klimatop ist geprägt von geringer Luftfeuchtigkeit, gestörter Belüftung und einem ausgeprägten Hang zur Bildung von Hitzeinseln (VMBW, 2012). Diese Faktoren unterstützen das Aufheizen von Hallen, Büros, Außenanlagen und Fahrzeugen, wodurch sich auch die Arbeitsbedingungen für die Belegschaften verschlechtern (HLNUG, 2021). Gut gemeinte Ad-hoc-Maßnahmen wie das Bereitstellen von Getränken oder flexiblere Pausenregelungen vermögen die Reduktion der Leistungsfähigkeit unter Hitzestress kaum zu kompensieren. Neben hitzebedingten Produktivitätseinbußen und der Zunahme menschlicher Fehler und Unfälle, steigt so auch die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Folgen und entsprechender krankheitsbedingter Ausfälle. In einer Branche, die den Fachkräftemangel als eine ihrer zentralen Herausforderungen ansieht (Schwemmer, 2018), wirken sich die schlechter werdenden Arbeitsbedingungen negativ auf die Bindung der Mitarbeitenden und die Rekrutierung von Personal aus und stellen somit einen unmittelbar geschäftsschädigenden Faktor dar. Analog zur bereits erwähnten Versicherung von Fahrzeugen, führt auch die steigende Wahrscheinlichkeit für Schäden an Immobilien zu höheren Prämien. Dabei betrachten die Versicherungen die Zunahme der Häufigkeit und der Intensität von Extremwetterereignissen naturgemäß wesentlich genauer als die versicherten Unternehmen. In der Konsequenz steigen die Kosten für Versicherungen signifikant an (Linnenluecke & Griffiths, 2015). An besonders exponierten Standorten ist es sogar mög-

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lich, dass sich bestimmte Ereignisse überhaupt nicht mehr oder nur zu exorbitanten Prämien versichern lassen (Onischka, 2009; Umweltbundesamt, 2019a). Die besondere Vulnerabilität der Logistikwirtschaft ist nicht nur für die Branche selbst problematisch. Die Anfälligkeit des Sektors für Extremwetterereignisse erzeugt neben ­direkten und indirekten Kosten für die Logistikunternehmen auch Unsicherheiten in anderen Bereichen. Vor allem die Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse im verarbeitenden Gewerbe und im Handel sind hier zu nennen. Nur wenn Logistik auch unter schwierigen Bedingungen funktionsfähig ist, können andere Wirtschaftszweige ihre Leistungserstellung aufrechterhalten, Versorgungsengpässe vermieden und öffentliche Sicherheit gewährleistet werden. In keinem anderen Wirtschaftszweig sind die Verflechtungen zu anderen Branchen so ausgeprägt und Netzwerkeffekte durch komplexe interorganisationale und internationale Lieferketten so erheblich, wie in der Logistik (Umweltbundesamt, 2020a; Koetse & Rietveld, 2009; Linnenluecke & Griffiths, 2015). Demzufolge sollte die Unterstützung eines Wirtschaftsstandortes auch immer die Zielsetzung beinhalten, die regionale Logistiklandschaft funktionsfähig zu halten. Da insbesondere der industrielle Mittelstand in großem Umfang Logistikaufgaben an regional agierende Speditionen abgibt, ist eine leistungsfähige Logistik unmittelbarer Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsstandorten (Hesse, 1998). Auch wenn es zweifellos Branchen gibt, die einen höheren Anteil hoch qualifizierter Beschäftigter aufweisen, über eine höhere Flächenproduktivität verfügen und stärkere Gewerbesteuereffekte hervorrufen, ist Logistik doch von hoher Bedeutung für intakte wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Wirtschaftsförderung tut daher gut daran, sich trotz der Argumente, die gegen die Branche sprechen, für ein qualitativ hochwertiges und dauerhaft zukunftsfähiges Logistiksystem einzusetzen. Dabei kann auch ein genauerer Blick auf bestehende Netzwerke der Betriebe und ihre Relevanz für den Wirtschaftsraum lohnen, wenn Aktivitäten und Initiativen, die der Branche zugutekommen, angesichts ihres schlechten Images, in Frage gestellt werden.

5.4 Methodik Im Hinblick auf die Zielsetzung dieses Beitrags wird auf zwei unterschiedliche methodische Bausteine zurückgegriffen. Zum einen dient eine 2021 durchgeführte, deutschlandweite Online-Befragung unter Logistikunternehmen der Identifikation von Relevanzzuschreibungen unterschiedlicher Klimarisiken. Insgesamt nahmen 154 Logistikunternehmen an der standardisierten Befragung teil. Neben der direkten Ansprache via E-Mail, für die eine Recherche über verschiedene Logistik-Datenbanken Verwendung fand, war die Unterstützung durch Kammern und Logistikinitiativen maßgeblich für die Verbreitung der Umfrage. Es wurde auf die Methode des Risikoassessment zurückgegriffen, die auch von Müller et  al. (2020) mit spezifischem Blick auf maritime Logistik angewendet wurde. Dabei sind die Befragten aufgefordert, konkrete Risiken hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und der Höhe ihrer Konsequenz zu bewerten. Um die Befragten mit konkreten, mit dem betrieblichen Alltag in Relation zu setzenden Risiken zu konfrontieren, wurden zehn Klimarisiken konkret benannt. Tab. 5.1 liefert einen Überblick der verwendeten

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Tab. 5.1  Erläuterung und Kategorisierung von Klimarisiken Risiko Schäden an Gebäuden

Schäden an Flächen

Schäden an Infrastrukturen

Leistungsabfall des Personals

Fahrverbote

Zwang zur Nutzung neuer Antriebskonzepte Steigende Kosten für Projektentwicklungen

Zertifizierungsgebote

Steigende Kosten für Versicherungen

Widerstand gegen Ansiedlung und Erweiterung

Erläuterung Hitzeschäden an Dächern, Wassereinbruch in Folge von Starkregenereignissen, Schäden durch Schneelast, Stromausfall oder Brand durch Blitzschlag, Schäden durch Sturmböen Blow-Ups auf Betriebsflächen, Überspülung, Verschmutzung durch Bodenabtrag Straße, Wasser, Schiene und Luft werden durch Klimafolgen wie z. B. Starkregen, Sturm, Schnee, Hoch- und Niedrigwasser stark beeinträchtigt und büßen an Leistungsfähigkeit ein Aufheizen von Räumen und Flächen bei unzureichender Klimatisierung und starker Versiegelung (Bildung von Hitzeinseln) Einschränkung der Lkw-­ Nutzung auf öffentlichen Straßen im Sinne des Klimaschutzes Gebote zur Nutzung oder einseitige Förderung alternativer Antriebskonzepte

Kategorie Physisch

Quelle (Weller et al., 2016)

Physisch

(Weller et al., 2016)

Physisch

(Umweltbundesamt, 2019a)

Physisch

(Marx, 2017)

Regulatorisch (Zanker, 2018)

Regulatorisch (Stadt Osnabrück, 2017; Umweltbundesamt, 2019a; Zanker, 2018) Regulatorisch (BafFin, 2019; Garbe & Hempel, 2015)

Planungsrechtliche Auflagen z. B. zur Dachbegrünung, Regenrückhaltung oder Entsiegelung treiben Kosten Auftraggeber*innen setzen Transitorisch (Umweltbundesamt, Zertifizierungen im Bereich der 2019b; Castka & Klimafolgenanpassung voraus Prajogo, 2013) Aufgrund steigender Transitorisch (Umweltbundesamt, Klimarisiken erhöhen sich die 2019a; Onischka, Versicherungsbeiträge 2009; Linnenluecke & Griffiths, 2015) Transitorisch (Neumeier, 2015) Zunehmende Ablehnung von Logistikansiedlungen und Standorterweiterungen durch Behörden sowie öffentliche Kritik

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Risiken sowie der in der Befragung vorgenommenen Erläuterung. Auf Grundlage dieser Erläuterungen wurden die Unternehmen gebeten, die Risiken gemäß einer fünfstufigen, bipolaren Likert-Skala zu bewerten. Als zweite Methode zur Identifikation von Wahrnehmungen und Bewertungen von Klimafolgen wurde im Oktober 2019 ein Workshop mit Logistikunternehmen aus der Region Osnabrück abgehalten. Mit der Veranstaltung, die in einem der beteiligten Logistikunternehmen stattfand, war es möglich, direkte Erfahrungen der Logistikbranche mit Klimarisiken aufzudecken und gemeinsam zu besprechen. In drei thematisch unterschiedlich gelagerten Diskussionsrunden wurden so Betroffenheiten und auf andere Betriebe übertragbare oder verallgemeinerbare Lösungsansätze erörtert. Insgesamt nahmen zwölf Unternehmen aktiv an der Veranstaltung teil. Im Vorfeld des Workshops wurden darüber hinaus fünf explorative Interviews mit Logistikunternehmen geführt. Die Interviews zielten darauf ab, Diskussionsleitlinien zu entwickeln und das Thema Klimafolgen in der Logistik grundlegend zu strukturieren. Die Gespräche wurden transkribiert und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Die in Abschn. 5.5 angeführten Aussagen sind Zitate aus diesen Interviews.

5.5 Klimarisiken in der Logistik – Wahrnehmung latenter Bedrohungen Zur Charakterisierung der Wahrnehmung von Klimarisiken durch die Logistikbranche bietet sich zunächst ein Blick auf die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeiten und Konsequenzen der jeweiligen Risiken an (Abb. 5.1). Hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeiten offenbart sich eine deutliche Unterscheidung zwischen physischen Risiken auf der einen und regulatorischen und transitorischen Risiken auf der anderen Seite. Während Sachschäden und die physische Beeinträchtigung der Belegschaft für verhältnismäßig unwahrscheinlich gehalten werden, erachten die Unternehmen Veränderungen von Rahmenbedingungen und Risiken, die infolge des gesellschaftlichen Wandels zu einer emissionsärmeren und nachhaltigeren Wirtschaft entstehen, für wahrscheinlicher. Die Bewertung liegt hier im Bereich mittel bis hoch. Dabei sind es nicht der im öffentlichen Diskurs überaus präsente Erlass von Fahrverboten, sondern die Kosten für zukünftige Projektentwicklungen, die als wahrscheinlichste Folge angesehen werden. Diese Wahrnehmung kann auch als Hinweis auf das aktuell stark ausgeprägte Wachstum der Branche interpretiert werden: Investitionen in Logistikimmobilien, also auch der Erwerb von Flächen und der Neubau und die Ertüchtigung von Lagerkapazitäten, stehen bei einem Großteil der Betriebe auf der Agenda (Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, 2020). Hierbei mit umfassenderen Auflagen konfrontiert zu sein, ist aktuell bereits betriebliche Realität und Gegenstand betriebswirtschaftlicher Berechnungen. Auf die Frage, wie stark sich das Eintreten eines Risikos auf die Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit auswirkt, zeigt sich insgesamt ein höheres Bewertungsniveau. Fahrverbote werden hierbei als besonders schwerwiegende Einschränkung erachtet. Nicht mehr

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4,50 4,00 3,50 3,00 2,50 2,00 1,50 1,00 0,50

0,00

n = 154 sehr gering = 1 gering = 2 mittel = 3 hoch = 4 sehr hoch = 5

Wahrscheinlichkeit

Konsequenz

Abb. 5.1  Risikoassessment Klimafolgen in der Logistik

vollumfänglich auf öffentliche Infrastrukturen zugreifen zu können, wird als besonders massive Störung der Geschäftstätigkeit angesehen. Zudem unterstreicht diese Bewertung die massive Abhängigkeit der Branche vom Verkehrsträger Straße. Ein Zwang, Verkehre nachhaltiger zu gestalten und z.  B. auf alternative Antriebsformen zurückzugreifen, ist hingegen deutlich weniger belastend für das Geschäft. Die als wahrscheinlich erachteten, steigenden Kosten für Projektentwicklungen bringen verhältnismäßig geringe Konsequenzen mit sich. Hier zeigt sich, dass Kosten für Immobilien zumindest in Teilen auf Kund*innen bzw. Auftraggeber*innen umlegbar sind. Sofern es nicht zu verzerrten Wettbewerbsbedingungen kommt, hat dieses Risiko keine herausragende Bewandtnis. Im Austausch mit den Unternehmen wurde deutlich, dass Fragen, die in Verbindung mit dem Klimawandel stehen, sehr stark auf Maßnahmen zum Klimaschutz projiziert werden. Die Äußerungen der Beteiligten tendierten durchweg in Richtung der Darstellung

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bestehender Maßnahmen zum Ressourcenschutz und zur Effizienzsteigerung. Demnach wird die Zielsetzung, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen, vor allem auf das ­Mindern der Folgen des Klimawandels ausgerichtet. Das Schonen von Ressourcen, die Reduktion von Emissionen und die dafür erforderlichen Aktivitäten zur Steigerung der Effizienz von Prozessen stehen im Zentrum des Interesses: „[Effizienzsteigerung] ist eines unserer Kerngeschäfte. Also der Logistiker […] lebt durch Optimierung, durch Effizienz, durch Ausnutzen der letzten Möglichkeiten, der täglichen Verbesserung […]. Machen wir alles schon sehr intensiv“. Ausgangspunkt der Aktivitäten ist nicht zuletzt das Bewusstsein darüber, von Akteuren außerhalb der Branche vor allem mit Emissionen in Verbindung gebracht zu werden. Das Engagement für den Klimaschutz zielt auch auf eine Imageverbesserung ab: „Von daher haben wir eigentlich als Logistiker immer gesagt, wir müssen was tun für die Umwelt, wir müssen was tun an unserem Image […] wir sind da wirklich erpicht darauf, was zu unternehmen, um eine bessere Umwelt zu schaffen, […] für die Region was zu tun und so weiter […]. Man kann als Spediteur auch eine Menge tun und das ist uns halt wichtig“. Es lässt sich festhalten, dass die Logistik für ökologische Themen durchaus stark sensibilisiert ist. Ressourcenschonung und Effizienzgewinne lassen sich in vielen Bereichen mit Einsparungen in Einklang bringen, sodass sich für die Unternehmen eine Win-win-Situation ergibt, die auch aus rein betriebswirtschaftlicher Perspektive angestrebt wird. Diese Blickrichtung trägt jedoch nicht dazu bei, Risiken für die eigene Geschäftstätigkeit zu identifizieren. Die Logistik betrachtet ihre Auswirkungen auf die Umwelt, nicht jedoch die Auswirkungen ihrer Umwelt auf ihre Geschäftstätigkeit. Die eigene Betroffenheit gerät durch den ausgeprägten Fokus auf Ressourcenschonung und -effizienz in den Hintergrund. Weiterhin sehen sich die Unternehmen für die Betrachtung physischer Risiken kaum in der Verantwortung. Mit Blick auf die von ihnen genutzten Hallen und Flächen unterliegen sie der Annahme, dass ein Einhalten planerischer Vorgaben automatisch Immobilien hervorbringt, die hinreichend auf aktuelle und zukünftige Erfordernisse des Klimawandels ausgelegt sind. Das gilt sowohl für die Berücksichtigung von Klimarisiken in Bebauungsplänen als auch für die Auslegung von Infrastrukturen: „Die Infrastruktur wird seitens der der Städte oder der Länder so geplant, dass es funktioniert“. Darüber hinaus werden die vorhandenen baulichen Strukturen, vor allem im Vergleich zu denen in anderen Ländern, als verhältnismäßig robust wahrgenommen: „Man kann sich nicht gegen alles schützen und wenn die Kanalisation voll ist, […] dann steht’s halt mal auf der Straße, das ist in südlichen Ländern ganz normal, die haben nicht einmal eine Kanalisation, da steht’s immer auf der Straße“. Die passive Haltung der Unternehmen beruht auf der Annahme, dass bestehende Regulierungen auch angesichts zunehmender Extremwetterereignisse geeignet sind, dafür Sorge zu tragen, dass Klimafolgen nicht zu betrieblichen Beeinträchtigungen führen: „Das ist einfach schon dahin geplant, das macht ja die Stadtplanung“; „wir sind nicht darauf vorbereitet, wir gehen damit um, was die Gesetze vorgeben“. Die passive Haltung der Branche gegenüber Regulierungen im allgemeinen und planerischen Vorgaben im speziellen eröffnet mitunter Chancen hinsichtlich der Steuerung von Transforma-

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tionsprozessen. Besteht politischer Konsens dahingehend, dass mit den Instrumenten der Planung Klimarisiken reduziert werden sollen, so ist seitens der Unternehmen zumindest eine Haltung erkennbar die sich als gleichgültige Akzeptanz umschreiben lässt. Für die Wirtschaftsförderung kann diese Einstellung für die Entwicklung zukünftiger Ansiedlungs- und Vergabekriterien relevant werden. Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels, z. B. in Form von Begrünung, Entsiegelung oder privater Regenrückhaltung, können als Kriterien für die Vergabe von Gewerbegrundstücken konzeptualisiert werden. Auch entsteht der Eindruck, dass selbst sehr konkrete Forderungen, Maßnahmen zu ergreifen, wie sie durch Festsetzungen in Bebauungsplänen formuliert werden können, eine Investitionsentscheidung kaum hemmen. Das bedeutet gleichwohl, dass der Wirtschaftsförderung die Aufgabe zukommt, Festsetzungen und Kriterien in Bezug auf Klimarisiken zu erklären und den Nutzen der Maßnahmen zur Reduktion betrieblicher Risiken zu erläutern. Selbst die heute schon deutlich spürbaren Konsequenzen des Klimawandels sind bisher kaum in das Bewusstsein der Unternehmen vorgedrungen: „Wo die Halle steht, da war vorher eine Wiese […]. Dass [sich] letztendlich durch eine Versiegelung von Flächen das Klima hier ändert, […] das merke ich gar nicht so bewusst“. Bezüglich der für die Logistik besonders relevanten öffentlichen Infrastrukturen ergibt sich ein überraschendes Bild, das sich jedoch mit den Ergebnissen der standardisierten Befragung deckt: Störungen der Leistungsfähigkeit der Straßeninfrastruktur sind ein gewöhnliches Phänomen, dessen Zunahme als relativ wahrscheinlich angesehen wird. Die negativen Auswirkungen dieser Störungen sind allerdings verhältnismäßig gering: „Wenn Strecken nicht genutzt werden können, weil da gerade was überflutet ist, dann nutzen wir halt andere Strecken“. Die Leistungsfähigkeit des Verkehrsträgers Straße genügt offenbar, um im Falle einer Überflutung die Geschäftsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Letztlich erachten die Unternehmen derartige Ereignisse als einen von vielen Faktoren, die zu einem Zeitverlust führen können, besondere Bedeutung wird ihm nicht beigemessen. Vor wirtschaftlich relevante Probleme gestellt sehen sich die Unternehmen erst, wenn Auftraggeber*innen konkrete Forderungen hinsichtlich der Betrachtung von Klimarisiken formulieren. So berichteten die Unternehmen aus der Zusammenarbeit mit Großunternehmen von Vertragsbedingungen, in denen Maßnahmen zur Reduktion der Wahrscheinlichkeit von Schäden durch Extremwetter zur Bedingung von Auftragsvergaben gemacht werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das Thema zu adressieren, obwohl derzeit keine direkte Betroffenheit für das Unternehmen festgestellt wird: „Und somit haben wir mit Großkunden zu tun, die einen auffälligen Druck an uns weitergeben und im Endeffekt sagen: Meine Dienstleister in meiner gesamten Supply Chain – und da gehört dann auch die Logistik dazu, nicht nur meine eigene Produktion – sollen sich eben auch gewissen Zielen, Regularien unterwerfen“. In diesem Kontext bewegt sich auch die Forderung seitens der Kund*innen, die Vorbereitung auf Klimarisiken mittels Zertifikaten belegen zu lassen. Es ist daher naheliegend, dass die Logistikbranche diese Entwicklung als relativ wahrscheinlich ansieht (vgl. Abb.  5.1). Hier wird deutlich, wie sehr vorhandene Hand-

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lungsmuster der Logistik durch die Anforderungen externer Stakeholder geprägt sind. Erst wenn externe Anspruchsgruppen, wie Kund*innen oder Behörden, Maßnahmen zur Reduktion von Risiken verlangen, oder Zertifikate fordern, die eine Auseinandersetzung mit Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel belegen, befassen sich die U ­ nternehmen mit diesen Themen. So lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung mit Klimarisiken, nicht auf der Antizipation zukünftiger Betroffenheiten beruht, sondern durch Akteure von außerhalb des Unternehmens getrieben wird. Vor allem kleinere Unternehmen und Unternehmen, die neue Marktsegmente erschließen wollen, werden häufig von den sich wandelnden oder gänzlich neuen Anforderungen ihrer Kund*innen überrascht. Die Wirtschaftsförderung kann hier eine Hilfestellung bieten, indem sie über gängige Zertifikate informiert oder Risikoanalysen anregt. Die Unterstützung umfasst auch die Vermittlung von Expert*innen, die mit ihrem Wissen dazu beitragen, dass die Unternehmen ihre vulnerablen Prozesse und Strukturen erkennen. Darüber hinaus können sie deutlich machen, welche gegenwärtig nachrangigen Faktoren in naher Zukunft zum ausschlaggebenden Kriterium für eine Auftragsvergabe werden können. Woran es aus Sicht der Unternehmen aber primär mangelt, sind belastbare Informationen zu potenziellen Schäden und der tatsächlichen Relevanz von Klimarisiken. Es wurde der Wunsch geäußert, die subjektive Einschätzung unterschiedlicher Risiken mit einem objektiv vorhandenen Schadenspotenzial abgleichen zu können. „Welchen Schwierigkeiten, Herausforderungen müssen wir uns stellen? Müssen wir jetzt schon vorbereitet sein?“ lautete einer der Kommentare, der unterstreicht, dass die Sensibilisierung für den Zusammenhang zwischen geschäftlich relevanten Risiken und den Folgen des Klimawandels in der Logistikbranche bisher noch sehr gering ausgeprägt ist. Zugleich besteht ein erkennbarer Bedarf nach Aufklärung und Unterstützung in der Analyse möglicher aktueller und zukünftiger Störungen und Beeinträchtigungen. Insgesamt lässt sich ableiten, dass die Logistikbranche Klimarisiken zum Zeitpunkt der Erhebung 2021 keine gravierende Bedeutung zuschreibt. Die aus dem Klimawandel erwachsenen transitorischen und regulatorischen Risiken werden von den Unternehmen nicht in einen Zusammenhang mit einem sich verändernden Klima gebracht und physische Risiken kaum als solche erkannt. Zwar ist den Unternehmen klar, dass die Folgen des Klimawandels Auswirkungen auf Gesetze und Rahmenbedingungen mit sich bringen werden, ein tiefer Einschnitt wird jedoch nicht antizipiert. Angesichts der in aktuellen Studien dokumentierten Betroffenheiten (vgl. Abschn. 5.2) ergibt sich durchaus eine Diskrepanz in der Perspektive der Wirtschaft auf physische Risiken und die in der Forschung erörterten Risikopotenziale und ihre Auswirkungen auf ökonomische Zusammenhänge auf größerer Maßstabsebene. Grundlegendes Defizit ist die unzureichende Beobachtung von Klimafolgen und die darauf aufbauende Betrachtung betrieblicher Betroffenheit. Zudem geraten Schäden und Störungen nach ihrer Beseitigung schnell in Vergessenheit und ihre Auswirkungen aus dem Blickfeld des betrieblichen Alltags. Wie Griese et al. (2021) feststellen, mangelt es an einer systematischen Betrachtung von Klimarisiken aus betrieblicher Perspektive.

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5.6 Sensibilisierung für Klimarisiken als Handlungsfeld der Wirtschaftsförderung Logistikunternehmen messen den Risiken, die durch den Klimawandel entstehen wesentlich weniger Bedeutung bei, als es angesichts der teils drastischen Entwicklungen zu erwarten ist. Die Divergenz zwischen aus Klimaanalysen abgeleiteten Entwicklungen und der subjektiven Wahrnehmung der handelnden Akteure in Unternehmen ist durchaus problematisch. Wirtschaftsstandorte, für die Logistik besondere Relevanz hat, sind hierdurch überdurchschnittlich vulnerabel. Erstens, weil die Unternehmen der Logistikbranche durch externe Störungen beeinträchtigt werden, auf die sie offensichtlich nicht vorbereitet sind. Es besteht die Gefahr, dass vormals funktionierende Strukturen durch physische Beeinträchtigungen an Funktionsfähigkeit einbüßen und lange Zeit erfolgreiche Geschäftsmodelle aufgrund transitorischer Risiken obsolet werden. Zweitens, weil andere Unternehmen in einem Wirtschaftsraum auf eine funktionierende Logistik in ihrem Umfeld angewiesen sind. Der vorliegende Beitrag veranschaulicht, dass Unternehmen bei der zielgerichteten Analyse von Geschäftsrisiken Unterstützung benötigen. Bei Risiken, die sich unmittelbar aus dem Kerngeschäft ergeben und im Rahmen etablierter innerbetrieblicher Prozesse adres­ siert werden können, ist das nicht der Fall. Ganz anders stellt es sich im Hinblick auf Risiken dar, bei denen Unternehmen auf den ersten Blick den Eindruck haben, sie seien weit entfernt, nicht mit dem Tagesgeschäft in Verbindung stehend, grundsätzlich nicht kalkulierbar oder nicht in ihren Verantwortungsbereich fallend. Nicht allen Unternehmen fällt der Blick über den Tellerrand des Kerngeschäfts leicht. Historisch gewachsene Kompetenzen und Kulturen tragen dazu bei, dass es Unternehmen unterschiedlich gut gelingt, Ressourcen freizusetzen oder neu zu kombinieren, um Störungen aus dem Unternehmensumfeld antizipieren zu können (Billington et al., 2017). Die Ressourcenknappheit durch geringe Umsatzrenditen und die reaktive Grundhaltung, die in weiten Teilen der Logistik erkennbar ist, festigen den Blick der Branche auf das vermeintlich Wesentliche (Bücken & Kanning, 2021). Was für die Logistik zutrifft, gilt auch für andere Branchen, insbesondere solche, in denen überwiegend kleinere, mit geringen personellen und monetären Ressourcen ausgestattete Unternehmen agieren, die nicht quartalsweise Berichte über ihre Marktposition und etwaige Risikoentwicklungen erstellen. Sie sind nicht in der Lage, ihr Umfeld dahingehend zu prüfen, ob sich aus einem externen Wandel Risiken für ihre Geschäftstätigkeit ergeben. Wirtschaftsförderungsorganisationen können diese Unternehmen effektiv unterstützen, weil sie Veränderungen in einem weiteren Kontext besser überblicken, durch die Zusammenarbeit mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Branchen und Unternehmenstypen über vielfältige Informationen verfügen und im regelmäßigen Austausch mit politisch-administrativen Entscheidungsträger*innen stehen. Dieses Wissen umfasst sowohl Kenntnisse über bevorstehende Regulierungen im Sinne der Nachhaltigkeitstransformation als auch Erfahrungen hinsichtlich besonderer Gefährdungen durch Extremwetter. Dabei handelt es sich keineswegs um vage Vermutungen, die sich aus globalen Trends ableiten. Vielmehr können Wirtschaftsförderungen spezifische, ihren

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­ uständigkeitsbereich betreffende und demzufolge standortbezogene, Erfahrungen teilen Z und entsprechend Aufklärungsarbeit hinsichtlich konkreter Risiken leisten. Wenn bestimmte gewerblich genutzte Lagen zunehmend von Klimafolgen bedroht sind, so ist die Information darüber für alle Unternehmen an diesem Standort relevant. Für die lokal hochgradig eingebettete Logistik gilt das in besonderem Maße (Aoyama et al., 2006). Da es sich bei Klimarisiken um systemische Risiken handelt, die sich nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen auswirken, kann zudem argumentiert werden, dass das Identifizieren und Aufzeigen dieser Risiken eine Aufgabe ist, die von öffentlichen Institutionen übernommen werden muss (Renn, 2014). Wie dieser Beitrag zeigt, besteht hierbei auch eine gewisse Erwartungshaltung seitens der Wirtschaft. Sensibilisierung und Aufklärung können wichtige Bausteine sein, um die Widerstandsfähigkeit der ansässigen Unternehmen gegenüber den Folgen des Klimawandels zu erhöhen und damit zukünftige Krisen zu verhindern. Neben der Aufgabe, zu informieren und zu sensibilisieren, kann ein Beitrag der Wirtschaftsförderung auch darin bestehen, Unternehmen dabei zu unterstützen, vorbereitende Maßnahmen zu ergreifen, um für zukünftige Herausforderungen vorbereitet zu sein. Konkret bedeutet das, Antworten auf die Frage bereitzustellen, welche Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und demnach zur Reduktion betrieblicher Risiken effektiv sind. Zweifellos hat sich das Aufgabenspektrum der Wirtschaftsförderung in den letzten Jahren stark erweitert. Die Intensivierung der Netzwerkarbeit und Initiativen zur Linderung des Fachkräftemangels sind nur ein Ausschnitt dessen, was aktuell in der kommunalen Wirtschaftsförderung unternommen wird, um Unternehmen einen guten Nährboden für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten bieten zu können (Thiel & Joel, 2016). Nicht jede Wirtschaftsförderungseinrichtung ist dabei in der Lage die Klaviatur der unterschiedlichen Themen vollumfänglich zu spielen. Aufgrund unterschiedlich gelagerter, regional spezifischer Anforderungen und auf unterschiedliche Institutionen verteilte Kompetenzen ist das oft auch gar nicht zielführend. Das Handlungsfeld Sensibilisierung und Aufklärung für Klimarisiken lässt sich aber als Beitrag zur Förderung endogener Potenziale verstehen, denen zunehmende Bedeutung beigemessen wird. So registriert Hallmann (2020) eine wachsende Relevanz von Themen, die weniger auf Arbeitsplatzgewinne und Steuereinnahmen abzielen, als auf die Unterstützung von Fähigkeiten zur Anpassung an gegenwärtige und zukünftige Megatrends, zu denen neben Digitalisierung und Fachkräftemangel auch der Klimawandel zu zählen ist. In der eingangs dargestellten Situation, in der Unternehmen mit Bedrohungen konfrontiert werden, die sich mit Instrumenten des betrieblichen Managements nicht verhindern lassen, ist die Fähigkeit, organisationale Strukturen und Funktionen rasch an sich verändernde Rahmenbedingungen anpassen zu können, von enormer Bedeutung. Teil der Förderung endogener Potenziale sollte es daher sein, die Anpassungsfähigkeit eines Wirtschaftsstandortes als Ziel aufzufassen und die strategische Förderung auch auf Vorbereitung, Erhalt und Sicherung auszurichten. Dies erfordert jedoch eine genaue Betrachtung potenzieller Einflussfaktoren (Martin, 2018). Durch den Klimawandel entstehende Geschäftsrisiken sind zu identifizieren und auf dieser Grundlage Entscheidungen abzuleiten, die eine dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung ermög­

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lichen. Helfen können hierzu detaillierte Analysen von Zukunftstrends, Methoden der Risikoanalyse und Ansätze der Szenarioplanung (Marcos & Macaulay, 2008). Diese Aufgaben lassen sich auf abstrakter Ebene im Rahmen des strategischen Standortmanagements erfüllen, lassen sich jedoch auch auf den Einzelfall projizieren. Ein standort- und geschäftsfeldbezogenes Risikoassessment, in dessen Rahmen Klimarisiken explizit erörtert werden, kann Teil des Instrumentariums der Bestandspflege sein. Da das Thema Klimafolgen auf der Agenda der Unternehmen derzeit noch nicht unter den ersten Positionen rangiert, erscheint es sinnvoll, es in andere Themen von betrieblicher Relevanz zu inte­ grieren. Hier bietet sich z. B. eine Einbindung in das allgemeine Thema Geschäftsrisiken an, in dessen Rahmen neben vielen anderen Einflussfaktoren auch erörtert wird, an welchen Stellen ein Unternehmen – vielleicht entgegen der eigenen Erwartungen – von Klimafolgen betroffen ist. Unternehmen bei der Betrachtung von organisationsexternen Entwicklungen zu unterstützen, bewirkt zudem eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Wenn die Betriebe in der Lage sind, Umbrüche und Störungen zu antizipieren, verfügen sie über einen zeitlichen Vorteil gegenüber Unternehmen, die ausschließlich reagieren, Schäden beseitigen und ohne sich an Veränderungen anzupassen zum Tagesgeschäft zurückkehren. Komparative Standortvorteile können ein positives Resultat dieser Fähigkeit sein. Mit Blick auf die Logistik kommt hinzu, dass das Erkennen von Klimarisiken und das Einleiten effektiver Anpassungsprozesse auch in Krisenzeiten die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen ermöglicht und damit dazu beiträgt, die dauerhafte Funktionsfähigkeit eines Wirtschaftsraums zu sichern (Beermann, 2011).

5.7 Fazit Die Folgen des Klimawandels stellen für Unternehmen der Logistikbranche eine diffuse Bedrohung dar, der nur in wenigen Teilbereichen drastische Konsequenzen für die Geschäftstätigkeit zugeschrieben wird. Dabei ist gerade die Logistik in besonderem Ausmaß durch physische, regulatorische und transitorische Klimarisiken betroffen. Eine systematische Betrachtung möglicher externer Einflussfaktoren erfolgt seitens der Logistik nicht. Aus einer standardisierten Befragung, mit der die relative Bewertung unterschiedlicher Klimarisiken ermittelt wurde, und dem Dialog mit Logistikunternehmen wird deutlich, dass die in der Forschung identifizierten Risikopotenziale und die wahrgenommene Betroffenheit der Betriebe stark voneinander abweichen. Daher besteht die Gefahr, dass Unternehmen der Logistikbranche die Auswirkungen des Klimawandels auf ihr wirtschaftliches Handeln  – inklusive bestehender Routinen, baulicher Strukturen und Geschäftsmodelle  – systematisch unterschätzen. Die Verantwortung für das Abwenden negativer Konsequenzen liegt nach Auffassung der Unternehmen vor allem bei öffentlichen Akteuren. Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel werden zudem erst diskutiert, wenn externe Stakeholder diese explizit fordern. Die grundsätzlich erkennbare Sensibilisierung für Nachhaltigkeitsziele trägt nicht zu einer Betrachtung der eigenen Be-

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troffenheit angesichts zunehmender Klimarisiken bei. Das bedeutet jedoch nicht, dass kein Interesse an diesem Thema besteht: Die Unternehmen äußern sehr deutlich den Bedarf nach Informationen zu den Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Geschäftstätigkeit sowie nach Unterstützung bei der Auswahl effektiver Anpassungsmaßnahmen. Infolgedessen sollte verstärkt diskutiert werden, wie sich Aufklärung und Sensibilisierung über die Folgen des Klimawandels in das Aufgabenportfolio der Wirtschaftsförderung integrieren lassen. Dabei geht es grundsätzlich darum, Unternehmen darin zu unterstützen, negative Konsequenzen, die sich aus einem Wandel in ihrem Umfeld ergeben, zu antizipieren und somit Krisen auf Ebene einzelner Betriebe, aber auch auf größerer Maßstabsebene, zu verhindern. Aufgrund ihres regional spezifischen Wissens und ihrer vorhandenen Vernetzung sind Wirtschaftsförderungseinrichtungen prädestiniert, diese informierende und sensibilisierende Rolle einzunehmen. Angemerkt sei auch, dass diese Rolle keinesfalls auf das Themenfeld des Klimawandels bzw. auf die Sensibilisierung zu Klimarisiken beschränkt ist. Vielmehr lässt sich die Aufklärungsarbeit über Umfeldentwicklungen, die im Tagesgeschäft der Unternehmen keine unmittelbaren Handlungserfordernisse hervorrufen, leicht auf andere Geschäftsrisiken übertragen. Für die Logistikbranche sind beispielsweise Risiken, die durch den Wandel der Arbeitswelt und den demografischen Wandel entstehen, hochgradig relevant. Obwohl die daraus hervorgehende Konsequenz in den Betrieben in Form des Fachkräftemangels sehr präsent ist, fehlt vielen Unternehmen Wissen über mittel bis langfristig bevorstehende Effekte. Die Fragen „Welchen Schwierigkeiten, Herausforderungen müssen wir uns stellen? Müssen wir jetzt schon vorbereitet sein?“ stellen sich immer häufiger in unterschiedlichen Kontexten. Die Wirtschaftsförderung ist aufgrund ihrer strategischen Ausrichtung auf die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsstandorten und ihre breite Wissensbasis prädestiniert, darauf hinzuwirken, dass Unternehmen für sich passende Maßnahmen zur Reduktion von Risiken treffen. Das beschriebene Handlungsfeld zielt nicht auf eine kurz- oder mittelfristige Steigerung von Gewerbesteuereinnahmen oder Arbeitsmarkteffekte ab, sondern bewirkt die Reduktion standortbezogener sozioökonomischer Vulnerabilitäten. Zielgröße ist somit nicht die Steigerung des wirtschaftlichen Volumens im jeweiligen Verantwortungsbereich, sondern die Krisenfestigkeit der lokalen oder regionalen wirtschaftlichen Strukturen. Auf die Förderung von Anpassungsfähigkeiten ausgerichtete Strategien und die Integration von Risikoassessments in die Aktivitäten der Bestandspflege können entscheidend dazu beitragen, dass bevorstehende Störungen erkannt werden und Wirtschaftsstandorte wettbewerbsfähig bleiben.

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F. Bücken

Felix Bücken  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie an der Universität Osnabrück. Er war zuvor für die Wirtschaftsförderung Osnabrück GmbH in den Bereichen Branchenförderung, Fachkräftesicherung sowie in der Vermarktung von Gewerbeflächen tätig. Er forscht zur Resilienz von Unternehmen und der Rolle regionaler Netzwerke.

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Demographischer Wandel und Wirtschaftsförderung – Herausforderungen der Bevölkerungsalterung für die regionale Wirtschaft Birgit Aigner-Walder

Zusammenfassung

Der Demographische Wandel bzw. die Alterung der Bevölkerung ist ein weltweites Phänomen, ausgelöst durch den Rückgang der Geburtenrate und den Anstieg der Lebenserwartung. In Europa ist diese Entwicklung vergleichsweise weit fortgeschritten und beeinflusst zahlreiche wirtschaftliche Bereiche. Abgesehen von einem Rückgang und der Alterung der Erwerbsbevölkerung sind die geänderten Nachfragestrukturen der privaten Haushalte und finanzielle Herausforderungen für die öffentliche Hand zentrale Aspekte, welche durchaus eine negative Entwicklungsspirale – insbesondere in ländlichen Regionen  – auslösen können. Wirtschaftspolitische Maßnahmen, um die Wettbewerbsfähigkeit der regionalen Wirtschaft zu unterstützen, sowie eine zukunftsorientierte Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Finanz- und Regionalpolitik sind gefordert, um für die bestehenden Herausforderungen gerüstet zu sein. Potenziale scheinen in vielen Bereichen gegeben; es gilt umzudenken bzw. bestehende Systeme an die neuartigen Gegebenheiten anzupassen.

6.1

Einleitung

Unter dem Begriff „Demographischer Wandel“ wird die Verschiebung der Altersstruktur der Bevölkerung von einer jüngeren hin zu einer älteren Bevölkerung verstanden. Beim demographischen Wandel handelt es sich dabei um ein weltweites Phänomen, welches

B. Aigner-Walder (*) FH Kärnten, Villach, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_6

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B. Aigner-Walder

durch einen Rückgang der Geburtenrate und einen Anstieg der Lebenserwartung bedingt ist. Am weitesten fortgeschritten ist die Alterung der Bevölkerung dabei im weltweiten Vergleich in Japan und der Europäischen Union. Während Japan mit einem Wert von über 28 % den höchsten Anteil an Personen ab 65 Jahren weltweit aufweist, liegen unter den 25 „ältesten“ Ländern weltweit 22 europäische Länder. Deutschland nimmt mit über 21 % Rang 6 ein und Österreich rangiert mit gut 19 % auf Platz 25 (World Bank, 2022). Die Bevölkerungsentwicklung bzw. die Struktur einer Bevölkerung und deren Veränderung haben auf zahlreiche Politikbereiche einen entscheidenden Einfluss. So sind von der voranschreitenden Alterung der Bevölkerung nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, wie die Pensions-, Gesundheits- oder Pflegevorsorge betroffen, sondern auch Folgen für den Arbeitsmarkt, die Nachfrage nach privaten Gütern und Dienstleistungen, die staatlichen Einnahmen, die Wirtschaftsentwicklung gesamt im Sinne des Wirtschaftswachstums sowie politische Entscheidungsprozesse zu erwarten. Im Rahmen des vorliegenden Papiers werden die potenziellen Effekte der Alterung der Bevölkerung für die regionale Wirtschaft und daraus resultierende Herausforderungen zur Förderung dieser dargelegt. Dazu erfolgt in Abschn. 6.2 zunächst eine Beschreibung der aktuellen demographischen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union, mit speziellem Fokus auf die Länder Deutschland und Österreich. Abschn. 6.3 beschäftigt sich in weiterer Folge mit den zu erwartenden Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung, mit besonderem Fokus auf ländliche Räume. In Abschn. 6.4 werden daraus ableitbare relevante Aspekte für die Wirtschaftsförderung beleuchtet und Abschn. 6.5 schließt mit einem kurzen Resümee.

6.2 Aktuelle demographische Entwicklungen in der Europäischen Union, Deutschland und Österreich Die Bevölkerung in der Europäischen Union wird gemäß den vorliegenden Prognosen in den nächsten 10 Jahren noch geringfügig wachsen (+ 0,3 %), bis zum Jahr 2040 jedoch um knapp 1 Mio. Menschen leicht zurückgehen (− 0,2 %) und bis zum Jahr 2050 ist ein Rückgang von 1,4  % prognostiziert. Diese Entwicklung verläuft jedoch räumlich betrachtet nicht gleichmäßig. Während in einigen europäischen Ländern schon bis 2030 mit erheblichen Bevölkerungsrückgängen zu rechnen ist (z. B. Lettland: − 10,2 %, Litauen: − 7,8 %, Rumänien: − 7,6 %), wird die Bevölkerung in anderen Ländern lt. Eurostat (2021a) auch bis 2050 noch kräftig anwachsen (z. B. Malta: + 31,8 %, Irland: + 25,1 %, Luxemburg: + 22,8 %). Zu diesen Ländern gehört auch Österreich mit einem prognostizierten Wachstum von 5,0  % bis 2050. In Deutschland hingegen wird die Bevölkerung im Beobachtungszeitraum hingegen marginal schrumpfen (− 0,6 % bis 2050; vgl. Tab. 6.1). Für die Entwicklung der Bevölkerung eines Landes ist zum einen die natürliche Bevölkerungsbewegung bzw. die Geburtenbilanz von Relevanz, welche sich aus der Differenz von Geburten und Sterbefällen eines Landes ergibt. Die demographische Transition zeichnet sich durch den Rückgang der Geburtenziffer und den Anstieg der Sterbefälle − ­aufgrund des hö-

6  Demographischer Wandel und Wirtschaftsförderung – Herausforderungen der …

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Tab. 6.1  Bevölkerungsentwicklung in den Ländern der Europäischen Union, 2020–2050. (Quelle: Eurostat, 2021a, eigene Berechnungen) Bevölkerungsstand absolut (in 1000) 2020 2030 2040 EU (27) 447.671 449.122 446.755 Belgien 11.507 11.758 11.895 Bulgarien 6950 6450 6017 Tschechien 10.694 10.762 10.625 Dänemark 5812 5964 6056 Deutschland 83.135 83.454 83.178 Estland 1330 1308 1282 Irland 4967 5504 5905 Griechenland 10.697 10.303 9911 Spanien 47.321 48.746 49.377 Frankreich 67.197 68.749 69.802 Kroatien 4056 3828 3612 Italien 60.287 59.943 59.375 Zypern 887 963 1013 Lettland 1907 1713 1536 Litauen 2794 2576 2340 Luxemburg 626 693 739 Ungarn 9772 9619 9441 Malta 507 589 635 Niederlande 17.405 17.970 18.186 Österreich 8904 9149 9292 Polen 37.941 37.018 35.662 Portugal 10.291 10.089 9787 Rumänien 19.281 17.808 16.576 Slowenien 2095 2106 2082 Slowakei 5458 5441 5312 Finnland 5527 5519 5426 Schweden 10.323 11.099 11.693

Bevölkerungsveränderung relativ (in %) 2050 2020–2030 2020–2040 2020–2050 441.221 0,3 % − 0,2 % − 1,4 % 11.927 2,2 % 3,4 % 3,6 % 5655 − 7,2 % − 13,4 % − 18,6 % 10.530 0,6 % − 0,6 % − 1,5 % 6098 2,6 % 4,2 % 4,9 % 82.670 0,4 % 0,1 % − 0,6 % 1256 − 1,6 % − 3,6 % − 5,5 % 6213 10,8 % 18,9 % 25,1 % 9503 − 3,7 % − 7,3 % − 11,2 % 49.349 3,0 % 4,3 % 4,3 % 70.011 2,3 % 3,9 % 4,2 % 3393 − 5,6 % − 10,9 % − 16,4 % 58.125 − 0,6 % − 1,5 % − 3,6 % 1046 8,5 % 14,1 % 17,9 % 1395 − 10,2 % − 19,5 % − 26,9 % 2138 − 7,8 % − 16,2 % − 23,5 % 769 10,7 % 18,1 % 22,8 % 9270 − 1,6 % − 3,4 % − 5,1 % 668 16,1 % 25,2 % 31,8 % 18.142 3,2 % 4,5 % 4,2 % 9346 2,7 % 4,4 % 5,0 % 34.102 − 2,4 % − 6,0 % − 10,1 % 9375 − 2,0 % − 4,9 % − 8,9 % 15.503 − 7,6 % − 14,0 % − 19,6 % 2044 0,5 % − 0,7 % − 2,5 % 5147 − 0,3 % − 2,7 % − 5,7 % 5291 − 1,8 % − 4,3 % − 0,1 % 12.254 7,5 % 13,3 % 18,7 %

heren Anteils an einer älteren Bevölkerung bedingt durch die Zunahme der Lebenserwartung - aus. Dies hat den Wandel von einer positiven zu einer negativen Geburtenbilanz zur Folge. In der Europäischen Union gesamt wurde der Wendepunkt bereits überschritten, mit der Folge, dass jährlich mehr Personen sterben als geboren werden. Auch wenn dies nicht für alle europäische Länder gilt (z. B. Irland, Zypern, Frankreich), so ist die räumliche Bevölkerungsbewegung bzw. die Wanderungsbilanz als zweite Determinante der Bevölkerungsentwicklung zur überwiegend relevanten Komponente für Bevölkerungswachstum geworden. Dies gilt auch für Deutschland, welches bereits eine negative Geburtenbilanz aufweist, und Österreich mit einer noch nahezu ausgeglichenen ­Geburtenbilanz. Doch auch ein positiver

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B. Aigner-Walder

Wanderungssaldo, d. h. mehr Zuwanderung als Abwanderung, kann einen natürlichen Bevölkerungsrückgang nicht immer kompensieren (siehe beispielsweise Ungarn und Estland von 2010 bis 2020); zudem können auch nicht alle Länder von einem positiven Wanderungssaldo profitieren, mit der Folge eines verstärkten Bevölkerungsrückgangs (z. B. Bulgarien, Lettland, Litauen von 2010 bis 2020; Eurostat, 2021b). Der Anstieg der Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten sowie die geringere Anzahl an Geburten spiegelt sich auch in der Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung wider. Von 2010 bis 2020 ist das Medianalter der Bevölkerung in der Europäischen Union um 2,6 Jahre gestiegen. Mit der Ausnahme von Schweden mit einem geringfügigen Rückgang von 0,2 Jahren und einer beinahe stagnierenden Entwicklung in Malta (+ 0,1 Jahre) hat das mittlere Alter der Bevölkerung in allen Ländern zugenommen. Die größten Zuwächse verzeichneten dabei Spanien (+ 4,4), Portugal (+ 4,3) und die Slowakei (+ 4,0). In Deutschland stieg der Altersmedian von 44,2 auf 45,9 Jahre (+ 1,7) und in Österreich von 41,6 auf 43,5 Jahre (+ 1,9). Wie im unmittelbaren Ländervergleich ersichtlich, variiert auch die Ausgangssituation in den einzelnen Ländern deutlich. Dies lässt sich auch im Anteil der über 64-Jährigen erkennen: Im Jahr 2020 wies Irland mit 14,4 % den geringsten Wert auf und Italien mit 23,2 % den Höchsten. Auch in Deutschland ist bereits jede 5. Person über 64 Jahre alt (21,8 %); in Österreich sind es 19,0 %. Der Anteil der Bevölkerung im potenziellen Pensionsalter ist jedoch in allen Staaten angestiegen; im europä­ ischen Durchschnitt um 3,0 Prozentpunkte (vgl. Tab. 6.2). Parallel dazu ist der Anteil der Bevölkerung im potenziellen Erwerbsalter (20–64 Jahre) um über 2 Prozentpunkte gesunken. Den stärksten Rückgang im Ländervergleich verzeichneten hierbei Tschechien (− 5,0 %P), Slowenien (− 4,6 %P) und Bulgarien (− 3,6 %P). Eine deutlich positive Entwicklung weist lediglich Luxemburg auf, mit einer Zunahme von 1,9 Prozentpunkten; auch Malta (+ 0,6 %P) und Österreich (+ 0,2 %P) blieben von einem Rückgang verschont. In Deutschland war der Rückgang mit − 0,7 Prozentpunkten vergleichsweise gering. Der demographische Wandel zeigt sich zudem bei den 0–19-Jährigen: von 2010 bis 2020 sank der Anteil von 21,1 % auf 20,3 %. Auch wenn der negative Entwicklungstrend mit Ausnahme weniger Länder mehrheitlich erkennbar ist, so liegt dennoch eine große Varianz vor: von einer marginalen Zunahme von 0,4 Prozentpunkten in Tschechen bis zu einem doch erheblichen Rückgang von 4,2 Prozentpunkten in Malta. Diesbezüglich ist allerdings hervorzuheben, dass der bedie Ausgangssituation in den Ländern sehr differenziert zu beurteilen ist: Während in einigen Ländern der Anteil der jüngeren Bevölkerung noch über bzw. knapp ein Viertel ausmacht (Irland: 26,8 %, Frankreich: 24,1 %, Schweden: 23,3 %), so beträgt dieser anderenorts nicht einmal mehr ein Fünftel (Malta: 17,7 %, Italien: 17,8 %); darunter auch Deutschland mit 18,4 % und Österreich mit 19,3 %. Zuletzt soll als zusätzlich relevanter Indikator in Hinblick auf die Alterung der Bevölkerung der Altersquotient thematisiert werden. Dieser misst den Anteil der über 64-­Jährigen an der Bevölkerung im Erwerbsalter und ist daher ein essenzieller Faktor für die Finanzierbarkeit des auf dem Umlageprinzip finanzierten Sozialsystems. Eine deutliche Erhöhung des Quotienten belastet dieses, da weniger erwerbstätige Personen, welche in das System einzahlen, auf mehr Pensionisten treffen. Wie die Daten aus Tab. 6.2 zeigen, ist der Altersquotient von 2010 bis 2020 von 28,8 auf 34,8 gestiegen. Das heißt auf drei Personen

6  Demographischer Wandel und Wirtschaftsförderung – Herausforderungen der …

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Tab. 6.2  Ausgewählte Indikatoren zur Altersstruktur der Bevölkerung in der Europäischen Union. (Quelle: Eurostat, 2022a, teilweise eigene Berechnung)

EU (27) Belgien Bulgarien Tschechien Dänemark Deutschland Estland Irland Griechenland Spanien Frankreich Kroatien Italien Zypern Lettland Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Österreich Polen Portugal Rumänien Slowenien Slowakei Finnland Schweden

Medianalter (in Jahren) 2010 2020 41,3 43,9 40,9 41,8 42,2 44,8 39,6 43,0 40,5 42,1 44,2 45,9 40,1 42,3 34,0 38,1 41,1 45,2 39,9 44,3 39,8 41,9 41,9 44,2 43,3 47,2 35,6 37,7 40,8 43,7 40,3 44,2 38,9 39,5 39,8 43,3 39,7 39,8 40,6 42,7 41,6 43,5 37,9 41,3 41,2 45,5 40,1 42,8 41,4 44,1 37,0 41,0 42,0 43,1 40,7 40,5

Anteil 0–19 Jahre (in %) 2010 2020 21,1 20,3 22,9 22,4 18,7 18,9 20,1 20,5 24,4 22,3 18,8 18,4 21,1 21,2 27,3 26,8 19,9 19,4 19,8 19,6 24,1 24,8 21,1 19,2 19,0 17,8 25,0 21,6 20,6 20,7 22,3 19,8 23,7 21,3 20,8 19,5 21,9 17,7 23,7 21,7 20,9 19,3 21,9 20,2 20,7 18,9 21,4 21,0 19,2 19,5 22,3 20,6 22,9 21,1 23,4 23,3

Anteil 20–64 Jahre (in %) 2010 2020 61,3 59,1 59,9 58,5 63,1 59,5 64,6 59,6 59,3 57,8 60,5 59,8 61,5 58,8 61,5 58,8 61,1 58,3 63,4 60,8 58,6 55,5 61,1 59,8 60,6 59,0 62,5 62,1 61,3 58,8 60,4 60,3 62,3 64,2 62,6 60,6 63,2 63,8 61,0 58,8 61,5 61,7 64,5 61,6 59,0 61,0 62,5 60,1 64,3 60,3 65,3 62,8 60,1 56,6 58,5 56,7

Anteil 65+ Jahre (in %) 2010 2020 17,6 20,6 17,2 19,1 18,2 21,6 15,3 19,9 16,3 19,9 20,7 21,8 17,4 20,0 11,2 14,4 19,0 22,3 16,8 19,6 16,6 20,4 17,8 21,0 20,4 23,2 12,5 16,3 18,1 20,5 17,3 19,9 14,0 14,5 16,6 19,9 14,9 18,5 15,3 19,5 17,6 19,0 13,6 18,2 18,3 22,1 16,1 18,9 16,5 20,2 12,4 16,6 17,0 22,3 18,1 20,0

Altersquotient (65+ zu 20–64) 2010 2020 28,8 34,8 28,6 32,7 28,8 36,4 23,7 33,4 27,5 34,3 34,1 36,4 28,4 34,1 18,3 24,5 31,1 38,1 26,5 32,2 28,3 36,8 29,2 35,2 33,7 39,4 20,1 26,3 29,6 34,9 28,7 33,0 22,4 22,6 26,5 32,8 23,6 29,0 25,1 33,1 28,7 30,9 21,0 29,6 29,9 37,5 25,8 31,5 25,7 33,6 19,1 26,4 28,3 39,4 31,0 35,3

im erwerbsfähigen Alter entfällt rund eine Peron im Pensionsalter. Am höchsten ist der Altersquotient mit jeweils 39,4 in Italien und Finnland, gefolgt von 38,1 in Griechenland. Die deutlich jüngere Altersstruktur in Luxemburg und Irland spiegelt sich auch im niedrigen Altersquotienten von 22,6 bzw. 24,5 wider. In Deutschland liegt der Altersquotient bei 36,4 und in Österreich bei 30,9. Bevor im nächsten Abschnitt die mit den demographischen Entwicklungen einhergehenden Herausforderungen für die regionale Wirtschaft analysiert werden, soll darauf hingewiesen werden, dass die angeführten Bevölkerungstrends langfristige Entwicklungen sind, welche sich kurz- oder mittelfristig auch nicht umkehren lassen. So könnte aufgrund der rückläufigen Entwicklung der Frauen im gebärfähigen Alter weder ein Anstieg der Fertilität die Alterungsprozesse aufhalten, oder bedürfte es sehr hoher Zuwanderung, um

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B. Aigner-Walder

Effekte zu verzeichnen. Und dies ist zudem vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die Alterung der Bevölkerung auch in anderen Ländern bzw. weltweit vor sich geht, insofern der Rückgang der Geburtenzahl und der Anstieg der Lebenserwartung global beobachtbar ist, wenn auch Europa eine Vorreiterposition einnimmt (siehe dazu auch Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, 2021).

6.3 Auswirkungen der demographischen Entwicklungen für die regionale Wirtschaft Der demographische Wandel beinhaltet unterschiedliche Facetten der Bevölkerungsentwicklung, welche in weiterer Folge auf die wirtschaftlichen Potenziale wirken. Zum einen kommt es durch den Alterungsprozess zu einem Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Des Weiteren steigt das Durchschnittsalter der Bevölkerung und damit auch jenes des Erwerbspotenzials. Und darüber hinaus bewirken die demographischen Prozesse langfristig einen Rückgang der Bevölkerung. Das bestehende Wirtschaftssystem ist von diesen parallel verlaufenden Entwicklungen maßgeblich betroffen. Im Folgenden werden die wesentlichen Zusammenhänge dazu erläutert.

6.3.1 Gesamtwirtschaftliche Folgen/Wirtschaftswachstum Der Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsentwicklung ist bereits seit langem umfassend beleuchtet und wird kontrovers diskutiert. Während Bevölkerungspessimisten ein rasches Bevölkerungswachstum als Bedrohung für wirtschaftliches Wachstum sehen (vgl. z. B. Malthus, 1798), argumentieren Bevölkerungsoptimisten mit einem positiven Einfluss einer wachsenden Bevölkerung aufgrund eines höheren Arbeitsangebots, größerer Arbeitsteilung und möglicher Skalenerträge (vgl. z.  B.  Simon, 1981). Empirische Untersuchungen kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerungsentwicklung keine kennzeichnenden Effekte auf das wirtschaftliche Wachstum hat, sofern weitere Faktoren wie politische Stabilität, Bildung, Produktivität oder technologischer Fortschritt miteinbezogen werden (vgl. beispielsweise die Ergebnisse von Czechl & Henseke, 2007, für die OECD Länder). Deutlich klarer scheint hingegen der Einfluss der Altersstruktur auf die wirtschaftliche Entwicklung zu sein: Durch den Rückgang und die Alterung der Erwerbsbevölkerung werden negative Effekte für die Wachstumsraten erwartet (siehe beispielsweise Thieß et al., 2020, mit einer Analyse für Japan, Deutschland, die USA und weitere Staaten oder Ademmer et al., 2021, für Deutschland). In Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Erwerbsbevölkerung und Wirtschaftswachstum wird auch davon ausgegangen, dass die mit der demographischen Entwicklung bisher einhergehende Zunahme der Erwerbsbevölkerung eine positive Wirkung auf das Wirtschaftswachstum hatte. Man spricht diesbezüglich von der 1. Demographischen Dividende. Eine 2. Demographische Dividende wird zudem durch den Anstieg des aggregier-

6  Demographischer Wandel und Wirtschaftsförderung – Herausforderungen der …

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ten Sparens aufgrund der steigenden Lebenserwartung vorhergesagt (Prskawetz  et  al., 2007). Auch in Hinblick auf die Bevölkerung im Erwerbsalter gilt jedoch, dass die Potenzialausschöpfung vom Wirtschaftssystem und Politikstrategien abhängig ist, wobei im Besonderen Bildung eine zentrale Rolle einzunehmen scheint (Lutz et al., 2019). Durch die Zunahme der Altersgruppe ab 65 Jahren ist jedoch abgesehen vom Rückgang der Erwerbsbevölkerung auch ein negativer Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Ersparnis zu erwarten (Lindh et al., 2010). Da diese als Hauptquelle der Finanzierung von Investitionen gilt, wird auch diesbezüglich mit negativen Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung gerechnet (Thieß et al., 2020).

6.3.2 Konsumstruktur/Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen Der private Konsum ist mit rund 50 % des Bruttoinlandsprodukts ein entscheidender Faktor im Wirtschaftskreislauf. Die Konsumstruktur der Haushalte bestimmt sich durch individuelle Präferenzen, die Preise der Waren und Dienstleistungen sowie das verfügbare Budget, wobei das Kalkül der Nutzenmaximierung angenommen wird (für Details siehe u. a. Mankiw & Taylor, 2021). Die Präferenzenordnung spiegelt dabei auch demographische Indikatoren wieder, insofern die Bedürfnisse und Wünsche der Konsumenten in Abhängigkeit des Alters variieren (vgl. u.  a. Aigner-Walder, 2012, mit einer Analyse für Österreich sowie Brenke & Pfannkuche, 2018, für Deutschland). So sind beispielsweise die Ausgaben für Bildung im jungen Alter am höchsten, während Gesundheitsausgaben mit steigendem Alter zunehmen. Die Nachfrage privater Haushalte nach Gütern kann dabei als Bestimmungsfaktor der Produktions- und Dienstleistungsstruktur sowie des Arbeitsmarktbedarfs angesehen werden. Bestehende Analyse lassen durch die Alterung der Bevölkerung beispielsweise einen Anstieg der Nachfrage in den Bereichen Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke sowie Wohnung, Beheizung, Beleuchtung erwarten, während die Ausgaben für Verkehr und Café, Restaurant, Hotel zurückgehen sollen (Aigner-Walder, 2012). Die Verschiebung der Nachfrage hin zu Gütern mit relativ geringer Auslandsimportneigung (z. B. Nahrungsmittel, Gesundheit) bzw. weg von Gütern mit relativ hoher Importneigung (z. B. Treibstoffe, KZF) lässt eine leichte Erhöhung der Bruttowertschöpfung und Beschäftigung erwarten. Allerdings kommt es zu einer verstärkten Nachfrage nach Dienstleistungen mit nur geringen Innovations- und Produktivitätspotenzialen, mit der Gefahr eines möglichen negativen Einflusses auf die Wirtschaftsentwicklung (Mayerhofer et al., 2010).

6.3.3 Rückgang des Erwerbspotenzials Wie bereits im vorangegangenen Kap. 2 dargelegt wurde, geht mit den demographischen Entwicklungen ein Rückgang der Bevölkerung im potenziellen Erwerbsalter einher. Für Deutschland beträgt der prognostizierte Rückgang bis 2050 über 13 % (Destatis, 2022, eigene Berechnung), in Österreich soll die Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren um

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gut 5 % sinken (Statistik Austria, 2021, eigene Berechnung). Die Erwerbsprognosen fallen allerdings positiver aus, da davon ausgegangen wird, dass die Erwerbsbeteiligung durch das höhere Bildungsniveau allgemein sowie durch eine höhere Beteiligung von Frauen und älteren Personen steigen wird. Insbesondere in ländlichen Regionen werden diese Trends in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung aber kaum ausreichen, um den überdurchschnittlich starken Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auszugleichen. Dies stellt eine große Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung der Regionen dar, insofern die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte einer der zentralen Standortfaktoren für Unternehmen ist (Deutsches Institut für Urbanistik, 2017). Der Mangel an Arbeitskräften wird zudem je nach Qualifikationsniveau und Berufsbild unterschiedlich ausfallen. So zeigt sich aktuell beispielsweise in über 15 der EU28-Länder eine Lücke an Arbeitskräften in den Bereichen Installateure, Pflegefachkräfte, Systemanalysten, Schweißer und LKW-Fahrer (Stand 2. Halbjahr 2020/1. Quartal 2021, European Labour Authority, 2021).

6.3.4 Alterung der Erwerbsbevölkerung Parallel zum Rückgang der Erwerbsbevölkerung ist auch zu berücksichtigen, dass das Durchschnittsalter der arbeitenden Bevölkerung zunimmt. Damit ist die Gefahr eines Produktivitätsverlustes verbunden. Auf individueller Ebene wird ein Rückgang der physischen Leitungsfähigkeit ab dem frühen Erwachsenenalter erwartet, bedingt durch eine nachlassende Gelenkigkeit, einen Abbau von Muskelkraft sowie einen Rückgang der maximalen Sauerstoffaufnahme. Aus wirtschaftlicher Sicht spielen diese körperlichen Faktoren in wissensintensiven Bereichen eine geringere Rolle; in diesen sind im Besonderen kognitive Kompetenzen wesentlich. In Bezug auf geistiges Wissen bleibt die sogenannte kristalline Intelligenz, d.  h. langfristig aufbaubare Kompetenzen wie Allgemeinwissen, Erfahrungswissen oder Wortschatz weitgehend erhalten, allerdings nimmt die fluide Intelligenz (z.  B.  Aufnahmegeschwindigkeit, mentale Flexibilität) mit steigendem Alter ab (siehe Kunnert et al., 2010, sowie darin angeführte Quellen für Details). Skirbekk (2008) reüssiert, dass die Arbeitsleistung im hohen Alter häufig zurückgeht, dies aber nicht für alle Berufe gelte bzw. vom konkreten Anforderungsprofil abhänge. Makroökonomische Studien zur Altersstruktur des Erwerbspotenzials und der gesamtwirtschaftlichen Produktivität zeigen jedoch eine konkave Beziehung (Lindh & Malmberg, 1999; Prskawetz et al., 2007). Auch in Bezug auf die Alterung der Erwerbsbevölkerung gilt gleichermaßen, dass periphere ländliche Räume zunehmend betroffen sind. Hinzu kommt, dass das Bildungsniveau in ländlichen Gebieten geringer ist bzw. der Anteil an Personen mit einem Hochschulabschluss insbesondere in den Städten hoch ist (Statistik Austria, 2022).

6.3.5 Fiskalische Ungleichgewichte Aus Sicht der öffentlichen Hand gilt zudem, dass durch die Alterung der Bevölkerung geringere finanzielle Ermessensspielräume zu erwarten sind. Zum einen kommt es zu ei-

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nen Anstieg der Demographie-reagiblen Ausgaben, z. B. im Sozial- bzw. im Besonderen im Pensions-, Gesundheits- und Pflegebereich, ausgelöst durch die Erhöhung des Altersquotienten (Bertelsmann Stiftung, 2021). Darüber hinaus besteht durch den Rückgang der Erwerbsbevölkerung die Gefahr einer Erosion der Steuerbasis; dies gilt im Besonderen für die Einkommenssteuer und nachgelagerte Steuerarten (Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 2016), aber auch die auf kommunaler Ebene relevante Gewerbe- bzw. Kommunalsteuer. Von Bevölkerungsrückgang betroffene Gebiete können aufgrund der Relevanz der Bevölkerungszahl zudem mit geringeren Einnahmen aus dem Finanzausgleich rechnen. Parallel dazu steigt der Bedarf an altersspezifischen Angeboten und Dienstleistungen (z. B. altersgerechte soziale Infrastruktur, Mobilitätsangebote) (Aigner-Walder & Bliem, 2012). Die genannten Entwicklungen schränken auch den Handlungsspielraum im Bereich der Wirtschaftsförderung ein bzw. machen eine kritischere Auseinandersetzung mit den Ausgaben der öffentlichen Hand notwendig. In Regionen mit Schrumpfungstendenzen gilt es dabei, auch bei rückläufiger Auslastung und damit steigenden Pro-Kopf-­ Kosten ein Mindestmaß an Infrastruktur aufrecht zu erhalten, um (zusätzliche) Abwanderung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu verhindern.

6.3.6 Gefahr einer negativen Entwicklungsspirale Aus den beschriebenen Entwicklungen ergibt sich im Besonderen für ländliche Gebiete die Gefahr einer negativen Entwicklungsspirale (OECD, 2006; Weber & Fischer, 2010). Die Alterung der Bevölkerung und vielfach zusätzlich Abwanderungstendenzen führen zu einer geringen Bevölkerungsdichte, sodass es zu einer fehlenden kritischen Masse für das Infrastrukturangebot kommen kann. Dies gilt sowohl für die technische (z. B. Wasser, Kanal) als auch die soziale Infrastruktur (z. B. Kindergärten, Schulen). Die demographischen Entwicklungen bedingen einen Rückgang der Finanzkraft der privaten und öffentlichen Haushalte, mit der Konsequenz einer Ausdünnung der Nahversorgung, einer schlechteren Auslastung der Infrastruktur und der potenziellen Notwendigkeit einer Rücknahme an Investitionen durch die öffentliche Hand. Daraus ergibt sich ein weiterer Verlust an Standortattraktivität – sowohl für Arbeitskräfte als auch Unternehmen – mit der Gefahr einer sich fortsetzenden Abwanderung, eines Rückgangs an Gemeinschaftsleben und politischem Gewicht.

6.4 Folgen für die Wirtschaftsförderung Die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Folgen der Bevölkerungsalterung für (ländliche) Regionen stellen zentrale Herausforderungen für die regionale Wirtschaftsförderung dar. Zu den wesentlichen Aufgaben der kommunalen bzw. regionalen Wirtschaftsförderung zählt das Schaffen von Voraussetzungen für die Ansiedelung sowie die Bestandssicherung und -erweiterung von Unternehmen. Übergeordnet soll damit der Lebensstandard der Bevölkerung erhöht werden, u. a. durch die Sicherung bzw. den Ausbau von Arbeitsplätzen, eine krisensichere und wettbewerbsstarke lokale Wirtschaft sowie eine finanzstarke

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öffentliche Hand (Korn, 2010). Die Sicherung von Arbeitsplätzen ist dabei auch vor dem Hintergrund der Abwanderung aus ländlichen Gebieten bzw. der Gefahr einer negativen Entwicklungsspirale von großer Relevanz, da fehlende Arbeitsplätze  abgesehen von  der Abwanderung zu Ausbildungszwecken eine zentrale Ursache für Wanderbewegungen innerhalb eines Landes darstellen (Aigner-Walder & Klinglmair, 2015). Daraus ergibt sich die Frage, welche Maßnahmen die öffentliche Hand vor dem Hintergrund der demographischen Trends ergreifen kann, um die wirtschaftliche Entwicklung von alternden und schrumpfenden Regionen zu erhöhen. Im Folgenden werden einige Handlungsfelder bzw. Potenziale dazu erläutert.

6.4.1 Erhöhung Erwerbsbeteiligung Zur Entgegnung eines potenziellen Rückgangs an Arbeitskräften sind mehrere Optionen anzudenken, welche parallel umgesetzt werden können. Zum einen gilt es, die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen zu erhöhen. Diesbezüglich scheint basierend auf europäischen Vergleichszahlen zur Beschäftigungsquote der 55–64-Jährigen insbesondere in Österreich Potenzial gegeben. Im Jahr 2021 lag diese in Österreich bei 55,4 %, bei 60,5 % im europäischen Mittel und 71,8 % in Deutschland (Eurostat, 2022b). Diesbezüglich ist ein Annähern des tatsächlichen an das gesetzliche Pensionsantrittsalter anzustreben und sollte auch eine Koppelung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung angedacht werden. Eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung ist abgesehen von älteren Personen auch in Hinblick auf Frauen anzustreben, welche vermehrt in Teilzeit beschäftigt sind. In Österreich lag die Teilzeitquote von Frauen im Jahr 2021 bei 49,9 %, in Deutschland bei 47,7 %, bei einem europäischen Durchschnitt von 28,3  % (Eurostat, 2022c). In diesem Zusammenhang scheint auch der Ausbau von Kinderbetreuung essenziell, um Frauen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu unterstützen. Zudem ist auch in Hinblick auf Migranten eine verbesserte Aufnahme und raschere Integration in den Arbeitsmarkt anzustreben. So zeigen Statistiken für Österreich und Deutschland geringere Erwerbsquoten nach Bildungsstand bei Migranten aus EU- und Nicht-EU-Ländern (vgl. Aigner-Walder et al., 2021a, b).

6.4.2 Investition in Bildung Der Rückgang der Erwerbsbevölkerung muss nicht per se negative Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringen. Der bevorstehende Mangel an Arbeitskräften lässt gemäß den bestehenden Wirkungsmechanismen am Markt einen Anstieg der Gehälter erwarten, wodurch sich ein höherer Anreiz für Investitionen in Humankapital ergibt. Daraus könnte ein rascherer Wandel zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft gelingen und wirtschaftliches Wachstum gewährleistet werden. Zudem ist auch eine höhere Beteiligung am Arbeitsmarkt zu erwarten, was den Rückgang der Erwerbsbevölkerung und des nationalen Sparens kompensieren könnte (vgl. Mérette, 2002). Um diese Entwicklung zu

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stärken, gilt es aus Sicht der öffentlichen Hand, bildungsfördernde Maßnahmen zu ergreifen, um die Voraussetzungen für langfristiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Daraus sind auch Effekte für die Erwerbsbeteiligung zu erwarten, insofern diese positiv mit dem Ausbildungsstand korreliert ist (vgl. Aigner-Walder et al., 2021a, b für Werte zu Österreich und Deutschland).

6.4.3 Investition in Forschung und Entwicklung Der demographisch bedingte Mangel am Arbeitsmarkt lässt zudem erwarten, dass der teurer gewordene Produktionsfaktor Arbeit durch Kapital ersetzt wird, mit der Folge kapitalintensiverer Arbeitsplätze. Dazu könnte eine Erhöhung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben erfolgen, mit der Zielsetzung arbeitssparenden Fortschritt zu forcieren. Automatisierung oder Digitalisierung könnten damit fehlende Arbeitskräfte kompensieren (vgl. Thieß et al., 2020). Konkret bedeutet dies, dass Forschung & Entwicklung, technischer Fortschritt – auch im Unternehmen (Sprichwort Digitalisierung), sowie generell Investitionen gefördert werden sollten, um die Produktivität zu erhöhen. Abgesehen von Investitionen im Sinne von Kapital für Forschung und Entwicklung sind für entsprechende Prozesse auch hoch gebildete Arbeitskräfte notwendig.

6.4.4 Zielgerichtete Qualifizierung von Arbeitskräften Die Forderung nach einer erhöhten Qualifizierung von Arbeitskräften gilt des Weiteren und im Besonderen auch aufgrund der geänderten Nachfrage der Konsumenten mit steigendem Alter. So kommt es u. a. zu einer verstärkten Nachfrage nach Dienstleistungen (z. B. im Pflege- und Gesundheitsbedarf) und gilt es durch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen einem potenziellen Arbeitskräftemangel vorzubeugen – insbesondere in jenen Bereichen, in welchen europaweit aktuell bereits ein großer Mangel an Fachkräften herrscht (z.  B.  Installateure, Pflegefachkräfte, Systemanalysten; vgl. European Labour Authority, 2021). Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklungen sollte das bestehende Erwerbspotenzial verstärkt eingebunden werden, und bei einer potenziellen Diskrepanz zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage u. a. auch Umschulungen ins Auge gefasst werden. In diesem Zusammenhang scheint auch eine Reduktion des Anteils früher Schulabgänger von Relevanz. Im Jahr 2021 waren in Österreich 9,4 % und in Deutschland 9,2 % der 15–29-Jährigen weder beschäftigt noch in Aus- oder Weiterbildung (Eurostat, 2022d).

6.4.5 Unterstützung von Unternehmen Die öffentliche Verwaltung ist jedoch auch angehalten, Unternehmen in Bezug auf die Bewältigung des demographischen Wandels zu unterstützen. Der Anstieg des Durchschnittsal-

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ters spiegelt sich auch in der Altersstruktur von Unternehmen wider. Bei bevorstehenden Pensionierungen gilt es vorbereitet zu sein, um einerseits einen Verlust von Know-how im Unternehmen zu vermeiden und andererseits einen „fließenden Übergang“ zu gewährleisten. Die öffentliche Hand ist gefordert, die Thematik ins Bewusstsein der Betriebe zu rücken; insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen ohne eigenständige Personalabteilung findet dieses Thema im Arbeitsalltag möglicherweise unzureichend Einzug. Abgesehen von Altersstrukturanalysen, um einen Einblick zu erhalten, welche Fachbereiche im Besonderen von der Alterung betroffen sind, sollte die Zielsetzung auch darin bestehen, die Gesundheit der Mitarbeiter zu fördern sowie Weiterqualifizierung und Laufbahnplanungen zu forcieren, um diese langfristig zu binden. So zeigt sich in der Praxis, dass ältere Personen deutlich seltener an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen (siehe Statistiken für Deutschland und Österreich unter Eurostat, 2022e). Des Weiteren können generationenübergreifende Teams dazu beitragen, das Wissen im Unternehmen breiter zu streuen.

6.4.6 Wachstums-/stabilitätsorientierte Standortpolitik Aus strategischer Sicht ist innerhalb der (regionalen) Verwaltung zudem eine wachstumsoder zumindest stabilitätsorientierte Standortpolitik zu verfolgen. Dabei sollten im Besonderen die endogenen Wachstumspotenziale der Region beachtet werden und deren Entwicklung gezielt gestärkt werden. So könnte die Lebensqualität im ländlichen Raum im Sinne der sauberen Umwelt und der Wohnsituation durch die Zunahme der Relevanz weicher Standortfaktoren (Döring & Aigner, 2010) ein Potenzial für die Ansiedlung von Arbeitskräften und Unternehmen darstellen. Dies gilt umso mehr, als der Anteil an Home-­ Office Tätigkeiten im Zuge der Corona-Pandemie deutlich zugenommen hat. Als Basis dafür muss jedoch eine gut ausgebaute Infrastruktur angesehen werden. Dies betrifft zum einen die technische Infrastruktur, als Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung (z. B. Verkehrsinfrastruktur, Breitbandinternet), zum anderen aber auch die soziale Infrastruktur, welche im Besonderen für die erwerbsfähige Bevölkerung vor Ort von Relevanz ist (z.  B. ärztliche Versorgung, Freizeitangebote, Kindergärten, Schulen), ­ auch um eine Abwanderung von Arbeitskräften in größere Städte zu verhindern.

6.4.7 Überörtliche regionalpolitische Koordination In Bezug auf das Infrastruktur- und Dienstleistungsangebot ist jedoch auch kritisch zu hinterfragen, ob jede Kommune sämtliche Dienstleistungen anbieten muss, oder eine verstärkte räumliche Koordination und der Ausbau des öffentlichen Verkehrs zur Erreichung der unterschiedlichen, räumlich verteilten Angebote ausreichend wären, im Sinne von kleinräumig strukturierten zentraler Orte, welche eine flächendeckende und in zumutbarer Entfernung liegende Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Dies erfordert jedoch eine überörtliche, strategische regionalpolitische Steuerung, welche eine positive wirtschaftli-

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che Entwicklung der gesamten Region gewährleisten soll. Welches Angebot in welchem Ort angesiedelt wird, kann u. a. vom Einzugsbereich oder Entwicklungspotenzialen abhängig gemacht werden, wobei ein dementsprechendes Konzept unter Einbeziehung aller wesentlichen Akteure ausgearbeitet werden sollte. Damit soll auch eine unkoordinierte Aufgabe von Standorten vermieden werden (Aring et al., 2006). Eine gute verkehrstechnische (öffentliche) Anbindung an größere Zentren kann zudem Zugang zu einem größeren Angebot an Infrastruktur und Dienstleistungen als auch zu größeren Arbeitsmärkten bieten und Ausbreitungseffekte für ländliche Gebiete mit sich bringen (Machold, 2010). Wesentlich dafür scheint auch die Etablierung eines auf Koordination ausgerichteten Mindsets – weg vom Konkurrenzdenken, hin zu einem breiteren, gesamthaften Blickwinkel.

6.4.8 Auswege aus finanzieller Belastung Um die genannten Maßnahmen forcieren und unterstützen zu können, ist auch eine finanzstarke öffentliche Hand notwendig. Da die demographischen Entwicklungen die öffentlichen Finanzen verstärkt in Bedrängnis bringen werden (mehr Ausgaben für Pensionen, Gesundheit und Pflege, potenziell geringere Einnahmen durch eine rückläufige Erwerbsbevölkerung), gilt es umso mehr, auf die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu achten. Abgesehen von Maßnahmen um die finanziellen Folgen der Alterung abzufedern (z. B. Erhöhung Pensionsantrittsalter, Erhöhung Erwerbsbeteiligung), sind auch die Notwendigkeit der bestehenden Aufgaben (Zweckkritik) sowie die Art und Weise der Aufgabenerfüllung (Prozesskritik) kritisch zu hinterfragen, Reformmöglichkeiten sowie alternative Formen der Aufgabenerfüllung zu prüfen (z. B. Vergabe an Dritte, Interkommunale Zusammenarbeit, PPP; siehe Aigner-Walder & Bliem, 2012, für potenzielle organisatorische Reformoptionen). Zudem sollte die Rückführung des Schuldenstandes einen hohen politischen Stellenwert erhalten, um für die bevorstehenden Herausforderungen gerüstet zu sein. Förderlich für ein effizienteres und effektiveres Verwaltungshandeln können dabei auch die Instrumente eines mittel- und langfristigen Finanzplans samt Analyse der (künftigen) Auslastung von Anlagen und geplanter Investitionen, ein Demographie-­ ­ Monitoring, Nachhaltigkeitsberichte, eine wirkungsorientiere Budgetierung sowie Globalbudgets für eine höhere Flexibilität im Haushaltsvollzug sein. Zudem sind Doppelzu­ ständigkeiten und Mischfinanzierungen im Finanzausgleich zu vermeiden.

6.5 Fazit Der demographische Wandel bzw. die Alterung der Bevölkerung lässt zahlreiche Effekte für die wirtschaftliche Entwicklung erwarten. Der Rückgang der Geburtenrate und der Anstieg der Lebenserwartung führen nicht nur zu Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt, sondern sorgen für eine geänderte Nachfrage privater Haushalte und stellen eine finanzielle Herausforderung für die öffentliche Hand dar. Sie belasten auch das auf dem

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Umlageprinzip finanzierte Sozialsystem. Ländliche Regionen sind von den beschriebenen Entwicklungen im Besonderen betroffen, als dass dort der Altersdurchschnitt bereits höher ist und diese vielfach zusätzlich von Abwanderung in städtische Gebiete gekennzeichnet sind. Umso mehr gilt es, eine negative Entwicklungsspirale zu verhindern. Da gut ausgebildete Arbeitskräfte zum einen für die Ansiedlung und den Bestandserhalt von Unternehmen von großer Relevanz sind und die Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen zum anderen ein wesentlicher Faktor für Wandermotive darstellt, gilt es für die Wirtschaftsförderung im Besonderen in diesen Bereichen aktiv zu werden. Dies umfasst, eine Infrastruktur zu schaffen und zu erhalten, welche für die Entwicklung von Unternehmen förderlich ist und einen angenehmen Lebensstandard für die Bevölkerung gewährleistet, in Bildung, Forschung und Entwicklung sowie Qualifizierung zu investieren – dabei die geänderte Nachfragestruktur durch die Alterung zu berücksichtigen, für eine erhöhte Erwerbsbeteiligung zu sorgen und Unternehmen auch in Hinblick auf den demographischen Wandel im Unternehmen zu unterstützen. Darüber hinaus wird es notwendig sein, verstärkt überregional zu kooperieren, die Wettbewerbsvorteile einzelner Regionen zu nutzen, das Infrastrukturangebot räumlich koordiniert zur Verfügung zu stellen und sich zu vernetzen, um als Region im (inter)nationalen Standortwettbewerb zu bestehen. Alle diese Maßnahmen erfordern jedoch eine finanzstarke Verwaltung und auch hier gilt es, demographische Folgen für die Finanzen frühzeitig zu berücksichtigen sowie potenzielle Maßnahmen für ein Mehr an Effizienz, Effektivität und finanzpolitischen Spielraum umzusetzen, um für die kommenden demographischen (und weiteren) Herausforderungen vorbereitet zu sein.

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FH-Prof. Dr. Birgit Aigner-Walder  ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der FH Kärnten und leitet das Department Demographic Change and Regional Development am Institute for Applied Research on Ageing (IARA). Sie war zuvor als Senior Scientist am Institut für Höhere Studien Kärnten tätig. Sie forscht zu den Auswirkungen der Bevölkerungsalterung aus wirtschaftlicher Perspektive.

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Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft/Strukturwandel Jens Stuhldreier

Zusammenfassung

Spätestens seit dem Lissaboner Gipfel im Jahr 2000, auf dem die Strategie der Staatsund Regierungschefs der Europäischen Union beschlossen wurde, Europa zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ (Europäischer Rat, 2000) zu machen, hat der Begriff der Wissensgesellschaft eine neue Wertigkeit erhalten. Bereits heute führen neue Technologien wie die Informations- und die Nanotechnologie, die Bio- und die Gentechnologie weltweit zu wirtschaftlichem Strukturwandel. Der Dienstleistungsanteil an klassischen Industrieprodukten wird weiter zunehmen, das Design gewinnt bei technisch vergleichbaren Lösungen an Bedeutung für die Produkt- und Markenpositionierung. „Wissen“ wird der vierte starke Produktionsfaktor neben den klassischen Produktivkräften Arbeit, Boden und Kapital. Im diesem Beitrag wird in einem ersten Schritt überblicksartig auf die vielfältigen Strukturwandelprozesse des Landes Nordrhein-Westfalen eingegangen. Durch die Digitalisierung werden Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle teilweise disruptiv verändert. Dabei müssen Unternehmen nicht nur allein in Anlagegüter, sondern in erster Linie in das Wissenskapital investieren. Somit gewinnt das Thema der Wissensgesellschaft einen erneuten Bedeutungszuwachs. In einem zweiten Schritt werden die Dimensionen der Wissensgesellschaft charakterisiert, bevor in einem dritten Schritt die zunehmende Relevanz des Wissenskaptals illustriert wird.

J. Stuhldreier (*) Hagen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_7

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7.1 Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen und in der Metropole Ruhr Nordrhein-Westfalen blickt auf eine lange Geschichte von Erneuerungsprozessen sowie von wirtschaftlichem, gesellschaftlichem, politischem und technologischem Wandel zurück. Das Ruhrgebiet1 ist eng mit der Thematik des Strukturwandels verbunden, Zechensterben, der Strukturwandel in der Stahlindustrie, freigesetzte Arbeitskräfte, eine Region im Umbruch  – das waren die Herausforderungen, vor denen das Ruhrgebiet Mitte der 60er-Jahre stand. Im Zuge der 60er- und 70er-Jahre verlagerte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt zunehmend auf die Bereiche Elektroindustrie und Fahrzeugbau. Neben der schwerpunktmäßigen Verlagerung der industriellen Produktion wurde der Strukturwandel durch die Beschäftigungsexpansion im Dienstleistungssektor vorangetrieben, welche im Ruhrgebiet nicht zuletzt auch auf den Aufbau von Universitäten und einer vielfältigen Forschungslandschaft zurückzuführen ist. Das Ruhrgebiet begab sich auf den Weg von einer traditionellen Industrieregion zu einer wissensorientierten Zukunftsregion (vgl. grundlegend auch Läpple, 1994). Der Strukturwandel ist durch unterschiedliche Politikkonzepte initiiert, flankiert und beschleunigt worden. Die regionalisierte Arbeits- und Strukturpolitik gehört wegen der besonderen wirtschaftlichen Lage, in der sich Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet seit Jahrzehnten befinden, zu den besonders wichtigen Themen der Landespolitik. Bei den einzelnen Phasen der Struktur- und Arbeitspolitik zieht sich der Umbau von der Industriezur Wissensgesellschaft wie ein roter Faden durch die einzelnen zeitlichen Abschnitte. Die nachfolgenden Phasen der Struktur- und Arbeitspolitik in Nordrhein-Westfalen lassen sich unterscheiden (vgl. Heinze et al., 1992 und insbesondere dazu nachfolgend Stuhldreier, 2017, S. 156 ff.).  Die Bezeichnung Ruhrgebiet geht auf den historischen räumlich-funktionalen Zusammenhang als „rheinisch-westfälischer Industriebezirk“ zurück. Die regionale Begrenzung des Ruhrgebiets fand auf der Grundlage wirtschaftlicher Interessen statt, die sich insbesondere an den abbaubaren Steinkohlevorkommen und der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Stahlindustrie orientierten. Im Verlauf des beginnenden 20. Jahrhunderts hat sich das Ruhrgebiet zu einer stark wachsenden Region entwickelt, die einen rasanten Wandel von einer agrarisch geprägten Wirtschaft hin zum deutschen Zentrum für Kohleabbau und der Stahlproduktion durchlief und in der Folge den größten Ballungsraum Deutschlands entstehen ließ. Trotz wirtschaftlicher Veränderungen blieb die ursprüngliche Industrieregion zwischen Duisburg und Hamm als heutiges Ruhrgebiet bis heute in den Köpfen der Bevölkerung verankert. Schon dass das Ruhrgebiet in seinem Namen das Wort „Gebiet“ enthält, weist darauf hin, dass es sich hier eher um ein Kunstgebilde, als um eine historisch gewachsene, wirtschaftliche und sozial integrierte Region handelt. Das zeigt auch die Tatsache, dass das Ruhrgebiet von drei gewachsenen Regionen, Westfalen, Münsterland und Rheinland, durchschnitten wird. Trotz vieler Bemühungen um einen eigenen Regierungsbezirk gibt es bislang keine Verwaltungsklammer und deshalb orientiert sich die Studie an den strukturellen Rahmendaten des Ruhrgebiets in der Abgrenzung des Regionalverbandes Ruhr (RVR). Der RVR, in dem 11 kreisfreie Städte und vier Kreise angesiedelt sind und der aus 53 kommunalen Gebietskörperschaften besteht, umfasst mit rd. 5,3 Mio. Einwohnern nahezu ein Drittel der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens. 1

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7.1.1 Phase 1 (1945–1968): Der Wiederaufbau: „Modernisierung alter Strukturen“ Nach dem 2. Weltkrieg ging es in der Strukturpolitik zunächst um die Modernisierung alter Strukturen in einer komprehensiven Perspektive mithilfe einer zentralen Steuerung (vgl. z. B. Selle, 2006). In NRW traf es zunächst die Textilindustrie und darauffolgend ab 1957/1958 den Bergbau. Jedoch erst 1964 stellte die damalige Landesregierung fest, dass im Ruhrgebiet zur Verhinderung eines weiteren Zurückbleibens hinter der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung des Landes eine Verbesserung der Wirtschaftsstruktur und eine Erhöhung der Attraktivität durch Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse erforderlich sind und die Kommunen aufgrund ihrer engen Haushaltslage einer finanziellen Hilfe des Landes bedurften, um diese Veränderungen einleiten zu können. Parallel hierzu gab es zwar erste strukturrelevante Maßnahmen wie die Gründung der Ruhr-Universität in Bochum. Es dauerte aber nochmals fünf Jahre (und einen Regierungswechsel) bis die neue Landesregierung 1968  in der Lage war, Bevölkerung und Wirtschaft eine geschlossene Programmatik für die Lösung dieser neuen strukturellen Probleme anzubieten.

7.1.2 Phase 2 (1968–1975): Erste Ansätze einer „reaktiven“ Strukturpolitik Entwicklungsprogramm Ruhr 1968–1973 Nachdem in den 1950er und in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre der Wiederaufbau und die Schaffung von Wohnraum sowie Gewerbe- und Industriebetrieben in NRW im Vordergrund gestanden hatten, rückte ab Mitte der 1960er-Jahre mehr und mehr auch die planerische Vorsorge für andere Grundbedürfnisse der Menschen in den Blick. Neben der Planung anderer Einrichtungen der öffentlichen Infrastruktur galt es, vor allem im Verdichtungsgebiet zusätzliche Erholungsflächen und Sportanlagen zu schaffen. Am 5. März 1968 beschloss die Landesregierung NRW das „Entwicklungsprogramm Ruhr“ 1968–1973, einen mittelfristigen Handlungsplan zur Verbesserung der öffentlichen Grundausstattung im Ruhrgebiet. Das Entwicklungsprogramm Ruhr sah zum ersten Mal umfassende Maßnahmen zur Verbesserung der strukturellen Situation in einer Region vor. In der Hauptsache ging es in diesem Programm um den Ausbau von Infrastrukturen. Die Verkehrsnetze sollten neu bzw. ausgebaut, Schulen und Hochschulen modernisiert und neue eingerichtet werden, regionale Erholungseinrichtungen entstehen und schließlich die Stadtlandschaft wesentlich verbessert werden. Zu den zahlreichen Vorhaben gehörten auch Maßnahmen zum Ausbau der regionalen Erholungseinrichtungen. Besonders hervorzuheben ist die Schaffung von Revierparks und Freizeitzentren. Leitvorstellung war, möglichst vielfältige Einrichtungen an gut erreichbaren Standorten zu bündeln (Finanzausstattung: Mittel des Landes NRW ca. 4,3 Mrd. € bis 1973 als zusätzliche Gelder neben den ca. 8,5 Mrd. € Strukturhilfen des Bundes, des Landes und der EU).

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7.1.3 Phase 3 (1975–1986): Erste Bemühungen einer „aktiven“ integrierten Strukturpolitik Nordrhein-Westfalenprogramm von 1975 Mit dem „Entwicklungsprogramm Ruhr“ (und dem daraus 1975 entwickelten Nordrhein-­ Westfalen-­ Programm) wurden die ersten Schritte weg von einem reaktiven Krisenmanagement, hin zu einer bewussten und gezielten Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets unternommen. Damit schuf man die Voraussetzungen dafür, dass das Ruhrgebiet seine Chancen zum strukturellen Wandel besser wahrnehmen konnte. Neue Universitäten, Kultureinrichtungen und Unternehmen trugen ihren Teil zu dieser Veränderung bei. Mit dem „Nordrhein-Westfalen-Programm“ stellte die damalige Landesregierung einen Handlungsplan auf, der die Entwicklungsperspektive für das ganze Land NRW bis zur Mitte der 70er-Jahre darstellte und die voraussehbaren Entwicklungstendenzen aufzeigte (ein Schwerpunkt: Gebietsreform). Der Umfang des Programms bzw. Mehrausgaben der Landesregierung betrug etwa 1,9 Mrd. €. Die in den Programmen abgestimmte regionale Wirtschaftspolitik des Landes und des Bundes verfehlte ihre Wirkung nicht. Bis zum Jahr 1974 konnte das Ruhrgebiet seine Wachstumsrückstände zunächst fast aufholen. Technologieprogramm Wirtschaft von 1978 Das Land legte in einem ersten Schritt ab 1978 das „Technologieprogramm Wirtschaft“ auf und griff somit neben der Infrastrukturentwicklung einen weiteren Aspekt der Strukturpolitik neu auf: den Technologie-Transfer. Ziel war die Entwicklung einer „Neoindustrialisierungsstrategie“, die neben Kohle und Stahl auch andere Branchen einbezog und insbesondere auch mittelständische Betriebe fördern sollte. Neben der projektbezogenen Förderung von Produkt- und Prozessinnovationen unterstützte das „Technologieprogramm Wirtschaft“ auch Institutionen des Wissens- und Technologietransfers und der Innovationsberatung (etwa 200 Projekte). In diesem Zusammenhangentstanden ab den 1980er-­Jahren im Ruhrgebiet erste Technologiezentren (Finanzausstattung: von 1978 bis 1984 etwa 76,7 Mio. €). Ruhrgebietskonferenz der Landesregierung NRW 1979 (Aktionsprogramm Ruhr 1980–1984) Das „Aktionsprogramm Ruhr“ (APR) von 1979 (1980–1984) führte den strukturpolitischen Ansatz des Technologieprogramms weiter. Neben der direkten Förderung von Kohle und Stahl setzte das Programm auf die Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, auf die Förderung von Dienstleistungen, Förderung neuer Technologien sowie auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Verbesserung der Qualifikationsstruktur und Forschung. Weitere Maßnahmen waren der Kulturpolitik, dem Umweltschutz und der Infrastruktur (einschl. Städtebau und Wohnumfeldsanierung) gewidmet. Ziel war es, das Wissen aus Hochschulen, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen und sonstigen Ausbildungseinrichtungen schneller in die Unternehmen und damit in die Umsetzung von Produkten

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und Produktionsverfahren umzusetzen. Im Ergebnis sind heute mit der damals begonnenen Technologiepolitik 53 Hochschulen, 62 Technologiezentren und -parks, 31 Technologietransferstellen, 21 Forschungsinstitute und 36 Landesinitiativen entstanden, die sich mit der Entwicklung bestimmter Technologiefelder, wie z.  B.  Bio- und Gentechnik oder Nanotechnologie beschäftigen (Finanzausstattung: 3,5 Mrd. €. Das Land NRW übernahm davon 2,6 Mrd. €, der Bund 0,9 Mrd. €).

7.1.4 Phase 4 (1987–2004): Die regionalisierte Strukturpolitik Das APR war als ein klassisches „Top-down-Programm“ vom Land konzipiert worden. Die massive Strukturkrise des Ruhrgebietes Mitte der 80er-Jahre, dessen Wirtschaftsstruktur bis dahin einseitig auf den Montansektor ausgerichtet war, verlangte jedoch nach einem „neuen Ansatz“ der Strukturpolitik. Mithilfe der „Zukunftsinitiative Montanregion/ ZIM“ (1987) sollten die sich immer deutlicher abzeichnenden strukturellen Probleme angegangen werden. ZIM war kein neues Förderprogramm, sondern eine Neuformulierung von strukturpolitischen Verfahren. Neuartig an diesem Kooperationsansatz war der Einflussgewinn der regionalen Handlungsträger, die erstmalig in Form von Runden Tischen aktiver als zuvor in den Prozess eingebunden wurden. In den sogenannten Konsensrunden sollten die regional bedeutsamen Akteure aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung aber auch sozialer Verbände und Einrichtungen gemeinsam Maßnahmen und Projekte entwickeln, die geeignet waren, den Strukturwandel intensiver voranzubringen. Nach eher experimentellen und vorläufigen Verfahrensinnovationen im Rahmen von ZIM und einer positiven Einschätzung der wissenschaftlichen Begleitforschung wurde das Programm präzisiert und im Jahr 1989 als „Zukunftsinitiative für die Regionen Nordrhein-­ Westfalens“ (ZIN) auf das ganze Land ausgeweitet. Damit war der Grundstein für die Bildung von 15 Entwicklungsregionen und Regionalkonferenzen des Landes und deren freiwillige Zusammenarbeit, die sich in den Regionalen Entwicklungskonzepten niederschlägt, gelegt. Diese Regionalisierung der Strukturpolitik sollte den prozessualen Defiziten beikommen, wie sie für das Ruhrgebiet typisch waren (und sind). ZIN hatte dabei folgendes zum Ziel: • Dezentralisierung: Die Formulierung der Strukturpolitik sollte differenziert in den 15 Regionen geleistet werden. • Partizipation: Die Verantwortung für die Formulierung der Planungsinhalte und deren Umsetzung sollte bei den regionalen Akteuren liegen. • Endogene Potenziale: Auf dieser Ebene sollten die mobilisierbaren endogenen Potenziale identifiziert und z.  B.  Unternehmensverbände bzw. Kooperationen  – ein neuer Hoffnungsträger – realisiert werden. • Kooperation: Eine verbesserte interkommunale Kooperation sollte durch die Bildung der neuen „Regionen“ erreicht werden.Koordination: Erwartet wurde auch eine effizientere Verzahnung mit den Fachpolitiken im Sinne des aufkommenden Nachhaltig-

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keitsgedankens. So waren zum Beispiel Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik aufeinander abzustimmen. • „Goldener Zügel“: Das Land gab zum einen die Analyse- und Handlungsfelder vor, die von den „Regionalen Entwicklungskonferenzen“ zu bearbeiten waren und in den  „Regionalen Entwicklungskonzepten“ eine zentrale Rolle spielen sollten (so z. B. die Entwicklung von regionalen Leitbildern und Stärke-Schwächen-Analysen; die Bevorzugung der Themenfelder „Neue Technologien“, „Qualifikation“, „Flächenmobilisierung“, „Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Belange“ sowie „Gleichstellung von Mann und Frau“). Zum anderen verlangte das Land interkommunale Konsensbildung. Nur solche Projektvorschläge konnten gefördert werden, die zum einen dem Land förderungswürdig erschienen und zum anderen von den beteiligten Akteuren (IHK, Arbeitsverwaltung, DGB, Handwerkskammern, Umwelt- und Gleichstellungseinrichtungen, etc.) konsensual verabschiedet worden waren. In der Laufzeit von ZIM wurden etwa 290 Projekte mit etwa 500 Mio. € gefördert. Internationale Bauausstellung Emscher-Park (1989–1999) Dieses Strukturförderprogramm verknüpfte die Handlungsfelder Städtebau- und Erholungspolitik, Umweltpolitik, Kulturpolitik, Wirtschafts-, Technologie- und Innovationsförderung. Die von Altlasten und traditionellen Industriestrukturen besonders gezeichneten Räume sollten bis 1999 einen Erneuerungsschub mit besonderem Gewicht auf weiche Standortfaktoren erfahren. Die IBA Emscher-Park hat nicht den finanziellen Status eines Sonderförderprogrammes wie ZIM und ZIN, sondern finanziert ihre Projekte im Rahmen vorhandener Programme des Landes, des Bundes und der EU.  Der Planungsraum von Duisburg bis Dortmund mit seinen etwa 800 km2 Fläche und 75 km Ost-West-­Ausdehnung unter Beteiligung von 17 Städten erreichte die Dimensionen der Regionalplanung. Mit Blick auf den geringen Baubedarf mangels Nachfrage bei rückläufiger Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung einerseits und einer mittleren Siedlungsdichte von 2000 Einwohnern pro km2 andererseits wurden Freiraumsicherung und Freiraumgestaltung in den Mittelpunkt dieser Bauausstellung gerückt: daher der Name „Emscher Park“. Damit wurde diese Bauausstellung in starkem Maße zu einer „Landschafts-Bauausstellung“. Die 17 betroffenen Städte haben zusammen mit Unternehmen und vielen bürgerschaftlichen ­Initiativen weit über 100 Projekte mit einer Investitionssumme in der Höhe von annähernd 2,5 Mrd. € realisiert. 16 große Gewerbestandorte wurden auf ehemaligen Industriebrachen entwickelt. Mehr als 5000 Wohneinheiten wurden modernisiert oder in Gestalt neuer Gartenstädte gebaut. Über eine Milliarde wurde in die Ausformung des Emscher Landschaftsparks investiert. Somit dürfte das Ruhrgebiet zwischen 1989 und 1999 die „größte Landschaftsbaustelle“ Europas gewesen sein. Zahlreiche industrielle Produktionsanlagen, meistens mit Denkmalcharakter, wurden erhalten und für neue Nutzungszwecke hergerichtet oder als Kulturdenkmäler unter Mitarbeit von Landschaftsarchitekten und bildenden Künstlern in

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den Emscher Landschaftspark gestellt. Nicht zuletzt wurde der Umbau des Emscher-­ Systems, bislang eine 350  km lange offene Abwasserstrecke, eingeleitet. Der Beschäftigungsbeitrag der IBA Emscher Park ist unumstritten. Zweieinhalb Milliarden Investitionssumme haben einen erheblichen Nachfrageimpuls im Bereich der Bauwirtschaft, des Anlagenbaus und des Garten- und Landschaftsbaus ausgelöst. Vor allem aber haben sich Landschafts- und Stadtqualität und somit die weichen Standortfaktoren im Ruhrgebiet deutlich verbessert. Die Imagewirkung der einzelnen Projekte und der IBA Emscher Park insgesamt lassen sich an der Medienresonanz gut ablesen. Regional- und Strukturpolitik der Europäischen Union (1989–2004) Zur Finanzierung des Strukturwandels erlangte neben dem Europäischen Sozialfonds (ESF), vor allem der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) eine wichtige Bedeutung für NRW und insbesondere das Ruhrgebiet. Im Rahmen der EU-Strukturfonds fördert das Ziel 2-Programm seit 1989 die wirtschaftliche und soziale Umstellung von Gebieten mit Strukturproblemen in Nordrhein-Westfalen, d. h. Regionen, die von rückläufiger industrieller Entwicklung betroffen sind. Hauptziel des aktuellen Ziel 2-Programms von 2000 bis 2006 ist die Schaffung neuer und die Sicherung bestehender Arbeitsplätze, insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen, durch die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Region. Daraus ergeben sich drei Unterziele: • Steigerung der regionalen Investitionstätigkeit einschließlich der Gründung neuer Unternehmen; • Entwicklung und Stärkung regionaler Kompetenzen; • Verbesserung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen.

7.1.5 Phase 5 (seit 2004): Die Weiterentwicklung der regionalisierten Strukturpolitik – Der Ansatz der integrierten Arbeits- und Wirtschaftspolitik (Stärkung regionaler Kompetenzfelder) Der Ansatz einer auf Konsens und Kooperation basierenden regionalisierten Strukturpolitik wird auch in Zukunft fortgesetzt, allerdings mit inhaltlichen Neuakzentuierungen. Bisher konzentrierte sich die Ziel-2 Förderung im erheblichen Umfang darauf, ­Infrastrukturen zu erneuern und alte Industriebrachen zu revitalisieren. Dadurch ist in diesen Bereichen ein sehr hohes Niveau erreicht worden. In der zweiten Hälfte der Programmlaufzeit wird sich der Fokus deshalb verschieben und mit Nachdruck werden die technologisch-­innovativen Stärken der Ziel 2-Regionen in den Mittelpunkt rücken. Zur Förderung von Innovationen, Beschäftigung, Selbstständigkeit und zur Stärkung mittelständischer Strukturen werden sich die Regionen stärker auf bestimmte Schwerpunkte der Regionalentwicklung konzentrieren. Jede Region definiert ihre Stärken und konzentriert sich mit Unterstützung des Landes auf den Ausbau dieser Kompetenzfelder. Um die In­ strumente der Wirtschafts-, Arbeits- und Technologieförderung gezielt zur Unterstützung

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der neuen regionalen Entwicklungsschwerpunkte einsetzen zu können, wird die Regionalförderung in diesen Bereichen neu organisiert. Wirtschafts-, Arbeits- und Technologieförderung werden dabei aus einer Hand angeboten. Die Unterstützung des Landes wird sich auf Technologiefelder (Leitbranchen) konzentrieren, in denen das Land auch im internationalen Vergleich bereits besondere Stärken entwickelt hat: • • • • • •

Serviceorientierte Industrie und produktionsnahe Dienstleistungen; Mikro- und Nanotechnologie; Logistik in Verbindung mit innovativen Technologien wie Telematik; Life Sciences; Neue Materialien; Energie- und Umwelttechnologien.

Bei der Einschätzung der Strukturpolitik für das Ruhrgebiet ist festzustellen, dass auch Deutschland insgesamt in erheblichen Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Strukturwandels steckt. Dies zeigt sich insbesondere in steigender Massenarbeitslosigkeit seit der Mitte der 70er-Jahre. Angesichts der größeren Wirtschaftsprobleme des Ruhrgebiets aufgrund seiner historischen Belastungen mit einer auf die Montanindustrie ausgerichteten Wirtschaftsstruktur muss man die von der Strukturpolitik gestützte Entwicklung im Ruhrgebiet durchaus positiv einschätzen. Während die Arbeitsmarktlage, die soziale Situation der Bevölkerung und die Kommunalfinanzen bundesweit schlecht dastehen, sind die Standortqualitäten (zentrale Lage in der EU, gute Verkehrsinfrastruktur, zahlreiche Hochschulen und Forschungseinrichtungen, zahlreiche Kultur-, Sport- und Freizeiteinrichtungen, mittlerweile differenzierte und diversifizierte Wirtschaftsstruktur, Markt von über 5 Mio. Einwohner, Energiezentrum, ausgebautes System der Berufsbildung, leistungsfähige Arbeitskräfte, auch die ökologischen Belastungen und andere Agglomerationsnachteile dürften nicht schlecht sein) der Ruhrregion durchaus gut. Das Ruhrgebiet verfügt durchaus über ein hohes Entwicklungspotenzial. Wenn man an dieser Stelle in Ergänzung zur Wirtschafts- und Strukturpolitik die regionalisierte Landesarbeitspolitik Revue passieren lässt, so können im Wesentlichen drei Meilensteine in der 30-jährigen Geschichte wie folgt identifiziert werden (vgl. dazu nachfolgend insbesondere Molitor, 2000; Beyer & Frese, 2013 sowie Stuhldreier, 2015): Regionalisierte Arbeitspolitik des Landes NRW seit 1990 Im Jahr 1990 startete das Land Nordrhein-Westfalen mit einem neuen Konzept einer regionalisierten Landesarbeitspolitik (vgl. grundlegend zur Regionalisierung Benz et  al., 1999). Stark im Vordergrund stand in dieser Periode die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Der Strukturwandel in den sogenannten Ziel 2-Regionen sollte durch qualifizierungs-­und beschäftigungspolitische Projekte flankiert werden. Zur Umsetzung der regionalisierten Arbeitspolitik wurde die Errichtung von Regionalkonferenzen bzw.

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Regionalen Beiräten initiiert und die Förderung einer regionalen Beratungs- und Informationsinfrastruktur in Form der Regionalsekretariate vorgenommen. Anfang/Mitte der 1990er-Jahre wurden in diesen Arbeitskontexten zahlreiche Maßnahmen und Projekte in der Region aufgesetzt: Umschulungen von Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit bedrohten Bergbaubeschäftigten, Existenzgründungen und sogenannte „integrierte Projekte“, die strukturpolitische Aufgaben wie die Reaktivierung von Industriebrachen sowie die Instandsetzung von leer stehenden Gebäuden und öffentlichen Parkanlagen, die mit der Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen verbunden waren. In Ergänzung zu diesen Maßnahmen unterstützte das Land NRW die Kommunen bei der Finanzierung von Arbeitsförderungsprogrammen „Arbeit statt Sozialhilfe“, mit denen lang­ zeitarbeitslose Sozialhilfeempfänger in eine geordnete sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gebracht wurden. Ab Mitte der 1990er-Jahre rückte die sogenannte präventive Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund. Mit Beschäftigungstransfergesellschaften wurden den Folgen von Betriebsstilllegungen und Personalabbau in der Industrie entgegengewirkt. Durch diese Maßnahmen des Beschäftigungstransfers konnte oft ein direkter Übergang von Arbeit in Arbeit geschaffen werden, u. a. mithilfe einer zwischenzeitlichen Qualifizierung nach dem Motto „Qualifizieren statt Entlassen.“ Seit Mitte der 1990er-Jahre wurden in NRW auch die beiden großen Landesprogramme „Qualifizierung, Arbeit, Technik, Reorganisation (QUATRO)“ und ADAPT durchgeführt. Mit der neuen Programmphase ab 2000 änderte sich der Ansatz präventiver Arbeitsmarktpolitik des Landes, diese fokussierte sich jetzt nicht nur auf Beschäftigte, die von Arbeitslosigkeit bedroht waren, sondern wendete sich generell an Beschäftigte aus kleinen und mittleren Unternehmen und an die Unternehmen selbst. Die als notwendig erachtete arbeitsorientierte betriebliche Modernisierung sollte durch Maßnahmen der Qualifizierung, Personal- und Organisationsentwicklung vorangebracht werden. Zum Einsatz kamen hier erstmalig die Potenzialberatung und Verbund-, Modell- und Konzeptentwicklungsprojekte. Mit der Landes-ESF-Programmphase ab 2000 erhielt die Regionalisierung einen deutlichen Schub. Das Landesarbeitsministerium stellte den Regionen nunmehr fest kalkulierte regionale Mittelbudgets zur Verfügung. Auf der Basis zu erstellender arbeitsmarktpolitischen Rahmenkonzeptionen wurden Zielvereinbarungen zur Umsetzung und Gewichtung der verschiedenen Handlungsfelder getroffen. Organisatorischer Ausgangspunkt und der Fokus der Kooperations- und Konsensstruktur bildete die regionale Arbeitsmarktkonferenz. Die wesentliche Aufgabe dieser Konferenz bestand insbesondere darin, die Arbeitsmarktprogramme des Landes NRW und des ESF umzusetzen und konzentrierte sich dabei auf die Förderung von Projekten und Initiativen, die unternehmens- und damit mittelstandsnah sowie branchenorientiert ausgerichtet waren und den Strukturwandel unterstützten. Über kooperativ angelegte Projektentwicklungen wurde sie zu einem aktiven Bestandteil korporatistischer Politikstrukturen vor Ort und wirkte wesentlich an der Gestaltung einer regionalen Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik mit.

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Reorganisation der Landesarbeitspolitik mit der Landesregierung ab 2004/2005 sowie der neuen Förderphase ab 2007 Im Jahr 2004 wurde das Wirtschafts- und Arbeitsministerium in NRW vereinigt (Ministerium für Wirtschaft und Arbeit), nach dem Vorbild auf der Bundesebene. Durch den politischen Wechsel der Landesregierung (CDU/FDP) im Jahr 2005 wurden die etablierten regionalen Strukturen zunächst einmal auf den Prüfstand gestellt. In einem ersten Schritt erfolgte eine Reduzierung der bislang 34 Regionalsekretariate auf 16 Regionalagenturen auf der räumlichen Ebene der IHK-Kammerbezirke. Diese sollten die Technologie-, Struktur- und Arbeitspolitik des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit umsetzen. Mit Beginn der neuen EU-Förderphase ab 2007 wurde ein eindeutiger Schwerpunkt der Förderung im Handlungsfeld „Jugend und Berufsausbildung“ gesetzt. Deutlich wurde diese Fokussierung in dem 2006/2007 eingeführten Sonderausbildungsprogramm des Landes. Dadurch wurden die Handlungsfelder „Beschäftigungsfähigkeit“ und „Integration von arbeitsmarktpolitischen Zielgruppen“ deutlich zurückgefahren. In dieser Zeit wurden landesweit sogenannte Demografie-Konferenzen durchgeführt, damit rückte das Thema Demografischer Wandel zum ersten Mal explizit in den politischen Fokus des Landes NRW.  Der wesentliche Kern der ESF-Landespolitik in dieser Zeit bestand in der Umorientierung von der Projektförderung zur Koordinierung und Begleitung der breitenwirksamen Programminitiativen wie Bildungsscheck, Potenzialberatung für Unternehmen, Jugend in Arbeit plus oder Werkstattjahr für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz. Revitalisierung der regionalen Umsetzungsstrukturen ab 2010 und neue Förderphase ab 2014 Die rot-grüne Landesregierung hat im Jahr 2010 an einer Neubestimmung der Landesarbeitspolitik gearbeitet. Im Koalitionsvertrag ist eine Revitalisierung der regionalen Umsetzungsstrukturen definiert worden. Der aktuelle Stellenwert der Regionen in Flächenland Nordrhein-Westfalen lässt sich an folgenden Bezugspunkten festmachen. Die Sichtweise des Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk ist folgende: In den letzten Jahren sind unterschiedliche regionale Konfigurationen entstanden. Neue Regionen, wie zum Beispiel die Metropole Ruhr, die Region Südwestfalen, der Zweckverband Region Aachen oder die Innovationsregion Rheinisches Revier stehen heute neben älteren regionalen Zusammenarbeitsformen. Diese Entwicklungen zeigen, dass die Regionen zur Selbstorganisation fähig und inzwischen auch flexibel genug sind, auf globale Entwicklungen passende regionale Antworten zu finden. Die Bedeutung von Regionen wächst auch aus anderen Gründen: Im internationalen Wettbewerb sind sie besser wahrnehmbar. Die schwierige Finanzlage in vielen Kommunen ist besser zu bewältigen, wenn Kommunen zusammenarbeiten. Viele fachliche Aufgaben sind auf der Ebene der Städte kaum noch lösbar (Verkehr, Tourismus, Energietrassen etc.). Netzwerke und Cluster machen an den Stadtgrenzen nicht halt. Die Lösung demografischer Probleme ist eher in regionalen Handlungsansätzen möglich. Und nicht zuletzt lassen sich ökonomische Strategien des Landes eher auf einige Regionen als auf zahlreiche Städte und Gemeinden anwenden und umsetzen. Der Einsatz öffentlicher Mittel ist zielgerichteter

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und effektiver. Deswegen stärkt die Landesregierung die Regionen, um ihre Potenz im internationalen Standortwettbewerb auszubauen und sie als feste Partner der Wirtschaftspolitik des Landes zu etablieren. Dazu heißt es im aktuellen Operationellen Programm EFRE: „Die Regionen NRW’s sollen auch in der Förderperiode 2014–2020 aktiv an der Umsetzung des OP EFRE NRW beteiligt werden. Hierfür soll ein bestimmter Prozentsatz des Finanzvolumens für regionale integrierte Handlungskonzepte zur Verfügung gestellt werden. […] Die aktive Beteiligung von Regionen an der Wirtschafts- und Strukturpolitik des Landes NRW ist seit vielen Jahren erprobt und erfolgreich. Sie berücksichtigt die Vielfalt des Landes und basiert auf der Tatsache, dass wirtschafts- und strukturpolitische Stärken und Schwächen regional sehr unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Während einige Regionen sich nach wie vor mit den Auswirkungen des Rückzugs aus dem Steinkohlebergbau auseinanderzusetzen haben, sehen sich andere mit den Folgen der Konversion und des durch die Energiewende ausgelösten Strukturwandels, dem Rückzug wichtiger Industrien, des demografischen Wandels und, eng damit verbunden, dem Fachkräftemangel konfrontiert. Durch Einbeziehung der relevanten regionalen Akteure und der regionalen Kompetenzen können die Regionen für diese Herausforderungen Lösungs- und Handlungskonzepte entwickeln, die ihren jeweils spezifischen Bedingungen entsprechen.“ Schon heute fördert das Land kommunale Kooperationen. Das geschieht zum Beispiel durch integrierte Strukturprogramme, wie den Aufruf „Regio. NRW – Starke Regionen, starkes Land. Gesucht: Ideen für mehr Innovationen in den Regionen“. Ziel ist es, die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Regionen zu stärken. Sie entwickeln in Abstimmung mit dem Land integrierte Handlungskonzepte, die in konkrete Projektvorschläge münden. Strukturpolitische Vorstellungen des Landes und regionale Entwicklungsideen werden so miteinander verzahnt, um gemeinsam die individuellen Stärken für die größere Gemeinschaft zu nutzen. In Ergänzung zum OP EFRE findet sich der Stellenwert der Regionen im aktuellen Operationellen Programm ESF wie folgt wieder: Die starken kleinräumigen und regionalen Disparitäten reflektieren beträchtliche regionale Entwicklungsunterschiede zwischen den Arbeitsmarktregionen. Die Arbeitsmarktregionen ergeben sich aus der regionalen Reichweite und Beziehungsdichte von Berufspendlerverflechtungen sowie Produktions- und Dienstleistungsverflechtungen auf regionaler Ebene. … Gerade in Bezug auf die beschäftigungspolitischen Zielsetzungen der Strategie Europa 2020 sind flexible überörtliche, überinstitutionelle und politikfeldübergreifende Umsetzungs- und Abstimmungsstrukturen erforderlich. … Hier setzen die 16 Regionalagenturen an. Sie bilden die Schnittstelle zwischen der Landespolitik zur Umsetzung des ESF auf der einen und den zahlreichen Akteuren aus Kommunen, Kammern, Gewerkschaften und Unternehmen in ihrer Region auf der anderen Seite. Die Regionalagenturen entwickeln gemeinsam mit den Partnern Ziele und Handlungskonzepte im Hinblick auf die Bedarfe und Ressourcen vor Ort. Sie koordinieren die Lenkungsgremien für die gemeinsame Arbeit, in denen die regionalen Handlungskonzepte fachlich bewertet werden.

Durch die regionalisierte Arbeits- und Strukturpolitik ist es ermöglicht worden, dass die Region Ruhr sich bereits in vielen Teilen von einer Industrie- zur Wissenschaftsregion mit

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einer Vielzahl an Hochschul- und Forschungseinrichtungen entwickelt hat. So sehr also die Entwicklung von einer Industrie- zu einer Wissenschaftsregion positiv zu beurteilen ist, so erheblich sind noch die Defizite in der Entwicklung hin zu einer Wissensregion. Diesbezüglich zeigen sich im Ruhrgebiet noch deutliche Nachholbedarfe. Indikatoren wie die Qualifikationsniveaus der Beschäftigten, die Quantität und Qualität akademischer Spin-offs und der Wegzug junger, (hoch-)qualifizierter Menschen (sogenannter „brain drain“) deuten darauf hin, dass das Ruhrgebiet zwar über die hardware (Wissenschaftseinrichtungen) verfügt, jedoch noch deutliche Steigerungsbedarfe im Bereich der software (Technologie- und Wissenstransfer, innovative Unternehmensgründungen etc.) erken­ nen lässt.

7.1.6 Strukturwandel im Rheinischen Revier Aufgrund des vom Bund beschlossenen Ausstiegs aus der Kohleverstromung steht das Rheinische Revier vor einer Jahrhundertherausforderung und einer Jahrhundertchance. Es ist gemeinsames Ziel von Bund, Land und Region, den damit verbundenen Strukturwandel zu gestalten und neue Perspektiven für das Rheinische Revier zu schaffen und umzusetzen. Die Bundesregierung flankiert den erforderlichen Transformationsprozess mit 14,8 Mrd. € Strukturmitteln bis zum Jahr 2038, die teilweise als Finanzhilfen des Landes Nordrhein-Westfalen und teilweise aus Bundesprogrammen verausgabt werden sollen. Der beschleunigte Kohleausstieg ist für das Rheinische Braunkohlerevier eine enorme strukturpolitische Herausforderung (vgl. dazu nachfolgend Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen, 2022 sowie Institut der deutschen Wirtschaft Köln Consult, 2021, S. 5 ff.). Zugleich bietet sich für das Rheinische Revier die Jahrhundertchance, zur europäischen Modellregion für Energieversorgungs- und Ressourcensicherheit zu avancieren. Das Rheinische Revier begegnet den Herausforderungen des Strukturwandels mit einer stärkenorientierten Wirtschaftsförderungsstrategie und setzt auf ein Leitbild, welches die Kompetenzen des Reviers nutzt. Aus der Region sind folgende Zukunftsfelder für die Arbeit der kommenden Jahre identifiziert worden: • • • •

Energie und Industrie Ressourcen und Agrobusiness Innovation und Bildung Raum und Infrastruktur

Eine Internationale Bau- und Technologieausstellung Rheinisches Zukunftsrevier soll als Klammer und Schaufenster die Maßnahmen in den Zukunftsfeldern präsentieren. Der Strukturwandel im Rheinischen Revier wird in einem Drei-Ebene-System zwischen Bund, Land und Region gesteuert. Die Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen Land und Region sind im Reviervertrag festgehalten, den Landesregierung und zentrale Akteure der

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Region am 27. April 2021 unterzeichnet haben. Als Grundlage für das Förderverfahren hat die Zukunftsagentur ein  Wirtschafts- und Strukturprogramm  vorgelegt. Die Akteure im Revier beschreiben darin das Ziel, eine Modell- und Pilotregion für neue Energie und Mobilität, nachhaltige Produktion und ein darauf ausgerichtetes attraktives Lebensumfeld zu werden. Ein zentraler Bestandteil dieser Vision ist, dass für den durch den vorzeitigen Kohleausstieg begründeten Verlust von Wertschöpfung und Arbeitsplätzen adäquater Ersatz geschaffen wird. Dies ist möglich, indem die herausragenden Stärken des Reviers zu einem innovativen Gesamtansatz verknüpft werden, der die Attraktivität des Standorts nach innen und außen signifikant erhöht. Die Gestaltung des Strukturwandels im Rheinischen Revier ist ohne eine aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger der Region, die die Veränderungsprozesse direkt miterleben, nicht denkbar. Deshalb hat die Zukunftsagentur Rheinisches Revier unter anderem die Erstellung ihres Wirtschafts- und Strukturprogrammes durch ein breit angelegtes Konsultations- und Beteiligungsverfahren zur Einbindung der Zivilgesellschaft begleiten lassen.

7.1.7 Strukturwandel Steinkohleregionen Der am 03.07.2020 vom Deutschen Bundestag beschlossene Ausstieg aus der Kohleverstromung ist eine entscheidende Zäsur, mit der ein umfassender energiepolitischer aber auch wirtschaftlicher Strukturwandel verbunden ist. Um Regionen, die von diesem Strukturwandel besonders betroffen sind, zu unterstützen, wurde mit dem Ausstieg aus der Kohleverstromung auch das Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen verabschiedet. Durch dieses werden Strukturhilfemaßnahmen in Höhe von bis zu 41 Mrd. € bereitgestellt, die unter Beachtung der Nachhaltigkeit Arbeitsplätze in den Regionen sichern, die regionale Wertschöpfung erhöhen und die regionale Wirtschaftsstruktur stärken sollen. Die strukturpolitischen Empfehlungen der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ sehen eine Unterstützung besonders vom Kohleausstieg betroffener Kommunen mit Steinkohlekraftwerken vor. Das Investitionsgesetz Kohleregionen legt fest, dass der Bund bis zum Jahr 2038 deutschlandweit Strukturhilfen von bis zu einer Milliarde Euro für diese Standorte zur Verfügung stellt. Diese Strukturhilfen sollen dabei an strukturschwache Standorte von Steinkohlekraftwerken verteilt werden. In Nordrhein-Westfalen sind dies die Städte Duisburg, Gelsenkirchen, Hamm und Herne sowie der Kreis Unna, für die bis zu 662 Mio. € vorgesehen sin. Die Landesregierung setzt die Strukturhilfen im Rahmen des 5-StandorteProgramms um. Sein Ziel ist es, Innovationskraft, Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu stärken, attraktive Wirtschaftsflächen für Unternehmen zu entwickeln sowie gut bezahlte Arbeitsplätze und neue Wertschöpfung zu schaffen. Die wirtschaftliche Transformation in Duisburg, Gelsenkirchen, Hamm, Herne und dem Kreis Unna soll so zu einem Erfolg für die gesamte Region werden. Die Standortkommunen haben unter enger Begleitung der Landesregierung ein gemeinsames Handlungskonzept als strategische Grundlage für das 5-StandorteProgramm

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erarbeitet (vgl. dazu umfassend agiplan, 2020). Das Fokusziel des regionalen Handlungskonzepts 5-StandorteProgramm lautet: Zur zukunftsfähigen und robusten Aufstellung der fünf Standorte sollen diese zu einer spezialisierten Transformation befähigt werden, die sowohl im Einklang mit der bestehenden besonderen Wirtschaftsstruktur steht als auch zukünftige exogene Potenziale erschließt. Zentrale Leitplanken dieser Transformation sind ein digitales und resilientes Wirtschaften im Rahmen aller drei Dimensionen der Nachhaltigkeit. Unter diesem Fokusziel subsumieren sich fünf strategische Ziele, die die übergreifende Zielstellung auf einzelne Themenbereiche übertragen und Grundlage für die Formulierung von umsetzungsorientierten Handlungsfeldern waren. Die fünf strategischen Ziele sind: • Vorhandene Wirtschaftsflächenpotenziale recyceln und nachhaltig qualifizieren • Neue Strukturen im bestehenden Innovationssystem schaffen, die die Wirtschaft innovativer machen • Die Transformation zu einer nachhaltigen, resilienten Wirtschaft konsequent durchführen • Die Wertschöpfungskette Bildung optimieren, um attraktive Angebote und Potenziale für alle Arbeitsstufen zu schaffen • Das Mobilitätssystem effizienter und nachhaltiger gestalten Die äquivalenten, aus diesem Zielsystem abgeleiteten Handlungsfelder Nachhaltige und zielgerichtete Flächenentwicklung, Weiterentwicklung des Innovationssystems, Energie und Klimaschutz – integriert in die Wirtschaft, Wertschöpfungskette Bildung sowie Intermodale und Neue Mobilität stellen einerseits die einzelnen Teilbereiche der jeweiligen Zielstellung dar, umfassen andererseits aber auch Hinweise, welche dieser Teilbereiche für einzelne Standorte von besonderer Bedeutung sein können. Die Aufgabe des Strukturstärkungsrats ist es, Förderprojekte für das 5-StandorteProgramm auszuwählen. In den Strukturstärkungsrat bringen die Standortkommunen, die beteiligten Ressorts der Landesregierung, die drei Bezirksregierungen Arnsberg, Düsseldorf und Münster sowie die Wirtschaftskammern, die Sozialpartner, die Hochschulen und Wissenschaft und die Agentur für Arbeit ihre Expertise ein. In einem Strategischen Beirat begleiten Vertreterinnen und Vertreter der Landesregierung, der fünf Standorte und der Region die Programmumsetzung. Der Transformationsprozess der Energiewende und der Strukturwandel im Rheinischen Revier sowie an den Standorten der Kohlekraftwerke richten hohe Erwartungen u. a. an den Bildungssektor und insgesamt an die Wissensgesellschaft. Die großen Veränderungen werden nur dann gelingen, wenn das dafür erforderliche Wissen und die Bildung sich mit verändert, die Transformation von Wissen und Bildung ist erforderlich und sie muss initiiert, geplant und auf den Weg gebracht werden.

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7.2 Dimensionen der Wissensgesellschaft An unterschiedlichen Beschreibungsformeln für die Gesellschaft, in der wir leben, hat es in den letzten Jahren nicht gemangelt: Da war – seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts – zunächst von der nach-industriellen, dann von der post-modernen, der Dienstleistungs- und der Informationsgesellschaft die Rede, um nur die prominentesten Begriffe zu nennen. Aber auch die Freizeitgesellschaft, die Risiko- und Erlebnisgesellschaft hatten Konjunktur. Nicht zuletzt wurde das Ende der Arbeitsgesellschaft angekündigt. Diese Vielfalt der Etikettierungen lässt zumindest den Schluss zu, dass es an Veränderungsphänomenen innerhalb der Gesellschaften, die wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Arbeits- und Industriegesellschaften zu bezeichnen gewohnt waren, nicht fehlt. Die Unterschiedlichkeit der Bezeichnungen macht aber auch deutlich, dass diese unbestreitbare Veränderungsdynamik soziokulturellen Wandels ganz unterschiedlich interpre­ tiert wird. Seit den 1960er-Jahren tauchen in wissenschaftlichen Debatten die Begriffe der „Informations-“und der „Wissensgesellschaft“ auf. Machlup (1962) betonte als erster die Bedeutung der Wissensarbeit für die Ökonomie. Drucker (1969) zeigte anhand empirischer Daten – und bis heute oft zitiert – die Bedeutungsverschiebung von materieller zu wissensbasierter Produktion. Bell (1971, 1973) beschrieb die „post-industrial society“, in der theoretisches Wissen zum „axialen Prinzip“ der gesellschaftlichen Entwicklung wird. Lyotard (1984) diskutierte die Wissensgesellschaft im Verhältnis zur Postmoderne, Castells (1997) setzte sie in Beziehung zu Prozessen der Globalisierung. Von einer Wissensgesellschaft lässt sich sprechen, wenn die Strukturen und Prozesse der Reproduktion einer Gesellschaft so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass die Informationsverarbeitung und die Träger von Wissen („Wissensarbeiter“) gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden. (Willke, 1998, S. 355)

Die Wissensgesellschaft kommt in den unterschiedlichsten Facetten zum Ausdruck; davon seien hier einige beispielhaft genannt: • In vielen wissensbasierten Tätigkeitsbereichen wie beispielsweise in der Medizin, in der IT, in der Steuerberatung etc. verdoppelt sich die zu bewältigen Wissensmenge in immer kürzeren Zyklen, • der Zugang zu Wissen und zu Informationen wird durch digitalisierte Informationsund Kommunikationstechniken erleichtert (Miniaturisierung), • die verschmelzenden Informations- und Kommunikationstechniken werden zum Motor für weitere technische und gesellschaftliche Innovationen und Nutzungsmöglichkeiten, • für die Wirtschaft der Wissensgesellschaft gilt, das Wissen zum kritischen Produktionsfaktor avanciert und zur Voraussetzung ihres Fortschrittprinzips: der Innovation durch neues Wissen,

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Abb. 7.1  Übergange von der Industrie- zur Wissensgesellschaft

• die Wissensgesellschaft ist eine vernetzte Gesellschaft, die Informationsnetze bereiten den Weg zur Schaffung des homo connectus und ermöglichen so eine vernetzte Wissensgenerierung. Anhand ausgewählter Kriterien zeigt die nachfolgende Abb. 7.1 die Übergänge von der Industrie- zur Wissensgesellschaft.

7.3 Bedeutungszunahme des Wissenskapitals Die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beruht auf ihren wissensintensiven Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Dennoch ist der Einsatz von Wissenskapital als wichtiger Treiber von Innovationen und Produktivität in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und den USA mittlerweile eher gering. Deutlich zurück liegt das Land vor allem im Dienstleistungssektor. Auch in der Industrie weisen die deutschen Unternehmen keinen überdurchschnittlichen Einsatz von Wissenskapital auf (vgl. Belitz et  al., 2018). Gleichzeitig ist der Modernitätsgrad des Wissenskapitals in Deutschlands Industrie- und Dienstleistungssektor gering. Dies gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. In einer Studie für das Wirtschaftsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen analysieren Kempermann und Plünnecke (2019) das Innovationssystem von NRW.  Dabei kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die Bundesländer Bayern und Baden-­ Württemberg in den Bereichen Patentanmeldungen, Forschungs- und Entwicklungsintensität und auch beim FuE-Personal vergleichsweise besser abschneiden. Auch sind hier die öffentlichen Forschungsausgaben eher unterdurchschnittlich. Allerdings finden sich auch 9 von 62 deutschen KI-Forschungseinrichtungen in NRW, was NRW zu einem wichtigen Standort für KI-Forschung macht. Die Autoren empfehlen auch, den Bereich der KI-Technologie weiter auszubauen. Zudem empfehlen sie NRW mehr Forschung in den Bereichen autonomes Fahren und neuen Antriebstechnologien.

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Unternehmen müssen somit nicht mehr nur in Maschinen investieren, sondern auch in Forschung und Entwicklung, Software, Datenbanken und in die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter, die neuen Prozesse zu steuern. Sie investieren in sogenanntes  Wissenskapital. Hierunter werden eine Reihe von immateriellen Vermögensgegenständen zusammengefasst, die wie Sachkapital einen langfristigen Wert für die Unternehmen darstellen.2 Wissenskapital wird immer wichtiger. Seit 2007 hat sich der Einsatz von Wissenskapital in den USA, Frankreich, Deutschland und in anderen EU Ländern um mehr als 20 % erhöht (vgl. dazu nachfolgend Belitz & Gornig, 2019 sowie Belitz et al., 2019). Das hat mehrere Gründe, ein gewichtiger ist aber sicher die Digitalisierung. Laut Daten des DIW Berlin investiert die deutsche Wirtschaft heute bereits mehr in Wissenskapital als in klassische Anlagegüter. Doch im internationalen Vergleich ist das immer noch zu wenig, wie wir in einer neuen Studie zeigen. Hierzu hat das DIW Berlin für uns erstmalig den Einsatz des Wissenskapitals in Deutschland erhoben und mit vergleichbaren Volkswirtschaften (Frankreich, Großbritannien, USA und der zusammengefassten Ländergruppe Finnland, Niederlande, Österreich) verglichen. Betrachtet man den Einsatz des gesamten Wissenskapitals in der Wirtschaft, so lag Deutschland im Jahr 2017 ca. 15 % hinter dem Spitzenreiter Frankreich zurück, jedoch auf ähnlichem Niveau wie die anderen Volkswirtschaften. Für eine mögliche Einschätzung der künftigen Wettbewerbsposition ist aber nicht nur das Niveau, sondern auch die  Modernität  des Kapitaleinsatzes ausschlaggebend. Dazu wird der Modernitätsgrad des Kapitalstocks berechnet. Dieser gibt grob gesagt an, wie hoch der Anteil aktueller Investitionsjahrgänge am gesamten Kapitalstock ist. Das ist gerade im Bereich des Wissenskapitals relevant, da dieses – im Gegensatz z. B. zu Bauten – relativ schnell altert. Auch hier haben die deutschen Unternehmen deutlichen Aufholbedarf. Es bedarf also eines umfassenderen Ansatzes zur Förderung des gesamten Wissenskapitals. Nur so können Innovationskraft, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gesichert werden. Ein Ansatzpunkt kann die Förderung vor allem risikoreicher Innovationsprojekte sein, die gleichzeitige Investitionen in verschiedene Arten von Wissenskapital voraussetzen. Hierzu zählen insbesondere Kooperationsprojekte, Netzwerke und Cluster. Bei gemeinsamen FuE-Projekten müssen die Unternehmen ihre Organisation auf das gemeinsame Ziel anpassen und sich auf Management- und Mitarbeiterebene koordinieren. All dies kann die Bildung von Wissenskapital der Unternehmen in einem umfassenderen Sinne fördern.

 Die OECD zählt weitere Bestandteile dazu: Software; Datenbanken; Forschung und Entwicklung (FuE) in der Privatwirtschaft, Suchbohrungen; Markenrechte, Urheberrechte, Lizenzen und künstlerische Originale; neue Produkte in der Finanzwirtschaft; neue architektonische und technische Designs; FuE in Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften; Marketing und Werbung; Unternehmensspezifische Aus- und Weiterbildung, Humankapital; Organisationskapital. 2

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7.4 Welche Rolle nehmen im Zuge dieser Veränderungs-, Krisenund Transformationsprozesse die Wirtschaftsförderungen ein? Die Aufgaben von Wirtschaftsförderungen waren am Anfang des 20.  Jahrhunderts insbesondere auf die Vermarktung von Gewerbeflächen und die Vermittlung allgemeiner standortrelevanter Information konzentriert. In Ergänzung kamen über die Jahre zunächst die Beratung und Vernetzung und schließlich die Moderation, Initiierung und das Management von Prozessen hinzu. Für dieses Prozessmanagement werden gesellschaftliche Entwicklungen und damit einhergehende gestiegene Erwartungen etwa an die Wohnqualität, die Standortentwicklung oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeführt (vgl. Lahner, 2021). Aktuell stehen viele Kommunen, Kreise und Regionen vor immer neuen und komplexeren Aufgaben und Herausforderungen. Auch auf lokaler Ebene entfaltet der Klimawandel und die als Antwort darauf formulierten Nachhaltigkeitsziele ihre Gültigkeit. Hinzu kommen z.  B. die demografische Wende, die digitale Transformation, Zuwanderungsströme und exogene Schocks wie die Corona-Krise oder die jüngsten gewaltigen Veränderungen und Neuausrichtungen bei der Energieversorgung, die weitere Aktivitäten und Unterstützungsangebote seitens der Wirtschaftsförderungen bedürfen. Diese Phänomene und ihre Komplexität haben massive Auswirkungen auf Kommunen und sind mit hohen Unsicherheiten verbunden. Die Gestaltung der Transformation hin zu einem nachhaltigen (sozial, ökologisch, ökonomisch) und resilienten Wirtschaftsstandort gewinnt an Bedeutung. Die Aufgabe zukunftsfähige Wirtschaftsstrukturen am Standort zu gestalten, liegt im Verantwortungsbereich der lokalen bzw. regionalen Akteure und damit auch der Wirtschaftsförderung (vgl. Terstriep & Rabadjieva, 2021, S. 2). Wirtschaftsförderung in Deutschland ist grundsätzlich gekennzeichnet durch permanente Veränderungsprozesse und das Bestreben der Antizipation von und strategischen Anpassung an veränderte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontextbedingungen. Dies geht einher mit einer zunehmenden Komplexität und Ausdifferenzierung der Wirtschaftsförderungsaktivitäten auf kommunaler und regionaler Ebene sowie im Zusammenspiel beider Ebenen (vgl. hierzu und im Folgenden Terstriep & Rabadjieva, 2021, S. 13). Dabei ist es für eine gelingende Transformation hin zu nachhaltigen und resilienten Wirtschaftsstrukturen erforderlich, die Richtung für den wirtschaftsstrukturellen Wandel im Sinne der Visionsorientierung vorzugeben. Wirtschaftsförderung in einem weiten Verständnis – verstanden als kollaborativer Handlungsansatz der wirtschaftsstrukturellen Entwicklung  – und partizipative Wirtschaftsförderung  – als Commitment und Engagement der Wirtschaftsakteure, politischen Entscheidungsträger und Intermediäre am Standort – eröffnen neue Handlungs- und Gestaltungsarenen für die Wirtschaftsförderung. Beteiligungsorientierung bildet in diesem Zusammenhang nicht mehr nur eine Option, sondern eine unabdingbare Notwendigkeit. Wirtschaftsförderungen sind integriert in ein komplexes Gefüge von Interaktionen unterschiedlichster Stakeholder aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Bürgerschaft am jeweiligen Standort. Neben der in der Regel eta­

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blierten Zusammenarbeit mit Verwaltung, Politik und Intermediären wird vermehrt die direkte Beteiligung der Wirtschaft nicht nur als Ideengeber, sondern auch in der Strategieentwicklung und Umsetzung von Projekten angestrebt. Partizipation ist und wird zukünftig noch mehr ein Teil der Wirtschaftsförderung sein. Damit sie ihre Wirkung für eine nachhaltige und resiliente Entwicklung des Wirtschaftsstandorts entfalten kann, bedarf es einer offenen und transparenten Austausch- und Innovationskultur, die Raum schafft für kreative Ideen, «neue» Akteure einbindet und ein breites Spektrum unterschiedlicher Akteure ermutigt, den Fortschritt am Standort aktiv mitzugestalten. Digitalisierung als Treiber des Strukturwandels ist nicht mehr nur ein Thema, welches Wirtschaftsförderungen adressieren, indem sie Unternehmen im Digitalisierungsprozess begleiten und unterstützen, sondern ebenso für die Wirtschaftsförderung selbst. Digitale Angebote der Wirtschaftsförderung (z.  B.  Online-Workshops, Plattformen) bieten vielfältige Chancen den Handlungsspielraum zu erweitern und «neue» Zielgruppen zu adressieren. Es wird in diesem Kontext allerdings erforderlich sein, eine ausgewogene Balance zwischen digitalen und analogen Formaten der Beteiligung unter Berücksichtigung der Ressourcenausstattung zu finden. Da die Themen Digitalisierung und Fachkräftesicherung seit geraumer Zeit hoch auf den Agenden der Wirtschaftsförderungen platziert sind, gilt es vor dem Hintergrund des europäischen Grünen Deals und der von der Bundesregierung angestrebten Treibhausgasneutralität bis zum Jahr 2045 künftig das Thema «Nachhaltiges Wirtschaften» am Standort voranzubringen. Diesbezüglich gibt es insbesondere auf Ebene der kommunalen Wirtschaftsförderungen erhebliches Optimierungspotenzial.

7.5 Fazit Nordrhein-Westfalen begibt sich auf den Weg von einer traditionellen Industrieregion zu einer wissensorientierten Zukunftsregion. Der Strukturwandel ist durch unterschiedliche Politikkonzepte initiiert, flankiert und beschleunigt worden. Ausgehend von dem Konzept endogener Entwicklungspotenziale, der Förderung von Technologie- und Gründerzentren bis hin zu einer modernen Clusterpolitik mit der Orientierung auf innovative Zukunftsfelder mit hohem Beschäftigungspotenzial haben auch die politischen Zielsetzungen einen Wandel durchlaufen. Die Wissensgesellschaft ist angesichts der Ausgangsbedingungen In Nordrhein-­ Westfalen und insbesondere im Ruhrgebiet eine Chance für dessen zukünftige Entwicklung. Allerdings kommt es darauf an, dass die vorhandenen Potenziale stärker als bisher zu nutzen. Der Strukturwandel muss in Richtung Wissensgesellschaft weiterentwickelt werden, wobei Innovation, Vernetzung und Gründung zentrale Elemente sein können. Der fortzusetzende Erneuerungsprozess und die Schaffung von Wachstum in strukturschwachen Regionen gelingen durch Innovationen und Gründungen von Unternehmen. Die Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft sowie unterschiedlicher Technologien eröffnen den Weg zu Zukunftsmärkten.

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Bei der Transformation zur Wissensgesellschaft spielt die Bildungsstruktur eine zen­ trale Rolle. Synergieeffekte können sich mit bereits ansässigen und neu attrahierten Unternehmen ergeben, und die Hochschulen bilden einen guten Nährboden für innovative Start-­ Ups. Im Zuge dieser Veränderungsprozesse sind die Wirtschaftsförderungen wichtige Transmissionsriemen, indem sie insbesondere die Themen Digitalisierung und Fachkräftesicherung in den Gebietskörperschaften voranbringen.

Literatur agiplan GmbH. (2020). Regionales Handlungskonzept. 5-StandorteProgramm. agiplan. Belitz, H., & Gornig, M. (2019). Deutsche Wirtschaft muss mehr in ihr Wissenskapital investieren. DIW Wochenbericht, 2019(31), 527–534. Belitz, H., Le Mouel, M., & Schiersch, A. (2018). Produktivität der Unternehmen steigt mit mehr Wissenskapital. DIW Wochenbericht, 4/2018. Belitz, H., Gornig, M., & Stühmeier, T. (2019). 35 Milliarden Euro pro Jahr mehr an Investitionen in Wissenskapital notwenig. Bertelsmann Stiftung Policy Brief, 07/2019. Bell, D. (1971). The post-industrial-society: The evolution of an idea. Survey, 17(2), 102–168. Bell, D. (1973). The coming of post-industrial society. Basic Books. Benz, A., Fürst, D., Kilper, H., & Rehfeld, D. (1999). Regionalisierung. Theorie – Praxis – Perspektiven. Leske + Budrich. Beyer, J., & Frese, C. (2013). Die Bedeutung des Europäischen Sozialfonds in der Stadt Dortmund für eine moderne Beschäftigungspolitik. In H.  Bömer & D.  Zimmermann (Hrsg.), Stadtentwicklung in Dortmund seit 1945. Nordstadt-, Energie-, Gesundheits-, Beschäftigungs- und Bahnhofspolitik (S. 119–136). Klartext. Castells, M. (1997). The rise of the network society. Wiley-Blackwell. Drucker, P. F. (1969). The age of discontinuity, guidelines for our changing society. Routledge. Europäischer Rat. (2000). Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Europäischer Rat, Lissabon 23. und 24. März 2000. Heinze, R.G., Voelzkow, H., & Hilbert, J. (1992). Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-­ Westfalen. Entwicklungstrends und Forschungsperspektiven (Schriften des Institut Arbeit und Technik, Bd. 3). Leske + Budrich. Institut der deutschen Wirtschaft Köln Consult. (2021). Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte der Strukturförderung im Rheinischen Revier. Studie für das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Kempermann, H., & Plünnecke, A. (2019). Kurzanalyse des Innovationssystems NRW. Gutachten im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-­ Westfalen. Lahner, J. (2021). Entwicklung der Wirtschaftsförderung. In J. Stember, M. Vogelsang, P. Pongratz, & A. Fink (Hrsg.), Handbuch Innovative Wirtschaftsförderung – Theoretische Grundlagen und Aufgaben (S. 3–24). Springer. Läpple, D. (1994). Zwischen gestern und übermorgen. Das Ruhrgebiet – eine Industrieregion im Umbruch. In R. Kreibich, A. S. Schmid, W. Siebel, T. Sieverts, & P. Zlonicky (Hrsg.), Bauplatz Zukunft. Dispute über die Entwicklung von Industrieregionen (S. 37–51). Klartext. Lyotard, J.-F. (1984). The postmodern condition. Manchester University Press. Machlup, F. (1962). The production and distribution of knowledge. Princeton University Press.

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Molitor, B. (2000). Regionalisierte Arbeitsmarktpolitik in Nordrhein-Westfalen 1989–1999. Bottroper Dokumente, 21, 6–17. Selle, K (Hrsg.). (2006). Zur räumlichen Entwicklung beitragen. Konzepte. Theorien. Impulse, Planung neu denken (Bd. 1). Rohn. Spitzner, G., & Stuhldreier, J. (2017). Soziales Kapital und regionale Innovationen. Transition-­ Prozesse für den Übergang auf demografiefeste Regionen. Illustriert am Beispiel der Region NiederRhein. In R.  Kleinfeld, J.  Hafkesbrink, & J.  Stuhldreier (Hrsg.), Innovatives Regionalmanagement im demografischen Wandel (S. 139–172). Springer. Stuhldreier, J. (2015). Flankierung des demografischen Wandels durch die regionalisierte Arbeitsund Strukturpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen. In J. Lempp, T. Korn, & G. van der Beek (Hrsg.), Aktuelle Herausforderungen in der Wirtschaftsförderung (S. 63–74). Springer Gabler. Terstriep, J., & Rabadjieva, M. (2021). Die klassische Wirtschaftsförderung gibt es nicht mehr. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung von Wirtschaftsförderungen. Forschung Aktuell, 10/2021. Willke, H. (1998). Systemisches Wissensmanagement. UTB.

Dr. Jens Stuhldreier  ist Leiter des Referats „Berufliche Orientierung, Übergang Schule-Beruf“ im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen sowie Lehrbeauftragter der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM).

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Integration von Geflüchteten – Lehren aus der Krise und die Chancen einer diversitätssensiblen Wirtschaftsfördersicht auf die Potenziale migrantischen Unternehmertums Jörg Lahner

Zusammenfassung

Für eine gelungene Integration von Geflüchteten ist ökonomische Teilhabe eine zentrale Voraussetzung. Zugleich versprechen Geflüchtete zumindest mittel- bis langfristig einen bedeutenden Beitrag zur Nachwuchs- und Fachkräftesicherung sowie für mehr Gründungen in Deutschland. Aus Sicht der Wirtschaftsförderung kann die Integration von Geflüchteten allerdings Anlass sein, Menschen mit Migrationshintergrund generell stärker als Zielgruppe in den Blick zu nehmen, um diese zukünftig besser zu unterstützen und gezielt ungenutzte ökonomischen Potenziale für den Wirtschaftsstandort zu heben.

8.1

Einleitung

In der Rückschau betrachtet, entwickelten sich die erhöhten Zuwanderungszahlen von Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016 zunächst zu dem beherrschenden Medienthema. Bis heute und absehbar darüber hinaus sind jedoch aus dieser Migrationsbewegung erhebliche und dauerhafte Herausforderungen verschiedener Art erwachsen. Die gesellschaftliche Integration der Geflüchteten ist in diesem Zusammenhang das große Ziel, wobei untergeordnet die Arbeitsmarktintegration sowohl als wichtiger Bestandteil als auch als Voraussetzung für dieses umfassende Ziel zu bewerten ist (Garloff, 2016).

J. Lahner (*) Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_8

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Der vorliegende Beitrag wird die oft auch als so genannte „Flüchtlingskrise“ dramatisierte Migrationsbewegung weder detailliert nachzeichnen, noch Ursachen oder außenpolitische Konsequenzen diskutieren. Vielmehr soll es nachfolgend um eine strikt lösungsund chancenorientierte Betrachtung aus Sicht der Wirtschaftsförderung gehen. Dies bedeutet, dass bewusst allein die ökonomische Teilhabe in Form von Integration in den Arbeitsmarkt oder in Ausbildung, im Besonderen aber auch die Gründung neuer Unternehmen im Fokus stehen wird. Dazu wird in einer kurzen Einführung die Bedeutung der ökonomischen Teilhabe für die Integration von Geflüchteten und anderen zugezogenen Personen erläutert. Anschließend werden die Lehren aus der „Krise“ gezogen, vor allem aber ein realistischer Blick auf die verschiedenen Erfordernisse und die zeitliche Perspektive der Integration versucht. Bei der damit korrespondierenden Frage, inwiefern Wirtschaftsfördereinrichtungen an dieser Stelle wertvolle Beiträge leisten können, um Arbeitsmarktintegration zu unterstützen oder erfolgreiche Gründungen zu begleiten, will dieser Beitrag klar Stellung beziehen: so wichtig die Rolle bei der Krisenbewältigung sein mag, so sehr öffnet diese unmittelbare Herausforderung die Augen für die Notwendigkeit einer grundsätzlichen strategischen Neuausrichtung der Wirtschaftsfördereinrichtungen. In den Ausführungen des Abschn. 9.5 wird deshalb dargestellt, welche Chancen durch eine stärkere Öffnung für die Zielgruppe der Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt eröffnet werden, sowohl auf individueller als auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene. Eine solch breiter Ansatz wird gleichsam den Geflüchteten zugutekommen, verengt jedoch den Blick nicht unnötig und adressiert ein deutlich größeres Potenzial für die ökonomische Standortentwicklung.

8.2 Integration durch ökonomische Teilhabe aus Wirtschaftsfördersicht Mit der verstärkten Zuwanderung ist in Deutschland der Begriff „Integration“ zum zentralen Schlagwort in der Migrationspolitik geworden. Nach Filsinger ist unter Integration die „gleichberechtigte Teilhabe (Zugangsgerechtigkeit) an den ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft“ zu verstehen (Filsinger, 2008). In einer etwas differenzierteren Definition bedeutet Integration „die möglichst chancengleiche Partizipation an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Diese reichen von Erziehung und früher Bildung in der Familie und in vorschulischen öffentlichen Einrichtungen über schulische Bildung, berufliche Ausbildung und ein durch Arbeit und deren Ertrag selbstbestimmtes, nicht transferabhängiges Leben bis hin zur  – statusabhängigen – politischen Partizipation und zur Teilhabe an den verschiedensten Schutzund Fürsorgesystemen im Rechts- und Wohlfahrtsstaat“ (SVR Integration und Migration, 2010). Die Wechselwirkungen der verschiedenen Facetten sind offensichtlich. Denn jede ökonomische Teilhabe über eine etablierte Beschäftigung oder gar die selbstständige Schaf-

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fung des Arbeitsplatzes durch Unternehmensgründung fördert zugleich „das Selbstwertgefühl und trägt zur Entlastung der öffentlichen Kassen sowie zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei.“ (Leicht et al., 2021a) In diesem Band soll explizit auf die Rolle der Wirtschaftsförderungseinrichtungen fokussiert werden. Schließlich haben diese den Auftrag, die ökonomische Entwicklung in ihrem Zuständigkeitsbereich positiv zu beeinflussen, bestehende und zukünftige Unternehmen zu beraten oder anderweitig zu unterstützen. Ihre Aufgaben und Ziele betreffen die lokale bzw. regionale Wertschöpfung, die Erwerbstätigkeit und Fachkräftesicherung sowie die fiskalische Sphäre (v. a. Erhöhung oder Erhalt der Gewerbesteuereinnahmen) und dabei stetig vielfältigere Aspekte der Standortentwicklung (Lahner, 2020). Vor diesem Hintergrund ist die wirtschaftliche Teilhabe von Geflüchteten, oder allgemeiner, zugewanderten Menschen generell, keineswegs allein eine individuelle Wohlstands- bzw. Wohlfahrtsfrage. Vielmehr ist jede passende Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis, jeder gelungene Berufs- oder Studienabschluss, jede Erwerbstätigkeit, aber auch jede tragfähige Unternehmensgründung nicht nur ein wertvoller individueller Integrationserfolg, sondern zugleich wirtschaftsförderpolitisch relevant. Die entsprechenden Einrichtungen, gleich ob auf kommunaler oder regionaler Ebene, sollten sich daher fragen, ob ihre Angebote in geeigneter Weise konzipiert, kommuniziert und dargereicht werden und welche Beiträge sie leisten können, um die ökonomischen Potenziale Zugewanderter insgesamt effektiver auszuschöpfen.

8.3 Lehren aus der Krise 8.3.1 Arbeitsmarktintegration braucht Zeit und Engagement Bevor jedoch eine Betrachtung der unmittelbaren Herausforderungen und Handlungsoptionen für die Wirtschaftsförderung erfolgen kann, soll in diesem Abschnitt der Blick zurück vertieft werden. In der Tat bestätigte sich in der jüngsten Vergangenheit ganz offensichtlich vieles von dem, was der Migrations- und Integrationsforschung schon länger bekannt ist. Ursache von Fluchtbewegungen waren und sind weiterhin vor allem Krieg, Bürgerkrieg, Terrorismus oder auch wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Die UN ging unmittelbar vor dem Ukrainekrieg bereits von mehr als 80 Mio. Menschen aus, die weltweit auf der Flucht sind (UNHCR, 2022). Der besondere Anstieg der Zahlen in Deutschland während der Jahre 2015 und 2016 war zum einen auf spezifische Faktoren wie die verschärfte Situation im Nahen Osten, die verstärkte Nutzung der Fluchtrouten über das Mittelmeer und die Balkanländer zu erklären, jedoch zum anderen auch durch das Verhalten der Transitstaaten sowie verschiedener politischer Entscheidungen in Europa (Lehmann, 2015, S. 7 ff.).

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Seither sind  – vielerorts auch dank der Unterstützung von Wirtschaftsfördereinrichtungen, Kammern und Verbänden  – durchaus respektable Erfolge bei der Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten erzielt worden (Pierenkemper & Heuer, 2020). Darüber hinaus sind zahlreiche bemerkenswerte Erfolgsgeschichten aus dem Bereich Gründung zu verzeichnen und erreichen zu Recht öffentliche Aufmerksamkeit (Zypries, 2020). Gleichwohl wurde schon bald nach den ersten starken Fluchtbewegungen 2015 deutlich, dass so manch allzu optimistische Hoffnung enttäuscht werden musste. Von vor Bürgerkrieg und Terror Geflüchteten, die nicht selten traumatisiert waren, fast durchweg mit verschiedenen physischen oder psychologischen Problematiken zu kämpfen hatten und in der Regel über keinerlei deutsche Sprachkenntnisse verfügten, eine kurzfristige Lösung für Fachkräftemangel und sinkende Gründungsneigung zu erhoffen, mutet nicht erst mit einigen Jahren Abstand arg naiv an. Zudem setzte schnell Ernüchterung hinsichtlich der fachlichen Voraussetzungen vieler Geflüchteter ein. Der Anteil der hoch- oder zumindest berufsqualifizierten Personen war doch geringer als von manchen im ersten Überschwang erhofft (Baumann et al., 2016). Für die Migrationsforschung ist dagegen schon lange klar: die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten braucht generell Zeit, Geduld und Engagement (Brenzel et al., 2019). Dabei hängt der Verlauf der Arbeitsmarktintegration naturgemäß von individuellen Merkmalen ab, wie Art und Umfang der Qualifikation sowie den deutschen Sprachkenntnissen. Darüber hinaus sind aber auch institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen von großer Bedeutung. Mit der Zeit leben sich Geflüchtete jedoch ein, erhalten im positiven Fall einen gesicherten Aufenthaltsstatus, überwinden physische und psychische Einschränkungen. Nach und nach eigenen sie sich Sprachkenntnisse an, lernen das Geflecht von landes- bzw. kulturspezifischen Institutionen, Normen und Werten kennen, dehnen ihr soziales Umfeld aus und sammeln weitere wichtige Informationen für das Erwerbsleben. Dies sind in der Regel wesentliche Voraussetzungen, um sich erfolgreich und nachhaltig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Entsprechend sind die aktuellen Zahlen zu interpretieren. Laut der Statistik der Bundesagentur für Arbeit ging bei den Personen aus nicht-europäischen Asylherkunftsländern wie u. a. Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran und Syrien die Zahl der Arbeitslosen während des Jahres 2021 erneut deutlich zurück (um 9,4  %), zugleich waren weniger Geflüchteten arbeitsuchend gemeldet. Im Jahresverlauf erhöhte sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse von Geflüchteten sogar um 16,5 % (Kahle & Litschauer, 2022). Allerdings waren Geflüchtete insbesondere während des ersten Lockdowns häufiger von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen als andere Beschäftigte. Und trotz der dynamischen Fortschritte lag ihre Arbeitslosenquote Ende 2021 mit rund 31,0 % immer noch deutlich höher als bei der gesamten Gruppe der Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit (12,8 %) (Kahle & Litschauer, 2022).

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8.3.2 Selbstständigkeit als Weg zur ökonomischen Integration Geflüchteter Eine gerade aus Wirtschaftsfördersicht besonders interessante Variante der beruflichen bzw. ökonomischen Integration ist die Selbstständigkeit. Zwar sind kommunale und regionale Wirtschaftsfördereinrichtungen in der Regel auch in Initiativen der Fachkräftesicherung engagiert, beraten zu entsprechenden Förderprogrammen oder sensibilisieren die Unternehmen zu Themen der Nachwuchsgewinnung, Personalentwicklung usw. Doch neben diesen der Bestandspflege und -entwicklung zugehörigen Aktivitäten kümmern sich die meisten Einrichtungen im Besonderen um das Gründungsgeschehen vor Ort. Da sich der staatliche „Mainstream an Maßnahmen auf die Eingliederung durch eine lohnabhängige Beschäftigung“ (Leicht et al., 2021a) fokussiert, haben Wirtschaftsfördereinrichtungen potenziell sogar eine Schlüsselrolle bei der Integration durch Selbstständigkeit inne. Daher soll im Weiteren gerade auf Gründung und migrantisches Unternehmertum fokussiert werden. Allerdings zeigt sich in der Rückschau, dass die Gründungsbeteiligung von Geflüchteten unmittelbar nach ihrer Ankunft sehr niedrig ist (vgl. Abb.  8.1). Von den seit 2013 nach Deutschland Geflüchteten sind heute lediglich etwa zwei Prozent als Selbstständige erwerbstätig – das ist deutlich weniger als der Anteil von fünf Prozent unter den aus anderen Gründen (wegen Arbeit, Familie, Studium o. ä.) Zugewanderten und gar nur ein Fünftel der allgemeinen Selbstständigenquote (Leicht et al., 2021a, b). Und selbst bei früheren Kohorten von Menschen mit Fluchtbiografie ist das Niveau der unternehmerischen Aktivitäten zunächst gering. Erst nach längerem Aufenthalt von mehr 20 Jahren steigt die Selbstständigenquote der Geflüchteten deutlich an: Das heißt, das Gründungspotenzial von Geflüchteten wird mittelbar durch die Dauer des Aufenthalts bestimmt, denn erst mit der Zeit können institutionelle Barrieren im Zugang zu Selbstständigkeit überwunden werden. (Leicht et al., 2021a)

Abb. 8.1  Selbstständigenquote nach Zuwanderungsmotiv und Zeitraum des Zuzugs. (Quelle: Leicht et al., 2021b)

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Selbstverständlich wird es immer wieder auch die „schnellen“ Erfolgsgeschichten geben, so vielleicht die Handelsgründung mit ethnischem Nischenangebot für Landsleute oder das international orientierte Startup der geflüchteten Informatikerin, die ihre Fähigkeiten, Kenntnisse und Netzwerke sofort ohne Abstriche im Ankunftsland verwerten kann. Die herausragende Bedeutung der Aufenthaltsdauer in den meisten Fällen ist nichtsdestotrotz insoweit kaum verwunderlich, weil gerade für erfolgreiches Unternehmertum ein geklärter Aufenthaltsstatus, die Kenntnis von Sprache, von Märkten, Kundengruppen, ­Lieferanten, Rechtsprechung und weiterem spezifischen Wissen von essenzieller Bedeutung ist. Ebenso klar ist, dass die Fähigkeit zur erfolgreichen Gründung stark von qualifikatorischen Voraussetzungen abhängt. Bildung ist nicht nur für die Erwerbstätigkeit in abhängiger Beschäftigung, sondern auch für den unternehmerischen Erfolg der Schlüssel. Dies ist dann allerdings i.e.S. kein spezifisches Thema des Migrationshintergrundes, sondern gilt generell. Eine wichtige Ausnahme bildet die fehlende Anerkennung etwa von ausländischen Zeugnissen, Berufsabschlüssen und anderen Zertifikaten, die im Falle Zugewanderter ein hoch spezifisches Hindernis und damit ein wesentlicher Rückschlag für die Umsetzung der Gründungsidee sein kann.

8.3.3 Gründung durch Geflüchtete als Teil des Spektrums migrantischen Unternehmertums In der Gesamtschau bleibt also die Erkenntnis, dass berufliche bzw. generell ökonomische Integration Zeit braucht, gerade im Falle von Gründungsaktivitäten. Darüber hinaus bedarf es des Engagements auf Seiten der aufnehmenden Gesellschaft, indem sie unterstützt und auf Seiten der Geflüchteten, wenn es darum geht zu lernen, zu verstehen und Chancen aktiv unternehmerisch umzusetzen. Was die Unterstützungsseite angeht, ist bereits die Wirtschaftsförderung als wesentlicher Player im Bereich Gründung angesprochen worden. Zwei Gründe sprechen allerdings dafür, im Weiteren den Blick zu öffnen und einen breiteren Ansatz zu wählen, als allein die Geflüchteten zu betrachten. Geflüchtete werden dabei als Teil des Spektrums eines in sich naturgemäß sehr heterogenen migrantischen Unternehmertums verstanden. Heterogen, weil diese Gruppe Gründungswilliger völlig divers ist in Bezug auf kulturelle Prägung, Sprachfertigkeiten, Bildungsabschluss, Branche und Technologieorientierung, aber natürlich auch hinsichtlich Vorbereitung und Ambition. Alle, inklusive der Geflüchteten, haben jedoch den migrantischen Hintergrund gemeinsam und die Thematik der Aufenthaltsdauer, freilich in unterschiedlicher Ausprägung und Bedeutung im Einzelfall. In Abb.  8.2 sind einige wichtige Hindernisse erfasst, die in der Literatur und Praxis sowohl für Zugewanderte generell als auch Geflüchtete im Speziellen genannt werden. Über die Platzierung der einzelnen Hindernisse im Kontinuum lässt sich sicher streiten, auch dies ist einzelfallabhängig. Es ist jedoch offenkundig aus Unterstützungs- bzw. Beratungssicht dann wenig sinnvoll, sich situativ auf Geflüchtete zu konzentrieren, etwa aus

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Abb. 8.2  Spezifität der Hindernisse im Gründungsprozess von Zugewanderten nach Bedeutung von Migrationshintergrund und Aufenthaltsdauer

Anlass einer starken aktuellen Zuwanderung. Zwar sind bei Geflüchteten ganz offensichtlich bestimmte Hürden und Hemmnisse in noch stärkerem Maße oder mit noch höherer Wahrscheinlichkeit zutreffend, dies gilt übrigens für geflüchtete Frauen noch einmal verstärkt (Brücker et al., 2020). Allerdings ist es für die unterstützende Einrichtung prioritär wichtig, generell aufgeschlossen und sensibel für Sonderthemen in die individuelle Beratung zu gehen. Eine diversitätssensible Sicht der Wirtschaftsförderung auf die Potenziale migrantischen Unternehmertums wird vor diesem Hintergrund die besonderen Unterstützungsbedarfe von Geflüchteten, und darunter im Besonderen der Frauen, erkennen und durch geeignete Ansprache benennen sowie passende Maßnahmen anbieten oder vermitteln (siehe auch Abschn. 8.5). Daher soll im folgenden Abschnitt zunächst mit der Klärung wichtiger Begrifflichkeiten die Gründungsdynamik Zugewanderter insgesamt näher betrachtet und analysiert werden, um deren quantitative und qualitative Bedeutung nachzuvollziehen. Anschließend werden die spezifischen Unterstützungsbedarfe von Zugewanderten zur Veranschaulichung den einzelnen Phasen im idealtypischen Gründungsprozessmodell zugeordnet.

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8.4 Zum Stand migrantischen Unternehmertums in Deutschland 8.4.1 Begrifflichkeiten Mit „migrantischem Unternehmertum“ oder „migrantischer Ökonomie“ sollen synonym diejenigen selbstständigen Tätigkeiten definiert werden, die Menschen mit Migrationshintergrund in den von ihnen geführten Unternehmen verantworten. Auch die Begriffe „Migrantinnen“ und „Migranten“ bzw. für „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder „Zugewanderte“ werden in diesem Beitrag synonym verwendet. Zu diesem Personenkreis gehört jemand nach Definition des Statistischen Bundesamts dann, wenn er oder sie „selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.“ (Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022). Die Definition umfasst im Einzelnen gemäß Destatis folgende Personen: 1 . zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, 2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, 3. (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedler, 4. Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben, 5. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen. Tatsächlich finden sich in der offiziellen Statistik anderer Stellen sowie in der wissenschaftlichen Literatur durchaus noch weitere Definitionen der genannten Begrifflichkeiten, die sich mal mehr, mal weniger unterscheiden. Auf die unterschiedlichen Nuancen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Ein Hinweis erscheint jedoch sehr wichtig: viele amtliche Statistiken weisen den großen Nachteil auf, dass sie auf jegliche Differenzierung im obigen Sinne verzichten und lediglich nach Staatsangehörigkeit unterscheiden (i.  d.  R. dichotomisch zwischen deutsch und ausländisch). Die Folge der Unterscheidung nach Staatsbürgerschaft ist, dass so nur etwa die Hälfte Personen mit Migrationshintergrund erfasst werden und eben nicht die großen Gruppen etwa der Eingebürgerten oder der (Spät-)Aussiedler. Daher soll trotz der gewissen Unschärfe und schwierigen Datenlage in der Folge am Konzept „migrantische“ Ökonomie festge­ halten werden.

8.4.2 Hintergründe und Facetten der Gründungsdynamik Aufgrund starker Einwanderung ist die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland unternehmerisch tätig sind, in den vergangenen 10 bis 20 Jahren stark angestiegen (Leicht et  al., 2021a). Bei einer gleichzeitig abnehmenden Zahl an Selbstständigen deutscher Herkunft hat dies dazu geführt, dass es im Wesentlichen die Zu-

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gewanderten sind, welche die Lücke im Unternehmensbestand schließen. Zwar sind in den vergangenen Jahren auch die Selbstständigenquoten von Zugewanderten teilweise rückläufig, da auch sie vermehrt eine attraktive abhängige Beschäftigung annehmen (können). Dies zum einen, weil über einen langen Zeitraum viele neue Stellen in der deutschen Wirtschaft geschaffen wurden und zum anderen die Unternehmen zunehmend Probleme hatten und haben, diesen Bedarf mit herkunftsdeutschen Fachkräften zu decken, Stichwort Fachkräftemangel. Durch die starke Zuwanderung ist die Bedeutung der migrantischen Ökonomie aber absolut und im Vergleich zu den Personen ohne Migrationshintergrund stark gewachsen. Vor der Pandemie im Jahr 2019 wurde etwa jede vierte Existenzgründung durch Migrantinnen oder Migranten realisiert – das sind 160.000 von insgesamt 605.000 Gründungen (KfW, 2020). Personen mit Migrationshintergrund weisen insgesamt über die Jahre eine größere Gründungsneigung als die Gesamtbevölkerung auf. Drei Erklärungen werden in der wissenschaftlichen Forschung immer wieder genannt (KfW, 2020): 1. In vielen Fällen ist die Gründung eine attraktive Alternative zur abhängigen Beschäftigung. Dies gilt für Personen mit Migrationshintergrund deshalb in besonderer Weise, weil der Zugang zum Arbeitsmarkt häufig schwieriger und zudem der soziale und auch finanzielle Aufstieg, den die Selbstständigkeit in Relation zu den alternativen Arbeitsverhältnissen verspricht, größer ist. 2. Immer wieder wird bei Menschen mit Migrationshintergrund eine tendenziell größere Risikobereitschaft vermutet oder über Befragungen, etwa in Form von Selbsteinschätzungen, ermittelt. 3. Rollenmodelle von erfolgreichen Gründungen haben bei Migrantinnen und Migranten offenbar eine überdurchschnittlich starke Vorbildwirkung. Wichtiger Gesamteffekt der migrantischen Gründungsdynamik in Deutschland ist sicher der Impact auf die Volkswirtschaft. Internationale Studien wie aktuell das MATILDE-­ Projekt der EU kommen dabei immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen (Bianchi et al., 2021): Menschen mit Migrationshintergrund tragen dazu bei, die lokale Wirtschaft am Leben zu erhalten, das Angebot auf den einheimischen Märkten zu erweitern und ihre Anwesenheit löst Innovationen aus. Zumindest für Deutschland ist zudem die Feststellung wichtig, dass sich die Vielfalt, Wissensintensität und Innovativität der Gründungen seit der Jahrtausendwende deutlich erhöht hat. Es ist nicht lange her, dass Leicht und Langhauser mit ihrer umfassenden Studie das bis heute noch vorhandene (Zerr-)Bild migrantischen Unternehmertums hinterfragt und nachhaltig korrigiert haben (Leicht & Langhauser, 2014). Vor allem beklagen sie die „unzulässige Verallgemeinerung“ von Einzelfällen, die dazu führte, dass unternehmerische Aktivitäten der Zugewanderten pauschal und „allzu häufig als eine Reaktion auf Arbeitslosigkeit und Benachteiligung, als Nischensegment, als kulturelle Eigentümlichkeit, als Mobilitätsfalle oder als kurzlebige Form der Existenzsicherung“ betrachtet wurden und damit an der Realität vorbeigehen (Leicht & Langhause, S. 76 f.). Eine öffentliche Wahrnehmung, die, bei migrantischem Unternehmertum

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von Gründungen aus der Not ausgeht und die Branchen ausschließlich in den Bereichen Gastronomie, (ethnisch geprägter) Handel und einfachen Dienstleistungsnischen verortet, verkennt die Vielfalt der Branchen und die Tatsache, dass die größten Zuwächse migrantischen Unternehmertums jüngst im Bereich der wissensintensiven Dienstleistungsaktivitäten zu verorten waren. Konkret macht dieser Bereich, zu dem die Beratung, Forschung, Gesundheitsdienste, Kultur- bzw. Medienberufe, Finanzdienstleistungen und IT-Dienste gehören, mit einem Anteil von 28  % inzwischen den größten Anteil der migrantischen Selbstständigen aus (Leicht et  al., 2017). Lediglich 13  % der Selbstständigen mit Migrationshintergrund sind im Gastgewerbe, 15 % im Handel tätig (ebenda). Ein Blick auf die Startups im engeren Sinne, also junge (< 10 Jahre), wachstumsorientierte und innovative Unternehmen offenbart die Bedeutung migrantischen Unternehmertums auch in diesem speziellen Segment. BioNTech ist kein Einzelfall, gut jedes fünfte Startup in Deutschland wird von Zugewanderten gegründet. Mit BioNTech, AUTO1. com, ResearchGate, Delivery Hero, Qunomedical oder amboss seien einige Beispiele genannt, die in den letzten Jahren für Aufsehen gesorgt haben. Migrantische Startups verfügen laut des Migrant Founders Monitors über mehr „Expertise“ (höherer Anteil an Personen mit akademischem Abschluss, häufiger im MINT-Bereich) und ein „starkes Mindset“ („höhere Risikobereitschaft“) (Bundesverband Deutsche Startups e.V., 2021). Zusammenfassend sind mit Blick auf das Thema dieses Beitrages also drei Facetten hervorzuheben: 1. Die besondere Dynamik und der Bedeutungsgewinn migrantischen Unternehmertums im Gründungsgeschehen, 2. der klare Trend zu mehr Branchenvielfalt bei gleichzeitig wachsender Wissensintensi­ tät und Innovativität, der die Heterogenität migrantischen Unternehmertums weiter erhöht, aber 3. dennoch bestimmte Herausforderungen und Unterstützungsbedarfe als zielgruppen­ spezifisch beschreiben lässt. Einige dieser Herausforderungen wurden bereits im Kontext der Integration von Geflüchteten genannt und sollen nachfolgend entlang des Gründungsprozesses präzisiert und erweitert werden.

8.4.3 Besondere Unterstützungsbedarfe im Gründungsprozess Wie in Abschn. 8.3 festgestellt, braucht jede Form der Arbeitsmarktintegration Zeit und Engagement von verschiedenen Seiten. Im Falle des traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlings aus dem Nahen Osten gilt dies sicherlich tendenziell im deutlich stärkeren Maße als für die ungarische Ärztin, die gezielt Arbeitsmarktchancen im EU-Land Deutschland nutzen möchte. Das gilt analog für das aus Wirtschaftsfördersicht besonders naheliegende Feld der Gründungsunterstützung als zentrales Aufgabenfeld.

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Abb. 8.3 Phasen des Gründungsmanagements und besondere Herausforderungen für Zugewanderte. (Eigene Darstellung in Anlehnung an die Gründungsphasen von Klandt, 2005)

In Abb. 8.3 ist der Gründungsprozess in drei Phasen unterteilt: im Kern die Gründungsphase, die in Planung und Errichtung unterteilt ist. Auf keinen Fall zu vergessen sind zudem die Vorgründungsphase sowie die erste Zeit am Markt nach Gründung, die hoffentlich zur Festigung und Etablierung des Unternehmens genutzt werden kann. In der Vorgründungsphase befindet sich die Idee noch in den Kinderschuhen, wird sogar vielleicht erst durch den grundsätzlichen Drang zur Selbstständigkeit angeregt. Ohne an dieser Stelle auf die verschiedenen denkbaren Quellen der Ideenfindung eingehen zu können, im Falle von Zugewanderten gibt es bereits im weiten Vorfeld einer noch wenig konkreten Selbstständigkeitsüberlegung zahlreiche besondere Herausforderungen. Gerade für unlängst Geflüchtete ist die Frage des Aufenthaltsstatus von herausragender Bedeutung. Hinzu kommt die Anerkennung von Bildungsabschlüssen aus dem Herkunftsland, die trotz vieler Verbesserungen und inzwischen etablierter Unterstützungsangebote vielen am Ende versagt bleibt. Aufgrund mangelnder Marktkenntnisse bzw. der unangepassten Übertragung von Erfahrungen aus anderen Ländern, kann es zu fatalen Fehleinschätzungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten kommen. Ein weiterer Punkt sind die berufsständischen Vorschriften in vielen Berufen (z. B. Meisterbrief), die den Zutritt bzw. die Ausübung von Tätigkeiten regulieren. Letztlich sind beide Aspekte zu beachten: auf

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der einen Seite die kulturelle und institutionelle Prägungen durch Herkunftsländer, die häufig noch lange und in hohem Maße handlungsleitend zu sein scheint und nicht immer zu optimalen Entscheidungen führt (Schütt, 2019). Auf der anderen Seite fehlt es in vielen Fällen an dem für den Unternehmenserfolg unverzichtbaren Systemwissen, beispielsweise über die deutschen Rechts-, Bildungs- oder Sozialversicherungssysteme sowie die vielen formellen und informellen Spielregeln in Gesellschaft und Wirtschaftsleben. Frühzeitige Beratung kann hier nicht alles kompensieren, aber manch unnötige Mühe vermeiden, wichtige Kurskorrekturen anmahnen, fehlende Informationen beisteuern. Und immer dann, wenn die Kompetenzen der beratenden Person an Grenzen stoßen, ist im Idealfall die Vermittlung oder der Verweis zu anderen Stellen eines Netzwerkes der vielleicht entscheidende Impuls. Die Problematik dieser frühen Herausforderungen liegt tatsächlich darin, dass sie die entscheidende Hürde darstellen können, die dazu führt, dass eine an sich aussichtsreiche und volkswirtschaftlich interessante Gründungsidee erst gar nicht umgesetzt oder von Beginn an falsch aufgesetzt wird, zumindest aber Irrläufer und unnötige Lernschleifen verursacht. Inhaltlich kann fundierte kostenfreie Gründungsberatung aber oft nur von Wirtschaftsförderungen und den Kammern erbracht werden. Die Stellen, mit denen Geflüchtete, aber auch Zugewanderte mit längerer Aufenthaltsdauer aus anderen Gründen Kontakt haben und die zu anderen Themen beraten, haben hier meist keine oder zu wenig Expertise, wissen zudem häufig selber zu wenig über die qualifizierten Gründungsberatungsangebote. Sind die ersten Hürden überwunden, warten die besonderen Herausforderungen in der eigentlichen Gründungsphase. So erhöht sich nun die Verbindlichkeit. Die zu Beginn vielleicht noch „spinnerte“ Geschäftsidee oder der vage Wunsch nach Selbstständigkeit werden nun in der Planung zu einem detaillierten Geschäftsmodell konkretisiert und Schritt für Schritt validiert. Das klassische Instrument dafür ist im idealtypischen Gründungsprozess weiterhin der Businessplan. Und zwar unabhängig davon, ob er als freiwilliges Instrument der wohlüberlegten Vorbereitung und Strategieentwicklung gewählt oder von außen durch Fremdkapital- oder Fördermittelgeber auferlegt wird. Erfahrungsgemäß wird die Businessplanerstellung von den wenigsten Gründungsinteressierten, gleich welcher Herkunft mit Enthusiasmus angegangen. Im Falle von Zugewanderten kommen jedoch nicht selten sprachliche Limitationen und mangelnde Schreibfertigkeiten hinzu.1 Stellt die Erstellung an sich also für viele Personen mit Migrationshintergrund schon eine besondere Herausforderung dar, dürften der Zugang zu und die Kenntnis über Absatz- und Beschaffungsmärkte und andere wichtige Inhalte des Businessplans ebenfalls nicht selten größere Probleme verursachen. Und die Stellen, die hier Beratung und andere Unterstützung anbieten könnten, sind dann auch noch weniger bekannt.  Ohne es bei jeder Gelegenheit noch einmal anzumerken: Selbstverständlich ist auch bei Zugewanderten die gesamte Bandbreite an Fertigkeiten anzutreffen. Allerdings dürften die zusätzlichen Herausforderungen für viele, vor allem auch jüngst Zugewanderte, am Beispiel Businessplanerstellung besonders augenscheinlich sein.

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Bei der Errichtung des Unternehmens zeigen sich ebenfalls spezifische Hürden. Die (Fremd-)Finanzierung stellt für alle Gründungsinteressierten eine der großen Herausforderungen dar. Für migrantische Gründungen sind aber hier nochmal fehlende Marktkenntnisse, Schwächen in der Vernetzung zu Wertschöpfungspartnern sowie zu Politik, Gatekeepern usw. ein zusätzliches Thema. Selbst für die innovative Avantgarde der Startups werden in den Bereichen Finanzierung und Kooperation weiterhin Schwierigkeiten für Zugewanderte diagnostiziert, die auf „kulturelle und strukturelle Barrieren hindeuten“ (Bundesverband Deutsche Startups e.V., 2021). Prägung durch kulturelle Vorerfahrungen, fehlendes Systemwissen und schwach ausgebildete berufliche Netzwerke dürften sich auch bei weiteren Fragen der Errichtung, angefangen von der Personalbeschaffung über das Marketing bis hin zur Anmietung von Räumlichkeiten negativ auswirken. Dabei sind denkbare zusätzlich Erschwernisse als Folge von unmittelbarer Benachteiligung oder Diskriminierung noch außen vorgelassen. Wenn dann das Unternehmen gegründet ist, wird sich in der Frühentwicklungs- und Etablierungsphase die geringere Bekanntheit von (kostenfreien) Beratungsangeboten, Vorteilen der Mitgliedschaft in Verbänden, Innungen, Citygemeinschaften usw. womöglich weiter ungünstig auswirken. Sicher wird es dann auch zahlreiche Fälle geben, die ohne hilfreiche Beratung, unterstützende Interessenvertretung, Informationsaustausch und neue Netzwerkkontakte im Markt bestehen. Aus Wirtschaftsfördersicht ist es jedoch bedauerlich, wenn eine vermeidbare Zahl von Gründungen nur aufgrund fehlender Beratung scheitert oder die unternehmerische Performance am Standort unter ihren Möglichkeiten bleibt.

8.5 Herausforderungen und Chancen einer strategischen Öffnungsstrategie der Wirtschaftsförderung 8.5.1 Vorüberlegungen zur Rolle der Gründungsberatung Neue Unternehmen sind für eine Volkswirtschaft unverzichtbar. Erfolgreiche Gründungen revitalisieren den Bestand, ersetzen ausscheidende Betriebe, kreieren innovative Geschäftsmodelle, erhöhen die Gütervielfalt und -verfügbarkeit und sorgen für Wettbewerb. Am Ende sind sie Garanten für Strukturwandel und Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft. Somit erstaunt es nicht, dass sich sowohl die kommunalen und regionalen Wirtschaftsfördereinrichtungen als auch die Kammern intensiv um dieses Thema kümmern und hoch qualifizierte Beratung, dazu noch kostenfrei, anbieten. Diese Institutionen sind wichtiger Bestandteil der Gründungsökosysteme in Deutschland, weil sie noch vor der Quantität die Qualität der Gründungen erhöhen. Denn gute Beratung identifiziert Planungsdefizite und „offene Baustellen“ in der Vorbereitung, unterstützt bei erfolgskritischen Herausforderungen, angefangen von der Businessplanerstellung über Formalia bis hin zur Finanzierung und Fördermittelakquise. Und nicht zuletzt verfügen nicht kommerzielle Beratungsangebote, wie sie die Wirtschaftsfördereinrichtungen vorhalten, in der Praxis über

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einen essenziellen Vorteil: sie haben die Freiheit, offen auf Probleme hinweisen oder gar von der Selbstständigkeit abzuraten zu können, ohne eigene (Umsatz-)Interessen zu verletzten.2 Dies ist sowohl auf individueller Ebene als auch volkswirtschaftlich bedeutsam. Einerseits wird die gründungswillige Person möglicherweise davor bewahrt, mit einer unausgereiften oder nicht marktfähigen Geschäftsidee zu scheitern und unangemessen hohe Risiken einzugehen. Andererseits sollte es zudem wirtschaftspolitisch nicht das primäre Ziel sein, möglichst viele Gründungen anzuregen, auch wenn das gelegentlich immer noch proklamiert wird. Vielmehr sind für die strategische Wirtschaftspolitik und ihre entsprechenden Unterstützungseinrichtungen gut vorbereitete und durchdachte Gründungen, die am Markt bestehen und ihre positive Wirkung auf regionale Wertschöpfung und Arbeitsplätze nachhaltig entfalten, erstrebenswert. In der Tat erweist sich die Gründungsberatung auch in der wissenschaftlichen Betrachtung als wichtiger exogener Faktor für den Gründungserfolg. Für Deutschland wiesen etwa Brüderl et  al. in einer breit angelegten empirischen Studie die Bedeutung der Gründungsvorbereitung und -planung nach (Brüderl et  al., 2007). Bestätigt wurde dies auch durch die KfW, die auf Basis ihrer bundesweiten und sehr detaillierten Befragungsdaten mit Blick auf die Gründungsberatung ebenfalls zum Schluss kommt: „guter Rat hilft“ (Metzger, 2013, S. 4 f.). Der Beitrag zum Gründungserfolg besteht in diesem Zusammenhang eben nicht (nur) darin, dass eine Gründung auch tatsächlich umgesetzt wird, sondern vor allem eine signifikante Erhöhung der Bestandsfestigkeit bzw. Überlebensrate erreicht wird. Gute Beratung leitet und unterstützt den Gründungsprozess im engeren Sinne, bildet jedoch dadurch zusätzlich die Grundlage für dauerhaft erfolgreiches Unternehmertum am Markt. Obgleich die Wirtschaftsfördereinrichtungen keine kommerziellen Ziele mit ihren Angeboten erfüllen müssen und wollen, agieren sie doch marktorientiert und wirtschaftlich. Das heißt sie streben eine möglichst effektive und effiziente Erbringung ihrer Dienstleistungen an. Dies sind sie den öffentlichen Geldgebern (oder im Falle der Kammern ihren Mitgliedern) schuldig, entspricht aber regelmäßig auch ihrem gelebten Selbstverständnis. Aus marktstrategischer Sicht resultiert dann grundsätzlich die Frage, ob und wie die einzelnen Zielgruppen für die eigenen Angebote erreicht und adäquat bedient werden können. Im Kontext dieses Beitrags betrifft dies die Gründungsinteressierten mit Migrationshintergrund, denen als eigene Zielgruppe – wie gezeigt – sowohl eine wachsende Bedeutung als auch spezifische Unterstützungsbedarfe zugeschrieben werden können.

 Im Übrigen endet das umfassende Beratungsangebot der Wirtschaftsförderungsabteilungen der Kommunen, Landkreise und Kammern nicht mit der Gründung, sondern steht auch später den Bestandsunternehmen offen. 2

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8.5.2 Befund I: Zielgruppenerreichung kann deutlich verbessert werden Migrantische Unternehmen, insbesondere ihre Erfolge, erfahren in Deutschland zunehmend Aufmerksamkeit, sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs. Das eindrücklichste Beispiel der jüngeren Vergangenheit war sicher die Berichterstattung über das Gründerpaar des Mainzer Biotechnologie-Unternehmens BioNTech, Özlem Türeci und Uğur Şahin, den Stars der deutschen Startupszene.3 Dieses Beispiel ist auch deshalb so positiv zu bewerten, da es diametral dem häufig noch vorherrschenden Klischee entgegensteht, migrantische Gründungen beschränkten sich vornehmlich auf ausgewählte, wenig wissensintensive Branchen (siehe Abschn.  8.4.2). Dennoch zeigt sich, dass trotz der beschriebenen generell größeren bzw. wachsenden Gründungsneigung und -aktivität das Potenzial migrantischen Unternehmertums bei Weitem nicht ausgereizt scheint, die Zielgruppenerreichung ausbaufähig bleibt. Woran liegt das? Zunächst ist festzustellen, dass es in der Folge keineswegs darum geht, jene Fälle zu verallgemeinern, in denen einzelne Zugewanderte bewusst durch Beratungseinrichtungen ausgegrenzt oder ignoriert werden. Die Gründungsberatungsangebote der Wirtschaftsförderungen stehen selbstverständlich auch migrantischen Gründerinnen und Gründern offen. Aber es gelingt offenbar nicht, die Zielgruppe der Migranten, vor allem auch der Migrantinnen, so zu erreichen, dass diese von den oben beschriebenen positiven Wirkungen in optimaler Weise profitieren, Potenziale werden nicht voll ausgeschöpft (Lahner et al., 2022). Dabei ist die Mehrheit der migrantischen Gründungswilligen offen für eine externe Unterstützung und wünscht Beratung (BMWi, 2020). Auch wenn die Untersuchungen zur Migrantenökonomie im Detail zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Unterzielgruppen und den jeweiligen individuellen Voraussetzungen hervorzuheben sind, scheint gesichert, dass Personen mit Migrationshintergrund seltener als andere Gründungsinteressierte öffentliche Informationsquellen und Beratungsdienste in Anspruch nehmen (Vogel & Volkert, 2014; BMWi, 2020; Kaschlik et  al., 2020). Das gilt auch für verfügbare Internetportale oder Broschüren. Dagegen spielen soziale Netzwerke zu Familienangehörigen, Freunden und Bekannten eine größere Rolle. Dies muss angesichts von Beratungsthemen wie „Formalitäten“, Finanzierung und der Personalakquise durchaus problematisiert werden. Schließlich dürfte die Expertise der persönlich Vertrauten eher nur im Ausnahmefall die Qualität und Tiefe erreichen, die spezialisierte Gründungsberatungen der Wirtschaftsförderungen und Kammern anbieten können. Da hilft es wenig, dass migrantische Gründungsinteressierte genau wie die Vergleichsgruppen zusätzlich in hohem Maße Steuer- und Rechtsberatung in Anspruch nehmen. Zwar bieten beide über unverzichtbares Spezialwissen für Unternehmen. Eine breite Orientierung und intensive Begleitung in der Gründungsphase ist aber von diesen Akteuren nicht zu erwarten, zumindest nicht ohne bedeutende zusätzliche Vergütung. 3

 Auch wenn die ursprüngliche Gründung bereits im Jahre 2008 datiert.

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Wenn Zugewanderte in Befragungen angeben, welche Beratungsleistungen sie von welcher Stelle in Anspruch genommen haben, ist noch nicht gesagt, wie intensiv und hilfreich die entsprechenden Kontakte waren. Hier darf auf Basis verschiedener qualitativer Forschungsergebnisse vermutet werden, dass Kommunikationsprobleme, mangelndes Vertrauen, falsche Erwartungen und andere Hürden durchaus noch einmal zur Relativierung des Unterstützungserfolgs beitragen. Oder aus Sicht der Wirtschaftsfördereinrichtungen: es gelingt nicht nur weniger, die Zielgruppe der Zugewanderten für die Gründungsberatung zu gewinnen, sondern für gelungene Beratung selbst sind zusätzliche Hürden zu überwinden. Häufig dominiert bei den Beratenden – oft unbewusst – das Bild eines „Normalunternehmers“, von dem Gründungsinteressierte mit Migrationshintergrund z. T. stärker abweichen (Jung et al., 2011). Konkret hemmen neben möglichen allgemeinen Sprachbarrieren, die durch die Nutzung von Fachvokabular noch erhöht werden, Unkenntnis über die spezifischen Herausforderungen und Unterstützungsbedarfe (siehe Abschn. 8.4.3) und generell geringes Diversitätsbewusstsein bzw. fehlende interkulturelle Kompetenzen (Thöle & Wagner, 2020).

8.5.3 Befund II: Es gibt vier wesentliche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Gründungsförderung durch Menschen mit Migrationshintergrund Vogel und Volkert haben die Determinanten für die Inanspruchnahme von öffentlichen Gründungsförderangeboten, wie es die Wirtschaftsfördereinrichtungen anbieten, in einer umfassenden Analyse des Forschungsstandes zusammengefasst (Vogel & Volkert, 2014). In Abb. 8.4 wurde diese Übersicht adaptiert und geringfügig angepasst. Dabei zeigen sich vier Hauptaspekte bzw. Voraussetzungen, deren genauere Betrachtung lohnt, um dann

Abb. 8.4  Determinanten der Inanspruchnahme von Gründungsberatungsangeboten. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Vogel & Volkert, 2014, S. 15)

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auch auf Basis auch neuerer Erkenntnisse geeignete Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Natürlich braucht es zunächst auf Seiten der gründungsinteressierten Person das Problembewusstsein, um überhaupt auf den Gedanken zu kommen, Hilfestellungen  – außer aus einem engeren (privaten) Kreis – als notwendig zu erachten. Dies ist sicher vor eine Frage der Bildung, vor allem der Entrepreneurship Education, also dem vorhandenen Fach- und Systemwissen sowie den Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für eine erfolgreiche Unternehmensgründung benötigt werden. Hier mag es bei Teilen der Zielgruppe besondere Defizite geben, aus Sicht des Autors dürfte dieser Aspekt allerdings am wenigsten migrationsspezifisch sein. Von herausragender Bedeutung ist dagegen sicher das Wissen über die Beratungsan­ gebote. Nur wer die (kostenlosen) Angebote kennt, kann sie auch nutzen. Hier spielt das bereits angesprochene Systemwissen eine zentrale Rolle. Dies ist bei der Zielgruppe sehr unterschiedlich ausgeprägt, je nach Migrationsregime. Wer schon lange in Deutschland lebt, eventuell hier aufgewachsen ist und eine Ausbildung absolviert hat, wird die Beratungsmöglichkeiten weit besser kennen und sich in der Institutionenlandschaft deutlich geschmeidiger bewegen als beispielsweise eine jüngst zugewanderte Person. Entscheidend für das Wissen über die Angebote ist auch die Frage der Kanäle, die für die Informationssuche genutzt werden. Wenn Wirtschaftsförderungen darauf verweisen, etwa über einen aussagekräftigen Internetauftritt (in deutscher Sprache natürlich) zu verfügen, Broschüren zu verteilen oder in Tageszeitungen zu informieren, ist es eher unwahrscheinlich, dass große Teile der migrantischen Zielgruppe wirklich erreicht werden. Die Wahl der Kanäle der Gründungsinteressierten wiederum hängt stark mit deren Sprachkompetenzen, aber auch den sozialen Netzwerken zusammen. In diesem Zusammenhang weisen Vogel & Volkert zurecht auf Granovetters grundlegende Unterscheidung zwischen „starken Beziehungen“ („strong ties“) und schwachen Beziehungen („weak ties“) hin (Vogel & Volkert, 2014). „Starke Beziehungen“ zu engen Freunden und Familienangehörigen sind von emotionaler Bedeutung, aber fördern informationsbezogen auch das „Schmoren im eigenen Saft“. Eine Vielzahl von „schwachen Beziehungen“ im eigenen Netzwerk erhöht dagegen die Wahrscheinlichkeit an neue Informationen zu gelangen. Für viele Zugewanderte wichtige Bezugspunkte und Netzwerkakteure wie migrantische Selbsthilfeorganisationen und Vereine, religiöse Gemeinden aber auch Integrationsstellen und Ausländerbehörden weisen zumindest eklatante Defizite in Bezug auf Kenntnisse über Gründungsberatungsangebote auf (Lahner & Metz, 2020). Mangelndes Systemwissen ist bereits mehrfach als besondere Hürde für Menschen mit Migrationshintergrund genannt worden. Besonders gilt dies für kürzlich zugewanderte Personen wie Geflüchtete. Transparenz und Informiertheit ist aber nur die eine Seite der Medaille, ebenso wichtig ist das Systemvertrauen. Es reicht nicht zu wissen, dass die Wirtschaftsförderung vor Ort eine Gründungsberatung anbietet, selbst dann nicht, wenn bekannt ist, dass keine besonderen Voraussetzungen erfüllt werden müssen und keinerlei Kosten entstehen. Zusätzlich bedarf es des.

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Vertrauens, von der Wirtschaftsfördereinrichtung zur Sache kompetent, aber auch vorurteilsfrei und wertschätzend beraten zu werden. Eigene Erfahrungen von echter oder empfundener Diskriminierung, aber auch negative Erlebnisse mit „Behörden“, zu denen regelmäßig auch eine Wirtschaftsförderung, die in der Gemeinde oder dem Landkreisgebäude verortet ist, gezählt wird, führen häufig zu grundsätzlichem Misstrauen. Dieses grundsätzliche Misstrauen ist im Übrigen nicht selten auch Resultat von (Behörden-)Erfahrungen aus dem Heimatland, somit eine besondere Facette der kulturellen Prägung. Für all dies sind die Wirtschaftsfördereinrichtungen natürlich in keiner Weise haftbar zu machen, aber die Verantwortlichen dort müssen sich dieser denkbaren Hypothek bewusst sein, wenn sie es ernst damit meinen, selbstverständlich auch das Gründungspotenzial der Menschen mit Migrationshintergrund möglichst optimal auszuschöpfen. Dieses Bewusstsein oder diese Sensibilität ist ebenfalls besonders wichtig, wenn es um die Formate geht. Dahinter verbergen sich zunächst die Inhalte und Anforderungen der Beratung, etwa im klassischen (Problem-)Fall, wenn die Beratung erst nach Erstellung eines Businessplanes einsetzt, d.  h. die gründungsinteressierte Person mit allerlei mehr oder minder hilfreichen Tools und Broschüren zunächst abgewiesen wird (Thöle & Wagner, 2020). Unter dem Oberbegriff „Formate“ lassen sich aber auch Fragen der Didaktik, des Umfangs bzw. der Tiefe und nicht zuletzt der Verortung subsumieren.

8.5.4 Befund III: Location matters Der alte regionalökonomische Spruch „location matters“ gilt nicht nur für Innovationssysteme und Michael Porters Clustertheorie, sondern auch für die Unterstützung von Gründungsinteressierten mit Migrationshintergrund  – und dies in mehrfacher Hinsicht. Wie bereits angesprochen, gibt es bei manchen Menschen mit Migrationshintergrund Unwissenheit über die vorhandenen Angebote, bei anderen sogar Misstrauen gegenüber die von ihnen als Teil einer „Behörde“ wahrgenommenen Gründungs beratungs einrichtungen. Dies hat auch etwas mit dem Standort für ein mögliches Beratungsgespräch zu tun, dem Veranstaltungsort einer Infoveranstaltung oder des Netzwerktreffens. „Location matters“ betrifft selbstverständlich auch den Standort in allgemeinerer Betrachtung. So sind die Möglichkeiten von Wirtschaftsfördereinrichtungen in großen Agglomerationsräumen völlig andere als in kleinen Kommunen. Erstere bedienen einerseits ein allein quantitativ viel größeres Potenzial an Selbstständigen, zudem sind insbesondere viele Großstädte mit ausgebauter Hochschullandschaft Hotspots für innovative Gründungen. Da außerdem in den Metropolen auch regelmäßig der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund besonders hoch ist, überrascht es nicht, dass hier bereits seit Jahren verschiedene spezielle Angebote für Gründungsinteressierte mit

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ausländischen Wurzeln etabliert sind (Metz et al., 2021).4 Dabei gibt es immer mehr an IHK oder Wirtschaftsförderung angegliederte Spezialeinrichtungen, also „interkulturelle“ Gründungsberatungen, manchmal stattdessen spezialisierte Abteilungen, Workshops oder Sprechtage (Sachs, 2020). Dies kann und muss nicht die Lösung für die kleineren Einheiten, gerade im ländlichen Raum sein. Daher werden im nachfolgenden Kapitel bewusst solche strategischen Ansätze entwickelt, die auch ohne eigene zielgruppenspezifische Einrichtungen denkbar sind. Die Zusammenarbeit mit migrantischen Communities vor Ort, mit spezialisierten Angeboten auf Länderebene oder mit Fachstellen wie der „IQ Fachstelle Migrantenökonomie“ ist dann unverzichtbar (IQ Fachstelle Migrantenökonomie, 2022).

8.5.5 Befund IV: Spezifische Stärken der migrantischen Ökonomie Der vorliegende Beitrag hat bislang aus gegebenem Anlass stark auf die spezifischen Herausforderungen und Hürden fokussiert. Diversitätssensible Beratung eröffnet jedoch zugleich die Möglichkeit, auf die besonderen Potenziale und Stärken Zugewanderter einzugehen, diese herauszuarbeiten, sichtbar zu machen und in der Geschäftsmodellentwicklung aktiv einzusetzen. In den „klassischen“ Gründungsbranchen wie Gastronomie und Handel ist dies ja auch stets passiert. Das generelle Innovationspotenzial der oft nur als Problem identifizierten Heimatprägung darf nicht unterschätzt werden. Denn das dahinter stehende Wissen und die speziellen Erfahrungen verbreitern generell die Wissensbasis und erlauben kreative Neukombinationen (David, 2019). Nicht nur Produkte und Traditionen wie im Falle der Kulinarik, auch Herangehensweisen, Technologien und vor allem geschäftlich verwertbare internationale Netzwerke können innovative Ideen stiften und Alleinstellungsmerkmale im Wettbewerb kreieren. Ein in diesem Zusammenhang in der Wissenschaft als unterschätzt diskutiertes Potenzial stellen zudem die so genannten „ad hoc“-Gründungen dar. Die von Leicht und anderen vorgetragenen Überlegungen zielen auf das Innovationspotenzial, welches von Geschäftsmodellen ausgeht, die bereits im Heimatland entwickelt oder erprobt wurden und dann unmittelbar nach Einwanderung umsetzbar wären (Leicht et al., 2017; Leicht et al. 2021b). Dies schließt innerhalb eines breiten Spektrums z. B. gerade solche qualifizierten Geflüchteten ein, die ohne größere System- und Sprachkenntnisse erfolgreich gründen (könnten), aber etwa auch ausländische Startups, die im Grunde einen „passenden“ Standort für ein international flexibles und skalierbares Geschäftsmodell auswählen. Für solche Fälle scheint die deutsche Wirtschaftspolitik, nicht nur die -förderung, tatsächlich noch keine geeigneten Strategien vorzuhalten.  Interessante Beispiele sind das Social Impact Lab in Frankfurt (www.frankfurt.socialimpactlab.eu) oder der Service „Gründung Interkulturell“ bei hannoverimpuls (www.wirtschaftsfoerderung-­ hannover.de). 4

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8.6 Ungenutzte Gründungspotenziale heben, Gründungserfolge erhöhen: Strategische Ansätze einer interkulturellen Öffnung 8.6.1 Neue Kommunikationswege bei Information und Ansprache Wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert, kann es vor allem in der Fläche nicht um den durchgängigen Aufbau spezialisierter Anlaufstellen für Migrantinnen und Migranten gehen. Überall möglich ist jedoch eine stärkere Wahrnehmung dieser Zielgruppe und damit eine veränderte Ansprache. Dies fängt mit der Gestaltung der eigenen Werbemittel an. Generell muss die Wirtschaftsförderung zudem die Veränderungen der Medienlandschaft wahrnehmen und richtig deuten (Ebers, 2020). Migrantische Gründungsinteressierte werden noch weniger als andere Gruppen durch die etablierten Kommunikationskanäle und -instrumente erreicht oder fühlen sich nicht angesprochen. Dies sollte für eine serviceorientierte Institution unbedingt Anlass sein, über die Informationswege und die Art der ­Ansprache nachzudenken. So wird etwa die Ankündigung einer Informationsveranstaltung über die Tagespresse oder das Gemeindeblatt ohnehin immer weniger Menschen erreichen, diese Zielgruppe aber schon gar nicht. Die E-Mail mag wie die Brücke zur Online-­Welt erscheinen, aber bedient oft doch nur den bekannten Kreis. Vor allem entspricht sie immer weniger den Kommunikationsgewohnheiten gerade der Jüngeren. Dagegen versprechen z.  B. soziale Medien und Messengerdienste viel größere Treffergenauigkeit, vor allem wenn die richtigen Multiplikatoren ins Boot geholt werden (siehe Abschn. 8.6.4).

8.6.2 Migrantische Rollenmodelle als Vorbild und Zugang nutzen Gerade viele Gründungsinteressierte mit Migrationshintergrund reagieren offenbar positiv auf unternehmerische Rollenbilder (KfW, 2020). Wirtschaftsfördereinrichtungen, die in ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch mit migrantischen (Vor-)Bildern arbeiten, bewirken jedoch viel mehr als Motivation. Sie erreichen in der von ihnen noch zu wenig beachteten Zielgruppe Aufmerksamkeit für sich selbst und senden ein Signal der Offenheit und Sensibilität. Sicher gelingt es durch eine diversitätssensible Kommunikation bereits ein gewisses Vertrauen bei der anvisierten Zielgruppe, gerne auch mit Bildern von Gründerinnen, aufzubauen. Eine besondere Form ist die aktive Einbindung von migrantischen Gründerinnen und Gründern der Region auf Veranstaltungen, im Mentoring usw. (Schäfer, 2021).

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8.6.3 Zugang durch proaktive und dezentrale Ansprache Klassische Angebote der Gründungsberatung reagieren auf konkrete Anfragen von Unterstützungssuchenden, warten in der Regel darauf, dass sie aufgesucht und angesprochen werden. Mit Blick auf die im letzten Abschnitt angesprochenen Determinanten der Inanspruchnahme „Wissen über die Angebote“, richtige „Formate“ und „Systemvertrauen“, mag es neben neuen (Online-)Kommunikationsstrategien eine gute Idee sein, proaktiv Orte aufzusuchen, an denen sich potenzielle Gründungsinteressierte mit Migrationshintergrund begegnen bzw. ohnehin aufhalten. Dann können dort die Beratungsangebote (persönlich) vorgestellt, erste Kontakte geknüpft und Vertrauen aufgebaut werden. Unverzichtbar sind auch dafür die migrantischen Communities als neue Partner.

8.6.4 Zugang zur Zielgruppe über migrantische Communities Für die Einladung zum nächsten Unternehmensstammtisch oder Gründungsabend kommt es darauf an, nicht nur die richtigen Medien und Orte dafür zu wählen, sondern auch die richtigen Multiplikatoren einzubeziehen. Um migrantische Zielgruppen zu erreichen, ­erweist es sich als hilfreich, für Wirtschaftsförderung oft bislang ungewohnte bis unbekannte Partner in den Blick zu nehmen. In dem Zusammenhang könnte die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen regionalen Akteuren der migrantischen, oft viel zu wirtschaftsförderfernen Communities einen gewinnbringenden Beitrag leisten. Zu diesen Communities gehören Migrantenselbsthilfeorganisationen und ethnische oder religiöse Vereine, die in Zahl und Mitgliederstärke oft unterschätzt werden. Aber auch Bildungsanbieter, private und öffentliche Integrationseinrichtungen, gelegentlich gleichfalls hoch vernetzte Einzelpersonen (oft an der Spitze der Migrantenorganisationen oder in Rechts- und Steuerberatung tätig) können sich als wertvolle Mittler von Zugang erweisen (Kaschlik et  al., 2020). Auch die Fachbereiche von Wirtschaftsförderung und Integration innerhalb der kommunalen oder Landkreisverwaltung sprechen oft nicht die gleiche (Fach-)Sprache, tauschen sich kaum aus, könnten jedoch viel mehr über und in die Aktivitäten der anderen einbezogen werden und so als Multiplikatoren wirken.

8.6.5 Die neuen Partnerschaften und Netzwerke bieten neben Zugang auch Vertrauen und außerökonomisches Systemwissen Austausch und Vernetzung der Sphären „Wirtschaftsförderung“ und „Integration“ bietet jedoch mehr als den Zugang zu den Zielgruppen. Zusätzlich werden Berührungsängste abgebaut und weitere Mehrwerte auf beiden Seiten geschaffen (Metz et al., 2021). Das Wissen über das Knowhow und die Aktivitäten des jeweils anderen Bereiches, vor allem über deren Potenziale für die eigene Arbeit, sind meist sehr gering. Die Migranten-

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organisationen und andere Akteure der Sphäre „Integration“ haben hervorragende Kontakte in die Zielgruppen hinein, genießen dort großes Vertrauen. Gleichzeitig ist eine erhebliche Unkenntnis über Themen wie Unternehmertum, Gründungsunterstützung etc. die Regel (Kaschlik et al., 2020). Diese Unkenntnis kann ab- und außerdem Vertrauen in die Wirtschaftsförderung aufgebaut werden. Denn Vertrauen kann „übertragen“ werden: wird eine Gründungsberaterin oder ein Gründungsberater durch das migrantische Netzwerk, konkret etwa dem Verein, der Religionsgemeinde oder von der Integrationsfachkraft empfohlen oder vor Ort präsentiert, wird das Vertrauen in diese, vermutlich zunächst unbekannten Personen oder Einrichtung gestärkt (Granovetter, 1973, S. 1374). Damit können die Wirtschaftsfördereinrichtungen insgesamt dreifach von einer Vernetzung profitieren. Sie erhalten erstens direkten und persönlichen Zugang zu Gruppen, die sie sonst nur schwer erreichen. Außerdem sorgen die neuen Partner im Netzwerk potenziell für Vertrauensvorschuss. Nicht zuletzt gewinnen die Wirtschaftsfördereinrichtungen zusätzlich enorm an Problemlösungskompetenz bei außerökonomischen Fragen der Integration. Denn die (neuen) Netzwerkpartner verfügen über viel Expertise und weitergehende Netzwerke zur Lösung von spezifischen Herausforderungen der Zielgruppe (etwa in Sachen Spracherwerb, Anerkennung von Berufsabschlüssen und rechtlichen Aufenthaltsfragen, soziale Integration u.v.m.).

8.6.6 Diversitätssensible Beratung anstreben – Unterstützung von Fachstellen nutzen Die Beratenden sind für die besonderen Unterstützungsbedarfe in der Regel weder sensibilisiert noch vorbereitet, es fehlen nicht selten rudimentäre interkulturelle Kompetenzen. Sprachbarrieren existieren zudem in verschiedene Richtungen: unzureichendes Deutsch auf Seiten der Ratsuchenden, unverständliche Fachsprache auf Seiten der Beratenden. Einiges lässt sich relativ leicht abstellen oder zumindest angehen, wesentlich ist in einem ersten Schritt insbesondere der Wille zur kulturellen Öffnung und die Entdeckung der migrantischen Ökonomie als bislang unterschätztes Potenzial. Ohnehin geht der Trend zu einem breiteren Beraterprofil, welches nicht nur die Vermittlung von betriebswirtschaftlichem Businessplan-, Finanzierungs- und Fördermittelwissen vorsieht, sondern möglichst die Analyse von Bildungs- und Beratungsbedarfen an den Anfang stellt. Statt des Instruierens und Informierens gewinnt das Begleiten, Coaching und das Vermitteln an Bedeutung. Die interkulturelle Öffnung ist dabei jedoch Teil der Organisationsentwicklung und deshalb unbedingt ein Führungsthema. Die angesprochenen Netzwerke sind wichtig, aber auch die Nutzung von Materialien in einfacher oder in unterschiedlichen Sprachen, die oft von überregionalen Stellen und spezialisierten Internetportalen in hoher Qualität angeboten werden, kann helfen (IQ Fachstelle Migrantenökonomie, 2022; Sachs, 2020).

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8.6.7 Diversität als Gegenstand der Weiterbildung für Beratende Für eine diversitätssensible Öffnung braucht es eine entsprechende Haltung der Mitarbeitenden, besser noch eine Verankerung im Leitbild und den vorhandenen Beratungskonzepten. Hinzu kommt spezielles Beratungswissen, welches angeeignet werden muss. Dafür gibt es bereits erste Weiterbildungsangebote auf dem Markt, auch speziell für den Bereich der Gründungsberatung (Thöle & Wagner, 2020). Wichtige weitere Fort- und Weiterbildungsthemen betreffen außerdem die Themen der Didaktik und Vermittlung.

8.7 Fazit Ausgangspunkt dieses Beitrags war die Bewältigung der starken Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016. Die generell formulierten Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen gelten jedoch genauso für Gegenwart und Zukunft. Ein wichtiger Schlüssel für Integration und Teilhabe findet sich dabei auf der ökonomischen Ebene, wenn Geflüchtete mit der Zeit in Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisse eintreten oder gar durch eine Selbstständigkeit ihren Lebensunterhalt sichern. In einer chancenorientierten Betrachtung aus Sicht der Wirtschaftsfördereinrichtungen stellt sich die Frage, ob und wie dies unterstützt werden kann. Der Vorschlag dieses Beitrages ist eindeutig: statt kurzfristiger Krisenbewältigung geht es um eine langfristige ­strategische Betrachtung, die den Blick weitet und öffnet. Zunächst bezieht sich dies auf die wirtschaftspolitische Interpretation der Chancen durch Integration. Gelungene Integration und Teilhabe sind individuell erfreulich und ein sozialpolitischer Erfolg. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsfördereinrichtungen interessiert aber primär das daraus abzuleitende Potenzial für den Wirtschaftsstandort, quasi im Sinne einer regionalökonomischen Dividende. Sowohl als Arbeits- und Fachkraft auf dem Arbeitsmarkt als auch für das Gründungsgeschehen können Geflüchtete zumindest auf längere Sicht eine wichtige Ressource darstellen, um Teilantworten auf Fachkräftemangel und rückläufige Gründungsintensitäten zu finden. Gerade bei der Frage unternehmerischer Aktivitäten fällt dann den Wirtschaftsfördereinrichtungen und ihren Beratungsangeboten eine zentrale Rolle zu. Dabei zeigt sich eine weitere Facette der Weitung und Öffnung mit Blick auf die Definition der Zielgruppe. Denn eine Verengung auf das Thema Geflüchtete erscheint wenig sinnvoll. Zweckmäßiger ist ein Ansatz, der migrantisches Unternehmertum in seiner ganzen Breite als noch zu wenig genutztes Potenzial der wirtschaftlichen Stadt- und Regionalentwicklung erkennt. So heterogen die migrantische Ökonomie auch in sich selbst sein mag, führen spezifische Herausforderungen und Merkmale, obgleich im Einzelfall unterschiedlich ausgeprägt, zu speziellen Unterstützungsbedarfen. Zugleich bringt diese Zielgruppe auch spezifische Assets ein, die noch stärker als Chance und Option der Geschäftsmodellentwicklung erkannt werden dürfen. Am Ende gehen die Überlegungen und Vorschläge dieses Beitrages Hand in Hand mit dem Ideal einer diversitätssensiblen Gründungsberatung, die die Heterogenität der Ziel-

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gruppen insgesamt erkennt und sich der Vielfalt und Komplexität der Anforderungen stellt. Um die ungenutzten Potenziale zu heben, müssen Gründungsinteressierte mit Migrationshintergrund besser als bisher über die professionellen Angebote der Wirtschaftsfördereinrichtungen in Kenntnis gesetzt werden. Die Zielgruppe muss stärker vom Mehrwert gründungsfördernder Angebote überzeugt werden und diesen dann auch in praxi erleben. Es bedarf gewisser Brückenbauer aus den vorhandenen sozialen Netzwerken, am Ende aber einer veränderten, namentlich diversitätssensiblen Haltung auf Seiten der Beratenden, mehr Wissen über die speziellen Bedarfe der Zielgruppen und neue Ideen für Formate und Kommunikation. Gewiss bedeutet dies für die Wirtschaftsfördereinrichtungen weitere Anstrengungen. Dabei sind in den vergangenen Jahren die Aufgabenvielfalt und -tiefe, ebenso die Erwartungen gewachsen, ohne dass die Budgetausstattungen der Wirtschaftsförderungen damit Schritt gehalten hätten (Lahner, 2020). Aber zugleich wurde aufgezeigt, dass es nicht die eine generelle Lösung gibt und es vermutlich für viele Wirtschaftsförderungen zunächst darum gehen muss, sich „auf den Weg zu machen“. Interkulturelle Öffnung und Sensibilität ist zuallererst eine Frage von Haltung und Bewusstsein. Zudem sind es vielleicht zu Beginn die eher kleinen Stellschrauben, an denen gedreht werden könnte, etwa bei der Erstellung der nächsten Broschüre, der Überarbeitung des Internetauftritts, der Nutzung von social media oder der erweiterten Einladungsliste zur nächsten Gründungsnetzwerkveranstaltung. Wirtschaftsfördereinrichtungen gelten zurecht als die „Avantgarde der Verwaltung“ (Lahner, 2021), sie sind ausgewiesene Netzwerker, bringen selbst unternehmerisches Denken mit und haben keine Angst vor Veränderung. Was also sollte einer hier skizzierten Nachjustierung oder Neuorientierung im Bereich Gründungsunterstützung, die für den Wirtschaftsstandort mehr bestandsfeste Unternehmen, mehr Arbeitsplätze, mehr Wertschöpfung und am Ende auch mehr Integration verspricht, entgegenstehen?

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Prof. Dr. Jörg Lahner  ist Professor für Wirtschaftsförderung und Unternehmensführung an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) am Standort Göttingen. Er war zuvor an der Handwerkskammer Hannover als Wirtschaftsförderer und Betriebsberater tätig. Er forscht zu verschiedenen regionalökonomischen Themen, KMU sowie Gründungs- und Innovationsökosystemen.

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Finanzcrash, Eurokrise und milliardenschwere Rettungsschirme Martin Kessler

Zusammenfassung

Dieses Kapitel über Finanzcrash, Eurokrise und milliardenschwere Rettungsschirme zeichnet faktisch und analytisch den Verlauf der bislang schwersten Finanz- und Schuldenkrise der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nach und diskutiert die von verschiedenen Staatengemeinschaften gefundenen Lösungen der beiden Krisen. Dabei werden die große Finanzkrise von 2007 bis 2009 und die europäische Staatsschuldenkrise von 2010 bis 2016 in getrennter Form eingehend untersucht. Während die erstere beinahe eine schwerwiegende und langdauernde Weltrezession ausgelöst hätte, geriet bei der zweiten die gemeinsame europäische Währung Euro an den Rand des Zusammenbruchs. Als Ursache für die Finanzkrise sieht der Autor eine Mischung aus zu lockerer Geldpolitik der US-Notenbank, der weltweiten Deregulierung der Finanzmärkte und einer expansiven Fiskalpolitik der Vereinigten Staaten. Hinzu kommt das Marktversagen bei der globalen Vermehrung von verbrieften Hypothekenfinanzierungen, das bei asymmetrischer Information zu einem dramatischen Ausmaß des Principal-Agent-Problems führte und über die Fragilität der Finanzmärkte einen Crash herbeiführte. Die massiven staatlichen Rettungsmaßnahmen verhinderten eine drohende weltweite Rezession oder gar Depression. Auf nationaler und kommunaler Ebene leistete die massive Wirtschaftsförderung ergänzende Hilfestellung. In der Staatsschuldenkrise der Euroländer erfolgten die Rettungsmaßnahmen hingegen mit erheblicher Verzögerung. Das führte zu schwerwiegenden Einbrüchen in der Wirtschaft der Schuldenländer, denen kein aktives staatliches Management gegenüberstand. Erst

M. Kessler (*) Rheinische Post, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_9

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die uneingeschränkte Garantie der Europäischen Zentralbank („Whatever it Takes“) für Euro-Schuldverschreibungen wendete den Zusammenbruch ab. Auch hier kamen der transnationalen Wirtschaftsförderung, aber auch den vielen konkreten Maßnahmen vor Ort eine entscheidende Bedeutung zu.

9.1 Einleitung Das 21. Jahrhundert ist reich an weltgeschichtlichen Ereignissen, obwohl es noch nicht einmal zu einem Viertel verstrichen ist. Schließt man das 20. Jahrhundert, wie das einige Historiker tun, mit dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs in Osteuropa ab, kommen weitere Großereignisse hinzu. Nach dem vorläufigen Ende der Ost-West-­ Konfrontation, die inzwischen durch den Ukraine-Krieg eine gewisse Wiederholung erfährt, gerieten in einer neuen multipolaren Welt auch die internationalen Finanzmärkte wiederholt in schwere und teilweise existenzielle Krisen, mit denen Notenbanken und Regierungen fertig werden mussten. Dabei halfen die traditionellen Erkenntnisse des makroökonomischen Krisenmanagements  – trotz der Erfahrungen aus der Großen Depression der 30er-Jahre, aus dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods Anfang der 70er-Jahre und den darauffolgenden Ölpreis-Schocks – nur sehr bedingt weiter. Ein neues Paradigma der Wirtschaftspolitik entstand, das nur teilweise von der Politik aufgegriffen wurde. Im Mittelpunkt der folgenden Analyse steht die globale Finanzkrise von 2007 bis 2009 sowie die anschließende Staatsschuldenkrise im Euroraum von 2010 bis 2016. Neben einem Überblick über die wichtigsten ökonomischen und politischen Ereignisse wird es in dem Beitrag um eine eigene und fremde Bewertung dieser Krisen gehen. Dabei werden die verschiedenen politischen Lösungsansätze untersucht und bewertet sowie Schlussfolgerungen gezogen und Empfehlungen für die politischen Handlungsträger gegeben. Zuvor werden die Ursachen beleuchtet. Im Zentrum der Bewertung stehen die milliardenschweren Rettungspakete in der Finanzkrise sowie die Aktionen der Europäischen Zentralbank und der beteiligten Regierungen der Euroländer in der Staatsschuldenkrise. Die Bewertung erfolgt mit Hilfe der ökonomischen Analyse, wobei die tatsächlichen Rettungsmaßnahmen mit möglichen Alternativen verglichen werden. Das gilt auch für den verwendeten Instrumentenkasten der aktiv Handelnden – vornehmlich der Zentralbanken und der nationalen Regierungen. Ein weiterer Aspekt in beiden Krisen ist die Rolle der Wirtschaftsförderung. Neben direkten Rettungsmaßnahmen und der Konsolidierung der notleidenden Banken und Staaten gilt Wachstum als der entscheidende Faktor, um aus diesen schwerwiegenden Krisen ohne eine inakzeptable Belastung der Bevölkerung herauszukommen. Dabei wird untersucht, ob der Staat dieses Wachstum auch mit direkter Förderung strategischer Bereiche (Finanzwesen, Kernbranchen, Hochtechnologie) unterstützen kann. Weil gerade viele Kommunen durch die Finanzkrise getroffen wurden, geht es auch um die kommunale Wirtschaftsförderung. Sie ist gewissermaßen die Feuerwehr vor Ort,

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die helfen kann, Anpassungslasten auf der untersten, aber gleichzeitig vielleicht wichtigsten demokratischen Ebene aufzufangen und zu vermindern. Den Beginn der Analyse markiert die große Finanzkrise. Sie war der Kulminationspunkt einer Entwicklung, die sich schon seit Jahren ankündigte, aber – mit Ausnahme einiger ökonomischer Außenseiter – von der Fachöffentlichkeit und den finanzpolitisch Verantwortlichen trotz mancher Bedenken und Warnungen nicht erwartet wurde. Die Wucht und die schnelle Abfolge der einzelnen Ereignisse sowohl in den Vereinigten Staaten wie auch im Rest der Welt waren einmalig. Zunächst ging der Crash von den USA aus und ging dann auf die Welt über. Am Beginn stand die Krise im amerikanischen Immobilienmarkt, sie ging über Lehman Brothers auf den Finanzmarkt über und erreichte dann die Finanzmärkte Europas und der übrigen Welt. Zuvor waren bereits die überhitzten Immobilienmärkte in Irland und Spanien eingebrochen. Der Gesamteindruck der Krise war so groß, dass der damalige Toyota-Chef Katsuaki Watanabe von einem Wirtschaftseinbruch sprach, der „nur einmal alle hundert Jahre kommt“ (Fackler, 2008). Der amerikanische Notenbankpräsident Ben Bernanke, eine der Schlüsselpersonen jener Zeit, drückte es noch deutlicher aus. „September und Oktober 2008 waren die schlimmste Finanzkrise der Weltgeschichte einschließlich der Großen Depression“ (Egan, 2014). Was war geschehen und wie konnte es dazu kommen? Welche Maßnahmen leiteten Notenbanken und Regierungen daraus ab? Und wie lässt sich das Ganze knapp 14 Jahre später ökonomisch und politisch bewerten? Das 21. Jahrhundert begann mit einer unvorhergesehenen Katastrophe. Am 11. September 2001 flogen zwei von islamistischen Terroristen entführte Passagiermaschinen in die Zwillingstürme des World Trade Centers, der damals höchsten Wolkenkratzer in New York, und brachten sie zum Einsturz. 9/11 wurde zur Chiffre eines neuen Zeitalters, das auch die Finanzwelt stark in Mitleidenschaft zog. Zugleich sollte es später auch die Dimension der Finanzkrise als „9/11 der Wirtschaft“ kennzeichnen (Höning, 2018).

9.2 Die Gründe der Finanzkrise Der verheerende Terroranschlag von 2001 markierte auch einen der Ausgangspunkte der großen Finanzkrise. Der damalige Chef der Federal Reserve Bank der Vereinigten Staaten (Fed), Alan Greenspan, wollte die Folgen des politischen Schocks auf die Wirtschaft abmildern. Als am 17. September 2001 die Märkte nach der Attacke im Zentrum des Weltfinanzsystems, die Tausenden Menschen den Tod brachte, wieder öffneten, senkte die Fed unter Führung Greenspans den Leitzins von 3,5 auf 3 %. In kurzen Abschnitten ging es weiter nach unten. Und selbst, als die US-Wirtschaft nach dem Schock von 9/11 längst wieder wuchs, gingen die Zinsen weiter nach unten. Der Tiefpunkt wurde am 25. Juni 2003 erreicht, als der Leitzins gerade einmal bei 1,0 % lag (Piper, 2009, S. 51). Die Intervention des „Magiers“, wie Greenspan häufig genannt wurde, beruhigte die Märkte, verhinderte eine Inflation und überwand schnell die negativen Folgen der Attacken für die

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US-Wirtschaft. Was die damals Handelnden der Bush-Administration nicht so sehr beachteten, war die Asset Inflation, die Steigerung der Vermögenswerte, die durch die Politik des billigen Geldes einsetzte. Hinzu kam eine expansive Fiskalpolitik des Bundes unter Bush sowie die Fortsetzung der Deregulierung der Finanzmärkte. Gerade Letztere gab den Weg frei für die Entwicklung verschiedener hochriskanter Derivate, die nicht adäquat in den Bilanzen hinsichtlich ihrer Risiken abgebildet wurden. Dieser Cocktail unterschiedlicher Entwicklungen erzeugte unter anderem die Subprime-Krise, die bekanntlich am Beginn der großen Finanzkrise stand. Über die pfandbesicherten Hypothekenkredite an Millionen von US-Haushalten nach 2000 wurde viel geschrieben. Besonders die beiden staatlich geförderten Unternehmen Freddie Mac und Fanny Mae, die ihre populären Namen durch eine Verballhornung der Bezeichnung der ursprünglich staatlichen Institutionen zur Förderung des Wohneigentums erhielten (die Federal National Mortgage Association, Fannie Mae, von 1938, privatisiert 1968, und die Federal Home Loan Mortgage Corporation von 1968, Freddie Mac) standen im Mittelpunkt von Berichterstattung und Analyse. Im Kern handelte es sich um eine staatlich-private Förderung von Eigenheimen für ärmere Bevölkerungsschichten in der Clinton- und der Bush-Ära. Gerade mit der Politik des billigen Geldes wurde es möglich, bei geringen Zinsen Hypothekenkredite an Personen auszugeben, deren Kreditwürdigkeit bei normalen Zinsen dafür nicht ausreichen würde. Es entstand der Subprime-Markt, wörtlich übersetzt ein Kreditmarkt mit einer verminderten Bonität der Darlehensnehmer. Oft wurden Hauskäufe gerade auch von benachteiligten Gruppen in der US-Gesellschaft wie Afro-Amerikanern oder Hispanics zu 100 % finanziert – also ohne Eigenkapital als Risikoprämie (Münchau, 2008, S. 100). Anders als die klassischen besicherten Hypothekenkredite für Schuldner mit guter Bonität versuchten viele Hypothekenbanken die Risiken aus dem neuen Geschäft breiter zu streuen. Als Innovation des Finanzmarktes entstand die Verbriefung der Subprime-­ Kredite, also die Zusammenfassung und Bündelung der Darlehen, die als Pfandbriefe dann weiter an Investoren ausgegeben wurden. Dabei wurden einzelne Pakete zu immer größeren Einheiten verarbeitet, neu zusammengesetzt und anteilig verkauft. Über die beiden staatlich geförderten Vertragspartner der einzelnen Hypothekenbanken, Freddie Mac und Fannie Mae, entstand ein riesiger Markt. Und nicht nur die beiden klassischen Finanzdienstleister gaben die gebündelten Hypothekenkredite weiter, sondern auch eine Vielzahl von rein kommerziellen Anbietern wie etwa der Immobilienfinanzierer Countryside, der 2006 für 20 % aller Hypothekenkredite verantwortlich war. Die Marktverhältnisse kehrten sich in nur wenigen Jahren völlig um. Waren zwischen 1999 und 2003 noch rund 70 % der Eigenheimdarlehen konventionelle Verträge zwischen einer Bank und einem Schuldner, der den Kredit mit einer Hypothek und Eigenkapital sicherte, so stieg der Anteil der vollfinanzierten Subprime-Kredite im Jahr 2006 auf 70 %. Die wiederum wurden an internationale Investoren im großen Stil weiterverkauft als private Mortgage-Backed Securities (MBS). Das sind mit Hypotheken besicherte Wertpapiere, die im Falle eines Zahlungsausfalls durch die Grundstücke und die Häuser der Schuldner gedeckt waren. Die Zahlen waren schon 2006 – kurz vor Ausbruch der Krise –

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astronomisch hoch geworden. In den beiden Jahren 2005 und 2006 wurden neue Kredite an US-Eigenheimerwerber jeweils in Höhe von einer Billion Dollar ausgegeben. Im Jahr der Geldlockerungen 2001 lagen die MBS, die mit Hypotheken besicherten Pfandbriefe, noch bei 100  Mio. Dollar. Der Markt hat sich in nur fünf Jahren verzehnfacht (Tooze, 2018, S. 63). Die Entwicklung auf dem Subprime-Markt veränderte zunächst alle Verhältnisse auf dem US-Immobilienmarkt. Nach Schätzungen des Analysten Y.  Barnes von der Savills World Research aus dem Jahr 2016 stellen die Amerikaner neun Prozent aller Eigenheime weltweit. Der Wert der US-Wohnimmobilien beträgt nach den Zahlen des gleichen Instituts aus dem Jahr 2020 rund elf Prozent des gesamten Weltvermögens an Eigenheimen und Mietwohnungen. Im ersten Jahr der Krise (2007) hatten 80 Mio. US-Haushalte ihre eigenen vier Wände. Das waren 70 % aller Familien in den Vereinigten Staaten. In Deutschland zum Vergleich betrug die Wohneigentumsquote im Jahr 2018 (letzte verfügbare Zahl) nach Zahlen des Statistischen Bundesamts 46,6  % (Klose & Schwarz, 2019, S.  27). Gleichzeitig verdoppelte sich das Vermögen der US-Haushalte in den zehn Jahren vor dem Ausbruch der Krise (bis 2006) auf 6,5 Billionen US-Dollar. Der amerikanische Immobilienmarkt hatte große Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, sowohl durch seine schiere Größe wie auch durch die internationale Finanzierung des Booms. Dabei zeigten sich verschiedene Probleme schon bei der Entstehung der spekulativen Blase. Die Verbriefung, die eigentlich die möglichen Risiken besser streuen sollte, machte die Hypothekenkredite durch die üppigen Provisionen teurer. Zugleich verrieten die besicherten MBS-Wertpapiere nicht die wahren Risiken, sondern verdeckten die mangelnde Bonität der Schuldner. Investmentbanken wie Lehman Brothers oder Versicherungskonzerne wie AIG, die beide aus den USA stammen, nutzten die MBS-Papiere als Besicherung für weitere Kredite, da sie dinglich abgesichert waren und damit eigentlich über eine hohe Deckungsqualität verfügten, was von den Rating-Agenturen mit Top-Ratings anerkannt wurde. Das Schneeballsystem nahm seinen Lauf, immer neue Finanzierungsquellen wurden erschlossen, zum Schluss weltweit, in Europa, dem Nahen und Mittleren Osten sowie in Ostasien. Im Jahr 2008 wurde ein Viertel der US-Hypothekendarlehen von Ausländern gehalten (Tooze, 2018, S.  73). Die Bilanzsummen der eigentlich als seriös geltenden Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac betrugen zusammen 5,4 Billionen US-Dollar, mehr als jene der damaligen Branchenriesen Deutsche Bank oder UBS. Die beiden Immobilienfinanzierer hielten 1,7 Billionen Dollar an MBS-Papieren, die in der großen Finanzkrise dann schnell toxisch wurden. Fannie Mae war nach seiner Bilanzsumme das siebtgrößte Unternehmen der Welt (Münchau, 2008, S. 102). Das nach ökonomischen Regeln positive Instrument der Verbriefung löste in der speziellen Situation der 2000er-Jahre zwiespältige Effekte aus. So förderte die Verbriefung eine bessere Verteilung der Risiken, andererseits verschleierten fehlende Regeln für die Derivative das Ausmaß der Ausfallwahrscheinlichkeiten. Eine Finanzkrise kann dann entstehen, wenn der Nachteil der Verschleierung den Vorteil der besseren Streuung überwiegt. Solange die Grenzkosten der Informationsasymmetrie unter den Grenzerträgen der Streuung liegen, erzeugt die Verbriefung einen volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinn.

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Da allerdings die Vermittler  – also Investmentbanken, Vermögensverwalter und Versicherungen – nicht mit den Gläubigern (Investoren) der Kredite identisch sind, entsteht zum einen das Principal-Agent-Problem. Die Vermittler nutzen die Informationsnachteile der Auftraggeber aus und gehen höhere Risiken ein, als nach Lage der Besicherung und möglichen Abschlägen auf steigende Hauspreise angebracht wäre. Sind dann die Sicherheitsmargen knapp, entstehen aus dieser asymmetrischen Information Bilanz- und dann vor allem Vertrauensverluste innerhalb des Finanzsystems. Trocknet dann die Liquidität auf dem Interbanken-Markt aus, kann es sogar zu einer Panik kommen. Diese Panik als Folge des ausgetrockneten Interbanken-Markts war einer der wesentlichen Auslöser der großen Finanzkrise, die eine ultralockere Geldpolitik notwendig machte. Innovationen auf den Finanzmärkten brachten schließlich weitere Wertpapiere hervor, die Risiken noch raffinierter und intransparenter streuten. Ein Beispiel für solche strukturierten Produkte sind die Collateralized Debt Obligations (CDOs) und die Credit Default Swaps (CDS). Bei den CDOs wurden die Risiken tranchiert, wonach die einzelnen Zahlungsströme entsprechend dem Ausfallrisiko mit jeweils höheren Zinsen kompensiert wurden (Mishkin, 2019, S. 328). Das derivative Finanzinstrument der CDS verpflichtet den Verkäufer (Finanzinstitut), dem Erwerber (Gläubiger) im Fall eines Kreditausfalls die Darlehenssumme zu ersetzen. Dafür erhält der Verkäufer Gebühren. Beide Instrumente können gehandelt werden und sind somit auch Spekulationsobjekte. So verkaufte beispielsweise der US-Versicherer AIG wegen der hohen Gebühren CDS im Wert von Hunderten von Milliarden Dollar und hielt damit massiv ungedeckte Long-Positionen. Die Kreditmaschine über Subprime und Finanzderivate lief so lange auf Hochtouren, wie die Hausse an den Immobilien- und Aktienmärkten anhielt. Damit bestand ein Anreiz, noch mehr Personen für den Kauf von Häusern oder Unternehmensbeteiligungen zu gewinnen. Das galt sowohl für die Vereinigten Staaten, aber auch für Länder wie das Vereinigte Königreich, Spanien und Irland, wo ähnliche Schneeballsysteme ins Rollen kamen. Ganze Vertriebsgruppen schwärmten aus, um vor allem ärmere und bonitätsschwache Haushalte zum Kauf von Eigenheimen zu animieren. Dabei schreckten viele vor falschen Informationen bis hin zum Betrug nicht zurück. Bei vielen Anbietern von Subprime-­ Krediten und Finanzderivaten spielte die Regulierung, die sonst im Finanzsektor üblich ist, gar keine Rolle. So waren wohlhabende Hauskäufer mit klassischen Hypothekenkrediten besser abgesichert als ärmere Schichten, die sich das Geld von Schattenbanken liehen. Für die Vermittler dieser Kredite bestand umso weniger ein Anreiz, die Bonität der Schuldner zu überprüfen, als sie durch ihren Informationsvorsprung und das Wissen um die komplizierten strukturierten Produkte eher ein Interesse hatten, die Papiere rasch weiterzuverkaufen als die Risiken adäquat zu bewerten. Gleichzeitig entstand ein Anreiz, möglichst große Volumina zu realisieren, was wiederum die Vertriebsaktivitäten in Gang setzte und den Umfang der Geschäfte, gerade auch der toxischen, erhöhte. Eigene Möglichkeiten zur Gegensteuerung hätten der US-Wirtschaftspolitik offen gestanden. Sie hätte die seit 2008 angewandten makroprudenziellen Maßnahmen wie eine bessere Kapitalunterlegung für Kredite oder Beschränkungen für das Verhältnis von

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Schulden zu Unternehmenswerten schon früher ergreifen können. Ein früher Warner war der Ökonom John Taylor von der Stanford University, der den US-Notenbankern eine zu laxe Geldpolitik für die Jahre 2003 bis 2006 vorwarf (Taylor, 2007). In der Rückschau wies der damalige Fed-Chef Ben Bernanke diese Kritik zurück und machte allein die ungenügenden Standards auf dem Subprime-Markt für die Übertreibungen und das letztliche Platzen der Blase verantwortlich (Bernanke, 2010). Unbestritten ist, dass die Fragilität des Finanzsystems zur großen Finanzkrise führte. Der ungeregelte Subprime-Markt mit den neuen Spielern am Finanzmarkt, den unregulierten Schattenbanken, entstand im Gefolge dieser Politik. Daneben spielten die schnellen und weitreichenden Innovationen am Finanzmarkt eine entscheidende Rolle, die eigentlich Risiken besser streuen sollten, aber über das Principal-Agent-Problem die Risiken eher verklumpten und die Infektiosität des Systems durch aggressive Kreditverkäufe verschärften. Unterstützt wurde die fehlende Regulierung durch das Dogma der freien Finanzmärkte (Efficient Market Hypothesis), die ein mögliches Marktversagen selbst an so sensiblen Märkten wie dem Handel mit hochkomplexen Wertpapieren und Derivaten ausschlossen (Wolf, 2014, S. 125; Fama & Miller, 1972). Die Möglichkeiten, über Besicherungen Hebelwirkungen gerade bei riskanten Derivaten (Leverage-Effekte) zu erzielen und diese Papiere auch in Ländern wie Indien oder China bei einer zunehmenden Investorenschaft zu platzieren, taten ein Übriges. Die Bilanzen der Finanzinstitute, aber auch der Schattenbanken enthielten auf der Aktivseite Wertpapiere, denen jahrzehntelange Laufzeiten zugrunde lagen, während auf der Passivseite die kurzfristigen Verbindlichkeiten teilweise mehrfach monatlich umgeschichtet werden mussten. Dabei wurde die Goldene Bilanzregel der Fristenkongruenz für Finanzinstitute grob verletzt. Es wurden besonders MBS als alleinige Besicherung (Collateral) als ausreichend erachtet. Ein schwerer Irrtum, wie sich später herausstellte.

9.3 Der Crash Die Rallye ging so lange gut, bis sich erstmals fallende Hauspreise andeuteten. Der Billionen-Immobilienmarkt in den USA machte den Anfang. Seit August 2007 fielen die Preise, während die Hypothekenrückstandsquote erst langsam, dann immer rascher anstieg. Im Jahr 2008 – auf dem Höhepunkt der Krise – lag die Rate des Preisverfalls für Eigenheime bei acht Prozent pro Quartal. Die ersten Totalausfälle und Zwangsversteigerungen machten die Runde (Ellis, 2008, S. 10). Im Boomland Spanien erfolgte der Peak im Frühjahr 2008, als der Quadratmeter nach Angaben der Banco de España (spanische Zentralbank) 2101 € kostete und nur ein Jahr später auf 1455 € fiel. Noch härter erwischte es Länder wie Irland oder Island, weil die dortigen Hauseigentümer ihren Schuldendienst in Fremdwährung bezahlen mussten. Zum Preisverfall kam der Währungsverfall. In Island wuchs das Verhältnis von Hypothekenkrediten zum Bruttoinlandsprodukt von 75,5 % (Ende 2006) auf 129 % (Ende 2008). Das Land war zahlungsunfähig (Scanlon et al., 2011).

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Die nächste Phase, die aus der Immobilienkrise die weltweite Finanzkrise erzeugte, betraf die Bilanzen der großen Finanzinstitutionen. Die Hebelwirkung der Geschäfte mit MBS- und anderen Papieren führte zu einem Verhältnis von Bilanzsumme zu Eigenkapital von 40 zu eins bei europäischen Banken wie der Deutschen Bank, der UBS oder der britischen Barclays, die freilich alle drei zu den aggressivsten Käufern von strukturierten Produkten zählten. Im ersten Krisenjahr 2007 lag das Verhältnis nach Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) sogar bei 50. Bei US-Banken betrug die Leverage-­Ratio rund 20, und auch das war zu hoch, um Bankpleiten zu vermeiden. Am härtesten traf es zunächst die Nichtbanken-Finanzintermediäre (Non-Banking Financial Intermediaries, NBFI), also Hedgefonds, Investmentbanken und andere Finanzdienstleister, die kein Privatkundengeschäft hatten. Landläufig werden die gerne Schattenbanken genannt. Weil die Sicherheiten im Wert sanken, mussten diese Institutionen nachschießen („Haircut“), um den gleichen Kreditbetrag bei einer Verlängerung ihrer Repo-­Geschäfte („Repurchase Agreements“) zu bekommen. Sie mussten also Wertpapiere in beträchtlichem Umfang verkaufen, was deren Preisverfall weiter beschleunigte. Ein Teufelskreislauf setzte ein. Der Anteil der unverkäuflichen (toxischen) Wertpapiere in den Bankbilanzen nahm weltweit zu. So stieg insbesondere in Europa das Volumen der besicherten Kredite von 500 Mrd. Dollar (2007) auf 750 Mrd. Dollar (2008) an. Trotzdem wollten die Banken so schnell wie möglich von ihren toxischen Aktiva wegkommen. Die enge Verzahnung der internationalen Finanzwelt führte zu Spillover-Effekten, die die ganze Fragilität des Systems mit seinen extremen Systemrisiken offenlegten. So gab es in Großbritannien den ersten Bank-Run seit dem 19. Jahrhundert, als Kunden des mittelgroßen Hypothekenfinanzierers Northern Rock aus Newcastle ihre Einlagen zurückbekommen wollten. Doch es waren nicht die Besitzer der Einlagen, die Northern Rock in die Knie zwangen, sondern ein großer Finanzdienstleister, der 80  % der für die Hypothekenkredite der Bank notwendigen Mittel bereitstellte. Der löste online einen Großteil seiner Einlagen bei der Bank aus, was das Finanzinstitut dann zu Fall brachte. Nicht Northern Rock war im MBS-Markt engagiert, sondern der Finanzierer der Bank, der die Mittel aus dem Subprime-Markt besorgte und der britischen Bank zur Verfügung stellte. Zuvor hatte der Startschuss der Krise bereits am 9. August 2007 begonnen, als die französische Großbank BNP Paribas illiquide wurde und nur durch eine großzügige Liquiditätsspritze der Europäischen Zentralbank (EZB) gerettet wurde (Kessler, 2007). Der entscheidende Tag aber wurde die Insolvenz der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers, die am 15. September 2008 keine Refinanzierung mehr gewährleisten konnte. Zuvor war ihre Liquiditätsposition auf 1,4 Mrd. Dollar geschrumpft, obwohl sie kurzfristig 150  Mrd. Dollar benötigte. Mögliche Retter wie die Großbank J.P.  Morgan zeigten die kalte Schulter. So wurde das Schwergewicht Lehman zum ersten großen Opfer der Finanzkrise. Zuvor war die kleinste der fünf wichtigen US-Häuser im Investment-­ Geschäft, Bear Stearns, sang- und klanglos aus dem Markt ausgeschieden, weil Zahlungsprobleme sie in die Hände von J.P. Morgan zwangen. Die Schockwellen nach der Lehman-­ Pleite durchliefen den ganzen Globus, sie gingen nach Europa, dann weiter an den Golf, nach Indien und China bis nach Japan.

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Die nächste Institution, die zu fallen drohte, war der Versicherer AIG aus New York, der die gigantische Summe von 2,7 Billionen Dollar in Derivaten angelegt hatte, ein Großteil davon war toxisch. Von den 44.000 Kontrakten des Versicherers in diesem Segment reichten bereits 125 CDS aus, um dem Konzern einen Buchverlust von 11,5 Mrd. Dollar zu bescheren, doppelt so viel, wie AIG zwischen 1994 und 2006 insgesamt verdiente. Allein im Subprime-Segment standen 400 Mrd. Dollar zur Disposition. Der Versicherer hätte am 16. September, einen Tag nach Lehman, Insolvenz anmelden müssen, wenn ihm die Fed nicht mit einem 85-Milliarden-Dollar-Kredit unter die Arme gegriffen hätte. Später schuldete AIG der US-Notenbank und der Regierung die gewaltige Summe von 173 Mrd. Dollar. Doch eine weitere Pleite wollten die Behörden und die Politik nicht hinnehmen. Die Investmentbank Merrill Lynch, die ebenfalls in Zahlungsverzug geraten wäre, wurde von der Bank of America für 60 % ihres Wertes von 2007 aufgekauft Die Krise am Subprime-Markt wurde nun zur großen Finanzkrise. Nach den amerikanischen Finanzinstituten drohten auch Europas Schwergewichten wie der Royal Bank of Scotland (RBS), Lloyds und HBOS aus Großbritannien, ABN Amro aus den Niederlanden, Fortis und Dexia aus Belgien und Frankreich, der spanischen Großbank Santander und dem deutschen Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate die Zahlungsunfähigkeit. Die Politik musste sich entscheiden: Massensterben der Finanzinstitute oder Rettungsschirme in Höhe von Hunderten Milliarden Dollar oder Euro.

9.4 Bailout und Bewertung Die Regierungen der Industriestaaten entschieden sich für die Rettung der illiquiden Finanzinstitute. Um einen völligen Zusammenbruch der Finanzmärkte, die sogenannte „Kernschmelze“, zu verhindern, legten die großen Industrieländer milliardenschwere Rettungspakete auf und stimmten ihre nationalen Aktionen untereinander ab. Der damalige US-Finanzminister Hank Paulson brachte die Dramatik auf dem Höhepunkt der Krise am 20. September 2008 auf den Punkt. Wenn der Kongress jetzt nicht schnell handle, so Paulson, dürften die Amerikaner bis zwei Uhr mittags Vermögenswerte in Höhe von 5,5 Billionen Dollar verlieren. Fed-Chef Bernanke fügte hinzu: „Wir haben dann am nächsten Montag keine Wirtschaft mehr.“ Das mochte übertrieben sein, um das zögerliche US-­ Parlament zur Handlung zu zwingen, aber der drohende Kollaps der Finanzwelt löste rund um den Globus hektische Betriebsamkeit aus. Insgesamt vier Rettungsmethoden wurden diskutiert: (1) Staatliche Kredite für Banken und andere Finanzinstitute, (2) Rekapitalisierung angeschlagener Geldhäuser über staatliche Einlagen, (3) Käufe von Unternehmensbeteiligungen und (4) staatliche Garantien für die Einlagen der Privatpersonen und Unternehmen. In den meisten Fällen vollzogen die Staaten eine Kombination dieser Möglichkeiten. Zwar scheiterte in den Vereinigten Staaten trotz der drohenden Lage ein erster Anlauf der aus dem Amt ausscheidenden Bush-­ Administration. Später gelang es dank der Unterstützung der Demokraten, einen Rettungsfonds von 700  Mrd. Dollar aufzulegen, der strauchelnden Banken und anderen

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Kreditinstituten Refinanzierungsmöglichkeiten bot. Zusammen mit den Maßnahmen des auf Bush folgenden demokratischen Präsidenten Barack Obama setzte die US-Regierung die unvorstellbare Summe von 1066 Mrd. Dollar an staatlichen Krediten, Garantien und direkten Einlagen des Staates zur Rettung der Banken ein. Zusammen mit den anderen Hilfen summierte sich das Paket auf 30 % des US-Bruttoinlandsprodukts von 2008 (Stolz & Wedow, 2010). Dabei setzten die Amerikaner vor allem auf die vorübergehende Verstaatlichung der Kreditinstitute und Schattenbanken (Rekapitalisierung). Ähnlich hohe Summen steuerten auch die anderen Länder zur Rettung ihrer Kreditinstitute und anderer Geldhäuser bei. Einen der höchsten Werte beim Bailout brachte Irland ein. Das Land, das in Europa dank lukrativer Steuersätze für Unternehmen zu einem internationalen Finanzzentrum wurde, wandte die dreifache Summe des Bruttoinlandsprodukts zur Rettung der Finanzinstitute auf, Schweden und die Niederlande kamen auf rund die Hälfte ihrer Inlandsproduktion. Deutschland legte ein Programm von 400 Mrd. € an Garantien und 100  Mrd.  € an Rekapitalisierungen auf, was rund einem Viertel des Bruttoinlandsprodukts des Landes entsprach. Die wichtigsten betroffenen Banken waren der Immobilienfinanzierer Hypo Real Estate, der vor einer Insolvenz bewahrt und verstaatlicht wurde, und die Commerzbank, damals nach Bilanzsumme die drittgrößte Bank Deutschlands. Ähnliche Summen stellten die anderen EU-Länder bereit. Frankreich verabschiedete ein Rettungspaket von 320  Mrd.  € an mittelfristigen Bankkrediten und 40 Mrd. € an Rekapitalisierungsmaßnahmen. Die gleiche Summe wandte auch Italien für die Ausstattung seiner Banken mit zusätzlichem Kapital auf, während für die Garantien keine Obergrenze genannt wurde. Die Niederlande garantierten 200 Mrd. €, Spanien und Österreich je 100 Mrd. € (Tooze, 2018, S. 193). Die geretteten Banken lesen sich wie ein Who’s Who der globalen Finanzwelt. In den Vereinigten Staaten erhielten Goldman Sachs, J.P. Morgan und die Citigroup Hilfen des Staates, Merrill Lynch (Bank of America) und Morgan Stanley (Bank of Tokyo-­Mitsubishi) wurden übernommen. Die beiden am stärksten in die Immobilienkrise involvierten Institute Freddie Mac und Fanny Mae wurden in staatliche Obhut (conservatorship) genommen und praktisch von Regierungsbeamten geführt. Großbritannien verstaatlichte die Royal Bank of Scotland und die HBOS. Die Großbanken Fortis (Niederlande, Belgien, Frankreich) und Dexia (Frankreich, Belgien) erhielten ebenfalls staatliche Gelder (Mishkin, 2019, S. 336; Tooze, 2018, S. 184). Die ökonomischen Folgen der Kernschmelze in den Finanzmärkten betrafen fast alle Länder der Welt. Von den 60 Staaten, die an den Internationalen Währungsfonds (IWF) berichten, erlitten 52 im Jahr 2009 einen zum Teil erheblichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland schrumpfte der Export im zweiten Quartal 2009 nach Zahlen des Statistischen Bundesamts um gut ein Drittel gegenüber dem Vorjahr. Die Rezession im gleichen Jahr war mit einem Minus des Bruttoinlandsprodukts von 5,7 % die schärfste der Nachkriegszeit – und bleibt sie trotz der Corona-Krise bis heute. Die „Fa­ brik Asien“, die die Welt mit Industriegütern versorgt, kam für Wochen zum Stillstand. Die ökonomischen Schwergewichte Japan, China, Taiwan und Korea verzeichneten zumindest kurzfristig Minusraten (Tooze, 2018, S.  159). Besonders stark waren die Ver-

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einigten ­Staaten betroffen. Deren Wirtschaft schrumpfte auf jährlicher Basis zuerst um 1,3 % (3. Quartal 2008), dann um 5,4 % (erstes Quartal 2009) und schließlich um 6,4 % (zweites Quartal 2009). Die Arbeitslosigkeit stieg auf über zehn Prozent (Mishkin, 2019, S. 334). Auch Europa erlebte einen heftigen Rückgang der Produktion. Die Wirtschaft der Eurozone schrumpfte nach den Daten des IWF um 4,5 %, in Großbritannien ging das Bruttoinlandsprodukt um 4,1 % zurück. Am härtesten traf es die baltischen Staaten, die 2009 mit Minusraten von 14 % und mehr zu kämpfen hatten. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf der Welt weniger produziert als im Jahr zuvor. Im zweiten Halbjahr 2008 schrumpften die internationalen Kapitalströme zwischen den entwickelten Ländern von 17 Billionen Dollar auf kaum 1,5 Billionen Doller – ein Rückgang um 90 %. Als Antwort auf die ökonomische Krise vereinbarten die wichtigsten Industrienationen staatlich finanzierte Defizitprogramme von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Vereinigten Staaten legten ein „Stimulus Package“ von drei Prozent ihrer Inlandsproduktion in den Jahren 2008 und 2009 auf. An den Programmen übten einige Ökonomen Kritik, weil die Stockungen in der Produktion nicht durch staatliche Nachfrage nach anderen Gütern beseitigt werden könnten (Neubacher & Sauga, 2009). Der neue US-Finanzminister Tim Geithner der Obama-Administration verteidigte sowohl die Rettungsmaßnahmen wie auch die Defizitprogramme wegen des Zeitvorteils, der in einem schnellen staatlichen Handeln liege. (Geithner: „There is more risk in gradualism“). Zusätzlich zu den zentralstaatlichen Nachfrageprogrammen reagierten auch die regionalen und kommunalen Regierungen auf den beispiellosen Einbruch der Wirtschaft im Gefolge der Finanzkrise. Insbesondere in Deutschland, das weniger von einer Immobilienkrise als viel stärker vom globalen Wirtschaftseinbruch betroffen war, spielten die Bundesländer und die Kommunen eine große Rolle bei der Überwindung der ökonomischen Krise. Schon früh richteten beide Gebietskörperschaften ihre Wirtschaftsförderung auf die neuen Herausforderungen aus. So verhandelte etwa der Freistaat Sachsen mit Großkonzernen aus der Chip-Branche wie Qimonda über Landesbürgschaften in dreistelliger Millionenhöhe. Schließlich ging es darum, den Hightech-Sektor mit rund 43.000 Beschäftigten trotz der Finanzkrise im Land zu halten und die Erfolge der früheren Wirtschaftsförderung (von 2002 bis 2009 flossen rund 415 Mio. € in die Chip-Branche) nicht zu verlieren (Maatz & Oden, 2008). Vor allem die öffentlichen Förderbanken sprangen in die Lücke, als private Kreditinstitute sich deutlich zurückhaltender zeigten und Unternehmen ihre Investitionen einschränkten. So erhöhte die NRW-Bank im dritten Quartal 2008 ihre Förderzusagen um 23,2 %. Als Instrumente setzte die nordrhein-westfälische Förderbank dabei vornehmlich Haftungsfreistellungen und Bürgschaften ein (Köhler, 2009). Ein Trend, der sich in der Folge der Finanzkrise verstärkte. So halfen insbesondere die Bürgschaftsbanken der einzelnen Länder bei Existenzgründungen, Investitions- und Wachstumsfinanzierungen, Betriebsmittelfinanzierungen sowie Avalen und Garantien und leisteten damit einen zentralen Beitrag zur Überwindung der Krise (Netzel & Köppen, 2012; Schmidt & van Elkan, 2010). In vielen Städten und Kommunen richtete sich die kommunale Wirtschaftsförderung völlig neu aus und konzentrierte die Förderung vor-

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nehmlich auf den Erhalt und die Rettung bislang erfolgreicher Strukturen. So erstellte die Stadt Düsseldorf einen Masterplan „Industriestandort Düsseldorf“. Kleve forcierte die Hilfen für Unternehmen, die direkt von der Krise betroffen waren. Flensburg legte seine Wirtschaftsförderung mit der des Kreises Schleswig-Flensburg zusammen, kooperierte auch mit dem dänischen Umland, um den betroffenen Firmen eine Unterstützung „aus einer Hand“ anzubieten (Tartler, 2010). Heute, rund zwölf Jahre nach der großen Finanzkrise, muss die zwischen den Regierungen der westlichen Welt und ihren Notenbanken verabredete Rettungsaktion grundsätzlich als notwendig und zumindest teilweise als gelungen bezeichnet werden. Der Schock, der von den Bankenzusammenbrüchen ausging, dauerte nur ein bis zwei Jahre an. Danach verzeichneten die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer wieder positive Wachstumsraten, die meisten – mit Ausnahme der Eurozone – erreichten schon 2011 und 2012 nach Zahlen des IWF die Vorkrisenniveaus. Das ist die empirische Seite der Finanzkrise. Ökonomisch gesehen waren die Banken, Versicherungen und Schattenbanken so miteinander verflochten, dass schon eine oder zwei Institute die Insolvenz der meisten anderen auslösen konnten. Auf den Interbanken-Märkten gab es in der Hochphase der Krise im September und Oktober 2008 praktisch keine Liquidität mehr (Gischer et  al., 2012, S. 409). Der Ted-Spread, also der Zinsaufschlag der Banken gegenüber den Geldmarktpapieren der USA (Treasury Bills), sprang kurzzeitig auf ein Allzeithoch von sieben Prozent, während er in normalen Zeiten bei 50 Basispunkten notiert. Doch auch die Zinsaufschläge waren am Montag der Lehman-Pleite ohne Wert, da keine Bank einem anderen Institut Overnight-Kredite zur Verfügung stellte. Das führte zu einer gravierenden Änderung der Geldpolitik. Statt der Zinssteuerung im Korridorsystem stellten die Notenbanken Liquidität in einem Floorsystem zur Verfügung, wobei sie die kurzfristigen Marktzinssätze direkt steuerten. Aber das allein hätte nicht ausgereicht, um die massiv gefährdete Funktionalität des Finanzsystems wiederherzustellen. Die übergreifende Rettungsaktion hat eine Panik an den Finanzmärkten verhindert. Gleichzeitig wurde klar, dass einzelne Banken durch ihre schiere Größe („too big to fail“) ein systemisches Risiko darstellten, sollten sie insolvent werden. Die Lehman-Pleite war der Praxistest. Eine schnelle Rettung der Investmentbank hätte sogar die schwere Rezession weltweit verhindern können (Wolf, 2014, S.  144–145). Zumindest hätten die Verantwortlichen (US-Notenbank und Regierung) einen Plan haben müssen, den sie nach der Insolvenz, die Fed-Chef Bernanke in einem späteren Senats-Hearing als unumgänglich bezeichnete, hätten ausspielen können. Für den Finanzexperten Kaletsky wäre eine sofortige und uneingeschränkte Garantie aller Einlagen auf den US-Finanzmärkten notwendig gewesen (Kaletsky, 2011, S. 172). Diese Garantie erfolgte in Deutschland durch Kanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Peer Steinbrück am 5. Oktober 2008, als es Hinweise der Bundesbank und anderer Banken auf einen möglichen Ansturm nach Öffnung der Bankfilialen am Montag, dem 6. Oktober 2008, gab (Steinbrück, 2010, S. 209). Das Gegenargument gegen die Bankenrettung kommt aus der ökonomischen Versicherungstheorie. Das als „Moral Hazard“ beschriebene Phänomen drückt aus, dass bei

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asymmetrischer Information Versicherte, die ihr eigenes Risiko besser abschätzen können als die Versicherung, generell zu hohe Risiken eingehen. Bei einer Bankenrettung, die einem Versicherungsfall durch den Staat gleichkommt, nimmt das gerettete Institut für die Zukunft an, dass im Falle einer Liquiditäts- oder Überschuldungskrise der Staat erneut eingreift. Das führt zu einem Risikoverhalten, das Finanzkrisen erst herbeiführt. Doch das „Moral Hazard“-Argument greift hier nicht, weil die Kosten des Nichteingreifens bei einem Zusammenbruch des Finanzsystems mit langanhaltender Rezession wesentlich höher sind als ein falsches Risikoverhalten der Banken. Alternativ gibt es die Möglichkeit – ähnlich wie bei einer Brandschutzversicherung -, die Produkte der Finanzwirtschaft zu regulieren. Ein Lender of Last Resort, verknüpft mit einer umfassenden Regulierung der Finanzmärkte, vermeidet eher den Zusammenbruch als die völlige Liberalisierung in Verbindung mit der Sanktion einer Insolvenz. Das ist das historische Fazit der Finanzkrise. Als weiteres Fazit lässt sich feststellen, dass die Länder mit der Etablierung neuer Regeln die richtigen Schlüsse aus der Krise zogen. Das betrifft eine bessere makro- und mikroprudenzielle Regulierung der Finanzmärkte sowie die Einführung des politischen Ziels der Stabilität der Finanzmärkte. Hinzukommt die Einrichtung eines besseren Einlagensicherungssystems (EU-Bankenunion) sowie weiterer Sicherungssysteme für die Finanzmärkte. Die breit angelegten Reformen haben die globalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen sicherer gemacht und die Erholung der weltweiten Märkte und der großen Volkswirtschaften eingeleitet. Nach den katastrophalen Einschätzungs- und Anfangsfehlern wurden in der Krise weitgehend die richtigen Lehren aus dem Überschwang der Finanzmärkte (exuberance of financial markets) gezogen.

9.5 Euro- und Staatsschuldenkrise 2009 bis 2012 Die gefährliche Staatsschuldenkrise der Europäischen Union (EU), die auch die neue gemeinsame Währung, den Euro, in Frage stellte, entstand unmittelbar als Folge der großen Finanzkrise. Die Euro-Krise hätte sich ohne die transatlantische Bankenkrise nicht ereignet (Tooze, 2018, S. 156). Das heißt nicht, dass es für die Fragilität der Staatsfinanzen in Ländern wie Irland, Spanien, Portugal, Italien und am stärksten in Griechenland nicht auch andere Ursachen, etwa ein unkontrolliertes und zu riskantes Ausgabeverhalten des Staates gegeben hätte. Aber ohne die Finanzkrise wäre das Wachstum in den EU-Ländern nicht in dieser Weise abgebremst worden. In Spanien musste die Bevölkerung einen Verlust der Nettovermögen zwischen 2007 und 2009 von zehn Prozent hinnehmen – innerhalb von fünf Jahren nach Beginn der Finanzkrise hatten die privaten Haushalte 28  % ihres Vermögens eingebüßt. Das entspricht einer Jahresproduktion des Landes. In Spanien lagen die Dinge zwar anders, weil die Verschuldung des Staats im Vergleich zu den anderen Ländern eher moderat war, jedoch das Bankensystem durch das Platzen der spanischen Immobilienblase in Schieflage geriet und vom Staat (erst nach Unterstützung durch die EU) 2012 gestützt werden konnte.

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Den Beginn der Staatsschuldenkrise (Sovereign Debt Crisis) markierte Griechenland nach dem Regierungswechsel von den Konservativen zu den Sozialisten unter ­Ministerpräsident Giorgos Papandreou. Noch im Juni 2008 hatte die EU-Kommission für den südeuropäischen Staat für 2009 ein Defizit von 1,8  % einschließlich der Konsolidierungsmaßnahmen von 0,75 % des Bruttoinlandsprodukts prognostiziert. Nach der Finanzkrise schraubte die scheidende konservative Regierung die Neuverschuldung auf sechs bis acht Prozent hoch, die Sozialisten rechneten schon im Oktober 2009 mit einer Nettokreditaufnahme von zehn Prozent im laufenden Jahr. Der endgültige Betrag war dann 15,6 %. Das Land stand vor dem Staatsbankrott. Der Spread der zehnjährigen griechischen Staatsanleihen gegenüber den deutschen Bundesanleihen schnellte auf zehn Prozent- oder 1000 Basispunkte hoch. Im Februar 2010 schien die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Der Schuldenstand betrug auf einen Schlag 115 % des Bruttoinlandsprodukts (2008: 99 %). Das Land war nicht illiquide, aber angesichts der viel zu geringen Einnahmen überschuldet. Die drohende Staatspleite hatte mehrere Ursachen. Griechenland gehörte zu den Ländern der Eurozone mit dem höchsten Staatsanteil. Er lag 2009 nach den Zahlen des IWF bei 54 %, nur Frankreich und Finnland lagen höher. Anders als in diesen Ländern verfügte Griechenland aber nur eine sehr schwache Einnahmen-Basis. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt lag sie bei 38 % – nur Spanien, Irland und die Slowakei hatten geringere Einnahmequoten. Die Griechen hatten also vor allem ein Problem der Steuereinnahmen bei einer hohen Staatsquote. Zugleich waren sie auf ständiges Wachstum angewiesen, um die Verschuldung tragfähig zu halten. Hinzukam, dass die griechische Regierung die fiskalischen Zahlen lange Zeit „geschönt“ hatte. Das kostete im Nachhinein viel Vertrauen an den Finanzmärkten. Der Schock der Finanzkrise löste dann über Nacht eine schwere Staatsschuldenkrise aus. Um den Staatsbankrott abzufangen, gab es zwei Möglichkeiten. Griechenland hätte seine Schuldenposition restrukturieren müssen. Nach einer Rechnung hätte das bedeutet, die Steuerbasis um 14 % des Bruttoinlandsprodukts anzuheben und die staatlichen Ausgaben um den gleichen Betrag zu senken (Tooze, 2018, S. 324). Neben den kontraktiven Wirkungen eines solchen Vorgehens war es auch politisch unmöglich. Die zweite Option bestand darin, Griechenland für eine längere Zeit einen Zahlungsaufschub zu gewähren, eine Anschubfinanzierung zu veranlassen und über eine Konsolidierungspolitik die Kredit- und Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Die Bundesregierung war wegen der wirtschaftlichen Schwäche Frankreichs im Lead, verzögerte aber wirksame Maßnahmen. Die Chance einer schnellen Anpassung Anfang 2010 wurde verpasst. Die Rettung des Landes vor dem Staatsbankrott kam erst nach der von der CDU verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010. Gemeinsam mit dem IWF legten die damals 16 Mitgliedsstaaten der Eurozone ein Rettungspaket von 110 Mrd. € auf, mit dem Griechenland seine Schulden kurzfristig restrukturieren konnte. Die halbherzige und obendrein verzögerte Rettungsaktion bildete den Auftakt für eine halbe Dekade schwerwiegender Turbulenzen in der Eurozone, die fast zum Ende der gemeinsamen europäischen Währung geführt hätten.

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Denn auch die Lage in den anderen angeschlagenen Ländern war dramatisch. Die vier Peripherieländer der Eurozone  – Griechenland, Irland, Portugal und Spanien  – hatten ­Verbindlichkeiten gegenüber ausländischen Banken von 2,5 Billionen Dollar. Ein Großteil davon war öffentliche Schuld. Hinzu kam die hohe Staatsverschuldung Italiens von damals 117 % (IWF, 2009), die nach der Finanzkrise kaum durchzuhalten schien und fast doppelt so hoch lag, wie nach dem Maastricht-Kriterien der Währungsunion (60 %) erlaubt war. Auch die Wachstumsschwäche der italienischen Wirtschaft, die politische Instabilität und die Probleme bei einigen Banken rückte das Land in die Riege der Problemkandidaten. Die Gegenposition zur hohen Verschuldung dieser Länder hielten übrigens französische und deutsche Banken mit einer Billion Dollar – fast zu gleichen Teilen. Die angeschlagenen, von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Länder erhielten nach der Rettungsaktion für Griechenland eines nach dem anderen die nötigen Beistandskredite. Am 16. Dezember 2010 wurde ein Paket von 107,5 Mrd. € auf dreijähriger Basis für Irland vereinbart, am 20. Mai 2011 eines für Portugal in Höhe von 104 Mrd. €. Beide Rettungsschirme wurden zu je zwei Dritteln von den Staaten der Eurozone und zu einem Drittel vom IWF gedeckt (Wolf, 2014, S. 49). Doch alle drei Rettungspakete, das war schon vor der Vergabe klar, konnten nur die unmittelbare Zahlungsunfähigkeit der Peripherie-Länder verhindern. Das generelle Misstrauen der Märkte in die Tragfähigkeit der öffentlichen Schuld dieser Staaten sowie die spekulativen Attacken auf die Defizit-Positionen stellten eine dauerhafte Gefährdung des gesamten Euro-Systems dar. Es musste eine grundsätzlichere Lösung sowohl der Euro-Staaten wie der Europäischen Zentralbank her. Denn die Turbulenzen auf den Finanzmärkten verhinderten die Erholung der Volkswirtschaften dieser Länder. Anders als die großen Staaten weltweit erreichte die Eurozone wegen der schwachen Wachstumsraten erst im Jahr 2015 wieder das Vorkrisen-Niveau, die Peripherieländer noch später, Griechenland (Stand 2021) noch immer nicht (Bundesbank, 2/2022 und Abb. 9.1). Es war klar, dass Europa ein Bollwerk gegen die Finanzspekulation brauchte. Einzelne Länder, die strauchelten, waren leichte Opfer der Hedgefonds, die mit einer Feuerkraft von zweistelligen Dollar-Milliardenbeträgen auf fallende Kurse, also auf Short-­Positionen, setzten. Die Gegenmacht der Euro-Finanzminister kam in Form der Europäischen Finanzstabilitätsfazilität (EFSF). Schon in der Nacht vom 9. bis zum 10. Mai 2010 wurde die Idee bei einem Treffen der EU-Finanz- und Wirtschaftsminister geboren und trotz des anfänglichen Zögerns der Deutschen durchgesetzt. Die Konstruktion der Fazilität lehnte sich ausgerechnet an eines der gefährlichsten Finanzinstrumente vor dem globalen Crash an. Der Fonds sollte wie eine spezielle Zweckgesellschaft (Special Purpose Vehicle, SPV) aufgebaut werden, wie sie auch von vielen Immobilienfinanzierern verwandt wurden. Wieder zeigt sich hier die Ambivalenz innovativer Finanzinstrumente. Was in der Immobilienkrise zum Crash führte, wurde in der Staatsschuldenkrise zur großen Bazooka, mit der es zumindest zeitweise gelang, die Angriffe auf die Positionen der verschuldeten Länder abzuwehren (Rehn, 2021, S. 87). Die EFSF war ein Fonds, der zu 60  Mrd.  € aus Mitteln des EU-Haushalts und zu 440 Mrd. € aus Zusagen der einzelnen Euro-Staaten gespeist wurde. Das Bollwerk hielt

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Quartal 2007 = 100, preis-, saison- und kalenderbereinigt, log. Maßstab

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UELLE: EUROSTAT, DEUTSCHE BUNDESBANK (23. FEB. 2022) | GRAFIK: MARTIN FERL

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Abb. 9.1  Das reale Bruttoinlandsprodukt im Euroraum. (Quelle: Deutsche Bundesbank, 2022)

den Attacken stand, die beiden Rettungspakete für Irland und Portugal konnten daraus finanziert werden. Neben den direkten Hilfen konnte die EFSF über den Kredithebel bis zu einer Billion Euro mobilisieren. Die schiere Größe hielt Hedgefonds davon ab, die Feuerkraft der Fazilität zu testen. Tatsächlich wurde nur ein Bruchteil der Mittel in Anspruch genommen. Irland verließ den Rettungsschirm im Dezember 2013, Anfang 2014 lag der Spread über der Benchmark der Bundesanleihen bei 1,5 Prozentpunkten (Wolf, 2014, S. 49). Eine weitere Stabilisierung trat ein, als die EFSF 2013 in den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) überführt wurde. Damit war nun ein offizieller Euro-­ Rettungsschirm eingerichtet worden mittels einer zwischenstaatlichen Institution ähnlich dem IWF mit eigener Rechtspersönlichkeit und einem Präsidenten, dem Deutschen Klaus Regling, einem erfahrenen Bundesbeamten und Finanzexperten. In der Bewertung der Krise zeigt sich, dass die Abmachungen der Euro-Staaten für die gemeinsame Währung unzureichend waren. Die Verträge zur Einführung einer Europä­ ischen Währungsunion sahen im Falle einer drohenden Zahlungsunfähigkeit einzelner Mitglieder eine strikte No-Bailout-Klausel vor. Damit sollte verhindert werden, dass Eurostaaten sich zu sehr verschuldeten und die Gemeinschaft dafür haftbar machten. Diese Erwartung hat sich als Illusion erwiesen. Nach der Terminologie der ökonomischen Analyse wurde das Moral-Hazard-Argument überschätzt, während die Stabilität des Finanzsystems zu wenig Beachtung fand. Ein Zusammenbruch des Kredit- und Zahlungssystems hätte aber höhere volkswirtschaftliche Kosten erzeugt als die Alimentierung einer überzogenen Verschuldungspolitik einzelner Länder. Mit den konditionierten Rettungspaketen wurde dieses Dilemma überwunden. Allerdings zu einem hohen ökonomischen Preis in

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den betroffenen Ländern, zumal die Verantwortlichen für die Defizitpolitik nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Erst mit der Einführung des ESM und der Durchsetzung der Anpassungsprogramme hat sich die Lage im Euro-Raum dauerhaft stabilisiert, wenn auch nicht völlig beruhigt. Immerhin hat Griechenland als letztes Land seine Schulden aus den Rettungspaketen im April 2022 zwei Jahre vor Frist zurückbezahlt – inmitten einer neuen Wirtschaftskrise, die durch den Überfall Russlands auf die Ukraine und die Folgen der Corona-Pandemie ausgelöst worden war. Mag durch die Beistandssysteme der Zusammenbruch des Euro-Währungssystems in den Monaten nach dem Mai 2010 zumindest vorläufig verhindert worden sein, die große Bewährungsprobe der Rettungspolitik erfolgte im Jahr 2012, und hier wurde die EZB zum wichtigsten Spieler.

9.6 Whatever It Takes Schon bei der Errichtung der EFSF wäre die Rettung des Euro ohne die aktive Mithilfe des Eurosystems nicht möglich gewesen. Als der Ecofin-Rat am 9. Mai 2010 den Rettungsschirm beschloss und auch das sogenannte „deutsche Lager“ (Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland) davon überzeugte, wäre eine ad-hoc-Stabilisierung nicht möglich gewesen, wenn nicht das Eurosystem gleichzeitig mit ihrem Anleihen-Kaufprogramm am darauffolgenden Montag, den 10. Mai, begonnen hätte. Es handelte sich um das Notfallprogramm Securities Markets Programme (SMP), das erste Interventionsprogramm der EZB zur Vermeidung einer möglichen Solvenzkrise. Die kombinierte Ankündigung der beiden Krisenprogramme beruhigte zunächst die Finanzmärkte. Selbst US-Finanzminister Tim Geithner sprach von einer gelungenen Aktion (Rehn, 2021, S. 88). Allerdings wurden beide Notfall-Aktionen schon kurze Zeit später unterhöhlt. Zunächst trat Bundesbank-Präsident Axel Weber aus Protest gegen das SMP-Programm zurück und schwächte damit die Glaubwürdigkeit des Eurosystems. Andererseits verringerte sich die Feuerkraft der EFSF, weil fast die Hälfte des Programms als Puffer eingesetzt wurde, um ein AAA-Rating zu erhalten. Die Finanzmärkte reagierten prompt und testeten die Abwehrfähigkeit von Eurosystem, Euro-Staaten und IWF.  Erschwert wurde die Lage gegen Ende 2011, als ernsthafte Zweifel an der Zahlungsfähigkeit der beiden südeuropäischen Länder Italien (hohe Staatsschulden, 2011: 120 % des BIP) und Spanien (Bankenverschuldung) aufkamen. Die Spreads gegenüber deutschen Bundesanleihen stiegen in Spanien auf über vier Prozentpunkte, in Italien sogar auf über fünf Prozentpunkte an (Abb.  9.2). In beiden Ländern hatte sich die Lage innerhalb des vergangenen Jahres kaum geändert, trotzdem begann die Investoren mit dem massiven Verkauf von Staatspapieren (Neyer, 2021, S. 7). Das Eurosystem reagierte auf die neuerliche Krise mit einem dreijährigen Refinanzierungsprogramm, der Long Term Refinancing Operation (LTRO), in Höhe von einer Billion Euro. Doch das Angebot an die Banken, die Non-Performing Loans, also die uneinbringlichen Staatskredite der Schuldnerländer zu refinanzieren, schlug fehl. Der

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Frankreich Italien Spanien Ankündigung der dreijährigen LTRO der EZB Ankündigung der OMT der EZB

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GRAFIK: THOMSON REUTER AUS WOLF (2014, S. 51), GRAFIK: MARTIN FERL

in Prozentpunkten

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1. Jan 1. Jul 1. Jan 1. Jul 1. Jan 1. Jul 1. Jan 1. Jul 1. Jan 1. Jul 1. Jan 1. Jul 1. Jan 1. Jul 1. Jan 2007 2007 2008 2008 2009 2009 2010 2010 2011 2011 2012 2012 2013 2013 2014

Abb. 9.2  Spreads in der Eurozone. (Quelle: Wolf, 2014, S. 51)

bankbasierte Lending Channel reichte nicht aus, die Spekulation zu bekämpfen. Die Länder waren überdies zu Konsolidierungsmaßnahmen gezwungen, die keinerlei ­Wachstumsimpulse auslösen konnten. Hinzu kam die Produktivitätsschwäche in den Schuldnerländern – vor allem in Italien. Es entstand ein problematischer Banken-­Staaten-­ Nexus. Beide Gruppen verhielten sich wie „zwei Betrunkene, die einander stützen“, schreibt Martin Wolf in seinem Buch über die Turbulenzen eines Jahrzehnts (Wolf, 2014, S. 56). Die neue Operation des Eurosystems verstärkte die gegenseitige Abhängigkeit, und das blieb den Finanzmärkten nicht verborgen. Die Spreads der griechischen Anleihen erreichten im Juli 2012 schwindelerregende Höhen mit mehr als 45 Prozentpunkten über den Bundesanleihen, der spanische Staat musste mehr als sechs Prozentpunkte zusätzlich an die Anleihegläubiger auszahlen als der deutsche den Investoren der Bundespapiere. Mit der Größe der spanischen Volkswirtschaft geriet das europäische Währungssystem ins Schwanken. Und auch Italien mit seinen hohen Schulden wackelte bedenklich. In dieser prekären Situation griff der neue EZB-Präsident Mario Draghi, ein erfahrener Notenbanker, Ex-Staatssekretär und früherer Goldman-Sachs-Manager, ein. In seiner berühmten Rede anlässlich der Olympischen Spiele am 26. Juli 2012 in London bekannte er sich zur unbedingten Rettung des Euro. Der entscheidende Satz lautete: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ („Innerhalb unseres Mandats wird die EZB alles tun was nötig ist, um den Euro zu retten. Und Sie können mir glauben, es wird reichen.“). Im August verkündete die

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EZB das dazu notwendige Programm, den möglichen Kauf von staatlichen Wertpapieren am Sekundärmarkt, die Outright Monetary Transactions. Hiermit signalisiert das ­Eurosystem den Finanzmärkten erstmals, dass es alle notwendige Mittel einsetzen würde, um der Funktion als Lender of Last Resort (letztmöglicher Kreditgeber) nachkommen zu können. Die Idee bestand darin, dass die EZB den Finanzmärkten unerschöpfliche Kreditmöglichkeiten anbot, gleichzeitig aber an die Kredite Bedingungen knüpfte, um ihrem Mandat zu entsprechen. Gerade Letzteres wurde von vielen deutschen Experten bestritten und in der Öffentlichkeit scharf kritisiert. Sogar das Bundesverfassungsgericht meldete in seiner Entscheidung des Jahres 2014 Zweifel an und verwies den Fall an den Europä­ ischen Gerichtshof. Der hat das OMT-Programm, das bis heute existiert, nicht verworfen. Das unbeschränkte Aufkaufprogramm verbunden mit der Konditionalität ist tatsächlich ein Widerspruch in sich. Denn gerade in angespannten Situationen, wenn ein Land vor dem finanziellen Kollaps steht (wie etwa Griechenland mehrfach bis 2015), würde eine Konditionalität diesen Zusammenbruch eher beschleunigen als verhindern. Mit anderen Worten: Wenn die Hilfe am meisten gebraucht wird, fällt sie aus, weil das betroffene Land die Bedingungen nicht erfüllen kann. Der Weg Draghis und der Mehrheit im Europäischen Zentralbankrat war daher sehr riskant. Gleichwohl war das OMT erfolgreich, weil die fehlende Obergrenze die Finanzmärkte eher überzeugte als die damit verbundene Konditionalität. Die Spreads sanken zwar langsam, aber stetig bis zum Jahresende und auch in den beiden Folgejahren bis 2014, ehe es erneut zu einem Aufflackern der Krise kam. Gleichzeitig zeigte es sich, dass die Spreads eher ein Ausdruck von Finanzpanik und einer Fragmentierung der Staatsanleihemärkte waren als dass sie fundamental durch eine falsche Kreditpolitik der südeuropäischen Staaten hervorgerufen wurden. Das Prinzip des Lenders of Last Resort funktionierte (Neyer, 2021, S. 22; de Grauwe & Yuemei, 2013). Um eine Deflation zu verhindern, legte die EZB danach das Asset Purchase Programme (APP) auf, ein billionenschweres Aufkaufprogramm für staatliche Wertpapiere, das sogenannte Quantitative Easing (QE). Das gesamte Volumen dieses Programms, das im Jahr 2022 noch andauerte und seither nur ganz langsam zurückgefahren wird, betrug Ende März desselben Jahres laut dem konsolidierten Wochenausweis der EZB 3179  Mrd.  €. Hier waren die Währungshüter nur bedingt erfolgreich, die Wachstumsraten zogen (bis zur Corona-Krise) in den Schuldnerstaaten nur sehr langsam an.

9.7 Verpasste Chancen Die volkswirtschaftlichen Kosten der großen Finanzkrise und der sich anschließenden Staatsschuldenkrise im Euroraum sind gewaltig. Der frühere Chefvolkswirt der Bank of England, Andrew Haldane, schätzt sie in einer Spannweite von einem bis zu fünf jährlichen Weltsozialprodukten. Das heißt: Im Extremfall entspricht der Wertverlust dem Gegenwert von fünf globalen Weltproduktionen, eine gewaltige Summe.

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In beiden Krisen wurde die Kernschmelze durch das Zusammenwirken von Staaten und Notenbanken vermieden. Die einst zwingende Logik freier Kapitalmärkte erhielt einen schweren Schlag. Es wurde klar, dass sowohl auf den weltweiten Kapitalmärkten als auch in der Währungsunion neue Regeln greifen müssten. In der Finanzwelt wurde es unumgänglich, neue Haftungs- und Transparenzregeln einzuführen und die Einlagensicherung zu stärken (Bankenunion). Gleichzeitig wurden die Eigenkapitalregeln (Basel III) für Finanzinstitute deutlich verschärft, um die Hebelwirkungen der Kreditschöpfung zu dämpfen. Im Euroraum mussten sich die Schuldnerstaaten, allen voran Griechenland, harten Anpassungsprogrammen für ihren Haushalt stellen. Die heftigen sozialen Verwerfungen im Gefolge dieser Programme sind nur ein Teil der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten der beiden Krisen. Die große Bazooka (EFSF, ESM) und das „Whatever It Takes“ retteten den Euro, selbst Griechenland blieb in der Währungsunion. Allerdings musste das südeuropäische Land den Verbleib mit einem Rückgang des BIPs um ein Viertel bezahlen. Weit verbreitete Armut, verschlechterte Gesundheitsversorgung, hohe Arbeitslosigkeit und Massenpleiten begleiteten die Programme. Schuld daran war nicht zuletzt der ständige Trial-and-Error-­ Prozess der Verantwortlichen, aber auch die zögerliche und teilweise ängstliche Haltung des Hauptgläubigers und der wichtigsten europäischen Wirtschaftsmacht, nämlich Deutschlands. Zu Beginn der Eurokrise hätte es Deutschland im Verein mit den starken Wirtschaftsnationen – unter Einschluss Frankreichs – schaffen können, Griechenland und die anderen Schuldnerstaaten mit weniger Aufwand zu retten und zugleich im Rahmen einer Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) ein System ordnungsgemäßer Staatsinsolvenzen einzuführen. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Eurokrise wären zweifellos geringer ausgefallen. Die mikroökonomischen Maßnahmen auf regionaler und kommunaler Ebene bildeten eine wichtige Ergänzung der zentralstaatlichen und international abgestimmten Maßnahmen sowie der Politik der EZB. Im Sinne der Subsidiarität konnten Wirtschaftsförderer vor Ort oder in den Bundesländern oft besser abschätzen, welche Unternehmen Hilfen benötigten und wie wettbewerbsfähige Strukturen aufrechterhalten werden konnten. Dass die wirtschaftlichen Verwerfungen der Finanzkrise im Rahmen blieben, war auch dem Verhalten der Verantwortlichen auf regionaler oder kommunaler Ebene zu verdanken. Die Staatsschuldenkrise fand ihr vorläufiges Ende mit der Annahme des Kredit- und Anpassungsprogramms durch Griechenland im Jahr 2015, worauf in den Folgejahren eine kleine, aber spürbare Erholung dort und verstärkt in den anderen ehemaligen Krisenländern wie Irland, Portugal und Spanien einsetzte. Nachzügler blieb Italien, das durch die Corona-Krise erneut schwer getroffen wurde und erst im Jahr 2021 ein deutliches Zeichen der Erholung setzte, bevor im Jahr 2023 wieder eine Stagnation droht. Die Interventionen sowie die systematischen Hilfen des Staates und der Zentralbanken zeigen ein ambivalentes Ergebnis. Der Zusammenbruch der Wirtschaft und des Finanzsystems sowie eine große Depression blieben der Welt und insbesondere dem Westen anders als in der 1930er-Jahren erspart. Die fehlende Krisenresilienz und die mangelhafte

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Konstruktion der EWWU machten die Rettung allerdings zu einem extrem teuren Unterfangen mit hohen ökonomischen und sozialen Kosten. Und die Reputation des Euro hat stark gelitten. Ob die Währungsunion noch eine ökonomische Erfolgsstory wird, lässt sich abschließend nicht klären. Allerdings ist eine Menge geschehen, um das Kriseninstrumentarium effizienter und effektiver zu machen. Nicht zuletzt hängt die Zukunft des Euro davon ab, ob es gelingt, die Länder der Europäischen Union noch enger zu einer echten politischen Union zusammenzuschließen.

9.8 Fazit Die beiden großen Finanz- und Schuldenkrisen der Jahre 2007 bis 2016 wurden höchst unterschiedlich bekämpft. Bezogen auf die Finanzkrise gab es als Möglichkeiten zum einen die konzertierte Rettungsaktion der westlichen Regierungen und Notenbanken, zum anderen die Insolvenz der in Schieflage geratenen Finanzinstitutionen, in der Mehrzahl Schatten- und Spezialbanken, aber auch große Kreditinstitute. Die Verantwortlichen entschieden sich für ein rasches Handeln, das sich auch im Abstand von 14 Jahren als richtig erwies. Die Schockwellen einer zweiten Pleite im Ausmaß der Investmentbank Lehman Brothers hätten zur Kernschmelze der internationalen Finanzmärkte geführt. Auch die begleitenden Maßnahmen der Konjunkturpolitik und Wirtschaftsförderung haben zur Verkürzung der Krise beigetragen. Das Problem des „Moral Hazard“, der mit einer staatlichen Rettung der Banken und Versicherungen einhergeht, lässt sich nur mit einer schärferen Regulierung (Märkte, Produkte, Akteure) und einer mikro- und makroprudenziellen Politik erreichen, die eine seriöse Finanzierung der Geldinstitute durchsetzt. Weniger erfolgreich verlief die Lösung der Staatsschuldenkrise. Das lange Zögern der Regierungen, die inkonsistenten Bedingungen für die Gewährleistung von Rettungsgeldern und die teilweise Obstruktion der verschuldeten Staaten führten zu stärkeren Wirtschaftseinbrüchen als bei einem aktiven zwischenstaatlichen Management nötig gewesen wären. Erst das beherzte Eingreifen der Europäischen Zentralbank auf dem Höhepunkt der Eurokrise 2012 verhinderte einen Zusammenbruch der Währung. So gelang zwar die Rettung, aber zu einem ökonomisch zu hohen Preis. Die Konstruktion der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion bleibt mangelhaft. Der Euro hat an Reputation eingebüßt. In kleinerem Maßstab leistete die Wirtschaftsförderung vor Ort einen Beitrag zur Milderung konkreter Härten. Einen Aufbruch insbesondere im Süden Europas konnte sie bislang noch nicht erzeugen. Anmerkung Der Autor möchte Sebastian Camarero Garcia und Franziska Schobert, die 2022 beide als Economists bei der Deutschen Bundesbank arbeiteten, für die kritische Durchsicht des Manuskripts danken. Der Inhalt des Beitrags liegt aber vollständig in der Verantwortung des Autors, ebenso wie die verbleibenden Fehler.

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Dr. Martin Kessler  leitet das Ressort Politik/Meinung der „Rheinischen Post“ in Düsseldorf. Der promovierte Volkswirt war zuvor Finanz- und Wirtschaftskorrespondent des Parlamentsbüros der „Wirtschaftswoche“ in Bonn. Danach leitete er das Wirtschaftsressort und das Parlamentsbüro der „Rheinischen Post“ in Berlin, bevor er Chef des Politikressorts wurde. Er beschäftigt sich vornehmlich mit aktuellen politischen und wirtschaftlichen Themen auf nationaler und internationaler Ebene. Er ist ehrenamtlich Hochschulrat der Hochschule Rhein-Waal in Kleve.

Wirtschaftsförderung und E-Governance: Von der Resilienz zur Transformation?

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Bettina Burger-Menzel

Zusammenfassung

Unsere Welt verändert sich in unterschiedlichen Tempi und Verwerfungstiefen. Dies ist das einzig Verlässliche für Wirtschaft und Gesellschaft. Zum einen zählt die kreative Zerstörung zum ‚Markenkern‘ marktwirtschaftlicher Systeme. Die Wirtschaftsakteure stehen dadurch an ihrem jeweiligen Standort unter einer Art (produktivem) Dauerstress. Es gibt Gewinner und Verlierer, weil Wettbewerber unterschiedlich erfolgreich kostensenkende Rationalisierungen, technischen Fortschritt und die Erschließung neuer (globaler) Märkte realisieren. Der damit einhergehende Strukturwandel gilt als wirtschaftssystemischer Normalzustand. Zum anderen gibt es Krisen. Und auch ‚unter Schock‘ (re-)agieren Akteure ungleich, wie die Corona-Pandemie oder abrupte Veränderungen durch die Finanzkrise zeigen. Einige Akteure und Standorte bleiben mit ihrem jeweiligen Profil und Potenzial (weiterhin) produktiv widerstandsfähig. Für andere verschärfen sich der wirtschaftliche Niedergang und dessen Folgen für die Arbeitsmärkte und Lebensqualität der Betroffenen. Regionale Wirtschaftsförderung unterstützt, dass sich die Wirtschaftsstrukturen an einem Standort überlebensfähig ausrichten. Doch kann sie auch beim Umgang mit Krisen einen Mehrwert erzielen und zählt dies überhaupt zu ihrem Regelauftrag? Und welche Rolle spielt die Digitalisierung? Der Beitrag stellt den sachlogischen Zu-

B. Burger-Menzel (*) Technische Hochschule Brandenburg, Brandenburg an der Havel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_10

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sammenhang zwischen diesen Teilfragen her und ordnet neuere Ansätze ein. Zudem werden Ansatzstellen aufgezeigt, um die regionale Wirtschaftsförderung praxisorientiert weiterzuentwickeln. ‚Electronic Government‘ (E-Government) beschreibt dabei den Einsatz von Informationstechnik, Telekommunikation und Medien (ITKM) im öffentlichen Sektor, während ‚Electronic Governance‘ (E-Governance) hybride oder private Akteure miteinbezieht. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Zunächst werden Schlüsselbegriffe wie Strukturpolitik und Resilienz geklärt und mit den Kontextfaktoren verknüpft, welche die Steuerungslogik von Wirtschaftsförderung bestimmen. Danach wird diskutiert, inwiefern die Wirtschaftsförderung E-Government und E-Governance nutzen kann, um Resilienz zu stärken und möglichst transformativ wirken zu können.

10.1 Wann handelt Wirtschaftsförderung? Schlüsselbegriffe und -kontext Die Art und Weise, wie Unternehmen mit der kreativen Zerstörung durch Marktkräfte umgehen, verändert als intrasektoraler Strukturwandel den eigenen Wirtschaftszweig (z. B. Produktionsverlagerung, Automatisierung) und als intersektoraler Strukturwandel dessen wirtschaftliche und räumlich verortete Bedeutung im Spektrum aller Wirtschaftszweige (z. B. Schrumpfung, Wachstum). Wirtschaftsförderung sucht diese Veränderungen positiv zu beeinflussen. So erfolgt die regionale Wirtschaftsförderung im engeren Sinne mit dem wirtschaftspolitischen Ziel, „in Regionen mit geringer Wirtschaftskraft und hoher Arbeitslosigkeit eine positive Wirtschaftsentwicklung anzustoßen. Dabei soll die regionale Wirtschaftsförderung nachhaltig wirken, so dass die positive Entwicklung sich selbst trägt und somit eine öffentliche Förderung nur temporär erforderlich macht“ (Wissenschaftlicher Beirat BMWi, 2015, S. 3). Was macht regionale Wirtschaftsförderung? Und wer sind ihre Akteure? In der Literatur finden sich umfängliche Maßnahmenhinweise. So ist beispielsweise von Weiterbildungsmaßnahmen die Rede, die Anpassungsmängel auf dem Arbeitsmarkt beseitigen sollen (z. B. IT-Fachkräftequalifizierung), und von Infrastrukturausbau, um gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen (z. B. Breitbandausbau). Ein anderes Beispiel ist der Innovations- und Wissenstransfer, um monostrukturelle Abhängigkeiten zu verringern und Forschungspotenziale zu verbreitern (z. B. Hochschulallianzen TU9 und UA11+). Wirtschaftsförderung ist somit nicht trennscharf und verfolgt Ziele, die sich durchaus unterschiedlichen Politikfeldern zuordnen lassen und konfliktäre Zielbezüge haben (PCG, 2018, S. 16). Um den Beitrag zu systematisieren, werden als Maßnahmen der Wirtschaftsförderung im Folgenden solche verstanden, durch die nicht primär an Strukturen festgehalten wird (Strukturerhaltung), sondern Letztere wandlungsfähig machen (Strukturanpassung) und aktiv ausrichten wollen (Strukturgestaltung). Der Hinweis auf Strukturpolitik scheint sich ausschließlich auf Handelnde zu beziehen, die Politik(um-)setzung verantworten (Politiker*innen und Bürokrat*innen). In Literatur und Alltag wird jedoch auch

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die Bedeutung weiterer Akteure (z.  B.  Wirtschaftsverbände, Kammern) für die Wirtschaftsförderung betont. Inwiefern soll Wirtschaftsförderung auch bei Krisen aktiv werden? Und was sind Krisen überhaupt? Merkmal von Krisen ist, dass sich eine Situation nicht länger erwartungssicher verändert, da Informationen nur vorbehaltlich gelten und zudem widersprüchlich sein können. Dies wirkt schockartig und kann Panik auslösen. Bei einigen Schocks kann zusätzlich auch der Glaube erschüttert werden, Probleme mit Hilfe des technischen Fortschritts in den Griff zu bekommen. Krisen lassen den Menschen jedoch nicht zwangsläufig hilflos werden, denn „man muss handeln, weil [in der Krise] die ganze Existenz auf dem Spiel steht“ und „[e]ine Krise kann nicht dauern, sie läuft auf eine Zuspitzung oder eben Entscheidung hinaus“ (Thomä et  al., 2015, S.  2). Dieser unternehmerische Handlungskontext wird auch als VUKA-Welt bezeichnet, welche Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (englisch VUCA: Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) als Herausforderungen beschreibt (Kagermann et al., 2021, S. 23). Schockereignisse lassen sich dann beispielsweise auf Naturereignisse (z. B. Jahrhundertflut), technisches Versagen (z. B. Cyberangriff), Gesundheitsgefahren (z. B. SARS-CoV-2-Pandemie), soziale Risiken (z.  B.  Migrationswelle), politische Risiken (z.  B.  Regierungsumsturz), Handelskonflikte (z. B. Zollkrieg) oder auf ökonomische Schocks (z. B. Finanzkrise) zurückführen (Kagermann et al., 2021, S. 24). Solche Krisen können gleichzeitig auftreten. Sie können (mehr oder weniger erfolgreich) antizipiert werden. Und sie können ungestaltet oder gestaltet ablaufen, wobei ihr Gestaltungsraum durch Vision, Verstehen, Klarheit, Agilität charakterisiert ist (englisch VUCA: Vision, Understanding, Clarity, Agility) (z. B. Johansen, 2012). Entwickeln die Akteure bewusst eine Widerstandskraft für Krisenereignisse, nennt man dies im neueren Sprachgebrauch ‚Resilienz‘. Darunter fasst man die Prozesse und Fähigkeiten von regionalen Wirtschaftssystemen und ihren Akteuren, bei Schock und dadurch geänderten Handlungsbedingungen krisenfester agieren (ability to absorb shocks), sich erholen (bounce-back effect) und positiv anpassen zu können (positive adaptability); ob dabei Pfadabhängigkeiten aufgegeben werden, wird in der Literatur ebenso uneinheitlich gesehen wie der Begriff selbst (Martin & Sunley, 2015, S. 5, 29). Eine solche Resilienz kann verschiedene Ebenen betreffen, von der Einzelperson über das Wertschöpfungsnetzwerk und die Branche bis hin zum gesamten Sektor. Auch der räumliche Bezug ist üblich. Resilienzstrategien bedeuten dann, dass in einem stetigen Prozess Risiken diversifiziert, Redundanzen als Puffer geschaffen und agile Entscheidungspotenziale in Prozesse und Strukturen integriert werden sollen (Kagermann et al., 2021, S. 32). Dies wird auch als Resilienzauftrag der Wirtschaftsförderung verstanden. Die Wirtschaftsförderung gibt sich folglich immer wieder neue Handlungsrichtungen, die von der Re-und Post-Industrialisierung der 1970er-Jahre über die Regionalisierung und Schwerpunktsetzung der 1980er und späteren Jahre bis hin zur regionalen Resilienzstrategie der Gegenwart reichen und eine stärkere präventive Strukturpolitik für die Zukunft erwartbar machen (PCG, 2018, S. 16–21, 34–37).

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Legt man die obige Krisendefinition zugrunde, scheinen die kreative Zerstörung und ihre strukturellen Folgen nicht darunter zu fallen, da sie das ‚normale Marktrisiko‘ und keine Zuspitzung abbilden. Somit müsste ein Beitrag, der sich ausschließlich auf die Krisenprävention und -bewältigung seitens der Wirtschaftsförderung konzentriert, das strukturpolitische Alltagsgeschäft ausklammern. Doch treten im Alltag vermehrt und immer schneller Unsicherheiten und Unabwägbarkeiten auf, kann auch ein normales Marktrisiko (gefühlt) einer Dauerkrise gleichen. Beispielsweise bedeuten globale Wertschöpfungsketten schon im Regelbetrieb, dass sich das Management mit einem vergrößerten Radius, (interkultureller) Heterogenität, stärker wechselnden Geschäftspartnern und höheren ­Veränderungsgeschwindigkeiten befassen muss, also mit einer größeren Informationsdichte und mit Faktoren, die kaum mehr alle vorausgesehen und strategisch verarbeitet werden können. Zudem ist von „multiplen Krisen“ die Rede, deren Dimensionen ungleichzeitig wirken und die sich grenzüberschreitend in ihrer Komplexität und Dynamik verstärken (Brand, 2009, S. 1). Der Begriff der Komplexitätsökonomik unterstreicht, dass die Akteure neue Modellansätze und Mechanismen brauchen (z.  B. großdatenbasierte Simulationen, intelligentere Entscheidungsarchitekturen), um besser in offenen, dynamischen und nicht-linearen Ungleichgewichtssystemen handeln zu können (Arpe, 2012, S. 8). In diesem Beitrag wird aufgrund der beschriebenen kausalen Dichte und Veränderungsdynamik davon ausgegangen, dass in der heutigen und künftigen Zeit beides, der Umgang mit alltäglichem Strukturwandel und die Bewältigung von Krisen, sich im Handlungsportfolio der Wirtschaftsförderung immer weniger voneinander abgrenzen lassen. Die genannten Aspekte machen einen gemeinsamen Bezugsrahmen für die Diskussion erforderlich. Daher werden die Kontextbedingungen, die das Handeln der Wirtschaftsförderung im Kern bestimmen, im Folgenden anhand von sechs Merkmalen und ersten Bezügen zur Digitalisierung beschrieben (Abb. 10.1): Abb. 10.1 Kontext-Sechseck für das (Krisen-)Handeln von Wirtschaftsförderung

Innovaonssystem

Kontext-Sechseck

für das (Krisen-)Handeln von Wirtschasförderung

Mehrebenenansatz

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(i) Wirtschaftsförderung als Innovationssystem-Ansatz; (ii) Wirtschaftsförderung als Organisationsvielfalt; (iii) Wirtschaftsförderung als Querschnittsfunktion; (iv) Wirtschaftsförderung als Mehrebenen-Ansatz; (v) Wirtschaftsförderung als beihilferechtliche Herausforderung; (vi) Wirtschaftsförderung als Standortwettbewerb.

10.1.1 Wirtschaftsförderung als Innovationssystem-Ansatz Wirtschaftsförderung strebt einen sich langfristig selbst tragenden Strukturwandel an. Diesem liegt in der Regel ein techno-ökonomischer und sozio-institutioneller Paradigmenwechsel (z.  B. von der Industrie- zur Wissensgesellschaft) zugrunde, bei dem radikale Technikdurchbrüche wie in der Mikroelektronik entscheidende Änderungsimpulse setzen. Dies ist ohne privatwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft nicht möglich. Das Verständnis, wie beides befördert werden kann, ist seit den 1980er-Jahren systemisch und dezentral angelegt (Freeman & Soete, 2004, S. 385 ff.). Beim Innovationssystem-­Ansatz werden daher alle Handelnden mit ihrem jeweiligen Anreizsystem und Interaktionspotenzial betrachtet, die technikrelevantes Wissen stimulieren, produzieren, speichern, transferieren und nutzen, was auch Politik und Bürokratie als Initiatoren und Regulatoren einschließt (Burger-Menzel, 2011, S.  275). Forschung, Innovation und deren Diffusion sind somit wechselseitig verbundene Prozesse. Wird ein räumlich konzentrierter Ausschnitt betrachtet, der als autonomer Wachstumskern funktioniert aber nicht zwangsläufig flächendeckend wirkt, spricht man von einem Cluster (z. B. IMK-Cluster Berlin-­Brandenburg für Informations- und Kommunikationstechnologie, Medien und Kreativwirtschaft) (Porter, 1998, S. 78). Und sind Netzwerkkontakte zwischen wesentlichen Akteuren des Innovationssystems zu schwach ausgeprägt oder fehlen, versuchen Makler-­Organisationen eine Brücke zwischen diesen zu schlagen und die Ergebnisse des Netzwerkaustauschs positiv zu beeinflussen (z. B. 3D-Kompetenzzentrum Niederrhein als Technologietransferstelle zwischen Hochschulforschung und Wirtschaft). Bei Innovationssystemen geht es folglich vor allem um die Kooperation in Netzwerken, um gemeinsames Lernen, Synergien und das verbesserte Bewusstsein, wie eigenes Handeln sich auf Dritte positiv oder negativ auswirkt (Externalitäten). Da man per se disruptive Entwicklungen nicht ausschließt (z. B. radikale Innovation), gehört auch der Umgang mit Pfadbrüchen zum Innovationssystem-Ansatz. Diese Erfahrung hat eine deutliche Schnittstelle zur Resilienzdiskussion. Im Umgang mit Krisen erweisen sich vor allem Clusterstrukturen „als ausgesprochen hilfreich“, wenn sich die Netzwerkakteure kennen und relativ schnell bedarfsgerecht abstimmen können (Hintze & Witte, 2021, S.  16). Im Grundsatz lässt sich der Innovationssystem-Ansatz der Strukturanpassung und -gestaltung zuordnen.

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10.1.2 Wirtschaftsförderung als Organisationsvielfalt Wirtschaftsfördereinrichtungen zählen zu den relevanten Akteuren des Innovationssystems (z.  B. als Makler-Organisationen) und ihre Organisationsform ist vielfältig. Strittmatter (2016, S. 42 f.) unterscheidet verwaltungsinterne Akteure (Amt, Stabstelle, Fachbereich, Beauftragte*r) von verwaltungsexternen Akteuren, die in einer öffentlich-­rechtlichen Form (z. B. Zweckverband) oder einer privatrechtlichen Form (z. B. Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH)) organisiert sein können. Beide Akteursgruppen sind Träger der Strukturpolitik, solange bei ihnen eine demokratisch ­abgeleitete Entscheidungsbefugnis und damit faktische Durchsetzungsmacht vorliegt (Meißner & Fassing, 1989, S. 153 f.). So ist beispielsweise das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) beim Bundesministerium des Innern und für Heimat angesiedelt, unter dessen Dach es unter anderem die Allianz deutscher Sicherheits- und Computer-­Notfallteams (CERTs) mitverantwortet. Verwaltungsexterne Beispiele sind der Zweckverband Elektronische Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern (eGo-MV) oder die Wirtschaftsförderung Land Brandenburg GmbH (WFBB), zu deren Vernetzungsstrategie das o. g. regionale IMK-Cluster zählt. In einem weiten Verständnis betreiben auch Organisationen wie wissenschaftliche Einrichtungen, Unternehmen, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften oder Kammern Wirtschaftsförderung, wenn sie als Kooperationsgemeinschaften das Ergebnis von Wirtschaftsförderung substanziell beeinflussen, was Terstriep & Rabadjieva (2021, S.  12) als das kollektive Handeln ‚strategischer Allianzen‘ beschreiben. Für das Cluster-Management, das solche Vernetzungen innerhalb und über die Clustergrenzen hinaus koordiniert, kann ebenfalls eine eigene Rechtsform wie GmbH oder Verein gewählt werden. Wirtschaftsförderung muss sich daher intern und bei ihren Akteuren mit diversen Anreizsystemen und deren Kontrollmechanismen auseinandersetzen.

10.1.3 Wirtschaftsförderung als Querschnittsfunktion Wie bereits angedeutet, verfügt die Wirtschaftsförderung über ein breites Instrumentarium. So zählen zum Maßnahmenkatalog nicht nur monetäre Unterstützung (z. B. Investitionszuschüsse) und nicht-monetäre Unterstützung (z.  B.  Beratungsangebote) sondern auch Infrastrukturangebote (z.  B. 5G-Netzabdeckung) und angepasste Rahmenbedingungen (z.  B. bauplanerische Regelungen). Von Relevanz ist auch das Standortmarketing, einschließlich der Vermarktung von Cluster-Initiativen. Letztere werden vom Bund auch als Exzellenzinitiativen unterstützt: „Die geförderten Servicekonzepte reichen von neuen, kreativen Veranstaltungsformaten über App-Entwicklungen und Portale für eine verbesserte clusterbezogene Kommunikation bis hin zu innovativer Personalbeschaffung und neuen Instrumenten, um die Clusterakteure im Innovationsprozess zu unterstützen“ (BMWi, 2015, S. 5). Im Ergebnis sollen am Standort vor allem Wissen und Kompetenzen entstehen, ein Mehr an F&E-Investitionen  – auch als Gründungsaktivität  – stimuliert und Risikoschwellen für neuartige Entwicklungen herabgesetzt werden (z.  B.  Förderung digitaler

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Kompetenznetzwerke im Rahmen der ‚go-cluster‘-Initiative von BMWi und BMBF). Für alle Maßnahmen(kombinationen) sind jeweils Zielgruppengenauigkeit, Umfang und Fristigkeit und somit Effizienzwirkungen zu bestimmen, wobei Verlagerungs- und Mitnahmeeffekte oder schädliche Neben- und Fernwirkungen möglich sind (Burger-Menzel & Huyoff, 2016, S. 136 f.). Die Wirtschaftsförderung kann sich dabei unterschiedlich intensiv engagieren, um im Bestfall standortbezogene Ausstrahlkraft und Agglomerationsdynamik zu erhöhen.

10.1.4 Wirtschaftsförderung als Mehrebenen-Ansatz Die Steuerung der regionalen Wirtschaftsförderung ist primär horizontal auf ihr Wirkungsnetz ausgerichtet. Sie ist jedoch vertikal abhängig und dies über mehrere Ebenen hinweg (hier: Länder, Bund, Europäische Union). So beeinflusst die EU beispielsweise über ihre katalysatorisch wirkenden Fondsmittel (z.  B.  Europäischer Sozialfonds (ESF), Europä­ ischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), Kohäsionsfonds) auch die digitale Umsetzungsrichtung, die in den Mitgliedsländern strukturpolitisch eingeschlagen wird. Dies betrifft in Deutschland die Regionalförderprogramme von Bund und Ländern (z. B. Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GRW)) (PCG, 2018, S. 27). Die EU unterstützt die Digitalisierung in ihren Mitgliedsländern zudem über Schwerpunktprogramme zu exzellenz- und clusterbezogenen Forschungsnetzwerken (Horizon Europe), klein- und mittelständischen Unternehmen (COSME) oder strategisch gewünschten Investitionsrichtungen (EFSI), wobei zunehmend ein breiter und integrierender Ansatz angestrebt wird, „which could in effect break the ‚silos‘ between policy areas and measures“ (EP, 2019, S. 9). Bei Wirtschaftsförderung geht es somit um die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen und zugleich um Subsidiarität, um möglichst vor Ort aktiv zu werden, wo man Bedarfe und Potenziale hautnah erlebt. Ein solches Umfeld hat seine eigenen Herausforderungen (z. B. Steuerungslücken durch mangelnde Absprachen) und im Ergebnis kann die regionale Wirtschaftsförderung nur zum Teil selbst Rahmenbedingungen setzen.

10.1.5 Wirtschaftsförderung als beihilferechtliche Herausforderung Praktische Grenzen werden der regionalen Wirtschaftsförderung durch den EU-­ Beihilferahmen gesetzt. Begünstigt eine staatliche Unterstützung Unternehmen oder die Herstellung bestimmter Güter und können dadurch der Wettbewerb verfälscht und der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beeinflusst werden, dann ist eine solche Beihilfe grundsätzlich verboten (EU, 2012, Art. 107). Es gibt allerdings Ausnahmen (z. B. strukturpolitischer Ausgleich von Lebensverhältnissen). Ein Rechtsrahmen legt fest, welche Förderung im EU-Mitgliedsland zulässig ist, wie Fördergebiete abzugrenzen sind und welche Förderhöchstsätze verwendet werden können. Die Wirtschaftsförderung muss dabei im

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Charakter – wie im Bereich Bildung – investiv sein, „also zu zusätzlichen Investitionen oder wirtschaftlichen Aktivitäten in der geförderten Region“ führen; seit 2014 sind „auch Beihilfen zum Breitbandausbau, zur Forschung und Entwicklung und für Innovationscluster sowie für lokale Infrastruktur und regionale Stadtentwicklungsfonds von der Notifizierungspflicht befreit“ (Wissenschaftlicher Beirat BWMi, 2015, S. 10). Daneben gibt es beispielsweise heraufgesetzte Beihilfeintensitäten für den Klein- und Mittelstand oder erlaubte Beihilfen, wenn sie innerhalb von drei Jahren einen bestimmten finanziellen Schwellenwert nicht überschreiten (de-minimis-Beihilfe). In Krisen wie der Corona-­ Pandemie können Beihilfeverbote ausgesetzt werden (Sachverständigenrat, 2020, S. 79). Für den Erhalt der Kapazitäten sind je nach Betriebsgröße und Bedarfslage dann Kredite und Bürgschaften, Stundungen und Anpassungen bei Vorauszahlungen, steuerrechtliche Verlustausgleiche und veränderte Abschreibungsregelungen, direkte Zuschüsse oder sogar Beteiligungsmodelle relevant (Sachverständigenrat, 2020, S. 3). Die Datenbasis muss angepasst und transparent kommuniziert werden, um Maßnahmen rechtzeitig und adäquat zur Verfügung stellen zu können.

10.1.6 Wirtschaftsförderung als Standortwettbewerb Den Kampf um die relative Wettbewerbsfähigkeit gibt es nicht nur zwischen Unternehmen sondern auch zwischen Regionen. Globalisierte Wertschöpfungsketten implizieren schließlich, dass Aktivitäten beständig aus einer Region abwandern können, sobald diese ihre Anschlussfähigkeit zu verlieren droht. In der Folge kann es zwischen regionalen Standorten zu Parallelanstrengungen wie Subventionswettläufen kommen, die Fehlanreize zu Lasten nationaler und europäischer Budgets auslösen (Wissenschaftlicher Beirat BMWi, 2015, S. 7). Dennoch hat das ‚industriepolitische‘ Eingreifen des Staates in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dabei handelt es sich nicht nur um Strukturanpassungspolitik (z.  B.  Mobilitätsprämien, bessere Verfügbarkeit von Wagniskapital). Es geht vielmehr um die Strukturgestaltungspolitik, wozu die Führerschaft bei ausgewählten Schlüsseltechnologien zählt (z. B. Förderung von Spitzenclustern). Akteure wie die chinesische Regierung müssen dabei eine Beihilfekonformität nicht berücksichtigen und greifen mit einer ehrgeizigen Agenda und einer Vielzahl von Instrumenten in die Wirtschaft ein. Kritisch sind insbesondere Subventionen zu Gunsten chinesischer Anbieter im eigenen Heimatland oder an ausländischen Standorten (Monopolkommission, 2020, S. 8). Regionale Wirtschaftsförderung geht daher über die Standortkonkurrenz um Investoren hinaus. Forschungs- und Kommerzialisierungsstärke sollen gebündelt werden, was (noch) als Schwäche Europas gilt (EC, 2016, S. 7). Und es sollen innovative Milieus entstehen, deren digitaler Reifegrad hoch ist und weiche Standortfaktoren (z. B. Nahversorgung, Wohnqualität) attraktiv sind. Dies ist nicht in allen Regionen möglich. In strukturschwachen Kleinräumen sucht Wirtschaftsförderung dann, „latente Produktionsmöglichkeiten“ zu mobilisieren, „neue Produktionsmöglichkeiten entstehen“ zu lassen und gemeinsam mit der Sozialpolitik wirtschaftliche Härten abzufedern (Wissenschaftlicher

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Beirat BMWi, 2015, S. 9). Diese Herausforderung wird durch Schocks verschärft. So leiden strukturschwache Regionen stärker unter den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. Gründe hierfür sind beispielsweise, dass die Unternehmensstruktur kleinteilig und die Innovationsfähigkeit relativ gering sind, dass Spezialisierungsmuster vorliegen, die bei Friktionen in den Wertschöpfungsketten verletzlicher machen, und dass die Standortqualität (z. B. digitale Infrastruktur) eine zukunftsfähige Neuausrichtung nicht unterstützt (PTJ, 2020, S. 4). Vor diesem Hintergrund werden drei Anregungen für die regionale Wirtschaftsförderung ausgewählt. • Politikansätze und Verwaltungshandeln verzahnen und bürokratisch verschlanken: Die politisch regulatorischen Vorgaben an die Wirtschaftsförderung nehmen an Schlagzahl und Anforderungsdichte auch krisenbedingt immer weiter zu. Dabei knirscht es an den Übergängen zwischen den einzelnen Verantwortungsbereichen und dies nicht nur bürokratisch. So ist eine unübersichtliche und (zeit-)aufwendige Förderlandschaft entstanden, die sich zum Teil versäult hat und eine eigene Expertise braucht, um sie zu durchdringen. Eine wichtige Rolle spielt daher vertikal und horizontal, dass Politik und Verwaltung parallel agierende Bereiche verzahnen und gemeinsam verschlanken, um deren Transparenz zu verbessern, Optimierungspotenziale synergetisch ausschöpfen und in Krisensituationen agiler und widerspruchsfreier ansetzen zu können. • Konzeptionelle Diskussion von Neuansätzen in der Wirtschaftsförderung beruhigen: Die immer wieder (vermeintlich) neue Konzeptionierung der Wirtschaftsförderung produziert Unruhe und Aufwände. Der Innovationssystem-Ansatz hingegen ist einer, zu dessen Kern kreative Zerstörung und (krisenbedingt) disruptive Prozesse per se gehören und in den sich auch (Cross-)Cluster-, Resilienzansätze und der Bedarf an Zukunftsoffenheit stimmig einbetten lassen. Auch ist sein Bezug ganzheitlich, umfasst alle relevanten Akteure mit ihren Interaktionsmöglichkeiten und reicht von der radikalen Innovation zur experimentellen Veränderung und von der technischen zur sozialen Innovation. Der Innovationssystem-Ansatz deckt also weitestgehend alle auch krisenbezogenen Potenzial- und Risikodiskussionen ab, die zu einer intra- und interregionalen Strukturentwicklung gehören, und sollte als stabiler und gemeinsamer Referenzrahmen durchgängig(er) genutzt werden. • (Krisen-)Kooperations- und Lernnetzwerke besser verstehen und adäquat aufstellen: Regionale Problemlösungen werden auch in Krisensituationen nur entstehen, wenn unterschiedliche Akteure an den Prozessen beteiligt sind und modular Ideen und Ressourcen einbringen. Solche Netzwerkkontakte und Beteiligungsorientierungen ergeben sich nicht zwangsläufig. Sie brauchen kommunikative Kompetenzen, ein diversitätsbasiertes Interesse aneinander aber nicht so viel (Bedeutungs-)Verschiedenheit, dass der gemeinsame inhaltliche und technische Austausch daran scheitert. Die Wirtschaftsförderung hat aufgrund ihrer Schnittstellen eine wichtige Netzwerkrolle, um die Inte­ ressen von Partnern gemeinschaftlich(er) auszurichten. Doch dies braucht Kenntnisse, welches Netzwerkdesign welche Art von Lernen und Identitätsbildung unterstützt und

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welche Interaktions-, Entscheidungsregeln und Konfliktlösungsmechanismen erforderlich sind, damit sich partnerschaftliche Interessen verlässlich einschätzen lassen und krisenbedingten Handlungsdruck aushalten. Wirtschaftsfördereinrichtungen müssen sich daher erst selbst adäquat aufstellen, vom Rollenverständnis ihrer Mitarbeiter*innen über die Ausdifferenzierung von Prozessabläufen bis hin zu Handlungsressourcen, um auch bei Alltagsroutinen krisenwirksam zu werden.

10.2 Wie wirkt sich Digitalisierung auf Wirtschaftsförderung aus? Chancen und Risiken Digitalisierung ist ein Veränderungsprozess, der alle Akteure einschließlich solcher im Bereich der Wirtschaftsförderung betrifft, wobei im englischsprachigen Raum zwischen ‚digitization‘ und ‚digitalization‘ unterschieden wird (z. B. UNCTAD, 2019, S. 18). ‚Digitization‘ bezieht sich dabei auf rein technische Aspekte wie die Konvertierung von Information in ein digitales Format (z. B. CAD/CAM, ERP-Systeme) oder auf infrastrukturelle Bedingungen (z.  B.  Breitbandkabel, Cloud-Architektur). Komplementär hierzu umfasst Digitalisierung auch die dahinter liegenden Prinzipien und Geschäftsansätze, die erforderlich sind, um durch Transaktionen einen Mehrwert schöpfen und vereinnahmen zu können. Letztere haben sich über die Jahrzehnte deutlich gewandelt und reichen vom Verkauf eigentumsrechtgeschützter Hard- und Software (z.  B.  Microsoft) über offene Ansätze (z. B. Linux) und das Aufkommen des Online-Handels bis hin zur ‚sharing economy‘ mit ihren mehrseitigen Plattform-Ansätzen (z. B. Ebay, Airbnb) (z. B. Burger-Menzel & Assadi, 2012; BuKart, 2016). Aus Unternehmenssicht haben in der digitalen Welt vor allem Netzwerkeffekte den Handlungsraum und das Nutzerverhalten massiv verändert, wie die Beispiele digitaler Großkonzerne zeigen (z. B. Alibaba, Amazon, Facebook, Google). Zu den Weiterentwicklungen zählt die Ausbeutung von großen Datenmengen (big data) durch künstliche Intelligenz (KI) sowie die Verknüpfung von physischen Objekten über das Internet als cyberphysische Systeme (internet of things) mit weiteren Systemen und Anwendungen. Unter Industrie 4.0 werden dann die Möglichkeiten und Implikationen gefasst, wenn durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen „dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke [entstehen], die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie beispielsweise Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen“ (Bitkom et  al., 2015, S.  8). Dabei werden „Informationen und die Vernetzung zu einem zentralen Gut“ (Bitkom et al., 2015, S. 93). Stichworte sind ‚smart factories‘ oder ‚smart cities‘ (Fonseca, 2018, S. 388). Passend hierzu ist der Begriff der Wirtschaftsförderung 4.0 aufgekommen, die sich die Aufgabe stellt, entsprechende Geschäftsmodelle standortbezogen und -übergreifend zu stärken, während Letztere modellhaft erprobt, bekanntgemacht und im Wachstum unterstützt werden. Der Bezugsraum wird dabei zu einer ‚offenen Region‘ (Grieb et al., 2020,

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S. 5). Löst man die räumliche Bindung auf, kann man auch Cluster anders denken (virtuelles Cluster), wodurch sich neue Potenziale erschließen lassen (Burger-Menzel & Assadi, 2012, S.  257). In digitalisierungsrelevanten Bereichen wie künstlicher Intelligenz, 5G, Daten- und Megadaten Analytics zeigt Europa im weltweiten Vergleich allerdings noch immer Schwächen (EC, 2020a, S. 4). Zum Umgang mit Krisen zählen Resilienzstrategien wie die ‚Digitale Souveränität‘, wenn die EU abrupten Versorgungsengpässen bei strategisch wichtigen Rohstoffen (z.  B. seltene Erden) und Technologien (z.  B.  Prozessoren, Halbleiter) vorbeugen will (EC, 2021a). Weitere Beispiele sind IT-Sicherheitsansätze, um algorithmische Antworten auf Cyberangriffe auch mit Blick auf kritische Infrastrukturen zu finden (EC, 2020b, S. 3), oder die Einrichtung von Home-Office-Arbeitsplätzen in Pandemiezeiten, die neben einer adäquaten Ausstattung auch eine rechtliche Zulässigkeit und querschnittskompatible Zusammenarbeit brauchen (z. B. Siegl, 2021). Digitalisierung und ihre dynamische Weiterentwicklung verändern somit auch die Wirtschaftsförderung. Da deren Akteure organisatorisch vielfältig sind, wird an dieser Stelle noch einmal vertiefend zwischen E-Government und E-Governance unterschieden. E-Government ist „die elektronische Abwicklung von Geschäftsprozessen der öffentlichen Verwaltung und Regierung und leistet einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung der Verwaltung: Die Prozesse werden beschleunigt, die Kommunikation vereinfacht und damit insgesamt die Qualität und Effizienz des öffentlichen Verwaltungshandelns erhöht. Für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen eröffnen sich neue Möglichkeiten, mit der Verwaltung in den Kontakt zu treten.“ (Deutscher Bundestag, 2018, S. 4). Deutschland hat sich für die Bundesebene bereits 2013 zu elektronischem Verwaltungshandeln verpflichtet (Deutscher Bundestag, 2013). Seitdem sind die einzelnen Bundesländer mit Gesetzen gefolgt, die für die Landes- und Kommunalebene gelten. Für eine entsprechende Digitalisierung gibt es seit Jahren verstreute EU-Programme wie Connecting Europe Facility (CEF), Interoperability Solutions for European Public Administrations (ISA2) oder das Structural Reform Support Programme (SRSP). Zur Abfederung der Corona-­Folgen werden zudem in den Mitgliedsstaaten der digitale Wandel und nationale Aufbau- und Resilienzpläne technisch unterstützt (Technical Support Instrument). Die Zusammenarbeit zwischen Behörden und Bürger*innen wird auch als E-­ Governance bezeichnet (z. B. Mittel, 2019). Der ausschließliche Bezug zu Bürger*innen ist dabei historisch begründet, weil es eine Steuerungslogik beschreibt, bei der kollektives Verhalten durch formale und informelle Anreizsysteme und Prozesse beeinflusst wird (Tuano et  al., 2017, S.  6). In unserer heutigen digitalen Welt beschreibt E-Governance auch die Steuerungslogik von hybriden oder nicht-staatlichen Akteuren (Tuano et  al., 2017, S. 6). Die Wirtschaftsförderung deckt diese Bandbreite auf eine Weise ab, dass fließende Übergänge zwischen E-Government und E-Governance entstehen. Was heißt dies für die digitalbasierten Handlungspotenziale der Wirtschaftsförderung? Und wie verändert es den Umgang mit Krisensituationen? Beides wird im Folgenden anhand von drei Zielgrößen und Handlungsprinzipien erläutert (Abb. 10.2):

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Abb. 10.2  Ziel-Dreieck für das (Krisen-)Handeln digitalisierter Wirtschaftsförderung

(i) Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Effizienzziel; (ii) digitalisierte Wirtschaftsförderung und Qualitätsziel; (iii) digitalisierte Wirtschaftsförderung und Partizipationsziel.

10.2.1 Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Effizienzziel Aus der Definition von E-Government ist als erstes Ziel ableitbar, dass die Effizienz und somit die Produktivität bei der Bereitstellung von Informationen und Dienstleistungen gesteigert wird, d. h. die Kosten der bürokratischen Prozesse sollen durch Digitalisierung reduziert werden. Der damit verknüpfte Handlungsgrundsatz ist das ‚Once Only‘-Prinzip für Verwaltungsdienstleistungen (Ifo Institut, 2021, S. 69), bei dem die Daten für ein Anliegen nur einmal bei der öffentlichen Verwaltung hinterlegt werden müssen, also unabhängig von der Verwaltungslandschaft, die sich dahinter verbirgt. Ein Beispiel ist die Unternehmensgründung, bei der je nach Gewerbeart und Rechtsform eine Vielzahl an Anträgen und Dokumentationen bei unterschiedlichen Behörden abzuarbeiten ist. In Österreich ist beispielsweise eine Online-Gründung aus einer Hand zumindest für Personengesellschaften und Ein-Personen-GmbHs seit Jahren Praxis (Röhl & Graf, 2021, S. 18). Die E-Governance der Wirtschaftsförderung eignet sich für das Once-Only-Prinzip, wenn digitale Kooperationsplattformen genutzt werden, die auch cluster- und raumübergreifend organisiert sind. Solche Plattformen bieten ein „kanalisiertes Austauschmedium mit klaren Rollen und Verbindlichkeiten“ für Einzelbedarfe an (z. B. Antragspraxis bei Digitalzuschüssen), sodass administrative Kosten gesenkt werden können (PWC, 2017, S. 91 f.). Die Corona-Pandemie mit ihren partiellen Lockdowns hat die Bedeutung solcher Lösungsansätze gestärkt. Über ihre jeweilige Kooperationsplattform kann die

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Wirtschaftsförderung relativ zügig (materielle) Nöte lindern, indem Informationen zentral bereitgestellt, Bedarfe rasch erfragt, Unterstützungsangebote gemeinsam diskutiert und geeignete Ansätze relativ schnell verbreitet werden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass nicht nur große Datenmengen verarbeitet, zeitnah intern und extern bereitgestellt und die Plattform-Inhalte regelmäßig überprüft werden müssen. Zusätzlich zu Datenzugänglichkeit respektive Dateneigentum ist zu klären, wie mit Datenverarbeitung, -speicherung und -mobilität sowie mit der Standardisierung und Interoperationalität von Plattformen technikadäquat und rechtskonform  – und bei KI-­ Einsatz auch ethisch angemessen (EP, 2021, S. 16 f.) – umgegangen wird. ITKM-­bezogene Clusterbestandteile sind dabei hilfreich, um gemeinsame und medienbruchfreie Lösungsansätze und Lernprozesse zu stimulieren. E-Government und seine Erweiterung zu E-Governance binden nicht nur umfängliche (finanzielle) Ressourcen. Sie brauchen auch digitale Kompetenzen. Laut Ifo Institut (2021, S.  34) handelt es sich dabei um Anwendungskompetenzen (z.  B.  Nutzung neuer Kommunikationswege oder Geschäftsmodelle) und weitergehende digitalen Kompetenzen (z. B. Entwicklung und Implementierung neuer digitaler Produkte und Prozesse). Insgesamt konstatiert das Ifo-Institut in einem ausdifferenzierten internationalen Vergleich für Deutschlands E-Government noch deutliche Nachholbedarfe und benennt als Ursachen vor allem (i) eine geringe technische Kompatibilität der förderal angelegten Systeme, (ii) starre Tarifstrukturen im öffentlichen Dienst, welche bei Fachkräftemangel die Gewinnung von ITKM-Talenten begrenzen, (iii) eine noch wenig innovativ ausgerichtete Beschaffungsstrategie im öffentlichen Sektor sowie (iv) einen oft noch stark eingeschränkten inter- und intrabehördlichen Datenzugriff und langwierige Genehmigungsprozesse durch die öffentliche Verwaltung, was auch die pandemische Realität deutlich werden ließ (Ifo Institut, 2021, S. 71 f.). Die Wirtschaftsförderung kann hier durchaus von ihren privatwirtschaftlichen Organisationsansätzen profitieren, um geeignete Fachkräfte und Technik anzuwerben und adäquate Lösungsmöglichkeiten zu generieren. Doch sie ist bei der digitalbasierten (Krisen-)Steuerung weiterhin von anderen öffentlichen Verwaltungseinheiten horizontal und vertikal abhängig. Die Corona-Erfahrung hat für das Cluster-Management gezeigt, dass selbst dort Potenziale der Digitalisierung weiter erschlossenen werden können; neben digitalen Kompetenzen zählen zu den Ansatzpunkten die Organisationskultur, Prozesse, Tools sowie die Infrastrukturausstattung (Hintze & Witte, 2021, S. 47).

10.2.2 Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Qualitätsziel Neben seiner effizienzbezogenen Modernisierung soll E-Government auch qualitativ höhere Ansprüche erfüllen, was neben gerichtssicherem Handeln auch adressatengerechte Dienstleistungen umfasst: „Letztlich fordert Qualitätsmanagement in einer sich ständig wandelnden Umwelt, dass die Behörde Personal, Prozesse und Ressourcen so flexibel entwickelt, gestaltet und einsetzt, dass jederzeit neue oder veränderte Produkte in der jeweils gewünschten Qualität geliefert werden können“ (Schütz, 2002, S. 4). Der damit verknüpfte

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Handlungsgrundsatz ist der ‚One-Stop Shop‘ für Verwaltungsdienstleistungen. Ansätze wie das Unternehmenskonto sollen helfen, eine Vielzahl von Behördengängen über einen Zugang abrufbar zu machen (Ifo Institut, 2021, S. 70). Die Europäische Union treibt dies auf der europäischen Ebene mit dem ‚Single Digital Gateway‘-Projekt voran, bei dem ein zentrales länderübergreifendes Verwaltungsportal für 23 Bürger- und Unternehmensleistungen entstehen soll (Stocksmeier et al., 2019, S. 88). Die E-Governance der Wirtschaftsförderung hat sich bereits in diese Richtung entwickelt. Stichwort für eine solche Kundennähe ist die ‚One-Stop Agency‘ im Sinne eines Anbieters integrierter Dienstleistungen (Kammradt, 2016, S.  13). Wird diese Bündelung über eine digitale ­Kooperationsplattform organisiert, entsteht auch die Möglichkeit, diese mehrseitig zu gestalten, d. h. den Mitgliedern der Nutzergemeinschaft wird ein Raum geboten, in dem sie sich treffen und gegenseitig unterstützen können. Dies kann sich beispielsweise auf den fachlichen und branchenübergreifenden Austausch zu Großprojekten beziehen, der sich durch die „Tendenz zu Megaprojekten“ verstärkt, welche sich nicht alleine bewältigen lassen; oder es geht um „Lokalisierungsquoten“, also um staatliche bzw. vom Kunden vorgegebene Quoten, die den Wertschöpfungsanteil vor Ort erhöhen (PWC, 2017, S.  91). Dadurch werden intelligente Matching-Funktionen relevanter, über die sich geeignete Kooperationspartner finden lassen. Dies gilt auch für die Zeit pandemiebedingter (Teil-) Lockdowns, als Treffpunkte wie Messen und Fachveranstaltungen abgesagt wurden. In der Konsequenz bedeutet dies, dass für Nutzer*innen das jeweilige Dienstleistungsspektrum und sein Nutzenbeitrag erkennbar sein müssen und dies möglichst zu niedrigen Transaktionskosten. Da Angebotsbündel in ihrer Bedeutung über die Zeit nicht stabil bleiben, muss sich das Verwaltungshandeln zudem rasch an Veränderungsbedarfe anpassen und Förderimpulse für agile Projektentwicklung und -umsetzung geben können. Was neue Lösungen nicht nur inhaltlich, sondern auch regulatorisch bedeuten, kann in ‚Reallaboren‘ ausgetestet werden (regulatory sandboxes). Innovative Produkte, Dienstleistungen und Geschäftsmodelle werden dabei von Akteuren (z.  B.  Unternehmen) unter realen Bedingungen erprobt (z. B. Experimentierklauseln) und liefern über ihre Testergebnisse Erkenntnisse, wie sich rechtliche Kontextfaktoren verbessern lassen (BMWi, 2019, S.  7). Beispiele sind telemedizinische Modellprojekte oder Reallabore der Energiewende. In der Konsequenz sind ein Reallabore-Gesetz für übergreifende Standards angedacht, um das Experimentieren und eine mögliche Überführung in den Regelbetrieb zu erleichtern, sowie ein One-Stop-Shop für Reallabore (BMWi, 2021, S. 2). Aus Sicht der Wirtschaftsförderung ist vor allem relevant, dass kooperative E-Government-Ansätze für föderale Strukturen regulatorisch ausgetestet werden, was eine ebenen- und ressortübergreifende Verzahnung und Verschlankung von parallel agierenden Bereichen sowie den Umgang mit spezifischen Krisen einschließen sollte. Eine Anpassungsfähigkeit, die strukturellen Verwerfungen durch kreative Zerstörung und zusätzlichen exogenen Schocks begegnen kann, braucht vom Anspruch her somit Flexibilität. Im internationalen Vergleich werden in Deutschland noch relativ wenige E-­ Government-­Angebote nachgefragt, was sich unter anderem „auf das geringe Vertrauen der Bürger[*]innen in die digitalen Angebote“ zurückführen lässt (Ifo Institut, 2021,

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S. 68). Laut BDI (in Ifo Institut, 2021, S. 70) haben deutsche Unternehmen jährlich im Durchschnitt 130 Behördenkontakte. Auch diese Zielgruppe beurteilt die Nutzungsorientierung von Online-Dienstleistungen, die den regulären Geschäftsbetrieb betreffen, im Vergleich mit anderen EU-Ländern als „deutlich schlechter“, wofür die Expertenkommission Forschung und Innovation als Gründe „die Unübersichtlichkeit und schwierige Auffindbarkeit von Online-Diensten und das Fehlen eines One-Stop-Shops“ aufführt (EFI in Deutscher Bundestag, 2018, S. 10). Dabei sollte der Zugang zum gesamten Angebot als ‚Single Sign-on‘ einheitlich erfolgen (Fromm et al., 2015, S. 25). Für das Verwaltungshandeln der Wirtschaftsförderung bedeutet dies, dass für ihre horizontale und vertikale ­Kooperation neben digitalen auch adaptive Kompetenzen erforderlich sind sowie die Ermächtigung, diese operational einsetzen zu dürfen. Experimentierräume können helfen, relevante Lücken zu identifizieren und zu schließen und Erfahrungen zur Mit- und Nachnutzung verfügbar zu machen. All dies muss in die strategische Planung entsprechend einbezogen und mit Ressourcen unterfüttert werden.

10.2.3 Digitalisierte Wirtschaftsförderung und Partizipationsziel Drittes und letztes Ziel von E-Government ist ein höherer Offenheitsgrad der öffentlichen Verwaltung. Dadurch soll sie sich stärker in das digitale Ökosystem integrieren, um gemeinsam mit der Gesellschaft Mehrwerte zu schöpfen (OECD, 2019, S. 2). Ein solches ‚two-way sharing‘-Prinzip bedeutet, dass die öffentliche Verwaltung über die bürgerliche Partizipation Anregungen und Kritik aufnimmt und dadurch Transparenz und Vertrauen schafft (Mittel, 2019, S. 1). In der Literatur geht dieser Ansatz in das ‚Open Government‘ über, das nicht nur eine effiziente und stärker nutzerbasierte Handlungsweise anstrebt, sondern auch eine stärkere bürgerliche Beteiligung. „Die Form der Mitwirkung kann dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein, von einer Befragung der Bürger zu einem Themenbereich über eine (E-)Konsultation zu einem Gesetzgebungsvorhaben sowie zu einer Mitgestaltung der Haushaltsaufstellung durch Bürger im Rahmen sogenannter Bürgerhaushalte bis hin zur Übernahme der Entscheidungsverantwortung durch Bürger z.  B. im Rahmen von Quartiersmanagementfonds“ (Kiessmann et al., 2012, S. 27). Die Europä­ ische Kommission verweist hierzu auf sogenannte ‚open decisions‘, die gemeinsam mit ‚open data‘ und ‚open services‘ zu einem offenen Regierungshandeln führen (EC, 2013, S. 3). Deutschland ist 2016 dem internationalen Bündnis ‚Open Government Partnership‘ (GDP) beigetreten. Beispiele für die Zeit der Corona-Pandemie sind das Impf-Dashboard, über das täglich der Stand der Impfungen, Impfstofflieferungen und erreichten Meilensteine einsehbar und zum Download verfügbar ist; oder es geht um eine zentrale Anlaufstelle für Hersteller und Zulieferanten zur Sicherstellung der Lieferkette (Bundeskanzleramt, 2021, S.  10). Für die E-Governance der Wirtschaftsförderung bedeutet Offenheit beispielsweise, dass neue Kooperationspartner, Mechanismen und Geschäftsideen relevant werden. So sind in den westlichen Industrieländern lange Zeit soziale Innovationen nicht als Innovationen im engeren Sinne akzeptiert worden, da sie nicht zwangsläufig

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technische Neuerungen darstellen, sondern sich auch auf deren Nutzung in einem neuen sozialen Kontext beziehen können (Burger-Menzel, 2016a, S. 86 f.). Beispiele sind Sozialunternehmen als neue Partner, Crowdfunding-Ansätze als neue Mechanismen oder die Nutzung offener Daten als Geschäftsidee, was sich alles in Kooperationsplattformen integrieren lässt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Beteiligungsbarrieren (z. B. Zugang zur ITKM-­ Infrastruktur) abgebaut und geeignete Beteiligungsverfahren (z.  B.  Creative Labs an Hochschulen mit Sozialunternehmen) zu etablieren sind. Abgesehen von adäquaten Ressourcen, für die es staatliche Förderung gibt (z.  B.  BMBF, 2021), ist auch eine ­Beteiligungskultur zu entwickeln. Im Ergebnis handelt es sich wieder um mehrseitige, nun jedoch offene Strukturen. Die Mitglieder einer mehr oder minder formalisierten Gruppe (z.  B. auch ehrenamtlich Aktive) teilen Ressourcen miteinander, der Austausch ist vertrauens- oder empfehlungsbasiert und es können neue App-Tools und angepasste Bezahlmodelle verwendet werden. Für das E-Government stellen Balta et  al. (2019, S.  16) fest, dass öffentliche Verwaltungsbereiche durchaus teilbare Ressourcen haben, die es jedoch zu identifizieren gilt, wofür Rechtssicherheit geschaffen werden muss; um eine (neuartige) Teilhabe voranzubringen, muss diese zudem eigenständig prozessual aufgesetzt und kulturell mit Hilfe interner Vorbilder eingeübt werden. Dies gilt auch für die E-Governance der Wirtschaftsförderung und insbesondere für die Bereitstellung offener Daten, die aus der öffentlichen Verwaltung stammen. Solche qualitativ hochwertigen und bedarfsorientierten Datensätze stellen „in der Informationswirtschaft einen erheblichen Wettbewerbsvorteil und die Basis für innovative Produkte und Dienstleistungen“ dar (Schweigel et  al., 2020, S.  48). Um solche Potenziale auszuschöpfen, braucht es ein verwaltungsinternes Bewusstsein, das derzeit noch nicht vollständig vorhanden ist, und den Aufbau eines integrierten Data-­ Governance-­Systems, damit „verwaltungsinterne Datensilos einzelner Behörden oder Abteilungen langfristig geöffnet werden“ (Zinke, 2020, S. 45). Vorreiterstädte wie Hamburg zeigen, dass auch für offene Daten ein passfähiger und einheitlicher Rechtsrahmen und eine standardisierte und cybersichere Schnittstellenkompatibilität erforderlich sind; auch ist zu klären, wie die Öffentlichkeit in die Bereitstellung und Nutzung hochwertiger Datensätze eingebunden werden kann und was solche Servicemodelle als Wirtschaftsfaktor finanziell, technisch und personell bedeuten (Schweigel et al., 2020, S. 68 ff.). Eine hoheitlich organisierte Wirtschaftsförderung muss dabei beachten, dass sie mit ihren Dienstleistungen nicht mit privaten Unternehmen konkurriert, um marktwirtschaftliche Prinzipien nicht zu verletzen. Und sie muss definieren, was zu den digitalen Gemeingütern (Daten, Informationen, Bildungs- und Wissensartefakte im Gemeinwohlinteresse) zählt, „die öffentlich und barrierefrei zur Verfügung“ stehen sollen und „vor ausgrenzender Inanspruchnahme durch Profitmaximierung und vor Missbrauch zu schützen“ sind (WBGU, 2019, S. 373). In einem dynamischen und komplexen Umfeld nehmen die Möglichkeiten für Vorteilsnahme zu, da auch die Kontrollkosten steigen. Vor diesem Hintergrund lassen sich erneut drei Anregungen für die regionale und nun digitalbasierte Wirtschaftsförderung ableiten:

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• Relevante Politikfelder und Verwaltungshandeln raumübergreifend vereinheitlichen: Föderale Strukturen führen zu stark divergierenden Regulativen, wie das Beispiel der deutschen Länderebene zeigt. Sind Politikfelder und Verwaltungshandeln verzahnt und verschlankt, können auch rechtliche Regelungen und technisch organisatorische Standards für Datenschnittstellen, Nutzeroberflächen und eine cybersichere Umgebung besser vereinheitlicht und zentral und transparent gepflegt werden. Erfolgt dies nicht, kommen auf die Wirtschaftsförderung und ihre Akteure in dem sich zunehmend wandelnden Alltag, der sich hinter kanalisierten Zugängen (Once-Only-Prinzip), Dienstleistungsvielfalt (One-Stop-Shop) und gewünschter Partizipation (Two-way­ Sharing-­Prinzip) verbirgt, vermeidbare Mehraufwendungen und Transaktionskosten zu. Dies gilt insbesondere für eine digitalbasierte (Krisen-)Steuerung, bei der die Wirtschaftsförderung von öffentlichen Verwaltungseinheiten horizontal und vertikal abhängig ist. • Eigenverantwortliche Freiräume für das Experimentieren schaffen: Innovationssysteme gehen von marktwirtschaftlichem Versuch und Irrtum aus, also von eigenverantwortlichem Experimentieren. Auch wird angenommen, dass die Implementierung von Innovationen auf Widerstand stößt, weil das Festhalten an gewohnten Mustern zum menschlichen Verhalten gehört. Um wirtschaftliches, soziales, technisches und regulatives Experimentieren strategisch auszurichten, braucht es neu zu vereinbarende Handlungsfreiräume insbesondere für Wirtschaft und Wissenschaft sowie ein ethisches Verständnis, wie mit diesen Freiräumen umzugehen ist (z. B. als Verhaltenskodex). Was dies konkret bedeutet (z.  B.  Fehlertoleranz, (temporäre) Abkehr vom Ökonomisierungsdruck), muss – auch für Krisenzeiten – diskutiert werden. • Öffentliche Verwaltung und Wirtschaftsförderung digital und adaptiv handlungsfähig machen: E-Governance braucht friktionsfreie Übergänge und eine jeweils angemessene Ressourcenausstattung und Handlungsfähigkeit. Letztere reicht von eigenen digitalen Kompetenzen und dem Umgang mit Big Data über eine adaptive Organisationskultur bis hin zu Entscheidungskompetenzen in föderalen Strukturen. Dies gilt insbesondere, je weiter der Handlungsraum der Wirtschaftsförderung aufgespannt wird, was im letzten Abschnitt als transformativ wirkendes Verhalten diskutiert wird. Dabei soll Wirtschaftsförderung stimulieren und unterstützen, darf private Investitionen aber nicht verdrängen. Entsprechende Zielkonflikte müssen identifiziert und transparent thematisiert werden, um verzerrten Erwartungen und politökonomischem Schaden vorzubeugen.

10.3 Kann (sich) Wirtschaftsförderung transformieren? Anspruch und Wirklichkeit Die Transformationsdiskussion bildet ab, dass man heute Ressourcen für den technischen Fortschritt in einer Weise nutzt, die – intergenerationell gesehen – Handlungsspielräume einschränkt. Daher betont das Bundesverfassungsgericht (2021) in seiner Stellungnahme zum Klimaschutzgesetz, dass der Staat eine „objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch

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Abb. 10.3 Transformationsrahmen für das (Krisen-) Handeln von Wirtschaftsförderung 5.0

in Bezug auf künftige Generationen“ hat. Die Vision der Gesellschaft 5.0 beschreibt somit, dass bei (oder obtrotz) einer ökonomischen Weiterentwicklung die regenerativ natürlichen Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde dauerhaft und sozial verantwortlich erhalten bleiben. Die Wirtschaft beherrscht ihre fortschrittlichen Technologien (z. B. Internet der Dinge, künstliche Intelligenz, Biotechnologie) auf entsprechende Weise und lässt sich über die Merkmale resilient, menschenzentriert und nachhaltig beschreiben (EC, 2021b, S. 9, 13). Dies gilt integrierend für alle Bereiche wie Wirtschaft und Energie, ­Flächennutzung und Verkehr, Soziales und Wohnen. Und es gilt für die Digitalisierung selbst, weil sie eigene ökologische Belastungen verursacht und Dekarbonisierungsstrategien braucht (grüne ITKM). Die Wirtschaftsförderung muss sich ebenfalls einer stärkeren Nachhaltigkeitsforderung stellen. „Letztlich trägt auch ein Greening des Gesamtinstrumentariums der Wirtschaftsförderung dazu bei, dass digitale Schlüsseltechnologien … und die digitale Ökonomie stärker als bisher in den Dienst der Nachhaltigkeit gestellt werden“ (WBGU, 2019, S. 168). Kommt es zu Krisen, führt die dadurch bedingte Investitionszurückhaltung der Unternehmen in der Regel auch zu einem Rückstau bei Nachhaltigkeit. Was bedeutet eine solche Transformation für die Wirtschaftsförderung? Und sollten Krisen dabei überhaupt noch getrennt thematisiert werden? Beides wird im Folgenden anhand von zwei Merkmalen erläutert (Abb. 10.3): (i) Wirtschaftsförderung 5.0 und Nachhaltigkeitsorientierung; (ii) Wirtschaftsförderung 5.0 und Umgang mit multiplen Zukünften.

10.3.1 Wirtschaftsförderung 5.0 und Nachhaltigkeitsorientierung Eine grünere E-Governance bedeutet im einfachsten Ansatz, dass sie über ein effizienteres und ressourcenschonendes Handeln ihren eigenen ökologischen Fußabdruck verkleinert und darin externe Kosten einpreist. Zudem kann sie über offene Daten eine solche Transparenz auch für Wertschöpfungsketten schaffen (Hightech-Forum, 2020, S. 4), was für die öffentliche Beschaffung genutzt werden kann. Steht das regionale Bezugssystem im

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Blickfeld, können sich in der Folge Wertschöpfungsketten verkürzen, was als ‚nearshoring‘ bezeichnet wird (Kopatz, 2021, S.  12). Wird stärker dort produziert, wo verkauft werden soll, kann das Kaufverhalten (über Erprobungsräume) auch enger mit kreislaufwirtschaftlichen Ansätzen verknüpft werden, zu denen beispielsweise Reparatur-, Upcy­ cling- und Leasing-Modelle zählen (EC, 2018, S. 177). Hinzu kommen Geschäftsmodelle, die mit Dienstleistungen bürgerliches Engagement unterstützen, wie Tauschplattformen, offene Werkstätten, kollektive Formen der Produktion, Gewerbegebiete als Lebensräume oder ein attraktiveres Regionalmarketing, das von regionalen Labels bis hin zu regionalen Verrechnungssystemen reicht (Hahne, 2017, S. 20). Solche Entwicklungen können ebenso Verhaltensänderungen und neue soziale Praktiken hervorbringen wie eine Erweiterung des Leistungs- und Exzellenz-Begriffs in Bildung und Wissenschaft. Niederschwellige Förderformate und flexiblere Wissenschaftskarrieren helfen dann, Ideen proaktiv auszuprobieren und in nachhaltige Gründungsideen zu überführen, wobei sich auch Anbieter von Wagniskapital an offenen Daten orientieren können. Die Wirtschaftsförderung koppelt dabei im Sinne eines „Gegenstromverfahrens“ den Impuls von Oben (Top-Down) mit der Stärkung der Initiativen von Unten (Bottom-Up) (Wuppertal Institut, 2020, S. 16). Nachhaltige Anwendungslösungen, die sich zunächst auf eine in der Regel volatile Nische begrenzen und durch spezifische Förderprogramme getragen werden, müssen es nicht zwangsläufig in die breite Nutzung schaffen. Dies gilt vor allem für Regionen mit Innovationsrückstand, denen maßgeschneiderte Unterstützungen das Überleben erleichtern sollen. Eine solche ‚smart specialisation‘ wird von der EU seit rund zehn Jahren innerhalb des Kohäsionsfonds gefördert und trifft nun auf Forderungen, diesen partizipativen Ansatz stärker in den EU Aktionsplan für Klimaneutralität (Green Deal) einzubinden (z. B. Larosse et al., 2020, S. 15). Wirtschaftsfördereinrichtungen müssen daher in einer gezielten Anstrengung und fehlertolerant versuchen, Lösungen über regionale Schwellenwerte zu helfen, wenn sie adaptiv geeignet erscheinen. Dies ist leichter gesagt als getan, da solche Lösungen erst identifiziert werden müssen und Gewohntes und Ängste zu überwinden sind. Schließlich muss aufgrund ökologischer (Re-)Aktionsverbundenheit noch stärker über europäische Grenzen hinausgedacht werden.

10.3.2 Wirtschaftsförderung 5.0 und Umgang mit multiplen Zukünften Der höhere Grad an Komplexität verstärkt die Bedarfe, vertrauenswürdig miteinander umzugehen. Hierzu gehören auch Zertifizierungsstellen als Teil einer fälschungssicheren Identitätsinfrastruktur, da die Cybersicherheitsanforderungen weiter zunehmen und eine „tragfähige Security-Landschaft“ brauchen (Bitkom et al., 2015, S. 93). Eine solche Tragfähigkeit braucht es zudem bei genormten Beschreibungen, interoperablem Datenaustausch und KI-gestützten Such- und Auswertungsalgorithmen. Nur auf diese Weise lassen sich die gewünschten Austauschbeziehungen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft überhaupt gestalten, ohne von knappen (Zeit-)Ressourcen aufgezehrt zu

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werden. Analysekategorien, die zum Kern regionaler Resilienzstrategien gehören, sind beispielsweise Störungsart, Störungsausmaß oder Störungsdynamik. Doch es geht auch um transformationsbezogene Kategorien. Beispiele sind die Mustererkennung, wie sehr sich der Mensch bei Resilienzansätzen irrt (z.  B.  Fehlerquote zu erwartungsbasierten Referenzpunkten) und wie sehr er sich bei Erholungsprozessen vom ursprünglichen Entwicklungspfad entfernen kann und will (z. B. Abweichungsdimensionen, regionenspezifische Flexibilitätsmerkmale). Die Ergebnisse können wieder als offene Daten bereitgestellt werden. Voraussetzung ist auch hier, dass geeignete Kompetenzen und Mechanismen und die bereits oben genannten Voraussetzungen geschaffen werden. Eine systemische Robustheit braucht gemeinsame Zukunfts- und Szenario-Prozesse, um das, was (vermeintlich) auf die Akteure zukommt, greifbarer zu machen. So benennen die Unternehmen als ein wesentliches Investitionshemmnis schon bei der ‚Marke‘ Industriepolitik 4.0, dass die Komplexität des Themas den Mehrwert durch digitale Transformation schwer erklärlich macht (Bitkom, 2021, S. 2). Zukunfts- und Szenario-Prozesse helfen mit Ideen, wie multiple Zukünfte beispielsweise in 2050 oder 2080 aussehen können, von denen aus sich die Akteure strategisch zurückdenken. Ein solches Zurückdenken aus der Zukunft erlaubt nicht nur, fehlerfreundlicher und handlungsoffener zu denken. Auch (fehlende) Werteorientierungen werden aufgedeckt und lassen sich gemeinsam reflektieren. Eine solche Vorgehensweise ist in der Praxis – angesichts des schnelllebigen Alltags – jedoch häufig methodisch (noch) nicht vorgesehen. „Nur wenige Wirtschaftsförderungen ziehen konkrete Schlussfolgerungen aus Megatrends im Hinblick auf ihre Standortspezifika und verankern diese sichtbar in ihrer Strategie oder dem Handlungsportfolio“ (Grieb et  al., 2020, S.  6). Dabei bilden Megatrends nur einen stabilen Entwicklungspfad ab. Erst die gedankliche Spreizung in beste und schlechteste Szenarios und das Ideenspiel mit zusätzlichen disruptiven Ereignissen, die überraschend drastische Verschiebungen auslösen können, machen multiple Zukünfte und ihr strategisches Durchdenken – auch im Sinne von Krisenresilienz – wirklich aus.

10.4 Fazit Der Beitrag schließt als Fazit mit zwei Anregungen aus der Transformationsperspektive, die in diesem Beitrag nur ausschnitthaft diskutiert werden kann. • Strategische Lösungsinteressen klären: Grundsätzlich zeigt die Forschung zu techno-­ ökonomischen Paradigmenwechseln, dass Krisen Veränderungsbereitschaften drastisch erhöhen. Am evolutionär sinnvollsten wäre ein Lernverhalten, dass sich vorausschauend auf unterschiedliche Zukunftsszenarien einstellt. Aus der Perspektive multipler Zukünfte leben nicht nur Unternehmen in der sogenannten VUKA-Welt, die eine schwankende Entwicklung, Informationsunsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit beschreibt. Wir alle leben in dieser Welt mit ihren Klimafolgen und sich überlagernden (abrupten) Veränderungen. Und da wir uns nicht gleichen und jede*r

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von uns mehrere Netzwerkrollen ausfüllt, kommen Mehrperspektivität, verschiedenste Handlungslogiken und eigene Widersprüchlichkeiten hinzu. Selbst Nachhaltigkeit wird von verschiedenen Akteuren anders interpretiert. Im regionalen Innovationssystem kommt der Wirtschaftsförderung daher die wichtige Rolle zu, sich in einem Dialogprozess mit den Kooperationspartnern darüber zu einigen, was für wen, auf welche Weise, in welchem Umfang und für wie lange als Herausforderung abzuleiten und zu strukturieren ist, und wie sich dies in gemeinsame strategische E-Governance-Ausrichtungen überführen lässt. • Veränderungsrichtungen gesellschaftlich ausloten und einüben: Innovationssysteme sind hilfreich, da sie auf Kooperation und wechselseitigem Lernen aufbauen. Dies hilft bei Perspektivwechsel, auch was Kompetenzen, Prozesse, Strukturen, Transferpfade und Evaluierungsansätze betrifft. Transformation hat jedoch mit einer Komplexität zu tun, die bei ihrer Spiegelung über multiple Zukünfte und schwierige Wirkungsmessungen oft mehr Fragen als Antworten produziert. Zudem sind ihre Ziele abstrakt, was den ganzheitlichen Blick in der Praxis oft auf machbare Ausschnitte verengt und auf Pfade zurücklenkt, welche die Akteure eigentlich verlassen wollen (Burger-Menzel, 2016b, S. 48). Nehmen die Zahl, Dynamik und Überlagerung von Krisen weiter zu, erscheint es nicht länger sinnvoll, die strategische Diskussion über den kreativ zerstörerischen und den krisenbedingten Wandel getrennt zu führen und auf eine kategorienbasierte Mustererkennung zu beschränken. In der Summe muss eine Gesellschaft bei beiden Veränderungsraten beweisen, wie viel Wandel sie ertragen kann, ohne dadurch in ihrem Zusammenhalt und ihren (demokratischen) Institutionen beschädigt zu werden. Daher braucht Transformation auch strukturelle Atempausen und Verhaltensveränderungen, die bewusst reflektiert und eingeübt werden. Und sie braucht die Einigung, was für die Gesellschaft unter der Zielgröße des menschlichen Wohlbefindens heute und unter künftigen Bedingungen zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund ist die E-­Governance-­Gemeinschaft, zu der die Wirtschaftsförderung zählt, ein unverzichtbarer Nukleus von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.

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B. Burger-Menzel

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Prof. Dr. Bettina Burger-Menzel  ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wettbewerbs- und Technologiepolitik, an der Technischen Hochschule Brandenburg. Zuvor arbeitete sie auch in der Industrie und Wirtschaftsverbänden. Sie ist Alumna Senior Fellow des Centre for Global Cooperation Research der Universität Duisburg-Essen und Theodor-Heuss-Gastprofessorin am Instituto Tecnológico Autónomo de México in Mexiko-Stadt.

Business Development als Treiber für nachhaltiges Wachstum in Unternehmen

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Jens Knese

Zusammenfassung

Unternehmen müssen sich stetig an eine sich ändernde Umwelt anpassen. Dies gilt im besonderen Fall beim Auftreten von Krisen. Business Development im Sinne einer strategischen und proaktiven Weiterentwicklung ist daher für alle Unternehmen von zentraler Bedeutung, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten bzw. weiter auszubauen. Der Beitrag gibt einen guten Überblick über die einzelnen Schritte im Business Development Prozess und nennt zudem entsprechende Praxisbeispiele: Ausgehend von der Erhebung sowie Beschreibung erkannter Kundenprobleme und des Abgleichs mit der Strategie des Unternehmens werden Ansätze gezeigt, wie man sich der Lösung des Problems z. B. mit Hilfe des Business Model Canvas nähern und es anschließend bspw. mit dem Instrument des Brandscripts vermarkten kann. Auch wird auf die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI) für das Business Development eingegangen und die damit verbundenen Chancen und Risiken dargestellt.

11.1

Einleitung

Unternehmen müssen sich kontinuierlich an ihre sich ändernde und sie umgebende Umwelt anpassen: Kundenwünsche ändern sich, Rechtsrahmen werden novelliert und neue Technologien erlangen Marktreife. Stillstand ist in einem dynamischen Umfeld für ein Unternehmen Rückschritt.

J. Knese (*) KNESE Consulting, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_11

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J. Knese

Die strategische, proaktive Weiterentwicklung eines Unternehmens wird als Business Development bezeichnet. Das Spektrum des Business Development ist breit. Es reicht von der Genese neuer und innovativer Produkte und Dienstleistungen, der Exploration neuer Kundenkreise und Märkte bis zur Modifikation von Kundenreisen (Customer Journeys) oder gar der Gestaltung völlig neuer Geschäftsmodelle. Obwohl der Begriff des Business-­ Development vielfältige und durchaus auch heterogene Definition und Interpretation ­erfährt, ist ein in der Literatur häufig erkanntes und zentrales Element, dass Business Development für ein Unternehmen bedeutet Dinge zu tun, die es bislang noch nicht getan hat. Der intensivierte Verkauf bestehender Produkte und Dienstleistungen an Bestandskunden ist vor diesem Hintergrund kein Business Development. Dem Business Development ist das Streben nach Neuem, nach Innovation inhärent. Business Development ist für alle Unternehmen, in allen Unternehmensgrößen, von zentraler Bedeutung. Eine zu lange Fokussierung auf den Status Quo birgt erhebliche Gefahren von bestehenden oder neuen Wettbewerbern mit innovativen Produkten und Dienstleistungen ersetzt zu werden. Prominente Beispiele von Unternehmen, die zu wenig auf professionelles und innovatives Business Development gesetzt haben, sind Kodak oder Nokia.1 Auch wenn es sicher nicht für jedes Unternehmen explizit zutrifft, so gelten kleine und mittelständische Unternehmen im Vergleich zu großen Unternehmen als agiler und beweglicher. Sie haben in der Regel weniger Hierarchien und einen geringer ausgeprägten Bürokratieapparat. Business Development ist gerade für kleine und mittelständische Unternehmen ein probates Mittel, um im Wettbewerb zu bestehen, Nischen zu besetzen und Wachstum durch (disruptive) Innovation zu erzeugen.2 Für große, etablierte Unternehmen ist Business Development oftmals insbesondere ein Weg, um Erreichtes mit kleinen, inkrementellen Innovationsschritten zu verteidigen und kontinuierliches Wachstum zu erzeugen. Ein strategischer Kurs der zunehmend schwerer zu verfolgen ist, da sich ganze Industrien zunehmend zu so genannten Eco-Systems (Öko-Systemen) entwickeln, die die bekannten Grenzen ganzer Industrien aufheben. Die Automobilindustrie entwickelt sich zu Mobilitäts-Plattformen (vgl. zu den Veränderungen in den Geschäftsmodellen der Automobilindustrie Knese & Dallmer, 2017, S. 48 ff.). und die Zukunft der Bankenindustrie wird wohl Fintech-Plattformen gehören.3 Das ausschließliche Verfolgen von inkrementel-

 Gary P. Pisano gibt in seinem Buch „Creative Construction“ einen fundierten Überblick darüber, warum einige Unternehmen es schaffen, kontinuierlich agil und innovativ zu sein und andere Unternehmen an dieser Aufgabe scheitern. 2  Innovationen variieren in ihrem Innovationsgrad. Auch wenn sich der Innovationsgrad nicht genau messen lässt, so ist doch eine Extrapolation möglich. Man unterscheidet zwischen kleinschrittigen, inkrementellen Innovationen auf der einen Seite und großschrittigen, disruptiven Innovationen auf der anderen Seite (vgl. hierzu Knese, 2009, S. 20 ff.). 3  Ron Adner (2021) gibt in seinem Buch „Winning the Right Game“ viele Beispiele von Unternehmen und Industrien, die sich zu Eco-Systemen entwickeln und er gibt Hinweis, wie Unternehmen den Veränderungen strategisch begegnen sollten. 1

11  Business Development als Treiber für nachhaltiges Wachstum in Unternehmen

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len Innovationen wird in zunehmend mehr Industrien und Branchen nicht mehr zur Verteidigung von Marktanteilen und hinreichender Profitabilität ausreichen. Strategisches, proaktives Business Development ist sowohl für große, wie kleine und mittelständische Unternehmen gezielt plan- und steuerbar und unterscheidet sich in der Methoden- und Instrumente-Wahl in Bezug auf die Unternehmensgröße nicht.4 ­Nachfolgend werden Elemente und Bausteine eines strategischen Business Development dargestellt und erläutert, die sich dem Autor aus seiner Beratungspraxis als zentral und hilfreich für ein erfolgreiches Business Development in vielen Unternehmen erwiesen haben.

11.2 Das Kundenproblem und das Customer-Profiling Henry Ford wird der Satz zugeschrieben: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte was sie brauchen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde“. Den Kunden nach seinen Wünschen oder Bedürfnissen zu fragen, ist ein weit verbreitetes Mittel der Marktforschung in Unternehmen. Diese Form der Marktforschung eignet sich jedoch nicht, oder nur sehr eingeschränkt, für Business Development. Business Development adressiert nicht primär die Wünsche und Bedarfe der Kunden, sondern vorrangig ihre Probleme.5 Henry Ford hat sich bereits vor über 100 Jahren die Probleme der Menschen angeschaut und festgestellt, dass die Gesellschaft zunehmende Mobilität für die Teilnahme am Arbeitsmarkt voraussetzt. Pferde und Kutschen waren teuer in der Unterhaltung und eigneten sich nicht zur Lösung des Problems. Erst das in Fließbandfertigung hergestellte Automobil war die Lösung für den Massenmarkt und wurde zum Grundstein enormen Wachstums und ökonomischen Erfolgs für das Unternehmen Ford. Am Anfang eines strukturierten Business Development stehen die Problemerkennung und die Problemdefinition (vgl. zur Definition von Kundenproblemen im Rahmen des Business Development Knese, 2021, S.  122  ff.). Kundenprobleme lassen sich auf zwei Arten in der Primärerhebung eruieren: durch Befragung und durch Beobachtung. Unternehmen rekurrieren vorrangig auf die Erhebungsform der Befragung, da diese oftmals kostengünstig ist, einfach in der Breite zu skalieren ist und zudem häufig schnell Resultate liefert. Insbesondere bei der Erhebungsform der Befragung können allerdings schwerwiegende Fehler gemacht werden. Wir wissen aus zahlreichen Beratungsprojekten, dass Menschen nicht immer die Wahrheit in Befragungen kundtun.6  Eine gute Einführung in die gängigsten Instrumente und Methoden im Business Development findet sich bei Kohne (2019). 5  Blatt & Sauvonnet (2017) verdeutlichen in ihrem Buch „Wo ist das Problem?“, wie wichtig die Orientierung am Kundenproblem ist, um nachhaltiges und ertragreiches Wachstum zu erzielen. Die Autoren geben zudem einen guten Überblick darüber, wie mit agilen Methoden, z.  B.  Design-­ Thinking und SCRUM, sicher Kundenprobleme adressiert und gelöst werden können. 6  Der Autor ist Geschäftsführer der Knese Consulting und hat Unternehmen beim Erkennen und Definieren von Kundenproblemen unterstützt. Aus Gründen des Datenschutzes werden hier keine Unternehmen namentlich genannt. 4

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Hierzu ein Exkurs: Ein Unternehmen des Lebensmittelhandels hat Untersuchungen zum Einkaufsverhalten im Lebensmittelbereich durchgeführt. Bei den Befragungen postulierten die Kunden das Problem, dass es aus Ihrer Sicht zu wenig Bio-Lebensmittel im Angebot gibt. Die Supermärkte der Kette änderten das Angebot entsprechend und erlebten in der Konsequenz einen ökonomischen Reinfall. Die Kunden kauften die offerierte ­Bio-­Ware nicht, die Kundenfrequenz sank und die Bon-Höhe pro Einkauf reduzierte sich im Durchschnitt signifikant. Das Unternehmen adressierte ein postuliertes, aber in der Realität nicht oder nur bedingt existentes Kundenproblem. Ein von Kunden genanntes Problem, das eigentlich nicht existiert, ist für das Business Development wertlos. Produkte und Dienstleistungen, die nicht existierende Kundenprobleme adressieren, werden am Markt scheitern.7 Bei der Beobachtung von Kunden, insbesondere dann, wenn diese nicht wissen, dass sie beobachtet werden, kann ein ehrliches Verhalten exploriert werden. Das Unternehmen Amazon ist dafür bekannt Kundenprobleme durch Beobachtung zu erkennen. Ein Beispiel für ein erfolgreich gelöstes Kundenproblem liefert das Produkt Amazon Kindle. Viele kannten das Problem: Auf einer Reise, einer Zugfahrt oder einfach nur im Schwimmbad möchte man ein gutes Buch lesen. Das Problem war, dass Bücher häufig sperrig im Format sind, dass sich ein neu angefangenes Buch als uninteressant herausstellt und man kein weiteres zur Auswahl mitgenommen hat. Oder, dass es sich bei fremdsprachigen Büchern als lästig erweist, gleichzeitig noch ein Wörterbuch mit sich zu führen. Amazon hat diese Probleme erkannt und adressiert. Der E-Reader Kindle löst alle genannten Kundenpro­ bleme und wurde zum Verkaufserfolg.8 Für den Business-Development Manager empfiehlt sich die permanente und fortgeführte Beobachtung von Kunden in definierten Zielgruppen, um früh- und rechtzeitig das Entstehen von (neuen) Kundenproblemen zu erkennen.9 Dies kann sehr gut mithilfe von unterstützenden Instrumenten, wie der Empathie-Karte, dem Customer-Profiling oder der Ecosystem Strategy Map erfolgen.10 Alle genannten Instrumente ordnen vorgefundene Probleme Kundengruppen zu und erweitern diese um weiterreichende Informationen etwa zu Demografie, Medienkonsum oder Motivationsmustern.

 Viele Techniken zur Erlangung von Kundeneinblicken, zu denen auch das Erkennen und die Definition von Kundenproblemen gehören, finden sich bei Osterwalder et al. (2015, S. 106 ff.). 8  Vgl. Pisano (2019, S. 8 ff.). Pisano stellt in seinem Buch „Creative Construction“ mehrere Beispiele vor, wie das Unternehmen Amazon durch gezielte Kundenproblemorientierung signifikantes Wachstum erreicht hat. 9  Rita McGrath (2019) zeigt in ihrem Buch „Seeing Around Corners“ viele Beispiele von Unternehmen auf, die die Fähigkeit zum Erkennen und adäquaten Adressieren von Kundenproblemen sträflich vernachlässigt haben. Sie zeigt zudem Wege auf, um die notwendigen Fähigkeiten zum Erkennen und Adressieren von Kundenproblemen im Unternehmen zu etablieren. 10  Kawohl & Krechting (2022, S. 194 ff.), geben einen guten Überblick, wie sich unterschiedliche Werkzeuge operativ einsetzen lassen. 7

11  Business Development als Treiber für nachhaltiges Wachstum in Unternehmen

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11.3 Das Kundenproblem und die Vision, Mission und Unternehmensstrategie Ist ein Kundenproblem sicher erkannt und erfolgreich validiert, so gilt es für den Business-­ Development Manager abzuklären, ob sich das Unternehmen mit dem vorgefundenen Kundenproblem beschäftigen möchte, ob es das Problem adressieren und lösen will? Dies geschieht dadurch, dass Rahmen und Inhalt der Unternehmensvision, der Unternehmensmission und der Unternehmensstrategie dahingehend geprüft werden, ob das erkannte Kundenproblem in den festgelegten, strategischen Betätigungsrahmen des Unternehmens verortet werden kann.11 Zwingend notwendig ist vor diesem Hintergrund, dass ein Unternehmen eine formulierte Unternehmensstrategie besitzt. Dem Business Development Manager obliegt die Pflicht, sich mit der Unternehmensstrategie aktiv auseinanderzusetzen und bereits frühzeitig adäquate Weichen im Business Development zu stellen, z. B. bei der Suchfeldbestimmung für Innovationen, damit es keine Zielkonflikte mit der Unternehmensstrategie geben kann und es zu keiner Fehlallokation von Ressourcen kommt. Da das Business Development zentral für die Entwicklung des Unternehmens steht, ist der Business Development Manager häufig und zu Recht auch an der Entwicklung der Unternehmensstrategie beteiligt.12

11.4 Das Geschäftsmodell als Instrument zur Entwicklung von Lösungsansätzen für Kundenprobleme Ist ein Kundenproblem sicher beschrieben worden und ist die Adressierung des Kundenproblems in Kongruenz mit der Unternehmensstrategie, der Vision und Mission eines Unternehmens, obliegt es dem Business Development eine Lösung für das Problem (mit-) zu entwickeln. Hierfür kann das Business Development auf viele etablierte und in der Praxis erprobte Werkzeuge und Modelle zurückgreifen. Exemplarisch seien das Business Model Canvas, der Lean-Canvas oder die Customer Journey zu nennen. Insbesondere das Business Model Canvas, nach Osterwalder & Pigneur, hat sich in der Praxis bewährt, da es einen holistischen Lösungsansatz postuliert, Wechselwirkungen und -beziehungen erkennen lässt und doch schnell und einfach einzusetzen ist (vgl. Osterwalder & Pigneur, 2010). Das Business Model Canvas hat neun zu befüllende Kategorien und Inhaltsdimensionen, die es dem Business Development erlauben, einen bereits sehr ­detaillierten und gut strukturierten Entwurf für ein neues oder modifiziertes Geschäftsmodell zu entwickeln, dass das zuvor definierte Kundenproblem adressiert und löst.  Eine gute Einführung in die Werkzeuge und Methoden zur Erstellung von Unternehmensstrategien findet sich bei Wunder (2016). 12  Oberholzer-Gee (2021) verdeutlicht in seinem Buch „Better Simpler Strategy“ wie Elemente des Business Development im Rahmen der Erstellung der Unternehmensstrategie zur nachhaltigen Performanceentwicklung beitragen können. 11

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Zentrale Inhaltsdimension im Business Model Canvas ist das Wertangebot. Das Wertangebot steht dem Kundenproblem gegenüber, es ist die Lösung des Kundenproblems. In dieser Dimension des Canvas gilt es, konkrete Produkte oder Dienstleistungen zu finden und zu definieren, die das erkannte Problem lösen. An der Kundenschnittstelle folgen die Dimensionen Kundensegmente, Vertriebskanäle und Kundenbeziehungen. Hier gilt es für den Business Development Manger festzulegen, über welche Vertriebskanäle die Produkte und Dienstleistungen an welche Kundengruppen gelangen. Die Kundenbeziehungen umfassen alle Aspekte des CRM, des Customer Relationship Management: Kundengewinnung, Kundenbindung und Kundenrückgewinnung. In der Dimension Schlüsselpartnerschaften gilt es für den Business Development Manager unternehmensexterne Partner zu identifizieren, die für das neue Gechäftsmodell existenziell wichtig sind und einen wichtigen Beitrag für die Erstellung des Wertangebots liefern. Die Dimension Schlüsselaktivitäten muss Auskünfte beinhalten, wie das Wertangebot erstellt wird und die Dimension Schlüsselressourcen, welche Ressourcen, etwa Patente oder bestimmte IT-Algorithmen, dafür benötigt werden. Die beiden finalen Dimensionen Kostenstruktur und Einnahmequellen geben Auskunft über die monetären Zu- und Abflüsse im Geschäftsmodell. Sie liefern somit Ausweis über die Profitabilität des neuen oder modifizierten Geschäftsmodells.

11.5 Das Brandscript als Instrument zur Vermarktung der Lösung von Kundenproblemen Kein Produkt, keine Dienstleistung kommt ohne adäquates Marketing für den Markterfolg aus. Für das Business Development stehen vielfältige Instrumente zur Verfügung, um das zuvor erarbeitete Geschäftsmodell in hinreichender Form gegenüber der Zielgruppe zu vermitteln. Einige Dimensionen des Business Model Canvas (Kundensegmente, Vertriebskanäle und Kundenbeziehungen) liefern bereits eine gute Grundlage, sie sind jedoch für eine erfolgreiche Marketingstrategie im Rahmen des Business Development noch nicht ausreichend holistisch und spezifisch. Das von Donald Miller entwickelte Brandscript kann hier das Instrument der Wahl sein (vgl. Miller, 2017, S. 20 ff.). Ähnlich strukturiert im plakativen Aufbau wie das Business Model Canvas, kann hier, in nur einem Modell, in nur einer Vorlage, eine konkrete Vermarktungsstrategie für das neue Produkt, die neue Dienstleistung entwickelt werden. Das Brandscript baut sich wie das Drehbuch eines höchst erfolgreichen Hollywood Kinofilms auf. Es gilt acht Schlüsseldimensionen zu betrachten und zu bearbeiten: (1) Eine Person, (2) hat ein Problem und (3) trifft einen Guide, (4) der ihm einen Plan gibt, (5) ihn zur Handlung ermuntert, (6) was zur Problemlösung führt und mithin im ­Erfolg mündet, (7) ein Scheitern verhindert und letztendlich (8) zur Transformation der Person oder seiner Lage führt. Das Brandscript baut auf den zuvor dargestellten Instrumenten Kundenproblem, Customer-­Profiling und Business Model Canvas auf und ergänzt diese. Das erkannte und verifizierte Kundenproblem begleitet den Business Developer auch hier und wird somit

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zum „roten Faden“ des gesamten Business Development Prozesses. Das Brandscript eignet sich zudem hervorragend, bestehende Marketinginstrumente, z. B. Webseiten, kritisch zu analysieren und anschließend zu optimieren.

11.6 Künstliche Intelligenz als Chance und Risiko für das Business Development in Unternehmen Künstliche Intelligenz (KI) oder auch Machine-Learning sind Themen, die heute für das Business Development von enormer Bedeutung sind. Viele Prognosen bescheinigen dem Einsatz künstlicher Intelligenz das größte Potenzial für die Genese neuer Produkte und Dienstleistungen. Künstliche Intelligenz basiert auf drei wichtigen Komponenten: Daten, Rechnerkapazität und Algorithmen. Daten in ausreichender Menge und in zur weiteren Verarbeitung hinreichender Qualität, waren in der Vergangenheit ein knappes Gut. Heute liegen Daten in vielen Unternehmen in großer Menge und guter Qualität vor. Rechnerkapazität, die in der Lage ist, große Datenmengen zu verarbeiten, war in der Vergangenheit ebenfalls ein knappes und vor allem teures Gut. Heute stellt Rechnerkapazität im Regelfall keine Restriktion mehr dar. Algorithmen, die basierend auf den zur Verfügung stehenden Daten Vorhersagen entwickeln, sind in ihrer Grundstruktur entwickelt und benötigen lediglich der Adaption von KI-Experten. Auch dies ist heute keine unüberwindliche Hürde mehr.13 Aufgabe des Business Development ist es, die Möglichkeiten der KI gezielt für neue Produkte und Dienstleistungen zur Lösung von Kundenproblemen in funktionsfähige Geschäftsmodelle zu überführen. Das Risiko, dass insbesondere mittelständische Unternehmen das Potenzial von KI unterschätzen, sie kein adäquates Data-Warehouse Management haben und zudem die KI-Expertise der IT fehlt, ist groß. Hier gilt es für das Business Development Sorge dafür zu tragen, dass die notwendigen Strukturen zum Einsatz von KI etabliert werden, um auf deren Basis die Geschäftsentwicklung zu fördern. Dies schließt auch die Entscheidung zum In- bzw. Outsourcing von IT-Strukturen und IT-­Dienstleistungen ein. In großen Unternehmen sind die Ressourcen Daten, Rechnerkapazität und IT-Expertise häufig vorhanden. Für das Business Development ist hier die primäre Herausforderung das Nutzen dieser Grundlagen zur Schöpfung neuer, innovativer Produkte und Dienstleistungen. Für große, wie für kleine und mittelständische Unternehmen gilt, bestehende Geschäftsmodelle an die digitale Transformation anzupassen. Ein reines Digitalisieren bestehender Prozesse und Strukturen reicht jedoch nicht aus. Das Business Development muss „beyond digital“ Denken: Das Unternehmen der Zukunft ist digital, Kundenproblemorientiert und Teil eines Eco-Systems (vgl. zum Begriff des „beyond digital“ Leinwand & Mani, 2022, S. 1 ff.). 13  Vgl. Lee (2018), S. 104 ff. Lee gibt in seinem Buch „AI Super-Powers“ einen fundierten Überblick über die Entwicklungsschritte von Künstlicher Intelligenz und darüber, was Unternehmen benötigen, um KI im Rahmen des Business Development gezielt einzusetzen.

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J. Knese

11.7 Implikationen für die Wirtschaftsförderung Unter Wirtschaftsförderung werden die Anstrengungen verstanden, die insbesondere öffentliche Organe betreiben, um die Wirtschaft in einer Region zu intensivieren oder überhaupt zu etablieren. Ziel einer Wirtschaftsförderung muss es sein, insbesondere Unternehmen mit innovativen und zukunftsfesten Geschäftsmodellen anzusiedeln bzw. diese zu fördern. Zwingend notwendig für eine nachhaltige und zukunftsorientierte Wirtschaftsförderung ist es, dass die Organe der Wirtschaftsförderung und der in ihnen handelnden Personen, genug Expertise besitzen, um fundiertes Urteil über die Zukunftsfähigkeit von Geschäftsmodellen geben zu können und Investitionsentscheidungen zu begründen. Den Methoden- und Instrumentenkasten des Business Development sollte daher nicht nur in den Unternehmen sondern auch in den Organen der Wirtschaftsförderung Beachtung geschenkt werden, damit Finanzmittel in nachhaltige Investitionen fließen.

11.8 Fazit Um ihre langfristige Existenz zu sichern, müssen Unternehmen wettbewerbsfähig werden, sein und bleiben. Um dies zu erreichen, kommt es sowohl bei kurzfristigen Veränderungen ihrer Umwelt auf ihre Reaktionsfähigkeit als auch mit Blick auf die kontinuierliche Entwicklung ihrer Umwelt auf ihre Fähigkeit des proaktiven Agierens an. Zentrales Element ist hierfür das Business Development, welches Unternehmen befähigt Dinge zu tun, die es bislang noch nicht getan hat. Der Beitrag zeigt auf, dass das damit verbundene, inhärente Streben nach Innovationen für Unternehmen plan- und steuerbar ist. In der Praxis hat sich bewiesen, wie wichtig für das Business Development in Unternehmen das früh- und rechtzeitige Erkennen von (neuen) Kundenproblemen ist. Denn dies ist nicht nur der zentrale Ausgangspunkt für die Erschaffung von Innovationen, sondern ist gleichzeitig durch die Lösung des Kundenproblems auch der Nukleus von neuen und erfolgreichen Geschäftsmodellen. Für die Erarbeitung des Lösungsansatzes kann hierbei auf zahlreiche, in der Praxis erprobte Modelle zurückgegriffen werden. Dieser bestehende Methoden- und Instrumentenkasten ist die zentrale Verbindung der regionalen Wirtschaftsförderung mit dem unternehmerischen Business Development. Beherrscht die Wirtschaftsförderung den sicheren Umgang mit diesen Werkzeugen und besitzt ausreichend Expertise in der Analyse von Markt- und Zukunftstrends, kann sie erstens in der Bestandspflege Hilfestellungen für die unternehmerische Weiterentwicklung anbieten, zweitens bei der Ansiedlung neuer Unternehmen deren Zukunftsfähigkeit besser beurteilen und drittens Neugründungen mit innovativen Geschäftsmodellen gezielter fördern. Gleichzeitig kann sie diese Kompetenz nutzen, um ihre eigenen Organisationsstrukturen und Dienstleistungen weiterzuentwickeln.

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Literatur Adner, R. (2021). Winning the right game – How to disrupt, defend, and deliver in a changing world. MIT Press. Blatt, M., & Sauvonnet, E. (Hrsg.). (2017). Wo ist das Problem? – Mit Design-Thinking Innovationen entwickeln und umsetzen. Franz Vahlen. Kawohl, J., & Krechting, D. (2022). Ecosystemize your business – How to succeed in the new economy of collaboration. MVB. Knese, J. (2009). Schlüsseldeterminanten zur Genese disruptiver Innovationen in Unternehmen. Hampp. Knese, J. (2021). Learning from the Best – Managementwissen kompakt für Strategie, Agilität und Innovation. Haufe. Knese, J., & Dallmer, J.-D. (2017, Juli/August). An der Spitze bleiben – Wie digitale Geschäftsmodelle Monopole erschaffen – und Unternehmen strategisch reagieren können. Wissenschaftsmanagement. Kohne, A. (2019). Business Development: Kundenorientierte Geschäftsentwicklung für erfolgreiche Unternehmen. Springer Vieweg. Lee, K.-F. (2018). AI superpowers – China, silicon valley, and the new world order. Houghton Mifflin Harcourt. Leinwand, P., & Mani, M. M. (2022). Beyond digital – How great leaders transform their organizations and shape the future. Harvard Business Review Press. McGrath, R. (2019). Seeing around corners. Houghton Mifflin Harcourt. Miller, D. (2017). Building a brand strategy – Clarify your message so customers will listen. Harper Collins Leadership. Oberholzer-Gee, F. (2021). Better simpler strategy  – A value-based guide to exceptional performance. Harvard Business Review Press. Osterwalder, A., & Pigneur, Y. (2010). Business Model Generation – Ein Handbuch für Visionäre, Spielveränderer und Herausforderer. Campus. Osterwalder, A., Pigneur, Y., Bernarda, G., & Smith, A. (2015). Value proposition design. Campus. Pisano, G. P. (2019). Creative construction – The DNA of sustained innovation. Publicity Affairs. Wunder, T. (2016). Essentials of strategic management  – Effective formulation and execution of strategy. Schäffer-Poeschl.

Dr. rer. pol. Jens Knese,  MBA, ist Unternehmensberater, Speaker und Publizist. Der Gründer und Inhaber der Knese Consulting berät seit vielen Jahren Organisationen, Manager und Führungskräfte, vom Mittelstand bis zum Dax-Konzern zu den Themen Strategie, Agilität und Innovation.

Krisenkommunikation – Kommunikation in der Krise

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Tim Schönborn und Beatrix Sieben

Zusammenfassung

Krisen stellen die Kommunikation einer Organisation vor besondere Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, sich professionell auf diese besonderen Situationen vorzubereiten. Solch eine Vorbereitung lässt sich auch als Prävention bezeichnen, denn sie ist dann besonders wirkungsvoll, wenn eine Krise nicht als Überraschung kommt. Die dauerhafte Beobachtung von risikoträchtigen Themenfeldern ist ebenso nützlich wie eine offene Unternehmenskultur, die Prozesse etabliert und Kommunikationswerkzeuge bereitstellt. Als einen integralen Bestandteil des Krisenmanagements verantwortet die Organisation eine pro-aktive Kommunikation und nutzt interne und externe Kommunikationsmittel, um relevante Informationen sicherzustellen. Ein kompetentes Krisenmanagement behält die Fäden in der Hand, wirkt gefasst und kompetent und trägt dazu bei, die Situation zu deeskalieren. Die Organisation sollte sicherstellen, während des gesamten Prozesses als die zentrale Informationsquelle wahrgenommen zu werden. Schlechte Kommunikation schadet der Organisation und verlängert die Krise. Erfolgreiche Krisenkommunikation kann hingegen Imageschäden vermeiden oder abmildern. Hier können auch kommunale Wirtschaftsförderungsgesellschaften ihre Expertise einbringen und Unterstützung anbieten.

T. Schönborn (*) Hochschule Trier – Umwelt-Campus Birkenfeld, Birkenfeld, Deutschland E-Mail: [email protected] B. Sieben Institute for Social & Sustainable Oikonomics Koblenz, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_12

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T. Schönborn und B. Sieben

12.1 Was ist das Besondere einer Krise? Die Ursachen einer Krise können innerhalb oder außerhalb einer Organisation liegen. Man spricht von einer endogenen Krise, wenn sie innerhalb des Einflussbereiches einer Organisation liegen (z. B. VWs Dieselskandal) und von einer exogenen Krise, wenn die Störung aus dem Umfeld stammt und sich damit einer direkten Behebung durch die betroffene Organisation entzieht (z.  B.  Covid-19, Finanzmarktkrise oder Klimawandel) (vgl. Held et al., 2014, S. 242 ff.). Nicht jedes Problem verdient die Bezeichnung Krise. Zu einer klassischen Krise gehört ein schwerwiegendes Vorkommnis („Major Incident“), dessen Folgen länger als nur ein paar Stunden andauern. Laut DIN CEN/TS 17091 ist eine Krise ein „neuartiges oder außergewöhnliches Ereignis bzw. Lage, von dem/der eine Bedrohung für eine Organisation ausgeht und das/die eine strategische, anpassungsfähige und rechtzeitige Reaktion erfordert, um die Funktionsfähigkeit und Unversehrtheit der Organisation zu erhalten“ (DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 8). Unter einer Krise versteht das Institute for Crisis Management „eine erhebliche Zerrüttung, die sich negativ auf das Geschäft auswirkt und zu einer ausgedehnten Berichterstattung in den Medien anregt“ (McCusker, 2005, S. 311). Diese Definition verdeutlicht, dass eine echte Krise stets auch über die betroffene Organisation hinauswirkt und wahrgenommen wird. Krisen rücken Organisationen oft regelrecht ins Rampenlicht. Das macht die Krisenkommunikation als Teil des Krisenmanagements so wichtig. Fehler in der Krisenkommunikation können die Reputation einer Organisation, die man über Jahre aufgebaut hat, überraschend schnell ruinieren. „Es ist leider eine psychologische Wahrheit, dass Negatives länger im Gedächtnis bleibt als Positives“ (Puttenat, 2009, S. 13). It takes 20 years to build a reputation and 5 minutes to ruin it. If you think about that you’ll do things differently. (Warren Buffet)

Wie bedrohlich eine Krisensituation für eine Organisation wird, hängt oft auch von der Größe des medialen Echos ab. Hätte Greenpeace beispielsweise die geplante Versenkung der Ölplattform Brent Spar nicht ins Scheinwerferlicht der medialen Aufmerksamkeit gerückt, hätte Shell keinen medialen „Shitstorm“ erlebt und vermutlich nicht einmal von einer Krise gesprochen. Die eigene Kommunikation hat einen enormen Einfluss auf die Außenwahrnehmung der Organisation vor, während und nach der Krise. Wie traditionelle Medien und interaktive Medien z. B. Social Media Akteure auf eine Krisensituation reagieren, entwickelt sich nicht zufällig, sondern hängt eng mit der eigenen Krisenkommunikation zusammen. „Unternehmenskrisen sind immer und vor allem auch Kommunikationskrisen“ (Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 50).

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Abb. 12.1  Modell der vier Krisenphasen. (Roselieb, 1999, S. 5)

Vier Phasen prägen eine typische Krise (vgl. Roselieb, 1999): 1. Potenzielle Krise: Die Krise wird noch nicht als Krise erkannt. Intern und öffentlich spricht noch niemand über das Thema. 2. Latente Krise: Die ersten Anzeichen einer Krise werden sichtbar. In der breiten Öffentlichkeit und in den meisten Bereichen der eigenen Organisation wird die Krise noch nicht wahrgenommen. 3. Akute Krise: Die Krise ist unübersehbar. Die Medien berichten intensiv. Die Bewältigung der Krise steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der ganzen Organisation. 4. Nach der Krise: Der Höhepunkt der Krise ist überschritten. Die Normalität kehrt zurück. Jetzt gilt es, die Krise und den eigenen Umgang mit dieser Situation zu analysieren (vgl. Puttenat, 2009, S. 35). Roselieb stellt diese Phasen als Kreislauf dar (vgl. Abb. 12.1). Jede Phase im Modell von Roselieb stellt die Krisenkommunikation vor besondere Herausforderungen. Auch wenn eine Krise noch nicht am Horizont zu sehen ist, gilt es immer wachsam zu sein und sich auf mögliche Szenarien vorzubereiten. So wie man in ein Auto den Airbag nicht erst einbaut, wenn man bei einer Fahrt in eine brenzlige Situation kommt, so gilt es, die grundlegenden Vorbereitungen auch für ein effektives Krisenmanagement vor der eigentlichen Krise zu treffen. „Die Krisenkommunikationsplanung ist ein wesentlicher Bestandteil des Krisenplans. Er sieht inhaltlich vor, dass mögliche Krisenfelder und Krisenursachen abgegrenzt und damit prophylaktisch analysiert werden. Zugleich legt er aber auch fest, welche organisatorischen Maßnahmen beim Erkennen von latenten Krisenursachen zu treffen sind, sowie insbesondere, wie organisatorisch, inhaltlich und auch bezogen auf die Kommunikation nach einem Kriseneintritt zu verfahren ist“ (Töpfer, 2008, S. 378).

12.1.1 Anforderungen an die Krisenkommunikation Betrachtet man das angestrebte Ziel für den Kommunikationsaufwand, dann ist es sinnvoll das Vertrauen in die Organisation, die Marke, die Verantwortlichen oder die Akteure zu erhalten. Das Image darf angekratzt aber nicht zerstört werden. Eine Grundhaltung von

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Empathie für Betroffene und Geschädigte scheint also unbestreitbar notwendig. Dies geht einher mit der Anerkennung, dass es sich um eine Krise handelt, was verbietet, im ­nächsten Moment zur Tagesordnung übergehen zu wollen oder die Sache schönzureden. Auch für die Anerkennung der Krise wird Empathie benötigt, denn möglicherweise hat die Organisation selbst oder der Vorstand und das Managementteam bereits eine Risikobetrachtung gemacht. Dies trifft bei internen Krisen häufiger zu, denn natürlich passieren Fehler: Handeln setzt immer ein gewisses Maß an Risiken frei. Empathie ermöglicht einen Perspektivwechsel und ermöglicht Dialog, wo sonst nur Streit, Unverständnis oder Abwehr erfolgt. „In Krisen werden Fragen darüber, was richtig und was falsch sei, oft ideologisiert. Es geht nicht mehr um ein Abwägen von Gründen, pro und kontra, sondern um die Frage, zu welchem Lager man gehört. Differenzierte Positionen wie etwa die, die sowohl den Gesundheitsschutz als auch die ökonomische, soziale und kulturelle Vitalität der Gesamtgesellschaft im Auge haben, werden schnell diffamiert“ (Rümelin & Weidenfeld, 2021, S. 90, 174 ff.). Im Gegensatz zum Mitgefühl ist Empathie eine erlernbare Fähigkeit, die wir ein Leben lang weiterentwickeln können. Wichtig ist ein permanentes Monitoring der Medien, wie und wo kritisch über die eigene Organisation und relevante Themen geschrieben wird. Heute helfen digitale Tools dabei, das Netz rund um die Uhr zu beobachten: Wo taucht unsere Organisation in den Nachrichten auf? Gibt es Probleme, über die sich unzufriedene Geschäftspartner oder Kunden auslassen? Auch eine sich deutlich verschlechternde Stimmung in den eigenen Reihen kann ein Hinweis auf eine bevorstehende Krise sein (vgl. Puttenat, 2009, S. 79). Sobald erste Zeichen der Krise sichtbar werden, z. B. alarmierende Anfragen von Medien oder auffällig kritische Postings in den sozialen Medien, sollte die betroffene Organisation intern und extern alle Informationen einholen, die sie bekommen kann (vgl. Puttenat, 2009, S.  160). Organisationen einer bestimmten Größe, die international tätig sind und unterschiedliche Sparten managen, tun gut daran, ein ISSUE Management zu installieren. Diese Stabsstelle kann als ein interner Seismograf funktionieren und agiert darüber hinaus als Schnittstelle zwischen Abteilungen, Vorstand und den Ansprechpartnern der PR-Abteilungen. Hier entsteht über die Jahre eine große Prozesskompetenz, von der die gesamte Organisation profitiert. Ein funktionierendes ISSUE Management wirkt wie der Fels in der Brandung einer jeden Krise, wenn sich Fachbereiche mit ihren Anliegen, Nöten und Fragen schnelle und kompetente Unterstützung holen können.

12.1.2 Kommunikationsteam im Krisenstab In der akuten Krisenphase muss die Organisation handlungsfähig bleiben. Um die Krise möglichst effektiv zu bekämpfen, richtet man einen Krisenstab ein. Ein Krisenstab sollte mit (hochrangigen) Führungskräften gebildet werden oder mit der Befugnis des Vorstands ausgestattet sein, weil dies die strategische Sicht und die Befugnis zu Entscheidungen in Krisenlagen und zur Übernahme der Führungsfunktion sicherstellt. In den Stab sollten

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Personen berufen werden, die das geeignete Maß an Autorität, Erfahrung und Fähigkeiten besitzen (vgl. DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 21). Die Krisenkommunikation sollte personell strikt getrennt werden von der Krisenbewältigung im engeren Sinn. Ein Feuerwehrmann kann nicht konzentriert gegen das Feuer kämpfen und sich gleichzeitig voll auf die Kommunikation über den Brand fokussieren. Ein Kommunikationsteam kann nur dann effektiv agieren, wenn es über die aktuellen Entwicklungen lückenlos informiert ist. Daher benötigen Organisationen Strukturen, die der eigentlichen Krisenbewältigung und gleichzeitig der Krisenkommunikation ihre Arbeit ermöglichen. Die Leitung des Krisenstabes übernimmt das Krisenmanagement. In diesem Leitungsteam laufen die Fäden zusammen und die Verantwortlichen wissen, woran die einzelnen Personen arbeiten. Im Krisenmanagement sind sowohl Vertreter der eigentlichen Krisenbewältigung als auch der Krisenkommunikation vertreten. Als wertvoll erweist sich die schnelle Einrichtung eines Krisenstabes, der so hochrangig besetzt ist, dass er alle notwendigen Entscheidungen ohne zeitraubende Abstimmungsprozesse treffen kann. Teil dieses Krisenstabes ist die Leitung der Krisenkommunikation. Diese Person hält Kontakt zum Kommunikationsteam, damit auf den verschiedenen Kanälen zeitnah kommuniziert werden kann. Das Kommunikationsteam übernimmt die Information der betroffenen Stakeholder. Neben dieser internen Anbindung an den Krisenstab benötigt das Kommunikationsteam Personen, die die mediale Berichterstattung über die Krise und die aktuellen Entwicklungen auf den Social-Media-Kanälen beobachten. Insbesondere die Führung des Krisenstabs muss sich – auch in der größten Hektik – stets um einen konstruktiven, motivierenden Ton bemühen. Mitwirkende anzupflaumen, weil etwas nicht schnell genug geht, verschlimmert nur die Situation. Der Krisenstab darf selber nie Teil der Krise werden. Es gilt, den Personen, die sich aktiv um die Bewältigung der Krise und die Krisenkommunikation kümmern, den Rücken freizuhalten und ein möglichst störungsfreies Arbeiten zu ermöglichen. Das kann im Einzelfall auch einmal bedeuten, einem Manager, der mitten in der Krise sofort mit einem Techniker sprechen möchte, klar zu vermitteln, dass diesem Wunsch gerade nicht entsprochen werden kann. Mit einem kritischen Blick in Richtung der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 erscheinen nicht nur Erreichbarkeit des Krisenstabs, schnelle Kommunikation und kompetente Entscheidungen unerlässlich. Denn mangelnde Kommunikation oder Fehlentscheidungen können zu Todesopfern führen. Bei der Einrichtung eines Krisenstabes gilt es zu bedenken, dass Krisen weder Feierabend noch Wochenende kennen. Bei besonders heiklen Krisen muss daher ein Schichtdienst eingerichtet werden, der mit zeitlichen Überlappungen arbeitet, damit ausreichend Zeit für die Besprechung der aktuellen Entwicklungen besteht. Unbedingt vermeiden sollte man, dass ein personell zu dünn besetztes Krisenteam pausenlos Tag und Nacht durcharbeitet. Ganz abgesehen von arbeitsrechtlichen Konsequenzen gilt: Je müder die Mitwirkenden werden, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit für Fehler. Daher müssen Personalverantwortliche auch in der Krise dafür sorgen, dass ausreichend Zeit zur Regeneration erhalten bleibt. Dies erfordert eine klare Führung.

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Abb. 12.2  Die drei Teams des Krisenstabes

Neben dem Kernteam, das sich inhaltlich um die Bewältigung der Krise kümmert und dem Kommunikationsteam, das die Krisenkommunikation gestaltet, empfiehlt sich die Einrichtung eines Support-Teams, dessen Aufgabe darin besteht, die Arbeit der anderen Teams zu unterstützen (vgl. Abb. 12.2). Dies beginnt bei der Versorgung der Mitarbeitenden mit Speisen und Getränken und endet je nach Krise bei den unterschiedlichsten Aktivitäten, die die anderen Teams entlasten (z. B. das Einrichten eines Raumes für eine improvisierte Pressekonferenz). Als wichtig erweist sich in der Praxis eine funktionierende Telefonzentrale und ein professionelles E-Mail-Management. Die schiere Zahl an Anfragen an den Krisenstab kann seine Funktionstüchtigkeit gefährden. Daher muss der Krisenstab einerseits vor unwichtigen Kommunikationen befreit werden, gleichzeitig muss man aber gewährleisten, dass wichtige Anrufe und Mails die zuständigen Personen zuverlässig erreichen. Wie kann man das sicherstellen? Das Krisenmanagement braucht eine freie Leitung zur Geschäftsführung  – quasi einen „heißen Draht“ oder ein „rotes Telefon“.1 Das Einrichten einer Hotline nach Außen kann sinnvoll sein, wenn mit einer erhöhten Nachfrage gerechnet oder länger anhaltend psychologische Betreuung notwendig wird. Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal gab es Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige, die traumatischen Ereignisse in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 zu bewältigen. Knapp ein Jahr später sind diese Angebote immer noch aktiv.

 Erfahrene Krisenmanager empfehlen als „heißen Draht“ ein Telefon, das neben einem akustischen Klingelton auch einen deutlich sichtbaren visuellen Hinweis bei eingehenden Anrufen gibt, damit der „heiße Draht“ im Ernstfall nicht überhört wird. 1

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12.2 Krisenkommunikation „Seit 1984 ist die Zahl der kommunikativen Krisenfälle, auf die Unternehmen und politische Organisationen jährlich reagieren müssen, im deutschsprachigen Raum um knapp 75 Prozent gestiegen – von angeblich umweltverseuchenden Ölplattformen wie der von Shell und Esso in der Nordsee betriebenen Brent Spar über Autos, die bei Testfahrten umkippen wie die A-Klasse von Mercedes, bis hin zu Hackerangriffen auf sensible Informationen wie der auf die Kreditkartendaten der US-Großbank Citigroup vor einem Jahr.“ (Knauß, 2012)

Unter Krisenkommunikation versteht man alle Aktivitäten, die von einer Organisation ergriffen werden, um während einer Krise intern und extern zu kommunizieren. Dazu zählt die Fähigkeit, eine konsistente Botschaft zu entwickeln und zu vermitteln (DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 30). „Krisen sind Ereignisse, die ein erhebliches öffentliches und mediales Interesse hervorrufen und sich negativ auf das Ansehen der Organisation auswirken können. Berichterstattung in den Medien und sozialen Netzwerken könnte in schädigender Weise inakkurat sein und kann eine Krise möglicherweise schnell und unnötig eskalieren lassen“ (DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 11). Damit die Kommunikation rasch die richtigen Maßnahmen ergreifen kann, muss das Risikomanagement oder ISSUE Management eng mit der Kommunikation zusammenarbeiten. Nur, wenn die Kommunikationsverantwortlichen wissen, welche Risiken vorhanden sind und welches Eskalationspotenzial droht, kann dieser Bereich adäquat agieren. Je enger die Verzahnung zwischen Krisenmanagement und Unternehmenskommunikation, desto effektiver kann eine Organisation mit Krisen umgehen (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 29). Für die Kommunikationsabteilung stellen Krisen eine besondere Herausforderung und gleichzeitig eine Chance dar. Während im Regelbetrieb oft große Anstrengungen darauf verwendet werden, in einer reizüberfluteten Welt überhaupt mit der eigenen Öffentlichkeitsarbeit wahrgenommen zu werden, richten sich ausgerechnet in der Krise sehr viele – kritische – Blicke auf die Organisation. Beteiligte und Verantwortliche stehen nun auf dem Prüfstand. Nun spielt es eine Rolle, ob sie direkt und schnell kommunizieren und ob diese Kommunikation glaubwürdig ist. Es spielt dabei auch eine Rolle, ob Gedanken und Handlungen nachvollziehbar sind und ob ein einmaliger Fehltritt oder ein dauerhaftes Fehlverhalten sichtbar werden. Uli Hoeneß war bereits als Sportler und Manager etabliert, als er sich wegen Steuerhinterziehung in der Öffentlichkeit verantworten musste. Seine offene Kommunikation über seine Verfehlung und Einsicht im Interview mit der ZEIT brachte ihm Verständnis und Akzeptanz. „Er bleibt sich auch öffentlich treu, spielt kein Theater, sondern ist, wie er eben ist … ob nun mit oder ohne entsprechenden Beraterstab: Hoeneß managt seine Krise wie aus dem Lehrbuch und meistert sie damit schließlich auch“ (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 78). So wurde Hoeneß sein Verhalten lediglich als menschliche Schwäche ausgelegt und zerstörte weder sein Image als erfolgreicher Manager von Bayern München noch sein Ansehen als Bürger Bayerns. Vielleicht auch deswegen, weil wir von Manager:innen Leistungsorientierung und Risikobereitschaft erwarten. Anders bei Joerg Kachelmann, dessen Image besonders darunter litt, dass er taktierte und sein Verhalten undurchsichtig blieb. „Unschuldig und doch verurteilt“ titelte die

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ZEIT sieben Jahre nach seinem Freispruch, als der zuvor so populäre Wettermacher noch immer um seine verlorene Reputation kämpfte. Die Öffentlichkeit schien noch nicht bereit, ihm zu verzeihen. So unterschiedlich die Auslöser für Krisen und ihre Verläufe sind, eines haben fast alle Situationen gemein: Sie lösen nicht nur in der eigenen Organisation, sondern auch außerhalb, starke Emotionen aus. Vorurteile, Konflikte und menschliche Urängste machen die Krise zu einem spannenden Thema für die mediale Berichterstattung (vgl. Puttenat, 2009, S.  31). „Die Digitalisierung hat die Wirkung von Krisen entscheidend verändert“ (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 53). In sozialen Netzwerken verbreiten sich Bilder und Videos einer Krise mit enormer Geschwindigkeit. Dramatische Bilder wecken beim Betrachten Emotionen, die wiederum den Wunsch zum Teilen und Kommentieren und damit die Verbreitung in sozialen Netzwerken auslösen (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 5). Die pure Geschwindigkeit und die Fülle an Kanälen, über die sich heute Nachrichten verbreiten können, stellt die Krisenkommunikation vor besondere Herausforderungen. Wer zu lange abwartet oder intransparent oder gar unehrlich kommuniziert, der gerät in einer Krise schnell ins Hintertreffen. Es gilt daher, rasch die Initiative zu ergreifen, das eigene Bedauern authentisch auszudrücken und deutlich zu machen, wie man die Probleme lösen und in Zukunft vermeiden wird (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 6 f.). Während vor einer Krise die Sachebene dominiert, gewinnt in der akuten Krisenphase die emotionale Ebene stark an Bedeutung. Solange es nicht gelingt, die Krise zufriedenstellend zu lösen, nehmen die Emotionen und Ängste weiter zu. Die gesamte Kommunikation wird dann viel stärker emotional geführt, weil die Medien bei den Rezipienten so eine höhere Aufmerksamkeit erzielen (Töpfer, 2008, S. 373 f.). In einer solchen aufgeheizten medialen Stimmung ist es schwierig, für Sachargumente offen und empfänglich zu bleiben. „Rationale Argumente können einem zwar eine konkrete Sorge abnehmen, doch die Angst ist damit nicht besiegt“ (Yogeshwar, 2019, S. 254). Diese Problematik sollten Organisationen berücksichtigen und sich dennoch nicht davon abbringen lassen verantwortungsvoll weiterhin für klare faktenbasierte Kommunikation zu sorgen. Neben der hohen Emotionalität von Krisen stellt die Unsicherheit eine weitere Herausforderung für die Krisenkommunikation dar. Krisen bringen sowohl in der eigenen Organisation als auch außerhalb Unsicherheit hervor. Die wahrgenommene Unsicherheit lässt sich über das Ausmaß des Informationsdefizits messen. Die Höhe der wahrgenommenen Unsicherheit ergibt sich dabei aus dem Verhältnis von sicherem Wissen, über das eine Person im Beurteilungszeitpunkt verfügt, zur Gesamtheit des (subjektiv) als relevant erachteten Wissens (vgl. Schönborn, 2005, S. 70). Je kleiner der Anteil des sicheren Wissens am relevanten Wissen ist, desto größer ist die Unsicherheit. Insbesondere in den frühen Phasen der Krise sind oft noch viele Fragen offen. Was löste das Problem aus? Wer ist verantwortlich? Wie geht es weiter? Die eigene Unsicherheit trifft jedoch auf ein großes Informationsbedürfnis. Betroffene erwarten schnelle Antworten. Ein erfolgreiches Krisenmanagement muss versuchen, so schnell wie möglich die Situation zu verstehen und ein präzises Lagebewusstsein zu schaffen (DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 14). Dies bildet sowohl für die eigentliche Krisenbewältigung als auch für

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die Krisenkommunikation die Grundlage. Dies ist jedoch keine leichte Aufgabe. „Ein Lagebewusstsein zu erreichen, ist inhärent schwierig in einer Krise, weil so viele Dinge gleichzeitig geschehen, sich sehr schnell ändern, es mehrere plausible Interpretationen zu Ursache und Wirkung geben könnte und die Bandbreite der Auswirkungen sowie möglicher Auswirkungen unbekannt ist“ (DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 20). Wie geht man mit der eigenen Unsicherheit um? Ehrlichkeit und Offenheit sind das oberste Gebot. Wer z. B. das Ausmaß einer Katastrophe noch nicht abschätzen kann, der sollte genau das ehrlich kommunizieren. Ein scheibchenweises Aufdecken von ­unangenehmen Wahrheiten lässt schnell den berechtigten oder unberechtigten Verdacht aufkommen, dass die Situation bewusst beschönigt und unwahr kommuniziert wird. Der damit verbundene Imageschaden kann gravierend sein. Wie geht man mit der Unsicherheit der Adressaten um? Je verständlicher Krisenkommunikation ausfällt, desto besser kann sie ihre positive Wirkung entfalten. Die Verständlichkeit profitiert sehr von einer klaren und einfachen Sprache. Die Universität Hohenheim hat die Corona-Kommunikation der Bundesregierung untersucht. Dazu wurden 1362 Pressemitteilungen der deutschen Bundesregierung und der Bundesministerien untersucht. Auf dem „Hohenheimer Verständlichkeitsindex“, der von 0 (formal schwer verständlich) bis 20 (formal leicht verständlich) reicht, erzielte die Krisenkommunikation der Bundesregierung den enttäuschenden Wert von 7,4 Punkten (vgl. Saal, 2021). Insbesondere lange Schachtelsätze, die versuchen mehrere Gedanken in einem Satz auszudrücken, reduzieren die Verständlichkeit massiv. Negativ wirken auch Fremdwörter, Anglizismen und zusammengesetzte Wortungetüme, die aus vielen Einzelwörtern bestehen (z. B. Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz) (Brettschneider & Keller, 2021). In der Krise sollte man so verständlich wie möglich kommunizieren. Krisen bringen auch neue Wortschöpfungen oder Wortumdeutungen hervor. Ebenso zeigt sich, dass Anglizismen in einer globalen Corona-Pandemie ganz selbstverständlich werden. Ob „Shutdown, Lockdown oder Exit-Strategie“  – die Sprache ändert sich von Woche zu Woche und führt auch zu neuen Problembeschreibungen, wie sie durch das Wort „Social Distancing“ ausgedrückt werden. Manche Wörter helfen dabei neue Sachverhalte zu verstehen, andere geben Orientierung und somit Sicherheit. Wie im gesellschaftlichen Diskurs ist es auch für Organisationen wichtig, die Kontrolle über den öffentlichen Diskurs nicht an die Medien zu verlieren und Begriffe zu verwenden, die eine möglichst positive und keine polarisierende Konnotation haben. • Eine Krise erfordert eine verständliche Sprache und einfache Ausdrucksweise: Kurze Sätze, klare Botschaften und verständliche Metaphern. Auch in der Krisenkommunikation sollte man den KISS Grundsatz: „Keep it simple, s­ tupid!“ beherzigen. Kurze, prägnante und klare Statements helfen in der Krise viel mehr als lange nebulöse Verlautbarungen. Eine Krise ist immer mit Unsicherheit verbunden. Wie kam es zu dieser Situation – wie lässt sich die Krise bewältigen? Eine Situation in der Ursache und Lösung klar auf dem Tisch zu legen ist meist nur eine Herausforderung und

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keine Krise. Typisch für Krisensituationen ist, dass eine komplexe Situation bewältigt werden muss, für die es kein einfaches erprobtes Lösungsschema gibt. Umso wichtiger ist eine klare und einfache Kommunikation, um das Gefühl der Unsicherheit und Machtlosigkeit nicht weiter zu verstärken. Bilder aus der Alltagssprache zu verwenden, kann dabei helfen, komplexe Zusammenhänge möglichst einfach darzustellen. Der Kaffeefilter, der erst eine gute Durchfeuchtung benötigt, bevor der Tropfen in der Tasse landet, war eines der anschaulichen Beispiele des Virologen Christian Drosten, um die Bedeutung der Viruslast zu erklären, mit der eine Infektion ausgelöst wird. Nachvollziehbare Bilder ­vereinfachen den komplexen Sachverhalt und geben ein wenig Sicherheit im Nebel der Unsicherheiten. Bereits die erste Information der Organisation sollte Unsicherheit abbauen, sowohl bei der internen als auch bei der externen Kommunikation. Die erste Meldung sollte daher die folgenden Punkte beinhalten (Knapp, 2007, S. 18): • • • • • • •

Was ist wann passiert? (Welcher Schaden ist wo entstanden?) Warum kam es dazu? (Falls sich dies ohne Spekulation sagen lässt) Wer ist betroffen? (Gibt es Opfer? Welche Folgen hat der Vorfall für die Öffentlichkeit?) Wie wird die aktuelle Situation eingeschätzt (Wie ernst ist die Lage?) Welche Gegenmaßnahmen wurden bereits ergriffen? Was wird die Organisation weiterhin zur Bewältigung der Krise unternehmen? Wann, wie und wo folgen weitere Informationen?

12.2.1 Fehler in der Krisenkommunikation 2008 kündigte der finnische Konzern Nokia an, seine Handyproduktion aus Deutschland nach Rumänien zu verlagern. Begründet wurde dieser Schritt, der über 2000 Arbeitsplätze in Bochum betraf, mit der lapidaren Aussage, die Herstellungskosten seien in Rumänien aufgrund der geringeren Löhne niedriger. Nokia meldete noch kurz nach der Ankündigung der Standortverlagerungen einen Rekordgewinn von 7,2 Mrd. € für das vergangene Geschäftsjahr, was das Unverständnis für die Schließung des profitablen Bochumer Standorts massiv verstärkte (vgl. Puttenat, 2009, S. 31). Durch die Bundesrepublik ging ein regelrechter Aufschrei. Es kam zu Demonstrationen vor den Werkstoren und medienwirksamen Statements von Politikern. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Peter Struck, bat öffentlichkeitswirksam sein Büro darum, ihm statt eines Nokia ein anderes Handy zu besorgen und Jürgen Rüttgers, der damalige NRW-Ministerpräsident, ließ verlauten, dass man so doch nicht mit Menschen und Standorten umgehen könne. Das Wort „Heuschrecke“ war zu hören. Als der Aufschrei in Finnland gehört wurde, war es schon zu spät (vgl. Puttenat, 2009, S. 29). Der Ruf der Marke Nokia hatte einen großen Schaden erlitten. Die größten kommunikativen Fehler, die Nokia machte, waren, dass zu langsam agiert und zu spät reagiert wurde. Nokia informierte intern zu spät und verspielte nach außen auch durch seine Unnahbarkeit leichtfertig Vertrauen (vgl. Puttenat, 2009, S. 30 f.).

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Nokia ist diesbezüglich kein Einzelfall. Intuitiv verfallen viele Organisationen in einer Krise in eine suboptimale Verteidigungsstrategie, um ihre Reputation zu schützen (vgl. Benoit, 2014, S. 9 ff.): • • • • • • • • •

Leugnen Verantwortung ablehnen herunterspielen, bagatellisieren und beschönigen schweigen und ignorieren lügen Salami-Taktik (nur unter Druck Informationen scheibchenweise preisgeben) gekränktes Verhalten zeigen Arroganz und fehlende Reue Schuldzuweisung an Dritte (vgl. Puttenat, 2009, S. 160)

Die Deutsche Bahn behauptete mitten in der Bespitzelungskrise (2009) in einer Pressemitteilung, dass die zuständige Aufsicht keine „grundsätzlichen Bedenken“ geäußert hätte (vgl. Pressebox, 2009). Solches Beschönigen zählt zu den größten Fehlern in der Krisenkommunikation (vgl. Puttenat, 2009, S. 160). Ein auf Krisen und Ereignisse spezialisiertes Team, welches sich denkbar sensiblen Themen annimmt und mit ausgefahrenen Antennen die interne Kommunikation oder öffentliche Diskussion aktiv und gewissenhaft beobachtet und hinterfragt, kann als Zeichen gewertet werden, dass Kommunikation überhaupt und Krisenkommunikation im speziellen sehr ernst genommen wird. ISSUE Management lässt sich als Bekenntnis zur Vulnerabilität von Image und Corporate Identity ansehen und ist in diesem Sinne eine Investition in die Zukunft eines Unternehmens. Da sich ein solches Team immer an den Schnittstellen von unterschiedlichen Fachbereichen bewegt, ist hier ein interdisziplinärer Austausch gegeben. Dies wirkt einer einseitigen Gruppenkohäsion entgegen, bei der das Managementteam möglicherweise zu wenig von internen Sorgen oder externen Befürchtungen wahrnimmt, weil es im sogenannten Elfenbeinturm abgeschottet ist.

12.2.2 Erfolgreiche Krisenkommunikation Was zeichnet erfolgreiche Krisenkommunikation aus? Worauf sollte man vor und in der Krise besonders achten? Eine gute Vorbereitung vor der Krise ermöglicht einer Organisation, wirksam zu handeln und schnell von einer reaktiven in eine proaktive Phase überzugehen. Um das zu ermöglichen, sollte ein Krisenkommunikationsplan vorhanden sein, der die Rollen und Verantwortlichkeiten festlegt sowie die Maßnahmen, die von den Mitgliedern des Kommunikationsteams zu ergreifen sind (vgl. DIN CEN/TS 17091, 2019, S.  30). Eine gute Vorbereitung auf die Kommunikation im Krisenfall ist sehr wichtig. Dies umfasst Strukturen und Abläufe, aber auch Vorlagen wie Textbausteine und Entwürfe für Postings,

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Standardbriefe und Statements, sowie entsprechende Seiten für das Internet (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 37). „Das Social-Media-Team, das in Echtzeit reagieren muss, muss für den Fall der Fälle besonders geschult sein, vor allem aber auch so aufgestellt sein, dass es nicht jeden Schritt durch unnötige interne administrative Prozesse jagen muss. Sprich: Es muss vor allem schnell aktiv sein dürfen“ (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 37). Ein oft unterschätztes Werkzeug der Krisenkommunikation ist das Krisenhandbuch. In diesem Dokument hält man – lange vor der Krise – wichtige Informationen fest, die das Handeln in der Krise erleichtern und beschleunigen. In der akuten Krise hat man oft nicht die Zeit nach Telefonnummern zu suchen. Das Krisenhandbuch ist Teil der internen Krisenkommunikation. Da Cyberattacken in den letzten Jahren immer häufiger auftreten, empfehlen wir dringend, das Krisenhandbuch allen relevanten Abteilungen auch als ausgedrucktes Dokument zur Verfügung zu stellen. Alle Notruf-Nummern gehören in das Krisenhandbuch. Dass die 112 eine Verbindung zu den Rettungsdiensten und der Feuerwehr herstellt und die 110 mit der Polizei, ist sicher vielen Menschen bekannt. Aus eigener Erfahrung können wir aber berichten, dass ein Bekannter von uns während einer Notsituation so sehr in Panik geriet, dass ihm die 112 nicht mehr einfiel und er stattdessen Freunde anrief, deren Nummer er auswendig kannte. Es lohnt sich daher, selbst diese sehr bekannten Nummern mit in die Liste zu nehmen. Andere Rufnummern wie die des Giftnotrufs der Charité in Berlin (030 192 40), die Nummern der örtlichen Sicherheits- und Wachdienste oder die Hotline des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (0800-274 1000) und Kontakte zu kompetenten IT-Unternehmen, die bei einer Cyberattacke helfen können, gehören ebenfalls zu den wichtigen Nummern. Die Liste relevanter externer Kontakte umfasst zudem auch Pressevertreter und wichtige politische Ansprechpartner auf lokaler und überregionaler Ebene. Die Kontaktdaten von Unternehmen, die in Krisensituationen Unterstützung durch erfahrene Krisenmanager als Service anbieten, kann die Liste abrunden.2 Krisen erfordern ein schnelles Handeln, daher ist es wichtig, dass alle Beteiligten wissen, wer was darf. Wer informiert die Führungsebene, wer leitet weitere Schritte ein? Wer ist die oder der Hauptverantwortliche und wer vertritt diese Person? Wer leitet die interne und externe Kommunikation? Wer informiert die Beschäftigten, wer kontaktiert die Presse, wer fungiert als Sprecher (vgl. Puttenat, 2009, S. 163)? Im Krisenhandbuch sollten daher alle wesentlichen Befugnisse festgehalten werden. Die sogenannte Notfallkette listet im Krisenhandbuch die Nummern der Personen auf, die im Falle einer Krise informiert werden. Im Idealfall umfasst diese Liste neben den dienstlichen Kontaktangaben auch die privaten E-Mail-Adressen und Telefonnummern. Es ist daher wichtig, diese Liste regelmäßig zu aktualisieren, damit man im Fall der Fälle alle relevanten Personen schnell erreichen kann.

 So bietet beispielsweise das Krisennavigator – Institut für Krisenforschung („Spin-Off“ der Universität Kiel) eine 24 h Notfall-Nummer an: +49 (0)700 27 47 47 62.

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12.2.3 Krisenkommunikation in der akuten Krise In der akuten Krise liegen oft die Nerven blank. Das führt dazu, dass auch auf kleine Details sehr genau geachtet wird. Nicht nur was man sagt, auch wie man es sagt ist entscheidend. Ein übertrieben emotionaler oder gar panischer Auftritt vor der Presse ist ebenso wenig hilfreich wie das Gegenteil. Reine Fakten, ohne jegliche emotionale Anteilnahme wirken distanziert, arrogant und teilnahmslos (vgl. Puttenat, 2009, S. 162). Den Eindruck, dass die aktuelle Krise die Verantwortlichen „kalt lässt“ sollte man unbedingt vermeiden. Als der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, die Presse über die 5 Mrd. Forderungen seines Kreditinstituts im Zusammenhang mit den Schulden des flüchtigen Immobilienbetrüger Jürgen Schneider informiert, erscheinen ihm die offenen Handwerkerrechnungen von 50 Mio. Mark als vergleichsweise gering. Sein schnell dahingesagtes „Wir reden hier eigentlich von Peanuts.“ löste dennoch eine regelrechte Imagekrise der Deutschen Bank aus, die bis heute in einigen Köpfen das Bild von Bankern negativ beeinflusst. Das Peanuts-Beispiel zeigt, dass es in der Krise – mehr noch als im normalen Alltag – auf die richtige Wortwahl ankommt. Aber auch die Bilder, die in der Berichterstattung entstehen, beeinflussen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Eine unbedachte Geste oder ein unpassender Gesichtsausdruck können verheerende Folgen haben. Denken Sie an die katastrophale Wirkung, die es für Armin Laschet hatte, als er wenige Sekunden lachend im Hintergrund des Bundespräsidenten bei der Flutkatastrophe im Ahrtal zu sehen war. Achten Sie auch auf eine angemessene Kleidung, die weder zu festlich noch zu leger und unprofessionell wirkt. Damit Personen im Scheinwerferlicht nicht geschwitzt aussehen, arbeiten Film- und Fernsehproduktionen mit Make-Up und Anti-Shine-Puder.3 Diese speziellen Puder mattieren die Haut ohne selber auffällig zu sein und vermeiden unschöne Glanzstellen auf der Haut. Als Sprecherin oder Sprecher in einer Krisensituation kann man mit etwas Anti-Shine-Puder schnell und effektiv verhindern, dass man im Blitzlichtgewitter geschwitzt und ungepflegt wirkt. Lassen Sie sich weder von der Presse noch von anderen Personen zu nicht durchdachten Worten oder Taten provozieren. Behalten Sie einen kühlen Kopf und die Übersicht (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 4). Es geht darum, Ruhe, Klarheit und Professionalität auszustrahlen. Gerade in Krisensituationen wird sehr genau hingehört und hingesehen. Daher müssen alle Fakten korrekt sein. Zahlen und Statistiken, die nicht stimmen oder veraltet sind, werden Ihnen die Medien um die Ohren hauen. Die eigene Glaubwürdigkeit ist in der Krise besonders wichtig (vgl. Puttenat, 2009, S. 160). Krisenkommunikation muss ehrlich, empathisch und authentisch sein. Schauspielerei wird schnell als solche wahrgenommen und kann wie ein Brandbeschleuniger für die Krise wirken. Urs Knapp (2007, S. 16) nennt drei goldene Regeln der Krisenkommunikation:

 Bei Filmproduktionen wird z. B. häufig Transparentpuder der Firma Kryolan verwendet, um den Teint zu mattieren. 3

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• „Niemals Tatsachen mitteilen, die nicht 100 % wasserdicht sind. Welche Analysen, Informationen müssen wir abwarten, um den Vorfall bewerten zu können? • Sich immer auf derzeitige Quellen der Erkenntnisse berufen. Welche Nachrichten, Aussagen, Dokumente liegen uns jetzt vor? • Chronologie statt Kausalität kommunizieren. In welcher Reihenfolge ist was passiert? Was haben wir in welcher Reihenfolge veranlasst?“ Als der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz 2022 vom Nachrichtenmagazin „Spiegel“ mit einem umfangreichen Fragenkatalog wegen angeblicher persönlicher Bereicherung konfrontiert wurde, reagierte Ischinger zunächst empört, da er – nach eigenen Angaben – auf eine angemessene Entlohnung freiwillig verzichtet hatte. Statt eine Antwort auf die, aus seiner Sicht, ungerechtfertigten Vorwürfe zu verweigern, zeigte der ehemalige Diplomat Ischinger sein Fingerspitzengefühl als Krisenmanager und kündigte an, die Antworten auf die Fragen des Magazins „Der Spiegel“ auf der Internetseite der Konferenz zu veröffentlichen (vgl. Möhle, 2022, S.  6). Dieses Vorgehen bietet gleich zwei Vorteile: Die Hoheit über die eigenen Antworten bleibt in der eigenen Hand und die relevanten Informationen sind für alle Interessierten einsehbar. Gleichzeitig nimmt dieses Vorgehen den Reiz der exklusiven Information aus der Hand des Medienunternehmens. Gelingt eine gute Krisenkommunikation, werden Verantwortliche damit belohnt, dass Menschen ihren sachlichen Argumenten, Hinweisen und Gedanke folgen. „Wir sind – aus neurobiologischer Sicht  – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen“ (Bauer, 2008, S. 23). Krisensituationen, in denen die Interessen einer Gruppe den Interessen der Organisation konträr gegenüberstehen, wie z. B. bei einer geplanten Entlassungswelle, kann die eigene Krisenkommunikation vor unlösbare Herausforderungen stellen. In diesen Fällen ist es hilfreich, wenn eine neutrale dritte Partei dabei hilft, eine Lösung zu finden, die von beiden Streitparteien akzeptiert werden kann. Die Vermittlung zwischen Streitparteien ist die besondere Stärke der Mediation. Die Mediation ist ein Verfahren, das bewährte Methoden aus der Psychologie, Soziologie und auch der Juristerei kombiniert. Sie hat das Potenzial, im Vergleich zu einem Gerichtsverfahren in kürzerer Zeit mit weniger Kosten eine besser akzeptierte und dadurch nachhaltigere Lösung herbeizuführen. Dabei behalten die Streitparteien zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle. Nichts wird gegen den Willen einer Partei entschieden. Mediation ist ein lösungsorientiertes Verfahren, bei dem der Mediator den Parteien einen Rahmen gibt, in dem sie eigenständig ein Ergebnis für ihr Problem finden können. Die Lösung für den Konflikt wird zu 100 % von den Konfliktparteien erarbeitet. Der Mediator ist dabei nur für den Prozess des Verfahrens verantwortlich (vgl. Pro Mediator, 2022). In Deutschland ist der einfache Begriff „Mediator“ nicht geschützt, daher ist es wichtig, bei der Suche nach einem Vermittler auf seine Erfahrung und Expertise zu achten. Nur geschulte Mediatoren dürfen sich laut Mediationsgesetz „zertifizierte Mediatorin oder zertifizierter Mediator“ nennen (vgl. Mediationsgesetz). Um diesen Titel tragen zu dürfen, müssen die Mediatoren neben einer Schulung mit mindestens 120 Präsenzstunden auch

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praktische Mediationserfahrung vorweisen können. Eine Mediation bietet die Chance, einen Konflikt mit der Wurzel aus der Welt zu schaffen, daher sollte Mediation in den Werkzeugkoffer eines professionellen Krisenmanagements gehören. Die fünf W einer erfolgreichen Krisenkommunikation lauten: Wer In der Krise müssen Führungskräfte Flagge zeigen und können sich nicht hinter ihren Mitarbeitern verstecken. Je gravierender das Problem, desto eher muss die Chefetage ran. Bei kleinen und mittleren Krisen reicht es i. d. R. aus, wenn eine Sprecherin oder ein Sprecher des Unternehmens nach außen vor die Kameras und Mikrofone geht. In einer Krise ist die Rolle dieser Personen ungleich schwerer als in ruhigen Zeiten. Es ist daher dringen zu empfehlen, dass die Verantwortlichen rechtzeitig vor der Krise ausreichende Medien- und Kommunikationstrainings absolvieren, um unter großem Druck ruhig und souverän bleiben zu können (vgl. DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 36). Wann Eine sehr schnelle, aber nicht überhastete Kommunikation entscheidet über den weiteren Verlauf der Krise. Gelingt es, bereits in den ersten Stunden professionell mit allen Stakeholdern zu kommunizieren, so kann dies helfen, die Situation zu entschärfen. Sobald Sie ein klares Bild von der Lage und eine konkrete Vorstellung vom weiteren Ablauf der Krisenbewältigung haben, sollten Sie aktiv den Kontakt zur Presse suchen. Was Kennen Sie Ihre Kernbotschaft und vermitteln Sie diese. Versuchen Sie nicht, mehr als eine Botschaft zu vermitteln. Weniger ist mehr. Reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Eine ehrliche, faktenbasierte Kommunikation, die aber auch Empathie für Geschädigte ausdrückt, ist wichtig. Die zentralen Daten sollten Sie auswendig kennen. Bedenken Sie, dass neben den Fakten auch Bilder in der heutigen Kommunikation eine immer größere Rolle spielen (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 5). Achten Sie daher nicht nur auf die Personen vor der Kamera, sondern auch auf geeignete Hintergründe für Foto- und Filmaufnahmen. Unter Umständen können Sie die Presse in Ihrer Arbeit auch mit geeigneten Archivaufnahmen unterstützen. Wie Das One-Voice-Prinzip in der Krisenkommunikation besagt, dass man insbesondere in Krisenzeiten mit einer Stimme sprechen sollte. Was schon in normalen Situationen zum Basiswissen der Unternehmenskommunikation zählt, wird in der Krise umso wichtiger (vgl. Puttenat, 2009, S. 162). Dabei ist es entscheidend, intern und extern kongruent zu kommunizieren. Früher oder später dringen Statements, die nur für die eigene Belegschaft gedacht waren, nach außen und zur anfänglichen Krise kommt noch eine Kommunikationskrise hinzu. Die Auswirkungen auf die Reputation und Glaubwürdigkeit der Organisation können gravierend sein.

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Wo Beginnen Sie stets mit der internen Kommunikation. Ihr Team braucht aktuelle Informationen. Die Krise der Organisation ist auch eine Krise der Menschen, die in ihr arbeiten. Unterschätzen Sie nicht die Ängste und Verunsicherungen der Mitarbeiterinnen und ­Mitarbeiter. Nutzen Sie alle relevanten Kommunikationskanäle der externen Kommunikation – angefangen mit der eigenen Homepage und den Social Media Kanälen ihrer Organisation über Pressemeldungen bis zu E-Mails an Stakeholder (vgl. Puttenat, 2009, S. 162). Nutzen Sie bereits bestehende Kontakte. Organisationen, die im Rahmen ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eine gute und stabile Beziehung zu Medienvertretern aufgebaut haben, kommen oft besser durch die Krise (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 30).

12.3 Fazit Krisen lassen sich nicht vermeiden, aber beherrschen, wenn man die nötigen Maßnahmen ausgearbeitet und instrumentalisiert hat (vgl. Bachmann & Ternès von Hattburg, 2021, S. 40). Die Fähigkeit einer Organisation, sich auf Krisen vorzubereiten, diese vorherzusehen, auf sie zu reagieren sowie sie zu überwinden (DIN CEN/TS 17091, 2019, S. 8), kann über Erfolg oder Misserfolg im Markt entscheiden. Je besser eine Organisation auf Krisen vorbereitet ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, relativ unbeschadet aus dieser herausfordernden Situation hervorzugehen. Die Komplexität unseres Wirtschafts- und Gesellschaftslebens erfordert ein hohes Maß an unternehmerischem Weitblick. Entscheidungen werden entsprechend aktueller Marktdynamiken schnell getroffen, was bedeutet, dass vielleicht nicht alle relevanten Informationen vorgelegen haben. Monitoringsysteme mit einem Blick auf Risiken oder gesellschaftsrelevante Themenfelder stellen eine nützliche Managementunterstützung dar. Ein fest etabliertes ISSUE Management, welches über Prozess- und Kommunikationskompetenzen verfügt, lässt sich als dauerhaftes Kompetenz- oder Transformationsteam etablieren. Eine offene und lernende Organisationskultur motiviert alle Mitarbeitenden, Risiken zu identifizieren, bevor sie zu Problemen werden. Jede Organisation sollte ein Frühwarnsystem installieren, um Krisen bereits in ihrer Anfangsphase zu erkennen und schnell Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Obwohl Krisen fast immer überraschend eintreffen, kann man sich strukturell sehr gut vorbereiten. Hier kann die Wirtschaftsförderung eine wichtige Rolle übernehmen. In ihrem Interesse liegt, dass Organisationen einer Region krisenfest aufgestellt sind. In einer akuten Krisensituation gilt es, den noch vorhandenen Handlungs- und Gestaltungsspielraum aktiv zu nutzen. Wie IT-Abteilungen Incident Response Pläne erstellen (Graewe, 2020), können andere Organisationsbereiche auch im Vorfeld von Krisen schon Verantwortlichkeiten festlegen und Abläufe planen, die im Ernstfall ein schnelleres Agieren ermöglichen. Ein wichtiger Bestandteil einer Krisenprävention ist eine professionelle Zusammenarbeit mit Experten und die Qualifikation der eigenen Mitarbeiter. Im IT-Bereich gibt es

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spezielle Schulungen, die ganze Teams auf Cyberattacken vorbereiten. Diese Fortbildungen simulieren dem Team realistische Angriffsszenarien, um die Krisenmanagementfähigkeiten zu verbessern und eine bessere Sicherheitskultur aufzubauen. Das Zusammenspiel aus Cyber-Analysten, Rechtsabteilung, Krisenkommunikation und Geschäftsleitung bei der Lösung eines Cyber-Problems zu üben, stärkt die Krisenkompetenz aller Mitwirkenden.4 Veranstaltungsangebote von Wirtschaftsförderungsgesellschaften können hier präventiv wichtige Themen adressieren und Austausch vermitteln. In einer akuten Krise ist es zu spät, um die Techniken und Abläufe einer professionellen Krisenkommunikation zu erlernen. Daher ist es wichtig, eine ausreichende Zahl an Personen im Bereich Krisenkommunikation rechtzeitig zu qualifizieren. Schon eine dreitägige Schulung, wie der Zertifikatslehrgang Krisenkommunikationsmanager (m/w/d) der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement e.V., in dem neben Theorieinput auch eine kleine Krisensimulation stattfindet, helfen, dass im Ernstfall Verantwortliche nicht ganz so kalt erwischt werden (DGfKM, 2022). Üben Sie den Umgang mit Krisen mindestens einmal pro Jahr in einem realistischen Szenario. Organisationen sollten sich in der Krise das kommunikative Heft nicht aus der Hand nehmen lassen (vgl. Puttenat, 2009, S.  160). In der akuten Krise gilt es, einerseits den vielen veröffentlichten Meinungen mit Fingerspitzengefühl zu begegnen und andererseits die Meinungsführerschaft zu behaupten oder – falls diese zwischenzeitig verloren ging – wieder zurückzuerlangen (vgl. Puttenat, 2009, S.  36). Gelingt es den Verantwortlichen, durch Perspektivwechsel die Nöte, Sorgen und Ängste der Betroffenen nachzuvollziehen, beeinflusst dies die Anwendung von Sprache. Eine empathische und glaubwürdige Kommunikation spricht eine größere Anzahl von Menschen an und aktiviert Vertrauen. In Zeiten von Unsicherheit gewinnen die Organisationen, die durch eine stimmige Kommunikation authentisch und glaubwürdig erscheinen.

Literatur Bachmann, S., & Ternès von Hattburg, A. (2021). Effiziente Krisenkommunikation – transparent und authentisch, Wie Kommunikation in extremen Situationen heute aussehen muss, um Organisationen zukunftsfähig zu machen (2. Aufl.). Springer. Bauer, J. (2008). Prinzip Menschlichkeit  – Warum wir von Natur aus kooperieren. Hoffmann & Campe. Benoit, W. (2014). Accounts, excuses, and apologies: A theory of image restoration strategies (2. Aufl.). State University of New York Press. Brettschneider, F., & Keller, K. (2021). Die (Un-)Verständlichkeit der Corona-Kommunikation. Studie der Universität Hohenheim. https://www.uni-­hohenheim.de/uploads/media/Studie_Corona. pdf. Zugegriffen am 04.03.2022.

 Beispielsweise erzeugt das „IBM Security Command Center“ in einem simulierten Sicherheitsoperationszentrum eine immersive, gamifizierte Erfahrung einer Cyber-Attacke. https://www.ibm. com/de-de/security/services/managed-security-services/security-operations-centers.

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Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement e.V. (DGfKM). (2022). Zertifikatslehrgang Krisenkommunikationsmanager. www.krisenkommunikationsmanager.de. Zugegriffen am 05.11.2022. DIN CEN/TS 17091 (DIN SPEC 14414). (2019). 2019-01. Krisenmanagement  – Strategische Grundsätze. https://www.beuth.de/de/technische-­regel/din-­cen-­ts-­17091/281319098. Zuge­ griffen am 05.11.2022. Graewe, K. (2020). Incident Response Plan: Entwurf und Aufbau. Link 11 Blog. https://www. link11.com/de/blog/it-­sicherheit/incident-­response-­plan-­entwurf-­aufbau/. Zugegriffen am 05.11.2022. Held, M., Kubon-Gilke, G., & Sturm, R. (Hrsg.). (2014). Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Unsere Institutionen in Zeiten der Krisen. Metropolis. Knapp, U. P. (2007). Erwarte das Unerwartete. SUPRIO-Workshop Krisenkommunikation, Bern 2007. https://docplayer.org/2889392-­Suprio-­workshop-­krisenkommunikation-­erwarte-­dasunerwartete-urs-­p -­k napp-­p artner-­f arner-­c onsulting-­a g-­k risenkommunikation-­s chuetzt-­ reputation.html. Zugegriffen am 04.03.2022. Knauß, F. (2012, August 2). Der Skandal ist überall. Wirtschaftswoche. https://www.wiwo.de/­ erfolg/management/krisenkommunikation-­der-­skandal-­ist-­ueberall/6927292.html. Abgerufen am 10.3.2022; Zugegriffen am 04.03.2022. McCusker, G. (2005). Public relations disasters, talespin, inside stories & lessons learnt. Kogan Page Business Books. Möhle, H. (2022, Februar 19). So schwierig war es nie – Wolfgang Ischinger steht zum Ende seiner Amtszeit als Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz in der Kritik. Rhein-Zeitung, Nr. 42. Zugegriffen am 20.01.2022. Pressebox. (2009). DB und Berliner Datenschutzbeauftragter analysieren Arbeit der Network GmbH. Pressebox, 21(01), 2009. https://www.pressebox.de/inaktiv/deutsche-­bahn-­ag/DB-­und-­ Berliner-­Datenschutzbeauftragter-­analysieren-­Arbeit-­der-­Network-­GmbH/boxid/231790 Pro Mediator. (2022). Webseite Pro Mediator. https://pro-­mediator.de/. Zugegriffen am 04.03.2022. Puttenat, D. (2009). Praxishandbuch Krisenkommunikation. Gabler. Roselieb, F. (1999). Frühwarnsysteme in der Unternehmenskommunikation. Manuskripte aus den Instituten für Betriebswirtschaftslehre der Universität Kiel, 512. Rümelin, J. N., & Weidenfeld, N. (2021). Die Realität des Risikos, Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren. Piper. Saal, M. (2021). So unverständlich ist die Corona-Kommunikation der Bundesregierung (17.02.2021). Horizont. https://www.horizont.net/medien/nachrichten/wortungetueme-­und-­schachtelsaetze­so-­unverstaendlich-­ist-­die-­corona-­kommunikation-­der-­bundesregierung-­189322. Zugegriffen am 04.03.2022. Schönborn, T. (2005). Käuferverhalten bei Unsicherheit; Eine nachfragerorientierte Analyse im Kontext der Neuen mikroökonomischen Marketingtheorie (Schriftenreihe Studien zum Konsumentenverhalten, Bd. 4). Verlag Dr. Kovač. Töpfer, A. (2008). Krisenkommunikation: Anforderungen an den Dialog mit Stakeholdern in Ausnahmesituationen. In M.  Meckel & B.  F. Schmid (Hrsg.), Unternehmenskommunikation, Kommunikationsmanagement aus Sicht der Unternehmensführung (2. Aufl., S. 305–402). Springer. Yogeshwar, R. (2019). Nächste Ausfahrt Zukunft, Geschichten aus einer Welt im Wandel. Kiepenheuer & Witsch.

Prof. Dr. Tim Schönborn  lehrt am Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule Trier in den Bereichen Marketing, Kommunikation und Neue Medien. Er ist Studiengangbeauftragter für den Bachelor und Master Medieninformatik. Als Modulverantwortlicher vertritt er u.  a. die Fächer

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„Führungskompetenz Kommunikation“, „Marketing und Kommunikation“ und „Management und Führungskompetenz“. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt sind Ansätze der Effizienzoptimierung im Zeit- und Meetingmanagement – insbesondere die Frage, wie sich durch ein besseres Meetingmanagement und den gekonnten Einsatz von digitalen Tools die Effektivität und Effizienz von Meetings steigern lässt. Beatrix Sieben  ist seit 2017 im ISSO-Institut für Kommunikation und Wissenstransfer zuständig. Sie konzipiert und organisiert Veranstaltungen und Seminare, kooperiert mit Hochschulen und gestaltet Transformationsprozesse. Als Beraterin und Moderatorin unterstützt sie Teams und Organisationen, Veränderungsprozesse und zukunftsrelevante Herausforderungen zu meistern. Ihre Expertise im Bereich Kommunikation, Krisenmanagement und Empathiebasierte-Verständigung zieht sie aus ihrem Psychologie-Studium und ihrer langjährigen Tätigkeit als Führungskraft und Moderatorin.

Unbürokratische staatliche Hilfe in Krisenzeiten – Juristische Prüfung und effiziente Bürokratie dürfen kein Widerspruch sein

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Gregor van der Beek, Jan Bienek, Florian Oppitz und Zunera Rana

Zusammenfassung

Forderungen nach unbürokratischem Handeln der deutschen Verwaltung sind bei weitem kein Novum, doch häuften sich diese in besonderer Weise während der CoronaPandemie. Das Beispiel der Corona-Soforthilfen in Nordrhein-Westfalen verdeutlicht, dass die Forderung nach einer unbürokratischen Bürokratie die falsche Lösung für die durch die ökonomische Bürokratietheorie belegte Ineffizienz der Verwaltung ist. Aus dieser Erkenntnis kann nicht hervorgehen, dass eine effiziente Bürokratie durch geschwächte juristische Prüfung oder übereilte Verfahren ausgezeichnet sein sollte. Zur Reduzierung der echten oder auch nur vermeintlichen Ineffizienzen werden andere Lösungen benötigt. In diesem Kapitel wird aus juristischer und mikroökonomischer Sicht untersucht, welche Relevanz bürokratische Verfahren im Umgang mit öffentlichen Mitteln in Krisensituation, wie einer Pandemie, haben. Der Schwerpunkt dieser Analyse liegt dabei auf der theoretischen Prüfung der Frage, ob die Forderung nach unbürokratischen Verwaltungsabläufen umsetzbar ist. Zudem wird erörtert, ob und wie Bürokratien effizienter gestaltet werden können.

G. van der Beek (*) · J. Bienek Hochschule Rhein-Waal, Kleve, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] F. Oppitz FH Kärnten, Villach, Österreich E-Mail: [email protected] Z. Rana Radboud University, Faculty of Social Sciences, Nijmegen, Niederlande E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_13

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13.1 Einleitung Forderungen nach schnellem und unbürokratischem Handeln der deutschen Verwaltung sind bei weitem kein Novum, doch häuften sich diese in besonderer Weise während der Corona-Pandemie. Als Reaktion auf diese Krise handelten der deutsche Staat und seine Bürokratie mit beispielloser Schnelligkeit und Großzügigkeit bei der Vergabe von öffentlichen Mitteln. In Form von Soforthilfen bemühte sich die Landesregierung von Nordrhein-­ Westfalen (NRW), „schnell, unbürokratisch und zielgerichtet den Menschen und Unternehmen zu helfen“, so der NRW-Finanzminister Lutz Lienenkämper (Landesregierung Nordrhein-Westfalen, 2022). Laut der Landesregierung Nordrhein-Westfalen (2022) waren ihre Soforthilfen mit einer Höhe von ca. 4,5 Mrd. € „das größte Hilfsprogramm der Landesgeschichte“. Jedoch verdeutlicht das Beispiel der Corona-Soforthilfen in Nordrhein-Westfalen, dass die Forderung nach einer unbürokratischen Bürokratie nicht bloß ein Oxymoron, sondern auch die falsche Lösung für die durch die Wirtschaftswissenschaften belegte Ineffizienz der Verwaltung ist. So gingen im Jahr 2020 bei der Staatsanwaltschaft bundesweit über 25.000 Fälle wegen Betrugs bei Corona-Soforthilfen und weiterer Delikte im Zusammenhang mit der Pandemie ein (Deutscher Richterbund, 2021). Nordrhein-Westfalen weist im Vergleich zu den anderen Bundesländern mit mehr als 10.000 Verfahren mit Corona-­ Bezug die höchsten Fallzahlen auf, etwa die Hälfte davon sind Verdachtsfälle von Subventionsbetrug (Tagesschau, 2021). Wie dieses Beispiel zeigt, kann aus dem Umstand, dass Bürokratien in ihrem Handeln ineffizient sind, wie heute gängiger Weise nicht nur in der ökonomischen Bürokratietheorie angenommen wird, jedoch nicht das Argument hervorgehen, dass eine effiziente Bürokratie durch geschwächte juristische Prüfung oder übereiltes Vorgehen ausgezeichnet sein sollte. Zur Reduzierung der echten oder auch nur vermeintlichen Ineffizienzen werden andere Lösungen benötigt. Hier braucht es zunächst eine kurze Vorüberlegung zur Forderung nach unbürokratischen Bürokratien. Unbürokratisch bedeutet laut Duden, „schnell und unmittelbar; nicht durch Bürokratie und Verwaltung verzögert“ (Duden online, 2022). Schon diese Definition trägt einen gewissen Widerspruch in sich: Wie kann eine Bürokratie unbürokratisch sein? Gemeint ist wohl, dass eine Bürokratie ihre Aufgaben zügig erledigen sollte. Wer könnte der Forderung nach unbürokratischem Handeln des Staates und insbesondere seiner Verwaltungen also widersprechen, wenn die Definition von unbürokratisch „nicht durch Bürokratie und Verwaltung verzögert“ lautet (Duden online, 2022)? Dies wird besonders deutlich, wenn man sich des Gegenteils vergewissert: niemand wird fordern, der Staat und seine Verwaltungen sollten langsam, nur über Umwege und die Abläufe verzögernd, agieren. Dass sich aus einer solchen Selbstverständlichkeit jedoch eine populäre, ja populistische Forderung nach Entbürokratisierung entwickelt hat, ist hingegen nicht selbstverständlich. Es gehört heute zu den Standardforderungen aller politischen Parteien in Deutschland, unbürokratisches Handeln des Staates zu verlangen, wobei vermeintliche oder tatsächliche liberale Parteien hier besonders sichtbar sind; dies gehört zu deren Markenkern.

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In diesem Beitrag wird aus juristischer und mikroökonomischer Sicht untersucht, welche Relevanz ausführliche, bürokratische Verfahren im Umgang mit öffentlichen Mitteln in Krisensituation, wie einer Pandemie, haben. Der Schwerpunkt dieser Analyse liegt dabei auf der theoretischen Prüfung der Frage, ob die Forderung nach unbürokratischen Verwaltungsabläufen umsetzbar ist. Darüber hinaus wird erörtert, ob und wie Bürokratien effizienter gestaltet werden können. Das Kapitel ist in zwei Hauptabschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt befassen wir uns mit den rechtlichen Grundlagen für das Funktionieren von Bürokratien und der Rechtsstaatlichkeit, die die Arbeitsweise der verschiedenen staatlichen Organe bestimmt. Im zweiten Abschnitt konzentrieren wir uns auf Bürokratien als Ausführungsorgan einer öffentlichen Aufgabe und zeigen anhand wirtschaftswissenschaftlicher Modelle zwei der meist verbreitetsten Überlegungen zu den Gründen ihres ineffizienten Handelns. Zuletzt wird ein theoretisch fundierter Vorschlag, die Effizienz von Bürokratien durch Wettbewerb untereinander zu steigern, vorgestellt und als möglicher, langfristig angesetzter Lösungsvorschlag für das zuvor erörterte Problem präsentiert.

13.2 Rechtliche Anmerkungen „Markenkern“ der Bürokratie, verstanden als staatliche Verwaltung, ist ihre rechtliche Bindung. Sollte mit dem Ruf nach dem Unbürokratischen auch der Appell zu einer Auflösung oder Lockerung dieser Bindung gemeint sein, empfiehlt sich zunächst einmal ein Blick auf die historische Entwicklung dieses Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und seine Funktion im gegenwärtigen staatlichen Leben. Der Begriff des Rechtsstaates entwickelte sich als Gegenentwurf gegen die Willkür der Herrschenden. Staatliche Gewalt sollte nicht länger absolut, losgelöst von rechtlichen Bindungen ausgeübt werden. Sie sollte in der Form des Gesetzes auftreten und damit vorhersehbar, allgemein und gleichförmig wirken. Gleichzeitig ließ die Gesetzesform eine höhere Rationalität der Herrschaft erwarten, da dem Akt der Gesetzgebung, wenn er auch monarchisch erfolgte, doch zumindest eine lange Vorbereitung zugrunde lag. Zu diesen formellen Momenten des Rechtsstaates trat im Zuge der bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts ein inhaltliches. Das Recht sollte nicht nur als allgemeines Gesetz gelten, es sollte die Staatsmacht auch gemäß der Idee der Menschenrechte leiten und begrenzen. Die Bindung an die Menschenrechte transformierte den Rechtsstaat von einem System rationaler in ein System legitimer Herrschaft. Das Recht hatte nicht nur zweckmäßig, es hatte auch gerecht zu sein. Im modernen Rechtsstaat finden beide Momente, das formelle und das inhaltliche, Ausdruck in verschiedenen staatlichen Institutionen. Als Verwirklichung der Rechtsstaatlichkeit gilt zunächst das Prinzip der Gewaltenteilung, das die grundsätzliche Eigenständigkeit der gesetzgeberischen (legislativen), vollziehenden (exekutiven) und richterlichen (judikativen) Institutionen bezeichnet (Di Fabio, 2004). Eine Konzentration der ­staatlichen Macht soll dadurch verhindert und eine wechselseitige Kontrolle ermöglicht werden. Die Unabhängigkeit der Gerichte von der Regierung steht dabei im Zentrum der Sorge um den Rechtsstaat.

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Ein weiteres formelles Moment des Rechtsstaates liefert der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Dieser sichert die Bindung der die Verwaltung leitenden Regierung an das vom demokratisch gewählten Parlament erlassene Gesetz und liefert gleichzeitig einen Maßstab für die gerichtliche Kontrolle der Vollziehung (Schmidt-Aßmann, 2004). Von all den genannten Prinzipien des Rechtsstaates ist es wohl das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, das mit Forderungen nach „raschem und unbürokratischem“ Reagieren des Staates in Krisensituationen am klarsten in Konflikt stehen könnte. Dieses verfassungsrechtliche Gebot soll deswegen hier näher betrachtet werden. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bedeutet zunächst einen Vorrang des parlamentarischen Gesetzes vor allen Entscheidungen der Verwaltung. Das Gesetz steht über allen Verwaltungsakten. Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes legt dieses Verhältnis mit den Worten „die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“ fest. Verstößt die Verwaltung gegen das höherrangige Recht, handelt sie rechtswidrig, ihre Rechtsverordnungen und Satzungen sind nichtig, ihre Verwaltungsakte können im Rechtsweg beseitigt werden (Maurer, 1999). Neben den Vorrang tritt dann der Vorbehalt des Gesetzes. Dieser stellt sicher, dass „staatliches Handeln in bestimmten grundlegenden Bereichen durch ein förmliches Gesetz legitimiert wird“ (Jarass & Pieroth, 2011, Rz 44 zu Art. 20). Wichtige politische Entscheidungen sollen also nicht von Regierung und Verwaltung, sondern von den Parlamenten getroffen werden. Das Bundesverfassungsgericht begründet diesen Gesetzesvorbehalt mit der Notwendigkeit, dass „derartige Regelungen aus einem Verfahren hervorgehen, das sich durch Transparenz auszeichnet, das Beteiligung der parlamentarischen Opposition gewährleistet und auch den Betroffenen und dem Publikum Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten“ (BVerfGE 95, 267/307 f.). Die Abgrenzung der vom Gesetzesvorbehalt erfassten „grundlegenden“ Bereiche von jenen Angelegenheiten, die unmittelbar durch die Verwaltung geregelt werden können, ist keine einfache Sache. Klar ist zunächst, dass der Staat „in Bereichen der Grundrechtsausübung“ nur auf Grundlage von Gesetzen handeln darf (BVerfGE 77, 179/230 f.). So müssen insbesondere Grundrechtseingriffe, soweit sie zulässig sind, durch ein Gesetz vorgesehen sein. Weniger streng ist der Grundsatz der Gesetzesbindung im Bereich der Leistungsverwaltung, wo der Staat also nicht als ordnende und beschränkende Gewalt auftritt, sondern als Förderer und Gestalter. Auch hier gilt aber die oben erwähnte Vorgabe, dass staatliche Ausgaben in einem Gesetz (Haushaltsgesetz) oder – bei Gemeinden – einer Haushaltssatzung vorgesehen sein müssen, in denen das Ausmaß und der Zweck der Leistung bestimmt sind. Diesen Gesetzen kommt jedoch keine Außenwirkung zu, das heißt, in ihnen können keine Ansprüche (Rechte) der Leistungsempfängerinnen geregelt werden (Jarass & Pieroth, 2011, Rz 16 zu Art 110). Leistungen bedürfen dann einer gesetzlichen Grundlage, wenn durch ihre Erbringung Grundrechte Dritter betroffen sind. Aus juristischer Sicht muss bei der Forderung nach einer schnellen und „unbürokratischen“ Bürokratie das Gebot der Rechtmäßigkeit der Verwaltung stets gewahrt wer-

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den. Es ist notwendig, im Streben nach einem effizienten Verfahren nicht die rechtlichen Grundlagen außer Acht zu lassen, die sicherstellen, dass grundlegende Menschenrechte eingehalten und die Macht der Institutionen begrenzt werden. Während die rechtliche Grundlage der Bürokratie klar ist, ist es auch wichtig, die ökonomische Dimension hinter ihr zu verstehen. Im nächsten Abschnitt gehen wir auf diesen Aspekt näher ein.

13.3 Bürokratien nach Max Weber und in polit-ökonomischer Modellierung In der Fachliteratur gibt es eine Fülle von Beiträgen zur politischen Ökonomie der Bürokratie  – die meisten davon gehen auf Max Weber (1922) zurück. In diesem Abschnitt geben wir eine kurze Einführung in die von Weber (1922) entwickelte Bürokratietheorie und erörtern anschließend die in der Tradition William Niskanen (1971, 1975, 1994) stehenden Erweiterungen.

13.3.1 Bürokratien nach Max Weber Die Bürokratie ist die effizienteste Form der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung. Diese heute vielleicht als etwas aus der Zeit gefallen erscheinende Ansicht war lange durchaus Mainstream. Diese Auffassung Max Webers (1922, S. 833) , des Vaters der sozialwissenschaftlichen Bürokratietheorie, zeigt sich in Formulierungen, wie: „Und auch in dieser Hinsicht ist zu bedenken, dass die Bürokratie, rein an sich, ein Präzisionsinstrument ist, welches sehr verschiedenen, sowohl rein politischen wie rein ökonomischen, wie irgendwelchen anderen Herrschaftsinteressen sich zur Verfügung stellen kann“. So schrieb Weber (1922, S. 833) „der Bürokratisierung gehört die Zukunft“. Bei diesem Urteil standen die Untersuchungen der seinerzeit wichtigsten Staatsapparate im deutschsprachigen Raum  – speziell in Preußen und Österreich  – Pate, deren Verwaltungen auf die Administration von großen räumlichen Einheiten gerichtet waren. Diese Bürokratien waren dabei durchaus erfolgreich, gerade im internationalen Vergleich. Laut Weber (1922, S. 833) ist „die Bürokratie (…) gegenüber anderen geschichtlichen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung ausgezeichnet durch ihre  weit  größere Unentrinnbarkeit“. Im Weiteren weist Weber darauf hin, dass die moderne Bürokratie sich durch eine Eigenschaft auszeichnet, „welche ihre Unentrinnbarkeit ganz wesentlich endgültiger verankert als die jeder anderen: die rationale fachliche Spezialisierung und Einschulung“ (Weber, 1922, S. 833). Diese Auffassung kennt also den Vorwurf einer ineffizienten Aufgabenwahrnehmung noch nicht und folgerichtig auch noch nicht die Forderung nach unbürokratischem Handeln.

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13.3.2 Ineffizienz von Bürokratien – Das Bürokratiemodell von Niskanen und dessen Modifikation durch Migué und Bélanger Dass sich die Forderung nach einer schnellen und unbürokratischen Bürokratie zu einer populären politischen Meinung entwickelt hat, dazu mag auch eine spezifische wissenschaftliche Beschäftigung mit der staatlichen Verwaltung beigetragen haben, welche heute Bürokratien als a priori negativ konnotiert. Gehörte es noch bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zum wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Mainstream, die Verwaltung in der Tradition Max Webers als wünschenswerte und verlässliche Form staatlichen Handelns zu betrachten, so hat sich seit Mitte der 1960er-Jahre das genau gegenteilige Urteil als herrschende Meinung durchgesetzt. Seit den einschlägigen Publikationen von William Niskanen (1971, 1975, 1994) sowie Jean-Luc Migué und Gérard Bélanger (1974), wird die Verwaltung – in diesen Modellen Bürokratie genannt – mikroökonomisch fundiert als Inbegriff der Ineffizienz und Verschwendung betrachtet. Auf der horizontalen Achse im unteren Teil von Abb. 13.1 ist die Menge der von der Bürokratie bereitgestellten Güter und Leistungen abgebildet, während auf der vertikalen Achse zum einen die Gesamtkosten der Erstellung dieser Leistungen (K) und zum anderen das der Bürokratie von Seiten der Politik zur Erstellung dieser Güter und Leistungen zur Verfügung gestellte Budget (B) abgebildet sind. Im oberen Teil der Abbildung sind diese beiden Größen, also Budget und Kosten, nicht als Gesamtgrößen, sondern in der Grenzbetrachtung dargestellt. Das heißt, die aufsteigende Kurve stellt die Grenzkosten der Erstellung dieser Güter (GK) dar und die fallende Kurve zeigt das Grenzbudget (MZB), also das Budget, welches die Bürokratie für die Erstellung einer weiteren Einheit dieses Gutes zur Verfügung hat. Das Grenzbudget kann auch als marginale Zahlungsbereitschaft (MZB) der Politik für die Erstellung dieses Gutes durch die Bürokratie interpretiert werden. Offensichtlich ist die effiziente Lösung in diesem Fall der Schnittpunkt der beiden oberen Kurven. Hier entsprechen die zusätzlichen Kosten der Bereitstellung eines Gutes dem dafür gewährten zusätzlichen Budget. Insofern zeigt der Schnittpunkt C die effiziente Menge Xopt und den effizienten Budgetstückpreis F, zu dem das Gut erstellt wird. Dies ist die effiziente Preis-Mengen-Lösung. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, kommt diese effiziente Lösung jedoch, folgt man den Annahmen von Niskanen (1971, 1975, 1994) einerseits und Migué und Bélanger (1974) andererseits, nicht zustande. Betrachten wir zunächst die Modellierung von Niskanen (1971, 1975, 1994). Elementar für diese Modellierung ist die Annahme, dass Bürokratien grundsätzlich versuchen, das ihnen zur Verfügung stehende Budget zu maximieren. Sie streben also ein möglichst großes Budgetvolumen an. Gemäß dieser Annahme des Niskanen-Modells (und der zusätzlichen Annahme, dass die Bürokraten weit besser informiert sind als die sie beauftragenden Politiker), können die Bürokraten nun die maximale Menge des Budgets durchsetzen, welche in dem Punkt Xbn liegt. Daraus folgt, dass das resultierende Output-Volumen doppelt so hoch wie die effiziente Lösung Xopt ist. Und dies ist das Ergebnis: Im Vergleich zur effizienten Lösung stellen im Niskanen-Modell Bürokratien eine viel zu große Menge eines Gutes oder einer Dienstleistung bereit.

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Abb. 13.1  Das elementare ökonomische Bürokratiemodell nach Niskanen. (Beek, 2002, S. 141)

Die Modellannahme der Budgetmaximierung, oder konkreter der Maximierung des Budgetvolumens, ist in der Literatur kritisiert worden, durchaus aus einem plausiblen Grund. Wenn die Bürokraten das ihnen zur Verfügung stehende Budgetvolumen mit der Menge Xbn maximieren, dann sind sie gezwungen das gesamte ihnen zur Verfügung stehende Budget auch de facto in die Produktion dieses Gutes zu stecken, da die Gesamtkosten der Produktion an dieser Stelle identisch mit dem ihnen maximal zur Verfügung stehenden Budget sind. Vor allem Migué und Bélanger (1974) fanden diese Implikation unplausibel. Deshalb ersetzten Migué und Bélanger (1974) die Annahme der Maximierung des Budgetvolumens durch die Annahme der Maximierung des „diskretionären Budgets“. Das „diskretionäre Budget“ ist der Teil des Budgets, den die Bürokratie nicht für die Erstellung des Gutes verwenden muss, sondern den sie nach eigenem Gutdünken und Ermessen, z. B. für Konsum am Arbeitsplatz, verwenden kann. Die Veränderung dieser Annahme hat weitreichende Implikationen, wie anhand von Grafik 1 erläutert wird. Wie im unteren Teil von Abb. 13.1 deutlich wird, ist der Abstand zwischen dem zur Verfügung gestellten Budget und den Kosten der Produktion (also Kosten, die faktisch zur Herstellung des Produkts gebraucht werden) dort am größten, wo der Abstand zwischen der Gesamtbudgetfunktion (B(x)) und der Gesamtkostenfunktion (K(x)) am größten ist.

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Dies gilt an dem Punkt, an dem auch die effiziente Menge produziert wird, nämlich Xopt. Allerdings wird diese Menge bei der Annahme der Maximierung des „diskretionären Budgets“ nun nicht vollständig in die Produktion, der von der Bürokratie bereitgestellten Güter und Leistungen gesteckt, sondern teilweise auch in den Konsum am Arbeitsplatz oder andere Annehmlichkeiten der Bürokraten. Solche Annehmlichkeiten mögen beispielsweise in überteuerten Dienstreisen, Dienstwagen oder ausschweifenden Abendessen bestehen. Nach Ansicht von Migué und Bélanger (1974) wird zwar die effiziente Menge an Gütern und Dienstleistungen bereitgestellt, aber nicht zu minimalen Kosten, also möglichst preisgünstig, sondern unter Ausschöpfung des gesamten Budgets, das der Bürokratie zur Verfügung steht. Ob man nun die Niskanen- oder die Migué und Bélanger-Hypothese für plausibler hält, ist zwar für die Art der Entstehung der Ineffizienz relevant, nicht jedoch für die Diagnose der Ineffizienz an sich. In beiden Fällen handelt es sich um eine ineffiziente Bereitstellung von Seiten der Bürokratie: in Niskanens (1971, 1975, 1994) Modell, eine völlig überhöhte Menge und im Migués und Bélangers (1974) Modell eine Bereitstellung der Leistungen zu weit überhöhten Kosten. Diese Modellierungen gehören heute zum Standard der mikroökonomisch fundierten Betrachtung von Bürokratien, die wiederum die politische Bewertung von Bürokratien beeinflusste und mitprägte. Daraus resultierte für das politische Handeln zwingend, die überbordende und ausufernde Bürokratie zu zähmen. Demnach gab es zu viel bzw. zu teures staatliches und speziell verwaltungsmäßiges Handeln. Solche Modelle fügten sich zur Zeit ihrer Entstehung in die angebotstheoretische Wende der Wirtschaftswissenschaft ein; die praktische Umsetzung der finanz- und wirtschaftspolitischen Implikationen erfolgte dann zunächst in den USA und im Vereinigten Königreich unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher, wenige Jahre später dann auch in Deutschland.

13.3.3 Lösungsvorschläge: Privatisierung oder Wettbewerb? Auch wenn Bürokratien seither negativ konnotiert sind, so sind sie dennoch als staatlicher Verwaltungsapparat das einzige geeignete Ausführungsorgan für Aufgaben wie die Zuteilung der Corona-Soforthilfe. Die des Öfteren aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht anvisierte öffentlich-private Partnerschaft (Public-private Partnership) wäre für staatliche Hilfsprogramme in der Corona-Pandemie nicht anwendbar gewesen. In solch einer Situation hätten private Institutionen über die Subventionierung von Privaten entscheiden sollen. Es wäre sicher keine effiziente Lösung private Banken zu beauftragen, die Soforthilfen zu administrieren, da am Ende der Steuerzahler für die Verluste bürgen würde. Der Privatisierung der Gewinne und einer Vergesellschaftung der Verluste wären damit Tür und Tor geöffnet worden. So zeigt sich, dass die Dichotomie, staatliche vs. private Lösung, nicht zielführend für die Lösung des Problems ist, in Krisen effizient (d. h. schnell, kostenminimal und in richtiger Menge) und nach rechtsstaatlichen Kriterien Güter und Leistungen an die Bürger zu übergeben.

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Ein anderer Lösungsansatz liegt darin, Bürokratien zu verbessern, anstatt ihre Leistungen zu privatisieren. Ein Weg, die Effizienzverluste der Bürokratie zu minimieren ist es, Verwaltungseinheiten miteinander in Wettbewerb treten zu lassen. Dies ist bei Verwaltungseinheiten, von denen es mehrere gibt, wie z. B. Schulen, Universitäten und Theatern leichter, kann man diese doch um die Bürger als ihre Kunden konkurrieren lassen. Dies zeigt sich beispielsweise deutlich dort, wo Schulen miteinander konkurrieren. An Orten, an denen es mehrere Schulen gibt, versuchen diese, sich zu profilieren und attraktiv zu erscheinen. Handelt es sich um Passämter, Bürgerämter oder um die Vergabe von Corona-­Geldern, ist Wettbewerb schwieriger zu kreieren. In solchen Fällen wäre ein regionaler Wettbewerb oder Konkurrenz zwischen Bundesländern denkbar. Die Situation, in der Bürokratien in einem Wettbewerb miteinander stehen, ist in Abb. 13.2 dargestellt. Hier gibt es mehrere Verwaltungen bzw. Bürokratien, welche die Politik mit der Abwicklung einer Aufgabe betrauen kann. In dieser Situation gibt es zwar auf der Seite der Politik immer noch nur einen Akteur, nämlich die politische Einheit, welche das Budget zur Verfügung stellt (z. B. der Wirtschaftsminister), auf der Seite der Bürokratie finden sich nun aber mehrere Einheiten, die um die Mittel bei den politischen Verantwortlichen konkurrieren. Nach der gängigen Marktformenlehre handelt es sich also hier um ein Monopson, auch Käufermonopol genannt. Bezogen auf das obige Schaubild findet sich hier im Monopson-Fall die Lösung nicht im Schnittpunkt zwischen der Angebots- und Nachfragekurve, was die effiziente Lösung wäre, und schon gar nicht – wie bei Niskanen (1971, 1975, 1994) sowie Migué und Bélanger (1974) – bei verschwenderischem Output, sondern im Schnittpunkt zwischen Nachfragekurve und Grenzausgabenkurve (dies ist die steilere Kurve a´ in der oberen Grafik). Das der Bürokratie zugestandene Budget pro Stück ergibt sich nun, indem man von der Mengenlösung (Grenzausgaben = Nachfrage) herunterlotet auf die Angebotskurve zum Preis PG. Das heißt, dass von Seiten der Bürokratie nicht nur, verglichen mit der effizienten Menge, zu wenig bereitgestellt wird, nämlich XG, sondern dies auch noch zu einem zu geringen Budget pro Stück. Abb. 13.2 Monopson-Modell der Bürokratie. (Beek, 2002, S. 182)

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Hier liegt also keine Überproduktion oder ineffiziente Verschwendung von Seiten der Bürokratie vor. Da die Politik die bürokratischen Produktionseinheiten gegeneinander ausspielen kann, steht ihnen im Vergleich zum effizienten Budget ein zu kleines Budget zur Verfügung. Dies führt – verglichen mit der effizienten Menge – zu einer zu geringeren Menge des Outputs. Dieses Monopson-Modell der Bürokratie und die Modelle von Niskanen (1971, 1975, 1994) sowie Migué und Bélanger (1974) lassen sich als extreme Enden eines Kontinuums interpretieren. In einer pragmatischen Wendung wird die realistische Lösung, auch unter der Voraussetzung eines Wettbewerbs zwischen Bürokratien, irgendwo dazwischen – also zwischen einem zu großen und einem zu kleinen Budget – liegen. Dies gibt zumindest Anlass zu der Hoffnung, dass ein Wettbewerb zwischen bürokratischen Einheiten eine stärkere Annäherung an effiziente Lösungen bewirkt. Wettbewerb führt in mikroökonomisch fundierter Modellierung zur Steigerung von Effizienz selbst in bürokratischen Einheiten.

13.4 Fazit Eine „Take-Home-Message“ dieses Beitrags ist, dass eine Effizienzsteigerung der Bürokratie nicht durch Außerkraftsetzung von rechtlichen Prüfungen erreicht werden kann. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist ein elementarer Bestandteil des deutschen Rechtsstaats, und so kann die Forderung nach unbürokratischem Handeln in Krisenzeiten nicht bedeuten, dass eine juristische Prüfung wegfällt. Auch diese auf die Zeit nach der Krise zu verschieben hat Tücken. Staatliche Akteure und ihre Mittelvergabe müssen auch – und vielleicht sogar besonders – in Krisen an das Gesetz gebunden sein. Unbürokratisches Handeln kann daher in keiner Weise das Weglassen, noch die Vernachlässigung oder die übereilte Durchführung von juristischer Prüfung bedeuten. So gilt das Gebot, Sorgfalt vor Eile – besonders, wenn es um öffentliche Gelder geht. Im Weiteren lässt sich abschließend festhalten, dass es im Kontext des hier betrachteten Falls der Corona-Pandemie keine wirkliche Lösung ist, eine Effizienzsteigerung des staatlichen Handels durch eine Privatisierung von Staatsaufgaben zu erwirken. Die Privatisierung von Staatsaufgaben ist in den vergangenen Jahrzehnten bereits weit fortgeschritten, wobei primär zuvor staatliche Versorgungsunternehmen privatisiert wurden. Nach diesem Vorbild aber die Abwicklung von Hilfszahlungen in Krisenzeiten zu gestalten, scheint nur begrenzt umsetzbar zu sein – und dies mit womöglich unvorteilhaften Konsequenzen für die Steuerzahler. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass auf der Grundlage von mikroökonomisch fundierten Modellierungen Max Webers (1922) „Begeisterung“ für bürokratische Institutionen als „Präzisionsinstrument“ Einhalt geboten wurde. Ob nun abschließend widerlegt ist, dass „der Bürokratisierung (…) die Zukunft [gehört]“ (Max Weber, 1922, S.  833) sei dahingestellt. Die Modelle von Niskanen (1971, 1975, 1994) sowie Migué und Bélanger (1974) zeigen auf plausible Weise, dass Bürokratien ineffizient sind. Dies ist mittlerweile

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eine Grundannahme der Wirtschaftswissenschaften, anerkannt in der Politik und populäre Parole in öffentlichen Debatten. Obwohl es Reaktionen auf diese aus den 1960er-Jahren stammende Erkenntnis gab, fehlt es bisher an plausiblen, sowohl ihre Stärken anerkennende als auch sinnvolle, gesetzliche Limitierungen der staatlichen Verwaltung berücksichtigenden Lösungsvorschlägen, um die offensichtlichen Schwächen der Bürokratien zu beheben. In diesem Kapitel wurde der intra-bürokratische Wettbewerb als ein theoretisch fundierter Vorschlag zur Effizienzsteigerung der Bürokratien vorgestellt. Selbst wenn dieser Vorschlag in der praktischen Gestaltung – besonders in Krisenzeiten – nicht immer einfach zu operationalisieren ist, steht er doch als langfristig angelegter Lösungsansatz für einen wiederholt geäußerten Kritikpunkt an der deutschen Verwaltung im Raum. Ob dies dann als unbürokratisches Handeln des Staates bei Krisenhilfen bezeichnet werden kann, sei dahingestellt. Das Ziel ist eher ein verbessertes bürokratisches als ein unbürokratisches Handeln.

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Prof. Dr. Gregor van der Beek  ist Professor für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt öffentliche Finanzen an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve. Er war zuvor Hochschullehrer in Deutschland, Österreich und den USA.  Gesundheitsökonomie, Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsförderung gehören zu seinen akademischen Interessen. Jan Bienek  absolviert derzeit einen Master of Science in Global Economic History an der London School of Economics and Political Science und arbeitet als Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule Rhein-Waal. Mit Studienaufenthalten in Kleve, Berlin, Madrid und Istanbul erwarb Jan Bienek einen Bachelor in Internationalen Beziehungen von der Hochschule Rhein-Waal. Zu seinen akademischen Interessen gehören Flüchtlings- und Migrationsstudien, internationale Entwicklungsund Konfliktstudien sowie die Wirtschaftsgeschichte des Kolonialismus. MMag. Dr. Florian Oppitz  ist Fachhochschul-Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Fachhochschule Kärnten in Villach und Lektor an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve/ Deutschland. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die Menschenrechte sowie das Recht der Europä­ ischen Union. Dr. Zunera Rana  forscht für künstliche Intelligenz, internationale Entwicklung und Makroökonomie an der Hochschule Rhein-Waal in Deutschland und an der Radboud University in den Niederlanden. Sie hat derzeit zwei Forschungsschwerpunkte: i) Präferenzfunktionen und Wohlfahrt von Empfängern internationaler Hilfe ii) Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Akteuren im Bereich der internationalen Entwicklung.

Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser ist auch regionale Wirtschaftsförderung: das Beispiel NRW

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Wilfried Boroch

Zusammenfassung

Krankenhäuser müssen aufgrund ihres staatlichen Versorgungsauftrags legitimerweise mit öffentlichen Fördermitteln ausgestattet werden. Darin spiegelt sich der staatliche Sicherstellungsauftrag gemäß des Sozialstaatsprinzips wider. Primär fällt unter diese Regelung die Investitionskostenfinanzierung der Länder. Zwar dient diese in erster Linie der öffentlichen Daseinsvorsorge, indirekt ist sie jedoch zugleich regionale Wirtschaftsförderung. Denn Krankenhäuser sind ein mächtiger Wirtschaftsfaktor. Vor diesem Hintergrund stellen die nach herkömmlicher Auffassung unzureichend bereitgestellten öffentlichen Krankenhausinvestitionen für die wirtschaftliche Entwicklung und Potenz einer Region einen limitierenden Faktor dar. Welche rechtlichen Rahmenbedingungen für die Investitionskostenfinanzierung in NRW gelten, wie sie umgesetzt werden und welche staatlichen Maßnahmen initiiert werden, um kritischen versorgungspolitischen Entwicklungen entgegenzuwirken und regionalspezifische Herausforderungen zu meistern, wird in diesem Beitrag erörtert.

14.1

Einleitung

Krankenhäuser dienen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie sind ein entscheidender Baustein, um die medizinische Versorgung bedarfsgerecht sicherzustellen, und tragen folglich dazu bei, die Lebensqualität der Bevölkerung zu steigern. Das ist jedoch nur eine Seite der

W. Boroch (*) FOM|Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige Gesellschaft mbH, Essen, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_14

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Medaille, denn auf der anderen Seite gehen von ihnen spürbare volkswirtschaftliche Effekte aus. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive sind die größten Krankenhausbetreiber zweifelsfrei mit Wirtschaftsunternehmen gleichzusetzen. So lag der Umsatz der fünf größten privaten Klinikbetreiber in Deutschland im Jahr 2020 zwischen 9,82 Mrd. € (Helios/ Fresenius) und 2,93  Mrd.  € (Sana) (vgl. Statista, 2022a). 2019 waren rund 930.000 ­Menschen in deutschen Krankenhäusern in Vollbeschäftigung tätig (vgl. Statista, 2022b). Hinzu kommt eine sechsstellige Zahl an Teilzeitbeschäftigten. Auch auf regionaler Ebene ist der volkswirtschaftliche Beitrag der Krankenhäuser enorm: 2019 waren in den 341 Krankenhäusern NRWs (Nordrhein-Westfalen) knapp 276.000 Menschen beschäftigt (vgl. Landesbetrieb IT.NRW, 2020). Das entspricht 3,6 % aller Beschäftigten im Bundesland. Ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung NRWs dürfte überschlägig bei mehr als 2,5  % liegen. Weiterhin tragen die nordrhein-westfälischen Krankenhäuser spürbar zur Verbesserung des Landes-Steueraufkommens bei. So schätzte das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (vgl. RWI, 2016, S.  10) deren jährliche Steuerzahlungen aus dem laufenden Betrieb auf etwa 1  Mrd.  €, wovon wiederum nahezu 400 Mio. € in die kommunalen Haushalte flossen. Vor diesem Hintergrund ist jede Förderung von Krankenhäusern, die der Sicherstellung der öffentlichen Daseinsvorsorge dient, indirekt zugleich regionale Wirtschaftsförderung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hierzulande die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser nach dem Prinzip der dualen Finanzierung im Wesentlichen durch zwei Quellen erfolgt. So werden die Betriebskosten für die medizinische Behandlung der Patienten von den Krankenkassen refinanziert, während die Infrastrukturkosten der Krankenhäuser im Rahmen der sogenannten Investitionskostenfinanzierung regelhaft durch die einzelnen Bundesländer sichergestellt werden. Diese aus Steuermitteln finanzierte staatliche Investitionsförderung steht seit etlichen Jahren im Mittelpunkt der Kritik. Unterschiedliche Untersuchungen (siehe beispielsweise BDO AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, 2015; RWI, 2017) gelangen gleichlautend zu dem Ergebnis, dass die Länder ihren Investitionsverpflichtungen nicht ausreichend nachkommen, was zur Folge hat, dass inzwischen ein beträchtlicher Investitionsstau zu konstatieren ist, der sich durchaus substanzschädigend auswirkt (vgl. RWI, 2016, 2022). Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) kommt beispielsweise in einer Auswertung aus dem Jahr 2019 zu dem Schluss, dass sich die Fehlbeträge für notwendige Investitionen mittlerweile bundesweit auf mindestens 30  Mrd.  € aufsummieren (vgl. DKG, 2019). Wissenschaftlich unabhängigere Quellen wie das RWI (2017, S. 7) bestätigen diese immensen Förderlücken: Um den bestehenden Investitionsbedarf zu decken, müssten die Länder demnach jährlich zusätzlich 2,6 Mrd. € zur Verfügung stellen. Das hieße, dass sie ihre Mittel im Vergleich zur heutigen Regelförderpraxis um nahezu 50 % aufzustocken hätten. Zugleich weist das RWI (2017, S. 21 ff.) in seinem Gutachten darauf hin, dass die tatsächliche Höhe der jährlich bereitgestellten Mittel maßgeblich von der Finanzkraft des jeweils zuständigen Bundeslandes abhängt. Anders ausgedrückt: wohlhabendere Länder sind eher in der Lage, höhere Fördermittel zu bewilligen, als ärmere. Dies hat zur Konsequenz, dass sich nicht nur die Versorgungs-

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situation zwischen den einzelnen Ländern qualitativ auseinanderentwickelt, sondern auch deren wirtschaftliche Leistungskraft unterschiedlich gefördert wird. Für das Land NRW, dessen Haushaltslage seit Jahren angespannt ist, ergeben sich daher große Herausforderungen. Nach neusten Berechnungen existiert landesweit für die ansässigen Krankenhäuser eine Förderlücke in Höhe von jährlich rund 600  Mio.  € bis 1,2 Mrd. € (vgl. RWI/hcb, 2022, S. 15 ff.). Welche rechtlichen Rahmenbedingungen für die Investitionskostenfinanzierung in NRW gelten, wie sie umgesetzt werden und welche staatlichen Maßnahmen initiiert werden, um kritischen Entwicklungen entgegenzuwirken, wird in diesem Beitrag erörtert. Abschließend werden sodann erneut Bezüge zur regionalen Wirtschaftsförderung hergestellt.

14.2 Regionalspezifische Krankenhausförderung NRW Förderfähig sind in NRW grundsätzlich alle Krankenhäuser, die im Rahmen der landesspezifischen Krankenhausplanung als (Bedarfs-)Krankenhaus ausgewiesen werden. Die Mittel für die staatliche Investitionskostenförderung werden jeweils über den jährlichen Landeshaushalt aufgebracht. Gemäß KHGG NRW (Krankenhausgestaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalens) sind dabei die Kommunen spürbar an der Mittelaufbringung zu beteiligen. Investitionsförderung und Krankenhausplanung sind demzufolge eng miteinander verknüpft. So dient erstere in einem weitergefassten Sinne als markantes staatliches Steuerungsinstrument, um die stationären Versorgungstrukturen mitzugestalten (vgl. PD-­ Berater der öffentlichen Hand GmbH, 2019, S. 95).

14.2.1 Pauschalförderung Die Investitionskostenfinanzierung in NRW unterliegt einigen Besonderheiten. Seit 2008 wird sie, anders als in vielen anderen Bundesländern üblich (siehe Abb.  14.1), mittels einer sogenannten Pauschalförderung praktiziert. Vom Grundsatz her stellt sie deckungsgleich zur bundesweit gängigen Förderpraxis eine zweiteilige Investitionskostenfinanzierung dar. So wird auch in NRW für die Wiederbeschaffung kurzfristiger Anlagegüter und kleinerer baulicher Maßnahmen ein Pauschalbetrag angesetzt. Abweichend von der allgemein üblichen Förderpraxis werden jedoch Förderungen von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten einschließlich der notwendigen Erstausstattung eines Krankenhauses nicht durch die antragsbewilligte Einzelförderung, sondern mittels Baupauschale vorgenommen. Beide Komponenten zusammen ergeben die NRW-Pauschalförderung nach § 18 KHGG NRW, die für jedes Krankenhaus in NRW jährlich neu berechnet und ihm förderseitig zur Verfügung gestellt wird. Die Berechnung basiert auf Leistungskennzahlen, die die jeweils krankenhausspezifischen Fallwert-, Tageswert, Budget- und Ausbildungsbeiträge berücksichtigen.

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Unter Investitionskosten versteht das Krankenhausfinanzierungsgesetz (§ 9 KHG): a) „die Kosten der Errichtung (Neubau, Umbau, Erweiterungsbau) von Krankenhäusern und der Anschaffung der zum Krankenhaus gehörenden Wirtschaftsgüter, ausgenommen der zum Verbrauch bestimmten Güter (Verbrauchsgüter),“ b) „die Kosten der Wiederbeschaffung der Güter des zum Krankenhaus gehörenden Anlagevermögens (Anlagegüter).“ Gemäß KHG haben die (Bedarfs-)Krankenhäuser Anspruch auf Investitionskostenfinanzierung. Diese teilt sich nach allgemeiner Förderpraxis in zwei Bereiche auf: Einzelförderung (§ 9 Abs. 1 und 2 KHG) Sie unterliegt einem Antrags- und Prüfungsverfahren, wonach das Krankenhaus für konkrete Einzelinvestitionen Förderanträge stellt, die dann zunächst durch die verantwortliche Landesbehörde geprüft werden. Anschließend wird eine konkrete Bewilligung von Fördermitteln in einer bestimmten Höhe erteilt. Die bewilligten Fördermittel sind zweckgebunden. Pauschalförderung (§ 9 Abs. 3 und 4 KHG) Hier wird dem Krankenhaus ein nach bestimmten Kriterien bemessener jährlicher Pauschalbetrag für die Wiederbeschaffung kurzfristiger Anlagegüter und kleinerer baulicher Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Es gibt kein Antrags- und Prüfungsverfahren. Im Rahmen der Zweckbindung kann das Krankenhaus frei über den Einsatz der bewilligten Mittel verfügen. Einzelheiten zur Investitionsförderung sind im jeweiligen Landesrecht verankert. Seit 2012 können die Fördermittel alternativ mittels der sogenannten leistungsorientierten Investitionspauschale bewilligt werden.

Abb. 14.1  Infobox Investitionskostenfinanzierung. (Quelle: eigene Darstellung anhand der Angaben aus § 9 KHG; Deutscher Bundestag 2019, S. 15 f.)

Die Baupauschale bietet den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern die Möglichkeit, mit den bewilligten Geldern im Rahmen der Zweckbindung frei zu wirtschaften. Das bedeutet für sie Flexibilität bei der Verwendung der Fördermittel und gibt ihnen darüber hinaus Planungssicherheit. Dazu trägt auch bei, dass nicht verbrauchte Mittel innerhalb eines gewissen Zeitrahmens überjährig angespart werden können. Weil eine spezifische Einzelförderung auf Antrag aber durch diese Regelung ausgeschlossen ist, müssen die Klinikbetreiber im Gegenzug ihre Investitionen häufig mit Hilfe eines Kredits vorfinanzieren. Um die dafür anfallenden (Zins-)Kosten zu tragen und den Kredit zu tilgen, kann ausdrücklich die Baupauschale herangezogen werden (vgl. PD-Berater der öffentlichen Hand GmbH, 2019, S. 98; MAGS NRW, 2022a). Sie wird jedoch nicht nur positiv bewertet. Wichtigster Kritikpunkt ist, dass ihre Berechnung maßgeblich von Größen beeinflusst wird, die dem DRG-Vergütungssystem entnommen werden und keinen genügend sachgerechten Bezug zum tatsächlichen Investitionsbedarf eines Krankenhauses erkennen lassen. Eine solche Größe ist beispielsweise die Fallschwere eines Patienten. Weitergefasst gilt dieser Kritikpunkt auch für die Pauschalförderung insgesamt (vgl. PD-Berater der öffentlichen Hand GmbH, 2019, S. 97).

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Für die Pauschalförderung bewilligte das Land NRW im Jahr 2021 564 Mio. € (Baupauschale: 217  Mio.  €; Pauschalbeitrag: 347  Mio.  €; vgl. MAGS NRW, 2021). Die Förderhöhe für das Jahr 2022 dürfte ähnlich ausfallen. Damit ist die Landesförderung in den letzten Jahren insgesamt aufgestockt worden; noch 2014 lag sie gerade einmal bei 483  Mio.  €. Diese positive Veränderung im Hinblick auf die Fördermittel darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Investitionsförderung in NRW, ebenso wie auch in anderen Bundesländern, seit Jahren real rückläufig ist. Bezogen auf den Zeitraum 1991 bis 2019 errechnet die DKG (2021, S. 81) für NRW einen preisbereinigten Wertverlust von − 40  % (bundesweit: − 46  %). Entsprechend dieser Situation wurden in den vergangenen Jahren ergänzende Landesfördertöpfe aufgesetzt.

14.2.2 NRW-Investitionsprogramm Einzelförderung Seit 2018 hat NRW mit dem neuen § 21a KHGG NRW seine Haushaltsmittel für die Investitionskostenfinanzierung indirekt aufgestockt. Seither stellt das Land ergänzend zur zweiteiligen NRW-Pauschalförderung Gelder zur Verfügung, die unter dem Haushaltstitel „Einzelförderung“ firmieren und als Festbetrag bewilligt werden. Mit diesem Investitionsprogramm will NRW eine zielgenaue, qualitative Verbesserung der stationären Gesundheitsversorgung erreichen (vgl. MAGS NRW, 2018). Zu diesem Zweck legt es jährlich Förderschwerpunkte fest, die jeweils mit entsprechenden Förderkriterien verknüpft werden (siehe Abb.  14.2). Diese Kriterien muss ein (Bedarfs-) Krankenhaus verbindlich erfüllen, um Fördermittel aus dem Programm für eine Einzelinvestition beantragen zu können. Die Höhe der Fördermittel lag im Jahr 2018 bei 33 Mio. €, 2019 bei 66 Mio. € und in den fortfolgenden Jahren jeweils bei 100 Mio. €. Im Jahr 2021 wurden die Mittel nochmals unterjährig um 6 Mio. € aufgestockt (vgl. MAGS NRW, 2022a). Das Förderprogramm „Einzelförderung“ wird der Resonanz zufolge von der Mehrheit der Beteiligten positiv beurteilt und regelmäßig vollumfänglich ausgeschöpft. Diesbezüglich sei auf Tab.  14.1 verwiesen. Sie zeigt konkret, wie die Fördermittel 2021 regional verteilt wurden. Aufgelistet sind hier die acht größten Fördermaßnahmen, bei denen es sich in der Regel um Neu- und Umbauten sowie bauliche Erweiterungen handelte und die ein Fördervolumen zwischen knapp 6 Mio. € und mehr als 15 Mio. umfassten. Insgesamt wies das MAGS NRW in einer Bekanntmachung vom 12. November 2021 24 Projekte an 22 nordrhein-westfälischen Krankenhäusern aus, die am Investitionsprogramm „Einzelförderung 2021“ teilnahmen. Dabei wurden auch kleinere Maßnahmen gefördert. So wurden beispielsweise einem Paderborner Krankenhaus für den Umbau eines ehemaligen Patientenzimmers zu einem Notfall-Kreißsaal für infektiöse Patienten ca. 60.000 € Fördermittel bewilligt.

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Förderschwerpunkt des Jahres 2018 mit einem Fördervolumen in Höhe von 33 Mio. €: Qualitätsverbesserung der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen sowie der Versorgung von schwerkranken Kindern und Jugendlichen. Der Förderschwerpunkt muss zwingend eines der beiden folgenden Förderkriterien erfüllen: Förderkriterium 1 Das Fördervorhaben dient dazu, die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu stärken. Die Möglichkeit, eine Einzelförderung nach Förderkriterium 1 zu erhalten, kann verbessert werden, wenn mit dem Fördervorhaben eine Versorgung von Kindern und Jugendlichen bzw. von Personen fokussiert wird, die sich in der Übergangsphase vom Jugend- in das Erwachsenenalter befinden. Alternativ: Förderkriterium 2 Das Fördervorhaben dient der Stärkung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Bereich der Palliativmedizin oder Onkologie.

Förderschwerpunkt des Jahres 2019 mit einem Fördervolumen in Höhe von 66 Mio. €: Verbesserung der Versorgungsqualität durch strukturverändernde oder strukturstärkende Maßnahmen. Der Förderschwerpunkt muss zwingend eines der beiden folgenden Förderkriterien erfüllen: Förderkriterium 1 Das Fördervorhaben dient dem Abbau doppelt vorgehaltener Leistungsstrukturen. Alternativ: Förderkriterium 2 Das Fördervorhaben dient der nachhaltigen Stärkung der Leistungsstrukturen in ländlichen Versorgungsgebieten.

Förderschwerpunkt des Jahres 2020 mit einem Fördervolumen in Höhe von 100 Mio. €: Das Fördervorhaben dient dem Aufbau neuer Ausbildungsplätze nach § 2 Nr. 1a KHG und muss mindestens einen zusätzlichen Ausbildungskurs umfassen. Die Möglichkeit auf Einzelförderung kann verbessert werden, wenn mit dem Fördervorhaben ein Aufbau von Ausbildungsplatzkapazitäten zur Ausbildung als Pflegefachmann/-frau einhergeht und eine Kooperation mit einem ehemaligen Fachseminar für Altenpflege besteht, oder wenn mit dem Fördervorhaben ein Aufbau von Ausbildungsplatzkapazitäten in der Gesundheitsund Kinderkrankenpflege einhergeht.

Förderschwerpunkte des Jahres 2021 mit einem Fördervolumen in Höhe von 100 Mio. €: Förderkriterium 1 Das Fördervorhaben dient der Stärkung der geburtshilflichen Versorgung. Die Möglichkeit einer Einzelförderung kann verbessert werden, wenn das Fördervorhaben im Zusammenhang mit hebammengeleiteten Kreißsälen steht. Alternativ: Förderkriterium 2 Das Fördervorhaben dient der Stärkung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen.

Förderschwerpunkt des Jahres 2022 mit einem Fördervolumen in Höhe von 100 Mio. €: Das Fördervorhaben dient der Stärkung der patientenorientierten Versorgung im höheren Lebensalter (Altersmedizin).

Abb. 14.2  Förderschwerpunkte und -kriterien der NRW-Einzelförderung, 2018–2022. (Quelle: eigene Darstellung, angelehnt an MAGS NRW, 2022a)

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Tab. 14.1  Ausgewählte Fördermaßnahmen der NRW-Einzelförderung 2021. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an MAGS NRW, 2021, Anlage B) Stadt und Krankenhaus Köln Krankenhaus Porz am Rhein gGmbH Ahl St. Franziskus-­ Hospital Ahlen

Hamm und Güterloh LWL-Klinik Hamm, Dependance Gütersloh, Oberhausen Evangelisches Krankenhaus Oberhausen Dinslaken GFO Kliniken Niederrhein St. Vinzenz-Hospital

Datteln St. Vincenz-­ Krankenhaus Datteln Vestische Kinder- und Jugendklinik Moers Krankenhaus Bethanien Siegen DRK-­ Kinderklinik Siegen gGmbH

Fördervorhaben Teilneubau auf dem Krankenhausgelände, der eine räumliche Einheit der Geburtshilfe, der Wöchnerinnenstation und der Kinderklinik ermöglicht (Eltern-Kind-Zentrum). Erweiterungsbau an Stelle der jetzigen Kinderklinik, der an einem bestehenden Neubau andockt und mit zwei Geschossen, die Pädiatrie mit neonatologischer Intensivabteilung und die Geburtsklinik mit perinatologischem Schwerpunkt aufnimmt (Mutter- Kind-­ Familienzentrum). Errichtung eines neuen Entbindungsbereiches einschl. hebammengeleiteter Kreißsäle, ein zweiter Sectio-OP im Kreißsaalbereich, zusätzliche Mutter-(Eltern-) Kind-­ Zimmer im Bereich Neonatologie sowie speziell für die Behandlung kranker Neugeborener.

Fördersumme 15.772.494,16 €

11.201.817,03 €

10.321.999,00 €

Erweiterungsneubau, Umbau und Restrukturierung des 9.842.308,40 € Bestandes im regionalen Zentrum „Kinderkrankenhaus und Geburtsklinik“ am Standort Oberhausen. 8.143.246,08 € Umbau und Sanierung Geburtshilfe und Pädiatrie mit Neonatologie (Erweiterung um einen zusätzlichen hebammengeleiteten Kreissaal mit Nebenraumprogramm, Verlagerung der neonatologischen Intensivstation, Verlagerung der bettenführenden Station der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin). Errichtung eines neuen Entbindungsbereiches einschl. 6.834.542,31 € hebammengeleiteter Kreißsäle, ein zweiter Sectio-OP im Kreißsaalbereich, zusätzliche Mutter-(Eltern-) Kind-­ Zimmer im Bereich Neonatologie sowie speziell für die Behandlung kranker Neugeborener ausgestattete Rooming-­ in-­Zimmer auf der geburtshilflichen Station. Bauliche Erweiterung um zwei zusätzliche Kreißsäle, Verlagerung und Erweiterung Wöchnerinnenstation, Verlagerung und Erneuerung Neonatologie. Neubau einer KJP-Klinik mit Pflichtversorgung als Anbau an das bestehende Gebäude SPZ/KJP (Einrichtung fakultativ geschlossener Stationen mit KJP-­ Intensiveinheiten, separate Notaufnahmeeingang).

6.434.282,82 €

5.690.401,69 €

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14.2.3 Sonstige Regionalförderungen Zusätzlich zu den zuvor genannten Förderprogrammen gibt es auf NRW-Ebene nur wenige Ausnahmebereiche für sonstige einzelfallbezogene Fördermaßnahmen, die zudem vom Volumen her weitgehend vernachlässigbar sind. Hierzu zählt zum Beispiel der sogenannte „Besondere Betrag“, der kurzfristig zur Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit eines Krankenhauses oder auch in einem akuten Notfall bewilligt wird. Darüber hi­ naus sind noch für bestimmte Situationen und unter besonderen Voraussetzungen Ausgleichsleistungen sowie Anlauf- und Umstellungskosten bei Aufnahme oder Fortführung des Krankenhausbetriebs förderfähig (§ 23 bis 27 KHGG NRW).

14.3 Ergänzende regionalwirksame Krankenhausförderung des Bundes Zur Förderung nordrhein-westfälischer Krankenhäuser kann ergänzend auf bundesweite Fördermittel zurückgegriffen werden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Sonderinvestitionsprogramme, die als Mischfinanzierungstöpfe ausgestaltet sind. Bei dieser Variante überweist der Bund die im jeweiligen Gesamtprogramm ausgewiesenen Fördermittel den Ländern unter der Maßgabe, dass sie  – und gegebenenfalls auch die davon profitierenden Krankenhausträger – sich an der Finanzierung des förderfähigen Vorhabens beteiligen. Im Jahr 2021 konnten von den nordrhein-westfälischen Krankenhäusern vor allem zwei große Fördertöpfe abschöpft werden. Hinzu kamen noch weitere überregionale Förderprogramme, die vom Umfang her allerdings deutlich kleiner ausfielen.

14.3.1 Krankenhausstrukturfonds II Der Krankenhausstrukturfonds ist ein durch das BAS (Bundesamt für Soziale Sicherung) federführend verwaltetes bundesweites Programm, mit dem in den Bundesländern strukturverändernde und -verbessernde Maßnahmen angestoßen und gefördert werden sollen, um den erforderlichen Umbau der Krankenhauslandschaft mit dem Ziel zu unterstützen, eine bedarfsgerechte Krankenhausversorgung zu erreichen. Während in der ersten Phase des Fonds (Strukturfonds I: 2016 bis 2018) pauschale Fördertatbestände wie „Schließung“, „Konzentration“ und „Umwandlungen“ im Vordergrund standen, sind mit dem Strukturfonds II (2019 bis 2022) die Fördertatbestände geschärft und teilweise ausgebaut worden. Konkret zählen nun Maßnahmen dazu, die dazu beitragen, Doppelstrukturen zu bereinigen, Überkapazitäten abzubauen und die Versorgungsqualität zu erhöhen. Darüber hinaus schließt der Fonds die Förderung der IT-Sicherheit, der Zentrenbildung, der (integrierten) Notfallversorgung und der Ausbildung in der pflegerischen Versorgung mit ein (vgl. BAS, 2022a).

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Das Gesamtvolumen des Krankenhausstrukturfonds II beträgt für den Förderzeitraum 2019 bis 2022 2,0 Mrd. €, der rechnerische Anteil NRWs am Gesamtvolumen für ländereigene Vorhaben macht rd. 401  Mio.  € aus (vgl. MAGS NRW, 2022b; DKG, 2021, S. 13 ff.). Hinzu kommen nochmals ca. 20 Mio. € für länderübergreifende Projekte. Die Bundesfördermittel können bis 2024 abgerufen werden. Voraussetzung dafür ist eine kofinanzierende Landesbeteiligung an dem jeweils zu fördernden Vorhaben in mindestens gleicher Höhe. Von diesen mindestens 50  % müssen die konkret geförderten Krankenhausträger NRWs wiederum einen Eigenanteil in Höhe von mindestens 10 % bis maximal 25 % (bezogen auf die zuwendungsfähigen Gesamtausgaben) tragen (vgl. MAGS NRW, 2022b). NRW hat für die Jahre 2019 bis 2022 jährlich jeweils 95 Mio. € in den Landeshaushalt eingestellt, womit sich über die Gesamtförderperiode ein Fördervolumen von 380 Mio. € ergibt. Mittel, die innerhalb eines Förderjahres nicht verbraucht werden, sind überjährig nutzbar. Abrufbar sind die Mittel, ebenso wie auf der Bundesebene, bis 2024. Eine Bilanz zur Umsetzung des Strukturfonds lässt sich aktuell nur unter Vorbehalt ziehen. Während die Antragsstellung beim MAGS NRW zum Fonds I nach Angaben der Krankenhausgesellschaft NRW (vgl. KG NW, 2021) noch deutlich überzeichnet wurde, sind im Vergleich dazu die Förderanträge zum Strukturfonds II nach den vorliegenden Zahlen des BAS eher als moderat einzustufen. Zum Stichtag 31.12.2020 wurden beim Amt lediglich Fördermittel in Höhe von 81,2 Mio. € beantragt. Aktivstes Bundesland war Bayern mit insgesamt acht Anträgen und einem Fördervolumen von 73,2 Mio. €. Dagegen kamen aus NRW bis zum genannten Stichtag keine Anträge (vgl. BAS, 2021). Diese Zahlen sollten jedoch nicht überbewertet werden. Nach Aussagen der BAS bereiten die Länder weiterhin intensiv Antragstellungen vor und reichen zum Teil mehrere Vorhaben gebündelt ein. Insbesondere die Erfahrungen mit dem Strukturfonds I untermauern den hohen Investitionsbedarf nordrhein-westfälischer Krankenhäuser. Das Land NRW selbst wiederum versucht, den Einsatz der Programmmittel stärker zu kanalisieren. So legte das Gesundheitsministerium NRW im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen für die Jahre 2021 bis 2024 folgende drei Förderschwerpunkte fest (vgl. MAGS NRW, 2022b): 1. „Standortübergreifende Konzentration akutstationärer Versorgungskapazitäten mit einer Priorität, wenn die beteiligten Krankenhäuser eine dauerhafte Zusammenarbeit im Rahmen eines Krankenhausverbundes, etwa durch gemeinsame Abstimmung des Versorgungsangebots, vereinbart haben. 2. Dauerhafte Schließung eines Krankenhauses oder eines Teils von akutstationären Versorgungseinrichtungen eines Krankenhauses mit einer Priorität auf eine vollständige Standortschließung/Schließung einer unselbständigen Betriebsstätte. 3. Beschaffung, Errichtung, Erweiterung oder Entwicklung der Informationstechnik der Krankenhäuser, die die Voraussetzungen der Verordnung zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen gemäß dem Gesetz für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI-­ KritisV) erfüllen.“

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14.3.2 Krankenhauszukunftsfonds Zum 01.01.21 implementierte der Bundesgesetzgeber den Krankenhauszukunftsfonds mit dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG). Dessen Verwaltung und Steuerung obliegt erneut dem BAS.  Mithilfe des Zukunftsfonds soll die Digitalisierung und allgemein die technische Modernisierung der Krankenhäuser vorangetrieben werden. Dafür steht bundesweit ein Fördervolumen in Höhe von 3 Mrd. € zur Verfügung. Der rechnerische Förderanteil NRWs beträgt 622,5  Mio.  €. Die Länder selbst haben sich zusätzlich mit Fördermitteln von insgesamt 1,3 Mrd. € am Fonds zu beteiligen (vgl. BAS, 2022b). Das KHZG nennt in § 14a insgesamt 11 Förderungsschwerpunkte (siehe Tab. 14.2). Dazu zählen Maßnahmen, die der Verbesserung der digitalen Infrastruktur der Krankenhäuser in den Bereichen interne und sektorübergreifende Versorgung, Ablauforganisation, Kommunikation, Telemedizin, Robotik, Hightechmedizin und Dokumentation dienen. Darüber hinaus sind Mittel für die IT- und Cybersicherheit sowie für die Modernisierung der Notfallkapazitäten der Krankenhäuser vorgesehen. Mittel können verfahrensseitig ähnlich wie beim Krankenhausstrukturfonds beantragt und abgerufen werden. Gemäß Gesetz hat sich das antragstellende Land und/oder der zu fördernde Krankenhausträger mit mindestens 30 % der förderfähigen Kosten des jeweiligen Projektes an der Finanzierung zu beteiligen, wobei die Krankenhäuser zusätzlich über ein von der KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) speziell aufgelegtes Kreditprogramm unterstützt werden (vgl. DKG, 2021, S. 16). Ähnlich wie in anderen Bundesländern, sieht Tab. 14.2  Antragsaufkommen und beantragte Fördermittelhöhe aus dem Krankenhauszukunftsfonds von Bund und NRW, Stand: 31.12.2021. (Quelle: Eigene Darstellung anhand der Angaben aus BAS, 2022c) Förderschwerpunkte 1 Notaufnahme 2 Patientenportale 3 Digitale Dokumentation 4 Entscheidungsunterstützungssysteme 5 Medikationsmanagement 6 Leistungsanforderung 7 Cloud-Computing 8 Bettenversorgungsnachweissystem 9 Telemedizinische Netzwerke 10 Informationssicherheit 11 Patientenzimmer Pandemie Anträge insgesamt Antragsvolumen in € insgesamt Bund Bundesländer

NRW 101 195 308 98 164 89 31 3 61 92 4 1159

Bund 395 1130 1533 550 937 553 151 26 270 776 9 6070*

635,1 Mio. € 275,5 Mio. €

3,04 Mrd. € 1,24 Mrd. €

* Die Abweichung von der Zahl der gestellten Anträge ergibt sich daraus, dass ein Antrag mehrere Antragsgegenstände betreffen kann.

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allerdings auch die Zuweisungspraxis in NRW vor, dass das Land die vollen 30 % der Ko-Finanzierung übernimmt (DKG, 2021, S. 19). Wie das BAS Anfang des Jahres 2022 mitgeteilt hat, sind bis zum 31. Dezember 2021 über 6070 Anträge mit einem Fördervolumen von 3,04 Mrd. € beim Amt eingegangen. Allein in NRW wurden 1159 Anträge (19,1  % am Gesamtantragsaufkommen) gestellt. Tabelle 3 gibt die Zahl der Förderanträge an, differenziert nach dem Antragsgegenstand. Das beantragte Fördervolumen aus NRW belief sich insgesamt auf 635,1 Mio. € (20,9 % am Gesamtvolumen). Hinzu kommen Mittel im Umfang von 275,5 Mio. €, die durch das Land bereitgestellt wurden, womit sich das Gesamtvolumen der beantragten Fördermittel auf 910,6  Mio.  € aufsummiert. Bis zum 12.  Januar 2022 wurden vom BAS bereits 22,7 Mio. € bewilligt (vgl. BAS, 2022c).

14.3.3 Kommunalinvestitionsförderungsfonds Die Kommunen nehmen in ihrem Einzugsgebiet den Sicherstellungsauftrag für die Krankenhausversorgung wahr und sind darüber hinaus häufig selbst Träger von Krankenhäusern. Entsprechend müssen sie sich an der Investitionskostenfinanzierung beteiligen. In NRW beträgt ihr Anteil an den jährlich veranschlagten Haushaltsbeträgen für die Investitionsförderung nach § 17 KHGG NRW 40 %. Seit 2015 können die Kommunen unter bestimmten Bedingungen unterstützend auf den bundesweit platzierten Kommunalinvestitionsförderungsfonds (KlnvFG) zurückgreifen, der vom Bund eingeführt wurde, um die Investitionstätigkeit finanzschwacher Gemeinden und Gemeindeverbände zu stärken. Im Rahmen dieses Fonds sind auch Krankenhäuser förderfähig. Die Förderquote des Bundes beträgt dabei 90 %, während sich die Länder gemeinsam mit ihren Kommunen mit mindestens 10 % am Gesamtvolumen der förderfähigen Kosten beteiligen müssen (vgl. BMF, 2022a). Über den Umsetzungsstand des Fonds berichtet der Bund jährlich. Leider wird der Förderbereich „Krankenhäuser“ nicht separat nach Ländern ausgewiesen. Zum 31.06.2021 lagen bundesweit insgesamt 177 Meldungen vor, mit einem Investitionsvolumen von 206 Mio. € (vgl. BMF, 2022b). Nach Einschätzung der DKG (2021, S. 23) trugen die für das Krankenhaus verwendeten Mittel jedoch nicht dazu bei, die bestehende Investitionsproblematik zu verbessern.

14.3.4 Sonstige Fördermittelprogramme Eine vollständige Aufzählung aller Fördermittel, die für die nordrhein-westfälischen Krankenhäuser zur Verfügung stehen, ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Abschließend seien jedoch noch zwei weitere überregionale Förderbereiche genannt. Zum einen handelt es sich dabei um spezifische Projektförderungen im Rahmen des bundesweit aufgelegten Innovationsfonds. Dieser Fonds bewilligt GKV-weit Fördermittel

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für neue Versorgungsformen und Versorgungsforschung. Zu diesem Zweck wurde ein Förderbudget von bisher insgesamt 2,0 Mrd. € zur Verfügung gestellt. So konnten für den Förderzeitraum von 2016 bis 2019 jeweils Mittel in Höhe von jährlich 300  Mio.  € abgerufen werden, während es seit 2020 bis zum voraussichtlichen Förderende im Jahr 2024 jährlich nochmals 200 Mio. € sind (vgl. GBA Innovationsfonds, 2021). Schließlich sollte nicht vernachlässigt werden, dass insbesondere aus den Bereichen Klima und Umwelt zunehmend Fördermittel für den Um- und qualitativen Ausbau von Infrastruktur zur Verfügung stehen. Das betrifft nicht nur die bundesdeutsche Förderung, sondern vor allem auch EU-Fördermittel aus dem europäischen Sozialfonds oder anderen Programmen, die sicherlich im Rahmen des angekündigten Green Deals deutlich ausgeweitet werden dürften. Aktuell werden in diesem Zusammenhang speziell Lösungsansätze diskutiert, die mit dem Konzept des Green Hospitals in Verbindung stehen (vgl. Litke et al., 2020). Zieht man diesbezüglich beispielsweise den Vergleich zu der Initiative ­Bayerns (vgl. Stmgp Bayern, 2022), so hat das Land NRW in diesem innovativen Förderfeld sicherlich noch Ausbaupotenzial.

14.4 Corona-bedingte NRW-Sonderfördermittel mit investiver Wirkung Im Rahmen der Corona-Krise wurden den Krankenhäusern aus unterschiedlichen (Konjunktur-)Programmen zusätzliche staatliche Fördermittel bereitgestellt (vgl. RWI, 2022, S. 20). Tab. 14.3 zeigt die einzelnen Förderzwecke und weist für NRW ein potenzielles Fördervolumen in Höhe von knapp 1,1 Mrd. € für das Jahr 2020 aus. Zudem wurden in 2021 192,2 Mio. € Extramittel haushaltseitig bewilligt und nach dem für die Pauschalförderung geltenden Schlüssel auf die Krankenhäuser NRWs verteilt. Bei den hier ausgewiesenen Sonderförderprogrammen ist zweierlei zu beachten. Erstens könnte man dieser Position durchaus die aus dem Krankenhauszukunftsfonds zur Verfügung gestellten Fördermittel hinzurechnen, weil sie indirekt Bestandteil der 2020 initiierten „Corona-Zuschussprogramme“ waren und  – wie zuvor gezeigt  – auch vom Land alimentiert werden. Zweitens werden in der Tabelle die Ausgleichszahlungen für Corona-bedingte Erlösausfälle nicht berücksichtigt, und zwar deshalb, weil sie keine originären investiven Effekte ausstrahlen.

Tab. 14.3  Corona-bedingt ausgelöste Sonderfördermittel NRW. (Quelle: Eigene Darstellung anhand der Angaben aus Bezirksregierung Münster, 2022; RWI, 2022, S. 20) Förderschwerpunkte 1 Langzeitbeatmungsgeräte 2 Modernisierungsprogramm 3 Sonderinvestitionsprogramm Pflegeschulen

NRW 106 a. 750 Mio. € (2020–2022) b. 192 Mio. € (2021–2022) 250 Mio.

14  Investitionsfinanzierung der Krankenhäuser ist auch regionale …

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14.5 Investitionsfinanzierung und regionale Wirtschaftsentwicklung Krankenhäuser müssen aufgrund ihres staatlichen Versorgungsauftrags legitimerweise mit öffentlichen Fördermitteln ausgestattet werden. Darin spiegelt sich der staatliche Sicherstellungsauftrag gemäß des Sozialstaatsprinzips wider (Art. 20.1 GG). Primär fällt unter diese Regelung die Investitionskostenfinanzierung der Länder, die nach herkömmlicher Auffassung unzureichend ist. Inzwischen existieren Investitionslücken, die so groß sind, dass sie durchaus als substanzgefährdend eingeschätzt werden können (vgl. RWI, 2016, 2022; Deutscher Bundestag, 2019; PD-Berater der öffentlichen Hand GmbH, 2019). Sie bedrohen die Krankenhäuser so stark, dass es mittlerweile gängige Praxis geworden ist, GKV-Mittel, die für die medizinische Behandlung der Patienten vorgesehen sind, für ­investive Zwecke umzuwidmen. Die bekannten Konsequenzen für die pflegerische und medizinische Versorgungsqualität werden dabei anscheinend bewusst in Kauf genommen. Abgesehen von dieser versorgungsseitigen Problematik, sind Investitionstätigkeiten in Krankenhäusern aus der regionalpolitischen Entwicklungsperspektive eines Landes und dessen Kommunen aber grundsätzlich positiv zu bewerten. Wie eingangs bereits dargelegt, sind Krankenhäuser ein mächtiger Wirtschaftsfaktor. Für NRW bestätigen das insbesondere Auswertungen des WifOR-Forschungsinstituts, die im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie durchgeführt wurden (vgl. BMWi, 2020, S. 12 ff.; 2021). Das Institut berechnet den sogenannten ökonomischen Fußabdruck der Dienstleistungen von Krankenhäusern. Dieser berücksichtigt neben der direkt erwirtschafteten Bruttowertschöpfung zusätzlich die indirekten und induzierten ökonomischen Effekte ihrer Tätigkeit. Das sind Effekte, die durch die Verflechtung der Gesundheitswirtschaft mit anderen Branchen (indirekt) und den daran gekoppelten privaten Haushalten (induziert) entstehen (vgl. BMWi, 2021). Für die Krankenhäuser NRWs wurde im Jahr 2018 ein ökonomischer Fußabdruck von insgesamt 25,5 Mrd. € ermittelt, davon 4,2 Mrd. € indirekt und 5,3 Mrd. € induziert (vgl. BMWi, 2020, S. 30). Demnach dürfte die tatsächliche Wertschöpfung der Krankenhäuser NRWs an der gesamten Bruttowertschöpfung des Landes um ca. 60 % höher liegen, als üblicherweise in den allgemeinen Statistiken ausgewiesen. Überschlägig müsste sie einem Wert von rd. 4 % entsprechen. Anders ausgedrückt: Mit jedem im Krankenhaus produzierten Euro wurde in der Gesamtwirtschaft eine zusätzliche Wertschöpfung in Höhe von 0,59  € erzielt. Damit ist zugleich ein erhöhter gesamtwirtschaftlicher Beschäftigungseffekt verbunden. Dem ökonomischen Fußabdruck zufolge entfällt auf zwei Erwerbstätige im Krankenhaus jeweils ein zusätzlicher Erwerbstätiger in der Gesamtwirtschaft (vgl. BMWi, 2020, S. 31). Vor diesem Hintergrund stellen fehlende Investitionen für die wirtschaftliche Entwicklung und Potenz einer Region einen limitierenden Faktor dar. Im sogenannten Innovationsbarometer NRW aus dem Jahr 2016 wurde die Investitionssituation der nordrhein-­westfälischen Krankenhäuser bis auf die Ebene der 53 Kreise und kreisfreien Städte heruntergebrochen und bewertet (vgl. RWI, 2016). Unter dem damaligen Studien-

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design ergaben sich flächendeckend Fördermittellücken, die regional bei mindestens ca. 5 Mio. € (Heinsberg) und maximal knapp 56 Mio. € (Köln) lagen. In demselben Gutachten kommen die Gutachter für das Land NRW zu dem Ergebnis (vgl. RWI, 2016, S.  10), dass der volkswirtschaftliche Wert von (Krankenhaus-)Investitionen im Umfang von 1,5 Mrd. € allein für NRW eine Bruttowertschöpfung in Höhe von 395 Mio. € (bundesweit: 1,85 Mrd. €) erbringen würde. Zusätzlich kämen fiskalische Effekte in Höhe von ca. 700 Mio. € hinzu, die infolge zusätzlicher Beschäftigung sowie Mehreinnahmen durch Steuern und sozialversicherungspflichtige Beitragsmittel entstünden. Im Analogschluss bedeutet dies, dass fehlende Investitionsmittel des Landes entsprechende negative volkswirtschaftliche und fiskalische Wirkungen für die Regionen nach sich ziehen dürften.

14.6 Fazit Mit dem staatlichen (Teil-)Rückzug aus der Investitionsfinanzierung, der bereits in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeleitet wurde, haben die Länder einen wichtigen Steuerungshebel der Entwicklung der stationären Versorgung geradezu veröden lassen. Das Land NRW hat jedoch in den letzten Jahren im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten darauf reagiert und zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Krankenhaussituation initiiert. Zu den wichtigsten zählen neben den gesetzlichen Änderungen in der Krankenhausplanung die Maßnahmen im Rahmen der Investitionskostenfinanzierung. Das betrifft Einmalaktivitäten wie die im Jahr 2017 bewilligte Sonderzahlung in Höhe von 250 Mio. €, die systematische Ergänzung der Pauschalförderung um die Einzelförderung sowie die Bereitstellung weiterer relevanter Fördermitteltöpfe, die häufig in Kombination mit zusätzlichen Bundesmitteln vergeben werden. Das tatsächliche Förderbudget ist daher deutlich höher, als die bloße Pauschalförderung im Rahmen der staatlichen Investitionskostenfinanzierung auf den ersten Blick vermuten lässt. Ungeachtet der erheblichen Corona-­ bedingten Sondermittelfördermittel NRWs ergibt sich für das Jahr 2021 ein Gesamtfördervolumen aus Pauschal- und Einzelförderung in Höhe von 671 Mio. € (vgl. MAGS, 2021). Hinzu kommen die Fördermittel auf Bundesebene, die ein potenzielles Fördervolumen von überschlägig 1,1 Mrd. € ausmachten. Schließlich sollte auch berücksichtigt werden, dass eine Reihe weiterer Sonderbudgets existiert, die ebenfalls für Fördermaßnahmen offenstehen. Auch in den Vorjahren (2017 bis 2020) lag die durchschnittliche Förderungshöhe mit jährlich rund 960 Mio. € spürbar oberhalb der gesetzlichen Regelförderung (vgl. KG NW, 2021). Eine Gesamtbeurteilung der Fördermittelsituation der nordrhein-­westfälischen Krankenhäuser bedarf daher einer systematischen und vor allem interessenpolitisch unabhängigen Gesamtbewertung aller zur Verfügung stehenden Fördertöpfe. Gleichwohl ist freilich festzuhalten, dass die Fördersituation der Krankenhäuser nicht befriedigend ist. Zwar lassen sich die beiden vergangenen Jahre infolge der Corona-­ Pandemie nicht als Referenzjahre heranziehen – so handelt es sich beispielsweise beim

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Krankenhauszukunftsfonds unzweifelhaft um eine Einmal-Fördermaßnahme –, doch existieren unbestritten weiterhin Investitionsbedarfe und -lücken, die sowohl versorgungseitig als auch in wirtschaftlicher Hinsicht kritisch sind: Anstatt nun, dass der Staat seinen Verpflichtungen, die sich im Rahmen der Investitionskostenfinanzierung ergeben, in gebotenem Maße nachzukommt, legt er inzwischen einen Sonderfördertopf nach dem anderen auf und vermittelt damit den Eindruck, er sei in der Lage, die Mittel zielgenau zu allozieren. Das kann durchaus sinnvoll sein, wie das Beispiel der schwerpunktorientierten NRW-Einzelförderung verdeutlicht, die zweckgerichtet dazu genutzt wird, um strukturelle Veränderungen im stationären Bereich anzustoßen. Allerdings ist das nur eine Seite der Medaille. Denn gerade aus der Wirtschaftsförderpraxis ist bekannt, dass staatliche Ad-hoc-Maßnahmen unerwünschte Nebeneffekte nach sich ziehen können. Das gilt auch für das Krankenhauswesen. So hat der mehrere Milliarden Euro schwere ­Krankenhauszukunftsfonds bei den Beteiligten geradezu eine Goldgräberstimmung ausgelöst. Grundsätzlich wirken Sonderaufstockungen investiver Fördermittel dämpfend auf die eigenmittel-­orientierte Investitionsneigung der Krankenhäuser (vgl. RWI, 2017). Dies ist besonders kritisch, weil in der Vergangenheit viele kommunale Krankenhäuser unter der vertraglichen Bedingung verkauft wurden, dass die neuen, privaten Eigentümer die erforderlichen Investitionen eigenständig vornehmen sollten (vgl. Simon, 2017, S. 240). Daher sollte der Staat die Investitionsförderung sowohl aus versorgungs- als auch aus wirtschaftspolitischer Sicht dringend noch einmal überdenken. Dabei ist insbesondere auch das Verhältnis zur Krankenhausplanung zu berücksichtigen, die eng mit der Investitionsförderung verbunden ist (vgl. PD-Berater der öffentlichen Hand GmbH; 2019, S. 95 ff.). In diesem Zusammenhang darf man gespannt sein, ob mit der Umsetzung der aktuell neu angeschobenen Krankenhausplanung NRW die richtigen Weichen gestellt werden, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

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sere Pflege. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales legt dem Landtag seinen Haushaltsentwurf 2019 vor. https://www.land.nrw/pressemitteilung/minister-laumann-251-millioneneuro-­zusaetzlich-­fuer-­ein-­fortschrittliches. Zugegriffen am 21.01.2022. Ministerium für Arbeit Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW). (2021). Investitionsprogramm 2021 und sonstige Krankenhausmaßnahmen des Landes Nordrhein-­Westfalen. Bekanntmachung des Ministeriums für Alter, Gesundheit und Soziales vom 12. November 2021. https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/gesundheit_investitionsprogramm_2021_inkl._anlagen.pdf. Zugegriffen am 16.01.2022. Ministerium für Arbeit Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW). (2022a). Krankenhausfinanzierung  – Einzelförderung. https://www.mags.nrw/krankenhausfinanzierung. Zugegriffen am 16.01.2022. Ministerium für Arbeit Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW). (2022b). Krankenhausfinanzierung  – Krankenhausstrukturfonds. https://www.mags.nrw/krankenhausfinanzierung. Zugegriffen am 16.01.2022. PD-Berater der öffentlichen Hand GmbH. (2019). Gutachten. Krankenhauslandschaft Nordrhein-­ Westfalen. PD-Berater der öffentlichen Hand GmbH. Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). (2016). Investitionsbarometer NRW. Forschungsprojekt im Auftrag der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen, Essen. Simon, M. (2017). Das Gesundheitssystem in Deutschland. Eine Einführung in Struktur und Funktionsweise. Hogrefe. Staatsministerium für Gesundheit und Pflege Bayern (Stmgp Bayern). (2022). Green Hospital-plus Bayern. Das nachhaltige Krankenhaus. https://www.stmgp.bayern.de/meine-­themen/fuer-­ krankenhausbetreiber/green-­hospital-­plus/. Zugegriffen am 12.01.2022. Statista. (2022a). Umsatz der größten privaten Klinikbetreiber in Deutschland in den Jahren 2007 bis 2020. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/223917/umfrage/umsatz-­der-­groessten-­ privaten-­klinikbetreiber-­in-­deutschland/. Zugegriffen am 21.02.2021. Statista. (2022b). Anzahl der Vollbeschäftigten in deutschen Krankenhäusern bis 2019. https://de. statista.com/statistik/daten/studie/157195/umfrage/deutsche-­k rankenhaeuser-­a nzahl-­d er-­ beschaeftigen-­vollkraefte-­seit-­1998. Zugegriffen am 21.01.2022.

Prof. Dr. rer. oec. Wilfried Boroch  ist seit 2015 Professor für Gesundheitsmanagement an der FOM Hochschule in Essen. Zuvor Studium der Volkswirtschaftslehre in Duisburg und Indiana, Pennsylvania (USA) sowie später Promotion. Anschließend Forschungsgruppenleiter am Weltwirtschaftsinstitut Hamburg und Referatsleiter Gesundheitsökonomie bei der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. 15 Jahre im Management einer gesetzlichen Krankenversicherung in unterschiedlichen Funktionen verantwortlich tätig. Zum Schluss als Direktor Unternehmenspolitik, Kommunikation und Marketing. Mitglied des geschäftsführenden Managementboards und ­Unternehmenssprecher.

Wirtschaftsförderung als Instrument politischer Steuerung in Krisenzeiten: Potenziale und Grenzen eines strategischen Machtmittels

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Christian Blum und Dominik Meier

Zusammenfassung

Wirtschaftsförderung ist parteiübergreifend ein beliebtes Instrument der politischen Steuerung und ein Machtmittel, um in der ökonomischen Sphäre Einfluss zu sichern. Dabei steht sie seit jeher in der Kritik: als Milliardengrab ohne volkswirtschaftlichen Pay-Off und neo-merkantili stische Stütze unprofitabler Branchen. In diesem Beitrag zeichnen wir aus der Perspektive der strategischen Politikberatung die Gesetzmäßigkeiten, Risiken und Zielkonflikte der Wirtschaftsförderung nach. In einem Fünf-PunkteProgramm legen wir dar, unter welchen Bedingungen Wirtschaftsförderung dennoch gelingen und die Interessen von politischen Repräsentanten und Unternehmenslenkern erfolgreich integrieren kann.

15.1

Einleitung

Die Ausgestaltung und Umsetzung von Wirtschaftsförderung, die in Deutschland von Bund und Ländern in föderaler Aufgabenteilung, aber kooperativ betrieben wird, ist seit jeher Gegenstand heftiger Kritik. Mangelnde vertikale und horizontale Koordination,

C. Blum (*) Eschborn, Deutschland D. Meier Miller & Meier Consulting GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_15

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Gießkannenpolitik ohne regionalen Impact, Defizite bei der Bestimmung von Fördergebieten, methodologische Hürden bei der Definition von Key Performance Indicators (KPIs), Fehlanreize für Kommunen ohne Haushaltsdisziplin – dies sind nur einige Kritikpunkte, die vorgebracht werden, und zwar seit Jahrzehnten (Wartenberg, 1981; Neumann & Vesper, 1983; Holtkamp, 2008; Piesold, 2016; Ackermann, 2021). Hinter diesen – teils operativen, teils strukturellen – Problemen verbirgt sich die grundlegendere Frage nach Sinn und Unsinn von Wirtschaftsförderung sui generis: Ist der Staat ein guter Impulsgeber für Wirtschaftswachstum und Innovation?1 Gleichwohl feiert das Instrument eine große Renaissance. Der Grund ist die Polykrise der 2020er, in der die volkswirtschaftlichen Effekte der Coronapandemie mit denen des Überfalls Russlands auf die Ukraine zusammengehen. Zur Orientierung, die Förderbank KfW vergab im Jahr 2022 Darlehen in Höhe von 166,9  Mrd.  €. Das entspricht mehr als dem Zehnfachen des Fördervolumens um die Jahrtausendwende. Die Bundesregierung hat seit Beginn der Krise bis Anfang 2022 Wirtschaftshilfen von 60 Mrd. € ausgezahlt; flankiert wurden sie durch Rekapitalisierungen und Bürgschaften aus Berlin sowie spezifische Länderförderprogramme (Bundesregierung, 2022). Angesichts dieser Volumina rückt das Thema politischer Steuerungs- und Interventionsfähigkeit  durch Wirtschaftsförderung mit neuer Dringlichkeit in den Fokus. In diesem Beitrag beleuchten wir Wirtschaftsförderung aus der Perspektive der Politikberatung und Public Affairs  – ergänzt durch einen historiografisch-ökonomischen Zugriff  – als politisch-wirtschaftliche Schnittstellenaufgabe. Konkret interessiert uns folgender Fragekomplex: Welches sind die Potenziale, aber auch Grenzen der Leistungsfähigkeit von Wirtschaftsförderung in der Krise – und inwiefern bewährt sich Wirtschaftsförderung als Instrument staatlichen Steuerns überhaupt in Krisen? Welche Rolle spielt Wirtschaftsförderung als Herrschaftsinstrument im Wettstreit der Machtsphären von Wirtschaft und Ökonomie? Und unter welchen Bedingungen kann Wirtschaftsförderung tatsächlich gelingen, d. h. die Interessen von demokratisch gewählten Amtsträgern und Unternehmenslenkern erfolgreich integrieren? Um diese Fragen zu beantworten werden wir: (1) Wirtschaftsförderung als Handlungsfeld an der Schnittstelle von Politik und Wirtschaft definitorisch abstecken; (2) im Anschluss das Phänomen in seiner politisch-historisch Genese durchdringen, um Zielkonflikte, Risiken und Gesetzmäßigkeiten offenzulegen, die dem Handlungsfeld systematisch inhärent sind; und schließlich (3) die entscheidende Schlüsselrolle der Public Affairs als Brückenbauerin und Übersetzerin zwischen demokratischem System und Marktökonomie darlegen.

 In seinem lesenswerten Beitrag in McK Wissen „Wie geht eigentlich Wirtschaftsförderung? Oder anders gefragt: Geht Wirtschaftsförderung eigentlich?“ von 2003 zeigt sich Ralf Grauel zumindest skeptisch. 1

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15.2 Ein Handlungsfeld an der Schnittstelle von Politik und Wirtschaft Wie so oft, wenn sich verschiedene Disziplinen – von der Verwaltungswissenschaft, über die Politologie bis zur Betriebs- und Volkswirtschaftslehre – eines Themenbereichs annehmen, sind allgemein akzeptierte Begriffsbestimmungen Mangelware. Von denkbar breiten Definitionen („sämtliche Aktivitäten, die Unternehmertum und Wertschöpfung ermöglichen oder unterstützen“ in Lahner, 2021a, S.  3) bis hin zu spezifischeren („die Summe aller staatlichen Maßnahmen, die unmittelbar für betriebliche Investitions- und Standortentscheidungen von Bedeutung sind“ in Steinrücken, 2013, S. 11) erstreckt sich ein schier endloses konzeptionelles Spektrum. Um Wirtschaftsförderung informativ als Unterkategorie der Wirtschaftspolitik abzugrenzen bzw. eine semantische Unschärfe zwischen beiden Kategorien zu vermeiden, legen wir folgende Definition zugrunde: Wirtschaftsförderung umfasst alle selektiven, exe­ kutiven sowie legislativen Maßnahmen, die  – vor dem Hintergrund einer politischen Agenda  – auf den Schutz oder die Wertschöpfungssteigerung verschiedener Branchen einer Volkswirtschaft abzielen. Entsprechend fällt unter den Begriff eine Vielfalt unterschiedlichster Policies: • erstens, Bereitstellung von Verkehrs- und Digitalinfrastruktur (Schienen- und Autobahnanbindungen, Ausbau des Straßennetzes, Taktungserhöhung des ÖPNV, Ausbau des Glasfasernetzes etc.) in einer Entwicklungsregion, um Investoren und hoch qualifizierte Arbeitskräfte anzuziehen; • zweitens, Connection Brokerage zwischen Investoren und Unternehmen durch Ausrichtung von Meetings, Workshops, Messen oder durch die Einrichtung von Auslandsniederlassungen mit der Aufgabe des Standortmarketings in ausgewählten Zielländern (USA, China, Dubai etc.); • drittens, Regulierung bzw. Deregulierung von Branchen, um einheimische Unternehmen gegenüber globaler Konkurrenz zu stärken (z.  B. in Form von Auflagen zu Transparenz und ethischer Qualität von Lieferketten, Datenschutz oder Arbeitnehmerrechten) oder um sie von innovations- und investitionshemmenden gesetzlichen Auflagen (z. B. langwierige Planfeststellungsverfahren in der Bauwirtschaft) zu befreien; • viertens, Technologie- und anwendungsorientierte Wissenschaftsförderung, etwa in Gestalt der EU-Aufbau- und Resilienzfazilität von 2021 im Rahmen des so genannten „Green Deal“, welcher auf die Stärkung nachhaltiger und zukunftsorientierter Technologien (Wasserstoff-Forschung, Quanten- und Cloud-Computing) abzielt – oder durch die Gründung von Technologietransferzentren und staatlich unterstützten Inkubatoren; • fünftens, Befähigung lokaler Firmen, vor allem Mittelständler, durch Beratungsangebote (Genehmigungsverfahren, Betriebsnachfolge etc.) sowie Unterstützung bei der Neugründung von Start-Ups, z.  B. in Form von Förderprogrammen und Scale-Up-­ Akzeleratoren;

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• sechstens, Bewilligung staatlicher Hilfsgelder (z. B. die Überbrückungshilfen IV, III plus oder die Neustarthilfe 2022 der Bundesregierung im Rahmen der Coronamaßnahmen sowie das Energiekostendämpfungsprogramm im Kontext der durch die Russlandsanktionen vom Februar 2022 gestiegenen Energiepreise) und Subventionierung ganzer Branchen zur Sicherung internationaler Wettbewerbsfähigkeit (so etwa die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland bis 2018); • siebtens, Erhebung von besonderen Einfuhrzöllen auf bestimmte Importgütergruppen und weitere Handelsbeschränkungen zum Schutz einheimischer Unternehmen vor globalem Wettbewerbsdruck, zuletzt etwa im so genannten „Stahlstreit“ zwischen USA und EU, in dem die US-Regierung Sonderzölle für Stahl- und Aluminiumprodukte aus EU-Mitgliedsstaaten erlassen hatte. Diese Auflistung zeigt freilich nicht nur die enorme Heterogenität der verschiedenen Maßnahmen, sondern illustriert auch, dass Wirtschaftsförderung in der Regel mit einer expliziten oder impliziten politischen Agenda verknüpft ist  – einem Zielbündel, das dem wirtschaftlichen Sektor per se extrinsisch ist. Im Falle der europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität ist dies z. B. das umweltpolitische Fernziel einer Dekarbonisierung der europäischen Industrie; im Falle des US-EU-„Stahlstreits“ das Interesse des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, seine Wählerschaft im wirtschaftlich abgehängte „Rust Belt“ von Pennsylvania bis Indiana zu befrieden und außenpolitische Dominanz zu demonstrieren. Wirtschaftsförderungsmaßnahmen sind gerade nicht, wie Lahner (2021a, S. 3) nahelegt, ideologisch neutrale politische „Aktivitäten, die Unternehmertum und Wertschöpfung ermöglichen“ und implementiert werden, um die Interessen ökonomischer Akteure zu adressieren. Es handelt sich  – und dies ist auch letztendlich weder überraschend noch beanstandenswert – um Instrumente der strategischen Einflussnahme.2 Durch das selektive Gewähren von (Wettbewerbs- oder Standort-)Vorteilen für einzelne Branchen oder Regionen schaffen politische Entscheidungsträger Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten; sie erwerben Machtressourcen, die sie zu einem späteren Zeitpunkt, etwa wenn es um Unterstützung aus Wirtschaftskreisen für unpopuläre Reformen geht, einlösen können. Durch die Bezuschussung ausgewählter Schlüsseltechnologien (Batterie- und Brennstoffzelltechnologie, Elektromobilität, autonome Systeme etc.) und die Nicht-Bezuschussung anderer Forschungssektoren (Dieselmotoren, Kernenergie, Kohlekraftwerke etc.) etabliert ein komplex strukturierter Regierungsapparat eine industrietechnologische Pfadabhängigkeit; dieser Regierungsapparat wird damit selbst zum Mitgestalter wirtschaftlicher Innovation. Und durch KfW-Kredite an Konzerne, die wie die TUI infolge der Coronapande-

 Die durch Machtressourcen gestützte Einflussnahme politischer Entscheidungsträger auf andere Gesellschaftsbereiche (Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Religion etc.) und, umgekehrt, deren Ansinnen, in der politischen Arena Interessen geltend zu machen, ist ein irreduzibler Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Machtprozesse und ein Wesenszug unserer sozialen Realität und Normalität (siehe Meier & Blum, 2018). 2

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mie (noch stärker) ins Straucheln geraten sind, erwirbt eine Regierung Einfluss auf Corporate Governance, so z. B. durch ein Verbot von Managerboni sowie durch Anteilserwerb mit entsprechenden Sperrminoritäten.3 Wirtschaftsförderung ist also einerseits ein Schnittstellenfeld, insofern dort idealiter staatlich-administrative Ressourcen und regulatorische Expertise eine Synergie mit ökonomischer Innovationskraft bilden. Aber sie ist andererseits auch ein Bruchlinienfeld (angelehnt an Huntington, 1996), in dem politische Handlungslogik auf Marktlogik trifft und dort potenzielle Reibungen erzeugt (Meier & Blum, 2021). Im Lichte einer fundamentalen Interessendivergenz  – hier der Mandatsträger, der gleichzeitig dem Gemeinwohl verpflichtet wie auch dem Diktat des Parteienwettbewerbs unterworfen ist, dort der Unternehmer, der dem marktwirtschaftlichen Imperativ „Maximiere den Profit!“ Folge leisten muss und seinen Shareholdern verantwortlich ist – sind erhebliche Missverständnisse und Zielkonflikte vorprogrammiert. Damit tritt schlagartig eine bescheidener formulierte Frage in den Vordergrund: Was kann Wirtschaftsförderung überhaupt leisten, und was sind Best Practices und Worst Practices, an denen es sich zu orientieren lohnt? Diese Fragen können nicht allein abstrakt-theoretisch beantwortet werden. Sie stehen immer je schon in einem soziokulturellen, historischen Kontext. Um die Möglichkeiten (und Grenzen) der Wirtschaftsförderung einschätzen zu können, werden wir dieses Schnittstellen- und Bruchlinienfeld im Folgenden in seiner historischen Genese durchdringen. Diese Reflexion, so unsere Hypothese, erbringt systematische Antworten, die über das operative Tagesgeschäft hinausreichen und eine grundlegendere Orientierung über die Bedeutung von Wirtschaftsförderung als ökonomiepolitisches Phänomen bieten.

15.3 Merkantilismus: Ursprünge und Grundprobleme der Wirtschaftsförderung Üblicherweise hebt die Diskussion um das Themenfeld Wirtschaftsförderung mit aktuellen Herausforderungen an (z.  B.  Subsidiarität der deutschen Bundesländer in der Wirtschaftspolitik versus unionspolitische Wirtschaftsförderung durch die EU) – so als wäre Wirtschaftsförderung ein reines Gegenwartsthema (siehe jedoch kritisch Jank, 2021). De facto reicht es ins späte Mittelalter zurück. Dort lassen sich bereits alle relevanten Herausforderungen ausmachen. Das entscheidende ideengeschichtliche Schlagwort in diesem Kontext lautet: Merkantilismus. Im England des 14. Jahrhunderts und später auch in der Hanse, im Süddeutschen Städtebund, in den italienischen Stadtstaaten bis nach Schweden wird zum ersten Mal „‚die Wirtschaft‘ als ein eigenes System, das sich aus dem gesellschaftlichen Universum herausgelöst und ausdifferenziert hat, verstanden […]. Man beginnt, dieses gesellschaftliche Teilsystem zu untersuchen und begreift, dass es nach einer eigenen inne Dieser Umstand ist übrigens den allermeisten Unternehmenslenkern auch durchaus bewusst, und er dürfte erklären, warum z. B. die Lufthansa bereits im November 2021 die Coronahilfskredite und Einlagen des Bundes vorzeitig zurückgezahlt hat. 3

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ren Logik funktioniert, die, wenn man sie erkennt, sowohl individuell als auch gesamtstaatlich genutzt werden kann, um dem Ziel eines materiell besseren Lebens näher zu kommen“ (Caspari, 2019). Voraussetzung für diese Nutzung ist das Entstehen des zentralistischen Territorialstaates, welcher nun mit bislang ungekannter Regelungstiefe und Durchsetzungsmacht in alle Gesellschaftsfelder eingreifen kann. Konkretes Ziel der merkantilistischen Wirtschaftsförderung (von „mercator“ lat. Kaufmann) ist es, die eigene Produktion vor ausländischer Konkurrenz zu schützen und den Absatz eigener Produkte im Ausland zu fördern. Der Handel und vor allem der Handelsgewinn (Stichwort: aktive Handelsbilanz) werden ein Kernanliegen der Politik  – verwirklicht durch Begünstigung der einheimischen Produktion sowie des Exports und durch Auferlegung von Handelsschranken gegen Importe. Gold, so das Credo, soll ins Land hinein- aber nicht herausströmen. Um die Produktion im eigenen Lande zu fördern, sind billige Rohstoffe, ein niedriger Arbeitslohn und eine entsprechende technische Ausstattung der heimischen Industrie unverzichtbar. Deregulierung und Subventionierung nach innen sowie Abschottung und Protektionismus nach außen werden so zu zwei Seiten ein und derselben merkantilistischen Medaille. Aber auch hier ist die Mehrung des volkswirtschaftlichen Reichtums kein Selbstzweck, sondern  – im Gegenteil  – Mittel zum Zweck (siehe auch Abschn.  15.1): „Das Merkantilsystem bedeutet Dienstbarmachung der Wirtschaft zur Erweiterung der Macht des Staates und nicht umgekehrt Benutzung von Machtmitteln zum Ziele der Vergrößerung des Nationalreichtums. Der Wohlstand der Untertanen hatte den ausgesprochenen Zweck (…) die materiellen Grundlagen für den Staat zu bilden“ (Röhlk, 1935, S. 227). Die europä­ ischen Potentaten der Neuzeit brauchen volle Schatzkammern, damit sie Kriege um kontinentale Vorherrschaft führen können (daher auch das im deutschen Sprachraum jener Zeit gebräuchliche Synonym für Merkantilismus „Kameralismus“, siehe Schmidt, 1994); und sie brauchen eine willfährige Wirtschaftselite, die sie bei ihren militärischen Unternehmungen unterstützt. Als explizites Sujet der Wirtschaftsförderung, im Sinne einer wirtschaftspolitischen und politikökonomischen Doktrin, tritt der Merkantilismus erst im frühabsolutistischen Frankreich Louis XIII. auf, wie Horst-Henning Jank (2021, S. 614) festhält: „So hat ein Franzose, Antoine de Montchrétien de Vatteville (1575–1621), mit seinem „Traité de l’Oeconomie Politique“ 1615 nicht nur die Fachbezeichnung „Politische Ökonomie“ geprägt. Er kann wohl auch in Anspruch nehmen, als Erster die Forderung nach aktiver staatlicher Wirtschaftsförderung formuliert zu haben.“ Mit seinen Empfehlungen, wie sich das volkswirtschaftlich marode, sozial gespaltene Frankreich durch Kolonialismus und Eroberung neuer Territorien, aber auch durch die Förderung von Manufakturen und Seefahrt stabilisieren lasse, findet de Montchrétien ein offenes Ohr beim jungen Bourbonenkönig; dieser setzt die Agenda kompromisslos um. Allerdings ist diese doktrinäre, interventionistische Wirtschaftsförderung schon in der Neuzeit umstritten. Adam Smith, der Ahnherr der klassischen Nationalökonomie, hält nichts von einer künstlichen aktiven Handelsbilanz; ganz der liberalen Tradition John ­Lockes folgend sieht er das staatliche Aufgabenspektrum mit der Gewährleistung innerer

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und äußerer Sicherheit sowie der Bereitstellung von Kollektivgütern völlig erschöpft (siehe Jank, 2021). In Hinblick auf den Merkantilismus bewahrheitet sich Smiths Reserviertheit: Nach einer anfänglichen Blütezeit erweist sich die Lehre als Irrlehre, welche die Volkswirtschaft in den Ruin führt, weil sie den internationalen Wirtschaftsraum als Ort der Nullsummenspiele interpretiert (was bei politischer Macht richtig, bei ökonomischer Macht bzw. Geldmengen jedoch falsch ist) und das Prinzip globaler Arbeitsteilung bei Produktion und Dienstleistung nicht anerkennt. Fehlanreize für die einheimische Industrien, die vor innovationsförderlicher Konkurrenz behütet werden, tun ihr übriges. Am Ende steht die Französische Revolution. Aber es ist nicht nur das Scheitern merkantilistischer Politik, das zu denken gibt, sondern auch der Erfolg jener Staaten des 17. und 18 Jahrhunderts, die sich dezidiert von dieser Doktrin und von der Wirtschaftsförderung überhaupt abwenden – allen voran die Niederlande. Sie sind „das industrielle und handelspolitische Musterland in der ersten Periode des Merkantilismus. Aber sie betreiben eigentlich gar keine merkantilistische Politik. Es ist gerade nicht der die Wirtschaft und den Handel dirigierende Staat, der die Niederlande in diese Position führt. Es ist die Eigeninitiative der ökonomisch Tätigen, der Kaufleute, die den Seehandel betreiben“, so der Wirtschaftsphilosoph Klaus Honrath (2022, S. 8) Er zieht daraus eine bemerkenswerten Schluss: „Es kommt nicht nur auf die wirtschaftlichen Theorien an, die umzusetzen sind. Es kommt ebenso darauf an, die historischen Umstände des jeweiligen Landes zu berücksichtigen und die Theorie daraufhin anzupassen“ (Honrath, 2022, S. 8). Trotz der katastrophalen Bilanz ist der Merkantilismus dieser Tage en vogue  – als Neo-Merkantilismus US-amerikanischer Provenienz (Falke, 2018). Die Abneigung der Trump-Regierung (2017–2021) gegen Freihandelsabkommen, wie die Transpacific Partnership (TPP) oder das North American Free Trade Agreement (NAFTA), und der in Abschn. 1 angesprochene „Stahlstreit“ mit der EU unterstreichen die Wirkmächtigkeit des antiglobalistischen Nullsummenspieldenkens jenseits des Atlantiks. Erstaunlich ist, welcher Zustimmung sich das Credo des (Neo-)Merkantilismus – „Imports are bad“ – rechts wie links erfreut. Auch wenn die Biden-Administration nach Trumps Abwahl den „Stahlstreit“ inzwischen beigelegt hat, kommt heute keine wirtschaftspolitische Debatte ohne Freihandels-Bashing durch Republikaner und Demokraten aus. Der Inflation Reduction Act (IRA) vom Spätsommer 2022, der mit 500 Mrd. Dollar die einheimische Industrie protegiert, zeigt vielmehr, dass der Demokrat Joe Biden in dieser Hinsicht den Kurs seines Vorgängers kompromisslos fortgesetzt hat.  Angesichts dieses ernüchternden Sachstands lohnt es, noch einmal auf Honraths kluge Inferenz zurückzukommen und sie als Fragestellung zu paraphrasieren: Wie lassen sich wirtschaftspolitische Maximen und konkrete Maßnahmen an die sozioökonomischen und historischen Bedingungen des jeweiligen Landes anpassen? Wie kann Politik – in Hinblick auf die konkreten Herausforderungen und Grenzen der Wirtschaftsförderung – adaptiv und lernfähig sein?

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15.4 Public Affairs als Scharnier und Brücke zwischen Politik und Wirtschaft in der Krise: eine realistische Bestandsaufnahme von Möglichkeiten und Grenzen Halten wir zunächst die entscheidende Einsicht der bisherigen Überlegungen fest: Doktrinäre Wirtschaftspolitik sui generis und doktrinäre Wirtschaftsförderung insbesondere sind hochgradig fehleranfällig. Sie führen rasch zu Fehlanreizen und -entwicklungen. Aber was ist die Alternative, wenn man nicht, wie Locke, Smith oder libertäre Gegenwartsdenker (für eine Übersicht siehe Brennan, 2018) den wirtschaftspolitisch intervenierenden Staat ohnehin ablehnt? Die Antwort liegt in einem kontinuierlichen, ergebnisoffenen Dialog zwischen Wirtschaft und Politik über geteilte Interessen und Werte, gemeinsame Maßnahmen, Erfahrungen und Best Practices. Nur durch den Abgleich von Informationen (Kennzahlen, Implikationen regulatorischer Eingriffe, Stakeholder-Konstellationen etc.) und Zielen (politische Prioritäten und „rote Linien“, unternehmensstrategische Parameter bei der Allokation von Ressourcen und der Produkt- und Dienstleistungsentwicklung etc.) können die in Abschn. 15.1 angerissenen Herausforderungen bewältigt werden: Fehlkommunikation, Missverständnisse, Interessenkonflikte. Aber nicht nur das, adaptive Wirtschaftsförderung setzt reziprokes Vertrauen und Netzwerke zwischen der politisch-­administrativen Elite und der Wirtschaftselite voraus; es braucht, in der Sprache der Sozioökonomie, Sozialkapital, um Kooperationsbeziehungen auch ohne unmittelbaren Pay-Off herzustellen (Iyer et al., 2005). Kurz gesagt: Wenn jede Seite sicher weiß, was die jeweils andere will (und warum), unter welchen Sachzwängen sie steht und zu welchen Konzessionen sie fähig ist, ist gemeinsame Problemlösung grundsätzlich möglich. Dies gilt vor allem für nationale oder gar internatinonale Krisen, die sich in der Regel durch hohen Zeitdruck, komplexe und zahlreiche Entscheidungsvariablen und -konstanten sowie eine dynamische, schwer pro­ gnostizierbare Entwicklungsperspektive auszeichnen (Thießen, 2014). Eine Schlüsselrolle kommt in diesem Kontext den Public-Affairs-Experten zu. Dieser hoch spezialisierte Fachmann für strategische Politikberatung, der qua professioneller Interessenvertreter nicht selbst nach wirtschaftlich-politischem Einfluss strebt, hat die Funktion und Verantwortung, solche Dialoge zu ermöglichen, zu strukturieren und zu optimieren.4 Erfolg und Misserfolg hängen von einer bidirektionalen Vermittlungsleistung ab5: Einerseits gilt es, Unternehmenslenker in die Spezifika demokratischer System-, 4  Diesen Archetypus haben wir in Meier und Blum (2018, S. 272 ff.) als homo consultans eingeführt. Das Aufgabenprofil des homo consultans, der faktisch seit der Antike – genauer, seit der Athenischen Stadtgesellschaft  – ein fester Bestandteil soziopolitischer Ordnung ist, umfasst drei Kernpunkte: die Befähigung seiner Klienten zum Umgang mit Machtressourcen; die Gewinnung und Systematisierung relevanten Herrschaftswissens; und die Anleitung zur aktiven Gestaltung des politischen Feldes und anderer gesellschaftlicher Machtfelder. 5  In erweiterter Betrachtung müsste eigentlich von einem tridirektionalen Ansatz gesprochen werden, insofern die Einbeziehung des vorpolitischen Raumes mit seinen zivilgesellschaftlichen Akteuren ein weiteres, entscheidendes Erfolgskriterium ist. Wir werden diesen Punkt hier nicht weiter vertiefen, siehe jedoch Meier (2022).

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­Organisations- und Entscheidungslogiken (formelle und informelle Verfahren, Geschäftsordnungen, Verteilung von Ämtern, Verknüpfung von parlamentarischen Strukturen und Parteiorganisation etc.) einzuführen und politische Lexeme in ein marktwirtschaftliches (oder zumindest neutrales) Idiom zu übersetzen. Andererseits müssen Repräsentanten und Verwaltungsbeamte nicht nur für berechtigte wirtschaftliche Forderungen und Positionen sensibilisiert werden, sondern auch für die Problemlösungskompetenz ökonomischer Akteure; denn de facto verfügen letztere oft über mehr Praxiserfahrung, welche politischen Impulse tatsächlich nachhaltigen Impact auf unternehmerische Wertschöpfung haben. Im Fokus steht ein gemeinwohlorientierter Partnerschaftsansatz, in dem der Spannungsbogen zwischen Partikular- und Kollektivinteressen durch Konsensfindung unter Beteiligung aller relevanten Anspruchsgruppen aufgelöst wird.6 Public Affairs kann den geteilten Weg zum Gemeinwohl aufzeigen, indem sie diese Konsensfindung moderiert und einen reflektierenden Austausch rationaler Gründe initiiert. Entscheidend ist nicht zuletzt, dass entsprechende Diskussion nicht emotionalisiert werden; denn gerade, wenn lange tradierte Geschäftsmodelle, wirtschaftliche Existenzen oder fundamentale Werthaltungen zur Disposition stehen, kochen Gemüter rasch hoch – wie die Erfahrung lehrt. Wichtige Plattformen der Interessenvermittlung sind z.  B. themenspezifische Arbeitskreise und Bündnisse, die sich über ideologische, institutionelle Gräben hinweg der Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen widmen (z.  B.  Datenschutz und -sicherheit, Gesundheitsvorsorge), aber auch klassische Veranstaltungen wie Anhörungen, parlamentarische Abende und Frühstücke sowie turnusmäßige Dialogprozesse. In Hinblick auf die zurückliegende Coronakrise und die sektorale Einbindung ökonomischer Akteure in den Entscheidungsprozess über Wirtschaftsförderung sei exemplarisch der Dialogprozess Nationale Tourismusstrategie erwähnt: Unter dem Eindruck der Coronapandemie, welche insbesondere die Reiseindustrie mit enormer Härte getroffen hatte (vor allem durch Beherbergungsverbote und Einreisestopps) entwickelte das Wirtschaftsministerium von August bis Oktober 2020 im Rahmen von Hearings mit Fachleuten der Reisebranche bzw. ausgewählten touristischen Verbände und Institutionen die Studie „Bausteine zur Regeneration der deutschen Tourismuswirtschaft“. Zahlreiche Impulse aus dem Dokument – von der Steuerung von Marketingaktivitäten über die Flexibilisierung von Abschreibungsoptionen bis zur Erweiterung des steuerlichen Verlustrücktrags – wurden in der Folgezeit implementiert. Derartige Dialogplattformen leisteten einen zentralen Beitrag zur Konzeption von krisenbezogenen Instrumenten der Wirtschaftsförderung. So etwa: die Soforthilfe- und Überbrückungshilfeprogramme des Bundes und der Länder ab dem Frühjahr 2020 sowie Beteiligungsfonds, Bürgschaften, Tilgungszuschüssen und weiteren branchenspezifischen

 Wir vertreten einen integrativen bzw. hybriden Gemeinwohlansatz: das Gemeinwohl steht nicht als objektive Größe unabhängig von Interessen und Verfahren der Präferenzaggregation fest, sondern entsteht post fest als Output kollektiver Willensbildungsprozesse – wobei dieser Output gleichwohl ein Set objektiver Rahmenbedingungen erfüllen muss, um als gemeinwohldienlich zu gelten; siehe hierzu Meier (2016), Blum (2015, 2020). 6

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Maßnahmen wie die befristete Absenkung der Mehrwertsteuer für Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen von 19 % auf 7 % oder das Gesetz zur freiwilligen Reisegutscheinlösung zur Unterstützung der Tourismusindustrie. Durch iterative Austauschrunden, in denen die zuständigen (parlamentarischen) Staatssekretäre des Wirtschaftsministeriums oder der Minister selbst unter Hinzuziehung zuständiger Abteilungs- und Unterabteilungsleiter Feedback aus den Reihen der Verbandsvertreter und ausgewählter Unternehmen sowie Think Tanks einholten, boten die Möglichkeit, bereits implementierte Instrumente auf ihre Effizienz und Effektivität hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu adaptieren. Trotz allem blieb der Erfolg der Maßnahmen, nüchtern betrachtet, überschaubar: Laut einem Survey des ifo-Instituts bewerteten Unternehmen die Unterstützungsleistungen des Bundes im Durchschnitt nur mit der Schulnote „ausreichend“ (Gillmann et al., 2021). Die teils schleppende Umsetzung der rasch aufgelegten Förderprogramme vor Ort, als willkürlich empfundene Fristen und Anforderungskriterien der Antragsberechtigung, hohe bürokratische Hürden bei der Beantragung von Hilfsgeldern illustrieren die Notwendigkeit einer noch engeren Mediation zwischen Politik und Wirtschaft, aber auch die grundsätzlichen Grenzen eines staatlich dirigierten Wirtschaftskrisenmanagements. Wirtschaftsförderung in der Krise operiert stets unter dem Vorbehalt einer zeitlichen Verzögerung zwischen Kriseneintritt, Entscheidung und Umsetzung. Diese zeitliche, epistemische ‚Lücke‘ hat nicht nur zur Folge, dass der Regulator dem Krisengeschehen immer einen Schritt hinterherhinkt. Sie führt vor allem zu einer dramatischen Verschärfung bekannter Abstimmungs- und Entscheidungsprobleme: Informationsund Interessendiskrepanzen, inkommensurable Machtlogiken von Politik und Ökonomie, hohe Emotionalität des Themas, Sorge wirtschaftlicher Akteure vor steigendem Einfluss der Politik – all diese Probleme müssen im Krisenfall in quasi Echtzeit gelöst werden. Hier ist ein realistisches Erwartungsmanagement, auch vonseiten der Public-­Affairs-­Experten, das Gebot der Stunde. Wirtschaftsförderungsinstrumente sind keine Wunderwaffen. Und es bleibt noch ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen, den Jörg Lahner (2021b, S. 35) konzise auf den Punkt bringt: „[A]uch wenn zahlreiche Wirtschaftsakteurinnen und -akteure zweifellos unverschuldet in Not gerieten und um die ökonomische Existenz fürchten müssen, kann Wirtschaftsförderung nicht allein in Bestandssicherung und Schadensbegrenzung verharren. Eine ehrliche Analyse zeigt: Nicht selten haben die Coronapandemie und die darauffolgende Energiepreiskreise lediglich schon bekannte Schwächen schonungslos aufgedeckt und schmerzlich vor Augen geführt.“ Wirtschaftsförderung in der Krise birgt demnach das enorme Risiko einer Verschleierung negativer Profitabilitätsfaktoren; aus Sorge darum, als kaltherzig und sozioökonomisch unverantwortlich dazustehen, neigen Politiker dazu, malade Branchen mit Staatsgeldern temporär ‚gesund zu spritzen‘. Die Folge ist eine „Zombifizierung von Teilen der deutschen Wirtschaft“ (Röhl et al., 2021, S. 4).7 Die wirtschaftspolitischen Sünden des Merkantilismus mit seiner fatalen Verhätschelung der eimischen Produktion lassen grüßen.  In der Tat ist die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen während der Coronakrise im Jahr 2020 sogar um 13 % gegenüber dem Vorjahr gesunken (siehe Röhl et al., 2021, S. 4). 7

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15.5 Fazit Ausgehend von dieser Analyse der Chancen und Risiken von Wirtschaftsförderung in der Krise und der Schlüsselrolle der Public Affairs können wir nun fünf Grundprinzipien für eine gelungene Wirtschaftsförderung festhalten: • Wirtschaftsförderung ist Machtpolitik: Die Gewährung von Vorteilen an Einzelunternehmen, Gewerbeparks, ganze Branchen etc. durch die in Abschn. 1 ausgeführten politischen Instrumente ist keine neutrale politische Aktivität, sondern eine Form legitimer Einflussnahme. Sie schafft neue Machtressourcen aufseiten demokratischer Akteure (z. B. Abhängigkeiten oder Mitspracherechte) und erlaubt die direkte oder indirekte Steuerung marktwirtschaftlicher Entwicklung. Nur wenn Rezipienten der Wirtschaftsförderung diese machtpolitische Komponente von vornherein in ihre unternehmensstrategische Kalkulation einpreisen, können Zielkonflikte und Reibungsverluste vermieden werden. • Wirtschaftsförderung erfordert kontextsensitives Politikmanagement: Doktrinäre Wirtschaftsförderung, die ideologische Paradigmen oder volkswirtschaftliche Theoreme ohne Ansehung konkreter sozioökonomischer, kultureller, historischer Rahmenbedingungen umsetzt, ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen muss sie dialogisch im kontinuierlichen Abgleich mit Wirtschaftsinteressen entwickelt und adaptiert werden; dies erfordert ein sensibles Prozess- und Stakeholder-Management. • Wirtschaftsförderung in der Krise zeichnet sich durch eine zeitliche ‚Lücke‘ aus: Insbesondere in Krisensituationen, die sich durch hohen Entscheidungsdruck und eine volatile Entwicklungsperspektive auszeichnen, steht Wirtschaftsförderung unter dem Vorbehalt einer Verzögerung zwischen Ereigniseintritt, politischer Entscheidung und Umsetzung. Dies verstärkt das Risiko von Fehlsteuerungen bzw. Schweinezyklen.8 • Wirtschaftsförderung ist kein Nullsummenspiel: Anders als bei der Ressourcenallokation innerhalb der politischen Arena (z.  B. in Form von Ämtern, Zuständigkeiten, Sitzen etc.), die als Nullsummenspiel zu charakterisieren ist (was Akteur x an Macht gewinnt, muss Akteur z verlieren), bietet die Wirtschaftsförderung Chancen für Win-Win-Kon­ stellationen. Durch die Synergie von politischer Expertise und wirtschaftlicher Innovation können reziproke Vorteile in Hinblick auf die jeweiligen Gesellschaftsfelder – hier Politik, dort Wirtschaft – erzielt werden. Dies setzt allerdings neben Vertrauen und funktionierenden Netzwerken auch ein geteiltes Problem- und Zielverständnis voraus.

 Kurz gefasst besagt das berühmt gewordene wirtschaftswissenschaftliche Schweinezyklus-Theorem (engl. cobweb theorem), dass sich innerhalb eines dynamischen Marktgeschehens das Angebot mit zeitlicher Verzögerung an die Nachfrage anpasst (Ezekiel, 1938). Dies führt zu einem Überangebot, das den Preis drückt und eine Neuanpassung des Angebots zur Folge hat – auf welches wiederum der Markt reagiert; die Konsequenz ist ein periodisches Austarieren bzw. ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. In der Politik, die oft mit noch viel längeren Umsetzungszeiträumen bzw. Wirkungsverzögerungen umgehen muss, ist dieser Effekt exponentiell verstärkt. 8

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• In der Wirtschaftsförderung fungiert Public Affairs als politisch-ökonomisches Scharnier: Die Moderations- und Übersetzungsleistung im Dialog zwischen Markt und Politik erfordert ein tiefes Verständnis für Logiken und Lexeme beider Sphären. Diese Aufgabe übernehmen oft auch Public-Affairs-Experten; sie befähigen qua politikverstehender Strategieberatung beide Verhandlungspartner dazu, die Präferenzen, Werte und Perspektiven der je anderen Seite zu reflektieren und in die eigene Positionierung zu integrieren, um so eine gemeinsame Entscheidung zu fällen. Diese fünf Punkte bilden das Fundament eines konkordanzdemokratischen, auf Verhandlungen und Interessenabgleich abzielenden Politikverständnisses. Dieses bündelt nicht nur potenziell divergierende wirtschaftliche und politische Ziele, sondern vor allem das Knowhow beider Gesellschaftsfelder. Wirtschaftsförderung, so haben wir zu Beginn festgehalten, steht oft in der Kritik, Milliarden zu versenken – ohne erkennbaren Pay-Off. Zu oft schwenken Regierungen die finanzpolitische Gießkanne oder wünschen sich das Zeitalter des Merkantilismus mit aller Macht wieder herbei. Zur Vermeidung dieser Defizite ist unser Fünf-Punkte-Programm ein erster, aber entscheidender Schritt.

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Christian Blum  hat Philosophie, Politik- und Islamwissenschaften in Köln und Boston studiert und parallel als freier Journalist gearbeitet. Nach seiner Promotion in politischer Theorie, die mit dem Offermann-Hergarten-Preis ausgezeichnet wurde, war er als zunächst Koordinator des Kölner Ethik-Forums und Fritz-Thyssen-Research-Fellow an der Rutgers University. Als Senior Policy Expert bei Miller & Meier Consulting und Leiter des Vorstandsreferats der Deutschen Zentrale für Tourismus hat Christian Blum umfassende Erfahrung in strategischer Kommunikation gesammelt. Er publiziert u.a.  zu den Themen Gemeinwohl, Macht, Demokratie und Public Affairs  und ist Herausgeber des Online-­Magazins Freiheit| Macht|Politik.

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Dominik Meier  sowie Dominik Meier berät international seit 25 Jahren Global Player, internationale Organisationen, NGOs, Verbände und mittelständische Unternehmen zu politischer Strategie. Er forscht über Macht, Freiheit, Interessenvertretung sowie politische Praxeologie und ist Co-Herausgeber des Online-Magazins Freiheit|Macht|Politik. Dominik Meier hält weltweit Vorträge, publiziert Fachbücher und ist als Impulsgeber für politische Debatten medial präsent. Als Vorsitzender der de’ge’pol und Board Member der Public Affairs Community Europe ist er maßgeblich an der Weiterentwicklung von  Interessenvertretung weltweit beteiligt.

Krisenmanagement in Unternehmen

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Holger Reinemann

Zusammenfassung

Dieser Beitrag setzt sich mit dem Krisenmanagement in mittelständischen Unternehmen auseinander. Ausgehend von einer Definition des Krisenbegriffs wird die Bedeutung unterschiedlicher Krisenursachen erörtert. Es wird gezeigt, dass Krisen keine idealtypischen Ursachen haben, sondern häufig durch Ursachenbündel ausgelöst werden. Der Mittelstand als wesentlicher Kern des deutschen Geschäftsmodells wird in der Folge charakterisiert und es wird aufgezeigt, dass der Mittelstand aufgrund seiner besonderen Merkmale anders auf Krisensituationen reagiert, als es in Großunternehmen zu beobachten ist. Mit den leistungs- und finanzwirtschaftlichen Krisenmaßnahmen werden die Schritte zur Überwindung einer Krise in verschiedenen Stadien skizziert. In einem abschließenden Kapitel zur Rolle der Wirtschaftsförderung werden die präventiv und reaktiv orientierten Maßnahmen einer modernen Wirtschaftsförderung dargelegt, die in einer VUCA-Welt zu einem wesentlichen Differenzierungsmerkmal regionaler Standortpolitik werden können.

16.1

Einleitung

Nach einer langen Phase der wirtschaftlichen Prosperität, die durch ein kontinuierliches Wachstum gekennzeichnet war, trat mit der COVID-19-Pandemie ein externes Ereignis auf, das in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen zurückliegende Krisen deutlich in den

H. Reinemann (*) Hochschule Koblenz, Koblenz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_16

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H. Reinemann

Schatten stellte. Große Teile der Unternehmen waren gezwungen, sich durch geeignete Maßnahmen auf sinkende Umsätze und Störungen in den Lieferketten einzustellen. Daneben zeigen strukturelle Veränderungen wie etwa die digitale Transformation, der demografische Wandel oder auch die Dekarbonisierung erste Auswirkungen auf die Unternehmen. Gepaart mit geopolitisch motivierten Krisenprozessen sehen sich die Unternehmen der bereits seit Jahren apostrophierten VUCA-Welt gegenüber, die neben resilienten ­Geschäftsmodellen auch ein hohes Maß an Kompetenz im Krisenmanagement voraussetzt, um in stürmischen Zeiten bestehen zu können. Insofern soll der folgende Beitrag zunächst einmal eine grundlegende Auseinandersetzung mit Unternehmenskrisen und deren Auswirkungen auf Unternehmen leisten und zugleich die wesentlichen Instrumente zur finanz- und leistungswirtschaftlichen Krisenbewältigung zusammenfassen. Der Fokus liegt bei der Betrachtung auf mittelständischen Unternehmen, die in Deutschland den überwiegenden Teil der Unternehmenslandschaft ausmachen. Abschließend werden einige Anregungen zur Unterstützung von Unternehmen diskutiert, die von Wirtschaftsförderungen zur Unterstützung des unternehmerischen Krisenmanagements eingesetzt werden können.

16.2 Krisenbegriff Unternehmenskrisen werden in der betriebswirtschaftlichen Literatur als ungeplante und ungewollte Prozesse begriffen, die Unternehmen substanziell gefährden. Hierbei entwickeln sich Erfolgspotenziale, Vermögen und/oder Liquidität des Unternehmens so ungünstig, dass die Existenz des Unternehmens bedroht ist (Sasse & Stein, 2015). Krisen sind als ein zyklisch auftretender Normalzustand zu begreifen, den jedes Unternehmen nach einem evolutionären Entwicklungsprozess in unregelmäßigen Abständen bewältigen muss. Der Begriff der Krise ist ambivalent, denn Krisen werden sowohl einzelwirtschaftlich als auch gesamtwirtschaftlich als Risiko und Chance betrachtet. Aus Sicht von Unternehmen ergibt sich in der Krise die Möglichkeit der grundsätzlichen Neuausrichtung; gesamtwirtschaftlich betrachtet gehören Krisen und letztendlich das Ausscheiden von Unternehmen aus dem Marktprozess zum natürlichen Fluktuationsgeschehen und damit auch zum wirtschaftlichen Strukturwandel. Aus inhaltlicher Sicht lassen sich in einem einfachen Modell drei Krisenphasen unterscheiden (Sasse & Stein, 2015). Die strategische Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Unternehmen (noch) gute Unternehmensergebnisse vorweisen kann, die strategische Positionierung des Unternehmens ist allerdings ungünstig. So kann aktuell ein Unternehmen, das seine gesamten Umsätze durch Produkte generiert, die nur im Verbrennungsmotor Anwendung finden, sich in einer solchen Krisenphase befinden. Da noch kein Handlungsdruck für das Management besteht, wird diese Phase weder intern noch extern ausreichend wahrgenommen. Charakteristisch für die Erfolgskrise ist eine zunehmende Verschlechterung der Ergebnissituation, die Liquidität ist weiterhin ausreichend vorhanden. Im Zeitablauf führt diese

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Entwicklung allerdings zur Aufzehrung des Eigenkapitals und einer Verschlechterung der Bilanzrelationen. Diese Unternehmenssituation kann gegenüber Dritten nur noch unzureichend verdeckt werden und führt zu einer Bonitätsverschlechterung und damit auch zu erhöhten Finanzierungskosten. In der Liquiditätskrise ist die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens gefährdet, woraus sich eine kurzfristige Existenzbedrohung ergibt (Crone & Werner, 2017). Liquiditätsengpässe sind von den Geschäftspartnern (insbesondere ­Banken) direkt erkennbar und führen zu Konsequenzen wie bspw. Vorkasse bei Lieferanten. Als letzte Konsequenz führt die Liquiditätskrise in die Insolvenz, deren Auslöser und Folgen im Abschn. 16.3 diskutiert werden. Dieses einfache Krisenmodell kann durch die sogenannte Stakeholderkrise sowie die Produkt-/Absatzkrise ergänzt werden (siehe Abb. 16.1). Relevante Stakeholder der Unternehmenskrise sind neben Gesellschaftern regelmäßig auch Banken, Lieferanten, Kunden und Mitarbeiter. Stakeholderkrisen können bspw. zu Kreditkündigungen führen oder steigende Personalkosten durch Krankenstand oder eine hohe Fluktuation auslösen. Eine Produkt-/Absatzkrise ist regelmäßig eine Folge falscher strategischer Entscheidungen. Diese Krise äußert sich in der Verschlechterung von Absatzzahlen und/oder sinkenden Margen von Produkten. Allerdings sind die einzelnen Phasen dieses Krisenmodells nicht als eine deterministische Abfolge zu verstehen. Vielmehr können einzelne Phasen übersprungen werden, oder durch ein externes Ereignis – wie etwa die Covid-19-Pandemie – geraten Unternehmen ohne Vorwarnung in eine existenzbedrohende Liquiditätskrise. Ein enger Zusammenhang besteht zwischen den Krisenphasen und den Handlungsmöglichkeiten des Managements. Wie bereits beschrieben, wird der Handlungsbedarf in der strategischen Krise durch das Management und die übrigen Stakeholder meist gar nicht erkannt. Dieser Handlungsbedarf nimmt im Zeitablauf und mit zunehmender Krisenintensität allerdings deutlich zu. Für den Handlungsspielraum ergibt sich der umgekehrte Zusammenhang. In einer strategischen Krise, die von ihrer Intensität eher als latent be-

Abb. 16.1  Krisenphasen in Unternehmen. (Quelle: Lintemeier, 2014)

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zeichnet werden kann, sind die Spielräume des Managements noch sehr ausgeprägt, da bspw. liquide Mittel in ausreichendem Maß vorhanden sind. In der Liquiditätskrise sind die Handlungsalternativen des Unternehmens begrenzt und das Management ist zumeist auf externe Hilfe angewiesen. Aus empirischen Untersuchungen ist allerdings bekannt, dass die Unternehmenskrise in der Mehrzahl der Fälle erst zu spät, d.  h. in der ­Liquiditätskrise erkannt wird. Dieses Phänomen wird insbesondere bei mittelständischen Unternehmen durch die schleppende Informationsversorgung der Banken unterstützt (Nobel, 2018).

16.3 Krisenursachen Für eine Unternehmenskrise sind vielfältige Ursachen denkbar, die unabhängig voneinander auftreten können, oder in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Es wird häufig zwischen Makro-, Meso- und Mikroebene unterschieden. In der Makro-­ Umwelt werden Krisenursachen in der politisch-rechtlichen, ökonomischen, sozialen oder technologischen Sphäre verortet. Die Mesoebene bezeichnet die Ebene der einzelnen Industrien und ist eng mit dem industriellen Lebenszyklus verknüpft. Die Mikro-Ebene verweist auf die Organisation und Organisationsmitglieder, z. B. das Top-Management oder den Unternehmer (Schreyögg & Ostermann, 2014). Darüber hinaus kann zwischen exogenen und endogenen Krisenursachen unterschieden werden. Zu den exogenen Krisenursachen, welche im über- und zwischenbetrieblichen Bereich angesiedelt sind, zählen konjunkturelle, strukturelle oder technologische Veränderungen im Umfeld des Unternehmens, die spät oder nicht erkannt werden, und somit zu Umsatz- und Ertragsproblemen führen und gravierende Veränderungen des Verhaltens externer Stakeholder mit sich bringen (Feldbauer-Durstmüller & Mayr, 2010). Erfolgswirtschaftliche Ursachen basieren auf Verwerfungen, die in den Funktionsbereichen einer Unternehmung auftreten. Finanzwirtschaftliche Ursachen können hingegen in der mangelnden Abstimmung von Einnahmen und Ausgaben liegen. Individuelle Fehlleistungen auf Seiten der Unternehmensführung, die auf mangelnder Qualifikation oder der Persönlichkeitsstruktur basieren, können ebenfalls zu Unternehmenskrisen führen. Grundsätzlich gibt es demnach keine idealtypische Krise. Allerdings lassen sich aus der Vielfalt der Krisenauslöser Ursachenbündel bilden und die Häufigkeit wurde bereits mehrfach empirisch geprüft (siehe Tab. 16.1). Unabhängig von der Vielfalt der möglichen Krisenursachen, gehört es zum notwendigen Umgang mit der Krise, die Ausgangspunkte zu identifizieren und an den Schwachstellen anzusetzen. Insofern ist die Krisendiagnose einer der wesentlichen Inhalte eines Sanierungskonzepts.

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Tab. 16.1  Die zehn häufigsten Krisenursachen. (Quelle: Hauschildt et al., 2005) Kategorie Personengeprägte Krisenursachen Führungsmängel Unfähigkeit/Unerfahrenheit Institutionelle Krisenursachen Strategische Probleme Organisation Beziehungen zu den Arbeitnehmern Operative Krisenursachen Absatzbereich Investitions- und F&E-Bereich Produktion und Logistik Weitere Krisenursachen Marktbedingungen Marktentwicklung

Relative Häufigkeit (in Prozent) 27,5 5,0 9,9 6,9 5,7 12,2 3,9 3,9 4,1 3,3

16.4 Insolvenz als Krisenphänomen 16.4.1 Insolvenzverfahren In den gängigen Modellen gilt die Insolvenz als zeitlicher Endpunkt der Krisenentwicklung. Die Insolvenzordnung (InsO) kennt drei verschiedene Eröffnungsgründe (Sasse & Stein, 2015). Die Zahlungsunfähigkeit ist der allgemeine Eröffnungsgrund, d.  h. sie kommt bei Schuldnern aller Art in Betracht. Ein Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, seine Zahlungspflichten zu erfüllen. Der Tatbestand der Überschuldung kommt nur für juristische Personen in Betracht und beschreibt eine Situation, in der das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Als dritter Grund für die Insolvenzeröffnung existiert die drohende Zahlungsunfähigkeit, die auf Schuldnereigenantrag erfolgt. Dieser Eröffnungsgrund beschreibt eine Unternehmenssituation, in der der Schuldner voraussichtlich nicht in der Lage ist, seine bestehenden Zahlungspflichten zu erfüllen.

16.4.2 Empirisches Bild von Unternehmensinsolvenzen In den empirischen Daten zum Insolvenzgeschehen lassen sich insbesondere konjunkturelle Entwicklungen deutlich wiederfinden. Insolvenzen sind ein sog. Spätindikator, d. h. sie folgen der Konjunktur mit zeitlichem Versatz. Diese verspätete Wirkung von Abschwüngen lässt sich dadurch erklären, dass die Unternehmen zunächst angesammelte Eigenkapital- bzw. Liquiditätspolster aufbrauchen, bevor eine Insolvenz angemeldet wird.

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In der aktuellen Situation lässt sich dieses Bild an empirischen Daten verdeutlichen. Dank einer stabil positiven Wirtschaftsentwicklung ist die Zahl der Insolvenzen seit dem Jahr der Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2009 stetig zurückgegangen. Nach fast 33.000 Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2009 liegt der Wert nunmehr unter 14.300 (siehe Abb. 16.2). Für die Krise ab dem Jahr 2020 lässt sich allerdings eine Sonderentwicklung feststellen: Trotz der gravierenden Rezession durch die Covid-19-Pandemie kam es zu einem weiteren Rückgang der Insolvenzen, was sich mit den Eingriffen des Staates, insbesondere die verschiedenen Kredit- und Zuschussprogramme sowie die zeitweise Aussetzung der Insolvenzantragspflicht begründen lässt. Inwiefern sich dies auf einen ­verzögerten Strukturwandel und damit die Fehlallokation von Ressourcen auswirkt, wird erst in der Rückschau beurteilbar sein. Strukturell hat sich am Bild der Insolvenzen allerdings wenig verändert, d. h. es sind insbesondere kleinere und jüngere Unternehmen die ein höheres Insolvenzrisiko aufweisen (vgl. Abb. 16.3). Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der liability of smallness bzw. liability of newness (Fritsch, 2018). Nach Berechnungen der Creditreform verursachten Insolvenzen in Deutschland im Jahr 2021 einen Schaden von EUR 54 Mrd. für die Gläubiger. Bezogen auf Unternehmenszusammenbrüche ist insbesondere die Zahl der betroffenen Arbeitsplätze von Bedeutung. Für das Jahr 2021 liegt der Wert bei 143.000 Beschäftigten. Während der Schaden für Gläubiger gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, ist die Zahl der Arbeitsplatzverluste zurückgegangen. Creditreform führt den erhöhten Schaden insbesondere auf Großforderungen zurück (Creditreform, 2021). Mit dieser Entwicklung sind auch erhebliche Konsequenzen für die öffentlichen Haushalte verbunden. Für das Insolvenzgeld, das den betroffenen Beschäftigten in den ersten drei Monaten des Verfahrens gezahlt wird, musste die Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2020 ca. EUR 1,2 Mrd. aufwenden.

Abb. 16.2  Insolvenzen in den Jahren 2016 bis 2021 im Vergleich. (Quelle: Creditreform, 2021)

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Abb. 16.3  Unternehmensinsolvenzen nach Mitarbeiterzahlen im Jahr 2021, Anteile in Prozent. (Quelle: Creditreform, 2021)

Mit der großen Reform des Insolvenzrechts im Jahr 1999 wurde ein grundsätzlicher Wandel im Sanierungsgeschehen eingeläutet. Es stehen zwar immer noch die Gläubigerinteressen im Vordergrund des Verfahrens; allerdings wurden systematische Änderungen eingeführt, die eine Erhöhung der Verwertungsoptionen zum Ziel hatten. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Insolvenzplanverfahrens, nach dem eine Eigensanierung durch die bisherige Unternehmensführung erfolgen kann. Der zweite Weg zur Sicherung des Unternehmens ist die Übertragung des Unternehmens an einen neuen Eigentümer. Mit der Umsetzung dieser Reform war die Erwartung verknüpft, dass sich der Sanierungsgedanke im Insolvenzrecht durchsetzen könnte. Diesen Erwartungen wurde das neue Gesetz nur teilweise gerecht. Während in der Vergangenheit eine absolute Dominanz der übertragenden Sanierung festzustellen war, hat sich dieses Bild in den vergangenen Jahren verändert. Mittlerweile wird fast die Hälfte der Verfahren als Vergleichsoder Insolvenzplanverfahren durchgeführt.

16.5 Die besondere Situation des Mittelstands Aus Sicht der Wirtschaftspolitik sind Krisensituationen in mittelständischen Unternehmen auf der einen Seite besonders bedeutsam, da sie aufgrund ihrer zahlenmäßigen Dominanz ein wesentlicher Träger der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind. Auf der anderen Seite wird Krisen in mittelständischen Unternehmen allerdings eine geringere Aufmerksamkeit beigemessen, da sie aufgrund ihrer Größe – häufig haben wir es mit Klein- oder Kleinstunternehmen zu tun – selten im Licht der Öffentlichkeit stehen.

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16.5.1 Der Mittelstandsbegriff Zunächst einmal ist allerdings zu klären, was mit dem inflationär gebrauchten Mittelstandsbegriff gemeint ist. Aus ökonomischer Sicht ist mit dem Mittelstandsbegriff ein Segment aus der Gesamtheit der Unternehmen angesprochen, das sich durch bestimmte Definitionsmerkmale auszeichnet. In der Mittelstandsforschung hat es sich durchgesetzt, zwischen quantitativen und qualitativen Kriterien zu unterscheiden. Während die ­quantitativen Kriterien die Größenperspektive beinhalten und an empirisch leicht messbaren Kriterien ansetzen, sind aus qualitativer Sicht Merkmale des Mittelstands angesprochen, die ökonomische, gesellschaftliche und psychologische Merkmale einschließen (Reinemann, 2019). Die quantitative Dimension des Mittelstandsbegriffs schlägt sich im Begriff des kleinen und mittleren Unternehmens (KMU) nieder. Zur Definition dieses Begriffs können diverse Indikatoren herangezogen werden. Inzwischen ist es üblich, die Anzahl der Beschäftigten und den Umsatz als Größenindikatoren zu verwenden. Diese Kriterien haben den wesentlichen Vorteil, in der Regel statistisch verfügbar und operationalisierbar zu sein. In Deutschland hat sich vor allem die Definition des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn (IfM Bonn) etabliert, bei der folgende Indikatoren bzw. Abgrenzungskriterien verwendet werden (siehe Tab. 16.2). Diese in Deutschland allgemein anerkannte Definition findet allerdings international keine Anwendung. Die Europäische Kommission hat bereits 1995 eine einheitliche Definition für Small and Medium Sized Enterprises (SME) geschaffen (geändert mit der Empfehlung 2003/361/EG), die zum einen als weiteres Kriterium die Bilanzsumme verwendet und zum anderen bei der Mitarbeiterzahl niedrigere Größengrenzen ansetzt (siehe Tab. 16.3). Von besonderer Bedeutung ist dieser definitorische Ansatz im Zusammenhang mit der Mittelstands- und Regionalförderung. Da die nationalen Förderprogramme für den Mittelstand von der Europäischen Kommission notifiziert werden müssen, kommen hier die Tab. 16.2  Definition der KMU nach dem IFM Bonn. (Quelle: www.ifm-­bonn.org) Unternehmensgröße kleinst klein mittel (KMU) zusammen

Zahl der Beschäftigten bis 9 bis 49 bis 499 Unter 500

und

Umsatz EUR/Jahr bis 2 Mio. bis 10 Mio. bis 50 Mio. bis 50 Mio.

Tab. 16.3  SME-Definition der Europäischen Kommission. (Quelle: www.ifm.org) Unternehmensgröße kleinst klein mittel

Zahl der Beschäftigten und Umsatz EUR/p.a. oder Bilanzsumme EUR bis 9 bis 2 Mio. bis 2 Mio. bis 49 bis 10 Mio. bis 10 Mio. bis 249 bis 50 Mio. bis 43 Mio.

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Definitionskriterien der EU zum Tragen. Im deutschen Sprachraum ist aber nach wie vor die Definition des IfM Bonn gebräuchlich, welche somit auch Grundlage dieses Beitrags ist. Dieser KMU-Begriff und sein international verwendetes Pendant SME (Small an Medium Sized Enterprises) greifen allerdings zu kurz, da sie lediglich auf quantitativ fassbare Merkmale abstellen. Im Gegensatz zum KMU-Begriff sind mittelständische Unternehmen qualitativ definiert und unterliegen keinen Größengrenzen (Reinemann, 2019). Im Wesentlichen sind mittelständische Unternehmen durch die Einheit von Eigentum und Leitung geprägt, das heißt, der Eigentümer oder ein Mitglied der Eigentümerfamilie managt sein Unternehmen selbst. Dies beschreibt eine Konstellation, in der Unternehmerinnen und Unternehmer strategische und operative Entscheidungen unmittelbar treffen. In Großunternehmen hingegen ist in der Regel eine Trennung der Organe in Vorstand (Leitung), Aufsichtsrat (Kontrolle) und Hauptversammlung (Eigentum und Risiko) gegeben. Bedingt durch die Einheit von Eigentum und Leitung sind mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer grundsätzlich bestrebt, die alleinige Entscheidungsmacht im Unternehmen zu erhalten. Diese Tendenz lässt sich an einer Reihe von Beispielen der Unternehmensführung illustrieren. Ein prominenter Bereich ist die Auswahl von Finanzierungsinstrumenten, die erheblich davon beeinflusst wird, inwiefern (externe) Kapitalgeber eine Einflussnahme auf Entscheidungen aus den vertraglichen Bedingungen ableiten können (Börner, 2020). Zugleich tragen Unternehmer die Verantwortung und damit die unmittelbaren Handlungskonsequenzen ihrer Entscheidungen. Während angestellte Manager nur den Verlust ihres Arbeitsplatzes riskieren, können Fehlentscheidungen von Unternehmern das gesamte Privatvermögen betreffen, denn sehr häufig sind eigentümergeführte Unternehmen in Personengesellschaften verfasst, was grundsätzlich zu einer persönlichen Haftung führt. Tatsächlich ist eine exakte Zuordnung zum Mittelstand unter Berücksichtigung der genannten Kriterien nicht immer intuitiv möglich, da in der Praxis Grenzfälle – zum Beispiel das Vorhandensein zusätzlicher angestellter Mitgeschäftsführer oder von Fremdmanagern geleitete Unternehmen in Familienbesitz  – auftreten. Es kann jedoch abschließend zumindest festgehalten werden: Der Begriff der kleinen und mittleren Unternehmen rekurriert im Wesentlichen auf eine quantitative Perspektive, während sich der Begriff des mittelständischen Unternehmens ganz wesentlich auf das qualitative Merkmal der Einheit von Eigentum und Leitung bezieht.

16.5.2 Die Bedeutung des Mittelstands für die regionale Wirtschaft im Kontext von Unternehmenskrisen Im internationalen Kontext ist die Bedeutung der KMU nicht weniger ausgeprägt als in Deutschland. Allerdings weist der deutsche Mittelstand im Vergleich zu dem in anderen entwickelten Volkswirtschaften drei wesentliche Besonderheiten auf, die für die regionale Standortpolitik von erheblicher Bedeutung sind:

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• Erstens liegt die Unternehmensgröße gemessen an der Anzahl der Beschäftigten in der Bundesrepublik deutlich höher als in anderen Ländern. Dies drückt sich unter anderem in der Bedeutung mittelständischer Unternehmen aus, die über mehr als 49 Beschäftigte verfügen. Ein weiterer Beleg für die besondere Unternehmensstruktur in Deutschland ist der hohe Anteil sogenannter Hidden Champions, die in ihrer Produktnische als Weltmarktführer agieren. Nach Untersuchungen von (Simon, 2015) sind fast 50 % dieser geheimen Weltmarktführer in Deutschland beheimatet. • Zweitens sind mittelständische Unternehmen traditionell in ländlichen Regionen konzentriert. Dies gilt nicht nur für KMU, sondern auch für mittelständische Unternehmen, die ihren Unternehmenssitz zumeist abseits der Metropolen finden (Berlemann & Jahn, 2014). • Drittens existiert in Deutschland eine Vielzahl von Mittel- und Oberzentren mit einem vergleichsweise hohen Besatz an mittelständischen Unternehmen in der Fläche. Während sich also Großunternehmen in Deutschland stark auf die kreisfreien Großstädte konzentrieren, findet sich in ländlichen Regionen ein höherer Anteil von Kleinunternehmen. Von besonderer Bedeutung sind hier Handwerksbetriebe und Industrieunternehmen, deren Anteil an der Beschäftigung gerade in ländlichen Kreisen überdurchschnittlich hoch ist (Reinemann, 2020). Für den Mittelstand werden positive Beiträge zu den volkswirtschaftlichen Zielen Beschäftigung, Wachstum, Strukturwandel sowie Innovation erwartet und empirisch gemessen. Darüber hinaus werden mittelständischen Unternehmen wesentliche Aufgaben im Wettbewerb zugeschrieben. Denn je mehr Unternehmen in einem Markt agieren, desto geringer ist die Marktmacht der einzelnen Anbieter und umso größer wird die Gefahr von Marktanteilsverlusten (Reinemann, 2020). Die besondere Bedeutung mittelständischer Unternehmen gerade auch jenseits der Metropolregionen bringt allerdings nicht nur positive Aspekte mit sich. So kann in ländlichen Gebieten eine hohe Abhängigkeit von einzelnen Hidden Champions entstehen, die nicht nur als Arbeitgeber und Steuerzahler, sondern auch als Kunde von regionalen Kleinst- und Kleinunternehmen einen erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung von Kommunen haben können. Die besondere Struktur mittelständischer Unternehmen ist sowohl mit Vor- als auch Nachteilen in Krisensituationen verknüpft (siehe Tab.  16.4): Die Einheit von Eigentum und Leitung führt in diesem Unternehmen zum einen zu schnellen Entscheidungswegen Tab. 16.4  Vor- und Nachteile von mittelständischen Unternehmen im Sanierungsprozess. (Reinemann, 2019) Vorteile Schnelle Entscheidungswege Übersichtliche Organisationsstrukturen Übersichtliches Kunden- und Produktportfolio Hohe Loyalität Enge Stakeholderverbindungen

Nachteile Verspätete Identifikation der Krisensituation Mangelnde Reflexionsfähigkeit Beziehungskonflikte in der Familie Fehlende Infomationsverarbeitungskapazitäten Fehlende Diversifizierung

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und zum anderen existieren übersichtliche Organisationsstrukturen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen verfügen über ein eingeschränktes Kunden- und Produktportfolio, was die Transparenz fördert und die Umsetzung von Veränderungen erleichtert. Empirisch bewährt hat sich die These einer hohen Loyalität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in eigentümergeführten Unternehmen. Dies führt nicht nur bei positiver Unternehmensentwicklung zu hoher Beschäftigungsstabilität. Letztendlich erweisen sich enge Stakeholderverbindungen gerade in Krisensituationen als vorteilhaft. Dies bezieht sich nicht nur auf Kunden und Lieferanten, sondern bspw. auch auf die Hausbank. Die Stabilität dieser Beziehungen hat sich nicht zuletzt in der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 erwiesen (Ludwig, 2021). Im Krisenfall können die besonderen Charakteristika von mittelständischen Unternehmen allerdings zu einer verspäteten Identifikation bzw. Auseinandersetzung mit der Situation führen. Die patriarchalische Leitungsstruktur mit einer häufig langen und erfolgreichen Historie führt unter Umständen zu einer mangelnden Reflexionsfähigkeit, bis zu einem Ignorieren der Vorgänge im Unternehmen die Krisen auslösen. Das häufig mangelhafte Controlling und nicht existente Frühwarnsysteme in mittelständischen Unternehmen verschärfen diese Situation zusätzlich. Hieraus kann eine mangelnde Informationsverarbeitungskapazität und damit eine zu späte Erkennung der Krisenursachen resultieren. Die Überschneidung der Sphären von Unternehmen und Familie kann zu einer Verschärfung der Krise durch Beziehungskonflikte innerhalb der Gesellschafter führen. Nicht zuletzt ist die als Vorteil genannte Übersichtlichkeit von Kunden- und Leistungsportfolios mit einer geringen Diversifizierung verbunden, die die Überlebensfähigkeit von kleinen und mittleren Unternehmen infrage stellen kann.

16.6 Sanierung und Restrukturierung von Unternehmen Die Sanierung von Unternehmen ist zweifelsohne eine der schwierigsten und herausforderndsten unternehmerischen Aufgaben. Sie erfordert einerseits die Erkennung der mit der Unternehmenskrise verbundenen Risiken, andererseits aber auch die konsequente Nutzung der vorhandenen Chancen, um die Insolvenz abzuwenden (Klingebiel, 2001). In der Krise kommt dem Sanierungsmanagement zentrale Bedeutung zu. Hiermit werden alle Maßnahmen zur Planung, Durchsetzung und Kontrolle eines Sanierungskonzepts bezeichnet, die zur Bewältigung der Krisensituation dienen. Das Sanierungsmanagement setzt konsequenterweise an zwei wesentlichen Punkten an, die im Folgenden näher erläutert werden. Zum einen ist dies die leistungswirtschaftliche Sanierung, die der Implementierung operativer Maßnahmen zur Ergebnisverbesserung dient und zugleich die strategische Neuorientierung sicherstellen soll. Zum anderen beinhaltet das Sanierungsmanagement die finanzwirtschaftliche Sanierung, die der Sicherstellung der Liquiditätsversorgung des Unternehmens und zugleich der bilanziellen Restrukturierung dient. Ein wesentliches Instrument um über das Fortbestehen eines Krisenunternehmens zu entscheiden, ist das Sanierungskonzept (Crone & Werner, 2017). In den vergangenen Jahren

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wurden erhebliche Anstrengungen in Forschung und Praxis unternommen, Sanierungskonzepte zur einfacheren Analyse zu standardisieren. So haben das Institut der deutschen Wirtschaftsprüfer (IDW) und das Institut zur Standardisierung von Sanierungskonzepten Vorschläge für die Struktur dieser Berichte erarbeitet. Der Standard IDW S6 wurde vor kurzem mit dem Ziel überarbeitet, diesen Standard insbesondere an die Anforderungen kleiner und mittlerer Unternehmen anzupassen. Zu den Kernbestandteilen gehören unter anderem: • Basisinformationen über die wirtschaftliche und rechtliche Ausgangslage des Unternehmens in seinem Umfeld, einschließlich der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage; • die Analyse von Krisenstadium und -ursachen sowie Analyse, ob eine Insolvenzgefährdung vorliegt; • die Darstellung des Leitbilds mit dem Geschäftsmodell des sanierten Unternehmens; • die Darstellung der Maßnahmen zur Abwendung einer Insolvenzgefahr und Bewältigung der Unternehmenskrise sowie zur Herstellung des Leitbilds des sanierten Unternehmens; • ein integrierter Unternehmensplan und • die zusammenfassende Einschätzung der Sanierungsfähigkeit Das Instrument des Sanierungskonzepts dient im Wesentlichen dazu, die Sanierungsfähigkeit und -würdigkeit zu beurteilen. Sanierungsfähig bedeutet in diesem Kontext, dass es hinreichend wahrscheinlich geeignete Maßnahmen zur Ausstattung des Unternehmens mit genügenden liquiden Mitteln gibt. Die Sanierungswürdigkeit beinhaltet hingegen eine subjektive Komponente, nach der die beteiligten Akteure zu prüfen haben, ob eine Weiterführung des Unternehmens sinnvoll erscheint (bspw. aus Rentabilitätsgesichtspunkten) und auch gewünscht ist (Crone & Werner, 2017).

16.6.1 Leistungswirtschaftliche Sanierung Die leistungswirtschaftliche Sanierung kann vor dem Hintergrund der zeitlichen und der inhaltlichen Dimension betrachtet werden. Neben der inhaltlichen Qualität der Maßnahmen erweist sich der Faktor Zeit als grundlegend (Klingebiel, 2001). Aus diesem Grund sind Sanierungskonzepte in einer typischen zeitlichen Taktung umzusetzen. In einer ersten Phase besteht die Aufgabe des Sanierungsmanagements in der Umsetzung eines Sofortprogramms (siehe Abb. 16.4). Inhaltlicher Schwerpunkt dieser Maßnahmen ist die Sicherung der Liquidität (Crone & Werner, 2017). Zu diesem Zweck werden einerseits nicht notwendige Ausgaben verhindert (z. B. Investitionsstopp) und andererseits zusätzliche Einnahmen generiert (z. B. Sonderverkaufsaktionen). Diese erste Phase wird innerhalb weniger Wochen in einer ambitionierten zeitlichen Taktung umgesetzt. Danach kann mit der Implementierung der grundlegenden Konsolidierungsmaßnahmen begonnen werden, die dem Ziel der Wiedererlangung einer profitablen Wertschöpfung dienen. In dieser Phase werden Maßnahmen zur Verbesserung

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operativ / kurzfristig Phase

Maßnahmen

Sofortprogramm •

• • • • • • • • • Zielsetzung

Beschleunigte Rechnungstellung Forderungsprogramm Ausnutzung von Zahlungszielen Verminderung Anzahlungen Investitionsstopp Bestandsabbau Verschieben von Reparaturen Sonderverkaufsaktionen Eliminierung von Verlustbringern Verkauf von Grundstücken und Beteiligungen Sicherung und Erhalt der Liquidität

strategisch / langfristig

Konsolidierungsprogramm •

• • • • •

Strategische Neuausrichtung

Optimierung der Abläufe im Unternehmen Überprüfung der Ressourcenzuordnung Verbesserung von Beschaffung und Distribution Fokussierung des Leistungsprogrammes Überprüfung der strategischen Positionierung Motivation der Mitarbeiter

• •

Vision erarbeiten Strategische Positionierung ableiten Wertschöpfungsorientiertes Geschäftsmodell aufbauen Prozesse umgestalten Infrastruktur ausrichten Entwicklung neuer Geschäftsfelder Stärkung der Innovationskraft

• • • • •

Rückkehr zur profitablen Leistungserstellung

Sicherung der langfristigen Überlebensfähigkeit

Abb. 16.4  Zeitliche Abfolge der Maßnahmen einer Unternehmenssanierung. (Quelle: Reinemann, 2019)

Felder Y

A

hoch

In welchen Geschäftsfeldern wird das Unternehmen tätig? Marktattraktivität

X

F

E

niedrig

D

niedrig

hoch Wettbewerbsposition

Produkte

Kunden

Mit welchen Produkten für welche Kunden?

Leistungen

Welche Leistungen müssen erbracht werden? Welcher Ressourceneinsatz ist notwendig?

Welche Strukturen sind effizient?

Ressourcen

Organisation

Steuerungssysteme

Mitarbeiter

IT

Abb. 16.5  Zentrale Fragestellungen der strategischen Neuorientierung. (Quelle: Reinemann, 2019)

der Aufbau- und Ablauforganisation einbezogen. Wesentlicher Bestandteil der Unternehmenssanierung muss jedoch immer eine Überprüfung und zumeist auch eine Revision der Strategischen Positionierung sein. Diese Erkenntnis folgt dem Befund, dass der Ausgangspunkt einer wirtschaftlichen Notlage fast immer eine strategische Krise ist. Aus diesem Grund müssen die in Abb. 16.5 gestellten, zentralen Fragen beantwortet werden.

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Die grundlegende strategische Neuausrichtung führt bei Mehrproduktunternehmen nahezu immer zu einer Bereinigung des bestehenden Portfolios. Unter strikten Profitabilitätsgesichtspunkten werden einzelne Geschäftsbereiche, Produktgruppen oder auch Kunden(gruppen) eliminiert. Dies muss allerdings unter Berücksichtigung möglicher Umsatzund Deckungsbeitragsinterdependenzen erfolgen. Neben dem Spektrum der Wertschöpfung in Bezug auf die Produkte, wird die Wertschöpfungstiefe und die hiermit verbundene Ressourcenallokation untersucht. Auch hier wird in der Mehrzahl der Fälle eine Verringerung der Wertschöpfungsstufen umgesetzt. Allerdings kann auch die Erweiterung der Wertschöpfung zu einer Erhöhung der Profitabilität führen, wenn wirtschaftliche Aktivitäten integriert werden, die einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil begründen können. Abschließend muss bestimmt werden, welche Strukturen in Bezug auf Aufbauorganisation, Controlling, Mitarbeiter und Informationstechnologie die strategische Ausrichtung optimal stützen können. Die Erfahrung zeigt, dass die Umsetzung der strategischen Neuorientierung gerade für mittelständische Unternehmen besonders schmerzlich ist und daher in Sanierungsprojekten in den Hintergrund tritt. Dies steht unter anderem mit den qualitativen Merkmalen mittelständischer Unternehmen in engem Zusammenhang. Durch die enge Verbindung zwischen Unternehmer und Unternehmen sowie der Region, sehen sich die meisten Eigentümer gerade bei ihren Stammwerken nicht in der Lage konsequente Sanierungsmaßnahmen umzusetzen. Die Eigentümer befürchten bei einschneidenden Maßnahmen einen Imageverlust des Unternehmens in der Region, der sich auch auf das Image der Familie auswirken kann (Block & Wagner, 2014). Um die sozioemotionalen Werte des ­Unternehmens zu schützen, werden in solchen Situation häufig wirtschaftliche Nachteile bzw. Verluste in Kauf genommen.

16.6.2 Finanzwirtschaftliche Sanierung Die finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen sollen neben der Sicherung der Liquidität zu einer Sicherung und Stärkung der Eigenkapitalbasis dienen, damit der Tatbestand der Überschuldung vermieden wird. Durch die Abwendung der insolvenzrechtlichen Tatbestände stellt die finanzwirtschaftliche Sanierung eine notwendige Bedingung für die leistungswirtschaftliche Sanierung dar. Ohne eine gesicherte Liquidität und eine ausreichende Eigenkapitalbasis kann keine strategische Neuorientierung gelingen (Lafrenz, 2004). Unter finanzwirtschaftlichen Maßnahmen werden  – unter weiter Auslegung des Finanzierungsbegriffs  – neben Maßnahmen der langfristigen Kapitalbeschaffung zum einen Maßnahmen mit Wirkung auf Kapitalabfluss und -umschichtung auf der Passivseite der Bilanz und zum anderen Maßnahmen zur Umschichtung von Vermögen in liquide Mittel auf der Aktivseite der Bilanz subsumiert. Es handelt sich insofern sowohl um Maßnahmen, die zu einem Liquiditätszufluss führen, als auch um Maßnahmen ohne Liquiditätszufluss im Sinne einer Bilanzbereinigung. Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die in autonome und heteronome Maßnahmen. Autonome Maßnahmen befinden sich im

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Finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen Liquiditätsfördernde Maßnahmen

autonome Maßnahmen Verflüssigung von Aktiva Aufbau von Verbindlichkeiten

heteronome Maßnahmen Zuführung von Eigenkapital durch Dritte

Stundung von Verbindlichkeiten

Zuführung von Eigenkapital durch Gesellschafter

Zuführung von Fremdkapital durch Dritte

Zuführung von Fremdkapital durch Gesellschafter

Zulagen, Beihilfen Sonstige Unterstützung

Bilanzbereinigende Maßnahmen

autonome Maßnahmen

heteronome Maßnahmen

Auflösung von Rücklagen

Forderungsverzicht

Bereinigung bil. Risiken und Rückst. Von Sanierungsaufw.

Debt-Equity-Swap Rangrücktritt

Kapitalherabsetzung

Abb. 16.6  Maßnahmen der finanzwirtschaftlichen Sanierung. (Quelle: Lafrenz, 2004)

Entscheidungsspielraum des Managements bzw. der Eigentümer und bedürfen nicht der Mitwirkung anderer Interessengruppen. Heteronome Maßnahmen müssen hingegen mit Hilfe der betroffenen Parteien umgesetzt werden (siehe Abb. 16.6). Die besondere Struktur mittelständischer Unternehmen führt häufig dazu, dass nicht alle finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen in Erwägung gezogen werden. Das ­Interesse der Eigentümer, die Kontrolle über das Unternehmen zu erhalten, sowie das Erzielen von lediglich niedrigen Gewinnen, stehen der Zuführung von Eigenkapital von Dritten entgegen (Reinemann, 2019). Eine besondere Rolle kommt im Rahmen der finanzwirtschaftlichen Sanierung den finanzierenden Kreditinstituten zu. In Deutschland sind Bankbeziehungen mittelständischer Unternehmen zumeist regional verortet sowie eng und auf Dauer angelegt. Besonders prägend für die Finanzierungslandschaft sind Sparkassen und Genossenschaftsbanken (Berghoff, 2006), die neben ökonomischen Zielen auch das Wohl ihrer Mitglieder bzw. der Region im Blick haben (vgl. beispielsweise § 2 Sparkassengesetz). Grundsätzlich ergeben sich im Umgang mit Krisenengagements drei Handlungsalternativen für Kreditinstitute (Lützenrath & Keller, 2003). • Durch Kündigung des Kreditengagements können Banken das Risiko von Ausfällen und Abschreibungen reduzieren. Neben der ordentlichen Kündigung, die ein Risiko der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens innerhalb der Kündigungsfrist beinhaltet, besteht die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung. Diese ermöglicht die fristlose Fälligstellung der Kredite.

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• Das Stillhalten ist eine passive Form der Sanierungsstrategie und dann sinnvoll, wenn das Kreditinstitut an die Selbstheilungskräfte des Unternehmens glaubt. Neben dem Verzicht auf die Ausübung der vertraglichen Kündigungsrechte umfasst der Stillhaltebegriff auch die Aufrechterhaltung der Kreditlinien, die Stundungsabrede, die Prolongation eines Rollover-Kredits sowie die Inanspruchnahme einer nicht ausgeschöpften Kreditlinie. • Gerade in einer manifesten Liquiditätskrise sind die Unternehmen auf heteronome finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen angewiesen. Durch eine aktive Begleitung durch die Bank können diese Maßnahmen sichergestellt werden. Dabei steht das gesamte in Abb. 16.6 genannte Instrumentarium zur Verfügung. In Anbetracht der zumeist geringen Ressourcenausstattung der mittelständischen Unternehmen mit der notwendigen Managementkapazität, benötigen Eigentümer neben der Unterstützung durch Kreditinstitute zumeist externe Beratung, um der Krisensituation Herr zu werden. In diesem Kontext wird die allseits diskutierte Beratungsresistenz von KMU zu einem wesentlichen Stolperstein bei der Überwindung von Krisensituationen.

16.7 Krisenmanagement und Wirtschaftsförderung Zum Abschluss soll noch einmal kurz diskutiert werden, inwiefern die Wirtschaftsförderung eine Rolle im Krisenmanagement von Unternehmen spielen kann. Dabei ist eine wesentliche Voraussetzung, dass sich die Wirtschaftsförderung als professioneller Dienstleister für die mittelständischen Unternehmen in ihrem Zuständigkeitsbereich versteht (Lahner, 2021). Wesentliches Ziel der Wirtschaftsförderung kann in Krisensituationen sein, durch die Initiierung, Bündelung, Unterstützung und Kommunikation Handlungen umzusetzen, die zur Minderung bzw. der Beseitigung von erheblichen negativen Einflüssen auf die Unternehmen und die Infrastruktur in einem bestimmten Wirtschaftsraum geeignet sind (Vogelgesang & Stember, 2021). Innovative Wirtschaftsförderung kann dabei als Moderatorin, Initiatorin, Vermittlerin und Ermöglicherin für aktuelle Herausforderungen (Lahner, 2021), aber auch als begleitende Institution in Unternehmenskrisen dienen. Konkret bedeutet dies, dass Institutionen der Wirtschaftsförderung nicht erst tätig werden sollten, wenn akute Unternehmenskrisen aufgetreten sind, sondern bereits im Vorfeld die Entwicklung der regionalen Wirtschaftsstruktur im Auge behalten. Zu diesem Zweck sind nicht nur klassische Informationsquellen, wie bspw. Gespräche mit den Unternehmen vor Ort, sondern auch geeignete Datenquellen einzusetzen. So können bspw. die Entwicklungen der Ertrags- und finanzwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen über Kennzahlen aus geeigneten Datenbanken analysiert werden. Hier gilt es insbesondere zentrale Unternehmen (bspw. Hidden Champions) regelmäßig einer Analyse zu unterziehen. Andere Länder, wie bspw. Frankreich in der Covid19-Pandemie, zeigen in diesem Zusammenhang, wie durch die Analyse großer Datenmengen Unternehmen mit be-

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stimmten Problemen oder Defiziten identifiziert und auf geeignete Förderinstrumente aktiv angesprochen werden können. Mit diesem Frühwarnsystem können negative Entwicklungen in Unternehmen bereits vor dem Eintreten von Liquiditätskrisen oder gar Insolvenz identifiziert werden. Wenn akute Krisen durch präventive Maßnahmen nicht verhindert werden können, dann kann Wirtschaftsförderung zumindest durch die Kenntnis der regionalen Beratungslandschaft in der Vermittlung geeigneter Beratungsdienstleister unterstützen. Hier gilt es, durch den Einsatz von Moderationskompetenzen die verschiedenen Stakeholder und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. Gerade die engen Verknüpfungen zu lokal orientierten Kreditinstituten können an dieser Stelle sinnvoll genutzt werden.

16.8 Fazit In vielen Regionen haben Wirtschaftsförderungseinrichtungen in der Covid 19-Pandemie ihre Problemlösungskompetenzen unter Beweis gestellt und Maßnahmen zur Stabilisierung der Geschäftstätigkeit initiiert und/oder unterstützt (Lahner, 2021). Dies betraf insbesondere die klassischen Branchen des Handels und der Gastronomie, die mit (defensiven) Maßnahmen zur Stützung der Umsätze verbunden waren. Allerdings legen exogene Krisen vielfach in den Unternehmen offen, dass Geschäftsmodelle und -prozesse den Anforderungen einer digitalisierten Wirtschaft nicht mehr gerecht werden. Hier ist in vielen Fällen eine grundlegende strategische Neuorientierung der Unternehmen notwendig. Innovative digitale Leistungen können zu einer resilienten Unternehmensstruktur beitragen. Häufig sind die regionalen mittelständischen Unternehmen aufgrund von fehlenden digitalen Kompetenzen aber nicht in der Lage, die digitale Transformation zu meistern. Wirtschaftsförderung kann auch in diesem Feld eine Plattform bieten und die Zusammenarbeit mit regionalen Innovationsträgern wie Startups und Hochschulen initiieren. Dies gilt nicht nur, aber besonders in Krisensituationen. Ein weiterer Ansatzpunkt für die Arbeit der Wirtschaftsförderung kann es sein, die Unternehmen im Aufbau der notwendigen Kompetenzen für das Krisenmanagement zu unterstützen. Wenn sich die Weltwirtschaft tatsächlich aus einem weitgehend stabilen Wachstumspfad in eine Reihe von geopolitischen und klimainduzierten Unsicherheiten bewegt, dann wird die Krise zum „New Normal“ für Unternehmen. Auch in diesem Themenfeld fehlt es den Unternehmen vielfach an Kompetenzen zur frühzeitigen Erkennung und zum Umgang mit Krisen. Dieses Bewusstsein in den Unternehmen zu schärfen, kann eine lohnenswerte Aufgabe der regionalen Wirtschaftsförderung sein. Vor dem Hintergrund der zu Anfang diskutierten Megatrends, die in der VUCA-Welt zu immer größeren wirtschaftlichen Verwerfungen führen werden, kann damit eine präventiv orientierte innovative Wirtschaftsförderung zu einem differenzierenden Merkmal der Standortpolitik werden. Im Vorteil werden in Zukunft jene Regionen sein, die über eine

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H. Reinemann

ausreichend personell ausgestattete Wirtschaftsförderung verfügen, die in der Lage ist, die mittelständischen Unternehmen in ihrem Zuständigkeitsbereich präventiv in Strukturwandlungsprozessen zu begleiten und in Krisensituationen unbürokratisch und agil zu unterstützen.

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Prof. Dr. Holger Reinemann  ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personal- und Unternehmensführung, sowie Studiengangsleiter des MBA  – Management von Finanzinstitutionen an der Hochschule Koblenz. Er war zuvor als Consultant einer mittelständischen Beratungsgesellschaft und Investmentmanager einer Venture Capital Gesellschaft tätig. Er beschäftigt sich mit allen Bereichen der Unternehmensführung im Mittelstand, darunter auch Corporate Governance, Innovation, Private Equity, Restrukturierung und Sanierung sowie Human Resource Management.

Hochschulen: Ein regionaler Wirtschaftsfaktor in Krisenzeiten

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Christoph Gwosć

Zusammenfassung

Die Hochschulen in Deutschland haben nach den Landeshochschulgesetzen vielfältige nicht-ökonomische und ökonomische Aufgaben zu erfüllen, einige davon mit ausdrücklich regionalem Charakter. Die Tätigkeiten, die Hochschulen dabei entfalten, werden im Rahmen dieses Beitrags theoretisch-konzeptionell mit Hilfe des ökonomischen Grundmodells des Marktes beschrieben und die Wirkungen, die Hochschulen mit ihren Tätigkeiten erzielen, auf Basis von empirischen Studien quantifiziert. Auf diese Weise wird zunächst die regionalwirtschaftliche Bedeutung von Hochschulen z. B. für die Beschäftigung, das regionale BIP-pro-Kopf und das Patentaufkommen illustriert. Staatliche Hochschulen sind aufgrund ihrer Finanzierung durch die öffentliche Hand in der Regel recht krisenfest. Dennoch gibt es krisenhafte Ereignisse, die auch an ihnen nicht spurlos vorüber gehen, und ein Krisenbewältigungsverhalten erforderlich machen. Am Beispiel der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie wird veranschaulicht, wie Hochschulen in organisatorischer und finanzieller Hinsicht Krisenmanagement betreiben. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Nothilfefonds, die viele Hochschulen für einen Teil ihrer Studierenden bereitgestellt haben, um ihnen aus existenziellen finanziellen Schwierigkeiten heraus zu helfen und mögliche finanzinduzierte Studienabbrüche zu verhindern. Aus Perspektive der ökonomischen Theorie des Föderalismus wird dabei geprüft, ob das Instrument der Nothilfefonds in sozial-, wachstums- und fiskalpolitischer Hinsicht bei den Hochschulen auf der richtigen föderalen Ebene angesiedelt ist und dort auch zukünftig ein Mittel der Krisenprävention sein sollte. C. Gwosć (*) Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung GmbH, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 T. Korn et al. (Hrsg.), Wirtschaftsförderung in der Krise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-41390-3_17

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C. Gwosć

17.1 Einleitung Wer an regionale Wirtschaftsförderung oder Regionalpolitik denkt, mag dabei spontan Gewerbebetriebe sowie den Ausbau von Verkehrswegen und Energieversorgungsanlagen als Objekte der staatlichen Förderung im Sinn haben, aber vielleicht nicht so sehr Hochschulen. In Deutschland ist Hochschulpolitik denn auch Teil der Bildungspolitik, die ihrerseits wiederum dem Bereich der Sozialpolitik zugeordnet wird. Dennoch haben Hochschulen nicht nur große regionalwirtschaftliche Bedeutung, sondern sind sowohl Ziel als auch Träger regionalpolitscher Maßnahmen. In Deutschland existieren derzeit über 400 staatliche sowie staatlich anerkannte Hochschulen. Diese sollen neben den Kernaufgaben Lehre und Forschung eine Vielzahl weiterer Aufgaben wahrnehmen, darunter auch Aufgaben von explizit regionaler Bedeutung. Die Größe von Hochschulen, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten sowie ihre vielfältigen Aufgaben verleihen ihnen eine erhebliche ökonomische (und nicht-ökonomische) Bedeutung für die Region, in der sie beheimatet sind (Abschn. 17.2). Hochschulen gelten gemeinhin als ökonomisch recht krisenfest; dies gilt – zumindest im Hinblick auf existenzielle Krisen – für staatliche Hochschulen, die einen großen Teil ihrer Gesamteinnahmen aus dem öffentlichen Landeshaushalt beziehen. Dennoch kann es Krisenereignisse geben, die auch auf staatliche Hochschulen einwirken und Spuren bei ihnen hinterlassen. Ein solches Ereignis ist die gegenwärtige COVID-19-­ Pandemie. Wie wirkt sich diese Pandemie auf den Hochschulsektor aus? Wie sind Studierende als wichtigste „Kunden“ von Hochschulen davon betroffen? Welche Maßnahmen werden von Seiten der Hochschulen ergriffen, um den Auswirkungen der Pandemie entgegen zu wirken? Oder anders gewendet: Wie sieht ihr Krisenmanagement aus? Diesen Fragen wird in Abschn.  17.3 nachgegangen. Abschn.  17.4 enthält eine föderalismustheoretische Analyse zur Frage, ob das Instrument der Nothilfefonds für Studierende, das von vielen Hochschulen im Rahmen ihres Krisenmanagements verwendet wird und hier von besonderem Interesse ist, auf der richtigen föderalen Ebene angesiedelt ist und für eine zukünftige Krisenprävention dort verbleiben sollte. Eine Zusammenfassung wichtiger Befunde erfolgt in Abschn. 17.5.

17.2 Hochschulen und die regionale Wirtschaft 17.2.1 Hochschulen im Kontext der Regionalpolitik Ein grundlegendes Ziel von Regionalpolitik wird häufig in der Schaffung von möglichst gleichwertigen (Mindest-)Lebensbedingungen in allen Teilgebieten eines Staates gesehen. Die über die Regionen eines Landes verteilten Einwohner sollen gemäß diesem Ziel eine angemessene (Mindest-)Beteiligung an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung erhalten. Regionen, die in ihrer Entwicklung nach bestimmten Kriterien als ökonomisch rückständig identifiziert werden, sollen durch gezielte Maßnahmen, die e­ ntweder Angebots- oder Nachfragedeterminanten betreffen, gefördert werden (Klemmer, 1996).

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Regionalpolitik ist in Deutschland eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern. Die regionale Förderung soll sowohl mit den Grundsätzen der allgemeinen Wirtschaftspolitik als auch mit den Zielen der Raumordnung und Landesplanung übereinstimmen. Zu den Förderungsmaßnahmen gehört die Förderung des Ausbaus der Infrastruktur, die u. a. auch die Errichtung oder den Ausbau von Ausbildungs-, Fortbildungs- und Umschulungsstätten beinhalten kann, soweit ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Bedarf der regionalen Wirtschaft an geschulten Arbeitskräften besteht (Haas et al., 2021). Hochschulen, zu deren Kernaufgaben die hochschulische Aus- und die wissenschaftliche Weiterbildung zählen, erfüllen wichtige Aufgaben solcher Ausund Fortbildungsstätten. Hochschulen tragen auf hohem Niveau zur Erzeugung von Humankapital bei, das nach der endogenen Wachstumstheorie eine Angebotsdeterminante ist, die auf verschiedenen Wegen erheblich das Wirtschaftswachstum beeinflusst. Der Wachstumsbeitrag des Humankapitals erfolgt entweder durch eine unmittelbare Erhöhung der Arbeitskräfteproduktivität in der Investitions- und Konsumgüterherstellung (Uzawa, 1965; Lucas, 1988), die Erzeugung von positiven technologischen externen Effekten (Arrow, 1962; Lucas, 1988) oder die Generierung neuer Designs und Innovationen im Bereich Forschung und Entwicklung (Romer, 1990). In der Mehrheit der deutschen Bundesländer sind die Aufgaben der Hochschulen mit regionalem Bezug ausdrücklich in den Hochschulgesetzen festgelegt. Dabei können zwei Arten regionaler Aufgaben unterschieden werden, nämlich zum einen solche, die sich auf Kooperation der Hochschulen oder Teilen davon innerhalb des Hochschulsektors beziehen und zum anderen Aufgaben, die über den Hochschulsektor hinausreichen. Hochschulen sollen z.  B. allgemein die regionale Zusammenarbeit fördern; dies gilt insbesondere auch für die Zusammenarbeit der Hochschulen untereinander, zu deren Zweck Hochschulverbünde eingerichtet werden können (MKW, 2019; MWWK, 2021). Die Hochschulen sollen im Rahmen von Struktur- und Entwicklungsplänen ein fachlich ausreichendes und regional ausgewogenes Angebot in Forschung und Lehre sicherstellen und ein hochschulübergreifendes Angebot von Einrichtungen und deren wirtschaftliche Nutzung gewährleisten (HMWK, 2021; Ministerpräsident des Saarlandes, 2021; Ministerpräsident des Landes Brandenburg, 2020; MWU, 2021). In der Forschung sollen Hochschulen beim Entwurf von Forschungsprogrammen auch Programme zur regionalen Aufgabenteilung und Zusammenarbeit berücksichtigen (TMWWDG, 2018; Ministerpräsident des Saarlandes, 2021). Die Universitätskliniken sollen ihre Krankenversorgung in Bezug auf den regionalen Versorgungsbedarf der Bevölkerung wahrnehmen (MKW, 2019). Die zentralen Hochschulbibliotheken sollen mit anderen Bibliotheken – auch außerhalb der Hochschulen – zusammenarbeiten und dabei auch regionale Aufgaben der Informationsversorgung wahrnehmen (Berliner Senat, 2021; HMWK, 2021; Ministerpräsident des Saarlandes, 2021; Ministerpräsident des Landes Brandenburg, 2020). Die Studentenschaft hat u. a. die Aufgabe, die regionalen Studierendenbeziehungen zu fördern (SMWK, 2021). Schließlich können mehrere Hochschulen einer Region die allgemeine Studienberatung durch eine gemeinsam eingerichtete Beratungsstelle ausüben (MWU, 2021).

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17.2.2 Die regionalwirtschaftliche Bedeutung von Hochschulen Werden Hochschulen aus ökonomischer Perspektive betrachtet, so lässt sich zunächst feststellen, dass sie ähnlich wie Unternehmen und private Haushalte in vielfältiger Weise am Wirtschafsgeschehen teilnehmen. Auf verschiedenen Märkten entwickeln sie sowohl Nachfrage- als auch Angebotsaktivitäten. Es erscheint daher naheliegend, diese Aktivitäten theoretisch-konzeptionell mit Hilfe des ökonomischen Grundmodells des Marktes zu beschreiben. Nach diesem Modell gehören zu einem Markt mindestens ein Anbieter, ein Nachfrager sowie ein Marktobjekt. Der Markt ist der tatsächliche oder gedachte Ort, an dem die Marktteilnehmer zusammentreffen und Leistungen gegeneinander austauschen (Fritsch, 2018). Im Fall von staatlichen Hochschulen ist das Marktmodell manchmal zwar nur mit Einschränkungen geeignet, um die Beziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern zutreffend zu charakterisieren, dennoch ist das Modell hilfreich, um die regionalwirtschaftliche Bedeutung von Hochschulen zu beschreiben.

17.2.2.1 Nachfrageseitige Aktivitäten von Hochschulen Hochschulen treten auf verschiedenen Märkten als Nachfrager nach Produktionsfaktoren, Waren und Dienstleistungen auf. Auf dem Arbeitsmarkt fragen Hochschulen Personal für den wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich, für Verwaltung und Technik sowie für sonstige Zwecke (z. B. Pflege in Universitätskliniken) nach. Im Jahr 2019 beschäftigten die Hochschulen in Deutschland in diesen Bereichen mehr als 730.000 Personen (ohne studentische Hilfskräfte). Große Hochschulen, wie z.  B. die Universitäten Heidelberg, München, oder Freiburg im Breisgau, können dabei einen Personalbestand von mehr als 18.000 Beschäftigten erreichen (Statistisches Bundesamt, 2020). Betrachtet man nur das Kriterium der Beschäftigtenzahl, so würden nach der Definition des Statistischen Bundesamtes die meisten Hochschulen in die Kategorien „Großunternehmen“ (mehr als 249 Beschäftigte) und „mittlere Unternehmen“ (50–249 Beschäftigte) fallen (Statistisches Bundesamt, 2021c). Auf den Konsum- und Investitionsgütermärkten fragen Hochschulen Waren und Dienstleistungen verschiedenster Art nach. Die Bandbreite der Güter reicht dabei von Lebensmitteln für Cafeterien und Mensen, alltäglichem Bürobedarf und Fensterreinigung bis hin zu hoch spezialisierten Laborausstattungen für die Medizin und die Naturwissenschaften. Die Ausgaben der Hochschulen in Deutschland (ohne medizinische Einrichtungen/ Gesundheitswissenschaften) beliefen sich im Jahr 2019 auf etwas mehr als 61 Mrd.  €, wobei 55,78 Mrd. € auf laufende Ausgaben und die restlichen 5,24 Mrd. € auf Investitionsausgaben entfielen (Statistisches Bundesamt, 2021b). In begrenztem Maß sind Hochschulen auch Nachfrager auf dem Immobilienmarkt. Staatliche Hochschulen erhalten den für ihre Errichtung benötigten Grund und Boden sowie mitunter auch Gebäude aus den landeseigenen Liegenschaften der Länder, in denen die Hochschulen ihren Sitz haben. Die Nutzung dieser Liegenschaften erfolgt häufig unentgeltlich, sodass hier keine Markttransaktion vorliegt. In Rheinland-Pfalz, Nordrhein-­ Westfalen, Niedersachsen und Bremen werden dagegen vom Land Nutzungsentgelte,

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Mieten oder Kapitaldienste (Abschreibungen und Zinsen aus Gebäudewertermittlung) für die Bereitstellung von Liegenschaften in Rechnung gestellt (Stibbe et al., 2012). In diesen Fällen der entgeltlichen Abgabe staatlichen Eigentums an staatliche Hochschulen kann von einem Quasi-Markt gesprochen werden. Schließlich kann aber in den meisten Bundesländern bei Bedarf auch eine Anmietung von Flächen außerhalb der landeseigenen Liegenschaften durch die staatlichen Hochschulen selbst erfolgen (Stibbe et  al., 2012). Private Hochschulen erhalten ihren Grund und Boden nicht selten in Form von Stiftungsvermögen durch ihre Träger, sie nehmen jedoch auch den Immobilienmarkt für die Anmietung von Grundstücken und Gebäuden in Anspruch (Statistisches Bundesamt, 2019). Insofern fragen Hochschulen auf dem Immobilienmarkt die Produktionsfaktoren Boden und Realkapital nach. Hochschulen ziehen ihrerseits Nachfrager an und bewirken dadurch eine zusätzliche Erhöhung der Marktnachfrage in der Region. Die wichtigsten „Kunden“ von Hochschulen sind zweifellos Studierende. Diese kommen nicht nur aus der jeweiligen Region, sondern ziehen oft aus anderen Regionen oder sogar aus dem Ausland an den Hochschulstandort um. Im Wintersemester 2020/21 waren knapp 2,95 Mio. deutsche und ausländische Studierende an Hochschulen in Deutschland immatrikuliert. Manche Hochschulen, wie etwa die Universitäten München, Hamburg, Frankfurt am Main, Bochum, Duisburg-Essen, Münster, die TU München und die TH Aachen haben dabei mehr als 40.000 Studierende (Statistisches Bundesamt, 2021a). Die Studierenden fragen auf Märkten Güter für die Lebenshaltung und das Studium nach. Die Einnahmen, die einem Studierenden für Ausgabezwecke durchschnittlich zur Verfügung stehen, lagen im Jahr 2016 bei 918  € pro Monat (Middendorff et al., 2017).1 Studierende, die nicht mehr im Elternhaus leben, geben ihre Einnahmen vor allem für Miete einschließlich Nebenkosten aus (323 €/Monat). Weitere wichtige Ausgabenkategorien sind Ernährung (168 €), Transportleistungen (94 €), Gesundheitsleistungen [Krankenversicherung, Arztkosten, Medikamente] (80 €) sowie Freizeit, Kultur und Sport (61 €) (Middendorff et al., 2017). Geht man von den zuvor genannten hochaggregierten Grunddaten für den Hochschulsektor aus, so lässt sich stark vereinfachend feststellen, dass eine durchschnittliche Hochschule in Deutschland gut 1700 Beschäftigte hat, von mehr als 6900 Studierenden besucht wird und pro Jahr mehr als 144 Mio.  € ausgibt. Dies ist ein beachtliches Nachfragepotenzial für eine Region.

17.2.2.2 Angebotsseitige Aktivitäten von Hochschulen Hochschulen sind nicht nur Nachfrager nach Produktionsfaktoren und Gütern, sondern bieten diese auch an. Die Angebote erfolgen dabei allerdings nicht immer über Märkte, weil viele Leistungen nicht durch Marktpreise von den unmittelbaren Leistungsempfängern finanziert, sondern – im Fall der staatlichen Hochschulen – über staatliche Z ­ uweisungen  Die Angaben beziehen sich auf Studierende, die unverheiratet waren, allein wohnten bzw. wirtschafteten, noch keinen Hochschulabschluss besaßen und in einem Vollzeit-Präsenz-Studium eingeschrieben waren (Middendorff et al., 2017).

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alimentiert werden. Eine Kernaufgabe von Hochschulen ist das Angebot von Bildungsdienstleistungen. In der Lehre sollen sie u. a. Fachwissen und Methodenkompetenzen an Studierende vermitteln, zu ihrer Persönlichkeitsbildung beitragen und ihre Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement wecken. Darüber hinaus sollen Hochschulen basierend auf dem Konzept des lebenslangen Lernens zur Förderung der beruflichen Entwicklung beitragen. In einem sich ständig verändernden Umfeld sollen sie dynamische Angebote zur (wissenschaftlichen) Weiterbildung für Erwerbstätige machen, um dadurch individuelle berufliche Qualifikationen zu entwickeln und zu erhalten (Senat der Hochschulrektorenkonferenz, 2018). Damit produzieren Hochschulen zusammen mit ihren Studierenden/Absolventen den Faktor Humankapital und wirken am Angebot von hoch qualifizierten Arbeitskräften mit,2 was für den regionalen Arbeitsmarkt von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist. Hochschulen sind des Weiteren Anbieter von Forschungsleistungen. Diese beinhalten einerseits Ergebnisse von Grundlagenforschung, die rein erkenntnisorientiert und zweckfrei ist, und zum anderen Resultate von angewandter Forschung, die primär auf ein spezifisches praktisches Ziel ausgerichtet ist und in der Regel einen wirtschaftlichen Zweck verfolgt. Die Aktivitäten von Hochschulen in regionalen Innovationssystemen drücken sich bspw. in Form von Patent-Kooperationen aus. So wurden z. B. allein für die Friedrich-­ Schiller-­Universität Jena in Thüringen 392 Patent-Kooperationen mit Partnern im Umkreis von 50 Km um Jena gezählt, weitere 544 Kooperationen mit Partnern im restlichen Bundesgebiet und 84 Kooperationen mit internationalen Partnern (Hoch et al., 2018). Unter dem Begriff „Verantwortung in der Region“ bieten Hochschulen einen bunten Strauß verschiedenster Dienstleistungen an. Dazu gehören soziale Beratungsdienstleistungen, psychologische Beratung für Studierende sowie Gesundheitsleistungen für die Bevölkerung, die von den Universitätskliniken erbracht werden. Hochschulen stellen öffentlich nutzbare Infrastrukturen in Form von Bibliotheken, Archiven, Museen, Sportanlagen und botanischen Gärten bereit. Sie arbeiten an Stadt- und Regionalentwicklungsprogrammen mit und sind zentrale Ansprech- und Kooperationspartner für regionale Unternehmen, Verbände und Bildungseinrichtungen, denen technologisches und soziales Knowhow angeboten wird (Senat der Hochschulrektorenkonferenz, 2018). Mit ihren Nachfrage- und Angebotsseitigen wirtschaftlichen Aktivitäten erzeugen die Hochschulen kurzfristig positive Auswirkungen auf die regionale Beschäftigung, die Wertschöpfung und das staatliche Steueraufkommen und langfristig auf das regionale Wirtschaftswachstum (Hoch et  al., 2018). Eine regionalökonomische Studie des DIW für die Hochschulen des Landes Brandenburg hat dabei bemerkenswerte Ergebnisse ermittelt. Brandenburg finanzierte seine Hochschulen im Jahr 2016 mit laufenden Zuwendungen und Bauinvestitionen von knapp 400 Mio. €. Diesen Landesmitteln stand ein geschätzter landes Anbieter von Arbeitsleistungen können in einem marktwirtschaftlichen System freiwilligen Tausches natürlich immer nur die Arbeitnehmer selbst sein. Aber die Hochschulen versetzen diese durch ihr Ausbildungsangebot überhaupt erst in die Lage, hoch qualifizierte Arbeit anzubieten. Insofern sind Hochschulen an der Angebotserstellung auf dem Arbeitsmarkt wesentlich mitbeteiligt.

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weiter Bruttowertschöpfungseffekt von gut 800 Mio. € gegenüber. Der Multiplikatoreffekt geht dabei vor allem auf eingeworbene Drittmittel von mehr als 100 Mio. € sowie Konsumausgaben der Studierenden in Höhe von landesweit rund 320 Mio. € zurück (Hoch et al., 2018). Die regionale Wertschöpfung wird auch dadurch erhöht, dass Hochschulabsolventen im Arbeitsprozess eine höhere Produktivität aufweisen als nicht-akademische Arbeitnehmer. Für die Absolventen der Brandenburger Hochschulen des Jahrgangs 2015 wurde beispielhaft errechnet, dass sie im Jahr 2016 einen Wertschöpfungsbeitrag von 172 Mio. € leisteten. Im Vergleich zur selben Anzahl von Arbeitnehmern ohne Hochschulabschluss liegt dieser Wertschöpfungsbeitrag um 65  % höher (Hoch et  al., 2018). Neben den Produktionsfaktoren Arbeit und Realkapital wirkt sich das Forschungskapital von Hochschulen ebenfalls positiv auf die wirtschaftliche Leistung einer Region aus. Das Forschungskapital besteht aus den von Hochschulen generierten Forschungsergebnissen, die bewirken, dass Unternehmen auf dieser Basis Produkt- und Verfahrensinnovationen tätigen. Die ökonometrische Schätzung für das Land Brandenburg kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2016 das von den Hochschulen generierte Forschungskapital die Wirtschaftsleistung um knapp eine Milliarde Euro erhöht hat. Ohne dieses von den Hochschulen generierte Forschungskapital wäre das Bruttoinlandsprodukt um 1,4 % niedriger ausgefallen (Hoch et al., 2018). Nach einer Studie des Fraunhofer Instituts bewirkt ein repräsentativer Hochschulstandort in Deutschland, dass das regionale BIP-pro-Kopf um gut 4500 € ansteigt, die Arbeitslosigkeit um 3,1 % sinkt und das Patentaufkommen gemessen am bundesweiten Durchschnitt um etwa 13 % zunimmt (Schubert & Kroll, 2013). Im Hinblick auf die räumliche Reichweite dieser positiven Effekte konnten die Autoren ermitteln, dass 85  % der BIP-­ pro-­ Kopf-Steigerung direkt am Hochschulstandort verbleibt, während es beim Pro-Kopf-Patentaufkommen 56 % sind. Bezüglich der Arbeitslosenquote ist der Effekt nur zu 19 % lokal gebunden. Dies bedeutet, dass die regionalen Ausstrahlungseffekte bei der Beschäftigung am stärksten sind, während sich der positive Effekt beim BIP vor allem am Hochschulstandort selbst auswirkt (Schubert & Kroll, 2013). Innerhalb der EU zählt Deutschland zu den Ländern mit der besten geografischen Erreichbarkeit von Hochschulen für die Landesbevölkerung (Ballas et al., 2012). Insofern bestehen in dieser Hinsicht zumindest relativ gute Voraussetzungen für eine regional ausgewogene Entwicklung, auch wenn eine allgemeine Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland nicht gegeben ist.

17.3 Hochschulen in Deutschland und die COVID-19-Pandemie In ökonomischer Hinsicht sind Hochschulen relativ krisensicher, zumindest wenn es sich um staatliche Hochschulen handelt, die einen großen Teil ihrer Einnahmen aus Zuweisungen des jeweiligen Landeshaushalts beziehen. Dennoch gehen Krisen nicht immer spurlos an Hochschulen vorüber. Am Beispiel der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie werden die Auswirkungen der Krise auf die Hochschulen und insbesondere auf ihre Studierenden beschrieben.

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17.3.1 Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Hochschulen und Studierende Am 27. Januar 2020 wurde in Deutschland der erste Fall einer Infektion mit dem damals neuartigen SARS-CoV-2-Virus, das die so genannte COVID-19-Krankheit auslöst, gemeldet. Seit dem gab es bislang insgesamt sechs Infektionswellen, die Deutschland mit regional unterschiedlicher Intensität erfasst haben. Zur Bekämpfung der Auswirkungen der Pandemie wurden von der EU, vor allem aber von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland verschiedenste Maßnahmen beschlossen und exekutiert. Diese reichten z.  B. von einer Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften, über Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Quarantänepflicht für Reiserückkehrer bis hin zu vorübergehenden Schließungen von Gastronomie- und Dienstleistungsbetrieben, Kultureinrichtungen, Kindertagesstätten und Schulen. Praktisch gab es keinen Bereich des öffentlichen und privaten Lebens, der nicht von den Infektionsschutzmaßnahmen betroffen wurde. Auch Hochschulen wurden Gegenstand von Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Seit Mitte März 2020 haben die Bundesländer in Abstimmung mit dem Bund und den Hochschulen immer wieder Auflagen erlassen und Empfehlungen ausgesprochen. Zu den zentralen Maßnahmen zählten dabei eine weitgehende Einschränkung der Präsenzlehre zugunsten digitaler Online-Distanzlehre seit dem Sommersemester 2020 sowie Kontaktbeschränkungen an und Hygienevorgaben für Hochschulen (HRK, 2021). Die Umsetzung dieser zentralen sowie weiteren Maßnahmen erforderte an den Hochschulen einen erheblichen technisch-organisatorischen sowie juristischen Aufwand. Für die Online-Lehre wurden die Lehrenden bspw. gebeten, ergänzend zu bereits bestehenden Lehrmitteln wie PowerPoint Präsentationen auch Lehrvideos zu drehen. Um die wenigen, nicht ersetzbaren Präsenzveranstaltungen (z. B. Laborpraktika) durchführen zu können, mussten häufig Genehmigungen bei der Hochschulleitung eingeholt und Raumnutzungskonzepte entwickelt werden. Kontaktverfolgungen per App waren ebenso einzurichten wie Online-­Reservierungssysteme, mit denen bspw. in den Lesesälen der Bibliotheken Nutzerplätze online gebucht und storniert werden konnten (CHE, 2021). Hygienemaßnahmen wie Maskenpflicht, Abstandsregeln, Einbahnsysteme und regelmäßiges Lüften mussten geplant, implementiert und überwacht werden. Für Prüfungen, die von den Hochschulen noch bevorzugt in Präsenz durchgeführt wurden, mussten ergänzend zusätzliche Räume angemietet werden. Daneben waren alternative Formen der Leistungserbringung wie Hausarbeiten oder Open-Book-Klausuren als Ersatz für andere Formate zu entwickeln (CHE, 2021). Die finanziellen Auswirkungen der Pandemie auf die Hochschulen sind momentan noch nicht ganz absehbar. Auf der Einnahmenseite wird sich wohl ein Rückgang der Studienanfängerzahlen bemerkbar machen. Die Bundesländer vergeben ihre Mittel an die staatlichen Hochschulen nach verschiedenen Kriterien, wie z.  B. der Zahl der Studienanfänger, Studierenden innerhalb der Regelstudienzeit und der Absolventen. Ein Rückgang bei den Immatrikulationen hätte demnach nicht nur kurzfristig, sondern auch mittel-

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fristig negative finanzielle Konsequenzen. Bei privaten Hochschulen schlägt ein Rückgang der Studienanfängerzahlen schon kurzfristig besonders stark zu Buche, da sich diese Hochschulen durchschnittlich zu 75 % über Studienbeiträge ihrer Studierenden finanzieren (Stifterverband, 2020). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Zahl der Studienanfänger in Deutschland von 429.049 im WS 2019/20 auf 418.697 im WS 2020/21 gesunken (Statistisches Bundesamt, 2021d), was einem Rückgang von 2,4 % entspricht. Dies erscheint insgesamt vielleicht nicht viel, allerdings ist dabei zu beachten, dass es sich um den bundesweiten Durchschnitt handelt, d.  h. an einzelnen Hochschulen kann der Rückgang erheblich höher ausfallen.3 Wie oben bereits beschrieben, waren Studierende Adressaten verschiedenster technisch-­ organisatorischer Maßnahmen der Hochschulen zur Eindämmung der Pandemie. Die bedeutendste Maßnahme war dabei wohl die kurzfristige Umstellung der Präsenzlehre auf eine digitale Online-Distanzlehre. Hierdurch wurden große Herausforderungen an die Studierenden in sozialer, psychischer, lernmethodischer und mitunter auch technischer Hinsicht gestellt. Auch in finanzieller Hinsicht war die Pandemie für viele Studierende eine große Herausforderung. Während mehrerer Lockdowns mussten vor allem im tertiären Sektor viele Unternehmen ihre Tätigkeiten vorübergehend einstellen, während gleichzeitig in der gewerblichen Industrie in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß Kurzarbeit eingeführt wurde. Hierdurch mussten viele Studierende, die neben dem Studium erwerbstätig sind, ihre Erwerbszeit reduzieren, sie wurden unbezahlt freigestellt oder verloren ihre Jobs. Die Auswirkungen auf die Einnahmen der Studierenden waren mitunter erheblich (siehe Abb. 17.1). Während die Studierenden im WS 2019/20 noch im Durchschnitt über 857 € pro Monat verfügten, sank dieser Betrag im darauffolgenden SS 2020 auf 794 €, was einem Rückgang von 7,4 % entspricht. Manche Studierendengruppen wurden vom Einnahmenverlust noch deutlich stärker getroffen. Bei Studierenden, die angaben, dass sich die Einkommenssituation ihrer Eltern während der Pandemie verschlechtert hat, sanken die Durchschnittseinnahmen von 828 € im WS 2019/20 auf 715 € im SS 2020 (− 13,6 %). Am stärksten waren jedoch Studierende betroffen, deren eigene Erwerbssituation sich verschlechtert hatte: ihre durchschnittlichen Einnahmen sanken im gleichen Zeitraum von 890 auf 658 € (− 26,1 %). Die durch die Pandemie schwieriger gewordene Finanzsituation vieler Studierender hat auch einen Einfluss auf ihre Zukunftsplanung, insbesondere im Hinblick auf die Fortsetzung ihrer Ausbildung (siehe Abb. 17.2). Unter Studierenden, die ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben, sind 9 % der Ansicht, dass die Aussage, ohne zusätzliche finanzielle Unterstützung sei das Studium nicht fortführbar, entweder überwiegend oder voll und ganz zuträfe. Bei internationalen Studierenden ist dieser Anteil mit 25 % mehr als doppelt so hoch und im Vergleich der vier Gruppen am stärksten ausgeprägt. Unterschiede existieren auch bei  So erwartete bspw. der Rektor der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg für das WS 2020/21 einen Rückgang der Zahl der nationalen Studienanfänger an seiner Hochschule von 25 % (o.V., 2020a). 3

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Abb. 17.1  Durchschnittliche Gesamteinnahmen der Studierenden nach Einkommenssituation der Eltern und Erwerbssituation der Studierenden (in Euro/Monat), SS 2020. (Quelle: Becker & Lörz, 2020, S. 6)

Abb. 17.2  Einschätzung der Studierenden, „coronabedingt“ das Studium ohne zusätzliche finanzielle Unterstützung nicht fortführen zu können – nach sozialer Herkunft und Migrationsstatus (in %), SS 2020. (Quelle: Becker & Lörz, 2020, S. 8)

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Studierenden, die einen ungleichen Bildungshintergrund haben. Bei Studierenden aus Akademikerfamilien, d. h. mindestens ein Elternteil der Studierenden hat selbst einen akademischen Abschluss erworben, geben 9 % an, dass die zuvor genannte Aussage zutreffe. Unter ihren Kommilitonen, die aus nicht-akademischen Elternhäusern stammen, liegt der entsprechende Anteil mit 11 % etwas höher. Es zeigt sich somit, dass die finanziellen Folgen der Pandemie ein merkliches Studienabbruchrisiko mit gruppenbezogenen Unterschieden beinhalten.

17.3.2 Staatliche Förderungsmaßnahmen für Studierende Die COVID-19-Pandemie setzt viele potenzielle und aktuelle Studierende in Deutschland finanziell unter Druck. Dies trägt mit dazu bei, dass einerseits die Gesamtzahl der Immatrikulationen vom WS 2019/2020 zum WS 2020/2021 um 2,4  % gesunken ist und andererseits ein erhöhtes Risiko besteht, dass Studierende, die bereits an Hochschulen eingeschrieben sind, aus finanziellen Gründen ihr Studium abbrechen. Wird dem staatlicherseits entgegengewirkt? Der Staat hat verschiedene Finanzinstrumente eingesetzt, um die Situation der Studierenden zu verbessern. Hierzu zählen eine Aktualisierung des BAföG, der KfW-Studienkredit, die Überbrückungshilfe in pandemiebedingter Notlage, Nothilfefonds sowohl von den Studierendenwerken (finanziert durch die Länder) als auch von (staatlichen) Hochschulen sowie die Darlehenskasse der Studierendenwerke (Becker & Lörz, 2020). Neben Bund und Ländern haben auch viele Hochschulen den Studierenden finanzielle Nothilfen angeboten. Die Otto-von-Guericke Universität Magdeburg in Sachsen-Anhalt, um exemplarisch eine Hochschule zu nennen, hat in Verbindung mit ihrem Förderverein eine Spendenaktion initiiert, um für ihre Studierenden einen Nothilfefonds einzurichten. Zur kurzfristigen Unterstützung können bedürftige Studierende einen einmaligen Zuschuss zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Höhe von 450 € beantragen (o.V., 2021). In Nordrhein-Westfalen haben bis Ende Oktober 2020 fast 60  % der Universitäten, die Mehrheit der Fachhochschulen und alle sieben staatlichen Kunst- und Musikhochschulen ebenfalls Hilfsfonds für ihre Studierenden eingerichtet (o.V., 2020b; Lordieck & Markert, 2020). Im Mai und Juni 2020 erhielten etwa 200 Studierende der Universität Köln über die Kölner Universitätsstiftung einen Betrag von jeweils 800 €. Wegen der großen Zahl von Hilfsgesuchen (800 Bewerbungen von Studierenden) wurde die Hilfsaktion ausgeweitet, in deren Verlauf die Hochschule Ehemalige und Förderer um Spenden bat. In der Folge konnten fast 100 weitere Studierende gefördert werden (o.V., 2020b). Mit diesen Nothilfen sind viele Hochschulen den Bundes- und Landeshilfen zuvor gekommen oder haben diese ergänzt. Die relative Bedeutung der Nothilfefonds in Deutschland wird mit Hilfe von Abb. 17.3 verdeutlicht. Dargestellt sind die Anteile von Studierenden, die (potenziell) auf verschiedene Finanzierungsquellen zurückgreifen, um pandemiebedingte finanzielle ­ Engpässe zu überwinden. Die Bezugsgruppe sind dabei nur diejenigen Studierenden,

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Abb. 17.3  Finanzierungsquellen, auf die Studierende mit Einnahmeverlusten zurückgreifen, um finanzielle Engpässe auszugleichen (in %, Mehrfachnennung, nur Studierende in finanzieller Notlage), SS 2020. (Quelle: Becker & Lörz, 2020, S. 7)

die bei einer bundesweiten Befragung im SS 2020 angaben, dass sie sich in einer finanziell ungünstigen Position befinden; dies betrifft 29  % aller Studierenden. Die dargestellten Prozentsätze beinhalten Studierende, welche die betreffende Finanzierungsquelle bereits nutzen, sie beantragt/erbeten haben oder planen, die Quelle zu nutzen. Es zeigt sich, dass Studierende vor allem private Quellen aktivieren, um die pandemiebedingte finanzielle Notlage zu überwinden. Dreiviertel der betroffenen Studierenden geben an, dass sie auf eigene Ersparnisse zurückgreifen. Mehr als drei Fünftel der Studierenden nehmen finanzielle Hilfen der Familie in Anspruch und/oder erwirtschaften – trotz einer durch die Pandemie schwierigen Erwerbssituation – zusätzliche Mittel durch eigene Erwerbstätigkeit. Nur 4 % der Studierenden in finanzieller Notlage haben die Nothilfefonds der Hochschulen bereits in Anspruch genommen, dies beantragt oder planen, dies noch zu beantragen. Damit würden die hochschuleigenen Nothilfefonds bei positiver Bescheidung aller Anträge knapp 1,2 % aller Studierenden erreichen. Dies ist nur ein sehr kleiner Anteil an der gesamten Studierendenpopulation, dennoch können die Nothilfen von Hochschulen auf individueller Ebene sehr bedeutsam sein und haben vielleicht sogar schon geholfen, Studienabbrüche zu verhindern.

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17.4 Nothilfen für Studierende aus föderalismustheoretischer Perspektive Die Hilfen für Studierende zur Überwindung der finanziellen Folgen der Pandemie kommen in Deutschland von unterschiedlichen föderalen Ebenen.4 In Abb. 17.4 sind beispielhaft verschiedene Instrumente genannt und der sie finanzierenden Ebene zugeordnet. Wie ersichtlich ist, sind sämtliche Ebenen an der Finanzierung von Nothilfen beteiligt. Die Aufzählung der Instrumente ist zwar nicht vollständig, da insbesondere diejenigen auf der kommunalen und institutionellen Ebene schwierig zu erfassen sind, dennoch sind die wichtigsten und vom Volumen her bedeutendsten Instrumente aufgeführt. Auf der Bundesebene sind mehrere Instrumente angesiedelt: Mit der Überbrückungshilfe in pandemiebedingter Notlage wird Studierenden ein monatlich zu beantragender, nichtrückzahlbarer Zuschuss von bis zu 500 € angeboten. Ergänzend dazu wurde der KfW-Studienkredit eine Zeitlang zinsfrei gestellt und für internationale Studierende geöffnet. Mit der BAföG-­

Abb. 17.4  Finanzierung von Nothilfen für Studierende während der COVID-19-Pandemie aus föderaler Perspektive. (Quelle: Eigene Darstellung)

 Aus föderaler Perspektive werden in Deutschland üblicherweise die Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden/Gemeindeverbände zum Staat im engeren Sinne gezählt. Dieser dreistufige Aufbau wurde hier aus analytischen Gründen um die institutionelle Ebene ergänzt. 4

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Aktualisierung sollen pandemiebedingte Verzögerungen im Studium zu einer entsprechend längeren Förderungsdauer für die BAföG-Empfänger führen. Einzelne Länder haben Nothilfefonds eingerichtet, wie z. B. Baden-Württemberg, wo zinslose Darlehen von bis zu 450 € pro Monat an Studierende vergeben und die von den Studierendenwerken vor Ort umgesetzt werden. Auf der Gemeindeebene lässt sich bspw. der Nothilfefonds des Bistums Limburg ansiedeln, der seine Mittel der Katholischen Hochschulgemeinde in Frankfurt zur Verfügung stellt. Auf der institutionellen Ebene bieten zum einen die Studierendenwerke über ihre Darlehenskasse in Not geratenen Studierenden ein zinsloses Darlehen an, in Nordrhein-Westfalen bis zu 1000  € monatlich bei einem Maximalbetrag von 12.000 €. Zum anderen stellen die Hochschulen, wie oben bereits beschrieben, Nothilfefonds für ihre Studierenden bereit. Ist diese föderale Aufgabenteilung – insbesondere die Einbeziehung der Hochschulen – vor allem auch mit Blick auf zukünftige Krisenprävention eigentlich sinnvoll? Einen Ansatz zur Klärung dieser Frage bietet die Ökonomische Theorie des Föderalismus (ÖTdF). Hierbei handelt es sich um eine überwiegend normativ orientierte finanzwissenschaftliche Theorie, die u. a. ökonomische Kriterien für die Begründung und Ausgestaltung eines föderativen Staatsaufbaus beinhaltet. Dabei geht es auch um die Frage, ob verschiedene staatliche Ziele in den Bereichen der Allokation, Distribution und Stabilisierung besser durch Maßnahmen auf zentraler oder dezentraler Ebene erreicht werden können (Zimmermann et al., 2021). Die ÖTdF kommt u. a. zu dem Schluss, dass Ziele der personellen und regionalen Einkommensverteilung besser auf der zentralen Ebene verfolgt werden sollten. Dadurch sollen z. B. starke interregionale Verteilungsdiskrepanzen vermieden werden, die sich bei einer dezentralen Verteilungspolitik aus unterschiedlichen Präferenzen für Umverteilung innerhalb der Bevölkerung bei gleichzeitig hoher Mobilität der Bevölkerung ergeben könnten. Im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum wird ebenfalls eine Zielverfolgung auf zentraler Ebene empfohlen, zumindest dann, wenn es sich um gesamtwirtschaftliches Wachstum handelt. Dagegen könnte regionales Wachstum wohl eher durch Maßnahmen auf dezentraler Ebene erreicht werden, obwohl auch dafür eine zentrale Zielerfüllung durchaus als möglich angesehen wird, wenn eine entsprechend regional differenzierte Politik gewährleistet werden kann (Zimmermann et al., 2021). Betrachtet man die Nothilfefonds von staatlichen Hochschulen für Studierende aus einer kurzfristigen Perspektive, so handelt es sich dabei zweifellos um eine sozialpolitische Maßnahme mit dem Ziel der personellen Einkommensumverteilung. Pandemiebedingte Einnahmeausfälle der Studierenden sollen durch staatliche Unterstützung ausgeglichen werden, um die Empfänger in die Lage zu versetzen, ihre laufenden Lebenshaltungskosten weiter decken zu können. Dies rechtfertigt nach der ÖTdF ein staatliches Eingreifen auf zentraler Ebene. Wenn Studierende davor bewahrt werden, aus finanziellen Gründen einen Studienabbruch vornehmen zu müssen, können die Nothilfefonds aber auch ein langfristiges Ziel verfolgen. Dieses besteht darin, den verschiedenen Hochschulstandorten und den sie beherbergenden Regionen, auch künftig ein ausreichendes Angebot an hoch qualifizierten Arbeitskräften und damit verbunden an Wirtschaftswachstum zu sichern. Die Lockdowns, in deren Folge viele Unternehmen zeitweise schließen mussten und viele

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Studierende ihre Erwerbseinkünfte verloren, waren eine flächendeckende Maßnahme, von der sämtliche Hochschulstandorte betroffen waren. Dadurch induzierte Studienabbrüche wären dann weniger ein Problem des regionalen, sondern eher des gesamtwirtschaftlichen Wachstums, was ein Gegensteuern auf der zentralen Ebene rechtfertigen würde. Neben diesen sozial- und wachstumspolitischen Argumenten gibt es noch eine fiskalpolitische Begründung, die dafür spricht, das Instrument der finanziellen Nothilfe eher auf der zentralen Ebene als bei den Hochschulen anzusiedeln. Für die Hochschulen in Deutschland wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder konstatiert, dass sie unterfinanziert seien (beispielhaft Wissenschaftsrat, 2006; Hochschulrektorenkonferenz, 2006; Berthold et al., 2007; Baumgarth et al., 2016). Wenn aber die regelmäßigen Einnahmen der Hochschulen schon nicht ausreichen, um ihre laufenden Ausgaben in zufriedenstellender Weise zu decken, ist es nicht sinnvoll, ihnen auch noch die Aufgabe zuzuweisen, in Krisenzeiten notleidende Studierende zu finanzieren. Dagegen verfügt z. B. der Bund mit seinen umfangreichen Kompetenzen zur Erhebung von Steuern und zur Aufnahme von Krediten über weitaus bessere Möglichkeiten, unvorhergesehene Ausgaben decken zu können.

17.5 Fazit Die staatlichen Hochschulen in Deutschland sind sowohl Ziele als auch Träger regionalpolitischer Maßnahmen. Letzteres kommt u. a. dadurch zum Ausdruck, dass die Landeshochschulgesetze in der Mehrheit der Bundesländer ausdrücklich Aufgaben mit regionalem Bezug für ihre Hochschulen vorsehen. Diese Aufgaben betreffen zum einen den Hochschulsektor selbst, gehen zum anderen aber auch deutlich darüber hinaus. Anhand der Angebots- und Nachfrageaktivitäten von Hochschulen, die häufig auf Märkten und Quasi-Märkten stattfinden, konnte ihre beachtliche regionalökonomische Bedeutung u. a. für den Arbeitsmarkt, die Konsumnachfrage und das (regionale) Bruttoinlandsprodukt beispielhaft aufgezeigt werden. Hochschulen sind nicht frei von Krisenereignissen, was anhand der COVID-19-­ Pandemie illustriert wurde. Die Pandemie hat dabei bereits kurzfristig deutliche finanzielle Auswirkungen auf die wichtigsten „Kunden“ der Hochschulen, die Studierenden, ausgeübt. Bei den Studierenden konnten im SS 2020 Einnahmeverluste festgestellt werden, die bei der gesamten Studierendenpopulation mehr als 7  % und bei einzelnen Studierendengruppen sogar mehr als 26 % ihrer monatlichen Gesamteinnahmen betrugen. Je nach Gruppenzugehörigkeit gaben zwischen 9 % und 25 % der Studierenden an, dass sie als Folge der Pandemie das Studium ohne zusätzliche finanzielle Hilfen nicht werden fortsetzen können. Das Risiko eines finanzinduzierten Studienabbruchs hat sich durch die Pandemie also merklich erhöht. Zur Milderung der finanziellen Folgen der Pandemie für die Studierenden wurden auf sämtlichen föderalen Ebenen Maßnahmen ergriffen. Auf der dezentral-institutionellen Ebene haben viele Hochschulen Nothilfefonds für ihre Studierenden geschaffen, um ­möglichst kurzfristig Unterstützung zu geben. Möglicherweise könnten bis zu 1,2 % aller

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Studierenden von den hochschuleigenen Nothilfefonds unterstützt werden. Es erscheint allerdings nicht sinnvoll, dieses Instrument für ein mögliches zukünftiges Krisenmanagement bzw. eine Krisenprävention weiter auf Ebene der Hochschulen zu belassen. In Deutschland ist die Studienfinanzierung nicht zuletzt seit der BAföG-Reform von 2015, in deren Zuge der Bund den Finanzierungsanteil der Länder übernahm, bereits ganz überwiegend Aufgabe des Bundes. Das BAföG, die Kredite der KfW (Studien- und Bildungskredite) sowie Zuschüsse an die Studierendenförderungswerke sind Instrumente, die dauerhaft auf Bundesebene angesiedelt sind. Diese Instrumente wurden im Verlauf der COVID-19-­Pandemie ausgebaut und ergänzt, z. B. durch die Überbrückungshilfe in pandemiebedingter Notlage. Die Hochschulen sind diesen Hilfen teilweise zuvor gekommen und haben mit ihren Nothilfefonds eine Art schnelle Ersthilfe geleistet, um dadurch Zeitverzögerungen aufzufangen, mit denen die zusätzlichen Bundes-, aber auch Landeshilfen erst verfügbar gemacht werden konnten. Die Nothilfefonds der Hochschulen waren auf individueller Ebene für einen kleinen Teil der gesamten Studierendenpopulation sicherlich wichtig und mögen geholfen haben, finanzinduzierte Studienabbrüche zu vermeiden. Aus föderalismustheoretischer Perspektive ist dieses Instrument jedoch aus sozial-, wachstums- und fiskalpolitischen Gründen nicht auf der geeigneten Ebene angesiedelt. Es sollte deshalb auf Hochschulebene nicht Teil eines Zukunftskonzepts für Krisenmanagement bzw. -prävention werden, sondern stattdessen auf zentraler Ebene verortet werden.

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Dr. Christoph Gwosć  Berufsausbildung als Versicherungskaufmann, Studium der Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Öffentliche Finanzwirtschaft und Allgemeine Wirtschaftspolitik an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Promotion zum Dr. rer. pol. an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Forschungs- und Interessengebiete sind Studien- und Hochschulfinanzierung, soziale Ungleichheit, Finanzwissenschaft, Methodologie.